436 38 11MB
German Pages 700 [778] Year 2014
Max Weber Gesamtausgabe Im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Herausgegeben von
Horst Baier, Gangolf Hübinger, M. Rainer Lepsius †, Wolfgang J. Mommsen †, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann † Abteilung II: Briefe Band 4
J. C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
Max Weber
Briefe 1903 – 1905
Herausgegeben von
Gangolf Hübinger und M. Rainer Lepsius in Zusammenarbeit mit
Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende
J. C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
Redaktion: Ursula Bube – Edith Hanke – Anne Munding Die Herausgeberarbeiten wurden im Rahmen des Akademienprogramms von der Bundesrepublik Deutschland, dem Freistaat Bayern und den Ländern Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen gefördert.
ISBN 978-3-16-153428-7 Leinen / eISBN 978-3-16-157755-0 unveränderte ebook-Ausgabe 2019 ISBN 978-3-16-153430-0 Hldr Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt. Den Einband besorgte die Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Chronologisches Verzeichnis der Briefe 1903–1905. . . . . . . IX Siglen, Zeichen, Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Briefe Januar 1903 – Dezember 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 1. Verlagsvertrag zwischen J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) und Edgar Jaffé über den Verlag des „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ vom 23. August 1903 . . . . . . . . . 617 2. Tennessee. Reisenotizen Mitte Oktober 1904. . . . . . . . . . . . . . . . 621 3. Stationen der Amerikareise mit Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Verwandtschaftstafeln der Familien Fallenstein und Weber . . . 707 Zu den Kindern und Enkeln von Georg Friedrich Fallenstein aus erster Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Register der Briefempfänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735 Aufbau und Editionsregeln der Max Weber-Gesamtausgabe, Abteilung II: Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 Bandfolge der Abteilung I: Schriften und Reden . . . . . . . . . . . . 748 Bandfolge der Abteilung III: Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
Vorwort
Der vorliegende Band umfaßt die Jahre 1903 bis 1905. Es handelt sich um jenen Zeitraum, in dem Max Weber nach einer langen Phase der Krankheit, die ihn weitgehend arbeitsunfähig gemacht hatte, seine Arbeitskraft allmählich wiedergewinnt, was sich in einer erstaunlichen Produktivität äußert. Weber schöpft viele Energien aus seiner neuen Tätigkeit als Mitherausgeber, Redakteur und Autor des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Es ist zudem eine Phase, in der er zusammen mit seiner Frau Marianne eine nahezu dreimonatige Reise durch die USA unternimmt. Die detaillierten Reisebriefe, die beide, teilweise getrennt, teilweise gemeinsam, an die Familie und an Freunde schrieben, werden als ein bedeutsames sozial- und kulturhistorisches Dokument hier vollständig ediert. Von den beiden Herausgebern war Gangolf Hübinger für die wissenschaftlichen und politischen, M. Rainer Lepsius für die privaten Briefe einschließlich der Reisebriefe zuständig. Die Editionsarbeit erfolgte in den Arbeitsstellen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Thomas Gerhards), der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg (Sybille Oßwald-Bargende) und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Manfred Schön unterstützte die Edition erneut mit seinen umfassenden Kenntnissen, insbesondere auch dadurch, daß er die handschriftlichen Originale transkribierte oder die Transkriptionen anderer überprüfte. Die Transkription der Briefe an die Familienangehörigen lag in den Händen von Diemut Moosmann. Auch bei der Arbeit an diesem Band haben wir Mithilfe und Unterstützung von zahlreichen Institutionen und Eigentümern von Privatnachlässen erfahren. Wir sind allen zu großem Dank verpflichtet. Hervorzuheben sind Georg Siebeck, der uns die Bestände des Verlagsarchives Mohr Siebeck zugänglich machte, sowie das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin und die Bayerische Staatsbibliothek München, die uns die Nutzung der Weberschen Nachlaßbestände ermöglichten. Wir danken ferner folgenden Archiven und Bibliotheken für Auskünfte und Materialien. Zu nennen sind die Du Bois Library, University of Massachusetts, Amherst, das International Institute of Social History, Amsterdam, die Milton S. Eisenhower Library, Johns Hopkins University, Baltimore, das Familienarchiv Heuss, Basel, die Universitätsbibliothek Basel, das Bundesarchiv Berlin, die Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz, die Boston Public Library, das Renner-Museum Gloggnitz, die Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle (Saale), das Universitätsarchiv Heidelberg, die Universitätsbibliothek Heidelberg, das Generallandesarchiv Karlsruhe, das Bundesarchiv
VIII
Vorwort
Koblenz, die British Library of Political and Economic Science, London, das Gosudarstvennyj Istoricˇeskij Muzej, Moskau, das Universitätsarchiv Moskau, die Columbia University Libraries, New York, das Leo Baeck Institute, New York, die Universitätsbibliothek Tübingen, die Universitätsbibliothek Uppsala, die Library of Congress, Washington, die Zentralbibliothek Zürich. Die Editionsarbeiten wurden von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Forschungsförderung der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften gefördert. Federführend war hier die Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte unter Vorsitz von Knut Borchardt und ab 2013 von Friedrich Wilhelm Graf. Großer Dank gebührt Edith Hanke von der Arbeitsstelle der MWG an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die die Manuskriptvorlagen in mehreren Durchgängen sorgfältig redigierte und zahlreiche Sachhinweise gab. Wolfgang Schluchter prüfte die Druckvorlagen und machte nützliche Vorschläge. Guenther Roth steuerte wichtige Hinweise zu Webers Familienverhältnissen bei, Lawrence A. Scaff zu der Amerikareise. Anna Fattori danken wir für die Übersetzung von Webers italienischen Postkarten, Ulrich Rummel und den Hilfskräften der Arbeitsstelle Düsseldorf für ihre Mitarbeit an den Verzeichnissen und den Anlagen des Bandes, ebenso sei Daniel Burns und den Hilfskräften der Arbeitsstelle Heidelberg gedankt. Unser Dank gilt darüber hinaus Hannelore Chaluppa, ferner Ingrid Pichler, die die Register erstellte. M. Rainer Lepsius erlebt das Erscheinen dieses Bandes nicht mehr. Er starb am 2. Oktober 2014, zu einem Zeitpunkt, als sein Beitrag hierzu abgeschlossen war. Sein Tod ist ein großer Verlust für die Max Weber-Gesamtausgabe. Er gehörte zu ihrem Gründerkreis und war von Beginn an der Geschäftsführende Herausgeber. Die Edition von Max Webers privaten Briefen lag ihm besonders am Herzen. Es war ihm nicht vergönnt, diesen Teil der Edition selbst abzuschließen. So erinnert uns dieser Band bleibend daran, was M. Rainer Lepsius als Herausgeber für die Max Weber-Gesamtausgabe bedeutete. Frankfurt (Oder) im November 2014
Gangolf Hübinger
Chronologisches Verzeichnis der Briefe 1903–1905
Datum
Ort
Empfänger
Seite
1. Januar 1903 2. Januar 1903 3. Januar 1903 4. Januar 1903 5. Januar 1903 6. Januar 1903 7. Januar 1903 9. Januar 1903 20. Februar 1903 8. April 1903 14. April 1903 16. April 1903
Nervi Nervi Nervi Nervi Nervi Nervi Nervi Genua Heidelberg Rom Mailand Heidelberg
29 31 33 35 37 39 40 41 43 45 49
16. April 1903
Heidelberg
16. April 1903
Heidelberg
2. Mai 1903 2. Mai 1903 5. Mai 1903 5. Mai 1903 19. Mai 1903 22. Mai 1903 23. Mai 1903 23. Mai 1903 24. Mai 1903 nach dem 24. Mai 1903 26. Mai 1903
Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Gustav Schmoller Franz Böhm Helene Weber Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg Großherzogliches Ministe rium der Justiz, des Kul tus und Unterrichts Großherzogliches Ministe rium der Justiz, des Kul tus und Unterrichts Karl Rathgen Marianne Weber Franz Böhm Alfred Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber
66
1. Juni 1903 5. Juni 1903 6. Juni 1903
Heidelberg Scheveningen Scheveningen
Marianne Weber Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg Edgar Jaffé Marianne Weber Marianne Weber
1903
o.O. Heidelberg
50
51
52 53 54 55 57 60 62 63 64 65
67 68 72 74
X
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
Datum
Ort
Empfänger
Seite
7. Juni 1903 7. Juni 1903 8. Juni 1903 9. Juni 1903 10. Juni 1903 11. Juni 1903 12. Juni 1903 13. Juni 1903 14. Juni 1903 15. Juni 1903 16. Juni 1903 17. Juni 1903 18. Juni 1903 19. Juni 1903 29. Juni 1903 29. Juni 1903 17. Juli 1903 22. Juli 1903 31. Juli 1903 oder danach ca. 4. August 1903 5. August 1903 9. August 1903 13. August 1903 20. August 1903 20. August 1903 21. August 1903 22. August 1903 23. August 1903 24. August 1903 25. August 1903 26. August 1903 27. August 1903 27. August 1903 28. August 1903 29. August 1903 29. August 1903 30. August 1903 11. September 1903
Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Amsterdam Scheveningen Scheveningen Scheveningen Noordwijk aan Zee Den Haag Heidelberg Heidelberg Heidelberg Charlottenburg
Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Franz Böhm Vinzenz Czerny Alfred Weber Marianne Weber
77 79 81 85 89 92 94 96 101 105 106 107 109 110 111 112 113 115
o.O. o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Brügge Ostende Ostende Ostende Ostende Ostende Ostende Ostende Ostende Middelburg Domburg Domburg Domburg Domburg Heidelberg
116 117 118 119 121 122 123 124 125 126 127 129 131 133 134 135 137 139 140
11. September 1903 11. September 1903 13. September 1903 14. September 1903
Heidelberg Heidelberg Hamburg Hamburg
Edgar Jaffé Edgar Jaffé Edgar Jaffé Edgar Jaffé Edgar Jaffé Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Großherzogliches Ministe rium der Justiz, des Kul tus und Unterrichts Paul Siebeck Paul Siebeck Marianne Weber Marianne Weber
141 143 144 145 146
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
XI
Datum
Ort
Empfänger
Seite
15. September 1903 17. September 1903 17. September 1903 18. September 1903 18. September 1903 19. September 1903 20. September 1903 2. Oktober 1903 4. Oktober 1903 4. Oktober 1903 10. Oktober 1903 10. Oktober 1903 vor dem 12. Oktober 1903 12. Oktober 1903 12. Oktober 1903 13. Oktober 1903 13. Oktober 1903 14. Oktober 1903 14. Oktober 1903 15. Oktober 1903 16. Oktober 1903 17. Oktober 1903 17. Oktober 1903 18. Oktober 1903 21. Oktober 1903 2. November 1903 9. November 1903 22. November 1903 22. November 1903
Hamburg Hamburg Helgoland Helgoland Helgoland Helgoland Helgoland Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Edgar Jaffé Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Kuno Fischer Lujo Brentano Ignaz Jastrow Lujo Brentano Ignaz Jastrow
147 148 149 150 152 153 155 156 157 160 162 165
o.O. Den Haag Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Den Haag Scheveningen Scheveningen Scheveningen Scheveningen Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 181 183 184
24. November 1903 nach dem 1. Dezember 1903 15. Dezember 1903 oder davor 27. Dezember 1903
Heidelberg
Edgar Jaffé Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber Paul Siebeck Marie Auguste Mommsen Stephan Bauer Franz Böhm Großherzogliches Ministe rium der Justiz, des Kul tus und Unterrichts Ernst Wilhelm Benecke
o.O.
Edgar Jaffé
188
o.O. Heidelberg
Edgar Jaffé Paul Siebeck
189 191
185 186
XII Datum
Chronologisches Verzeichnis der Briefe Ort
Empfänger
Seite
Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Edgar Jaffé Edgar Jaffé Edgar Jaffé Edgar Jaffé Lujo Brentano Karl Renner Edgar Jaffé Alfred Weber Lujo Brentano Lujo Brentano Ignaz Jastrow Paul Siebeck Helene Weber Paul Siebeck Ignaz Jastrow Lujo Brentano Paul Siebeck Georg Jellinek Paul Siebeck Alfred Weber Lujo Brentano Edgar Jaffé Edgar Jaffé Emil Zürcher
193 195 196 197 198 200 202 203 206 209 210 212 214 216 218 219 220 222 223 224 225 226 227
Heidelberg Heidelberg
Heinrich Rickert Hugo Münsterberg
o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Dampfer Bremen
Georg Jellinek Georg von Below Hugo Münsterberg Georg von Below Paul Siebeck Paul Siebeck Paul Siebeck Walther Köhler Paul Siebeck Alfred Weber Walther Köhler Paul Siebeck Marianne Weber an Helene Weber
1904 4. Januar 1904 6. Januar 1904 23. Februar 1904 23. Februar 1904 9. März 1904 9. März 1904 16. März 1904 16. März 1904 28. März 1904 29. März 1904 8. April 1904 12. April 1904 13. April 1904 15. April 1904 17. April 1904 1. Mai 1904 4. Mai 1904 8. Mai 1904 15. Mai 1904 16. Mai 1904 22. Mai 1904 22. Mai 1904 23. Mai 1904 Zweite Maihälfte 1904 14. Juni 1904 21. Juni 1904 nach dem 21. Juni 1904 17. Juli 1904 17. Juli 1904 19. Juli 1904 20. Juli 1904 21. Juli 1904 24. Juli 1904 24. Juli 1904 29. Juli 1904 29. Juli 1904 17. August 1904 17. August 1904 21. August 1904
228 230 232 234 235 237 243 246 248 249 251 253 254 257 258 261
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
XIII
Datum
Ort
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Seite
23. und 28. August 1904 2., 4. und 5. Septem ber 1904 oder danach 8., 9. bzw. 11. Septem ber 1904 oder danach 19. und 20. September 1904 20. September 1904 20. September 1904 24. September 1904 25. September 1904 27. und 30. September 1904 28. und 29. September sowie 2. und 3. Oktober 1904 12. Oktober 1904 14., 19. und 21. Oktober 1904 27. Oktober 1904 27. Oktober 1904 27. Oktober, 1. oder 2. sowie 2. November 1904 3. November 1904 5. November 1904 6. November 1904 6., 11., 15. und 16. November 1904 vor dem 8. November 1904 14. November 1904 17. November 1904 19. November 19. und 26. November 1904 1. Dezember 1904 6. Dezember 1904 7. Dezember 1904 10. Dezember 1904 14. Dezember 1904 17. Dezember 1904
Dampfer Bremen
Marianne Weber an Helene 263 Weber und Familie Helene Weber und Familie
New York, auf der Fahrt nach und in 266 Niagara Falls Niagara Falls, auf der Helene Weber und Familie Fahrt nach und in 274 Chicago Helene Weber St. Louis 285 298 Hugo Münsterberg St. Louis St. Louis Simon Newcomb 300 St. Louis Georg Jellinek 301 St. Louis Booker T. Washington 304 St. Louis Marianne Weber an Helene Weber und Familie 305 Muskogee, auf der Helene Weber und Familie Fahrt nach und in Memphis 310 Asheville Helene Weber und Familie 325 Greensboro und Helene Weber und Familie Washington 335 Philadelphia Jacob H. Hollander 351 Philadelphia Hugo Münsterberg 354 Philadephia und Helene Weber und Familie Boston 356 Boston Jacob H. Hollander 370 New York Paul Lichtenstein 372 New York Booker T. Washington 374 New York Helene Weber und Familie 376 New York New York New York New York Dampfer Hamburg
W. E. B. Du Bois Hugo Münsterberg W. E. B. Du Bois Edwin R. A. Seligman Helene Weber und Familie
o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Heinrich Sieveking Friedrich von Weech Paul Siebeck Eduard Bernstein Gustav Schmoller Karl Vossler
391 393 395 396 398 408 409 410 412 415 418
XIV
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
Datum
Ort
Empfänger
Seite
28. Dezember 1904
Heidelberg
Paul Siebeck
420
Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg o.O. Heidelberg Heidelberg o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Adolf Harnack Adolf Harnack Heinrich Braun Lujo Brentano Verlag G. J. Göschen Verlag G. J. Göschen Alfred Weber W. E. B. Du Bois Paul Siebeck Willy Hellpach Heinrich Rickert Willy Hellpach Willy Hellpach Franz Eulenburg Helene Weber Paul Siebeck Franz Eulenburg W. E. B. Du Bois Paul Siebeck Georg Jellinek Lujo Brentano Paul Siebeck Heinrich Rickert Paul Siebeck W. E. B. Du Bois Friedrich Michael Schiele Heinrich Rickert
421 423 425 427 429 433 435 437 440 442 445 449 454 456 458 461 466 467 468 470 471 475 476 480 481 482 483
Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Marianne Weber Marianne Weber Marianne Weber
485 486 487
o.O. Freiburg i.Br. o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Marianne Weber Marianne Weber Franz Eulenburg Alexander A. Tschuprow Alexander A. Tschuprow Alfred Weber Alfred Weber Paul Siebeck Paul Siebeck
489 490 491 493 495 497 499 501 502
1905 12. Januar 1905 17. Januar 1905 27. Januar 1905 19. Februar 1905 25. Februar 1905 2. März 1905 8. März 1905 30. März 1905 30. März 1905 31. März 1905 2. April 1905 5. April 1905 9. April 1905 10. April 1905 14. April 1905 15. April 1905 16. April 1905 17. April 1905 20. April 1905 23. April 1905 25. April 1905 27. April 1905 28. April 1905 29. April 1905 1. Mai 1905 16. Mai 1905 31. Mai 1905 1. Juni 1905 oder danach 4. Juni 1905 6. Juni 1905 7. Juni 1905 oder danach 12. Juni 1905 29. Juni 1905 2. Juli 1905 14. Juli 1905 14. Juli 1905 29. Juli 1905 1. August 1905 10. August 1905
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
XV
Datum
Ort
Empfänger
Seite
11. August 1905 14. August 1905 16. August 1905 oder davor 16. August 1905 oder davor 16. August 1905 30. August 1905 oder danach 1. September 1905 3. September 1905 3. September 1905 5. September 1905 5. September 1905 6. September 1905 8. September 1905 8. September 1905 10. September 1905 23. September 1905 24. September 1905 30. September 1905 zwischen 3. und 17. Oktober 1905 7. Oktober 1905 8. Oktober 1905 10. Oktober 1905 14. Oktober 1905 14. Oktober 1905 vor dem 21. Oktober 1905 21. Oktober 1905 23. Oktober 1905 23. Oktober 1905 23. Oktober 1905 23. Oktober 1905 23. Oktober 1905 24. Oktober 1905 24. Oktober 1905 26. Oktober 1905 26. Oktober 1905 26. Oktober 1905 27. Oktober 1905 1. November 1905 2. November 1905
Heidelberg Heidelberg
Willy Hellpach Willy Hellpach
503 506
o.O.
Willy Hellpach
507
Heidelberg Heidelberg
Paul Siebeck Lujo Brentano
508 509
o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg o.O. o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Marianne Weber Willy Hellpach Emil Lask Paul Siebeck Willy Hellpach Ignaz Jastrow Franz Eulenburg Franz Eulenburg Paul Siebeck Willy Hellpach Georg von Below Willy Hellpach Friedrich Naumann
510 511 513 515 518 519 521 522 524 526 534 538 540
o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Alfred Weber Willy Hellpach Willy Hellpach Willy Hellpach Willy Hellpach Georg Jellinek
544 546 548 550 554 555
o.O. Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Alfred Weber Lujo Brentano Gustav Schmoller Lujo Brentano Lujo Brentano Lujo Brentano Gustav Schmoller Lujo Brentano Carl Johannes Fuchs Ladislaus von Bortkiewicz Lujo Brentano Gustav Schmoller Gustav Schmoller Carl Johannes Fuchs Ladislaus von Bortkiewicz
556 559 560 562 563 566 567 569 570 574 575 577 580 581 583
XVI
Chronologisches Verzeichnis der Briefe
Datum
Ort
Empfänger
Seite
2. November 1905 3. November 1905 4. November 1905 14. November 1905 14. November 1905 15. November 1905 vor dem 16. November 1905 16. November 1905 24. November 1905 24. November 1905 26. November 1905 2. Dezember 1905 7. Dezember 1905 13. Dezember 1905 18. Dezember 1905 28. Dezember 1905
Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Alfred Weber Lujo Brentano Lujo Brentano Karl Vossler Helene Weber Ignaz Jastrow
584 586 587 588 589 590
Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg Heidelberg
Alfred Weber Gustav Schmoller Lujo Brentano Carl Neumann Paul Siebeck Hugo Münsterberg Willy Hellpach Theodor A. Kistiakowski Edwin R. Seligman Emil Lask
592 594 600 602 603 607 609 610 611 613
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
|: :| > 〈 〉 [ ]
Einschub Max Webers Textersetzung Max Webers Von Max Weber gestrichene Textstelle Im edierten Text: Hinzufügung des Editors Im Briefkopf: erschlossenes Datum oder erschlossener Ort Im textkritischen Apparat: unsichere oder alternative Lesung im Bereich der von Max Weber getilgten oder geänderten Textstelle [??] Ein Wort oder mehrere Wörter nicht lesbar / im Anmerkungsapparat bei Zitaten: Zeilenwechsel bzw. Absatzmarkierung 1) 2) 3) , , Indices bei Anmerkungen Max Webers 1 2 3 , , Indices bei Sachanmerkungen des Editors O Original der edierten Textvorlage a b c , , Indices für Varianten oder textkritische Anmerkungen a . . .a , b. . .b Beginn und Ende von Varianten oder Texteingriffen → siehe & und § Paragraph $ Dollar Pfund a. acres A. B. Artium Baccalaureus, Bachelor of Arts Ab.Bl. Abendblatt Abs. Absatz a.d. an der a.D. außer Dienst AfSSp Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Ala. Alabama a. M. am Main A. M. Artium Magister, Master of Arts Anm. Anmerkung a.o. außerordentlich apl. außerplanmäßig Apr. April a.S., a/S. an der Saale Aufl. Auflage Aug. August b. bei B. A. Bachelor of Arts BA Bundesarchiv BAdW Bayerische Akademie der Wissenschaften Baedeker, Belgien Baedeker, Karl, Belgien und Holland, 23. Aufl. – Leipzig: und Holland Baedeker 1904.
XVIII Baedeker, Italien
Siglen, Zeichen, Abkürzungen
Baedeker, Karl, Italien. 1. Teil: Ober-Italien, Ligurien, das [!] nördliche Toskana. – Leipzig: Baedeker 1902. Baedeker, Nordamerika Baedeker, Karl, Nordamerika, die Vereinigten Staaten nebst einem Ausflug nach Mexiko. Handbuch für Reisende. – Leipzig: Baedeker 1904. BDF Bund deutscher Frauenvereine beantw. beantwortet Bearb., bearb. Bearbeiter, bearbeitet begr. begründet Berlin S Berlin Süd Berlin W Berlin West bes. besonders betr. betreffend, betrifft bezügl. bezüglich bezw., bzw. beziehungsweise BK Briefkopf Bl. Blatt, Blätter Boese, Geschichte Boese, Franz, Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872– 1932 (Schriften des Vereins für Sozialpolitik 188). – Berlin: Duncker & Humblot 1939. BSB Bayerische Staatsbibliothek c., ca., ca circa Cap. capitulum, Kapitel cf. confer (vergleiche) cm, cm. Zentimeter Co. Company Cons. Consorten centime(s), cent(s) ct, ct, cts, cts., Cts cts Cy City d. der, den D. Doctor d. Ä. der Ältere dass. dasselbe D. C. District of Columbia DDP Deutsche Demokratische Partei Dep. Depositum dergl., dgl. dergleichen ders. derselbe Dez. Dezember d. h. das heißt DHI Deutsches Historisches Institut d. i. das ist d. J. der Jüngere Dlrs Dollars d. M’s des Monats DNVP Deutschnationale Volkspartei Dr , Dr. Doktor Dr. h.c. doctor honoris causa Dr. iur., Dr. jur. doctor iuris Dr. iur. utr. doctor iuris utriusque
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XIX
Dr. med. doctor medicinae Dr. oec. doctor oeconomiae Dr. oec. publ. doctor oeconomiae publicae Dr. phil. doctor philosophiae Dr. rer. pol. doctor rerum politicarum Dr. sc. pol. doctor scientiarum politicarum dt. deutsch ebd. ebenda Ed. Edition (Auflage, Ausgabe) Editor. Vorbemerkung Editorische Vorbemerkung eds. editores, editors eigentl. eigentlich engl. englisch et al. et alii, et aliae etc., etc et cetera ev., event. eventuell excl. exklusive Expl. Exemplare f., ff. folgend, fortfolgend Fasz. Faszikel Feb. Februar Fn. Fußnote Fr., fr. Francs freundschaftl. freundschaftlich Frhr. Freiherr Frl. Fräulein frz. französisch FZ Frankfurter Zeitung GARS I Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1920. geb. geborene Geh. Geheimer gen. genannt gez. gezeichnet ggf. gegebenenfalls GLA Generallandesarchiv GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GO Gewerbeordnung griech. griechisch grossh., großherzogl. großherzoglich GStA PK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz H., Hbg., Hbg, Hdbg. Heidelberg HA Hauptabteilung Ha Hektar Heid. Hs. Heidelberger Handschrift herzl. herzlich Hg., hg. Herausgeber, herausgegeben Hist. Commission Historische Commission
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Hl. Heiliger HZ Historische Zeitschrift i. A. im Auftrag i. Br., i/Br. im Breisgau i /Els. im Elsaß incl. inclusive insbes. insbesondere Internat. Libr. Publ. Co. International Library Publishing Company IISG International Institute of Social History, Amsterdam I. T. Indian Territory ital. italienisch Jan. Januar Jg. Jahrgang Jh. Jahrhundert JHU Johns Hopkins University, Baltimore jun., jr. junior k.k. kaiserlich-königlich km2 Quadratkilometer komp. kompanie Kr. Kronen L. Liebe, Lieber, Liebes lat. lateinisch LBI Leo Baeck Institute, New York L. Fr. Lieber Freund lic., Lic. theol. licentiatus theologiae LL. B. Legum Baccalaureus, Bachelor of Laws LL. D. Legum Doctor, Doctor of Laws L. S., L S., L. Schn. Liebe(r/s) Schnauz/el/ele/elchen, Schnäuzchen LSE London School of Economics and Political Science M. Max M, M., Mks. Mark, Marks m Meter m2 Quadratmeter MA, M. A. magister artium, Master of Arts Mass. Massachusetts MdprAH Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses MdprHH Mitglied des preußischen Herrenhauses MdprL Mitglied des preußischen Landtags MdR Mitglied des Reichstages m. E. meines Erachtens Min. Minuten Misc. Miscellanea Mme Madame Mo.Bl. Morgenblatt Mr., Mr, Mr Mister, Monsieur Mrs., Mrs, Mrs Mistress Ms., Mscr. Manuscript(e/s)
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Mt, Mt. Mount Mte Monte m.W. meines Wissens M. W. Max Weber MWG Max Weber-Gesamtausgabe; vgl. die Übersicht zu den Einzelbänden, unten, S. 741 f., 748–751 n.b. nebenbei NB Notabene N. C. North Carolina n. Chr. nach Christus ndl. niederländisch N. F. Neue Folge Nl. Nachlaß No., No number, numero Nov. November Nr. Nummer N. Y. New York O Original o. oder o., ord. ordentlicher o.g. oben genannt o.J. ohne Jahr o.O. ohne Ort o.V. ohne Verlag Okla. Oklahoma Okt. Oktober p. pro Ph.D. philosophiae doctor, Doctor of Philosophy P. m. Piccola mia pp, pp., p.p. perge, perge PrJbb Preußische Jahrbücher Prof. Professor Ps. Pseudonym P.S. Post Scriptum PSt Poststempel r recto (bei Blattzählung die Vorderseite) Rep. Repertorium resp. respektive Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Friedrich RGG1,2 Michael Schiele und Leopold Zscharnack, 5 Bände, 1. Aufl. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1909–1913; dass., hg. von Hermann Gunkel und Leopold Zscharnack, 5 Bände, 2. Aufl., ebd., 1927–1932. Roth, Familiengeschichte Roth, Guenther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950. Mit Briefen und Dokumenten. – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2001. s. siehe
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S. Seite S, S., St, St., St San, Sankt, Saint SBPK Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Scaff, Weber in America Scaff, Lawrence A., Max Weber in America. – Princeton, Oxford: Princeton University Press 2011. Sch., Schev. Scheveningen SchmJb (Schmollers) Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich Schulthess 1902 Schulthess‘ europäischer Geschichtskalender, hg. von [Heinrich] Schulthess, N. F. 18. Jg. – München: Beck 1903. Schulthess 1903 dass., N. F. 19. Jg. – München: Beck 1904. Sekt. Sektion sen. senior Sept. September sog., sogen. sogenannt Sombart, Der moderne Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Erster Band: Kapitalismus I, II Die Genesis des Kapitalismus. Zweiter Band: Die Theorie des Kapitalismus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1902. Sp. Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sta Santa StA Stadtarchiv StGB Strafgesetzbuch Str. Straße s. u. siehe unten s.Z., s.Zt. seiner Zeit Tenn. Tennessee TH Technische Hochschule Tit. Titel Tl. Transliteration u. und u. a., u. A. unter anderem, und andere, und Andere UA Universitätsarchiv UB Universitätsbibliothek übers. übersetzt u. dgl., u. dergl. und dergleichen ULB Universitäts- und Landesbibliothek undat. undatiert unv. unverändert U. S., USA United States of America u. s. f. und so fort u. s. w. und so weiter u. U. unter Umständen v verso (bei Blattzählung die Rückseite) v. von v. Vers VA Verlagsarchiv v. a. vor allem v. Chr. vor Christus
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v.d. von der verb. verbesserte verfl... verflixt, verflucht verh. verheiratet verm. vermehrte verw. verwitwet VfSp Verein für Socialpolitik VfSp-Verhandlungen 1905 Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die finanzielle Behandlung der Binnenwasserstraßen, über das Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben und das Verhältnis der Kartelle zum Staate (Schriften des Vereins für Socialpolitik 116: Verhandlungen der Generalversammlung in Mannheim, 25., 26., 27. und 28. September 1905). – Leipzig: Duncker & Humblot 1906. vgl. vergleiche V. H. Dr Verehrter Herr Doktor vol., Vol., vols. volume, volumes vs. versus VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Weber, Marianne, Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild, 3. Aufl. – Tü Lebensbild3 bingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1984. Weber, „Kirchen“ und Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kir „Sekten“ chen- und sozialpolitische Skizze, in: Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, 20. Jg., Nr. 24 vom 14. Juni 1906, Sp. 558–562, und Nr. 25 vom 21. Juni 1906, Sp. 577–583 (MWG I/9, S. 426–462). Weber, Kritische Studien Weber, Max, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S. 143–207 (MWG I/7). Weber, Objektivität Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 22–87 (MWG I/7). Weber, Protestantische Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Ethik I Kapitalismus. I. Das Problem, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904, S. 1–54 (MWG I/9, S. 97–215). Weber, Protestantische Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Ethik II Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus, in: AfSSp, Band 21, Heft 1, 1905, S. 1–110 (MWG I/9, S. 222–425). Weber, Roscher und Weber, Max, Roscher und Knies und die logischen Probleme Knies I–III der historischen Nationalökonomie [1. Artikel], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, hg. von G. Schmoller, 27. Jg., Heft 4, 1903, S. 1–41 (= S. 1181–1221); dass., [2. Artikel] II. Knies und das Irratio nalitätsproblem, ebd., 29. Jg., Heft 4, 1905, S. 89–150 (= S. 1323–1384); dass., [3. Artikel] II. Knies und das Irrationalitätsproblem (Fortsetzung.), ebd., 31. Jg., Heft 1, 1906, S. 81– 120 (MWG I/7). W.C. Wasserclosett WS Wintersemester Z. Zeile
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z. B. zum Beispiel ZfGO Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins zit. zitiert z. T. zum Teil z.Z. zur Zeit
Max Weber ca. 1903 Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Sammlung Geiges
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1. Der Privatgelehrte, S. 1. – 2. Die wissenschaftliche Neuorientierung, S. 3. – 3. Die Amerikareise, S. 7. – 4. Die sozialpolitischen und politischen Bezüge, S. 15. – 5. Der akademische Kontext, S. 17. – 6. Zur privaten Lebenssphäre, S. 2 0. – 7. Zur Überlieferung und Edition, S. 2 2.
In diesem Band werden die überlieferten Briefe Max Webers aus den Jahren 1903 bis 1905 ediert. Sie dokumentieren die Phasen seiner Gesundung, die Rückkehr zu intensiver wissenschaftlicher Arbeit wie zu sozialpolitischer Vereinstätigkeit, die nachhaltigen Reiseerfahrungen, nicht zuletzt die Belebung akademischer und privater Kommunikation nach jahrelanger schwerer Krankheit.
1. Der Privatgelehrte Eine einschneidende Weichenstellung in Webers Lebensweg stellt die im April endgültig beantragte und zum Oktober 1903 bewilligte Entlassung aus dem badischen Staatsdienst dar. Im Schreiben an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts bat er am 16. April „Allerhöchsten Ortes meine Entlassung aus dem Staatsdienst erwirken und mich unter die außeretatmäßigen Professoren der hiesigen Hochschule überführen zu wollen. […] Mein Gesundheitszustand schließt für absehbare Zeit die Erfüllung der Lehrpflichten eines Ordinarius aus“.1 Nach kurzer Verärgerung darüber, daß die Fakultät ihm damit auch Sitz und Stimme entzog, nahm er den Titel eines Honorarprofessors an.2 Seine gewonnene Freiheit als Privatgelehrter nutzte Weber das ganze Jahr 1903 hindurch zu vielfachen Reisen, die er in zahlreichen Briefen ausführlich und anschaulich beschreibt. Lange Reisen in den Süden, vornehmlich nach Rom, waren schon zuvor ein erprobtes Mittel, seinen psychosomatischen Erschöpfungszuständen zu begegnen und neue Kräfte zu sammeln. Im Jahr 1903 dienten insgesamt sechs Reisen nicht nur diesem Zweck. Er nahm auch seine wissenschaftlichen Kontakte wieder auf.
1 Brief vom 16. Apr. 1903, unten, S. 51. 2 Zum gesamten Komplex der Dienstentlassung vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Ministerialrat Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, unten, S. 4 5–47.
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Mitte Januar kehrte er von seinem Aufenthalt an der italienischen Riviera zurück. Bereits Anfang März fuhr er wieder für sechs Wochen nach Rom und nahm dort Anfang April zeitweilig am Internationalen Historikerkongreß teil.3 Den Juni verbrachte er an der Nordsee in Scheveningen mit Ausflügen nach Den Haag und Amsterdam. Im August fuhr er noch einmal bis in den September hinein nach Ostende in ein „Volkshotel“, das ihn „in nahe Berührung mit sonst unerreichbaren Menschtypen: Arbeitern, Handwerkern, Kaufleuten“, brachte.4 An seinem Wohnort in Heidelberg hielt es ihn hingegen immer nur kurz. Die Teilnahme an Ausschußsitzung und Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik Mitte September in Hamburg nutzte er auch, um anschließend mit Lujo Brentano, Werner Sombart und seinem Bruder Alfred noch einige Tage nach Helgoland zu fahren. Und Mitte Oktober zog es ihn noch einmal für eine Woche nach Scheveningen. Auch auf seinen Reisen kehrten Abspannung und Schlafstörungen regelmäßig wieder und zwangen ihn zu erheblicher Medikamenteneinnahme, genannt werden in den Korrespondenzen Brom und Trional.5 Aber seine Aufnahmebereitschaft verstärkte sich kontinuierlich. Vor allem in seinen niederländischen Reisebriefen bezeugt er seine kulturgeschichtlichen Interessen und die Neugier, mit der er sehr heterogene Kulturphänomene beobachtete. Mit Carl Neumanns Rembrandt-Biographie im Kopf besuchte er im Haag die Königliche Galerie im Mauritshuis: „Die drei Altersbilder hier – Porträt seines Bruders, Homer u. David u. Saul, – in der Zeit seines Unglücks gemalt, sind doch das Schönste, was ich noch von ihm gesehen habe“.6 Auch in Amsterdam setzte er sich „zu den Rembrandt´s in das ‚Rijksmuseum‘“, nachdem er zuvor „einige Gottesdienste mitgemacht hatte“. Von den auffälligen Trachten der ständisch getrennten Kirchenbesucher bis zur rhetorischen Kunst des Predigers – „es war streng reformierte Orthodoxie, Gottes Fluch spielte eine gewaltige Rolle“ – schildert er detailliert seine Eindrücke.7 Es dürfte sich nach seinen Studien in Rom zum katholischen Mönchswesen um eine weitere und verstärkte Einstimmung in sein neues Thema handeln, das auf die „Protestantische Ethik“ zuläuft. Nicht zuletzt kehrte die Lust an akademischer Geselligkeit zurück. Noch aus Scheveningen ermunterte Weber seine Frau Marianne, vor seiner Rück3 Belegt ist die Teilnahme Max Webers an der Eröffnungsveranstaltung am 1. April 1903, auch war er in der Teilnehmerliste für den Kongreß aufgeführt, DHI-Rom, R 1, Nr. 1, fol. 141r. 4 Weber, Marianne, Lebensbild3, S. 281. 5 Zu Brom vgl. die Karte an Marianne Weber vom 13. Okt. 1903 aus Scheveningen, unten, S. 171 mit Anm. 2, zu Trional vgl. die Karten an Marianne Weber vom 7. Jan. 1903 aus Nervi, unten, S. 4 0 mit Anm. 1, vom 16. Juni und 14. Okt. 1903 aus Scheveningen, unten, S. 106 mit Anm. 1 und S. 172 mit Anm. 1. 6 Brief an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, unten, S. 9 0. 7 Alle Zitate aus dem Brief an Marianne Weber vom 14. Juni 1903, unten, S. 101–104.
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kehr ein Abendessen für Freunde und Kollegen zu geben, darunter die Ehepaare Troeltsch, Jaffé und Rathgen, „das sind ‚Culturausgaben‘, dafür muß Geld auch ohne Haushaltsersparnisse da sein“.8 Mit dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst hatte Weber auch auf seine Besoldung verzichtet. Für eine standesgemäße akademische Lebensführung veranschlagte er einen jährlichen Betrag von 4.000 Mark, den er als Abschlag aus dem zu erwartenden Erbe Marianne Webers zu entnehmen gedachte.9
2. Die wissenschaftliche Neuorientierung Im Mittelpunkt der Arbeit Max Webers standen in den Jahren 1903 bis 1905 die Herausgebertätigkeit für die Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, die Ausarbeitung umfassender Aufsätze zu methodologischen und erkenntniskritischen Grundfragen der Sozial- und Kulturwissenschaften, vornehmlich für diese Zeitschrift, und zugleich die Erschließung eines neuen Forschungsfeldes zum Verhältnis von Wirtschaft und Religion mit den beiden Aufsätzen zur „Protestantischen Ethik“. Zu Beginn des Jahres 1903 arbeitete Weber an einem Beitrag über Erkenntnisprobleme seiner Fachdisziplin, mit dem er schon im Vorjahr begonnen hatte und der ihm immer umfänglicher geriet. Der erste Teil erschien unter dem Titel „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (Erster Artikel)“ im Oktober dieses Jahres.10 Zu diesem Zeitpunkt nahm er die „Protestantische Ethik“ in Angriff, wie er an Lujo Brentano nach dem gemeinsamen Aufenthalt in Helgoland, an dem auch Werner Sombart beteiligt war, schrieb: „Ich denke mit Vergnügen an das wenn auch kurze Zusammensein und hoffe wie gesagt Ihnen eventuell nützlich sein zu können. Falls Sie der Frage des Calvinismus näher treten. Ich werde im Laufe dieses Winters für meinen Louis‘er Vortrag und einen Aufsatz für das Archiv die Quellen erneut durcharbeiten“.11 Der „Aufsatz für das Archiv“ spielt als erste konkrete Erwähnung auf die „Protestantische Ethik“ an.12 Entscheidend für Webers wissenschaftliche Zukunft wurde der Erwerb von Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ durch Edgar Jaffé, der sich auf Webers Anraten in Heidelberg habilitierte. Das 1888 begründete Braunsche „Archiv“ widmete sich der sozialstatistisch verglei8 Brief an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, unten, S. 8 9 mit Anm. 1. 9 Brief an Marianne Weber vom 3. Jan. 1903, unten, S. 3 4 mit Anm. 5. 10 Der erste Teil von Weber, Roscher und Knies I–III, erschien im Oktober-Heft 1903 des Jahrbuchs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, der zweite Teil im Oktober-Heft 1905 und der dritte Teil im Januar-Heft 1906. 11 Brief an Lujo Brentano vom 10. Okt. 1903, unten, S. 163 f. 12 Vgl. Schluchter, Wolfgang, Einleitung, in: MWG I/9, S. 4 5.
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chenden Analyse der „kapitalistischen Produktionsweise“ aller Länder,13 bezogen auf deren Sozialgesetze. Im Sommer 1903 bewogen anderweitige politische Pläne den Sozialdemokraten Braun, die florierende Zeitschrift für 60.000 Mark zu verkaufen. Eine „lächerliche Unverfrorenheit“ nannte Weber diese Kaufsumme,14 aber Jaffé griff zu. Mit dem neuen Herausgeberkreis, gebildet aus Jaffé selbst, dazu Werner Sombart und Max Weber, fanden kreative Außenseiter des akademischen Establishments im Kaiserreich zusammen und gaben den deutschsprachigen Sozialwissenschaften in der Krise des Historismus entscheidende Impulse. In ihren Korrespondenzen schlägt sich dies von Beginn an nieder. Edgar Jaffé übernahm die verantwortliche Geschäftsführung der Zeitschrift, die in „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ umbenannt wurde.15 Der Vertrag, der am 23. August 1903 zwischen dem „Privatgelehrten Dr. Edgar Jaffé“ und dem Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen geschlossen wurde, regelte Jaffés verantwortliche Stellung: „Dr. Jaffé übernimmt die Redaktion des Archivs, er hat allein das Recht sich Mitredakteure, Mitherausgeber oder Stellvertreter zu wählen. Er bestimmt die Mitarbeiter sowie die Zusammensetzung des Inhaltes des Archivs.“16 Es wurde eine Lebensaufgabe, die Jaffé mit großer Hingabe bewältigte. Unterstützt wurde er von seiner Ehefrau Else Jaffé, die Weber scherzhaft „meinen weiblichen Chef in unsrer Redaktion“ nannte.17 Werner Sombart verfügte über das größte Netz ausländischer Kontakte. Er sorgte im wesentlichen für die Internationalität des Archivs. In seinen eigenen Beiträgen setzte er einen besonderen Akzent, indem er die revolutionären Ideen des westlichen Syndikalismus auf den deutschen Lesemarkt brachte, in ausführlichen Aufsätzen und vor allem in Literaturberichten zu den syndikalistischen Bewegungen in Frankreich, Italien und den USA. Für Max Weber wiederum bot sich die Gelegenheit, sich als Privatgelehrter im wissenschaftlichen Feld neu zu positionieren. Es war eine Chance, die er als kritischer Redakteur wie als regelmäßiger Autor gründlich nutzte. Zu einer Neubegründung des Archivs wäre es nicht ohne den Verleger Paul Siebeck gekommen. Siebeck hatte sich im Verlauf der Verhandlungen, bei denen auch der Gustav Fischer Verlag zur Diskussion stand, zur Übernahme bereit erklärt, nachdem feststand, daß sein Autor Max Weber eine führende 13 Braun, Heinrich, Zur Einführung, in: Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik, 1. Band, 1888, S. 1–6, Zitat: S. 5. 14 Karte an Marianne Weber vom 16. Juni 1903, unten, S. 106. 15 Vgl. ausführlich zu Erwerb und Organisation des AfSSp die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, unten, S. 6 8–70. 16 § 2 des Verlagsvertrages, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 950, abgedruckt im Anhang, unten, S. 617. 17 Brief an Gustav Schmoller vom 16. Nov. 1905, unten, S. 5 94–599, hier S. 5 97.
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Rolle spielen würde. Die Briefe zwischen Weber und Siebeck zeugen von einer sich festigenden Freundschaft und von Zukunftsplänen, wie dem zur völligen Neugestaltung von „Schönbergs Handbuch“, denn „das Handbuch hat seine Zeit gehabt“.18 Von der Vorbereitung des ersten Archiv-Heftes an, das Mitte April 1904 erschien, zeigen die Korrespondenzen Max Weber als einen gewissenhaften, manchmal detailversessenen Organisator und Redakteur der Manuskriptvorlagen, die nicht immer seinen kritischen Maßstäben entsprachen. Um das Archiv entspann sich ein weites Netz von Korrespondenzpartnern. Da es Bestrebungen gab, das Archiv in seiner neuen Ausrichtung auch als Forum des „Vereins für Socialpolitik“ zu nutzen, gab es unter den Herausgebern eine Präferenz, neue Autoren bevorzugt aus der jüngeren Generation des Vereins für Socialpolitik zu rekrutieren. Insgesamt gelang es den Herausgebern, führende Nationalökonomen und Wirtschaftstheoretiker aus den wichtigsten Industriestaaten mit Beiträgen für das Archiv zu gewinnen. Über die Ausrichtung des Archivs informiert ein knappes „Geleitwort“ im ersten Band der Neuen Folge, für das die drei Herausgeber gemeinsam verantwortlich zeichneten. Weber wünschte keine ausführlichen programmatischen Bekenntnisse: „Die Frage der ‚Tendenz‘ des Archivs sollte m. E. aus den einleitenden Worten fortbleiben. Es läßt sich kurz etwas Adäquates darüber nicht sagen u. mein ganzer langer Artikel handelt ja davon.“19 Gleichwohl sprach das Geleitwort die neue Ausrichtung, welche die Herausgeber verfolgten, deutlich an: „Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht.“20 Gegenüber den alten europäischen Journalen mit ihrer „reinen Stoffsammlung“ sei eine „wichtige Aufgabe neu erwachsen“: „Dem Hunger nach sozialen Tatsachen, der noch vor einem halben Menschenalter die Besten erfüllte, ist, mit dem Wiedererwachen des philosophischen Interesses überhaupt, auch ein Hunger nach sozialen Theorien gefolgt“, primär „die Bildung klarer Begriffe“.21 Max Webers Appell an strenge Methodenreflexion ist hier unverkennbar. Es war seine Absicht, das Archiv über die thematischen Schwerpunkte hinaus zu einem Forum für die aktuellen Debatten zur „Erkenntniskritik und Methodenlehre“ auszuweiten.22
18 Brief an Paul Siebeck vom 26. Nov. 1905, unten, S. 6 04, sowie die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom [15.] Apr. 1905, unten, S. 4 61 f. 19 Karte an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, unten, S. 195. 20 [Jaffé, Edgar, Sombart, Werner und Weber, Max], Geleitwort, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. I –VII, Zitat: S. V (MWG I/7). 21 Ebd., S. VI. 22 Ebd., S. VII.
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Weber selbst eröffnete diese Debatte mit seinem „langen Artikel“, gemeint ist der Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“.23 Nur durch methodisch saubere Begriffsarbeit ließen sich die historischen Kultur- und Sozialwissenschaften, darunter sein eigenes Fach der Nationalökonomie, aus ihrer schweren Erkenntniskrise führen, in die sie am Ende des 19. Jahrhunderts durch ihre historistischen oder evolutioni stischen Sozialphilosophien geraten waren. Darauf wollte er das Archiv in der „Tendenz“ ausrichten: „welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet: welches ist die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begriffsbildung für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit?“24 Weber versandte Exemplare dieses weichenstellenden Aufsatzes an seine Kollegen. „Ihre Zustimmung zu dem Gedanken des ‚Idealtypus‘ erfreut mich sehr“, so antwortet er im Brief vom 14. Juni 1904 auf eine Stellungnahme Heinrich Rickerts: „In der That halte ich eine ähnliche Kategorie für notwendig, um ‚werthendes‘ und ‚werthbeziehendes‘ Urteil scheiden zu können.“25 Die Methodendebatte war nur eines seiner neu ergriffenen Arbeitsgebiete. Im gleichen Brief an Rickert beklagte Weber, daß die Unterbrechung durch die bevorstehende Amerikareise mit dem Kongreß in St. Louis sowie sein schwankender Gesundheitszustand ihn in seiner „Hauptarbeit“ behindern, gemeint ist die „protestantische Ethik und Geist des Capitalismus“.26 Gearbeitet hat er daran kontinuierlich, denn am 20. Juli drängte er Paul Siebeck, weil ihn die Druckerei „zur Verzweiflung“ bringe: „Aber wichtiger ist mir: ich soll noch den Aufsatz über ‚Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus‘ vor meiner Abreise (15. August) in mindestens zwei Correkturen lesen, muß das auch – da ich bis Ende November fortbleibe – wenn er in Band XX Heft I soll und habe daran sehr viel zu bessern u. zu corrigieren, da ich ihn auf Wunsch der Druckerei vorzeitig einschickte.“27 Es gab ein drittes Themenfeld, das Weber neben dem Objektivitätsaufsatz und dem ersten Aufsatz zur „Protestantischen Ethik“ vor seiner Amerikareise erfolgreich bewältigte. Am 15. April 1904 setzte er seinen Verleger Paul Siebeck in Kenntnis, er habe „eine umfangreiche recht schwierige Arbeit fertig machen können“.28 Damit bezieht sich Weber auf seinen Aufsatz über „Agrarstatistische und sozialpolitische 23 Weber, Objektivität, erschien in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 2 2–87 (MWG I/7). 24 Ebd., S. 59. 25 Unten, S. 230. 26 Ebd., unten, S. 2 31. 27 Brief an Paul Siebeck vom 20. Juli 1904, unten, S. 246. In der Tat ist der erste Aufsatz, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. I. Das Problem, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904 S. 1–54 (MWG I/9, S. 97–215), erschienen. 28 Brief an Paul Siebeck vom 15. Apr. 1904, unten, S. 217.
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Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen“,29 mit dem er seine agrarpolitische Werkphase abschloß. Den unmittelbaren Anlaß bot die preußische Gesetzesvorlage zur Reform des Fideikommißrechtes von 1903, die eine Erleichterung des Erwerbs von fideikommissarisch gebundenem Großgrundbesitz im Osten vorsah. Weber befürchtete von diesem Gesetz eine Entvölkerung der ostelbischen Regionen und überarbeitete zur Untermauerung seiner Kritik umfangreiches agrarstatistisches Material zum Zusammenhang von landwirtschaftlicher Betriebsgröße und Bevölkerungsdichte, das er bereits vor seiner Krankheit in den 1890er Jahren zusammengestellt hatte. Noch vor seiner Amerikareise sandte Weber an Paul Siebeck eine Liste, an welche Kollegen bei Erscheinen des Aufsatzes im Septemberheft 1904 des Archivs „auf meine Kosten“ Separatabzüge geschickt werden sollten.30 Darunter war Max Sering als Befürworter des Gesetzes, mit dem es in Folge des Aufsatzes prompt zu einem Zerwürfnis kam.31 Faßt man Webers Aktivitäten vor der Amerikareise zusammen, spiegelt sich darin eine erstaunliche Leistungsfähigkeit. In der ersten Jahreshälfte 1904 schrieb er vier Aufsätze und einen Vortrag: Zu den drei großen Aufsätzen für das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ kommen der Aufsatz über den „Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts“32 und das Vortragsmanuskript für St. Louis hinzu.
