Machiavelli: Aus dem Griechischen übersetzt von Gaby Wurster. Mit einer Vorrede von Günter Maschke 9783050056340, 9783050040462

Der griechisch-deutsche Philosophie- und Sozialhistoriker Panajotis Kondylis hat sich in seiner Frühschrift von 1971 mit

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German Pages 201 [204] Year 2007

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Machiavelli: Aus dem Griechischen übersetzt von Gaby Wurster. Mit einer Vorrede von Günter Maschke
 9783050056340, 9783050040462

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Panajotis Kondylis Machiavelli

εργα

καλβος

Niccolo Machiavelli ΠΑ Τ Ο Ν Π Ο Ρ Ι Σ Μ Ο ΧΡΗΜΑΤΩΝ Ο ΗΓΕΜΟΝΑΣ — Π Ω Σ Ο ΔΟΥΚΑΣ ΕΞΟΝΤΩΝΕΙ ΤΟΥΣ ΑΝΤΙΠΑΛΟΥΣ ΤΟΥ — ΟΙ ΕΞΕΓΕΡ ΜΕΝΟΙ Τ Η Σ ΒΑΛ ΔΙΑΤΡΙΒΕΣ ΓΙΑ Τ Ο Ν Τ Ι Τ Ο ΛΙΒΙΟ — ΓΙΑ ΤΗΝ ΚΑΤΑΣΤΑΣΗ Σ Τ Η ΓΑΛΛΙΑ ΚΑΙ ΤΗ ΓΕΡΜΑΝίΑ

Panajotis Kondylis

Machiavelli Mit einer Vorrede von Günter Maschke

Akademie Verlag

Der griechische Text wurde zuerst 1971 als Einleitung zur einbändigen Ausgabe der Werke Machiavellis gedruckt. ΝΙΚΟΛΟ ΜΑΚΙΑΒΕΛΛΙ · ΕΡΓΑ · ΤΟΜΟΣ ΠΡΩΤΟΣ ΕΙΣΑΓΩΓΗ-ΕΠΙΛΟΓΗ-ΜΕΤΑΦΡΑΣΗ ΤΑΚΗ ΚΟΝΔΥΛΗ

Aus dem Griechischen übersetzt von Gaby Wurster und durchgesehen von Athanassios Kaissis

Gedruckt mit Unterstützung des Freundeskreises Panajotis Kondylis e.V.

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

I S B N 978-3-05-004046-2

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007

Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: breutypo. Christopher Breu, Berlin Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Ein Problem, das nie zu lösen ist Vorrede von

G Ü N T E R MASCHKE

VII

Einleitung

1

Kapitel I

4

Kapitel II

25

Kapitel III

64

Kapitel IV

87

Kapitel V

110

Kapitel VI

145

Anmerkungen

159

Bibliographie der den Zitaten der deutschen Ubersetzung zugrunde liegenden Sekundärliteratur

175

Ein Problem, das nie zu lösen ist Vorrede von GÜNTER MASCHKE

I Vieldeutig und unerschöpflich zu sein ist das Merkmal der Klassiker und wer selbst ihnen gegenüber auf Unterschieden beharrt, mag Machiavelli den höchsten Rang zuweisen: Tanto nomini nullum par elogium. Der Florentiner, der am 3. Mai 1469 mit offenen Augen zur Welt kam 1 , war gewißlich eins: ein Dezisionist. Doch als man sie ihm am 22.Juni 1527 schloß, begann sogleich ein unendliches Gespräch, das bis heute oft mit Zorn, stets jedoch mit Eifer geführt wird. Auch die zahlreichen, zuweilen imposanten Versuche, die Deutung Machiavellis zu versachlichen und sein Werk wertneutral, „im Rahmen fachwissenschaftlicher Paradigmen" zu betrachten, haben nicht „zu einer einheitlichen Interpretation" geführt, so dass „die Forschungsfrage ,Machiavelli' auch weiterhin offenbleibt." 2 Sicher ist, daß sich daran nichts ändern wird, sieht man von kleineren biographischen Verifikationen, Datierungen, Einflußschnüffeleien und verwandten Accessoires ab. Vielleicht bleibt aber die Forschungsfrage nur deshalb offen, weil nicht bemerkt wird, daß sie sich gar nicht ernsthaft stellt. Schließlich werden seit fast einem halben Jahrtausend die gleichen Fragen aufgeworfen und die gleichen Antworten gegeben, werden die gleichen Hypothesen lanciert, welche die gleichen Zurückweisungen erfahren, die man flugs zu längst schon geleisteten Widerlegungen adelt, - und all diese Fragen, Antworten, Hypothesen, Zurückweisungen und Widerlegungen, auf die jeweils aktuellen Konflikte bezogen und in die Gewänder der jeweils neuesten Moden und Methoden gehüllt, präsentieren sich kurz darauf wieder: Vielen gefällt es, uns noch einmal zu sagen, was schon vor langer Zeit verkündigt ward. Wer nämlich die Machiavelli-Literatur bis etwa 1850 geduldig rekognosziert, findet in ihr sämtliche Elemente der heutigen Debatten, - diese verdanken ihre Strahlkraft dem Vergessen, jener Großmacht also, die auch die Wissenschaften durchherrscht.

VIII

Vorrede

War Machiavelli ein Ratgeber, gar ein Lobredner des Despotismus oder kämpfte er für die Freiheit, ein erhaben-unklares Wort, das stets etwas anderes bedeutet und das stets die gleichen Gefühlsreflexe wachruft? Schrieb er mit dem ,Principe' eine Satire auf die moralisierenden Fürstenspiegel oder formulierte er eine Warnung vor der Tyrannei? Schuf er damit ein Kunstwerk oder begründete er die Wissenschaft von der Politik? War er bloß der Lehrer einer politischen Technik, so daß sich jede Parteiung aus „his little bag of tricks" 3 versorgen kann oder diente ihm, der in Europa als einer der ersten Politik und Moral voneinander trennte, diese Technik nur als ein Mittel zu höheren Zwecken, denen zu dienen freilich fast jeder Handelnde behauptet? War Machiavelli ein Machiavellist 4 oder waren dies nicht eher seine Feinde, die erklärten Anti-Machiavellisten, seien sie Jesuiten, Hugenotten, Monarchomachen, Liberale, Demokraten oder die diversen, verdächtigen Liebhaber der Menschheit, die sich gegenseitig mit Verve des Machiavellismus bezichtigten und überführten? 5 War er ein sittliches Ungeheuer, ein gottloser Verächter der Religion, gar ein Vorbote des Antichrist, dessen Buch von einem Feinde des Menschengeschlechts und vom Finger Satans geschrieben worden war 6 oder nur der Kritiker einer verderbten Kirche und einer die politische und soziale Dekadenz fördernden Mißdeutung des Evangeliums, der zuguterletzt doch vom Christentum geprägt blieb? 7 Hielt er die Menschen für unheilbar böse - womit er eigentlich nur meinte, daß sie gefährlich seien - oder hoffte er, sie würden sich unter bestimmten Umständen bessern und aus der Geschichte lernen, könnten sich mittels der virtü gegenüber einer feindseligen fortuna behaupten? Vertrat er eine pessimistische oder eine optimistische Anthropologie? 8 Oder vermutete er immerhin, daß die Menschen sich zwar nicht bessern, wohl aber zu steigern vermöchten? War er Republikaner oder Vernunftmonarchist oder hielt er dies nur für eine Sache der Umstände? Findet sich nicht ein unversöhnlicher Widerspruch zwischen seinen Hauptwerken, dem ,Principe' und den ,Discorsi', oder stoßen wir hier schlicht auf zwei zu unterscheidende Fragen: wie der neue Staat zu gründen, wie der etablierte Staat zu erhalten sei? 9 Doch sind diese Schriften seine Hauptwerke, sind dies nicht eher die ,Arte della guerra' und die ,Istorie Florentine'? War er Fragmentarist oder umriß er zumindest ein System? Wenn er Konstellationen seiner Gegenwart mit solchen der Antike verglich, betrieb er dann als einer der ersten Komparatistik oder raffte er nur ein paar Lesefrüchte zusammen, um aus ihnen dogmatische Axiome zu gewinnen, - fern jeder ernsthaften

Vorrede

IX

Beschäftigung mit der Geschichte? 10 Gehört sein Denken zu der während seiner Zeit entstehenden methodischen Wissenschaft oder bleibt es ein bloßes Gemisch aus empirisch-vorwissenschaftlichen Klugheitsregeln, sarkastischen Beobachtungen, bestechenden Aper9us? Muß man, um dem Vielgeschmähten gerecht zu werden, sein Werk ganz aus der historischen Situation, in der es entstand, verstehen (womit man freilich seine Bedeutung einschränkt)11 oder besitzt es eine allgemeine, sich durchhaltende Gültigkeit, weil hier nämlich eine Regelmäßigkeit gefunden wurde, die regolaritä degli egoismi concorrenti, die Regelmäßigkeit konkurrierender Egoismen, die wohl ein grundlegender Faktor jeder Politik ist, die aber, wie alles Allgemeine, erst in einem Besonderen und in einer konkreten Lage aufscheint, dann jedoch eine nicht mehr zu leugnende Sichtbarkeit erreicht und behält?12 War Machiavelli ein Realist, ganz der von ihm gefeierten veritä effettuale hingegeben, oder ist sein ,Principe' die ästhetische Konstruktion eines Künstlers13, ja, nur das Wunschbild eines Nostalgikers, der von der Wiederkehr heroischer Zeiten träumt?14 Galt sein Interesse der Politik oder einer von dieser sorgfältig zu unterscheidenden arte dello Stato oder arte dello Governo? 15 Solche in der Literatur sich häufig miteinander verbindende Fragen, hier vor dem Leser willkürlich ausgeschüttet statt sorgsam geordnet, lassen sich beinahe ad libitum vermehren. Die jeweiligen Antworten, mit welchem wissenschaftlichen Pomp sie auch daherschreiten, verdanken sich oft nur dem Zeitgeist, dem ideologischen Lager des Antwortenden oder den nicht zu beseitigenden Schwankungen, denen Betrachter fluider Sachverhalte gewöhnlich anheimfallen. Und tatsächlich finden sich nicht nur zahllose unterschiedliche Interpretationen, sondern der Florentiner wurde von vielen Betrachtern im Laufe ihres Lebens immer anders eingeschätzt. Wer lange genug ins Dunkel schaut, findet immer etwas darinnen, aber es ist möglich, dass das Geschaute samt seinem Gegenteil wirklich darinnen ist; zudem gilt, daß andeutende Skizzen stärker stimulieren als vollendete Gemälde. Mit Claude Lefort darf man sagen, daß bei Machiavelli das Werk „selbst arbeitet"16 und zum Steinbruch für die verschiedenartigsten, oft einander feindlichsten Kräfte wird, nutzbar in den unterschiedlichsten Epochen. Dazu paßt die Klage, daß der Kern seiner Lehren ein ,Rätsel' sei oder ein ,Arcanum', ein ,Geheimnis' oder ein ,Mysterium'. Das sind Worte, die einander berühren, doch die keineswegs die gleiche Bedeutung besitzen. Deshalb sollte der Seufzer Benedetto Croces, nach einer lebenslangen Beschäftigung mit Machiavelli 1949, drei Jahre vor seinem Tode

χ

Vorrede

ausgestoßen, unser Verständnis finden: „Probabilmente la questione del Machiavelli restera una di quelle che non si chiuderanno mai e non passeranno agli archivii" - „Wahrscheinlich wird das Machiavelli-Problem eines der Probleme bleiben, die sich niemals lösen lassen und die nicht in den Archiven enden." 17 Ernst Cassirer, zurückhaltender gestimmt, gelangte 1944 in seinem erst postum erschienenen letzten Werk zu dem Ergebnis, daß „selbst jetzt, nachdem man an das Buch des ,Principe' von den unterschiedlichsten Blickwinkeln herangegangen ist, nachdem es von Philosophen, Historikern, Politikern und Soziologen diskutiert worden ist,... dieses Geheimnis nicht vollständig gelüftet (ist). Von einem Jahrhundert zum anderen, fast von einer Generation zur anderen finden wir nicht nur einen Wechsel, sondern eine vollständige Umkehrung in den Urteilen über den „Principe". Dasselbe gilt für den Autor...". 1 8 Raymond Aron schließlich, die so rastlos wie störungsfrei arbeitende ,Denkmaschine' (so sein Spitzname während seiner Studienzeit in Köln) konstatierte 1969: „Wer auch immer auf den Kopf eines leeren Blattes Papier den Namen Machiavelli setzt, kann sich einer gewissen Angst nicht erwehren; nach Hunderten von anderen, Schriftstellern und Herrschern, Historikern und Philosophen, Politikern und Strategen, Moralisten und Theologen, versucht auch er, die Sphinx ins Verhör zu nehmen, den Diplomaten im Dienste Florenz', den italienischen Patrioten, den Autor, dessen Prosa in jedem Satze klar und durchsichtig ist und im Ganzen zweideutig, der seine Intentionen verhehlt und dessen unaufhörliche Erleuchtungen seit vier Jahrhunderten den Scharfsinn der Interpreten herausfordern; auch er trifft eine Wahl, bei der er nicht übersehen kann, daß so viele andere sie vor ihm getroffen haben, wird doch eine jede Interpretation, die er unternimmt, welcher Art sie auch sei, nicht ihm selbst gehören." 19 Selbst Robert von Mohl, der die Chancen, daß geistige Arbeit zu gesicherten Ergebnissen führt, positiver einschätzte, erklärt bereits 1858, daß es „kaum denkbar (sei), daß noch etwas Neues aufgefunden werden kann" und daß es nichtsdestotrotz „fast Unzählige mit einer Art von magischer Gewalt an(zieht), ausfindig zu machen, wie Machiavelli in seinem Innersten gedacht, was er gewollt, und wie er dieses bewerkstelligt habe. Man möchte es eine politische Quadratur des Zirkels, die Entdeckung eines Perpetuum mobile nennen. Kaum dürfte sich in der ganzen Geschichte der menschlichen Geistesentwickelung ein zweiter finden, dessen Lebensschicksale so unzweifelhaft vorliegen, der sich so unumwunden selbst ausgesprochen hat, der so viel schrieb, und über welchen die Urtheile so weit auseinandergehen." 20

Vorrede

XI

II Vier große alte Männer - von Mohl, Cassirer, Croce, Aron - , die gegen Ende ihres Lebens einigermaßen resignativ ihre Unsicherheit bekennen, ohne sich deshalb an ihrer Pflicht hindern zu lassen, die ihnen richtig scheinende Auffassung scharf auszuprägen. Auch bei Kondylis finden wir die scharfe Ausprägung, die Unsicherheit jedoch nicht. Zu einem geringeren Teil liegt dies daran, daß Kondylis, als er den vorliegenden Text schrieb, erst 28 Jahre zählte. Doch stürmt hier kein Beinahe-noch-Jugendlicher, von mangelndem Wissen gestärkt, auf längst eroberte, ja, bereits vermessene Sterne ein und wähnt dabei, diese zu entdecken, - die Kenntnisse des jungen griechischen Gelehrten waren schon damals stupend und reichten aus für mehrere würdige Emeriti. Der Deutsche, der diesen Text hier zum ersten Mal in seiner Sprache lesen kann, darf nicht vergessen, daß er 1971 als die etwas üppig geratene Einleitung zur ersten griechischen Machiavelli-Edition diente. Kondylis wollte, daß seine Landsleute einen ihnen noch fast unbekannten Autor kennenlernen und sie nicht schon im Vorfeld mit den auch ihm geläufigen Zweifeln und Bedenklichkeiten belästigen. „In diesem vermaledeiten Geburtsland der Philosophie gibt es nicht einmal eine systematische, erläuternd-kritische Ausgabe des einen oder anderen großen Denkers; dies ist bekannt und aussagereich" 21 , bemerkte er damals. Wie die meisten, die ihr Vaterland lieben, litt Kondylis an dessen Zustand, d. h. hier an der intellektuellen Anämie, an der Ignoranz und an der Trägheit der Gehirne, - dies in einem Lande, das trotz schrecklicher politischer Erfahrungen im 19. und 20. Jahrhundert sich nach seinem Befund kaum bemühte, diese zu verstehen. Der leidende Patriot wird gerne zum Propagandisten Machiavellis, was nicht nur für Hegel und Alfieri gilt. Doch Kondylis verschmähte, was so viele vor ihm taten: Machiavelli zu applizieren, dessen Werk in ein Rezeptbuch umzuwandeln und Diagnosen zur Erzeugung von Schwungradvorstellungen zu nutzen. Sieht man von einigen Unter- und Zwischentönen ab, über deren Zielrichtung deutsche Leser nur mutmaßen können, so findet sich bereits in dieser frühen Schrift der den reifen Kondylis auszeichnende ,deskriptive Dezisionismus'. Kondylis betrachtet hier Machiavelli, den er, wie Karl Marx oder Carl Schmitt, als .militanten Dezisionisten' einstufen muß, „mit dem klinisch kalten Licht der Sezierung, die allein das Wirkungsgefüge sozialer, geistesgeschichtlicher, historischer sowie politischer Konstellationen bloßlegen will". 2 2 Weil aber,

XII

Vorrede

wie unser Autor nie müde wurde zu betonen, dieser wertfreie .deskriptive Dezisionismus' keine Machtansprüche erhebt, „hat er auch den Menschen nichts zur Gestaltung ihres Lebens vorzuschlagen" 23 , mithin auch keine politische Formel und kein ideologisches Konzept. Von solcher, sich im späteren Werk, besonders in seiner gelungensten Schrift ,Macht und Entscheidung' durchsetzenden, asketischen Haltung ist Kondylis hier noch etwas entfernt, doch sein Weg nach dort ist schon überschaubar. Es ist das im umgangssprachlichen Sinne stoische ,Weder lachen, noch weinen - verstehen', gemahnend an die Haltung Vilfredo Paretos, des großen Nachfolgers Machiavellis, der den Florentiner an Scharfsinn, Gelehrsamkeit und geistiger Kaltblütigkeit übertraf, der nur noch das Getriebe der Menschen beobachten und weder darein verwickelt sein noch darauf einwirken wollte. Nun mag es durchaus sein, daß Kondylis einwirken wollte, - er überließ es jedoch dem Leser, Folgerungen aus seinen kühlen und sachlichen Darstellungen zu ziehen und konnte ihn nur durch die Abstandnahme und Diszipliniertheit seiner Erörterungen davor warnen, sich von Gefühlen überwältigen zu lassen. Ähnlich wie Machiavelli machte sich auch Kondylis auf die Suche nach der veritä effettuale, doch wollte er sie nicht finden, um Einfluß auf die Wirklichkeit zu erlangen, sondern um sie interesselos zu betrachten. Man mag diese im späteren Werk voll entfaltete, „an Hybris grenzende Attitude eines zum Erdengewimmel nachgerade planetarisch distanzierten Beobachters" 24 als eine so seltene wie seltsame Flucht vor der - Entscheidung ansehen; für den Schriftsteller ist sie extrem anstrengend und den Leser nötigt sie zu außergewöhnlicher desinvolture. Im Gegensatz dazu vermag der ,militante Dezisionismus', auch der eines Machiavelli, zu begeistern und zur Tat anzuspornen, vor allem ist er jedoch, auch für den, der sich an seinem Kältepol aufhält, sinnstiftend und romantisierungsfähig. Der ,deskriptive Dezisionist' hingegen bringt keine Geschenke, wie sie der Standhaltende erwartet, wenn nicht fordert. Verstörenden Wahrheiten setzt man sich gewöhnlich nur aus, um mit stärkenden Illusionen belohnt zu werden. Kondylis' Hände aber waren leer, er erregte nicht jene wißbegierige Abscheu, an der sich militante Dezisionisten erfreuen können, sondern eine sehr eigentümlich aus Interesse und Desinteresse zusammengesetzte Aggressivität. Schon seine großen philosophie- und ideengeschichtlichen Bücher weckten den Verdacht der hellsichtigeren Aufseher: Ließen sich diese Untersuchungen, deren Eindringlichkeit

Vorrede

XIII

noch ihren Umfang übertraf, nicht darauf reduzieren, daß ,Geist', .Vernunft', ,Diskurs', ,Ethos' u. ä. m. nur Waffen zur Selbsterhaltung und zur Machtsteigerung seien, daß die .Weltbilder' und ,Werte' sich nur erklären lassen, wenn man ihre lebensstützenden Funktionen herausarbeitet, ja, daß all die großartigen Schöpfungen menschlichen Denkens nur einem nie endenden, mittels immer neuer Derivationen und immer weiter ausgreifenden Verrechtlichungen sowohl verfeinerten wie verschärften Machtkampf dienen, daß, um vulgo und mit Scharnhorst zu sprechen, letztlich „alles nur Katzbalgerei" sei, blutige oder unblutige, mit Gewalt oder mit List durchgeführte, brutale oder sanfte und daß dies der ,Sinn' des Ganzen wäre? Als dann endlich Kondylis' Programmschrift ,Macht und Entscheidung' 1985 erschien, wurde es auch für Schwerfälligere offenbar: Er „bringt uns nichts", er „sagt nicht, woran man sich halten kann", seine Schriften sind „trostlos". So lauteten in der Alltagssprache die kurrenten und auch mehrheitsfähigen Stellungnahmen, aufgezäumter redete man von „angeklärtem Nihilismus" und von der „Odnis ideologischer Entlarvungen". Hätte sich Kondylis den einen oder anderen Sarkasmus gestattet, gelegentlich wider die political correctness gelockt, zur klammheimlichen Freude gemäßigter Hypermoralisten auf radikale Hypermoralisten eingeprügelt, so wäre ihm das in Deutschland (u. a. weil er kein Deutscher war), wenn auch mit tadelndem Zeigefinger, verziehen worden. Doch hier lag ein komplexes, einige tausend Seiten umfassendes Werk vor, in dem die Entzauberung aller nur denkbaren ,Weltbilder' und ,Werte' zu weit getrieben wurde. „Ein Autor tritt an gegen das Abendland und da bleibt kein Stein auf dem anderen", höhnte ein Kritiker 25 , der noch nicht bemerkt hatte, daß das Abendland am 3. August 1914 untergegangen war. Die gleichmäßige Dichtigkeit von Kondylis' Prosa, die weder über Ruhepunkte verfügt noch Tempiwechsel gewährt, die durch keinerlei Crescendi dramatisiert wird und damit konsumierbar wäre, die kaum sich ändernde Nähe aller Sätze zum Mittelpunkt eines Mahlwerks, - von solch einer Prosa wandten sich zahlreiche Leser, die Raum für Einwände beanspruchten und Rücksichten auf ihre Eitelkeit erheischten, ab. Der Schraubstock ist kein trauliches Heim und falls bedeutende Autoren einmal Erfolg haben, so liegt das nicht an der Qualität ihrer Gedanken, sondern an den diesen anhaftenden Wirkund Lockstoffen. Doch zur schon erwähnten Attitude des „nachgerade planetarisch distanzierten Beobachters" passte derartige Schmucklosigkeit. Beides aber, die Schmucklosigkeit wie die Attitude, hatten ihren Quellpunkt in einer von anderen Denkern kaum mit vergleich-

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Vorrede

barer Konsequenz durchgehaltenen Wertfreiheit, d.h. auch, in einer außerordentlichen intellektuellen Redlichkeit.

III Zu dieser Redlichkeit gehört, daß Kondylis den Flüchen wie den Hymnen auf Machiavelli so gut wie keine Beachtung schenkt und nicht nur expressis verbis bemängelt, daß „die Legende Machiavelli die Kenntnis Machiavellis" ersetzt habe. Daß Kondylis nicht beim Gedankenschaum verweilen will, ehrt ihn, doch immerhin steigt dieser aus dem Stoffe auf und wäre einiger Aufmerksamkeit wert. Weshalb denn entstanden und entstehen durch Machiavellis Werk unentwegt Legenden? Die Legenden, ,das zu Lesende', sind doch (oftmals allzu tief) gesunkene Kulturgüter, sind die Endprodukte der Bemühungen großer Interpreten und wer die Deutungen von 10, 15 oder mehr Autoren, die sich in den letzten Jahrhunderten ernsthaft mit Machiavelli befassten, durchmustert, wird auf die intellektuell anspruchsvollen Vorformen der einst oder noch heute kursierenden Legenden stoßen. In diesem Zusammenhang darf man auch Kondylis' These infragestellen, daß die Anti-Machiavellisten ihren Feind nicht wirklich kannten und ihre Stellungnahmen aufgrund des unterschiedlichen Inhalts „mit Machiavellis Person und Werk nichts zu tun hatten", S. 78. Doch zu einem Werk gehört auch, was es evoziert und es duldet keinen Zweifel, daß, um nur einige Namen zu nennen, für Innocent Gentillet, Giovanni Botero, Pedro Rivadeneyra, Jean Bodin, Justus Lipsius, Baltasar Graciän oder für einen Tacitisten wie Diego Saavedra Fajardo die Schriften des Florentiners alles andere als nur ein Gerücht waren. Eine diesen Männern, z.T. Sternen erster Größe, gemeinsame Uberzeugung war, daß ein Stato, dessen Chefs nur mittels Gewalt, amoralischen Tricks und zynischer List vorgehen, zum Untergang verurteilt sei. Aber das hätte Machiavelli, der Lobredner der virtu, der den Wert der Moral gelegentlich energisch betonte, sie letztlich jedoch nur als Funktion betrachtete, auch gesagt. Die von den Kritikern als moralisch tragbar erachteten Simulationen und Dissimulationen sind sogar als systematisierende Verfeinerungen des Denkens Machiavellis anzusehen, das erst durch sie auf die Stufe der Staatsraison gehoben wurde. Zu einem Gutteil war die Polemik der Anti-Machiavellisten, läßt man die plumperen und deshalb erfolgreicheren Hervorbrin-

XV

Vorrede

gungen beiseite, zu denen auch der Traktat Friedrichs II. und die zahllosen, gewollt oder ungewollt heuchlerischen Moraltrompetereien gehörten, die Entfaltung und Weiterentwicklung der Gedanken Machiavellis, - scheinbar Übermalung, tatsächlich jedoch Radiographie oder sogar Ubermalung als Radiographie. Der Florentiner konnte etabliert werden, weil man ihn, bald durch Verunglimpfung, bald durch ausufernde Interpretation, unkenntlich gemacht hatte. Zwar kann nicht geleugnet werden, daß dieses Unternehmen von beträchtlichen Aversionen begleitet wurde, sei es aufgrund des von Machiavelli nahegelegten „taktischen Einsatzes der Religion als Mittel der Staatserhaltung" (Stolleis), sei es, weil durch die Trennung von Moral und Politik Berechenbarkeit und Vertrauen bedroht waren, sei es, weil der von Machiavelli implicit geforderte Absolutismus die ständischen Freiheiten vernichtete.26 Doch dienten derartige Aversionen nicht nur Autoren wie Bodin (1530-1596), Lipsius (1547-1606), Saavedra Fajardo (1584-1648) oder Baltasar Graciän (1601-1658) als mit oder ohne den Zierat Tacitus' behangene Fassade, hinter der sich/hinter der man Machiavelli durchsetzte. Der Anti-Machiavellismus war in hohem Maße der Triumph Machiavellis, - ein Aspekt, der stets zu kurz kommt gegenüber einem offensichtlicheren, der freilich ebenfalls zu den Wirkungen des Werkes und damit zu diesem selbst gehört und den Carl Schmitt umriß: „Daß ein politischer Denker in die Feindschaft der kämpfenden Fronten hineingezogen wird, ist mit dem Begriff des Politischen selbst gegeben. Diese Gefahr wird durch richtiges Denken nicht beseitigt oder gemildert, sondern eher gesteigert und verschärft". 27

IV Die Grundlage für richtiges politisches Denken kann nach weithin geltender Übereinkunft nur die Politische Wissenschaft sein; für die Moderne soll Machiavelli sie begründet haben. Kondylis freilich meint, daß Machiavelli durch seine Entwirrung von Politik und Moral nur die Möglichkeit schuf, die politischen Phänomene „mit elementaren wissenschaftlichen Voraussetzungen (zu) behandeln" (S. 14). Als Wissenschaftler soll Machiavelli auf halbem Wege stehengeblieben sein, weil er seine Handlungslehre mit der historischen und politischen Ontologie gleichsetzte und nicht zur Schaffung eines kohärenten theoretischen Systems gelangte und oft widersprüchliche Ge-

XVI

Vorrede

danken formulierte (S.58). Doch was ist „politische Ontologie"? Sie ist wohl in den neblichten Gefilden der Politischen Philosophie zu finden, auf einem Terrain, dessen Gesteinsadern wenig Schätze und viel Ideologie bergen und das mit großer Neugier, aber auch mit beträchtlichem Mißtrauen zu erkunden ist. Doch gerade wenn man vermutet, daß eine Lehre vom Handeln ausreicht, um die Politischen Wissenschaften ins Leben zu rufen, kann Machiavelli nur bedingt als deren Begründer angesehen werden. Zwar wollten viele politischen Denker vor wie nach ihm die Politik der Moral unterstellen, bezeichneten etwa das so arbitraire bonum commune als Ziel aller Politik, behaupteten, diese besäße eine Finalität, nahmen an, daß die Gesellschaft auf objektiven, allen Menschen gemeinsamen Wahrheiten beruhe, gar auf ewigen und natürlichen Gesetzen, so daß die Herrschaft auf objektiven Rechtskriterien basieren könne, postulierten am Ende gar, die Wissenschaft sei „das Wissen um die Seinsordnung und ihren Ursprung im jenseitigen Sein" (Voegelin) und riefen damit nicht Verwunderung hervor sondern ernteten Bewunderung. Aber viele dieser Autoren, die eher in die Geschichte der Ideologien als in die der Politischen Wissenschaft gehören, trugen immer dann zu letzterer bei, wenn sie ihre Glaubenssätze ignorierten und, strikt phänomenologisch verfahrend, konkrete politische Probleme untersuchten. Der Rang eines Politikwissenschaftlers, der natürlich Jurist, Ökonom, Philosoph, Diplomat, Soldat, Historiker usw. sein kann, mißt sich daran, inwieweit er zu solchen Analysen fähig ist und welchen Stellenwert sie in seinen Schriften einnehmen, - so gesehen sind z.B. Thukydides und Tacitus bedeutender als etwa Piaton und selbst Aristoteles. Die Größe Machiavellis aber liegt nicht in seiner geistigen Leistung, so hoch diese auch veranschlagt werden muß, nicht in seiner Gelehrsamkeit, die weit entfernt ist von der eines Aristoteles, Hobbes oder Pareto, nicht in einem Bemühen um Systematik, stoßen wir doch nur auf eine Art Rahmen, gebildet aus einer Skizze der Zyklizität der Geschehnisse und aus dem unzureichend ausgeleuchteten Viereck fortuna-occasione-nesessitä-virtü. Die Größe Machiavellis liegt darin, daß er mit kindlicher Unbefangenheit ausplauderte, was sehr viele ahnten und viele wußten: Der Kaiser hat keine Kleider an! Diese bescheiden, unpathetisch, mit „humaner Natürlichkeit" (Carl Schmitt) 28 daherkommende, zuweilen auch achselzuckende Ingenuität, verbunden mit ganz sachlichen, auf common sense und historischem Takt beruhenden Hinweisen auf die Bedeutung von Gewalt, List, Simulation und die Erforderlichkeit des Scheins, machten den Florentiner

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Vorrede

zum Scheusal, für die Kaltblütigeren immerhin noch zum Problemfall. Dank seiner nicht zu übersehenden Naivität, die wohl erst durch das unfreiwillige Retiro von San Andrea di Percussina bei San Casciano sich durch den vom Beruf her gebotenen Fesseln befreite, wurde Machiavelli zum Zertrümmerer ehrwürdiger und lebensspendender Derivationen. Die Politik verhält sich anders als die Sphinx in der Fabel: wer ihre Rätsel und sei es zu einem guten Teil aus Unschuld, löst, den verschlingt sie; im Falle von Machiavelli begnügte sie sich mit einer Diffamierung, die von so solider Dauerhaftigkeit war, weil sie der Wahrheit benachbart blieb. Durch Machiavellis Schriften wurde, trotz einiger beträchtlicher Fehleinschätzungen 29 , die Bahn frei für eine rein phänomenologische Betrachtung der Politik und des Politischen und damit für den politischen Realismus, der sich vor ihm wie nach ihm meist nur versteckt zu äußern wagte. Das tapfere „Erkenne die Lage!" hat freilich nur geringe Chancen, so beliebt zu werden wie die normativistischen und szientistischen Schleiertänze oder die mit dem Flittergold humanitärer Deklarationen geschmückten Varianten heutiger Politikwissenschaft, deren nicht unwichtigste Funktion es ist, das Erkennen der Lage zu verhindern. Auf dieser Bahn sind Machiavelli seit 1527, man nehme alles nur in allem, wenige gefolgt; einer von ihnen war Panajotis Kondylis. Er, der spätere Meister, dessen Bedeutung erst noch verstanden werden muß, lieferte mit seinem „Niccolo Machiavelli" von 1971 sein beeindruckendes Gesellenstück.

Anmerkungen 1

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3 4

Giuseppe Prezzolini, Vita di Niccolo Machiavelli fiorentino, Milano 1927, eröffnet sein (eher .romanhaftes') Buch mit den Sätzen: „Niccolo Machiavelli kam mit offenen Augen zur Welt. Zu seiner Zeit waren Kinder, die mit offenen Augen geboren wurden, noch eine Seltenheit. Heute ist dies Mode geworden und erregt nicht soviel Aufsehen. Damals sprachen jedoch alle Klatschbasen im weiten Umkreis der Kirche Zur Heiligen Dreifaltigkeit davon." Volker Dreier, Die Architektur politischen Handelns - Machiavellis Ii Principe im Kontext der modernen Wissenschaftstheorie, Freiburg/ München 2005, S. 38, 40. So Conor Cruise O'Brien, The Suspecting Glance, London 1972, S. 31. Vgl. Herfried Münkler, War Machiavelli ein Machiavellist?, Politische Vierteljahresschrift 1983, S. 329-340. Münkler betont, daß Machiavelli einen prinzipiellen Immoralismus ablehnte: „... er hätte durchweg

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bestritten, daß Grausamkeit und Betrug grundsätzlich politisch effizienter seien als Milde und Lauterkeit." Gewiß, - doch die Gleichgültigkeit gegenüber den anzuwendenden Mitteln und Methoden, die nur nach ihren Erfolgsaussichten beurteilt werden, empört viele mehr als ein grundsätzliches Plädoyer für Grausamkeit und Betrug. Zum jahrhundertelangen Streit um Machiavelli sowie zum Machiavellismus/Anti-Machiavellismus u. a.: Charles Benoist, Le Machiavelisme, 3 Bände, Paris 1907/1934/1936; Antonio Panella, Gli Antimachiavellici, Firenze 1943; Jose Antonio Maravall, Teoria del Estado en Espana en el siglo XVII (zuerst 1944), Madrid 1997, bes. S. 361-408; Giuseppe Prezzolini, Machiavelli Anticristo, Roma 1954, bes. S. 325-370, 428449; Giuliano Procacci, Studi sulla fortuna del Machiavelli, Roma 1965 (inzw. erweitert u. umgearbeitet u. d.T.: Machiavelli nella cultura europea dell'etä moderna, Roma-Bari 1995); Machiavellismo e Antimachiavellismo en el Cinquecento (Kongreß in Perugia 1969), Firenze 1970; Rodolfo de Mattei, Dal premachaivellismo all' antimachiavellismo, Firenze 1970; August Buck, Machiavelli, Darmstadt 1985, bes. S. 129155; Robert Bireley, Anti-Machiavellianism or Catholic Statecraft in Early Modern Europe, Chapel Hill 1990. Der früheste wie wohl immer noch schärfste Kritiker Machiavellis, der englische Kardinal Reginald Pole (1500-1558), als Gegner der Religionspolitik Heinrichs VIII. und Thomas Cromwells zeitweilig im Exil, gestorben als Erzbischof von Canterbury, erklärte in seiner um 1539 verfassten Apologia ad Carolum V Caesarum, daß der ,Principe' von einem Feinde des Menschengeschlechts („scriptum ab hoste humani generis") bzw. mit dem Finger Satans geschrieben sei („Satanae digito scriptum"), vgl. den Abdruck von Poles Machiavelli-Kapitel in: Heinrich Lutz, Ragione di Stato und christliche Staatsethik im 16. Jahrhundert, Münster 1976 (zuerst 1961), S. 48-62, 55. Dies behauptet, recht forciert, Leonhard von Muralt, Machiavellis Staatsgedanke, Basel 1945: „... wir glauben ... gezeigt zu haben, daß es für Machiavelli letzte, in religiösen Vorstellungen begründete ethische Werte gab, die nicht erst dadurch, daß sie dem Staate gewiß auch nützlich sein können, begründet werden, sondern die ihren Grund in sich selber oder im Himmel haben." (82). v. Muralt stützt sich dazu auf eine Stelle in den Discorsi, 1,12: „Wäre die Religion von den Häuptern der Christenheit („republica cristiana") so erhalten worden, wie ihr Stifter es angeordnet („ordinato") hat, so wären die christlichen Staaten und Republiken geeinter und viel glücklicher als sie es jetzt sind." Dies ist nur eine suggestiv seinwollende Floskel von sehr geringem, simulatorischen ,Wert'. Luigi Russo, Machiavelli, Bari 1949, erklärt gar: „... il Machiavelli e uomo religioso, e di una religiositä tipicamente [!] cristiana" (S. 222). Doch für Machiavelli ist die Religion zum einen instrumentum regni, zum anderen wirkt sie, da sie die guten Sitten fördert, positiv auf die Festigkeit der staatlichen Ordnung. Jenseits all seiner Kritik des damaligen Papsttums und des korrupten Klerus bewertet Machiavelli hier das Christentum sehr negativ.

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Obgleich Machiavelli die von der .ambizione' beherrschte menschliche Natur für durchgehend verderbt hielt, unterstrich er den Wert der Historie „als Lehrmittel für gegenwärtiges Handeln" (Troeltsch). Das ist ohne eine Portion .Optimismus' nicht möglich. Der Mehrzahl heutiger Machiavelli-Interpreten gilt dieser Widerspruch, der noch Leo Strauss stark beschäftigte (in: Thoughts on Machiavelli, University of Chicago Press 1958, S. 15-53, „The Twofold Character of Machiavelli's Teaching") als überholt, erledigt usw. - warten wir einige künftige Publikationen ab! Eine scharfe Kritik von Machiavellis oft kenntnisarmer und schludriger Behandlung der Antike leistet Friedrich Mehmel: Machiavelli und die Antike, Antike und Abendland, III, 1948, S. 152-186. Dafür plädiert nachdrücklich: J. H. Whitfield, Machiavelli, Oxford 1947, aber schon Hegel und Ranke und, in seinen späteren Stellungnahmen, Herder. Gianfranco Miglio weist in seinem Vorwort zu Carl Schmitt, Le categorie del ,politico', Bologna 1972, S. 7-14, auf solche Regelmäßigkeiten hin, die, als große Teilwahrheiten, zu einer Theorie der Politik zu verschmelzen wären: die Regelmäßigkeit der äußeren Herrschaftsuche bei Thukydides, die der Anwesenheit eines politischen Führers in jedem politischen System bei Bodin, die des fiktiven Charakters jeder Gemeinschaft bei Hobbes, die der politischen Klasse bei Mosca und Pareto, die des Gegensatzes Freund/Feind bei Schmitt, usw. So, häufig kritisiert, Rene König, Machiavelli - Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, 1941, Ndr. München 1979. Dies die Quintessenz bei Karl-Heinz Gerschmann, Uber Machiavellis Modernität, Archiv für Begriffsgeschichte, 2/1973, S. 149-176 : „... sein Fürst ist ein Instrument zur Wiederherstellung des Alten ... die Macht dient der Restitution der Antike, deren zeitlos gültiger Maßstab nicht überboten werden kann." Wiederholt hat dies Dolf Sternberger, von einem aristotelischen Politikverständnis ausgehend, unterstrichen, dabei etwas viel Aufhebens von der Tatsache machend, daß das Wort „Politik" im ,Principe' nicht vorkommt. Doch Machiavelli begründete eben einen neuen Begriff von „Politik" und dies gibt Sternberger später, eher en passant, auch zu; vgl.: Machiavellis,Principe' und der Begriff des Politischen, Wiesbaden 1975; Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1978,1, S. 159-265, II, S. 91-162; Notizen über das Wort ,Politik', seine Wanderungen und Wandlungen (1981), in: Die Politik und der Friede, Frankfurt/M. 1986, S. 89-106. Vgl. Claude Lefort, Le travail de l'oeuvre - Machiavel, Paris 1972. Ein Teil des Buches (S. 153-309) ist den „interpretations exemplaires" gewidmet, u. a. denen von Francesco de Sanctis, Augustin Renaudet, Gerhard Ritter, Ernst Cassirer, Antonio Gramsci, Leonhard v. Muralt. Leforts erster Satz lautet: „Ce livre est ne d'un attrait pour un enigme, dont nous ne saurions dire tous les motifs." Benedetto Croce, Una questione che forse non si chiuderä mai, Quaderni della ,Critica', luglio 1949, S. 1-9, 9.

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Cassirers „The myth of the State", 1944 abgeschlossen, erschien erst 1946, nach seinem Tode (13.4.1945); das Zitat nach der deutschen Ausgabe, Vom Mythus des Staates, Zürich 1949, 153. Cassirers Diktum gilt, etwas abgeschwächt, auch für die ,Discorsi'. Raymond Aron, Machiavel et Marx (1969), in: Ders., Machiavel et les tyrannies modernes, Paris 1993, S. 255-274,255. Robert v. Mohl, Die Machiavelli-Literatur, in: Ders., Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, III, Erlangen 1858, S. 519-591, hier 521, 529. So im Prolog zur griechischen Machiavelli-Ausgabe von 1971. Adolph Przybyszewski, Autorenportrait Panajotis Kondylis, in: Sezession, Januar 2006, S. 2-7, 4. Kondylis, Macht und Entscheidung - Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984, S. 127. Przybyszewski, S. 7. Joachim Vahland, Noch eine Dialektik der Aufklärung - Uber Panajotis Kondylis und sein „Macht und Entscheidung", Frankfurter Rundschau, 23.7.1985. So Michael Stolleis, Machiavelli in Deutschland. Zur Forschungslage der Machiavelli-Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert, in: Italienisch, Mai 1982, S. 24-35,25 f. Carl Schmitt, Clausewitz als politischer Denker. Bemerkungen und Hinweise (1967), in: Ders., Frieden oder Pazifismus?, Berlin 2005, S. 910. Carl Schmitt, Macchiavelli - Zum 22. Juni 1927, Kölnische Volkszeitung, 21.6.1927; Ndr. in: Ders., Staat - Großraum - Nomos, Berlin 1995, S. 102-105, 104. C.J.Friedrich, Die Staatsräson im Verfassungsstaat, Freiburg 1961, schreibt u.a.: „... das praktische Resultat dieser wissenschaftlichen Überlegung war äußerst dürftig. Er (Machiavelli) glaubte an eine Bürgerarmee zu einem Zeitpunkt, als die Ausbildung von Berufsarmeen unmittelbar bevorstand, er schätzte die politischen Chancen des Cesare Borgia falsch ein, er propagierte die Stadtstaaten der Antike in einer Zeit wachsender nationaler Territorialstaaten... Das sind nur einige der vielen Beispiele für den hochgradig unwissenschaftlichen Charakter seiner angeblichen Wissenschaftlichkeit. Aber sein Vorhaben war zweifellos ein Ansatz. [Von mir kursiviert, GM]. Machiavelli wollte die Welt verstehen, so wie sie wirklich ist, er war sicher, daß der Erfolg in der Politik von diesem Verständnis abhängt, und er tat sein Bestes, um in dieser Richtung voranzukommen." (S. 33 f.).

Panajotis Kondylis Niccolo Machiavelli

Einleitung Mit Blick auf einzelne Abschnitte in Machiavellis Lebensgeschichte wird man dazu verleitet, seine Biographie und seine Lehre parallel in einer Studie abzuhandeln. Wählt der Forscher diesen Weg, wird er zuerst Machiavellis Wirken als „uomo politico" darstellen und besonders die Erfahrungen herausstreichen, die sein Werk später kennzeichnen sollten. U m das Jahr 1512 endet Machiavellis öffentliche Tätigkeit; der Forscher wird ihre Substanz rekapitulieren und der Frage nachgehen, auf welche Weise sie in die schriftstellerische Tätigkeit einfloß, die Machiavelli nach 1512 ununterbrochen ausübte. In dieser Zeit entstanden fast alle seine Schriften, mit Ausnahme seiner diplomatischen Berichte. Diese Betrachtungsweise (der renommierte Machiavelli-Forscher häufig folgten) bietet den Vorteil, daß sie entlang der Bezugssysteme Leben und Lehre entwickelt werden kann. Nachteilig ist, daß so von vornherein eine Betrachtung Machiavellis durch das Prisma einer allgemeineren Methodik mit weitergefaßten Prämissen ausgeschlossen wird, einer Methodik, die auch Erklärungsansprüche für Leben und Wirken anderer Persönlichkeiten formulieren könnte. So könnten aus der Analyse Faktoren herausfallen, die für die Entwicklung von Machiavellis Denken von besonderer Bedeutung waren, auch wenn sie aus dem Verlauf seines Lebens nicht unmittelbar offenkundig werden. Wer sich also an der äußeren F o r m von Machiavellis Leben orientiert und daraus seinen methodischen Ansatz auf zufällig Stimmiges stützt, läuft Gefahr, in seinem Forschungsgegenstand nur das Begrenzte und Besondere zu finden, nicht aber die Fäden, die zu allgemeineren Phänomenen führen. Auf diese Weise wird das Verständnis eines komplexen Denkers verengt, und man wird ihm nicht gerecht. Auf der anderen Seite gibt es die gängige und mittlerweile etwas abgenutzte Methode, eine Persönlichkeit innerhalb ihrer Zeit zu betrachten. Im schlimmsten Fall werden bei diesem Ansatz die allgemeinen Charakteristika einer Epoche zusammengetragen (vorausge-

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setzt, ihre Auswahl ist treffend und sie werden unverfälscht dargestellt) und unmittelbar daneben die Eigenschaften der jeweiligen Persönlichkeit aufgeführt, ohne auf erstere Bezug zu nehmen. Die einfache Aufzählung von allgemeinen Charakteristika einer Zeit soll eine Persönlichkeit wohl erschöpfend darstellen - als sei diese lediglich der Spiegel ihrer Zeit. Dann müßten sich aber alle Persönlichkeiten gleichen, die zu einer bestimmten Zeit lebten. Ein besseres Bild ergibt sich, wenn die Nuancen auf der Zeittafel mit den Nuancen auf der biographischen Tafel in Beziehung gesetzt werden und wenn diese Tafeln nicht nur parallel stehen, sondern zudem durch waagerechte Linien verbunden sind. Vollständiger jedoch wird die Darstellung, wenn die Punkte auf der Zeittafel nicht geradlinig, sondern durch schräge, gekrümmte und gebrochene Linien mit den Punkten auf der biographischen Tafel verbunden werden - wenn also der ernsthafte Versuch unternommen wird, die vielen komplexen sozialen und psychologischen Faktoren aufzudecken und zu interpretieren. Doch unabhängig davon, ob diese Methode nun hinlängliche Erkenntnisse bringt, haftet ihr die Schwäche an, daß sie sich notgedrungen auf dem Niveau der Abstraktion und der fiktiven Konstruktion bewegt. Das künstliche Gebilde ist in diesem Fall die „Epoche", deren grundlegende Charakteristika zusammengefaßt, eingeordnet und rückblickend auf die Menschen gespiegelt werden, die in ihr gelebt haben. Ein allgemeines und abstraktes Bild einer „Epoche" entsteht jedoch a posteriori, und das kann auch gar nicht anders sein: Es ist ein logisches Konstrukt, ein Idealtypus, ein Instrument der Forschung und des Verstehens, dem per definitionem ganz stark der Charakter der Konvention anhaftet, das darüber hinaus unmittelbar von unseren zuverlässigen Kenntnissen abhängt und folglich schon aus methodischen Gründen revidiert werden muß. Eine abstrakte Erfassung und Behandlung historischer Kräfte beinhaltet in sich, direkt oder indirekt, deren Existentialisierung (was vielleicht das idealisierte denkerische Relikt der primitiven Menschwerdung ist); sie werden als eigenständige, unabhängige Wesenheiten betrachtet, die über den Menschen stehen. Doch diese Kräfte stellen sich nur deswegen apersonal dar, weil sie in Wirklichkeit unfaßbar mannigfaltig sind und durch unzählige Träger existieren und agieren. Real faßbar sind nur diese mehr oder weniger versprengten Träger die „Epoche", als Systematisierung dinglicher Daten oder als „Zeitgeist" des objektiven Idealismus, gibt es als solche nicht. Wenn dies stimmt, ist die Deutung einer Persönlichkeit über ihr Hineinwachsen in eine Epoche, die a posteriori theoretisch konstru-

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iert wurde, im Grunde nur eine Tautologie. Denn wir nehmen dann den lebendigen Kern einer „Epoche" (die von sich aus auch ein Teil der untersuchten Persönlichkeit ist), projizieren ihn auf unsere fiktive Tafel und setzen ihn dann, zu einem Erklärungsprinzip umgewandelt, wieder ein, um einen Bereich der Welt zu analysieren, aus dem genau er eben genommen wurde. (Hierzu muß folgendes angemerkt werden: Wenn das theoretische Konstrukt a posteriori erfolgt, wird die „Epoche" über Kriterien charakterisiert, die sich im nachhinein als vorherrschend erwiesen, damals aber vielleicht ihren Gegenparts ebenbürtig waren.) Folglich wurden die zufällig allgemeinen Charakteristika einer „Epoche", die man in jedem Fall modifiziert innerhalb der Persönlichkeit findet, von dieser Persönlichkeit nicht in ihrer unveränderten, reinen Form aufgenommen - einer Form, in der sie in diesem theoretischen Rahmen dargestellt werden auch wenn die Existenz dieses theoretischen Rahmens mit seinen klaren Charakteristika eine solche trügerische Annahme zwingend macht. Die Tendenzen einer „Epoche" werden von einer Person mittels konkreter, alltäglicher individueller Lebensumstände aufgenommen, mittels ständiger und zahlloser Kontakte mit den erfahrbaren Aspekten der Gesellschaft. So wird eine Persönlichkeit sehr viel tiefer, sehr viel umfassender von ihrer Zeit durchdrungen, als wenn sie sich auf einen bestimmten Ort konzentrieren und sich auf einmal und daher auf unverdauliche Weise die allgemeinen Charakteristika einer Zeit einverleiben würde. Und da die Epoche eine Persönlichkeit eben mittels mannigfaltiger Träger durchdringt, von denen ein jeder teilweise und unzulänglich die allgemeinen Charakteristika der Zeit verkörpert, bildet die Persönlichkeit ihre eigene Welt mit unzähligen Facetten und Brechungen, aber mit weniger universalen und abstrakten Aspekten. Die Unterschiede von Persönlichkeit zu Persönlichkeit kommen zustande, weil die vielen und vielfältigen Brechungen bei einem Individuum keine Kongruenz mit den Brechungen bei einem anderen Individuum zulassen und weil auch alle Brechungen zusammen bei jedem Menschen auf prinzipiell unterschiedliche physiologische und seelisch-geistige Strukturen treffen. Will man also die Menschen in ihrer Epoche einordnen, kann man sich diese Epoche als eine gemeinsame Basis unzähliger und ungleicher Pyramiden vorstellen, die jeweils mehr oder weniger voneinander abweichen und daher mehr oder weniger gemeinsame Merkmale aufweisen; das geht von der größten Abweichung, die die gemeinsame Basis zuläßt, bis hin zu völliger Übereinstimmung. Die Perspektive, aus der man die Basis, die Epoche, betrachtet, (wenn man sie in Kor-

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relation zur Persönlichkeit setzen will,) unterscheidet sich je nachdem, welchen Winkel jede einzelne Persönlichkeitspyramide hat, und je nach der Sicht, die die Winkelöffnung bietet. Somit versuchen wir nicht, die Epoche als eine Grundlage zu sehen, die für alle gleich ist, sondern als eine allgemeine Tendenz, die von jedem einzelnen auf besondere und fragmentarische Weise aufgenommen wird. Damit ist das Schema „Persönlichkeit - Epoche" freilich nicht überwunden; mit dem heutigen Kenntnisstand über die gesellschaftlichen Phänomene ist das wissenschaftlich auch gar nicht zu leisten. Doch dies ist kein Grund, sich nicht ständig die Grenzen dieses Schemas zu vergegenwärtigen.

I Der Unterschied zwischen Mittelalter und Renaissance liegt grob zusammengefaßt im Unterschied zwischen feudalistischer und frühkapitalistischer Wirtschaft und Gesellschaft. Durch diese Unterscheidung werden aber nicht zwei historische Stufen repräsentiert, die getrennt aufeinanderfolgten, vielmehr werden damit die Eckpunkte von zwei historischen Phasen in zwei idealtypische Rahmen gesetzt. Der scharfe Gegensatz zwischen diesen beiden Idealtypen kommt weniger dadurch zustande, daß sich die Inhalte historisch auch so deutlich abgegrenzt hätten, als vielmehr dadurch, daß man, indem man diese Idealtypen bewußt aufstellt, die gegensätzlichen Merkmale auswählt und unterstreicht, weil man den einen Typus streng vom anderen unterschieden wissen will, um möglichst klare Leitlinien zu bekommen, entlang derer man die vielgestaltigen Teilphänomene polarisieren kann. Da es Ziel dieses Buches ist, die Quellen von Machiavellis Denken zu erforschen, wird die Gegenüberstellung dieser Idealtypen nur herangezogen, wenn es für die Behandlung dieser Frage vonnöten ist. Der menschliche Typus, der von der Selbstversorgerwirtschaft geschaffen wird oder ihr zumindest seelisch und geistig entspricht, lebt in einer Gemeinschaft, deren Prinzipien des Alltagslebens sich in einer so starken Tradition ausdrücken, daß ihre Präsenz so natürlich, so unmerklich und so selbstverständlich ist wie das Atmen. In dieser Gemeinschaft lebt der Mensch notgedrungen in Solidarität mit den anderen, einer Solidarität, die sich in einem obligatorischen Austausch von Diensten zeigt (um es mit Dürkheim zu sagen, handelt es sich hier um eine „mechanische", nicht um eine „organische Solidarität"). Das

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Individuum ist nicht frei, doch dafür lebt es in Sicherheit. Es hat keine genaue Kenntnis über die Grenzen seiner Individualität und deren Inhalte, es ordnet sein Erleben nicht chronologisch, es „lebt" die Zeit nicht, und seine Willenskraft ist unscharf. Diese intellektuelle Unfertigkeit zeigt sich vor allem in der Unfähigkeit zum Kalkulieren, zum genauen Berechnen von Gütern und Zahlenmengen. Im Mittelalter begnügten sich die Menschen mit annähernden Schätzungen, sie erfaßten auch den Begriff des Exakten nicht, und die einfachsten Rechnungen, die überliefert sind, stecken voller Fehler 1 . Die Auflösung dieser Gemeinschaftsform, die von der Romantik ohne Erfolg idealisiert wurde, zog die Uberschußproduktion, den Verkauf, den Handel und die Geldwirtschaft nach sich. Das Geld tauchte in dieser Reihe als letztes auf, es ist allerdings als unmittelbare Triebfeder das greifbarste Element und es erlaubte dem Individuum, sich aus der Gruppe zu lösen. N u n war das Individuum frei, aber es war nicht mehr geborgen; die unbewußte Einvernehmlichkeit und Traditionsverhaftetheit der Gemeinschaft wurde im Innenleben des Individuums durch die persönlichen Fähigkeiten ersetzt, die es brauchte, um sich in Konkurrenz zu anderen zu behaupten. Der Handel nun lenkt das Denken grundsätzlich auf die Zählbarkeit und Meßbarkeit der Dinge. Der vorkapitalistische Produzent, Bauer oder Handwerker, sah nur die Qualität und betrachtete seine Produkte als Gebrauchswerte, der Kaufmann aber hat dessen Q u a n tität und Tauschwert im Auge, eine persönliche Bindung zur Ware hat er nicht. Der mittelalterliche Produzent identifizierte sich mit seinen Produkten, der Kaufmann aber unterhält eine oberflächliche, kühle Beziehung zu ihnen, sie sind für ihn nur Größen, die er in Geld mißt 2 . Die wesentliche Funktion seines Denkens wird die rechnerische U m wandlung, das Rechnen von Ware in Geld, und somit wird das gedankliche Erfassen greifbarer Gegenstände immer abstrakter. Auch die Tätigkeit des Menschen wird in Zahlen ausgedrückt, Zahlen werden rechnerisch systematisiert, sie zeigen uns Aktiva und Passiva und damit auch das Ergebnis unserer Bemühungen 3 . Geld wird zur Vernunft, zum abstrakten allgemeinen Nenner aller Güter, und die Vernunft, die Fähigkeit zu einem Vorplanen des Handelns, wird zu Geld umgewandelt. Zwischen Geld und Vernunft gibt es eine Entsprechung: Beide sind übersubjektive und apersonale Elemente, Emotionen und moralischen Grenzen sind ihnen fremd, die die Welt abstrakt umgeben, und sie sind ein Maßstab, um Menschen zu bewerten und zu klassifizieren 4 .

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Natürlich gibt es hier nicht viel Raum für moralische Zerknirschung und Reue oder für die metaphysischen Visionen des mittelalterlichen Menschen. Der Mensch des kalkulierenden und abwägenden Denkens ist seichter und oberflächlicher, er will lediglich einen Bereich richtig abwägen und ihn durch den rationellen Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel erobern, während der Mensch in der feudalistischen Gesellschaft überhaupt nicht wußte, wie er seine Mittel und seine Zeit rationell ausschöpfen sollte. Außerdem war sein Wirkungskreis von der Tradition bestimmt, während das abwägende Denken seine Grenzen selbst festlegt 5 . Die Unterschiede zwischen diesen beiden Menschentypen werden größer, je mehr der jüngere sein kalkulierendes Denken vertieft und es in immer weiteren Bereichen anwendet, erst im Hauswesen, dann in seinem Unternehmen und schließlich in dessen vielen Verzweigungen. Wie zutreffend gesagt wurde, war im Mittelalter das Hauswesen des Lehnsherrn ein Sittenprodukt, einfach ein höheres Naturprodukt 6 . Erst die Renaissance strebt nach einer rationellen Organisation und verwirklicht sie auch. Den Platz, den im Idealtypus des Mittelalters der Glaube an das Metaphysische, Theologische einnimmt, besetzt im Idealtypus der Renaissance die Ratio. Das universale Vorherrschen religiösen Denkens setzt, als irdische Entsprechung seiner jahrtausendealten unveränderlichen Vorbilder, Zustände voraus, die so dauerhaft und so unerschütterlich sind, daß sie von selbst die Vorstellung von Ewigkeit zwingend machen - was ja das wesentliche Prädikat auch Gottes ist. Es setzt politische Strukturen voraus, die über Jahrhunderte Bestand haben, oder Institutionen wie das Königtum, die so weit in die Geschichte zurückreichen, daß ihre Historizität in Vergessenheit gerät und sie als metaphysische Begriffe wahrgenommen werden. In diesem Sinne steht das theologische mittelalterliche Denken in Zusammenhang mit dem stumpfen Erleben der Zeit, das oben als ein wesentliches psychologisches Element der Mitglieder feudalistischer Gesellschaften angeführt wurde. (Hingegen kann das theologische Denken, das sich in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen herauskristallisiert, ein fast existentialistisches Zeitempfinden enthalten, wie Augustinus zeigt.) Die Zersplitterung der Gesellschaft in Waren und konkurrierende Individuen bringt eine Reihe von ununterbrochenen Verschiebungen und schnellen Änderungen mit sich, die eine andere Denkweise nötig macht, (nämlich eine, die diesen Veränderungen folgen kann.) N u n löst eine Phase die nächste ab, und das Schicksal des Menschen verändert sich so schnell, daß alles Weltliche gar nicht erst mit

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irgendeiner transzendentalen Kategorie in Verbindung gebracht und als deren Vertreter erscheinen kann. Dann lösen sich die metaphysischen Bezugssysteme auf, der Geist verlangt dynamische und handfeste Begründungen, entsprechend den Tatsachen, die er deuten will. Bricht so die göttliche und überindividuelle Ordnung zusammen, dann geht die Aufgabe, die Welt wie ein Kunstwerk nach freien Zwecken (die über die Tradition hinausgehen) auszugestalten und zu ordnen, auf das Individuum über 7 . Im Rahmen dieser Idealtypen ist die Individualität in der Renaissance nackt, despotisch und selbständig. Die christliche Auffassung von Sinn und Zweck der Selbstaufopferung und der Negierung der Individualität ist überholt; diese Begriffe finden wir nicht mehr, doch sie kommen in veränderter Form zurück - wenn nämlich die Individualität wieder unter ein universelles herrschendes Prinzip gestellt wird wie unter das Prinzip Vernunft in der Aufklärung und vor allem das Prinzip Gemeinschaft und Volk bei Herder und in der Romantik. Zwischen diesen beiden Epochen, d. h. in der Periode des Frühkapitalismus steht das Individuum eine Zeitlang nackt und erfüllt von sich selbst da. In der Renaissance gibt es neben bestimmten Gruppierungen, die eine elementare Weltanschauung für sich selbst entwickelten, keine universelle und offizielle Ideologie, die das Bewußtsein des Individuums ausgefüllt und ihm seine Irrtümer vorgegeben hätte. Geistige Postulate und Auseinandersetzungen drücken sich in Symbolen aus, die der Antike entlehnt sind, denn der Renaissancemensch stellt sich die Antike als eine Zeit freier, ungebundener Individuen vor und projiziert sein eigenes Postulat oder sein eigenes Ideal auf sie. (Von dieser Rezeption der Antike, die zur Zeit des Liberalismus wieder erstarkte und die Rolle der Religion und der Ideologie im Leben des antiken Menschen weit unterschätzte, haben wir uns noch immer nicht restlos befreit.) Dieser Nacktheit des Individuums, seiner relativen Freiheit von „Ideologie", entsprechen eine frühe Phase des Kapitalismus und sein Glücksrittertum. Der Kapitalismus ist noch kein überindividuelles, unüberwindbares System, das sich in einer genauso überindividuellen, wenn auch individualistischen Ideologie ausdrückt; es ist individuelles Streben, die Summe gewagter Taten einzelner Personen. In den Augen der Zeitgenossen ist die Handlung an sich wichtig und nicht ihr gesellschaftlicher Inhalt oder die gesellschaftliche Perspektive, auf die sie gerichtet ist. Daher wird die Handlung, die Tat, höher eingeschätzt als ihr Ergebnis: der Reichtum, der anfangs als bloßes Mittel oder bloße Folge betrachtet wurde. Der Unternehmer muß drei grundlegende Fähigkeiten besit-

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zen, und alle drei sind streng individualistisch: Er muß willensstark sein, (also mutig und frei von vorurteilsbehafteten Bindungen,) er muß organisatorisch versiert sein, (dazu braucht er ein Gefühl für Prioritäten und muß Unterscheidungen treffen können,) und er muß Verhandlungsgeschick besitzen, (muß also seine individuellen Ziele durchsetzen können und gegnerische Ziele vereiteln 8 .) Zum Aufkommen des Individualismus trug auch, vor allem in den italienischen Städten, das rege politische Leben bei, das den Müßiggang verdrängte und damit eine Herausforderung zur Tat und ein Auslöser für die Herausbildung des Individualismus war. Je öfter die machthabenden Parteien wechselten, desto mehr Aufstiegsmöglichkeiten hatte das Individuum 9 . Um jedoch als Individuum diesen Aufstieg zu schaffen, war eine weitere Voraussetzung unabdingbar: Es durfte nicht von den Fesseln blauen Blutes behindert werden und es mußte anerkennen, daß Überlegenheit ihre Wurzeln in persönlichen Fähigkeiten und Werten hat. Diese Auffassung, die sich schon im ausgehenden 13. Jahrhundert herausbildet und die man ganz deutlich bei Petrarca findet, ist in gesellschaftlichen Konflikten eine wichtige Waffe in den Händen des Bürgertums gegen den Feudaladel. Diese radikale Veränderung der Stelle, den das Individuum in der Welt einnimmt, findet ihren Ausdruck in der gesamten damaligen Literatur, die nun auf die Motive der mittelalterlichen Allegorien verzichtet und ein Bild des Menschen, seines Inneren und seiner Leidenschaften zeichnet; sie zeigt die Eigenarten des Einzelnen und seine Unterschiede zu anderen. Auf diese Weise festigt sich der Individualismus, der diese Literatur hervorbrachte, und das Selbstbewußtsein wird größer 10 . Aufgegeben wird auch die aristotelische Psychologie der Seelenteile und Galenus' Viersäftelehre, und schon im 14. Jahrhundert beginnt die Beobachtung und Beschreibung 11 . Der Begriff von Ruf, Ruhm und öffentlichem Lob, den die lateinischen Schriftsteller ständig betonen, fällt in Italien auf fruchtbaren Boden, als die gesetzlichen Klassenschranken fallen und der mittelalterliche Troubadour aufhört nur die Werke und Namen der Edlen zu besingen. Die Kunst der Biographie, die sich im Zusammenhang mit dem Ruhm von Einzelpersonen entwickelt, beschäftigt sich nicht mehr reihenweise mit farblosen Chroniken von Päpsten und Königen, sondern wählt einzelne Individuen aus und versucht auch ihre Persönlichkeit zu beschreiben12. Es entstehen Werke über berühmte Männer, und die Geburtshäuser oder Grabstätten großer Persönlichkeiten werden zu Wallfahrtsorten 13 . Parallel zur Biographie - und Autobiographie - ent-

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wickelt sich die Ortsbeschreibung, auch sie folgt denselben Motiven: R u h m und Anerkennung. In diesen Ortsgeschichten wird der Versuch unternommen, die einzigartigen Merkmale eines Ortes im selben Genius zu schildern, wie auf anderen Gebieten die genaue Beschreibung psychischer oder physiognomischer Züge erfolgt 1 4 . Als Ausdruck eines entwickelten Individualismus sind Ironie, Spott und Sarkasmus die umgekehrte Entsprechung von Ruhm und Ehre. Im Gegensatz zur satirischen Dichtung des Mittelalters, die die Schwächen ganzer Gruppen verspottete, hat der Spott nun einen einzelnen, bestimmten Menschen zum Ziel und ist oft unerträglich, doch letztlich setzt er sich auch in der guten Gesellschaft durch 15 . U n d schließlich, als Krönung des Individualismus, löst der Typus „Genie" den Typus des mittelalterlichen „Meisters" ab 16 . Die Ratio des Kalkulierens und Abwägens, weltliche und sachliche Vernunft kombinieren sich auch in einer anderen Erscheinungsform des Renaissancedenkens: im Begriff der Virtuosität, zur exakten Technik, zur geplanten, meisterhaften Konstruktion. Dieser Begriff nimmt deutlich Gestalt an bei der Entstehung eines Kunstwerkes, des Bildes, der Plastik und des Bauwerkes - wo die Ratio zweckgebunden arbeitet, schafft sie aus dem Chaos Ordnung und Gestalt. In diesem Ringen des Subjekts mit dem O b j e k t gilt, daß das Subjekt, die planende Ratio, die wesentliche Rolle spielt, denn die bedeutendere Arbeit ist nicht die endgültige und praktische Zähmung der Materie, sondern die Planung dieser Zähmung, eine Arbeit, die ausschließlich im Kopf stattfindet. Die Materie, das O b j e k t , spielt erst in der zweiten Phase eine Rolle, beansprucht aber keine große Aufmerksamkeit mehr, weil das Problem theoretisch bereits gelöst ist. (Ich denke, dies ist einer der psychologisch-geistigen Hauptgründe dafür, daß viele Pläne ζ. B. von da Vinci etwa oder Michelangelo nie verwirklicht wurden.) Die Ratio wird hier also als eine selbständige, gesetzgebende Instanz verstanden, doch dahinter steckt die Phantasie; sie hat schon von Anfang an eine Vorstellung des Konstrukts, das die Ratio dann konkret planen soll. Ratio und Phantasie sind voneinander abhängig 17 und geben der Hand gemeinsam die richtige und sichere Richtung an, in der sie agieren soll. Dieser Begriff von Virtuosität und planerischem Konstrukt hört aber nicht beim Kunstwerk auf - er ist ja auch nicht dort geboren, sondern er gründet auf der Erfahrung in den Manufakturen und bei der technischen Konstruktion, wo sich die arbeitende Hand mit der Ratio verbindet, die von Zweckrationalität regiert wird

sondern er dringt

vielmehr als Schema der Auseinandersetzung mit den Dingen mittels

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der reinen Vernunft auch in tausend andere Bereiche vor, wo er Anwendung finden kann, vor allem natürlich in der Politik (das soll hier betont werden, denn schließlich ist unser Thema Machiavelli). Im Italien des 15. und frühen 16.Jahrhunderts wird es für möglich erachtet, den endlosen politischen Konflikten durch die Bildung einer perfekten Regierungsform entgegenzutreten, die aus korrekter Abwägung aller beteiligten Faktoren und Lager besteht. In verschiedenen Städten, vor allem in Florenz, tauchen in der Öffentlichkeit Staatsmänner oder Staatsrechtler auf, die zum Staat dieselbe Haltung einnehmen wie der Künstler zu seinem Werk. Sie wiegen in ihren verfassungsrechtlichen Konstruktionen die Macht wie mit der Tarierwaage ab, sie verteilen die Macht mit Bedacht und schaffen so ein künstliches Gleichgewicht, das auf detaillierten institutionellen Regelungen beruht, doch erweisen sich diese Konstrukte am Ende als hohl 18 . Die gesellschaftlichen Faktoren können nicht mit derselben Perfektion gewichtet werden wie die Daten eines Kunstwerks innerhalb eines theoretischen Konstrukts, denn die Daten eines Kunstwerks legt der Schöpfer selbst fest, während sie im ersten Fall außerhalb des Objekts liegen und auch gar nicht zur Gänze bekannt sind. Obwohl die Denkweise nicht in beiden Fällen gleich ergiebig war, war jedoch ihre Wurzel, vom Denkerischen her betrachtet, die gleiche. Bei den Idealtypen unterscheidet sich das Naturgesetz deutlich von der Unabhängigkeit des Individuums, das göttliche Element vom weltlichen, das moralische Handeln vom kalkulierenden, doch in der Wirklichkeit der Renaissancegesellschaft verbanden und vermischten sich diese Elemente zu zweiseitigen Haltungen und zweideutigen Denkweisen. Erstens ist die Ratio nicht unabhängig von ihrer praktischen Anwendung, um sich bis in letzte Konsequenz auszudehnen und Natur und Gesellschaft in ein streng kausalistisches philosophisches System einzuordnen (nachdem es der Hauptanspruch der Ratio ist, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in allen Bereichen zu erforschen). Im Gegensatz zum Positivismus des 19. Jahrhunderts hat der rationalistische Positivismus der Renaissance keinen philosophischen Anspruch und geht mit einem metaphysischen Agnostizismus einher. Wissenschaft und Philosophie gehen getrennte Wege, und die erste will die zweite nicht unterwerfen wie im 19. Jahrhundert 19 . Dies ist zum einen deshalb so, weil die Ratio an sich nicht autark ist; sie integriert auch Intuition und anschauende Erkenntnis, Kontemplation und geht mit ihnen zusammen, wenn ein Problem zur Lösung ansteht.