3. Die Amerikareise Von Mitte August bis Ende November 1904 bereiste Max Weber in Begleitung seiner Frau die USA. Bis zu seinem Lebensende kam er immer wieder auf die mit dieser Reise verbundenen Eindrücke und Ereignisse zurück. Die USA wurden für ihn zu einer Vergleichsgesellschaft wie sonst nur noch England. Diente ihm England als Modell für die Entwicklung einer kapitalistischen und demokratisch verfaßten Gesellschaft, so waren ihm die USA das Modell, an dem man zukünftige Tendenzen dieser Entwicklung ablesen konnte. Schon im Sommer 1903 entschloß sich Max Weber, im folgenden Jahr in die USA zu reisen, wie seine Frau im Brief vom 26. August 1903 an ihre 29 Weber, Max, Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen, in: AfSSp, Band 19, Heft 3, 1904, S. 5 03–574 (MWG I/8, S. 81– 188). 30 Brief an Paul Siebeck vom 17. Aug. 1904, unten, S. 258. 31 Vgl. dazu den Brief an Alfred Weber vom 8. März 1905, unten, S. 4 35 f. 32 Der Artikel erschien in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hg. von Johannes Conrad, Edgar Loening und Wilhelm Lexis, III. Folge, Band 28, 1904, S. 4 33–470 (MWG I/6, S. 2 28–299), und war ursprünglich durch den Weltkongreß in St. Louis veranlaßt (vgl. dazu den Editorischen Bericht in MWG I/6, S. 2 28).
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Schwiegermutter schrieb.33 Dies ist umso bemerkenswerter, als sein Gesundheitszustand immer noch sehr labil war. Marianne Weber teilte ihrer Schwiegermutter am 30. Oktober 1903 mit: „Mit Maxens Befinden geht es noch auf u. ab, namentlich mit dem Schlafen, u. nach schlechten Nächten ist ihm der Tag sehr grau – dann hilft die Beschäftigung mit dem Bädeker über Amerika.“34 Die Einladung zur Teilnahme am „International Congress of Arts and Science“ im Zusammenhang mit der Weltausstellung in St. Louis kam ihm daher sehr gelegen. Hugo Münsterberg, der an der Organisation des Kongresses maßgeblich beteiligt war, hatte ihm auf Anregung von Georg Jellinek eine Einladung geschickt. Er kannte Weber aus der gemeinsamen Zeit in Freiburg, hatte aber Mühe, die Einladung Webers durchzusetzen, denn dieser zählte damals nicht zu den bedeutenden Gelehrten Deutschlands. Aber auch ohne die Einladung hätte Max Weber eine Amerikareise unternommen,35 mit Hilfe des Vermögens seiner Mutter und dem Vorschuß auf das Erbe seiner Frau, aus denen ohnedies die den Pauschalbetrag von 500 Dollar für den Besuch des Kongresses übersteigenden Kosten der Reise zu decken waren. Denn seit dem 1. Oktober 1903 – nach seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst – war er ohne Einkommen. Schon einmal wollte Weber die USA besuchen, und zwar 1893 anläßlich der Weltausstellung in Chicago. Dazu war es wegen der Heirat mit Marianne Schnitger in diesem Jahr nicht gekommen. Aber die USA blieb ein Wunschziel. Amerika wurde ihm schon in der Jugendzeit durch den Vater nahegebracht, der 1883 auf Einladung seines Freundes Henry Villard (Heinrich Gustav Hilgard) zur Eröffnung der Northern Pacific Railroad von Minneapolis-St. Paul nach Portland und Seattle gefahren war. Auch Friedrich Kapp, in Berlin mit der Familie Weber befreundet und als nationalliberaler Abgeordneter im Reichstag Kollege seines Vaters, der von 1848 bis 1870 in Amerika gelebt hatte, erzählte von diesem Land. Dem elfjährigen Weber schenkte er die Autobiographie von Benjamin Franklin.36 Mit 15 Jahren notierte Max Weber: „Sonst habe ich mich in der letzten Zeit viel mit der Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika beschäftigt, die mir sehr interessant ist.“37 Max Weber war also seit langem an den USA interessiert. Außerdem 33 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 26. Aug. 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 34 Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 30. Okt. 1903, ebd. 35 Brief an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, unten, S. 2 32 f. 36 Vgl. dazu Roth, Guenther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950. – Tübingen: Mohr Siebeck 2001 (hinfort: Roth, Familiengeschichte), S. 483–485. 37 Brief an Fritz Baumgarten vom 11. Okt. 1879, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 8 , Bl. 32–33 (MWG II/1), dass. auch in: Weber, Max, Jugendbriefe. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1936, S. 28f., Zitat: S. 2 9.
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lebten Nachkommen der Halbbrüder von Webers Mutter dort, die besucht werden konnten.38 Max und Marianne Weber verließen Heidelberg am 17. August 1904 und schifften sich am 20. August auf dem Dampfer „Bremen“ des Norddeutschen Lloyd ein. Am 30. August betraten sie in New York amerikanischen Boden und traten von dort aus ihre Rückreise am 19. November 1904 mit dem Dampfer „Hamburg“ an. Über Hamburg erreichten sie Heidelberg Ende November. Die Reise dauerte insgesamt über drei Monate, davon 11 Wochen in den USA.39 Die Kongreßleitung hatte für die Anreise nach St. Louis die Route von New York über Niagara Falls und Chicago vorgeschlagen. Der Rückweg sollte über Washington gehen, wo Präsident Theodore Roosevelt die Teilnehmer empfangen wollte. Daran sollte sich ein touristisches Programm anschließen, das mit Besuchen von Philadelphia, Boston und New Haven am 7. Oktober in New York enden sollte.40 Max und Marianne Weber folgten diesem Programm bis nach St. Louis in Begleitung von Ernst Troeltsch und teilweise auch eines zweiten Heidelberger Freundes, des Philosophen Paul Hensel. Sie wollten ursprünglich auch am Empfang von Präsident Theodore Roosevelt in Washington teilnehmen. Dazu kam es jedoch nicht. Max Weber änderte in St. Louis seine Reiseroute. Er hatte dort zwei Personen getroffen, die sein Interesse auf die Ansiedlungspolitik in den Indian Territories und auf die Bildungsanstalt für Schwarze von Booker T. Washington in Tuskegee, Alabama, lenkten. Es handelt sich um Jacob H. Hollander von der Johns Hopkins University in Baltimore bzw. W. E. B. Du Bois von der Universität in Atlanta. Hollander war gerade aus den Indian Territories zurückgekehrt, wo er als „special agent on taxation“ der Bundesregierung (Oklahoma wurde erst 1907 als eigener Staat begründet) tätig gewesen war. Du Bois galt als der bedeutendste Kenner und Förderer der Farbigen. Spontan griff Weber diese Anregungen auf und fuhr statt nach Washington nach Guthrie und Muskogee in Oklahoma. Marianne Weber blieb in St. Louis zurück und traf sich mit Max Weber erst wieder am 3. Oktober in Memphis. Von dort aus fuhren sie gemeinsam nach New Orleans und weiter nach Tuskegee, Alabama. In Tennessee und North Carolina besuchten sie die Verwandten und folgten dann der vorgesehenen Reiseroute über Washington, Philadelphia und Boston, wo sie weitere Verwandte trafen, nach New York.
38 Vgl. dazu die Übersicht im Anhang, unten, S. 711–716. 39 Zur Amerikareise vgl. die ausführliche Gesamtdarstellung von Lawrence A. Scaff, Max Weber in America. – Princeton: Princeton Universität Press 2011 (hinfort: Scaff, Max Weber in America), deutsche Übersetzung: Berlin: Duncker & Humblot 2013. 40 Vgl. das Merkblatt Universal Exposition St. Louis 1904. International Congress of Arts and Science vom 12. Juli 1904. Ein Exemplar befindet sich in der Universitätsbi bliothek Frankfurt a. M., Archivzentrum, Nl. Fürbringer D. 5, Nr. 6 3c, Bl. 104.
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Max Weber und auch seine Frau verfolgten jeweils eigene Interessen. Für Max Weber standen dabei die Probleme der Bildung einer neuen Gesellschaft („civil society“) aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen unter dem Einfluß von religiösen Denominationen sowie die amerikanischen Universitäten und Colleges im Vordergrund. Marianne Webers Interessen galten besonders der Lebenslage der Frauen, der Frauenbildung und der Wohlfahrtspflege in den „settlements“, die von Jane Addams, Florence Kelley und Lillian D. Wald, drei eindrucksvollen Frauen, getragen wurde. In Muskogee informierte sich Weber über die Auflösung des Reservats der Cherokee-Indianer durch die Überführung des Stammeseigentums an Grund und Boden in Privateigentum wie auch über die öffentliche Versteigerung dieses privaten Bodenbesitzes. Hier gewann er noch einen Eindruck von der Romantik der alten „frontier“. Weber sah die Lebensverhältnisse der Schwarzen nicht nur im städtischen Norden, sondern auch im ländlichen Süden der Vereinigten Staaten. Tief beeindruckten ihn die Anstrengungen des von Booker T. Washington geleiteten „Tuskegee Normal and Industrial Institute“, den Bildungsstand der Schwarzen in Alabama zu heben.41 Mit W. E. B. Du Bois wollte er sich noch ein zweites Mal in Atlanta treffen, doch dieses Treffen kam nicht zustande. Immerhin verabredete er mit ihm einen Artikel für das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“.42 Max Weber selbst wollte „einige Kritiken über Negerlitteratur u. dgl. schreiben“, was aber unterblieb.43 Über Probleme der Integration von Einwanderern informierte er sich schon am Anfang der Reise bei dem Besuch einer deutschen Arbeitergemeinde in North Tonawanda durch den dortigen Pfarrer Hans Haupt. Das Erlernen der englischen Sprache und das Zurückdrängen des Deutschen galten ihm als Voraussetzung für jeglichen sozialen Aufstieg. Bei seinen Verwandten in North Carolina sah er, wie das Beharren auf einer landwirtschaftlichen Tätigkeit an den Abhängen der Allegheny Mountains nur ein bescheidenes Leben zuließ. Am Ende der Reise informierte er sich in New York intensiv über die Integrationsproblematik jüdischer Einwanderer. David Blaustein, Superintendent der Educational Alliance, führte ihn in die komplexe Sozial- und Bildungsarbeit dieser 1891 gegründeten Hilfsorganisation ein. Die Kinder lernten, sich in Clubs selbst zu organisieren, wurden durch Sport körperlich ertüchtigt und mit der amerikanischen Zivilkultur vertraut gemacht. Nach nur vier Monaten übergab man die zumeist ohne Schulbildung und aus verarmten 41 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904, unten, S. 327 mit Anm. 12. 42 Burghardt Du Bois, W. E., Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S. 31–79. 43 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 4 07.
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ländlichen Gegenden Osteuropas stammenden Kinder jüdischer Einwanderer an die öffentlichen Schulen. Den jüdischen Religionsunterricht hatte man vom Jiddischen auf das Hebräische als Kultsprache umgestellt.44 Auch Marianne Weber war tief beeindruckt von diesem jüdischen Erziehungshaus, das übrigens nicht nur für die Kinder, sondern, wie sie schreibt, auch für die „Erwachsenen ein Mittelpunkt“ war. Täglich gehen „etwa 6000 Menschen ein u. aus – 400000 Mk. werden jährlich dafür verausgabt – 122 bezahlte u. etwa 300 unbezahlte Kräfte arbeiten daran“.45 Die reichen deutsch-jüdischen Bankiers und Geschäftsleute New Yorks, wie die Familien Schiff und Seligman, waren Präsidenten und Finanziers der Educational Alliance. Max Weber meinte: „Das absolute self-government der Kinder, mit Clubs, in die sie Niemand hineinreden u. Fremde auch nicht hineinsehen lassen, ist doch das wesentlichste Amerikanisierungsmittel. Die absolute Autoritätslosigkeit der Jugend trägt im Kampf ums Dasein hier ihre Früchte. Als Kinder von Schnorrern, die streng an allem Rituellen der Religion festhaften, kommen sie hierher, als ‚gentlemen‘ verlassen sie diese Trainierungsanstalt und – stürzen sich auf die Neger des Südens, die sie fürchterlich auswuchern.“46 Große Aufmerksamkeit schenkte Weber den religiösen Vereinigungen. Auch wenn er deren dogmatischen Gehalt abnehmen sah, sprach er ihnen großen Einfluß auf die Kultur und Struktur der amerikanischen Gesellschaft zu. In North Tonawanda informierte er sich über das kirchliche Leben einer deutschen Arbeitergemeinde, die zur „German Evangelical Church“ gehörte. In Evanston machte er sich mit dem „Chapel record“ der ursprünglich methodistischen Northwestern University vertraut. In Chicago sah er das Neben einander der katholischen Kirche der Polen und Iren, der lutherischen Missouri-Kirche sowie der zahlreichen Sekten. In Mount Airy nahm er als Gast an einem methodistischen Gottesdienst und an einer Baptistentaufe (durch Untertauchen im eisigen Wasser eines Gebirgsbachs) teil. In Washington besuchte er einen Baptistengottesdienst der schwarzen Mittelklasse, Marianne Weber in New York einen presbyterianischen Gottesdienst, der „fashionablesten Kirche“ in der 5 th Avenue.47 In Haverford bei Philadelphia nahm Max Weber an einer Andacht der Quäker, in New York an den Zusammenkünften der „Christian Science“ und der „Ethical Culture“ mit einem Vortrag ihres Gründers Felix Adler teil. Durch die Gottesdienstbesuche gewann
44 Vgl. dazu Blaustein, Miriam, Memoirs of David Blaustein. – New York: McBride, Nast & Comp. 1913. 45 Vgl. den Briefteil von Marianne Weber an Helene Weber und Familie vom 11. Nov. 1904, unten, S. 3 81–388, hier S. 3 87. 46 Vgl. den Briefteil von Max Weber an Helene Weber und Familie vom 16. Nov. 1904, unten, S. 3 88–390, hier S. 3 89. 47 Vgl. den Briefteil von Max Weber an Helene Weber und Familie vom 6. Nov. 1904, unten, S. 376–381, hier S. 3 80.
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Weber einen unmittelbaren Eindruck vom religiösen Leben in unterschiedlichen sozialen Milieus. Katholische Kirchen besuchte er nicht. Mit seinen Studien zur protestantischen Ethik standen diese Interessen nur in einem indirekten Zusammenhang. Er bemerkte: „[…] für meine kulturgeschichtliche Arbeit habe ich nicht viel mehr gesehen, als: wo die Dinge sind, die ich sehen müßte, insbesondere die Bibliotheken etc., die ich zu benutzen hätte, und die weit über das Land zerstreut in kleinen Sekten-Colleges stecken.“48 Damals hatte Weber ins Auge gefaßt, in zwei bis drei Jahren noch einmal nach Amerika zu reisen, um dann das Versäumte nachzuholen. Dazu kam es aber nicht. Für Weber war es naheliegend, sein besonderes Augenmerk auf die Universitäten und Colleges zu richten. Er besuchte die Northwestern University in Evanston, vermutlich auch die University of Chicago, die Johns Hopkins University in Baltimore, das Haverford College bei Philadelphia, die Harvard University in Cambridge, die Brown University in Providence und die Columbia University in New York. Marianne Weber interessierte sich besonders für die Frauenbildung und informierte sich dazu im Bryn Mawr College bei Philadelphia und im Wellesley College bei Boston. Beide ließen es nicht bei einer Besichtigung von Gebäuden bewenden, sondern besuchten auch Unterrichtsveranstaltungen, um sich so einen Eindruck vom Lehrbetrieb zu verschaffen. Weber informierte sich über die Gehälter und Lehrverpflichtungen der Professoren und auch über das studentische Leben. Er wollte auch wissenschaftliche Kontakte knüpfen und Beiträge für das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ gewinnen. Engere Beziehungen entstanden vor allem zu seinen Fachkollegen, Professor Jacob H. Hollander von der Johns Hopkins University in Baltimore und Professor Edwin R. A. Seligman von der Columbia University in New York.49 Aus Chicago berichtete Weber lebhaft über die Umweltverschmutzung, die lebensgefährdenden Verkehrsverhältnisse, Kriminalität und Korruption. „Man sieht am hellen Tage 3 Straßen-Blocks weit, auch von den Aussichtstürmen, Alles ist Dunst, Qualm, der ganze See mit einer violetten Rauchathmosphäre turmhoch bedeckt, aus der die kleinen Dampfer plötzlich auftauchen und in dem die Segel der auslaufenden Schiffe rasch verschwinden. Dabei eine endlose Menschenwüste.“50 Weber besichtigte die Schlachthöfe mit einem Begleiter und war vom Arbeitstempo und den Arbeitsbedingungen nach dem Fließbandprinzip sehr beeindruckt; sie repräsentierten den damals höchsten Stand der Arbeitsrationalisierung. Er erwähnte auch den großen Streik, die Streikbrecher und den Qualifikationsverlust der Fließbandarbeiter. Anderer48 Briefteil von Max Weber an Helene Weber und Familie vom 19. Nov. 1904, unten, S. 402–407, hier S. 407. 49 Vgl. den Brief an Edwin R. A. Seligman vom 19. Nov. 1904, unten, S. 3 96 f. 50 Vgl. den Brief Max Webers an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, unten, S. 285–297, hier S. 287.
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seits lobte er die Oase der Northwestern University, die schönen Villenviertel und Marianne Weber die vorbildliche Tätigkeit von Jane Addams, dem „angel“ von Chicago in den „settlements“.51 Max Weber hielt am 21. September 1904 seine Rede auf dem „International Congress of Arts and Science“ in St. Louis. Er sprach vor einem kleinen Auditorium auf Deutsch. Die Rede selbst ist nicht überliefert, nur eine fragwürdige Übersetzung im Kongreßbericht.52 Weber charakterisierte den amerikanischen Farmer als einen Individualisten und „business man“.53 Ihm stellte er den europäischen Bauern gegenüber, eingebettet in differenzierte historische Kulturlandschaften. Er schilderte die vielfältigen Formen der europäischen Agrarwirtschaft, insbesondere auch den Unterschied zwischen der süd-westdeutschen Bauernwirtschaft und der ostelbischen Gutswirtschaft. Weber zog die Summe seiner agrarhistorischen und agrarpolitischen Untersuchungen und betonte dabei die kapitalistischen Tendenzen der Gegenwart.54 Weber und Troeltsch bewegten sich auf dem Kongreß in verschiedenen Zirkeln. Kontakte von Weber zu Otto Pfleiderer, Karl Lamprecht, Adolf von Harnack, Johannes Conrad und Werner Sombart sind nicht überliefert.55 Wichtiger waren ihm offensichtlich die Gespräche mit Hollander und Du Bois. Sie beeinflußten seine Reiseroute. Auffallend ist, daß in den Briefen nur wenig über die politischen Verhältnisse in Amerika berichtet wird. Zweifellos war Max Weber politisch interessiert. Bald nach seiner Rückkehr sprach er am 20. Januar 1905 auf dem „Amerika-Abend“ des Nationalsozialen Vereins in Heidelberg. Wir verfügen nur über Stichworte aus der Berichterstattung der Heidelberger Zeitungen. Danach berührte Weber in seiner Rede „die Entwicklung der Parteiverhältnisse, das Negerproblem, das Regierungssystem, die ‚Amerikanisierung‘ der Einwanderer durch die Demokratie, das Vereinsleben, die Arbeiterverhältnisse u[nd] a[nderes] m[ehr].“56 In den Briefen werden keine Kontakte zu 51 Vgl. dazu den Briefteil von Marianne Weber an Helene Weber, [am und nach dem 9. bzw. dem 11.] Sept. 1904, unten, S. 282–284. 52 Weber, Max, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis, 1904, Volume 7. – Boston, New York: Houghton, Mifflin and Co. 1906, S. 725–746 (MWG I/8, S. 2 00–243). 53 Ebd., MWG I/8, S. 215. 54 Ghosh, Peter, Not the Protestant Ethic? Max Weber at St. Louis, in: History of European Ideas, vol. 31, 2005, S. 3 67–407, hat die Rede aufschlußreich analysiert. 55 Vgl. Rollmann, Hans, “Meet me in St. Louis”: Troeltsch and Weber in America, in: Lehmann, Hartmut und Roth, Guenther (Hg.), Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). – Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 3 57–383. Dort finden sich auch zahlreiche Zitate aus Briefen von Ernst Troeltsch. 56 Hier nach dem Bericht des Heidelberger Tageblatts vom 21. Jan. 1905, in: Weber, Max, Das politische Leben in Amerika. Diskussionsbeitrag auf der Versammlung des
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Repräsentanten politischer Institutionen erwähnt, weder auf kommunaler noch auf einzelstaatlicher oder bundesstaatlicher Ebene. Max und Marianne Weber berichten nur über ein Interview mit Samuel Gompers, dem Begründer des amerikanischen Gewerkschaftsbundes (American Federation of Labor), sowie über ein Treffen mit dem Sekretär der New Yorker Trade Union.57 Zum plebiszitären Wahlkampf von Theodore Roosevelt und dessen Wiederwahl am 8. November 1904, also noch während Webers Amerikaaufenthalt, finden sich keine Bemerkungen. Am Ende der Reise schreibt Weber über die Amerikaner: „und dennoch ist es ein wunderbares Volk und nur die Frage der Neger und die entsetzliche Einwanderung bilden die großen schwarzen Wolken. Und auch New York ist eine wunderbar anziehende Stadt. Der Blick in der Abenddämmerung im Winter um 5 Uhr, von der Brooklyn-Bridge auf die berghohen strahlenden Sky-scrapers gehört zu den Herrlichkeiten der Erde.“58 Immer wieder betont er die Bedeutung der vielen Clubs und Vereine für die amerikanische Gesellschaft. Sie hätten in ihr die Funktion der Sekten übernommen und würden, soweit man in ihnen nur nach einer Prüfung des individuellen Lebenswandels aufgenommen und auch wieder ausgeschlossen werden kann, nicht nur zu einer sozialen, sondern auch zu einer moralischen Integration des Einzelnen in diese Gesellschaft beitragen. „Heute sind zahlreiche derartige Klubs Träger jener ständischen Aristokratisierungstendenzen, welche, neben und – was wohl zu beachten ist – zum Teil im Gegensatz zur nackten Plutokratie, der amerikanischen Entwicklung der Gegenwart charakteristisch sind. Aber in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifischen amerikanischen Demokratie: daß sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer, Verbände war.“59 Nationalsozialen Vereins am 20. Januar 1905 in Heidelberg, in: MWG I/8, S. 3 81–385, Zitat: S. 385. 57 Vgl. den Briefteil von Max Weber an Helene Weber und Familie vom [1. oder 2. Nov.] 1904, unten, S. 3 60–367 mit Anm. 3 6, sowie den Briefteil von Marianne Weber an Helene Weber und Familie vom 11. Nov. 1904, unten, S. 3 81–384 mit Anm. 4 9. 58 Vgl. den Briefteil von Max Weber an Helene Weber und Familie vom 16. Nov. 1904, unten, S. 3 88–390, hier S. 3 90. 59 Hier nach der Überarbeitung von 1919/20: Weber, Max, Die protestantischen Sekten und der Geist der Kapitalismus, in: GARS I, S. 215. In der frühen Fassung von 1906 heißt es: „Die genuine amerikanische Gesellschaft – und es ist hier gerade auch von den ‚mittleren‘ und ‚unteren‘ Schichten der Bevölkerung die Rede – war niemals ein solcher Sandhaufen, niemals auch ein Gebäude, wo Jeder, der da kommt, unterschiedslos offene Türen findet: sie war und ist durchsetzt mit ‚Exklusivitäten‘ aller Art“. Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze 2, in: Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, 20. Jg., Nr. 25 vom 21. Juni 1906, Sp. 577–583 (MWG I/9, S. 4 46–462, Zitat: S. 453f.).
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Noch etwas gilt es zu erwähnen. Max Weber bewältigte die außerordentliche Anstrengung der Amerikareise, die vielen Gespräche, die langen Bahnfahrten und die immer neuen Eindrücke ohne ernste gesundheitliche Probleme. Er ist aufnahmefähig und voller Initiative. Nur gelegentlich wurde ein Ruhetag eingeschoben, wie Marianne Weber berichtete.60 Auch subjektiv ist Weber mit seinem Gesundheitszustand zufrieden. In Heidelberg fällt es ihm hingegen schwer, wieder in den Arbeitsalltag zurückzufinden.61 Bis Ende März 1905 stellt er den zweiten Aufsatz zur „Protestantischen Ethik“ fertig, der allerdings weniger Bezüge zur Amerikareise enthält als der ein Jahr später verfaßte Aufsatz über „‚Kirchen‘ und ‚Sekten‘“.62
4. Die sozialpolitischen und politischen Bezüge Nach der Rückkehr aus Amerika nutzte Weber seine Reiseerfahrungen, um gegenüber verschiedenen Korrespondenzpartnern „Kulturprobleme der Demokratie“63 oder im Vergleich mit der politischen Kultur des Kaiserreichs „die amerikanische Freiheit“64 anzusprechen. Rußland wird dann aber die Weltregion sein, auf die sich Weber konzentriert, um universalhistorische Probleme politischer Freiheit und demokratischer Ordnung ausführlich zu erörtern. Nach Ausbruch der russischen Revolution im Januar 1905 verfolgte Weber intensiv die Gründung liberaler Parteibewegungen. Mit der Hilfe exil60 Vgl. den Briefteil von Marianne Weber an Helene Weber und Familie, [am und nach dem 9. bzw. dem 11.] Sept. 1904, unten, S. 279–284. 61 Vgl. den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 21. Dez. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446: „Wir haben offenbar Beide unser nervöses Gleichgewicht noch nicht ganz wiedergefunden, vielleicht macht es sich doch auch fühlbar, daß die Reise keine eigentliche Erholung bedeutete u. vier Wochen wirklichen Vegetierens an Ausruhlichkeit nicht gleich kam, – jedenfalls geht Max nachts wieder auf die Suche nach Käse und sonstigen Eßwaaren, schläft unregelmäßig u. schilt über seinen Mangel an Arbeitsfähigkeit. […] Ich hoffe u. glaube, daß dies nur ein vorübergehender Zustand ist, denn es wäre doch kurios, wenn er das stillere, gleichmäßigere Leben hier weniger vertragen könnte als das amerikanische Tosen.“ 62 Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 2 24. Der „Sekten“-Aufsatz wurde in zwei Versionen publiziert: Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 102 vom 13. Apr. 1906, 4. Morgenblatt, S. [1], und dass., (Schluß.), in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., Nr. 104 vom 15. Apr. 1906, 6. Morgenblatt, S. [1], sowie Weber, Max, „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze 1, in: Die Christliche Welt. Evangelisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, 20. Jg., Nr. 24 vom 14. Juni 1906, Sp. 558–562, und dass. 2, in: ebd., Nr. 25 vom 21. Juni 1906, Sp. 577–583 (MWG I/9, S. 426–462). 63 Brief an Gustav Schmoller vom 14. Dez. 1904, unten, S. 417. 64 Brief an Adolf Harnack vom 12. Jan. 1905, unten, S. 422.
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russischer Intellektueller an der Universität Heidelberg wie Bogdan Kistjakowski und S. J. Giwago studierte er deren Programme und Manifeste und plante, über das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ die deutsche Öffentlichkeit verläßlicher über die politischen Entwicklungen und deren sozialökonomische Hintergründe zu informieren. Am 2. Juli 1905 lud er den in St. Petersburg lehrenden Nationalökonomen Alexander Tschuprow ein, „in unsrer Zeitschrift die Entwicklung des russischen sozialwissenschaftlichen Denkens“ darzustellen.65 Ausführlichere Analysen der russischen Verhältnisse hat Weber allerdings keine erhalten. Nicht zuletzt deshalb entschloß er sich, die Thematik selbst anzugehen. Er verfaßte ein Manuskript, das ursprünglich den Titel „Zusätzliche Bemerkungen über die demokratische Bewegung in Rußland“ erhalten sollte und das ihm immer umfänglicher geriet.66 Mit folgender Bemerkung schickte er es am 26. November 1905 an Paul Siebeck: „Das übersandte Mscr. wird auf meine Kosten gedruckt, es ist ein Präsent für das Archiv, ein ballon d’essay, ob wir sozial-politische Berichterstattung machen sollen und können. Da ich es bei dem rapiden Wechsel der Dinge in Rußland in der Correctur noch ergänzen muß, damit es nicht ganz veraltet ist, wird es viel Kosten geben.“67 Nach erheblichen Korrekturen und Erweiterungen erschien Webers Abhandlung unter dem Titel „Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland“ als Beilage zum ersten Heft des Archivs zu Beginn des Jahres 1906.68 Die intensive Beschäftigung mit den methodologischen Grundfragen der Sozialwissenschaften und mit der „Protestantischen Ethik“ als einer „Entgleisung auf das Gebiet der Theologie“69 hielten Weber nicht von seinen politischen Interventionen ab. Das wichtigste Forum, das Weber für gesellschaftspolitische Fragen und für seine Reformvorstellungen von der sozialen Einigung der Nation zur Verfügung stand, war der Verein für Socialpolitik. Schon 1893 war Weber in den Hauptausschuß kooptiert worden, der die Themen der Generalversammlungen festlegte und die Spezialausschüsse zur Erhebung der zahlreichen Vereins-Enqueten einrichtete.70 Vor allem die Briefe an Lujo 65 Brief an Alexander A. Tschuprow vom 2. Juli 1905, unten, S. 4 93. 66 Vgl. den Editorischen Bericht zu Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, MWG I/10, S. 71–80, hier S. 75. 67 Brief an Paul Siebeck vom 26. Nov. 1905, unten, S. 6 06. 68 Vgl. hierzu und zu Webers daran anschließenden Beitrag zu „Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“ die Editorischen Berichte in MWG I/10, S. 71–80 und 281–292. 69 Brief an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, unten, S. 4 92. 70 Akten des Vereins für Socialpolitik, GStA PK, I. HA, Rep. 196, Nr. 67, Bl. 2–3; vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an den Vorsitzenden Gustav Schmoller vom 15. März 1895, MWG II/3; zum allgemeinen Kontext die Einleitung von Wolfgang Schluchter zu Weber, Max, Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912, MWG I/8, S. 15–19.
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Brentano bezeugen, wie engagiert sich Weber etwa 1905 bei der Vorbereitung der Mannheimer Generalversammlung, für die das „Arbeitsverhältnis in den privaten Riesenbetrieben“ zum Verhandlungsthema gewählt wurde, zu den brisanten Fragen der Gewerbeordnungen und der Koalitionsfreiheit der Arbeiterorganisationen äußerte.71 Auch in organisatorischen Fragen der Vereinsführung konnte Weber sehr penibel sein, gleich, ob es um die Aufgaben des Vorsitzenden oder um die Wahl eines „Schriften-Sekretärs“ ging, und wie so oft drohte er mit Austritt, falls seine Vorstellungen kein Gehör fänden.72 Die Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik, die vom 25. bis 28. September 1905 in Mannheim stattfand, führte nach einem Referat von Gustav Schmoller über „Das Verhältnis der Kartelle zum Staate“, zu dem sich in der Diskussion auch Max Weber äußerte,73 zu einer der heftigsten Auseinandersetzungen in der Vereinsgeschichte. Der liberale Politiker Friedrich Naumann hatte in einem Diskussionsbeitrag Schmollers Werben um mehr Einfluß des Staates auf die Kartellpolitik als volkswirtschaftlichen „Unsinn“ kritisiert. Schmoller nutzte im Anschluß seine Rolle als Vereinsvorsitzender, um Naumann als politischen „Demagogen“ zu disqualifizieren und seinen Rücktritt anzudrohen. Das wiederum sowie die Tatsache, daß die Kontroverse in die Presse gelangte, veranlaßte Weber zu mehreren Interventionen, in der es um die freie Verfechtung abweichender Positionen im Verein ging und die ihn über Wochen stark in Anspruch nahmen.74
5. Der akademische Kontext Über das „Archiv“ hinaus knüpfte Weber ein weitgespanntes Netz von wissenschaftlichen und intellektuellen Beziehungen zu zahlreichen Gelehrten der Sozial- und Kulturwissenschaften. Paul Siebeck bemühte sich, ihn in die Planung größerer Enzyklopädien seines Verlages verantwortlich einzubinden. Das Angebot, an einem neuen religionswissenschaftlichen Nachschlagewerk, der „Religion in Geschichte und Gegenwart“, als Redakteur der sozialwissenschaftlichen Abteilung mitzuwirken, lehnte Weber allerdings ab und beschränkte sich auf Ratschläge zu Mitarbeitern und Artikeln.75 Mit größtem Interesse griff er dagegen Siebecks Anliegen auf, eine völlige Neugestaltung 71 Vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Brentano vom 25. Apr. 1905, unten, S. 471. 72 Vgl. Brief an Brentano vom 24. Nov. 1905, unten, S. 6 00 f. 73 Vgl. MWG I/8, S. 2 60–279. 74 Vgl. zu dieser Schmoller-Naumann-Kontroverse die ausführliche Editorische Vorbemerkung zum Brief an Friedrich Naumann vom 30. Sept. 1905, unten, S. 5 40– 542. 75 Vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, unten, S. 249.
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des „Handbuchs der Politischen Ökonomie“ von Gustav von Schönberg in Gang zu setzen. Schon im April 1905 unterbreitete Weber dem Verleger detaillierte Vorschläge zu thematischen Schwerpunkten und kompetenten Bearbeitern.76 Erst nach Schönbergs Tod im Jahr 1908 konnte an eine konkrete Umsetzung gedacht werden, an deren Ende 1914 der „Grundriß der Sozialökonomik“ mit Weber als informell agierendem Herausgeber stand. Während des gesamten Zeitraums der Jahre 1903 bis 1905, den dieser Briefband abdeckt, steckte Weber „tief in logischen Arbeiten“, wie er sich entschuldigte, wenn er zugesandte Bücher nicht rechtzeitig las und kommentierte.77 Sein wichtigster Briefpartner zu den methodologischen und erkenntniskritischen Grundfragen der Sozial- und Kulturwissenschaften war zweifellos Heinrich Rickert, der Jugendfreund und Kollege aus Freiburger Zeit. Auch mit Franz Eulenberg tauschte er sich ausführlich über die „so streng gebotene Scheidung der biologischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellung“ aus.78 Für geschichtstheoretische Fragestellungen ebenso wie zur Frühgeschichte des Kapitalismus war ihm Georg von Below ein willkommener Ansprechpartner. Below übermittelte er auch den Vorschlag, Ernst Troeltsch an seiner Stelle auf dem Deutschen Historikertag von 1906 den Vortrag über Protestantismus und Kapitalismus halten zu lassen.79 Besonders intensiv gestaltete sich die Korrespondenz mit dem 1903 bei Wilhelm Wundt in Leipzig promovierten Psychologen Willy Hellpach, für dessen Heidelberger Habilitation im Jahr 1906 Weber sich nachdrücklich einsetzte. Erkenntnistheoretisch versuchte Weber, Hellpach von den Vorzügen seines „Objektivitätsaufsatzes“ gegenüber dem Leipziger Positivismus zu überzeugen, etwa davon, daß Begriffe wie „‚Cultur‘ – eben Werthbegriffe sind“.80 Insbesondere suchte Weber, ihn von einer positiven Rezeption Karl Lamprechts abzubringen und den „Schwindler und Charlatan […], soweit er als Culturhistoriker und Culturtheoretiker auftritt“, auf gar keinen Fall in einem Beitrag für das „Archiv“ zu zitieren.81 Sogar mit dem Instrument einer „Redaktionsanmerkung“ konnte er in diesem Fall drohen.82 Keine nennenswerten Bezüge finden sich in den Briefen zu einer besonderen Institution akademischer Geselligkeit in Heidelberg, dem im Januar 1904 gegründeten Eranos-Kreis. Weber war von Beginn an dessen Mitglied, und am 5. Februar 1905 hielt er im eigenen Haus einen Vortrag über den zweiten
76 Vgl. den Brief an Paul Siebeck vom 15. Apr. 1905 mit der Editorischen Vorbemerkung, unten, S. 4 61–465. 77 Brief an Edwin R. A. Seligman vom 18. Dez. 1905, unten, S. 611 f. 78 Brief an Franz Eulenburg vom 10. Apr. 1905, unten, S. 4 56 f. 79 Brief an Georg von Below vom 23. Sept. 1905, unten, S. 5 34–537. 80 Brief an Willy Hellpach vom 10. Okt. 1905, unten, S. 5 53. 81 Brief an Willy Hellpach vom 31. März 1905, unten, S. 4 43. 82 Vgl. den Brief an Willy Hellpach vom 5. Apr. 1905, unten, S. 4 49.
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Teil seiner „Protestantischen Ethik“.83 Und auch generell ist zu sagen, daß die hier edierten Briefe nur unvollständig die Beziehungen innerhalb des engeren Freundes- und Kollegenkreises repräsentieren können.84 So sind Webers Briefe an Lujo Brentano, Gustav Schmoller, Edgar Jaffé, Ignaz Jastrow oder Georg Jellinek überliefert, nicht aber die an Georg Simmel oder Werner Sombart. Aus vielen Briefen geht hervor, wie Weber sich jeweils intellektuell inspirieren ließ. Eduard Bernstein teilte er mit, er wolle dessen Heidelberger Vortrag über die Arbeiterbewegung hören und ihn bei dieser Gelegenheit zu seinen Quellen über die Quäker befragen.85 Bei Carl Neumann bedankte er sich für die zweibändige Rembrandt-Biographie – den „24 Pfünder“ wolle er zu seinen „Studien über Calvinismus p. p. […] erneut lesen“.86 Karl Vossler dankte er für die Zusendung von „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft“ mit der kritischen Bemerkung, daß auch die „scheinbar rein physiologisch bedingten Vorgänge des Lautwandels“ nicht ohne die „Notwendigkeit kulturgeschichtlicher Deutung“ zu behandeln seien.87 Sehr persönlich gehalten ist der Brief zum Tod von Theodor Mommsen an dessen Witwe. Webers Schwester Clara war mit Mommsens Sohn Ernst verheiratet. Weber würdigt in Theodor Mommsen das Vorbild „an glaubensstarker Überzeugung an den unvergänglichen Wert der Wissenschaft“ wie an die „Fähigkeit, geistig jung zu bleiben, wie er es bis zuletzt war, fähig, das Kleine zu hassen und das Größte zu sehen und dafür zu kämpfen, den schweren Druck der Resignation immer wieder aus der Tiefe eines mächtig schlagenden tapferen Herzens abzuwehren.“88 Eine eigene Qualität besitzen die Briefe an den Bruder Alfred Weber, da sich in ihnen Wissenschaftliches, Sozialpolitisches und Familiäres stets mischen. So gibt der Brief vom 8. März Auskünfte über die finanzielle Lage seiner Privatgelehrtenexistenz, über die Beeinträchtigung der Arbeit im Verein für Socialpolitik durch seine Kontroverse mit Max Sering wie auch über den frühen Plan, die Aufsätze zur Protestantischen Ethik als eigenes Buch heraus-
83 Weber, Max, Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben. Vortrag am 5. Februar 1905 in Heidelberg, in: Eintrag in das Protokollbuch des EranosKreises,Universitätsarchiv Heidelberg, KE 94, Bl. 19–20 (MWG I/9, S. 216–221). Zum Eranos-Kreis vgl. Treiber, Hubert, Der „Eranos“ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Schluchter, Wolfgang und Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch. – Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 75–153. 84 Vgl. bereits die Einleitung zu MWG II/5, S. 7. 85 Brief an Eduard Bernstein vom 10. Dez. 1904, unten, S. 412–414. 86 Brief an Carl Neumann vom 24. Nov. 1905, unten, S. 6 02. 87 Brief an Karl Vossler vom 17. Dez. 1904, unten, S. 418 f. 88 Brief an Marie Auguste Mommsen vom 2. Nov. 1903, unten, S. 181.
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zugeben: „Die Ausgestaltung des ‚Protestantismus‘ zu einem Buch muß nebenher in langsamem Tempo gehen.“89
6. Zur privaten Lebenssphäre Max Webers familiäre Korrespondenz der Jahre 1903 bis 1905 beschränkte sich im wesentlichen auf den Austausch mit Ehefrau Marianne. Immer, wenn sie durch Reisen getrennt waren, berichtete er regelmäßig und ausführlich über seine persönlichen Lebensumstände. Er beriet mit ihr vieles, was die finanzielle Seite seiner Existenz als Privatgelehrter und die Vermögensverhältnisse der Familien in Charlottenburg und in Oerlinghausen betraf. Über Marianne trat er mit seinen Verwandten in indirekten Kontakt. Denn er unternahm kaum familiäre Besuche und lebte privat recht zurückgezogen. Typisch ist eine Karte, die er am 24. Mai 1903 an Marianne schrieb, nachdem diese allein zur Beerdigung ihres Vaters Eduard Schnitger nach Ostwestfalen gereist war. Sein Gesundheitszustand hatte es nicht zugelassen, sie zu begleiten. Die Erbschaftsregelung beschäftigte ihn: „Ich hatte zuletzt schon geglaubt, Dein Vater hätte nur 5000 M. besessen“.90 In Heidelberg wiederum beteiligte er sich zunehmend am geselligen Leben und besuchte die Stiftsmühle, den samstäglichen Treffpunkt der Heidelberger Professoren: „Gestern waren Voßler‘s, Fürbringer‘s, Jellinek‘s, Landsberg auf der Stiftsmühle, einen Augenblick auch Rathgen‘s u. Marcks. Mir geht es erträglich, es wird jetzt, wie immer, plötzlich heiß, ich fahre gleich auf die Molkenkur.“91 Weber schätzte diese regelmäßigen Treffen, auch wenn sie ihn sehr anstrengten, denn zwei Jahre später schreibt er in fast gleicher Weise: „Stiftsmühle sehr stark besucht, auch Windelband u. Frau. Ich habe heut ‚Kater‘“.92 Großen Raum im familiären Austausch nahm die Sorge um die körperliche Gesundheit ein. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war die Zeit der Lebensreform, in der das Reden und Schreiben über Sanatorien, Kuren und neue Heilungsmethoden „nervöser“ Krankheiten auf eine bislang nicht gekannte Weise zum Habitus der bürgerlichen Oberschichten gehörte. Bekanntlich war es Marianne Weber, die in regem Briefwechsel mit ihrer Schwiegermutter Helene Weber recht detailliert über die privaten Lebensumstände im Hause Weber und das Auf und Ab im Befinden von Max mit Schlafstörungen, Eßverhalten oder Medikamentengebrauch berichtete.93 89 Brief an Alfred Weber vom 8. März 1905, unten, S. 4 36. 90 Karte an Marianne Weber vom 24. Mai 1903, unten, S. 6 5. 91 Ebd., mit Erläuterungen. 92 Karte an Marianne Weber vom 4. Juni 1905, unten, S. 4 86. 93 Der Briefwechsel befindet sich im Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446.
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Helene Weber erreichte 1903 einen Höhepunkt ihres von Max Weber in finanzieller Hinsicht nicht ohne Kritik beobachteten sozial-karitativen Engagements. Die Charlottenburger Stadtverwaltung berief sie mit beratender Stimme in die Armendirektion. 1907 erhielt sie volles Stimmrecht.94 Nur drei Briefe von Max Weber an seine Mutter sind neben den Amerikabriefen für den Zeitraum zwischen 1903 und 1905 überliefert. Am 13. April 1904 gratulierte er ihr zu ihrem 60sten Geburtstag. Im Rückblick auf das gespannte Eheleben der Eltern, zu dem Max Weber bis zum Tod des Vaters im Jahr 1897 radikal für die Mutter Partei ergriffen hatte, wünschte er ihr, „daß Du dann an uns Allen mehr Heitres erlebst, als in manchen Partien des verflossenen Lebensjahrzehnts“. Einbezogen in diesen Wunsch ist Alfred Weber, der bislang im Hause der Mutter in Charlottenburg gelebt und nun einen Ruf an die Deutsche Universität in Prag erhalten hatte: „Mit Alfreds ja doch wohl ziemlich sicherem Fortgehen kommt nun noch einmal eine große Veränderung“.95 Briefe an die Geschwister sind für den Zeitraum dieses Bandes nicht überliefert, zumindest an Arthur, der am 10. Januar 1903 im norwegischen Trondheim geheiratet hatte, wird er von seinem italienischen Domizil aus geschrieben haben.96 Eine Ausnahme bildet die Korrespondenz mit Alfred Weber, in der Max Weber sich ganz als der Ältere gibt, stets belehrend und beratend. Von Alfred ließ er sich Übersichten über den familiären Vermögensstand schicken und rechnete ihm vor, wie lange er seine Privatgelehrtenexistenz ohne „Defizit-Wirtschaft“ führen könne, mit dem Zusatz: „Bitte unterschlage Mama diesen letzten Teil des Briefs, sie sorgt sich sonst womöglich“.97 Alfreds Berufung nach Prag kommentierte Max Weber nicht ohne leichte Stichelei: „Also herzlichen Glückwunsch. – In Österreich wirst Du ja dem unvermeidlichen Adelsprädikat auch nicht lange entgehen, für welchen Fall ich aber entschieden vorschlagen möchte: ‚Weber von Fallenstein‘.“98 Den Jüngeren, der bedauerte, sein Charlottenburger Elternhaus endgültig verlassen zu müssen,99 versah er mit lebenspraktischen Ratschlägen, insbesondere zum Führen eines „Checkbuch[s]“, denn: „Du wirst nämlich noch Dein ‚blaues Wunder‘ erleben mit den Kosten eines Haushalts“.100 Im Herbst 1905, während des
94 Ludwig, Andreas, Der Fall Charlottenburg. Soziale Stiftungen im städtischen Kontext (1800–1950) (Städteforschung. Reihe A, Darstellungen, Bd. 6 6). – Köln: Böhlau 2005, S. 195. 95 Zitate im Brief an Helene Weber vom 13. Apr. 1904, unten, S. 214 f. 96 Vgl. die Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, unten, S. 31 f. 97 Briefe an Alfred Weber vom 8. März 1905, unten, S. 4 35 f., und vom 16. März 1904, unten, S. 2 03–205 (Zitate). 98 Brief an Alfred Weber vom 16. Mai 1904, unten, S. 2 24. 99 Vgl. Demm, Eberhard, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920. – Boppard am Rhein: Harald Boldt Verlag 1990, S. 4 6. 100 Brief an Alfred Weber vom 29. Juli 1904, unten, S. 254.
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Schmoller-Naumann-Streits im Verein für Socialpolitik,101 warb Max Weber stark um Alfreds Unterstützung und fand in ihm, trotz erheblicher brüderlicher Rivalitäten, einen verläßlichen Mitstreiter in seinem Kampf einerseits für das Recht auf freie sozialpolitische Meinungsäußerung und andererseits für die sauberere Trennung zwischen solchen sozialpolitischen Zielsetzungen und den „werturteilsfrei“ zu ermittelnden sozialwissenschaftlichen Tatsachen.102
7. Zur Überlieferung und Edition Die Grundsätze, welche die Herausgeber bei der Edition des Briefwerks geleitet haben, sind in der Einleitung zu Band II/5 der Max Weber-Gesamtausgabe erörtert,103 auf die hier verwiesen wird. Dort ist auch dargelegt, welche Konsequenzen sich aus der fragmentarischen Überlieferung des Briefwerks für die Edition ergeben, einschließlich des Verzichts auf die Mitteilung der nur im Ausnahmefall überlieferten Korrespondenzen. Ein Sonderfall der Gesamtüberlieferung ist der im Verlagsarchiv Mohr-Siebeck (Deponat in der Bayerischen Staatsbibliothek München) vollständig erhaltene Briefwechsel mit Paul Siebeck. Wo nötig und möglich, konnte daher die Gegenkor respondenz des Verlags ausführlich zur Klärung zahlreicher Details herangezogen werden. Der Band setzt ein mit acht Briefen resp. Karten, die Max Weber an seine Frau von der italienischen Riviera schrieb, wo er sich seit Mitte Dezember 1902 zur Erholung aufhielt. Fünf von Ihnen sind in italienischer Sprache abgefaßt. Die darin vorkommenden vielfältigen Fehler in Orthographie und Grammatik werden nicht emendiert. Nach Abdruck des Originals wird jedoch zum besseren Verständnis eine freie Übertragung der Herausgeber ins Deutsche präsentiert. Auf eine biographisch bedingte Besonderheit der Briefüberlieferung sei an dieser Stelle kurz hingewiesen. Nach Max Webers Zusammenbruch im Frühjahr 1898 war er anfänglich nur noch eingeschränkt in der Lage, seine Kor respondenz eigenhändig zu erledigen. Marianne Weber übernahm nun häufiger die Reinschrift der Briefe, während er oftmals nur noch kleine Änderungen annotierte und seine Unterschrift leistete. Auch Max Webers Mutter Helene ließ sich am 10. Oktober 1903 von ihm zwei Briefe diktieren. Im vorliegenden Band zeigt sich diese Praxis noch deutlich 1903, in den folgenden Jahren jedoch kaum noch. So läßt sich auch daran die zunehmende Verbesserung von Max Webers Gesundheitszustand ablesen. 101 Vgl. oben, S. 17 mit Anm. 74. 102 Vgl. die Briefe an Alfred Weber, [vor dem 21. Okt. 1905], unten, S. 5 56–558, und vom 16. Nov. 1905, unten, S. 5 92 f. 103 MWG II/5, S. 10–14.
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Die Herausgeber und ihre Mitarbeiter waren bemüht, alle systematischen Wege, die zur Auffindung oder Erschließung von Briefen Max Webers führen konnten, zu verfolgen. Es darf davon ausgegangen werden, daß die erhaltenen Briefe nahezu vollständig in die Edition eingegangen sind. Dennoch ist das hier vorgelegte Briefwerk der Jahre 1903 bis 1905 lückenhaft. Die Herausgeber waren bemüht, die Lücken der Überlieferung durch Sachinformationen in den Editorischen Vorbemerkungen und Kommentaren zu schließen. Dort findet der Leser die zum Verständnis der Briefe erforderlichen Hintergrundinformationen. Die überlieferten Briefe Max Webers sind vollständig erfaßt worden. Briefe, die nicht überliefert, aber nachgewiesen sind, werden im Apparat verzeichnet. Soweit Korrespondenda vorliegen, deren Kenntnis für das Verständnis des Briefes erforderlich ist, wird der Leser in den Editorischen Vorbemerkungen auf diese hingewiesen und gegebenenfalls der Sachverhalt paraphrasiert wiedergegeben. Ansonsten sind Korrespondenda, soweit diese überliefert sind, im Anmerkungsapparat nachgewiesen. Die Briefe werden in chronologischer Abfolge präsentiert. Im Briefkopf werden zunächst der Adressat, dann die Datierung und der Ort der Niederschrift, die Art des Textzeugen und schließlich der Fundort mitgeteilt. Sofern die Datierung aus dem Poststempel erschlossen worden ist, wird dies mit der vorangestellten Sigle PSt kenntlich gemacht. Sollte die Datierung eines Briefes nicht oder nur unvollständig möglich sein, so wird dieser am Ende des fraglichen Zeitraums mitgeteilt. Sofern der Ort der Niederschrift nur aus dem vorgedruckten Briefkopf erschlossen ist, wird dies durch die vorangestellte Sigle BK kenntlich gemacht, sofern sich dies aus dem Poststempel ergibt, wird dem Ort der Niederschrift die Sigle PSt vorangestellt. Von den Herausgebern erschlossene Datierungen sind in eckige Klammern gesetzt und die Datierung in der Editorischen Vorbemerkung begründet. Dort werden gegebenenfalls auch weitere Angaben über die Eigenart und den Zustand des Textzeugen mitgeteilt. Dabei wird zwischen Briefen, Karten und Telegrammen sowie Abschriften und Abdrucken unterschieden: Letztere sind dem Druck nur dann zugrunde gelegt worden, wenn die Originale nicht überliefert sind. Die Datumszeile reproduziert Max Webers eigenen Text; die vorgedruckten Teile des jeweiligen Briefkopfes – z. B. die Namen von Hotels – sind kursiv wiedergegeben, um sie von dem eigentlichen Text unterscheiden zu können. In diesem Band werden auch Briefe von Marianne Weber veröffentlicht, die im Zusammenhang mit den „Amerikabriefen“ stehen, in denen Max und Marianne Weber gemeinsam und arbeitsteilig Helene Weber über ihre Reise berichteten. Die „Amerikabriefe“ sollten auch in der Familie zirkulieren. Diese Briefe enthalten Passagen von Max Weber und solche, die von Marianne Weber geschrieben wurden, manchmal am selben Tag, manchmal an verschiedenen Tagen und Orten. Sie ergänzen sich, gelegentlich verweisen sie
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aufeinander, in der Absicht der Verfasser stellen sie eine Einheit dar. Nach den Editionsregeln hätten sie getrennt ediert und diejenigen von Marianne Weber in einen Anhang gestellt werden müssen. Dies hätte aber nicht nur die Abfolge und damit auch die Lesbarkeit gestört, sondern auch den Intentionen der beiden Briefschreiber widersprochen, die ihre Briefteile als gemeinsamen Reisebericht konzipiert hatten. Dies hat die Herausgeber bewogen, die entsprechenden Briefe und Briefteile von Marianne Weber in die chronologische Abfolge der Briefe von Max Weber einzufügen.104 Dazu zählen sie auch die drei Briefe, die von Marianne Weber ohne einen direkten Zusammenhang mit Briefen von Max Weber geschrieben wurden, nämlich diejenigen vom 21. und vom 23. und 28. August 1904 von Bord des Dampfers „Bremen“, die die Anreise von Heidelberg und die Transatlantiküberquerung schildern.105 Der dritte Brief vom 27. und 30. September 1904 berichtet über die Zeit, die Marianne Weber alleine in St. Louis verbrachte, und behandelt auch den Vortrag von Max Weber in St. Louis.106 Nach der Rückkehr ließen Max und Marianne Weber ihre Reiseberichte abtippen. Zu diesem Zweck stellte Marianne Weber die Originalbriefe nach elf von ihr bezifferten Reisestationen zusammen und überarbeitete Teile ihrer eigenen Briefe. Das Konvolut der Originalbriefe findet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, während eine maschinenschriftliche Abschrift, zusammengebunden in einer schwarzen Kladde und ebenfalls mit Korrekturen versehen, im Deponat Max Weber-Schäfer in der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten ist. Ediert werden die Originale ohne die späteren Zusätze. Die überlieferte Abschrift mit vereinzelten handschriftlichen Korrekturen Max Webers autorisiert die Briefe als arbeitsteilig verfaßte Einheiten. Zur klaren Unterscheidung werden die von Marianne Weber geschriebenen Briefe und Briefteile in einer abweichenden Schrifttype wiedergegeben, auch folgen die Abdrucke einem vereinfachten editorischen Verfahren, nach dem Einfügungen und Sofortkorrekturen ohne Nachweise eingearbeitet werden. Die Textpräsentation behält die Orthographie, Interpunktion und Grammatik der Originale bei und emendiert nur dort, wo dies für das Textverständnis unabdingbar ist. Max Weber und auch seine Frau schreiben den Namen von Ernst Troeltsch stets mit „ö“. Diese Eigenart wird in der Edition nicht emendiert; in der Herausgeberrede allerdings wird der Name Troeltsch mit „oe“ geschrieben. Einschübe im Text sind mit diakritischen Zeichen kenntlich gemacht, Streichungen und Textersetzungen im Apparat annotiert. Mit Ausnahme der in der Datumszeile, in den Anrede- und Schlußformeln verwendeten Abkürzungen werden unübliche Abkürzungen im Text aufgelöst und die 104 Unten, S. 266–270, 279–284, 323 f., 332–334, 347–350, 356–360, 367–369, 381–388 und 398–401. 105 Unten, S. 261–265. 106 Unten, S. 305–309.
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Ergänzungen durch eckige Klammern kenntlich gemacht; ansonsten sei auf das Abkürzungsverzeichnis verwiesen. Bei Max Weber durch Asterisken gekennzeichnete Zusätze bzw. Anmerkungen werden in arabischer Zählung unter dem Text wiedergegeben. Die Asterisken werden durch Ziffern mit runder Klammer ersetzt. Eindeutig falsche Schreibweisen werden emendiert und im Apparat annotiert. Satzzeichen werden dann, wenn sie für das Textverständnis notwendig sind, in eckigen Klammern ergänzt, bei den Abschriften, die in aller Regel auf Marianne Weber zurückgehen, werden offensichtliche Abschreibfehler stillschweigend korrigiert, z. B. de fakto > de facto; ebenso wird hier vom Nachweis handschriftlicher Sofortkorrekturen an maschinenschriftlichen Vorlagen abgesehen. Datierungsfehler werden nur dann emendiert, wenn sich die richtige Datierung zweifelsfrei nachweisen läßt. Im übrigen wird auf die Editionsregeln hingewiesen, die am Ende dieses Bandes wiedergegeben sind. Im Sachkommentar werden Sachverhalte, deren Kenntnis für das Verständnis der Briefe erforderlich ist, erläutert. Alle in den Briefen nur mit ihren Vornamen erwähnten Personen werden im Anmerkungsapparat unter Angabe des Nachnamens identifiziert. Von dieser Regel werden die nächsten Anverwandten Max Webers ausgenommen, und zwar seine Frau Marianne Weber, geb. Schnitger, seine Mutter Helene Weber, geb. Fallenstein, seine Geschwister Alfred Weber, Karl Weber, Arthur Weber. Clara Weber, verheiratete Mommsen, und Lili Weber, verheiratete Schäfer. Die Schwäger Max Webers, Ernst Mommsen und Hermann Schäfer, und seine Schwägerin Valborg Jahn, verheiratete Weber, werden hingegen jeweils durch Mitteilung des Nachnamens im Anmerkungsapparat identifiziert. Das Personenverzeichnis gibt ergänzende biographische Hinweise auf die in den Briefen erwähnten Personen; im Sachkommentar werden daher nähere Erläuterungen zu Personen gegeben, die für die betreffende Briefstelle aufschlußreich sein können. Um die weitverzweigten und teilweise sich kreuzenden Verwandtschaftsbeziehungen im Zusammenhang sichtbar zu machen, werden dem Personenverzeichnis Übersichten über die Nachkommen von Georg Friedrich Fallenstein, dem Großvater Max Webers, und Carl David Weber, dem Bruder des Vaters von Max Weber und Großvater von Marianne Weber, angefügt. Das Register der Briefempfänger sowie Orts- und Personenregister gewähren zusätzliche Möglichkeiten der Erschließung des Briefbestandes. Diesem Band wird eine Karte beigegeben, die die Reiseroute in Amerika wiedergibt. Angefügt wird eine Tabelle der besuchten Orte mit den Zeiten der jeweiligen Aufenthalte. Ferner wird eine Übersicht über Familienbeziehungen der Kinder und Enkel von Georg Friedrich Fallenstein aus dessen erster Ehe angefügt. Dies soll der leichteren Orientierung über die in den Vereinigten Staaten besuchten Verwandten dienen.
Briefe 1903 – 1905
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Marianne Weber PSt 1. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Die Korrespondenz mit Marianne Weber aus Nervi begann am 20. Dezember 1902. Die ersten Schriftstücke werden daher im vorhergehenden Briefband MWG II/3 ediert. Anfang Dezember 1902 hatte sich Max Webers Leistungsfähigkeit stark vermindert, wie Marianne Weber in ihrem Brief an Helene Weber vom 10. Dezember berichtete (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Weber entschloß sich daher, am 19. Dezember an die Riviera zu reisen und mietete sich in Nervi ein, einem der ältesten Winterkurorte der Riviera, 13 km östlich von Genua. Marianne Weber verbrachte die Weihnachtsfeiertage bei ihren Tanten in Lemgo, besuchte dann ihren Vater in Lage und fuhr am 6. Januar 1903 weiter zu den Verwandten in Oerlinghausen. Aus Nervi schrieb Max Weber mehrere Postkarten an Marianne Weber in italienischer Sprache. Angesichts der zahlreichen orthographischen und grammatischen Fehler wird auf Emendationen weitgehend verzichtet. Textkritische Anmerkungen finden sich nur dort, wo die Verständlichkeit eines Satzes oder Wortes nicht gesichert ist. Zum besseren Verständnis sind die italienisch verfaßten Korrespondenzen vom Herausgeber sinngemäß ins Deutsche übertragen; sie sind dem Originaltext in anderer Schrifttype nachgeordnet. Die Sacherläuterungen binden aber an das Original an. Mit welcher Absicht Weber aus dem Deutschen in das Italienische wechselte, ist nicht nachgewiesen. Marianne Weber schrieb ihm in ihrem Brief vom 30. Dezember 1902 aus Lemgo (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446): „Ich kann übrigens Deine italienischen Karten jetzt ganz gut lesen, falls sie nicht zu undeutlich gekritzelt sind, schreibe also auch nach Lage teils deutsch – damit Papa sie lesen kann – teils italienisch – damit er sie nicht lesen kann.“ Weber schrieb aber auch später nach Oerlinghausen Postkarten in italienisch, ohne daß sich aus dem Inhalt dafür ein Grund finden ließe.
Carissima piccola –
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oggi fa tempo splendido, freddo – 9° – ma con sole caldo. Ieri sono stato a Genova – si fa bel tempo, e città grandiosa, sebbene non cosi interessante che Firenze ed altre. Le galerie – tutte in palazzi speciali e privati – contengono molti quadri del van Dyck – ritratti quasi tutti – e del Rubens, ma pochi Italiani e di quante nessuno d’importanza.1 Ma
1 Max Weber meint vermutlich insbesondere die Genueser Galerien Brignole-Sale Deferrari, Durazzo-Pallavincini sowie Balbi-Senàrega (vgl. Baedeker, Italien, S. 357–361, mit Verzeichnissen der wichtigsten dort ausgestellten Gemälde).
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più che i quadri si vedea il grandioso splendore dell’ internob dei palazzi – tutto marmo di Carrara e stucco lustro. – Oggi stato qui al mare sul mio poltronec e spero potere lavorare un poco, benche sempre mi faccia male un poco.2 Riverire il padre3 molte volte, stia bene. – Da Genova ho spedito una piccoltàd da mangiare a Wina,4 specialita di Genova. Con saluti cordiali il tuo Max
Liebste Kleine, heute ist wunderschönes Wetter, kalt – 9° – aber die Sonne ist warm. Gestern bin ich in Genua gewesen – das Wetter war schön, es ist eine großartige Stadt, wenngleich nicht so interessant wie Florenz und andere [Städte]. Die Galerien – alle in besonderen und privaten Gebäuden – enthalten viele Bilder von van Dyck – fast alle Portraits – und von Rubens, aber wenige Italiener und wenn ja, keiner von Bedeutung. Man betrachtet nicht so sehr die Bilder, sondern den großartigen Glanz des Inneren der Gebäude – alles CarraraMarmor oder glänzender Stuck. Heute bin ich hier am Meer auf meinem Liegestuhl gewesen und ich hoffe, ich kann ein bißchen arbeiten, obwohl es mir immer ein bißchen weh tut. Ich empfehle mich dem Vater viele Male, [ich hoffe] es geht ihm gut. – Aus Genua habe ich Wina eine Kleinigkeit zum Essen geschickt, eine Spezialität aus Genua. Mit herzlichen Grüßen Dein Max
a 〈la〉 b 〈dell〉 c Gemeint ist vermutlich das Wort für Liegestuhl: poltrona a sdraio d Zu erwarten wäre: piccolezza 2 Max Weber litt an einem Furunkel. Vgl. die Karte an Marianne Weber vom 9. Jan. 1903, unten, S. 41 f. 3 Eduard Schnitger, bei dem Marianne Weber zu Besuch war. 4 Alwine (Wina) Müller, Marianne Webers Tante in Oerlinghausen.
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Marianne Weber 2. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
2.I.3. L. Schn.
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Es ist wieder schönste Morgensonne u. ich bin auf der Terrasse am Meer, in der Ferne die Alpen vor mir. Trotz der Januarkälte der Luft genügt die Sonne um es sehr behaglich zu machen. Heut Nachmittag fahre ich nochmal nach Genua, es ist doch eine grandiose Stadt, Straßen über u. untereinander herlaufend, prachtvolle Marmor-Treppenhäuser in den Palästen, dagegen nichts an Kirchen etc., was der Mühe lohnte. – Ich habe die letzten Tage mir den Kopf mit Lesen u. Arbeiten wieder etwas verdorben, bin aber doch auch weitergekommen u. hoffe, daß diese elende Stöpseleia, die doch fast nur mit fremden Gedanken arbeitet, nun wenigstens überhaupt irgend wann fertig wird.1 – Ich schlafe hier – außer wenn ich arbeite – ganz gut, trotzdem man Manches von den Gästen hört des Abends u. noch mehr von der Kneipe unten, die nebenan liegt. Ich werde jedenfalls für den Frühling feststellen, welche Zimmer u. zu welchem Preise der Wirth – sehr nette Leute, namentlich |:auch:| die Frau2 – geben könnte. Ich bekomme gar keine Correspondenz nachgeschickt, – hast Du die alle confisziert? Auch die „Zeit“3 hätte ich gern. Von Charl[ottenburg] a Unsichere Lesung. 1 Gemeint ist hier der erste und wohl auch der zweite Teil von Weber, Roscher und Knies I–III. Max Weber hatte sich bereit erklärt, eine Würdigung des Nationalökonomen Karl Knies für eine Festschrift aus Anlaß des 100. Jahrestages der Neugründung der Universität Heidelberg 1903 zu schreiben. Dies war neben zwei Buchbesprechungen die erste größere wissenschaftliche Arbeit Webers seit seinem Zusammenbruch 1898. Noch vor seiner Abreise nach Genua am 19. Dezember 1902 hatte er Teile des ersten Teils über Roscher fertiggestellt und konzipierte jetzt den Fortgang des Artikels über Knies. Da Max Weber den Termin für die Festschrift nicht einhalten konnte, erschien der erste Artikel im Oktober 1903, der zweite erst im Oktober 1905 und der abschließende im Januar 1906 im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. Vgl. auch den Brief an Gustav Schmoller vom 20. Febr. 1903, unten, S. 43 f. mit Anm. 5, sowie Weber, Marianne, Lebensbild3, insbes. S. 291 und 319. 2 Max Weber meint die Wirte des Hotels Schickert in Nervi, wo er wohnte. 3 Die ab 1. Oktober 1896 zunächst als überregionale Tageszeitung des Nationalsozialen Vereins herausgegebene „Die Zeit“ war – nachdem ihr Erscheinen aus finanziellen Grün-
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höre ich trotz der Bitte, mir Arturs Hochzeitsadresse4 zu schreiben, bisher nichts – nun, die Post hat Neujahr dort ja viel zu thun, es kommt wohl noch. – Grüße Papa5 vielmals. Die nächste Karte schreibe ich also nach Örlinghausen.6 Herzlichst Dein Max
den vorübergehend hatte eingestellt werden müssen – ab dem 1. Oktober 1898 mit Friedrich Naumann als Herausgeber und Paul Rohrbach als Schriftleiter als Wochenzeitung mit ästhetisch-kunsterzieherischer Zielsetzung wiederaufgelegt worden (vgl. Düding, Dieter, Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. – München: Oldenbourg 1972, S. 118). 4 Ein entsprechender Brief ist nicht nachgewiesen; offenbar hatte Max Weber in seinem Neujahrsbrief um die Adresse von Arthur Weber und Valborg Jahn, die am 10. Januar 1903 in Trondheim heirateten, gebeten. 5 Marianne Weber besuchte in der Zeit vom 31. Dezember 1902 bis zum 6. Januar 1903 ihren Vater Eduard Schnitger in Lage. 6 Im Anschluß an den Besuch in Lage reiste Marianne Weber zu den Verwandten nach Oerlinghausen.
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Marianne Weber 3. Januar 1903; BK Nervi Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Briefpapier zeigt links oben eine Ansicht von Hotel und Park.
Schickert’s Parc-Hôtel Nervi LE 3.1.3 Liebes Schnauzelchen –
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gestern Abend, als ich von Genua zurückkam, fand ich Dein liebes Briefchen und habe mich sehr daran gefreut und nach Dir gesehnt u. bin nur etwas betrübt, daß Du Dich in der Kindheitsumgebung wieder so ungetrost gefühlt hast.1 Daran ist wohl das Gefühl mit schuld, daß wir, so lange wir eben selbst nichts besitzen, so sehr wenig helfen können, alle diese traurigen Zustände etwas zu bessern. Das ist auch wirklich greulich – Gott weiß ob es in unsrem Leben jemals anders wird. Hoffentlich hast Du mit Papa nicht über mich gesprochen, es hat ja keinen Zweck.2 Ihm muß doch genügen, daß geistige Arbeit mir den Schlaf nimmt u. Kußmauls kaltes Wasser die akute Krankheit in eine chronische verwandelt hat.3 Und nun wird doch wohl Örlinghausen4 mit der großen Wärme und Helligkeit, die doch immerhin von den guten Menschen dort ausgeht, ein bischen nachhelfen, daß Du mir nicht ganz strapazierta nach Hause kommst. – Sprich mit Bruno etc. doch nicht von Zukunftsfragen, sondern stelle nur fest, wieviel etwa W[il-
a O: strapatziert 1 Marianne Weber hatte im dritten Lebensjahr ihre Mutter verloren und wuchs, da ihr psychisch labiler Vater mit dieser Situation überfordert war, weitgehend in Lemgo bei ihrer verwitweten und asthmakranken Großmutter, Dorette Schnitger, auf. Im Haushalt lebten außerdem deren unverheiratete Tochter Florentine (Flora), die Lehrerin war, sowie zeitweilig zwei psychisch kranke Söhne. Vgl. Weber, Marianne, Lebenserinnerungen. – Bremen: Storm 1948, insbes. S. 31–40. 2 Eduard Schnitger interessierte sich auch als Arzt für das Befinden seines Schwiegersohnes. 3 Der Heidelberger Arzt und Medizinprofessor Adolf Kußmaul hatte Max Webers Erregungszustände mit „Kaltwasserprozeduren“ behandelt. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 248. 4 Zum Abschluß ihrer Reise wollte Marianne Weber noch ihre Tante Alwine (Wina) Müller in Oerlinghausen besuchen.
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helm] M[üller]’s jährlich entnommen haben, – das und noch etwas mehr können wir auch riskieren. Eigentlich ist es ja wirklich gleich – ich hätte sogar Lust, den Tanten jährlich etwas Festes zu zahlen u. dafür zu pumpen. Diese Zustände sind doch unerträglich. Etwa 4000 M. müßten wir ja schon für uns entnehmen, denn so viel verdienen wir incl. Doktorgelder weniger, wenn ich abgehe.5 – Hier ist jetzt bedecktes Wetter mit warmem Südwind. Gestern war ein sehr schöner Tag, Genua aus dem Hafen heraus gesehen macht doch trotz des Herrschens moderner Miethskasernen einen gewaltigb romantischen Eindruck, den Berg hinauf – die Berge sind etwa so hoch wie der Königstuhlc,6 mit Türmen u. Bastionen, – rund um die Hafenbucht herum. Wirklich bedeutend sind aber nur die Gesammteindrücke u. die unerhörte Pracht, die der alte Reichtum im Innern der Palazzi angehäuft hat. Kirchen u. Kunst sind minimal. Es geht mir ganz erträglich, obwohl die Arbeitsfähigkeit nur ganz unbedeutend besser war als in Heidelberg – dafür war es eben doch zu spät, als ich ging. Aber es ist hier, immer im Freien am Meer, doch ein Leben, u. das war es die Wochen vorher wirklich nicht. Jetzt thue ich eine Weile gar nichts. Ich hoffe wenigstens die Stoffeinteilung für den Rest dieser verfl. Arbeit7 mit nach Hause zu bringen. Leb wohl, mein kleines Schnäuzchen, und behalte auch im neuen Jahr so lieb wie im alten Deinen Max
b 〈Eindruck |:von:| großer〉 c Kaiserstuhl > Königstuhl 5 Marianne Weber antwortete Max Weber in ihrem Brief, undat. [10. Jan. 1903], aus Oerlinghausen (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446): „Wie viel Credit Müllers erheben, habe ich noch nicht herausgebracht. Wina weiß es auch nicht. Zu erwarten als Erbe haben wir ca. 300 000 Mk nach Wina’s Meinung, Großvater habe neulich von 1 ½ Millionen gesprochen, davon gehen dann die 30 000 für Papa ab.“ Die mit der Verabschiedung aus dem Staatsdienst verbundene Einkommensminderung sollte durch Abschlagszahlungen auf das Erbe von Marianne Weber kompensiert werden. Carl David Weber, der Firmengründer und Großvater Mariannes, hatte die Leitung des Unternehmens an seinen Sohn Carl und seinen Schwiegersohn, Bruno Müller, abgegeben. Dessen Bruder, Wilhelm Müller, war mit einer weiteren Tochter von Carl David Weber verheiratet und ebenfalls auf Vorschüsse auf das Erbe angewiesen. 6 Der Heidelberger Hausberg, an dessen Nordhang das Schloß liegt. 7 Es handelt sich um: Weber, Roscher und Knies I, vgl. die Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, oben S. 31 mit Anm. 1.
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Marianne Weber 4. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
4.I.3. L. Schnauzele –
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eben kommt schon wieder, wie gestern, so ein niedliches Briefchen u. ich habe kaum genügend für das gestern gekommene u. die offenbar schrecklich zeitraubende Schreibarbeit an meinem „Roscher“ gedankt.1 Die Briefe bleiben unglaublich lange unterwegs – 3–3½ Tage. Von Berlin habe ich trotz der Bitte in meinem Brief, mir Arturs Hochzeitsadresse zu schreiben, 2 auch noch nichts gehört, nun es ist ja doch Zeit. – Jetzt ist es hier bedeckt und warm, zwischendurch Regen, die Luft macht stumpf u. müda. Mehr Anregung wäre natürlich in Rom, ich hatte Schellhaß einen Neujahrsgruß geschickt, 3 er hat aber nicht reagiert. Man wird dann wohl einmal Martini’s4 direkt fragen müssen, 2 Zimmer genügen ja für diesmal. Aber schön still ist es hier auch, nur Abends zum Einschlafen viel Spektakel, der mich aber nicht stört. Nun wirst Du hoffentlich schon recht vergnügt in Örlinghausen sein oder doch heute hinkommen, 5 bleib nur behaglich dort, ich richte mich nach Deinem Zurückkommen. Grüße Deinen Großvater, Wina, Bruno6 u. Alle a Alternative Lesung: müde 1 Es handelt sich um Weber, Roscher und Knies I–III (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, oben, S. 31 mit Anm. 1). Marianne Weber wollte Teile des Manuskripts abschreiben. Am 30. Dezember 1902 schrieb sie an Max Weber (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446): „Dein Roscher wird ja [ein] enorm gelehrter und komprimierter philosophischer Extrakt. Du, an der einen Seite 11 habe ich heute 2½ Stunden abgeschrieben.“ Sie nahm das Manuskript auf die Reise mit und meldete Max Weber im Brief, undat. [10. Jan. 1903], aus Oerlinghausen (ebd.): „Dein Roscher ist jetzt abgeschrieben“. 2 Vgl. die Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, oben, S. 32 mit Anm. 4. 3 Der Brief an Karl Emanuel Schellhass, Max Webers am Preußischen Historischen Institut in Rom arbeitenden Jugendfreund, ist nicht nachgewiesen. 4 In der Pension von Alessandro und Carlotta Martini in Rom hatten Max und Marianne Weber von Ende September 1901 bis Mitte März 1902 gewohnt. 5 Marianne hatte beabsichtigt, am 4. oder 5. Januar 1903 nach Oerlinghausen weiterzureisen. Auf Wunsch ihres Vaters fuhr sie aber tatsächlich erst am 6. Januar 1903 von Lage ab. 6 Carl David Weber sowie Marianne Webers Tante Alwine (Wina) Müller und deren Mann.
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vielmals, die kleine Fressalien-Schachtel ist hoffentlich gekommen u. hat hoffentlich keine Zoll-Schwierigkeiten gemacht.7 Mir geht es ganz erträglich, ich thue nichts, schlief ziemlich viel, bin reichlich müde. Von Herzen Dein Max
7 Es handelte sich um ein Geschenk aus Genua für Alwine (Wina) Müller. Vgl. die Karte an Marianne Weber vom 1. Jan. 1903, oben, S. 30 mit Anm. 4.
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Marianne Weber PSt 5. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Cara piccola –
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C’e niente da raccontare, tempo caldo con nuvole, da notte pioggia. Sono sempre sulla terrazza al mare. Mi pare meravigliosoa che viene nessuna corrispondenza per me – hai tu fatto seguire tutte le mie correspondenze a Westfalia?1 – perche nonb posso figurarmi che ci sia stato niente di tutto per me. Da Charlottenburg viene niente – se mia lettera e stata arrivata?2 Io staro qui fin sabbato 10. cr.c e partiro per Lugano, dove mi tratterro du a tre giornate e possibilmente anche a Lucerna, se fara bel tempo [.] Dunque non bisogna disparcciartid, perche fa niente, se io saro prima di te a Heidelberg. Spero che adesso sia a Örlinghausen3 ede abbia trovato ftutto sano e bellof. Riverire tutti moltissime volte e stia bene – con mille baci il tuo Max. – Mi trovo bene. Liebe Kleine – es gibt nichts zu erzählen, es ist warm und wolkig, über Nacht Regen. Ich bin immer auf der Terrasse am Meer. Ich wundere mich, daß keine Briefe mehr für mich ankommen. Hast Du alle meine Briefe nach Westfalen nachsenden lassen? Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß es gar nichts für mich gab. Von Charlottenburg habe ich auch nichts bekommen – ob mein Brief angekommen ist? Ich werde bis Samstag 10 Uhr ca. hier bleiben und
a Zu erwarten wäre: è meraviglioso; gemeint ist aber vermutlich: meraviglio b 〈posso〉 c Gemeint ist vermutlich die Abkürzung ca. d Zu erwarten wäre: dispiacerti e 〈hai〉 f–f Zu erwarten wäre: tutti sani e belli 1 Marianne Weber war über Weihnachten zu ihren Tanten Florentine (Flora) und Marie Schnitger nach Lemgo gereist und anschließend zu ihrem Vater nach Lage. 2 Max Weber meint vermutlich seinen nicht nachgewiesenen Neujahrsbrief, vgl. seine Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, oben, S. 32 mit Anm. 4. 3 Zum Abschluß ihrer Reise besuchte Marianne Weber ihre Tante Alwine (Wina) Müller und deren Familie in Oerlinghausen.
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dann fahre ich nach Lugano, wo ich zwei bis drei Tage bleiben werde, möglicherweise auch in Luzern, wenn das Wetter schön sein wird. Es sollte Dir also nicht leid tun, es macht doch nichts, wenn ich vor Dir in Heidelberg ankommen werde. Ich hoffe, daß Du jetzt in Örlinghausen bist und alle gesund und munter sind. Ich empfehle mich allen viele Male und [hoffe] es geht Dir gut – mit vielen Küssen Dein Max. – Es geht mir gut.
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Marianne Weber PSt 6. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Cara piccola –
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Oggi fa pioggia e quando piove, e da vero un poco noioso qui, puì noioso che sarebbe a Roma. E nel Marzo e conosciuto che alla Riviera e ventoso e umido, molta pioggia. Ma si non potremmo abitarea |:dai:| Martini,1 – ed iob credo di no – c sarebbe per noi troppo caro di trattenerci a Roma e nond potremmo fare altro che venire qua. E credo che colla mia piccola insieme sarebbe più bello che così. Ieri sono stato al cimitero Genovese – Campo Santo2 – le tombe sono mescolate d’arte e di mancanza di gusto come dappertutto in Italia, ma S Lorenzo a Roma e più bello. Soltanto la capella coi suoi monolithi neri di marmo sotta la cupola alba di marmo e grandiosa. Il mio indirizzo sara Sabbato e al piu tardi Domenica Lugano, ferma in posta. Moltissimi baci il tuo Max Meine Kleine – heute regnet es und wenn es regnet, ist es in der Tat ein bißchen langweilig hier, langweiliger als es in Rom wäre. Man weiß, daß es im März an der Riviera windig und feucht ist, mit viel Regen. Aber wenn wir bei Martinis nicht wohnen können – und ich glaube nicht, [daß es möglich ist] – würde es für uns zu teuer sein, sich in Rom aufzuhalten, und wir könnten nichts anderes machen als hierher zu kommen. Ich glaube, es wäre viel schöner mit meiner Kleinen zusammen als so. Gestern bin ich auf dem Genueser Friedhof – Campo Santo – gewesen, die Gräber sind eine Mischung verschiedener Kunststile und geschmacklos wie überall in Italien, San Lorenzo in Rom ist schöner. Nur die Kapelle mit ihren schwarzen Monolithen aus Marmor unter der weißen Kuppel aus Marmor ist großartig. Meine Adresse wird ab Samstag spätestens ab Sonntag lauten: Lugano, postlagernd. Sehr viele Küsse Dein Max a 〈dagli〉 b 〈ch[??]〉 c 〈[??]〉 d 〈possi〉 1 Max und Marianne Weber planten, im März 1903 nach Rom zu fahren. Vgl. den Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, unten, S. 45–48, und die Karte an Helene Weber vom 14. Apr. 1903, unten, S. 49 mit Anm. 2. In der Pension von Alessandro und Carlotta Martini in Rom hatten sie von Ende September 1901 bis Mitte März 1902 gewohnt. 2 Baedeker, Italien, S. 365, rechnete den 1851 eröffneten und sich auf einer Fläche von 155.000 qm vom Tal des Bisagno den Berghang hinaufziehenden Cimitero di Staglieno zu Genuas Hauptattraktionen.
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7. Januar 1903
Marianne Weber PSt 7. Januar 1903; PSt Nervi Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
P. m. – oggi non ho potuto dormire senza Trionale1 perche aveva lavorto ieri2 ea era ferroccob. Ma fa niente, spero di essere domani come era ieri. Soltanto il lavorare non vuole il cervello. Adesso tu sarai in Oerlinghausen ed caveva parlatoc come sempre su tutto il mondo con Wina. Spero che sarai un poco restituita ddella strapazzad di Lage.3 Ci fa una lettera della Mädle – sempre un poco strematata io trovo. Ed adesso ha il baby di Clara4 – un poco molto superfluo questo piacere. Da qui c’e niente da raccontare – sono sempre al mare esul poltronee . Fa tempo caldo con nuvole, iersera la luna era bellissima sul mare. Con moltissimi baci il tuo Max M[eine] K[leine] – Heute habe ich ohne Trional nicht schlafen können, weil ich gestern gearbeitet habe und das war verrückt. Aber es macht nichts, ich hoffe, morgen wird es wie gestern sein. Nur, mein Gehirn will einfach nicht arbeiten. Jetzt wirst Du in Oerlinghausen sein und wie immer mit Wina über Gott und die Welt gesprochen haben. Ich hoffe, Du hast Dich von den Strapazen von Lage erholt. Es gibt einen Brief von dem Mädle – immer ein bißchen angestrengt, finde ich. Und jetzt hat sie das Baby von Clara – ein bißchen sehr überflüssig diese Freude. Von hier gibt es nichts zu erzählen – ich bin immer am Meer auf meinem Liegestuhl. Es ist warm und bewölkt, gestern Abend war der Mond sehr schön auf dem Meer. Mit sehr vielen Küssen Dein Max a 〈fu〉 b ferrocco im Italienischen nicht nachgewiesen; vielleicht Wortschöpfung in Anlehnung an verrückt. c–c Zu erwarten wäre: avevi parlato oder: hai parlato d–d Zu erwarten wäre: degli strapazzi e–e Zu erwarten wäre: sulla poltrona a sdraio 1 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone. 2 Gemeint ist die Arbeit an: Weber, Roscher und Knies I (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 2. Jan. 1903, oben, S. 31 mit Anm. 1). 3 Im Anschluß an einen Besuch bei Eduard Schnitger war Marianne Weber zu ihrer Tante Alwine (Wina) Müller nach Oerlinghausen gereist. 4 Helene Weber hütete während Clara und Ernst Mommsens Abwesenheit (sie wollten zur Hochzeit von Arthur Weber und Valborg Jahn nach Norwegen reisen) deren Tochter Clara (Clärchen) (Brief von Helene Weber an Marianne Weber vom 31. Dez. 1902, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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Marianne Weber PSt 9. Januar 1903; PSt Genua Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Venerdi Carissima piccola –
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dopo un silenzio di tre giorni sono venute iersera tue 2 lettere, quanta del’ 5 e quella del’ 7 gennaio, insieme. Örlinghausena e una metropole del commercio e percio le lettere vengono qua dopo 1 ¾ giorni di viaggio, da Lage e Lemgo1 dopo 3. Qui si passa niente, e tempo caldob e nebuloso, mi lavo sempre con finestre aperte – avantieri meno 20°! Ma e un poco morosoc da vero. Domani parted per Lugano, se non ci sara mala notte – fin adesso enon ho avutoe nulla. Sottanto ho un piccolo furunculo fsulla malef, direttamente sulle parti assolutamente necessari per sedere, – in consequenza posso vedere sempre soltanto sulla emisfera occidentale, il che e molto molestante ed anche doloroso. Dunque possibilmente saro melio aspettare un altro giorno fin dormire. Io conto, che tu sarai Giovedi o Venedi della prossima settimana a Heidelberg. – Sono tutto il giorno sullag |:terrazza:|, e malgrado la noia fa bene alla testa sentire la eterna musica del mare. Sono arrivati le frutta che avuta spedite da Genova? Riverire tutte – tante grazie per tue lettere con baci ed auguri il tuo Max
a 〈[??]〉 b Zu erwarten wäre: freddo für „kalt“. c moroso hat im Italienischen eine andere, hier nicht in Frage kommende Bedeutung; möglicherweise Wortschöpfung Max Webers in Anlehnung an den veralteten deutschen Ausdruck „moros“ für „verdrießlich“. d Zu erwarten wäre: parto e–e [??]> non ho avuto; statt non könnte es in O auch ne heißen. f–f sulla male im Italienischen nicht nachgewiesen; möglicherweise Wortschöpfung Max Webers in Anlehnung an dt. „(Wund-)Mal“. g 〈[??]〉 1 Marianne Weber hatte, bevor sie zu ihren Verwandten nach Oerlinghausen reiste, zunächst ihre Tanten Marie und Florentine (Flora) Schnitger in Lemgo und dann ihren Vater Eduard Schnitger in Lage besucht.
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9. Januar 1903 Freitag
Meine liebste Kleine – nach drei Tagen Schweigen sind gestern 2 Deiner Briefe gekommen, einer vom 5. und der vom 7. Januar, zusammen. Örlinghausen ist eine Handelsmetropole und daher kommen die Briefe nach 1¾ Tagen an, von Lage und Lemgo nach 3. Hier passiert nichts, es ist [kalt] und bewölkt, ich wasche mich immer bei offenen Fenstern – vorgestern minus 20°! Es ist in der Tat ein bißchen unangenehm. Morgen werde ich nach Lugano fahren, wenn ich keine schlechte Nacht haben werde – bis jetzt habe ich nichts gehabt. Ich habe nur ein kleines Furunkel auf dem Wundmal, direkt auf den Körperteilen, die absolut notwendig sind, um zu sitzen – die Folge davon ist, daß ich nur in die westliche Hemisphäre schauen kann. Und das ist sehr lästig und auch schmerzhaft. Daher ist es wahrscheinlich besser, noch einen Tag abzuwarten, bis ich geschlafen habe. Ich rechne damit, daß Du Donnerstag oder Freitag nächster Woche in Heidelberg sein wirst. – Ich bin den ganzen Tag auf der Terrasse und trotz der Langeweile tut es dem Kopf gut, die ewige Musik des Meeres zu hören. Ist das Obst angekommen, das ich von Genua geschickt habe? Ich empfehle mich allen, vielen Dank für Deine Briefe, mit Küssen und Glückwünschen Dein Max
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Gustav Schmoller 20. Februar 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers GStA PK, I. HA, Rep. 195 Deutscher Ostmarkenverein, Anhang Nr. 98, Bd. 1, Bl. 58 f.
Heidelberg 20. 2. 03 Hauptstr. 73 Sehr geehrter Herr Professor, 5
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Ich schicke gleichzeitig hiermit die gewünschte Besprechung der Grotjahn’schen Schrift, die allerdings vielleicht etwas eingehender ausgefallen ist, als für die Raumökonomie der Zeitschrift zweckmäßig ist.1 Zugleich bedaure ich auch diesmal an der Ausschußsitzung des V[ereins] f[ür] S[ocialpolitik] nicht teilnehmen zu können, 2 da mir der Winter hier zu übel bekommen ist. Ich hätte gern eine Erhebung über die Wirkungen des Börsengesetzes angeregt.3 Da Sie so freundlich waren mich zu einer Auseinandersetzung mit der Sering’schena Publikation4 in Ihrem Jahrbuch aufzufordern, ich aber diese Arbeit jedenfalls noch etwas werde verschieben müssen, so erlaube ich mir die Anfrage, ob etwa ein anderer der Fertigstellung entgegengehender Aufsatz Ihnen geeignet erscheinen würde. Ich hatte für unsre Festschrift eine Darstellung der wissenschaftlichen Bedeutung von Knies übernommen.5 a O: Sehring’schen 1 Weber, Max, [Rezension von: Alfred Grotjahn, Über Wandlungen in der Volksernährung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N.F., 27. Jg., Heft 2, 1903, S. 380–384 (MWG I/8, S. 62–72). 2 Der Hauptausschuß des Vereins für Socialpolitik tagte am 13. März 1903 in Hamburg. Vgl. Boese, Geschichte, S. 99. 3 Vgl. das Börsengesetz vom 22. Juni 1896, abgedruckt in: MWG I/5, S. 975–992 und die dort abgedruckten Schriften Webers zur Börsenproblematik, mit der er sich zwischen 1894 und 1898 intensiv beschäftigt hat. Danach hat er sich wissenschaftlich nicht mehr mit der Börse auseinandergesetzt und auch später keine Erhebung im VfSp angeregt (vgl. Borchardt, Einleitung, ebd., S. 108). 4 Es ist unklar, auf welche Studie von Max Sering Weber sich hier bezieht. Es könnte sich um die seit 1897 unter der Herausgeberschaft von Sering erscheinende Reihe zum ländlichen Erbrecht in den preußischen Provinzen, mit jeweils unterschiedlichen Bearbeitern, handeln: Sering, Max (Hg.), Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes im Königreich Preußen. – Berlin: Verlagsbuchhandlung Paul Parey 1897ff. Eine Auseinandersetzung Webers damit ist jedoch nicht nachgewiesen. 5 Gemeint ist: Weber, Roscher und Knies I-III. Dort (ebd. I, S. 1, Fn. 1) heißt es, daß die
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Einmal werde ich nun aber bis zu dem festgesetzten Termin (Ostern) mit der Arbeit nicht fertig, da ich monatelang pausieren mußte und dann paßt sie, so wie sie sich gestaltet hat, schlecht in eine Festschrift. Sie enthält im wesentlichen methodologische Untersuchungen an der Hand einiger moderner logischer Theorien u. könnte etwa betitelt werden: „Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie.“ Der vertretene Standpunkt weicht in mehreren Punkten von dem Ihrigen ab, wie dies auch in dem Aufsatz zum Ausdruck gelangen wird.6 Das Schwergewicht liegt aber in dem Versuche die logischen Voraussetzungen, von denen Roscher u. Knies bewußt oder unbewußt ausgingen, klarzulegen. Ich könnte, falls etwa – was ich nicht beurteilen kann – eine derartige Arbeit für das Jahrbuch passen sollte, die Hälfte (ca. 60 Druckseiten) im Mai liefern u. den Rest im Laufe des Sommers. Mit angelegentlichster Empfehlung bIhr hochachtungsvoll ergebenster Max Weberb
b–b Eigenhändig. Schrift „ursprünglich für die diesjährige Heidelberger Festschrift bestimmt [gewesen sei], wurde aber nicht rechtzeitig fertig und paßte auch seinem jetzigen Charakter nach wenig an jene Stelle.“ Gemeint ist damit: Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert. Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, 2 Bände. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1903. Dort heißt es in der Einleitung von Fritz Schöll (Band 1, S. XIV): Max Weber habe ursprünglich „eine problemgeschichtliche Fassung“ seines Aufsatzes über Karl Knies beabsichtigt. „In dieser Gestaltung wuchs aber die Arbeit nach der Ansicht ihres Verfassers aus dem Bereiche dieser Festschrift heraus; und da überdies äußere Zufälligkeiten ihre Fertigstellung über den festgesetzten Einlieferungstermin hinaus verzögerten, beabsichtigt er sie an anderer Stelle zu veröffentlichen.“ 6 Weber setzt sich in dieser Aufsatzfolge nicht intensiv mit Schmoller auseinander, zitiert jedoch drei Schriften von ihm: Schmoller, Gustav, Wilhelm Roscher, in: ders., Zur Litteraturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaften. – Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S. 147–171. Weber kritisiert hier v.a., daß bei der Analyse seiner Methode dessen religiöse Grundanschauung vernachlässigt worden sei (Weber, Roscher und Knies I, S. 3, Fn. 2). Weiterhin zitiert Weber: Schmoller, Gustav, Die Schriften von K. Menger und W. Dilthey zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, in: ders., Zur Litteraturgeschichte, S. 275–304 (Weber, Roscher und Knies I, S. 13, Fn. 1); ders., Karl Knies, in: ebd., S. 204– 210 (Weber, Roscher und Knies I, S. 8, Fn. 3).
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Franz Böhm 8. April 1903; Rom Brief; von der Hand Marianne Webers GLA Karlsruhe, Nl. Franz Böhm, 52/XIV Im Zentrum dieses Briefes sowie der weiteren an Franz Böhm vom 5. Mai und 29. Juni 1903, unten, S. 55 f. und 111, an Vinzenz Czerny vom 29. Juni 1903, unten, S. 112, an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 16. April 1903, unten, S. 51 f., an Marianne Weber vom 2. Mai 1903, unten, S. 54, an die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg vom 16. April 1903, unten, S. 50, an Karl Rathgen vom 2. Mai 1903, unten, S. 53, steht Max Webers Entlassung aus dem badischen Staatsdienst. Seit dem Beginn seiner Krankheit im Sommer 1898 war Weber nur noch sporadisch in der Lage, seinen Verpflichtungen im akademischen Lehrbetrieb und gegenüber der Universität nachzukommen. In den folgenden Jahren ließ er sich daher immer wieder beurlauben, bis er dann am 7. Januar 1900 erstmals ein Entlassungsgesuch an das zuständige Ministerium richtete. Man einigte sich jedoch darauf, ihn zunächst weiterhin zu beurlauben (vgl. den Brief Max Webers an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 7. Januar 1900, GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 92–93; MWG II/3, mit Editorischer Vorbemerkung). Auch das nächste Entlassungsgesuch vom 26. März 1902 wurde vom Ministerium nicht angenommen (vgl. den Brief Max Webers an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 26. März 1902, ebd., mit Editorischer Vorbemerkung). Aber schon zu Beginn des Jahres 1903 regte sich laut Marianne Weber bei ihrem Mann erneut der Wunsch, seiner Entlassung aus dem Staatsdienst nachzukommen; fraglich schien nur noch der Zeitpunkt zu sein (vgl. den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 16. Januar 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Am 16. April 1903 erneuerte Weber dann seinen Wunsch offiziell gegenüber dem Ministe rium, nachdem es zuvor noch eine Unterredung mit dem zuständigen Ministerialrat Franz Böhm gegeben hatte. Ein weiteres Mal ließ Weber sich jedoch nicht umstimmen, und so wurde sein Antrag von allen beteiligten Seiten befürwortet und mit Beschluß vom 18. Juni vom Großherzog angenommen (GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 66); offiziell wurde er zum 1. Oktober 1903 aus dem badischen Staatsdienst verabschiedet. Weber wollte sich jedoch die Möglichkeit offenhalten, nach Besserung seines Zustandes auch in Zukunft noch Vorlesungen abzuhalten; zudem wollte er weiterhin der Universität verbunden bleiben. In einem undatierten Brief an Helene Weber berichtet Marianne Weber Ende April oder Anfang Mai 1903 über die Absprachen zwischen ihrem Mann und Franz Böhm: „Sie verabredeten dann, daß die Regierung der Fakultät vorschlagen würde, Max zum ‚ord. Honorarprofessor‘ zu machen u. ihm einen Lehrauftrag für kleinere Vorlesungen zu erteilen. Max sagte jedoch[,] der Titel Honorarprofessor u. auch der Lehrauftrag hätten in seinen Augen nur dann einen Sinn, wenn damit – wie es möglich ist – Sitz u. Stimme in der Fakultät verbunden sei, doch dürfe dieser Vorschlag nur von der Fakultät, nicht von der Regierung ausgehen. Böhm hat dann in seinem Vorschlag an die Fakultät einen Passus einfließen lassen, der für denjenigen[,] der ihn verstehen wollte, dahin zu verstehen war, die Fakultät möge Max Sitz u. Stimme anbieten. Das Schriftstück ist nun zuerst an Rathgen gelangt, u. derselbe hat es da er Dekan ist in Cirkulation gesetzt, u. zugleich als ,Nächstbeteiligter‘ der Fakultät vorgeschlagen Max dem Antrag der Regierung entsprechend den Titel ord. Honorarprofessor u. den Lehrauftrag zu geben. Aber den Passus, der darauf hindeutete, daß man Max Sitz u. Stimme in der Fakultät geben möchte, hat er absichtlich? oder unabsichtlich nicht verstanden – die andren Kollegen haben dann natürlich nur einfach mitunterschrieben
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– u. so ist es Rathgen, der mit aalglatten, korrekten Formen, die eigentlich für alle selbstverständliche Lösung – Max Sitz u. Stimme in der Fakultät zu geben – umgangen hat. Max war doch recht erregt u. hatte vor, den Titel u. den Lehrauftrag nun abzulehnen mit der Motivierung, daß ein leerer Titel keinen Sinn habe.“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Der von Marianne Weber zitierte Passus findet sich im Schreiben des Ministeriums an die Philosophische Fakultät vom 22. April, in dem die Fakultät um Ansichtsäußerung zu den vorgeschlagenen zukünftigen Regelungen gebeten wird. Demnach sollte Weber zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt werden und einen „Lehrauftrag für kleinere Vorlesungen aus dem Gebiete der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft“ erhalten; die Vorlesungen sollten für jedes Semester mit der Fakultät abgesprochen und mit 200 Mark honoriert werden. Abschließend folgt: „Das künftige Verhältnis des Professors Dr. Weber zur Fakultät ließe sich bei dieser Regelung dortseits gewiß in befriedigender Weise gestalten.“ (UA Heidelberg, H-IV102/135, Bl. 465 f.) Am 26. April legte Karl Rathgen, der zuständige Dekan, der Philosophischen Fakultät das Ministerialschreiben vom 22. April vor. Neben dem allgemeinen Bedauern der Fakultät empfahl er als „Nächstbeteiligter“ (wie schon Marianne Weber aus Kenntnis des Briefwechsels zutreffend Rathgens Selbsteinschätzung zitierte) folgende Erwiderung an das Ministerium: „Auch die Fakultät hat den Wunsch, daß die Verbindung zwischen ihr und Prof. Weber soweit möglich aufrecht erhalten und damit die Möglichkeit bleibe, daß Prof. Weber seine Lehrthätigkeit in dem ihm selbst zuträglich erscheinenden Umfange fortführen resp. wieder aufnehmen könne.“ Vom zukünftigen Verhältnis Webers zur Fakultät war hier in der Tat nicht die Rede (ebd., Bl. 466 r). Dieses Zirkular, mit dessen Inhalt sich 14 unterzeichnende Fakultätsmitglieder einverstanden erklärten, erhielt auch Weber. Verärgert über die fehlende Klärung seines zukünftigen Verhältnisses zur Fakultät, verfaßte er am 2. Mai auf der Rückseite des Zirkulars seine Erklärung an Karl Rathgen, die dieser nun erneut mit dem Zusatz in Umlauf brachte: „Obenstehende Erklärung des Kollegen Weber gebe ich der Fakultät bekannt“ (ebd., Bl. 466 v). Webers Erklärung, nach der er den Lehrauftrag ablehne, den Titel als „Ordentl[icher] Honorarprofessor“ jedoch annehme (vgl. unten, S. 55), wurde nunmehr von 15 Fakultätsmitgliedern als „zur Kenntnis genommen“ abgezeichnet. Da Weber und Rathgen grundsätzlich ein freundschaftliches Verhältnis pflegten, kam es kurz darauf zu einer klärenden Aussprache (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 10. Mai 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Wie aus Webers Brief an Franz Böhm vom 5. Mai 1903 hervorgeht, wollte Rathgen nun explizit „die Gewährung von Sitz und Stimme in der Fakultät“ (unten, S. 55) für ihn anregen. Dies lehnte nunmehr aber Weber selbst ab und übernahm dabei auch die im Kollegenkreis der Philosophischen Fakultät sich regenden Bedenken gegen eine Zunahme der national ökonomischen Stimmen, die nach der Wahl eines Nachfolgers zum Tragen kommen könnte. Die Regelung über seine künftigen Vorlesungen lehnte er mit dem Hinweis auf die ihm derart eingeschränkte Lehrfreiheit ab, sollte er seine etwaigen Lehrveranstaltungen in jedem Semester zuerst mit Kollegen und Fakultät absprechen müssen. Weber wurde dennoch vom Wintersemester 1903/04 bis zum Sommersemester 1919 in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Heidelberg unter den „ordentlichen Honorar-Professoren“ geführt, jeweils mit dem Vermerk: „Liest nicht.“ (vgl. z.B. Anzeige der Vorlesungen, welche im Winter-Halbjahr 1903/1904 auf der Grossh. Badischen Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg gehalten werden sollen. – Heidelberg: Universitäts-Buchdruckerei von J. Hörning 1903, S. 31). Zu den Pensionsansprüchen nach Webers Dienstentlassung vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 11. September 1903, unten, S. 141.