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Bei Leonardo da Vinci - und auch beim Piatonismus der Renaissance, der ihm völlig fremd war - zeigt sich, daß empirische Beobachtung und anschauende Philosophie im Denken der damaligen Intellektuellen sich nicht ausschlossen. Zum anderen gestattet es der ausgeprägte Individualismus nicht den Begriff des sozialen Gesetzes zu erfassen; wo der Versuch gemacht wird, die Tätigkeit des Individuums unter eine bestimmte Gesetzmäßigkeit zu subsumieren, wird diese Gesetzmäßigkeit wieder auf psychologische Größen zurückgeführt - beispielsweise auf die menschliche Natur - und kehrt auf Umwegen wieder zum Individuum zurück. Ein gesetzmäßiges Erfassen individuellen Tuns wird auch dadurch verhindert, daß die produktive Tätigkeit noch nicht unpersönlich geworden ist. Es besteht noch immer eine direkte Beziehung zwischen Produzent und Konsument, der „Warenfetischismus" funktioniert noch nicht zur Gänze, und die Mechanismen sind noch offen 20 . Dennoch verdrängt die Vorstellung von Individualismus und Wettbewerb den Begriff des Gesetzes, vor allem des Naturgesetzes, nicht ganz, und freilich tritt dieser Begriff, den die Theologen zu den causae secundae zählten, nun deutlicher hervor, was ein Sieg der bürgerlichen Weltsicht ist. Schließlich fand sich die Zwischenformel eines freien Wettbewerbs, der im Rahmen des Naturgesetzes ausgetragen wird - er wird von eben diesem Naturgesetz angetrieben und ist sein Ausdruck 21 . (Diese Auffassung wurde von den ideologischen Vätern des bürgerlichen Liberalismus im 18.Jahrhunderts in aller Deutlichkeit vertreten.) Zweitens wird die Trennung von Göttlichem und Weltlichem nicht im offenen Kampf gegen das Theologische bis hin zu dessen Verschwinden verwirklicht. Gott wird nicht direkt angegriffen, er geht lediglich in ehrenvollen Ruhestand. Im wirklichen wirtschaftlichen und politischen Leben herrscht das Element des Kalkulierens und Abwägens vor, und das wird vom Individuum in seinem Streben nach Herrschaft über die Dinge und über andere Menschen benutzt. Doch im ideologischen Leben herrscht, wie gesagt, der Agnostizismus, und das religiöse Element bleibt als eine Seite dieses Agnostizismus unangetastet. Die Papstkirche ist auch in weltliche Unternehmungen verstrickt, auch sie muß sich im Rahmen des kalkulierenden Geistes bewegen und hat gar keine Zeit, die metaphysischen Begriffe ihrer Weltanschauung zu verteidigen, was die Kollision von Göttlichem und Weltlichen nur noch schwächer macht. Drittens ist auch die Trennung von Moral und Praxis in diesem Sinne abgeschwächt. Die Moral wird nicht ganz abgeschafft, auch wird sie grundsätzlich von nieman-

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dem als etwas Wünschenswertes und Höheres abgelehnt, doch es ist deutlich spürbar und auch ausdrücklich festgestellt, daß das praktische Handeln, wenn es Erfolg haben soll, mit anderen Maßstäben geregelt werden muß. Ich werde auf diese drei Punkte weiter unten zurückkommen, sie sind von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Machiavellis Denken. Ich möchte hier nur anmerken, daß der Hauptträger dieser gemäßigten Trennungen im Italien der Renaissance ihr eigener Schöpfer ist: der Bürger. Als Typus war der Bürger ein Revolutionär, insoweit als sein praktisches Handeln es erforderlich machte, die mittelalterliche Lebenseinstellung und Weltanschauung zu verwerfen. Als Angehöriger eines Standes aber war er konservativ, besonders nachdem er sich mit den Überresten der alten Stände ausgesöhnt hat. In seinem gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben hat der Bürger das Rechnen, Planen und abstrakte Denken entwickelt, er besaß Selbstvertrauen und Schläue. In seinem Privatleben war er ein guter Familienvater, ein durchschnittlich frommer Mensch und er folgte der Tradition; darin fand er vielleicht Geborgenheit und Sicherheit angesichts der ständigen Gefahren, die ihn bedrohten 22 . Diese beiden Seiten des Bürgers spiegeln sich in einem Begriffspaar wider, das in der Renaissance sehr verbreitet war und in Machiavellis Werk großen Widerhall fand: virtü und fortuna. Der erste Begriff drückt den aktiven und rationalen, der zweite das passive und irrationale Element der bürgerlichen Lebensauffassung aus. Das Wort virtus verlor schon früh seine moralische Bedeutung, es wurde mit Studium gleichgesetzt und entwickelte sich dann zu virtü, was bedeutet: Abwägen und Einbeziehen aller - körperlichen und geistigen - Fähigkeiten, ohne daß Gefühle mit hineinspielen. Kennzeichnend ist, daß in einer Zeit, da die Abspaltung der Intelligenzia vom Bürgertum ihren Anfang nimmt, der Begriff virtus sich auf den kontemplativen Menschen zu beziehen beginnt und virtü auf den handelnden 23 . Fortuna wiederum, das Schicksal, ist die Macht, die die virtü bekämpft und manchmal vernichtet. Fortuna ist Reminiszenz der klassischen Antike, auf die sich auch Dante bezieht. Die Humanisten hingegen personifizieren fortuna, obwohl die Wurzel eine andere ist. In einer Welt, in der die konkurrierenden Beziehungen so komplex werden, daß die Berechnung der Folgen jeder einzelnen Handlung unmöglich wird (und folglich auch die Möglichkeit besteht, daß die Handlung fehlschlägt oder ein ganz anderes als das erwartete Ergebnis zeitigt), ist fortuna zwangsläufig ein „ideologischer", ein gebrochener Ausdruck dieser Situation. Doch der Kapitalismus mußte sich nicht bis hin zu kom-

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plexen gesellschaftlichen Beziehungen entwickeln, damit die Bedeutung von fortuna innerhalb des ideologischen Uberbaus klar wurde. Schon in der ersten Zeit, schon als virtü fast noch dem Glücksrittertum entsprach (und die Bürger vieles vom ritterlichen Streben nach neuen Horizonten übernahmen), konnte sie das Meer der Widrigkeiten oft nicht bis zum anderen Ufer überqueren; dann trat fortuna auf den Plan und erklärte den Schiffbruch. Aus Angst vor fortuna, vor den Unsicherheiten des Marktes also und vor der Perspektive eines Bankrotts, zieht sich der Bürger zurück, er öffnet sich nur mehr mit Not und er zieht das Wenige und das Sichere vor. Und doch flüchtet er sich zu Sterndeutern und Sehern, im Versuch, die Ratschlüsse dieser schadenfrohen Göttin zu ergründen, die in Florenz auch in öffentlichen Urkunden erwähnt wird 2 4 . Astrologen stehen nicht nur in bürgerlichen Gesellschaften, sondern auch in Monarchien ganz offiziell in Lohn und Brot, und an den Universitäten des 14. bis 16. Jahrhunderts wird neben der Astronomie auch die Astrologie gelehrt. Selbst die Päpste befragen die Sterne, und im „philosophischen Kreis" Lorenzos de' Medici debattiert man heftig über Sinn und Zweck der Astrologie - Marsilio Ficino verteidigt sie, während Pico della Mirandola sie verwirft 2 5 . An diesem Punkt fällt die Anschauung der herrschenden Klasse mit dem Aberglauben zusammen, mit dem die Masse des Volkes geschlagen ist 26 . Man kann kaum ernsthaft bezweifeln, daß in jener Zeit kalkulierender Geist, Glaube an die Vernunft und Individualismus auf der einen sowie virtü und fortuna auf der anderen Seite von Anfang an mit dem Menschentypus des Bürgers und der bürgerlichen Organisation der Arbeit verwoben waren. Wer versucht, dies in Zweifel zu ziehen, führt das Argument an, daß dieselben seelisch-geistigen Gegebenheiten auch in vielen anderen Gesellschaftsbereichen angetroffen werden, vor allem in Bereichen außerhalb der Einflußsphäre der bürgerlichen Beziehungen, die damals noch nicht umfassend waren; folglich müßten diese Gegebenheiten auf den allgemeinen „Zeitgeist" zurückgeführt werden. Wenn aber das bürgerliche Denken auch in außerbürgerlichen Bereichen vorherrschte, heißt dies nur, daß die relative Macht der bürgerlichen Beziehungen größer war als jede andere entgegenwirkende gesellschaftliche Macht. Weltanschauung und Lebensauffassung der gesellschaftlich stärksten Gruppe werden den Gegnern schon oktroyiert, bevor diese noch zur Gänze in diesem handfesten gesellschaftlichen Kampf besiegt waren; dies verhindert aber nicht, daß die ideo-

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logischen Überbleibsel der besiegten gesellschaftlichen Schichten langfristig weiterleben. Die Lebensweise und die allgemeinen Auffassungen der stärksten Gruppe entsprechen den gesellschaftlichen Gegebenheiten eben besser, und die gegnerischen Gruppen können nicht umhin, einen kleineren oder größeren Teil davon zu übernehmen, um den Erfordernissen des Kampfes besser gerecht zu werden; somit tragen sie unbewußt zur Ausbreitung der Anschauungen bei, die jene Gruppe ausbildete, die sie bekämpfen - was vielleicht das Leben beider verlängert. Doch die Stärke des Gegners gründet sich nicht auf diese Lebensauffassung an sich, sondern auf die gesellschaftlichen Bedingungen und vor allem auf die Produktionsbedingungen, die sie entstehen lassen und die der Gegner kontrolliert; daher ändert die Übernahme der Lebensanschauungen der stärksten Gruppe durch die schwächste gesellschaftliche Untergruppe im Grunde nichts an den Kräfteverhältnissen, sie erleichtert nur deren Überspringen und gibt der stärkeren Gruppe ungewollt die ideologischen Waffen ihrer künftigen Vorherrschaft in die Hand. D o c h wenn die Angehörigen der schwächsten Gruppen, die zwar als Gruppen verschwinden werden, im voraus die neuesten Anschauungen ihrer Gegner übernehmen, haben sie mehr Möglichkeiten, und zwar nun als Individuen, einen Platz in diesem neuen Gefüge zu finden. Abgesehen davon und abgesehen auch vom unmerklichen und fast automatischen Durchsickern der durchsetzungsfähigeren Lebensauffassungen und Lebensweisen in den Gesellschaftskörper, ist eine Ausbreitung der Methoden und Anschauungen der wirtschaftlich vorherrschenden Gruppe auch deshalb möglich, weil ihre Vertreter zufällig und gleichzeitig mit der wirtschaftlichen Leitung (in der diese Auffassung in ihrer reinsten Form kondensiert) auch andere Funktionen ausüben, namentlich in der Politik oder im Krieg; so wird auch in diesen Bereichen der Geist gesät, der sie bei der Ausübung ihrer ökonomischen Funktionen im engeren Sinn beherrscht. So eine Doppelfunktion erfüllten in Florenz die Medici, deren Mitglieder, zumindest in der ersten Zeit, die Kunst der wirtschaftlichen Organisation und politisches Talent auf ihre Person vereinigten. Die Technik der ökonomischen Verwaltung haben in anderen Bereichen Personen eingeführt, die zunächst keine Verbindung zur Wirtschaft hatten, deren Tätigkeitsbereich aber starke Ähnlichkeit mit den Merkmalen eines wirtschaftlichen Unternehmens aufwies; wie etwa die condottieri, die Führer der Söldnertruppen, alle Merkmale von Unternehmern hatten. Sie setzten ihr Kapital aufs Spiel - ihre Soldaten und ihren Ruf; sie mußten dafür

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die besten Investitionsmöglichkeiten suchen - und waren tagtäglich mit Proviantierungs- und Ausrüstungsproblemen konfrontiert, die nur durch Planung, Berechnung und Logistik gelöst werden konnten 27. So wurden allmählich Politik, Kriegskunst und Diplomatie - die in ihrem besonderen Bezug zu Machiavelli gesondert behandelt werden - zu Posten auf den Soll- und Habenseiten eines Hauptbuchs und zum Gegenstand einer im Grunde statistischen Betrachtung. Vorhut dieser Strömung war bei den italienischen Städten Venedig; in Florenz jedoch wird die statistische Betrachtung reicher und vielschichtiger, weil sie auch Kunst und Kultur mit einbezieht. Immobilien, Amter, Einnahmen, Steuern, Ausgaben für öffentliche Aufträge und Kunstwerke - alles wird gezählt und berechnet, während die reine Klassenordnung in Florenz und ihre gesellschaftliche Entwicklung eine allgemeine und abstrakte Darstellung des politischen Lebens besser erlaubt als anderswo 2 8 ; eine Entwicklung, die in sukzessiven Phasen erfolgte und gekennzeichnet war vom Aufstieg und Fall der einen und deren deutlicher Ablösung durch eine andere Klasse. Während im Mittelalter das ideologische Fundament des politischen Systems das Gesetz und das Recht sind, die aus den göttlichen Befehlen fließen, ein Herrscher lediglich deren lebendige Verkörperung ist und die Untertanen ihm theoretisch keinen Gehorsam schulden, wenn er dies nicht ist 29 , so ist die Politik in der italienischen Renaissance eine durch und durch weltliche Größe, die von der katholischen Kirche auch so betrachtet wird; die Kirche läßt die gregorianischen Reformen still beiseite und verfolgt ihre politischen Ziele, ohne sich noch allzu sehr auf ihre göttliche Legitimation zu berufen. Die Politik fügt sich in die Menge der kalkulierbaren Quantität, und jeder kann sie, unabhängig von seiner persönlichen Einbindung, im technischen Sinn rational wahrnehmen als eine gegenseitige Abhängigkeit von Faktoren, deren jeweilige Konstellation entweder das eine oder das andere Ergebnis hervorbringt. In Italien wird auch erstmals der mittelalterliche, ritterliche Begriff des Krieges aufgegeben, wonach dieser die Einsetzung göttlicher Gerechtigkeit und ein Beweis individueller Tapferkeit ist, die nicht rational an die Bemühungen der Gesamtheit angepaßt ist. Es gibt nun eine „neutrale Freude" an der richtigen Austragung des Krieges an sich; dieses Gefühl entspricht der Stellung des Condottiere, der innerlich keiner gesellschaftlichen Klasse angehört, daher je nach Bezahlung allen dient und sich in Zusammenhang mit seinen eigenen unternehmerischen Interessen lediglich mit der technischen Seite der Kriegführung beschäftigt. Kennzeichnend ist, daß es im italienischen

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Schrifttum jener Zeit zahlreiche Strategiebeschreibungen gibt, die die technischen Seiten der Kriegführung behandeln; hier gewinnt natürlich nicht derjenige, der recht hat (er wird auch nicht verherrlicht), sondern derjenige, der versierter ist und im Kampf eher über technische Probleme nachdenkt als über den moralischen Zweck des Kriegs 3 0 . Die neue Wahrnehmung der Politik und des Krieges drückt sich in der italienischen Renaissance nicht durch einen alleinigen Träger aus, sondern durch viele, wenngleich ein jeder sie in unterschiedlichem Maße nutzt. Dennoch können diese Träger, je nach der Struktur des politischen Status quo, im wesentlichen in zwei Typen unterschieden werden, die die politische Bühne des Italien der Renaissance bevölkern - auf der einen Seite die Fürstenstaaten, auf der anderen Seite die Republiken, zu denen sich die bürgerlichen Gesellschaften des ausgehenden Mittelalters entwickelten. Problematischer stellen sich die gesellschaftlichen Wurzeln und die Entstehungsbedingungen der Fürstenstaaten dar, die auf vielfältige Faktoren zurückgeführt werden müssen. Als Fürstenstaat - in dem Sinn, den das Wort später annahm - kann auch der Normannenstaat unter Roger II. oder der Staat Friedrich II. bezeichnet werden, die Entsprechungen mit den absoluten Staaten des 15. Jahrhunderts sind jedoch nicht so groß, wie viele meinen möchten; schließlich war die Macht Rogers II. oder des Staufers Friedrich II. auf die feudalistische Rechtmäßigkeit gegründet, aus der sie selbst, zumindest offiziell, die Legitimität ihrer Handlungen ableiteten; Ähnlichkeiten gibt es in anderen Punkten, auf die ich noch zu sprechen komme. In Süditalien, w o die feudalistischen Strukturen sehr viel ausgeprägter waren, konnte der Fürstenstaat jedenfalls nicht den gleichen Stand haben wie die Fürstenstaaten, die in den bürgerlichen Gesellschaften Norditaliens entstanden. Somit erscheint die Behauptung, der süditalienische Fürstenstaat verdanke seinen administrativen Rationalismus vor allem den osmanischen Vorbildern, nicht ganz ungerechtfertigt. Die norditalienischen Strukturen scheinen hingegen von der entsprechenden politischen Macht des Bürgertums (unabhängig von seiner wirtschaftlichen Macht) bestimmt worden zu sein. Als die Bedrohung von unten wuchs und Unruhen den Handel erschwerten, übergab das Bürgertum, bereitwillig oder nicht, die Macht anderen Instanzen, die für die Bedürfnisse des Bürgertums stabile Bedingungen garantierten. O f t wollten die Fürsten aber auch aus Eigeninteresse und nicht als Befehlsempfänger die Macht selbst in die Hand nehmen; sie suchten politische Unterstützung in den unteren Klassen, und das Bürgertum mußte diese Erpressung solange dulden,

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wie es nicht anders ging 31 . Dennoch kann eine Tyrannis nicht in allen Fällen als bloße Widerspiegelung der Konzentration des Reichtums in wenigen Händen verstanden werden, denn es hat sich gezeigt, daß Städte mit geringer wirtschaftlicher Bedeutung frühzeitiger von Despoten regiert wurden, während es in reicheren Städten wie Florenz oder Venedig je nach der politischen Stärke der herrschenden Klasse nur indirekt oder erst später dazu kam 32 . Ein großes Lager, aus dem sich Fürsten sehr oft rekrutierten, waren die Soldführer, die condottieri, die für die politische Szene Italiens unverzichtbar geworden waren, seit die gesellschaftliche Macht und damit die Kriegertugenden des Feudaladels ihren Niedergang erlebt hatten, während die Bürger, die zwar in internen Konflikten ausreichend trainiert waren, den Kriegspflichten nicht systematisch nachkommen konnten und daher Söldner anwarben. Das Leben eines Heerführers war außerordentlich hart und es machte auch den Menschen selbst unvorstellbar hart, schärfte aber in gleichem Maß auch seinen Verstand. Sein persönliches Ansehen war sein wichtigstes Kapital, und nur dadurch konnte er Söldner an sich binden. Allein Talent, Geschicklichkeit und das Fehlen moralischer Bedenken konnten seinen Aufstieg sichern. Auf den Herrscherthron stieg er entweder durch direkte Usurpation oder über eine Gebietsherrschaft, die er als Lohn für seine Dienste oder als Winterquartier bekommen hatte und ausdehnen konnte 33 . In dieser Hinsicht ist der Fürst ein „demokratisches" Phänomen, er konnte ohne weiteres aus jeder Gesellschaftsschicht stammen und sich nur dank seiner Fähigkeiten emporarbeiten wie ein Gelehrter oder ein Künstler - und natürlich half ihm eine niedrige Herkunft beim Aufstieg, denn er hatte von vornherein keine moralischen und religiösen Bindungen, und das Geburtsrecht, das der Adelsstand vertrat, galt für ihn ebensowenig wie feudale ritterliche Tugenden und Ehrgefühle. Die Machtbasis der italienischen Fürsten war nach dem göttlichen Erbrecht der Könige von Gottes Gnaden fremdartig und diesem genauso fremd wie das bürgerliche Unternehmen, das erstarkte, indem es die feudalistischen Ansichten über Zinswirtschaft und den „gerechten Preis" der Ware verwarf. Diese Illegalität festigte sich nach und nach im kollektiven Bewußtsein. Die Inhaber des legitimen feudalistischen Erbrechts, die Kaiser, waren fern und konnten keinen großen Einfluß auf die Entwicklung nehmen. Da allbekannt war, daß sie sich nicht mit Waffengewalt durchsetzen konnten, wurden sie verspottet, wenn sie sich hartnäckig auf ihre göttlichen Titel beriefen, und mehr noch, wenn sie nach Italien reisten, um mit den

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illegitimen Machthabern zu verhandeln, ihre gottgegebenen Rechte gegen irgendeine bescheidene Steuer eintauschten, nichtssagende Titel verliehen oder nichteheliche Kinder legitimierten. Der Herrscher aus eigener Macht wächst nicht in Adelskreisen auf und verkehrt auch nicht ausschließlich dort; so läuft er keine Gefahr, politische Vorurteile auszubilden, die seinen politischen Scharfsinn schwächen könnten; er verkehrt im Gegenteil mit Menschen aller Art und kennt ihr Gewerbe und ihre Einstellungen aus erster Hand, er kann sie in bezug auf ihre Nützlichkeit richtig einschätzen und zeigt nicht den Dünkel der Adligen gegenüber den Menschen, die sie benutzten 34 . Der Herrscher mußte ständig um seinen Thron kämpfen und ihn jeden Tag wieder neu erobern. Er kämpfte gegen die Aristokratie, gegen das Volk und gegen die gegnerischen Glücksritter. U m Erfolg zu haben, mußte er die gesellschaftlichen Phänomene kennen und berücksichtigen, er mußte Verwaltungsgeschick und natürlich auch ein allgemeines politisches Verständnis, den Keim einer Theorie, haben 35 . Da die politischen Kämpfe gewöhnlich in den engen Grenzen einer Stadt stattfanden und die gegnerische Seite aus bestimmten, namentlich bekannten Personen bestand, kam der Kenntnis der persönlichen Leidenschaften und der menschlichen Natur eine besonders große Bedeutung zu. Ein Sieg in diesen politischen Kämpfen war ein Sieg der Fertigkeiten eines Individuums über die Fähigkeiten eines anderen Individuums, und das Individuum wurde schließlich als endgültig bestimmender Faktor für die Gestalt und das Schicksal einer Stadt betrachtet. Italien war schließlich zersplittert, und das gleiche Spiel wurde Tausende Male gespielt, bis es als normal und universell galt; dadurch ist die Befähigung des Individuums zur politischen Theorie des weisen Gesetzgebers zum einzigen Regulativ des Gemeinwesens geworden. Die Mittel, die dem absoluten Herrscher Macht verleihen, müssen rational ausgewogen sein, sie müssen mit angemessener Voraussicht und mit Bedacht gewählt sein. Sogar Morde müssen aus der Notwendigkeit und mit der Konsequenz besonnenen Denkens begangen werden; es mußten rationale Taten sein oder eher eine Aufeinanderfolge von Handlungen, die rationale Motive und Zwecke verbanden. In Hinsicht auf die Ausübung der Macht bedeutet Rationalismus, daß sich der Staat als ein individuelles Unternehmen des Herrschers darstellt (auch wenn dessen Basisgrößen eher politischer als ökonomischer Natur sind); folglich muß der Herrscher unternehmerische Risiken eingehen und die entsprechenden Fertigkeiten haben 36 . Der Staat ist also wie der Herrscher, und wenn der Herrscher rational handelt,

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erscheint der ganze Staatsapparat von außen wie eine lebendige und vernünftige Einheit, wie ein lebender Träger der Vernunft. In den bürgerlichen Republiken jener Zeit wird die Vernunft hingegen nicht über den Herrscher in das Gemeinwesen integriert, sondern sie stellt sich in zersplitterter Form dar; sie ist eine Waffe der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die nach der Macht streben. Somit umfaßt die Vernunft nicht das Ganze, sie stützt lediglich die einander bekämpfenden Teile; folglich erscheint sie nach außen, in den Beziehungen zu anderen Gemeinwesen, nicht als staatliche Macht und nutzt sich im Inneren ab. So stellt sich die Republik (auch eine Republik wie Florenz, die sich in ihren inneren Erscheinungsformen den Geist des Kalkulierens und Abwägens mehr zu eigen machte als jede andere) nach außen hin nicht stark dar, sie hatte weder einen einheitlichen und ungebrochenen Willen noch eine konstante Linie; ich werde noch darauf zu sprechen kommen, daß sich Machiavelli dieser Schwäche sehr wohl bewußt war. Obwohl die politischen Auseinandersetzungen heftig waren, beschränkten sie sich außerhalb der Zeiten großer Aufstände doch auf den verschwindenden Teil der Bevölkerung, der überhaupt politische Rechte hatte; in Florenz hatten von 80000 bis 90000 Einwohnern nur circa tausend Familien eine politische Vertretung. In diesem Rahmen wurde die Macht bewußt zersplittert, aus Angst, die einen oder anderen könnten mehr Macht bekommen und zu Tyrannen werden. Wahlen fanden durch das Los statt, die Amtszeit der Würdenträger war mit zwei Monaten bis zu höchstens einem Jahr sehr kurz, die Wahl auf Parteibasis war strengstens verboten, die höheren Amter und die diplomatischen Ehrengesandtschaften wurden abwechselnd mit Vertretern mächtiger Familien besetzt, um das Gleichgewicht zu wahren und um Mißstimmigkeiten vorzubeugen, während die Ernennung zu höchsten Amtern in einem komplizierten Verfahren stattfand, das Kompromisse und Ausgleiche ermöglichte. Insgesamt gab es viele Machtpole, und die wichtigsten fanden sich natürlich nicht innerhalb eines Regierungsapparates, der sich alle zwei oder sechs Monate neu konstituierte und dadurch ausgelaugt war. Wenn die Führungsriegen der großen Kaufmannsgilden und Handwerkerzünfte oder der anderen Pole wirklicher gesellschaftlicher Macht nicht eigene Positionen besetzen konnten, nahmen sie als Vertreter dieser Pole an der Verteilung der Regierungsämter teil und sorgten so für den Erhalt des Gleichgewichts. Die Mitglieder des Regierungsapparates übten als solche nur überwachende Funktion aus; wenn es um die Frage wirklicher Macht ging, verhandelten sie direkt mit jenen, die sie

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innehatten oder beanspruchten, auch wenn es nur einfache Privatleute waren. Doch die Schwäche der Regierung erlaubte nicht nur eine künstliche Gleichgewichtsbildung, sie erlaubte auch, daß permanent eine Staatsgewalt ausgeübt wurde, ohne daß, wie im Fall der Medici in Florenz, auch nur ein Titel darauf bestand. Trotz des Unterschieds zwischen den Herrschaftsformen verwirklichte sowohl der absolute als auch der republikanische Staat, jeder auf seine Weise, in hohem Maße die Postulate, die der neue sozioökonomische Charakter der Zeit einforderte. In beiden Systemen wurden qua Gesetz die Privilegien der Herkunft abgeschafft, theokratische Vorstellungen wurden aufgegeben, und es wurde versucht, alle Lebensbereiche dem Rationalismus unterzuordnen 37 . Auch wurden in beiden Systemen Kriege geführt, die nicht mehr die Merkmale des anarchischen, räuberischen Krieges zwischen Menschen, sondern die Charakteristika von Konflikten zwischen Staatswesen trugen. Sowohl die Kriege nach außen wie auch die internen fiskalstaatlichen Regelungen nutzten zwar nur bestimmten Gruppierungen, dennoch gab es, wenn auch oft nur im Anflug oder zum Schein, ein Streben nach Vereinheitlichung der Ziele und nach Verwertung der wirtschaftlichen Mittel zum Nutzen des Staates, des Vaterlandes als einer Einheit, die für alle von Wert war, egal auf welcher gesellschaftlichen Stufe sie standen. So wurde die Grundlage für die Entstehung einer verwaltungsrechtlichen, steuerlichen und richterlichen Bürokratie gelegt38. Die Entwicklung ging jedoch nicht so weit, daß sie die Ausmaße eines Nationalstaates erreichte - ganz im Gegenteil; ungefähr ab der Mitte des 15.Jahrhunderts sind die hemmenden Faktoren stärker als die treibenden, und in Italien brach eine Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Krise an. Um 1530 wurde das Land vollständig von den Spaniern unterworfen, und es begann eine lange Zeit der Stagnation. Genau zu Machiavellis Lebenszeit sind diese Krise und das Empfinden der Krise die Hauptmerkmale Italiens; die Quintessenz und die innerste Triebfeder für Machiavellis Werk waren der Wunsch und die Suche nach politischen Lösungen, die aus dieser Krise hinausführten (Machiavelli nennt sie „Verderbtheit" und gibt so ihrer extremsten Konsequenz die Schuld, namentlich der Zerstörung der individuellen und kollektiven Tugendhaftigkeit und Tüchtigkeit sowie der Verweichlichung). Vor allem in Florenz schienen die sozialen Ursachen für diese „Verderbtheit" in der Übermacht des Bankkapitals gegenüber dem Industriekapital und in der Herausbildung einer Schicht müßiggehender Bürger zu liegen, die bald mit den Resten des Adels ver-

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schmolz und einen höfischen Lebensstil annahm. Der Erfolg und die ausgefeilten Methoden der Bankinstitute und Kreditunternehmer verzögerten eine produktive Kapitalinvestition 39 . Gleichzeitig wurden dadurch die politischen Grundlagen der Vorherrschaft des Bürgertums erschüttert, das sich nun in zwei Lager mit gegensätzlichen Interessen spaltet, nämlich das der Banker und untätigen Privatiers und das der Fabrikanten. A b der Mitte des 15. Jahrhunderts verfällt die Wolltuchproduktion, und die Seidenproduktion kann den Niedergang nicht aufhalten, weil der Kreis ihrer Abnehmer sehr viel begrenzter ist. Anfangs schadet die Krise nur dem produzierenden Lager des Bürgertums, weil die Banken sich auf ausländische Unternehmen und auf den Fernhandel stützen, der mit der Eroberung Pisas erstarkt war (Pisa war den Florentinern als Hafen unentbehrlich; daher kämpften sie auch verbissen um ihn). Aus Mangel an Perspektiven wird langsam auch das Industriekapital aus der Produktion herausgezogen und dem reinen Profitdenken und dem Schmarotzertum werden Tür und Tor geöffnet 40 . Das Kapital wird in Grundbesitz und Staatsanleihen investiert - die Vermögenden leihen dem Staat Geld, damit er Kriege führen kann, und bekommen dafür Zinsen. Die Vermögenden entfernen sich also von den unteren Schichten der herrschenden Klasse (die mit ihren Steuern im Grunde die Zinsen für das Kapital der Vermögenden bezahlen) und verhindern eine Kapitalakkumulation, die der Produktionsentwicklung hätte zugute kommen können, während der Staat selbst durch den Produktionsrückgang langfristig seine Einnahmequellen verliert 41 . Zuvor legten die Reichen aus Angst vor den Kleinunternehmern und Handwerkern ihre Ersparnisse in die Hände von Großunternehmern; als das Produktionskapital aber zurückging, wurden auch sie in die wirtschaftliche Katastrophe mit hineingezogen - die wirtschaftliche Konzentration auf die private Hand führte, nachdem die Spitze gebrochen war, zu einem Ubergreifen der Krise auf die breiten Massen. Das gleiche geschah später auch mit dem Bankwesen von Florenz, das die Medici monopolisiert hatten, indem sie ihre Konkurrenten entweder durch direkte Steuern vernichtet oder gleich umgebracht hatten; daß sie von den konkurrierenden Banken ausgeschlossen wurden, die um 1400 überall in Europa entstanden, erschütterte die Stadt als Ganzes 42 . Die Schicht der müßiggehenden Privatiers, der oziosi und scioperati, war in der Zeit Lorenzos de' Medici voll herausgebildet, und er selbst war ein angesehenes Mitglied dieser Schicht. Die Privatiers stellen nun den Kern, den wichtigsten Teil des Bürgertums dar und sind

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tonangebend für den Konservativismus, das Wiedererstarken feudaler Elemente. Indem sie die Produktion und die bürgerliche Arbeit im allgemeinen aufgaben, entfernten sie sich vom abwägenden und berechnenden Geist; zumindest wurde so verhindert, daß sie ihn zur Achse eines Weltbildes machten. In der Geisteswelt der Gebildeten hingegen weichen rationale Positionen einer Welle des Neuplatonismus und Mystizismus. Im Gegensatz zu den strengen Sitten der alten bürgerlichen Unternehmen werden nun ästhetische Werte über politische und kriegerische Werte gestellt, die Sitten verweichlichen, man strebt nach delikaten Genüssen sowie nach ordinären Freuden des Leibes und des Geistes. Die luxuriöse Verschwendung erreicht einen Höhepunkt, während sich der Rückgang des kollektiven Geistes beim Bürgertum in der Kunst in einem Rückgang der öffentlichen Bautätigkeit - in der sich ein allgemeines Machtgefühl und kollektive Uberzeugungen ausdrücken - zugunsten der Bildhauerei und Malerei und in letzterer im Rückgang des Frescos zugunsten des transportablen Gemäldes manifestiert 43 . (Aus ähnlichen Gründen entwickelte sich mutatis mutandis die antike Kunst im Übergang des 5. zum 4.Jh.v.Chr.) Die Renaissance folgte also dem Bogen der gesellschaftlichen Klasse, die sie geprägt hatte - sie begann republikanisch und endete höfisch. Der Wettbewerb als wichtigstes Kennzeichen des Frühkapitalismus und als ein Auslöser, der unzählige Fähigkeiten freigesetzt hatte, machte nun bei den Besitzenden dem Wunsch nach Sicherheit Platz, nach Integration der Großbürger in die höfischen Stände und nach Übernahme von deren Lebensstil. Diese Feudalisierung des bürgerlichen Lebens verstärkt sich noch durch die anschließende „Hispanisierung" des Lebens (nach 1530); Arbeit wird offen verachtet, nur noch Adelstitel zählen. Parallel zur Republik der bürgerlichen Gesellschaft wird auch der Fürstenstaat konservativ. Die zuvor illegitimen Tyrannen werden zu Erbherrschern, die nur daran interessiert sind zu erhalten, was sie vorgefunden hatten. Der Staat wird statisch, er steckt fest. Die Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten werden auf die Grundlage des größtmöglichen gegenseitigen „Nutzens" im engeren Sinn gestellt. Die bürgerliche Vorstellung von „Ordnung" wird von der Vorstellung der „Fürsorge" ergänzt, und das Großbürgertum ist nicht mehr am Erhalt seiner traditionellen Republik interessiert - es ist vielmehr bereit, die Macht einem Herrscher zu übertragen, der seine Privilegien sichert 44 . Die Herrschaft wird nun zur politischen Manifestation der Verschmelzung des Großbürgertums mit den verbleibenden Stadtpatriziern und den Resten des Feudaladels oder der neuen Feudalherren,

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die mit dem Niedergang der bürgerlichen Verhältnisse emporkamen. (In der Literatur fand diese Verschmelzung ihren Ausdruck im Wiederaufleben mittelalterlicher Gattungen, die vom Geist der Renaissance durchdrungen waren; dazu gehören die Epen von Ludovico Ariosto und Torquato Tasso.) Sie alle bildeten das höfische Umfeld des Fürsten, der, wie oben erwähnt, nun ein ganz anderer Typus ist als seine Vorgänger. So vereinheitlicht sich die herrschende Schicht in gewisser Weise, aber sie ist ausgelaugt, geschwächt und kraftlos; innovatives Streben und die frühere Dynamik werden ein für allemal begraben. Die spanischen Eroberer sind nur noch ihr Grabstein. Die Schwächung des italienischen Frühkapitalismus wurde vor allem durch äußere Faktoren bedingt. Das Entstehen der großen europäischen Staaten und der Beginn ihrer handelsorientierten Politik, die Schließung des Orients mit der osmanischen Eroberung und die Öffnung neuer Wege durch die Entdeckungen engten den Spielraum für die wirtschaftlichen Aktivitäten der venezianischen, florentinischen und genuesischen Kapitalisten auf erstickende Weise ein. Doch es gibt noch einen weiteren Grund: Durch die frühzeitige Entwicklung hing der italienische Kapitalismus von einem Markt ab, der fast durchgehend feudalistisch strukturiert war, nämlich von den Konsumbedürfnissen und Geldnöten der Fürsten, Bischöfe und Könige. Mit dem Verfall dieses feudalistischen Marktes und dem Niedergang ihrer natürlichen Träger sowie durch die großen Bankrotte des 16. Jahrhunderts (nachdem die neuen Nationalstaaten sich weigerten, ihre Schulden zu begleichen) war dem italienischen Kapitalismus der Boden entzogen, und es zeigte sich, daß seine imposante Ausbreitung keine stabile Grundlage hatte 45 . Hinzu kamen noch weitere äußere Faktoren sowie die interne Verschmelzung des Bürgertums mit dem Feudaladel. Einen dramatischen und blutigen Zug verliehen diesem Niedergang die ständigen Kriege, die Italien während des ganzen 15. Jahrhunderts zu Boden drückten. Seit die Stadtstaaten zu wirtschaftlichen und politischen Zentren geworden waren, führten sie auch gegeneinander Krieg. (Dies geschah mit dem Erstarken des Bürgertums im Inneren, das schließlich Autonomie erlangte und dessen Autonomie vom Papst gebilligt wurde, um den Einfluß des Kaisers zu untergraben, der als Träger der Krone des Heiligen Römischen Reichs die legitime Oberhoheit in Italien hatte.) Die beginnende Orientierung der Städte nach außen, zur Sicherung eines größtmöglichen Lebensraumes zu ihrer Versorgung, zieht Konflikte zwischen dem Bürgertum und den adligen Landbesitzern nach sich, deren Basis schließlich zerschlagen und

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die in die Städte gezwungen werden. Doch damit endete es nicht; die fünf größten italienischen Staaten - Mailand, Florenz, Venedig, der Heilige Stuhl und das Königreich Neapel - strebten weiterhin mit allen Mitteln, wenn auch manchmal aus rein wirtschaftlichen Gründen, nach einer Ausdehnung ihrer Staatsgebiets und führten mit wenigen Unterbrechungen fast pausenlos Kriege. Trotz dieser Kriege blieb das Ziel der gegnerischen Parteien immer der Erhalt des Gleichgewichts oder die Sicherung kleiner Gewinne, denn keine Partei hatte die Macht, die anderen Parteien endgültig zu vernichten. Diese Kriege hatten begrenzte Ziele (und waren daher sowohl in bezug auf ihre Mittel als auch in bezug auf den Geist, mit dem sie ausgetragen wurden, zutiefst konservativ), sie führten immer wieder zu wechselnden Bündnissen, zur Zerschlagung des Gegners und zur Aufreibung in fruchtlosen Kriegen, in denen sich die Staaten politisch und wirtschaftlich verausgabten. Als die Franzosen und die Spanier dann in Italien einmarschierten, konnte sich ihnen niemand entgegenstellen. Der Bogen, wie ich ihn mit den bislang beachteten Kriterien schlug, beginnt mit einem lebendigen und dynamischen Prinzip, mit der kalkulierenden Betrachtung und der Ratio, und er endet mit dem Bild einer aufgelösten gesellschaftlichen Wirklichkeit; er führt mitten durch die Ambiguität der Renaissance gegenüber der Vorstellung von Gesetzmäßigkeit (d.h. der Ausdehnung der Ratio auf alle Bereiche) und gegenüber der Moralstruktur. Dieses Schema kann bequem als Rahmen aufgestellt werden, der Machiavellis Denken integriert, denn schließlich ist Machiavellis geistiger Ansatz nichts anderes als das Streben nach adäquaten Heilmitteln für einen verletzten gesellschaftlichen Körper mit den Mitteln der Ratio; Machiavelli isoliert unbewußt das eine Extrem seiner Zeit und bildet daraus eine Theorie, um sich mit dem anderen Extrem auseinanderzusetzen, während er gleichzeitig, wie weiter unten gezeigt wird, die Unentschlossenheit der Renaissance gegenüber den Fragen nach Gesetzmäßigkeit, Moral und Religion teilt. Die Anwendung dieses Ansatzes auf Machiavellis Denken ist zwar unter logischen Gesichtspunkten einwandfrei, würde ihm aber nicht erschöpfend gerecht werden und wäre im Grunde die gleiche mechanische Anwendung des Schemas „Persönlichkeit - Zeit", das ich zu Anfang kritisierte. Es genügt nicht, die Epoche aus der Perspektive der Probleme zu beleuchten, die sich beim Individuum finden. Es müssen vor allem so viele dieser gebrochenen Linien wie möglich gesucht werden, denen die Epoche gefolgt ist, um das Individuum

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zu prägen, und so viele Brennpunkte wie möglich, konkrete und greifbare Brennpunkte, in denen die Persönlichkeit die allgemeinen Merkmale der Zeit antraf, um sie zu individualisieren und zum Funken ihres Denkens zu machen, indem die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit zu einer subjektiv-psychischen und geistigen gemacht wird.

II Tritt man nun in Machiavellis Gedankenwelt ein, sieht man, daß die geistigen Merkmale der Renaissance dort nicht auf der Grundlage ihrer idealtypischen Basis integriert wurden (und folglich kein System bilden, das konsequent von der neuen geistigen Haltung in ihrer reinen Form regiert wird, wie sie sich zeigt, wenn sie der reinen Form der geistigen Haltung des Mittelalters gegenübergestellt wird), sondern in ihrer gemischten, unreinen Form, in der diese Merkmale in ihrer Zeit existierten und funktionierten. Daher muß die Meinung, Machiavelli repräsentiere mit seinem versteckten Materialismus die intensivste Bejahung der neuen Weltanschauung 46 , mit aller gebührenden Zurückhaltung aufgenommen und auf jeden Fall in Relation zum aufgeklärten bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts betrachtet werden, dessen extremste Ausformung der Wissenschaftspositivismus war, die vollständige Ablehnung dessen, was damals als mittelalterlich-religiöses Denken galt. Die charakteristischen Merkmale des neuen Denkens sind bereits vor Machiavelli so bekannt und verbreitet, daß er sie mitnichten bewußt auswählt - er nimmt sie einfach als selbstverständlich und integriert sie mit all den Beschränkungen, die sie auch in ihrer historischen Manifestation hatten; folglich ist nicht Machiavelli selbst ihre Verkörperung, weil es eine solche Verkörperung nicht gab. Dennoch kann leicht ein solcher Eindruck entstehen; der weltliche und antireligiöse Geist Machiavellis drückt sich nämlich nicht so deutlich und intensiv in neuen Entdeckungen oder in der bahnbrechenden Systematisierung der Gegebenheiten aus, als vielmehr in seiner allgemeinen Haltung zu den Fragen, die ihn beschäftigten. Das neue Denken in Machiavellis Werk wird vor allem in der Trennung von Moral und Politik spürbar. Durch diese Trennung und in dem Maß, wie sie von Machiavelli unternommen wird, kann er, wenn auch keine neue Wissenschaft schaffen, so doch die politischen Phänomene mit elementaren wissenschaftlichen Voraussetzungen behandeln.

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In der klassischen Antike war der höchste Wert der Staat, und die höchste Qualität des Menschen war es, Bürger zu sein. Politik und Moral standen also nicht in einem Widerspruch; Staatsmoral und allgemeine Moral fielen zusammen. Staatsmoral - und Staatsräson - verbanden sich damals noch mit der Persönlichkeit eines Herrschers und wurden nicht als von irgendeiner überindividuellen staatlichen Instanz herrührend betrachtet, (in der Person von Kreon wird diese Auffassung unmittelbar klar.) Im Mittelalter jedoch stand nach der christlichen Auffassung die Moral über dem Staat, und der Staat war nichts weiter als das Durchsetzungsmittel von Moral und Gerechtigkeit im religiösen Sinne der Wörter. Für den Christenmenschen waren Staatsmoral und Staatsräson eine Sünde an von Gott aufgestellten Gesetzen, während sie für den antiken Menschen eine natürliche und neutrale Kraft darstellten; abgesehen davon, hatte der Begriff „Sünde" in der Antike keine metaphysische Tiefe47. In der Theorie macht das Mittelalter keinen Unterschied zwischen persönlicher und öffentlicher Moral, zwischen der Moral des einzelnen und der Moral des Herrschers; das System der göttlichen Werte mußte gleichermaßen alle Bereiche menschlichen Lebens durchdringen, denn in allen mußte es sich vor Gott verantworten. Genau auf diese Unterordnung der Moral unter die Politik stützten sich die weltlichen Absichten der Päpste: Der Herrscher war schließlich nur ein Statthalter göttlichen Rechts, das auf Erden schlechthin vom Papst vertreten wurde, und als Herrscher mußte er sich vor dem Papst rechtfertigen, bevor er sich vor Gott verantwortete. Es war folglich nur natürlich, daß die ersten Einwände gegen die reine mittelalterliche Weltanschauung von den Ghibellinen kamen, den Gegnern päpstlicher Macht und Verfechtern der weltlichen Macht des Kaisers. In seinem Traktat De monarchia betrachtet Dante als Grundlage der Gesellschaft das Recht, das in Form kaiserlicher Macht und päpstlicher Macht jedem der beiden getrennt von Gott gegeben wird. Der Papst hat die Gerichtsbarkeit in überweltlichen, der Kaiser in weltlichen Dingen. Jedoch bleibt Dantes Argumentation scholastisch und sophistisch und ist voller Allegorien. Die Macht des Kaisers wird durch Bibelstellen belegt und nicht durch Gründe, die aus ihrer Weltlichkeit selbst hervorgehen. Auch fehlt der Begriff der Nation, weil Kaisertum und Papsttum universale Mächte sind; ihnen entspricht eine universale Staatstheorie, die vom katholischen Denken, der Theologie, beeinflußt ist und in der katholischen Sprache, dem Lateinischen, niedergeschrieben wird. Radikaler ist da die Auffassung

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des Marsilius von Padua im Defensor pads [entstanden um 1317 in Verona, erstmals publiziert 1559 in Basel]; in diesen Thesen wird hinsichtlich der Beziehung zwischen Staatsgewalt und göttlichem Befehl ganz deutlich das Staatliche vom Kirchlichen getrennt, während es beim Verhältnis Gott und Natur allgemeinere Bedenken gibt. Der Staat ist Selbstzweck; die Gemeinschaft der Bürger ersetzt die Gemeinschaft der Gläubigen. Das Gesetz wird den Bürgern nicht oktroyiert, sondern von ihnen selbst geschaffen. Von Bedeutung ist nicht so sehr die Regierungsform - die Macht sollte vom Volk verliehen werden und sollte diesem auch immer verantwortlich sein. Der Klerus steigt auf dasselbe Niveau zu den anderen Bürgern herab, und der weltliche Herrscher hat das Recht, Päpste und Bischöfe einzusetzen und abzusetzen 48 . Dennoch bewegt sich Marsilius im gleichen Denkrahmen wie seine Vorgänger; alles Neue, meint er, sei der Intuition geschuldet, nicht einem neuen Blickwinkel. Der Blickwinkel beginnt sich erst zu ändern, als die Frage der Weltherrschaft des Papstes oder des Kaisers vor der konkreten Existenz der neugeschaffenen Nationalstaaten weicht und neue Theoretiker (wenngleich Theologen und Scholastiker) auftauchen, die versuchen, das Existenzrecht des jungen Nationalstaats zu verteidigen, wie Johannes von Paris und Pierre Dubois, die beweisen wollen, daß der französische König autonom sei 49 . Möglicherweise wurden diese Bemühungen ideologisch von der Trennung zwischen der göttlich-theologischen und der weltlich-philosophischen Wahrheit unterstützt, die in der spätmittelalterlichen averroistischen Lehre von der „Dualität der Zweiweltentheorie" und der „zweifachen Wahrheit" zum Tragen kommt 50 . Diese Lehre fand im Westen großen Widerhall; ausgehend von der Universität von Paris, fand sie an der Universität von Padua, die damals unter dem Einfluß pragmatisch eingestellter venezianischer Kaufleute stand, ein festes Haus. Erklärtermaßen jedoch beeinflußte sie Petrus Pombonatius (einen Zeitgenossen Machiavellis), der - im Hinblick auf ihre Irrtümer - Moses, Jesus und Mohammed gleichsetzte und erklärte, der Zweck der Religion sei ein politischer 51 . Doch Machiavelli kam nicht aus diesem Lager, sein Denken ist auch nicht dessen extreme Konsequenz. Nur im nachhinein kann man die verschiedenen Manifestationen dieser Strömung erforschen und sie in eine logische und chronologische Reihe stellen, die allerdings nur für die Ideengeschichte von Bedeutung ist, denn diese Strömung übte keinen umfassenden Einfluß auf die allgemeinen Anschauungen aus. Diese Ideen erreichten Machiavelli nicht als eigenständiger Faden einer philosophischen und politologischen Problema-

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tik - umgekehrt, Machiavelli blieb dieser Problematik verhaftet, die er selbst als zusammenhängende Einheit nicht kannte und damit spontan auf die Reize der Umgebung reagierte, die sie immer wiederholten und vertieften. Tatsache ist, daß in Machiavellis Werk die Welt der Moral und die Welt der Politik getrennt sind. Die Moral ist eine individuelle, persönliche Angelegenheit; die politische Aktivität ist unabhängig und autonom und steht außerhalb der Sphäre und der Imperative der individuellen Moral - obwohl die politische Aktivität zur Moral zunächst nicht in Widerspruch steht und die Eliminierung der individuellen Moral auch nicht als unerläßliche Bedingung für ihre Entwicklung ansieht. Die Idee einer öffentlichen Moral und eines öffentlichen Bewußtseins verlangte zwei geistige Voraussetzungen, die beide durch den allgemeinen Charakter von Machiavellis Zeit unmöglich geworden waren: erstens die theokratische Unterordnung der Politik unter die Moral, die, wie gesagt, im Mittelalter vorherrschend war, zweitens das Ideal des bürgerlichen Liberalismus, die Gemeinschaft bewußter und informierter Bürger, die mit Verantwortungssinn am öffentlichen Leben teilnehmen und mittels ihrer gewählten Vertreter regieren 5 2 . Zum Fehlen dieser Voraussetzungen kam noch hinzu, daß die feudalistischreligiöse Moral in Italien in allen ihren Erscheinungsformen (vom ritterlichen Ideal der Männlichkeit und Ehre bis hin zur mönchischen Askese) sehr viel schneller verfiel als in den anderen europäischen Staaten und das Individuum frei machte, es aber sich selbst überließ 5 3 . Sicherlich betraf dies vor allem die oberen Gesellschaftsschichten, doch am öffentlichen Leben nahmen eben nur diese teil; so kann man sagen, daß der Unterschied zwischen individueller und öffentlicher Moral in der gesellschaftlichen Wirklichkeit um so extremer ausfiel, je näher man der Spitze war. Doch die Elite der damaligen Gesellschaft realisierte diese Unterscheidung nicht nur sehr deutlich - sie drückte sie auch aus, denn so, wie die Politik ihr alleiniges Feld war, war es auch das Geistesleben. Die Trennung von Politik und Moral bedeutet letztlich, daß es, sowohl in der Wirklichkeit jener Zeit als auch in Machiavellis Wahrnehmung, eine Kluft zwischen Regierenden und Regierten gab und jede Seite ein eigenes Wertesystem hatte 54 . Andererseits entspricht in der Sicht jener Zeit die Trennung von Politik und Moral der Trennung von Wissenschaft und Philosophie, darüber hinaus entspricht in der Sicht der Zeit und in Machiavellis Sicht die Unterscheidung von Politik und Moral der Unterscheidung von H i m melreich und irdischem Reich; dennoch lassen sich diese vielfältigen

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Unterscheidungen nicht als logische Reihe stufen - sie bestanden lediglich nebeneinander. In Machiavellis Denken gibt es zwei weitere Elemente, die die Unterscheidung von Politik und Moral untermauern. Erstens: Der Mensch ist von Natur aus schlecht, habgierig und ehrgeizig; und da die Politik die Kunst ist, Menschen so zu führen, wie diese Menschen sind und nicht wie sie sein sollten, wird jeder praktische Erfolg in der Politik unmöglich, wenn Politik und Moral gleichgesetzt werden, wenn man also die Menschen als Verkörperung moralischer Postulate nimmt, wo doch ihre Natur ihnen dies verbietet - und wenn nicht als Individuen, so doch als Einheit und Gemeinschaft, d. h. als das Potential, das den Politiker interessiert. Bei Machiavelli gibt es den Begriff des von innen stammenden Moralgefühls beim Menschen nicht 55 . Die schlechte Natur des Menschen wird von keinem solchen angeborenen Empfinden beherrscht, sie wird lediglich von gesellschaftlichen Normen und gesellschaftlicher Moral im Zaum gehalten, und diese wiederum sind Errungenschaften der Politik; sie werden nicht von einem moralischen Gesetz göttlichen Ursprungs abgeleitet, sondern vom Gesetzgeber und der Gesellschaft zu praktischen Zwecken und unabhängig von dem Maß an ontologischer Wahrheit aufgestellt, das sie enthalten. Dies genau ist der zweite Punkt, der die Trennung von Moral und Politik vertieft: Tugend und Gerechtigkeit sind keine gottgegebenen Begriffe, sondern entstehen, wenn Menschen sich zusammentun und die ersten Städte gründen. Zum ersten Mal akzeptiert und belohnt die Gesellschaft das Gute und verurteilt das Schlechte (Discorsi 1,2). Wenn die Moral weltlichen Ursprungs ist, dann ist sie als metaphysische Einheit nicht bindend; sie tut lediglich Gutes, weil sie nützliche gesellschaftliche Funktionen erfüllt, indem sie die schlechte Natur des Menschen in Grenzen hält. Doch Machiavelli glaubt, daß die Moral diese weltliche Rolle, für die sie entstanden ist, besser erfüllen kann, wenn sie sich im Verbund mit einer, egal welcher, religiösen und übernatürlichen Instanz präsentiert. Folglich bedeutet die Trennung von Moral (auch göttlichen Ursprungs) und Politik nicht, daß die beiden sich nicht in der Praxis kreuzen, auch wenn sie als Haltungen gegensätzlich sind, im Gegenteil: Die Moral ist eine Größe, die die Politik ausloten muß, umgekehrt trifft dies nicht zu. Daraus folgt, daß die Politik die Moral nicht immer mit Füßen treten muß, sie kann ihr sogar unbedingt folgen, wenn dies der beste Weg ist, ihre Ziele zu erreichen. So gibt es immer nur wenige Situationen, in denen sich der Unterschied dieser beiden Größen zeitweilig abschwächt; und dies

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geschieht nicht, weil die Moral von der Seele des Politikers Besitz ergriffen hat, sondern weil das politische Mittel Moral sich als wirksamer erweist als jede Gewalt (s. Discorsi 111,20). Solange die ethischen Werte von den Menschen hochgehalten werden und einen wichtigen Platz in ihrem Seelenleben einnehmen, muß man sie berücksichtigen und benutzen, unabhängig davon, wie man sie selbst bewertet. Nicht wir schaffen die gesellschaftlichen Faktoren, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen - sie bestehen schon. Wir können sie nur entsprechend ihres objektiven, nicht ihres wertebezogenen moralischen Gewichts rational verwerten, wenn wir uns freilich auch wünschten, daß die beiden Qualitäten zusammenfielen; doch das läßt die Natur des Menschen nicht zu (Fürst 15). Es wurde angeführt, daß Machiavelli gewisse Rahmenbegriffe über den Unterschied von Gut und Böse beibehielt, im Grunde aber strebte er nach einer neuen naturalistischen Ethik 56 . Die stetige Ausübung der Politik außerhalb eines moralischen Rahmens kann möglicherweise zu einer Nebenmoral führen (und das ist auch nötig), deren höchste Werte Kraft, Klugheit u. ä. sind, Elemente also, die die machiavellische virtu ausmachen. Obwohl Machiavellis Sicht dies implizieren mag, hat er selbst aber nicht die Absicht, ausdrücklich oder indirekt eine neue Moral zu schaffen. Vielmehr hatte er wohl nie daran gedacht, den Begriff „Moral" mit einem aktivistischen und heldenmütigen Inhalt zu belasten, der erst in jüngerer Zeit mit einer anderen und freilich gegensätzlichen „Moral" zur christlichen Sittenlehre verbunden wurde. Bei Machiavelli bedeutet „Moral" die traditionelle, positive Moral, die in der unmittelbaren Umgebung, in der er selbst lebte, grundsätzlich als Teil der christlichen Lehre erfahrbar war. Obwohl er in der Politik einen Spielraum für Handlungen läßt, die deutlich vom Inhalt dieser Moral unterschieden werden, hat er nicht die Absicht, diese zu verletzen, der Politik unterzuordnen oder sie vollends zu verdrängen und so aus der Politik eine neue „naturalistische" Moral zu schaffen. Machiavelli weiß nur zu gut, daß die Politik die Grenzen der traditionellen Moral überschreitet, die er selbst akzeptiert und im Alltag anwendet und lebt; sicherlich macht es ihm auch Sorge, daß er gezwungen ist, sie aufzugeben. Dennoch ersetzt er sie weder durch die Politik noch durch das Ideal des „Vaterlandes", das noch leichter faßbar war 57 . Die Bereiche Moral und Politik bleiben bei ihm streng getrennt. Eine Tat kann in moralischer Hinsicht gut sein, in der Politik aber schlecht (und umgekehrt), doch die beiden Bereiche sind nicht aufeinanderfolgend, auch wird keiner a priori als überlegen angesehen,

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weil es keine Wertkriterien gibt, die für beide gelten. Jeder Mensch hat das Recht, sich an dem Bereich zu orientieren, den er wählt, nur darf er die beiden nicht vermischen. Thrasymachos (s. Piaton, Der Staat, l.Buch) und Thukydides, der mit der Zunge der Athener spricht (s. Melierdialog, Ende des S.Buches), piazieren den politischen Logos souverän in einer vollständigen und ausschließlichen Welt, die jede ihr entgegenstehende Geistes- und Alltagswelt umgibt und diese unterordnet. Hier gibt es keinen Raum für eine Trennung von Politik und Moral, es gibt nur Raum für erstere. In dieser Isolation wird der politische Logos despotisch und zersetzend, die Art und Weise, wie die Athener und Thrasymachos ihn benutzen, resultiert in einer einseitigen Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschten, denn das alleinige Ziel des Logos ist die Konsolidierung der Souveränität des Herrschers, ohne daß damit im Uberbau andere Zwecke verfolgt werden oder sich daraus ergeben. Wie weiter unten gezeigt wird, hat bei Machiavelli hingegen jedes Unheil, das aus der Ratio entsteht, einen Zweck, der die politische Ratio an sich übersteigt, denn es schadet dem kranken Teil des Gesellschaftskörpers und nützt dem gesunden. Auch empfindet Machiavelli die politische Ratio nicht als kompakten und autonomen Wert, der seine ganze Welt ausfüllen und jedes andere Element verdrängen könnte, er empfindet sie jedoch als unabdingbar und setzt sie neben die traditionellen Werte, ohne sie zu einem eigenständigen (und alleinigen) Prinzip in einem Wertesystem zu machen. Und weil die Ratio der Moral so nahe bleibt, wird ihre Präsenz auffälliger und augenfälliger, während die Position der Moral immer gefährdet ist. So führt Machiavelli ein substantiell heterogenes Prinzip in die Welt der Moral ein, während er andererseits die Erinnerung und die Sehnsucht der Moral mit sich trägt, indem er das Prinzip Ratio in die Welt der Politik ausdehnt58. Diese Ambiguität wird von Machiavelli nicht so intensiv erlebt, daß sie sein „Gewissen quält" und aus ihm einen Menschen macht, an dem stetig ein bewußter und zugleich unlösbarer Widerspruch nagt. Es geschieht deshalb nicht, weil diese Dualität aus den gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden ist, die ich im ersten Kapitel anführte und die in jener Zeit ganz einfach weit verbreitet war, sie war zur Gänze natürlich und akzeptiert, und in gewisser Weise stützte sich das Leben genau darauf. Der Gegensatz, der aus der Koexistenz dieser beiden unterschiedlichen Welten entsteht, zerriß Machiavelli zwar nicht (wie viele meinten und seinen Gefühlen unendliches Verständnis und Mitgefühl entgegenbrachten, nachdem sie diese Gefühle erst in einen zeit-

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genössischen Rahmen gestellt hatten), aber er mußte ihm notgedrungen eine gewisse Hilflosigkeit verursacht haben. Diese Hilflosigkeit erklärt die häufigen Abschweifungen (vor allem im Fürst), in denen er in apologetischem Ton versucht, den Gebrauch „ruchloser" Mittel zu rechtfertigen, obgleich diese damals im Alltag zur Verfügung standen; es hat den Anschein, als würde Machiavelli bei seinem Versuch, bei den Herrschern ein Bewußtsein für die Mittel zu schaffen, die sie jahrhundertelang anwendeten, ohne daß es sie jemand gelehrt hätte, ebendiesen Herrschern unnötige Bedenken soufflieren 59 . Doch die moralischen Bedenken gibt es nur in der Seele des Untertanen; wäre Machiavelli als Herrscher geboren, hätte er das Verhältnis von Politik und Moral vielleicht anders betrachtet. Untersucht man Machiavellis Gedankengang logisch und theoretisch, erscheint die Trennung von Politik und Moral als unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung einer politischen oder politologischen Wissenschaft. Man darf sich dies aber nicht so vorstellen, daß Machiavelli bewußt die Wissenschaft, die er begründete, oder die wissenschaftliche Ader, die ihn trieb, auf diese Trennung stützte. Die Trennung von Politik und Moral, die Trennung von Wissenschaft und Philosophie und die Trennung von lebendiger und scholastischer Forschung bestanden parallel in ihm und wirkten auch parallel. Es sind keine Stufen, die der Geist notgedrungen nacheinander durchlaufen muß, um den Gang seiner eigenen Forschung mit der abstrakten Erforschung der Probleme in Einklang zu bringen. Wie bereits erwähnt, stehen von den oben angeführten Begriffspaaren das Paar Politik Moral im bewußten Gegensatz zueinander, sowohl bei Machiavelli als auch im Geist der Epoche. Doch bei Machiavelli können wir das gleiche Empfinden für den Gegensatz zwischen gelebtem und gelehrtem Geist nicht nachweisen - es gibt keinen Gegensatz, weil das zweite Glied fehlt. Machiavelli beschäftigt sich keineswegs mit einem mittelalterlichen Denken, das er zu bekämpfen für notwendig erachtet und dabei sein eigenes Gedankengebäude auf einen bewußten Gegensatz stellen will; er ist zur Gänze im Weltlichen verhaftet, im lebendigen Geist, im unmittelbaren Erfahren der Dinge, ohne sich überhaupt darüber Gedanken zu machen. Machiavelli setzt sich nicht mit mittelalterlichen Problemstellungen und Betrachtungsweisen auseinander - er ignoriert sie ganz einfach. Als Galilei die Himmelsordnung nivellierte, als er Gesetze fand, die für alle Himmelskörper gelten, und die Hierarchie auflöste, die im Mittelalter aufgestellt worden war, mußte er sich be-

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wußt und in vielfältiger Weise mit den Reaktionen der mittelalterlichen Weltsicht auseinandersetzen. Im Gegensatz dazu nivellierte Machiavelli die mittelalterliche Gesellschaftsordnung (das irdische Pendant zur Himmelsordnung), ohne daß ihn deren Existenz überhaupt beschäftigt hätte 60 . Man könnte ganz allgemein sagen, daß sowohl Galilei als auch Machiavelli von einem antischolastischen Geist beseelt waren - wenn auch die Elemente dieses Denkens, sein Lauf und sein Ergebnis jeweils grundlegende Unterschiede aufweisen von einem Geist, der nicht das Resultat situativer und persönlicher Neigungen war, sondern auf zwei unterschiedliche Konzeptionen des Begriffs Wissenschaft zurückzuführen ist. Die erste Auffassung in bezug auf Machiavelli (wie sie de Sanctis, Dilthey und Cassirer formulierten) schreibt ihm bis hin zur Aufstellung eines naturalistischen Systems folgerichtig eine höchst logische Betrachtungsweise derjenigen Problematik zu, die durch die neuzeitliche Weltanschauung entstanden war. Nach dieser Auffassung gliedert sich Machiavellis Denken folgendermaßen: Zuallererst gründet es auf der Vorstellung, daß die menschliche Natur zu allen Zeiten unveränderlich ist und sich aufgrund dieser Gleichförmigkeit ständig die gleichen Phänomene wiederholen; ebenso daß sich das Leben der Staaten nach einem mechanistischen und naturgesetzlichen Schema wiederholt, das Machiavelli von Polybius übernahm. Durch die Zyklizität der Phänomene, die letztlich durch die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur ermöglicht wird, entsteht ein ausgeglichenes System, das mechanisch oder fast mechanisch funktioniert und das sich der Ratio als ein Feld anbietet, wo sie hervorragend ihre Forderung erfüllen kann, die einzelnen Gegebenheiten in ein theoretisches System einzuordnen und zu untersuchen (folglich macht nur die Zyklizität der Phänomene die Existenz einer politischen Wissenschaft möglich). Ab dem Moment also, da das System mechanisch funktioniert, kann die Ratio vorhersehen, was geschieht, wenn sie die Vorgeschichte dieser Funktion kennt. So kann sie sich dem Handeln zuwenden, nachdem sie durch das Studium der Phänomene die Gesetze ihrer Entfaltung kennengelernt hat. In diesem Rahmen ist Machiavelli lediglich oder schlechthin ein Technokrat der Politik, einer, der die zuverlässige Zyklizität der Phänomene kennt, weil er deren Geschichte eingehend studierte und so die angemessenen Maßnahmen ergreifen kann, um den - bereits bekannten - Eventualtitäten entgegenzutreten. Bei dieser Auffassung ist es nur folgerichtig, daß Machiavelli und Galilei vollauf als Begründer einer naturalistischen und kausalistischen Wissenschaft

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gelten 61 , die die rationalistische Weltsicht der Renaissance folgerichtig bis auf die Spitze trieben und das mechanistische System der Aufklärung des 18.Jahrhunderts und der Vulgärmaterialisten des ^ . J a h r h u n derts theoretisch vorwegnahmen. Doch die Prämissen dieser Auffassung finden in Machiavellis Werk keine konsequente Untermauerung, und ihre Artikulation beruht vielmehr auf einer Abstraktion jener Charakteristika der Renaissance, die sie vom Mittelalter unterscheiden und sie in die Nähe der Wissenschaftlichkeit des 19. Jahrhunderts rücken. Wenn jedoch diese Charakteristika bei Machiavelli zu finden sind (und das sind sie), erfüllen sie ganz andere Funktionen und existieren in ganz anderen Zusammenhängen als denen, in die sie gestellt werden, wenn sie auf einer abstrakten Skala durch eindeutige Zuweisungen dargestellt werden, abstrakt gebildet von jenen, die eine Ideengeschichte schreiben wollen. Bei der Analyse ergeben sich zwei Punkte: Erstens findet sich bei Machiavelli mehr als nur eine Auffassung von einem mechanistischen Naturalismus; zweitens, keine davon ist unvermischt; auch bildet keine ein Fundament, auf dem konsequent ein Gedankengebäude errichtet werden kann. Man sieht nur, daß sie an einem Punkt artikuliert und an einem anderen Punkt widerrufen werden oder daß sie genau an dem Punkt ganz vergessen werden, wo sie theoretisch verwertet werden sollten, hätte Machiavelli die Politologie so begründet wie Galilei die Kosmologie. Eine erste Auffassung des mechanistischen Naturalismus ist, was das äußere Schema angeht, die Anakyklosis-Theorie, die Machiavelli von Polybius (VI,4-10) übernahm und in seinem ganzen Werk lediglich einmal formuliert (Discorsi 1,2) 62 . Die Anakyklosis-Theorie ist bekannt, und hier ist nicht der Ort, um sie in allen Einzelheiten zu analysieren. Im wesentlichen geht es darum, daß die Staatsformen [polyteümata] einen Kreis beschreiben und jeweils einen anderen Kreislauf begründen. Die Monarchie wird zum Königtum („Zuerst bildet sich ohne besonderes Zutun und von Natur aus eine erste, urtümliche Form der Alleinherrschaft; dieser folgt und aus ihr entsteht durch planvollen Aufbau und durch Verbesserung das Königtum." Polybius (VI,4,7) und das Königtum wird zur Tyrannis, die Aristokratie stürzt die Tyrannis und wird zur Oligarchie, die Oligarchie wird von der Demokratie abgelöst, die wiederum in die Ochlokratie abgleitet und schließlich die Monarchie zurückbringt. Wie dieser Kreis sich öffnet und schließt, wird von Polybius nicht eindeutig bestimmt; scheinbar war er jedoch geneigt, ihn als autonom und undurchlässig anzusehen, ohne daß ein Zyklus Verbindung mit einem vorhergehenden oder

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nachfolgenden gehabt hätte; Polybius' Denken war von der Annahme beherrscht, zwischen zwei Zyklen geschehe eine Katastrophe, die die Spezies Mensch wieder an ihren Ursprung zurückbringe (VI,5,5; diese Katastrophen sind zwar nur durch mythologische Schilderungen bekannt, aber Polybius übernimmt sie so, wie sie tradiert wurden, weil er seinem Schema volle Eigenständigkeit und vollen Automatismus verleihen will). Da nun alle sechs zyklischen Staatsformen unvollkommen sind (drei sind gut, drei sind schlecht), entsteht eine gemischte Staatsform, die Mängel eliminiert und Stabilität und Dauer sichert. Die Zyklizität vollzieht sich ohne Abweichungen „gemäß der Natur" ([katä physin], VI,4,13) bzw. gemäß der „Haushaltung der Natur" ([physeos oikonomia], VI,9,10). Genau auf diesen zeitlichen Automatismus stützt sich auch die Möglichkeit einer Vorhersage, weil man in diesem Schema deutlich sehen kann, welche Staatsform die andere ablöst. Und es ist kein Zufall, daß genau an dem Punkt, wo Polybius den naturgesetzlichen Charakter der Zyklizität hervorhebt, er gleichzeitig die Möglichkeit zur Vorhersage unterstreicht (VI,4,12 und 13 sowie VI,9,10 und 11; vgl. a. VI,57,4). Polybius' Anakyklosistheorie weist grundlegende Widersprüche auf; die Art und Weise, wie Machiavelli sie umgeht, weist darauf hin, wie weit sein Denken von der Schaffung eines mechanistischen, naturalistischen Systems zur Einordnung staatsrechtlicher Phänomene entfernt war 63 . Polybius verwendet eine dreifache Begrifflichkeit: Kreislauf, gemischte Staatsform und das Gesetz Wachstum, Blüte und Vergehen alles Seienden (VI,51,4 und 57,1); dies ist unabdingbar, um den Niedergang der gemischten Staatsform und die Vollendung des Zyklus zu erklären - nicht als sechs Stadien, sondern als ein Ganzes, das von einem anderen Ganzen abgelöst wird. Diese drei Faktoren können aber nicht Teil derselben Gesetzmäßigkeit sein. Die gemischte Staatsform steht außerhalb der sechs Staatsformen, die sich zyklisch wiederholen, folglich ist ihr Erscheinen auf der historischen Bühne anderen Kräften geschuldet als jenen, die die Zyklizität der sechs anderen Politeumata verursachen; (tatsächlich, so schreibt Polybius, entsteht die gemischte Staatsform entweder „aufgrund theoretischer Überlegung" [diä logou], wie im Falle Spartas bei Lykurg, oder „durch viele Kämpfe und Anstrengungen ... wählten [sie] nämlich immer aus der Erfahrung, die sie bei Mißerfolgen gewonnen hatten, das Bessere aus ...", wie im Falle Roms; VI,10,14). An welchem Punkt der Zyklizität erscheint nun die gemischte Staatsform? Wo reißt die Kette der sechs zyklischen Staatsformen? Und wenn diese Kette reißen kann, wie ist

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es dann möglich, daß die Zyklizität ein universales Gesetz darstellt? Wenn gewisse Abweichungen vom Schema der Zyklizität gesetzmäßig sind, woher weiß man dann, ob die Gründe für diese Abweichungen nicht so lange weiterbestehen, daß die Zyklizität am Ende ihren wesentlichen Inhalt einbüßt und lediglich ein Ausdruck der fehlenden Voraussetzungen ist, durch die die Staatsformen von Sparta und R o m entstanden? Drittens steht die gemischte Staatsform im Widerspruch zum Gesetz von Aufstieg und Fall aller Dinge; warum geht auch sie zugrunde, w o sie doch die Mängel der anderen Staatsformen nicht aufweist? U n d schließlich widerspricht die Vorstellung der Zyklizität selbst der Vorstellung vom Aufstieg und Fall aller Dinge; letztere ist eine aufsteigende Linie, die an ihrem Scheitelpunkt ankommt und dann absteigend wird, während erstere ein geschlossener Kreis ist, in dem es Phasen gibt, aber keine Spitzen. Vermutlich beschränkt sich das Gesetz von Aufstieg und Fall auf die einzelnen Phasen des Zyklus; aber welche Kraft vollendet und schließt ihn dann 6 4 ? Unabhängig davon, wie sich diese Widersprüche bei Polybius historisch und psychologisch erklären lassen, interessiert hier, daß Machiavelli sie umgeht, indem er bewußt die Reichweite der mechanistischen Gültigkeit der Zyklizität begrenzt, (es interessiert nicht, was er von Polybius' Schema jedenfalls in seinem gedanklichen Kern übernimmt.) Er räumt zwar ein, daß sich die Zyklen theoretisch unendlich oft wiederholen können, weist aber an derselben Stelle auf zwei wesentliche Einschränkungen in der Praxis hin: Fast kein Staat ist so langlebig, daß er diese Veränderungen so oft durchlaufen kann, außerdem laugen diese Veränderungen einen Staat aus, so daß ein Gegner von außen ihn unterwerfen kann und sein Lauf plötzlich eine Abweichung erfährt. Machiavelli stellt nicht in Abrede, daß Staaten aufsteigen und fallen; dies ist aber lediglich eine empirische und pragmatische Bemerkung und nicht Emanation und Manifestation eines Systems mit naturalistischem oder metaphysischem Fundament. Indem er Aufstieg und Fall der Staaten untersucht, verweist Machiavelli direkt auf Tugenden und Fehler ihrer Staatsmänner und Gesetzgeber; das Gewicht, das er dieser Analyse beimißt, überzeugt von seiner Ansicht, daß dort - und nicht in irgendeiner „natürlichen Ordnung" - die Gründe für Aufstieg und Fall eines Staates zu suchen sind. Daß aber die virtü (heute würde man sagen, „das Verdienst" eines Menschen), eine so große Rolle spielt, bedeutet, daß die Zyklizität nicht als naturalistische Zwangsläufigkeit angesehen wird, sondern als Richtung, als Tendenz der Dinge, die auch veränderlich ist

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oder zum Stehen gebracht werden kann, nämlich von einem, der will und die Macht hat, diese Abweichung vom Schema zu bewirken. In dieser flexiblen Zwangsläufigkeit gibt es freilich auch Raum für die gemischte Staatsform - die durch die Unveränderlichkeit der immer wiederkehrenden Zyklen (logisch) ausgeschlossen war. Die Möglichkeit zur Verwirklichung der gemischten Staatsform geht auch auf die virtü zurück, auf die Verdienste des Gesetzgebers, auf seine Macht, die historischen Faktoren zu verändern und zu lenken 65 . (Wie oben zitiert, erfolgt bei Polybius die Einsetzung einer gemischten Staatsform „aufgrund theoretischer Überlegung"; doch diese „Überlegung" [logos] hat beim naturalistischen Ansatz der Zyklizität keinen Boden, um sich zu entfalten; es ist ein exogener Faktor, ein fremdes Prinzip, das Polybius heranzieht, um etwas zu untermauern, das der mechanischen Zyklizität auch fremd ist, nämlich die gemischte Staatsform.) Es gibt nun noch zwei weitere Punkte, in denen sich Machiavelli von Polybius' naturgesetzlichem Ansatz entfernt. Die Vorstellung einer periodischen Zerstörung der Welt durch Erdbeben, Hungersnöte u. ä., die bei Polybius zwischen zwei Zyklen eintreten 66 , fehlt bei Machiavelli gänzlich. Zweitens findet sich bei Machiavelli noch eine antinaturgesetzliche Vorstellung, die er sowohl hinsichtlich der Regierungswechsel als auch hinsichtlich der Art und Weise, wie die gemischte Staatsform in Rom entstand, als wirkenden Faktor anführt: der caso, der Zufall, die Koinzidenz (Discorsi 1,2). Neben der Zyklizität gibt es in Machiavellis Werk eine zweite Manifestation naturalistischen Denkens: Die Epochen werden als gleichförmig aufgefaßt; diese Gleichförmigkeit basiert auf der Tatsache, daß die Leidenschaften, die den Menschen antreiben, unveränderlich sind. Die extremste Ausformung der Naturgesetzlichkeit nimmt diese Auffassung in der Einleitung zum ersten Buch der Discorsi an, wo der Mensch als etwas Unveränderliches mit den Naturelementen und -phänomenen gleichgesetzt wird. Doch an dieser Stelle will Machiavelli unterstreichen, wie wichtig das Studium der antiken Geschichte für die zeitgenössischen Verhältnisse ist, und fühlt sich zu einer extremen Formulierung veranlaßt; er nivelliert die Epochen und verallgemeinert damit den didaktischen Wert der antiken Geschichte. Analytischer taucht dieser Gedanke in Discorsi 1,39 auf, wo er erklärt, es gebe in allen Epochen die gleichen „Mißstände", weil die Menschen die Analogien zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht kennen und somit zur Abhilfe außerstande seien. Doch mit der Hypothese, jemand habe aufgrund des Studiums der Vergangenheit die Lösung für

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die Probleme der Gegenwart gefunden, würde man die Analogie der Epochen negieren, weil dieser Jemand in seiner Epoche die Fehler ausgemerzt hätte, die sie allen vorangegangenen Epochen gleichmacht. (Hier ist der Unterschied zu Polybius ganz deutlich; Polybius schreibt, das Wissen um die Zyklizität der menschlichen Dinge zeige uns, was unvermeidlich in der Zukunft geschehen werde, während Machiavelli glaubt, die Kenntnis über die Vergangenheit könne uns zeigen, was wir zu tun und zu lassen haben.) In der Einleitung zum zweiten Buch der Discorsi hebt Machiavelli nachdrücklich den aktiven, dynamischen Aspekt hervor, der der mechanistischen Gesetzmäßigkeit entgegenwirkt. Die menschlichen Leidenschaften sind und bleiben immer die gleichen; so haben die historischen Epochen untereinander einen relativ gleichwertigen Inhalt, diese Gleichwertigkeit läßt sich aber nicht als eine Entsprechung historischer Ergebnisse übersetzen, denn der statischen Natur des Menschen steht die dynamische virtu gegenüber, ein primäres und autonomes Element, das von Nation zu Nation und von Epoche zu Epoche schwankt und sich verändert (wie der hegelianische „Geist"), ohne daß diese Veränderungen Gesetzen unterliegen und ohne daß sie die festgelegten Phasen durchlaufen. In Discorsi III, 43 werden neben der virtü auch noch andere Faktoren herangezogen, um trotz der Gleichförmigkeit des historischen Substrats (der menschlichen Natur also) die Unterschiede im Ausgang historischer Ereignisse zu interpretieren. Diese Faktoren sind Erziehung, Sitten und Lebensführung 67 . Diese Unterschiede des historischen Ausgangs lassen eine Vielzahl von Ansätzen, Winkelzügen und Voraussagen zu - in einem Maß, daß das für eine naturgesetzliche Auffassung notwendige Kriterium des einzig Richtigen verlorengeht. Diese Unterschiede kommen in Fürst 25 deutlich zum Ausdruck; dort werden sie zwischen den konkreten Umständen (wenn nicht gar der historischen Epochen als je Ganze) so betont, daß selbst der Nutzen der Geschichte problematisch wird, der über Beispiele und indirekte Aufforderungen aus ihr gezogen werden kann. Die Veränderung der Situationen, der jeweiligen individualisierten historischen Ergebnisse, wird nun als ein so dynamisches und treibendes Element verstanden, daß die statische menschliche Natur nicht mehr ganz mithalten kann. Eine dritte naturgesetzliche Auffassung findet sich in Geschichte V,l. Die erste Vorstellung war die Zyklizität, die zweite die gerade Linie, die dritte ist nun das Schema des Pendeins. Die Phänomene des Bestehens von Staatswesen scheinen in dieser Darstellung zwischen zwei Extremen zu schwanken und von einem ins andere zu fallen: von

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der Ordnung ins Chaos, vom Aufstieg zum Fall, vom Guten zum Schlechten; die Bewegung, die hier beschrieben wird, stimmt weder mit dem statischen historischen Substrat (der menschlichen Natur) überein noch mit der dynamischen und autonomen virtü 6 8 . Doch hier kommen deutliche Einschränkungen zum Tragen. Zuallererst legt Machiavelli Wert darauf (und vielleicht ist es noch wichtiger, wenn er dies unbewußt tut), von Anfang an zu sagen, daß es sich um etwas handelt, das „meistens" geschieht. Und gleich darunter zeigt er mit dem Beispiel Catos noch einmal, wie wichtig ihm der willentliche, subjektive Gegenpol der Tendenz zu einer Gesetzmäßigkeit χ oder y ist - so sehr, daß man meinen könnte, Gesetzmäßigkeit und Willenskraft tauchen zusammen auf und sind in ihrer Wirkung untrennbar miteinander verbunden, obwohl sie einander entgegengesetzt sind. Das apersonale Gesetz kann aber das persönliche Verdienst nicht auslöschen, und Machiavellis Sympathie gilt unzweifelhaft der zweiten, der Willenskraft, ist sie doch das Kind einer Zeit des ausgeprägten Individualismus. So zeigt uns die Analyse des Naturalismus oder eher der Naturalismen, die sich in Machiavellis Werk finden, daß sein Denken weit von der Bildung eines naturgesetzlichen, mechanistischen Systems entfernt ist, das Ratio und Vernunft einsetzen würden, um es zu interpretieren und das Handeln des Menschen daran zu messen, ohne daß sie es ändern könnten. Die Ratio, grundlegendes Element der Denkweise in der Renaissance und bei Machiavelli, entfaltet sich in der Theorie nicht bis zur letzten Konsequenz, um ein ungebrochenes System von Gesetzmäßigkeiten zu schaffen, sie steht nur zur wissenschaftlichen Verfügung, sie ist der scharfe Blick, der durchdringende Strahl, eine weltliche, gesunde und antimetaphysische Betrachtung der Dinge. Vollständig und konsequent (nämlich bis zur Trennung von Politik und Moral) entfaltet sich die Ratio lediglich in der Praxis, weil sie dort als berechnende, abwägende Instanz unmittelbar von Nutzen ist. In der Praxis wird die Ratio zur Determinante der Phänomene und zur Negation jeder mechanischen Gesetzmäßigkeit. Folglich macht ihre Entfaltung im praktischen Bereich ihre vollständige Entfaltung in der Theorie unmöglich. Wie kann die Ratio eine Gesetzmäßigkeit theoretisch erfassen, die sie selbst in der Praxis negiert, bevor sie noch in den Bereich der Theorie vorgedrungen ist? Auch den Bereich der Theorie durchdringt sie nicht gänzlich, weil sie im Grunde eine praktische Ratio ist, und ihre theoretischen Interessen konzentrieren sich auf praktische Dinge. Die Ratio bleibt also eine erkenntnistheoretische

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Haltung und wird nicht zum Schlüssel für die Bildung eines ontologischen Systems, wenn sie sich auch hier und da in allgemeinen und widersprüchlichen ontologischen Formulierungen herauskristallisiert, die hier betrachtet wurden. An diesem Punkt ist Machiavelli ein echter Vertreter des unechten Rationalismus in der Renaissance, die ich im ersten Kapitel umriß; hier, bei der allgemeinen Betrachtung der Epoche, in Verbindung mit den wirklichen Elementen, die diese Epoche hervorbrachten, liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems des machiavellischen Naturalismus 69 . Untersucht man den Naturalismus bei Machiavelli, liegt die Schwierigkeit nicht darin, die extremen und augenfälligen Elemente zu isolieren und sie danach in Form einer idealen konsistenten Methode wieder zusammenzufügen; schwierig ist es zu erklären, wie sie mit anderen, heterogenen Elementen koexistieren. Dennoch sind, wie gesagt, die einzelnen naturalistischen Elemente so deutlich, daß sie verständlich hervorgehoben wurden. Es wurde angeführt, daß Machiavelli dazu neigte, den Staat mit einem lebenden Organismus zu vergleichen, und diese Analogie dahingehend erweiterte, daß er eine Anatomie des Staates aufstellte, Krankheiten diagnostizierte und Heilmethoden indizierte 70 . Das naturgesetzliche und organische Empfinden Machiavellis zeigt sich auch in den der lebendigen Natur entnommenen Metaphern und in seiner anthropomorphen Erfassung der Phänomene 71 . Auf diesem Hintergrund wird er auch in geistiger Verwandtschaft zu Leonardo da Vinci dargestellt. In der Spätrenaissance, als Neuplatonismus und Irrationalität in der Ideologie der herrschenden Klasse vorherrschen, trennt sich die Wissenschaft von der Philosophie (was der Trennung von Politik und Moral entspricht), und ihre Gegensätzlichkeit wird als Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Begrenztem und Unendlichem wahrnehmbar. Leonardo richtet sein Augenmerk auf die mathematische Auseinandersetzung mit der ersteren Kategorie, wo er sich mit Machiavelli trifft, der sich auch mit Wissenschaft, Politik und Begrenztem beschäftigt und anderen die Beschäftigung mit der Philosophie, der Moral und dem Unendlichen überläßt 72 . Auch Leonardo begründete keine systematische naturalistische Wissenschaft, er unternahm nicht einmal den Versuch, die einzelnen Phänomene abstrakter Begrifflichkeit unterzuordnen. Sein Denken war auf das Konkrete, Spezifische gerichtet, die Ratio war auch für ihn eine Betrachtungsweise der Dinge 73 . Wie Machiavelli interessierte auch ihn die Empirie, die Beobachtung und die Vollendung der Technik. Doch im Gegensatz zu Machiavelli glaubte Leonardo an den Fortschritt des Menschen (im

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übrigen stand Leonardo der Technik näher, wo der Fortschritt deutlicher sichtbar ist und jede neue Entwicklungsstufe alle vorherigen neutralisiert; Machiavelli hingegen setzt sich mit historischen Phänomenen auseinander, w o der Fortschritt alles andere als augenfällig ist); folglich haben vorhergehende historische Stufen für Machiavelli eine sehr viel größere Bedeutung 7 4 . Wenn man die oben angeführten Einschränkungen in Betracht zieht, helfen diese Parallelen zweifellos zum vollständigen Verständnis Machiavellis. Daß die Vernunft [logos], die Ratio, kein geschlossenes System von Gesetzmäßigkeiten aufstellt, hat zur Folge, daß sich die Ratio auf dem Gebiet der Praxis frei und schöpferisch fühlt. Sie berücksichtigt lediglich die flexible Gesetzmäßigkeit der Gleichheit der menschlichen Leidenschaften, doch auch diese stellt eher eine Orientierungshilfe als eine unüberwindliche Mauer dar; (der extreme Gegenpol der mechanischen Gesetzmäßigkeit, also die extreme Individualisierung, macht ein Handeln ebenso unmöglich). Die Orientierungshilfe gibt der Ratio eher eine Richtung vor, als daß sie ihr die Relativität ihrer Macht in Erinnerung ruft. Diese intermediäre Position der Ratio, die sich weder der extremen Abstraktion noch der positivistischen Hinwendung zum Realen verpflichtet, spiegelt sich in der vereinzelten Formulierung von allgemeinen Betrachtungen, Vergleichen und Schlußfolgerungen über das Leben und die Geschichte mit instinktiver und unbeugsamer methodischer Dynamik. Sie spiegelt sich auch in der Vermischung rein pragmatischer und theoretischer Betrachtungen, die sich oft in Machiavellis Werk finden 75 . D a der Geist nicht bis an die äußersten theoretischen Grenzen vordringt, ist die Erfassung des ontologischen Wesens der Welt und der Geschichte bei Machiavelli kein Thema; seine Haltung ist rein phänomenologisch, seine Absichten sind praktischer Natur und müssen, um verwirklicht zu werden, eine effiziente Verbindung mit der äußeren Welt haben, wie wir sie sehen und wie sie unabhängig von ihrer Tiefe und ihrem Inneren, ihrem „etwaigen" Wesen, ist 76 . D o c h die Beschäftigung mit der phänomenologischen Erscheinung der Welt ist nie vulgär-positivistisch und konservativzurückhaltend, weil Machiavelli nichts ausschließt, wenn das auch der heutigen Sicht der Dinge zuwiderläuft; es reicht aus, daß die Ratio es für machbar hält. D a die Politik eine Tochter des Verstandes, der Ratio, ist, macht sie sich die Gleichsetzung von Logischem und Pragmatischem zu eigen. Aus der Struktur der Ratio, aus ihrer Positionierung zwischen Theorie und Praxis (mit spürbarer Neigung zur Praxis), geht auch die

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Struktur des Instruments hervor, das die Ratio praktisch anwendet, nämlich der (politischen) Technik. Würde die Welt in Machiavellis Werk naturgesetzlich und mechanistisch wahrgenommen werden und würde dem eine ebenso naturgesetzliche und mechanistische Wissenschaft entsprechen, wäre diese Technik nichts weiter als das Wissen um eine unveränderliche Ordnung und eine Reaktion darauf; sie wäre nur eine Art und Weise, die Dinge mit einer unveränderlichen Zwangsläufigkeit in Einklang zu bringen - und im Lauf der Anpassung an eine unveränderliche natürliche Ordnung stellt sich die Frage nach der M o ral nicht, denn es fehlt die Freiheit des menschlichen Willens, ohne die jedes moralische Postulat abgeschwächt oder ausgelöscht wird. D o c h die Welt und die Geschichte manifestieren sich bei Machiavelli nicht auf diese Weise, und die politische Technik ist kein Modus der Anpassung an eine objektive Ordnung der Dinge, sie ist lediglich eine Haltung der Ratio, die ihr Feld (die Politik) untersuchen will, indem sie es streng von allen anderen Feldern trennt (von der Moral), ohne diese zu negieren oder zu nivellieren, wie es bei einer naturgesetzlichen O r d nung der Fall wäre. Die Politik emanzipiert sich von anderen Bereichen, duldet aber in ihrem Inneren unzählige Wechselbeziehungen und Verbindungen. U m Ausdruck eines praktischen und kalkulierenden Geistes zu sein, muß diese Technik daher äußerst erfinderisch und berechnend sein. (Hätte der Geist hingegen eine mechanische O r d nung der Dinge vor sich, wäre er nicht berechnend, sondern theoretisch und anschauend 7 7 .) Als Resultat der Trennung von Moral und Politik und der Existenz des Geistes als Instrument des Vorantreibens hauptsächlich praktischer Bedürfnisse ist die politische Technik objektiv in dem Sinne, daß sie sich nicht für die psychologischen Motive der handelnden Menschen interessiert, sondern nur für die Ergebnisse ihrer Handlungen und für das äußere Verfahren, das der Entfaltung des Schemas „Mittel

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Zweck" folgen wird. Bei Machiavelli fehlt jede kantische Beurteilung der Handlungen (wenn nicht gar der Menschen) auf der Basis der Absichten, die zu diesen Handlungen führten; eine Handlung wird nach dem Maß ihres Erfolgs bewertet. Wenn ein Fürst um des G e meinwohls willen ein Verbrechen beging und dieses Verbrechen fehlschlug, würde Machiavelli dies sicherlich genauso mißbilligen wie ein Verbrechen, das gegen das Gemeinwohl gerichtet war. Die Absicht reicht nicht aus, es braucht auch Intelligenz, um Erfolg zu haben. Eine Tugend, der nicht von einem entsprechenden Verdienst die Waage gehalten wird, kann im Hauptbuch der Ergebnisse ohne weiteres mit

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den schlechtesten Absichten gleichgesetzt werden 78 . Sosehr die guten Absichten eine conditio sine qua non im Bereich der Moral sind, sosehr ist die einwandfreie Technik eine unabdingbare Voraussetzung für alle, die sich im Bereich der Politik bewegen; da Moral und Politik strikt voneinander getrennt sind, bleiben auch die Ergebnisse (die Produkte der politischen Technik) von subjektiven Absichten getrennt. Im Begriff der politischen Technik erkennt man freilich sogleich das Ideal der Virtuosität und des Konstrukts wieder, das, wie oben erwähnt, in der Renaissance eine grundlegende Geisteshaltung ist. In seiner extremen, reinen Form stellt sich dieses Ideal als isoliert von den psychischen und moralischen Motiven dar, die das Individuum veranlassen, auf einem Gebiet zu arbeiten, so daß es sich der rein technischen Behandlung dieses Gebietes widmet. So kann man sich leicht dazu verführen lassen, dieses außertechnische Fundament zu vergessen - das, wie weiter unten gezeigt wird, bei Machiavelli eindeutig vorhanden ist - und ihn als einen reinen Technokraten der Politik und der Macht zu betrachten 79 . Doch in Wahrheit hält Machiavelli nur bestimmte (außertechnische) Ziele für gegeben und bewegt sich auf dieser Basis hin zur Ausbildung der technischen Seite seines Denkens, ohne ständig an die Verbindung von Ziel und Mittel zu erinnern, so daß die Technik schließlich als eine unabhängige und eigenständige Größe erscheint. Die Verwirrung wird noch größer, weil einerseits die Ziele, die Machiavelli setzt, in den gleichen Bereich wie die Technik gehören (also in den Bereich der Politik und nicht der Moral) und weil Machiavelli andererseits von der technischen Seite der Mittel so fasziniert ist, daß er oft auch selbst den Zweck aus den Augen verliert oder ihn hintanstellt und sich an der Virtuosität, am makellosen politischen Handwerk als Selbstzweck erfreut; und wenn die „unmoralischen" Mittel letztlich nicht den „moralischen" Zweck heiligen, dann haben wir den „Machiavellismus" in seiner gängigen Vorstellung. Der Eindruck der „reinen Technik" wird auch noch dadurch verstärkt, daß Machiavellis Relativismus in bezug auf den Wert der Regierungsform ihn antreibt, seine technischen Ratschläge einmal an Republiken, einmal an Monarchien, einmal an führende Einzelpersonen zu richten (vgl. Discorsi 111,35). Solange aber die verschiedenen Regierungsformen (nicht als relativer Begriff, in dem Machiavelli sie in bezug auf das auffaßt, was er selbst für einen Staat als wichtig erachtet, sondern in ihrer wirklichen eigenständigen Existenz) möglicherweise gegensätzliche Absichten und gegensätzliche Praktiken haben, widersprechen sich auch die technischen Ratschläge; sie verlieren die Fähigkeit, sich an ein

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ideelles System anzupassen und bekommen nur einen Sinn, wenn sie als Dienstleistung für die Herrschenden betrachtet werden. Die Inexistenz und die Verdrängung der Werte kann so den Technokraten, den Politikexperten, zu einem willenlosen Instrument eines jeden machen; hier erinnere ich an die Kritik der „Wertfreiheit", die Max Weber für eine unerläßliche Eigenschaft des Wissenschaftlers hält. Vielleicht versuchte Machiavelli in den letzten zehn, fünfzehn Jahren seines Lebens, ein solcher Polittechnokrat zu werden, als er beharrlich danach strebte, in die Dienste der Medici zu treten, und ihnen immer wieder neue Lösungsvorschläge für konkrete Probleme machte; als der erste Vorschlag nicht angenommen wurde, unterbreitete er einen abgewandelten Plan nach dem anderen - als ginge es um eine Schachpartie, die sich mit ganz unterschiedlichen Zügen spielen ließe, ohne daß es große Bedeutung gehabt hätte, welcher Zug schließlich gemacht wurde, (das war beispielsweise bei den Plänen zur Bewaffnung von Florenz der Fall, die er - eher unaufgefordert und in der Absicht, daß seine Dienste geachtet würden - Papst Klemens VII. vorlegte: Erst regte er die Aufstellung einer nationalen Armee an, und als dies fehlschlug, sollte man Giovanni delle Bande Nere helfen, ein Heer zu bilden usw.). Doch Machiavelli tat dies in dieser Form in einer Zeit persönlicher, psychischer und ideologischer Zerknirschung. Die Verehrung der reinen politischen Technik und der Virtuosität zeigt sich in Machiavellis Werk ganz deutlich darin, daß er Gefallen an der Klugheit der handelnden Personen findet, unabhängig davon, wer diese Personen sind und welche Gesinnung sie haben80; darin gleicht er Thukydides81. Bei jeder herausragenden Persönlichkeit hält er kurz inne und identifiziert sich mit ihr als Eingeweihter mit dem Eingeweihten, egal, ob diese Persönlichkeit nun ein Republikaner oder ein Aristokrat, ein Feldherr oder ein Prophet war; in den Florentinischen Geschichten verfolgt er daher mit Interesse das Schicksal der Glücksritter auf dem Gebiet der Politik und ihrer Errungenschaften, wie die des Herzogs von Athen, Michele di Lados, Francesco Sforzas und anderen82. Zu Machiavellis geistiger Beweglichkeit trug auch bei, daß er weder eine einseitige Klassenorientierung noch eine systematische Theorie hatte, die ihn in seinen Wertvorstellungen gebunden hätte83. Machiavelli schätzt die Macht, er sieht, daß die Welt von Macht beherrscht wird, doch diese Macht wird größtenteils als Klugheit wahrnehmbar, als richtige Anwendung der Technik und als richtiger Topos gegenüber den Gegebenheiten, d. h. als teilweise geistige Größe 84 . Folglich muß der Besiegte, der Schwächste, einfach ein wenig dumm

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sein, in jedem Fall aber übt er das politische Handwerk schlecht aus und zieht somit Machiavellis Spott auf sich 85 . Da sich für Machiavelli Klugheit und Virtuosität im Kern der Macht finden und auf seiner Werteskala höchsten Rang einnehmen, folgt daraus, daß das Kriterium für den persönlichen Wert des einzelnen nicht die äußeren Beigaben der Macht sein können, sondern das Herz selbst, und das ist Klugheit und Geschicklichkeit, nicht Herkunft und soziale Stellung (vgl. Discorsi 111,34). Daß die Individualität keine anderen Stützen haben kann als die, die sie sich selbst schafft, ist einer der wesentlichen Punkte in Machiavellis Denken, das offenkundig antimittelalterlich und antifeudalistisch ist. Aufgrund genau dieser Auffassung bedient sich der Bürger aller Mittel - und ihres zusammenhängenden Gebrauchs als Form einer bestimmten Technik - , um sich eine soziale Stellung zu verschaffen, während der Feudaladel, der sich auf hohe Titel berief, die mit persönlichem Verdienst nichts zu tun haben, und auf moralischen Prinzipien beharrt wie Ehrbarkeit und sinnloser Tapferkeit eben schon vorher verschwand86. Die Ratio, die Technik und gleichzeitig die Verdrängung eines Faktors wie der sozialen Herkunft führen Machiavelli zu einer weiteren bedeutenden Auffassung, daß nämlich ein Fürst, im Besitz der Ratio und Beherrscher der Technik, ohne weiteres seine gesellschaftlichen Wurzeln und seine persönlichen Bindungen verleugnen und dem Weg folgen kann, den ihm die Staatsräson und die Betrachtung der Dinge aufzeigen, die dem Rationalismus und der richtigen politischen Technik zugrunde liegen. Dieser Glaube ist einer der Gründe (und vielleicht der uneigennützigste), die Machiavelli dazu veranlaßten, den Fürst erst Julius II. und schließlich Lorenzo de' Medici zu widmen, in der Hoffnung, sie mögen sich die Ratio zu eigen machen und eine ganz andere Politik verfolgen (in bezug auf die Ziele, wenn nicht gar auf die Mittel) als jene, die verständlicherweise jemand erwarten würde, der, wie Machiavelli selbst, die Geschichte ihrer Familien so gut kannte. Teilweise aus dem gleichen Motiv unterbreitete er auch Kardinal Giulio de' Medici ein wenig später seine berühmte Denkschrift. Obwohl Machiavelli ganz tief dem Geist des Rechnens und Messens verhaftet ist und ständig die technische und virtuose Seite der Dinge im Kopf hat, verbirgt sich hinter dem Rationalismus eine heterogene, fremde, psychisch-geistige Kraft, die ihn zur Technik hinlenkt und auf sie ausrichtet, auch wenn diese oft zum eigenständigen Prinzip wird. Diese Kraft ist der Patriotismus, die Vorstellung von einem Vaterland und die Liebe zu ihm, die als etwas Selbstverständliches und

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Absolutes hingestellt wird, ohne eine weitere rationale Fundierung zu erfahren und ohne daß der Patriotismusbegriff aufgrund der Existenz vieler Vaterländer relativiert wird, wie es bei Machiavelli durch die Existenz vieler Religionen mit dem Religionsbegriff geschieht 87 . Insgesamt artikuliert Machiavelli nirgendwo ausführlich seine Haltung zum Vaterland als dem höchsten Wert, genausowenig wie er die Staatsräson ausdrücklich als Ziel der Politik ansieht; sosehr er die schlagenden Worte und die epigrammatischen Formulierungen auch mag - bei allem, was er auf die höchste Stufe seiner Werteskala stellt, macht er sich nicht die Mühe, es mit Worten und Argumenten zu stützen und zu verdichten, er betrachtet es einfach als selbstverständlich, und seine persönliche innere Neigung war ihm Untermauerung genug. Obwohl Machiavelli also wie nur wenige andere das empirische und berechnende Element der Renaissance behandelt und entwickelt, schöpft er nicht daraus seine Glaubenskraft an das Postulat und an die Vision einer politischen und staatlichen Neuordnung, sondern er schöpft sie aus seinem Patriotismus, für den er ein Vorbild in der römischen Antike sucht 88 . Diese Herleitung des patriotischen Empfindens aus der Antike ist die erste Quelle für Machiavellis Patriotismus, der ihn den Humanisten nahebringt. Unter diesem Gesichtspunkt hat sein Patriotismus nichts vom Völkischen der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts an sich. Er ist weder mystisch noch organisch, wie er sich in der Romatik manifestierte, er ist humanistisch 89 . Machiavelli ist humanistisch, er hält die Erinnerung an die römische Erhabenheit hoch, die in denselben Landen geglänzt hatte; er sucht darin Modus und Methode für die Auferstehung des modernen Italiens und stellt die hohe Kultur des italienischen Vaterlands der „Barbarei" der fremden Invasoren und Besatzer gegenüber. Eine zweite, wenngleich nicht untergeordnete Quelle für Machiavellis Patriotismus ist der frühbürgerliche Patriotismus, der Patriotismus der bürgerlichen Gesellschaften, die ihre Unabhängigkeit von Kaiser und Papst kämpferisch verteidigten. Vor allem in Florenz war der Patriotismus als Gegenpart zu den päpstlichen Exkommunizierungen entflammt, und die Ghibellinen hatten gegen den Papst gekämpft, indem sie sich in erster Linie als Florentiner und in zweiter als Christen sahen 90 . Doch auch die Guelfen, die zunächst Verbündete des Papstes gegen den Kaiser waren, wandten sich später in vielen Fällen gegen ihn und verkörperten den Florentiner Patriotismus in noch reinerer Form als die Ghibellinen - der Staat hatte dort schon begonnen, mit der herrschenden Klasse verbunden zu sein und in seinem politischen Handeln deren Interessen zu berück-

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sichtigen. Die bemerkenswerten Kunstwerke, die Türme und Kirchen, die damals erbaut wurden, verdanken ihre Entstehung nicht konkreten oder rationalen Notwendigkeiten - sie wurden als Zeugnisse des bürgerlichen Patriotismus errichtet, sie sind Symbole der G r ö ß e des Gemeinwesens und der Opferfreudigkeit seiner Bürger 9 1 . Und es gibt noch eine dritte Quelle, der Machiavellis Patriotismus entspringt: die Auffassung von Vaterland als Feld der Verwirklichung einer bestimmten Idealvorstellung von Staat als solchem. Hier scheint sich nun der unverfälschte Patriotismus den Betrachtungen des Politologen unterzuordnen; doch das ist nicht absolut so, wenn wir die enge Verbindung von Theorie und Praxis bedenken oder eher: die Abhängigkeit der Theorie von den praktischen Notwendigkeiten in Machiavellis Werk. Die Theorie, die letztendlich aufgrund patriotischer Ziele entsteht, bis zu einem gewissen Grad aber eigenständig ist, macht eine Wende und eilt dem Vaterland zu Hilfe; doch nun, nach dem U m h e r schlendern in allgemeinen politologischen Phänomenen, kommt der Geist differenziert aufs Vaterland zurück; er war nur mit einer patriotischen Sehnsucht aufgebrochen, nun kehrt er theoretisch bereichert zurück. Sein anfänglicher Eifer ist nicht gemindert, doch durch die breitere Betrachtung kann er sich seinem Ziel wieder nähern, indem er es gleichzeitig objektiviert. O b w o h l der Wunsch, dem Vaterland zu dienen, weiterhin seine Triebkraft bleibt, kann er diesen nun auch als Notwendigkeit empfinden, einem theoretischen Rahmen dienlich zu sein. So erhält das Vaterland noch eine weitere Dimension und einen weiteren Reiz, nun zieht er neben dem Patrioten im engeren Sinne auch den Theoretiker an; Theoretiker und Patriot werden eins 92 . Psychologisch kann die Leidenschaft für die Technik auch ohne weiteres mit Motiven einhergehen, die der Technik an sich fremd sind; so muß ein Schachspieler in jeder konkreten Situation kühl denken, er muß aber auch ganz allgemein eine Leidenschaft für das Schachspiel hegen, darüber hinaus muß er diese vorausgesetzte Leidenschaft hintanstellen, wenn er seine Züge wählt. Allgemein gesprochen ist, wie schon erwähnt, die Verbindung des Geistes der Technik und der Virtuosität mit mehr oder weniger irrationalen inneren Kräften und Neigungen ein wesentliches Merkmal der Mentalität der Renaissance, die in Machiavellis Heimat besonders ausgeprägt war. In Florenz, dessen Entwicklung die Trennung der Renaissance vom Mittelalter aus idealtypischer Sicht am deutlichsten repräsentiert, entfaltet sich das rationale Denken nicht nur stark, sondern es dringt gerade durch diese Entwicklung notgedrungen in Bereiche vor, wo es mit heterogenen

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Elementen koexistieren muß. So nimmt der besondere Florentiner Geist eine Dualität an, die sich überall manifestiert, vor allem in der Kunst, wo verständlicherweise die gegenseitige Durchdringung von Rationalismus und Phantasie, zum Beispiel, noch gegenständlicher wahrnehmbar wird. Abgesehen von den Wirtschaftsunternehmen, hatte der Rationalismus im Florentiner Denken kein anderes Feld, um sich in seiner reinen F o r m zu entfalten. Streng wissenschaftliche Berufe gab es nicht (es gab auch keine entsprechend ausgebildeten Wissenschaften), die Kunst hingegen hatte viele Gönner; eher rational als künstlerisch eingestellte Menschen studierten in den Künstlerwerkstätten, und die Wissenschaft, die nicht unabhängig betrieben werden konnte, flöß in die Kunst ein, die ein Instrument zur Problemlösung und zur Weitergabe von Wissen wurde. In der Malerei der Florentiner Schule sehen wir sehr viel häufiger und deutlicher als in anderen die Tendenz, technische Elemente zur Schau zu stellen, auch wenn dies auf Kosten des Sinngehalts oder anderer Elemente des Bildes ging; irgendwann bekam das Dargestellte eine eher mathematische als psychologische Bedeutung, weil ein Problem, das durch die Darstellung entstand, von größerem Interesse war als das Dargestellte selbst, und die Farbe ist neben der F o r m zweitrangig (das Gegenteil ist bei der Venezianischen Schule der Fall) 93 . Dies soll natürlich nicht heißen, daß sich, wie oft angedeutet wird, in Machiavellis Denken die politische Technik mit dem Patriotismus auf die gleiche Weise verband wie die künstlerische Technik mit der künstlerischen Vision; es zeigt jedoch klar, daß die deutliche Trennung von Politik und Moral in Machiavellis Werk nicht notgedrungen eine Trennung von politischer Technik und gewissen Zielen und Werten mit sich bringt - wie zum Beispiel dem Vaterland - , Werten, die freilich politischer Prägung sind, sich aber gleichzeitig mit Postulaten verbinden oder verbunden werden können, die in letzter Konsequenz nicht zur Politik im engeren Sinn gehören. Dies war möglich, weil der Geist der Technik in (mehr oder weniger ungleicher) Verbindung mit anderen inneren Kräften wirkte. Betrachten wir die Beziehung zwischen politischer Technik und Patriotismus unter diesem Aspekt, zeigt sich auch die Beziehung zwischen Politik und Moral, Mittel und Zweck von einer neuen Seite. Wenn das Vaterland, der Staat, ein selbstverständlicher Wert ist und wenn seine Existenz dem Gemeinwohl von Nutzen ist, werden dadurch gewalttätige und „unmoralische" Mittel nicht nur gerechtfertigt, sie müssen sogar als geboten betrachtet werden, und zwar nicht aus politischer Notwendigkeit, sondern zu einem höheren Zweck, der

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eine über das Politische hinausgehende Legitimation besitzt, wenn er schon nicht ausgesprochen moralisch ist. Die Mittel sind nur auf der Erscheinungsebene schlecht und unmoralisch, nicht aber in ihrem inneren Wesen. Ist es moralisch, den Gebrauch „unmoralischer" Mittel abzulehnen, wenn man dadurch den wirklich Bösen erlaubt, weiterzuherrschen 9 4 ? Auf diese indirekte Weise und nicht als direkte Schlußfolgerung, sondern als logische Herleitung kommen wir zu einer Art Wiedervereinigung von Politik und Moral, und zwar über die Einführung eines intermediären dritten Faktors, der vollständig im Bereich der Politik wirkt, dessen Legitimierung Machiavelli aber nicht durch politische Kriterien unternimmt (auch nicht durch ausdrücklich moralische). Dieser dritte Faktor nun ist das Vaterland, der Staat; seine Lehre geht aus dem kritischen Studium historischer und politischer Ereignisse hervor und ordnet sich einem leidenschaftlichen Hang zum Patriotismus unter, d. h. dem Dienst an den staatlichen Interessen und am Gemeinwohl. Andererseits darf man nicht meinen, daß dieser Hang moralisch sei 95 , weil, wie gesagt, für Machiavelli die „Moral" hauptsächlich eine Ubereinstimmung individuellen Verhaltens mit Geboten ist, die sich als religiösen Ursprungs darstellen. Auch hilft die Feststellung der Verbindung von rationaler Technik und Patriotismus in Machiavellis Weltbild, den Begriff der machiavellischen „Wissenschaft" zu vertiefen. Aus einer anderen Perspektive kann man wieder sehen, wie die praktischen, die patriotischen Erfordernisse und Notwendigkeiten der Ratio ihrer breiten theoretischen Ausweitung Grenzen setzten. Zuallererst: Das politische System, das wir von den mehr oder weniger konsistenten Auffassungen, wie wir sie in Machiavellis Werken finden, aufstellen können, stützt sich grundsätzlich auf die Achsen der praktisch-politischen Notwendigkeiten, mit denen er sich auseinandersetzte; in einer vollendeten F o r m hebt dieses System nachdrücklich jene Punkte hervor, die Machiavelli als handfeste politische Postulate beschäftigten und nicht als abstrakte logische Grundlagen, auf denen sich ein System bauen ließe. D e r Primat der praktischen und historischen Inhalte in Machiavellis Werk macht ein Urteil über dessen rein theoretischen und wissenschaftlichen Wert ausgesprochen schwierig 9 6 . Machiavelli faßt seine politische Wissenschaft nicht als theoretisches System zusammen (wie jene, die als wissenschaftliche oder ideologische Antwort auf andere Systeme entstehen, die aus Konvention - und zum Schein - die ihnen zugrunde liegende wirkliche Situation hintanstellen und in der Folge den Dialog auf einer Ebene von operationalisierten, abstrakten Größen führen),

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sondern er stellt sie mittels praktischer Ratschläge zu konkreten Problemen vor, Ratschläge, die jedoch Tiefe und historische Verallgemeinerung erfordern. Machiavelli projiziert die historische Situation seiner Epoche auf die Leinwand der Gesamtgeschichte; dies tut er aber weniger aus rein theoretischem Bewußtsein denn aus politischer Sensibilität97. So kann es kein endgültiges theoretisches Urteil über den Wert von Machiavellis politischer Wissenschaft geben, denn die Analyse im Rahmen abstrakter politologischer Thesen muß die historischen Gegebenheiten untersuchen, die diesen Thesen Inhalt verliehen. Dies ist aber kein Grund, in Machiavellis Werk den Versuch einer Bestimmung wiederkehrender Elemente aufzugeben, die als feststehende theoretische Größen gelten und als Schlüssel zum Verständnis der Geschichte in ihrer Gesamtheit genutzt werden können. Im übrigen sind alle Theorien und Systeme untrennbar mit einem konkreten historischen Fundament verbunden, das sie sehr viel substantieller nährte als jeder direkte geistige und theoretische Einfluß. Wenn aber dieses historische Fundament ganz eindeutig bestimmte typische, immer wiederkehrende Elemente enthielt und wenn der Geist darin in Teilen die Gesetzmäßigkeiten und die allgemeinen Merkmale des Ganzen wiedererkennen konnte, wird der immanente Relativismus des sozialen Wissens grundsätzlich überwunden. Welches das geistige „ewige Gut" ist, das Machiavelli den Menschen hinterließ, müßte über das Studium unzähliger anderer Faktoren außerhalb von Machiavellis historischer Position, auf die sich diese Studie beschränkt, untersucht werden. Somit ist die Übernahme der einen oder anderen Geschichtsphilosophie in Machiavellis Werk praxisbezogen (und erfolgt aus sachlichen Gründen), nicht theoretisch; sie ist eine unabdingbare Konsequenz der Staatskunst, die Machiavelli lehren wollte 98 . Die Kohärenz fehlt nicht nur in bezug auf die Aufstellung eines Systems, sondern auch in der Anordnung des Materials, wie man an der Gliederung der Discorsi sehen kann. Dennoch werden - wenn auch abschweifend und in Verbindung mit anderen, scheinbar damit nicht zusammenhängenden Fragen - alle Probleme untersucht, die Italien in jener Zeit zu bewältigen hatte. Eine Kohärenz würde es geben, wenn Machiavelli konsequent bei den greifbaren politischen Problemen geblieben wäre, die ihn beschäftigen, doch er will den vorgeschlagenen Lösungen historische Breite verleihen, und so gelangt er an einen Punkt zwischen zeitgenössischer Betrachtung und abstrakter, allgemeiner Sichtweise 99 . Seine (spontane) Position an diesem intermediären Punkt hat folgendes Resultat: Indem Machiavelli die wirklichen politischen Probleme

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untersucht, die ihn umtreiben, kommt er zu bestimmten theoretischen Verallgemeinerungen oder er nimmt erst einmal allgemeine theoretische Ansätze auf (wie Polybius' Kreislauftheorie), weil er spürt, daß sie in einem Zusammenhang mit seinen Problemen stehen; er macht sich aber nicht die Mühe, diesen Zusammenhang in einer vollständigen logischen Reihe zu entwickeln. D a aber sein grundlegendes Interesse nicht theoretischer Natur ist, kehren diese theoretischen „Höhepunkte", um sie so zu nennen, nicht immer als logische Spitzen in den Bereich der greifbaren Politik zurück, sondern es scheint so, als ob sie genau dort vergessen wurden, wo sie auf das Studium der zeitgenössischen Situationen hätten angewandt werden müssen. Wieder einmal kehrt Machiavelli auf sein bevorzugtes Feld des Konkreten und Partiellen zurück und gibt seine Ratschläge nun nicht mehr aufgrund der Generalisierungen, auf die sein Denkprozeß zusteuert, sondern aus der Dialektik der jeweiligen Situationen und aufgrund einer Entscheidung des Handelnden, die immer unter dem Risiko des Irrtums steht 100 . Die Leichtigkeit dieses Wechsels ist der Tatsache geschuldet, daß Machiavelli in seinem Denken einen rein theoretischen nicht von einem rein praktischen Bereich trennt, gleichzeitig verbindet er Theorie und Praxis nicht mit einem logischen Ubergang vom einen zum anderen Bereich, sondern betrachtet ihre parallele Existenz einfach als selbstverständlich. Er setzt keine trennenden Grenzen zwischen der theoretischen und praktischen Behandlung politischer Themen, eines folgt aufs andere, eines wechselt sich mit dem anderen ab, ohne daß er die Notwendigkeit verspürt, diese Aufeinanderfolge oder diesen Wechsel zu rechtfertigen oder auch nur zu kontrollieren. Die einheitliche Struktur dieses Ganzen erscheint ihm insoweit selbstredend, als alles aufgrund seiner Immanenz im politischen Bereich in einer Beziehung steht. Dieselbe Haltung findet sich auch in der Art und Weise, wie Machiavelli die antike Geschichte behandelt. Die ständige geistige Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart, also der vornehmlich praktische Zweck seiner Betrachtungen, veranlaßt Machiavelli, aus seinen Rekursen auf die Menschen der Antike und ihre Handlungen in erster Linie praktische Muster und erst in zweiter Linie Untermauerungen für seine theoretischen Thesen zu ziehen. Er sieht die Antike und die Geschichte nicht als Ganzes in seiner abstrakten und gesetzmäßigen Entwicklung, sondern betrachtet sie aus der Perspektive historischer (und oft persönlicher) Begebenheiten. Anstatt seine Feststellung über die Auswirkung des einen oder anderen Faktors theore-

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tisch zu diskutieren, zieht er lieber sofort ein Beispiel heran und begreift die Ereignisse über angegebene Namen und Handlungen und nicht über apersonale Kräfte 1 0 1 . Auch wo er auf die Antike nicht als Trägerin individueller Muster, sondern vielmehr als Vertreterin überpersönlicher Errungenschaften zurückgreift, wie sie der römische Staat verkörperte, ist spürbar, daß er ihr die Physiognomie und die Postulate der Gegenwart gegenüberstellt und die Handlungen der Personen so eingehend verfolgt, die diesen überpersönlichen Errungenschaften zur Existenz verhalfen, daß sich unser Eindruck nicht wesentlich ändert. Was jedoch die Geschichte und die Welt zu seiner Zeit angeht, bewegt sich Machiavelli nicht, getrieben von rein theoretischem Interesse, aus dem Kreis heraus, den seine Erfahrungen und die direkten Informationen um ihn herum ziehen. E r untersucht nicht alle möglichen Varianten einer Staatsform, um Parallelen zu ziehen und Vergleiche aufzustellen wie später Montesquieu (so weiß er ζ. B. wenig über England, obwohl er von Florentiner Kaufleuten leicht Informationen hätte bekommen können. Frankreich und Deutschland, die er aus eigener Anschauung kennt, und auch die Schweiz, deren Heere oft auf italienischem Boden kämpften, bieten ihm hingegen viel Anlaß zu Überlegungen). E r beschäftigte sich auch nicht mit den weltgeschichtlichen Ereignissen seiner Zeit, mit den großen Entdeckungen, deren Bedeutung Guicciardini sehr wohl erfaßte 1 0 2 . Dies liegt jedoch nicht an einer Engstirnigkeit Machiavellis; sein Gedankengebäude wurde auf den Gegebenheiten der politischen Situation Italiens errichtet, und die Leidenschaft, mit der er sich damit auseinandersetzt, läßt nicht zu, daß er diese Grenzen überschreitet. D a diese Gegebenheiten jedoch vielfältig und typisch waren, während zugleich die allgemeine geistige Betrachtung seiner Zeit die erforderlichen logischen

Instrumente

gewährleistete, büßte sein Denken nichts von seiner Dynamik ein. Kurz gesagt, Machiavelli unterscheidet nicht zwischen einer kausalistischen und einer normativistischen Wissenschaft. Daher fällt für ihn die ideale normativistische Rezeption der Gegenwart mit bestimmten stattgefundenen und erwiesenen Ereignissen zusammen 1 0 3 , wobei diese Kongruenz keine mechanische Wiederholung der Vergangenheit bedeutet, sondern im Gegenteil das Gewicht auf das aktive Subjekt legt, das sich an Vorbildern orientiert, um seine eigene Welt zu schaffen, und sich nicht damit abgibt, am Rad irgendeiner Gesetzmäßigkeit zu drehen, das sich so oder so mit Sicherheit drehen wird. Die Stunde für die Schaffung kausalistischer Systeme (und folglich der Entwicklung der Disparität von Sein und Sollen) war noch nicht

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gekommen. Man ist immer noch in einer Zeit, da das mittelalterliche, religiöse Denksystem gerade erst zerstört wurde, die Welt ist in tausend Stücke zersplittert, und der Mensch weiß nicht, wo er zuerst anpacken soll, um ein neues Fundament zu legen. Er läßt das eine und versucht das andere, er eilt von einem Punkt zum anderen, es gelingt ihm nicht, ein System aufstellen, er experimentiert und wankt ohne Unterlaß. So ist verständlich, daß nicht kohäsive, organisierte Systeme, sondern offene, unausgewogene Konstrukte vorherrschen. Bis hierher habe ich Grundzüge von Machiavellis Denken verfolgt und eine logische Reihe erstellt. Ich zeigte, wie sich bei ihm die Beziehung zwischen Moral und Politik und zwischen naturgesetzlicher und individualistischer, willensorientierter Betrachtung darstellt und wie der konkrete Zusammenhang zwischen diesen Größen in Verbindung mit seinem Patriotismus und den handfesten politischen Problemen, mit denen er sich intensiv und leidenschaftlich beschäftigt, den Charakter seiner „Wissenschaft" bildet. Darüber hinaus habe ich sozusagen die Ambivalenz und die Doppelnatur seiner Betrachtungen mit der entsprechenden Ambiguität der skizzierten Geisteswelt der Renaissance in Beziehung gesetzt. Dennoch ist die theoretische Erforschung dieser Entsprechungen in gewisser Weise eher eine Tautologie als eine Interpretation, weil sie nicht erhellt, durch welche reale Situation diese Entsprechungen vom Ganzen auf das Partielle, von der Zeit auf das Individuum übertragen wurden, und sie erklärt auch nicht, warum diese Übertragung so und nicht anders erfolgte. U m diese Interpretation in bezug auf Machiavelli zu finden, muß man ein Feld abstecken, auf dem die grundlegenden Themen seines Denkens eine angewandte F o r m fanden - die Trennung von Politik und Moral sowie seine Neigung, eine Theorie zu schaffen, die aus praktisch-politischen Notwendigkeiten hervorgeht und in der sich das patriotische Empfinden mit allgemeinen Einschätzungen verwebt und deren Grundlage bildet. Dieses Feld gibt es nicht nur in der Geschichte jener Zeit, sondern vor allem im persönlichen Leben, in Machiavellis persönlicher alltäglicher Aktivität, wo es einen zentralen Platz einnimmt, so daß sein Denken und sein Seelenleben durch unzählige Fäden mit diesem Feld verbunden sind - es ist der Staatsdienst und vor allem seine diplomatische Tätigkeit. Hier kann man nacheinander in greifbarer F o r m die E c k punkte seines Denkens nachvollziehen, die oben logisch entworfen wurden. Entsprechend der wissenschaftlichen Technik müßte dies folgendermaßen verlaufen: Zuerst müßte die diplomatische und beamt-

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liehe Tätigkeit Machiavellis unter dem Aspekt des Einflusses, den bestimmte Ereignisse auf sein Denken gehabt haben können, biographisch neu geordnet werden (hier sind Vermutungen allerdings unvermeidlich), dann müßten seine diplomatischen Berichte in Zusammenhang mit der Gesamtheit der diplomatischen Schriften jener Zeit analysiert werden, und drittens müßten diese mit seinen späteren Schriften verglichen werden - nicht nur um übereinstimmende Gedanken, sondern auch um Ähnlichkeiten in Stil und Denken sowie in der Betrachtung des Ganzen und des Partiellen zu finden. Diese Vorgehensweise erfordert ein erschöpfendes Studium und eine Gegenüberstellung der Texte und würde für sich genommen schon ein umfangreiches Unterfangen darstellen. Auf den folgenden Seiten werden jedoch für die allgemeinen und grundlegenden Feststellungen nur bestimmte zentrale Textstellen herangezogen, was auch bedeutet, daß die ganze Bandbreite von der abstrakten Rezeption bis hin zur wirklichen F o r m der Probleme wieder nicht berücksichtigt werden kann. Es reicht jedoch aus, die Richtung nachzuzeichnen. Die zeitgenössische, moderne Diplomatie nahm in der Zeit der R e naissance mit der Ernennung von ständigen Botschaftern und mit der Herausbildung eines entsprechenden Protokolls ihren Anfang und ist eine Folge des Entstehens einer modernen Staatsauffassung und gleichzeitig deren charakteristisches Symbol. N u n zeigt sich die internationale Gesellschaft auf horizontaler Ebene als ein Bereich, der in ebenbürtige und unabhängige Staaten aufgeteilt ist, im Gegensatz zur mittelalterlichen Auffassung, die keine Staaten kennt, sondern nur eine Welt, die vertikal und hierarchisch gegliedert ist. Diese Veränderung zeigt sich sehr schön daran, daß die Herrscher das Recht verlieren, jene ausländischen Gesandten selbst zu bestrafen, die bei ihnen akkreditiert waren und der Spionage oder Verschwörung überführt wurden (dieses Recht leitete sich aus der mittelalterlichen Auffassung ab, daß die Moral über der Politik steht). N u n hat der Gesandte das Recht der Exterritorialität; er wird lediglich ausgewiesen, und somit wird indirekt anerkannt, daß das Individuum in keine anderen Verpflichtungen eingebunden ist, die über der Pflicht gegenüber seinem Land stehen. Die Politik in F o r m patriotischer Pflicht als Ideologie, die in jedem Fall auch „unmoralische" Mittel rechtfertigt, steht nun über der früheren Moral und schließt sie mit ein 1 0 4 . D a ß ein Gesandter lügt und intrigiert und dabei ertappt wird, wird nicht mehr als moralisches Vergehen betrachtet, sondern als Mißerfolg in der technischen Erledigung seiner selbstverständlichen Pflicht; so verstehen dies auch seine Geg-

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ner, die für sich selbst die gleichen Rechte geltend machen. Diese neue Sichtweise entstand naheliegenderweise zuerst im Italien der Renaissance - nicht nur weil hier durch die allgemeinen Gegebenheiten auch die Diplomatie rationalisiert wurde, sondern weil auch die konkrete politische Sichtweise die Entwicklung der Diplomatie begünstigte. Der Einfluß der deutschen Kaiser hatte seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachgelassen, und durch das Avignonische Exil der Päpste, das während des 14.Jahrhunderts andauerte, entfaltete sich in Italien, das nun von den beiden großen Mächten befreit war, langsam ein System des Gleichgewichts zwischen bestimmten Staaten, die innerhalb der italienischen Grenzen entstanden waren. Als der Papst wieder zurückkehrte, geschah dies nicht als Wiedereinsetzung einer der beiden früheren herrschenden Mächte, die überlebt hatte und nun wieder ihren Platz einnehmen wollte, sondern er fügte sich als einfaches Glied in das geschaffene System des Gleichgewichts ein. (Dennoch war eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren dieses Systems, daß es von außen unbehelligt blieb, was auch lange Zeit der Fall war; dies führte dazu, daß dem Bewußtsein der Italiener die Vorstellung einer äußeren Gefahr fremd wurde und sie deshalb von den Einfällen der Franzosen und Spanier überrascht wurden.) Daneben begünstigte auch noch ein geographischer Grund die Entwicklung der Diplomatie in Italien: Das System des Gleichgewichts entstand auf relativ engem Raum, was einen bequemen und häufigen Austausch diplomatischer Vertreter und Gesandter erleichterte; dies war von großer Bedeutung, wenn man bedenkt, wie schwer Entfernungen damals zu überwinden waren. (Derselbe geographische Grund war auch ein hilfreicher Faktor für die Entwicklung des staatlichen Zusammenhalts der italienischen Mittelstaaten; durch ihre geringe räumliche Ausdehnung konnten sie leicht von den neuen staatlichen Polizei-, Gerichts- und Steuerbehörden u. ä. abgedeckt werden.) Träger der neuen diplomatischen Kunst waren nun diejenigen, die auch den neuen Charakter des Staates verkörperten. Die Diplomatie war die staatliche Beschäftigung, die auf die unkriegerischen Großbürger wie zugeschnitten war; Kriege waren die Sache von Söldnern, dort konnten sich die Bürger nicht bewähren. Außerdem wurde der Söldnerkrieg aufgrund des unternehmerischen Charakters, mit dem er von den Soldführern ausgetragen wurde, zu einem Kampf mit Listen und Winkelzügen und verlangte eher politisches als soldatisches Können; er löste die Differenzen nicht drastisch, sondern übte nur Druck aus und schaffte eine Atmosphäre, in der die politische Führung der Bürger

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diplomatische Vorteile bekam, um ihre Verhandlungsspiele treiben zu können. So erschien der Krieg in den Augen der Bürger als etwas Untergeordnetes und von der Politik Abhängiges, und ihr Glaube an die Überlegenheit der Politik und an die Kunst der rhetorischen Uberzeugungsarbeit festigte sich noch mehr 105 . Ausgestattet mit allen rationalen Elementen der Geisteswelt der Renaissance, brachte dieses System des Gleichgewichts der Staaten auf dem italienischen Stiefel eine politische und diplomatische Technik hervor, die nach festen Regeln und ausgesuchten Kriterien funktionierte und einen nüchternen Blick lehrte und gleichzeitig einen subjektiven und patriotischen Blick durch das Prisma der Interessen des eigenen Landes. Durch die Kriege nach 1494 kamen noch mehr Mitspieler hinzu, gleichzeitig mehrten sich deren Verbindungen und Veränderungen; so wandten sie diesen politischen Geist an und vertieften ihn, indem sie ihn nicht mehr auf die technische Frage des Gleichgewichtserhalts bezogen, sondern auf das gewaltige Ereignis des Aufstiegs und Falls von Staaten. In dieser reifen Form finden wir diesen Geist bei Machiavelli 106 . Die Bedeutung von Informationen für die Gestaltung der Politik wurde schon früh in den italienischen Händlerstaaten deutlich, die auch überseeische Geschäftsbeziehungen pflegten. Diese Informationen besaßen anfangs die führenden Köpfe der jeweiligen örtlichen Handelskolonien (in einigen Fällen wurden diese Männer dann freilich auch die ersten ständigen Botschafter) oder die Bankenmakler, die aufgrund ihrer engen Kontakte mit den Herrschern, denen sie Geld liehen, die politische Situation der Länder, in denen sie aktiv wurden, aus erster Hand kennenlernen konnten. Nach 1434 unterschied sich ein Banker der Medici kaum von den diplomatischen Vertretern des Staates Florenz 107 . Die soziale Herkunft und die Tätigkeit der Informanten verrät auch gleich, daß in ihren Berichten eine wägende und berechnende Betrachtung vorherrschte, eine exakte, unternehmerische und scharfsichtige Einschätzung der Situation und der daraus erwachsenden Möglichkeiten. Um 1450 verfügen die italienischen Staaten über wohlorganisierte Behörden, die schriftliche Berichte entgegennehmen, Archive anlegen und gleichzeitig eine umfangreiche Korrespondenz erledigen. Die direkte Eingliederung der diplomatischen Tätigkeit in den Bereich der staatlichen Behörden hatte ernsthafte Auswirkungen auf die Ausübung dieser Tätigkeit. Zu Anfang wurde der Botschafter allein mit seinen persönlichen Bediensteten, die er selbst unterhielt, und, wenn er wollte, mit einem Sekretär, den er auch aus eigener Tasche bezahlen mußte, an seinen Bestimmungsort geschickt. Dies

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mochte für den Staat ökonomischer gewesen sein, doch die Beziehung zum Gesandten war eher locker. Nun wurde die Stelle des Sekretärs geschaffen, der den Gesandten begleitete und bei der entsprechenden staatlichen Behörde angestellt war (als erste stellten Venedig und Florenz solche Sekretäre ein). Er wurde direkt vom Staat bezahlt, er unterstand direkt seiner Behörde und er hatte das Recht, den B o t schafter im Falle von dessen Abwesenheit oder Unpäßlichkeit zu vertreten. Da die Sekretäre dem Staat direkt unterstellt waren, waren sie sehr viel mehr vom Geist der Staatsräson durchdrungen als die Gesandten selbst, die, weil sie alten Adelsfamilien entstammten, ihren Posten oft ehrenhalber annahmen und häufig überkommene Vorstellungen hatten, die hinter den unmittelbaren politischen Notwendigkeiten herhinkten. Langsam wurden die Sekretäre also zur wirklichen Achse der diplomatischen Tätigkeit ihres Landes, sie wurden gewissermaßen Bürokraten, die aufgrund ihrer festen Anstellung immer wußten, wie die Dinge lagen, und ein Gespür dafür hatten, wie es weiterging. Die Venezianer zogen daher auch nie den Sekretär ab, wenn ein Gesandter abberufen wurde, sie beließen ihn vor O r t , um den neuen Botschafter einzuarbeiten und ihn an seiner Erfahrung teilhaben zu lassen 108 . Besonders in Florenz wurde den diplomatischen Berichten, die der Gesandte und sein Sekretär regelmäßig und jeweils im Abstand weniger Tage unterbreiten mußten, große Bedeutung beigemessen. D o c h neben diesen vielen Berichten, die natürlich sehr informative Schriftstücke waren, mußte der diplomatische Gesandte auch von Zeit zu Zeit allgemeine Berichte abfassen, in denen er einen breiteren Uberblick gab. O f t waren diese Berichte ganze Traktate voller allgemeinpolitischer Überlegungen und allgemeiner Analysen politischer Situationen und sie wurden (nach Art der Humanisten) mit Beispielen aus der Antike und einer empirischen und unbewiesenen Geschichtsphilosophie untermauert. Aufgrund dieser allgemeinen Berichte (die große Aufmerksamkeit genossen - was der Verfasser wußte und daher allen Ehrgeiz daransetzte, sein Bestes zu geben) schätzte die Behörde die Fähigkeit des Verfassers ein, zu beobachten, Zusammenhänge herzustellen und zu analysieren; er wurde beurteilt, als hätte er eine Dissertation eingereicht. So stellte er die aktuellen Fragen hintan und sprach die allgemeinen Kenntnisse, die geistige Sensibilität und die Bildung jener an, die seinen Bericht lasen, und er gab sich alle Mühe, geistige Elemente einzubringen, die damals in Mode waren und die er Texten entnahm, die keinen unmittelbaren Bezug zur Politik hatten.