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Unterhalb der Orts- und Datumszeile findet sich der handschriftliche Vermerk von Franz Böhm: „E[ingang] 10.4.1903. Mündlich erledigt 16.4.1903.“ Max und Marianne Weber hielten sich von Anfang März bis zum 12. April 1903 in Rom auf.
z.Z. Rom, 8. 4. 03. Hochgeehrter Herr Ministerialrat,
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Mit dem Bedauern, das Großherzogliche Ministerium abermals mit meinen persönlichen Angelegenheiten zu behelligen, muß ich Ihnen die Mitteilung machen, daß ich auf meinen Antrag vom vorigen Jahre auf Entlassung aus dem Staatsdienst1 zurückkommen werde, und bitte, diesmal auf demselben unter allen Umständen beharren zu dürfen. – Die Erfahrungen des letzten Winters haben gezeigt, daß mir das deutsche Winterklima gesundheitlich noch dergestalt zusetzt, 2 daß ich vorerst nicht nur außer stande sein würde, während des Winters Vorlesungen zu halten, sondern durch einen dauernden Winteraufenthalt in Deutschland auch regelmäßig meine Leistungsfähigkeit auch für den folgenden Sommer gefährden würde. Es bleibt mir keine Wahl als künftig vorerst meine Lehrthätigkeit auf den Sommer zu beschränken. Entsprach nun schon unter den bisherigen Umständen die Beibehaltung meiner Professur, trotz der so überaus verbindlichen Form, in welcher das Großherzogl.a Ministerium sie mir s. Z. nahelegte, eigentlich meinem Empfinden nicht, so kann unter diesen Verhältnissen von einer Fortdauer dieses Zustands keinenfalls die Rede sein. Da ich den dringenden Wunsch habe dem Lehrkörper auch weiterhin anzugehören und – vorerst nach Möglichkeit in den Sommersemestern – kleinere Vorlesungen zu halten, so werde ich mir auch diesmal gestatten die Bitte beizufügen, mich unter die außeretatsmäßigen (Titular-)Professoren aufzunehmen. Nur würde ich glauben, auch diesen Antrag dann nicht stellen zu dürfen, wenn – was ich nicht hoffe – die Erfüllung dieser Bitte der Wiederbesetzung meiner Professur3 im Wege stehen a O: Großherzgl. 1 Es handelt sich um Max Webers Entlassungsgesuch vom 26. März 1902 (vgl. die Editorische Vorbemerkung, oben, S. 45). 2 Vgl. dazu den Brief an Marianne Weber vom 3. Jan. 1903, oben, S. 33 f. 3 Am 24. Juni 1903 forderte das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts die Philosophische Fakultät dazu auf, Vorschläge zur Neubesetzung von Webers Lehrstuhl zu machen. Dieser Aufforderung kam die Fakultät am 26. Juli nach, indem
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sollte. Ich kann nicht unterlassen für die bisherige, so überaus rücksichtsvolle und generöse Art der Behandlung meiner Angelegenheit Sr. Excellenz dem Herrn Minister4 und Ihnen auch diesmal auf das Verbindlichste zu danken. Ich stehe vom 16. d. M’s an jederzeit zu etwa wünschenswerter Rücksprache in Karlsruhe zur Verfügung.5 Mit ausgezeichneter Hochachtung bIhr ergebenster Professor Max Weberb
b–b Eigenhändig. sie dem Ministerium Eberhard Gothein, Werner Sombart und Karl Helfferich vorschlug. Den Ruf erhielt Eberhard Gothein, der zum Sommersemester 1904 nach Heidelberg kam (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 136, 139–141). 4 Alexander Frhr. von Dusch. 5 Der Vermerk auf dem Brief von der Hand Franz Böhms (vgl. Editorische Vorbemerkung, oben, S. 47) beweist, daß es bereits am 16. April zu einer Unterredung zwischen den beiden gekommen sein muß.
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Helene Weber PSt 14. April 1903; BK Mailand Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Die Karte enthält einen handschriftlichen Zusatz von Marianne Weber, der hier nicht nachgewiesen wird.
Liebe Mutter –
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nur herzlichste Glückwünsche1 beim Abschied von Italien – nun wohl für lange Zeit. Die „Wüste“, in die Du den Sündenbock jagen wolltest, 2 haben wir diesmal noch beiseitea gelassen u. ich bin der Meinung, daß lieber Marianne sich von dem „goldnen Segen“ ihre Toilette etwas aufmuntert. Wenn Du aber so mit dem Geld umgehst, liebe Mama, dann müssen wir glaube ich doch gerichtliche Schritte thun!! Auf Wiedersehen hoffentlich im Sommer Dein Max
a O: bei seite 1 Helene Weber feierte am 15. April ihren 59. Geburtstag. 2 Max Weber hielt sich seit Weihnachten 1902 weitgehend in Italien auf: zunächst bis Mitte Januar 1903 allein in Nervi an der ligurischen Küste und – nach kurzer Heimkehr nach Heidelberg – seit Anfang März in Begleitung von Marianne Weber in Rom (vgl. die Briefe von Marianne Weber an Helene Weber vom [2.], 6., [7.], 24. und 31. März 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Allerdings brachten ihm die beiden Reisen nicht die erwartete gesundheitliche Besserung, was er auf einen Mangel an wirklich neuen Anregungen zurückführte (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 24. März 1903, ebd.). Mit einem großzügigen Geldgeschenk wollte Helene Weber ihm eine Reise zu „Heiden u. Türken oder in die Wüste“ ermöglichen (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 31. März 1903, ebd.).
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Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg 16. April 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigem Zusatz Max Webers UA Heidelberg, H-IV-102/134, Bl. 464 Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
Heidelberg, 16. 4. 03 Die Philosophische Fakultät bitte ich ergebenst das beifolgende Gesuch um Entbindung von den Vorlesungen befürwortend weiterreichen zu wollen.1 Ich gestatte mir hinzuzufügen, daß dem Ministerium mein, durch den Hinweis auf meinen stets schwankenden Gesundheitszustand begründetes Gesuch um Entlassung aus dem Ordinariat und Überführung unter die nicht etatsmäßigen Professoren der Universität vorliegt2 und daß mir dessen Genehmigung, vorbehaltlich weiterer Erörterungen über die Form, durch den Herrn Dezernenten3 zugesagt worden ist.4 Ergebenst a Professor Max Weber An die Philosophische Fakultät hiera
a–a Eigenhändig. 1 Vgl. den Brief Max Webers an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 16. Apr. 1903, unten, S. 52. 2 Vgl. den anschließenden Brief Max Webers an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom gleichen Tag, unten, S. 51. 3 Franz Böhm. 4 Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 45–47.
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Großherzogliches Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts, Karlsruhe 16. April 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 57 Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
An das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts, Karlsruhe. Heidelberg, 16. April 03. 5
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Das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts bitte ich ehrerbietigst Allerhöchsten Ortes meine Entlassung aus dem Staatsdienst erwirken und mich unter die außeretatsmäßigen Professoren der hiesigen Hochschule überführen zu wollen. Ich gestatte mir zur Begründung auf meine früheren, gleichartigen Anträge1 und auf die dem Herrn Dezernenten2 von mir schriftlich und mündlich gegebenen Erläuterungen bezugzunehmen.3 Mein Gesundheitszustand schließt für absehbare Zeit die Erfüllung der Lehrpflichten eines Ordinarius aus. Ehrerbietigst a Professor Max Webera
a–a Eigenhändig. 1 Gemeint sind die Anträge vom 7. Jan. 1900 und 26. März 1902, vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 45. 2 Franz Böhm. 3 Vgl. den Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 47 f.
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Großherzogliches Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts, Karlsruhe 16. April 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 61 Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
An das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts, Karlsruhe. Heidelberg, 16.4.03. Das Großherzogliche Minsterium der Justiz, des Kultus und Unterrichts bitte ich mich für diesen Sommer von der Abhaltung der angekündig ten Vorlesungen entbinden zu wollen.1 Ich nehme Bezug auf mein dem Großherzoglichen Ministerium vorliegendes Entlassungsgesuch2 und gestatte mir hinzuzufügen, daß unter den obwaltenden Verhältnissen es mir zweckmäßiger erscheint vor der von mir beabsichtigten Wiederaufnahme meiner Lehrthätigkeit die inzwischen stark angewachsene Litteratur unsres Fachs gründlicher als es geschehen konnte zu verarbeiten. Ehrerbietigst a Professor Max Webera
a–a Eigenhändig. 1 Für das Sommersemester 1903 hatte Max Weber zwei Lehrveranstaltungen ankündigen lassen, die dann beide nicht abgehalten wurden: 1. „Agrarpolitik“ (zweistündig), 2. „Anleitung zu wissenschaftlichen Arbeiten für Geübtere; privatissime und gratis“. Anzeige der Vorlesungen, welche im Sommer-Halbjahr 1903 auf der Grossh. Badischen RuprechtKarls-Universität zu Heidelberg gehalten werden sollen. – Heidelberg: Universitäts-Buchdruckerei von J. Hörning 1903, S. 19. Am 1. Mai 1903 unterrichtete das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts den Engeren Senat der Universität Heidelberg, daß Max Weber von seinen angekündigten Vorlesungen entbunden sei (GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 62). 2 Vgl. den Brief an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom gleichen Tag, oben, S. 51.
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Karl Rathgen 2. Mai 1903; Heidelberg Zirkular; eigenhändig UA Heidelberg, H-IV-102/135, Bl. 466 v Die untenstehende Erklärung Max Webers befindet sich auf der Rückseite des Zirkulars von Karl Rathgen an die Fakultät vom 26. April 1903. – Zu den Inhalten des Zirkulars und dem Ablauf von Webers Dienstentlassung vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
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Nachdem mir von der Anfrage des Ministeriums und dem Beschluß der Fakultät Kenntnis gegeben ist, gestatte ich mir zu beiden zu erklären 1) daß ich den angebotenen Lehrauftrag ablehnen werde 2) daß ich die angebotene Titulatur trotz entschiedenster Antipathie dagegen voraussichtlich annehmen werde, weil nach Ansicht derjenigen Herrn Collegen, welche ich darüber gesprochen habe, eine Ablehnung derselben von Außenstehenden falsch beurteilt werden, insbesondrea irrige Vorstellungen über die |:persönlichen:|b Beziehungen der Herren Collegen zu mir erwecken könnte. Heidelberg 2. V. 03 Max Weber
a könnten bezw. > insbesondre b 〈Art〉
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Marianne Weber PSt 2. Mai 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Zum Hintergrund von Max Webers Ausscheiden aus dem badischen Staatsdienst und zur Frage seines künftigen formalen Verhältnisses zur Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg sowie zu Karl Rathgens Rolle als Dekan vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47, sowie den Brief an Karl Rathgen vom 2. Mai 1903, oben, S. 53.
L. Schn. Ich schlafe leidlich. Sonst nichts Besonderes. R[athgen] habe ich nichts erspart, er versicherte einer Erörterung nicht absichtlich ausgewichen zu sein, vielmehr die Absicht gehabt zu haben, eine solche in der Fak[ultät] u. mit mira noch herbeizuführen. Wie es auch damit sei, ist die Sache damit erledigt, da ich bemerkte, daß es ihm sehr aufrichtig peinlich war, mich in Mißstimmungb versetzt zu haben. – Ich nehme den Titel an1 u. habe ihn gebeten, von allem Weiteren Abstand zu nehmen. Wir schieden sehr herzlich u. er gab sich unzweifelhaft wirklich Mühe. An Mama u. Alfred bitte über diese Sache lieber nichts, es spricht sich sonst herum. Hier regnet es. Hoffentlich strapaziert sich Schn. nicht zu sehr! 2 Con bacio cordiale3 Max
a 〈nach Erledigung dieser〉 b O: Misstimmung 1 Es handelt sich um den Titel eines Honorarprofessors. 2 Marianne Weber hielt auf dem dritten bayerischen Frauentag, der vom 2. bis 5. Mai 1903 in München stattfand, einen Vortrag über „Die rechtliche Stellung der Ehefrau“ (vgl. Mensch, Ella, Der dritte bayerische Frauentag in München, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 5, Heft 4, 1903, S. 29 f.). 3 Ital. für: mit herzlichem Kuß.
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Franz Böhm 5. Mai 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers GLA Karlsruhe, Nl. Franz Böhm, 52/XIV Handschriftlicher Vermerk von Franz Böhm: „E[ingang] 6.5.1903. Beantw. 28.6.1903.“ – Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
Heidelberg, 5. 5. 03 Hochgeehrter Herr Ministerialrat,
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die Fakultät hat auf die Anfrage des Großherzogl. Ministeriums1 zustimmend geantwortet. Nach eingehender Überlegung und Rücksprache mit den Herren Kollegen möchte ich jedoch bitten, von der Erteilung eines Lehrauftrags an mich Abstand zu nehmen. Für einen solchen liegt ein objektiver, dauernder Bedarf nicht vor und die in Folge dieses Umstands notwendige Verständigung von Fall zu Fall über die zu haltenden Vorlesungen würde meine Lehrfreiheit einschränken. Das Angebot der Charakterisierung als Ordentl. Honorarprofessor nehme ich, trotz einer gewissen Antipathie gegen alle Titulaturen, denen keine Funktion entspricht, an, da die Herren Kollegen der Meinung sind, daß eine Ablehnung als Zeichen unfreundlicher persönlicher Beziehungen zur Fakultät mißdeutet werden könnte. Im übrigen aber habe ich meinen Spezialkollegen, Herrn Professor Rathgen, gebeten, seine Absicht, die Gewährung von Sitz und Stimme in der Fakultät für mich anzuregen, nicht auszuführen, da ich mich den Bedenken nicht verschließe, welche für die Fakultät gegen eine Gewährung von Rechten an einen an den Pflichten der Korporation nicht Teilnehmenden bestehen müssen. Auch könnte eine solche für die Frage der Neubesetzung der Professur mit einer Vollkraft, deren Lösung für die Fakultät in erster Reihe stehen muß, immerhin ungünstig ins Gewicht fallen. – Ich kann auch diese Gelegenheit nicht vorüber gehen lassen, ohne dem Großherzogl. Ministerium für die Art, [in] a der meine Angelea Lochung. 1 Vom 22. April 1903. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 46.
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genheit seitens desselben von Anfang an behandelt worden ist, verbindlichst zu danken. In ausgezeichneter Hochachtung und Ergebenheit bProfessor Max Weberb
b–b Eigenhändig.
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Alfred Weber 5. Mai [1903]; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigen Zusätzen Max Webers GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 51–53 Das Jahresdatum ist aus dem Zusammenhang erschlossen.
Heidelberg 5–5. Lieber Alfred,
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Es hat beinah’ unüberwindliche Schwierigkeiten ohne eingehende Aussprache über die Sache1 etwas zu sagen. Der absolute Kardinalpunkt scheint mir die Frage der gesundheitlichen Wirkung zu sein. Ist es sicher, daß die Lebensweise nicht zu strapaziös ist, daß Du a|:z.B.:|a : nicht zu viel reiten mußt, daß Du keine Schlaflosigkeit acquirierst u. dgl.? Dann |:erst:|b käme weiter die Frage, was aus Deiner Arbeit2 wird. Denn, wenn es Dir möglich ist, ohne Dich gesundheitlich wieder zurück zu bringen, diese Arbeit im Laufe der nächsten Jahre fertig zu machen, so hat das m.E.s. ein ideelles Interesse, dem gegenüber alle Fragen der äußeren Karriere gänzlich Nebensache sind. Mit diesen äußeren Chancen3 steht es [,] c|:wie Du weißt, für jetzt:|c auch sehr ungünstig wie zur Zeit möglich. In Preußen bist Du zu „radikal“ – in Baden stehe ich Dir im Wege – Schmoller’s Bemerkung4 ist einfach d|:entwe-
a–a Eigenhändig. b Eigenhändig. c–c Eigenhändig. d–d Eigenhändig. 1 Im Frühjahr 1903 wurde Alfred Weber von Karl Helfferich für den Posten eines Ansiedlungskommissars in Deutsch-Südwestafrika vorgeschlagen. Die dortige Farmwirtschaft sollte nach rationaleren Maßstäben reorganisiert werden, zudem sollte ein allgemeiner Besiedlungsplan für die bislang kaum bevölkerte Kolonie entworfen werden. Alfred Weber sagte schließlich ab und schlug Paul Rohrbach an seiner Stelle vor, der den Posten auch annahm. Durch den Ausbruch des Herero-Aufstandes zu Beginn des Jahres 1904 konnten die ursprünglich beabsichtigten Arbeiten jedoch nur im Ansatz durchgeführt werden. 2 Alfred Weber arbeitete zu dieser Zeit an: Über den Standort der Industrien, Teil 1: Reine Theorie des Standorts. Mit einem mathematischen Anhang von Georg Pick. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1909 (hinfort: Weber, Alfred, Standort der Industrien). 3 Max Weber meint hier die Chancen seines Bruders auf eine Berufung an eine Universität im Deutschen Reich. Vgl. dazu auch die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Alfred Weber vom 16. März 1904, unten, S. 203. 4 Der angedeutete Sachverhalt läßt sich anhand des einzig aus diesem Zeitraum erhaltenen Briefes von Alfred Weber an Max Weber, vom 20. April 1903 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446), nicht aufklären.
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der gedankenlos oder:|d eine gegen mich gemünzte Unverschämtheit – u. in Baiern ist für einen Preußen nichts zu machen. Es ist also alles rein zufällig in dieser Hinsicht u. es wäre verfehlt auf diese Seite der Sache irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Verlockend ist das Unternehmen um seiner selbst willen nicht, denn viel kann |:praktisch:| schwerlich herauskommen, wenn die Dinge nicht ganz anders liegen als man hier bisher weiß. Die Buren sind für uns |:doch:|e gewiß nicht die Ansiedler, die wir brauchen. Aber sehr wohl könnte andrerseits für unsre wissenschaftliche Kenntniß Erhebliches herausspringen – nur weiß ich nicht, was an |:neuerer:|f Litteratur über südafrikanische Agrarverhältnisse etwa bereits vorliegt. Wenn die Regierung von vorneherein damit rechnet, daß Du mit einer Wahrscheinlichkeit von 100:1 ihr in einer Denkschrift darlegst,g daß u. warum die Sache nicht geht, dann riskierst Du ja keinenfalls einen persönlichen oder sachlichen Echec.5 Du siehst, ich kann eigentlich nur umschreiben, was Du selbst sagst: Entschieden zureden würde ich Dir, wenn ärztlicherseits entschiedene Erfolge für wahrscheinlich gehalten würden, u. Du selbst entschlossen bist, darüber Deine Gesundheit niemals außer Acht zu lassen o. gar zu riskieren. Dann hätteh m.E.s auch die Rücksicht auf Deine Arbeit zurückzutreten. Du wirst |:übrigens:|i doch jedenfalls mit Schmoller nochmals reden, schon damit dieser nicht etwa Jemanden grade auf diese Arbeit hetzt.j – Bitte gieb mir doch im Laufe der nächsten Wochen einmal kurz Nachricht über Helfferichs Eigenarten, insbes. über folgende Punkte: 1) Ist er, wie hier gesagt wurde, tuberkulös oder sonst gesundheitlich nicht intakt? 2) Ist es nach Deiner Meinung wahrscheinlich, daß er einen Ruf als Ordinarius hierher gern annehmen würde? 3) Was ist Dir über seine Lehrthätigkeit bekannt?6 Es steht ihm natürlich sehr stark das Renommée maßloser Selbstgefälligkeit u. egoistischer Unliebenswürdigkeit, das ihm vorausgeht, im Wege. Deine Mitteilungen sind ausschließlich zu meiner Information e Eigenhändig. f Eigenhändig. g 〈wa〉 h 〈auch〉 i Eigenhändig. j 〈Bi〉 5 Frz. für: Schlappe, Fiasko. 6 Karl Helfferich gehörte zu den potentiellen Nachfolgern für Webers Lehrstuhl in Heidelberg und stand am 26. Juli 1903 auch auf der offiziellen Vorschlagsliste, allerdings erst an dritter Stelle, hinter Eberhard Gothein und Werner Sombart (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 139–141). Berufen wurde schließlich Eberhard Gothein.
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bestimmt, von ihrem Inhalt erfährt |:absolut:|k Niemand etwas. l (Bitte also Alles |:strengstens:| unter uns u. ganz offen!) l m Herzlichsten Dank für Deine Geburtstagsgrüße1) u. herzliche Grüße (auch von mir) 7 Maxn o1) Ich
empfinde meinen Rücktritt nun einmal nicht tragisch,8 da ich seit Jahren von seiner Notwendigkeit überzeugt9 u. nur dadurch belastet war, daß kein Arzt so aufrichtig war, auch Marianne davon zu überzeugen. Arbeitskraft ist noch nicht wieder da, sonst geht es aber ganz erträglich. – Afrika ist Gesundheitsfrage, Spezialarbeiten thun Dir keinen Abbruch, sicher dann nicht, wenn wie Du schreibst, Du allein im Besitz wesentlichen Zahlenmaterials (1882)10 bist. Natürlich kann ich das Alles so nicht gut übersehen, ich weiß ja nicht einmal, wie Du definitiv die Thesen, in deren Dienst Deine Arbeit treten will, formulierst. Hauptsache ist z.Z. für Dich: Wurschtigkeit gegenüber der Wahrscheinlichkeit, auf äußeren Erfolg noch lange warten zu müssen. Für dies psychische Requisit thut vielleicht Afrika gut? Ich weiß es nicht.o
k Eigenhändig. l–l Zusatz eigenhändig. m Index eigenhändig n Eigenhändig. o–o Fußnote eigenhändig. 7 Gemeint ist ein persönlicher Gruß von Marianne Weber an Alfred, die den Brief für Max geschrieben hatte. 8 Alfred Weber gab in seinem Geburtstagsbrief an Max Weber vom 20. April der Hoffnung Ausdruck, daß sein Bruder nun tatsächlich aus dem Staatsdienst entlassen werde, damit seiner Heilung von dieser Seite aus nichts mehr im Wege stehe (Bestand Max WeberSchäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 9 Zu Max Webers Entlassung aus dem badischen Staatsdienst vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 45–47. 10 Die Bedeutung dieser Jahreszahl läßt sich heute nicht mehr klären, zumal das Gebiet des späteren Deutsch-Südwestafrika erst 1884 zum deutschen Schutzgebiet erklärt wurde.
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Marianne Weber 19. Mai PSt 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Jahr ist aus dem beiliegenden Briefumschlag und dem Briefinhalt erschlossen: Marianne Weber war auf die Nachricht vom Tod ihres Vaters Eduard Schnitger am 17. Mai 1903 nach Lage gereist (Karte von Marianne Weber an Helene Weber vom 17. Mai 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
Heidelberg 19/V Liebes Kind! Ich kann nun nicht mehr daran denken zu kommen, da ich heute meine übliche „schlechte Nacht“ hatte, nachdem uns schon gestern eine heute getötetea große Ratte den Schlaf geraubt hatte. Sonst geht es mir ganz ordentlich, aber die Reise unterlasse ich doch besser, da ich so wenig nützen könnte. Nun hoffe ich nur, daß Dich Alles [,] was Du dort gefunden hast und durchzumachen hast, nicht allzu sehr mitnimmt und erregt. Es ist ja fast immer so, daß wir das Gefühl haben, |:wir hätten:| einem Toten gern noch das „letzte warme Wort“ vor dem Scheiden gesagt, – in diesem Fall zumal, wo er grade seit den letzten Monaten begann, Derartigem zugänglich zu werden. Aber ob man |:auch jetzt:| anders als durch indirektes Zeigen von Mitempfindung seinem arg verschlossenen und belasteten Herzen hätte wohl thun können, ist ja nicht sicher. Und der größte Segen für ihn ist doch, daß dies einsame und so lange gequälte Leben schnell und schmerzlos ein Ende nahm.1 Hoffentlich ist es gelungen P[astor] Reberb2 zu gewinnen. Grüße die Tanten3 und die Detmolder Verwandten4 herzlich, ich hoffe sicher sie im Sommer persönlich zu sehen, – ebenso die Örlinghauser.5 a O: getöte b Alternative Lesung: Raber 1 Eduard Schnitger war an einem Gehirnschlag gestorben. 2 Eduard Reber war seit 1877 Pastor in Lage und ab 1885 in Oerlinghausen. 3 Florentine (Flora) und Marie Schnitger. 4 Hans und Wilhelmine (Minna) Schnitger, der Bruder und die Schwägerin von Eduard Schnitger. 5 Marianne Webers Verwandte in Oerlinghausen: ihr Großvater Carl David Weber sowie die Familie ihrer Tante Alwine (Wina) Müller.
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– Hier geschieht nichts von Bedeutung, auch sind keine Briefe gekommen, ich schicke sie ev. nach. Herzlichst Dein Max 5
Brauchst Du Geld, so schreibe. Über unsre Absichten bezüglich der Tanten6 ist es wohl besser, später zu schreiben [.]
6 Max und Marianne Weber erwogen seit längerem, Florentine (Flora) und Marie Schnitger finanziell zu unterstützen. Vgl. zuletzt den Brief an Marianne Weber vom 3. Jan. 1903, oben, S. 33 f.
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Marianne Weber PSt 22. Mai 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. S. Gestern u. heut habe ich noch nichts von Dir gehört – hoffentlich geht Alles glatt.1 Hier passiert nichts Besonderes, ich schlafe befriedigend, bin den ganzen Tag draußen, das Wetter ist endlich wärmer, wird aber nun wohl bald in vollen Sommer umschlagen. Briefe außer den nachgeschickten nicht. Ich habe außer Jellineks keinen Menschen gesehen, geht es mir gut, so gehe ich morgen nach der Stiftsmühle.2 – Eben kommt Dein Brief, es freut mich, daß Alles so würdig verlaufen ist. Oerlinghausen wäre u[nter] den Umständen gewiß nicht das Richtige gewesen. – Ich kann Dir gut noch Geld schicken, damit Du dort gleich Alles abmachen kannst, 3 schreib nur, wie viel ungefähr. Herzlichst Dein Max Grüße die Tanten, ebenso in Detmold.4
1 Marianne Weber war wegen des Todes ihres Vaters, Eduard Schnitger, nach Lage gereist. 2 In diesem Ausflugslokal unterhalb von Stift Neuburg bei Heidelberg traf sich samstags üblicherweise der Freundeskreis von Max und Marianne Weber. 3 Marianne Weber berichtete in ihrem Brief an Max Weber vom 21. Mai 1903 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) von den Trauerfeierlichkeiten für Eduard Schnitger und von ihrer Entscheidung, nicht auf Alwine Müllers Vorschlag einzugehen, Eduard Schnitger an der Seite seiner bereits 1873 verstorbenen Frau Anna im Fami liengrab Weber in Oerlinghausen beizusetzen. Schließlich kam Marianne Weber noch auf die großen Auslagen für das Begräbnis und auf Eduard Schnitgers ungeklärte Vermögensverhältnisse zu sprechen. 4 In Detmold lebten Hans und Wilhelmine (Minna) Schnitger, Bruder und Schwägerin des Verstorbenen.
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Marianne Weber [23. Mai 1903; Heidelberg] Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Der Brief findet sich auf der Rückseite eines undatierten Kondolenzbriefes, den Emilie (Emmy) Rathgen an Marianne Weber anläßlich des Todes von Eduard Schnitger geschrieben hatte. Datum und Ort sind erschlossen aus Max Webers Hinweis, im Aufbruch zum samstäglichen Treffen des Freundeskreises im Ausflugslokal „Stiftsmühle“ zu sein.
L. S.
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Diesen Brief machte ich auf, da ich dachte, es könnte etwas zu beantworten nötig sein. – Ich gehe jetzt eben nach der Stiftsmühle, sehe Frau R[athgen] dort vielleicht. Von Dir ist heut noch keine Nachricht da, hoffentlich hast Du Dich nicht zu sehr heruntergebracht. – Ihr werdet nun wohl bald fertig sein u. Du hast hoffentlich noch etwas Ruhe bei den Tanten.1 Beeile doch die Rückreise nicht, wenn es ihnen und Dir gut thut, noch etwas bei dem Abschluß, den dieser Tod doch in seiner Art auch bedeutet hat, zu verweilen. Wie viele traurige Kindererinnerungen2 werden wieder gekommen sein – hoffentlich bringe ich noch recht viel Sonne in Dein Leben – trotz Allem. Wir müssen beim Rückblick auf die schwere Existenz Deines Vaters doch immer denkena, wie gut wir es, selbst wenn es mir schlechter geht als jetzt, in unsrem reichen Leben haben. Herzlichst Dein Max
a Alternative Lesung: danken 1 Florentine (Flora) und Marie Schnitger. 2 Marianne Weber war früh mutterlos geworden und wuchs, da ihr psychisch labiler Vater mit dieser Situation überfordert war, weitgehend in Lemgo bei ihrer verwitweten und asthmakranken Großmutter, Dorette Schnitger, auf. Im Haushalt lebten außerdem deren unverheiratete Tochter Florentine (Flora), die Lehrerin war, sowie zeitweilig zwei psychisch kranke Söhne. Vgl. Weber, Marianne, Lebenserinnerungen. – Bremen: Storm 1948, insbes. S. 31–40.
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23. Mai 1903
Marianne Weber PSt 23. Mai 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. S. Gleichzeitig hiermit 300 M. per Postanweisung. Es ist mir doch peni bela, wenn Du dort pumpst.1 Brauchst Du mehr, so schreibe. Hier nichts Neues. Schönen Dank für Deinen Brief, es freut mich, daß Alles so würdig verlaufen ist und Eurem Empfinden entsprach.2 – Hier nichts Neues, ich sehe Niemand. Der gute Hirsch3 war hier, verfehlte mich und ließ ein Pöttken Caviar (!) zurück. Ich schrieb ihm.4 – Vielleicht brauchst Du eine Legitimation gegenüber der Sparkasse?5 Dann schicke ich Dir Deinen Paß. Herzl[ichen] Gruß |:an die Tanten6 und Dich:| – ich gehe auf die Molkenkur,7 wie täglich – es ist Sommer hier jetzt – Dein Max
a Lies: peinlich 1 Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber vom 21. Mai 1903 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) angekündigt, sich wegen der Auslagen in Zusammenhang mit Eduard Schnitgers Tod Geld leihen zu wollen. 2 Ebd. hatte Marianne Weber von den Trauerfeierlichkeiten für ihren am 17. Mai 1903 verstorbenen Vater berichtet (vgl. auch die Karte an Marianne Weber vom 22. Mai 1903, oben, S. 62). 3 Es handelt sich vermutlich um den Mannheimer Getreidegroßhändler und Schwieger vater von Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Emil Hirsch. 4 Der Brief ist nicht nachgewiesen. 5 Es ging um Eduard Schnitgers nicht auffindbares Sparbuch (Marianne Webers Brief an Max Weber vom 21. Mai 1903, wie oben, Anm. 1). 6 Florentine (Flora) und Marie Schnitger. 7 Eine Anhöhe mit gleichnamigem Restaurant oberhalb des Heidelberger Schlosses. Der Name verweist auf die im 19. Jahrhundert beliebte Molkentherapie bei chronischen Atemwegserkrankungen und Tuberkulose.
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Marianne Weber PSt 24. Mai 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. S.
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Ich bin ganz einverstanden mit Allem was Du schreibst,1 – werden 100 M. an Strates2 genug sein? Die 3000 M. für Onkel Carla3 können wir ja gleich jetzt von Rüxrothb4 auszahlen lassen – an wen? Onkel Hans, die Tanten, 5 oder Bodelschwingh?6 Das müßte Onkel Hans wohl am besten wissen. Ich hatte zuletzt schon geglaubt, Dein Vater hätte nur 5000 M. besessen, – aber wie sehr muß er sich oft auch so geängstigt haben! – Gestern waren Voßler’s, Fürbringer’s, Jellinek’s, Landsberg auf der Stiftsmühle,7 einen Augenblick auch Rathgen’s u. Marcks. Mir geht es erträglich, es wird jetzt, wie immer, plötzlich heiß, ich fahre gleich auf die Molkenkur.8 Sonst nichts Neues. Grüße die Tanten herzlichst, und, wie gesagt, wenn es Euch wohl thut, jetzt noch etwas beisammenzusein, so beeile doch die Rückreise nicht. Herzlichst Dein Max
a 〈zahle doch glei〉 b Alternative Lesung: Rürorth 1 Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber, undat. [nach dem 21. Mai 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, um Zustimmung zu verschiedenen Regelungen im Hinblick auf Eduard Schnitgers Nachlaß gebeten. 2 Adolf und Frieda Strate hatten sich bis zuletzt um ihren Nachbarn Eduard Schnitger gekümmert. 3 Karl Schnitger. 4 Der Name konnte nicht ermittelt werden. Vermutlich handelt es sich um einen Bankbeamten. 5 Hans, Florentine (Flora) und Marie Schnitger. 6 Karl Schnitger war psychisch krank und lebte in der von Friedrich v. Bodelschwingh gegründeten Anstalt Bethel. 7 In diesem unterhalb von Stift Neuburg bei Heidelberg gelegenen Ausflugslokal traf sich samstags üblicherweise der Freundeskreis von Max und Marianne Weber. 8 Vgl. dazu die Karte an Marianne Weber vom 23. Mai 1903, oben, S. 64 mit Anm. 7.
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Marianne Weber [nach dem 24. Mai 1903]; o.O. Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist aus dem Briefinhalt erschlossen: Max Weber leitete mit der folgenden Notiz einen Dankesbrief von Paul Hensel an Marianne Weber vom 24. Mai 1903 weiter. Darin bedankte sich Hensel mit mehr als einmonatiger Verzögerung für das Wiedersehen mit Max und Marianne Weber bei seinem Besuch in Heidelberg.
L. S. Ich sah, daß es von Hensel war, machte es auf u. schicke es, obwohl es kein Condolenzbrief1 ist. Er ist ein guter Kerl. – Hier nichts Neues, mir geht es ganz leidlich, es beginnt heiß zu werden. Wieder kein Frühjahr! Herzlichst Dein Max
1 Eduard Schnitger, Marianne Webers Vater, war am 17. Mai 1903 gestorben.
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Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg 26. Mai 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig UA Heidelberg, H-IV-102/135, Bl. 588 Auf dem Brief an die Fakultät finden sich handschriftliche Zusätze von der Hand Karl Rathgens, die hier nicht nachgewiesen werden. Hintergrund von Webers Vorschlag ist die Hundertjahrfeier der Wiederbegründung der Universität; zu diesem Anlaß sollten einige Ehrenpromotionen verliehen werden. Als Dekan der Philosophischen Fakultät hatte Karl Rathgen am 17. Mai 1903 um Vorschläge durch die Kollegen gebeten (UA Heidelberg, H-IV-102/135, Bl. 582), worauf Weber mit der hier abgedruckten Eingabe reagierte. Auf einer Fakultätssitzung am 12. Juni 1903, an der Weber nicht teilnahm, wurden die zu vergebenden Ehrentitel beschlossen, u.a. für Eugen von Böhm-Bawerk und Gustav Schmoller (ebd., Bl. 658 f.), der von Erich Marcks vorgeschlagen worden war (ebd., Bl. 606). Am 8. August 1903 wurden die Urkunden im Rahmen eines Festaktes verliehen; Karl Rathgen gab für jeden Kandidaten eine kurze Erklärung ab und stützte sich im Falle Böhm-Bawerks im wesentlichen auf Max Webers Formulierungen: „Eugen von Böhm-Bawerk, k.k. Finanzminister und Honorarprofessor an der Wiener Universität. Gleich hervorragend an logischer Schärfe, an stilistischer Kunst, an vornehmer Sachlichkeit, der bedeutendste und liebenswürdigste Vertreter der abstrakt-deduktiv arbeitenden Schule der österreichischen National-Oekonomie. Mit Stolz rechnet die Ruperto Carola ihn zu ihren Schülern.“ (ebd., Bl. 670: Tageblatt zur Zentenarfeier der Erneuerung der Universität Heidelberg – Beilage zum „Heidelberger Fremdenblatt“, Mittwoch, 12. August 1903).
Heidelberg 26. V. 03. An die Philosophische Fakultät.
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Zur Ehrenpromotion schlage ich vor: den K. K. Finanzminister, Honorarprofessor an der Wiener Universität, Dr jur. Eugen von Böhm-Bawerk, Exc. Gleich hervorragend an logischer Schärfe, stilistischer Kunst und vornehmer Sachlichkeit der Polemik, ist er der unzweifelhaft bedeutendste Vertreter der abstrakt-deduktiv arbeitenden Schule der österreichischen Nationalökonomie, übrigens ein Schüler des Knies’schen Seminars1 und eine auch in ihren Charakterqualitäten in jeder Hinsicht erfreuliche Persönlichkeit. Er würde ein besonders glückliches Pendant zu der von andrer Seite beantragten Promotion des streng historisch-induktiv arbeitenden Professor Schmoller bilden. Max Weber 1 Böhm-Bawerk verbrachte nach seiner Promotion in Wien zwischen 1875 und 1877 einen zweijährigen Studienaufenthalt in Deutschland, der ihn u. a. in das Seminar von Karl Knies nach Heidelberg führte.
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Edgar Jaffé PSt 1. Juni 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz Im Zentrum dieser Karte sowie der weiteren Korrespondenz mit Edgar Jaffé am oder nach dem 31. Juli, ca. am 4., 5., 9. und 13. August und nach dem 1. Dezember 1903, unten, S. 116–121 und 188, steht der Erwerb des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ durch Edgar Jaffé, der die Zeitschrift zusammen mit Werner Sombart und Max Weber ab April 1904 als „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ (AfSSp) fortführte und zu einem der bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Organe des frühen 20. Jahrhunderts machte. In diesen Zusammenhang gehören auch gelegentliche Äußerungen in den Briefen und Karten an Marianne Weber vom 7., 9., 16. und 17. Juni, 29. August (2 Karten) und 15. September 1903, unten, S. 79 f., 85 f., 106–108, 137–139, und 147. Das „Archiv“ (dessen Bandzählung das AfSSp auch auf Wunsch des alten Herausgebers fortführte) wurde 1888 von Heinrich Braun gegründet und entwickelte sich schnell zu einer anerkannten sozialpolitischen Zeitschrift, für die Max Weber gelegentlich (1894 und 1902) Beiträge lieferte. Seit dem Erscheinen des 2. Bandes hatte aber v.a. Werner Sombart zahlreiche Beiträge geliefert und darüber hinaus den Herausgeber oft in redaktionellen Fragen beraten. Bis 1898 wurde das „Archiv“ durch den Frankfurter Indu striellen Charles F. Hallgarten großzügig finanziert, danach mußte Braun sich immer wieder Geld leihen, obgleich die Zeitschrift durchaus Gewinn abwarf. Alleine Sombart schuldete er im März 1903 die Summe von 1500 Mark (Brief von Heinrich Braun an Werner Sombart vom 21. März 1903, LBI New York, Julie Braun-Vogelstein Collection, AR 25034, Part I, Box 4, Folder 3). Seit dem Jahrhundertwechsel dachte Braun immer wieder an die Neuorganisation bzw. den endgültigen Verkauf der Zeitschrift, die er zu Beginn der 1890er Jahre schon einmal veräußert hatte. In diese Überlegungen wurde stets auch Sombart einbezogen, dem Braun am 10. Mai 1903 ausführlich von einer Besprechung mit dem Verleger Gustav Fischer berichtete. Braun wollte sich einerseits verstärkt der Parteipolitik zuwenden und wurde im Juni für den Wahlkreis Frankfurt (Oder)-Lebus in den Reichstag gewählt; andererseits schwebte ihm die Gründung einer neuen Zeitschrift vor, die er ab Oktober 1903 mit seiner Frau Lily Braun unter dem Titel „Die Neue Gesellschaft“ herausgab. Beides war kostspielig, so daß er sich endgültig zum Verkauf seines „Archivs“ für die Summe von 60.000 Mark entschloß. Fischer lehnte einen Kauf ab, zeigte sich jedoch sehr an der Übernahme von Vertrieb und Verlag inter essiert, was bislang vom Carl Heymanns Verlag besorgt wurde. Sombart seinerseits engagierte sich in den folgenden Wochen, schreckte Fischer jedoch anfänglich mit zu hohen Gehaltsforderungen ab. Fraglich blieb v. a., wer die immens hohe Kaufsumme aufbringen sollte, die Braun vorschwebte. In den Jahren zuvor hatte er mit Sombart wiederholt Pläne für ein Konsortium erwogen, in dem betuchte schlesische Freunde Sombarts die Finanzierung übernehmen sollten, u. a. Gerhart Hauptmann. Diesen Überlegungen erteilte Sombart erneut eine klare Absage. Während eines Besuches in Heidelberg traf Braun sich am 31. Mai mit Max Weber, mit dem er über seine Zukunftspläne sprach und dabei auch das „Archiv“ erwähnte. Weber zeigte sich sogleich an der Mitarbeit interessiert und brachte Edgar Jaffé als potentiellen Käufer ins Gespräch. Augenscheinlich besprach Weber sich daraufhin sogleich mit Jaffé und kündigte diesem eine Vermittlung bei Braun an. Auf der Rückreise von Heidelberg traf Braun sich erneut mit Gustav Fischer in Jena, der Sombart und
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Weber als Herausgeber für „besonders wünschenswert“ betrachtete, als Redakteure gleichwohl für wenig geeignet hielt (Brief von Heinrich Braun an Werner Sombart vom 3. Juni 1903, LBI New York, Julie Braun-Vogelstein Collection, AR 25034, Part I, Box 4, Folder 3). Nach schwierigen Verhandlungen insbesondere über die hohe Kaufsumme erklärte sich Weber am 5. Juli 1903 zur Mitarbeit und Herausgeberschaft bereit, falls auch Sombart dazu entschlossen sei (Brief von Werner Sombart an Heinrich Braun vom 5. Juli 1903, GStA PK, VI. HA, Nl. Werner Sombart, Nr. 9c, Bl. 116). Einem Brief Brauns an Sombart vom 9. Juli lassen sich einige Details der in Heidelberg geführten Verhandlungen entnehmen: Laut Braun sei dort weitgehende Einigkeit über alle offenen Fragen erzielt worden. Strittig blieb jedoch eine Klausel, die Jaffé in dieser Form nicht akzeptieren wollte: Dem Entwurf nach stünden Jaffé pro Band 3000 Mark nach Begleichung aller Kosten zu, aber unter der Voraussetzung, daß die Bruttoeinnahmen mindestens 8850 Mark betragen. Diese Summe sollte von Heinrich Braun garantiert werden, wozu sich dieser auch bereit erklärte. Jaffé verlangte jedoch, daß Braun dem Verlag die Garantie gebe, während dieser sich grundsätzlich verpflichten sollte, stets 3000 Mark auszuzahlen, unabhängig von den Einnahmen (eine solche Klausel findet sich auch in dem späteren Vertrag zwischen Braun und Jaffé); Braun garantierte dort bis Ende 1909 eine Bruttoeinnahme von 8850 Mark. Als Sicherheit wurden 6000 Mark der Kaufsumme als Depot bei Jaffé hinterlegt. Fischer wollte in dieser Frage nicht nachgeben, da er seiner (und Brauns) Ansicht nach schon in anderen Fragen zurückgewichen sei. Braun und Sombart verabredeten darauf, jeweils beruhigend auf Fischer und v.a. Weber einzuwirken, glaubten aber nicht mehr an eine allseitige Einigung. Insbesondere Braun erwog nun, das „Archiv“ anderweitig zu verkaufen. Schließlich blieb aber die Einigkeit mit Jaffé bestehen, der Kaufvertrag wurde am 20. Juli 1903 in Weimar unterzeichnet (eine Kopie des Kaufvertrags findet sich in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 950). Laut Vertrag sollte das „Archiv“ zum 1. Januar 1904 schuldenfrei durch Heinrich Braun an Gustav Fischer übertragen werden. Bis dahin sollten spätestens auch alle Restbestände vorheriger Bände, das Kontobuch und die Kontinuationslisten übergeben sein. Am 31. Juli 1903 teilte Gustav Fischer aber den endgültigen Abbruch der Verhandlungen seinerseits in einem ausführlichen Schreiben an Max Weber mit, das dieser sogleich an Edgar Jaffé weiterleitete (Brief an Edgar Jaffé, am oder nach dem 31. Juli 1903, unten, S. 116). Weber wollte zunächst noch nicht ganz die Hoffnung aufgeben, das „Archiv“ künftig bei Fischer in Jena erscheinen zu lassen, und motivierte diese Hoffnung Jaffé gegenüber unter Hinweis auf die Rechtslage. Dieser wollte in der Folge jedoch mit einem „unzuverlässigen & launenhaften Verleger wie Fischer“ nichts mehr zu tun haben (Brief von Edgar Jaffé an Max Weber vom 3. August 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Als eine Alternative brachte Weber den Tübinger Verleger Paul Siebeck ins Spiel, der sich interessiert zeigte. Edgar Jaffé kontaktierte ihn daraufhin erstmals am 13. August 1903, als dieser sich zur Kur in Freudenstadt aufhielt, wohin Jaffé ihm nach kurzer Absprache nachreiste. Dort muß es dann schon zwischen dem 13. und 17. August 1903 zu abschließenden Vertragsgesprächen gekommen sein, so daß Jaffé bereits am 23. August 1903 den unterschriebenen Vertrag an Siebeck zurückschicken konnte. Max Weber schien sich seiner Rolle im zukünftigen „Archiv“ aber immer noch nicht recht bewußt, wie seine erste Karte an Marianne Weber vom 29. August 1903 zeigt (unten, S. 137 f.); auch Jaffés Absicht, bei der anstehenden Versammlung des VfSp in Hamburg bereits einen Prospekt auszugeben, traf nicht auf Webers ungeteilte Zustimmung, fürchtete er doch eine öffentliche Festlegung, obwohl noch wichtige Punkte zu klären waren (zweite Karte an Marianne Weber vom 29. August, unten, S. 139). Denn neben den juri
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stischen Fragen um Gustav Fischers Beteiligung war der reibungslose Übergang des „Archivs“ an Edgar Jaffé und den neuen Verleger Siebeck zu organisieren. Rechtlich waren alle Fragen durch den Vertrag vom 20. Juli 1903 geklärt; faktisch kam jedoch ein unerwartetes Problem hinzu. Am 23. Oktober 1903 wandte sich der Verlag von Paul Siebeck an den Carl Heymanns Verlag, um einige Exemplare der aktuellen Hefte zu erhalten, v. a. aber, um die Frage des endgültigen Verlagsübergangs in die Hände von Paul Siebeck zu klären und dies öffentlich bekannt zu machen. Ein Vertreter von Heymanns reagierte zunächst sehr verhalten auf die zweite Bitte, bis sich am 3. November 1903 herausstellte, daß Heinrich Braun das „Archiv“ gegen ein größeres Darlehen an den Carl Heymanns Verlag verpfändet hatte, der vor der formellen Verlagsübertragung auf der Begleichung der Schulden bestand. Zur gleichen Zeit war es wohl erneut zu Streitigkeiten zwischen Jaffé und Braun gekommen, der sich schon im August so über Jaffé geärgert hatte, daß er ihm die Kontinuationslisten erst zum letztmöglichen Termin übergeben wollte (Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 17. August 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169). Laut Kaufvertrag hatte er sich zur Mitarbeit an der Umgestaltung seines „Archivs“ verpflichtet, was unter den gegebenen Umständen aber wohl nur schwer möglich war. Die Auseinandersetzung zwischen Braun und Jaffé zog sich bis weit in den Dezember 1903 hinein. Erst am 19. Dezember berichtete Heymanns an Siebeck (ebd., K. 169, Mappe, Verlage 1903 (He-Hi): Carl Heymann’s Verlag), daß die Differenzen zwischen Jaffé und Braun erledigt seien und Braun seine Schulden beim Verlag bezahlt habe. Am Heiligabend 1903 übermittelte schließlich der Carl Heymanns Verlag die Versendungslisten und das Abrechnungsbuch des „Archivs“ an Edgar Jaffé, womit der Herausgeber- und Verlagsübertrag endgültig abgeschlossen war. Die inhaltliche Arbeit war längst angelaufen, das erste Heft des neuen „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ konnte am 14. April 1904 im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels annonciert werden.
V. H. Dr! Die Sache liegt ja noch im Weiten – aber vielen Dank für Ihre Karte. Ich werde H[einrich] B[raun] gelegentlich schreiben, daß Sie auf eine Andeutung hin sich nicht abgeneigt gezeigt haben, die Frage, falls er darauf zurückkäme, in ernstliche Erwägung zu ziehen. – Ob ich mitmachen könnte, ist doch recht fraglich, es widerstrebt mir, die Arbeit Anderen zu lassen u. mit dem Namen zu paradieren, ohne continuierlich bestimmte Quanta Arbeit zusagen zu können. Möglich, daß sich eine Form finden ließe, die mir eine auch formelle Beteiligung möglich machte, sachlich würde ich ev. nach Kräften mitthun, d.h. nur in die Zeitschrift schreiben. – Aber vorerst sind es ja „ungelegte Eier“, und
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erst müssen Sie in Ihrem Interesse Ihre Habilitation erledigen, ehe Sie Andres übernehmen.1 Besten Gruß an Sie und Ihre liebe Frau2 Ihr Max Weber
1 Edgar Jaffé habilitierte sich 1904 in Heidelberg mit der Arbeit: Das englische Bankwesen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1904. Das Manuskript lag im April 1904 fertig vor, wie sich einem Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 26. April 1904 entnehmen läßt (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). Am 9. Juni 1904 stellte Jaffé den förmlichen Habilitationsantrag, eine Woche darauf hielt er erfolgreich seine Probevorlesung zum Thema „Die Hausindustrie und ihre gesetzliche Regelung“ ab (UA Heidelberg, H-IV-102/136, Bl. 219 u. 224). 2 Else Jaffé, geb. von Richthofen.
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Marianne Weber PSt 5. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Weber war vom 4. bis 19. Juni 1903 in den Niederlanden, um sich zu erholen. Marianne Weber blieb währenddessen in Heidelberg. Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. Der 5. Juni 1903 war ein „Freitag“.