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(Man darf nicht vergessen, daß die herrschende Klasse immer noch Politik und Schrifttum bestimmte; die Intelligenzia hatte zwar schon begonnen, sich abzuspalten, doch dies geschah eher im Dienste der Herrschenden denn als deren Gegner.) Mit der Zeit wurde der humanistische Stil übernommen, die Berichte bzw. Abhandlungen wurden auch auf Geographie, Geschichte, Regierung und Sitten des fremden Landes ausgedehnt. D e r humanistische rhetorische Stil verstärkte sich sicherlich noch in der letzten Fassung, wenn der Gesandte zurückkehrte und, zumindest in Venedig, der Bericht vor dem gesamten Rat verlesen wurde. Alle diese Berichte wurden in Archiven aufbewahrt, die besten wurden abgeschrieben und in Sammlungen zusammengefaßt, die nicht nur von Fachleuten, sondern auch von einer breiteren gebildeten Leserschaft studiert wurden 1 0 9 . D a der schriftliche Bericht in der diplomatischen Tätigkeit und auch die mündlichen Äußerungen bei der Zeremonie der Verleihung der Akkreditierungen oder beim Rechenschaftsbericht, den der G e sandte nach seiner Rückkehr gab, eine solche Bedeutung hatten, erklärt sich leicht, welche Rolle die humanistische Bildung - die damals als einzige eine makellose Ausübung dieser Pflichten gewährleisten konnte - neben der Fähigkeit zur unternehmerischen und kalkulierenden Einschätzung der Lage in der praktischen Ausübung der Diplomatie spielte. Die Humanisten, Professionelle und Amateure, waren unverzichtbar für das Verfassen von Briefen oder Festreden, und rund um die Schreibkunst entwickelte sich eine ganze Philologie mit praktischen Hinweisen. Brieflehre, Rhetorik und Diplomatie verbinden sich hier in einer geraden Linie, und die humanistische Ausdrucksweise vermischt sich mit der rationalistischen, naturalistischen Beobachtung und schwächt sie oft ab. Da der Rationalismus nicht zur Achse einer unabhängigen Bildung geworden war, war es normal, daß man sich an anderen Mustern orientierte, wenn neue Umstände es erforderten, und daß man „gelehrt" war, was damals bedeutete, mit den Topoi der Humanisten vertraut zu sein. D o c h wenn auch die Erscheinungsformen der diplomatischen Tätigkeit durch jene geprägt waren, die den sichtbaren Teil der Diplomatie ausführten, nämlich die gebildeten Gesandten aus großen Familien, die zu euphemistischen Phrasen der damaligen Mode Zuflucht nahmen und manches Mal auch darin steckenblieben, so herrschte dennoch parallel dazu im Kern der diplomatischen Arbeit die Ratio vor. Denn sie, die diese Arbeit leisteten, die Sekretäre und die festangestellten Beamten, und gern mehr humanistische Bildung besessen hätten, um sich ihren Vorgesetzten eben-

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bürtig zu fühlen, vertrauten auf die Ratio als Instrument der Beobachtung wie auch als Überzeugungskraft, d. h. als gut gewähltes Argument, das den Gegner bezwingen konnte, wenn er vom gleichen Geist beseelt war. Die politischen Verhältnisse, die der Invasion Karls V I I I . in Italien vorausgingen, lösten eine noch nie dagewesene diplomatische Aktivität aus. Jede andere geistige Tätigkeit wurde zugunsten der Abfassung diplomatischer Schreiben zunächst eingestellt. Es wurden unzählige Briefe und Berichte geschrieben, bei denen sich die Venezianer durch ihr praktisches Denken und ihre Vernunft auszeichneten, die Florentiner hingegen durch ihre hervorragenden psychologischen Analysen, Studien über Charakter und Leidenschaften nämlich, durch ihre ausführlichen Schilderungen und ihren eleganten Stil 1 1 0 . Die nachfolgenden Ereignisse kamen Europa zugute, wo der Boden bereitet war, um sie geistig zu verwerten; neben dem diplomatischen Schrifttum gab es schon eine reiche Tradition der Historiographie, der Familienarchive, Tagebücher, Marktstudien und Handelskorrespondenz 1 1 1 . D o c h die neue politische Sichtweise geht vor allem aus den Abhandlungen der Diplomaten und Botschafter hervor, die sich, dank der realistischen Betrachtung der Dinge - wie es ihr Sujet erforderte

vollkommen von

der mittelalterlichen Tradition und der lateinischen Sprache lösten. All das Material der diplomatischen Aktivitäten mußte lediglich im Rahmen bestimmter orientierender Vorstellungen systematisiert werden und konnte so als Kern einer neuen politologischen Rezeption erstrahlen 1 1 2 . Betrachtet man nacheinander alle Merkmale der Diplomatie und setzt die Ausgangspunkte, die Folgen und die Verflechtungen in eine Beziehung, sieht man, daß sie nicht nur gewissen Merkmalen der Epoche entsprechen, die aus einer allgemeinen Betrachtung hervorgehen, sondern auch den allgemeinen Prämissen in Machiavellis Denken. In der Theorie akzeptiert der Diplomat ganz selbstverständlich die Trennung von Politik und Moral, während er in der Praxis noch weitergehen und die Moral der Politik unterordnen kann. Auch muß er notgedrungen an die Virtuosität und die Fähigkeiten des Individuums glauben, an die Möglichkeit der rationalen Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, die nicht mechanisch verläuft, sondern die sich aus bestimmten Handlungen ergibt, die wiederum von bestimmten Personen geplant wurden - wenn er nicht daran glaubt, kann er in seiner Tätigkeit auch keinen Sinn erkennen. Andererseits stellt der Patriotismus das Fundament der rationalen Auseinandersetzung mit den Din-

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gen dar. Auch wenn er kein leidenschaftliches persönliches Gefühl ist, verlangt er in jedem Fall sowohl eine Unterordnung der technischen Fertigkeit des Diplomaten unter die Interessen seines Staates als auch eine Betrachtung der Probleme aus der Perspektive der Notwendigkeiten für seinen Staat. Dies führt dazu, daß sich mit der Zeit seine ganze Geisteswelt um die Achse dieser Probleme herum bildet, weil die tägliche Beschäftigung mit bestimmten Problemen diesen Fragen im Denken des Individuums universale Ausmaße und vorrangige Bedeutung verleiht. Die unumgängliche Betrachtung allgemeiner politologischer Fragen wird durch ein Prisma verstärkt, das geschliffen wird durch die ständigen Notwendigkeiten und die gefestigten Haltungen, die der Diplomat mit seiner Erfahrung einnimmt, und es wird noch verstärkt durch die Art und Weise, wie er seine Berichte abfassen muß. Er muß allgemeine Beurteilungen abgeben (auch wenn sie oft nur eine Wiederholung humanistischer Topoi waren) und historische Beispiele anführen. So erreicht der Diplomat bestimmte theoretische Höhen, wobei seine Theorie eine Folge der Beschäftigung mit konkreten Fragen und ihre Reichweite naturgemäß begrenzt ist, wie sie auch aufgrund der darin einfließenden patriotischen Betrachtungsweise begrenzt ist: Der praktische Verstand bringt den theoretischen Verstand hervor, aber er verhindert, daß dieser unvermischt ist. Die allgemeinen theoretischen Ansichten manifestieren sich als Axiome, die aus Erfahrung gewonnen werden, und obwohl sie als Bezugspunkte dienen, wird kein Versuch unternommen, sie zu beweisen. Ihr einziger aber unzulänglicher Beweis ist die Erwähnung von Bällen, die sie angeblich bestätigen. Dieser Relativität des Patriotismus, die das Denken eingrenzt, kann der Diplomat (das Individuum, das seine Geisteswelt der Politik und Diplomatie entnimmt) in größerem oder geringerem Maß nur entgehen, indem er eine vollkommen technische Betrachtung der Fragen vornimmt, indem er also sein Augenmerk auf die Kräfte richtet, die auf der diplomatischen Bühne wirken, sie abwägt und beurteilt, was geschieht, wenn das eine oder das andere Ereignis eintritt. In diesem Sinne entgeht Machiavelli, obwohl er ein glühender Patriot ist, oft den Schranken durch den Patriotismus und noch viel mehr den Beschränkungen, die die Wahrnehmung all jener Gesandten trüben, die aus großen Familien stammen und die Ausübung ihres Berufs als eine Gelegenheit sehen, ihrem N a m e Ehre zu machen, während sie ebenfalls und nach dem gleichen Kriterium eher danach streben, ihr Vaterland mit prachtvollen Reden und Ansprachen der Humanisten zu ehren, als ihm praktisch und nach Maßgabe der Staatsräson zu dienen.

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Machiavelli gehört einer unteren Stufe an, er gehört zu den festangestellten Sekretären im Staatsdienst, die sehr viel mehr von der Substanz der Staatsräson durchdrungen sind als von deren vollmundigem Beiwerk. Daß Machiavelli all diese Entsprechungen so deutlich herausstellt, ist nicht ungewöhnlich, auch wenn man es aus rein statistischer und technischer Sicht betrachtet: Er widmete sich vierzehn Jahre lang ununterbrochen einer intensiven beamtlichen und diplomatischen Tätigkeit - es waren die Jahre seiner größten Tatkraft, und diese Zeitspanne ging genau dem Lebensabschnitt seiner vornehmlich schriftstellerischen und geistigen Tätigkeit voraus. Die Amtsberichte, die er in diesen vierzehn Jahren schrieb, machen fast die Hälfte aller Texte aus, die von seiner Hand überliefert sind. Schon allein an diesem äußerlichen Kriterium wird klar, wie eng der Zusammenhang zwischen seiner Berufsausübung und seinen späteren Werken ist; dieser Zusammenhang ergibt sich nicht nur als theoretische Folgerung, sondern er ist als Einheit von Stil und Denken greifbar, die durch eine eingehende Textanalyse belegt werden kann. Machiavelli schrieb seine Bücher, wie er auch seine Berichte schrieb: als würde er seine Argumente vor Kollegen vertreten, die die gleichen Interessen haben wie er selbst 1 1 3 , oder als würde er sie einem Herrscher vortragen, den er belehren will. Auch den frühen Texten, die er als politischer Mensch schrieb, und den späteren Büchern ist gemeinsam, daß er in axiomatischer Form allgemeine Werte ableitet und auch historische Bezüge herstellt, wo dies gar nicht notwendig gewesen wäre 1 1 4 . Als Ubergangsglied zwischen seinen diplomatischen Berichten und seinen Büchern sind besonders die kurzen politischen Texte wichtig, die er in den vierzehn Jahren seiner Tätigkeit als Sekretär des Rats der Zehn verfaßte. Hier sieht man deutlich, wie seine Ansichten sich in der Auseinandersetzung mit konkreten Fragen bilden; manche dieser Texte sind Amtsberichte und Anträge, andere sind niedergeschriebene Reden, wieder andere Ausarbeitungen von Themen, die er in früheren Aufsätzen angesprochen und unterbreitet hatte. In diesen Texten, die nicht mehr als ein paar Dutzend Seiten umfassen, finden sich in einer ersten, aber sehr deutlichen Form sehr viele von den grundlegenden Themen, die in seinen späteren Werken immer wieder auftauchen; hier konsolidieren sich auch seine fundamentalen Kriterien und seine Art, die Dinge zu erfassen. Deutlich ist, daß er bewußt die direkte praktische Notwendigkeit umgeht und allgemeine Thesen aufstellen möchte, mit denen er indirekt eine persönliche, unabhängige Haltung einneh-

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men will, die vom Eigensinn des Kundigen herrührt und den trägen und unkundigen Regierenden leicht sarkastisch erscheint. Der Kern von Machiavellis Denken sowie seine individuelle Haltung gegenüber den Problemen bildeten sich in einer Frühform von 1500 bis 1503 heraus. Es ist jedoch schwierig, von den vielen Jahren, die er in der Kanzlei diente, ein Jahr zu finden, das ihn nicht zu Themen oder Gedanken angeregt hätte, denen er später Ausdruck verlieh 115 . Diesen Kern kann man nicht nur in seinen politischen Schriften finden; wie gesagt, nehmen sie einen Platz in seinen diplomatischen Berichten und den späteren Werken ein - man kann ihn auch in diesen Berichten selbst entdecken. Die umfangreichsten und flüssig geschriebenen Berichte tendieren dazu, die Informationen einem theoretischen Gesamtrahmen einzuordnen. Bei seinen Berichten geht Machiavelli stilistisch oft über die Art und Weise hinaus, wie ein einfacher Beamter schreiben würde, wenn er sich an seine Vorgesetzten wendet: Er verleiht dem Text Lebendigkeit, er verallgemeinert, er belehrt 116 ; manchmal scheint er auch die Haltung eines neutralen Beobachters einzunehmen, der die Entwicklungen unparteiisch beurteilt und nicht zögert, die gegnerische Seite zu loben, wenn sie das politische Handwerk gut beherrscht - was für die Leser seiner Berichte sicherlich ziemlich störend war. In einem Bericht lobt er sogar Cesare Borgia, zu einer Zeit, da dieser in Florenz so verhaßt war, daß einige Leute mutmaßten, Machiavelli habe dies alles nur geschrieben, weil er auf irgendeinen Gefallen von Seiten des Herzogs spekulierte. Sein Freund und Kollege Buonaccorsi schrieb ihm daraufhin am 15. November 1503 einen Brief, in dem er ihm rät, sich besser vorzusehen (Villari (1877), S. 479 f.). Mit den Jahren wird Machiavellis Stil immer flüssiger und verrät mehr Selbstvertrauen; natürlich bleibt der Verfasser in bezug auf die Tätigkeiten, über die er berichtet, im Rahmen seiner Anweisungen, doch im Geiste arbeitet er die Lage unabhängig aus und zögert auch nicht, sich über Krisen seiner Regierung ein Urteil zu bilden. Er verwendet literarische Bezüge oder sprichwörtliche Formulierungen freier und gibt jeden apologetischen und zurückhaltenden Ton auf. Freilich liest man aus seinen Sätzen auch einen Anflug der verächtlichen Einstellung der herrschenden Klasse gegenüber den Massen heraus, die in das Spiel der Politik nicht eingeweiht sind" 7 . Diese Wende wird 1503 ganz deutlich; in diesem Jahr schreibt er auch drei seiner charakteristischsten Kurztexte. Dies spiegelt bis zu einem gewissen Grad sicherlich seinen persönlichen Aufstieg im Dienst wider, nachdem Piero Soderini, der ihm gewogen war, in das höchste Amt von Florenz berufen wurde.

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Man muß anmerken, daß Machiavellis Erfahrung als Diplomat und Staatsdiener in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise steht, wie gewisse grundlegende Merkmale seiner Betrachtungsweise in sein Denken einflossen. Zunächst hatte er durch seine diplomatische Tätigkeit und durch die Berührung mit der internationalen Politik die Gelegenheit, Italien und seine Staaten von außen zu betrachten. So kommt Machiavelli zu einer Auffassung von Staat nicht als einer selbständigen und für sich alleine stehenden Einheit, sondern als eines Organismus, der sich in ständigem Kampf mit anderen, ihm entgegenstehenden staatlichen Organismen befindet. Dieser Kampf ist das wichtigste Ereignis im Leben eines Staates, denn sein Ausgang entscheidet über Weiterleben oder Tod. Folglich müssen alle Elemente, die der Staat zur Verfügung hat (Institutionen und Bürger), so aufgestellt werden, wie es das Ziel zum Erlangen des bestmöglichen Ergebnisses in diesem immerwährenden und unbarmherzigen Kampf erfordert. Die Staatsform muß, jenseits der Zufriedenstellung der Klassen oder Bürger, grundsätzlich so gestaltet sein, daß sie bei der Konfrontation mit feindlichen Staaten den größtmöglichen Kräftezusammenschluß erlaubt und die Unversehrtheit und das Weiterbestehen des Staates oder gar seine Expansion sichert. Zweitens kommt Machiavelli über seine diplomatischen Erfahrungen auf persönlichem Weg zu einer der grundlegenden Orientierungen in der Lebensauffassung der Renaissance. Seine praktische Arbeit bringt ihn ständig in Kontakt mit Personen, die die Macht besaßen, wichtige politische Entscheidungen zu treffen, und er kommt auch in Kontakt mit dem direkten Umfeld, das diese Entscheidungen vorbereitet. So verschwindet die apersonale und abstrakte Wahrnehmung der historischen Kräfte aus seinem Blick, statt dessen sieht er nur die Personen, die über diese Kräfte verfügen, sowie die konkreten Notwendigkeiten

und Umstände, in

denen diese Personen ihre Entscheidungen treffen. Es war also normal, daß Machiavelli immer die Abhängigkeit historischer Ereignisse von den einzelnen Entscheidungen einzelner Individuen sah, Entscheidungen, die in besonderen und zufälligen Situationen getroffen wurden. D o c h die historischen Faktoren können nicht in ihrem ganzen Umfang verstanden werden, wenn ihre Beobachtung nicht über die F o r m eines erfahrbaren Prozesses hinausgeht. Der Sinn kann sich nur in der Gesamtheit ergeben, während die einzelnen

Erscheinungs-

formen üblicherweise und im Grunde so irreführend sind, wie sie überzeugend scheinen. D o c h die Reduktion historischer Faktoren auf individuelle Handlungen und Entscheidungen war, wie gesagt, ein

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wesentlicher und vollständiger Bereich der individualistischen und willensorientierten Sichtweise bei Machiavelli und in seiner Zeit. Anstelle der abstrakten Kausalität, die es unter diesen Bedingungen nicht geben kann, tritt eine konkrete Kausalität, die auf greifbare menschliche Faktoren zurückgeführt werden kann und die ihrerseits auch von der diplomatischen Erfahrung diktiert wird. Daß er die Handlungen, die er für den Ausgang der historischen Ereignisse als bestimmend ansieht, zuerst mit der Psychologie der Menschen erklärt, die sie vollziehen, bringt eine Projektion psychologischer Faktoren und der menschlichen Natur als kausaler Faktoren in den Bereich der Geschichte mit sich. Dies war auch die höchste Vorstellung von einer Gesetzmäßigkeit, zu der der unechte Rationalismus der Renaissance im Bereich der Sozialwissenschaften gelangte.

III Im vorigen Kapitel berührte ich die Art und Weise, in der Machiavelli die Geschichte auswertet, sowie die Rolle, die die humanistische Bildung in der Ausübung der diplomatischen Tätigkeit spielte. Beide Punkte führen nun zur allgemeinen Untersuchung des Phänomens des Humanismus in der Renaissance, der von allen geistigen Strömungen jener Zeit am weitesten verbreitet war, weil er sich mit den herrschenden Teilen der Gesellschaft verwob, die, wie erwähnt, im wesentlichen das geistige Leben monopolisiert hatten. Da diese Strömung nun so verbreitet war und da sich Machiavellis Persönlichkeit in einem gesellschaftlichen Umfeld bildete, das von den entsprechenden Ansichten durchdrungen war, folgt daraus, daß eine Untersuchung von Machiavellis Beziehung zum Humanismus logischerweise unabdingbar ist und uns eine weitere konkrete Quelle offenbart, durch die ihn „der Geist der Zeit" prägte, indem sie ihn zwang, so oder anders zu reagieren und, im Kontakt mit diesem Geist, eine neue Synthese zu bilden. Hier ist nicht der Ort, um eine genetische Analyse vorzunehmen, wie und warum ein Großteil der ideologischen Bedürfnisse der Renaissance den Anstrich der besagten Hinwendung zur Antike brauchte. Wenn man dieses Phänomen als bereits herausgebildet betrachtet und es im Hinblick auf seine Funktionalität untersucht, kann man sagen, daß die bürgerliche Kultur der Renaissance in der Antike eine alte und erprobte Autorität fand, die sie der kirchlichen Autorität gegenüberstellen, wenn nicht gar diese auslöschen konnte, zumindest insoweit,

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daß sie unabhängig von ihr zu sein schien; im übrigen benutzte schon die mittelalterliche Scholastik Aristoteles auf ihre Weise; dies war ein überzeugender Vorlauf des Rekurses auf die Antike, um zeitgenössische Ideologien zu untermauern. Die Antike paßte gut zu den Postulaten einer individualistischen Kultur, und ihr Heidentum ging mit einer notwendig weltlichen und pragmatischen Betrachtungsweise des Bürgers einher sowie mit seinem Bestreben, ein allseitig entwickeltes Individuum zu sein, zumal die Unbeständigkeit des Systems noch große persönliche Fähigkeiten vonseiten der gesellschaftlichen Führer verlangte. Die individualistische und handlungsorientierte Lebensauffassung entspricht im Bereich der Weltsicht der Abneigung gegen jede Kategorisierung der Ideen im Rahmen eines geschlossenen Systems, wie es zum Wesen der Scholastik paßte, und dem Vorzug, dem alles Partielle und Konkrete gegeben wurde. Doch die Antike wird nicht zu einer absoluten Autorität, wie es die Kirche im Mittelalter war; sie nimmt vielmehr die Stellung einer „begrenzten Autorität" ein, die zum einen ein unübertreffliches Vorbild, zum anderen eine Triebkraft ist. Vor allem die Römerzeit wird als „die eigene nationale Vergangenheit" empfunden, als gemeinsame Geschichte und Erbe aller Bürger 118 . Die Vorstellung eines nationalen, einenden Elements macht die Hinwendung zur Antike in Italien zu einer Angelegenheit, die auch von den volkstümlicheren Schichten internalisiert werden kann; von Menschen, die die antiken Denkmäler als Andenken des Ruhmes von Italien und ihres eigenen Ruhms mit eigenen Augen sehen, während die Liebe zur Antike in anderen Ländern den Kreis der Gebildeten nicht verlassen und die unteren Schichten nicht erreichen kann, weil die Antike für sie etwas völlig Fremdes und Unsichtbares ist. Außerdem ist die lateinische Sprache mit der italienischen verwandt, und aus all diesen Gründen glaubt besonders die erste Generation der humanistischen Dichter und Philologen, daß die Antike den Ruhm der italienischen Nation schlechthin bedeute 119 . Mit der Monopolisierung des geistigen und politischen Lebens durch, wie bereits erwähnt, dieselbe gesellschaftliche Klasse wurde die humanistische Bildung schon früh, schon mit der von Salutati (1330— 1406) vertretenen Humanistengeneration, in den Dienst der Politik gestellt. Dies war zunächst für die Politiker so förderlich wie für die Geistesmenschen, insofern als die Verdrängung der mystischen und moralreligiösen Betrachtungsweise und die Hinwendung zur erfahrbaren Wirklichkeit erleichtert wurden. Doch diese Bedingungen, die die Struktur der Politik der herrschenden Klasse und gleichzeitig die

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Struktur der humanistischen Bildung veränderten, verliehen, als Resultat der Verbindung von Politik und Bildung, in kurzer Zeit auch eine gewisse Eloquenz; sie ermöglichten einen Mißbrauch gelehrter Wendungen und gewandter Argumentationen bei der Verfolgung politischer Ziele, sie machten also die Anwendung der humanistischen Bildung in der Politik zu einem Gemeinplatz und einer hohlen Phrase 1 2 0 . Zu den Merkmalen der humanistischen Rhetorik sowie der entsprechenden Abfassung diplomatischer Texte, die auch im Bereich des allgemeinen politischen Schrifttums eine Rolle spielten, gehörte der häufige (gleichgültig, ob sie ihr Ziel verfehlte oder nicht) Bezug auf historische Beispiele, um politische Urteile zu bekräftigen oder zeitgenössische Themen zu beleben 121 . Solche äußerlichen und bestenfalls konventionellen Bezüge auf Ereignisse der antiken Geschichte (oder eher: auf das Leben großer Männer der Antike) finden sich auch in den politologischen Erörterungen der Humanisten, wo sie allerdings eher rhetorische Übungen und Vergleiche von klassischen Textstellen sind, während sie gleichzeitig vor charakterbildenden Anregungen strotzen - verfolgen sie doch ein moralisches und kein wissenschaftliches Ziel. Trotz allem wird in diesen Abhandlungen zur Erklärung weltlicher Ereignisse kein Bezug mehr auf übernatürliche Ursachen genommen; es handelt sich immer um weltliche Ursachen, denn es wird ihnen die menschliche Natur zugrunde gelegt 1 2 2 . Dennoch werden diese Gedanken und diese bemerkenswerten Auffassungen weder erweitert noch gepflegt und ersticken schließlich in einer Flut von Phrasen. Die Antike trat also nur in Form einer Hinwendung zum Wirklichen in die Welt der Renaissance ein; die antike Lebensweise und deren Kenntnis wurden von Anfang an und noch viel mehr seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eins mit dem Ideendiebstahl und der inhaltslosen Übertragung antiker rhetorischer Muster auf Situationen des öffentlichen und privaten Lebens, die für die Herausbildung der entsprechenden Haltung unabdingbar waren. Ein Beweis für diese Oberflächlichkeit ist übrigens die Wertschätzung, die die H u manisten den mnemotechnischen Methoden entgegenbrachten, dem guten Gedächtnis beim Auswendiglernen und der Gewandtheit beim Zitieren von Textstellen 123 . Diese Zwitterideologie der Humanisten spiegelt in gewisser Weise die Unentschlossenheit der geistigen Welt der Renaissance wider. Der Humanismus versuchte nicht, eine objektive Gesellschaftstheorie aufzustellen, er beschäftigt sich mit dem einzelnen Individuum, dessen Psychologie und Moral; so erklärt sich auch die Liebe zur Biographie

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und zur Historiographie, bei der einzelne Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen 124 . Auch das Ideal der Humanisten, die allseitig entfaltete Persönlichkeit, war so individualistisch und aristokratisch, so moralisch und psychologisch wie das Ideal von Tapferkeit, Tüchtigkeit und Tugend in der Antike und war eng verbunden mit der gesellschaftlichen Elite 125 . Diese Orientierung konnte freilich weder zu einer starken und selbständigen Synthese der neuen Gegebenheiten noch zu einer genauen Definition neuer methodischer Prinzipien führen. Die Humanisten interessierten sich schließlich nur für die Entdeckung jener zufälligen Elemente, die in ihrer Welt scheinbar vom Bürger und von den Sitten der Antike Übriggeblieben waren. Selbst wenn sie Quellen und Archive studierten (wie Bruni) waren sie schnell dabei, die örtlichen und zeitlichen Eigenheiten zu streichen, damit die Bezugnahme auf das antike Vorbild einfacher wurde. Andererseits ergab dieser Ansatz der Erforschung durchgängiger Merkmale im Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart irgendwann, wenn auch sehr indirekt, gewisse geschichtsphilosophische und allgemein-politologische Kriterien 126 . Die Widersprüche in der Ideologie der Humanisten werden größer, weil sie selbst keine einheitliche Schicht bilden, die eine einheitliche Gesellschaft widerspiegelte: Hier verteidigen sie die Fürsten, die ihnen otium, den Müßiggang, garantieren, dort umringen sie die ersten Bürger der Republiken, die ihnen Schutz gewähren (so entsteht die duale Strömung des Monarchismus und des Republikanismus). Gegen Ende des 15. Jahrhunderts kommt es zu einer Synthese, die allerdings keine organische Struktur hat, sondern eher aus der allgemeinen Erschlaffung und der stillschweigenden Aufhebung der Gegensätze entsteht, als die Bürger sich mit dem monarchischen System abfanden und es akzeptierten; so wurden die verschiedenen Förderer der Humanisten in einer Schicht vereint 127 . Daß der Humanismus eine im Grunde bürgerliche Strömung ist, zeigt sich nicht nur daran, daß er die Postulate und die Widersprüche der bürgerlichen Weltsicht widerspiegelt; es zeigt sich auch an der Herkunft seiner natürlichen Träger (obgleich dies ein epikureisches Kriterium ist: Das Wesentliche einer Ideologie ist ihre Funktion und die Frage, wem sie nützt, nicht die nach Herkunft ihrer Begründer und Anwälte). Viele Humanisten, vor allem in Florenz, kamen aus bürgerlichen Familien; sie machten als erste den Humanismus zu einer unerläßlichen Komponente des geistigen und politischen Lebens, von ihnen übernahmen ihn die Fürsten und die Päpste 1 2 8 . Sehr interessant ist, daß ziemlich viele Florentiner Unternehmer als Grundlage ihrer

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Geschäftsphilosophie Werte heranzogen, die sie der eingehenden Lektüre antiker Autoren entnahmen. Diese Lektüre bestimmte nicht ihre wirtschaftliche Orientierung, sie waren Menschen der Tat, und bei den Klassikern fanden sie lediglich, in idealisierter Form und als moralische und lebenspraktische Aufrufe, die Regeln, denen sie im Alltag folgten, um einen größeren wirtschaftlichen Ertrag zu erzielen. (Hier spielten die Klassiker die Rolle, die anderswo in den Frühstadien der kapitalistischen Entwicklung der Protestantismus spielte). Der Bürger schätzt vor allem die Vorstellung eines Moralgesetzes, wie es sich hauptsächlich bei den Stoikern findet; diesem Gesetz ordnet er die instinktiven Triebe unter, während er den Geist mit der Rationalisierung aller Lebensbereiche gleichsetzt; die für den Kapitalismus so günstige Neigung zu „Disziplin" und „Fleiß" verlangt eine Unterdrückung unvernünftiger Regungen 129 . Freilich reichen die Einflüsse einer solchen Struktur in die anfängliche, heroische und asketische Zeit der Herausbildung des Typus Bürger zurück. Auch zeigt sich die bürgerliche Struktur des Humanismus in seiner Verbindung mit der Vorstellung vom Stadtstaat und dem Leben im Stadtstaat, der bürgerlich-republikanischen Gesellschaft also, die den entsprechenden politischen Geist nährt und über die äußere Gleichheit der politischen Struktur die Verwendung von Symbolen des politischen Lebens der Antike und einen ideellen Bezug auf die Antike und ihren Geist ermöglicht. Genau diese Vorherrschaft des Stadtstaats in Italien verstärkt noch die Hinwendung zur antiken Staatslehre (die von den Arabern und den Scholastikern nicht berücksichtigt wurde, weil sie keine konkreten Referenzpunkte kannten, obwohl sie sich mit anderen Aspekten der platonischen und aristotelischen Philosophie befaßten), während gleichzeitig der Gegensatz zur universalen Weltsicht der mittelalterlichen Staatstheoretiker größer wird. Nun beeilen sich die Humanisten, die Entstehung der italienischen Staaten mit der Gründung Roms (durch einen Gründer, der Gesetze aufstellte usw.) zu vergleichen und ihre historische Entwicklung zu verfolgen, indem sie Analogien aufstellen und Parallelen ziehen130. Da der Humanismus so eng mit dem Bürgertum verwoben war, folgte er diesem auch dicht bei dessen Entwicklung von der Fortschrittlichkeit zum Konservatismus. Der Humanismus der Generation Salutatis und noch viel mehr Brunis schließt sich der Ideologie der inneren Ruhe nicht an; die Vorstellung eines Kriegsherrn verbindet diese Generation eher mit der Vorstellung soldatischer Disziplin und der Tugenden des Volkes als mit der Vorstellung persönlichen Ruhms, während sie gleichzeitig ihre Vorbilder aus der frühen und

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mittleren Phase der römischen Republik zieht. Die virtus wird als männliche Tugend mit heldisch-kriegerischem Inhalt und die Antike als die hohe Schule dieser Tugend mit dem Ziel patriotischer Hingabe und Opferfreudigkeit aufgefaßt. Dazu im Gegensatz überträgt die zweite und dritte Generation der Humanisten, die mit dem gesellschaftlichen Kompromiß des Bürgertums einhergeht, ihre höchsten Postulate auf eine ideelle Welt, und anstelle des Dienstes am Vaterland setzt sie das Ideal der gebildeten Persönlichkeit; der Humanismus wird zu einer inneren Haltung und einer seelischen Einstellung, während die Seele selbst unter dem Einfluß des Piatonismus und des Christentums zum Objekt der Verehrung wird. Der Humanismus entfernt sich von der Realität und macht aus der Antike eine Welt unerreichbarer Vollkommenheit, die nicht den Bürgern gehört, sondern den Eingeweihten; ihnen dient sie als Elfenbeinturm und gleichzeitig als Instrument zur unüberwindlichen Unterscheidung von ihren übrigen Zeitgenossen, die mit ihnen selbstverständlich nicht das Erleben dieser wunderbaren Welt teilen können. Doch die Rezeption der Antike bleibt nicht rein, während sich der Humanismus von seinen Wurzeln trennt, sich trübt, mystizistisch und religiös wird. Im deistischen Denken, das in der „Platonischen Akademie" von Florenz erblüht und das wir in den Hymnen des Lorenzo de' Medici wiederfinden, herrscht die Vorstellung, daß die objektive Welt ein Abbild Gottes sei, das er selbst mit Liebe erschaffen habe und das die Seele als Einheit mit der Welt und dem Unendlichen erfasse. Die Seele taucht also ins Weltliche und Materielle ein, um das Geistige zu erlangen; hier haben wir eine Mischung aus zeitgenössischem Geist, mittelalterlichem Mystizismus und platonischen Ideen 131 . Dennoch entsteht, wenn auch stillschweigend, als Gegensatz zu dieser neuen Scholastik wiederum eine naturalistische und lebendige Renaissance; diese Strömung wird von Leonardo da Vinci vertreten, sie ist eine laizistische, empirische und spontane Haltung gegenüber der Wirklichkeit - eine experimentelle Haltung 1 3 2 . Machiavelli, der die neuplatonische Weiterentwicklung des Humanismus vollständig umgeht, schließt sich nun spontan dieser ursprünglichen Haltung gegenüber der Welt an, während er in bezug auf sein Bild der Antike und dessen Inhalt der politischen und patriotischen Ausrichtung der ersten Humanistengeneration treu bleibt. So steht seine Geisteswelt wieder einmal an einem Kreuzweg widersprüchlicher Strömungen. Doch wenn Machiavelli ganz abseits der Entwicklung des Humanismus auf den Gebieten der Philosophie und Metaphysik stand, liegt

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dies nicht an seiner persönlichen Einseitigkeit oder seiner begrenzten Wahrnehmung 133 , wenn auch die beharrliche Hingabe an lediglich bestimmte Themen irgendwann als Einseitigkeit ausgelegt werden oder dahin führen kann. Wenn es diese Entfremdung gab, und es gab sie wirklich, dann erklärt sie sich dadurch, daß Machiavelli die soziale Schicht, die diese jüngste humanistische Strömung nährt und verstärkt, innerlich - aufgrund seiner Herkunft und seiner Lebensbedingungen fremd ist. Gegenüber der Elite der herrschenden Klasse befindet sich Machiavelli ganz und gar nicht in der gleichen Position wie die H u manisten seiner Zeit und, als Teil der Intelligenzia, folgt er der obersten bürgerlichen Schicht daher nicht in der allmählichen Wende von „links" nach „rechts" wie die humanistischen Intellektuellen. (Diese taten das allerdings nur mit zusammengebissenen Zähnen, weil sie begriffen, daß ihre Führer sie sozial in der Rolle der beugsamen Gehilfen hielten, obwohl sie ihnen großzügig die Weiden der wunderschönen Welt der Ideen abgetreten hatten). Machiavellis Distanz zu den höchsten Kreisen der herrschenden Klasse entfernt ihn auch von dem Humanismus, den sie fördern, während seine berufliche und innere Eingliederung in den Staatsapparat sowie die Staatsräson ihn zum Humanismus der ersten Generation führen, der von einem intensiven politischen und patriotischen Hauch beseelt war, von einer republikanischen und antipäpstlichen Orientierung und der Verherrlichung von Mäßigkeit und Tugend 1 3 4 . Machiavellis soziale Herkunft ist ein wichtiger Punkt, der seine Haltung zum Humanismus erklärt. Er kommt nicht aus einer großbürgerlichen Familie wie viele Humanisten, sondern aus einer alten Familie von Edelleuten, die mit der Zeit bürgerlich wurde und in der heldenhaften Epoche der Republik von Florenz, zur Hochzeit der Guelfen, eine bedeutende Rolle spielte. Doch nach und nach begann der Abstieg der Familie Machiavelli, und Ende des 15. Jahrhunderts besitzt sie nur noch einige kleine familiale Privilegien, die sie energisch verteidigt, und hält an ihrer republikanischen Tradition fest, die deutlich die charakteristischen Merkmale des Humanismus der ersten Generation trägt. Machiavellis familiäre Situation erlaubte ihm ein spartanisches, aber würdiges Leben, das jedoch nicht völlig frei war von der Sorge einer relativen Armut, die vor allem im Vergleich zu seinen wohlhabenderen Freunden spürbar war 1 3 5 . So bekam er zu einer Zeit, da die reichen jungen Leute von Florenz Griechisch lernten und schon früh in den jüngsten Strömungen des Humanismus schwelgten, eine verhältnismäßig eingeschränkte Ausbildung. Er konnte kein Griechisch

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oder hatte auf jeden Fall nur rudimentäre Kenntnisse dieser Sprache; dagegen studierte er fleißig die lateinischen Klassiker im Original, er las nicht nur die Historiker, sondern auch die Dichter, während er von den Griechen nur die Werke las, die in lateinischer Übersetzung vorlagen, und beschränkte sich hier offenbar auf die Historiker 1 3 6 . Machiavellis Bildung war also nicht sehr breit angelegt und sie allein gab ihm auch keine theoretischen Schwerpunkte vor, die er selbst hätte weiterentwickeln können; erst später machte sein Schwelgen in den klassischen Historikern einen Sinn für ihn, als er mit der Erweiterung seines Horizonts durch seine politisch-diplomatische Tätigkeit die Achsen bilden konnte, an denen er die Bildungselemente seiner Studien anlegen konnte, und als er sein Denken nicht auf eine Allgemeinbildung und deren entsprechende Kultivierung ausrichtete, sondern auf Ansätze, die sich beharrlich auf bestimmte grundlegende Themen konzentrierten; in dieser Auseinandersetzung bildete sich schließlich seine Denkungsart heraus 137 . Dennoch ist die häufig vertretene Ansicht einseitig, Machiavelli habe seine Auffassungen ausschließlich aus seiner Erfahrung gewonnen und sich beim Verständnis der Vergangenheit lediglich von realen Begebenheiten leiten lassen. Die humanistische Weltsicht und ihr Streben, antike Vorbilder zu finden, war sehr verbreitet und sie war ein wesentlicher Teil der damaligen geistigen Atmosphäre; so mußte Machiavelli einfach schon in jungen Jahren, die der Zeit seiner politischen Erfahrungen vorausgingen, davon beeinflußt worden sein (so erklärt sich übrigens, daß einer seiner frühesten Texte - über den Aufstand im Chiana-Tal - so aufgebaut ist, daß er auch ganz hervorragend ein Kapitel der Discorsi bilden könnte; s. 11,23). Im Vergleich zu den H u manisten findet sich die Quelle von Machiavellis Eigenständigkeit anderswo - nicht in der einfachen Deutung, er habe die Rezeption des antiken Vorbilds gänzlich verraten, bei ihm beschränke sich also der konventionelle Bezug auf die Antike auf das Mindestmaß, und dieser Bezug werde auch noch zu einer kämpferischen, antagonistischen Beziehung. Machiavelli hält das antike Vorbild nicht hoch, um aktuelle Ereignisse durch den Bezug darauf herauszustreichen, wie es die Humanisten tun - er stellt es den Ereignissen gegenüber und streicht diese heraus, um sie mit einem Sinn zu beseelen, den er aus der historischen Analogie zieht, und nicht um eine ethische, sondern eine theoretische und zugleich praktische Lehre daraus zu ziehen. Es wurde sehr schön angemerkt, Machiavelli sei zwar ein Sohn des Humanismus, aber ein verlorener Sohn, der nicht mehr zurückkehre und der sich in

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seiner geistigen Struktur von den Humanisten noch mehr unterscheide als in der Ausrichtung seiner Studien 138 . Zweifellos spielte auch die Verflechtung der rhetorischen und epistolographischen Leistungen der Humanisten mit der offiziellen Tätigkeit des Staates Florenz eine Rolle in Machiavellis Beziehung zum Humanismus. Wie ich im vorigen Kapitel anmerkte, war das Zurschaustellen humanistischer Bildung in diplomatischen Kreisen und außenpolitischen Beziehungen ein gewohntes Phänomen und protokollarisches Erfordernis. Unter den höheren Beamten entwickelte sich eine gewisse Konkurrenz, die gewöhnlich auf der Ebene philologischen Geplänkels und gelehrter Anspielungen in Amtsberichten miteinander in Wettbewerb traten. Durch diese Elemente entstand in der Ausübung der täglichen Arbeit ein bestimmtes Klima, und wer sie nicht beherrschte, isolierte sich automatisch von den anderen, den Fortgeschrittenen. Machiavelli, ein großer Freund des gesellschaftlichen Umgangs und der normalen Beziehungen mit seiner Umwelt, wollte sicherlich nicht gegen den Strom schwimmen und machte sich wohl schnell mit den „behördlich-humanistischen" Gemeinplätzen vertraut; schließlich hatte er Vorgesetzte wie Marcello Virgilio, einen Professor am studio von Florenz. Selbstverständlich wurde sein Denken nicht wesentlich davon beeinflußt, und die humanistischen Elemente, die in dieser Umgebung gediehen, standen augenscheinlich auch nicht in einer Beziehung zum Neuplatonismus der herrschenden Elite; dennoch näherte sich Machiavelli auf diese Weise dem diffusen humanistischen Geist, und zwar so sehr, daß bestimmte Merkmale der humanistischen Schriftlehre ganz deutlich in den Texten aus der Zeit seines Staatsdienstes zu erkennen sind (z.B. die Topographie Sinigaglias in der Beschreibung der Art, wie der Herzog von Valentinois ..., 1503, und die Anklänge an Tacitus in Politischer Zustand Deutschlands, 1512). Natürlich betrachtete Machiavelli es mit Genugtuung und Eitelkeit, daß er diesen humanistischen Anstrich beherrschte, und er hielt dies für eine wichtige Errungenschaft, war es für ihn doch der einzige Weg, mit Personen in Kontakt zu kommen, die gesellschaftlich höher standen als er selbst; (zum Glück können die Illusionen und der Ehrgeiz großer Geister den Kern ihres Denkens nicht zerstören). Auch in seinem nachfolgenden Lebensabschnitt, als er beharrliche Versuche unternahm, sich bei den Medici wieder zu rehabilitieren, stand, bewußt oder unbewußt, bei ihm das gleiche Kriterium im Vordergrund, und ganz allgemein pflegte er näheren Umgang mit Philologen und Gebildeten, während er sich gleichzeitig systematischer der Nieder-

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schrift seiner literarischen Werke widmete; genau dieser „Philologismus" war seine Eintrittskarte in die oberen Kreise. Doch Machiavellis Kontakt mit diesen Kreisen war wiederum nicht dergestalt, daß er die wesentliche Ausrichtung seines Denkens beeinflußte. Erstens hatten sich nach der Verbannung der Medici und den nachfolgenden umwälzenden politischen und kriegerischen Ereignissen die Interessen dieser Kreise in hohem Maß von philosophischen und künstlerischen Themen abgekehrt und wieder den breiteren politischen Fragen zugewandt, vor allem dort, wo man sich von den Medici abgewandt hatte wie in den Orti Oricellarii [Debattierclub der Rucellai (auch Ruccellai), einer Familie von Humanisten und Kunstförderern; Anm. d. Ubers.]. Zweitens wurden aus Machiavellis persönlichen Beziehungen zu Angehörigen der humanistischen Kreise nie enge Freundschaften. Er Schloß zunächst über seine Arbeit Bekanntschaften aus den oberen gesellschaftlichen Schichten, und wenn er dann später außerberuflich mit diesen Menschen verkehrte, so deshalb, weil ihre Interessen, wie oben erwähnt, wieder zum Großteil der Politik galten, einem Bereich, in dem Machiavelli zu Hause war, während er sich in der Atmosphäre der Platonischen Akademie vollkommen fremd gefühlt hätte; er konnte, wie erwähnt, nicht einmal Griechisch, was die Sache noch verschlimmerte. Er versuchte seine Beziehungen zu den tonangebenden Mitgliedern dieser Kreise vor allem aus Gründen des persönlichen Nutzens zu festigen; er zeigte nämlich keinerlei Neigung, Kontakte zu Personen zu pflegen, deren Stern im Untergang begriffen war. Doch all jene, mit denen er Kontakt suchte, halfen ihm nicht aktiv, vielleicht war er manchen auch insgeheim lästig, oder sie hielten ihn für wankelmütig; andererseits konnten sie ihn nicht ignorieren, weil er als Denker und Diskutant alles andere als unterlegen war, was ihm sicherlich auch zu einigen Bewunderern aus den Kreisen der Platoniker verhalf. Doch wie dem auch sei, Machiavellis schwankendes Verhältnis zum Humanismus, das auch mit seinen persönlichen Lebensumständen verbunden war, hinterließ in seiner Betrachtungsweise gewisse Spuren (besonders nach 1516), vor allem Züge wie Individualismus, Ruhm- und Ehrbestreben 139 sowie sein Antikaisertum 140 manifestieren sich humanistisch, doch diese Spuren sind nicht besonders relevant, wenn man in Betracht zieht, daß er mit der Abfassung der Discorsi schon 1513 begann. Man kann Machiavellis Haltung zum Humanismus und den Humanisten nun allgemein charakterisieren und zunächst feststellen, daß er in bezug auf die Antike kein Interesse hat, die ostentative Haltung

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der Humanisten zu übernehmen. Seine Kenntnis der Klassiker und seine allgemeinen Kenntnisse benutzt er keineswegs als Instrument, um sich von der breiten Masse abzugrenzen wie die Humanisten, für die Wissen, genauso wie Reichtum, ein Kriterium gesellschaftlicher Unterscheidung war. Auch verfolgte er die literarischen Produktionen der Humanisten nicht, (sie schrieben auf Lateinisch, schwelgten in pedantischen und hohlen Diskussionen über philosophische Themen, mit denen nur „Eingeweihte" vertraut waren); deren oberster und alleiniger Zweck war es, die Distanz zwischen sich selbst als der gebildeten Elite und dem Rest der Welt zu betonen. Sicherlich finden sich in Machiavellis Schriften genügend konventionelle stilistische Elemente, die er direkt von den Humanisten übernahm, doch sie dringen nicht unter die Oberfläche und sind ein Tribut, den er eher als gesellschaftliches Wesen denn als Denker leistete. Es gibt im übrigen keinen Grund anzunehmen, daß Machiavellis Distanz zu den Humanisten beabsichtigt und bewußt war; als Individuum mußte er sie wohl als die wahrhaft gebildeten Menschen seiner Zeit ansehen und wollte ihnen auch ein wenig ähnlich sein, doch zu seinem großen Glück waren seine Herkunft und seine innere Konstitution vollkommen anders. Machiavelli stand von Anfang an zwei Elementen ablehnend gegenüber, nämlich denen, welche die Existenzbedingung der Humanisten und den Lebensstil des konservativ gewordenen Bürgertums ausmachten: individuellem Reichtum und otium, dem Müßiggang der Humanisten und der Privatiers, der „Rentner". Für Machiavelli waren dies ganz eindeutig und ausdrücklich Elemente der Verderbtheit, die, wo sie vorherrschten, fatal waren für das Schicksal des Staates. Die geistige Muße, das Ideal der Humanisten, schwächt die politische Tugend, die praktische Hingabe, die in politischen Angelegenheiten notwendig ist. Die Philosophen nutzen den Frieden aus, schreibt Machiavelli, den die Kriegsherren mit ihren Siegen schufen, und degenerieren ihn zur Trägheit (Geschichten V,l). Außerdem nehmen die Intellektuellen in Machiavellis Gesellschaftsordnung den letzten Rang ein und sie sind mitnichten „das Salz der Erde", wie eingefleischte Humanisten behaupten (Discorsi 1,10). Berücksichtigt man diese Punkte, sieht man gleich, daß die Ansicht nicht haltbar ist, der Humanismus sei eine Hauptkomponente von Machiavellis Geisteswelt 141 . Auch wenn Machiavelli die grundlegenden Aspekte der humanistischen Weltsicht insgesamt fremd sind, so teilt er mit ihr doch bestimmte Einschätzungen in konkreten Fragen. Dies geschieht jedoch

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nicht, weil er einige Meinungen direkt von den Humanisten übernahm, sondern weil ihre gemeinsamen Auffassungen auf allgemeine Merkmale des Geisteslebens jener Zeit zurückgehen, die weder speziell noch ausschließlich der humanistischen Sicht entlehnt sind, obwohl sie auf charakteristische Weise auch in ihr enthalten sind. Solch eine Übereinstimmung in der Meinung zu einzelnen Fragen zeigt Machiavelli an einigen Stellen mit seiner Abneigung gegen Aufstände und Erhebungen sowie mit seiner Ignoranz in bezug auf die Vorstellung eines gesellschaftlichen Gesetzes. Eine gemeinsame Haltung kann man vor allem in der Bewertung der Religion erkennen, ein Element, das, unabhängig von seiner dogmatischen und zeremoniellen Form, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die gesellschaftliche N o r malität allgemein nützlich ist. Die Humanisten vermeiden den offenen Konflikt mit der Kirche, weil sie die Religion für das Volk als nützlich ansehen. So pflegen sie gegenüber der Kirche oder der Religion eine Polemik, die nicht bis ins Volk dringt und es beeinflussen kann; sie begnügen sich mit Skeptizismus und scharfer Ironie. Im übrigen stand die Kirche nicht in wirklichem Gegensatz zu der im Grunde konservativen politischen Ideologie des Humanismus; die oberen Kreise der Kirche hatten freilich auch in hohem M a ß den weltlichen und heidnischen Geist der Humanisten internalisiert, die, wenn sie auch keine Reformer, so doch bezüglich der enggefaßten kirchlichen Ideologie auf jeden Fall Modernisten waren 1 4 2 . So hatten die Humanisten einen Grund weniger, die Kirche offen zu bekämpfen. Überdies glaubt der Humanist, der an keine bestimmte Religion glaubt, hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Nutzens an alle zusammen und kommt durch eben diese Gleichgültigkeit gegenüber der Religionsform an den Punkt, daß er seine Konfession nicht ändert und formal katholisch bleibt 1 4 3 . Ganz allgemein bringt die Stimmung der oberen Schichten gegen die Kirche einen sarkastischen Unwillen und eine Anpassung an die hierarchische Ordnung mit sich, sofern sie mit dem äußeren Leben verwoben ist, während die Verachtung der katholischen Kirche und ihrer Päpste diffus im Raum steht, vor allem in der näheren und weiteren Umgebung Machiavellis 1 4 4 . Dennoch hat Machiavellis Opposition zur Papstkirche aus zwei Gründen eine zusätzliche und eigenständige Bedeutung: Erstens drückt sie sich in einer Zeit aus, da die obere Schicht des Bürgertums mit der Kirche einen Kompromiß geschlossen hat und offen mit ihr zusammenarbeitet, und die Kirche ihrerseits hat in bezug auf das Verhältnis von wirtschaftlichem Handeln und Seelenrettung beachtliche Anpassungsleistungen ihrer Lehre vollbracht; zweitens drückt

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sie sich durch einen Florentiner aus, in einer Zeit, da die Regierung von Florenz und der Heilige Stuhl eins sind (nach 1512). Machiavellis Haltung zur Kirche, wie er sie aus seinem Blick in ihrem wirklichen Wesen sah, erklärt auch die Art und Weise, wie er Savonarola als Person schätzte. Der Florentiner Mönch hatte das Postulat moralischer Läuterung und strenger Mäßigkeit aufgestellt, das natürlich direkte politische Auswirkungen und Ziele hatte; es manifestierte sich jedoch nicht in Form eines Programms zur politischen Neuordnung, sondern in Form und Stil eines himmlischen Gebots, das er als Platzhalter Gottes übermittelte. Savonarola unterscheidet in seinem Denken die Läuterung der Kirche nicht von der Läuterung des Staates, um so weniger, als in seinen Augen die Eigenschaft des Bürgers mit der Eigenschaft des Gläubigen zusammenfällt. So stehen Savonarolas gesamte Ausdrucksweise, sein Stil und seine Ethik, in krassem Gegensatz zur weltlichen und pragmatischen Tradition der Florentiner Politik, was ihn der Möglichkeit beraubt, mehr als nur einen vorübergehenden Schwebezustand in der politischen Realität seiner Stadt zu schaffen 145 . Machiavelli mußte aus seiner Sicht den eher volkstümlichen Charakter von Savonarolas Regierung gemocht haben, unabhängig von seiner Meinung über ihren Hauptführer 1 4 6 , wie ihm auch die Forderung nach Mäßigkeit schlechthin sympathisch gewesen sein mußte 147 . Doch selbst wenn es eine Ubereinstimmung in derlei Einschätzungen gegeben haben könnte, spürt Machiavelli doch stark, daß Savonarola einige seiner fundamentalen Uberzeugungen in Zweifel zieht, vor allem die deutliche Unterscheidung politischer Positionen von moralisch-religiösen Postulaten. Die Rechtfertigung einer Politik durch Berufung auf ihre höhere Mission ist für Machiavelli unbegreiflich nicht weil ihm die Vorstellung einer höheren Mission, wenn diese patriotisch und politisch ist, fremd ist, sondern weil Savonarola diese Mission mit dem Göttlichen gleichsetzt und so die Grenzen zwischen Politik und Moral verwischt, während er zugleich die Läuterung von Staat und Kirche als eng verbunden ansieht. Machiavelli sieht zwar die Not der Kirche, verlangt aber von ihr keine moralische Läuterung, sondern lediglich eine Neuanpassung ihrer für Italien so schädlichen Politik; für Machiavelli ist die Kirche das, was sie ist: eine organisierte, weltliche Kraft, und wenn ihre moralische Degeneration aufgehalten werden muß, so vor allem deshalb, damit die Kirche ihre politische und ideologische Rolle richtig spiele. Doch für Machiavelli ist und bleibt jedes Postulat einer rein moralischen Ordnung der Kirche, jedes Luthertum fremd. Ein solches Postulat wäre für ihn auch in jedem

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Falle naiv; kommt es aber von einem Kuttenträger (und es ist bekannt, wie die Kutte allgemein in jener Zeit und besonders in Machiavellis Umgebung eingeschätzt wurde), ist es mehr, dann ist es verdächtig, da sich dahinter nur persönlicher Eigennutz und Ehrgeiz verbergen können. Im Grunde betrachtet Machiavelli Savonarola als einen Mann, den es nach Macht dürstet, der es versteht, seine Motive in schöne Predigten zu kleiden, und dessen Heldentum darauf gründet, daß er bereit ist, mit der ganzen Stadt unterzugehen 148 . Savonarolas religiöser Eifer ist Machiavelli fremd; er sieht die Prophezeiungen des Mönchs als ein Mittel, den Zusammenhalt seines Lagers zu sichern, und interessiert sich hauptsächlich für die politischen Auswirkungen seiner Taten. Machiavelli betrachtet Savonarolas Aktivitäten nicht als naive Politik oder als naive Moral, sondern als kaschierte schlaue Politik; er sieht Savonarola nicht als unbeflecktes „Sollen", das fataler- und ungerechterweise untergeht, weil es ein korruptes und erfinderisches „Sein" bekämpft, sondern er sieht ihn als Teil dieses faulen „Seins", das versucht, seine Macht zu erhalten, indem es sich hinter einem „Sollen" versteckt, das äußerlich erhaben, dem Wesen nach aber falsch ist. Wie gesagt, verwirft Machiavelli die Vorstellung eines „Sollen" an sich nicht, sondern nur ihren religiösen Charakter. In dieser Hinsicht ist sein Konflikt mit Savonarola kein Konflikt zwischen einem Renaissancemenschen und einem mittelalterlichen Menschen, auch kein Konflikt zwischen politischem „Sein" und moralischem „Sollen", sondern es ist ein Konflikt zwischen zwei „Sollen" von unterschiedlicher Struktur. Machiavelli ist kein reiner und trockener Techniker der Macht, er ist auch kein mittelmäßiger Politiker der „Technik des Machbaren" - auf seine Art und als der Patriot, der er ist, ist er auch ein Träumer und Leidenschaftsmensch, auch wenn er nicht danach strebt, selbst die Realität zu verändern; er legt einfach nur dar, was geschehen muß, damit sie sich ändert 149 . Die Unabhängigkeit von Machiavellis Sichtweise gegenüber der Antike und folglich gegenüber der Sichtweise der Humanisten zeigt sich nicht nur in der Art und Weise, in der er die Antike als politisches Vorbild sieht, sondern auch in seiner lockeren Beziehung zur antiken Staatslehre. Früher wurden beharrlich Versuche unternommen, Machiavellis politologisches Denken auf antikes politologisches Denken zurückzuführen, doch das Resultat war dürftig 150 . Entsprechende Bezüge finden sich freilich zur Genüge, besonders auf Aristoteles (Politik V), doch das hat nichts zu sagen, denn Machiavellis zugrunde liegende Sichtweise ist eine ganz andere, auch dort, wo fast wörtlich

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Bezug genommen wird wie bei der Anakyklosis-Theorie von Polybius (und es sei dahingestellt, ob die Gemeinsamkeit der artikulierten Vorstellungen tatsächlich aus dem Text der Antike geschöpft sein muß, wenn die übernommene Stelle nicht umfangreich ist). Machiavelli ist vor allem vom römischen Ideal beseelt, das ausschließlich die politische Idee enthält, während das griechische Staatsideal auch die Idee einer geistigen und moralischen Kultur enthält - diesen Gesichtspunkt schneidet Aristoteles wiederholt an, indem er ganz im Gegensatz zu Machiavelli von politeia spricht [von Gigon mit „Verfassung" übersetzt, im Gegensatz zu pölis, „Staat", politeia „Staaten"; Anm. d. Ubers.]. Aristoteles wendete eine Art historischer Methode zu einem normativ-moralischen Zweck an, zur Suche nach einer idealen politeia, deren weitergehender Zweck das Glück des Bürgers sowie ihr inneres Gleichgewicht und ihre innere Fülle ist. So verwebt Aristoteles das Ideal des Staates mit dem Wohlergehen der Bürger, während Machiavelli zuerst an den Staat als Machtapparat denkt und an dessen Möglichkeiten, im Wettstreit mit anderen Staaten zu überleben; dieser Wettstreit, und nicht eine aufs Individuum ausgerichtete Betrachtungsweise, bestimmt die Staatsform. Das ist einleuchtend, weil sich für Machiavelli in bezug auf das Individuum nicht das Problem stellt, daß man es höher bringt, auch im moralischen Sinn, sondern daß man es regiert 151 . Ein Gebiet, auf dem sich Machiavellis Begegnung mit dem Humanismus, aber auch seine Abwendung vom Humanismus ganz deutlich zeigt, ist die Historiographie. D i e humanistische Historiographie nimmt ihre eigentliche Gestalt an, als sich Humanisten und Humanismus in der oben angesprochenen Weise mit der Ausübung der diplomatischen Tätigkeit und dem zeremoniellen und protokollarischen Teil der Politik verbinden und, konkreter, als der humanistische Stil breite Anwendung in der Abfassung diplomatischer und politischer Texte findet und seine Übertragung auf die Geschichtsschreibung, wie sie damals verstanden wurde, nur noch ein kleiner Schritt war 1 5 2 . Unter den gebildetsten Angehörigen dieser staatlichen Behörden, die sich mit Auslandsbeziehungen beschäftigten, wurde es Tradition, den Zugang zu öffentlichen Archiven dahingehend zu nutzen, um historiographisches Material zu sichten 1 5 3 . Trotz dieser Verflechtung der angewandten Politik mit der Historiographie blieb die wichtigste Fähigkeit und das bevorzugte Kriterium der Geschichtsschreibung doch immer die Beherrschung des humanistischen Stils und der leichte Umgang mit dessen Topoi; was das Besondere der Persönlichkeit des Geschichtsschreibers ausmachte, war also nicht seine Qualität als akti-