Dirka
Scheveningen Hoogenraad Straat1 113 Freitag früh
Liebe Schnauz! Der Zug gestern war recht bequem, kein „overstappen“2 nötig, im Haag, einer stillen Stadt von lauter einstöckigen Häuschen mit den üblichen blitzblanken Fenstern u. gescheuerten Fassaden, habe ich leidlich geschlafen u. bin hier recht behaglich untergekommen, wie mir scheint, zwar keineswegs billig, aber doch nicht ganz so arg wie ich fürchtete – Privatlogis parterre, 2 Zimmer (d.h. 1 großes Zimmer u. 1 Schlafkammer, wenige Minuten vom Strand, Kursaal etc. etc. in „feinster“ Gegend bei ganz netten Leuten (1stöckiges neues Häuschen), riesige Fenster, sehr reinlich u. wie es scheint u. ich hoffe still. Das Wetter ist trüb verhängt u. mäßig kühl, starker Seewind, nun muß ich sehen wie das thut. Ich bin ungebunden u. kann also essen wann u. wo ich will, ev. auch im Haag. Nun hoffe ich [,] daß Du auch Ruhe findest u. anfängst besser zu schlafen u. die Leute Dich in Frieden lassen [,] damit wenn ich wiederkomme ein vergnügteres Leben anfangen kann als zuletzt.3 Rathgens
a O: Derte 1 Der falsche Straßenname „Derte Hoogenraad Straat“ wurde emendiert. Vgl. zur korrekten Schreibweise den Brief an Marianne Weber vom 6. Juni 1903, unten, S. 76. 2 Ndl. für: Umsteigen. 3 Max Weber hatte sich erneut unwohl gefühlt und sich deshalb kurzfristig zu dieser Reise entschlossen. Marianne Weber sah darin einen Versuch, „ob wir mit häufigeren kurzen Reisen nicht gesundheitlich rationeller wirtschaften als mit den langen“ (Karte von Mari anne Weber an Helene Weber vom 9. Juni 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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Formular4 schicke doch bitte gleich hierher, ich schicke es dann direkt an ihn. Zeitungen finde ich hier genug, Briefe wennb sie nicht ganz gleichgültig sind [,] schicke doch bitte nach. – Ich werde wohl hauptsächlich am Strande im Zelt sitzen vorerst, – nach dem Haag gehe ich jedenfalls erst kommende Woche. – Ich habe bis 17ten gemiethet, am 18ten wird ev. schon jemand andres herkommen, ich bin dann auf die Art grade 14 Tage fortgewesen, das muß genügen und wird es auch. Der Kopf wird nun, wenn er nichts zu lesen bekommt, wohl zunächst gründlich stumpf werden. Grüße wen Du siehst und sei herzlichst geküßt von Deinem Max Dirkc Hoogenraad Straat 113
b 〈sie nicht〉 c O: Derte 4 Vermutlich meint Max Weber ein Formular zur Begutachtung der Dissertation seines Schülers Karl Breinlinger, das ihm Karl Rathgen, der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät, zuschicken wollte. Vgl. auch den Brief an Marianne Weber vom 7. Juni 1903, unten, S. 79 mit Anm. 1.
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Marianne Weber PSt 6. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags erschlossen.
Scheveningen Dirk-Hoogenraadstraat 113 Liebes Schnäuzchen Ich habe ganz gut geschlafen u. befinde mich recht erträglich, nachdem ich den Thee mita worst, kaas, 1 water-broodje, 1 eier-brodje, 1 soetes brodje1 u. honig-koek2 binnen habe. Das Leben hier ist, wenn man in die Strand-Restaurants geht, etwa 1⅔ mal so teuer wie in Borkum,3 der Gulden (1,70 M.) reicht |:hier:| so weit wie |:dort:| die Mark, – ich fahre aber jetzt, wie schon gestern Abend, immer für 10 Cts nach dem Haag, wo ich ein vortreffliches vegetarisches Restaurant, wie sie die hiesigen Propaganda-Vereine4 in allen Städten geschaffen haben, entdeckt habe: keine Getränke, keine fooien (Trinkgelder), – man lebt für 50– 60 ct (90 ) von Spargeln, Rhabarber und Sinaasappels (Apfelsinen) u. besch... so die Bande hier um ihren Sündenlohn. Es essen da vielb Damen, außerdem einige Italiener u. Künstler, man ist nicht zu weit vom Maurits-Huis (Museum) 5 u. der Groote Kerk, die mit ihrer durchbrochenen gothischen Thurmspitze von Eisen modernsten Naumann’schen Idealen entspricht.6 – Scheveningen ist in seiner Art grandios, sicher a 〈Wurst, Käs〉 b Lies: viele 1 In Max Webers Aufzählung von holländischen Brötchenspezialitäten schlichen sich orthographische Flüchtigkeitsfehler ein: so brodje statt broodje (für Brötchen) und soetes statt zoetes oder soeses broodje (für süßes Brötchen bzw. Windbeutel). 2 Der in den Niederlanden traditionell als Frühstückskuchen (ontbijtkoek) beliebte Honigkuchen. 3 Im August/September 1902 hatte Max Weber gemeinsam mit Helene Weber einige Wochen auf Borkum verbracht. 4 Das Restaurant „Pomona“. Die seit der Juli-Revolution von 1830 entstandenen Propa gandavereine hatten sich die Verbreitung der Freiheitsidee zum Ziel gesetzt und wollten zur Selbsthilfe anleiten. Sie waren außer in Italien, Polen und Deutschland insbesondere in Belgien verbreitet. 5 Das 1633–1644 für Johan Maurits von Nassau erbaute Palais Mauritshuis beherbergt seit 1822 die Königliche Galerie. 6 Die dem Hl. Jakobus geweihte und in ihren ältesten Teilen auf das 14. Jahrhundert zurückgehende Stadtkirche von Den Haag hatte 1861 eine neogotische Turmspitze aus
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das Erste [,] was es giebt,7 wenn man auf Pracht der Strandanlagen sieht, auf dem weit draußen ins Meer vorgeschobenen Vorbau, der ein Varieté-Theater trägt u. f[ür] Tausende Platz hat, sitzt man draußen im scharfen Seewind wunderbar, mit dem Blick auf die endlose Dünenküste, Abends auf die Lichtermasse des Strandes, dazu die Fischerflotte, – hinter den Dünen die Tausende auf Spekulation gebauter kleiner 2stöckiger Häuschen zum Vermiethen, dann das dichte schöne Schevening’sche Holz,8 wohin man mit der Pferdebahn in 10 Min[uten] kommt – nur: aufs Geld ist die Gesellschaft so sehr aus wie irgend ein Neapolitaner. Zum Haag sind es immerhin 20–25 Minuten, man entschlösse sich, wenn man dort wohnte, vielleicht nicht immer hinauszufahren, sonst würde ich lieber drinnen wohnen. Die Stadt ist lächerlich still, und Alles en miniature: Museum, öffentl[iche] Gebäude etc., Alles 2stöckig, man glaubte erst sich vorsehen zu müssen, nichts umzurennen oder zu zertreten wie Gulliver als er von Brobdingnagc9 zurückkam, – unser Brobdingnagd sind eben die Miethskasernen, die hier mit seltenen Ausnahmen fehlen. Schöne stille Wasserweiher mit Schwänen drauf, schöne Linden u. Buchen oder Kastanien dran, unendliche Sauberkeit: heut scheuern sie die Häuser von außen, so hoch sie reichen können – das Alles wirkt sehr beruhigend. – Was machst du? Schläfst Du? Gehst Du ins Grüne? Nimmst du Hypophosphit?10 Siehst du Leute? Hoffentlich nicht zu viele? Lies
c O: Brobdignag d O: Brobdignag Eisen erhalten. Friedrich Naumann setzte sich publizistisch intensiv mit der gesellschaftlichen Bedeutung von bildender Kunst und Architektur auseinander (vgl. Heuss, Theodor, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit. – Stuttgart u.a.: Deutsche Verlags-Anstalt 1937, S. 289–305). Naumanns Ansicht über eine zeitgemäße Ästhetik gipfelte in dem Credo: „Der neue Eisenbau ist das Größte, was unsere Zeit künstlerisch erlebt.“ Vgl. Naumann, Friedrich, Die Kunst im Zeitalter der Maschine, in: Der Kunstwart, Jg. 17, Heft 20, 1904, S. 317–327, hier S. 323. 7 Das sich seit 1818 zum Seebad entwickelnde Fischerdorf galt seinerzeit als vornehmster Badeort der Niederlande (vgl. Baedeker, Belgien und Holland, S. 376). 8 Ein am alten Weg nach Den Haag gelegenes Wäldchen (vgl. ebd.). 9 Brobdingnag war eine der abenteuerlichen Stationen, auf die es Lemuel Gulliver, den Titelhelden aus Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, verschlug. 10 Marianne Weber war auf das zur allgemeinen Kräftigung eingesetzte Arzneimittel aufmerksam geworden und hatte dessen Einnahme angeregt (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 7. Jan. [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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leichte Sachen (den Wittich11 z. B. oder so was), damit es endlich aufwärts geht! Bis morgen – es küßt Dich herzlich Dein Max Dirk – (nicht: „Derte“) Hoogenraadstraat 113
11 Anspielung auf Wittich, Werner, Deutsche und französische Kultur im Elsaß. – Straßburg: Schlesier & Schweikhardt 1900. Max Weber schätzte das Werk als „eine Perle fein ster Beobachtung“, vgl. den Brief an Richard Graf Du Moulin-Eckart vom 4. Mai 1907, MWG II/5, S. 292.
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Marianne Weber 7. PSt Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Webers irrtümliche Monatsangabe („V“) wurde anhand des Poststempels auf dem beiliegenden Briefumschlag korrigiert.
Scheveningen, Dirk-Hoogenraad-Straat 113 Sonntag früh 7/VIa 03 Mijn lief Snuitje1 – 5
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d. h. ich schreibe doch lieber Deutsch, als dies verfl. Kauderwelsch, welches die Kerls hier selbst nicht ernst nehmen: spricht man dauernd hoogduitsch, 2 so akkommodieren sie sich unwillkürlich, so meine Wirthe, die eigentlich nur platt verstehen – der Tag beginnt wieder seinen typischen Kreislauf für mich: ½ Stunde Zeitunglesen im Kursaal, – nachdem ich das „ontbijt“ (Imbiß) 3 zu mir genommen; dann im Sand am Strande: es ist noch kein Mensch da, auf dem gewaltigen Strand wimmeln 8–12 Leute, gebadet wird erst im Juli, selbst die Strand-W.C.’s sind noch „gesloten“ (oft recht unangenehm bei der guten Verdauung hier!). Dann kommt das Dejeuner – da ich morgens, weil das ontbijt mit zum Zimmer gehört, quantitativ in mich spinneb : Käse, Wurst, Honigkuchen, Apfelsinen (hier ½ so billig als bei uns), so Mittags qualitativ: ½ Hummer im Strandrestaurant u. Apfelsinen – Kostenpunkt 1 Gulden – und Abends chygienisch und ökonomisch zugleich: c knolletjes (e[ine] Art weißer Rüben, sehr weich u. ganz schmackhaft) – Kostenpunkt 25 cts – u. Apfelsinen in der Pomona (vegetarisches Restaurant) im Haag. Dazwischen Nachmittags zuerst Strand, dann im Haag Sitzen unter den Linden am Schwanenweiher mit dem Blick auf den alten „Binnenhof“ (Regierungsgebäude). – Das Zimmer hier ist recht behaglich und groß, die |:(neuen):| Möbel geschmacklos wie bei uns vor 30 Jahren, schön die riesigen Schiebefenster, nur kann man sie wie immer nur um ca ½ Meter hochschieben. Das Schlafkäfterchen4 ist klein, u. da man keine Jalousien a O: V b Unsichere Lesung. c–c sanitär > hygienisch u. ökonomisch zugleich: 1 Ndl. für: mein liebes Schnäuzchen. 2 Im zeitgenössischen Ndl. meinte „hoogduits“: schriftdeutsch. 3 Eigentlich: Frühstück. 4 Eine Kammer bzw. ein kleiner Raum.
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kennt, – wenigstens keined verdunkelnden – so steht mir die Sonne schon zwischen 5 u. 6 auf der Nase. Ich schlafe trotzdem ausreichend – mehr allerdings vorerst nicht. Die ganze Pastetee5 hier – der Haag – hat etwas alt-bürgerliches, Alles blitzeblank, Alles gut situiert, Alles überaus ungraziös u. wenig geschmackvoll gekleidet – am abscheulichsten die Volkstracht der Frauen, das altholländische weiße Kopftuch, in das das Haar u. der ganze Oberu. Hinterkopf hineingewurstelt ist wie ein Spinnen-Hinterteil, – vorn ist die Sache in das ganz straff gescheitelte Haar festgesteckt mit zwei großen Nadeln mit gekrümmten Schildchen von vergoldetem Blech, die wie Schnecken-Fühlhörner aussehen,6 der Gang entsetzlich latschigf, die Kerls Flapse, mit Schiffergesichtern, wie wenn sie 30 Jahre lang gegen steifen Nordost-Seewind angeblinzeltg hätten. Der graue Himmel, den wir jetzt constant haben, giebt der Landschaft und dem Stadtbild etwas Müdes, kommt die Sonne, muß es recht lustig sein. – Würde ich jetzt noch mal herkommen, so wüßte ich gut mich sehr billig u. doch ganz nett einzurichten, für ca. 4 Gulden (6 ⅔ Mk) täglich, – jetzt komme ich auf beinahe 6 Gulden (ca. 10 Mk) für Wohnen, Essen etc., exclusive etwaige Partien u. dgl. Hier in Scheveningen kostet schlechterdings Alles etwas, u. der Kursaal ist einfach lächerlich teuer |:– 1 fl. täglich –:| wenigstens für das [,] was ich davon habe, auch wenn man die unzweifelhaft hervorragende Güte der Conzerte (in der Saison das Berliner Philharmonische Orchester) in Betracht zieht. Für mich ist das Geld dafür doch fast weggeworfen. – Vielleicht ziehe ich in 5h Tagen für den Rest doch nach Haarlem oder Zandvoort, es sei denn [,] daß das Wetter hier sonnig würde, dann muß es zu schön sein, als daß man sich entschließen könnte fortzugehen. – Bisher (Sonntag früh 9 Uhr) noch kein Briefchen oder kaartje7 vom Snuitje – hoffentlich geht es trotzdem gut u. ruhst Du Dich von der Plage aus, die Du hast mit Deinem Dich herzlich küssenden Max d 〈die〉 e Unsichere Lesung. f O: laatschig g O: angeplintzelt h 2 > 8 > 5 5 Berliner Umgangssprache für: die ganze Angelegenheit. 6 Max Weber beschreibt den sogenannten oorijzer, einen verzierten Haarreif aus Metall, mit dem die Haube auf dem Kopf fixiert wurde. Die Formen der dekorativen Elemente unterschieden sich je nach Region (für Scheveningen vgl. Brunsting, Adriana und Hanneke van Zuthem, Het streekdrachtenboek. – Zwolle: Waanders 2007, S. 186 f.). 7 Ndl. für: Kärtchen.
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Marianne Weber [7. Juni 1903; Scheveningen] Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum und der Ort sind aus dem Briefinhalt erschlossen: Max Weber bestätigte den Empfang von Marianne Webers Brief vom 6. Juni [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, und kündigte für den nächsten Tag „mehr“ an (vgl. den nachfolgenden Brief an Marianne Weber vom 8. Juni 1903, unten, S. 81–84).
Liebesa Schnauz –
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eben kam Dein dicker Brief, die Sachen haben ja alle Zeit,1 da Breinlinger sich noch nicht gemeldet hat u. ich, um zu reklamieren, erst entlassen sein muß [.] 2 An H[einrich] Braun habe ich geschrieben, ihm J[affé]’s grundsätzlicheb Geneigtheit u. seine finanziellen Bedenken mitgeteilt u. ihn gebeten, mit Jaffé direkt zu verhandeln.3 – Hier ist glänzender Sonnenschein, ganz plötzlich, – ich war im Haag, die Rembrandt’s in der Galerie4 sind z.T. wunderbar: die „Anatomie“, 5 dann „Saul u. David“ (ganz großartig ergreifend, obwohl er
a Alternative Lesung: Lieber b 〈Geneigtheit〉 1 Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber vom 6. Juni [1903] (vgl. die Editorische Vorbemerkung) den Eingang eines „Pack Sächelchen für Dich“ gemeldet: das Gutachtenformular, mit dem Max Weber die Dissertation von Karl Breinlinger beurteilen sollte, „[d]ie Steuerveranschlagung gegen die Du wohl gleich protestieren mußt“ sowie einen Brief von Heinrich Braun wegen des Verkaufs des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ (wie unten, Anm. 3). 2 Zu Max Webers Entlassung aus dem badischen Staatsdienst vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 45–47. 3 Der Brief ist nicht nachgewiesen. Zu den Verhandlungen zwischen Heinrich Braun und Edgar Jaffé wegen des Verkaufs des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“ vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70. 4 Zu den Gemälden Rembrandts in der Königlichen Gemäldegalerie Mauritshuis vgl. Bredius, Abraham, Kurzgefasster Katalog der Gemälde- und Skulpturensammlung der Königlichen Gemälde Galerie (Mauritshuis) im Haag. – Den Haag: [Königliche Gemäldegalerie im Mauritshuis] 1907, S. 73–76. 5 Das 1632 von Rembrandt für die Amsterdamer Chirurgengilde angefertigte Gemälde „Die anatomische Vorlesung des Professor Nicolaes Pieterszoon Tulp“, vgl. ebd., S. 74, Nr. 146.
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zwei häßlichec Juden darstellt) 6 – nachher aß ich Spargeln u. mit Wasser angemachten Salat in der „Pomona“.7 Morgen – wenn kein D…l kommt8 – mehr. Herzlichst Dein Max
c alte > häßliche 6 Rembrandts Gemälde stellt eine Bibelstelle (1 Samuel 16.23) dar und zeigt, wie David mit seinem Harfenspiel König Saul tröstet. Max Weber weist in Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 401 f. in Fn. 54a, ausdrücklich auf dieses Gemälde hin. 7 Ein vegetarisches Lokal in Den Haag. 8 „Deufel“ als Anspielung auf Max Webers Schlafstörungen und nächtliche Samenergüsse.
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Marianne Weber PSt 8. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. „Gestern (Sonntag)“ war der 7. Juni 1903.
Scheveningen, Dirk-Hoogenraad Straat 113 Zoete Deern –
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heut ist es herrlich am Strand, zerrissene Wolken über das grüne Meer jagend u. warme Sonne, man sitzt im Strandkorb u. der Wind pustet gewaltig um die Ohren – wohl etwas zu stark für mich: wenigstens nimmt er mir sonderbarerweise jetzt alle Verdauung, so daß ich fast nichts zu essen brauche u. mich doch ganz wohl dabei befinde. Ich futtere wesentlich morgens, wo ich es „gratis“ habe u. weil ich dann Hunger habe, – Mittags entweder hier „frutti di mare“ oder, wenn ich in den Haag fahre, dort Unkräuter in der Pomona,1 Abends je nachdema in der Pomona im Haag oder hier in einer Strandbude Butterbrode, dann von meinem stattlichen Sinaasappels-Vorrath.2 Die Galerieb im Haag3 hat den Vorzug, klein zu sein u. man findet leicht, was man mag. Das schönste [,] was ich bisher fand, ist Rembrandt’s „Saul u. David“ (auf der Harfe spielend).4 Daß man zwei Knalljuden, 5 den König als Sultan obendrein, in geschmacklosestem Costüm, David als richtigen Schwung6 aus dem Delikateßladen, so malen kann, daß man nur die Menschen und die ergreifende Macht der
a 〈hier〉 b O: Gallerie 1 Ein vegetarisches Restaurant in Den Haag. 2 Ndl. für: Orangen bzw. Apfelsinen. 3 Das 1633–1644 für Johan Maurits von Nassau erbaute Palais Mauritshuis beherbergt seit 1822 die Königliche Galerie. 4 Zu Rembrandts Gemälde vgl. den Brief an Marianne Weber vom 7. Juni 1903, oben, S. 79, Anm. 4. 5 Zur Begriffsverwendung bei Max Weber vgl. Roth, Guenther, Max Weber’s Jewish stereotype of the Knalljude in regard to persons and a Rembrandt painting, in: Max Weber Studies, Vol. 12, No. 2, 2012, S. 241–246. Vgl. auch die Briefe an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904 sowie an Adolf Harnack vom 17. Jan. 1905, unten, S. 403 und 423, außerdem den Brief an Sophie Rickert, vor dem 20. Nov. 1912 (MWG II/7, S. 761 f.). 6 Veralteter Ausdruck aus der Studentensprache für: Ladendiener (vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Band 15. – Leipzig: Hirzel 1899, Sp. 2760).
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Töne sieht, ist fast unbegreiflich – aber die Andacht des Spielenden erinnert direkt an den Ausdruck in Giorgione’s „Conzert“ (in demc Pitti, Du erinnerst Dich?) 7 u. das eine Auge des Königs, welches man allein sieht, – das |:übrige:| Gesicht verhüllt er weinend, spricht beinahe schauerlich davon, wie er vom Harfenspiel Vergessen dessen, daß es mit ihm bergab geht, erhofft und doch nicht gefunden hat. Die Photographien geben keinen Begriff, – neben diesem Bild sind mir die andren mit den „canalisierten“ Lichtstrahlen nichts u. selbst die prachtvolle „Anatomie“8 zeigt mehr, daß er ein virtuoser Portraitist und Techniker, als – wie dies Bild es thut – daß er ein seelenvoller Künstler war. – Gestern |:(Sonntag):| spie der Haag seinen weiblichen Inhalt hier auf den Strand – „deftige“ vrouwen und juffrouwen9 u. auch etliche „outlandige“d deerns,10 die s[ich] ziemlich unverschämt benahmen. Unerquickt wendet sich der auf dem Pincio11 geschulte Blick ab – sie sollten besser alle in ein van der Goes’schese Gemälde neben die Madonna hinknien mit muffligem Gesicht u. vorgeschobenem Kinn,12 – zu Eleganz taugen sie nun einmal nicht. Abscheulich ist die Sonntagstracht der Frauen des „Volkes“: Röcke, unter die eine Crinoline13 gehörte, im Winde fürchterlich gebläht, bis zur Formation des Vesuv, – das Oberc Alternative Lesung: den d Alternative Lesung: „outbandige“ e O: Coes’sches 7 Baedeker, Karl, Italien. Von den Alpen bis Neapel, 5. Aufl. – Leipzig: Baedeker 1903, S. 154, verweist (mit zwei Asterisken für die besondere Sehenswürdigkeit) auf „Giorgione, das Konzert: ein Augustinermönch hat einen Akkord angeschlagen, dem ein anderer Geistlicher mit Laute und ein Jüngling im Federhut lauschen“. Dieses Gemälde wird allerdings mittlerweile Tizian zugeschrieben. Max und Marianne Weber hatten im März und April 1902 längere Zeit in Florenz verbracht. 8 Für die Amsterdamer Chirurgen-Gilde gemaltes Gemälde „Die anatomische Vorlesung des Professor Nicolaes Pieterszoon Tulp“, durch das Rembrandt bekannt wurde. 9 Ndl. für: vornehme Damen und Fräulein. 10 Von welcher Art die Mädchen nach Max Webers Meinung waren, ist nicht zu sagen, da beide Lesarten des Adjektivs im Ndl. nicht nachgewiesen sind. 11 Beliebte und wegen ihrer Aussicht berühmte Gartenanlage in Rom, die besonders am Abend „Sammelplatz der vornehmen Welt“ war (vgl. Baedeker, Karl, Mittelitalien und Rom. Handbuch für Reisende, 13. Aufl. – Leipzig: Baedeker 1903, S. 164). Auch Max und Marianne Weber hatten sich während ihres mehrmonatigen Rom-Aufenthalts 1901/02 hier gerne aufgehalten (Briefe von Marianne Weber an Helene Weber vom 23. Juni [1901], 21. Dez. 1901, 13. Jan. [1902] und vom 29. Jan. [1902], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 12 Max Weber meint vermutlich Hugo van der Goes‘ „Anbetung der Hirten“. Er hatte das sogenannte Portinari-Triptychon vermutlich bei einem Besuch in den Uffizien gesehen. 13 Ein nach 1830 in Mode gekommener und aus Roßhaar (frz. crin) gefertigter Reifrock.
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teil durch ein mächtiges Busentuch aller Form beraubt, wie ein stumpfwinkliges Dreieck aussehend, um den Kopf statt des weißen Tuches eine 6–8 cm. breite Blechbinde,14 die durchf eine Art Gaze-Verband, der den ganzen Kopf verhüllt u. die stattlichen Haare vor dem Wind u. den Blicken sichert, durchschimmert, vorn die beiden Fühlhörner: Spiralen oder Blechschildchen, vergoldet – ein Anblick für Puritaner. – Genug des Geplauders – wenn meine schlechten Nächte kommen, werde ich ohnehin einige Tage nur Karten schreiben. Bis jetzt geht es ganz gut, nur schlafe ich quantitativ noch nicht genug u. so kommt die Abspannung noch nicht recht heraus, was wohl besser wäre. Herzlichst Dein Max Eben kommt Dein liebes Briefchen mit Einlagen:15 Ich glaube, man könnte Tante Nixel wohl sagen, daß wenn sie an den Verkauf des Hauses (später einmal) dächten,16 sie doch mit uns bzw. Mama wenigstens verhandeln möchten, da wir, wenn es pekuniär möglich, es gern in der Familie behalten würdeng u. natürlich dasselbe zahlen würden, wie Andre, |:wenn wir überhaupt können:| [.] – Die obere Etage könnte ja dann |:im Sommer:| zur Verfügung für Verwandte (Clara, Valborgh, etc.) stehen. Ich habe freilich keine Ahnung, ob das „justum pretium“17 jemals für uns erschwinglich ist. Statt uns „abzuschichten“18 könnte ja ev. Mama das Haus kaufen u. uns vermiethen,1) 1) Bitte
jetzt noch nichts davon an Mama, die Sache will überlegt sein.
f 〈das〉 g O: würden, vorausgesetzt 〈daß sie uns〉 h O: Walborg 14 Zum sogenannten oorijzer vgl. den Brief an Marianne Weber vom 7. Juni 1903, oben, S. 78 mit Anm. 5. 15 Max Weber bezieht sich im folgenden auf Marianne Webers Brief an ihn vom 7. Juni 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 16 Angestoßen von Helene Weber erwogen Max und Marianne Weber 1903 aus ihrer balkonlosen Wohnung in der Hauptstraße 73 in eine sonnigere Unterkunft mit Garten umzuziehen (vgl. Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 289). Ihr Augenmerk richtete sich auf das Haus Ziegelhäuser Landstraße 1. Es gehörte dem mit Max Webers Tante Emilie (Nixel) verheirateten Ernst Wilhelm Benecke, der eine Professur in Straßburg innehatte und deshalb nur während der Sommermonate mit seiner Familie in Heidelberg wohnte. Eine zweite Wohnung des Hauses war an Rose Stengel vermietet. 17 In Antike und Mittelalter gebräuchliche Rechtsformel, die soviel bedeutet wie: rechter oder gerechter Preis. 18 Rechtlich steht „abschichten“ für den Erbverzicht gegen eine Abfindung zu Lebzeiten.
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wir können, da wir ca. 200 M. Bergbahngeld u. Pferdebahn nach meiner Rechnung sparen, gut 2000 M. geben [.] – Na das ist ja Alles Zukunftsmusik.2) – Es ist nicht recht von den Tanten, daß ihr Selbstgefühl sie ein Geschenk als „Unterstützung“ empfinden läßt.19 Es ist gegen alle Natur u. Produkt moderner Schätzung des Geldes, daßi die nächsten Verwandten nichts mehr von einander annehmen können. – Onkel Karl soll, finde ich, in Gottes Namen thun, was er nicht lassen kann.20 Es scheint ja, daß Bodelschwingh das Geld vorerst für ihn reserviert. – Nun genug für heut [.] Aber Frau Stengel21 braucht es nicht zu kaufen! Das wäre denn doch schade.
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i 〈man〉 19 Florentine (Flora) und Marie Schnitger, Marianne Webers Tanten, wollten das ihnen aus dem Erbe ihres verstorbenen Bruders Eduard, Marianne Webers Vater, zugedachte Geld nicht annehmen. 20 Eduard Schnitger hatte seinen in der Anstalt Bethel lebenden Bruder Karl testamentarisch bedacht (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 24. Mai 1903, oben, S. 65). Um das Nacherbe ihrer Tanten Florentine (Flora) und Marie sicherzustellen (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 9. Juni 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446), wollte Marianne Weber jedoch nicht – wie von ihrem Onkel gewünscht – das Erbe an den Anstaltsleiter Friedrich v. Bodelschwingh überweisen (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 6. Juni [1903], ebd.). 21 Rose Stengel war Mieterin im Haus Ziegelhäuser Landstraße 1 und hatte Kaufinteresse signalisiert.
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Marianne Weber PSt 9. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. Der 9. Juni 1903 war ein „Dienstag“.
Scheveningen, Dirk-Hoogenraadstraat 113. (Dienstag) Mijn zoet Snuitje,1 – 5
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ich habe nicht widerstehen können einen Kohlendruck des Rembrandt’schen Bildes2 zu kaufen, obwohl er wohl nur dem, der das Original kennt, den vollen Begriff giebt. Aber vielleicht könnten wir ihn doch rahmen lassen. Das Auge des Königs wirkt im Original mächtiger, – R[embrandt] malte es, als er nach Verlust seiner Saskia, seines Vermögens u. seiner Bilder, bankrott erklärt, aber auf der Höhe seines Könnens, einsam mit seinem Sohn u. seiner treuen Hendrikkie in Amsterdama lebend das Alter kommen fühlte.3 Dem Museumsdirektor, dessen Privatbesitz es ist,4 bot Pierpont Morgan (vom Steel-Trust) 5 vergebens 500 000 Gulden dafür. – Gestern war hier starker Nordsturm, der feine Dünensand jagte in Strömen über den Strand u. durch alle Straßen, dabei blauer Dunst um Masten u. Leuchtturm, weißer Dunst auf dem Meer, durch den die
a 〈zu altern〉 1 Ndl. für: mein süßes Schnäuzchen. 2 Zu Max Webers Wertschätzung des Gemäldes „Saul und David“ vgl. die Briefe an Marianne Weber vom 7. und 8. Juni 1903, oben, S. 79 f. und 81 f. 3 Rembrandts Frau Saskia van Uylenburgh war 1642 gestorben. 1656 ging Rembrandt bankrott und mußte sowohl sein Haus als auch seine Kunstsammlung verkaufen. Offiziell arbeitete er danach als Angestellter in einem von seinem Sohn Titus van Rijn und seiner Lebensgefährtin Hendrickje Stoffels gegründeten Kunsthandel. 4 Abraham Bredius hatte das 1898 erworbene Gemälde „Saul und David“ der Königlichen Galerie im Mauritshuis, deren Leiter er von 1889–1909 war, zunächst leihweise überlassen und nach seinem Tod 1946 endgültig vermacht (vgl. Noble, Petria, van Loon, Annelies, Johnson, C. Richard und Don H. Johnson, Technical Investigation of Rembrandt and/or Studio of Saul and David, c. 1660, from the Collection of the Mauritshuis, 〈http://people. ece.cornell.edu/johnson/Noble-ICOM-CC.pdf〉 (07.07.2011), S. 2). 5 Der amerikanische Bankier, Geschäftsmann und Kunstsammler John Pierpont Morgan hatte 1901 mit der United States Steel Corporation die seinerzeit größte Aktiengesellschaft der Welt gegründet.
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Sonne wie durch Milchglas hindurch grüngelben Glanz auf die eintönige graue Masse legte – es war, von dem Staub abgesehen, sehr schön. Heut ist |:Landwind,:| der Himmel so weit blau, als das hier möglich ist – es bleibt, außer im Hochsommer, immer Dunst, der dem sonnenbeschienenen Wald u. den baumbestandenen Plätzen |:der Stadt:| etwas Abendlich-Träumerisches auch am hellen Tage giebt, – nur die höchst nüchternen Menschengesichter mit ihrem äußerst diesseitigen Gehabe gleichen die Stimmung wieder aus. Ich will jetzt gleich meinen Hummer essen, dann schlafen u. in die Stadt. Ich glaube, ich mache einen sehr opulenten Eindruck, wenn ich so, schon um ½12, scheinbar beiläufig, statt eines Butterbrods, den Tag mit Hummer beginne – Niemand ahnt dann in mir den Proleten, der nachher um 7 Uhr bis zu Portelein (Sauerampfer), Uienb (Zwiebeln) oder gar Knolletjes (Rüben) sinkt u. den ganzen Rest des Tages mit 40–50 cts bestreitet. Ich schlafe ausreichend, aber freilich nicht mehr als eben dies, – ob daran der verfl... H[einrich] Braun6 oder das grelle Sonnenlicht auf der weißen Jalousie des Morgens schuld ist, weiß ich nicht. – – Nun habe ich das Gemeente-Museum7 u. eine recht schöne Privatsammlung1)8 hinter mir u. in der Pomona9 Spargel u. jenen Reis, den modernen Franzosen (Meissonnier10 etc.) u. holländischen Impressionisten – letztere (Maris,11 Israels12 etc.) recht schön, – aber das können wir auch. 1) Mit
b Unsichere Lesung: Uuien oder: Uinen; in O folgt: 〈(Zui〉 6 Zum geplanten Kauf von Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70. 7 Zum Stadtmuseum von Den Haag mit seiner (kultur-)geschichtlichen Sammlung und Gemälden vgl. Baedeker, Belgien und Holland, S. 364 f. 8 Aufgrund der genannten Sammlungshinweise (vgl. unten, Anm. 10–12) kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob Max Weber das 1903 eröffnete Museum Mesdag (seit 1991 Teil des Van Gogh Museum) oder die Galerie Steengracht (deren Bestände 1913 in einer Auktion in Paris verkauft wurden) meinte (vgl. Baedeker, Belgien und Holland, S. 363 und 369–371). 9 Ein vegetarisches Lokal in Den Haag. 10 Ernest Meissonier. 11 Es konnte nicht ermittelt werden, welchen der drei Brüder Maris (Jacob, Matthijs, Willem) Max Weber meinte. 12 Sowohl Jozef Israëls als auch sein Sohn Isaac zählen zu den niederländischen Impressionisten. Es konnte nicht ermittelt werden, welchen der beiden Max Weber meinte.
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unser unvergeßlicher Tin-Tin nur „zonder suiker“13 zu genießen vermochte, nebst Karnemelk (gequirlter Saurer Milch – Reminiscenz an den seligen Constanzer Hof!)14 – u. hoffte hier ein Kärtchen vom Schnauz zu finden, aber umsonst, es wird wohl nichts passiert sein, was zu erzählen gelohnt hätte. – Ja, der arme Dr Fischer! wir haben es eben doch gut, es ist doch gräßlich, daß ein in ganz Deutschland renommierter Arzt wie er auf seine alten Tage sich quälen muß15 u. ein Glückspilz wie Georg Schm[idt]16 – mag er immerhin tüchtig sein – liquidiert 6000 Fr., von den Berliner Wucherern ganz zu schweigen! – Übrigens mit Benecke’s – ich weiß doch nicht, ob man ihnen eine Bemerkung wegen des Hauses machen sollte,17 sie sind im stande u. finden es auch „peinlich“ es an uns statt an Frau St[engel] zu verkaufen. Und ob wir es thun könnten, wird mir doch je länger je fraglicher. Dein Großvater wird noch recht lange leben, annähernd so lange wie wir Alle, – was ihm zu gönnen ist, aber eben doch seine Folgen hat, und dann hat er uns ja mit dem Gelde in seinem Geschäft festgelegt; – es ist nicht schön eigentlich so die Form der Gleichstellung zu wahren u. in der Sache es nicht zu thun. Mochte er doch den Örlinghäusern einen Vorzugsanteil in aller Form zuwenden, als „Anerben“ des Geschäfts. Kurz: – es wird nichts werden. – Es wirdc auch zu teuer.2) – 2) 1800
M Miethe + Werth der oberen Wohnung gäbe 3000 M ca. Miethswerth, – u. die Miethe ist (cf. Rathgens) viel zu niedrig. Der Spekulationspreis (2 Bauplätze) wäre aber noch weit höher. c ist > wird 13 Vermutlich erinnerte Max Weber an die Eigenheit einer früheren Hauskatze, Reis nur ungezuckert zu sich zu nehmen. 14 In diesem Sanatorium hatte sich Max Weber nach seinem Zusammenbruch im Sommer 1898 mehrere Wochen aufgehalten. 15 Georg Fischer hatte Max Weber im Sanatorium „Konstanzer Hof“ behandelt. Er galt als ausgewiesener Nervenarzt und Balneologe (vgl. Hofrat Dr. Georg Fischer †, in: Schwäbischer Merkur, Nr. 504 vom 27. Okt. 1917, Mo.Bl., S. 3). Obwohl selbst nervenleidend, konnte er aus finanziellen Gründen – wie Marianne Weber anläßlich seines Besuchs bei ihr am 5. Juni 1903 erfuhr — auch nach der geplanten Übersiedelung von Konstanz nach Stuttgart nicht aufhören, zu praktizieren (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 6. Juni [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, und an Helene Weber vom 16. Juni 1903, ebd.). 16 Vermutlich der mit Max Webers Cousine Paula Hausrath verheiratete Georg Schmidt, Professor für Chirurgie in Heidelberg. 17 Zu den Erwägungen Max und Marianne Webers, ihre Wohnsituation durch den Kauf des Max Webers Onkel Ernst Wilhelm Benecke gehörenden Hauses Ziegelhäuser Landstraße 1 zu verbessern, vgl. den Brief an Marianne Weber vom 8. Juni 1903, oben, S. 83 f.
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Hier wird es jetzt tüchtig heiß, scheint es. Haagd ist doch eine wundervolle Stadt, d.h. eigentlich ein riesiges Dorf mit Villenvierteln. Aber höchst geschmackvolle Villenbauten, ich sah nur 2–3 nach unsrer Manier gebaute Maurerpolier-Produkte, sonst Alles höchst einfach, hell getüncht, Parterre u. 1 Oberstock, riesige Spiegelscheiben, Licht, Luft und Blumen u. viel weiße u. helle Töne außen u. innen. Genug für heute – herzlich küßt Dich Dein Max
d Es > Haag
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Marianne Weber PSt 10. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags erschlossen.
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Ja, liebes Schnäuzchen, das fände ich sehr nett, wenn Du diese Völker einmal zu Dir holtest1 – das sind „Culturausgaben“, dafür muß Geld auch ohne Haushaltsersparnisse da sein. Sorge nur für Eis für den Wein u. Bier aus dem Perkeo2 u. mach es sehr schön, auch mit ein paara Blumen, nicht? Dann kommt doch auch Bertha3 einmal zu ihrem Recht. Hier ist Landwind, das ist eigentlich recht schade, hoffentlich kommt es noch anders. Ich schlafe besser, da mevrouw4 jetzt einen dunklen Vorhang angebracht hat. Gern möchte ich hier meine schlechten Nächte abwarten u. dann noch etwas nach Amsterdam gehen, aber vorerst stellen sie sich nicht ein. Der Strand beginnt sich Abends jetzt langsam zu bevölkern – einige Engländer, sonstb Haager Publikum. – Die arme kl[eine] Tröltsch müßte wahrscheinlich auch alle 4 Wochen einmal 14 Tage fort, um sich zu verschnaufen, denn wahrscheinlich strapaziert seine Nähe sie, da sie von Mecklenburg immer so viel gesünder heimkommt.5 Ich muß übrigens sagen, daß Tr[oeltsch] recht gut sich Sonnabends dazu bekriegen könnte, mit ihr um 9 zu fahren, das thäte ihr gut u. er hätte ein besseres Gewissen6[.] – a O: par b 〈Haagen〉 1 Marianne Weber plante am 17. Juni 1903, vor Max Webers Rückkehr, ein Abendessen für gemeinsame Freunde (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [9. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Auf ihrer Einladungsliste standen die Ehepaare Ernst und Marta Troeltsch, Edgar und Else Jaffé, Georg und Paula Schmidt, Rudolf und Hedwig His sowie Karl und Emilie (Emmy) Rathgen. Außerdem wollte sie Georg Landsberg und Bogdan Aleksandrovicˇ Kistjakovskij einladen (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [12. Juni 1903], ebd.). 2 Das Wein- und Bierrestaurant sowie Hotel „Zum Perkeo“, Hauptstraße 75, lag im Nachbarhaus von Max und Marianne Webers damaliger Wohnung. 3 Bertha Schandau war das langjährige Dienstmädchen von Marianne und Max Weber. 4 Max Weber tituliert seine Zimmerwirtin in Scheveningen auf ndl. als gnädige Frau. 5 Ernst Troeltschs Frau Marta stammte aus Mecklenburg. 6 Marianne Weber hatte Marta Troeltsch den gemeinsamen Rückweg vom samstäglichen
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Übrigens fällt mir grade ein: man muß wohl Rickerts für das Bild des alten R[ickert] danken?7 – Im Mauritshuis.8 L S. ich will dies Gekritzel nur eben für den Briefkasten fertig machen. Nachdem ich mich endlich mit Spargel u. Erdbeeren in Rahm genährt habe, sitze ich wieder vor meinen Rembrandts, die [,] selbst wenn man im Zustand der Riesenschlange ist, ihre Gewalt behalten. Die drei Altersbilder hier – Porträt seines Bruders, Homer u. David u. Saul,c9 – in der Zeit seines Unglücks10 gemalt, sind doch das Schönste, was ich noch von ihm gesehen habe – die Jugendsachen wirken daneben glatt und die „Goldton“|:-Bilder:| manieriertd, die andren endlich mit dem „canalisierten“ Licht glaubt man einfach nicht.11 Der „Saul u. David“e wirkt jedesmal mächtiger. Hier ist Geist vom „Jeremias“ des Michelangelo12 darin. Ich fahre nun wieder hinaus nach Sch[eveningen] u. liege den Rest des Tages am Strande im Sand. Abends esse ich fast nichts, meist ein Käsbrod zu 10 ct u. ein Glas Karnemelk,13 ich habe kaum je Appetit u. nur alle 48 Stunden – dann |:aber:| vehementeste! – Verdauung. Das scheint hierf Landessitte zu sein, die hiesige „Volksseele“ verdaut gemächlich – sucht man einen „zekeren plaats“,14 so muß man in eine Kneipe oder – billiger! – in das Museum; daß man dergleichen auf einem öffentlichen Platz vermuthen könnte, erregt das unwillige Stau-
c 〈sind〉 d O: maniriert e O: David 〈|:(Susanna,:|〉 f 〈übl〉 Treffen des Freundeskreises im Ausflugslokal „Stiftsmühle“ angeboten (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [9. Juni 1903], wie oben, S. 89, Anm. 1). 7 Heinrich Rickert hatte seinem Freund Max Weber wohl zur Erinnerung ein Photo seines am 3. November 1902 verstorbenen Vaters Heinrich Rickert geschickt. 8 Das 1633–1644 für Johan Maurits von Nassau erbaute Palais Mauritshuis beherbergt seit 1822 die Königliche Galerie. 9 Es handelt sich um die Gemälde „Studienkopf eines alten Mannes“ (wahrscheinlich Adriaen Harmenszoon van Rijn), „Homer“ sowie „Saul und David“, die in den Jahren zwischen 1650 und 1663 entstanden sind. Vgl. Bredius, Abraham, Kurzgefasster Katalog der Gemälde- und Skulpturensammlung der Königlichen Gemälde Galerie (Mauritshuis) im Haag. – Den Haag: [Königliche Gemäldegalerie im Mauritshuis] 1907, S. 75, als Nr. 560, 584 und 621. 10 Vgl. den Brief an Marianne Weber vom 9. Juni 1903, oben, S. 85 mit Anm. 3. 11 Es konnte nicht ermittelt werden, welche „Jugendsachen“ Max Weber im einzelnen meinte. Nach Baedeker, Belgien und Holland, S. 354, zeigte die Königliche Gemäldegalerie im Mauritshuis damals insgesamt 16 Bilder des Malers. 12 Michelangelos Deckengemälde „Der Prophet Jeremias“ in der Sixtinischen Kapelle. 13 Ndl. für: Buttermilch. 14 „zeker plaats“ ndl. für: sicheren Ort.
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nen der Einheimischen. Dabei geht es mir im Ganzen ordentlich, freilich lese ich nichts, kaum die Zeitung. – Nun genug. – Gieb also die Gesellschaft, es macht mir Spaß, wenn Du es thust, und kocht recht was Schönes. Du bittest doch auch Landsberg dazu? Der freut sich. Laß Dich herzlich küssen von Deinem Max
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Marianne Weber PSt 11. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags erschlossen.
Schev. Dirk Hoogenraadstraat 113 L. S. Heut ist Regen u. schwacher Seewind, im Ganzen ein ganz erfrischendes Wetter, da man doch draußen sitzen kann. Ich habe eben mein Mittagsmahl – „peulen“a (e[ine] Art Bohnen mit riesigen Schoten),b 2 „zachte“ (weiche) Eier, „gestoofdec sla“ (Salatgemüse) binnen u. war im „Huis in’de bosch“,1 dem Kgl. Landsitz, zu dem man durch dend schönen Haag’schen Wald fährt. Bei Regen oder doch Regenhimmel gewinnt die Landschaft an Realität, bei heller Sonne giebt ihr das etwas fahle Licht, das durch den Dunst erzeugt wird, etwas zu traumhaftes. Das kleine Palais selbst hat wunderbare asiatische |:gestickte:| Tapeten, chinesische mit allerhand Kleinkram aus dem Alltagsleben, u. japanische mit ihreme großzügigen Klinger-Styl2 (Landschaftsskizzen). Sonst nichts Bemerkenswerthes. Ich werde nun doch wohl hier bleiben u. ev. ein paarf Ausflüge von hier aus machen (Amsterdam ist nur 1 Stunde von hier per Bahn).g – Dies war im Tramway geschrieben, eben finde ich Dein Briefchen hier vor u. da der Puckel etwas müde ist u. die Finger klamm – es ist recht kühl – so schließe ich nur noch einen kurzen Gruß hier an. Die Sache mit B[enecke]’s Haus muß natürlich in Ruhe besprochen werden, – sie werden ja nicht jetzt Hals über Kopf verkaufen?3 Das wäre freilich scheußlich, denn überlegen können möchte man sich den Fall
a O: „Peulen“; alternative Lesung: „Peuben“ b 〈Eier〉 c Alternative Lesung: „gestoofte d das > den e O: ihren f O: par g Klammer und Punkt fehlen in O. 1 Die heutige Königliche Residenz Huis ten Bosch, im Nordosten von Den Haag gelegen, war im Auftrag von Amalia zu Solms, der Gattin des niederländischen Statthalters Frederik Hendrik, in den Jahren 1645–1648 als Sommerschloß erbaut worden. 2 Bezieht sich auf Max Klinger, von dem Max und Marianne Weber von 1894 bis 1906 zahlreiche Radierungen besaßen. Vgl. MWG II/5, S. 36 und 52, sowie MWG II/6, S. 289. 3 Zu Überlegungen, das Max Webers Onkel Ernst Wilhelm Benecke gehörende Haus Ziegelhäuser Landstraße 1 zu kaufen, vgl. den Brief an Marianne Weber vom 8. Juni 1903, oben, S. 83 f. mit Anm. 16.
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doch. Freilich ich glaube nicht, daß es je pekuniär gehen wird. – Ich muß nochmal in die Stadt, Geld zu wechseln, daher heut nur dies [.] Es küßt Dich Dein Max
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Marianne Weber PSt 12. Juni 1903; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. Der 12. Juni war ein „Freitag“.
Schev. Freitag früh L. Schnauz – heut ist es – Morgens 7 Uhr – schön aber recht kalt, ich werde einmal den Tag über hier bleiben, da ich ohnedies so ziemlich intus habe, was der Haag zu bieten hat. Sonderbar sind doch die großen Gothischen Kirchen mit Holzgewölben über den calvinistisch kahlen oder nur mit alten hölzernen Gedenktafeln behängten Wänden u. Pfeilerna, in seiner Art ein mächtiger Eindruck, der trotz des Gegensatzes an Sta Croce1 erinnert, nur daß dem nordischen Raumgefühl gemäß die Schiffe weit enger sind u. die gewölbte Bedachung einen schwereren, „bürgerlichen“ Eindruck macht als das Scheunendachb in Florenz.2 Wenn man doch den Villenstyl von hier nach Deutschland übertragen könnte: entweder hell getüncht oder von braunem Backstein mit sparsamer heller Sandsteindekoration – Palais wie Miethshaus sind darin ganz gleich – u. mächtigen Fenstern, ohne die uns durch die Miethskasernen so verleidete Fenstergarnitur, die Michelangelo mit so vieler Sorgfalt geprobt u. eigentlich geschaffen hat. Nun hast du wohl die Leute schon eingeladen zu Deinem Strohwittwen-jocus?3 Windelbands wirst Du nicht riskiert haben, es wird ja auch
a Unsichere Lesung. b Unsichere Lesung. 1 Die Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz. 2 Bei der Dachkonstruktion von Santa Croce handelt es sich um ein sogenanntes Sparrendach mit offener Holzbalkendecke. 3 Max Weber spielt mit dem „Strohwitwen-Scherz“ auf Marianne Webers Einladung an den gemeinsamen Freundeskreis zu einem Abendessen am 17. Juni 1903 an (vgl. ihren Einladungsentwurf auf dem Umschlag zu Max Webers an sie adressierten Brief vom 11. Juni 1903, oben, S. 92 f.). Zur Einladung vgl. den Brief an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, oben, S. 89 mit Anm. 1.
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zu viel.4 Bitte strapaziert Euch aber nicht, laß Bertha5 die Sache machen, sonst stört es Dir den Schlaf u. das geht jetzt nicht. Die Leute werden sich schon unterhalten, auch wenn Du Dich nicht verantwortlich fühlst, sie freuen sich, daß sie das Kätzchen streicheln können u. der große dicke Kater abseits ist. – Hier beginnen jetzt, wenn das Wetter gut ist, einige hochelegante Strandtoiletten – Rohseide mit Spitzen, – aufzutauchen, fast stets Engländerinnen, aber auch der Haag schickt so was gegen Abend in Equipagen hier hinaus. Letztere sieht man mehr als Droschken, denn da die Kerle daran fest halten nur nach Zeit zu fahren u. ihre Gäule infolge dessen alle darauf eingeübt sind, auf der Stelle oder mit 3 cm langen Schritten zu traben, fährt kein Mensch damit. – Wenn Dich mein Manuskript zu sehr strapaziert,6 so laß es doch lieber, wir kommen dann schon noch damit zu Rande. – Jetzt geht es an den Strand – herzlichst Dein Max
4 Wilhelm und Martha Windelband fehlten auf der Gästeliste, da Marianne Weber befand, „der Abend würde dadurch einen andren [formaleren] Anstrich kriegen“ (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [13. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 5 Bertha Schandau, das langjährige Dienstmädchen von Marianne und Max Weber. 6 Vermutlich handelt es sich um Weber, Roscher und Knies I. Vgl. dazu auch die Korrespondenzen an Marianne Weber vom 2. und 3. Jan. 1903, oben, S. 31–34.
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Marianne Weber [13. Juni 1903]; Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus der Tagesangabe „Samstag Mittag“ und dem Hinweis auf die Ermordung des serbischen Königs Alexander I. Obrenovic´ und seiner Frau Dra˙ ga am 11. Juni 1903.