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ver politischer Mensch, sondern die als Humanist. Folglich blieb die Historiographie in Wirklichkeit auf humanistische Kreise beschränkt und trat nur in dem Maß mit diplomatischen und anderen Amtern in Beziehung, wie diese vom humanistischen Stil und dem entsprechenden Weltbild beeinflußt waren 1 5 4 . Im übrigen erreichte das Schöpfen aus den Archiven und die Verwertung des historischen Materials nur in wenigen Fällen die H ö h e der historischen Kritik (und auch da nur vereinzelt), und so wurden dem humanistischen Charakter der Historiographie keine Grenzen durch systematische kritische Quellenanalyse gesetzt. Das Fehlen dieses kritischen Bewußtseins ist nicht etwa der Tatsache geschuldet, daß die Humanisten intellektuell unterlegen waren oder daß sie bewußt etwas gegen Genauigkeit hatten; ihre allgemeinen Auffassungen und ihre Ziele waren ganz einfach andere. Gemäß dem Vorrang, den sie dem antiken Vorbild geben, und mit ihrer Neigung, jüngere Ereignisse mit dem Ruhm der entsprechenden Ereignisse in der Antike zu überziehen und zu schönen (aber auch mit dem Motiv, persönlichen Ruhm und persönliche Ehre zu besingen - ein dem Wesen nach individualistisches Ideal und Ideal der Renaissance, auch wenn es der klassischen Antike entlehnt ist), wollen die Humanisten ihrer historischen Schilderung zuallererst Erhabenheit und Glanz verleihen und schaffen damit indirekt wieder eine Atmosphäre, von der sie glauben, jede vollbrachte Tat in der Antike hätte sie verbreitet. Sie wollen auch Persönlichkeiten oder Kulturen preisen und somit als mustergültig darstellen. Für diese Zwecke ist natürlich die Rhetorik das geeignete Mittel, vor allem in ihrer Verbindung mit der Historiographie: der Stil des Titus Livius, den sie vorbehaltlos übernehmen. In der Historiographie richten sich die Humanisten also eher nach der römischen Schule Livius' (der mit didaktischen und patriotischen Absichten schreibt) und Ciceros (der stark moralisiert) als nach der griechischen Schule von Thukydides und Polybius 1 5 5 . Dennoch darf man an dieser Vorliebe für die römische Schule nicht nur die negative Seite der Orientierung an Vorbildern sehen, deren wesentliche Vorzüge Rhetorik und Sittenlehre sind und nicht eine wissenschaftliche Auffassung oder Neigung; diese Vorliebe trägt ein gesundes Element in sich, sie hat eine positive Seite, namentlich das Wiederaufleben des italienischen Patriotismus, der Wunsch nach einer Wiederanknüpfung an den Ruhm der Antike, der auf dem gleichen Boden sproß und blühte. D i e humanistische Historiographie steht also mit der rhetorischen, feierlichen Literatur in Wettstreit, sie ist eine Erweiterung und Elaborierung der kunstvollen Lobreden. Sie erzählt nicht die Geschichte

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von Völkern, sondern vor allem die Geschichte von Personen, und sie beschränkt sich auf die Schilderung von Ereignissen, auf die der rhetorische Stil hervorragend paßt wie z.B. die Beschreibung von Kriegen und Heldentaten, was automatisch dazu führt, daß die Schilderung von Institutionen und Staatsformen verdrängt wird, deren Ausführung notgedrungen prosaischer ist. Die Schilderung wird auch mit Elementen gewürzt, die an sich rhetorisch sind, mit Demegorien, Reden ans Volk, die oft aus Anlässen auftauchen, die einer Erwähnung nicht würdig sind; so klingt ihre Vollmundigkeit in unseren Ohren witzig (das gleiche kann auch von den Reden behauptet werden, die man bei byzantinischen Geschichtsschreibern liest, vor allem der letzten Periode, beispielsweise bei Kritoboulos). Die Gliederung dieser Schilderung folgt nicht einer Ordnung des Materials nach Kriterien, die einer bestimmten Geschichtstheorie entlehnt sind, sondern nach rein äußerlichen Topoi, die von den Schriftstellern der Antike übernommen w u r den. Trotz allem bleibt der positive Beitrag der humanistischen Historiographie unbestritten, denn der Unterschied zur mittelalterlichkirchlichen Historiographie ist offenkundig. Die Geschichte wird nun zu einer weltlichen Größe, auch wenn das weltliche Element, das sie charakterisiert, die höhere, erlauchte und fast göttliche Moral der großen Persönlichkeiten, der großen sittlichen und patriotischen Vorbilder ist; aber so heroisch und halbgöttlich eine historische Person auch dargestellt wird, so handelt sie doch immer nach Geboten, die sie aus einem weltlichen, wenn auch idealisierten Wertesystem zieht, und nicht nach himmlischen Befehlen oder als unbewußtes Instrument eines göttlichen Ratschlusses. Das kirchliche Dogma wird freilich nicht offen angegriffen, doch die Wunder werden stillschweigend übergangen, ohne daß gegen sie polemisiert wird; die Haltung der damaligen gebildeten weltlichen Kreise zu all dem ist diffus; sie sind skeptisch gegenüber der Kirche und sarkastisch gegenüber deren Vertretern, sie negieren übernatürliche Kräfte aber nicht kategorisch. Unter dem Einfluß von Livius und jenen Klassikern, die die Geistlichkeit nicht als organisierte Kraft in die Geschichte einbringen (eine solche Kraft war sie in Rom und in Griechenland auch nicht), betrachten die Humanisten das Papsttum nicht als geistige Kraft, sondern lediglich als Verfügungsgewalt über einen bestimmten Boden, als politische Kraft. Diese Verfügungsgewalt über einen bestimmten Boden und eine bestimmte Vorherrschaft spielen im Denken der humanistischen Historiographen eine noch viel größere Rolle, nachdem sie sich selbst, wie oben erwähnt, als Schicht mit der Existenz des italienischen Stadtstaats verbin-

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den und diesen als eine politische Einheit betrachten, die mit den antiken Vorbildern verwandt ist und es erlaubt, sich auf diese zu beziehen; gleichzeitig ist der Stadtstaat aber auch der Herd des aufkeimenden italienischen Patriotismus. Zentral für die humanistische Historiographie ist für gewöhnlich die Darstellung der Entwicklung eines Stadtstaates (wie Livius es für Rom geleistet hat), und dies hat zwei Konsequenzen: Es tritt die Auffassung von Staat als eine historische (und somit historiographische) Einheit hervor. Parallel dazu beseelt sie den Historiker mit der Vorstellung von den Interessen seines Vaterlandes als historischem Kriterium 156 . Die humanistische Historiographie, die diese Merkmale trug, war so lange tonangebend, wie auf der politischen Bühne Italiens das System des Gleichgewichts der fünf größeren Staaten vorherrschte, das ohne Interventionen von außen funktionierte und mit häufigen Kriegen und wechselnden Bündnissen aufrechterhalten wurde, so lange also, wie die äußeren Existenzbedingungen der herrschenden Schicht, die die Humanisten stützte, unangetastet blieben. Als jedoch eine Wende in der gesellschaftlichen Struktur der herrschenden Schicht die Humanisten in den Mystizismus und den Neuplatonismus führte und sie damit von politischen und patriotischen Inhalten isolierte, die sie zu den besten Stoffen ihrer Geschichtsschreibung inspirierten, und als die Übergriffe außeritalienischer Kräfte das Gleichgewicht in Italien durcheinanderbrachten und den Glanz des Stadtstaates trübten, da wurde auch die humanistische Historiographie unwiderruflich untergraben; sie konnte die Ereignisse nicht mehr einordnen, die das Land überschwemmten und die so greifbar und so tragisch waren, daß eine idealisierende Übertragung auf die Antike unmöglich wurde. Nach 1494, in den Jahren der schrecklichen Unruhen und des Blutvergießens, entsteht das Bedürfnis einer Deutung, einer Werteordnung, die das Denken lenkt und zum Verständnis dessen führt, was geschieht und wodurch dieses Denken so erstickt wird. Nun besteht weder die Zeit noch die Bereitschaft, die Ereignisse zu schönen und zu überhöhen, große Gemälde zu zeichnen oder rhetorische Heldentaten zu vollbringen. Die Geschichte wird zum Feld, aus dem Lehren für die Politik gezogen werden, sie ist kein Reservoir mehr für feierliche Inspirationen; die historischen Ereignisse werden nicht als eine Quelle für erhebende Vorstellungen betrachtet, sondern als Beispiele für die Untermauerung allgemeiner Thesen. Die Anekdoten dienen nicht mehr als bloßer Stilschmuck oder sittenbildende Lehre, sie bekommen den Sinn, auf allgemeinere Zustände hinzuweisen, wenn auch die strenge historische

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Kritik der tradierten Ereignisse immer noch knapp ausfällt. U m jedoch als politische Lektion dienen zu können, muß Geschichte typologisiert, muß zur einen oder anderen Geschichtsphilosophie werden, und die Einzelereignisse müssen allgemeinen interpretatorischen Prinzipien unterzogen werden. Genau das wird von Machiavelli erreicht, indem er die Entwicklung von Florenz als „Lebensgang" eines überpersönlichen Organismus auffaßt; eine solche Auffassung wäre für die humanistische Historiographie unbegreiflich gewesen, die anstelle allgemeiner Werte gelehrte Gemeinplätze oder Populärphilosophien setzte 157 . Selbstverständlich verlangten die neuen Pflichten der Geschichtsschreibung auch einen neuen Typus des Geschichtsschreibers. Notgedrungen macht der Humanist, zusammen mit seinem von Anfang an unzulänglichen und vom Neuplatonismus degenerierten Weltbild, nun Personen Platz, die politisch aktiv sind und politische Interessen haben, die mit der Ausübung der Politik im Herzen und nicht mit deren großspurigen Manifestationen zu tun haben. Solche Geschichtsschreiber sind Guicciardini und Machiavelli. Die „neue politische Geschichtsschreibung" wird jedoch in jener Zeit nicht als Gegensatz zur Geschichtsschreibung der Humanisten faßbar, sondern als deren Fortsetzung. Das ist nachvollziehbar, nachdem ihre Träger nicht ausdrücklich die Absicht äußern, ihre Vorgänger in der Historiographie zu ignorieren (auch wenn sie möglicherweise stark das Gefühl hatten, wesentliche Punkte anders zu behandeln), parallel dazu teilen sie in hohem Maß die rhetorischen Ziele, auch wenn diese logisch unvereinbar sind mit dem neuen Geist, den sie verkörpern, und behalten gelehrte Bezüge, Demegorien [Reden ans Volk] und oft auch die äußere Gliederung der Geschichtsdarstellung bei; was die historische Kritik angeht, waren sie selten über-, manchmal sogar unterlegen 158 . Doch die neuen Erfordernisse und das neue Weltbild, die diese mit sich bringen, sind so mächtig, daß all diese Erscheinungen den vitalen Kern nicht verdecken können. Auch wenn Machiavellis und Guicciardinis Geschichtsschreibung eine Fortsetzung der humanistischen Historiographie war (soweit sie es war), so geht sie doch in Inhalt und innerem Wert über diese hinaus, und man merkt sofort, daß es sich hier um eine ganz andere Qualität handelt. Bei Machiavelli kann man sehr viele stilistische und auch substantielle gemeinsame Punkte mit der humanistischen Historiographie finden, angefangen bei der umfangreichen, aber entmythologisierten Schilderung der äußeren Konflikte in der Geschichte (wenn er diese auch gerne begrenzt hätte, wie er in der Einleitung der Geschichten schreibt) bis hin

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zu seinem konventionellen Glauben an Zeichen und Wunder (Discorsi 1,56; wo sich auch ein ferner Anklang an den Neuplatonismus findet). Doch all dies beeinflußt seine Weltsicht nicht wesentlich; selbst dort, wo er sich äußerlich bestehenden Formen unterwirft, ist sein Können offensichtlich und der Unterschied zwischen Form und Inhalt deutlich (immer in bezug auf unser heutiges Empfinden). Machiavelli betrachtet und schreibt die Geschichte nicht als Historiker, sondern als Politiker. Er will die Ereignisse nicht klären und nicht in jedem Fall das Geflecht der Faktoren finden, die den historischen Augenblick prägten, er will das Ganze über grundlegende Werte organisieren, die als Motiv immer wiederkehren; nur wo ein Detail ihn theoretisch anspornt, widmet er ihm seine Aufmerksamkeit und sucht nach allgemeineren Zusammenhängen. Die Geschichte dient vor allem dazu, Schlußfolgerungen, die Früchte seiner eigenen Betrachtungsweise waren, zu bestätigen und mit ihrer Autorität zu umgeben, obwohl die Geschichte als solche immer als fester Bezugspunkt dargestellt wird. Die historischen Ereignisse, auf die Machiavelli im nachhinein seine Theorien stützt, übernimmt er von den Historikern, natürlich von Livius, und es ist ihm egal, wenn sie durch und durch erdichtet sind. In der Verwendung von Quellen tut er es den Humanisten gleich - er zieht eine von vielen heran und folgt ihr, fügt ihr aber auch Exzerpte aus anderen Quellen hinzu, wobei er die Ereignisse oft durcheinanderbringt oder aufbauscht und den Text, den er zitiert, paraphrasiert oder ändert, wie es ihm gefällt. Machiavelli war also kein Anhänger und auch kein Vorreiter der historischen Methode und der historischen Schule. Er nimmt aus der Geschichte unkritisch das heraus, was zu seinen im voraus gebildeten Ansichten paßt, und nicht selten verdreht er die Ereignisse, um seine eigenen Vorstellungen zu belegen, vor allem seinen politisch-praktischen Kanon 159 . Machiavellis Position gegenüber dem historischen Material zeigt sich im Vergleich zur Position der Humanisten unter anderem und vor allem in der Art und Weise, wie er Reden benutzt. Wo bei seinen Vorgängern in der Geschichtsschreibung Reden an das Volk eine Möglichkeit waren, einen bestimmten Stil zu demonstrieren, und deshalb immer wieder mit Bedacht eingefügt wurden, dienen sie bei Machiavelli gewöhnlich nicht dazu, objektiv die Thesen seiner Gegner oder die Substanz ihrer Motive und Betrachtungsweise wie bei Thukydides wiederzugeben, sondern seine eigenen Ideen und Kommentare, die vielleicht nur zufällig mit den Ansichten der Personen übereinstimmen, die diese Reden halten. Nimmt man auch noch an,

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daß sich diese Sprecher jemals so ausgedrückt hätten, taten sie es nicht mehr als Vertreter eines bestimmten Lagers, sondern in ihrer Eigenschaft als Politikexperten, die Machiavelli so schätzte. Diese Funktion der Reden in den Geschichten wird daran deutlich, daß die Redner nicht genannt werden (11,34; 111,5), während wir Machiavellis Distanz zu den Humanisten daran erkennen, daß er eine Rede, auch wenn er sie mit klassizistischen Gemeinplätzen beginnt, schnell in seine natürliche Sprache bringt. Die historische Genauigkeit wird wieder einmal geopfert, wenn Machiavelli Personen behandelt, die sich seines Erachtens anbieten würden, die Rolle eines Fürsten zu spielen, eines Menschen, der fähig ist, den richtigen Ausweg aus einer politischen Krise zu finden und das politische Leben seines Vaterlandes in neue, ebene und glatte Bahnen zu lenken. Machiavelli verdreht die Ereignisse, um die Personen nach dem Idealbild zu zeichnen, das er im Kopf hat. Das tut er teilweise mit Michel di Landos (Geschichten 111,16), vor allem aber mit Castruccio Castracani, dessen Leben er nach dem Vorbild von Diodors Schilderung des Agathokles erzählt (Diodorus Sicelus, Bücher X I X bis X X I passim). Castruccio entstammte zwar einer edlen Familie, doch Machiavelli stellt ihn als Findelkind dar und beschreibt auch noch, wie er, entgegen der Wirklichkeit, Edle gefangennimmt und tötet und dann unverheiratet und kinderlos stirbt. Es wäre ein Fehler, diese absichtlichen Verzerrungen gänzlich dem humanistischen Geist zuzuschreiben, d. h. dem Wunsch, sich nach Diodors Text zu richten. Die Gründe dafür sind innere: Eine niedrige Herkunft ist für Machiavelli eine Qualität, welche die Selbständigkeit, Unabhängigkeit und politische Beweglichkeit der Persönlichkeit des Herrschers erhöht; auch die Liquidation der Vornehmen ist ein wesentlicher Teil seiner Politik, nachdem diese den wichtigsten Nährboden für die Anomalität in einer Gesellschaft ausmachen; und schließlich ist es für den Fürsten am besten, wenn er keine eigenen Kinder hat, weil er laut Machiavelli keine Dynastie begründen, sondern den Staat mit den richtigen Institutionen sanieren und zulassen soll, daß ihm eine republikanische Staatsform nachfolgt160. Und zum dritten, nicht aber zum letzten Mal, sieht man, daß es Machiavelli nicht darauf ankommt, Faktisches objektiv wiederzugeben, ζ. B. wenn er die Gesellschaft in Deutschland beschreibt. Doch wesentlich ist hier nicht der (spürbare) Einfluß von Tacitus als vielmehr der Wunsch, die Gegebenheiten abzurunden, die dieses Land von seinem Land unterscheiden, und das zu betonen, was dort den Aufstieg und was in Italien den Niedergang verursacht hat.

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Der Vorzug, den Machiavelli seinen allgemeinen praktisch-politischen (und in der Erweiterung den politologischen und theoretischen) Thesen gegenüber dem historischen Material gibt, ist in den

Discorsi

genauso deutlich zu erkennen - in dem Werk also, das in erster Linie eine Darstellung allgemeinerer Ansichten ist und wo dieser Vorzug folglich selbstverständlich ist - wie in den Florentinischen

Geschichten,

wo es so scheint, als müßte es das Ziel des Autors sein, die historischen Ereignisse nach ihrem objektiven Gewicht darzustellen und zu gliedern und nicht gemäß der Bedeutung, die diese für seine eigenen Vorstellungen haben. Doch obwohl die immanenten strukturellen Unterschiede dieser beiden Werke ihre Abweichung voneinander deutlich machen, stimmen Absicht und Ausführung in wesentlichen Punkten überein. Beiden Werken liegt ein historisches Material zugrunde, das aus einem bestimmten charakteristischen Blickwinkel

ausgewertet

wird; der Unterschied ist, daß das historische Material in den

Discorsi

stückweise verarbeitet wird und jedem konkreten Ereignis eine allgemeine These entspricht, während die Florentinischen

Geschichten

zu-

sammenhängend und organisch erfaßt und die einzelnen Teile dieser zusammenhängenden Darstellung durch die gleichen allgemeinen Thesen verbunden werden, die in den Discorsi genauso ausgedrückt, wenn auch anders aufgestellt und untermauert werden. Schon im ersten Buch der Geschichten

merkt man, daß Machiavelli seine Lieblingsthemen

projiziert und die Ereignisse so anordnet, daß sie dieser Projektion dienen: Mit Theoderich zeichnet er im Ansatz, aber ganz deutlich das Bild des guten Herrschers (Geschichten I,4) 161 , er erwähnt eingehend, wie sich der erste Visconti durchsetzte (Geschichten 1,27), während er dem Papst die Verantwortung für die Teilung und Schwächung Italiens anlastet (Geschichten 1,9 u. 23; Discorsi 1,12); er verurteilt auch die Söldnertruppen - als Abschluß des ganzen Rekurses auf die italienische Geschichte (Geschichten 1,39, VI,1; Discorsi 1,21 u. 43). Andererseits wird die Dynamik der römischen und der Florentiner Geschichte bewußt als eine Dynamik innerer Klassenkonflikte dargestellt, nur mit dem Unterschied, daß diese Konflikte in Rom inneres Gleichgewicht und äußere Stärke, in Florenz hingegen den Niedergang brachten; dennoch liegt in beiden Fällen der Schlüssel zur Deutung in den inneren Konflikten, an denen Klassen beteiligt sind, die Machiavelli deutlich unterscheidet (Geschichten, Einleitung, 111,1 u. VII, 1; Discorsi 1,4 u. 6). Sowohl im antiken Rom als auch im Florenz des 14. und 15.Jahrhunderts verfolgt und vergleicht Machiavelli die abwechselnd harten und weichen Methoden, die das Bürgertum anwendet, um aufzusteigen

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und Macht zu erlangen; so kommen auch die Medici an die Macht (s. Geschichten IV,27 u. 28; VI,6 u. 7, VII,2; Discorsi 1,33 u. 52,111,28). In einer Gegenüberstellung von Rom und Florenz werden auch die Schwächen der letzteren in der Ausübung der Außenpolitik herausgestellt (Discorsi 1,38) und der Verfall und der Müßiggang kritisiert, den Wissenschaft und Reichtum nach sich ziehen, wobei die Bedürfnislosigkeit gelobt wird (s. Geschichten, Einleitung, V,1 u. VII,28; Discorsi 111,16 u. 25 sowie 11,19). Darüber hinaus werden sowohl in den Geschichten als auch in den Discorsi in allen Einzelheiten und mit gleichgroßer Aufmerksamkeit das Verhalten und die vorsätzlichen Handlungen der Individuen verfolgt, ihre Psychologie, die ehrgeizigen - hehren oder niederen - Motive ihrer Taten, die Listen, derer sie sich bedienen, und ihre politische Geschicklichkeit zusammen mit der Fähigkeit, Situationen zu beurteilen und deren Ausgang vorherzusehen; es ist eine systematische Darstellung und Einschätzung der Merkmale des Individualismus der Renaissance, verbunden und gekrönt von der (für das humanistische Weltbild zentralen) Vorstellung von Anerkennung, Ruhm und öffentlichem Lob. In beiden Werken finden sich also viele gemeinsame Themen sekundärer, nicht aber minderer Bedeutung: Verschwörungen und wie man sie organisiert ('Geschichten VII,33 u. 34 sowie VIII,1-9; Discorsi 111,6), die Zweckmäßigkeit, Kolonien zu gründen (Geschichten 11,1 und Discorsi 11,7), die UnZuverlässigkeit der Verbannten (siehe u. a. Geschichten V,8 u. 9 und Discorsi 11,31) und andere Themen. Machiavelli bringt also konkrete Ereignisse und seine konkreten Vorschläge in bezug auf allgemeine und überall bestehende Werte immer miteinander in Beziehung und stellt sie erhellend gegenüber; so sieht er jede einzelne Phase der Entwicklung als einen Moment und als eine Seite des endlosen und ewigen Fortschreitens der Politik, als einen Moment, in dem sich die grundlegenden Postulate der Politik verdichten und gleichzeitig noch einmal bestätigen. Genau dieses Gefühl für die Beziehung zwischen historischem Augenblick und historischer Entwicklung charakterisiert Machiavellis Weltsicht und ist die wichtigste Qualität seines Idealpolitikers. Daher nimmt auch sein Bezug auf die Geschichte die freie und für die Praxis fruchtbare Form einer Berührung mit den Lehren an, die man aus den historischen Ereignissen ziehen kann, und er paßt sie so an, daß sie eine Hilfe sind bei der Lösung direkter, nicht aber marginaler und unbedeutender, praktischer Probleme. Machiavelli streicht ständig die stabilen Bezugspunkte des politischen und allgemein-menschlichen Handelns

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heraus und befindet sich somit immer nahe am Wesen der Geschichte als Werdendes und als Lehrendes, wenn er auch bei den einzelnen E r eignissen fehlbar ist. Daher lesen sich Machiavellis historische Werke (und in der oben angesprochenen Weise sind alle seine Werke historisch) nicht als res gestae, sondern als res gerendae, als systematische rem gerere - nicht als Getanes, sondern als Tuendes, als Handlungslehre 1 6 2 . Aus diesem Grund werden seine Texte auch heute noch als so lebendig empfunden.

IV Die Analyse der vorigen Kapitel zeigt, daß Machiavellis Denken auf eine bestimmte Weise geschichtet ist und daß diese Schichten manchmal eine direkte Emanation der Weltsicht der Renaissance sind, sich manchmal aber ziemlich von der Quelle der Zeit entfernen und logisch und pragmatisch hergeleitet werden müssen, damit ihre H e r kunft belegt werden kann. Die Schichten von Machiavellis Denken sind: Die Priorität des Weltlichen in der Politik und die deutliche Trennung von Politik und Moral; die naturgesetzliche Auffassung als Betrachtung einer Wirklichkeit, die an sich nicht naturgesetzlich und mechanisch funktioniert, sondern lediglich von einer flexiblen Gesetzmäßigkeit gewissermaßen „regiert" wird, welche die Entfaltung des individuellen Willens nicht behindert; die historiographische Technik als Einschätzung veränderlicher, aber wiedererkennbarer Größen und als Herausbildung der jeweils richtigen praktischen Einstellung; der Patriotismus als Kraft, die diese Technik lenkt, ohne dabei ihre Eigengesetzlichkeit zu beschneiden - als irrationale Geisteshaltung, die in einer dialektischen Beziehung zum Rationalismus der Technik steht; und schließlich die Schnittmenge mit der humanistischen Bewegung in ihren verschiedenen Phasen, zugleich aber auch eine merkliche A b weichung von ihr, vor allem was den kritischen Punkt des Umgangs mit der Antike und deren Verwertung als Vorbild betrifft. Die Vielschichtigkeit dieser geistigen Welt findet in Machiavellis Stil großen Widerhall, und dieser Widerhall ist um so bedeutender, als er direkt mit seinem Gedankengebäude verwoben ist und uns das Verständnis erleichtert, wenn wir von dessen äußeren Ausdrucksmitteln ausgehen was sehr wertvoll ist, denn Machiavellis Denken drückt sich nirgendwo gefiltert und systematisch aus, sondern die Hinweise sind verstreut, und uns fällt die Aufgabe zu, sie zu ordnen. Indem man also

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die grundlegenden Merkmale von Machiavellis Stil findet, prüft man bis zu einem bestimmten Punkt, inwieweit man die Schichten seines Denkens richtig erfaßt hat; allerdings darf man nicht vergessen, daß sich die grundlegenden Positionen in seinem Denken und in seinen Methoden nicht an bestimmten Punkten konzentrieren, sondern sie sind über das ganze Werk verteilt und bilden mit ihm ein dichtgewobenes Netz. Wenn man dieses Netz abtastet, merkt man, wie Darstellungsweise und Denken zusammenhängen, und man kann nacheinander die Auswirkungen des instrumenteilen Denkens im Aufbau der Gedanken, die Funktion der irrrationalen Elemente und der Phantasie, den stilistischen Ausdruck des naturalistischen Weltentwurfs und den Einfluß gelehrter, humanistischer Elemente verfolgen. Die praktische und didaktische, im weitesten Sinne also technische Struktur von Machiavellis Denkweise manifestiert sich sowohl in den Discorsi als auch im Fürst auf greifbare Weise im Umfang, den die Beispiele in der Gesamtheit der Texte einnehmen. Wohl mehr als die Hälfte dieser beiden Werke macht die Schilderung von Beispielen aus der antiken wie auch aus der zeitgenössischen Geschichte aus; das spricht für sich. Daß in einem Kapitel keine Beispiele angeführt werden, ist sehr selten; wo es aber vorkommt (wie in Discorsi 1,30), wurden die damit verbundenen Beispiele im unmittelbar vorangegangenen Kapitel angeführt. Beispiele und Schlußfolgerungen stehen überall in einem Dialog, sie wechseln sich ab, ergänzen sich, hängen voneinander ab, werden verwoben und stellen logische Kontrapunkte dar, auf eine Weise, die kein Urteil darüber zuläßt, welcher von beiden Priorität hat, denn für Machiavelli hat eine Theorie, die sich nicht auf die Praxis bezieht (sich also nicht wieder anwenden läßt, indem sie deutlich in einem Beispiel enthalten ist) keinen Sinn, genausowenig wie das rohe historische Material einen Sinn hat, wenn der Geist daraus keine Substanz und keine Lehre zieht. Da die Beziehungen zwischen Beispiel und Schlußfolgerung so eng sind, sind sie in Machiavellis Texten auf vielfältige Weise gemeinsam vorhanden und wirken zusammen. Zum Beispiel wird am Anfang gewissermaßen dogmatisch die richtige Verhaltensweise postuliert und danach eine wirkliche Begebenheit damit verglichen, um gemeinsame und widersprechende Punkte und folglich die Gründe für Erfolg oder Mißerfolg zu finden (Fürst 3). Dann wieder wird ein Problem in folgender Form untersucht: Es wird als Frage formuliert, danach werden gegensätzliche Ansichten angeführt, zusammen mit Beispielen, die die jeweilige Seite stützen; daraus ergibt sich dann die Schlußfolgerung; entweder lehnt sie sich an eine

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der zuvor aufgeführten Meinungen an oder sie lautet ganz anders (Discorsi 11,12). An anderer Stelle wiederum wird die „These" als Ausgangspunkt genommen und folgt dem Beispiel oder den Beispielen, dann wird die erste Feststellung des allgemeinen Folgesatzes wiederholt, entweder unverändert oder mit Veränderungen, Anreicherungen und Erweiterungen (Discorsi 1,25 u. 26). In anderen Fällen wird eine falsche Ansicht kritisiert, die zu Anfang formuliert wurde, dann werden entsprechende Beispiele untersucht, um die verschiedenen Formen zu verdeutlichen, die dieser Fehler angenommen hat, während in der Gegenüberstellung die richtige Vorgehensweise gelobt wird (Discorsi 1,23). An anderer Stelle entwickelt Machiavelli ein Kapitel als eine Reihe von zusammenhängenden Folgesätzen, die er jeweils mit einem Beispiel begleitet; so ergibt sich am Ende eine Sinnkette (die nicht immer kohärent ist, weil Machiavelli zugunsten des Aufbaus keine Abschweifungen und momentanen Eingebungen ausläßt), die in eine Beispielkette greift (Fürst 19). In einem anderen Fall, der charakteristisch ist für Machiavellis Denkstruktur, führt er nach der Kapitelüberschrift, die schon die theoretische Position oder den praktischen Hinweis enthält, einfach ein Beispiel alleine oder mit Kommentaren an, die nichts Wesentliches zur Titel-These beitragen (Discorsi 111,29 u. 30). Hier scheint es so, daß Machiavelli insgeheim den direkten Kontakt mit den Ereignissen, in der geeigneten Anordnung dargeboten, für die eloquenteste Lehre hält, und so läßt er den Leser im lebendigen Eindruck schwelgen und läßt ihn dies genießen, ohne daß ein belehrender oder detaillierter Kommentar eingreifen und Interpretation und Einschätzung des Beispiels schon im voraus in die eine oder andere Richtung lenken würde. Indirekt appelliert Machiavelli an die Sachkenntnis und den Scharfsinn des Lesers und hält es für selbstverständlich, daß dieser genauso denkt wie er selbst, wenn er dem gleichen Ereignis gegenübersteht, das Machiavelli an sich schon vielsagend findet; folglich braucht es auch keine Erklärungen, es reicht aus, daß der Grundstoff angeführt wird. Übrigens ist genau dieser Grundstoff das Wesentliche, denn er ist ganz und gar Praxis, er ist also dem grundlegenden Postulat seiner politischen Wissenschaft homolog, dem Postulat der Tat, während die theoretische Verallgemeinerung nur der intermediär notwendige Punkt zwischen den beiden wichtigen praktischen Äußerungen ist, zwischen dem Beispiel und dem, was sich aus der Nachahmung des Beispiels ergibt, einer Nachahmung, die die Darstellung des Beispiels in Form einer allgemeinen Lehre ins Bewußtsein ruft. Da die Erinnerung an eine Handlung ihre Nachahmung zum

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Ziel hat, begnügt sich Machiavelli mit der Schilderung der beispielhaften Tat, als wolle er den Leser dazu bewegen, sich mit ihr zu identifizieren, und als wolle er ihn auf die richtige Spur bringen, wenn möglich ohne jede theoretische Intervention. Doch die Formulierung von Thesen, die theoretische Verallgemeinerungen darstellen, kann nicht umgangen werden, damit sich das aktuelle „Sollen" auf die direkte Nachahmung des Exempels beschränkt. Dies würde voraussetzen, daß historische Momente und mechanische Zyklizität der Wirklichkeit übereinstimmen; obwohl dies vielleicht wünschenswert und sicherlich erleichternd wäre, ist es, wie bereits erwähnt, dem Wesen von Machiavellis Denken fremd. Daher ist auch das Handeln verpflichtet, seine praktischen Prinzipien und Ausrichtungen nicht direkt aus der Praxis der Vergangenheit abzuleiten, sondern aus den allgemeinen Werten, die aus dieser hervorgehen, denn nur die allgemeinen Werte besitzen die erforderliche Flexibilität und Kapazität, um die Veränderungen zu fassen, die sich hinsichtlich der konkreten Bedingungen der Handlung ergaben. So stützt das Beispiel oft eine allgemeine These (und spielt mit ihr zusammen), die eher theoretisch als praktisch erscheint, und man bekommt den Eindruck, daß das Beispiel nicht der didaktischen Absicht des technischen und praktischen Denkens dient, sondern für den Aufbau eines induzierten Syllogismus oder für die Bestätigung eines deduzierten Syllogismus verwendet wird. Doch dieser Eindruck entspricht nicht der Haltung und Zielsetzung, die Machiavellis Denken hauptsächlich antreiben. Selbst dort, wo das Beispiel eine These stützen soll, die keinen direkten Folgesatz enthält, der dazu bestimmt wäre, die Handlung auszurichten, handelt es sich nicht um einen Rückzug in den Bereich der reinen Theorie, sondern nur um eine indirekte und resümierende Formulierung allgemeiner Wahrheiten, denen sich der praktische Mensch anschließen muß, egal, welche Ausrichtung sein Handeln hat, oder es ist eine Anführung allgemeiner Faktoren, die ständig wirksam sind und die allgemeinen Bedingungen jeder Handlung darstellen. Wenn Machiavelli z.B. mit Bezug auf viele Beispiele beweisen will, daß die Römer ihre Größe der Tapferkeit verdanken und nicht dem Glück (Discorsi 11,1), formuliert er deduktiv (deduktiv in bezug auf die Logik; denn Machiavelli „glaubte" im wesentlichen an die These, bevor er sie „bewies") eine Wahrheit von theoretischem Wert; doch die Formulierung dieser theoretischen Wahrheit enthält eine Aufforderung an den handelnden Menschen und eine Anregung, seine Tapferkeit bis zum äußersten aufzubieten, weil er so den Faktor Schicksal begrenzen

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kann. Auf diese Weise wird die theoretische Wahrheit zu einem Aufruf zum Handeln und zu einem Vorschlag für das Handeln; dies ist im übrigen auch der Sinn ihrer Aufdeckung und Anführung. Daß nun die Folgerungen aus der Aufdeckung direkte praktische Auswirkungen haben - das Ziel der Suche ist ja von Anfang an ein praktisches, und so ist diese Suche von Anfang an auf praktische Erfordernisse ausgerichtet macht aus ihrem Studium eine wertvolle und verantwortliche Arbeit, von deren Ausgang viele und bedeutende Dinge abhängen; folglich kann dieses Studium nicht den Autoritäten überlassen werden, sondern es muß das Anliegen eines unabhängigen Geistes sein (im Gegensatz dazu setzt ein Humanist, der wenige oder nichtige praktischen Ziele hat, nichts aufs Spiel, wenn er blind einer Autorität folgt). Daher zieht Machiavelli aus den Klassikern der Antike keine Urteile, sondern Beispiele. Ihre Urteile übernimmt er oder zieht sie heran, wenn er damit übereinstimmt; w o er nicht übereinstimmt, sagt er dies auch unumwunden ( D i s c o r s i 1,58 und 11,18), auch wenn sein Ton manchmal apologetisch ist, und dies zu Recht, denn die historischen Autoritäten herrschten noch in seinem Lebensumfeld, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er es vorzog, nicht mit ihnen in Konflikt zu geraten; er wollte mit ihnen und dem humanistischen Umfeld, das sie aufnahm (wenn auch mit mehr Vorbehalten als in den vorangegangenen Jahren), ein gutes Verhältnis haben. Dennoch ist er nicht bereit, die Substanz seines Denkens zu opfern; dies wäre, als würde er die Praxis opfern, die davon abhing. Die Priorität des Praktisch-Normativen und die politische Technik in Machiavellis Denken manifestieren sich deutlich in der Verbindung allgemeiner Thesen mit einzelnen Beispielen. Machiavellis Geisteshaltung selbst drückt sich auch noch auf eine andere Weise aus, die sehr viel komplexer und indirekter ist und zu deren Herausbildung mehrere und ganz unterschiedliche geistige Kriterien beitragen. Zunächst wird klar, wie sich die Technik in Form von in Beispielen fundierten Lehren herauskristallisierte, dann aber entfernt sich das Beispiel auch von seinem Bezug zur praktischen Lehre und wird zum eigenständigen und exemplarischen Handlungsschema (eine Haltung, die, wie oben erwähnt, schon aus dem Primat des Beispiels vor der Lehre durchscheint). Man kann verfolgen, daß sich dieses Schema gesetzmäßig entwickelt wie ein tadelloser Mechanismus, wie die Entfaltung einer ideell richtigen und wohlausgewogenen Praxis, deren einzelne Elemente von Machiavelli bewußt angepaßt und abgerundet wurden, um sie in das Denkschema einzufügen und es als organisches Ganzes

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hinzustellen. Die Lehre wird indirekt erteilt, sie wird nicht klar und deutlich formuliert (als Element, das sich aus der Praxis selbst ergibt und aus ihr gezogen wird, als Element, das dann eigenständig wird und allgemeine Gültigkeit erhält), sondern mit der beispielhaften Handlung (oder einer Reihe von zielgerichteten Handlungen) gleichgesetzt. Das Schema einer solchen beispielhaften Tat, die von sich aus eine Lehre in politischer Kunst darstellt, zeichnet sich schon in einem kleinen Frühwerk Machiavellis ab: Beschreibung der Art, wie der Herzog von Valentinois Vitellozzo Vitelli, Oliverotto da Fermo, den Signor Paolo Orsini und den Herzog von Gravina Orsini gefangennahm und tötete (1503). Dort werden die Ereignisse in solcher Weise dargestellt, daß sie ein Fortschreiten ergeben, dessen Phasen Cesare Borgia kennt; somit kann er seinen Plan in aller Deutlichkeit und Genauigkeit darlegen und mit der entsprechenden Treffsicherheit anwenden163. Natürlich ist es heute schwierig zu beurteilen, inwieweit Borgias Aktivitäten in den Jahren 1502 und 1503 geplant und nicht nur eine Reaktion auf die Erfordernisse der Stunde waren; für Machiavellis Denken ist jedoch bedeutend, daß er Cesare Borgia so darstellt, daß er seine Handlungen als Phasen eines vorgefaßten rationalen Planes vorbereitet. Und auf dieselbe Weise wird er zehn Jahre später Cesare Borgias politischen Scharfsinn darstellen (Fürst 7), diesmal allerdings nicht im Hinblick auf eine konkrete politische Handhabung, sondern auf dessen gesamte politische Tätigkeit. Doch in den Prozeß der Umwandlung des konkreten Materials, des Beispiels, in ein exemplarisches Schema, das nur mehr die handfesten Elemente in einer gereinigten und fiktiven Form enthält, greift eine geistige Funktion ein, die außerhalb der strengen und deutlichen Grenzen des Rationalismus und des Kalküls steht, und zwar in der Weise, in der das rationale Kriterium der Technik vom irrationalen Kriterium des Patriotismus gelenkt wird. Diese Funktion ist die Imagination. Mit ihr kann der Geist die greifbare, deutliche und konkrete Erfahrung oder die rationale Einschätzung eines historischen Ereignisses in eine allgemeine Regel umwandeln. Das Einzelereignis wird so zum Ausgangspunkt, zur Tribüne des Ansturms der Phantasie, die mit einem Sprung zur Formulierung allgemeiner Thesen mit regelhafter Gültigkeit ansetzt, nachdem sie zuerst im Ausgangsereignis scharfsichtig die Konstante gefunden hat, den Berührungspunkt mit der universalen Welt der politischen Pflicht - denn wenn das Einzelereignis, das Beispiel, keine universalen Elemente enthält, landet der Sprung der Phantasie auf die allgemeine Regel im Leeren. Durch Ma-

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chiavellis diplomatische Erfahrung alleine kann diese Funktion der Phantasie nicht erklärt werden; vielleicht ist die Abneigung gegen die Verbindlichkeit und Unbeugsamkeit der allgemeinen Regel und die Hinwendung zur Bruchstückhaftigkeit der greifbaren Manifestation der Phänomene eine Fertigkeit des Diplomaten, im streng berufsmäßigen Sinne des Begriffs. Auch viele Zeitgenossen Machiavellis machten vor allem als Diplomaten eine Menge scharfsinniger und treffender Einzelbeobachtungen, ohne jedoch das zu tun, was Machiavelli tat: die allgemeine Regel zu formulieren, die sich aus diesen Beobachtungen ergibt, und dabei den Rationalismus im engeren Wortsinne zu verlassen. Denn bleibt der Rationalismus trocken und zaghaft, wird er am Ende eins mit Empirismus und kurzsichtigem Positivismus (auf den viele „reife" ältere Herren so stolz sind) und kann das Allgemeine und somit das Wesen der Phänomene nicht mehr erfassen. Doch Machiavelli zögert nicht, er läßt das rationale Kalkül hinter sich und überschreitet die Grenzen, die ihm der Umfang der Beispiele und seine Erfahrung setzen; sein Verstand steht auf festen Beinen, hat keine Angst, sich in die Wolken zu erheben; er fürchtet sich auch nicht, sich bewußt von der Imagination unterstützen zu lassen und hat ein tiefes und direktes Empfinden und einen scharfen Blick für die Wirklichkeit 164 . Die Imagination sammelt also die Fragmente, die die einzelnen Erfahrungen hinterlassen, sie führt Grundlagen und Denkanstöße ins gleiche Lager und fügt auf einer höheren Ebene das zusammen, was die erste rationale Verarbeitung durchlief. Diese Funktion erfüllt die Imagination beim Fürsten, der fiktiven Figur, bei der man analytisch alle Stärken und Schwächen realer Personen, die in höherem oder geringerem Maß gewiß viele Ansichten dieser fiktiven Figur verkörpern, als konstituierende Elemente wiedererkennen kann 165 . Doch das Einzelwesen, das alle diese Merkmale harmonisch auf sich vereinigt, gibt es nicht; die Persönlichkeit des fiktiven Fürsten ist ein Postulat, das sicherlich dem Wunsch entspringt, konkrete Umstände zu verändern, das aber gleichzeitig in der Imagination als Wesenheit an sich hypostasiert und erfaßt wird, als eigenständige Größe, die zwar dazu ausersehen ist, bestimmte Notwendigkeiten abzudecken, aber nicht vollständig von diesen absorbiert wird und sich auch nicht in ihnen auflöst, sondern als „ewiges Gut", als immergültiges Beispiel politischen Handelns dasteht. Daneben manifestiert sich im letzten Kapitel des Fürst deutlich die Verflechtung und Entsprechung (soweit sie geht) mit der Imagination als einer Funktion in Machiavellis Denken und mit dem Patriotismus als einem Aspekt seiner Weltsicht und sei-

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ner Motive. Hier hat die Phantasie freieren Lauf und wird reicher, sie ist nicht mehr nur das Instrument, das vom Besonderen zum Allgemeinen führt, sondern sie ist die Vision des Patrioten, ein Element, das nicht mehr nur die rationale Analyse krönt, sondern das dem irrationalen patriotischen Streben eine Form gibt. So erscheint der Fürst als ein Gebilde aus der Verbindung von Imagination und Leidenschaft mit dem kritischen Denken, das sich pragmatischen Geboten gegenübersieht und sie erfüllen muß; das Denken gestaltet sich also im Widerstreit dieser Elemente aus, durch einen Kampf nämlich, der schließlich zur Ruhe kommt und uns ein Gleichgewicht all dieser Elemente vorstellt. Doch dieses Gleichgewicht ist nicht gleichbedeutend mit einem Kompromiß oder einer Beschränkung der Dynamik eines der beiden Elemente oder beider, es ist fruchtbar und substantiell, weil es nicht auf einzelnen und beschränkten Feststellungen basiert, sondern auf den wesentlichen Seiten des Themas im Fürst, die die Imagination gefunden und bearbeitete und denen sie dort, w o sie wollte, mehr Nachdruck und Lebendigkeit verlieh, ohne zu fürchten, daß sie in die Einseitigkeit abgleiten könnte (im übrigen würde die Einseitigkeit nicht verwerflich scheinen, wenn das gewünschte Resultat, der gewünschte Eindruck und die gewünschte Aufmerksamkeit erweckt werden w ü r den). Nun dient die Einbildungskraft nicht nur dazu, wie oben gesagt, die vollendeten Fakten als allgemeine Regeln zusammenzufassen, sondern auch dazu, das Unvollendete vorauszusehen. Aus Machiavellis Korrespondenz mit Vettori geht hervor, daß beide in ihren Briefen eine politische Situation zur Diskussion stellen und Vorhersagen über deren Ausgang austauschen, daß sie Stimmungen und künftige Aktivitäten von jedem beteiligten Faktor in Betracht ziehen. So technisch und rationalistisch - im diplomatischen Sinn - der Charakter dieser Analyse auch sein mag, so wird hier dennoch die Einbildungskraft herangezogen, um die Hinweise zu ergänzen, die die bereits bekannten Kriterien enthalten, um das Ganze zu skizzieren, um eine Situation zu umreißen, in der bestimmte Entwicklungen möglich sind, und um zu erfassen, welche dieser möglichen Entwicklungen eintreten werden und welche nicht. Wenn dies die allgemeinen Funktionen sind, die die Imagination in Machiavellis geistiger Welt ausfüllt, muß man auch untersuchen, welches ihre Struktur ist. Machiavellis Einbildungskraft umfaßt nicht den sozusagen künstlerischen Aspekt seines Geistes, der nicht nur als heterogenes, sondern als diametral entgegengesetztes Element parallel zur Rationalität fungiert, der diese bekämpft und eine geistige Spal-

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tung bewirkt, der die Rationalität aber auch vor jenem trockenen und enggefassten Rationalismus schützt, der eher dazu neigt, zu analysieren und zu spezifizieren, als eine Synthese zu erarbeiten. Machiavellis Imagination ist eine positive, weil sie sich auf dem Feld realer Größen bewegt, auch wenn sie fiktiv verändert sind, und weil sie auf Zwecke abzielt, die nicht auf eine unwiderrufliche Negierung jeder Wirklichkeit und auf eine Flucht in irrationale Visionen hinauslaufen, sondern deren Erreichen allein eine rationale Betrachtung menschlichen Handelns und dessen Anpassung an die Gebote der Ratio voraussetzt. Die Imagination zielt auf eine Situation, in der Wirklichkeit und Denken identisch wären, sie verwirft nicht in dichterischer und künstlerischer Ekstase Logik und Wirklichkeit - sie ist nur visionär und gelangt eben in Sprüngen eher zu einem glücklichen Ausgang der Ausübung rationaler Politik. Selbst wenn in Machiavellis Phantasiewelt Merkmale gefunden werden können, die man im weiteren Sinn als poetisch bezeichnen könnte, so ist dies doch eine Funktion, die genau dann, wenn der Geist rational auf dem Feld konkreter Umstände und Erfahrungen arbeitet, dort wie ein entfachender Funke wirkt; ihre vornehmliche Aufgabe ist es, dem Geist zu helfen und sich mit seinem rationalen Fortschreiten auf einer tieferliegenden Ebene zu verflechten, in einer Phase, da die Einzelbeispiele logisch entkräftet werden, um in ein exemplarisches Schema eingefügt zu werden. Doch wie gesagt, ist dies bereits eine erste Trennung vom Dienst am Konkreten, der eine Negierung der Phantasie darstellt; diese Trennung geht allmählich weiter, sie wird zum Schema, das sich etwa in der Beschreibung der Art ... findet, sie erfaßt die römische Verfassung als ein Bild des Höhepunkts, das dem Bild des Niedergangs Italiens gegenübergestellt wird (es ist das zentrale Thema der Discorsi, wo sich die Gegenüberstellung dieser beiden Bilder grundsätzlich von der Art und Weise unterscheidet, wie sie die Humanisten vornahmen), und hier und dort gipfelt sie in Kommentaren wie im letzten Kapitel des Fürst. Folglich ist das, was man in seiner Gesamtheit gemeinhin mit einem Wort „Imagination" nennt, um es von den unmittelbar berechnenden Funktionen des Geistes zu unterscheiden, nicht in all seinen Schichten das gleiche, sondern es gibt dabei Abstufungen. Andererseits ist die Einbildungskraft nicht immer eine Folge des rationalen Denkens, das in einer bestimmten Phase erscheint; bei Machiavelli führt die Imagination in ihrer zurückhaltensten Form zuerst zu einer allgemeinen Wahrheit, weil sie in der visionären und der intuitiven Konzeption zu realen Größen kommt, einer Wahrheit, die das rationale Denken a posteriori bestätigt, ob-

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wohl die Imagination schon a priori daran glaubt (wie oben angedeutet, als die Rede davon war, daß die Induktion bei Machiavelli sehr oft eine Reduktion ist). Danach hat dann die Imagination deutlich Vorrang in der Darstellung von Größen, die nicht als Gegenstand einer rationalen und kalkulierenden Betrachtung taugen, wie man es beispielsweise an der vielfältigen Art und Weise sieht, in der Machiavelli fortuna personifiziert, weil er ihre Bedeutung greifbar machen will. Man darf jedoch nicht vergessen, daß es sehr schwierig und riskant ist, von Vorrang oder Nichtvorrang zu sprechen, den ein Element vor dem anderen hat, wenn man es mit einer so vielschichtigen und gleichzeitig so dichten und organisch verbundenen Geisteswelt zu tun hat wie bei Machiavelli, wo Verstand und Imagination, Leidenschaft und Kalkül, Analyse und Synthese, Praxis und Theorie, Gesetzmäßigkeit und Wille zusammen ein untrennbar Ganzes ausmachen, aus dem nichts entfernt werden kann - oft kann es zugunsten der Analyse nicht einmal isoliert werden. Die Funktion der Einbildungskraft in Machiavellis Denken und Schreiben gerät in keinen Widerspruch mit seinem Naturalismus, denn wie oben betont, bedeutet Machiavellis Naturalismus nicht die Einordnung der Elemente der Wirklichkeit in ein mechanistisches Weltbild, wo sie als farblose Quantitäten einen bestimmten Platz einnehmen und aus der Sicht der Funktion des ganzen Systems betrachtet werden. Vielmehr ist der Naturalismus eine Haltung der direkten Betrachtung der Dinge, eine Auffassung, zu der alle geistigen Funktionen beitragen, von der Sinneswahrnehmung bis zum logischen Denken, während sich andererseits die allgemeinen Regeln, die sich von dieser Auffassung der Dinge herleiten, niemals im blassen Reich äußerster Abstraktion verlieren, sondern immer mit regem empirischen Inhalt gefüllt bleiben. Diese naturalistische Auffassung entspricht ganz dem Naturalismus der Sprache und des Stils, was für uns eine Quelle des Genusses ist, weil in unserer Zeit jeder noch so naturalistische Gedanke (außerhalb der Literatur, und auch das nicht immer) in einer intellektualisierten Sprache ausgedrückt wird 166 . Im 16. Jahrhundert, nachdem das höfische Leben die gesamte herrschende Klasse absorbiert hatte, sind die besten Stilmuster (wie Der Hofmann von Castiglione) manierierte Ausdrucksweisen einer manierierten Gesellschaft, in der der Stil, im Bedeutenden genauso gewichtig wie im Unbedeutenden, konventionell und überladen ist; hier unterscheidet sich der Schriftsteller ganz vom Menschen, er ist eine ganz andere Person und schreibt in einer Weise, die der Seele fremd ist. Bei

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Machiavelli hingegen ist der Mensch und der Schriftsteller der gleiche; zwischen den Text und seinen Verfasser greift keine gekünstelte Technik, und der Schriftsteller trägt mit seinem ganzen Selbst spontan zum Werk bei; die Form als Selbstzweck löst sich auf und fällt nun automatisch mit dem inhaltlichen Aspekt zusammen, der formlos im Bewußtsein vorhanden ist 167 . Genausoweit entfernt ist Machiavelli vom gängigen humanistischen Stil (nicht so sehr hinsichtlich der Gemeinplätze, die er ziemlich oft übernimmt, als vielmehr hinsichtlich seiner Substanz), der in der Regel die starke Individualität weniger offenbart als es die Texte der späteren Autoren der höfischen Gesellschaft tun. Ganz im Gegenteil steht er der dritten und dynamischeren Strömung des Renaissancestils sehr viel näher, dem Realismus, der sich mit großer Deutlichkeit bei Boccaccio manifestiert; auch seine Werke spiegeln wider, wie die Hinwendung zur Weltlichkeit und die Charakteristika des Individualismus Eingang in die Literatur fanden. Das zeigt sich prinzipiell, denn Machiavelli ist ein tüchtiger Psychologe und Psychograph, nicht nur von Individuen, sondern auch von Gruppen. Die Psychogramme in seinen Werken bringen uns greifbar und prall seine Personen nahe; dies geschieht nicht nur in einigen seiner rein literarischen Werke (vor allem natürlich in Die Mandragora), sondern auch bei den historischen Personen, die er darstellt, wie der Leser der Florentinischen Geschichten sehr gut weiß. Und wie in der Renaissanceprosa die getreue Abbildung der psychologischen Charakteristika einer Person, ausgehend von derselben weltlich orientierten Strömung, mit der realistischen Beschreibung eines Ortes zusammenging, so hört bei Machiavelli die spontane Übernahme der psychologischen Elemente, die der Individualismus und die naturalistische Betrachtung der Welt hervorbrachten, nicht bei den Psychogrammen auf, sondern durchdringt alle Ebenen des Wahrnehmbaren und geht bis hin zum Ausdruck der abstraktesten Inhalte mit Symbolen und anschaulichen Bildern, während auch die Vergleiche und Metaphern wie ein Körper, eins mit dem Gedanken, der sie nährt, empfunden werden 168 . Gleichzeitig geht dieser Realismus aber aus einer Lust an der Ehrlichkeit hervor, die mit Zynismus oder Schamlosigkeit nichts gemein hat. Die zynische Ehrlichkeit ist verantwortungslos und simpel, doch Machiavelli ist vom Wunsch besessen, Personen und Dingen verantwortungsbewußt gegenüberzutreten, und nur in diesem Zusammenhang macht er manchmal Feststellungen oder zeichnet Psychogramme, die zynisch oder unverschämt k l i n g e n F ü r dieses Verantwortungsbewußtsein spricht, daß Machiavelli, obwohl er ein Herzensfreund

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von Spott und Sarkasmus ist, keinen Gefallen an dessen letzter Konsequenz, dem Paradoxon, hat und daß er auch nie Wortspiele anstelle von Syllogismen setzt, wie es ein unbedachter Zyniker tun würde. Seine Wahrheiten sind dagegen positiv und deutlich, während sich der Begriff „Ursache" zusammen mit konsekutiven Konjunktionen oder dem entsprechenden Sätzen oft wiederholt. Das Prinzip, daß der Geist die Ereignisse beherrscht, indem er die richtige Handlungsweise wählt, wird auch auf die Darstellungsweise übertragen, wo der Geist die Ereignisse interpretiert und deren Ursachen untersucht, nicht nur die unmittelbaren Ursachen, sondern auch jene, die rückblickend wirken (ζ. B. bei der Feststellung, daß die Eliminierung der kriegslustigen Feudalherren nachwirkend die Kampfkraft von Florenz schwächte). Ursache für ein Ereignis ist etwas in der Folge anderer; so wird uns als Erfassung der Wirklichkeit eine „Reihe" von Ereignissen präsentiert, die nicht nur einzeln greifbar sind, sondern auch jeweils ein interpretatorisches Prinzip für ein anderes, nachfolgendes Ereignis darstellen. Selbstverständlich unterscheidet sich diese Reihe ganz und gar von der Pyramide des aristotelischen (und scholastischen) Syllogismus aus Obersatz, Untersatz und Schlußsatz 170 . Die Reihe entfaltet sich auch in einem flüssigen und durchgängigen Stil, der nicht durch stilistische Konventionen oder Manieriertheiten eingeschränkt wird, denn der Inhalt hat absolute Priorität. Machiavelli schreibt spontan, den Geist beharrlich auf seine grundlegende Idee gerichtet, die er leidenschaftlich verfolgt und dabei ständig in neuen Perspektiven und neuen Beispielen erfaßt, ohne sich groß um Wortwahl und um Syntax zu kümmern, die oft anomal wird, wenn z.B. das wirkliche Subjekt Vorrang vor dem grammatischen Subjekt hat. Wo ihn das Thema mehr interessiert, wird der Stil sofort erhaben, während er andererseits stilistisch weniger gewandt schreibt, wenn sein Interesse geringer ist (wie es an einigen Stellen der Geschichten zu sein scheint). Der Duktus wird oft dialogisch und dramatisch (wie der häufige Wechsel in die 2. Person Singular zeigt), weil er sich da mit einer didaktischen und dialektischen Absicht verbindet, während auch mögliche Lösungen oder Handlungsweisen alternativ dargestellt werden. Wieder wird ein Prinzip, das Machiavelli in der politischen Wirklichkeit für grundlegend hält, zum Stilprinzip: das Prinzip, den Mittelweg zu meiden; schon in seinen ersten Texten ist die antonyme Syntax und der Gebrauch kopulativer Konjunktionen ausgesprochen häufig. Natürlich unterscheidet sich Machiavellis Schreibstil durch diese Merkmale ganz deutlich von demjenigen der Humanisten. Oben wur-

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den die diplomatischen Berichte erwähnt, die Ende des 15. Jahrhunderts noch sehr viel deutlicher vom humanistischen Stil abweichen, nachdem sich die Humanisten, besonders in Florenz, ausschließlich in den engen Kreisen reicher Privatiers bewegen und die humanistische Bildung allgemein zurückgeht, während in den ständigen diplomatischen Vertretungen nun Personen tätig sind, die weniger Berührung mit dem Humanismus haben. Die zusätzlichen Bedürfnisse dieser Behörden und der partielle Wechsel ihrer physischen Träger zogen eine noch größere Belebung des Stils dieser Berichte nach sich, die von Anfang an ganz klare, in der italienischen Umgangssprache verfaßte Texte waren. Doch die lebendige italienische Sprache erobert diese Kreise endgültig dort, wo sie von der neuen politischen Geschichtsschreibung eingenommen sind. Wie schon gezeigt, sind die neuen Historiker, die auf Italienisch schreiben, keine Fachhumanisten, sondern vor allem Menschen der politischen Tat, die alles, worüber sie schreiben, direkt und greifbar erlebt haben, Erleben und Erzählen fallen zusammen. So wird der Schreibstil von selbst natürlich, während sich die Schilderung toter Dinge sehr viel leichter in eine manierierte Sprache fügt 171 . Lexikologisch enthält Machiavellis Italienisch in Maßen Latinismen und Florentiner Eigenheiten und ist allgemein zurückhaltend in bezug auf Neologismen; grammatisch hält er sich eher weniger an Regeln und übernimmt ungeprüft die reiche und spontane Morphologie der verschiedenen Florentiner Sozio- und Idiolekte 172 . So ist ihm der latinisierte Stil, auch auf Italienisch, fremd. Die lateinischen Ausdrucksweisen, die man unverändert in seinen Texten findet, sind Spuren der täglichen Gespräche mit seinen Kollegen und seines diplomatischen Briefstils; sie sind also keine Eigenheit, die sich dem toten lateinischen Wort unterordnet, sondern sie übertragen im Gegenteil die Lebendigkeit der täglichen Diskussionen in der Schreibstube, wo sich bestimmte, auf Latein geschriebene Texte mit anderen, italienisch abgefaßten Texte abwechseln173 und zwar im Austausch von Meinungen, Gedanken und Scherzen in der gesprochenen Sprache, die mit der jeweiligen intellektuellen und humanistischen Bildung der Diskutanten bereichert wird. Machiavellis Kontakt mit humanistischen Kreisen, wie im vorigen Kapitel geschildert, hatte auch bestimmte Auswirkungen auf seinen Stil; die Kriegskunst ist in Dialogform verfaßt, was nicht nur ein Widerhall des literarischen Genres ist, das untrennbar mit dem Namen Piaton verbunden war, sondern es spiegelt auch das Leben jener Kreise wider, die ihren Diskussionen und ihrem Umgang im damaligen Florenz etwas vom Ton der antiken Akademien verlei-

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hen wollten, während in Die Mandragora, in seiner zweiten Komödie, wo er Plautus nachahmt, große Teile wörtliche Ubersetzungen sind. Doch der Inhalt der Kriegskunst wurde von der archaisierenden Dialogform nicht beeinflußt, und Clizia nimmt in seinem Werk keinen so wichtigen Platz ein, daß sie das Gesamtbild beeinflussen würde. Diese charakteristischen Stilmerkmale bei Machiavelli, die einen scharfen, aufmerksamen und regen Geist verraten, können nicht unverändert übertragen werden, um das Persönlichkeitsbild und das Psychogramm Machiavellis zu zeichnen. In seinem Denkstil und Wesen, in seinem Geist und Charakter gibt es nicht diese Konsequenz und Einheitlichkeit, die das Charakteristikum schlechthin etwa eines Goethe ausmachen. Als reale und greifbare Persönlichkeit bewegte sich Machiavelli auf sehr viel niedrigeren Ebenen als jenen, auf denen er geistesgeschichtlich zu Hause war. Die positive Phantasie, die intensive Gegenüberstellung alternativer Lösungen und die Verurteilung des Mittelwegs und des Kompromisses, die sein Denken und seine Ausdrucksmittel ganz erheblich bestimmen und ihn für sehr viele zu einem großen Denker und für alle zu einem großen Literaten machen, sind keine inhärenten Eigenschaften auf seinem Lebensweg, die ihn, solange er lebte, zumindest geistig über seine Zeitgenossen erhoben oder ihn deutlich von ihnen abgrenzten. Als Mensch mischte sich Machiavelli nicht nur leidenschaftlich in die Konflikte seiner Umgebung ein, er ließ sich auch von ihnen mitreißen, ohne daß seine allgemeine Rezeption der Dinge für ihn selbst zu einer Perspektive und zu einer Eigenschaft wurde, die ihm erlaubt hätte, als Individuum den Abstand zu wahren, den die breite Wahrnehmung des Geistes und die Integrität des Charakters erfordert. Am täglichen und abwechslungsreichen Leben, wie es sich um ihn herum entfaltete, nahm er spontan als sehr geselliger Mensch teil, der Beziehungen, Interessen und Sehnsüchte hatte. Wenn dies aber nun für das Bild entwertend zu sein scheint, nämlich das wir von dem, wie ein „großer Geist" zu sein hat, im Kopf haben (ein Bild, das zum einen mit der archaischen Figur des Sehers und Propheten und zum anderen mit der jüngeren Weiterentwicklung dieser Figur in Beziehung steht, die in der Vorstellung des weltfremden „Genies" gerinnt), so ist es für Machiavelli selbst genau diese Beziehung, die ihn geprägt hat: die Prägung durch die ihn umgebende Wirklichkeit in ihren Charakteristika und Widersprüchen im Zusammenhang extremer persönlicher Situationen und persönlichem Streben. Wie ich in der Einleitung schrieb, dringt die Zeit über eine Reihe

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von Brechungen und über eine Menge von Kontakten mit unzähligen konkreten Aspekten der Wirklichkeit in das Individuum ein. Aus dieser Perspektive können wir psychologisch untersuchen, warum man Machiavellis Zeit und die konstanten historischen Elemente, die in ihr enthalten sind, in seinem Werk mit solcher Deutlichkeit erlebt. Man kann aber nicht erklären, weshalb andere Individuen, die genauso intensiv von konkreten, aber auch repräsentativen Aspekten ihrer Zeit durchdrungen waren, diese weder ausdrücken noch verallgemeinern können, denn unsere heutigen Kenntnisse über die Umwandlung gesellschaftlicher Prozesse in psychologische und auch über die Einschätzung des extrem individuellen und unwiederholbaren Elements der Persönlichkeit erlauben dies nicht. Als Mensch schien Machiavelli keinen Einfluß auf seine Umgebung ausgeübt zu haben; was er tat, war entweder unbedeutend oder wurde kaum beachtet 174 . Er bekleidete keine hohen Amter und trug auch nie entscheidende Verantwortung; er blieb immer ein zuverlässiger Funktionär, ein Beamter, dem man heikle Missionen übertrug, der aber keine herausragende Figur war 175 . Wollte man die Analogie bemühen, könnte man hinsichtlich seiner beruflichen Position sagen, er war so etwas wie der Staatssekretär in einem Ministerium, ein ehrbarer und ernsthafter Kader der festangestellten staatlichen Beamtenschaft, in dessen Augen die gewissenhafte Ausübung seiner Dienstpflichten genauso mit dem Dienst an den Interessen seines Vaterlandes zusammenfiel wie mit der praktischen Anwendung der Gebote der Staatsräson - was seine Amtsgeschäfte mit seiner allgemeinen Auffassung über Politik verband und was sich allmählich zu einer unverbrüchlichen Einheit seiner „Theorie" mit den konkreten Bedingungen seiner Tätigkeiten verflocht. Für Machiavelli war die Tätigkeit im Amt eine Lebenserfüllung, und in diesem Rahmen fühlte er sich kompetent und ungezwungen und hatte nicht die Belastung eines Menschen, dessen Beruf ihm nicht erlaubt, sich seiner wahren Neigung zu widmen. Für Machiavelli war sein Beruf eine Lebensbedingung, die auch sein geistiges Verlangen stillte; er fühlte sich wohl, eingegliedert in einen Apparat, der ihm erlaubte, sich seinem Lieblingsspiel, der Politik, zu widmen, und so war er wohl bereit, nicht nur auf den oberen, sondern auch auf den unteren Stufen dieses Apparates zu stehen. (Es lohnt sich hier anzumerken, daß er in Discorsi 1,36 die Bürger lobt, die sich nicht zu schade dafür sind, auch niedrige Stellungen zu bekleiden, selbst wenn sie früher in höheren Würden standen.) Diese Einstellung erklärt, warum Machiavelli bereit war, in seinen letzten Jahren unwich-