Scheveningen, Samstag Mittag. Liebes Schnäuzchen vielen Dank für Dein gestriges Briefchen. Ich schreibe so viel aus 2 Gründen: einmal, weil ich weiß, daß Du [,] wenn ich fortgehe, immer noch etwas plümerant wirst – später, wenn Du es gewohnt bist u. hinter Deinem „Ollen“ die Zunge herblökst, wird das etwas sparsamer; – dann aber, weil ein pedantisch gewordener Stubengelehrter das intuitive Genießen verlernt hat u. sich der Eindrücke nur discursiv bemächtigen kann, so daß er das Maß von Genuß an Kunst und Natur, welches sein verknöcherter Zustand ihm noch zugänglich belassen kann, sich nur einverleiben kann, indem era es irgendwie in Worte faßt. Wie ich diejenigen beneide, denen es darin besser geht, – zumal mir mit Ausnahme ganz weniger Menschen jede Gesellschaft den Genuß auch verdirbt, so daß ich, wenn ich mein Schnäuzchen nicht da habe, auf Monologe angewiesen bin, wie sie die Figuren der chinesischen u. indischen Dramen zu halten pflegen, um sich u. den Zuschauern klar zu machen, was eigentlich los ist. – Ich steige eben in die Bahn, um nach Dordrechtb u. vielleicht auch nach Delft zu fahren, weil heut am Strand wenig los ist u. der |:holländische:| sonnabendliche Scheuerteufel keinen Mittagsschlaf gestattet. Jetzt sind auch über mir Leute eingezogen. Man sieht sich nie, da der Wohn-Individualismus hier so consequent ist, daß jedes typische holländische 2stöckige Haus 2 Haustüren hat, 1 für Parterre,c u. eine [,] die auf die Treppe zum Oberstock führt. Ebenso liegt hinter jedem Haus ein Gärtchen, u. aufd dieses mündet das Souterrain – der Garten liegt meist tiefer als die hoch aufgeschüttete Straße. Man kann nicht sagen, daß die Bauart an sich weniger einförmig wäre als unsre Mietskasernen, die endlosen Vorstadtstraßen sehen aus wie |:bei uns:| ländliche a 〈darüber〉 b O: Dortrecht c 〈1〉 d zu > auf
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Arbeiterwohncoloniene |:von Fabriken:|, aber der Unterschied ist doch gewaltig. Welche Fülle von Miethskasernen-Dreck (äußerem u. innerem, als da sind: Klatsch, Zank pp) bleibt erspart. Und der individualistische Trieb setzt sich so stark durch, daß – hier wenigstens – auch auf Spekulation nur ganz ausnahmsweise dreistöckig gebaut wird. – Auf f der Fahrt: die Landschaft ist wie bei Emden, nur noch prononcierter horizontal u. grün, – man sieht sofort, daß die holländischen Maler, da alle Plastik, wie sie die italienischen Berge, Cypressen, Pinien, Häuser aus Bruchsteinen, steinernen Mauern etc. geben, hier absolut im Bilde fehlt, dazu gelangen mußten, das Licht zu sehen u. darin zu dichten. – Es freut mich, daß Dir der Rembrandt gefällt.1 Neben ihm ist Rubens im Haag sehr schlecht vertreten, 2 – er ist doch überhaupt nicht neben Rembrandts in Freiheit u. Armuth gewachsener protestantischer Seele zu genießen, dieser Höfling, dessen Bildern man die Jesuiten-Erziehung anmerkt.3 Es ist doch – beiläufig – nicht übel, daß sein Herr Papa, der die Rolle Giron’s bei Wilhelm v. Oraniens Frau gespielt u. sich dadurch die Gnade der Spanier verdient hatte, auch aus Brüssel ist,4 u. jene Frau, Anna v. Sachsen, ebenso hysterisch wie „Luisee Arbeitercolonien > Arbeiterwohncolonien f O: auf 1 Max Weber hatte von Rembrandts Gemälde „Saul und David“ drei nicht überlieferte Photographien geschickt. (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [10. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 2 Zu den im Besitz der Königlichen Gemäldegalerie im Mauritshuis befindlichen Werken von Peter Paul Rubens vgl. Bredius, Abraham, Kurzgefasster Katalog der Gemälde- und Skulpturensammlung der Königlichen Gemälde Galerie (Mauritshuis) im Haag. – Den Haag: [Königliche Gemäldegalerie im Mauritshuis] 1907, S. 77 f. 3 Peter Paul Rubens hatte eine in der Nähe der Antwerpener Kathedrale gelegene und deshalb als „Papenschool“ verspottete Lateinschule besucht. 1600 wurde er Hofmaler in Mantua und 1609 in Brüssel. Er etablierte sich als „führender Experte auf dem Gebiet der höfischen Kunstproduktion“ und wurde öfters mit politischen Aufgaben betraut (vgl. Büttner, Nils, Rubens. – München: C.H. Beck 2007, S. 10). 4 Max Weber vergleicht im folgenden die vermeintliche Liebesbeziehung zwischen Anna von Sachsen, einer geborenen Herzogin von Sachsen, und ihrem Sekretär Jan Rubens mit dem aktuellen Skandal um Luise Antoinette von Österreich-Toskana und deren Hauslehrer André Giron. – Der Jurist Jan Rubens, der wegen der politischen Wirren in seiner Heimat von Antwerpen nach Köln übersiedelt war, geriet in den Verdacht, mit der zweiten Frau Wilhelms I. von Oranien, dem Anführer der niederländischen Adelsopposition gegen die spanisch-habsburgische Herrschaft, eine intime, ehebrecherische Beziehung zu unterhalten. Der Verdacht hatte schwerwiegende Folgen: erpreßte Geständnisse dienten als Vorwand, um Anna von Sachsen bis zu ihrem Tod 1577 einzusperren und den zunächst ebenfalls inhaftierten Jan Rubens von 1573 bis 1577 unter Hausarrest zu stellen. – Luise Antoinette von Österreich-Toskana hatte den sächsischen Kronprinzen und späteren König Friedrich August III. von Sachsen am 11. Dezember 1902 verlassen (vgl. Schulthess 1902,
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Toskana“, aber allerdings außerdem dem Suff ergeben, auch aus der Luft der Tugenbolde in Sachsen5 so tief herabgesunken war. – Delft – bei einigen „zachten eieren“6 u. „karnemelk“7 im vegetarischen Restaurant, – das Nestchen hier ist reizend, wenn schon im Prinzip nur der ins Holländische noch weiter hineinpotenzierte Haag, – die spezifische Theer-Luft des Hafens kommt dazu. Die Oude Kerk („alte Kirche“) hier ist arg verschändet, zuerst durch die Bilderstürmer,8 – obwohl man darüber doch streiten kann, denn der Eindruck der gewaltigen schneeweiß getünchten Wände u. Pfeiler mit dem schwarzgrün gefirnißten gewölbten Holzdachg – die Farbenzusammenstellung ganz dieselbe wie in der Medizeerkapelle in Florenz! – würde mächtig sein, wenn nichth mitten in der Kirche ein Holzverschlag mit ungeheuren grünen Vorhängen |:– gegen die Winterkälte u. den Zug –:| errichtet wäre, da der Rückgang der alten Hafenstadt infolge der Sturmfluthen u. deri steigenden Bedeutung v. Amsterdam u. Rotterdam, sowie Antwerpen, die Kirche zu groß für die Gemeinde machte. Übrigens finden sich diese Verschläge auch sonst – die großen katholischen Kathedralen paßten aber für Predigtzwecke gar nicht, zumal für die nordische Predigt, die nicht mit den Mitteln der Bettelmönche arbeitete. Übrigens, trotzdem diese einstige Hauptstadt Hollands – der einstöckige „Prinsenhof“ mit der Stelle, wo Wilhelm v. Oranien ermordet wurde,9 steht noch – j stark reduziert ist, sieht man weder Schmutz noch Elend. –
g 〈würde〉 h 〈quer durch die Kirche〉 i 〈geänderten〉 j 〈sch〉 oder: 〈sehr〉 S. 183) und war am 11. Februar 1903 wegen Ehebruchs mit André Giron geschieden worden (vgl. Schulthess 1903, S. 4 3). Pressespekulationen, wonach Giron die Kronprinzessin im Auftrag der Jesuiten zum Ehebruch verführt habe, war König Georg von Sachsen am 17. März 1903 mit einer offiziellen Erklärung entgegengetreten: dem Ehedrama liege „lediglich die ungebändigte Leidenschaft einer schon lange im stillen tief gefallenen Frau zu Grunde“ (vgl. ebd., S. 59 f.). 5 Das Haus Sachsen galt als Hort der Reformation. 6 Ndl. für: weichgekochte Eier. 7 Ndl. für: Buttermilch. 8 Die Bilderstürmer der Reformationszeit begründeten ihren Kampf gegen bildliche Kunstwerke in Kirchen mit dem biblischen Verbot der Darstellung Gottes und des Himmels. Besonders rigoros gingen sie 1566–1572 in den Niederlanden ans Werk. 9 Wilhelm I. von Oranien hatte 1572 seine Residenz nach Delft verlegt. Er wurde am 10. Juli 1584 von Balthazar Gérard, einem Anhänger König Philipps II. von Spanien, erschossen.
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Auf dem Bahnhof: – Alles ist freundlich u. sauber, selbst die Umgebung der Landeplätzek an den Grachten, mit ihren grünen Linden- u. Buchen-Reihen. – Auch die Nieuwe Kerk, mit dem Barock-Grabl Wilhelm’s v. Oranien (durch das Eisengitter kann man von der liegenden Gestalt keinen ins Detail gehenden Eindruck bekommen, weiß, auf schwarzem Katafalk, das Tabernakelm, die sitzende schwarze Figur – n hier wie sonst eine störende Replik – ist häßlich) – also auch diese Kerk ist ganz verbaut, das graue hölzerne Tonnengewölbe wirkt hier auch recht prosaisch, die hineingebauten Estraden verderben jeden Eindruck, – sie sindo für die Armen, die Sitze unten im Verschlag sind, dem bürgerlich-aristokratischen Charakter des Calvinismus entsprechend, alle streng reserviertp u.q in festen Händen. Für den reformierten Protestantismus ist eben die kleine helle Dorfkirche die eigentlich ideale Kirchenform |:mit:| großen Stadtkirchen weiß er nichts rechtes anzufangen. – Nun will ich auf der Rückfahrt im Haag noch Spinoza’s Grab10 in der dortigen Nieuwe Kerk ansehen u. mich dann noch etwas an den Strand setzen – es wird jetzt wärmer, wenn auch nicht so schön wie gestern zeitweise. Da meine schlechten Nächte, die ich hier abwarten wollte, nicht kommen, bleibe ich doch wohl ganz hier, ginge ich wo anders hin, könnten sie mich dort an die Stube fesseln. – Nun bereitest Du wohl schon Deine Gesellschaft vor,11 – nur in Ruhe! daß Du vorher u. nachher schläfst! Von Herzen Dein Max Daß das serbische Schweinevolk abgemurkst ist,12 erschüttert mich keineswegs, – sie warr ein Viechsweib, er offenbar pervers. – Über den
k Alternative Lesung: Ladeplätze l Erster Wortteil durch Überschreibung, möglicherweise von Marianne Webers Hand, unlesbar. m O: Taberakel n Unsichere Lesung: 〈ein Anachronismu〉 o waren > sind p 〈für die〉 q 〈v〉 r ist > war 10 Das Grab des Philosophen Baruch (Benedictus) de Spinoza in der Nieuwe Kerk von Den Haag. 11 Marianne Weber plante – wie in den vorausgegangenen Briefen an sie schon verschiedentlich erwähnt – eine Einladung des gemeinsamen Freundeskreises am 17. Juni 1903. Vgl. dazu den Brief an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, oben, S. 89 mit Anm. 1. 12 Alexander I. Obrenovic´ von Serbien und seine Frau Draga waren von putschenden ˙ Offizieren ermordet worden, nachdem sich Gerüchte verdichteten, daß der kinderlose Kö-
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hiesigen Lumpen von Prinz-Gemahl13 „munkelt“ man natürlich, wie mir ein junger Holländer in der Bahn sagte, nicht wenig. Die Königin ist wohl für zeitlebens kränklich.14
nig beabsichtigte, einen Bruder seiner unbeliebten und skandalumwitterten Frau zum Thronfolger zu ernennen (vgl. Schulthess 1903, S. 358 f.). 13 Herzog Heinrich von Mecklenburg-Schwerin war seit 1901 mit Königin Wilhelmina der Niederlande (vgl. die nachfolgende Anm.) verheiratet. 14 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. Möglicherweise resultierte die Einschätzung der dauerhaften gesundheitlichen Probleme aus mehreren Fehlgeburten, die Wilhelmina der Niederlande erlitten hatte.
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Marianne Weber [14. Juni 1903]; Amsterdam Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus der Tagesangabe „Sonntag Mittag“ und aus dem Zusammenhang mit Marianne Webers undatiertem Brief an Max Weber vom [12. Juni 1903] (vgl. unten, Anm. 1).
Amsterdam, Sonntag Mittag. Lieber Schnauzel –
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also „in meinem Auftrag“ hast Du eingeladen?1 – das ist ja so, wie die Generalstaaten der Niederlande Wilhelm v. Oranien als Statthalter anerkannten, um „im Namen des Königs“ die spanischen Soldaten aus dem Lande zu jagen, – haha! u. wie patriarchalisch! – Du hättest doch einmal ein „Diner nach Mutterrecht“2 geben sollen, das hätte den Leuten noch weit mehr imponiert. – Heut wollte ich nach Zandvoort, alte Erinnerungen auffrischen, aber ich war in den falschen Zug „ingestapt“a u. binnen ¾ Stunden war ich bei der brillanten Geschwindigkeit hier in Amsterdam abgeladen. Nun ich einmal da war, habe ich mich zu den Rembrandt’s in das „Rijksmuseum“ gesetzt, nachdem ich vorher, – es ist Sonntags erst 1 Uhr offen –, einige Gottesdienste mitgemacht hatte. In der Oude wie in der Nieuwe Kerk war innerhalb der Verschläge, die auch hier inmitten der als Predigtkirchen viel zu großen holzgewölbten gothischen Kirchen angebracht sind, Alles gerappelt voll, u. zwar sicher ebensoviel Männer als Frauen. Alles sitzt nach Rang u. Stand, am ausgeprägtesten in der Nieuwe Kerk im Haag, wo die Königin ihre Loge u. die Minister ihre Bank haben, aber auch hier: an der einen Bank steht: Regenten, an der andren krijgsraadb, an der dritten wijk-meestersc3 u.s.w., dann grüne gepolsterte Bänke, die an Damen u. rotgepolsterte, die an Herren „ver-
a O: „ingestappt“ b O: krijgsrad c O: wyk-meesters 1 Marianne Weber hatte in ihrem undatierten Brief an Max Weber vom [12. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, von ihrer Absicht berichtet, den gemeinsamen Freundeskreis „i.A. von Max Weber“ auf Mittwoch zu einem Abendessen einzuladen. 2 Anspielung auf die Arbeit an Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907. 3 Für die Stadtviertel (ndl. wijk) zuständige Beamte.
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huurd“d4 werden, endlich – man wird wahrhaftig an das „Familienbad“ in den Bädern erinnert, Stuhlreihen, die gemischtes Publikum, das zahlt, aufnehmen. Auf den Estraden die Waisenkinder in mächtigen Schaaren u. in unendlich bunten u. in ihrer Art malerischen, nur etwas verdrehten Costümen: die Jungen (auch große von 11e Jahren) Röcke, die rechtsf knallroth, links schwarz sind, ähnlich die Mädchen – es ist doch eine Art Narrentracht! Dann einige „Armenbänke“ für nicht Zahlende, das ganze ansteigend amphitheatralisch geordnet. An den Zugängen zu den Schranken außen steht, wer zu spät kommt oder nicht den ganzen Gottesdienst mitmacht: das sind nicht ganz wenige, es kam und ging immerzu, aber das ist auch kein Wunder: nach dem Gesang ¾ Stunde Predigt,g dann ein Psalm: sehr starker Gemeindegesang u. in der Nieuwe Kerk eine riesige Orgel, dann geht die Predigt weiter noch ½ Stunde. Ich verstand ca. ⅓ bis ¼, es war streng reformierte Orthodoxie, Gottes Fluch spielte eine gewaltige Rolle (Predigt über die Bekehrung des Paulus) u. mit eindringlichster Apostrophe5 der musterhaft aufmerksamen Zuhörer. Die rhetorische Kunst, soweit ich folgen konnte, nicht gering – auch Gesten, – aber welch ein Contrast doch gegen den Dominikaner1) in Sta Maria sopra Minerva trotzdem! 6 Zwar fehlte auch hier die „Sprache Canaans“,7 die unser Einem bei uns zu Lande das Kirchengehen verleidet, aber von „Meine Herren“ als Anrede u. Zwischen-Anrede war |:hier in Amsterdam:| doch ebenso wenig die Rede wie von jener bilderreichen, populär-wissenschaftlichen Rhetorik, welche mit „sozialer Crisis“, „Evolution“ u. dgl.h um sich warf 1) Wir
hörten ja die Predigt über Thomas v. Aquin an dessen Namenstag.8
d O: „verhuurt“ e Alternative Lesung: 16 f 〈[??]〉 g 〈die〉 h 〈bei der Interpretation biblischer Texte〉 4 Ndl. für: vermietet, verliehen. 5 Das rhetorische Stilmittel der Apostrophe dient zur feierlichen Anrede der Zuhörerschaft. 6 Von Max und Marianne Webers Romaufenthalten in den Jahren 1901 bis 1903 ist weder ein Besuch von Santa Maria sopra Minerva noch die hier erwähnte Predigt (wie unten, Anm. 8) nachgewiesen. 7 Zu Max Webers Gebrauch dieser Bezeichnung für eine pathetische Predigtsprache vgl. auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22–2, S. 361. 8 Der Namenstag des Thomas von Aquin ist am 28. Januar. Im Jahr 1902 hielten sich Max und Marianne Weber an diesem Tag in Rom auf (wie oben, Anm. 6).
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|:und:|, blendend (der guten Rednerbildungsschule des Ordens entsprechend) wie sie war, doch mehr einem phrasenhaften Vortrag als einer Predigt glich u. allen geistlich-sittlichen Gehalt bei Seite ließ. Hier dagegen wohl etwas viel Nüchternheit, auch breitere, aber, so viel ich verstand, tüchtige u. allseitige Durchdringung des Stoffes. – Nun sitze ich hier vor Rembrandt’s „Nachtwache“ – ⅓ von C[arl] Neumann’s Buch handelt davon,9 es ist ja eine fabelhafte Leistung und eine Farbenpoesie, die nur er selbst noch überbieten konnte – aber der geistige Gehalt muß bei der Natur des Sujets (Gruppenportrait) ein begrenzteri sein u. dann sind einige Figuren (Kinderj) nur als Scheinwerfer gewissermaßen, um einen hellen Lichtklex zu ermöglichen, hineingebracht, die mich ganz empfindlich stören, auch einige Beine nur dem Schattencontrast zu Liebe in bestimmter Art gestellt. Daß es sein Höchstes wäre, kann ich deshalb niemals zugeben. – Übrigens: daß Spinoza10 in der höfischen Kirche im Haag am vornehmsten Platz – unter der Kanzel, vis-à-vis der Hofloge, liegt, mit einer Gedenktafel (der einzigen) für ihn u. die s.Z. gemordeten Häupter der niederl[ändischen] Republik, Gebrüder de Witt,11 gemeinsam, – der Grabstein selbst, Basalt, im Boden ist nur mit der Nummer, 21, bezeichnet – macht sich doch curios. Gestern auf der Bahn sprach mich die alte Thrantute, der Herr Dr van de Werk,12 an – erinnerst Du Dich seiner aus Freiburg? [–] er sollte die Finanzen von Delft auf den Damm bringen, das scheint ihm nicht
i 〈[??]〉 j (ein Kind > (Kinder 9 Es handelt sich um Neumann, Carl, Rembrandt. – Berlin und Stuttgart: Verlag W. Spemann 1902. 10 Der Philosoph Baruch (Benedictus) de Spinoza. Der Abkömmling einer sephardischen Familie wurde 1656 aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgeschlossen. Sein 1670 erschienenes Werk „Tractatus theologico-politicus“ wurde auf Betreiben der calvinisti schen Kirche verboten. 11 Johan (Jan) und Cornelis de Witt gehörten zu den einflußreichsten Staatsmännern der Republik der Vereinigten Niederlande. Sie wurden am 20. August 1672 als Widersacher Wilhelms III. von Oranien, der die Statthalterschaft anstrebte, von einem aufgebrachten Pöbel gelyncht. 12 Der Niederländer Marion Elisa van de Werk hatte ab dem WS 1894 in Freiburg i. Br. Nationalökonomie studiert und Lehrveranstaltungen bei Gerhart v. Schulze-Gaevernitz und Max Weber besucht. 1897 war er mit einer bei v. Schulze-Gaevernitz eingereichten Arbeit über „Die javanische Dorfgemeinde“ promoviert worden (vgl. UA Freiburg i. Br., Beilagen zu den Fakultätsprotokollen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, B 110/406).
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geglückt zu sein, hingegen hat er seine Nerven dabei auf den Undamm gebracht. Er läßt sich empfehlen. – Also meine ganze Menagerie wartet auf mich?13 Freitag oder Sonnabend Abend komme ich. Ist denn übrigens „Peter“ wirklich ein Peter? Nach den Erfahrungen mit Murks sen., Murksk jun., Mietze I sen., Mietze I jun., Mietze 2 kann ich es kaum glauben,14 – glaube vielmehr, daß für die „neue“ Frau das Geschlecht auch bei den Thieren zur quantité négligeablel wird derart, daß sie es gar nicht mehr sieht. – Nun bewirthe die Leutchens gut mit was Gutem,15 es schmeckt mir dann in Gedanken hier auch mit, – ich futtere gleichzeitig entweder in der Pomona16 Dinge wie: Sauerampfer mit Corinthen, oder Küchenlauch-Gemüse, oder geröstete weiße Bohnen, oder Endivien-Gemüse, oder Aprikosen-Reis, oder Zwiebelpüree – oder aber auch nur am Strande ein 2 Kaasbroodje à 10 cts. Meine Fütterung kostet pro Tag kaum je mehr als ca. 70 cts – 1 Gulden zusammen, – aber Alles Andre ist doch unverschämt teuer; – schön ist nur, daß die Museen gratis auf sind, Sonntags sind sie voller Pisängem,17 da könnte gut wenigstens 1 Tag in der Woche mit Bezahlung sein. – Doch genug, der Puckel ist müde. (NB er soll durch das Schreiben trainiert werden. Ob mit Erfolg ist unsicher) Herzlichst Dein Max Wieder in Scheveningen. Strömender Regen.
k In O ein kleines, gezeichnetes Herz über dem Buchstaben k l O: negigeable m Unsichere Lesung. 13 Gemeint sind laut Marianne Webers undatiertem Brief an Max Weber vom [12. Juni 1903], wie oben, S. 101, Anm. 1, „Bertha, Miezchen, Peter und Schnäuzchen“, d. h. die Haushaltshilfe Bertha Schandau, die Hauskatzen und Marianne Weber. 14 In ihrem Brief an Max Weber, undat. [13. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, hatte Marianne Weber von der wachsenden Liebe von „Miezchen“ zum angeblichen Katzenjungen „Peter“ berichtet. 15 Marianne Weber bewirtete ihre Gäste am 17. Juni 1903 mit „Muschelragout (Kalbsmilch und Champignons) dann Filet mit Erbsen u. Kartoffeln, dann Eis mit selbstgebackenen Küchchen“ (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [16. Juni 1903], ebd.). 16 Gemeint ist ein vegetarisches Restaurant in Den Haag. 17 Verballhornung des französischen Wortes „paysan“ für Bauer (vgl. Das Rheinische Wörterbuch, bearb. und hg. von Josef Müller, Band 6. – Berlin: Erika Kopp 1941, Sp. 878 f.).
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15. Juni 1903
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Marianne Weber PSt 15. Juni 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Liebe Schnauzel –
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heute, da es constant regnet u. ich deshalb nichts zu erzählen habe, nur einen Gruß u. Dank für Dein Briefchen. Man ist hier, wenn es regnet, doch besser dran wie anderswo, denn wenn man will, kann man doch jederzeit irgendwohin – das ist übrigens in allen holländ[ischen] Seebädern so, es sind immer nur ½–¾ Stunde bis Haag, Amsterdam oder Haarlem mit ihren Gemäldegaleriena etc. Alles liegt dicht bei einander u. man kann gut (u. billig) 3. Klasse fahren, die zweite taugt kaum mehr; dabei eine Unmasse Züge, in alle ½ Stunde einer in jeder Richtung, am Tage über 20 zwischen Amsterdam – Haag – Rotterdam. Nun grüße das mutterrechtliche Abendessen schön,1 – herzlichst Dein Max
a O: Gemäldegallerien 1 Ironische Anspielung auf Marianne Webers Einladung des gemeinsamen Freundeskreises, vgl. den Brief an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, oben, S. 89, Anm. 1, und zuletzt den Brief vom 14. Juni 1903, oben, S. 104 mit Anm. 15.
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16. Juni 1903
Marianne Weber PSt 16. Juni 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schn. Ich konnte heut Nacht – da ich etwas viel gelesen hatte – nur mit Trional1 schlafen, daher nur ein kurzer Gruß, da ich mich ruhig halte. Das Wetter schwankt, es ist teils Regen, teils Landwind. Den Ausflug nach Leiden – Haarlem – Zandvoort habe ich auf morgen verschoben. Ich hätte gern hier meinen Fra D[iavolo] abgemacht, 2 aber es scheint, daß er darauf versessen ist, Schnäuzchen zu erfreuen. – Ich komme Sonnabend Abend spät (950) oder Sonntag. Bis morgen, – vielen Dank für Deinen Brief: Braun’s 60 000 M. scheinen mir einfach e[ine] lächerliche Unverfrorenheit.3 Herzlichst Dein Max
1 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone. 2 Umschreibung für Max Webers regelmäßig wiederkehrende „schlechte Nächte“ mit Schlaflosigkeit und unkontrollierten Samenergüssen. 3 Die für das Braunsche Archiv geforderte Kaufsumme lag deutlich über Edgar Jaffés Angebot von 30.000 Mark (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 15. Juni [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Zu den Hintergründen vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
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Marianne Weber PSt 17. Juni 1903; PSt Scheveningen Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum und der Ort sind erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags. Der Brief besteht aus einer Panoramapostkarte von Scheveningen, die Max Weber in einem Kuvert verschickte. Mit einem Pfeil markierte er die ungefähre Lage seiner Unterkunft und notierte dazu: „da etwa wohne ich“.
L. Schn.
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Auch heut regnet es – es ist recht langweilig, da mir dann doch immer die Versuchung nahe liegt zu lesen. Ich werde heut Mittag aber entweder nach Haarlem oder nach Leiden fahren, die ich beide von früher her kenne. Zu erzählen ist nicht weiter viel, ich denke ja jetzt doch auch in erster Linie ans Heimkommen. Es ist hier kälter, als nötig wäre. – Eben kommt die Sonne durch, ich will an den Strand. Du strapaziersta Dich aber zu viel, liebes Kind, ich glaube, Dub wirst auf die Dauer doch zwischen dieser Vereinsgeschichte u. Andrem wählen müssen, wenn Dich die Weiber auch persönlich so in Anspruch nehmen.1 Nach Örlinghausen können wir schließlich auch nächstes Jahr gehen, 2 damit Du nicht Dich mit Gedanken an Lage/Lemgo zu plagen brauchst.3 Unerhört ist aber doch, daß Mama wieder bloß Kin-
a O: spapazierst b O: du 1 Marianne Weber berichtete in ihren undatierten Briefen an Max Weber vom [11.] und [12. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, über ihre Aktivitäten in der bürgerlichen Frauenbewegung: Am 10. Juni 1903 hatte sie Besuch von der sich auf einer „Wahlagitationsreise“ befindlichen Lily Braun und diskutierte in der Vorstandssitzung der Heidelberger Sektion des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium über die Gründung eines Handlungsgehilfinnenvereins, am 12. Juni 1903 hatte die Heidelberger Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen ihre erste Generalversammlung. 2 Marianne Weber hatte einen Besuch in Oerlinghausen für August vorgeschlagen (Brief von Marianne Weber an Max Weber vom 15. Juni [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 3 In Lage war im Mai Marianne Webers unter psychischen Störungen leidender Vater gestorben und beigesetzt worden. In Lemgo wohnten ihre Tanten väterlicherseits, Florentine (Flora) und Marie Schnitger, in bescheidenen Verhältnissen.
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17. Juni 1903
dermädchen ist dies Jahr,4 ich war zuweilen nahe dran, an Ernst darüber zu schreiben.5 Herzlichst Dein Max P.S. Wie wohl die Wahlen ausfallen werden? Ich fürchte für Naumann kommt nichts oder Unerwünschtes (Wahl Pohlmanns oder Da maschkes) heraus.6 – Schönsten Dank für Dein Montagsbriefchen, wir warten jetzt ab, bis Du einmal ganz direkte Lust zum Reisen hast.7 Bis dahin sehe ich mir allerlei so oberflächlich an. Schöner ists natürlich doch mit dem Schnauzel zusammen, aber auch so lenkt es ab u. bereichert den inneren Menschen. – Über die Archiv-Angelegenheit8 darf man ja nichts zu Anderen sagen. Jaffé wird hoffentlich zäh u. ruhig bleiben, man muß ja auch erst sehen, ob u. wie ein Verleger die Sache nimmt u. zu welchen Bedingungen. Die Sache hat Zeit, Braun kommt schon wieder.9 Herzlichst M.
4 Helene Weber hatte ihrer jüngsten Tochter Lili Schäfer nach der Geburt des ersten Kindes geholfen. Außerdem unterstützte sie häufig ihre Tochter Clara Mommsen, die bereits drei Kinder hatte. 5 Ernst Mommsen, Claras Ehemann, war Arzt. An diesen wandte sich Max Weber häufiger, wenn es um die Gesundheit von Helene Weber ging. 6 Am 16. Juni 1903 fand die Wahl zum 11. Deutschen Reichstag statt. Bei einem Anteil von 0,3% an den Gesamtstimmen konnte der Nationalsoziale Verein lediglich ein Mandat (durch Hellmut v. Gerlach) erringen (vgl. Politische Notizen. Unsere Wahlziffern, in: Die Hilfe, Jg. 9, Nr. 26 vom 28. Juni 1903, S. 1). Sowohl Friedrich Naumann, der im Wahlkreis Oldenburg I kandidiert hatte, als auch Adolf Pohlmann und Adolf Damaschke scheiterten (zur Kandidatenliste vgl. Maurenbrecher, Max, Unsere Kandidaturen, in: Die Hilfe, Jg. 9, Nr. 24 vom 14. Juni 1903, S. 3 f.). 7 Marianne Weber hatte sich in ihrem Brief an Max Weber vom 15. Juni [1903], wie oben, S. 107, Anm. 2, wenig enthusiastisch zu einer Reise nach Oerlinghausen im August bereit erklärt. 8 Zu dem von Edgar Jaffé beabsichtigten Kauf des Braunschen Archivs vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70, sowie zuletzt die Karte an Marianne Weber vom 16. Juni 1903, oben, S. 106. 9 Marianne Weber berichtete in ihrem Brief an Max Weber vom 15. Juni [1903], wie oben, S. 107, Anm. 2, Edgar Jaffé sei nur bereit, die Hälfte der von Heinrich Braun schriftlich geforderten 60 000 Mark zu zahlen, und zweifelte daher an einem Vertragsabschluß.
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Marianne Weber PSt 18. Juni 1903; Noordwijk aan Zee Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. Der 18. Juni 1903 war ein „Donnerstag“.
Noordwijk aana Zee (b. Leiden) Donnerstag L. Schnauz –
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ich bin heut hierher gefahren, um mir mal eins der andren holländ[ischen] Seebäder anzusehen. Wunderschön! das (einzige) Hotel hoch oben auf der Düne gelegen, mit Blick nach See u. über das Land – aber mordsteuer, fast das Doppelte von unserer Borkumer Tagesausgabe1 –; 1 Zimmer mit 2 Betten u. 1 Kämmerchen mit Schlafsofa – schöne Aussicht auf Meer u. Land pro Tag 23 Mk. Es war freilich das schönste [,] was ich sah, die andern weniger preiswürdig. Na, später einmal vielleicht. – Naumann scheint ja nicht gewählt zu werden, dagegen Gerlach in dieb Stichwahl zu kommen; im Übrigen wird der Reichstag ja gradezu blutigroth, wie es scheint.2 – Ich werde also morgen (Freitag) wohl bis etwa Düsseldorf, von da Sonnabend nach Heidelberg reisen – wenn keine hinderlichen Zwischenfälle eintreten. Ich komme 950 Abends, komme Du nur direkt von der Stiftsmühle nach Haus,3 wir können ja dann doch nicht mehr viel reden. Aufs Wiedersehen freut sich Dein Max
a O: an b Fehlt in O; die sinngemäß ergänzt. 1 In den Monaten August und September 1902 hatte Max Weber einige Wochen auf Borkum verbracht. Vgl. den Brief an Paul Siebeck vom 18. Sept. 1902 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/3). 2 Zu den enttäuschenden Ergebnissen des Nationalsozialen Vereins – zu dessen Kandidaten hatten Friedrich Naumann und Hellmut v. Gerlach gehört – bei den Reichstagswahlen vom 16. Juni 1903 vgl. den Brief an Marianne Weber vom 17. Juni 1903, oben, S. 108 mit Anm. 6. Zwar erzielte die SPD mit 31,7% die meisten Stimmen, bedingt durch das im Kaiserreich gültige Mehrheitswahlrecht stellte sie mit 81 Mandaten jedoch nur die zweitstärkste Fraktion (nach der Zentrumspartei). 3 Samstags traf sich der Freundeskreis von Max und Marianne Weber gewöhnlich in der Stiftsmühle, einem Restaurant in Ziegelhausen bei Heidelberg.
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19. Juni 1903
Marianne Weber PSt 19. Juni 1903; Den Haag Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Haag (Bahnhof). L. Schn. Eben brachte mir mein Wirth per Fahrrad Dein Briefchen hierher nach, rührenderweise. Ich freue mich so, daß Alles gut gegangen ist u. Schn[auzel] sogar eine Lippe riskiert hat.1 Aber nun wirst Du wohl schrecklich müde sein, mein Kind, u. wir werden tüchtig ausruhen müssen. Nach Baden will ich nicht, 2 ich bin jetzt doch sehr viel unterwegs gewesen u. freue mich auf Ruhe. – Ich fahre heut noch nach Zandvoort, auch Das einmal wieder anzusehen, u. dann über Amsterdam durch bis Düsseldorf oder Köln, um da auszuschlafen, komme wie gesagt morgen Abend um 9 Uhr 50 – wenn nicht, telegraphiere ich morgen ab. – Leb wohl mein Liebstes, auf vergnügtes Wiedersehen. Dein Max Erste Hälfte September will mein Wirth uns beide (2 Zimmer u. 1 Kammer) mit voller Pension für 9 Mk täglich nehmen! Na, wir wollen sehen! –
1 Marianne Weber berichtete in ihrem Brief an Max Weber, undat. [18. Juni 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, sie habe anläßlich der Einladung des Freundeskreises „eine Lippe riskiert“ und sich bei den „Leutchen“ bedankt, „daß sie uns durch die Gleichmäßigkeit u. Anspruchslosigkeit ihrer Freundschaft in den letzten Jahren geholfen u. uns ein Heimatsgefühl an Heidelberg erhalten haben etc.“. Zu den geladenen Gästen vgl. den Brief Max Webers an Marianne Weber vom 10. Juni 1903, oben, S. 89, Anm. 1. 2 Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber, undat. [16. Juni 1903], ebd., die Teilnahme an einer Zusammenkunft der badischen Professoren am 21. Juni 1903 in Baden-Baden vorgeschlagen.
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Franz Böhm 29. Juni 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers GLA Karlsruhe, Nl. Franz Böhm, 52/XIV Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
Heidelberg Hauptstraße 73 29/6. 03. Hochgeehrter Herr Ministerialrat, 5
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Ich danke verbindlichst für Ihre freundlichen Zeilen und werde, wenn ich in diesen Wochen aus andrer Veranlassung nach Karlsruhe komme, nicht ermangeln für einige Minuten bei Ihnen vorzusprechen, um auch persönlich für die delikate und rücksichtsvolle Art, in der ich behandelt worden bin, zu danken. Für die Ablehnung eines Lehrauftrags mußte für mich bestimmend sein, daß bei einigen Mitgliedern der Fakultät formale Bedenken gegen eine Vermehrung der nationalökonomischen Stimmen bestanden.1 Unter diesen Verhältnissen konnte eine Kontinuation von Spezialvorlesungen und seminaristischer intensiver Arbeit, wie sie meiner Neigung u. Begabung am nächsten läge, wegen des mangelnden Rechts der Teilnahme an den Promotionen nicht in Frage kommen. Ich werde mich zunächst litterarischer Thätigkeit zuwenden und späterhin diejenigen – auch größeren – Vorlesungen halten, welche meinem jeweiligen persönlichen Arbeitsgebiet am nächsten liegen. Mit ausgezeichneter Hochachtung a Professor Max Webera
a–a Eigenhändig. 1 Vgl. dazu auch den Brief an Franz Böhm vom 5. Mai 1903, oben, S. 55 f.
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29. Juni 1903
Vinzenz Czerny 29. Juni 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig UA Heidelberg, PA 2408, Max Weber Der Brief steht im Zusammenhang mit Webers Dienstentlassung; vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47.
Heidelberg 29/VI 03. Euer Magnifizenz bestätige ich den Empfang der – mir auch direkt zugegangenen1 [–] Ministerialverfügung betreffend meine Dienstentlassung [.] Mit ausgezeichneter Hochachtung ergebenst Professor Max Weber
1 Weber wurde bereits am 24. Juni 1903 vom Erlaß des Großherzogs betr. seine Dienst entlassung durch das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts unterrichtet (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 135).
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Alfred Weber 17. [Juli 1903]; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum Juli 1903 ergibt sich aus dem Briefinhalt (Hinweis auf die Entscheidung über das „Archiv“ am Montag, 20. Juli 1903) sowie der späteren Korrektur des Briefdatums auf „17.7.03“ durch Marianne Weber. Der Brief enthält weitere Zusätze von Marianne Weber: „Max an Alfred diktiert“ sowie am Briefende einen längeren Nachtrag an Alfred und Helene Weber, der hier nicht nachgewiesen wird.
Heidelberg, 17.7.a Lieber Alfred,
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Ich habe an Naumann geschrieben, daß ich sein derzeitiges Ausscheiden1 für das einzig Richtige halte. Warum? kannst Du ja aus dem Brief sehen, den er Dir wohl zeigen wird. Ich möchte hinzufügen, daß seit ich von H[einrich] Braun weiß, daß er vor einiger Zeit ernstlich angefragt hat, ob er noch jetzt Sozialdemokrat werden könne, 2 ich seine Contenance der Fortsetzung dieser aufreibenden u. vorerst hoffnungslosen Arbeit nicht mehr für gewachsen halte. Die „Nation“3 wäre m.E.s in der That für ihn das beste. Eine neue politische Zeitschrift nach einem solchen Mißerfolg ist ja, wie mir scheint, innerlich u. äußerlich gleich unmöglich, – je mehr ich es mir überlege. Die „Preußischen Jahrbücher“ schrumpfen in ihrem Abonnentenbestand bis auf eine schon jetzt lächerliche Ziffer.4 An mein a O: 8. 1 Max Weber spielt hier auf die Niederlage des Nationalsozialen Vereins bei den Reichstagswahlen am 16. Juni 1903 an, die schließlich zu seiner Auflösung führte. Auf Betreiben von Naumann kam es kurz darauf zum Zusammenschluß der Nationalsozialen mit der linksliberalen Freisinnigen Vereinigung. Naumann spielte nach der Wahlniederlage mit dem Gedanken, sich komplett aus der Parteipolitik zu verabschieden. 2 Am 3. Juli 1903 hatte Naumann an Brentano jedoch geschrieben, daß ein Eintritt in die SPD für ihn nicht in Frage käme, solange sie alle militärischen Forderungen im Reichstag stets verneine (Theiner, Peter, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919). – Baden-Baden: Nomos 1983, S. 125). 3 Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur, 1883–1907. 4 Die Abonnentenzahlen der „Preußischen Jahrbücher“ sanken von 1778 im Jahr 1893 auf 1597 im Jahr 1904, also um ca. 10% (Schleier, Hans, Treitschke, Delbrück und die „Preußischen Jahrbücher“ in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Geschichte, Band 1, 1967, S. 134–179, hier S. 141).
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17. Juli 1903
Eintreten wäre ja nicht zu denken, wie könnte ich es verantworten? Diese politischen Dinge, die mich im Innersten erregen [,] jetzt konstant zu behandeln, ist mein Körper höchstens für einige Monate gewachsen, u. was schwerer wiegt, will man eine politische Sache nicht verpfuschen; so gehört dazu absolut kühles Blut und dafür kann ich jetzt schlechterdings nicht garantieren. Ich habe mich daher entschlossen in die Redaktion des Braun’schen Archiv’s, wenn Jaffé es erwirbt – was sich nächsten Montag entscheidet 5 – mit Sombart zusammen einzutreten. Der Verleger wünscht, scheint es, grade diese Kombination u. ich kann Jaffé, da ich hier am Ort, auch bei geringer Arbeitskraft nützlich sein. Ist er etwas eingearbeitet u. bist Du mit Deinem Buche fertig,6 so daß Du Arbeit übernehmen kannst, so wünsche ich allerdings, wenn Du irgend dazu Neigung haben solltest, daß Du an meiner Stelle mitthust.7 Wir sind nun mit unsren Vorschlägen wohl (Gott sei Lob u. Dank!) am Rande, es war ein harter Strauß in sehr höflichen Formen u. das Resultat (Gothein, Sombart, Helfferich, Waentig) ist gewiß kein ideales, aber das relativ Beste, was zu erreichen war.8 Bitte natürlich silentium strictissimum. Mir liegt vor allem daran, daß ein Zweiter hierherkommt, der etwas ist [;] eine Ära Rathgen sans phrase wäre für mich Stickluft. Unsre Spekulationen über das Benecke’sche Haus9 sind (leider!) hinfällig. Da B[enecke]s offenbar jetzt nicht verkaufen wollen. Herzlichsten Gruß! Maxb
b Eigenhändig. 5 Gemeint ist der 20. Juli 1903. An diesem Tag unterzeichnete Edgar Jaffé den Kaufvertrag mit Heinrich Braun. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70. 6 Weber, Alfred, Standort der Industrien (wie oben, S. 57, Anm. 2), erschien erst 1909. 7 Alfred Weber trat 1922 in die Redaktion des AfSSp ein. 8 Weber meint damit die Vorschlagsliste für seine Lehrstuhlnachfolge. Auf ihr standen am 26. Juli 1903 Eberhard Gothein, Werner Sombart und Karl Helfferich (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 139–141). Die Wahl fiel am Ende auf Gothein. 9 Es handelte sich um das Haus von Max Webers Onkel Ernst Wilhelm Benecke in der Ziegelhäuser Landstraße 1. Im Nachtrag zu diesem Brief kommt auch Marianne Weber ausführlicher auf die Pläne zum Hauserwerb zu sprechen. Demnach weigerten sich Be neckes, die aktuelle Mieterin Rose Stengel, die selbst Kaufabsichten geäußert hatte, zum Verlassen des Hauses zu drängen (vgl. dazu den Brief Max Webers an Marianne Weber vom 8. Juni 1903, oben, S. 81–84 mit Anm. 16 und 21). Für Marianne Weber waren die Pläne nicht nur deshalb, sondern auch aus finanziellen Gründen erledigt.
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22. Juli 1903
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Marianne Weber PSt 22. Juli 1903; PSt Charlottenburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Weber besuchte seine Mutter Helene Weber in Charlottenburg.
Piccola mia –
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sono andato qua soltanto per vedere la madre – tuttaa mi fa qui impressioni molto buone, la madre ed Alfred sono freschissimi. Abbiamo molto parlato e perche ho avuto una mala notte – dunque parto Venerdi dab mattina e saro a Heidelberg Venerdi sera / via Würzburg, io credo. Tutto sta bene – la Facoltà puo fare che vuole, mi è schnuppe!1 Qui vedo nessuno, – soltanto Ernst ed il vecchio Mommsen.2 Siamo stati alla esposizione della Secessione. 3 Spero che stia bene Bertha,4 a rivederci Venerdi sera tuo Max Meine Kleine – ich bin hierher gekommen, nur um die Mutter zu sehen – alles macht mir einen sehr guten Eindruck, die Mutter und Alfred wirken sehr frisch. Wir haben viel gesprochen, und da ich eine schlechte Nacht gehabt habe – fahre ich also am Freitag Morgen und werde Freitag Abend in Heidelberg sein / via Würzburg, glaube ich. Alles ist gut – die Fakultät kann machen, was sie will, mir ist es schnuppe! Hier sehe ich niemanden – nur Ernst und den alten Mommsen. Wir waren bei der Ausstellung der Secession. Ich hoffe, daß es Bertha gut geht, wir sehen uns am Freitag Abend. Dein Max
a Zu erwarten wäre: tutto b Zu erwarten wäre: la 1 Anspielung auf die Suche nach einem Nachfolger für seinen Lehrstuhl. Auf der Vorschlagsliste vom 26. Juli 1903 (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 139–141) standen neben dem letztlich berufenen Eberhard Gothein noch Werner Sombart und Karl Helfferich. 2 Max Webers Schwager Ernst Mommsen und dessen Vater Theodor Mommsen. 3 Zur Sommerausstellung der Künstlergruppe „Berliner Secession“ vgl. Die Ausstellung der Berliner Secession, in: Kunstchronik, N.F., Jg. 14, Nr. 23 vom 24. April 1903, Sp. 361– 366. 4 Die Haushaltshilfe Bertha Schandau.
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31. Juli 1903
Edgar Jaffé [am oder nach dem 31. Juli 1903]; o.O. Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Der Brief befindet sich als Zusatz auf dem Brief des Verlegers Gustav Fischer vom 31. Juli 1903 an Max Weber. Zum Inhalt des Briefes von Gustav Fischer sowie zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
Lieber Herr Doctor! Eine Rücksprache wäre wohl erwünscht, falls Sie nicht entschlossen sind, auf Fischer unter allen Umständen zu verzichten, denn der Ihnen zugesendete Entwurf war ziemlich kurz angebunden, und für aussichtslos halte ich die Verhandlung mit ihm nicht, wenn ihm die rechtlichen Consequenzen mehr indirekt u. höflich zu verstehen gegeben werden. Besten Gruß Ihr Max Weber
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Edgar Jaffé [ca. 4. August 1903], o.O. Brief; eigenhändig Privatbesitz Das Datum ist erschlossen aus den Briefen Edgar Jaffés an Max Weber vom 3. und 5. August 1903 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
Lieber Herr Doctor!
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Mit Enke – einem |:höchst anständigen aber:| sehr peinlichen und pedantischen Mann – müßte ich wohl verhandeln, da er Sie gar nicht kennt, wenigstens zuerst.1 Ob er geeignet |:u. geneigt:| ist, ist nicht sicher, aber möglich. Soll ich an ihn schreiben u. ihn erst fragen – ich glaube [,] das wäre nötig. Ich dachte, Sie würden nach Berlin gefahren sein und mit Heymann, 2 wie Sie wollten, verhandelt haben. Braun muß jetzt vom Stand der Sache benachrichtigt w[erden] a, scheint mir, es sei denn, daß Sie es auf Alles ankommen zu lassen ganz entschlossen sind. Knittel kommt wohl nur bei sehr günstigen Bedingungen in Betracht, – bequem wäre es ja. – Fischer hatte ich sehr höflich auf die Rechtslage aufmerksam gemacht, mit dem Bemerken, daß ich ohne Ihr Vorwissen schriebe, u. ihn direkt gefragt, ob die Schwierigkeit bei Conrad liege.3 – Wenn die Sache doch endlich etwas vom Fleck käme! Auch Sombart muß doch benachrichtigt werden. Bitte bFischers Brief b zurück!4 Besten Gruß. Max Weber a Lochung. b O: zweifach unterstrichen. 1 Im Verlag von Ferdinand Enke, dem Vater des hier gemeinten Alfred Enke, erschien 1889 Max Webers akademische Erstlingsschrift: Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, MWG I/1, S. 109–439. 2 Hier ist der Carl Heymanns Verlag gemeint, der seit 1897 von Ottilie Loewenstein und einem Kuratorium geführt wurde. Von diesem Verlag wurde das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ verlegt. 3 Johannes Conrad war der Herausgeber der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“, die ab 1890 im Verlag Gustav Fischer erschienen. Offenbar befürchtete er Nachteile durch das AfSSp, sollte es im gleichen Verlag erscheinen. Da die Verlagskorrespondenz für diese Zeit verloren ist, läßt sich der Sachverhalt heute nicht mehr genau klären. – Der Brief Max Webers an Gustav Fischer ist nicht überliefert. 4 Gemeint ist der Brief von Gustav Fischer an Max Weber vom 31. Juli 1903, den Weber an Edgar Jaffé weitergeschickt hatte. Vgl. den Brief an Edgar Jaffé, am oder nach dem 31. Juli 1903, mit der Editorischen Vorbemerkung, oben, S. 116.
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5. August 1903
Edgar Jaffé 5. August [1903]; Heidelberg Brief; eigenhändig Privatbesitz Das Jahr wurde aus dem Inhalt des Briefes erschlossen. Zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
H. 5. VIII Lieber Herr Doktor! Besten Dank für Ihren Brief. Ich bin nach dem [,] was Sombart Ihnen geschrieben hat, über ihn beruhigt. – Knittel geht doch aber nur dann, wenn er sehr günstige Bedingungen bietet, günstigere als Fischer, ein junger, noch gar nicht renommiertera Verlag muß seinerseits etwas riskieren, denn dem Interesse der Zeitschrift entspricht andrenfalls ein Zusammenarbeiten mit ihm nicht. Bitte machen Sie doch nichts mit ihm fest, ich sehe hier Siebeck (Tübingen) u. könnte auch ihn fragen. Überdies könnte Fischer doch ev. noch seinerseits kommen, er hat noch nicht geantwortet auf meinen letzten Brief.1 Knittel ist recht anständig, aber recht auf seinen Vorteil bei Verhandlungen bedachtb, u. sehr dagegen, – auch wohl nicht kapitalkräftig genug, – um gern etwas zu riskieren. Sonst wäre es ja recht bequem. Ich will im Übrigen in Ihre Sachen nicht hineinreden, aber wenn es kein renommierter Verleger sein soll, dann müssen die pekuniären Bedingungen günstige sein. Sie werden später sehen, daß Geld nötig ist, wenn wir nicht immer beengt sein sollen. Besten Gruß, auch Ihrer Frau2 Ihr ergebenster Max Weber
a O: rennomierter b Fehlt in O; bedacht sinngemäß ergänzt. 1 Der Brief an Gustav Fischer ist nicht überliefert. 2 Else Jaffé, geb. von Richthofen.