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tige Missionen zu übernehmen, die ihm die Medici nach beharrlichem Drängen seinerseits übertrugen. Wichtig für ihn war die Teilnahme an der laufenden Politik, und die Beweise, die wir haben, sprechen dafür, daß sich Machiavelli in der Rolle des Ratgebers und Sachverständigen gefiel, ohne daß er neben dem Aufstieg im Amt weiteren Führungsehrgeiz besessen hätte 176 . D o c h in der konkreten Florentiner Gesellschaft hatte auch dieser Aufstieg gewisse Grenzen. So wurden z . B . die Botschafter aus den reichen und oberen Schichten ausgewählt, weil nur die Großbürger über eigene Mittel verfügten, um die Ausgaben für ihre Missionen zu bestreiten (man darf nicht vergessen, daß sich die staatliche Organisation noch in einem minder entwickelten Zustand befand); diese Ausgaben umfaßten die Reisekosten, die Bezahlung von Dienern und Sekretären, Bestechungsgelder für die Beschaffung von Informationen u. ä. Mit der wirtschaftlichen Krise in Florenz Ende des 15. Jahrhunderts wurden diese Belastungen so hoch, daß die Großbürger solche Missionen nicht mehr so bereitwillig übernahmen, auch wenn sie an ausländischen Höfen Bekanntschaften pflegten und für den Familienbetrieb eintraten 177 . Dieser Widerwille erhöhte die besondere Belastung der festangestellten Beamten und der Sekretäre im diplomatischen Dienst; bei den meisten Missionen, an denen Machiavelli teilnahm, war er deren H e r z und Seele. Dieser Aufstieg der Beamten im Staatsapparat, die nicht aus den großen Familien stammten, wurde besonders in den Jahren 1502 bis 1512 spürbar, als Florenz von Piero Soderini regiert wurde. Soderini kam in einer Zeit extremer Schwäche und Unsicherheit seiner Heimat an die Macht, und seine Bestellung auf Lebenszeit deutete auf den Wunsch hin, in einer Stadt, die von zweimonatlich und halbjährlich wechselnden Regierungen ausgelaugt war, wieder Stabilität und politische Kontinuität herzustellen. Diese Kontinuität drückt sich auch in Amtern wie diesen aus, in denen Machiavelli diente, und sicherlich betrachteten die Beamten ihre Vorgesetzten in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer Regierung auf Zeit mit einem gewissen Argwohn. Republikanische und aristokratische Bürger wählten Soderini in einem gemeinsamen Konsens; doch dieser Konsens brach schnell, und der aristokratische Flügel, der noch immer der Zeit der Medici nachtrauerte, wandte sich gegen Soderini. Er fand nun Unterstützung bei der festangestellten staatlichen Beamtenschaft, bei Menschen niedriger Herkunft, die ihm besser gehorchten als die Aristokraten 1 7 8 . Solche jungen Menschen, denen an einer politische Karriere gelegen war, gab es in den staatlichen Behörden schon viele, und daß sie in Erscheinung

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traten, war nicht nur das Ergebnis des partiellen Rückzugs der Großbürger als Folge der Verbannung der Medici und der wirtschaftlichen Verknappung, sondern auch der Wahlreformen, die nach der Verbannung der Medici eingeleitet wurden und viele Bürger aus den unteren Schichten förderten, weil viele Amter durch das Los vergeben wurden 179 . Soderinis Hinwendung zu Menschen niedriger Geburt und zu den festangestellten Beamten (beide Gruppen riefen die Ablehnung der Elite hervor) mißfiel der Aristokratie und stimmte sie gegen Soderini noch feindseliger. Guicciardini und Giannotti, die auf der Seite der Florentiner Aristokratie stehen, der ottimati oder Optimaten, verurteilen Soderini wegen seiner Neigung, alles selbst zu machen oder Personen bescheidener Herkunft zu befördern und die Granden zu verdrängen 180 . In der neuen Situation, die mit Soderinis Bestellung entstanden war, war es nur natürlich, daß auch Machiavellis persönliche Stellung höher wurde; Soderini wußte dessen Ehrbarkeit und Fleiß schnell zu schätzen und ihn zu gebrauchen, indem er Vertrauen in ihn setzte, was einige Male den Zorn der Großbürger hervorrief (s. den Brief von Buonaccorsi vom 6.10.1506, Villari (1877), S. 504f.). Auch wenn sich dadurch eine bestimmte persönliche Beziehung zwischen den beiden entwickelte 181 , nahm Soderini ihn nie in den Kreis derer auf, die über wichtige Fragen entschieden. Trotz des Wohlwollens, das Soderini ihm entgegenbrachte, schätzte Machiavelli dessen Fähigkeiten nicht besonders hoch. Soderini war im Grunde zögerlich, kompromißbereit und protokollorientiert; seine Stärken - Ordnung, Genauigkeit, Wirtschaftlichkeit, Integrität, Mäßigkeit - hätten ihn vielleicht in Friedenszeiten zu einem großen Führer gemacht, doch das waren nicht die Eigenschaften des starken Mannes, den Machiavelli für die Lösung der Probleme in jener kritischen Zeit, die Florenz und ganz Italien durchmachten, für unumgänglich hielt 182 . In Machiavellis Haltung zu Soderini scheint die Ironie des Fachmanns gegenüber der Aufrichtigkeit eines Menschen durch, der keine Ahnung und keine Vorstellung von den Dingen hat. Doch das hinderte Machiavelli nicht, seine Pflichten aufs Genaueste zu erfüllen, genausowenig wie ihn der Dünkel des Kundigen daran hinderte, der, wie schon erwähnt, in vielen seiner diplomatischen Berichte zum Ausdruck kommt. Wenn sich Machiavelli seinen politischen Visionen hingab oder wenn er seine Arbeit als Patriot verrichtete, fügte er sich automatisch in ein Referenzsystem ein, das anders war als das Referenzsystem des Beamten Machiavelli. Im einen wie im anderen bewegte er sich unabhängig, ohne daß die Aktivitäten im einen mit den Aktivitäten im anderen in

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Konflikt gerieten. So konnte er politisch denken und gleichzeitig nach Anweisung handeln. Doch aus der Ironie und dem arroganten Ton seiner Berichte schimmert die schroffe, aber ihm selbst wohl unbewußte Andersartigkeit seiner Orientierungen durch. Diese organische und unbewußte Dualität in Machiavellis Psyche und Intellekt führte dazu, daß er auf dem Weg seiner politologischen Auffassungen vorwärtsschreiten konnte, ohne daß es ihn in seinem Leben als Gesellschaftsmenschen behindert hätte. Die Ansicht ist falsch, Machiavelli hätte zeit seines Lebens am Rande gestanden, weil er sich seiner Größe bewußt war 183 . Die Distanz zwischen ihm und den oberen gesellschaftlichen Kreisen hatte objektive Gründe: Wie gesagt, besaß Machiavelli keine humanistische Bildung, auch war er verhältnismäßig arm; dies wurde vielleicht psychologisch durch die Verherrlichung der Mäßigkeit und der großen Römer ausgeglichen, die auch nicht reich geworden waren (wie sie von der ersten Generation der Humanisten besungen wurden), doch er hatte nicht die Mittel, das Leben der oberen gesellschaftlichen Kreise zu führen. In seiner privaten, aber auch in seiner dienstlichen Korrespondenz wird Geld oft erwähnt 184 . Das Gefühl, das diese objektiven Nachteile hervorriefen, ließ nicht zu, daß bei ihm subjektiv das Gefühl einer geistigen Überlegenheit vorherrschte, doch es hätte sich noch verstärkt, wäre Machiavelli ein ungeselliger und isolierter Mensch gewesen. Er bewahrt sich seine Unabhängigkeit als Fachmann in den Fragen, die ihn beschäftigen, und diese Unabhängigkeit zusammen mit einer selbstbewußten Haltung drückt sich in extremen und manchmal provokanten Feststellungen in seinen Schlußfolgerungen aus wie auch in dem stark individualistischen Charakter seines Werks - Resultat eines aktiven Geistes, der in die Politik und in die Entwicklung der Ereignisse eingreifen will 185 . Doch als Gesellschaftsmensch, der in wichtigen Dingen des äußeren Lebens benachteiligt ist und danach strebt, diese Mängel auszugleichen, wendet er sich gleichzeitig an die Kreise, die ihm zu einem Aufstieg verhelfen könnten, und geht eine Reihe von Kompromissen ein, die es ihm verbieten, seine Überlegenheit herauszustreichen. Dies erscheint uns natürlich tadelnswert und moralisch verwerflich, doch dieser Eindruck wird stark abgeschwächt, wenn wir die Atmosphäre in dieser damaligen Gesellschaft Wiederaufleben lassen. Es ist nicht richtig, Machiavellis Beziehungen zu seiner Umgebung mit den psychologischen und moralischen Problemen zu belasten, die in der internationalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und besonders in unserer Zeit entstanden, da die „Ideologie" in gewisser Weise die

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Identität eines jeden Individuums ausmacht und seine Beziehungen, seinen gesellschaftlichen Umgang usw. bestimmt, so daß am Ende seine Moralität nach der Unbeugsamkeit beurteilt wird, die er in seiner allgemeinen Haltung zu Mitgliedern des entgegengesetzten Lagers einnimmt. Hier aber haben wir eine sehr viel flexiblere und fluktuierendere Gesellschaft, die weniger „ideologisch" ist; die Ubereinstimmung des Individuums mit den Thesen, die es selbst vertritt, wird von den anderen nicht als eine selbstverständliche Verpflichtung und Bindung betrachtet wie heute. Der Mensch nimmt zunächst einmal am gesellschaftlichen Leben teil, und auch das geistige Schaffen (besonders in Bereichen wie Geschichtsschreibung und Politologie) ist eine Arbeit, die einen gesellschaftlichen Zweck hat - nicht in dem Sinn, die Gesellschaftsform zu verändern, sondern indem sie zum Thema von Diskussionen und Kritik oder Zustimmung in bestimmten Kreisen wird, was in hohem Maß auch mit dem gesellschaftlichen Schicksal des Geistesschaffenden verbunden ist, - was die Widmungen in Machiavellis Werk deutlich zeigen. So wird die praktische und gesellschaftliche Seite der Individualität betont; bei Machiavelli, dem schon das pseudotheoretische otium der Humanisten fremd war, ist diese Seite außerordentlich stark, was einen zusätzlichen, psychologischen Grund für die praktische Ausrichtung seiner Theorien und Schlußfolgerungen ist. Im Grunde seines Seins ist Machiavelli ein Mensch der Tat, nicht nur in der breiten politischen Bedeutung des Wortes, sondern auch im engeren Sinn des Gesellschaftsmenschen. In all den Jahren seines Dienstes, unter einem Berg von Arbeit begraben, beklagte er sich nie, daß ihm die Zeit zu lesen und zu schreiben fehle. Im Gegenteil, in der Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist er weit entfernt von den laufenden Geschäften, er fühlt sich wie ein Fisch ohne Wasser und setzt alles daran, sein früheres Leben wieder aufnehmen zu können 186 . Es wurde sehr schön angemerkt, der Italiener aus der Zeit Machiavellis gleiche dem eingebildeten griechischen Bürger aus der Zeit des Perikles und dem graeculus, dem „Griechlein", aus der Zeit des Juvenal in einer Person 187 . Einerseits ist er patriotisch und hat das Gefühl, einer überindividuellen Gesellschaft anzugehören, andererseits ist er zweigesichtig, materialistisch und unterwürfig. Für Machiavelli ist die erste Eigenschaft die Stütze der Vision eines blühenden Staates, während die zweite die menschlich-psychologischen Charakteristika des Niedergangs enthält, der „Verderbtheit", deren Beseitigung das grundlegende Ziel des Herrschers und des sachverständigen Gesetzgebers sein muß. Während Machiavelli als Staatstheoretiker diese Ver-

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derbtheit ohne Umschweife verurteilt, hat er als Mensch keine Kenntnis von den Bereichen in seinem Leben, in denen sie wirksam wird, folglich hat er auch kein Interesse, sie zu finden und zu beseitigen (wie gesagt, liegen solche persönlich-moralischen Probleme außerhalb des Horizonts der Zeit). Als ganz klar gesellschaftlich orientierter Mensch nimmt er spontan eine andere Haltung ein: Er freut sich auch selbst an jenen Aspekten der Verderbtheit, die ihm das Leben mit Mätressen versüßen und die sich in sein Leben natürlich nicht in der abschreckenden Form eines bösen Teufels und Saboteurs der gesellschaftlichen Robustheit einschleichen, sondern mit dem lächelnden Gesicht der verschiedensten Genüsse. Verglichen mit ihren Wurzeln, sind die extremen Nebenprodukte der „Verderbtheit" soziologisch unbedeutend; eine viel größere Rolle hingegen spielen im individuellen Leben die verschiedenen Erscheinungsformen der „Verderbtheit", das Wohlleben und die Genüsse, die sie für das Individuum bereithält. So kommt dieses nur mit der stimulierendsten, angenehmsten und der vergnüglichsten Seite der Verderbtheit in Berührung und sieht nicht, daß sie der Teil des Lebens ist, den das Individuum vielleicht selbst allgemein verurteilen würde, wenn es Schaden und Nutzen für die Gesellschaft bedächte. Doch selbst wenn Machiavelli dieser Widerspruch zwischen Gesellschaftlichem und Individuellem irgendwann bewußt geworden wäre, gab es in seiner Sichtweise andere Wesenszüge, die von selbst und ganz unbewußt die Kluft überbrückten: Es gab die unveränderliche menschliche Natur, das ewig böse, durchtriebene und genußsüchtige Wesen des Menschen, und es gab den Begriff der „Technik", der ein hervorragendes Instrument zur Befreiung von ideologischen und moralischen Bindungen und ein Vorwand für Kompromisse aller Art darstellt, wenn er aus dem Bereich der Politik auf den Bereich des individuellen Lebens übertragen wird. In Die Mandragora ist Machiavellis Haltung gegenüber der „Verderbtheit" in ihren individualisierten Aspekten die Haltung eines Skeptikers; er verflucht sie nicht, er lächelt nur, er ironisiert und läßt auch Wehmut durchklingen - nicht die des Enttäuschten, der mit sich selbst nicht im Einklang ist, sondern die nachsichtige Trauer eines Menschen, der überzeugt ist, daß die Dinge so sind und auch weiterhin so sein werden; daher vermeidet er jede überflüssige Dramatisierung und Romantisierung188. Dieses Gefühl war wohl bei Machiavelli vorherrschend, als er die wenigen Male den Weg, seine persönlichen Ziele zu erreichen, verschlossen fand; er verringerte sicherlich seinen Eifer im gesellschaftlichen Umgang und sah das Leben seiner Umgebung aus einer ge-

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wissen Distanz (während er sich meistens assimilierte). Und wenn er das Problem hatte, sich in sich zurückziehen und sein Innerstes verstecken zu müssen, anstatt es nach außen zu kehren, tat er dies als intellektueller Mensch, der er war, sicherlich mit Ironie gegenüber den anderen, aber auch gegenüber sich selbst. Er machte sich lustig über sich, oder eher: über ein falschen Bild von sich, das er gezeichnet hatte, um sein wahres Selbst zu verbergen. Mit der Ironie schafft er ein Alibi, er verbrennt ein Abbild von sich und lenkt die Aufmerksamkeit von seinem eigentlichen Selbst ab. Dieses vielschichtige psychologische Geflecht kann teilweise auch seinen vieldiskutierten beharrlichen Versuch erklären, in die Dienste der Medici zu treten, der ehemaligen Herrscher von Florenz, die 1494 verbannt worden waren und 1512 wieder zurückkehrten, Soderini die Macht aus der Hand nahmen und dessen Leute aus ihren Positionen vertrieben. In den Rahmen dieses Versuchs gehört Machiavellis Korrespondenz mit Vettori (die er mit Vergnügen auf die verschiedensten Themen ausweitete, solange er die Hoffnung hatte, daß Vettori ihm helfen würde; er stellte den Briefwechsel jedoch ein, als er von ihm enttäuscht wurde) und die aufeinanderfolgende Widmung des Fürst an die beiden jungen Medici. Freilich ist die Ansicht indiskutabel, Machiavelli habe dieses Werk einzig und allein deshalb verfaßt, um seine Stellung wiederzubekommen; etwas anderes ist es, wenn er dieses als nützlich angesehen hätte und vielleicht selbst auch bereit war, seine Arbeit als etwas darzustellen, das dem Wunsch entsprang, den Regierenden seiner Heimat und seinen möglichen Arbeitgebern mit Ratschlägen zu helfen. Doch aus einem solchen Motiv kann kein solches Werk hervorgehen, selbst wenn Machiavelli es zu seinem persönlichen Nutzen hätte einsetzen wollen; es ist ein reicher, vielschichtiger, feuriger Text, eine Sammlung von Erfahrungen, Beobachtungen und Verallgemeinerungen189. Man sieht, daß in dieser Angelegenheit zwei Seiten Machiavellis zusammenspielen: der Denker, der sich die ursprüngliche und für jeden Denker unveräußerliche Unabhängigkeit bewahrt, und der Gesellschaftsmensch, der die Früchte des Denkers nimmt, die sich in einem Werk kristallisieren, und versucht, diese nicht für die Zwecke des Denkers, sondern des Gesellschaftsmenschen zu nutzen; doch auf diese Weise kann er nur die Form des Werks nutzen - nicht aber seinen Inhalt nur die äußeren Kennzeichen, die zeigen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten der Autor besitzt. Gleichzeitig ist es nicht möglich, dem Adressaten das Werk anders denn als Inhalt, als Hilfe und Leitfaden für seine Handlungen darzubieten; doch in der

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Wirklichkeit erreicht der Inhalt nicht immer den, dem er angeboten wird; denn obwohl er die Mittel hat, das Angebot des Werks zu vergelten (die Form zu sehen und dem Gesellschaftsmenschen zu helfen), so hat er nicht immer die Persönlichkeit, die es braucht, um den Inhalt des Werkes als Leitfaden zu nehmen und sich gleichzeitig nicht mit dem Gesellschaftsmenschen anzufreunden, der es ihm offerierte, wohl aber mit dem Denker, der das Buch verfaßte. Der Autor wiederum spürt dies und schenkt dem Herrscher im Grunde nicht sein ganzes Denken, sondern nur einen Teil, auch wenn er behauptet, daß er ihm alles gebe. Machiavelli schreibt und gibt Ratschläge, doch in Wirklichkeit faßt er den Uberschuß seines Denkens in Worte; dennoch können die hohen schriftstellerischen Leistungen, selbst wenn sie notgedrungen ein reiches Reservoire erfordern, auch zu ganz bestimmten Zwecken und selbst aus niedrigen Beweggründen in Erscheinung treten. In dieser widersprüchlichen psychologischen Dialektik kann man weder ausschließlich sagen, Machiavelli wollte vor allem seine Stellung wiederhaben, um seine Ideen zu verwirklichen, noch, er habe sich als reiner Techniker der Politik nicht für das System interessiert, dem er diente, oder er habe seine Dienste angeboten, beseelt vom Geist des guten Offiziers, für den die Regierungen wechseln, der Staat aber der gleiche bleibt 190 . Da Machiavelli gezwungen war, den Denker im oben erwähnten Sinn in den Dienst des sozialen Individuums zu stellen (dessen Bedürfnisse den Großteil der bewußten Persönlichkeit ausmachten), durchlief er vielleicht einen Prozeß, der sich in unterschiedlichen Formen auch heute bei dem, im übrigen ganz konservativen, Hin und Her der sogenannten „Intellektuellen" findet. Zweifellos hat Machiavelli im Fürst ehrlich dargestellt, wie er die Probleme eines Wiederaufbaus von Italien und des Staates im allgemeinen sah; da er sich aber seinen früheren Gegnern annähern wollte, betrachtete er am Ende gerade sie als diejenigen, die sich seine Auffassungen par excellence zu eigen machen würden, (wobei er unbeachtet ließ, was sie daran hinderte, eine solche Rolle zu spielen - er hätte dies jedoch sofort angemerkt, wenn er sie nicht gebraucht hätte). Wenn das zutrifft, hätte er auch auf die andere Seite überwechseln müssen, um seinen Ansichten treu zu bleiben. So entsteht der unvermeidliche „Rechtfertigungsmechanismus" des Kompromisses, mit dem gleichzeitig der Denker wie auch der Gesellschaftsmensch konfrontiert ist. In einigen modernen Fällen gelingt der Kompromiß nicht immer vollständig, und der Abtrünnige bekommt irgendwann Gewissensbisse; doch es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Machiavelli ähnliche Probleme

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gehabt hat. Wie oben erwähnt, war die Ideologie noch nicht gleichbedeutend mit persönlicher Identität; der Opportunist empfand es nicht so, als würde man mit dem Finger auf ihn zeigen, und nahm auch keine verteidigende oder aggressive Haltung ein, bevor ihn überhaupt jemand verurteilt hatte. Ein Vergleich von Machiavelli mit seinem berühmten Zeitgenossen, dem jüngeren Guicciardini, hebt bestimmte grundlegende Kriterien seiner Persönlichkeit besser hervor und zeigt gleichzeitig auch die Strömungen, die später bei den italienischen Intellektuellen vorherrschten und es unmöglich machten, den Keimling zu pflegen, den Machiavelli gesetzt hatte. Machiavellis Weltsicht ist aktiv und im Grunde optimistisch; er glaubt an bestimmte Dinge, er ist sich ihrer sicher, daraus zieht er auch die Kraft, zu spotten und verspottet zu werden. Natürlich hat auch Guicciardini bestimmte Ideale; er will, daß Italien von der Fremdherrschaft befreit wird und sich v o m Klerus löst, doch dafür würde er nicht mal den kleinen Finger rühren. Die Staatsvision begeistert ihn nicht wie Machiavelli, er berauscht sich auch nicht am Andenken Roms. Jede Schwülstigkeit wird verworfen, es regiert der Rationalismus und später der Zynismus; Mittelpunkt der Welt ist das Individuum, das sich weigert, die empirischen Gegebenheiten zu überwinden, und sich in einer engen Welt einschließt, wo derjenige regiert, der es versteht, sein Privatinteresse zu verfolgen und die Umstände auszunutzen; auch dem Gemeinwohl kann nur entsprochen werden, wenn es mit den Ambitionen des Individuums zusammenfällt 1 9 1 . Dieser subjektive Hermetismus hat ernste Auswirkungen auf Stil und Aufbau von Guicciardinis Denken; in seinen historischen Schilderungen bleibt er den Einzelereignissen verhaftet, bei deren detaillierter Uberprüfung (die Machiavelli vernachlässigte) er sie so differenziert, daß keine allgemeinen Gesetze aufgestellt werden können 1 9 2 . Guicciardini schildert langsam und geduldig, ohne in Verallgemeinerungen abzuschweifen oder sein Material so zu ordnen, daß es ihm zu Verallgemeinerungen verhilft; Machiavelli hingegen ist ungeduldig und hat es eilig, er will das Grundelement fassen, den Kern, und darauf bauen und dabei die detaillierte Schilderung beiseite lassen 193 . Für Guicciardini zählt das Ereignis, und dieses Ereignis wird exakt und statisch geschildert, während für Machiavelli die Verallgemeinerung zählt, die Regel; dadurch sind die einzelnen Ereignisse nur Ansätze, die dazu bestimmt sind, sich zu Regeln zu entfalten 194 . Auch Guicciardini ist der Ansicht, daß die menschliche Natur unveränderlich sei, doch er ist nicht der Ansicht, daß man aus dem Studium der Geschichte Lehren

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für das Handeln in der Gegenwart ziehen könne; er leugnet, daß es überhaupt ein allgemeines Gesetz gebe, das ein praktisches Engagement nach sich ziehen könnte. Auch leugnet er jede Voraussagbarkeit der Zukunft und legt großes Gewicht auf das Schicksal. So verliert die Welt jeden Fixpunkt; sie wird unsicher und trübe. Bei Guicciardini kommt ganz deutlich die Melancholie und die Heuchelei zum Ausdruck, die das Abgleiten des Landes bei den italienischen Intellektuellen bewirkte. Machiavelli konnte sich noch etwas früher als Guicciardini und in einem bescheideneren Umfeld entwickeln, das noch nicht vom Verfall und vom Empfinden dieses Verfalls durchdrungen war. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen Machiavelli und Guicciardini 195 .

V Wenn man, nachdem man seine Zeit, die Epoche und Machiavellis Charakter skizzierte, nun seine Ideen schildern wollte, sieht man sich der ganz individualistischen Weise gegenüber, in der sich in seinem Denken all diese Elemente verbanden, die wir a posteriori auf der Grundlage unserer eigenen logischen Zusammenhänge und Klassifizierungen ordneten. Doch genau an jenem Punkt, wo die Übertragung aus dem Reservoir der Erscheinungen, die ihm die Zeit lieferte, in der strukturierten Form stattfindet, die sie in seinem Denken annahmen, spürt man eine Leere; man merkt, daß einem das entscheidende Glied dieser Kette entgeht, die bei den allgemeinsten und typischsten Äußerungen des Lebens und der Einstellungen dieser Zeit beginnt und in den feinsten Facetten der individuellen Sicht endet. Diese Leere kann nicht ausgefüllt werden, weil es dabei um die unvermeidliche Unkenntnis der Wurzeln des konkreten Menschen geht, des innersten Kerns seiner Persönlichkeit, und auch um die unabwendbare Unkenntnis der Nachgeborenen über die erfahrbaren persönlichen Ereignisse, die großen und kleinen Vorkommnisse im Leben des Menschen, mittels derer die allgemeinen Merkmale der Zeit nach und nach, gebrochen und zersplittert und unmerklich in diesen Menschen eindrangen und sich in dieser Form und nicht in einer anderen anordneten. Die Eigenschaften, die den wesentlichen Teil der Persönlichkeit ausmachen, kann man freilich finden und man kann auch in weiten Teilen die konkreten Herde aufspüren, an denen das Individuum diese Eigenschaften entwickelte und internalisierte; doch selbst wenn man

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sie alle fände, heißt das nicht, daß man auch die Art und Weise erklären kann, in der sie sich verbanden, wie also die Theorie entstand, die auf diesen Zügen gründet. Den Gordischen Knoten - den Punkt, wo die einzelnen Elemente ihre Sublimierung in genau dieser Synthese und keiner anderen erfuhren - kann man also nur zerschlagen, nicht auflösen, denn die Synthese der Elemente, die die Analyse ergab und die isoliert werden konnten, ist ein individueller Prozeß, und das ganz Individuelle, auch wenn es nicht außerhalb des .Geltungsbereichs der Sozialwissenschaften steht' (wie Alfred Weber sagen würde), liegt doch außerhalb ihrer heutigen Möglichkeiten. Daher wird von diesem Punkt an die Darstellung nicht mehr auslegend oder erklärend sein, sondern notgedrungen deskriptiv. Die Problemstellung bei Machiavelli sprengt die Fragestellung der antiken Klassiker nicht wesentlich; sie ist politologisch und nicht soziologisch, sie unterscheidet nicht zwischen Staat und Gesellschaft dem Ausgangspunkt der jüngeren Soziologie. Doch zu dieser Fragestellung lieferte die Renaissance ganz neues Material, aus dem neue Perspektiven hervorgehen; obwohl die Begrifflichkeiten bei Machiavelli in vieler Hinsicht ärmer sind, als man sie in Aristoteles' Politik vorfindet, sind sie doch voller Anschauungsmaterial, das Schlußfolgerungen erlaubt, die den Klassikern nicht möglich waren. Im Vergleich zu Aristoteles fehlt es bei Machiavelli an der Einordnung seiner Ideen in ein kohärentes System. Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, daß Machiavelli den ersten Schritt zur Gründung einer Wissenschaft machte, indem er Politik und Moral unterschied und trennte; doch den zweiten und wichtigeren Schritt machte er nie, weil er spontan und ungeprüft die Handlungslehre, die politische Deontologie, mit der historischen und politischen Ontologie gleichsetzte. Die Ratio zog sich nicht aus dem Feld der Praxis auf eine konsequent theoretische Position zurück, sie blieb dual, praktisch und theoretisch zugleich, und war dabei merklich den praktischen Interessen zugeneigt. Durch diese praktische Orientierung war das Denken auf alternative Richtungen fokussiert, sie verhinderte nicht nur die Schaffung eines geschlossenen theoretischen Systems, sie führte auch zur Formulierung von Gedanken, die sich oft widersprachen. Jeder theoretische Gewinn (das, was vom allgemeinen Credo der Zeit nicht bestritten wurde) wurde in der Konfrontation mit praktisch-politischen Fragen erzielt, mit doppeltem Bezug sowohl auf die Geschichte als auch auf die Erfahrung und mit dem direkten und bewußten Ziel, für diesen Gewinn wieder eine praktische Anwendung im Umgang mit den prak-

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tischen Problemen zu finden, welche zu seiner Entstehung führten. Trotz allem kann man eine theoretische Neuordnung von Machiavellis Denken vornehmen, denn in seinem Werk sind die neue Perspektive und die neue Rezeption der Politik überall präsent, wobei er andererseits die große Fähigkeit hatte, die Fülle seiner Erfahrungen zu verdichten und das reiche Gebäude seines Geistes auf wenige und einfache, aber mächtige Grundpfeiler zu stellen 196 . Machiavellis Fragestellung (und allgemeiner die Fragestellung der „politischen Historiographie") wird von zwei großen Ereignissen seiner Zeit bestimmt: Erstens die Zerstörung der Autonomie Italiens durch fremde Mächte - infolgedessen denkt er über militärische Organisation und über die äußere Macht des Staates nach; zweitens die Regierungswechsel in Florenz, die zu unzähligen Debatten und Untersuchungen über die innere Organisation des Staates führten. Doch wenn diese historischen Ereignisse der theoretischen Verallgemeinerung Vorschub leisteten, so schränkten sie sie gleichzeitig auf jene Wirkkräfte ein, die bei diesen Ereignissen am offenkundigsten und am wirksamsten waren, also auf die militärischen und politischen Kräfte. Die Ereignisse, die das theoretische Denken antrieben, waren weder ökonomischer noch ideologischer Natur; daher waren diese Faktoren auch nur beiläufig ein Gegenstand der Untersuchung 197 . Gleichzeitig drangen diese Ereignisse, die Machiavelli die Grundlagen seines Denkens lieferten, gebrochen durch den vorherrschenden Geist, der allgemein vorherrschenden Haltung jener Zeit, wie ich sie im ersten Kapitel beschrieb, in Machiavellis Denken ein. Doch in bezug auf den letzten Punkt muß angemerkt werden, daß er, auch wenn er spontan von der allgemeinen Haltung durchdrungen war, die bestimmten sozialen Bedingungen entsprang, selbst nicht notwendig in der Lage gewesen sein muß, seine Sichtweise auf die Bedingungen zurückzuführen, die sie hervorgebracht hatten; folglich ist er auch nicht gezwungen, diese Bedingungen als vollkommen soziale und historische Exempel zu betrachten, während er auf der anderen Seite die Sichtweise, die sich daraus ergab, ohne weiteres als kohärent betrachten konnte (ohne daß er selbst es wußte). Es ist ganz normal, daß sich die vielfältigen ideologischen Ausformungen von den Bedingungen isolieren, die sie hervorbringen, und sie im Vergleich zu diesen autonom wirken - auch wenn sie wiederum fremdbestimmt sind, sei es durch ganz andere Bedingungen oder durch Bedingungen, die in einem Zusammenhang mit ihren Entstehungsbedingungen stehen, ihnen aber widersprechen. So vertritt Machiavelli die allgemeinen Prinzipien der

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abwägenden Betrachtungsweise, der Kalkulation; doch während man heute diese Phänomene in ihrer Gesamtheit sehen und diese Prinzipien im Handeln des Fürsten wie auch des Condottiere erkennen kann, leugnet Machiavelli, daß dem Handeln des Fürsten und des Condottiere immer die gleichen Werte zugrunde liegen - weil Machiavelli gerade von den endgültigen Folgen motiviert war, wohin diese Prinzipien sein Denken lenkten, nachdem sie von Prinzipien der Praxis zu Prinzipien der Forschung umgewandelt wurden; so leugnet er genau eine der wirklichen Gegebenheiten, die das Prinzip hervorbrachten, auf dessen Grundlage die Gegebenheit selbst verworfen wurde. Dies merke ich nicht an, weil es ausschließlich für Machiavelli charakteristisch ist, sondern weil es ein allgemeines Phänomen der Wissenssoziologie ist, dessen Erwähnung die Forscher zur Aufhebung vieler Widersprüche führen kann, entweder bei den Personen, die sie untersuchen, oder bei ihnen selbst. Darüber hinaus finden sich in Machiavellis Werk auch bestimmte grundlegende Ansichten und Annahmen, die er mit anderen Zeitgenossen teilt. Diese Hypothesen werden nicht ausdrücklich formuliert, doch sie ziehen sich durch den ganzen Text des Werks und schließen ihn ein, so daß sie sich als Schlußfolgerungen und zugleich als Ausgangspunkte seines Denkens darstellen 198 . Eine solche H y p o these ist die Rezeption der menschlichen Natur, die man bei Machiavelli und bei Guicciardini findet und die in jener Zeit sehr verbreitet ist. Zwei große Phänomene zu Machiavellis Zeit beinhalten die Ansicht, die Natur des Menschen sei unveränderlich und schlecht. Das erste Phänomen, die Reformation, will den Menschen durch Gottes Gnade retten, sie vertreibt seine böse Natur und versetzt ihn in die Lage, Gutes zu tun; die gute Tat ist keine direkte Folge der guten Natur, wie ein anderes christliches Lager meinte, sondern sie ist eine indirekte Voraussetzung für die Errettung. Das zweite große Phänomen, die Entstehung der Nationalstaaten, stützt sich ideologisch auf die Ansicht, daß der Staat die Kraft sei, die dem angeborenen, zersetzenden Egoismus des Menschen entgegenwirken könne 199 . Machiavelli schließt sich spontan der Vorstellung an, daß der Mensch schlecht sei, und um es zu beweisen, beruft er sich nur auf die kollektive Erfahrung, nicht auf eine Analyse des Wesens des Menschen. Dieses Wesen interessiert ihn nicht, und es ist sehr zu bezweifeln, ob ihn dessen Existenz und dessen Eigenheiten jemals beschäftigten; er interessiert sich für die konkreten Manifestationen der menschlichen Natur, die in verschiedene Handlungen gerinnen; in dieser Form setzt sich jemand

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damit auseinander, der auf der politischen Bühne aktiv ist. Sicher ist, daß die Manifestationen der menschlichen Natur schlecht erscheinen, ohne daß eingehend untersucht wird, ob und wie diese Natur primär entstanden ist. Die Natur des Menschen wird also nicht als etwas Kompaktes und Statisches betrachtet, das zum ersten Prinzip und zu einer Vergegenständlichung erhoben werden könnte, sondern sie wird als dynamische Anlage von Wünschen und Stimmungen wahrnehmbar, deren Schlechtigkeit empirisch nachweisbar ist - denn behandelt man die Menschen so, als wären sie gut, scheitert man fast immer. Diese Auffassung ist also phänomenologisch und nicht metaphysisch; Machiavelli scheint nur zu sagen: Sicher ist, daß die Menschen auf jeden Fall zum Schlechten neigen, wenn es nichts gibt, was sie daran hindern kann 200 . Doch von einem eindeutigen und einseitigen Wesen des Menschen ist keine Rede, im Gegenteil; die Manifestationen, die theoretisch auf dieses Wesen zurückgeführt werden könnten, sind komplex und oft auch widersprüchlich, und so kann die eine die andere neutralisieren, wie ζ. B. die Feigheit jemanden davon abhält, eine Untat zu begehen, und die Bosheit des Menschen durch seine Kleinheit begrenzt wird (Discorsi 1,27). Machiavelli sagt, die Natur des Menschen sei schlecht, und meint damit, der Mensch sei unsozial und bereit, die Gruppe zu unterminieren, wenn es ihm nützt. Doch andererseits ist der Mensch feige, er braucht Schutz und er zieht die vielbegangenen Wege vor; dieser zweite Aspekt der schlechten Natur des Menschen steht dem ersten gegenüber und trägt bis zu einem gewissen Grad zur Konsolidierung der Institutionen und nicht zu deren Unterminierung bei201. Bei Machiavelli findet sich auch die Vorstellung der überindividuellen menschlichen Natur, eines Nationalcharakters, einer konstanten Gruppeneigenschaft, die durch äußere Faktoren, wie das Klima, beeinflußt oder durch Gesetze und Erziehung verändert werden kann. (Diese Ansicht vertritt er vereinzelt, wenn die Rede von fremden Völkern ist, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie die Wiederholung einer gebräuchlichen Wendung antiker Geschichtsschreiber ist, die auch von den Humanisten übernommen wurde.) Die grundlegenderen Leidenschaften, welche die menschliche Natur erfahrbar werden läßt, sind Angst, Begehren und Ehrgeiz. Doch diese Leidenschaften sind in Machiavellis Sicht nicht nur zerstörerische Kräfte, sondern auch Formen von Energie, die unter dem Einfluß der unzähligen Reize der Welt in Bewegung gesetzt werden. Diese Bewegung ist ewig und setzt sich aus zahllosen kleinen Bewegungen der Individuen zusammen, die von ihren Leidenschaften angetrieben wer-

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den und deren Zusammenstöße ständig hier und da elektrische Funken entfachen. Der Mensch ist ein Herd verdichteter Energie, die latent vorhanden ist oder herausbricht und sich wie in einer Kettenreaktion entfaltet, um den Menschen von der Ebene der einfachen körperlichen Kraft in den Stand eines bewußten und rationalen Individuums zu heben. Tatsache ist, daß nur wenige dieses Niveau erreichen; die Masse bleibt ihren Leidenschaften verhaftet, vor allem in Zeiten des Niedergangs. Dennoch bleibt unergründlich, warum Machiavelli sich nicht damit beschäftigt - es weder erwähnt noch interpretiert daß der Mensch oder zumindest einige Menschen sich von schlechten und feigen Wesen zu kalkulierenden, rationalen Individuen wandeln, die auch noch ehrbar sind und Träume haben. Geschieht dies also automatisch durch die Kraft, die die Energie der Leidenschaften mobilisiert, oder haben wir es von Anfang an mit Individuen zu tun, die sich aus unerklärlichen Gründen wenn nicht allen Aspekten der Natur, die die Mehrzahl der Menschen besitzt, so doch den schlimmsten Seiten entzieht? Darauf antwortet Machiavelli nicht, doch das starke Gefallen, das er an der persönlichen Intelligenz findet, legt vielleicht letzteres nahe. Freilich geht die Intelligenz sehr oft Hand in Hand mit den widerwärtigsten Eigenschaften der menschlichen Natur; Machiavelli weiß dies gut, denn über die rein technische Einschätzung politischer Handlungen hinaus hat er, wie gesagt, auch weitergefaßte Kriterien - das Wohl des Staates und des Vaterlandes; indem die Intelligenz diesen Kriterien dient, erreicht sie in Machiavellis Augen ihren höchsten Wert. Zumindest aus der Sicht dieser Individuen stellt sich das Leben als Arena der Entfaltung nicht nur der menschlichen Triebe, sondern auch ihrer Fähigkeiten, ihrer Verdienste, ihres Verstandes dar; der Wille zum Herrschen steht der Welt nicht mehr als blinde menschliche Natur gegenüber, sondern als überlegter, abwägender Geist, der die Welt mit Kalkül und mit der richtigen Handhabung unterwirft; das Individuum hat nun nicht mehr nur Neigungen, es hat auch Ziele, es wird nicht nur vom Wunsch nach Bedürfnisbefriedigung beherrscht, sondern es gliedert seine Handlungen, es wählt die Mittel, es versteht die Wirklichkeit und bringt sie nach seinem Willen mit seinen Handlungen in Einklang, die schon von selbst ihren Bewertungsmaßstab enthalten: den Erfolg. So mündet die optimistische Phänomenologie der menschlichen Natur - auf unvollständige Weise, nach den Kriterien der abstrakten Logik, aber konsequent in bezug auf die tieferen praktischen Impulse und Aspekte von Machiavellis Geisteswelt nicht in einen nihilistischen oder zersetzenden Normativismus; eher

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das Gegenteil ist der Fall. Und das zeigt noch einmal, daß die Rezeption der menschlichen Natur weder ein strenger logischer prius für Machiavellis Vorstellungen ist noch das theoretische Fundament einer mechanistischen Wissenschaft, die im Grunde nihilistisch wäre. Die aktive und dynamische Entfaltung der Persönlichkeit in der Welt, um ebendiese Welt zu beherrschen, ist die virtü, das Verdienst. Komponenten der virtü sind Wille, Fähigkeit, Virtuosität, höhere Intelligenz (die vom Erfassen einer Situation bis hin zur Planung einer List reicht), Mut, Beharrlichkeit, Flexibilität, ja auch körperliche Kraft. Kurz, virtü ist das dynamische Ganze eines Menschen, die Waffe, mit der er Situationen begegnet und diese mit seinen Bedürfnissen in Einklang bringt. Machiavelli scheint mit dem Begriff virtü nicht notgedrungen charakteristische Merkmale zu fassen, die aus moralischer Sicht verwerflich sind; die Sphäre seiner virtü steht wie eine Welt für sich neben der gewöhnlichen moralischen Sphäre, auch wenn sie immer wieder in diese greifen kann 202 . In engerer Verwandtschaft mit der herkömmlichen moralischen Sphäre steht nicht die virtü des Fürsten und des Gesetzgebers - denn sie ist primär, spontan und persönlich - , sondern die virtü des Bürgers, des durchschnittlichen Menschen, denn als virtü ordinata fällt sie mit Tugend, Gesetzestreue und Patriotismus zusammen. Die primäre und dynamische virtü des Gesetzgebers zielt so auf die Herausbildung einer sekundären virtü, der nicht mehr die Schaffung des Staates zu verdanken ist, sondern dessen Erhalt 203 . Neben der primären virtü des Gesetzgebers und der virtü des Bürgers gibt es noch eine dritte, apersonale virtü, die sich von Land zu Land und von Epoche zu Epoche verändert und mit dieser Veränderung Aufstieg und Fall der Nationen bewirkt (Discorsi II, Einleitung) und die selbst ein dynamisches und unberechenbares Element ist, ein Faktor, der verhindert, daß sich in der Geschichte eine mechanische Gesetzmäßigkeit herausbildet, wenn auch auf der Grundlage der unveränderlichen Natur des Menschen. Wie im ersten Kapitel gezeigt, ist fortuna, das Schicksal, der Gegenpart zur virtü. Dieser Begriff kommt in einer Zeit sozialer Unbeständigkeit und ideologischer Leere auf, da die Vorsehung Gottes als interpretatorischer Wertmaßstab aufgegeben wird, andererseits aber historische und soziologische Erkenntnisse, und seien es auch nur neugeschaffene Ideologien, fehlen, die diesen Mangel ausgleichen könnten 204 . Machiavelli nimmt das in seiner Zeit sehr verbreitete Symbol des Schicksals und gliedert es in sein Gedankengebäude ein, ohne jedoch im geringsten Dantes Ansicht zu teilen (Die Hölle, VII,67 ff.), fortuna

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sei ein Instrument zur Erfüllung eines göttlichen Zwecks 205 . In Machiavellis Werk jedoch ist fortuna kein eindeutiger Begriff, er nimmt verschiedenen Bedeutungen an. Manchmal ist es der Gang der Dinge selbst, den man vielleicht sieht und kennt, dem man sich aber nicht entgegenstellen kann. Dann wieder ist es eine unfaßbare und geheimnisvolle Kraft, die außerhalb der intellektuellen Fähigkeiten des Individuums steht und nur wahrnehmbar wird, weil sie ihre Kraft vollständig ausübt. Oder es ist ein Element, das in eine zweideutige Situation eingreift und eine Lösung bringt, wenn das Kräftemessen der virtü mit den Dingen unklar ausgeht. Denn, so sagt Machiavelli, das Gute und das Böse sind nicht nur in unserer Natur, in unserem inneren Selbst, miteinander verwoben, sondern auch in der Objektivierung unserer Selbst, in unseren Handlungen, wo sich Gut und Böse als genauso wahrscheinliche und alternative Folgen unserer Taten darstellen und aus denen eine Heteronomie der Zwecke erwächst, die fortuna verbessern, aber auch verschlechtern kann (Discorsi 111,37). Manchmal wird fortuna als eigenständiges Wesen dargestellt, als eine Art Göttin, die unter den Menschen wandelt und durch konkrete Handlungen bestimmte Resultate erzielt (Discorsi 11,29), manchmal tritt der „Himmel" an ihre Stelle, ein unbestimmter Begriff zwischen der weltlichen fortuna der Renaissance und dem Schicksal als Instrument Gottes. Und auch in ihrer menschlichsten und endogensten Form ist fortuna nichts anderes als die Grenze, die unsere eigene Natur unseren Handlungen setzt, je nachdem, wie gut sie sich an die wechselnden Zeiten anpassen und mit deren Erfordernissen mithalten kann. Das bedeutet unter Umständen, daß das Schicksal überwunden werden kann, wenn sich die menschliche Natur verändern könnte und flexibel und proteisch werden würde; doch eine solche Veränderung der menschlichen Natur ist nicht möglich. Die vielfältigen und widersprüchlichen Bedeutungen von fortuna können nicht dahingehend zusammengefaßt werden, daß sie in ihrer reinen Form erscheinen; auch die Beziehungen zwischen fortuna und virtü können nicht verbindlich in einer reinen Form dargestellt werden, wie dies so oft und so erfolglos unternommen wird. Machiavellis Position in dieser kritischen Frage schwankt, oft ohne logische Konsequenz, je nach seiner allgemeinen Stimmung und je nach dem konkreten Zweck der Textstelle. In seinen sehr frühen Texten sind virtü und fortuna vereint; fortuna begleitet virtü, sie tritt als notwendige Folge auf, und der Erfolg des Talentierten wird als selbstverständlich und sicher betrachtet 206 . Doch dieser Glaube in die virtü wird durch

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die dramatischen Ereignisse von 1512 und mit der Erfahrung seiner persönlichen Verfolgung geschwächt, die den Schatten des Zweifels auf Machiavellis Seele werfen. Nun mißt sich virtü nicht mehr direkt und Stirn an Stirn mit fortuna (wie aus dem Brief hervorgeht, den er [wahrscheinlich] Ende 1512 an Soderini schrieb, Briefe, S. 183 [der Brief trägt kein Datum; Anm. d. Ubers.]), sondern zwischen die beiden tritt eine neue Prämisse: die Übereinstimmung mit den Besonderheiten der Epoche; wenn die virtü diese nicht berücksichtigt, fällt sie ins Leere, allein kann sie der fortuna nicht mehr gegenübertreten. Doch die Ubereinstimmung mit der Zeit wird durch die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur verhindert, die an eine bestimmte Handlungsweise gewöhnt ist und sie nicht ändern kann, selbst wenn sie es wollte, um so mehr, wenn dieselbe Handlungsweise unter anderen Bedingungen in der Vergangenheit günstige Resultate brachte. Im Fürst unterliegt die virtü wiederum der Beschränkung, die die unveränderliche menschliche Natur bestimmt, und noch einem zusätzlichen Element: der occasione, der Gelegenheit, die fortuna schafft und damit ein weiteres Instrument in der Hand hat, um die virtü in ihre Schranken zu weisen; wenn sich die Gelegenheit nicht ergibt, kann die virtü nicht in Aktion treten (Fürst 6). Doch die allgemeine Stimmung im Fürst ist aktiv und ermutigend, sie will die richtige Handlung und die Möglichkeiten ihres Erfolgs hervorheben; mitgerissen von dieser konstruktiven, weil auf eine Lösung der praktisch-politischen Probleme Italiens abzielenden Stimmung, führt Machiavelli die Beschränkungen der virtü vonseiten der fortuna logisch nicht fort, wobei er freilich auch zu konsequenten Feststellungen über die allgemeinen menschlichen Handlungen gekommen wäre, jedoch logische Zweifel an der Effizienz der virtü gesät und so den Tatendrang geschwächt hätte. Er betont und preist am Ende also die virtü, wenn auch mit logischen Sprüngen. Als er die Fürsten wegen ihrer Fehler kritisiert (Fürst 24), läßt er fortuna beiseite und bewertet nur die virtü, die sie an den Tag legten (während fortuna immer dann auftaucht, wenn es um die Frage der Politik geht, die befolgt werden soll und die als eine Funktion im Zusammenhang virtü - fortuna - occasione untersucht wird). Und im folgenden Kapitel (Fürst 25), nachdem er zum wiederholten Mal an die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur erinnerte, beseitigt er zum Schluß ohne strenge logische Konsequenz jeden Zweifel an der endgültigen Überlegenheit der virtü, sein Ton wird enthusiastisch und optimistisch, bis dann die fortuna einfach als Verbündete der günstigen Gelegenheit dargestellt wird, die die aktuelle Situation in Italien

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demjenigen bietet, der handeln wird; der Weg der virtü bleibt somit offen. Fortuna läßt sich nicht ausschalten, aber in der Praxis stellt sie sich so dar, daß sie für die virtü kein Hindernis ist (Fürst 26). Doch Machiavelli ist nicht immer in dieser Stimmung. In einer Zeit, da er enttäuscht ist, weil seine Anregungen letztendlich nicht aufgegriffen wurden, rekurriert er auf eine Existentialisierung des Schicksals und betont wiederholt die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur (.Discorsi 11,29 und III,9) 2 0 7 . Neben virtü, fortuna und occasione gibt es noch eine vierte konstante Größe, die eine grundlegende Bedingung für das menschliche Handeln stellt - es ist die necessita, die Notwendigkeit, der Druck, den die objektiven und die subjektiven Umstände ausüben. Unter diesem Druck stürzt sich der Mensch in Kampf und Aktion, er unterzieht sich dem Prozeß, all seine virtü zu nutzen, die als dynamische Anlage in ihm vorhanden ist; ohne necessita würde sich weder die Sprache entwickeln noch die Hand des Menschen, noch viel weniger seine sozialen und politischen Möglichkeiten (Discorsi 111,12). Ohne den Druck der necessita würde der Mensch, genußsüchtig und antriebslos, wie er von Natur aus ist, in Trägheit und Müßiggang verhaftet bleiben, er hätte keinen Grund, aktiv in die Welt einzugreifen und sie mit seiner virtü zu formen. Folglich sind virtü und necessita einander zugeordnete und sich direkt entsprechende Größen; wenn die Natur also nicht selbst die necessita bestimmt, so müssen die Gesetze sie bestimmen, damit der Mensch nicht verweichlicht (Discorsi 1,1). Es muß angemerkt werden, daß die necessita hier etwas ganz anderes ist als die überempirische Notwendigkeit, die durch göttliche Gebote auferlegt wird, oder eine mechanische, vom Willen des Menschen unabhängige Weltordnung; hier geht es um erfahrbare Umstände und greifbare Hindernisse, die den Menschen zwingen, sich seiner Position und seiner Möglichkeiten ausdrücklich bewußtzuwerden, und die ihm nahelegen, welcher Handlungsweise er folgen, welche Mittel er anwenden soll. Dieser konkrete Inhalt der necessita erlegt den Menschen jeweils unterschiedliche Verhaltensweisen auf, und die necessita selbst veranlaßt den Fürsten, zu unmenschlichen Mitteln zu greifen, wie sie auch die Bürger veranlaßt, die Gesetze einzuhalten 208 . Das Gesetz selbst ist auch eine necessita, allerdings eine sekundäre necessita und abgeleitet von einer virtü, die auch sekundär und abgeleitet ist. Das Gesetz wird durch die primäre virtü des Gesetzgebers festgelegt, die wiederum von der primären necessita der objektiven Umstände motiviert ist; und vom Moment seiner Festlegung an fun-

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giert das Gesetz selbst als necessitä, die einen bestimmten Druck auf den Menschen ausübt - nicht aber einen anregenden Druck (wie sie die primäre necessitä der objektiven Umstände auf den Gesetzgeber ausübt, damit er Gesetze schaffe), sondern es ist eher ein hemmender Druck. Das Gesetz, der Staat, hat den Zweck, entweder die egoistische Willkür der Individuen in Schach zu halten oder sie zu Tugenden zu erziehen und bei ihnen die geordnete, sekundäre virtu, die virtü des bewußten Bürgers zu festigen, oder ihnen im Falle, daß sie verderbt sind und zersetzende Neigungen verinnerlicht haben, mit Gewalt zu begegnen 209 . So ist nicht nur das gute Gesetz, sondern das Gesetz im allgemeinen und unabhängig von seinem Inhalt, an sich gut, weil es eine hemmende necessitä darstellt, die die angeborene immanente Anarchie des Individuums einschränkt, es zum Mitglied einer organisierten Gruppe macht und es mit jener Furcht versieht, die letztendlich das Moralgefühl ist (wie gesagt, dieses „Moralgefühl" ist eine weltliche Größe, ein Produkt der Gesetze und nicht eine Folge irgendwelcher göttlichen Gebote oder einer inneren Stimme). Nirgends steht, daß Machiavelli die Gesetze in „gerechte" und „ungerechte" einteilt, er spricht auch nicht vom Recht im allgemeinen; für ihn gibt es kein Gesetz und kein Recht als das, was der Staat schafft 210 . Gesetz und Recht werden vom Gesetzgeber durchgesetzt, der wie eine unerklärliche Ausnahme am zeitlichen Beginn des Staates über den Leidenschaften und über der Schlechtigkeit des Individuums steht und abwägt, welche Institutionen nötig sind, damit der Staat richtig konstituiert werde. Der Gesetzgeber ist zwar weise und uneigennützig (Discorsi 1,9), doch wenn er erfolgreich sein will, muß er ein bewaffneter und darf kein unbewaffneter Prophet sein (Fürst 6). Selbstverständlich ist es besser, wenn ein Volk unverdorben und jungfräulich ist, damit der Gesetzgeber es mit Leichtigkeit so formen kann, wie er es will (er vollbringt für Machiavelli, der hier die Metapher des Bildhauers benutzt, ein politisches Kunstwerk); weil die Menschen aber immer bestimmte grundlegende Merkmale beibehalten, kann der Gesetzgeber, wenn er die Fähigkeiten dazu hat, auch ein Volk, das schon in das Stadium des Verfalls geraten ist, auf den richtigen Weg bringen (Discorsi 1,11). Doch die Gesetze müssen nicht nur den Gegebenheiten der menschlichen Natur entgegentreten, sie müssen dazu hin auch die Bedingungen der natürlichen Umgebung ausschalten und dürfen nicht zulassen, daß ein gemäßigtes Klima oder ein fruchtbarer Boden das Volk müßig und träge macht (Discorsi 1,1). Der Glaube in die Möglichkeiten der Gesetze zeigt ganz deutlich, inwieweit nach Machiavel-

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lis Auffassung der Wille und die bewußte, zweckgerichtete Handlung über den naturgesetzlichen und mechanistischen Begrenzungen stehen. Nachdem der Gesetzgeber sein Werk vollendet hat, darf er nicht nach eigener Nachfolge streben, sondern er muß sich zurückziehen und wenn er stirbt, eine Polis zurücklassen, die normal funktioniert und leben kann, indem sie sich nach den Institutionen richtet, die er selbst begründete. Der politische Aufbau des Staates stützt sich auf ein dreifaches System aus Institutionen, Gesetzen und Sitten. Solange diese drei Komponenten im Gleichgewicht sind und die eine sich auf der Höhe der anderen befindet, ist die Gesellschaft gesund. Doch dieses Gleichgewicht hält nicht ewig; die Sitten verfallen durch Reichtum und langjährigen Frieden, der die Bürger verweichlicht, oder durch den Aufstieg bestimmter Personen über das Gesetz hinaus; bei ihrem Verfall folgen die Gesetze den Sitten, wenn auch mit dem Ziel, diese Sitten zu erhalten und ihnen wieder zum Aufschwung zu verhelfen; so geraten die Gesetze in Konflikt mit den Institutionen (die ein relativ statisches Element im Staatswesen sind, während die Gesetze relativ dynamisch sind). So verbildlicht dann der Verfall der politischen Moral die Existenz der Institutionen, der Verfassung sozusagen, wenn die Gesetze, die in ihrem Rahmen geschaffen werden, nicht mehr ihren Zweck erfüllen können, weil das isolierte Gesetz keine absolut determinierende Komponente ist; seine Leistungsfähigkeit wird von der Gültigkeit der grundlegenden Institutionen in der Praxis, des allgemeinen Rahmens für die einzelnen Gesetze, bestimmt ( D i s c o r s i 1,18). Das Gleichgewicht der drei Komponenten eines Staatswesens kann mit der regelmäßigen Rückkehr zu seinem Ursprung und mit dem Wiedererstarken seines ursprünglichen Geistes ( D i s c o r s i 111,1) sowie mit seiner ständigen Verbesserung und dem Ergreifen neuer Maßnahmen erhalten werden, denn jedes Gesetz und jede Institution, so sehr auch die Umstände sie erfordern, hat auch eine inhärent schlechte Seite, der mit einem Gegengesetz und einer Gegeninstitution begegnet werden muß (s. Discorsi 111,11: Die Volkstribunen waren notwendig, damit der Adel die Republik nicht verdarb; doch der Ehrgeiz der Volkstribunen wiederum wäre für Rom gefährlich gewesen, wenn der Senat keine Maßnahmen dagegen ergriffen hätte; s. a. 111,49). Wenn der Verfall am Ende nicht abgewendet werden kann, dann schlägt die Stunde des Fürsten, der das Staatswesen neu gliedert, das Gleichgewicht zwischen Institutionen, Gesetzen und Sitten wiederherstellt und sich nach der Konsolidierung seines Werks zurückzieht.