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Edgar Jaffé 9. August [1903]; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigen Zusätzen Max Webers Privatbesitz Das Jahresdatum ist aus dem Zusammenhang erschlossen. Zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
Heidelberg, 9. Aug. Lieber Herr Dr.
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Dr. Siebeck wäre prinzipiell bereit mit Ihnen zu verhandeln. Er ist ein kluger Geschäftsmann, etwas pedantisch, der seinen Vorteil durchaus wahr nimmt, aber vollkommen loyal u. anständig. Ich habe ihm gesagt, daß u. weshalb wir an Fischer gekommen sind u. daß die Schwierigkeiten offenbar in Conrad’s Widerspruch1 u. in der Differenz der Preise u. Honorare ihren Grund habe. Siebeck selbst hat ja die Schäffle’sche Zeitschrift, 2 das schien aber kein absoluter Hinderungsgrund. Ich habe ihm auch in groben Umrissen die Basis [,] auf der verhandelt wurde [,] u. die allgemeine Lage des Archiv’s dargestellt, natürlich müßte ihm das kalkulatorische Material gleich unterbreitet werden u. Sie sich ev. in Tübingen bei ihm vorher anmelden.3 Schwierig wird es nur sein, jetzt ohne Kränkung Knittel’s von diesem abzusehen. Doch das wissen Sie besser als ich. Fischer hat auf meinen neulichen Brief,4 der ihm höflich aber klar die Rechtslage vorhielt, bisher nicht geantwortet, es wird doch wohl jedenfalls richtig sein, wenn Sie keinesfalls ihm gegenüber etwas thun, was Ihre eventuellen Ansprüche gegen ihn kompromittierte, sei es auch nur zu dem Zweck, die Möglichkeit zu haben, ihn |:später:|a in einem sacksiedegroben Brief b|:unter Prozeßdrohung:|b
a Eigenhändig. b–b Eigenhändig. 1 Vgl. dazu den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 4. Aug. 1903, oben, S. 117, Anm. 3. 2 Gemeint ist die „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, 1844ff. 3 Zwischen dem 13. und 17. August 1903 trafen sich Edgar Jaffé und Paul Siebeck in Freudenstadt, wo sie sich auf die zukünftige Zusammenarbeit verständigten. 4 Der Brief an Gustav Fischer ist nicht überliefert.
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vor illoyaler Ausnutzung dessen, was er über unsre Absichten gehört hat, im Interesse seiner Jahrbücher5 zu warnen. Siebeck hielt ihn einer derartigen Absicht für durchaus fähig. Mit den besten Grüßen auch an ihre Frau6 von uns beiden Ihr cMax Weberc
c–c Eigenhändig. 5 Die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“, die von Gustav Fischer verlegt wurden. 6 Else Jaffé, geb. von Richthofen.
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13. August 1903
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Edgar Jaffé PSt 13. August 1903; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz Zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
Lieber Herr Doctor!
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Ich werde Fischer doch erst schreiben, nachdem Sie Braun’s (u. ev. Sombart’s) Antwort haben u. entschlossen sind. Die Empfindung Ihrer Frau1 in der Sache ist mir doch sehr verständlich. Zu Siebeck würde ich an Ihrer Stelle aber auch erst nach Empfang der Continuationsliste2 fahren.3 Vielleicht sprechen wir uns morgen früh? Besten Gruß Ihres Max Weber. Ein Brief jetzt an F[ischer] würde, was auch darin stehe, doch eventuell Ihnen etwas vorgreifen.
1 Else Jaffé, geb. von Richthofen. 2 Diese Liste gibt Auskunft über Name und Anschrift der Abonnenten sowie der Empfänger von Tausch- und Freiexemplaren. 3 Edgar Jaffé und Paul Siebeck trafen sich zwischen dem 13. und 17. August 1903 in Freudenstadt, wo Siebeck sich zur Kur aufhielt.
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20. August 1903
Marianne Weber 20. August PSt 1903; Brügge Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Weber war bis zum 1. September 1903 zur Erholung in Belgien und in den Niederlanden.
Brügge 20/8 L. Schn. – soweit wäre ich glücklich umtelescopierta.1 Man verliert unterwegs 2 Stunden d[urch] die Anschlüsse, sonst könnte man in 11½ Stunden in Ostende sein von uns aus. Bei Verviers erinnerte ich mich des ersten „erschütternden“ Ereignisses meines Lebens: der Zug-Entgleisungb vor nun 35 Jahren.2 Das „Erschütternde“ dabei war mirc nicht Alles das, was vorging, sondern der Anblick eines dem Kind so erhabenen Wesens, wie einer Lokomotive, wie ein Betrunkener im Graben liegend – die erste Erfahrung von der Vergänglichkeit des Großen u. Schönen dieser Erde. – Hoffentlich geht es Dir in Ruhe gut – keine Herzzustände etc. Bitte schreib mir baldigst, ob der Contrakt unterzeichnet ist.3 Hier ist Regenwetter u. wird es wohl vorerst bleiben. Adresse schreibe ich heut Abend.4 Herzlichst Max
a Unsichere Lesung. b 〈anno〉 c Unsichere Lesung. 1 Der Sinn konnte mangels lexikalischen Nachweises des Wortes nicht entschlüsselt werden. 2 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 3 Marianne Weber schickte in ihrem Brief an Max Weber, undat. [23. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, „die beruhigende Nachricht, daß Siebeck ohne Abänderung Jaffé’s Vertrag unterschrieben hat.“ Zu den Verhandlungen um den Kauf des AfSSp vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70. 4 Vgl. die Karte an Marianne Weber vom selben Tag aus Ostende, unten, S. 123.
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Marianne Weber PSt 20. August 1903; Ostende Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Ostende Donnerstag L. Schnauz – 5
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ich bin also bei den „Genossen“ in der a„Hôtellerie du Peuple“a1 untergekommen, sehr billig (Zimmer, 1. Frühstück u. Abendessen 3 fr. 50), Mittags will ich frei sein, – sehr bescheiden, aber anscheinend (noch) sauber, das Publikum offenbar kleine Beamte u. bessere Arbeiter, gut angezogen, sauber u. still. Nun, wollen mal sehen, wie es geht. Wetter sehr unsicher, jetzt schön, warm. Hoffentlich geht es bei Euch Alles gut, u. Du kommst zur Ruhe [.] Einstweilen nur herzl. Gruß Max
a–a O: „Hotellerie du peuple“ 1 Das Volkshotel wurde von einer sozialistischen Kooperative betrieben.
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21. August 1903
Marianne Weber PSt 21. August 1903; PSt Ostende Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schn. Es ist Schandwetter, aber man sitzt im Paletot1 am Strand u. läßt es über sich ergehen. Schlaf, da einige deutsche „Genossen“ im Hotel sind2 u. es deshalb doch nicht ganz ruhig ist – trotz der Anschläge, welche „die Ruhe des Arbeiters, die er teuer erkauft habe, nicht zu stören bitten“ – noch etwas knapp. Essen ganz ordentlich u. sehr reichlich, gespart wird nur an Handtüchern, Servietten u. Tischtüchern. Sonst ist Alles recht sauber, u. für 4½ fr. pro Tag (incl. Bier) wirklich sehr preiswerth. Mit mir sitzen lauter Deutsche aus aller Herren Ländern (England, Holland, Belgien, Westfalen, Österreich), teils mit etwas Anflug von klassischer Bildung, teils ohne, junge Kaufleute u. Redakteure. Aus Belgien sind auch flämischea Arbeiter da. Mindestens so anständig wie der deutsche Hochgebirgstourist im Eibsee3 benehmen sich die Leute durchweg, zumeist wesentlich höflicher u. weniger aufgeblasen. Unterhaltung ziemlich stereotyp, aber ganz nett u. unbefangen. – Die kleinen Nachbarbäderb Middelkerke pp. sind f[ür] mich nicht geeignet, wenn das Wetter besser wird, fahre ich einmal nach Nieuport. In Brügge sah ich vor der Fahrt hierher noch die wunderbarsten alten Spitzen im Musée Gruuthusec,4 bis ins 10te Jahrhundert (angeblich) herauf, die schönsten aus dem 15. Jahrh[undert] – pro Meter ca. 10 Jahre Arbeit kostend. – Wie geht es Dir? Herzlichst Dein Max a O: vlämische b Überschreibung möglicherweise von Marianne Webers Hand. c O: Gruuthuus oder: Groothues 1 Doppelreihiger, leicht taillierter Herrenmantel mit Samtkragen und meist aus schwerem Stoff gefertigt. 2 Max Weber hatte Quartier in der Hôtellerie du Peuple, einem von einer Kooperative betriebenen „Volkshotel“, gefunden. 3 Am Eibsee hatten Max und Marianne Weber im Sommer 1899 Ferien gemacht (vgl. Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 254). 4 Das Hôtel Gruuthuuse in Ostende, das ehemalige Palais einer Patrizierfamilie, beherbergte damals u.a. das „Museum van Kantwerken“ oder „Musée de Dentelles“. Diese Sammlung exquisiter Spitzen des 12. bis 17. Jahrhunderts – eine Schenkung der Baronin Augusta Liedts – befindet sich heute im „Brangwynn Museum“.
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Marianne Weber PSt 22. August 1903; Ostende Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt. Der 22. August 1903 war ein „Sonnabend“.
Ostende, Volkshotel (a Hôtellerie du Peuplea) Sonnabend früh. L. Schnauzel – 5
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noch keine Nachricht von Dir heut früh – hoffentlich hast Du meine Adresse bekommen u. geht Alles gut. Ich habe mir gestern Nieuport angesehen – es ist schön u. ruhig, freilich keineswegs einfach. Aber ich glaube [,] ich bleibe hier, hoffe nur, daß das jetzige Landwindwetter mit Nebel u. Regen bald aufhört u. frischer Seewind kommt, so wie jetzt ist es nicht erfrischend. – Ich schlafe etwas knapp, aber immerhin genug, bekomme heut ein andres Zimmer, welches kaum anders als „schön“ genannt werden kann, dabei 3 Fr. für Zimmer, Frühstück, Diner – Abends will ich allein auswärts essen. Die „Genossen“1 sind ganz nette gute Kerle, die keiner Katze, geschweige einem Fürsten, etwas thäten. Dabei freut man sich an der großen Manierlichkeit der Leute, die ist weit besser als sonst bei Deutschen im Ausland. Dabei herrscht hier, im Ausland, ein spezifisch nationaler Ton – strenge Absonderung von den Wallonen u. Franzosen. In Bezug auf Frauen durchaus patriarchalische Anschauungen à la Quincke.2 Köstlich die Erörterungen über eheliche Treue: das Recht der Frau gilt als Recht am Leibe des Mannes bzw. dessen Funktionen, – Differenz der Anschauungen, ob (nach „Naturrecht“) die Frau ein absolutes Monopol habe oder ob es genüge, daß der Mann sich (auf Reisen) nicht schwäche u. sie so „verkürze“ – höchst drastische Witze dabei – die Verheiratheten sind für die strengere Ansicht. Fabrikarbeiter sind natürlich wohl nur aus Belgien hier u. sehr wenige. Herzl. Gruß – Max a–a O: Hotellerie du peuple 1 Die Gäste des von einer sozialistischen Kooperative betriebenen „Volkshotels“. 2 Es konnte nicht ermittelt werden, ob Max Weber den Physiker Georg Quincke, einen Kollegen an der Heidelberger Universität, oder dessen Bruder, den Mediziner Heinrich Quincke, meinte.
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23. August 1903
Marianne Weber PSt 23. August 1903; PSt Ostende Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum und der Ort sind erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt: Mit „hier“ ist Ostende gemeint, wo sich Max Weber in der „Hôtellerie du Peuple“, einem von einer sozialistischen Kooperative betriebenen Hotel, seit dem 20. August 1903 einquartiert hatte.
L. Schnauzel – schönen Dank fürs Kärtchen – hoffentlich geht es weiter gut u. Du kommst ganz zum Ausruhen. Hier ist das Wetter noch so wenig erfrischend, daß der Kopf seine Umkrempelung noch nicht begonnen hat. Von meinen „Genossen“ hatte ich gestern mit dem Einen, einem sehr netten Herrenmaßschneider (Zuschneider) aus Paris, eine lange Unterhaltung, – bei zwei anderen aus London, einem Schneider u. einem Schuster, mußte ich immer an des alten Rümelin1 Classifikation der Menschen in Schuster u. Schneider denken (weißt Du noch, wie wir in Freiburg die Leute darnach einteilten?) – Hier stimmt die Sache einmal wieder vollständig. Ich zahle jetzt nur 4 fr. hier für den ganzen Tag, dabei giebt es Mittags Suppe u. 3 Gänge, Abends warmes Fleisch u. Nachspeise, u. das Zimmer ist groß u. freundlich. Die Leute essen wohl manchmal mit dem Messer, – aber im Übrigen sind sie wie gesagt äußerst manierlich, u. auf der Promenade sind sie reichlich so elegant wie ich, u. weit eleganter als ich in Papa Sisto’s2 Kunstwerk. Ostende ist doch sehr schön, prachtvolle Läden, Restaurants etc. – es conzentriert sich nicht Alles so wie in Scheveningen, im Kursaal. Freilich fehlt der dortige Park u. der Haag, der durch Brügge u. Gent immerhin nicht ganz ersetzt wird. – Lebwohl, ich will an den Strand, – herzlichst Dein Max
1 Nach Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 733, handelt es sich um den württembergischen Politiker Gustav Rümelin. Der genaue Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 2 Ein Londoner Schneider namens Max Sisto (ebd., S. 734).
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Marianne Weber PSt 24. August 1903; PSt Ostende Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum und der Ort sind erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt.
L. Schnauzel –
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gestern wehte vor meinem Fenster eine rothe Fahne von riesigen Dimensionen u. es war ein gewaltiger Rabatz mit Arbeitermarseillaise1 etc. – der Musikverein der Brüsseler Gewerkschaften füllte das Haus bis aufs letzte, sie machten übrigens ganz brillante Dilettanten-Musik, auch auf dem Kursaal hatte man sie zu spielen gebeten. – Man erfährt bei den Unterhaltungen doch manches Interessante, so über die Pariser Damen-Maß-Schneiderei – merkwürdig genug, daß alle feinsten Geschäfte in den Händen von Deutschen (Österreichern) sind u. fast alle gelernten Arbeiter, ebenso sind grade die hochgelerntena Schuster (Arbeiter) Londons in den Maßgeschäften zu ½ Deutsche, letzteres, wie die Leute einstimmig meinten, weil die englische Arbeiterfrau teils versoffen, teils unwirtschaftlich sei, zu großen Aufwand treibe, u. daher die Kinder zu früh mit verdienen müßten u. nicht ordentlich lernen könnten, daher in die Fabriken müßten. Auch über die englischen Wohnverhältnisse erzählten die beidenb Londoner – Mitglieder des dortigen Internat[ionalen] Communistischen Arbeiter-Vereins2 [–] recht Interessantes, die Teurung ist doch ganz gewaltig, ebenso die Steuern – nur diec hygienisch-moralische Seite der Mietskaserne macht diese offenbar auch ihnen verhaßt. Beide haben eigne Häuser. Mein
a Alternative Lesung: fachgelernten b 〈Mi〉 c 〈sex〉 1 Die „Arbeitermarseillaise“ wurde von Jacob Audorf im September 1864 für Ferdinand Lassalles Totenfeier zur Melodie der „Marseillaise“ gedichtet. Das Lied entwickelte sich in der Folge zu einer Art Hymne der Sozialdemokratie und wurde erst kurz vor Ende des 1. Weltkrieges durch die „Internationale“ verdrängt. 2 Der Kommunistische Arbeiterbildungsverein war 1840 in London als Deutscher Arbeiterbildungsverein von Mitgliedern des Bundes der Gerechten, einer Gruppe von frühsozialistischen deutschen Emigranten, gegründet worden. Der bis 1919 bestehende Verein warb für eine kommunistische Gesellschaftsordnung, bot kommunistischen Vordenkern wie Wilhelm Weitling, Karl Marx und Friedrich Engels ein Diskussionsforum und wurde zum Vorläufer des Bundes der Kommunisten.
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24. August 1903
Pariser Schneiderchen ist heut mit meinem Baedekerd3 u. dem Buch über Brügge4 dorthin gefahren sich die Stadt anzusehen – ich glaube [,] daß von der Protzenbande, die man hier auf dem Damm sieht, 5 nicht der 10te auf die Idee käme, daß das lohnte. Ich werde jetzt mit 4 Fr. Pension als „Genosse“ behandelt (andre zahlen 4,50), obwohl die Leute natürlich wissen, daß ich keiner bin u. wer ich bin. – Vielen Dank für Deine Kärtchen. Herzlichst Dein Max
d O: Bädecker e Alternative Lesung: Deine 3 Karl Baedeker hatte erstmals 1834 ein „Handbüchlein“ für Belgien-Reisende herausgegeben (Baedeker, Belgien und Holland). Welche Auflage Max Weber besaß, ist nicht bekannt. 4 Es konnte nicht ermittelt werden, um welches Buch es sich handelte. 5 Ostende galt seinerzeit als das vornehmste Seebad Belgiens. Der bis zu 30 m breite Dünendamm war Ostendes Flaniermeile am Meer und erstreckte sich – an den großen Hotels sowie dem Kurhaus vorbei – vom West- bis zum Oststrand.
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Marianne Weber [25. August 1903]; [Ostende] Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum ist erschlossen in Verbindung mit dem Brief an Marianne Weber vom 26. August 1903, unten, S. 131 f., in welchem Max Weber den im folgenden herbeigesehnten Wetterwechsel erwähnt, sowie aus dem Zusammenhang mit den undatierten Briefen Marianne Webers an Max Weber vom [23.] und [24. August 1903] (vgl. dazu Anm. 3 und 1).
L. Schn.
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Natürlich müßt Ihr zum Oberamtmann.1 Ich würde mich dann freilich an Eurer Stelle, da der Mann Euch ja an technischer Kenntnis weit überlegen ist, wesentlich auf das Anhören beschränken u. vor Allem sehr kühl u. sachlich-ruhiga bleiben u. nur geltend machen, daß Ihr 1) aus sozialen Gründen mit den verwaltungstechnischen Gesichtspunkten nicht paktieren könntet, – 2) principiell, solange das Gesetz (§ 180) nicht geändert ist, 2 diese höchst fragwürdige, den Schein u. nicht die Sache treffende, Maßregel nicht acceptieren könntet u. alle Mittel dagegen ergreifen müßtet, um die Frage der Gesetzes-Änderung ins Rollen zu bringen. – Der Großherzogin würde doch wohl erst nach der Unterredung mit Herrn Becker zu antworten sein. Diesen müßtest Du um Angabe einer passenden Stunde vorher bitten. – Wenn doch das ewige Regen- und Landwind-Wetter aufhörte. Ich habe so nicht recht das Gefühl vorwärts zu kommen, 3 Tage scharfer Seewind brächa Alternative Lesung: sachlich ruhig 1 In ihrem Brief an Max Weber, undat. [24. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, berichtete Marianne Weber von der Reaktion der Großherzogin Luise von Baden auf eine von Hunderten von Heidelbergerinnen unterzeichnete Eingabe gegen die Wiedereröffnung von Bordellen (vgl. Eine Eingabe an das Bezirksamt, in: Heidelberger Zeitung, Jg. 45, Nr. 161 vom 14. Juli 1903, 1. Bl., S. 2, sowie: Aus Stadt und Land. Der Protest der Frauen, in: ebd., Nr. 187 vom 13. Aug. 1903, 2. Bl., S. 2). Zwar lehnte die Großherzogin die Forderung ab, schlug aber einen Besuch beim zuständigen Oberamtmann, Julius Becker, vor, um sich von diesem die Ablehnungsgründe erläutern zu lassen. 2 Nach § 180 des RStGB war Kuppelei unter Strafe gestellt, wenn sie „gewohnheitsmäßig oder aus Eigennutz“ betrieben wurde. Bordelle wurden im „Kuppelei-Paragraphen“ jedoch nicht ausdrücklich erwähnt und es war übliche Praxis, daß sie seitens der staatlichen Behörden nicht nur toleriert, sondern sogar konzessioniert und besteuert wurden. Das änderte sich erst, als 1927 der wie folgt lautende Abs. 2 eingefügt wurde: „Als Kuppelei gilt insbesondere die Unterhaltung eines Bordells oder eines bordellartigen Betriebs.“
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25. August 1903
ten mich auf den Damm. Heut fahre ich nach Gent, da in Ostende doch nichts los ist, u. man bei Regen nirgends recht sitzen kann. Es ist ekelhaft. Schönen Dank fürs Briefchen. Martinis werde ich antworten.3 Ich komme jedenfalls Sonntag. Herzlichst Dein Max
3 Max Weber bezieht sich auf Marianne Webers Bitte, Alessandro und Carlotta Martinis eingetroffenes „Briefchen“ zu beantworten (Brief von Marianne Weber an Max Weber, undat. [23. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Das Ehepaar betrieb eine Pension in Rom, in der Max und Marianne Weber zuletzt im Frühjahr 1903 zu Gast gewesen waren, und hatte zum Tod von Eduard Schnitger kondoliert (Carlotta und Alessandro Martini an Max Weber vom 20. Aug. 1903, ebd.).
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Marianne Weber PSt 26. August 1903; PSt Ostende Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum und der Ort sind erschlossen aus dem Poststempel des beiliegenden Briefumschlags und dem Briefinhalt.
L. Schnauzel –
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heute endlich ist es schönes klares Wetter mit etwas Seewind. Bleibt es so, dann fahre ich voraussichtlich morgen (Donnerstag) per Dampfer nach Vlissingen u. von da in das kleine Seebad Domburg um dort, wo es wunderschön sein soll (Wald u. offener Strand) [,] noch einige Tage auf holländischem Boden zu verbringen; Holland hat doch mehr Poesie als das Land hier, welches ein nicht ganz klares Mittelding zwischen Frankreich u. den Niederlanden ist, – auch in seinen Städten, so viel Schönes es in Gent z.B. zu sehen giebt. Brügge freilich ist eine Stadt für sich, das eingeschlafene Mittelalter. Aber auch die Badeorte hier – die kleineren – sind einförmiger, mit großen Kasernenbauten, z.T. in luxuriösem Stil. – Hier schwatze ich auch zu viel mit den „Genossen“,1 – oft ganz interessant, aber nun ists genug. – Deine regelmäßigen Karten erregten ihren Neid: „ich habe 4 Frauensleute in London u. kriege nix!“ meinte der Londoner Schuster, 2 ein etwas rüder – der einzige dieser Art – aus Österreicha, an Domaszewskib3 erinnernd. Die andren waren wirklich im Ganzen eine angenehme, höfliche, weder zudringliche noch zugeknöpfte Gesellschaft, die meisten recht gescheutc u. witzig, manche mit erheblichen höheren Interessen. Schreibe bitted nach hier, nach Domburg |:bei Vlissingen, Niederlande:|4 poste restan-
a O: Östreich b O: Domaszewsky c Veraltet für: gescheit d also > bitte 1 Max Weber war seit dem 20. August 1903 in Ostende und wohnte in der „Hôtellerie du Peuple“, einem von einer sozialistischen Kooperative betriebenen Hotel. 2 Vgl. den Brief an Marianne Weber vom 23. Aug. 1903, oben, S. 126. Der Name konnte nicht ermittelt werden. 3 Alfred von Domaszewski bekleidete einen Lehrstuhl für Alte Geschichte in Heidelberg. 4 Max Webers Aufenthaltsort vom 27. bis zum 30. August 1903.
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te enur dann, wenne ichf bis morgen Abend Dirg telegraphiere.5 Sonntag/Montag komme ich wieder. Herzlichst Dein Max
e–e , falls > nur dann, wenn f 〈nicht〉 g etwas Andres > Dir 5 Das Telegramm, dessen Erhalt Marianne Weber in ihrer Karte an Max Weber, undat. [28. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, bestätigt, ist nicht nachgewiesen.
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Marianne Weber PSt 27. August 1903; [Ostende] Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Die Karte ist in Middelburg abgestempelt, der Schreibort ist aus dem Inhalt der Karte erschlossen. Max Weber verfaßte sie unmittelbar vor seiner Abreise aus Ostende.
Liebe Schnauzel –
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da es heut wieder schön ist, fahre ich also jetzt mit einem kleinen Dampfer nach der Insel Walcheren (südlichste Insel Hollands), nach Vlissingen u. Middelburg, mit einem „Genossen“1 zusammen, der morgen zurückfährt. Ich gehe dann heut Abend weiter nach Domburg an der Westspitze von Walcheren, per Post erreichbar, denn jetzt möchte ich gerne einige Tage noch allein haben, da der Schlaf hier knapp ist u. man zu viel schwatzt. Gestern lernte ich den |:einen:| Führer der belgischen Sozialisten u. ihren größten Organisator, Anseele, kennen. Er kam mit 300 Kindern mit rothen Schlipsen, roten Federn am Hut, die von der Partei jährlich ausgewählt u. auf eine Ferienreise nach dera Schweizb, an die See etc. geschickt werden. Sie sangen amc Abend allerliebste Lieder. Es steckt ein gewaltiger Enthusiasmus in den Leuten. Auch Frauen, nach denen Du fragst, 2 sind hier, spielen aber die 2te Rolle, die Franzosen sind höflich, die Deutschen mehr patriarchalisch gegen sie. Von Frauenstimmrecht u. dgl. wollen die Genossen nichts wissen. – Herzl. Gruß Dein Max Drück doch Frau Rathgen meine herzlichste Teilnahme aus, es ist ja wunderbar, daß das Kind noch immer lebt.3 a Fehlt in O; der sinngemäß ergänzt. b Unsichere Lesung. c Fehlt in O; am sinngemäß ergänzt. 1 Ein sog. Winkelconsulent aus Dortmund, vgl. die Karte an Marianne Weber vom 28. Aug. 1903, unten, S. 135 f., dessen Name nicht ermittelt werden konnte. 2 Es handelt sich um die Antwort auf Marianne Webers Frage in ihrem Brief an Max Weber, undat. [25. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446. 3 Marianne Weber berichtete in ihren Briefen an Max Weber, undat. [21.] und [23. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, über den lebensbedrohlichen Zustand des Kindes von Emilie und Karl Rathgen und eine deshalb erforderliche Notoperation. Es konnte nicht ermittelt werden, um welche der drei Töchter von Emilie und Karl Rathgen (namens Cornelie, Magdalene und Irmgard) es sich handelte.
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Marianne Weber PSt 27. August 1903; Middelburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Middelburg – auf dem Wege nach Domburg: L. Schn. – der „Genosse“ (mit dem ich hierher fuhr) a1 u. ich hatten eine ziemlich stürmische Fahrt von Ostende nach Vlissingen mit beinaher allseitiger Seekrankheit – ich merkwürdigerweise nicht. – Hier ist heut die Donnerstagskirmeßb2 der Zeeländer Bauern in ihren verschrobenen Trachten, daher die Excursion, die ich benutze um billig nach Domburg zu kommen. Ich denke da ein paarc ruhige Tage zu haben u. etwa Montag Abend in Heidelberg zu sein, spätestens Dienstag Vormittag. – Hier liegt mir vis-à-vis ein wundervolles spätgothisches Rathaus3 – alle diese holländischen Städtchen haben Stimmung. Hoffentlich geht bei Dir weiter Alles gut – bis morgen Dein Max
a O: fuhr – b Donnerstagsmesse > Donnerstagskirmeß c O: par 1 Ein sog. Winkelconsulent aus Dortmund, vgl. die Karte an Marianne Weber vom 28. Aug. 1903, unten, S. 135 f., dessen Name nicht ermittelt werden konnte. 2 Donnerstags fand in Domburg gewöhnlich ab 13 Uhr der „Buttermarkt“ statt. Die „Kirmeß“ begann dagegen am vierten Donnerstag im Juli und dauerte zehn Tage. Vgl. Baedeker, Belgien und Holland, S. 329. 3 Das Rathaus von Middelburg wurde 1452–1458 von Mitgliedern der flämischen Architektenfamilie Keldermann erbaut.
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Marianne Weber PSt 28. August 1903; Domburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Domburg b. Vlissingen, Schuttershofa Freitag früh L. Schn. –
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Stanotte io fub il Fra Diav[olo].1 – Man sitzt hier hübsch unter grünen Bäumen hinter dem (bescheidenen) Hotel, – auch das feinere u. teurere Hotel hat einen schönen Garten, Wald ist nicht weit u. holländische Stimmung rundum. Der Buschwald geht bis an die Dünen, diese sind freilich wie überall hier gegen das Meer hin befestigt u. verbuhnt, 2 die Wellen sehr stark, wie in Ostende. Das Wetter ist unsicher, ich bleibe jedenfalls bis Sonntag hier, fahre dann direkt durch, soweit dies möglich. – Die „Genossen“ sind offenbar gern mit mir zusammengewesen u. nahmen sehr herzlich Abschied, natürlich verkehrt man absolut auf gleichem Fuß, denn trotz ihres fastc abergläubischen Respektes vord der „Wissenschaft“ ist ihnen der Professor nur ein Mann, dessen Eltern das Geld hatten ihn etwas lernen zu lassen. An Intelligenz stand übrigens auch der Durchschnitt nicht hinter dem Durchschnitt unsrer Collegen zurück. Der Winkelconsulent3 aus Dortmund (Hauptgegner Th[eodor] Möller’s),4 der mit mir bis Middelburg fuhr, früher Metzger-
a O: Schattershof b Unsichere Lesung. c 〈abg〉 d mit > vor 1 Anspielung auf Max Webers nächtliche Schlafstörungen und unkontrollierte Samenergüsse. 2 Gemeint ist: Mit Wellenbrechern gesichert. 3 Geringschätziger Ausdruck für einen Rechtsanwalt. 4 Theodor Möller, der Schwager von Max Webers Tante Hertha Möller, zog 1890 als natio nalliberaler Abgeordneter für den Wahlkreis Arnsberg 6 (Dortmund) erstmals in den Reichstag ein. Wahlunregelmäßigkeiten seiner Partei (vgl. Suval, Stanley, Electoral Politics in Wilhelmine Germany. – Chapel Hill: University of North Carolina Press 1985, S. 216 f.) beendeten jedoch 1895 Möllers Karriere als Reichstagsabgeordneter vorübergehend: In der Ersatzwahl vom Herbst 1895 unterlag er dem Kandidaten der SPD, Franz Lütgenau. Als Abgeordneter – nun für den Wahlkreis Düsseldorf 6 (Duisburg-Mühlheim a.d. Ruhr) – kehrte er von 1898 bis 1901 in den Reichstag zurück. Der Lebenslauf von Franz Lütgenau
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28. August 1903
geselle war, war sogar ein hervorragend gescheiter Kerl. Hoffentlich höre ich noch hierher was. Herzlichst Dein Max
paßt allerdings nicht zu Max Webers Angaben zum beruflichen Werdegang seines Reisebegleiters aus Dortmund. Zu den biographischen Angaben vgl. Walther, Heidrun, Theodor Adolf von Möller 1840–1925. Lebensbild eines westfälischen Industriellen (Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten, Band 25). – Neustadt an der Aisch: Degener 1958, S. 36 f.; Reibel, Carl-Wilhelm, Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten, 2 Bände. – Düsseldorf: Droste 2007, S. 739–744; Braun, Reinhold, Dr. Franz Lütgenau, in: ders., 125 Jahre SPD Leverkusen. 1868/69–1994. – Leverkusen: SPD Unterbezirk Leverkusen 1994, S. 75–77.
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29. August 1903
Marianne Weber PSt 29. August 1903; Domburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Domburg, Sonnabend früh. L. Schnauzel!
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Eben kam Dein liebes Briefchen – ich werde adoch wohla im Archiv bleiben,1 was ich fürchte [,] ist |:jetzt:| eher, daß J[affé]’s begreifliches Selbständigkeitsbedürfnis u. meine Gehemmtheit mir die Freude daran verderben wird, – ich habe ja z.B. bisher von nichts, was geschehen ist, erfahren, obwohl es nötig war nach d[em] Contrakt. Auf das |:nur:| „gelegentliche“ Berathen lasse ich mich nicht ein.2 – Die gute Mama – sie wird diese aufreibenden Dinge ja doch immer wieder machen, sie kann glaube ich nichts dran ändern u. ist Cl[ara]’s Egoismus gegenüber wehrlos.3 – Ob wir nicht Arthur u. Valborg einladen sollten, bei ihrer Rheinreise in unsrer Wohnung abzusteigen? Wir sind ja dann in Hamburg.4 Mama schrieb s.Z., sie wollten – wohl wegen
a–a wohl > doch wohl 1 Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber, undat. [27. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, berichtet, sie habe am Vortag Edgar und Else Jaffé besucht und ihre „schweren Bedenken“ wegen Max Webers geplanter Mitwirkung am AfSSp angesprochen: „sie waren sehr nett, möchten auf keinen Fall, daß Dir dadurch eine neue innere u. äußere Belastung entsteht u. stellen es Dir frei, ob Du Dich auf dem Titel als Mitherausgeber bezeichnen willst oder nicht.“ Sie fuhr fort: „Eventuell würde dann Jaffé Alfred o[der] Phillipovich bitten, meint aber natürlich, daß Du, auch wenn Du nichts weiter thätest als ihm von Zeit zu Zeit Ratschläge zu geben, Du für das Archiv höchst wertvoll u. thatsächlich Mitherausgeber seist.“ 2 Marianne Weber schilderte in ihrem Brief an Helene Weber vom 26. August [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, Max Webers Verärgerung über Edgar Jaffé, meinte jedoch, diese sei „nicht weiter tragisch“ und auf „Müdigkeit“ zurückzuführen: Der „Umstandskommissarius“ Jaffé sei „mit all seinen z.T. recht kleinlichen Bedenken betreffs des Archivs zunächst immer zu Max gekommen, hat auch allerlei verkorkst, was Max dann ins Reine zu bringen sich gedrungen fühlte, sodaß er dann schließlich zufolge aller Schreibereien u. Beratereien das ganze Archiv dick satt hatte u. Jaffé dazu.“ 3 Max Weber beklagte den ausbleibenden Besuch von Helene Weber in Heidelberg. 4 Max Weber nahm – wie beabsichtigt – an der vom 14. bis zum 16. September 1903 in Hamburg tagenden Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik teil und verbrachte im Anschluß daran einige Ferientage auf Helgoland, während Marianne Weber am 28. und
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uns – nur bis Mainz. – Hier ist der jämmerlichste Regen mit warmem südlichem Sturm, es ist recht ärgerlich, da ich nun auch nicht besonders schlafe, – nur ein einziger Tag Seewind, dann wäre ich zufrieden. Es ist hier doch reizend stimmungsvoll, man sitzt unter den niedrigen alten windzerzausten Bäumen hinter dem Hause, die Dünen u. das Toben des Meers wenige Minuten entfernt, schöne Villegiaturen5 mit Parks u. Wiesen unweit des Dörfchens – nur diese Ekel von Rheinländern stören etwas, sie sind doch weit öder als irgend ein Genosse.6 Es ist leer hier wie in allen Bädern – auch in Ostende, dort besonders, da die Spielbanken aufgehoben sind.7 Ich denke morgen zu fahren. Herzlichst Dein Max
29. September 1903 eine Tagung des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbe wegung in Hamburg besuchen wollte (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 18. Sept. [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 5 Es handelt sich um Landsitze für die Sommerfrische. 6 Max Weber hatte sich vom 20. bis 27. August 1903 in der von einer sozialistischen Genossenschaft betriebenen „Hôtellerie du Peuple“ in Ostende einquartiert gehabt. 7 In Belgien war am 10. Oktober 1902 ein Gesetz über das Verbot von „Spielhäusern“ bzw. „Spielhöllen“ in Kraft getreten (vgl. Schulthess 1903, S. 273 f.).
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Marianne Weber 29. August PSt 1903; Domburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Domburg 29/8 L. Schn. –
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nun ist es doch wunderbares Wetter geworden – der Himmel ganz klar, frischer Wind, starke Wellen, u. dann ist es hier doch ganz reizend, etwas eng auf dem kleinen Strand, aber dafür doch weniger Spektakel als z.B. in Borkum1. Ich will mir mal noch ein paara von den allerliebst im dichten Grün liegenden Pensionen ansehen, es wäre für später doch einmal vielleicht nett, hierher – entfernt von der Eisenbahn – gehen zu können. Hätte ich jetzt mein Schnauzch[en] da, bliebe ich glaube ich noch. Aber so „wird mirs draus zu kahlb“.2 – Daß Jaffé einen Prospekt bei VfSP verteilen will, ist mir an sich nicht sehr sympathisch, es sieht doch sehr Colportage-artig aus u. ist Braun gegenüber unvorsichtig, so lange von diesem Chikanen drohen,3 – wir haben uns dann öffentlich festgelegt. – Ich zahle hier 4½ Gulden gegen 4 Fr. in Ostende u. sehe jetzt erst voll, wie preiswerth die Sache dort war. M r Anseele glaubt, später auf 3½, vielleicht 3 Fr. herabgehen zu können. Er ist ein erstaunlicher Organisator.4 Herzlichst Dein Max
a O: par b Unsichere Lesung. 1 Max Weber bezieht sich auf seinen Aufenthalt auf Borkum im August/September 1902. 2 Vermutlich ein Zitat aus dem als Studentenlied populären Gedicht „Alt-Heidelberg“ von Victor von Scheffel. 3 Zu Max Webers Bedenken wegen des AfSSp vgl. die Karte an Marianne Weber vom selben Tag, oben, S. 137 f. Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Max Weber, undat. [27. Aug. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, von Edgar Jaffés geplanter Werbeaktion und von Heinrich Brauns Weigerung berichtet, die Abonnentenzahl der Zeitschrift zu nennen. 4 Max Weber hatte den belgischen Arbeiterführer Edward (Edouard) Anseele in Ostende – bei seinem Aufenthalt in der von einer sozialistischen Genossenschaft betriebenen „Hôtellerie du Peuple“ – kennengelernt (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 27. Aug. 1903, oben, S. 133).
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Marianne Weber PSt 30. August 1903; Domburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Weber hat die vorliegende Karte unmittelbar vor seiner Abreise aus Domburg verfaßt und laut Poststempel unterwegs in Rosendaal aufgegeben.
Domburg Sonntag L. Schnauzel – ich fahre jetzt gleich mit einem Wagen nach Middelburg, um dort in dem Zug nach Antwerpen zu fahren, da bleibe ich die Nacht u. gehe den andern Tag weiter via Brüssel nach Aachen oder Köln, von wo ich Dienstag Nachmittag (spätestens 6 Uhr 30) nach Heidelberg komme. – Heut habe ich einen weiten Spaziergang gemacht, man kann stundenlang durch dichten Eichenwald hinter den Dünen laufen. Das Laufen ging ganz gut, aber es macht mir den Kopf doch sehr müde. Schön ist es hier, die alten Linden u. Eichen schauen in die Zimmer und flüstern, u. hinter den Dünen fordert das Meer tobend das ihm von Rechts wegen längst verfallene Land. Der Tag heut war wundervoll, auch hatte ich tüchtig geschlafen. Jetzt will ich mir nun noch den „Vooruit“ in Brüssel – Gewerkschaftshaus u. Verkaufsmagazin der Sozialdemokraten1 – ansehen, dann habe ich genug u. komme zum Schnäuzchen. Irgend einmal sollten wir doch nach Holland oder Zeeland an die See. Herzlichst Dein Max
1 Max Weber meint vermutlich das 1896–1899 in Brüssel nach den Plänen des Architekten Victor Horta gebaute, spektakuläre „Maison du Peuple“. Die belgischen Arbeiterkonsumgenossenschaften – und insbesondere die 1881 in Gent gegründete Kooperative „Vooruit“ (auf dt.: Vorwärts) – waren um die Jahrhundertwende vorbildhaft. Sie sorgten zunächst für ein erschwingliches Angebot an Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs, förderten aber darüber hinaus durch ihren wirtschaftlichen Erfolg die politische Entwicklung der sozialistischen Bewegung und setzten mit ihren „Volkshäusern“ oder „Volksheimen“ auch architektonisch Maßstäbe.
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Großherzogliches Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts, Karlsruhe 11. September 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigem Zusatz Max Webers GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 72–73 Im Zentrum dieses Briefes sowie eines weiteren an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 22. November 1903, unten, S. 185, und des Briefes an Franz Böhm vom 22. November 1903, unten, S. 184, steht die Frage nach Webers Pensionsansprüchen, die durch seine Dienstentlassung aufgeworfen wurde. Weber wurde am 18. Juni 1903 vom Badischen Großherzog „unter Anerkennung“ seiner „hervorragenden Leistungen“ zum 1. Oktober 1903 in den Ruhestand versetzt (vgl. den Brief des Großherzoglichen Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts an Max Weber vom 24. Juni 1903, GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 135). Am 30. Juni bat Weber dann (wohl mündlich) darum, von der Auszahlung einer Pension vorerst abzusehen; laut Aktennotiz sei über die Sache aber in naher Zukunft weiter zu verhandeln (GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 68). Am 7. September erhielt Weber einen weiteren Brief des Ministeriums, in dem auf die Staatsministerialentschließung vom 25. April 1894 (ebd., Bl. 6) hingewiesen wurde, nach der bei Webers Berufung an die Universität Freiburg festgestellt wurde, daß seine Dienstzeiten in Preußen für den badischen Staatsdienst angerechnet werden sollten. Daher sollte Weber nun, zur Feststellung seines Ruhegehaltes, entsprechende Urkunden über die in Preußen erbrachten Dienstzeiten beibringen (ebd., Bl. 72). Darauf bezieht sich der hier wiedergegebene Brief. Im November kam es dann zu einer letzten mündlichen Verhandlung mit dem verantwortlichen Ministerialrat Franz Böhm, bei der Weber deutlich machte, daß ihm die Annahme einer Pension der Regierung und den Kollegen gegenüber peinlich sei, da er nur aufgrund des großen Entgegenkommens der Regierung in den letzten Jahren überhaupt noch im Amt verblieben sei. Stattdessen schlug er vor, sein Ruhegehalt dem volkswirtschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg zuzuschlagen (ebd., Bl. 76). Das Ergebnis der Unterredung war schließlich Webers Erklärung vom 22. November, unten, S. 185, laut der er endgültig auf das ihm nach seiner Entlassung zustehende Ruhegeld verzichtete. So ist es auch in Webers Standesliste im Ministerium eingetragen (ebd., Bl. 3). Zum Ablauf von Webers Dienstentlassung vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Franz Böhm vom 8. April 1903, oben, S. 45–47. Das Schreiben trägt am Briefkopf den Zusatz von der Hand Marianne Webers „In Urschrift“, bezeichnet also das Original des Schreibens.
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Dem Großherzoglichen Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts, mit dem ehrerbietigsten Bemerken zurückgereicht, daß hier ohne Zweifel ein Versehen vorliegt. – Ich habe in meinem ersten Gesuche um Dienstentlassung, auf welches ich in allen späteren Eingaben Bezug genommen habe,1 durch ausdrückliche Anführung des § 6 des Beam1 Max Weber hatte erstmals am 7. Januar 1900, unter Bezugnahme auf § 6 des Badischen Beamtengesetzes, um Dienstentlassung ersucht (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 92–93; MWG II/3). Darauf bezog Weber sich dann auch in seinem 2. Gesuch vom 26. März 1902 (GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 41–42; MWG II/3).
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tengesetzes2 und durch die Art der Begründung klar gestellt, daß es sich nicht um ein Gesuch um Pensionierung, sondern um einen Antrag auf Dienstentlassung, rechtlich also um freiwillige Aufkündigung des Dienstverhältnisses, verbunden mit der Bitte um außeretatsmäßige Verwendung handelte. Diese Bitte ist mir gewährt worden. – Ob ich überhaupt Pensionsansprüche |:gehabt:|a haben würde, ist mir sehr zweifelhaft, da ich in Preußen allerdings mit Wirkung (in Bezug auf die Gehaltszahlung) vom 1. Oktober 1893 ab etatsmäßig angestellt war, die Ernennungsurkunde jedoch erst vom 25. November 1893 datiert.3 Besäße ich aber auch solche Ansprüche, so hätte ich niemals daran gedacht, sie geltend zu machen, und werde dies auch ferner nicht thun. Auch unterliegt es keinem Zweifel, daß auch von seiten derjenigen Instanzen, welche seitens des Großherzoglichen Ministeriums die Verhandlungen über meine Entlassung mit mir geführt haben, mein Antrag nicht anders aufgefaßt worden ist, als vorstehend wiedergegeben wurde. – Hiernach dürfte sich die Vorlage der eingeforderten Urkunde wohl erübrigen. Ehrerbietigst bProfessor Max Weberb
a Eigenhändig. b–b Eigenhändig. 2 § 6 des Badischen Beamtengesetzes aus dem Jahr 1894 betraf den freiwilligen Dienstaustritt: „Dem Ansuchen eines Beamten um Entlassung aus dem staatlichen Dienste ist zu entsprechen, sofern er seine rückständigen Amtsgeschäfte erledigt und über eine ihm etwa anvertraute Verwaltung von öffentlichem Vermögen vollständige Rechnung abgelegt hat. Mangels besonders getroffener Bestimmungen kann verlangt werden, daß der freiwillig ausscheidende Beamte noch ein Vierteljahr von der Stellung des Ansuchens an im Amte verbleibe und die ihm aus Staatsmitteln für seine Ausbildung gewährten Unterstützungen, wozu übrigens Unterrichtsstipendien nicht zu rechnen sind, zurückerstatte. / Der freiwillig ausscheidende Beamte verliert mit dem Dienstaustritt seine Ansprüche auf Diensteinkommen und Ruhegehalt.“ Das Badische Beamtengesetz und die Gehaltsordnung, diese in der Fassung vom 9. Juli 1894, nebst Ergänzungsvorschriften, 2., neu bearbeitete Aufl. – Karlsruhe: J. Lang’s Verlagsbuchhandlung 1902, S. 3. 3 Vgl. dazu das Ernennungsschreiben des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten an Max Weber vom 25. Nov. 1893 (Humboldt-Universität Berlin, UA, Juristische Fakultät 494, Bl. 78). Daß die Besoldung rückwirkend ab dem 1. Oktober 1893 gültig war, geht aus dem Bestallungsschreiben vom 25. November 1893 hervor, mit dem Max Weber zum Extraordinarius berufen wurde (GStA PK, I. HA, Rep. 76, Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 4 5, Bd. 5, Bl. 144–146).
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Paul Siebeck 11. September 1903; Heidelberg Telegramm VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Das Telegramm wurde mittags um 12 Uhr aufgegeben. Vgl. dazu auch das nächste Telegramm Max Webers an Paul Siebeck vom Abend des gleichen Tages, unten, S. 144.
Gehen Sie nach Hamburg und wo logieren Sie?1 Weber
1 Weber bezieht sich hier auf die Generalversammlung des VfSp, die vom 14. bis 16. September 1903 in Hamburg stattfand. Paul Siebeck nahm nicht daran teil; er kehrte erst am 9. September von einer längeren Kur in Freudenstadt nach Tübingen zurück. Vgl. den Brief von Paul Siebeck an Edgar Jaffé vom 12. Sept. 1903 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169).
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Paul Siebeck 11. September 1903; Heidelberg Telegramm VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Das Telegramm wurde abends um 18.34 Uhr aufgegeben.
Nicht unbedingt nötig bitte nicht kommen1 Weber
1 Paul Siebeck hatte auf die telegraphische Anfrage Webers vom selben Tag, oben, S. 143, mit der Gegenfrage geantwortet, ob sein „Kommen dringend nothwendig“ sei (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446).
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Marianne Weber PSt 13. September 1903; Hamburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Zum Hintergrund: Max Weber war zur Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik gereist, die vom 14. bis zum 16. September 1903 in Hamburg tagte. Er nahm auch an der Ausschußsitzung teil, die vorab am 13. September stattfand. Im Anschluß verbrachte er einige Ferientage auf Helgoland.
Hamburg, Gläsener’s Hotel L. Schnauzel –
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hier ist gutes Wetter u. wenn es so bleibt, werde ich – trotz der empfindlichen Kühle – doch sicher etwas von Helgoland oder Sylt haben, worauf ich mich einigermaßen freue. Ich war bei Wilhelm M[üller] heute, dera immer sehr herzlich ist, ich denke ihn morgen zum Frühstück zu treffen mit Alfred. Ersteren habe ich noch nicht gesehen, überhaupt noch Niemand, doch beginnt gleich unsre Ausschußsitzung,1 zu der er ja sicher kommen wird. H[amburg] ist doch eine ganz fabelhaft schöne Stadt, Du mußt Dich dann auch ein bischen hier umsehen, wenn Du herkommst.2 Heut wird es hoffentlich mit Nora u. Ina recht behaglich sein.3 – Zu erzählen ist noch nichts, Reise u. Nachtschlaf waren mittlerer Güte. Morgen mehr, herzlichst Dein Max
a O: er 1 Max Weber meinte die erste Ausschußsitzung im Rahmen der Hamburger Tagung am Nachmittag des 13. September 1903; vgl. Protokoll über die Ausschußsitzungen des Vereins für Socialpolitik am 13. und 15. September 1903 in Hamburg (British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114). 2 Marianne Weber plante, die Tagung des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine vom 27. September bis 1. Oktober 1903 in Hamburg-Altona zu besuchen (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 18. Sept. [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 3 Max Webers Cousine Eleonore (Nora) Müller war mit ihrer Tochter Ina in Heidelberg zu Besuch. Vgl. dazu auch die Karte von Marianne Weber an Max Weber, undat. [13. Sept. 1903], ebd.
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Marianne Weber 14. September 1903; BK Hamburg Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Hotel Glaesener Neuer Jungfernstieg Hamburg, den 14/9 03 Lieber Schnauz! Nichts Neues – d.h. ich habe leidlich geschlafen u. gehe eben in die Versammlung des VfSP, nachdem ich gestern die Ausschußsitzung mitgemacht hatte.1 Es ist Nachts regnerisch, tags aber leidliches Wetter. Hoffentlich bleibt es so für Helgoland. Nachher hat uns – Alfred u. mich – Wilhelm Müller z[um] Frühstück in e[in] Restaurant geladen, Alfred ist noch nicht da von Salzburg, ich denke er kommt wohl heut. Er soll in S[alzburg] sehr gefeiert worden sein erfreulicherweise.2 Zu erzählen ist gar nichts – Sombart u. Jaffé sind auch noch nicht da, die Andren – Sering etc. – fragen alle nach Schnäuzchen. Die Prostitutionsfrage konnte ich diesmal noch nicht vorschlagen, 3 da der Verein für 3 Jahre voll mit Arbeit versehen ist u. beschlossen wurde, gar keine Vorschläge anzunehmen. Herzlichst Dein Max
1 Die Ausschußsitzung fand am Vorabend der Jahrestagung des VfSp statt, die vom 14. bis zum 16. September 1903 tagte. 2 In Salzburg hatte der „Verein für wissenschaftliche Ferienkurse“ vom 12. August bis zum 12. September 1903 erstmals eine Art Sommeruniversität veranstaltet, an der vornehmlich deutsche und österreichische Hochschullehrer, darunter auch Alfred Weber, unterrichtet hatten (zum Programm vgl. die Vorankündigung in: Ferienkurse in Salzburg, in: Heidelberger Zeitung, Jg. 45, Nr. 172 vom 27. Juli 1903, 2. Bl., S. 2). Ziel dieser Ferienkurse war es, die geplante Gründung einer katholischen Universität in Salzburg zu verhindern und stattdessen auf die Gründung einer staatlichen Hochschule hinzuwirken (vgl. Weber, Alfred, Die Salzburger Ferienkurse, in: Die Nation, Jg. 20, Heft 38, 1903, S. 598). 3 Marianne Webers Interesse an einer diesbezüglichen Untersuchung erklärt sich vermutlich aus dem Engagement der Heidelberger Frauenbewegung gegen die Wiedereröffnung eines Bordells (vgl. den Brief an Marianne Weber vom 25. Aug. 1903, oben, S. 129) sowie aus ihrer publizistischen Auseinandersetzung mit Vertreterinnen der abolitionistischen Bewegung (vgl. Weber, Marianne, Die Aufgaben des Abolitionismus, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 5, Heft 14, 1903, S. 105 f.).