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Die Schaffung und die Stabilisierung der politischen Moral ist sowohl ein Werk der Enthaltsamkeit als auch der Erziehung. So wie die Gesetze auf einer allgemeinen Ebene die Natur des Menschen im Zaum halten, so können seine angeborenen Unvollkommenheiten und Fehler im Einzelfall auch durch Enthaltsamkeit gemildert werden (Discorsi 11,36). Gewohnheit und Erziehung sind Elemente, die das Verhalten der Bürger wesentlich beeinflussen (Discorsi 111,31), desgleichen die Nachahmung (Discorsi 111,29). So wird die Erziehung zu einem modifizierenden Faktor für die menschliche Natur, denn von ihm hängt gelegentlich der Ausgang der historischen Handlungen ab (Discorsi 111,43). Doch den größten gestaltenden Einfluß auf die Moral des Bürgers hat die Religion. Das Gesetz ist zwar eine weltliche Größe, dennoch ist es gut, wenn es eine Bestätigung durch die Religion erfährt, und der weise Gesetzgeber darf nicht verabsäumen, ihm diese Bestätigung zu geben, und sei es durch eine List (Discorsi 1,11 u. 12). Gesetzgeber und Fürst müssen nicht notwendig an die Religion glauben, um sie zu vertreten; man könnte fast sagen, es sei besser für sie selbst, wenn sie nicht wirklich gläubig sind, damit ihr Handeln nicht von religiösen Bindungen bestimmt wird. Die Religion bindet den Bürger an den Staat, sie ist eine positive, aktive Kraft, die die guten Sitten und die sittliche Erziehung der Bürger und damit die Fundamente der Institutionen und Gesetze stützt. Die Bedeutung der Religion beschränkt sich für Machiavelli nicht auf ihre Funktion als „Opium für das Volk", als nützliches Werkzeug der herrschenden Klasse, sondern liegt in ihrer Eigenschaft als hilfreicher Faktor für das innenpolitische Leben und den Staat als Wesenheit211. Machiavelli weiß, daß der Begründer einer Religion oder der Gesetzgeber das Volk auch betrügen kann; doch das Volk läßt sich zu seinem Vorteil betrügen, weil die Religion den Zusammenhalt und die Macht des Staates vergrößert; d. h., daß der Staat die Religion unterstützen muß, vor allem in den sichtbaren und spürbaren Manifestationen, über die das Volk mit ihr kommuniziert, nämlich über die kultischen Handlungen. Der dogmatische Teil der Religion interessiert Machiavelli nicht, für Theologie hat er nichts übrig; für ihn ist die Religion eine weltliche Institution mit staatsorientierten Zielen - ihr Wahrheitsgehalt ist ihm gleichgültig, denn Machiavelli will den Bürger nicht durch Erkenntnis stärken (wie wir dies heute verstehen), sondern er will ihn regieren, ihn zu einem nützlichen Mitglied des Staates machen 212 . Doch damit die Religion diese Funktion erfüllen kann, muß sie einen entsprechenden Inhalt haben, sie darf selbst nicht furchtsam, nicht anachoretisch sein und

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auch keine negative Haltung gegenüber dem Weltlichen predigen. Solcherart war das Christentum, dessen verweichlichende Wirkung auf die kriegerischen und politischen Sitten Machiavelli brandmarkt (besonders charakteristisch für jene Zeit ist, daß Vasari behauptet, das Christentum habe einen schädlichen Einfluß auf die Kunst gehabt), während er im Gegensatz dazu die entsprechend positiven Seiten der Götzenreligion herausstreicht (s. Discorsi 11,2 u. 111,1). In dieser Hinsicht ist Machiavelli unbewußt der Vordenker einer Idee, die eine der wertvollsten Errungenschaften der jüngeren Sozialwissenschaften ist, daß nämlich die Ideologien Einfluß auf die Herausbildung des Verhaltens einer Gesellschaft haben und daß sie nach ihrer Funktion bewertet werden müssen und nicht danach, inwieweit sie „wahr" sind. Noch fortschrittlicher ist Machiavellis Andeutung in Fürst 25, wo er die Herausbildung eines pragmatischen Urteils mit den Bedingungen der Zeit in Beziehung setzt und sagt, die Verbreitung der Erkenntnis, daß das Glück über die Taten des Menschen herrsche, liege an den großen und unvorhergesehenen Umwälzungen, die diese Epoche erschütterten. Trotz allem bleibt Machiavelli der Begriff der „Ideologie" fremd, der den heutigen Soziologen so teuer ist, so wie ihm auch der heute übliche Bezug auf die Wirtschaft als Fundament der Gesellschaftsorganisation fremd ist. Gegenüber allem Ökonomischen nimmt Machiavelli die verächtliche (und gegenüber seinem Arbeitgeber rachsüchtige) Haltung des Humanisten ein (s. den Brief an Francesco Vettori vom 9.4.1513, Briefe, S. 38f.). Darüber hinaus hegt er einen Argwohn gegenüber dem Reichtum, er betrachtet ihn als Instrument der Verderbtheit schlechthin und versäumt nie zu betonen, daß Tapferkeit und politische Moral wichtiger seien als Geld (Discorsi 11,10). In Verbindung mit der Tatsache, daß seine Zeit voller politischer und kriegerischer, nicht aber wirtschaftlicher Ereignisse war, hindert ihn diese Haltung an der Suche nach ökonomischen Faktoren als bestimmende Größen der historischen Ereignisse. Er mißt dem Wirtschaftsleben so wenig Bedeutung bei, daß er dem Fürsten empfiehlt, sein Volk dazu zu ermutigen, seinen Geschäften nachzugehen, und gleich darauf rät er dem Fürsten, er solle sein Volk durch Feste und Schauspiele unterhalten (Fürst 21). Hier ist zuallererst der politische Zweck von Interesse - die Aufmerksamkeit abzulenken und die Geschäfte werden als ein Weg dargestellt, dieses Ziel zu erreichen 213 . Dem demographischen Faktor hingegen mißt Machiavelli große Bedeutung bei. Die Uberbevölkerung führt er als einen konstanten Faktor für die Ursache

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von Kriegen (Discorsi 11,8; s. a. 11,5) und für große Völkerwanderungen an (Geschichten 1,1), während er wiederholt die Notwendigkeit betont, ein Ort müsse dichtbesiedelt und kultiviert sein, und die unfähigen Herrscher tadelt, die nicht dem römischen Brauch folgten und Kolonien gründeten (Geschichten 11,1). Eine Stadt ohne große Einwohnerzahl kann niemals mächtig und vorherrschend werden, wie das Beispiel Roms im Vergleich mit Sparta zeigt (Discorsi 11.3); zu den ersten Voraussetzungen für die Ausdehnung eines Staates gehört das vorhergehende Anwachsen seiner Bevölkerung (Discorsi 11.4). Eine wichtige Position in Machiavellis Denken nimmt ein Begriff ein, der im Epizentrum der modernen Soziologie stand, weil er indirekt mit ihrer Entstehung verbunden war: der Begriff der Differenzierung der Klassen und der Klassenkampf. Machiavelli ist der erste, der vor dem Ende des 18. Jahrhunderts den Klassenkampf zum Gegenstand einer ernsthaften Betrachtung machte und ihn mit der historischen Entwicklung und der Herausbildung konkreter Gesellschaftsformen in Beziehung setzte214. Freilich bringt er die Klassendifferenzierung nicht mit der wirtschaftlichen Differenzierung in Beziehung, er will auch hinter dem Klassenkampf keine ökonomischen und sozialen Ursachen oder Wirklichkeiten finden; er sieht die gesellschaftlichen Konflikte in ihrer erfahrbaren äußeren Manifestation, als Zweikampf zwischen Parteien, Menschen, Führern und Fraktionen, deren entscheidendes Motiv tief in der menschlichen Natur verwurzelt ist Machthunger, Ehrgeiz und Machterhalt genauso wie umgekehrt die Angst, der andere könne sich mit seinem Ehrgeiz durchsetzen. Wenn Machiavelli nun versucht, die sozialen Konflikte zu erklären, flüchtet er sich zu weiten Teilen in Interpretationen der Humanisten und der Geschichtsschreiber der Antike; er führt die Wichtigtuerei der Mächtigen an, die schlechte Behandlung des Volkes und die verschiedenen „Stimmungen" der gesellschaftlichen Gruppen, dringt aber nicht zu detaillierten Analysen vor und bleibt bei den vorwissenschaftlich umrissenen Vorstellungen der gesellschaftlichen Differenzierung stehen, wie sie empirisch auch im kollektiven Bewußtsein bestehen215. Trotzdem ist die Unterscheidung der Klassen deutlich, und die Beobachtung der dynamischen Entfaltung ihrer Konflikte offenkundig. Sicherlich hat die Florentiner Geschichte selbst zur Festigung dieser Ansicht beigetragen, nachdem sie sich so deutlich entwickelte, indem nämlich eine Klasse fiel und die nächste die Macht übernahm; dies geschah in Florenz fast mit mathematischer Ordnung und Re-

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gelmäßigkeit über drei Jahrhunderte lang, und es blieb nicht aus, daß sich dies im Denken eines Florentiner Staatstheoretikers widerspiegelte. Charakter und Ausgang der Klassenkonflikte bestimmten für Machiavelli die Eigenheit eines Staatswesens. Ein Klassenkampf, der in der völligen Spaltung des gesellschaftlichen Körpers und in der Aufreibung eines seiner Teile endet, schwächt in der Folge das Staatswesen und beraubt es der Tugenden der sozialen Gruppe, die vernichtet wurde, während die gegnerische Gruppe nun unumschränkt, tyrannisch und nur mehr gleichgültig gegenüber der Pflege ihrer Verdienste herrschen kann. Im Gegensatz dazu ist ein Klassenkampf günstig, aus dem ein Staatswesen hervorgeht, an dem die gegnerischen Klassen jeweils mit ihrer eigenen Dynamik teilhaben, wo das Staatswesen von den Vorzügen aller Klassen profitiert und sein Potential aufs äußerste genutzt werden kann. Für Machiavelli ist die umfassende Vorherrschaft der „fortschrittlichsten" gesellschaftlichen Gruppe also nicht das Wichtigste, sondern die beste Mischung aller gesellschaftlichen Elemente und die Maximierung ihrer Leistung. Die vielschichtigen und aufeinanderfolgenden Klassendifferenzierungen, die in einer einseitigen Vorherrschaft enden, schaden dem Staatswesen, während die einfachen und beständigen Klassenkonflikte sie beleben; ersteres geschah in Florenz, letzteres in Rom, mit den jeweils bekannten Auswirkungen. Der Gesetzgeber hat das Problem, die Feindseligkeiten zwischen Volk und Adel so einzusetzen, daß sie jeweils auf ihre eigene Weise derselben Staatsform dienlich sind, deren Ziel es sein soll, dem Staat die größtmögliche Uberlebensfähigkeit im ewigen äußeren Wettbewerb zu garantieren; der Gesetzgeber will keine der beiden verfeindeten Seiten vernichten, er will ihre Streitigkeiten möglichst abschwächen und das Reservoir, aus dem der Staat Kräfte schöpft, sollte nicht versiegen; er muß nur die Energie, die der Klassenkampf freisetzt, richtig kanalisieren. Eine gemischte Staatsform bedeutet keinen schwachen Kompromiß, sondern eine Verschmelzung der Möglichkeiten 2 1 6 . Da es für die konkrete Form eines Staatswesens keine allgemeine Regel geben kann, ist die beste Form diejenige, die das ganze verfügbare Potential eines Staatswesens mobilisieren und ihm erst das Uberleben und dann seine Ausdehnung garantieren kann. Diese Flexibilität bedeutet aber keine Vermischung fremdartiger und einander ganz fremder Elemente. Die vermischten Formen sind schädlich, gut sind die klaren Ordnungen, bei denen allerdings die Komponenten in einem guten Verhältnis stehen. Die Elemente, die in einer Ordnung

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existieren, müssen im Gleichgewicht sein, sie dürfen sich nicht mit Elementen aus anderen Ordnungen vermischen. Wir sehen also, daß Machiavelli das Problem der Regierungsform aus der Sicht der Staatsräson betrachtet. Er würde jede F o r m akzeptieren, die für den Staat profitabel ist; die Staaträson tendiert so zum Utilitarismus und der Utilitarismus zum Relativismus: Es gibt keine absoluten Werte; gut ist, was dem Staate nützt 2 1 7 . So ist der Wert einer Staatsform nur deshalb relativ, weil der Wert des Staates absolut ist. Für Machiavelli ist der Staat - oder jedenfalls die von einer anderen Gruppe völlig getrennte Existenz einer Gruppe von Menschen - eine selbstverständliche und unabdingbare historische Einheit, die Prämisse für Geschichte überhaupt; nur wo es einen Staat und wo Menschen ein Vaterland haben, wo sie die Inhalte und Formen ihrer geschichtlichen Existenz selbst zu bestimmen vermögen, hat die virtü den geschichtlichen und moralischen Raum, um zu wirken; nur ein strukturiertes Volk kann Politik betreiben 218 . D o c h Machiavelli unternimmt keinen Versuch, den Staat ontologisch oder teleologisch zu erfassen - man muß nichts hinterfragen, was man als natürliches und ewiges Element vor sich hat; er versucht auch nicht, eine Definition des Staates zu geben, doch dem Begriff stato ordnet er viele Konnotationen zu 2 1 9 . Der Staat ist ein greifbares und erfahrbares Phänomen, allein die Einschätzung von Situationen und das richtige Handeln sind von Interesse. Was Machiavelli allgemein über den Staat zu sagen hat, ist, daß er grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Ruhe, Sicherheit und Wohlstand befriedigt, und das Streben nach diesen Zielen die Triebkraft menschlichen Handelns ist. Es hat keinen Sinn zu untersuchen, ob diese Bedürfnisse rational sind oder nicht, auch die Bestimmung und der Endzweck menschlichen Handelns stehen nicht zur Diskussion. Auch hier fehlt jede Metaphysik, überdies werden Städte und Staaten nicht auf der Basis eines Gesellschaftsvertrags gegründet, der aufgrund des „Naturrechts" Gleichheit und Freiheit garantieren würde: Die ersten Staaten entstanden aus der Notwendigkeit zum Schutz vor Feinden, aus der Notwendigkeit, daß die Individuen Zuflucht und Unterstützung im Schöße einer Gesellschaft fanden. So stellt sich die Gesellschaft, der Staat, als Wert von Anfang an über das Individuum; er steht in keiner inneren Beziehung zu irgendeiner menschlichen Moral, der er zu dienen versuchte. Durch abwägendes Denken kann das Individuum die Staatsform bilden, doch selbst dann steht das Individuum nicht über dem Staat, sondern dient ihm 2 2 0 . Im allgemeinen folgt Machiavelli in seiner Haltung zum Staat der Staatslehre der

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Renaissance, die es sich nicht zur Pflicht macht, die Gesellschaft zu erklären; sie klärt lediglich über die Nützlichkeit des Staates auf (der in der Staatslehre der Renaissance Träger der Regierungsgewalt ist), und macht dazu bestimmte Vorschläge 221 . Unterschiedlichste Gründe veranlaßten Machiavelli, den Staat als politische Einheit und als Schwerpunkt seines politischen Denkens zu setzen. Schon zu seiner Zeit trat der Staat eindeutig als Staat auf, als selbständige Einheit, die auf eine bestimmte Art und Weise handelt, nicht nur in den großen Monarchien Westeuropas, sondern auch in Italien, wo die Stadtstaaten in ihren ständigen Auseinandersetzungen begriffen, daß sie getrennte Organismen darstellen, und begannen eine staatliche Bürokratie und eine elementare Staats- (und Wirtschafts)politik zu schaffen. Machiavelli stand im Dienst dieses neugebildeten Staatsapparates, und über seinen Arbeitsalltag gelangte er zu einer rein staatsorientierten politischen Sichtweise. Darüber hinaus veranlaßte ihn seine Arbeit, die hauptsächlich eine diplomatische Tätigkeit war und sich im Bereich der Außenpolitik bewegte, staatliche Angelegenheiten unter dem Aspekt der Standhaftigkeit eines Staates in Konkurrenz mit anderen Staaten zu betrachten; und vor allem führten ihn die großen Schwächen der Florentiner Außenpolitik - eine deutliche Widerspiegelung der inneren Instabilität - dazu, diese Frage zu vertiefen. Im Ausland, wohin Machiavelli oft reiste, hatte man nie Vertrauen in die Florentiner Politik und ihre Kontinuität, weil ihre Staatsform die Folge eines erzwungenen Gleichgewichts war, das um den Preis der Zerstückelung des politischen Körpers erreicht worden war. Machiavelli ist sich der Beziehung zwischen Außen- und Innenpolitik vollauf bewußt; er weiß vor allem, daß eine Republik wie Florenz (und im Gegensatz zu jedem Fürsten nicht notgedrungen jede Republik) im Inneren an mangelnder Entschlußkraft, Zögerlichkeit und Trägheit krankt (Discorsi 11,15). Stark bleibt nur eine Republik wie die römische, die die Könige vertrieb, aber damit nicht die drastische Konzentration der Macht an deutlichen und konkreten Polen veräußerte (Discorsi 1,20). Auch ob ein Staat Expansions- oder Isolationspolitik betreibt, wird von der Staatsform bestimmt (Discorsi 1,6). Offensichtlich bevorzugt Machiavelli einen Staat, der die Kraft hat zu expandieren; nur die rechtzeitige Ausdehnung schützt einen Staat radikal vor den ständigen und natürlichen Angriffen seiner Nachbarn. Die Konkurrenz und der Kampf ums Uberleben zwischen den Staaten währt immer, und es gibt kein anderes Ziel als Macht und Herrschaft. Machiavelli vergißt nicht, daß der Krieg schlechte Auswirkungen auf

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die Republik hat und sich dadurch die Macht in den Händen der Heerführer konzentriert (Discorsi 111,24), doch er hält dafür, daß ein Staat, der immer kriegsbereit ist, seine Regierungsform so gestalten muß, daß er jeder Prüfung mit der größtmöglichen Ausnutzung seines Potentials im oben genannten Sinne widerstehen kann. Ein solcher Staat wäre beispielsweise immer verpflichtet, seine verdienstvollsten Bürger zu benutzen (Discorsi 111,16), während der Krieg selbst reinigend wirkt, die Stärke der Gruppe weckt und ihre Einheit vergrößert. Durch die häufigen Kriege und ihre Besonderheiten rückten die Probleme der Kriegführung und der Kriegskunst in den Mittelpunkt der Thematik des 15. u. 16.Jahrhunderts. Der leichte Triumph der fremden Invasoren empörte die Gemüter und lenkte die Aufmerksamkeit auf das Problem der politischen und strategischen Schwäche der italienischen Staaten. Der Widerspruch zwischen dem kulturell und wirtschaftlich fortschrittlichen, aus strategischer Sicht aber seinen „ungeschliffenen" Nachbarn unterlegenen Italien wurde deutlich spürbar, und es stellte sich die Frage: Warum ist Italien strategisch unfähig? Warum siegen die „Barbaren" über die zivilisierten Völker? Diese Fragestellung wurde durch die damit zusammenhängenden technischen Entwicklungen erweitert - der Primat der Infanterie vor der Kavallerie und das Aufkommen der Artillerie - , die Zweifel aufkommen ließen. Die Humanisten der ersten Generation hatten Interesse an strategischen Fragen gezeigt, weil sie an der Größe Roms festhielten, die direkt mit strategischer Macht verbunden war, sie priesen die römische Mäßigkeit und besangen die spartanische Ausbildung. Doch dies ging nicht über einen rein moralischen Appell hinaus und wurde nicht mit konkreten Vorschlägen und Analysen verbunden222. Machiavellis Zeitgenossen, Guicciardini und später auch Castiglione, waren vor allem vom Unterschied in der Moral der fremden Invasoren und der Italiener beeindruckt223. Das Problem der soldatischen Moral, d. h. die Verbindung von Soldat und Bürger, beschäftigte auch Machiavelli sehr; die Beziehung zwischen Staatsformen und hinreichender Kriegführung besteht darin, daß die Staatsform Bürger schafft, die ihre Aktivität in den Dienst des Gemeinwohls stellen, das Potential der Gesellschaft maximieren und sie mit der höchsten Moral stützen oder erweitern. Für Machiavelli ist der gute Bürger eins mit dem guten Soldaten; in einer verderbten Gesellschaft kann es keine guten Soldaten geben, die Schaffung guter Bürger muß hingegen bei einer guten strategischen Organisation beginnen. Wenn ein verderbter Bürger zu einem guten Soldaten erzogen wird, wird er auch als Bürger besser; und einer

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guten strategischen Organisation folgen gute Gesetze, die wiederum gute Bürger hervorbringen. Ein gutes Heer und gute Gesetze sind Größen, die sich gegenseitig bedingen (Fürst 12 und Discorsi 111,31). Ihr gemeinsames Ergebnis und ihre gemeinsame Stütze ist der unbestechliche Bürger, der maßvolle, strenge Patriot, der das öffentliche Interesse über sein persönliches stellt und zu dessen Herausbildung die Gesetze und Institutionen des Staatswesens beitragen, die Tugendhaftigkeit belohnen und dem Hochmut Einhalt gebieten. Der Aufstieg in Amter muß nach dem Kriterium des Verdienstes, nicht des Reichtums erfolgen (Discorsi 111,25). Der Bürger muß arm sein, der Staat reich (Discorsi 11,19); das Geld verdirbt die Bürger nicht nur, es gibt ihnen auch die Möglichkeit, andere zu verderben, so daß schließlich die würdigen Bürger aus der öffentlichen Verwaltung verdrängt werden (Discorsi 111,16). Nur die Schaffung derartiger Bedingungen und derartiger Bürger macht ein Uberleben und eine Expansion des Staates möglich, denn der Staat wird vom guten Soldaten und nicht vom Reichtum oder von der vielen Gelehrsamkeit aufrechterhalten 224 . Der Bürger muß sich dem Staat als Staat unterordnen und nicht dem Staat als Vertreter alternativer Wertvorstellungen wie ζ. B. der Religion; daher schätzt Machiavelli die kirchlichen Staatsgebilde im Grunde nicht (Fürst 11). All dies macht Machiavellis deutliche und starke Abneigung gegenüber den Söldnern verständlich; seine Abneigung geht sogar soweit, daß er bestimmte reale Ereignisse verdreht darstellt, obwohl er die Söldner einerseits beschimpft, andererseits aber bewundert, wenn sie Fürsten werden. Doch Machiavelli interessiert sich nicht so sehr für die persönlichen Verdienste der Söldner als vielmehr dafür, daß ihre Existenz im Widerspruch zu den Institutionen steht, die er für ein Staatswesen für wichtig ansieht; damit widerruft er die enge Verbindung zwischen gutem Bürger und gutem Soldaten. Ihm sind die konkreten Fälle gleichgültig, in denen Söldner eine konstruktive Rolle spielten - Fälle, die für ihn auch weit entfernt sind, denn Florenz war unter den italienischen Städten immer diejenige, die am leidgeprüftesten war und am meisten Pech mit dem Einsatz von Söldnern hatte. Die einzige Lösung, die Machiavelli begrüßen kann und für die er zwanzig Jahre lang beharrlich kämpft, ist die Schaffung einer nationalen Armee, die sich aus Bauern des Florentiner Umlands rekrutiert. Doch es lag nicht in Machiavellis Hand, die Aufstellung eines nationalen Heeres mit der unumgänglichen politischen Neuordnung zu verbinden, und es scheint, als habe er in seinem praktischen Eifer ver-

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gessen, daß sich die gesellschaftliche Stellung der Bauern des Hinterlandes von Florenz wesentlich von der Stellung der Bürger Roms unterschied. Die Landbewohner von Florenz hatten keine politischen Rechte und hatten auch kein großes Interesse daran, einen Staat zu verteidigen, der sie unterdrückte; doch Machiavelli zieht sie dennoch heran - nicht um sie auf das Niveau der Stadtbewohner zu heben und sie eng an die Stadt zu binden, sondern weil sie als einzige verfügbar waren, nachdem die meisten Stadtbewohner die Wehrpflicht verabscheuten, die Bauern aber zwangsverpflichtet werden konnten 225 . Weil die gegnerischen Lager in Florenz die Schaffung einer Organisation fürchteten, die gegen jedes Lager einsetzbar wäre, wurde der ganze Plan in der Praxis vereitelt. Hinsichtlich der Kriegstaktik sah Machiavelli scharfsinnig, daß die Infanterie gegenüber der Kavallerie Vorrang hatte, und mit dem gleichen Scharfblick schätzte er die verringerte Bedeutung von Wehrtürmen und Festungen ein. In beiden Punkten begreift er sehr gut, welche Veränderungen der Niedergang des Feudaladels im Gebrauch der Waffen mit sich brachte, über die diese Klasse verfügte, nämlich Reiterei und Wehrtürme. Die Bedeutung der neuaufgekommenen Artillerie hingegen begreift er nicht und unterschätzt sie, obwohl sie schon zu seiner Zeit in Gefechten eine große Rolle gespielt hatte; der Grund aber für diese Fehleinschätzung ist ein politischer und ideologischer, kein rein strategischer: Machiavelli wollte nicht akzeptieren, daß sich ein technischer und mechanischer Faktor als entscheidend erweisen und das widerlegen kann, was ihm am wichtigsten war, nämlich die Moral des Soldaten, die mit dem Staatswesen selbst verflochten ist. Machiavelli verbindet die Schaffung eines nationalen Heers mit bestimmten Charakteristika, die sich aus der Struktur des Staatswesens ergeben und deren Reinheit und Eigenwert durch die sprunghafte Entwicklung der Kriegskunst gemindert werden könnte; wieder einmal verzerrt Machiavellis Beharren auf seinem politischen Ideal das Bild der Wirklichkeit. Zu diesem wesentlichen Grund muß hinzugefügt werden, daß die Artillerie damals noch in einem kümmerlichen Zustand war und durch den rechtzeitigen Einsatz der Infanterie neutralisiert werden konnte und daß die Absicht bestand, sie zum Gegenstand der Nachahmung der antiken Kriegskunst zu machen, was dazu führte, daß Machiavelli die Artillerie nicht wesentlich von der antiken Waffengattung unterschied. Unabhängig aber von seinen einzelnen treffsicheren Einschätzungen kann man jedenfalls sagen, daß Machiavelli Logik und Konsistenz in die Militärlehre einbrachte (er gab sich

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stolz als Experte, machte entsprechende Analysen und gab Urteile ab mit der gleichen Eitelkeit des selbsternannten Fachmanns, mit der auch Tolstoi in Krieg und Frieden strategische Situationen beschreibt); wie auch in der Politik gab er Ziele, Mittel und logische Kriterien an, von deren Anwendung das Endergebnis abhing 226 . Die Existenz eines nationalen Heeres zum Schutze eines Staatswesens ist die Voraussetzung für dessen Freiheit, denn das Heer, wie Machiavelli es versteht, besteht aus tugendhaften Bürgern, die in Selbstverwaltung ausgebildet sind; gibt es solche Bürger nicht, wird das in Knechtschaft gehaltene Volk, das Freiheit erlangt, nicht wissen, wie man mit ihr umgeht und bald wieder unter ein Joch geraten (Discorsi 1,16). Für Machiavelli steht „Freiheit" allerdings nicht in Beziehung mit einer wirklich demokratischen Verfassung, bei der das Volk an der Gesetzgebung teilnimmt, das Recht auf Gedankenfreiheit und Redefreiheit geschützt ist, es Religionstoleranz gibt und der Bürger das unverletzliche Recht hat, sich Befehlen des Staates zu widersetzen, wenn er durch diese unterdrückt wird. Für Machiavelli ist „Freiheit" ein Zustand der Sicherheit und Ordnung, der aus der Einhaltung des Gesetzes resultiert, welcherart dieses Gesetz auch ist. Doch damit das Gesetz herrschen kann, muß es im Staat ein inneres Gleichgewicht geben, und dieses Gleichgewicht garantiert in einer Republik die gemischte Verfassung. Unter diesem Aspekt ist der Klassenkampf ein Element, das die Freiheit festigt, indem er das Gleichgewicht erhält (Discorsi 1,4). Im Rahmen der Einhaltung der Gesetze bekommt die Freiheit eine bürgerliche Note: Sie ist die unumschränkte Nutzung der Güter des Einzelnen, die Möglichkeit, über Haus und Familie zu bestimmen usw., so daß der allgemeine Reichtum und Wohlstand größer werden. Politische Freiheit ist kein wesentlicher Teil der Freiheit; im übrigen spüren ihren Mangel vor allem die wenigen, die nach der Regierung streben, während die vielen sich mehr für ihre Sicherheit interessieren; außerdem sorgt sich Machiavelli nicht, weil das Volk als Ganzes nicht an der Macht teilhat, die die politische Freiheit verleiht, denn er glaubt im Grunde, daß nur wenige würdig sind, solche Machtpositionen zu bekleiden 227 . Eine solche Art der Freiheit kann es freilich nicht nur in Republiken geben, sondern auch in anderen Staatsformen wie in einer Monarchie oder einem absolutistischen Staat. Und in einer gemischten Verfassung kann entweder dem Adel der Schutz der Freiheit übertragen werden, wie in Venedig und Sparta, oder wie in Rom dem Volk (Discorsi 1,5), wenn auch die Frage, wer der Garant der Freiheit ist, mit der Fähigkeit des Staates zur Expan-

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sion zusammenhängt; R o m hat expandiert, Venedig und Sparta haben es nicht getan. Nachdem dies also der Inhalt der Freiheit ist, folgt daraus, daß verschiedene Staatsformen ihn aufnehmen können, die, trotz des Unterschieds in ihrer Form, hinsichtlich ihres Wesens identisch werden. Genau dieses Element ermöglicht den Wiederaufbau einer verfallenen Republik mit Hilfe der politischen Form des Fürstenstaates, ohne daß der äußere Widerspruch zwischen diesen beiden Staatsformen ein Hindernis für den Ubergang von der einen zur anderen darstellt. Der Verfall einer Republik geschieht über den Mechanismus, der oben erwähnt wurde, nämlich über den sukzessiven Verfall der Sitten, der Gesetze und der Institutionen, und er wird dann spürbar, wenn bestimmte Individuen sich über die Gesetze stellen und sie als staatliche und politische Faktoren verdunkeln. Das Unterscheidungsmerkmal einer Demokratie ist die ausschließliche Unterordnung aller Menschen unter das Gesetz und das elementare Streben nach dem G e meinwohl und nicht die Existenz von Debattierclubs und reinem Liberalismus, wo die Interessen autonomer Individuen aufeinanderprallen oder wo diese Interessen die politische Form angeblicher Selbstverwaltung in Gestalt von Volksvertretern annehmen 228 . Wenn eine solche Republik „verfällt" und sich bestimmte Individuen über die Gesetze erheben, gerät eine Gesellschaft in Auflösung und braucht eine starke Hand, die sie zusammenhält und wieder Fundamente legt. Die erste Pflicht des Fürsten ist es, alle Individuen zu beseitigen, die sich über das Gesetz stellen (und das sind zuallererst die Adligen); dann muß er den Wiederaufbau des Staates mit der Moral des Bürgers über eine gute Heeresorganisation verbinden, die somit den Boden bereitet für die Schaffung, Einhaltung und den Erhalt guter Institutionen und Gesetze. Parallel dazu muß der Fürst die Freiheit schützen, wie oben beschrieben, und muß dafür sorgen, für die zukünftige Republik haltbare Fundamente zu legen. Diesen intermediären Status des Wiederaufbaus nennt Machiavelli „Volksfürstentum" (principato civile) und unterscheidet es vom absolutistischen oder persönlichen Fürstentum. Das Volksfürstentum unterscheidet sich von der absolutistischen Herrschaft nun nicht nach dem Maß von Gewalt und Härte, das angewandt wird (civile hat nichts mit Uberzeugungsarbeit und weichen Methoden zu tun), sondern inwieweit der Adel beseitigt, dem Volk Sicherheit geschenkt und die Macht nicht zum persönlichen N u t zen des Fürsten ausgeübt wird. Unter diesem Aspekt trägt das Volksfürstentum die Merkmale der fortschrittlich-bürgerlichen Monarchie,

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und Machiavelli sah solche Monarchien damals mit billigendem Blick. Doch seine Sympathie lag zweifellos bei einer vitalen Republik aus unbestechlichen Bürgern und mit einer Allmacht des Gesetzes; trotzdem glaubte er fest, daß nur ein Volksfürstentum eine verfallene Republik wiederherstellen kann, und er war sich genauso sicher, daß der Fürst einen Staat besser fundieren, wie daß eine Republik ihn besser erhalten kann. Das Fürstentum ist das unumgängliche Vorspiel einer Republik, nur das Fürstentum kann der Republik den Weg ebnen. Und Machiavelli betont im Fürst die Merkmale und die Notwendigkeit eines Volksfürstentums deshalb so nachdrücklich und nachhaltig, weil er seine Zeit für zutiefst verderbt hielt; daher sind auch seine Ansichten über die Monarchie moderner, weil sie aus Elementen gewoben sind, die er entweder als Gegebenheiten oder Gebote aus seinem parallelen politischen Leben zog, während seine Theorie zur Republik manchmal aus traditionellen und klassischen Elementen gebildet zu sein scheint und auf dem Hintergrund der Bedingungen im damaligen Italien ein wenig verschroben klingt 229 . Der Unterschied zwischen Fürstentum und Republik war in der Renaissance nicht so groß wie heute, und durch die harmonische Koexistenz beider Begriffe in den Werken der Denker jener Zeit begreift man, wie auch Machiavelli diese Beziehung betrachtete; so verschwindet der vielzitierte Widerspruch zwischen dem „Monarchisten" Machiavelli und dem „Republikaner" Machiavelli, der ihn angeblich innerlich zerriß und quälte. Die Dualität dieser neuzeitlichen Sichtweise rührt daher, daß im Unterschied zum Mittelalter, wo der Mensch gebunden, die Gesellschaft aber zersplittert war, in der Renaissance sich umgekehrt der Mensch aus der traditionellen Gesellschaft befreit, während sich die Gesellschaft zu einem Staat vereint, der als Garant der Freiheit des Individuums auftritt; daraus entsteht eine duale Ideologie, nämlich individualistisch und absolutistisch zugleich 230 . In groben Zügen steht diese Dualität in Verbindung mit dem Doppelleben des Bürgertums in seiner ersten Zeit - mit seiner Hinwendung zu einer republikanischen Staatsform im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und der Hinwendung zur Monarchie im Rahmen des Nationalstaates. Doch neben diesen allgemein-historischen Gründen hat die gemeinsame Erfassung von Fürstentum und Republik als Staatsformen unter dem Begriff „Staat" zur Folge, daß beide in ihrer idealen, nicht in ihrer historischen Rezeption bestimmte grundlegende gemeinsame Kriterien aufweisen. Zuallererst müssen beide in ihrer Außenpolitik, vor allem im Krieg, dieselbe Taktik anwenden, weil der

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äußere Kampf, der Kampf ums Überleben des Staates, für alle Staatsformen gleich hart ist. Zweitens glaubt Machiavelli, daß jede Machtstruktur ihrem Wesen nach zentralisierend ist; unabhängig davon, wie eine Republik organisiert sein mag, es gelangen nicht mehr als vierzig, fünfzig Personen in leitende Positionen (Discorsi 1,16). All dies erklärt, warum die Ansicht falsch ist, es gebe einen grundlegenden Unterschied in der Haltung und in den Zielen des Fürsten und der Discorsi. Beiden Werken liegt die gleiche Auffassung zugrunde: Republik und Volksfürstentum sind inhaltlich gleich - Freiheit im Inneren und Erhalt oder Expansion des Staates nach außen. Der Unterschied ist, daß im Fürst deutlicher die Mittel zur Gründung eines Staates herausgestrichen werden, während in den Discorsi das Gewicht auf der Situation liegt, die sich historisch aus der Vorherrschaft eines Fürsten ergibt, der dem Gemeinwohl und nicht seinen persönlichen Interessen dient. In beiden Werken gibt es eine gemeinsame Problemstellung (den Wiederaufbau eines verderbten Staatswesens); sie sind im Grunde auch ähnlich in bezug auf ihre Quellen und ihr politisches Substrat sowie in bezug auf das, was sie vorschlagen und loben. Wertunterschiede gibt es genausowenig, wie es Wertunterschiede zwischen Republik und Fürstentum gibt; in den Discorsi ist die Recherche vollständiger und besser gegliedert („systematischer" würde man heute sagen), während im Fürst das Unmittelbare und Besondere vorherrscht, das, was in direkterer Beziehung zum Ruf und zur Pflicht der Gegenwart steht; daher fehlen im Fürst die Elemente der Discorsi, die nicht unmittelbar in den begrenzteren theoretischen Rahmen passen, den die drängenden praktischen Notwendigkeiten erfordern 231 . Doch auch wenn es keine prinzipiellen Unterschiede gibt, finden sich in beiden Werken Unterschiede in der Einschätzung einzelner Faktoren, die im gleichen Maß voneinander abweichen wie Republik und Volksfürstentum. Im Fürst wird die „Freiheit" passiver dargestellt, sie ist eher eine Unterordnung unter den wohlmeinenden und weisen Fürsten; in den Discorsi hingegen stellt sich die Freiheit aktiver dar, sie ist nicht nur ein Gut, sondern ein Postulat. In einer Republik hat das Volk in höherem oder geringerem Maß an der Regierung des Staatswesens teil, während seine Stellung im Volksfürstentum passiv und unbeteiligt ist - was auch eine Seite des ausgleichenden Prozesses ist, den der Fürst steuert, indem er den herrschsüchtigen Adel bekämpft: Es kommt dem republikanischen Gefühl der Gleichheit näher, wenn alle gleichermaßen einer Fürstenherrschaft Untertan sind, als daß die Gesellschaft in Adel und Volk gespalten ist (wobei

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der Adel über dem Gesetz steht, dem aber das Volk sich beugt), selbst wenn es keinen Monarchen gibt. Der Niedergang der Republik beginnt, weil der Adel mächtiger wird als das Gesetz; daher muß der Wiederaufbau der Republik zuallererst bei der Beschneidung der Rechte oder bei der Zerschlagung des Adels beginnen. Den Adel bekämpft jedoch nicht das Volk selbst, sondern der Fürst; folglich bedeutet die Zerschlagung des Adels nicht gleichzeitig den politischen Aufstieg des Volkes; im übrigen ist nicht das aktive Volk einer Republik eine Prämisse des Volksfürstentums, Prämissen sind lediglich zwei andere Merkmale: Freiheit und Gleichheit - das „politische" bios. Daher betrifft im Fürst das Postulat der virtü nur eine Person, während in den Discorsi nicht nur von der virtü des Volkes die Rede ist, sondern auch von der apersonalen virtü der Gesetze, der Erziehung und der Religion; daraus entsteht ein mehrdimensionaler Staat, der sich vom Volksfürstentum unterscheidet, nachdem dieser nur von der virtü des Fürsten abhängt. Auch in den Discorsi gibt Machiavelli den Individualismus ganz und gar nicht auf, doch hier ist der Staat nicht so anthropomorph wie im Fürst232. Auch wird im Fürst die schlechte Natur des Menschen stärker betont als in den Discorsi. Die Gewalt, die der Fürst anwendet, um seine guten Ziele zu erreichen, läßt sich nur rechtfertigen, wenn man akzeptiert, daß der Mensch nun mal eine schlechte Natur hat; die Republik hingegen setzt im Menschen auch vernünftige, moralische Kräfte voraus. Daher findet die Erziehbarkeit der Bürger auch nur in den Discorsi Erwähnung. Die einzelnen Unterschiede spiegeln sich auch im Stil der beiden Werke wider: Im Gegensatz zu dem eindringlichen, abgehackten und „diktatorischen" Stil des Fürst, ist der Stil in den vielseitigeren und sozusagen „demokratischeren" Discorsi komplexer, ausführlicher und diskursiver. Die starke Persönlichkeit des Fürsten tritt in zwei historischen Momenten hervor: Wenn er einen Staat gründet und die grundlegenden Instanzen festlegt, die für die Zukunft des Staates bestimmend sind, und wenn der Niedergang anfängt und die Gesellschaft neu aufgebaut werden muß. Im ersten Fall ist er Politiker und Gesetzgeber, der etwas Gottgegebenes und Priesterliches an sich hat, im zweiten Fall ist er der eiserne Mann, dem etwas Dämonisches und Gewalttätiges anhaftet, weil er nun gegen den Niedergang kämpfen und nicht nur aus unverfälschtem Material einen gesunden Körper schaffen, sondern auch faule Glieder abschlagen und vernichten muß. Der Gesetzgeber steht am Ausgangspunkt einer Verfassung, er schafft sie und übergibt sie dann dem Volk, das schließlich republikanisch regiert

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wird. Ein Staat, der auf seinem Höhepunkt ist, soll nach Machiavelli republikanisch sein, alle seine konstituierenden Teile sollen aktiv sein; in einem solchen Staat wäre der Versuch, einen Fürsten einzusetzen, falsch und unhaltbar (Discorsi 111,8). D e r Fürst betritt in der Situation des Niedergangs die Bühne, wenn der öffentliche Geist aufgibt und die Verderbtheit vorherrscht; wenn die Notwendigkeit zu einer Erneuerung der Institutionen und Gesetze besteht, muß ein einzelner vernünftiger und tüchtiger Mann auftreten, der dieser N o t abhilft. Doch das dürfte die anderen schwerlich davon überzeugen, daß sie die unumgänglichen Veränderungen akzeptieren müssen, denn die Menschen wollen so leben, wie sie es gewöhnt sind; wenn es also einen Wechsel gibt, dann nur mit Gewalt gegen die Gewohnheiten der menschlichen Natur (Discorsi 1,18). In beiden Fällen, sowohl in der Eigenschaft des Gesetzgerbers wie auch des Fürsten, steht die starke Persönlichkeit dem gesellschaftlichen Ganzen allein und isoliert gegenüber; im ersten Fall ist sie ein direktes und greifbares Produkt ihrer zweckgerichteten Handlungen. Machiavelli begreift die apersonalen und stufenweisen Entwicklungsprozesse nicht als objektive, weitverzweigte Ursachen und legt auch kein Gewicht darauf; in den entscheidenden und großen Momenten der Gründung und Umgestaltung eines Staates haben für ihn die Eigenschaften und die Handlungen der Individuen Vorrang. Er kennt die Veränderung historischer Stufen nur in Form von Gesetzen oder Staaten, die mit einer großen Persönlichkeit verbunden sind, welche wiederum nicht vom Volk gebildet wird, sondern im Gegenteil das Volk bildet 233 . Die Betonung der Persönlichkeit spiegelt natürlich intensiv den Individualismus der Renaissance in Machiavellis Werk wider, um so mehr, als der Individualismus mit einem anderen Charakteristikum des Weltbilds der Renaissance einhergeht: der Ratio. Die Persönlichkeit ist der natürliche Träger der Ratio, das heißt zum einen, daß die Ratio nicht von Herkunft, Rasse usw. abhängig ist (im Gegenteil: In den ersten Zeilen des Leben des Castrucdo

Castracani steht, daß alle

oder fast alle Großen niedriger Herkunft waren); Machiavelli ignoriert an diesem Punkt spontan jedes mittelalterliche Bewertungskriterium, wie er auch die mittelalterlichen überethnischen Entitäten ignoriert, aus denen überethnische Vorstellungen erwuchsen (ζ. B. das Christentum); im übrigen waren diese Entitäten schon in Individuen zersplittert, die sich in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf gestürzt hatten, und die Bewertungskriterien mußten dem Kriterium des persönlichen Verdienstes angepaßt werden. Zum anderen bedeutet dies, daß die Per-

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sönlichkeit in der Planung ihrer Politik nur von der Ratio geleitet werden kann, sie unterliegt keinen ethischen Bindungen und Prädestinationen und auch keinen Klassenbindungen. Ein Fürst kommt beispielsweise mit der Unterstützung des Volkes oder des Adels an die Macht; im zweiten Fall hat er größere Schwierigkeiten, sich zu behaupten, dennoch hat er die Möglichkeit, dem richtigen Weg zu folgen und sich unabhängig zu machen, wenn er verdienstvoll ist (Fürst 9). Machiavelli schätzt jedoch jenen Fürsten noch höher, der von Anfang an die Macht ausschließlich dank seiner eigenen Fähigkeiten übernahm, er zieht diese gänzlich neue Schöpfung, dieses neue Fürstentum vor, das von Anfang an rational und eher gemäß den Gesetzesmaximen neugestaltet werden kann als nach situativen Erfordernissen. Thema des Fürst sind daher nicht die geistlichen oder die zusammengesetzten, sondern die neuen Fürstentümer, bei denen ein Land zum ersten Mal von einer Person beherrscht wird, die ebenfalls zum ersten Mal Fürst wurde. Die Ratio führt den Fürsten auch zu extremen praktischen Konsequenzen der Trennung von Politik und Moral. Doch inwieweit er sich von der Moral entfernt, wird nicht von einer allgemeinen, prinzipiellen Haltung zu diesem Thema bestimmt, sondern von den konkreten Erfordernissen der necessitä. List und Gewalt oder deren Mischung sind weder Selbstzweck noch ein Anlaß, seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen - , sie sind unvermeidliche Mittel zur Erlangung bestimmter Ziele. Der Fürst ist ein aufgeklärter Herrscher, er hat kein Vertrauen in den Menschen, und mit Gewalt will er ihn zu einer von der Ratio geplanten Ordnung führen 234 . Da die Menschen unvernünftig und kurzsichtig sind und sich eher vom Schein verlocken lassen, als daß sie nach dem Wesen fragen, so ist auch die Heuchelei neben der Gewalt und der List eine notwendige Maßnahme des Fürsten; wenn der Fürst jedoch zum Wohle des Staates handelt, kehrt sich am Ende der Betrug in einen Nutzen für das Volk um. Der Fürst wendet auch keine überflüssige Gewalt an, er übt nur „chirurgische" Gewalt aus 235 , die nicht gleichzeitig eine Unterdrückung und Verelendung des Volkes bedeutet und deren Maß vom Ausmaß der Verderbtheit abhängt und darauf abzielt, jene Individuen auszuschalten, die zum Schaden des Volkes handeln. Und die „unmoralischen" Mittel, die der Fürst (in einem Volksfürstentum, nicht in einem absolutistischen Fürstentum) anwendet, tragen natürlich zur Festigung der Freiheit und Sicherheit des Volkes bei, weil sie dessen Feinde früher außer Gefecht setzen können. Machiavelli rät dem Fürsten wiederholt und nach-

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drücklich, er solle das Volk auf seiner Seite haben, denn die Liebe des Volkes sei mehr wert als alle Kastelle, die unvernünftige Fürsten erbauen ließen (Discorsi 11,24). Außerdem ist die einzige Grenze für das Handeln eines Fürsten nicht eine Instanz, die seinen Machtbereich einschränkt, sondern das Interesse des Volkes, in dessen Namen er gegen die Adligen kämpft 236 . Dieses Kriterium, das Wohl des Volkes und des Staates, zeigt, daß Machiavelli sich mit seinen Ratschlägen an den Fürsten eigentlich an den Staat wendet, nachdem Fürst und Staat in der Auffassung der Renaissance identisch sind; außerdem zeigt sein Gesamtwerk, mit Ausnahme des Fürst, daß sein eigentliches Ziel nicht der Fürst als solcher ist, sondern „die Regeneration eines gesunkenen Volkes ... durch die virtü eines Zwingherren und die Hebelkraft aller von der necessitä diktierten Mittel" 237 . In der Person Cesare Borgias fand Machiavelli die Verkörperung des idealen Fürsten; nicht nur weil Borgias Handlungen offenbar den Pflichten eines Fürsten entsprachen, wie sie Machiavelli verstand, sondern auch weil Machiavelli Borgias politische Aktivitäten aus dem Blickwinkel dieser Mischung aus Rationalismus, Vision und Phantasie, über die ich im vorherigen Kapitel sprach, in einer reinen Form sah, sie auf eine höhere Ebene als die gewöhnliche Politik hob und sie zum nachahmenswerten Beispiel, zum Vorbild seiner Referenz machte. Das Modell des idealen Fürsten war für ihn keine überhistorische Rezeption desselben, sondern in seinem Denken war es das gebrochene, veränderte und gereinigte Bild zweier historischer Prototypen seiner Zeitgenossen: des italienischen Fürsten mit den bekannten Merkmalen und des westlichen Monarchen, wobei der Fürst eher ins Gewicht fiel. Machiavelli nimmt das Vorbild des Fürsten nicht aus der römischen Antike, weil er der Erhabenheit des republikanischen Roms verbunden ist und das Kaiserreich als eine Zeit des Verfalls betrachtet, während er aus dem antiken Griechenland vor allem Agathokles, Agis und Kleomenes erwähnt. Somit ist die Persönlichkeit des Fürsten eine überpersönliche Synthese von Merkmalen, die sich auf verschiedene Personen verteilen, und um diese Synthese zu Kraft und Leben zu erwecken, zögert Machiavelli nicht (wie er ja auch historische Genauigkeit nie über die Ansätze gestellt hat, die ihn beschäftigten), eine von vielen Fürstenpersönlichkeiten auszuwählen und sie an den erforderlichen Stellen zu bearbeiten, bis sie seiner Idealfigur gleicht. Inwieweit der wirkliche Cesare Borgia mit dem Idealtyp des Fürsten übereinstimmte, ist ein Thema, das bis in alle Ewigkeit diskutiert werden kann; wir wissen nur mit Sicherheit, daß, unabhängig von Borgias Verdiensten

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als Individuum und unabhängig von den Absichten seiner Handlungen, die Ergebnisse, die diese hervorbrachten, in Machiavellis Denken sehr gut die Entstehung des Bildes rechtfertigten, wie wir es in Fürst 7 vorfinden. Die Romagna, Borgias Herzogtum, war (in Nord- und Mittelitalien) die Region mit den meisten Uberresten des Feudalismus und den meisten Anlässen für Feudalkriege - es gab komplexe Vernetzungen durch Ehen und Verwandtschaften, feudalistische Tributpflichten und Schutzherrschaften in großem Maßstab, eine Adelsschicht, die ausschließlich Krieg führte, das Ideal der Rittertugenden wie Ehre, Tapferkeit usw. 238 . Anstelle der sich gegenseitig zerfleischenden Lehensherrschaften setzte Borgia einen einzigen Staat, er stellte die Ordnung und den Frieden wieder her und verschaffte der Bevölkerung, die von den Kämpfen der Adligen gebeutelt war, Erleichterung - denn ein einziger Tyrann konnte schließlich nicht schlimmer sein als zwanzig Tyrannen 239 . Daß Borgia nur für Ruhe sorgte, weil er selbst diese Region in Besitz nehmen wollte, und er die Region bereitwillig dem Erdboden gleichgemacht hätte, wenn ein anderer an seiner Stelle den Nutzen gehabt hätte, spielte überhaupt keine Rolle; für seine Zeitgenossen war nur wichtig, daß Borgia das schaffte, was sie jahrhundertelang für unerreichbar gehalten hatten. Außerdem rekrutierte er Bewohner der Romagna und keine Söldner; dies war ein weiterer Grund, warum Machiavelli ihn bewunderte, ohne in Betracht zu ziehen, daß Borgia dies nur tun konnte, weil die Einwohner der Romagna im Kriegshandwerk ausgebildet waren; schließlich kamen von dort die meisten italienischen Söldner, die ihre Fürsten an andere Städte in Dienst gaben, damit sie Geld verdienten 240 . Unabhängig also von seiner Persönlichkeit und unabhängig davon, welchen Eindruck sie auf Machiavelli machte, ist wesentlich, daß aus Borgias Wirken (ob beabsichtigt oder nicht) eine staatliche Struktur hervorging, die bestimmte grundlegende Forderungen erfüllte, die Machiavelli als eine Pflicht des Fürsten herausstrich. Von nun an war jede Abrundung der Ereignisse möglich, damit sie die Form einer exemplarischen Praxis annahmen. Heute ist es nur natürlich, daß uns Machiavellis Auffassung einfältig vorkommt, die Unterwerfung Italiens unter eine Fremdherrschaft und die allgemeine „Verderbtheit" des Landes sei eine Folge bestimmter Fehler von konkreten Personen. Noch naiver erscheint uns der Glaube, es könne ein Fürst auftauchen, dessen Charakterveränderung seinen Werken vorausgeht und der in einem politischen und institutionellen Vakuum ein nationales Heer aufstellt, um die Fremden zu vertreiben und Italien zu befreien. Doch man darf nicht vergessen,

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daß die historische Bedingtheit der Führungspersönlichkeit wissenschaftlich erst im 19. Jahrhundert untersucht und erkannt wurde, während zu unseren sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen noch hinzukommt, daß die Führungspersönlichkeit aus unserer Sicht, wie sie zumindest seit einem Jahrhundert herrscht, mit relativ jungen überpersönlichen Apparaten (Parteien u. ä.) verbunden ist, mittels derer sie sich hervortut und wirkt und gewöhnlich nur in dem Maß eine Dynamik erreicht, wie sie diese Apparate auch adäquat vertritt. Durch die jüngere Wissenschaft und Gesellschaft mußten wir unsere Auffassungen von der Rolle der Persönlichkeit revidieren. Doch das ändert nichts daran, daß unsere Auffassungen verhältnismäßig jung sind und zumindest bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in der allgemeinen Einschätzung historischer Ereignisse von jeher die Heldenverehrung vorherrschte. Eine solche Kritik an Machiavelli wäre daher nur ein Gemeinplatz und eine überflüssige Bemerkung. Von Bedeutung ist hier das Verständnis, daß diese Wahrnehmung des Fürsten auf dem Hintergrund der Heldenverehrung einerseits vom Individualismus der Renaissance und andererseits von Machiavellis leidenschaftlichem Patriotismus inspiriert wurde, der ihn seinerseits zu einer aktiven und dynamischen Weltsicht führte, die wiederum eine Voraussetzung für das Handeln ist, während sich eine kausalistische Wahrnehmung der Möglichkeiten der Persönlichkeit hemmend ausgewirkt hätte. Trotz allem aber hängt im historischen Bereich nicht alles an der Persönlichkeit des Fürsten, denn sie unterliegt den Beschränkungen und den Schwankungen, die aus dem jeweiligen Verhältnis von virtü und fortuna hervorgehen. Der Fürst ist aufgefordert, alles daranzusetzen, Italien von den fremden Besatzern zu befreien. In diesem Aufruf steckt der Protest der Humanisten gegen die „Barbaren", die Italien überschwemmten, ein Protest, der vom Andenken an die Größe des antiken Rom genährt wurde. Die fremde Invasion gibt diesem Andenken in der Seele der Italiener wieder neuen Auftrieb, diesmal nicht als Rahmen gelehrter Bezüge wie in der Zeit Petrarcas und danach, sondern als Bezugsrahmen eines keimenden Nationalismus, der zwar nicht darauf ausgerichtet ist, das zersplitterte Italien zur inneren Einigung zu führen, der aber doch ganz stark das Gefühl für die Verschiedenheit der Italiener von den Fremden enthält, die in ihr Land eingedrungen sind. Doch die unklare Vorstellung von der Einigkeit Italiens, die sich auf diese Weise ergab und aus dieser Quelle hervorgeht, konnte nicht ins Klare gebracht und in konkretes politisches Handeln umgesetzt wer-

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den, obwohl sie bei vielen damaligen Zeitgenossen als Vorstellung bestand 241 . Es blieben ein Eifer und eine Stimmung bestehen, die aber am Ende in den unüberwindlichen Konflikten der italienischen Städte geschwächt und erstickt wurden. Die Gründe dafür sind objektiv: In Italien fehlte jede politische Form einer nationalen Struktur und eines Nationalcharakters, auf den sich das Nationalgefühl hätte konzentrieren und, auf Gegebenheiten gestützt, eine substantielle Form hätte annehmen können. Italiens Bürgertum kam nie ganz aus seiner „ständischen" Phase heraus, um in eine „politische" Phase einzutreten, während es nicht an den Grenzen des Nationalstaates haltmachte, als es sich von der mittelalterlich-kosmopolitischen Sicht und Existenz der Kirche löste, sondern sich noch mehr eingrenzte und in den engen Rahmen der Stadtstaaten einschloß 242 . Das wirkliche Fundament für die Vorstellung eines nach innen geeinten Italiens fehlte, und so vertritt auch Machiavelli nirgendwo eine solche Vorstellung. Er wünschte den rettenden Fürsten, damit die Fremden aus seinem Land vertrieben und dessen Unabhängigkeit garantiert werde. Wie oben erwähnt, hatte Machiavelli als Angehöriger der festangestellten Beamtenschaft immer die Florentiner Politik im Sinn und teilte deren beständige Ausrichtung wie auch deren unveränderliche Antipathien (z.B. gegenüber Venedig). Sein Patriotismus war primär auf Florenz und auf die bürgerliche Gesellschaft gerichtet. Wenn er dieses Feld verläßt, wird er leidenschaftsloser, er klingt gelehrter und ist eher mit dem Andenken Roms befaßt als mit wirklichen Analysen; Italien wird dann nicht mehr als enger politischer Verbund aller seiner Teile erfaßt, die bis dahin voneinander getrennt sind, sondern vielmehr als abstrakte politische Einheit, die den „Barbaren", die das Land besetzen, überlegen ist 243 . Eine wirkliche Einigung Italiens sah Machiavelli wohl eher pessimistisch; in einem Brief an Vettori (vom 10.8.1513, fast gleichzeitig verfaßt wie der Fürst) stellt er fest: „Was die Vereinigung der Italiener anbetrifft, muß ich lachen ..." ( B r i e f e , S. 89). Wenn auch in Italien noch keine Voraussetzungen für eine politische Einigung und für die Schaffung eines Nationalstaates bestanden, so waren in Europa - in Frankreich und Spanien - doch bereits die großen Monarchien entstanden, und dies war Machiavelli keineswegs entgangen. Die Physiognomien Ludwigs XI. und Ferdinands II. waren ihm wohlbekannt, und ihre Taten stachen ihm als denkwürdige Vorbilder ins Auge. Doch es ist unwahrscheinlich, daß er die Verbindung sah, die zwischen den Taten dieser Herrscher und der Schaffung eines Nationalstaats als solchem bestand; das, was er von seinem Für-

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sten verlangte, vom Herrscher, der Italien restaurieren sollte, war es daher, das Fundament für die Gründung eines Staates im Herzen des italienischen Stiefels zu legen, der stark genug sein würde, die anderen italienischen Staaten in Untertänigkeit zu halten und die fremden Invasoren zu vertreiben 244 . Machiavelli dachte nicht auf dem Hintergrund der im übrigen später entstandenen Kategorie des Nationalstaats, folglich beschrieb er die Pflichten des Fürsten auch nicht im Hinblick auf die historische Realisierung dieser Kategorie - eine Haltung, die mit der Struktur des politischen Bewußtseins in seiner Zeit vollauf zu rechtfertigen und zu vereinbaren ist. Machiavelli hat keine Utopie außerhalb von Zeit und Raum formuliert und verlangt, daß eine große Persönlichkeit sie allein aus eigener Kraft verwirklicht, im Gegenteil; er hat unbewußt, aber deutlich und mit Nachdruck auf politische Formen und politische Verhaltensweisen hingewiesen, die sich zwar noch nicht herauskristallisiert hatten, die aber bei der künftigen Herausbildung einer Gesellschaft, die mit dem Nationalstaat verbunden war, eine entscheidende Rolle spielen sollten. In der Zeit der Auflösung mittelalterlicher politischer Strukturen und Vorstellungen führte Machiavelli den Pflichtenkatalog des Fürsten in aller Deutlichkeit auf und integrierte sehr viele jener Elemente, die später die Charakteristika und die bewußten Merkmale der jüngeren Staaten ausmachen sollten - die Eliminierung des Feudaladels, die Schaffung einer nationalen Armee, die Stärkung der Zentralmacht usw. während er gleichzeitig auch die Bedeutung einschätzte, die eine gemeinsame Sprache sowie gemeinsame Sitten und Gebräuche für den Zusammenhalt eines Staates haben (Fürst 3). Auch wenn er die politischen und gesellschaftlichen Formationen, die in der Geschichte seiner Zeit angelegt waren, noch nicht in ihrer endgültigen Ausformung kannte, erfaßte Machiavelli mit seiner unübertroffenen politischen Genialität schon im voraus ihre wesentlichen Merkmale und zeichnete den Weg vor, den sie bis dahin nehmen sollten. Es ist nicht von Bedeutung, wenn er die eingeführten Postulate und Methoden nicht ausdrücklich mit ihren späteren Folgen in Beziehung setzte und wenn er selbst diese Beziehung auch gar nicht kannte; wichtig ist, daß alles, was er formulierte, tiefe Wurzeln in der historischen Wirklichkeit hatte und entscheidend dazu beitrug, die Spuren der Vergangenheit sichtbar zu machen und der neuen Gesellschaft ihre Waffen in die Hand zu geben. Im Lauf der Jahre und nachdem der Ruf nach einem rettenden Fürsten für Italien keinen Widerhall fand, verblassen und erschlaffen Machiavellis Vorstellungen von einem Volksfürstentum, das im Fürst

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und in den ersten Kapiteln der Discorsi als Überbrückung des Gegensatzes zwischen Republik und Monarchie dargestellt wird. Nun ist Machiavelli nicht mehr der Sekretär, der die politische Situation in Florenz von seiner beruflichen Position aus sieht und die Frage nach der Regierungsform in Zusammenhang mit der Forderung nach einem starken Auftreten des Staates in den internationalen Beziehungen betrachtet; er ist nur mehr ein Mann, der in den Dienst der neuen Herrscher treten will und sein Augenmerk hauptsächlich auf die Florentiner Innenpolitik richtet, deren Aspekte nur noch insoweit sein theoretisches Interesse wecken, als sie ihm Türen öffnen könnten, durch die er wieder auf seine Stelle zurückkehren könnte. Doch im Spiel der Innenpolitik von Florenz konnte er nicht mehr als Träger und Vordenker der Idee des Volksfürstentums teilhaben; Florenz hat eine sehr republikanische Tradition, in der das Erscheinen eines Fürsten unpassend und unwahrscheinlich und folglich etwas wäre, das außerhalb der politischen Vorstellungen der Medici lag, denen Machiavelli dienen wollte. Gleichzeitig hätte es Machiavelli daran gehindert, den Fürsten als Lösung der politischen Probleme von Florenz vorzuschlagen, weil er selbst die republikanische Tradition der bürgerlichen Gesellschaft verinnerlicht hatte; diese Schwierigkeit hätte zweifellos noch mehr dazu beigetragen, die Vorstellung von einem Volksfürstentum aufzugeben. Die konkreten Erscheinungsformen der Florentiner Innenpolitik sind ihm so nah, und er trägt sie so sehr in sich (gleichzeitig ist seine Beschäftigung damit die einzige Möglichkeit, seine persönlichen Ziele zu verwirklichen), daß ausschließlich sie sein Denken formen; und während er sich beharrlich mit jeder dieser vielen Erscheinungsformen beschäftigt und sie nacheinander durchgeht, läßt er sich dazu verführen, sie eigenständig und isoliert zu untersuchen; er geht unbewußt dazu über, sie praktisch und empirisch zu betrachten, und vergißt dabei, oder wagt es nicht mehr, ihnen seinen theoretischen Ansatz in aller Klarheit gegenüberzustellen. Wie oben erwähnt, hat Machiavelli mit dem Begriff des Volksfürstentums den Gegensatz zwischen Republik und absolutistischer Herrschaft überbrückt, denn Republik und Volksfürstentum behalten die grundlegenden Merkmale von Freiheit und Gleichheit bei, und bei beiden steht der Adel nicht über dem Gesetz, sondern ist ihm untergeordnet. Nun aber fangen beide Begriffe an, sich zu differenzieren, und polarisieren sich schließlich so, daß am einen Extrem die Republik steht, gleichbedeutend mit Gleichheit, und am anderen Extrem der absolutistische Staat, gleichbedeutend mit Ungleichheit. Als unabdingbare Voraussetzung für die

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Einsetzung eines Fürstentums oder einer Monarchie wird nun nicht die Eliminierung des Adels betrachtet, sondern dessen Existenz oder dessen Ernennung (Discorsi 1,55). Die Monarchie wird nunmehr eindeutig verstanden, in der Form der feudalistischen Pyramide, die gegenseitige Abhängigkeiten setzte und den König einschränkte; vergessen ist das Volksfürstentum, das die Grenzen zwischen Monarchie und Republik verwischte. Republik und Monarchie werden streng getrennt, und nur die Republik in der einen oder anderen Form bietet sich als Lösung für die Probleme von Florenz an, während die Monarchie um so eher ausscheidet, als sie in einer solchen Form verstanden wird, die mit Republik und Gleichheit nichts mehr gemein hat 245 . An diesem Prozeß der Umkehrung der Begriffe sieht man, daß Machiavellis Ideengeschichte in gewisser Weise seiner persönlichen Geschichte folgte, und in dieser Hinsicht ist es ganz typisch, daß dieser extreme Gegensatz von Republik und Monarchie in der Eingabe hervorgehoben wird, die er 1519 oder 1520 Kardinal Giulio de' Medici unterbreitete. Gleichzeitig mit der Vorstellung des Volksfürstentums verblaßt und entfernt sich auch das Bild seiner Inkarnation: des Fürsten. Der Fürst ist nun keine Figur mehr, die jederzeit die politische Bühne betreten kann und die Politik nach den Erfordernissen der necessitä und mit den Mitteln, die diese verlangt, neu gestaltet, er ist nur mehr eine Vision und eine Erinnerung, die in die Vergangenheit projiziert und in Personen wie Theoderich oder Castruccio Castracani idealisiert wird, während die zeitgenössischen Herrscher, je weniger sie imstande sind, richtig zu handeln, desto mehr bittere Urteile auf sich ziehen (Kriegskunst VII). Den Herrschern werden nun keine konkreten und lebendigen Anregungen mehr gegeben wie im Fürst, sondern (und das schon ab Buch II der Discorsi) sie sind eher aufgerufen, das römische Vorbild nachzuahmen. Die Vollkommenheit dieses Vorbilds hängt wie ein Tadel über dem damaligen Niedergang, und das untadelige Beispiel steht vor den Geboten, die aus der konkreten historischen Situation als Antwort auf die Probleme hervorgehen, die sie primär stellte. So fällt das Gewicht auf die Nachahmung (wie aus der Kriegskunst deutlich hervorgeht), nicht auf die Initiative; das zeigt, in welche Ausweglosigkeit die realen Aussichten und Möglichkeiten des Handelns geraten sind. Es ist ganz natürlich, daß nun wieder mehr Betonung auf die zu allen Zeiten unveränderliche menschliche Natur gelegt wird, durch die nicht nur die Nachahmung des Vorbilds, sondern auch die Wiederholung der Fehler wahrscheinlich wird 246 . Die heroische und

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enthusiastische Zeit des Fürst ist vorüber, Machiavelli ist von U n sicherheit und Pessimismus durchdrungen, und dies führt dazu, daß der Enthusiasmus seines Denkens, welcher das stärkste Motiv für ein Handeln war, verloren geht.

VI Das historische Schicksal Machiavellis und des „Machiavellismus" kann als bezeichnend und als Extremfall der Wissenssoziologie studiert werden. Die Erscheinung jedes Denkers ändert sich freilich von Epoche zu Epoche, doch vielleicht spiegeln die verschiedenen Zeiten und die verschiedenen Lager keine so deutlich wider wie die Machiavellis. Aus einem einleuchtenden Grund: Machiavelli berührte spontan, direkt und unumwunden bestimmte entscheidende Punkte des politischen Verhaltens der Menschen, die, zumindest bis heute, ihr politisches Handeln mit „ideologischen" Mäntelchen behängten. Doch die widerstreitenden Lager oder Individuen treten nicht als erklärte Träger der realen Mittel, die sie benutzen, und der realen Resultate, die aus ihrem Handeln hervorgehen (und die sie selbst auch in den seltensten Fällen kennen), in die politische Arena; vielmehr kommen sie auf den Kampfplatz als Vertreter unterschiedlichster Auffassungen und Ideale, die als schützende und täuschende Hülle ihres wahren Gesichts fungieren und in deren Namen sie kämpfen und Anhänger werben. Folglich wirkt sich jedes Niederreißen der Maske, jedes Offenlegen der wirklichen Prozesse, die hinter dieser Maske ablaufen, hemmend auf die Dynamik eines Lagers aus. Sicherlich hatte Machiavelli nicht die Absicht, die „Ideologien" aufzudecken und die Menschen vor deren Einfluß zu schützen, indem er sie auf den wahren Inhalt dieser Ideologien hinwies, im Gegenteil - er selbst akzeptierte die Ideologie als unvermeidlichen Teil der politischen Praxis und betrachtete deren „unmoralische" Mittel, als unverzichtbare Waffen des Fürsten, freilich jenes Fürsten (und das ist wichtig), der für die höheren Ziele von Wiederaufbau und Uberleben des Staates kämpft. Daß Machiavelli die Frage nach Ziel und Mittel aus dieser Perspektive sieht, bringt jenen politischen Lagern wohl dennoch wenig Trost, die, wie gesagt, maskiert auf die Bühne treten und ihre Anziehungskraft auf die Maske stützen und nicht auf ihre Person; für diese Lager ist allein der einfache Hinweis auf die UnVerhältnismäßigkeit von Ziel und Mittel ein Faktor, der (wie sie richtig spüren) ihr Tun unterminiert. So drastisch

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und so nützlich Machiavellis Lehren für den engen Kreis der unmittelbar politisch Handelnden sind, so schädlich erweisen sie sich für dieselben Personen, wenn sie zum Gemeingut werden und die Niedrigkeit ihrer Mittel in den Augen der bedingten oder wirklichen Anhänger einen Schatten auf die kunstvolle Uberhöhtheit der Ziele wirft. Voltaire schrieb anläßlich des Antimacbiavell Friedrichs des Großen richtig: Wenn Machiavelli einen Fürsten als Schüler gehabt hätte, so hätte er ihm als erstes geraten, ein Buch gegen den Machiavellismus zu schreiben und somit seine Maske und den Glanz seiner Anziehungskraft zu wahren. Voltaire spürte, daß Machiavelli, nur indem er die (für ihn jedoch notwendige) moralische Inkongruenz von Zielen und Mitteln ansprach, objektiv nicht nur die Position jeder politischen Person und jedes politischen Lagers angriff, sondern auch Personen oder Lager, denen er vielleicht helfen wollte. Und von dem Moment an, da er den neuralgischen Punkt der Politik berührte, war es unausweichlich, daß er zum Stein des Anstoßes und zur Person wurde, an der sich die Geister scheiden. Besonders typisch ist, daß die Flüche, die über ihn gesprochen, und die Hymnen, die auf ihn gesungen wurden, nur in geringem Maß von einer Kenntnis seines Werkes begleitet sind - das erst in jüngerer Zeit in seiner Gesamtheit eine weitere Verbreitung erfuhr - und lediglich die Haltung widerspiegeln, die die soziale oder politische Position seiner Kritiker und seiner Lobredner verlangt. Daß die Legende Machiavelli die Kenntnis Machiavellis ersetzte, ist ein negativer, aber schlagender Beweis dafür, wie hart die Winde dem Florentiner Sekretär ins Gesicht wehten. Zu seinen Lebzeiten hatte Machiavelli nicht den Ruf eines Denkers und Schriftstellers; er war viel eher als Dichter und Komödienschreiber bekannt. Außerdem wurden seine beiden Hauptwerke, Discorsi und Fürst, erst 1531 und 1532, also nach seinem Tod, gedruckt. Doch auch als Manuskript rief der Fürst weder einen Skandal noch Uberraschung hervor; wenn etwas Derartiges vorgefallen wäre, hätte es in den Texten der damaligen Zeit und natürlich in Machiavellis Korrespondenz Erwähnung gefunden. Niemand verurteilte sein Werk aus Gründen „sittlicher Werte", und wenn jemand nicht damit einverstanden war, wie Guicciardini, lagen die Gründe dafür anderswo. Vettori hingegen lobte es, und Papst Clemens VII. [1478-1534, Papst ab 19.11.1523] war davon nicht negativ berührt - er übertrug Machiavelli sogar die Niederschrift der Florentiner Geschichte. Doch kurze Zeit später wurde der Fürst zum Objekt wilder Plagiate eines gewissen Agostino Nifo, eines erbärmlichen Philosophen, der sein „Werk"

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Karl V. widmete. Schnell war Machiavelli in die Konflikte der Florentiner Innenpolitik hineingeraten. Kurz vor seinem Tod wurden die Medici zum zweiten Mal verbannt, kehrten aber nach drei Jahren wieder zurück. Es kam zu einer schlimmen Schreckensherrschaft und zu Vertreibungen; die verfolgten Gegner der Medici verfluchten Machiavellis Andenken, der zu seiner Zeit eben diesen Tyrannen habe Ratschläge geben und ihnen schmeicheln wollen; Machiavellis Freunde verteidigten ihn mit dem Argument, daß er in Wirklichkeit die Herrschaft der Medici habe untergraben wollen - hier finden sich die Anfänge der „demokratischen" Interpretation Machiavellis. Schließlich wandten sich beide Lager gegen ihn, sowohl die Freunde als auch die Feinde der Medici - die Feinde aus besagten Gründen, die Freunde, weil sie nicht vergessen konnten, daß Machiavelli ein Getreuer Soderinis gewesen war. In der Zwischenzeit erlebte die Reformation ihre Blüte. Die katholische Kirche spaltet sich, ordnet sich neu, dehnt ihren Herrschaftsbereich in Italien aus und beginnt mit der systematischen Verfolgung ihrer politischen und geistigen Gegner. Machiavelli, der antipäpstliche Patriot, der Kirche und Religion den Interessen des Staates unterordnete, wurde zum Objekt scharfer Polemik von Seiten der Jesuiten, der Vorkämpfer für die Unterwerfung des Staates unter die Kirche. Im Jahr 1559 wird sein Bildnis verbrannt, er steht auf dem Index; Vervielfältigung, Verkauf und Besitz seiner Werke sind somit verboten ein Dekret, das vom Trienter Konzil bzw. 1564 vom Papst bestätigt wurde. Die Gegenreformation schart die katholischen Könige um die Kirche; der Monarch muß ihr treuer Sohn und ein Kämpfer in Christo sein und dessen Gebote befolgen, folglich muß er auch allen Mitteln des Teufels angewidert abschwören: Was braucht er die Ratschläge eines Machiavell, wenn er Gottes Wegen folgt? Der Name Machiavelli ist nun fast gleichbedeutend mit der Macht des Bösen, und Geistliche, die nie ein Werk von ihm gelesen haben, schreiben eine Menge Bücher gegen ihn, doch der Haß der Katholiken kann die Sympathie nicht aufwiegen, die ihm die Protestanten entgegenbringen. Den protestantischen Herrschern kam Machiavellis Position der Unterordnung der Kirche unter den Staat zwar zupaß, doch seine deutliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Dogma und das, was sie als Machiavellis Immoralismus betrachteten, machten ihn dem noch strengen religiösen Bewußtsein der Protestanten unsympathisch. Machiavelli wird also zum gemeinsamen Sündenbock der widerstreitenden Lager, während er gleichzeitig in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts keinerlei Ein-

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fluß mehr auf die Entwicklung des politischen Denkens ausübt; einerseits weil die religiösen Konflikte ihre Richtung ändern, andererseits weil die Fremdherrschaft zersetzende Auswirkungen in Italien hat. Pessimismus und Hermetismus, die sich schon bei Guicciardini finden, vertiefen und verfestigen sich zu unüberwindlichem Konservatismus und unüberwindlicher Zurückhaltung. Das einzige, was Paruta (15401598) und Ammirato (1531-1601) einem Fürsten zu raten haben, ist, in Mäßigkeit zu leben, sich nicht zu sehr zu öffnen und sein Fähnchen nach dem Wind zur drehen. Für Botero (1540-1617) ist das Wichtigste der Erhalt eines Staates und nicht dessen Gründung, und eine zentrale Stelle in seiner Staatsräson nimmt das Zusammenfallen von kirchlichen und staatlichen Interessen ein, wie es bei der spanischen Monarchie der Fall war. Doch ebenso antimachiavellistische Ansichten vertrat auch Boccalini (1556-1613), ein Gegner dieser spanischen Monarchie und ein Freund der „Demokratie", der tief durchdrungen war vom Pessimismus und das Gefühl hatte, in einer wilden Welt zu leben, die zerrissen war vom Eigennutz der Herrscher (dafür ist für ihn natürlich Machiavelli verantwortlich) und in der es nur noch ganz wenige Ecken gab, wo man sich dem sachlichen Bechreiben widmen konnte; eine solche Ecke war für ihn Venedig. Auch Campanella (1568-1639) mochte Machiavelli nicht; er störte sich am Liberalismus des Florentiners und an seiner Ansicht, die verschiedenen Religionen seien ein Instrument des Staates. Er klagt Machiavelli an, die Beziehung zwischen Himmel und Erde nicht zu sehen, in der sich Geschichte ereignete, und nur das Besondere zu behandeln, während er das Allgemeine beiseite ließ. Doch für Campanella konnte die Politik nicht von den anderen Sphären des Lebens isoliert werden, die in direktem Kontakt mit dem Göttlichen standen, also auch mit der Moral; außerdem war er der Meinung, das Handeln des machiavellischen Fürsten könne nur von einem finsteren Egoismus beseelt sein, der völlig unvereinbar ist mit dem Gerechtigkeitsgefühl, das in einem idealen Staat herrschen müsse 2 4 7 . Verschiedene Gründe sprachen dafür, Machiavelli und den „Machiavellismus" im Frankreich des 16. Jahrhunderts zu ächten. Hier kam die Reaktion von jenen Bürgern, die bereits konservativ geworden waren, gleichzeitig waren sie schon so mächtig, daß sie den Monarchen lediglich als ihren ehrwürdigen Beschützer betrachteten. Ideologisch befand sich das Bürgertum in einer wirren Situation. Es hatte sich noch nicht so sehr vom geistigen Erbe des Mittelalters gelöst wie Machiavelli (außerdem hatte sich die Monarchie in Frankreich nicht auf die

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bahnbrechende Weise in eine fortschrittliche und zentralistische gewandelt, wie Machiavelli vorschlug.) Es gab keinen neuen Herrscher in einem Volksfürstentum, sondern der Monarch war Erbe und Verteidiger legitimer feudalistischer Rechte; das Bürgertum in Frankreich brachte seine Postulate mittels einer umfangreichen Moralphilologie vor. Ihr bedeutendster geistiger Vertreter, Jean Bodin (1530-1596), nimmt das grundlegende Postulat Machiavellis für eine starke Zentralmacht auf. Doch er will einen König, der seinem Volk ein guter Vater ist, ohne Pomp und ohne viel Gewalt, ohne eine unsinnige Besteuerung des Bürgertums, jedoch mit ausreichend Macht, um die Bürger zu schützen. Da der Staat auf die Gerechtigkeit baut, würde jeder „Machiavellismus" verschwinden, gleichzeitig wäre die einzige Einschränkung des Monarchen die Gerechtigkeit. Bodin billigt in diesem Rahmen die absolute Macht des Herrschers sowie den Begriff der Staatsräson; darüber hinaus rezipiert er wie Machiavelli den Staat über seine konkreten Träger. Freilich gerät das Bild des „gerechten Herrschers" in offenkundigen Widerspruch mit dem damals verbreiteten dämonischen Bild des machiavellischen Fürsten, und Bodin, der die moralischen Vorbehalte des Bürgertums teilt, klagt Machiavelli in vielen Punkten an und verachtet ihn überdies als Empiriker, weil er selbst, im Gegensatz zu Machiavelli, der dogmatischen Anlage seiner Lehren große Bedeutung zumaß 2 4 8 . Die Hugenotten ihrerseits, die französischen Protestanten, sind per defintionem Antimachiavellisten; sie sind gegen die Zentralmacht, die den Staat auch religiös einen will und die Hugenotten verfolgt. Folglich haben sie allen Grund, den Monarchen als Träger der satanischen Vorstellungen und Methoden Machiavellis zu sehen und nicht als den „gerechten Herrscher" Bodins. Als die Interessen des Adels Ende des 16. Jahrhunderts in der Hugenottenbewegung stärker hervortraten, störten sich ihre Vertreter nicht nur am machiavellischen Bild des Herrschers und an der Unterordnung der Religion unter den Staat, die die „Gewissensfreiheit" ausmerzte, sondern auch an Machiavellis bekannter Kritik am Adel; dies bringt Gentillet (ca. 1535-1595) deutlich zum Ausdruck. Zuvor wurde die Bartholomäusnacht dem Einfluß zugeschrieben, den Machiavellis Lehren auf Katharina von Medici hatten - dem unreinen Geist, den sie aus Florenz nach Frankreich mitgebracht hatte. Jedes Lager beschuldigte seine Gegner des „Machiavellismus"; somit sind alle Machiavellisten und Antimachiavellisten zugleich. Die Jesuiten bezeichneten Bodin als Machiavellisten, weil er kein rechtgläubiger Katholik war; die französischen Verfechter der Monarchie bezeichneten ihrerseits

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die Jesuiten als Machiavellisten, wobei ihnen die Hugenotten beipflichteten, die wiederum aber die Beschuldigung, Machiavellisten zu sein, gegen die Monarchisten richteten und damit die Meinung der Jesuiten teilten. Kurzum, jeder Antimachiavellismus entsprang einer anderen Quelle und hatte unterschiedliche Inhalte, die mit Machiavellis Person und Werk nichts zu tun hatten. Im elisabethanischen England war Machiavelli ein Synonym für Unglaube und Missetat. Hunderte von Malen wird er in diesem Sinne in der Literatur der damaligen Zeit erwähnt und spricht etwa als Figur in Christopher Marlowes Der Jude von Malta sogar den Prolog. (Bei Shakespeare tritt er in Die lustigen Weiber von Windsor 111,1,104, in Heinrich VI., erster Teil, IV,1,74, und im dritten Teil, 111,2,193, auf.) Für die abgerundete und harmonische Weltsicht der Elisabethaner war Machiavelli die Personifizierung des Bösen und Verderbten, all jener Mächte, die das Gleichgewicht, die Eigenständigkeit und das Gemäßigte des englischen Universums bedrohten249. Das Problem, das sich in England durch die soziale Entwicklung stellte, war nicht die Stärkung der Monarchie, sondern deren Begrenzung und deren Kompromisse mit den übrigen staatlichen und sozialen Kräften; daher rief das Bild des Herrschers, der sich aller Mittel bedient, um sich eine übermächtige persönliche Position zu verschaffen, heftigen Widerstand beim englischen Bürgertum und ganz allgemein im englischen Volk hervor. Doch hinter den Kulissen wurde Machiavelli von Sachkundigen gelesen. Thomas Cromwell, der berühmte antipäpstliche Kanzler Heinrichs VIII., berief sich oft auf Machiavelli, während Bacon Machiavellis antischolastischen, lebendigen Geist pries, in dem er eine Verwandtschaft mit seinen eigenen experimentellen und empirischen philosophischen Ansichten sah. Doch der geeignete Boden für die Rezeption von Machiavellis Grundgedanken fand sich nicht im England des 16., sondern im Frankreich des beginnenden 17. Jahrhunderts. Dort hatte die Monarchie eine ganz andere soziale Funktion als in England; sie war eine Kraft, die den Staat politisch und ideologisch einte, indem sie die Macht an einem Pol konzentrierte, die feudalistische Reaktion ausschaltete und dem Bürgertum fast freie Hand ließ. Die Monopolisierung der Macht und die Unterordnung der Kirche unter den Staat waren die beiden wichtigsten Aufgaben, die die Monarchie nun zu bewältigen hatte, und Machiavelli gab ihr die geistigen Waffen in die Hand, beide zu lösen. Die größten Persönlichkeiten der Zeit, in der sich diese Aufgaben stellten und gelöst wurden, waren Heinrich IV. und Richelieu, beide passionierte Leser Machiavellis.

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Doch als die absolutistische Monarchie endgültig gefestigt war und die räuberische Militärherrschaft in einen behördlich geordneten Zentralstaat mündete, betrachtet der unumstrittene Erbkönig den vorherigen Herrscher, der extreme Mittel anwandte, um seine Macht zu behaupten, als einen vom Glück begünstigten Übeltäter und nicht als seinen Vorläufer und Vorfahren. Die Macht des rechtmäßigen Königs ist von einem göttlichen Heiligenschein umgeben, mit dem sich auch Ludwig XIV., der Sonnenkönig, schmückte, und sie hat natürlich nichts mehr mit den Merkmalen gemein, die Machiavelli der Herrschaft eines Fürsten verlieh, der „durch Verbrechen" an eine labile Macht kam. Der Monarch, der nun fest auf dem Thron sitzt, hat es kaum mehr nötig, Gewalt anzuwenden, er will sich mit dem Volk versöhnen und verwirft Machiavelli, der angeblich seine Vorgänger zu deren Brutalitäten verleitete. Diese Strömung wird im 18. Jahrhundert stärker, in der Zeit der „Aufklärung" und der „aufgeklärten" Herrscher. Aus den Randbemerkungen, die die berühmte Christine von Schweden in ihr Exemplar des Fürst schrieb, geht hervor, wie sich ihre tiefe Bewunderung für einen Fürsten, der dafür kämpfte, seinen Staat zu einen und zu stabilisieren, nun mit der neuen Rezeption des aufgeklärten Herrschers vermischte, der sich als Vertreter und Diener seines Volkes gibt und nicht als Verkörperung des Staates. Der Herrscher, der seine Untertanen unterdrückt, erscheint in dieser Rezeption wie ein barbarischer und unbesonnener Mensch. Der Optimismus der Aufklärung hat zur Folge, daß der Mensch und auch der Untertan aus einer anderen Perspektive als der von Machiavelli betrachtet wird; der Mensch gilt nicht als Träger einer schlechten Natur, sondern als vollendbares und für die Ratio offenes Wesen, so daß Gewalt überflüssig ist. Es reicht also aus, wenn der Herrscher aufgeklärt, moralisch und tugendhaft, vernunftbegabt und ein Philosoph ist. Dieser Geist der abstrakten hohen Gesinnung regiert im bereits erwähnten Antimachiavell Friedrichs des Großen. Friedrich hält sich nicht an den Grundgedanken Machiavellis, daß der Fürst zum Wohl seines Volkes handeln muß, sondern er isoliert die Mittel, die Machiavelli dem Fürsten aufzeigt, und stellt sich vor, daß er diese gegen sein Volk und nicht gegen die Feinde der Einheit und des Überlebens des Staates wendet. Dennoch weiß Friedrich nur zu gut, daß das Überleben des Staates im außenpolitischen Konkurrenzkampf eine Voraussetzung für die Ausübung einer aufgeklärten Innenpolitik ist, weil so die inneren Bedingungen für Sicherheit und Ordnung entstehen, die eine Ausweitung der politischen Rechte, Religionstoleranz u. ä. erlauben. Daher

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neigt Friedrich unbewußt zu einer Doppelstrategie; offenbar verurteilt er eine „machiavellistische" Innenpolitik, in der Außenpolitik aber hegt er keine Abneigung gegen entsprechende Methoden (in der Tat erwies er sich sogar als sehr virtuos in ihrer Anwendung). Die historischen Bedingungen seiner Zeit (die Stabilität der Monarchie im Inneren) erlaubten Friedrich nicht, die konkreten Bedingungen zu sehen, die Machiavellis Fürsten einheitliche Methoden in der Innen- und der Außenpolitik auferlegten. Darüber hinaus wurde Friedrichs Schwierigkeit beim Verständnis von Machiavelli auch noch von der ahistorischen und abstrakten Formulierung der Ideen der Aufklärung vergrößert, die sich völlig von der konkreten und empirischen Begrifflichkeit der Renaissance unterschied; wenngleich Friedrich in der Praxis ein Empiriker und Realist war, entsprach seine Denkweise doch dem abstrakten Denken der Aufklärung 2 5 0 . Dennoch enthält die Aufklärung in ihrer Gesamtheit auch Aspekte, für die man in Machiavelli einen deutlichen und glühenden Befürworter sehen konnte. Besonders war die Aufklärung vom Geist des Liberalismus und des Antiklerikalismus beseelt, und mit diesem Punkt ging die bekannte antipäpstliche Haltung Machiavellis mühelos einher, wenn sich auch dessen Haltung gegenüber der Religion im allgemeinen wesentlich von der Position der Vertreter der Aufklärung unterschied; doch als sich die geistigen und ideologischen Bewegungen auf dem Höhepunkt ihres Handelns befanden und Mitstreiter und Vorkämpfer gesucht wurden, um ihren Einfluß zu stabilisieren, war keine Zeit für derartige Spitzfindigkeiten und Begriffsklärungen. Machiavellis Grabmal in Santa Croce mit der lobpreisenden Inschrift stiftete der Großherzog der Toskana (und „aufgeklärte Herrscher") Leopold I., Sohn Maria Theresias und späterer Kaiser von Osterreich, der sich in ständigem Konflikt mit Kirche und Papst befand; die Bedeutung dieser Handlung ist somit klar. Im anderen Lager der Aufklärung wiederum nimmt Rousseau Spinozas Ansicht wieder auf und behauptet, Machiavelli habe nur so getan, als gebe er den Tyrannen Waffen in die Hand, in Wirklichkeit habe er das Volk informieren und bewehren wollen. U n d von den Fraktionen der Französischen Revolution vergöttern ihn die Jakobiner, die dem geistigen Erbe Rousseaus näherstehen wollen, und sehen ihn als einen Denker, der zum einen mit seinem Werk indirekt den Haß auf die Tyrannen schürte und zum anderen den revolutionären Kräften die Mittel aufzeigte, die sie anwenden müssen, wenn sie die Rettung des Vaterlandes zum höchsten Gebot erheben. Wenig später wird Napoleon zu einem erklärten Bewunderer

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Machiavellis; er hat seine Werke immer bei sich, liest sie und verbreitet diese Strömung in Paris; doch diese Neigung hat andere Gründe als Napoleons früherer oberflächlicher Kontakt mit den Jakobinern. Auch er ist ein „neuer Herrscher" und er braucht die Moral und die Mittel des Mannes, der es aus eigener Kraft geschafft hat und sich auf seine persönlichen Verdienste stützt; gleichzeitig hat er nicht das Gefühl, daß er sich mit dem Volk identifiziert oder lediglich sein Vertreter ist, er findet, daß er über dem Volk steht und der Kopf ist, der alle Kräfte des staatlichen und nationalen Organismus aufbieten will selbstverständlich um so mehr, als er sich täglich mit Bedrohungen von außen und den Problemen der Herrschaft über eroberte Völker auseinandersetzen muß, was auch für den machiavellischen Fürsten ein entscheidendes Feld für Herausforderungen und Mitteleinsatz darstellte. Als Feind Napoleons, des „unmoralischen" Herrschers aus eigener Kraft und ohne jede Tradition, als Verteidiger der angestammten Privilegien der Könige und Vertreter einer degenerierten Form der aufgeklärten Herrschaft sieht freilich Metternich Machiavelli ganz anders. Die Stunde für die feierliche Rehabilitierung Machiavellis schlägt Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich die großen Nationen, vor allem Deutschland und Italien, ihrer inneren Einheit sehr bewußt werden und danach streben, diese in der politischen Form des Nationalstaates zu konkretisieren. Vor allem Machiavellis Patriotismus tritt nun in den Vordergrund, während Machiavelli selbst als Prophet des Nationalismus gilt, als inspirierter Vertreter der Mittel und Wege, mit denen die nationale Einheit erlangt werden kann. Anders als in Deutschland beginnt die nationalstaatliche Bewegung in Italien nicht monarchistisch, sondern republikanisch, aufgeklärt und antipäpstlich. U m Machiavellis „Immoralismus" diesem Rahmen anzupassen, unternehmen Alfieri und Foscolo [Vittorio Alfieri, 1749-1803, „Del principe e delle lettere" 1778; Ugo Foscolo, 1778-1827, „Fama e vita di Nicolo Machiavelli", in: F., Prose politiche e letterarie, VII, Firenze 1973, S. 1 9 63] wieder eine „republikanische Interpretation" seines Werks, die auch Rousseau vertrat, und übernehmen die romantische Theorie von Machiavellis innerer Zerrissenheit. Doch je mehr die Realisierung der Einigung Italiens naht, desto deutlicher wird, daß künftig die politische Form die Monarchie sein wird; der „Republikaner" Machiavelli tritt in den Hintergrund, und sein Patriotismus wird mit der Person des rettenden Herrschers verbunden. Diese patriotisch-monarchistische Haltung, die die patriotisch-republikanische ersetzt, kommt deut-

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lieh in Zambellis Werk über Machiavelli zum Ausdruck 2 5 1 , und sie spiegelt sich auch in den Ansätzen zur wissenschaftlichen Erfassung von Machiavellis Werk wider, die in der Zeit des Risorgimento unternommen wurden und zu denen u.a. auch die bekannte Arbeit von Pasquale Villari zählt. In Deutschland hatten die Napoleonischen Kriege den lokalen Nationalismus wieder angefacht, und durch die demütigende Fremdherrschaft hatten die Deutschen das Fehlen eines starken Staates so schmerzhaft empfunden wie Machiavellis Zeitgenossen; der damals noch junge Hegel sieht in Machiavelli den glühenden Patrioten und erkennt die Notwendigkeit der von ihm vorgeschlagenen Mittel an. Für Hegel ist der Staat, der „vernünftige" Staat, eine Errungenschaft des Geistes, er ist dessen Krönung. Folglich wird mit Hegel die alte Dualität zwischen dem realen, empirisch erfahrbaren und dem rationalen, dem besten Staat ausgeglichen. Staatsräson wird generell mit Ratio gleichgesetzt, die Frage nach der Moralität der Mittel aufgehoben 252 . Hegel und Machiavelli stimmen auch in der Auffassung überein, der Krieg und der Wettstreit mit anderen Staaten sowie die Fähigkeit zum Uberleben gehörten zum Wesen des Staates. Wenn Hegel und Machiavelli neben dem patriotischen und staatlichen Postulat über einige logische Brücken miteinander in Beziehung gesetzt werden, so unterschied sich der „Machiavellismus" von Anfang an grundlegend von dem stark moralischen Charakter der Philosophie Fichtes; dennoch schätzte Fichte, der auch von glühendem patriotischen Empfinden durchdrungen war, Machiavelli genauso wie Hegel und vergaß erst einmal die rationalen Postulate seines philosophischen Systems zugunsten von Nation und Staat, die übrigens auch auf ihre eigene Weise moralische Größen sind. Die Wertschätzung Machiavellis und seines Fürst auf der Grundlage der Erfordernisse einer nationalen Einigungsbewegung dauerte in Deutschland noch lange an 253 . Auch die historische Methode des 19. Jahrhunderts, auf deren Hintergrund historische Phänomene unter den Bedingungen ihrer Entstehung betrachtet werden, gibt Machiavelli ihrerseits recht. Machiavelli wird nun in seiner Zeit betrachtet, und seine politischen Ansichten werden mit deren Charakteristika und Postulaten in Beziehung gesetzt; das nimmt ihnen den Aspekt des satanischen Gedankenguts, das auf gewisse Weise aus einem überhistorischen Reich des Bösen auftauchte und von Anfang an ein Gegenspieler des lichtvollen Reichs moralischer Ordnung ist. Doch die logische Extrapolation der historischen Methode ist die absolute moralische Relativität; und wenn die moralische Relativität als organischer Teil des Historismus aufgefaßt

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wird, könnte der „Machiavellismus", d. h. nicht die Trennung, sondern der inhärente Gegensatz von Politik und Moral eine Methode werden, welche die historische Epoche überwinden könnte, die ihn hervorbrachte, er könnte ein Gesetz werden, das für alle Epochen Gültigkeit besitzt; der Historismus würde in den überhistorischen Immoralismus münden. Doch die Vorkämpfer und Begründer der historischen Methode, allen voran Ranke, waren aus allgemeineren weltanschaulichen Gründen nicht geneigt, solche Schlußfolgerungen zu ziehen, und so grenzten sie das Werk Machiavellis durch dessen Positionierung in seiner Epoche im Grunde ein. So wird die Ansicht vertreten, in Machiavellis politischer Philosophie drückten sich ausschließlich die Erfordernisse und die Bedingungen seiner Zeit aus, somit habe sie keinen dauerhaften Wert und könne die politischen Probleme anderer Epochen nicht sinnvoll behandeln, vor allem in deren Beziehung zur Moral. Machiavelli als glühender Patriot, der die notwendigen Maßnahmen zur Rettung seines Vaterlandes vorschlug, in der konkreten Situation, in der es sich befand, wird moralisch „rehabilitiert", unter der Bedingung, daß er in seiner Zeit bleibt und keine Zwietracht in späteren Epochen sät, die sich ja historisch von Machiavellis Zeit unterscheiden und „unmoralische" Mittel vielleicht gar nicht anwenden müssen. Auf diese Weise gerät unsere Hierarchie der moralischen Werte nicht ins Wanken. Auf dem Hintergrund dieser Unschlüssigkeit wird Machiavelli von Leopold von Ranke, aber auch von Macaulay betrachtet, der die persönliche Moral und den Patriotismus des Florentiners lobte, dessen politischen Thesen aber eine generelle Gültigkeit absprach 2 5 4 . Gervinus' Kritik schwankte zwischen dem Historismus und den Erfordernissen des deutschen Nationalismus, die ich im vorigen Abschnitt erwähnte. Später führten die Erfolge auf dem Weg zur nationalstaatlichen Einigung und die große philosophische Tradition des Idealismus in Deutschland zu einer (in der Theorie) noch nachdrücklicheren Aufhebung der Trennung von Politik und Moral und zur Entstehung einer neuen theoretischen Synthese dieser Größen. Heinrich von Treitschke akzeptiert als Fundament des Staates die Macht, folglich auch die mit ihrer Erlangung verbundenen Umstände nicht aber die Macht als Ziel des Staates. Ziel müssen Gerechtigkeit und Moral sein und deren stete Vervollkommnung, zu der auch das einzelne Individuum verpflichtet ist. Treitschkes historische Sicht ist individualistisch und entspringt dem subjektiv-moralischen Idealismus Fichtes (während Ranke vom objektiven Idealismus Hegels herkommt und die Persönlichkeit in Verbindung mit apersonalen histo-

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rischen Kräften sieht). Doch ebendiese individualistisch-moralische und gegen den Machiavellismus gerichtete Auffassung Treitschkes, der vom Staat fordert, so moralisch zu handeln wie ein Individuum, trägt den Keim einer machiavellistischen Auffassung ungewollt in sich: Wenn nämlich der moralische und politische Bezugspunkt des Staates das starke Individuum, die große Persönlichkeit ist, so ist der Abstand zum Fürst ziemlich gering. Aus einem anderen Blickwinkel scheint an diesem Punkt das nationalistische Postulat, die Maxime des starken Einzelnen durch, der eine zersplitterte Nation einen kann was Mommsen genau zur damaligen Zeit zu seiner Kaiserverehrung führte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nimmt das Interesse an Machiavelli ab. Der bürgerliche Liberalismus in Europa stabilisiert sich im parlamentarischen System und bringt eine heuchlerische politische Moral hervor, die den „Machiavellismus" heftig ablehnt, auch wenn die Vertreter des Parlamentarismus häufig und ausdrücklich die Notwendigkeit eines „Mikromachiavellismus" im Stile Talleyrands anerkennen und sich dessen virtuoser Anwendung rühmen. Andererseits kommt die sozialistische Bewegung auf, deren erklärtes Ziel die klassenlose Gesellschaft und die Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche ist - folglich auch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen politischem Sein und politischem Sollen und somit die endgültige Uberbrückung der Kluft zwischen Politik und Moral. Der Sozialismus erkennt zwar an, daß Machiavelli ein einzigartiges Bild des Kampfes um die Macht in der Klassengesellschaft gezeichnet hat, verwirft aber auch den „Machiavellismus" und nimmt zu Machiavellis Werk eine distanzierte, wenn nicht feindselige Haltung ein, denn die Trennung von Politik und Moral ist für Machiavelli unaufhebbar, weil sie mit der menschlichen Natur zusammenhängt - und wenn das stimmt, dann ist das Ideal der klassenlosen Gesellschaft nicht erreichbar, eben die Ubereinstimmung von Politik und Moral, die dazu führt, daß sich beide in einer Gesellschaft vollständig freier Menschen aufheben 255 . Kriege, Revolutionen, Globalisierung, die nie gekannte Schroffheit und Nacktheit, in der sich in den letzten fünfzig Jahren der Menschheitsgeschichte das Problem der Beziehung zwischen Moral und Politik stellte, riefen Machiavelli wieder mit trauriger Aktualität auf den Plan. In den letzten Vorkriegsjahren und in der Nachkriegszeit wurden Hunderte und Aberhunderte von Studien über Machiavelli als Person und über sein Werk verfaßt. Das ist gar nicht merkwürdig. Über andere Wege und mit anderen sozioökonomischen Inhalten machte die

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Geschichte wieder grundlegende Faktoren der machiavellischen politischen Betrachtung aktuell: der Staat als weltliches Prinzip, der sich auf die Macht stützt und alles dem Streben nach seiner Stabilisierung und Expansion unterordnet; der Herrscher, nun nicht mehr als Interimsmacht, die die Gesellschaft wiederaufbaut, sondern als Krönung und Ausdruck ihrer monolithischen Beständigkeit; und die Trennung von Politik und Moral, die heute unendlich viel augenfälliger ist, weil die UnVerhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel noch größer wird, wenn die Zwecke nicht die üblichen praktischen und prosaischen sind, sondern wenn es sich um hochtrabende weltgeschichtliche Ziele handelt, die die modernen „Ideologien" mit messianischem Eifer und dem Anspruch auf Ewigkeitsgültigkeit aufstellten. Die relative soziale und moralische Autonomie der Machtapparate, die all diese Erscheinungen mit sich brachten, führte dazu, daß Machiavelli - wie gesagt, entschuldigt, aber dennoch fälschlich - als ein kühler Anatom und Techniker der Macht in ihrer reinen F o r m betrachtet wird. D a Machiavelli selbst als Wissenschaftler mit deutlich ontologischer und nicht normativistischer Orientierung galt, ging man davon aus, daß der Weg auch offen sei für eine rein wissenschaftliche Einschätzung. Doch Machiavelli und auch gewisse grundlegende Anregungen und Einsichten, die sich mit seinem Namen verbinden, müssen nicht dem Bereich theoretischer Einschätzungen verhaftet bleiben, weil diese von selbst dazu tendieren, sich mit realen Situationen zu verbinden, die immer wieder in der Geschichte auftreten, und ideologische Waffen im Streit der gegnerischen Parteien zu werden. Das größte Paradox unserer Zeit, daß sie mit Millionen entschlossener Kämpfer für die Utopie kämpft und in der blindesten Globalisierung versinkt, gab der Dialektik der Beziehung O p f e r - T ä t e r eine neue Form, und der „Machiavellismus" ist eine Anklage, die von beiden Seiten im Kampf erhoben wird. In den Moskauer Schauprozessen bezichtigt der Täter, mit Wyschinskis Stimme, das Opfer, Lew Kamenew, Autor einer umfangreichen Einleitung zu einer Ausgabe von Machiavellis Werken, des „Machiavellismus" 2 5 6 ; indem der Täter (sie) die Option einer sauberen Politik verteidigt und den „Machiavellismus" heuchlerisch verdammt, verschafft er sich ein Alibi, eine ideologische Maske, um sich zu bedecken und frei zu handeln; so unterscheidet sich seine Haltung nicht wesentlich von der Haltung der Bürgerlich-Liberalen. Doch kurz vor 1956, als die russischen Panzer den Arbeiteraufstand in Budapest blutig niederschlagen, wird die Anklage des Machiavellismus vom Opfer, Imre Nagy, gegenüber dem Täter erhoben 257 . Die Anklage des Täters

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wie auch des Opfers sind beide gleichweit von der wissenschaftlichen Wahrheit über Machiavelli entfernt - die erste basiert allerdings auf Heuchelei, die zweite auf Protest und Kampf; auch sind sich die Funktionen, die sie erfüllen, diametral entgegengesetzt: Im ersten Fall wird kaschiert, im zweiten Fall aufgedeckt. Auch in Zukunft wird die Anwendung des „Machiavellismus" als politische und ideologische Waffe von den Charakteristika und dem Ausgang der sozialen und ethnischen Konflikte abhängen. Theoretisch kann man drei Optionen aufzeigen: Erstens, der „Machiavellism u s " wird mit der Aufhebung der Trennung von Politik und Moral in einer humanen Gesellschaft verschwinden; zweitens, er wird bis in Ewigkeit bestehen, weil die Trennung von Politik und Moral immanent ist, und er wird nicht nur praktisch bestehen, sondern er wird das Bewußtsein der Menschen auch quälend spalten; drittens, die Trennung von Politik und Moral wird in der Praxis nicht aufgehoben, sondern sie herrscht in einem Maße vor, daß die moralische Seite schwindet und in Vergessenheit gerät - in einer historischen Phase, in der die Barbarei, wie technologisch verklärt auch immer, ein selbstverständlicher und unbeschwerter Lebensstil für Leute mit Gehirnwäsche wird, die jedes Problem nur technisch behandeln und lösen; dann wird das Leistungsprinzip die Stelle der Moral, des humanistischen Ideals, einnehmen. Doch daß diese drei Optionen hier formuliert wurden, bedeutet nicht, daß wir alle drei vor uns haben und wählen können, indem wir von außen jede einzelne abwägen; wir sind schon mitten auf dem Weg zu einer dieser drei Optionen, wobei der Impetus auf diesem Weg von großen und berühmten Ereignissen sowie von unserem täglichen Tun bestimmt wird und wobei die Heterogenität der Ziele immer virulent ist. Dieser historische Impetus, der entsteht und der sich allmählich im Chaos der einzelnen Ereignisse verändert, zwingt uns, wenn nicht zum Pessimismus, so doch zum Skeptizismus.

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Sombart, S. 19. Zur „Ökonomisierung der Kräfte", s. ebd., S. 400 f. Zum „Fleiß", s. ebd., S. 142. Martin, S. 51. Auf die Analogie zwischen Geld und Intellekt wies schon Simmel hin; vgl. a. Marx, S. 232. Dören, S. 656. Burckhardt, S. 276. Martin, S. 2. Vgl. Sombart, S. 69 ff. Burckhardt, S. 94. Dilthey, S. 18 f.; er stellt einen künstlichen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Punkten her und schreibt: „Zurückziehung in sich selbst" beginne in der Literatur mit Seneca und Mark Aurel, sie wird mit Augustinus, der cluniazensischen Bewegung und den Franziskanern weitergeführt und von Petrarca aufgenommen. Burckhardt, S. 209. Ebd., S. 226 f. Ebd., S. lOOff. Ebd., S. 233 ff. Ebd., S. 106 ff. Hauser, S. 247 ff. Eine schöne Ausführung dazu findet sich bei Valery, S. 39 ff. und passim. Burckhardt, S. 60 f. Spirito, S. 29. Kofier, S. 175 ff. Martin, S. 26. Dören, S. 477ff.; vgl. a. Kofier, S. 180. Martin, S. 56. Villari (1877), S. 200. Burckhardt, S. 358. Das zeigen die Gerüchte, die nach dem Tod von Papst Alexander VI. kursierten; s. Villari (1877), S. 386. Russo, S. 158 f., vertritt überzeugend die Meinung, daß Machiavelli in der Novelle Belfagor nicht, wie allgemein angenommen, gegen die Leidenschaften der Eheleute polemisiert, sondern gegen den Aberglauben und die Leichtgläubigkeit des Volkes, das glaubt, Savonarola spreche mit Gott (Discorsi 1,11). Sombart, S. 77ff.; vgl. a. Martin, S. 12.

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Anmerkungen

Burckhardt, S. 52 f. und 57 ff. Ulimann, S. 101 f. Burckhardt, S. 73. Chabod, S. 42 ff. und 49 f. Siehe a. Cobban, S. 311. Burckhardt, S. 14 f. Ebd, S. 35 f. und 69. Villari (1877), S. 9 ff. Sombart, S. 82 ff. Martin, S. 14. Dören, S. 524 f. Dobb, S. 192. Zur Entwicklung des Geldwesens, s. Dören, S. 647 ff. Dören, S. 472. Marks, S. 146. Dören, S. 642 und 680. Ebd., S. 673 f. Martin, S. 71. Zur Abhängigkeit von den Feudalhöfen, s. Antal, S. 21 f. De Sanctis (1941), S. 542 ff. Meinecke (1963), S. 30 ff. Ulimann, S. 205 ff. Villari (1882), S. 214 ff. Mounin, S. 143 f. Windelband, S. 266 ff., und Logothetis, S. 751 f.; zum indirekten Widerhall dieser Gedanken bei Thomas von Aquin, s. ebd., S. 681. Zu Pombonatius, s. Lange, S. 103 ff. Vgl. Villari (1877), S. 444 f. Villari (1883), S. 332 f. Gramsci, S. 9. Dilthey, S. 31. Meinecke (1963), S. 37. Chabod, S. 383 f. Sasso (1967), S. 61 ff. und 72 f. Auf Sasso geht der schöne Vergleich von Machiavellis moralpolitischem „cosmos" und dem entsprechenden „cosmos" bei Thrasymachus und Thukydides zurück. Croce (1945), S. 21 ff., und (1967), S. 174 ff., sieht diese Dialektik zwischen Politik und Moral bei Machiavelli nicht und hebt ausschließlich ihre Trennung hervor, denn er projiziert die Größe von Machiavellis Denken auf seine eigene Philosophie der „Stufen" des Geistes. Er will Machiavelli als einen Philosophen sehen, der zwischen beiden Bereichen vermittelt, und hebt dessen Denken auf einen unangemessen modernen Stand, s. dazu die Bemerkung bei Chabod, S. 254. Haie (1966), S. 158. Vgl. Cassirer, S. 180 f., und de Sanctis (1943), S. 323. Bronowski/Mazlish, S. 52; danach stützt sich Machiavelli neben der empirischen Seite seiner Methode auch auf Axiome, vor allem auf die Gleichförmigkeit der Menschennatur, die die Stelle der unveränderlichen Materie bei Galilei einnimmt.

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Perotti übersetzte Polybius als Auftragsarbeit für Papst Nikolaus V. Diese Übersetzung, bis zum 5. Buch, erschien 1473. Es ist nicht nachzuvollziehen, wann und wie Machiavelli Kenntnis vom 6. Buch erhielt, obwohl behauptet wird (s. Hexter, S. 87 ff.), dies sei 1515 geschehen, denn davor könne er mit der Niederschrift der Discorsi nicht begonnen haben; s.a. Dilthey, S.28, und Villari (1882), S.257f. Die Behauptung Diltheys und vieler anderer, kein Schriftsteller habe Machiavelli so sehr beeinflußt wie Polybius, ist nicht fundiert. Selbst wenn Machiavelli einen wesentlichen Teil unverändert von Polybius übernahm (was nicht der Fall ist), so baute er dennoch sein Denksystem nicht darauf auf - wenn es überhaupt ein solches System im Wortsinne gibt. Und wenn er dann auch noch Punkte in sein Denken integrierte, die sich in der Kreislauftheorie wiederfinden, erfuhren diese Kriterien mit Polybius nur eine Untermauerung, entstanden aber in anderen Zusammenhängen. Im übrigen würde Machiavellis Fähigkeit, sein Denken auf einen theoretischen Ansatz zu stützen, den er von einem Schriftsteller übernahm, voraussetzen, daß diese Fähigkeit sehr viel abstrakter und theoretischer, ja cartesianisch war, als es in Wirklichkeit zutrifft. Eine zyklische Geschichtsauffassung findet sich auch bei anderen Schriftstellern jener Zeit, die mitnichten von Polybius beeinflußt waren, ζ. B. bei Luigi da Porto, s. Haie (1960), S. 97, und bei Vasari, der sich auf diesem Hintergrund mit der die Geschichte der Malerei auseinandersetzte, s. Croce (1915), S. 193 f.

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Die folgenden Paragraphen stützen sich auf die Schlußfolgerungen aus der detaillierten Begriffsanalyse bei Sasso (1958). Vgl. ebd., S. 348 ff. Ebd., S. 358 ff. Zu Machiavellis Rezeption der Naturkatastrophen, s. Discorsi 11,5. Sasso (1958), S. 340. Vgl. Sasso (1967), S. 283 ff. Ebd., S. 293 f. Gerade im Kontext der allgemeinen Betrachtung der Epoche stehen Sassos Analysen zurück. Aber die allgemeine Betrachtung muß das letzte und wahrscheinlichste Kriterium sein, sonst hören die Diskussionen um die Bedeutung von Machiavellis Textstellen vielleicht nie auf, wenn man auch noch die widersprüchlichen Inhalte und den interpretatorischen Eifer der Forscher in Betracht zieht. Chabod, S. 213. Vgl. a. Kofier, S. 197 f. Chiapelli, S. 84 ff. Spirito, S. 22. Bronowski/Mazlish, S. 37. Vgl. Renaudet, S. 132. Dilthey, S.29, und Kofier, S. 198. Wenn allerdings Dilthey von der „instinktiven unmethodischen Kraft", und dem „Abscheu gegen Deduktionen" spricht, ist er sich nicht gewahr, daß er seiner eigenen Behauptung widerspricht: „... jedoch ist die Einheit des Genius in seinem Denken."

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Anmerkungen

Spirito, S. 124. Sasso (1967), S. 323 ff. Vgl. Allen, S. 472. Cassirer, S. 201; er charakterisiert den Fürst als ein rein „technisches Buch". Haie (1966), S. 152. Vgl. Romilly, S. 298. Renaudet, S. 167. Vgl. Haie (1966), S. 174. De Sanctis (1943), S. 105. Diesen Sinn hat das ironische Epigramm über Piero Soderini, s. Russo, S. 222; vgl. a. Ridolfi, S. 318. Eine eindringliche Charakterisierung bietet Vespasiano, S. 149, mit der Episode über König Alfonso von Neapel, der darauf verzichtete, die genuesische Flotte, die den Hafen Neapels belagerte, mit technischen Mitteln zu zerstören, weil er dies mit den ritterlichen Tugenden nicht vereinbaren könne; s. Martin, S. 9. Spirito, S. 42 f. Meinecke (1963), S. 34 und 36. Schmid, S. 19. Weber, S. 125. Dören, S. 668. Diese Beziehung des enggefaßten rationalen, technischen Elements zu den übrigen inneren Kräften, die Machiavellis Denken ausmachen, wurde vielfach behandelt. Für Cassirer, S. 189 f., ist die rein technische Seite des machiavellischen Denkens vorherrschend, eines Denkens, das der naturgesetzlichen Betrachtung der Wirklichkeit entspricht; Machiavellis offenkundiger Patriotismus ändert daran nichts Grundlegendes. Dieser Ansicht schließen sich u.a. auch Freyer, S.92ff., und Lerner, S. X X V und XLV, an. Für Russo, S. 191 ff., herrscht das Element der politischen Technik vor, wobei diese Technik nicht nur eine kühl berechnende Seite besitzt wie für Cassirer und Freyer, sondern auch eine ausgeprägt künstlerische Seite, wo die Imagination eine wichtige Rolle spielt. Das künstlerische Element betont auch Spirito, S. 40 f. - das wissenschaftliche Denken wird zum lyrischen Höhepunkt; so erklärt sich Machiavellis Dualität: kühler Rechner auf der einen und glühender Patriot auf der anderen Seite. Allerdings behauptet Spirito, S. 46 f., Machiavellis künstlerisches Ideal, das Vaterland, werde von seinem Agnostizismus bekämpft und getrübt, er verspüre zwar die Liebe zum Vaterland, doch er lebe sie auf einer philologischen und abstrakten Ebene; das Vaterland werde zu einem Gebilde, das vom Mythos Rom genährt werde und wo letztendlich die Rhetorik vorherrsche. Gramscis Ansicht, S. 119, entspricht eher den Tatsachen: Die Technik, die Machiavelli im Fürst lehrt, gehe weit über die Erfahrung der Herrscher hinaus, Machiavelli wollte ihnen eine zusammenhängende Regierungstechnik beibringen, die auf einen Zweck abzielt, nämlich auf die Erschaffung eines Staates. Der Fürst ist also kein Werk von unmittelbar wissenschaftlich-deskrip-

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tiver Absicht, sondern von „unmittelbar politischer Leidenschaft", und die vorgeschlagenen Mittel beziehen sich auf die notwendige Struktur einer bestimmten Politik, auch wenn daraus „rein politische" Elemente hervortreten. Für Russell hingegen, S. 518 ff., sind Patriotismus und politische Virtuosität unvereinbar. Berenson, S. 54 ff. und 73. Vgl. Spirito, S. 57 ff. Wie Renaudet, S. 73, fälschlich annimmt. Vgl. Villari (1883), S. 72. Horkheimer, S. 12 ff. und 31 ff., übersieht das stark praxisorientierte und patriotische Interesse Machiavellis und behauptet, trotz seiner zeitgenössischen Betrachtungsweise schöpfe er aus der Geschichte, aus der Vergangenheit, als einer Quelle zum Studium der normalen Phänomene; so komme Machiavelli zur Behauptung über die Gleichförmigkeit der Menschennatur usw. Machiavelli wird nicht als lebendes Wesen betrachtet, das greifbare Widersprüche auf sich vereint, sondern als Entwicklungsstufe der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Damit fällt das gesamte Gewicht natürlich nicht auf die Gesamtbetrachtung, sondern auf die Elemente, die mit der einen oder anderen Betrachtung über die Entwicklungslinien der Philosophie zusammenfallen. Das ist nicht unerlaubt und auch nicht fruchtlos; indem er jedoch große Zeitabschnitte zu Einheiten zusammenfaßt, reißt er die einzelnen Denker auseinander; daher muß eingangs auch dieser besondere Ansatz erklärt werden. Russo, S. 174. Meinecke (1946), S. 127. Allen, S. 450 f. Schmid, S. 42. Renaudet, S. 133 und 220. Mounin, S. 14 f. und 144. Kofier, S. 198. Mattingly (1965), S. 24 und 27. Ebd., S. 55 ff. Vgl. Meinecke (1963), S. 35. Mattingly (1965), S. 63 ff. Ebd., S. 97 f. Ebd., S. 106 f.; vgl. a. Haie (1957), S. 270. Villari (1877), S. 211. Haie (1966), S. 2 f. Villari (1882), S. 220 ff. Haie (1966), S. 19. Biagio Buonaccorsi, ein Freund Machiavellis, schrieb die Geschichte von Florenz, die die Zeit seines eigenen Dienstes in der Signoria abdeckt. Francesco Vettori schrieb die Geschichte seiner Zeit, während auch Filippo de' Nerli und Iacopo Nardi Geschichten ihrer Zeit schrieben. Mit Guicciardini wurde Machiavellis Beziehung erst viel später enger. Villari (1877), S. 373. Haie (1966), S. 152, und Chabod, S. 377.

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Anmerkungen

Chabod, S. 286, 300 und 357. Er bemerkt, daß die Referenz auf den Fehler Cesare Borgias, Julius II. als Papst zu akzeptieren (Fürst 7), schon in den Berichten von 1503 aus Rom enthalten ist (S. 312 f.); auch daß im Bericht vom 21. November 1500 aus Frankreich schon in nuce das 3. Kapitel des Fürst enthalten ist. Haie (1966), S. 98 f. Vgl. Martin, S. 36-39. Burckhardt, S. 122. Vgl. Villari (1877), S. 88. Die Anwendung der humanistischen Bildung in der Politik wurde auch noch dadurch erleichtert, daß die Humanisten anfangs der Rhetorik und der Moralphilosophie näher stehen als der philosophischen Tradition an sich (s. zu dieser hilfreichen Unterscheidung Kristeller, S. 17ff. und 94f.). Die Vereinigung dieser beiden Traditionen in der Person der Humanisten vollzieht sich später, als sie sich aus dem öffentlichen Leben und von den politischen Interessen zurückziehen und der neoplatonischen, teilweise auch der aristotelischen Tradition näherkommen. Genau dieses Verhaftetsein der Humanisten in der Rhetorik und in der Moralphilosophie führt dazu, daß sie die aristotelisch-scholastische Tradition, die sich um die Logik und um die Naturphilosophie dreht, nicht ernstlich angreifen können, weil sie sich nicht ernsthaft mit deren Problemen befassen (ebd., S. 46) und ihre Beschäftigungen nur als Teil des Gesamtwissens betrachten, auch wenn es offensichtlich eklektischer ist (ebd., 102 f.). Diese Unterscheidung gilt bis ins 16. Jahrhundert, dann wird die aristotelische Naturphilosophie verdrängt. Zwei schöne Beispiele für solche Bezüge führt Villari an, (1877), S. 216, und (1883), S. 271 f.; das erste Zitat ist aus einem Brief König Ferdinands von Aragon - den Giovanni Pontano verfaßte - an seinen Gesandten in Rom; im zweiten Fall ist es die Argumentation Morones, der den Markgraf von Pescara, General Karls V., für seine berühmte Verschwörung gewinnen wollte. In De principe von Pontano lesen wir, daß der Fürst gut, gerecht usw. sein und natürlich die Gebildeten beschützen muß. In De infelicitate principum von Poggio Bracciolini wiederum erfahren wir, daß das Leben des Fürsten ein Martyrium aus Sorgen und Nöten ist, während nur die Privatleute und die Philosophen glücklich sind. Bracciolini schildert fremde Orte und gibt, wenn auch stilisiert, Informationen über deren Geographie, Sitten und Gebräuche. Hier findet sich einer der direktesten und fruchtbarsten Einflüsse der antiken Historiographie, der auch ganz deutlich auf byzantinische Historiker zurückgeht. Eine ergreifende Episode findet sich bei Villari (1877), S. 274. Im Jahr 1498 riefen die Florentiner den Söldnerführer Paolo Vitelli (der später geköpft wurde), damit er die Führung ihrer Truppen übernehme. Marcello Virgilio empfing ihn mit einer Rede auf Lateinisch, die Rede wurde jedoch unterbrochen, als die Astrologen, die zu jener Stunde nach guten Omina suchten, der Meinung waren, diese seien nun aufgetaucht und der Augenblick sei günstig, Vitelli den Kommandostab

Anmerkungen

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zu überreichen. Solche Episoden sagen sehr viel mehr über die Zeit aus als Analysen, die diese Zeit als Höhepunkt des Rationalismus darstellen. Kofier, S. 180. Randall, S. 184. Renaudet, S. 21 ff. Auf die gleiche allgemein-humanistische Rezeption in Mategnas Malerei weist Berenson, S. 155 ff., treffend hin. Vgl. Hay, S. 15 f. Vgl. Burckhardt, S. 149. Sombart, 236 f. Vgl. auch die scharfsinnigen Bemerkungen bei Weber, „Die protestantische Ethik ...", S. 39 ff. Baron (1957), S.71 ff. Vgl. a. Russell, S. 519 f. Das antikaiserlich-republikanische Empfinden, das sich im allgemeinen mit der Vorherrschaft der Stadtstaaten etabliert, herrscht und manifestiert sich in Florenz ganz besonders nach dem Krieg von 1402 gegen den Herzog von Mailand, der zu einem größeren Selbstbewußtsein des Bürgertums führte. Dieses Empfinden ist nicht so sehr humanistischen als vielmehr politischen Ursprungs, und so drückt es sich zuerst bei aktiven Bürgern aus, wird dann aber von den Humanisten abgerundet und geschönt, vor allem von Leonardo Bruni Aretino (Laudatio ßorentinae urbis). Der Humanismus bekommt einen kämpferischen und demokratischen Aspekt, er integriert die aktive Politik sowie die entsprechende „lebendige" Interpretation der Geschichte und verteidigt sogar die Umgangssprache. Brunis Generation macht damit einen Schritt über die Generation Salutatis hinaus, der sich noch näher an den Überbleibseln der mittelalterlichen Rezeption befand und den Konflikt mit Mailand als eine Fortsetzung des Konflikts zwischen Guelfen und Ghibellinen sah, wohingegen sein Antikaisertum nicht absolut war. Dies ist, zusammengefaßt, die Grundlage der berühmten Studie von Hans Baron (1966); als grundlegender Nachtteil kann angemerkt werden, daß er bei der Darstellung der Determinanten des ideologischen Wandels sehr viel mehr Gewicht auf die Faktoren der Politikgeschichte legt als auf die soziologischen Faktoren. In bezug auf Machiavelli folgert er aus seiner Analyse, daß man den kämpferischen Republikanismus des Florentiners mit der Geisteswelt Brunis verbinden muß, wenngleich er sich näher an Salutati befindet, zieht man dessen zwiespältige Haltung gegenüber einer Wahl zwischen Republik und Monarchie als Kriterium heran. Burckhardt, S. 383; Martin, S. 72; Kofier, S. 189 f. Bronowski/Mazlish, S. 29 und 37. Wie Russo, S. 225, fälschlich behauptet. Vgl. Renaudet, S. 39 f. Vgl. Mounin, S. 89, und Villari (1877), S. 260 ff. Ridolfi, S. 7 f. Chabod, S. 260. Ridolfi, S. 22. Spritio, S. 45.

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Anmerkungen

Russo, S. 42; vgl. a. Russell, S. 516. Darauf spielen Whitfield, S. 18, und Dilthey, S. 24, ganz deutlich an. In dieser Rezeption verbirgt sich die Absicht, Machiavelli geistig zu befördern und ihn den gelehrtesten Elementen seiner Zeit zuzuordnen. D o c h dabei irren die Befürworter dieser Meinung ganz einfach; da sie unter allen Umständen eine Zeit durch die Gemeinschaft ihrer edlen Geister charakterisieren wollen, betiteln sie notgedrungen auch jene, die nur eine äußerliche Bildung hatten, als edle Geister, nicht aber den lebendigen Kern des Geisteslebens, während es ihnen andererseits fast unsinnig erscheint, daß jemand mit gesundem, regem Geist, außerhalb der manchmal langweiligen Gemeinschaft edler Geister steht. So erspürt man „mit Fingerspitzengefühl" die verweichlichte Vergeistigung der Autoren, die ähnliche Ansichten vertreten.

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L o r d Acton, S. 79 f. Salutati und seine Generation waren von der Religion nicht weiter entfernt als Brunis Generation; ganz im Gegenteil standen sie der Religion und dem thomistischen System näher und verbanden zu einem großen Teil religiöse Motive und religiöse Anklänge mit dem Nationalgefühl der Bürger. Brunis Generation stellt sich geistig unabhängiger, also ausgesprochen klassisch orientiert und weltlicher dar, verdirbt es sich aber nicht mit der Kirche. Eine hervorragende Analyse der Beziehungen und Verflechtungen bürgerlicher und religiöser Ideologien, wie sie in Florenz mit dem Aufkommen und der Aktivität vor allem der Franziskaner (in ihrer Spätzeit) und Dominikaner vorkamen, findet sich bei Antal, S. 64 ff. Allgemein wichen die religiösen Vorstellungen und die Pflege der entsprechenden Literatur in der Renaissance nicht spürbar von ihrem Gegengewicht und Gegenspieler, den weltlichen Vorstellungen und der weltlicher Prosa, ab, s. Kristeller, S. 71 f. Vorherrschende Strömung ist die gegenseitige Anpassung und nicht das Verschwinden eines der beiden Elemente. Das religiöse Denken nimmt humanistische Einflüsse auf und verändert sich; um jedoch einen solchen Einfluß ausüben zu können, stellt sich der Humanismus im Grunde als eine Bewegung dar, die alles andere als antireligiös ist. Die gemeinsamen Punkte werden betont, die Theologie kommt mit dem philologischen Studium der Humanisten in Berührung, und die scholastische Tradition wird bis zu einem gewissen Grad verdrängt. Garin sieht diese Beziehung nicht ganz richtig, wenn er die innovative Rolle herausstreichen will, die der Humanismus auf allen Gebieten spielte; philologisch ist dieses Buch untadelig, es ist aber weit von einer soziologischen Betrachtungsweise und den erforderlichen Unterscheidungen und Zusammenhängen entfernt.

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Kofier, S. 182. Zu den entsprechenden Zeugnissen, s. Chabod, S. 265 f.; vgl. a. Burckhardt, S. 322 und 344 ff. Rubinstein, S. 166. Ridolfi, S. 15 f. Chabods Ansicht, S. 272 f., als Genußmensch und als geselliger Mensch habe Machiavelli es verabscheut, daß Mäßigkeit gepredigt wurde, ist

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Anmerkungen

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nicht richtig (wenn Chabod dies auch als einen zweitrangigen Grund für den Streit mit Savonarola betrachtet). Machiavelli selbst betonte immer, der Staat müsse reich sein, die Bürger arm (Discorsi 11,19 und 111,35). 148 Chabod, S. 268 f. 149 Gramsci, S. 39 f. 150 Solche Versuche wurden von Ellinger und Lutoslawski unternommen. Triantaphyllis hält mit glühendem Patriotismus dafür, daß Machiavelli Griechisch konnte und die griechischen Schriftsteller im Original las; s. dazu Villari (1877), S. 266 f., Anm. 1, und Toffanin, S. 41 ff. 151 Renaudet, S. 122 ff.; vgl. a. Villari (1882), S. 249 ff.; gegenüber dem normativistischen Aristoteles erweist sich Machiavelli als strenger Naturalist. Auf den Unterschied in der Betrachtungsweise Machiavellis und Aristoteles' hat schon Ranke, S. 195 f., treffend hingewiesen. 152 Fueter, S. 9. 153 Siehe o., Anm. 113. 154 Vgl. Fueter, S. 56. 155 Renaudet, S. 155 ff. 156 Fueter, S. 13 ff.; vgl. a. Croce (1915), S. 190 f. 157 Fueter, S. 58; vgl. a. Burckhardt, S. 59. 158 Fueter, S. 60. 159 Villari (1877), S. 326, und (1882), S. 260; vgl. a. Fueter, S. 66 und 69. 160 fueter, S. 64; vgl. a Renaudet, S. 106. 161 Es ist bezeichnend, daß Machiavelli seine Quelle, Flavio Biondo, umgeht oder paraphrasiert, um alles auszulöschen, was einen Schatten auf das Bild seines Helden werfen könnte; nachdem er ihm sonst fast Wort für Wort folgt, zeigt er hier keine Neigung, jene Punkte, die für ihn nicht von allgemeinem Interesse sind, in allen Einzelheiten zu untersuchen. 162 Russo, S.60f. Aus dieser Hinsicht ist de Sanctis' Meinung falsch, (1943), S. 385 f., Machiavelli gebe das Zufällige und nicht das Wesentliche der Geschichte wider, er schildere die herausragenden Einzelereignisse, habe aber nicht das Ganze vor Augen. Hier ist offensichtlich, daß de Sanctis von den Ansätzen des phasenweisen historischen Fortschreitens beeinflußt ist, die im 19. Jh. aufkamen und die er für eine Zusammenfassung des (metaphysischen oder nicht metaphysischen) Wesens der Geschichte hielt. Das Fehlen eines solchen Ansatzes in Machiavellis Betrachtungsweise veranlaßt de Sanctis zu glauben, Machiavelli begnüge sich mit dem Partiellen, wo die greifbaren Erscheinungsformen der historischen Phänomene beschränkt sind. 163 164 165 166 167 168

Haie (1966), S. 72. Vgl. Chabod, S. 283 sowie S. 6 und 21. Ebd., S. 19. Russo, S. 178 f. De Sanctis (1943), S. 97 ff. Vgl. Russo, S. 74-86. Die Schönheit dieser Seiten ist der Tatsache geschuldet, daß er Machiavelli im Grunde fälschlich als einen Künstler

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Anmerkungen

betrachtet und dies zum Anlaß für so hochfliegende stilistische Analysen nimmt, wie es sich für einen Künstler ziemt. Dies fällt nun mit der persönlichen literarischen Ader des Betrachters zusammen, so daß die Täuschung noch verlockender und an Schönheit noch größer wird, nicht aber an Genauigkeit. Spirito, S. 123. De Sanctis (1943), S. 95 ff. Vgl. Fueter, S. 61, und Burckhardt, S. 168. Chiapelli, S. 39 und 111. Chabod, S. 263. Villari (1877), S. 259. Chabod, S. 274. Solch einen Führungsehrgeiz vonseiten Machiavellis nimmt auch Kanellopoulos (1966), S. 918, zusammen mit einer sehr toleranten machiavellistischen Schule an. Kanellopoulos ist immer schnell dabei, die Persönlichkeiten, die er trifft, mit unerfüllten Träumen zu beladen, deren Last in einer inneren Zerrissenheit mündet. Dieses Motiv ist in Kanellopoulos' Texten durchgängig, und man kann leicht mutmaßen, daß es sich um die übliche Erhebung einer persönlichen Wehmut zum Erklärungsprinzip handelt. Es ist tatsächlich schwierig, vielfältige Erklärungskriterien zu finden, wenn jemand in jedem Fall die verfügbaren Veröffentlichungen zusammenträgt, innerhalb kurzer Zeit Tausende von Seiten über unzählige Themen schreibt, und die Bände über jedes einzelne Thema ganze Regale füllen.

Mounin, S. 56; vgl. a. Haie (1966), S. 8 und 47. Siehe Ridolfi, S. 155 f.; Burd, S. 196, s. dazu a. Gilbert. 179 Rubinstein, S. 180. 180 Benoist, S. 143 ff. 181 Zu Soderinis Haltung gegenüber Machiavelli und zu seinen Briefen an ihn, s. Benoist, S. 137 ff. Machiavelli spielt wahrscheinlich auf persönliche Beziehungen zu Soderini an, wenn er anführt, was Soderini seinen Freunden anvertraute (Discorsi, 111,3). 182 Benoist, S. 140 f. und 148 ff. 183 De Sanctis (1943), S. 78. 184 Vgl. Barincou, S. 13. 185 Vgl. Gramsci, S. 119. 186 Mounin, S. 68 f. 187 Macaulay (1850), S. 81. [In der deutschen Übersetzung fehlt diese Stelle, es heißt lediglich: „Der Bürger einer italienischen Republik war zaghaft und biegsam, listig und skrupellos, aber er hatte ein Vaterland, dessen Unabhängigkeit und Wohlfahrt ihm teuer war. Mochte sein Charakter auch durch niedrige Verbrechen herabgemindert sein, so war er doch andererseits durch Gemeinsinn und achtbaren Ehrgeiz geadelt." (1947), S. 267; Anm. d. Übers.] iss v g l . R U S so, S. 92 f. Dilthey, S. 26, sieht eine Verbindung zwischen der moralischen Flexibilität Machiavellis als Individuum und dem Gegensatz zwischen seiner republikanische Gesinnung in bezug auf Florenz 177

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Anmerkungen

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und seiner monarchistischen Einstellung in bezug auf Italien. Zumindest ist es jedoch schwach fundiert, daß die Gegensätze in der theoretischen Einstellung eines Individuums Gegensätzen in seinem Charakter entsprechen sollen. Selbst wenn dies stimmt, ist es dennoch äußerst schwierig zu beweisen, daß der Gegensatz * im Charakter dem Gegensatz * in den Vorstellungen der Person entspricht und nicht einem Gegensatz y. Vgl. Sasso (1967), S. 16 ff. Siehe dazu Villari, (1882), S. 337; Russo, S. 37 und Barincou, S. 54 ff. Spirito, S. 90 f., und de Sanctis (1943), S. 137 ff. Spirito, S. 82 ff. Villari (1882), S. 225. Chabod, S. 9; vgl. a. Allen, S. 496 ff. Gramsci, S. 85, lenkt geschickt die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen der Art und Weise, wie sich der eine und der andere jeweils der Politik annähert: Guicciardini beschäftigte sich mit der Diplomatie, die von Natur aus konservativ und ein Versuch ist, den Status quo im Gleichgewicht zu halten, während der allgemeinere Staatsdienst, in dem Machiavelli tätig war, für die Entwicklung von Initiative und für die aktive Auseinandersetzung mit der Welt günstiger war. Meinecke (1963), S. 43. Fueter, S. 57 ff. Burd, S. 202. Die Ansicht, die Theorie über die menschliche Natur sei der „logische prius" (ebd., S. 208) in Machiavellis Denken, ist nicht fundiert, weil ein logischer prius die Existenz eines theoretischen Systems voraussetzt. Um deutlich zu machen, daß die Theorie über die Natur des Menschen tatsächlich ein logischer prius ist, müßte er konkret beweisen, daß, wenn diese Theorie fehlte, Machiavellis ganzes Denken einen anderen Weg genommen hätte. Etwas anderes ist es, wenn wir Machiavellis Denken so systematisch wie möglich ordnen (und es wäre auch schwierig, es anders darzustellen), indem wir von Faktoren ausgehen, die für uns logische Vorläufer sind. Villari (1882), S. 246 f. Dil they, S. 31. Allen, S. 454. Meinecke (1963), S. 39. Ebd., S. 40 f. Vgl. Haie (1966), S. 24. Cassirer, S. 205 ff. Ihn befremdet, daß fortuna in Machiavellis Gedankengebäude integriert wurde, denn, wie bereits erwähnt, setzt er Machiavelli mit Galilei als Schöpfer eines naturalistischen, mechanistischen Systems gleich. Doch fortuna widerspricht dem restlichen und alles andere als mechanistischen Denken Machiavellis nicht, im Gegenteil: Seine tragischen Erfahrungen sah er als Ausdruck der Macht des Schicksals, und sie stellten für ihn selbst eine Triebkraft des Denkens dar. In diesem Sinne ist das Schicksal kein Gegenpart zur Wissenschaft, sondern ihre Voraussetzung in der geistig-seelischen Konstitution des

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Anmerkungen

denkenden Subjekts. Auf der anderen Seite behauptet Spirito, S. 39, der Begriff fortuna gestatte Machiavelli nicht, zu einer abgeschlossenen Wissenschaft zu kommen, denn wenn fortuna im Wege steht, kann er sein Erfahrungsmaterial nicht kontrollieren und auswerten, während gleichzeitig die Schwankungen der fortuna vom Politiker verlangen, nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler zu sein. Doch Machiavelli hatte sich nicht darangemacht, eine Wissenschaft zu begründen, und sich wegen des Schicksalsbegriffs verzettelt; fortuna war neben anderen fundamentalen Faktoren Teil seiner Weltsicht. Das mechanistische System oder die abgeschlossene Wissenschaft wird nicht vom Schicksal behindert, sondern, wie wir gesehen haben, vom Postulat des Pragmatismus, der diese kausale Weltsicht auf seinen eigenen Achsen durchdringt und ausbildet. 206

Chabod, S. 292,297 und 305. Sasso (1965), S. 131 f., 179 ff. und 202 f. Vgl. a. Chabod, S. 22. 208 Meinecke (1963), S. 46 f. 209 Dilthey, S. 32. 210 Schmid, S. 37. 211 Vgl. Sasso (1965), S. 247 f. 212 Vgl. Renaudet, S. 179 ff. Auch Polybius behauptet, die Religion sei ein weltliches Gebilde, dessen Zweck darin liege, den Staat zu stützen (VI, 56,6-15). Doch selbst wenn Machiavelli Polybius' Text nicht kannte, würde sich seine Ansicht hierzu in nichts ändern, denn diese Auffassung war ein organischer Teil der Weltsicht seiner Zeit (übrigens werden deshalb, manchmal auch unvermittelt, Stellen bei bestimmten Autoren hervorgehoben und unterstrichen - nicht weil sie zum ersten Mal „entdeckt" wurden). 213 Gramsci, S. 16 und 211, meint, man könne sehen, ob Machiavelli ökonomische Theorien hatte und seine politischen Begrifflichkeiten auf die entsprechenden ökonomischen Begriffe eines Systems zurückführte. Wenn es nun stimmt, daß Machiavelli wieder ein Verhältnis von Umland und Stadt herstellen und die bäuerliche Schicht in den Staat integrieren wollte, muß man auch annehmen, daß er seine merkantilen Auffassungen verwarf und zu agrarischen Strukturen neigte. Doch die methodischen Prämissen für eine solche Betrachtung eines Denkers (durch Projektion der offenkundigen Faktoren seines Denkens auf eine allgemeine Tafel, um auch auf all das zu schließen, was er nicht behauptet hat) sind schwach. 214 Kanellopoulos (1934), S. 127. 2 5 ' Vgl. ebd., S. 21, und Renaudet, S. 137. 2i6 pür Polybius werden die Klassenkämpfe in einer gemischten Verfassung ein für allemal überwunden; für Machiavelli sind sie eine stete Wirklichkeit und nicht nur eine Episode, sie sind elementare, notwendige Kräfte. Überdies neigt Polybius mit seinem mechanischen Rationalismus dazu, die Überlegenheit einer Kultur mit der Überlegenheit ihrer Verfassung gleichzusetzen, und läßt dabei Faktoren wie Führungsstil, Tapferkeit, Sittsamkeit u. ä. außer acht. Doch so kann er 207

Anmerkungen

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nicht erklären, warum beispielsweise Rom oder Sparta, die beide gemischte Verfassungen hatten, ein so unterschiedliches historisches Schicksal erfuhren. Machiavelli sucht hingegen mit seinem dynamischen Denken den Unterschied in der Machtstruktur der beiden Städte und ganz konkret im Maß an Volksbeteilung bei öffentlichen Angelegenheiten. Dieses Verhältnis, das Machiavelli zwischen Institutionen und gesellschaftliche Wirklichkeit stellt, „ist vielleicht die höchste Errungenschaft seiner politischen >Philosophie