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Marianne Weber PSt 15. September 1903; PSt Hamburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Liebe Schnauzele!
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Das wesentlichste Gekakle ist nun wohl vorbei, bis auf die Conferenz mit Sombart u. Jaffé morgen über die Zeitschrift [.]1 Gestern Abend saß ich bis gegen 12 mit den Leuten zusammen, heut halte ich mich mehr retiré u. werde meinerseits das Essen heut nicht mitmachen. Alfred, mit dem ich eben zusammen frühstückte, ist in Salzburg sehr gefeiert worden u. recht vergnügt, 2 will auch noch irgendwo an die See. Der Besuch der Versammlung ist ziemlich mäßig, immerhin sieht man vielea alte Bekannte u. spricht ein vernünftiges Wort mit Manchem. Vielen Dank für Dein Kärtchen, das ist ja nett, daß die beiden so vergnügt waren.3 Wilhelm M[üller], mit dem ich gestern frühstückte, ist ein recht einfacher, aber eben doch wirklich sehr netter Mensch. Oldenberg bat um einen Gruß an Dich. Herzlichst Dein Max
a O: viel 1 Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber planten die Übernahme des „Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik“. Vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70. 2 Alfred Weber hatte an Ferienkursen in Salzburg mitgewirkt (vgl. den Brief an Marianne Weber vom 14. Sept. 1903, oben, S. 146 mit Anm. 2). 3 Marianne Weber hatte Max Webers Cousine Eleonore (Nora) Müller und deren Tochter Ina zu Gast gehabt (vgl. dazu die Karte an Marianne Weber vom 13. Sept. 1903, oben, S. 145 mit Anm. 3).
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Marianne Weber PSt 17. September 1903; PSt Hamburg Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schnauz. Gestern war ein schlechter Tag – heute geht es u. ich fahre eben nach Helgoland, Villa Gädke. Alfred u. Sombart fahren auch hin, ich gehe dann wohl morgen nach Sylt oder Amrum weiter. Das Wetter ist sehr schwankend. – Alfred hat hier sehr gut gesprochen,1 ist sehr frisch überhaupt. Ich habe Frenssen’s kennen gelernt, 2 sehr viele Leute gesprochen, es war doch recht nett. Besondres ist nicht zu erzählen – ich schreibe in der Droschke nach der Landungsbrücke. Von Dir kam gestern (Mittwoch) nichts, heut ist es noch nicht da. Herzlichst Dein Max
1 Alfred Weber hatte sich auf der Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik mit einem längeren Diskussionsbeitrag zum Thema „Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900 ff.“ geäußert (Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter und über die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben der Jahre 1900 ff. (Schriften des Vereins für Socialpolitik 113). – Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 266–273). Nach dem Brief von Edgar Jaffé an Else Jaffé vom 17. September 1903 (Leo Baeck Institute, New York, Christopher Jeffrey Collection, Box 1–2, Folder 3) hatte sich Max Weber am ersten Abend der Tagung übernommen, war „daher die anderen Tage nicht frisch“ und deshalb auch nicht bei Alfred Webers Diskussionsbeitrag unter den Zuhörern. 2 Der Theologe und Schriftsteller Gustav Frenssen und seine Frau Anna Sophie.
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Marianne Weber [17.] PSt September 1903; Helgoland Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum erschließt sich aus der Tagesangabe „Donnerstag Abend“ und dem Poststempel vom Freitag, 18. September 1903. Max Weber benutzte eine Panoramapostkarte, die laut Aufdruck „Helgoland vom Dampfer aus“ zeigt.
Helgoland, Emperor of Austria, Donnerstag Abend. L. Schnauzel – 5
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ich bin hier, Adresse: Emperor of Austria, habe mit Alfred zusammen 3 Zimmer, sehr hübsch, |:Veranda-:|Balkon mit bequemen Stühlen nach dem Meere zu, glaube [,] daß ich hier bleiben werde. Vorerst sind noch Brentano, Sombart u.A. da, die aber wohl morgen fortgehen u. nicht mit uns wohnen. Das Wetter ist milde u. windig, die Fahrt war schön. Ich hoffe nun auf recht schöne Ruhe. Herzlichst Dein Max
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Edgar Jaffé [18. September 1903]; Helgoland Brief; eigenhändig Privatbesitz Das Datum ist aus dem Inhalt des Briefes und in Verbindung mit dem Schreibort erschlossen.
Helgoland, Emperor of Austria Freitag. Lieber Herr Doctor! Mit Jastrow wird es jetzt nichts werden. Er verlangt „zwischen 1– u 2000 M“ für Calwer u. das Bogenhonorar für sich für Berichterstattung der gewünschten Art, die also weit umfangreichera gestellt werden müßte, als der Raum zuläßt, ganz abgesehen von der pekuniären Unmöglichkeit.1 Vielleicht ist er später einmal billiger zu haben, 2 er ist jetzt sehr geschwollen. a 〈f〉 1 Ignaz Jastrow hatte zusammen mit Richard Calwer und anderen im Juli 1903 eine Studie über die „Krisis auf dem Arbeitsmarkte“ vorgelegt (Die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900ff., 5. Band: Die Krisis auf dem Arbeitsmarkte (Schriften des Vereins für Socialpolitik 109). – Leipzig: Duncker & Humblot 1903), worüber Jastrow am 15. September 1903 auf der Generalversammlung des VfSp auch referierte (Verhandlungen des Vereins für Socialpolitik über die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter und über die Störungen im deutschen Wirtschaftsleben während der Jahre 1900ff. (Schriften des Vereins für Socialpolitik 113). – Leipzig: Duncker & Humblot 1904, S. 169–184). Vermutlich hatte Weber nach der Versammlung versucht, von Jastrow und/oder Calwer einen Artikel für das AfSSp zu dieser Thematik zu erhalten. Ein Aufsatz darüber ist jedoch im AfSSp nicht nachgewiesen. Einem Brief von Edgar Jaffé an Else Jaffé vom 17. September 1903 (Leo Baeck Institute, New York, Christopher Jeffrey Collection, AR 25348, Box 1, Folder 3) ist zu entnehmen, daß Weber und Sombart die Aufgabe übernommen hatten, Beiträger für permanente Literaturberichte zu gewinnen. Auch die Entwurfsfassungen für den Prospekt zur Übernahme des „Archivs“ heben noch (im Gegensatz zur schließlich abgedruckten Fassung) den Willen hervor, ab 1904 permanente sozialpolitische Berichterstattungen abzudrucken (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Im Falle Jastrows ist es jedoch nicht dazu gekommen. (Zu weiteren Kooperationsabsichten mit Jastrow vgl. auch die Briefe Max Webers an Ignaz Jastrow vom 10. Okt. 1903, unten, S. 165 f., und an Paul Siebeck vom 21. Okt. 1903, unten, S. 179 mit Anm. 1.) Erst 1909 konnte Richard Calwer als ständiger sozialpolitischer Berichterstatter vertraglich an das AfSSp gebunden werden. Sein erster Bericht traf jedoch auf so heftige Ablehnung von Weber und Jaffé, daß der Vertrag sofort wieder gekündigt wurde. An Calwers Stelle trat dann Emil Lederer. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 3. Dez. 1909 (MWG II/6, S. 326). 2 Ignaz Jastrows erster Artikel für das AfSSp erschien erst 1914.
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Dagegen will Brentano eine Besprechung der Arbeit eines seiner Schüler über die „Entwicklung der Angriffe auf das Eigentum“ – so umschrieb er die Sache – machen, wesentlich historisch (Franziskaner-Eigentumstheorie), 3 aber m.E. dennoch für uns geeignet, wie noch mündlich zu erörtern sein wird. Ebenso hat er halb u. halb zugesagt, Sombart zu rezensieren, ich werde ihm nochmals darüber schreiben.4 Dr Graetz sprach ich hier, er möchte [. . .] b eine Dogmen- u Litteraturgeschichte der Cartellfrage von Kleinwächter5 an geben, will in ca 2 Monaten schreiben, bis wann sie fertig sein kann.6 Er macht übrigens wirklich einen recht angenehmen, wenn auch nicht grade bedeutenden Eindruck. – Ich bin hier gut untergekommen u. bleibe noch ca 5 Tage mit meinem Bruder7 zusammen. Auf Wiedersehen, mit bestem Gruß Ihr ergebenster Max Weber
b Lochung, ein Wort unleserlich. 3 Brentano, Lujo, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 251–271. Die Schrift ist eine Rezension des Buches von Glaser, Friedrich, Die franziskanische Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte sozialer Reformideen im Mittelalter (Münchener Volkswirtschaftliche Studien, hg. von Lujo Brentano und Walther Lotz, Band 59). – Stuttgart: Cotta 1903. 4 Gemeint ist eine Besprechung zu Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II, vgl. dazu den Brief an Lujo Brentano vom 4. Okt. 1903 und die Editorische Vorbemerkung, unten, S. 157–159. 5 Kleinwächter, Friedrich, Die Kartelle. Ein Beitrag zur Frage der Organisation der Volkswirthschaft. – Innsbruck: Wagner 1883. 6 Ein Aufsatz von Victor Graetz über Kartellfragen für das AfSSp ist nicht nachgewiesen. 7 Alfred Weber.
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Marianne Weber PSt 18. September 1903; Helgoland Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Helgoland, Emperor of Austria L. Schn. – Ich bin hier sehr behaglich, bei freilich recht mangelhaftem nebligem Wetter, auf dem Balkon nach der See zu, Tanggeruch, Salzgehalt der Luft etc. thun gut. Brentano u. die Andren1 sind abgereist, dagegen gerieth ich in Gesellschaft von Dr Th[eodor] Barth, Emmy Germershausen = Rickert2 etc., aber wesentlich bin ich doch alleine u. in Ruhe. Alfred ist sehr behaglich u. glänzend gestimmt nach seinen Erfolgen, 3 meist unterwegs, nur bei den Mahlzeiten sind wir zusammen. Ich wollte wohl, Schnäuzchen wäre hier,4 denke aber, auch so bekommt es gut. – Hat der kleine Lask noch nicht geschrieben?5 Schick mir bitte Alles hierher nach. – Lästig ist, daß man in Hamburg doch viel Geld los wurde, wesentlich für Droschken. Hoffentlich kommt heut noch Nachricht von Dir von Hamburg hierher nach, ich habe seit 3 Tagen nichts gehört. Herzlichst Dein Max
1 Nach der Tagung des Vereins für Socialpolitik vom 14.–16. September 1903 waren Max Weber, Lujo Brentano, Werner Sombart und einige andere Teilnehmer nach Helgoland gereist (vgl. die beiden Karten an Marianne Weber vom 17. Sept. 1903, oben, S. 148 f.). 2 Emily (Emmy) Germershausen war Heinrich Rickerts Schwester. 3 Alfred Weber war als Dozent eines Ferienkurses in Salzburg und mit einem Debattenbeitrag auf der Versammlung des Vereins für Socialpolitik hervorgetreten. 4 Zu Marianne Webers kurzfristigem Entschluß, vor ihrer Teilnahme an der Tagung der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung in Hamburg noch ein paar Tage mit Max Weber in Helgoland zu verbringen vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte an Marianne Weber vom 20. Sept. 1903, unten, S. 155. 5 Eine Korrespondenz zwischen Max Weber und Emil Lask ist aus dieser Zeit nicht überliefert.
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Marianne Weber 19. September 1903; Helgoland Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Helgoland, Emperor of Austria Sonnabend 19.9.03. Mein liebes Schnauzchen – 5
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wenn Du dieses Briefchen bekommst, sind wir nun 10 Jahre zusammen u. es ist mir doch recht betrüblich, daß wir grade dann auseinander sind, zumal heute die ganze Herrlichkeit des Meeres im strahlenden Sonnenschein vor uns auf unsrem Veranda-Balkon liegt. Nun wollen wir hoffen, daß die nächsten 10 Jahre uns ebenso viel inneren Lebensreichtum bringen, wie es in unendlicher Fülle das verflossene Jahrzehnt gethan hat – wir sind uns ja noch heut so neu wie damals, nur daß der Eine den Weg zur Seele des Andren so viel sicherer gefunden hat. Ich denke heute mit Dankbarkeit zurück an jene complicierten, gespannten u. innerlich nicht ungefährlichen Zeiten von damals und daß der Zug des Schicksals mich so geführt hat wie es geschehen ist – alle andren Dinge, Ärgernisse und Hemmungen erscheinen dann so unsäglich klein u. nebensächlich. – Hier ist es jetzt ruhig, d.h. ich vertrage die Gesellschaft von Menschen: Dr Barth,1 Sombart etc. Mittags u. Abends bei Tisch trotz langer u. recht interessanter Unterhaltungen recht gut, schlafe genug etc., Alfred ist behaglich u. gar nicht strapazant diesmal, – immerhin ziehe ich mich heut auf das Segelboot, die Düne u. den Balkon zurück, da ich doch nicht das Bedürfnis nach Gesellschaft habe nach den letzten Tagen, diea recht interessant, – auch für das Archiv recht fruchtbar waren.2 Sombart ist einfach ein Kind, mit der Brutalität u. Ungezogenheit eines solchen, aber mehr noch mit seiner Unentwickeltheit, innerenb Unsicherheit u. eigentlich der Sehnsucht nach irgend einem aufrichtigen Freunde. Man kämpft immer halb mit Mitleid halb mit Ärger und a 〈für d〉 b Alternative Lesung: innern 1 Der Publizist und linksliberale Politiker Theodor Barth. 2 Zu Max Webers Akquise von Beiträgen für das AfSSp vgl. den Brief an Edgar Jaffé vom 18. Sept. 1903, oben, S. 150 f.
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Degout, 3 wenn er so Abends seine Bekenntnisse losläßt. – Er ist eben in einer ekelhaften Lage in Breslau in jeder Hinsicht.4 Wann kommst Du denn nach Hamburg?5 Ich denke Mittwoch hier abzureisen, Donnerstag Abend bei Euch zu sein, hoffentlich reicht das Geld so lange. Nun leb wohl, laß Dir einen langen Kuß geben u. bleib mir gesund u. gut bis ans Ende unsrer Tage [.] Dein Max Alfred grüßt sehr.
3 Frz. für: Ekel, Widerwille oder Abneigung. 4 Werner Sombart war seit 1890 Extraordinarius in Breslau. Da er im Ruf stand, Sozialist zu sein, scheiterten mehrere Berufungen auf ein Ordinariat. Seine Ehe mit Felicitas Sombart kriselte seit langem; hinzu kam seine Liebesbeziehung zu der ebenfalls verheirateten Marie Briesemeister (vgl. Lenger, Friedrich, Werner Sombart. 1863–1941. Eine Biographie. – München: C.H. Beck 1994, S. 172 f.; hinfort: Lenger, Sombart). 5 Marianne Weber plante, zu einer Tagung des radikalen Flügels der bürgerlichen Frau enbewegung nach Hamburg zu reisen (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 18. Sept. [1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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Marianne Weber PSt 20 September 1903; Helgoland Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Marianne Weber hatte sich kurzfristig entschlossen, vor der geplanten Teilnahme an der Tagung des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine in Hamburg-Altona noch ein paar Tage mit Max Weber auf Helgoland zu verbringen (ihre beiden Karten an Max Weber, undat. vom [18.] und [19. September 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
Helgoland, Emperor of Austria L. Schn.
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Fahre doch sofort, spätestens Dienstag früh 10 Uhr, nach Hamburg, Hannoverscher Bahnhof (Retourbillet mit Freigepäck), geh dort in Streit’s Hotel (Droschke nehmen! es giebt keinen Omnibus), Morgens 8 Uhr geht der Dampfer hierher von St Pauli-Landungsbrücke ab (mit Droschke dorthin ¼ Stunde zu fahren), Du bist dann um ½ 3 Uhr hier, iß’a auf dem Dampfer etwas. Ich freue mich schrecklich. Dein Max Nimm Geld oder Checkbuch mit!
a O: ißt
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2. Oktober 1903
Kuno Fischer 2. Oktober 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers und von ihr mitunterzeichnet UB Heidelberg, Heid. Hs. 2618
Heidelberg, 2. Okt. 03. Hochverehrter Herr Geheimrat, von der Reise zurückkehrend,1 finden meine Frau und ich hier zu unsrer größten Bestürzung die Nachricht von dem Hinscheiden Ihrer Frau Gemahlin.2 Bei unsrer völligen gesellschaftlichen Vereinsamung ist es uns nicht vergönnt gewesen, ihr mehr als nur ganz flüchtig nahe zu treten, allein wir wissen von denen, welche den Vorzug genossen haben in Ihrem Hause verkehren zu dürfen, in wie hohem Maße sie es allzeit verstanden hat mit ihrem klugen, klaren und doch so empfindungswarmen Sinn für die Wirklichkeit des Lebens uns mit ihrem feinen Verständniß für Ihre geistigen Bedürfnisse und Ansprüche Ihnen und damit der Wissenschaft und uns Allen Ihre unschätzbare Arbeitskraft und Arbeitsfreude lebendig und von den Widerwärtigkeiten des Daseins unberührt zu erhalten. Sie war sich der verantwortungsvollen Aufgabe, die ihr an Ihrer Seite oblag in vollem Umfange bewußt und sicherlich wie Wenige gewachsen und schon der flüchtige Eindruck lehrte, wie sehr das Bewußtsein von der Bedeutung dieser Pflicht ihrem Leben Reichtum und Höhe verliehen hatte. Niemand, der ihre vornehme Art kennen gelernt hatte, wird sie vergessen. Es ist wahrlich ein hartes Schicksal, dasa Ihnen an der Schwelle des Alters mit diesem Verlust widerfährt und mit den weitesten Kreisen der wissenschaftlichen Welt empfinden auch wir die wärmste Anteilnahme. Die unvergleichliche Weite Ihres Lebenswerkes wird Ihnen niemals ersetzen können, was Sie mit ihr verloren haben, aber wir glauben, daß die Höhe auf der Sie stehen, Ihnen doch andre Möglichkeiten sich mit diesen Erfahrungen, welche, wie Sie einmal so schön gesagt haben [,] „auch erlebt sein wollen“ auseinanderzusetzen bieten wird, als den meisten Andren. In aufrichtiger Verehrung bProf. Max Weberb und Marianne Weber a O: daß b–b Eigenhändig.
1 Weber meint die Reise nach Hamburg zur Ausschußsitzung und Generalversammlung des VfSp mit anschließendem Aufenthalt auf Helgoland ab dem 17. September 1903. 2 Christiane Louise Fischer, geb. Kirchhoff.
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Lujo Brentano 4. Oktober 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigem Zusatz Max Webers BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 161−164 Im Mittelpunkt dieses Briefes sowie der weiteren Briefe und Karten an Lujo Brentano vom 10. Oktober 1903, unten, S. 162–164, 9. und 28. März, 22. Mai 1904, unten, S. 198 f., 206–208 und 225, 19. Februar 1905, unten, S. 427 f., an Gustav Schmoller vom 14. Dezember 1904, unten, S. 415–417, und an Heinrich Sieveking vom 1. Dezember 1904, unten, S. 408, stehen die ersten beiden Bände von Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II, die 1902 erschienen waren. Während das Werk sogleich intensiv besprochen wurde, etwa von Max Adler, Georg von Below, Hans Delbrück, Willy Hellpach, Rudolf Hilferding, Friedrich Naumann, Franz Oppenheimer oder Ferdinand Tönnies, wurde es von den Nationalökonomen zunächst kaum wahrgenommen; Schmollers Rezension (Schmoller, Gustav, [Rezension zu: Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N.F., Jg. 27, Heft 1, 1903, S. 291–300) war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, fand jedoch nicht Webers Beifall. Insbesondere die vermeintliche Oberflächlichkeit der Kritiken waren Weber ein Ärgernis. Nicht zuletzt deshalb bemühte er sich lange Zeit, Lujo Brentano als Rezensenten der beiden Bände für das „Archiv“ zu gewinnen; dieser lehnte jedoch spätestens im Dezember 1904 endgültig ab (vgl. Webers Brief an Gustav Schmoller vom 14. Dezember 1904, unten, S. 415–417). Ende Januar/Anfang Februar 1905 kam es jedoch in der „Nation“ zu einer kurzen Debatte zwischen Brentano und Sombart über den angeblich „parasitären“ Charakter kapitalistischer Handelsunternehmungen (vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 19. Februar 1905, unten, S. 427). Augenscheinlich fand sich auch kein anderer Nationalökonom zu einer Rezension für das „Archiv“ bereit, so daß schließlich keine Besprechung im AfSSp erscheinen konnte. Diesen Zustand beklagte Weber 1904 auch öffentlich in einer Fußnote im ersten Aufsatz seiner „Protestantischen Ethik“: „Als geradezu blamabel muß das Verhalten der deutschen nationalökonomischen Kritik gegenüber diesen Arbeiten bezeichnet werden. Der erste und lange Zeit einzige, der eine eingehende sachliche Auseinandersetzung mit gewissen historischen Thesen Sombarts unternommen hat, war ein Historiker […]. Was aber gegenüber den eigentlich national ökonomischen Teilen von Sombarts Arbeiten an Kritik ,geleistet’ worden ist, wäre mit dem Ausdruck ,platt’ wohl noch zu höflich bezeichnet.“ (Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 155, Fn. 1). Diese Äußerung schien Gustav Schmoller schließlich auf sich bezogen zu haben, wie aus Webers Brief an ihn vom 14. Dezember 1904 hervorgeht. Max Weber selbst hat es übrigens abgelehnt, das Werk Sombarts für Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ zu rezensieren. Nachdem sein Bruder Alfred nur zögerlich auf eine Anfrage reagiert hatte, fragte Braun bei Max Weber an, der aber schließlich jemand anderen vorschlug (vgl. die Briefe von Heinrich Braun an Max Weber vom 5. November und 7. Dezember 1902 und vom 19. April 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Am 12. April berichtete Heinrich Braun an Werner Sombart (Leo Baeck Institute, New York, Julie Braun-Vogelstein Collection, AR 25034, Part I, Box 4, Folder 3), daß er Ludwig Sinzheimer als Rezensenten gewonnen habe. Diesem sagte er dann im Oktober aber wieder ab (Heinrich Braun an Werner Sombart, 12. Oktober 1903, ebd.), weil er nun davon ausging, daß Brentano die Besprechung übernehme.
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Heidelberg, 4.10.03 Hauptstr. 73II Hochverehrter Herr Geheimrat, Sie haben mir auf Helgoland1 eine ganze und eine halbe Zusage gegeben; die erstere bezüglich einer kurzen Notiz über eine Arbeit über die franziskanischen Eigentumstheorien, 2 die letztere bezüglich einer eventuellen Besprechung von Sombart’s Kapitalismus [.] − Ich verspreche Ihnen, hochverehrter Herr Geheimrat, für alle Zukunft Sie nicht nach übler Redakteurgepflogenheit zu drängen, in Fällen, wo ich weiß, daß es Ihnen lästig ist. Wenn ich diesmal eine Ausnahme davon mache, bezüglich des Sombart’schen Buches, so geschieht dies, weil ich eine Besprechung desselben durch einen unsrer führenden Gelehrten für absolut sachlich geboten halte und die Schmol ler’sche mehr pikante als sachliche Auslassung schlimmer ist als gar keine Besprechung. − Es handelt sich ja natürlich absolut nicht um ein Kritisieren der Einzelaufstellungen Sombart’s oder überhaupt um eine systematische Zergliederung seiner Ansichten: das mag nachhera den Einzelarbeiten Jüngerer überlassen bleiben, und ich werde mich bezüglich der methodischen Seite daran auch meinerseits künftig beteiligen. Worauf es vielmehr ankommt [,] ist, daß dem Buche gegenüber der kritiklosen Bewunderung Einzelner und gegenüber dem abgünstigen Neide sehr Vieler, deren Auge allein an den Geschmacksentgleisungen Sombarts haftet u. die vor lauter Schadenfreude über mancherlei Thörichtes, was es enthält, jede Anerkennung des Tüchtigen, was auch darin steckt, vergessen, − daß, gegenüber all’ diesem subjektiv befangenen Aburteilen, von einer Seite, welche die nötige Autorität dazu besitzt u. die Sombart selbst als solche unbedingt anerkennt, dem Buche sein richtiger Platz inn|:erhalb:|b der wissenschaftlichen Arbeit der letzten Zeit zugewiea 〈in〉 b Eigenhändig. 1 Im Anschluß an die Generalversammlung des VfSp in Hamburg reiste Max Weber in Begleitung mehrerer Teilnehmer der Tagung, u.a. Lujo Brentano, am 17. September 1903 nach Helgoland. Brentano verließ die Insel bereits am 18. September. Vgl. die Karte Max Webers an Marianne Weber vom 18. Sept. 1903, oben, S. 152 mit Anm. 1. 2 Brentano, Lujo, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 251–271. Es handelt sich dabei um eine ausführliche Rezension des Buches von Friedrich Glaser über die franziskanische Bewegung. Vgl. den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 18. Sept. 1903, oben, S. 151 mit Anm. 3.
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sen wird. Es wäre von unschätzbarem Werte, wenn Ihr Urteil, welches Sie mir privatim im wesentlichen dahin aussprachen, daß das Buch seine Bedeutung und seinen Wert behält, gleichviel ob wenig oder selbst nichts von seinen Einzelaufstellungen sich dauernd haltbar erweist, auch öffentlich bekannt würde. Der „Mut zu irren“ ist in unsrerc „Epoche“ des historisierenden Detailhandels in unsrem Fach so sehr abhanden gekommen, daß er einer Auffrischung dringend bedarf, − sonst dienen die Unzulänglichkeiten, welche Sombart’s Konstruktionen anhaften, wieder nur dazu, die theoretische Arbeit als solche zu diskreditieren. Es ist also, wie ich ehrlich glaube, nicht nur das vulgäre Redakteurinteresse, sondern ein sachlich begründetes u. wichtiges Interesse der Wissenschaft, dem ich diene, wenn ich Ihnen die Bitte um eine Besprechung von Sombart’s Kapitalismus nochmals dringend an’s Herz lege.− Mit Vergnügen erwarten wir s. Z. Ihre freundlich in Aussicht gestellten Artikel über die Franziskaner. Der Abschluß des 1. Heftes im Manuskript wird im Januar erfolgen müssen, um sein Erscheinen Ende März zu ermöglichen.3 Sollte Ihnen dieser Zeitpunkt unbequem sein, so steht natürlich das 2. Heft zur Verfügung, wie wir Sie überhaupt bitten jederzeit über den Raum der Zeitschrift zu disponieren. Mit ausgezeichneter Hochachtung d Ihr ergebenster Max Weberd
c 〈Zeit〉 d–d Eigenhändig. 3 Das erste Heft des AfSSp erschien am 14. April 1904.
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Ignaz Jastrow 4. Oktober [1903]; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigem Zusatz Max Webers British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114 Das Jahr wurde aus dem Inhalt des Briefes erschlossen. a Heidelberg
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Verehrtester Herr Kollege, Sie haben mir s. Z. eine entschiedene Absage gegeben,1 trotzdem versuche ich mein Glück mit einer andren Sache. Selbst wenn das Scherl’sche Sparsystem nicht eingeführt wird, 2 bleibt es nötig unter allgemeinen Gesichtspunkten die Thatsache zu beleuchten, daß die Regierung auf diesen ungeheuren Leim zu kriechen geneigt war nur in der Hoffnung die staatserhaltende Gesinnungslosigkeit zu stärken.3 a–a Eigenhändig. 1 Vgl. dazu den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 18. Sept. 1903, oben, S. 150 mit Anm. 1. 2 Das sog. Scherlsche Sparsystem wurde seit Beginn der 1890er Jahre von den Sparkassen und Nationalökonomen diskutiert. Auf Vorschlag des Verlegers August Scherl sollte in diesem System der Spieltrieb der Bevölkerung (Lotterien) dem Spartrieb nutzbar gemacht werden. Die wöchentlichen Einzahlungen der Sparer, die zwischen einer halben und 4 Mark liegen und bei der Lohnauszahlung abgeholt werden sollten, gewährten eine Mitbeteiligung an einer Prämienverlosung. Über die Gewinner unterrichtete eine noch zu gründende wöchentliche Zeitschrift, die von allen Teilnehmern zu abonnieren war. Den Sparkassen sollten dabei die Einlagen zufließen, die Zinsen aber dem zur Durchführung der Lotterie, zum Druck der Zeitschrift etc. zu gründenden Unternehmen. 1891 schloß der Deutsche Sparkassenverband einen Vertrag mit Scherl und beantragte beim preußischen Innenministerium die Genehmigung zur Einführung des Systems, die jedoch verweigert wurde. Seit Mitte der 1890er Jahre wuchsen auch die Zweifel bei den Vertretern der Sparkassen, so daß schließlich auch Scherl selbst sich von seinem Plan distanzierte. 1905 erklärte der preußische Innenminister Bethmann Hollweg die Frage nach der Einführung des Systems seitens des Ministeriums für abgeschlossen, solange nicht von den Sparkassen selbst neue Vorschläge gemacht würden. 3 Das Preußische Staatsministerium vertrat während einer Sitzung am 14. März 1903 trotz aller Vorbehalte die Ansicht, daß das Scherl’sche Sparsystem ein „Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie“ sein könne. Am 2. Juli 1903 trat Reichskanzler Bülow an gleicher Stelle für die Unterstützung des Systems ein, denn „die der Monarchie und der Staatsregierung freundliche Haltung der Scherl’schen Preßerzeugnisse ist als Unterstützung im Kampfe gegen die staatsfeindlichen Elemente von nicht zu unterschätzendem Werte und deshalb tunlichst zu erhalten.“ Zilch, Reinhold (Bearb.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Band 9: 23. Oktober 1900 bis 13. Juli 1909 (Acta Borussica. Neue Folge, 1. Reihe: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, hg. v.
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Ich erinnere mich einer Auseinandersetzung in der staatsw[issenschaftlichen] Ges[ellschaft] in Berlin, bei der Sie auf das glücklichste die geschäftlichen Motive des Herrn Scherl namentlich die Monopol artige Stellung auf dem Inseratenmarkt, die sein Blatt erwarten würde, analysierten.4 Wollen Sie nicht, so knapp oder so eingehend Sie wollen [,] uns etwas Derartiges geben?5 Hätten wir es in einigen Wochen [,] so könnte es noch ins Frühjahrsheft.6 Mit besten Empfehlungen bMax Weberb
b–b Eigenhändig. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, unter der Leitung von Jürgen Kocka und Wolfgang Neugebauer). – Hildesheim u.a.: Olms-Weidmann 2001, S. 108, 111. 4 Laut einer Liste der Vorträge, die von 1883 bis 1903 in der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft in Berlin gehalten wurden, hat sich dort weder Ignaz Jastrow, noch sonst jemand mit dem Scherlschen Sparsystem auseinandergesetzt (Vorstand der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft (Hg.), Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin. 1883–1983. – Berlin: Duncker & Humblot 1983, S. 130–137). Ob ggf. die „kleine staatswissenschaftliche Gesellschaft“ gemeint ist, an deren zweiwöchigen Treffen Max Weber regelmäßig teilnahm, ist nicht zu klären (vgl. MWG I/4, S. 914 f.). Ein Vortrag oder Aufsatz zu diesem Thema von Jastrow ist nicht nachweisbar (vgl. Jastrow, Ignaz, Verzeichnis sämtlicher Schriften. – Berlin: Carl Heymanns 1929). 5 Spätestens im Januar 1904 muß Jastrow einen Aufsatz zu diesem Thema für das AfSSp abgelehnt haben. Vgl. die Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 6. Jan. 1904, unten, S. 195. 6 Im AfSSp erschien schließlich: Schachner, Robert, Kritik des Scherl’schen Prämiensparsystems, in: AfSSp, Band 21, Heft 1, 1905, S. 151–161.
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Lujo Brentano 10. Oktober 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Helene Webers mit eigenhändigen Zusätzen Max Webers BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 157−158 Max Weber reagiert in diesem Brief offensichtlich auf eine Anfrage Lujo Brentanos, die nicht mehr nachzuweisen ist. Dem Briefinhalt nach beschäftigte sich Brentano zu dieser Zeit mit Fragen der protestantischen Wirtschaftsethik und dem Calvinismus. Publizi stisch fand dies jedoch 1903/04 keinen direkten Niederschlag. Zu nennen wäre allenfalls sein Aufsatz für das 1. Heft des neuen AfSSp (Brentano, Lujo, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 251–271), die eine Auseinandersetzung mit Friedrich Glasers Buch über die franziskanische Bewegung und ihre sozialen Reformideen im Mittelalter bietet (vgl. dazu Max Webers Brief an Edgar Jaffé vom 18. September 1903, oben, S. 150 f., sowie an Lujo Brentano vom 28. März 1904, unten, S. 206–208). Die von Max Weber genannten Literaturhinweise finden in diesem Artikel jedoch keine Erwähnung. Helene Weber war bis zum 13. Oktober zu Besuch in Heidelberg (vgl. die Karte Max Webers an Marianne Weber vom 12. Oktober 1903, unten, S. 168, mit Anm. 1).
Heidelberg 10/10 03. Hochverehrter Herr Geheimrath! Der Aufsatz von Troeltscha steht in der dritten Auflage der Realenzyklopädieb für protestantische Theologie und Kirche. Artikel: „Moralisten, englischec“.1 Die dort citirte Litteratur bietet nur sehr theilweise Brauchbares, der Aufsatz selbst auch nur einige, wenige Andeutungen für die ökonomische Seite der Sache, aus denen immerhin hervorgeht, daß Troeltschd das Wesentliche richtig gesehen hat. Gute Arbeiten1)e sind: Das Buch von Weingarten über die englischen Revolutionskirchen2 und Gooch’s „Democraticf Ideas“3[,] außerdem Bernsteins Aufg1)
aber, wie Alles, nur mittelbar für das Ökonomische der Sache von Werthg a O: Troelsch b O: Realenziklopädie c O: englisch d O: Troelsch e Index eigenhändig. f O: „Demokratik g–g Fußnote eigenhändig. 1 Troeltsch, Ernst, Moralisten, englische, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. verbesserte und vermehrte Auflage, hg. von Albert Hauck, 13. Band: Methodismus in Amerika bis Neuplatonismus. – Leipzig: J.C. Hinrichs’sche Buchhandlung 1903, S. 4 36–461. 2 Weingarten, Hermann, Die Revolutionskirchen Englands. Ein Beitrag zur inneren Geschichte der englischen Kirche und der Reformation. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1868. 3 Gooch, George Peabody, The History of English Democratic Ideas in the Seventeenth Century. – Cambridge: University Press 1898.
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satz in der Geschichte des Sozialismus.4 Ich kenne von der kolossalen Litteratur über die Puritaner nur einen Theil, aber es würde mir ein Vergnügen sein soweit ich kann Ihnen geeignetes Material zu citiren, sobald ich weiß, um welche konkrete Frage es sich für Sie handelt. Das Aufsuchen der einzelnen Belegstellen bei den Moralisten selbst, würde für Sie eine unerhörte Zeitverschwendung bedeuten, auch sind die Äußerungen immer erst interpretirt und in ihrer praktischen Bedeutung noch geprüft brauchbar. Für Ihre freundlichen Hinweise auf die englischen „reports“5 danke ich verbindlich. Vor allem aber freue ich mich Ihrer, wenn auch befristeten Zusage betreffs des Sombart’schen Buches.6 Natürlich warten wir, zumal wir heute noch gar nicht wissen wie lange dieses Individuum [,] der Heinrich Braun [,] uns noch auf die Publikation der zwei Doppelhefte, die noch zu seinem Bande gehören7 – wird warten lassen und wann wir also endlich unsererseits zu Stuhle kommen werden. Ich denke mit Vergnügen an das wenn auch kurze Zusammensein8 und hoffe wie gesagt Ihnen eventuell irgendwie nützlich sein zu können. Falls Sie der Frage des Calvinismus näher treten. Ich werde im Laufe dieses Winters
4 Bernstein, Eduard, Kommunistische und demokratisch-sozialistische Strömungen während der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, in: ders. u.a., Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, 1. Band, 2. Tl., 5. Abschnitt: Die Vorläufer des neueren Sozialismus. – Stuttgart: Dietz 1895, S. 507–718. Vgl. auch den Brief vom 10. Dez. 1904 an Eduard Bernstein, wo Weber erneut auf diesen Aufsatz zu sprechen kommt, unten, S. 412. 5 Um welche Berichte es sich hier handelt, konnte nicht aufgeklärt werden. 6 Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Okt. 1903, oben, S. 157. 7 Heinrich Braun hatte sich im Kaufvertrag verpflichtet, den 18. Band des „Archivs“ unter seiner Herausgeberschaft bis zum Jahresende 1903 zu veröffentlichen. Laut diesem Vertrag sollte Anfang 1904 zunächst ein Doppelheft des AfSSp erscheinen, für das Braun seine Mitarbeit zusicherte (Staatsbibliothek zu Berlin, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 950; vgl. dazu auch: Braun-Vogelstein, Julie, Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus. – Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1967, S. 143). Edgar Jaffé und Paul Siebeck einigten sich schließlich im Dezember 1903 darauf, daß künftig keine Doppelhefte mehr erscheinen sollten, sondern 3 Hefte à 14 Bogen pro Band (Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 23. Dez. 1903, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169). Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Übernahme des AfSSp ist es schließlich nicht mehr zu einer redaktionellen Zusammenarbeit mit Heinrich Braun gekommen. 8 Max Weber spielt hier auf gemeinsam verbrachte Zeit auf Helgoland am 17./18. September 1903 an. Vgl. den Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 4. Okt. 1903, oben, S. 158 mit Anm. 1.
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für meinenh Louis’er Vortrag9 und einen Aufsatz für das Archiv10 die Quellen erneut durcharbeiten. Mit angelegentlichster Empfehlung Ihr aufrichtig ergebener i Max Weberi
h 〈Li〉 i–i Eigenhändig. 9 Webers Vortrag auf dem Kongreß zur Weltausstellung 1904 in St. Louis: The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: MWG I/8, S. 200–243. Ursprünglich hatte Weber die Absicht, über aktuelle Kontroversen in der agrarhistorischen Literatur Deutschlands zu sprechen, ließ diesen Plan aber doch wieder fallen (ebd., S. 209). 10 Weber, Protestantische Ethik I, II, MWG I/9, S. 97–215 und 222–425.
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Ignaz Jastrow 10. Oktober 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Helene Webers mit eigenhändigem Zusatz Max Webers British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114 Im Zentrum dieses sowie der Briefe und Karten an Edgar Jaffé, vor dem 12. Oktober 1903, unten, S. 167, und an Paul Siebeck vom 27. Dezember 1903, unten, S. 191 f., steht der sog. Bücher-Streit, der ab 1903 das Verhältnis zwischen Buchhändlern, Verlegern, Sortimentern, Gelehrten und Bibliothekaren schwer belastete. Im Kern ging es zunächst um die hohen Rabatte für Behörden, Bibliotheken und wissenschaftliche Institutionen in Groß- und Universitätsstädten, die die kleineren Sortimenter und Buchhändler in der Provinz benachteiligten. Zum 1. Januar 1903 wurden die Rabatte auf Druck des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zugunsten der Buchpreisbindung endgültig abgeschafft, nachdem vorhergehende Reformversuche gescheitert waren; lediglich Bibliotheken erhielten weiterhin kleine Rabatte. Im Auftrag des „Akademischen Schutzvereins“, der sich als Interessenvertretung der Wissenschaft und des Publikums gegenüber Buchhandel und Verlagswesen verstand und im gleichen Jahr gegründet wurde, publizierte Karl Bücher im Sommer seine Schrift: Der deutsche Buchhandel und die Wissenschaft. Denkschrift im Auftrag des Akademischen Schutzvereins. – Leipzig: B.G. Teubner 1903 (hinfort: Bücher, Buchhandel), die innerhalb eines Jahres drei Neuauflagen erlebte und insbesondere die Verlage scharf angriff. Dem Börsenverein warf er hauptsächlich vor, ein Kartell geschaffen zu haben, das die Buchpreise hoch und die Autorenhonorare niedrig hielte und somit dem Absatz wissenschaftlicher Literatur schade. Bücher löste damit eine sich über Jahre hinziehende Kontroverse aus. Auch Weber hatte den Wunsch, daß sich das AfSSp an der Debatte beteiligen sollte; u.a. war Eberhard Gothein als Beiträger vorgesehen, der jedoch schließlich absagte. Paul Siebeck, der im Dezember einen Vortrag zu dem Thema hielt, lieferte aus Zeitgründen keinen Beitrag. Im AfSSp fand der Bücher-Streit daher letztlich keinen Widerhall.
Heidelberg 10/10 03 Sehr geehrter Herr Kollege!
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Im Anschluß an unsere Unterredung in Hamburg1 komme ich zunächst auf meine Bitte zurück, daß Sie die Bücher’sche Schrift über den Buchhandel, vielleicht in Verbindung mit einigen Gegenäußerungen für das Archiv rezensiren oder, wenn Sie dies vorziehen, sich in einem selbständigen Essay über die ganze Frage Ihrerseits äußern möchten.2 Für letzteres wäre allerdings vielleicht erst im zweiten Heft Platz zu schaffen. Es handelt sich doch immerhin um ein Kulturpro1 Die Generalversammlung des VfSp tagte vom 14. bis 16. September 1903 in Hamburg, der Ausschuß bereits am 13. September. In diesen Tagen muß es zu einem Gespräch zwischen Jastrow und Weber gekommen sein. 2 Ein Artikel Ignaz Jastrows zu diesem Thema im AfSSp ist nicht nachgewiesen.
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blem von erheblichem Range und nur Sie verfügen neben der Beherrschung der allgemeinen Gesichtspunkte zugleich über dasjenige Maaß von geschäftlicher Erfahrung, welche erforderlich ist, um hier mitreden zu können. Ich schicke für alle Fälle zunächst die Schrift selbst, da Sie sie noch nicht kannten, mit; das Exemplar brauche ich keinesfalls mehr[,] da ja sicherlich bald eine zweite Auflage kommt.3 – Auf das andere |:besprochene:|a Problem kann ich bei der gegenwärtigen finanziellen Lage des Archiv’s für jetzt leider nicht zurückkommen4 und hoffe nur[,] daß dies künftig möglich sein wird. Sie hatten ja ganz recht mit der Bemerkung, daß diese Sache nicht unmittelbar eilig ist. Ich habe mich sehr gefreut unsere Bekanntschaft in Hamburg einmal zu erneuern und freue mich auch, Sie nun im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik zu wissen.5 Mit angelegentlichster Empfehlung und in ganz vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener bMax Weberb
a Eigenhändig. b–b Eigenhändig. 3 Bücher, Buchhandel (wie Editorische Vorbemerkung). 1904 erschien bereits die dritte, überarbeitete und vermehrte Auflage, ebenfalls bei Teubner in Leipzig. 4 Der Bezug ist unklar. Vielleicht ging es hier um die potentielle Kooperation zwischen dem AfSSp und dem „Arbeitsmarkt“. Vgl. dazu den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 21. Okt. 1903, unten, S. 179 mit Anm. 1. 5 Ignaz Jastrow wurde am 15. September 1903 in den Ausschuß kooptiert, wie aus dem gedruckten Sitzungsprotokoll hervorgeht (British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114).
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Edgar Jaffé [vor dem 12. Oktober 1903]; o.O. Karte; eigenhändig Privatbesitz Das Datum ist aus dem Inhalt der Karte erschlossen. Weber befand sich ab dem 12. Oktober alleine in Holland; da sich am Schluß der Karte eine Mitteilung Marianne Webers an Else Jaffé befindet, muß sie vor diesem Datum abgeschickt worden sein. Zudem handelt es sich um eine vorfrankierte deutsche Karte, die jedoch keinen Stempel aufweist. Sie kann daher nicht mit der Post an Jaffé gelangt sein. – Zur hier kurz angesprochenen Rezension zum Werk von Karl Bücher über den deutschen Buchhandel vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Ignaz Jastrow vom 10. Oktober 1903, oben, S. 165.
Lieber Herr Doctor!
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Braun wäre f. Lohnstatistik u. Haushaltsbudgets recht geeignet, ebenso Molkenbuhr f. den V[erein] f[ür] S[ozial-]Pol[itik].1 – Zwiedinecka hat Lohntheorie u. -Politik übernommen.2 Für Bücher werde ich auf Wille’s3 Rath an den Münchener Oberbibliothekar schreiben,4 ich weiß sonst nicht recht jemand, da Wille selbst nicht wollte. Das Zahlenmaterial betr. die Zeitschrift schicke ich dieser Tage.5 Besten Gruß! M.W.
a O: Zwidenek 1 Aufsätze Heinrich Brauns und Hermann Molkenbuhrs für das AfSSp sind nicht nachgewiesen. 2 Von Otto von Zwiedineck-Südenhorst sind drei Literaturübersichten im AfSSp zum betreffenden Thema nachgewiesen: Neuere Literatur über die Lohnfrage, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904, S. 203–224; Neuere Literatur über die Lohnfrage, I. Zur Kritik der Lohngesetze, in: AfSSp, Band 23, Heft 2, 1906, S. 622–646; Neuere Literatur über die Lohnfrage, II. Über Bestimmungsgründe der Lohnhöhe, in: AfSSp, Band 28, Heft 3, 1909, S. 478–509. 3 Es handelt sich um den Heidelberger Bibliothekar Jakob Wille. 4 Hans Schnorr von Carolsfeld war zu dieser Zeit Oberbibliothekar an der Universitätsbibliothek München. Ein Brief Max Webers an ihn ist nicht nachgewiesen, ebenfalls keine Arbeit von ihm im AfSSp. 5 Ein entsprechender Brief Max Webers ist nicht überliefert, aber am 15. Oktober 1903 schrieb Edgar Jaffé an Paul Siebeck über Berechnungen Webers, nach denen „Schmol lers Jahrbuch“ sowie die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ wesentlich mehr Silben pro Seite bei den Rezensionen hätten als das AfSSp; auch beim Satz der Abhandlungen sei das Verhältnis ungünstiger (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169). Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 21. Okt. 1903, unten, S. 179 f. mit Anm. 2.
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Marianne Weber PSt 12. Oktober 1903; Den Haag Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Max Weber reiste über Den Haag nach Scheveningen, wo er sich bereits vom 4. bis 19. Juni 1903 aufgehalten hatte (vgl. oben, S. 72–110). Sein neuerlicher Aufenthalt dort dauerte vermutlich bis zum 20. Oktober 1903 (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 18. Oktober 1903, unten, S. 178).
Haag, Bahnhof, Montag 3 Uhr L. Schnauz – nur e[inen] kurzen Gruß, ehe ich nach Scheveningen fahre, auch für die Mama, die die Karte hoffentlich noch bei Dir trifft1 u. die nun hoffentlich einmal auf länger u. nicht grade wenn ich schlapp bin zu uns oder mit uns wo andersa hin kommt. – Die Fahrt (3. Klasse) war recht gut u. behaglich, da die Coupés leer waren, die Nacht in Cöln mäßig, das Wetter hier ist erbärmlich schlecht, wird hoffentlich besser. Ich werde zunächst in m[einer] alten Wohnung – Dirk Hoogenraadstraat 113 – 2 nachfragen. Herzlichen Gruß Dein Max
a Alternative Lesung: Anders 1 Helene Weber verbrachte die ersten Oktobertage 1903 in Heidelberg. 2 In dieser Ferienunterkunft hatte sich Max Weber bei seinem vorangegangenen Aufenthalt in Scheveningen eingemietet gehabt.
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Marianne Weber PSt 12. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schnauz –
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ich bin in meiner alten Wohnung1 mit Pension (2½ Gulden den Tag) – d.h. Ontbijt2 morgens (Fleisch, Käse, Brot, Thee) Koffie um 1 Uhr (gebackener Fisch, Brot, Käs) u. „Diner“ um 6–6½ (Gemüse, Fleisch, Käse etc.) [–] untergekommen u. denke es wird so das Richtige sein. Das Wetter ist heut Nachmittag etwas besser, – hier ist Alles absolut tot, kein Mensch, kein Strandkorb, kein Laden auf, kurz einfach nichts. Aber wenn es sich aufklärt, ist das so nicht übel. Herzlichst Dein Max
1 Max Weber meinte die Ferienunterkunft in der Dirk-Hoogenraadstraat 113, die er bereits während seines vorangegangenen Aufenthalts in Scheveningen vom 4. bis zum 21. Juni 1903 gemietet hatte. 2 Ndl. für: Frühstück.
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13. Oktober 1903
Marianne Weber PSt 13. Oktober 1903; Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Scheveningen, Dirk-Hoogenraadstraat 113 L. Schnauzel. – Heut braust der Südweststurm. Es ist mild und warm hier, von Frieren keine Rede. – Die Sonne geht um 5 Uhr unter, die Dämmerung dauert bis 6, dann komme ich grade zum „Diner“ nach Haus u. gehe um 9 in die Klappe. Das herbstliche Meer ist, wenn die Sonne einmal durch die Wolken blickt, in seiner bleich-braunen Farbe – wie ein alter alter Mann – auch schön. Die Bäume sind noch relativ wenig herbstlich, die Wiesen stehen jetzt meist unter Wasser u. die massenhaften großen u. kleinen Windmühlen u. Windmühlchen, die das Wasser in die Kanäle pumpen, gestikulieren geschwätzig wie Taubstumme in der Luft her um u. thun sich wichtig in ihrer Unentbehrlichkeit. – Nun ist die Mama weg1 – man fürchtet jedesmal, es war das letzte – und Schnauzel allein, hoffentlich ruht es sich schön aus [,] damit es vergnügt ist [,] wenn zurückkommt Sein Max
1 Helene Weber war zu Besuch in Heidelberg gewesen.
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Marianne Weber PSt 13. Oktober 1903; [Scheveningen] Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Der Ort ist aus dem Briefinhalt erschlossen: Die Adreßangabe „Dirk Hoogenraadstraat 113“ verweist auf Max Webers Unterkunft in Scheveningen.
Dirk Hoogenraadstraat 113 L. Schn. –
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da ich nicht sicher bin, ob der Briefkasten am Kurhaus, in den ich heut Morgen meine Karte steckte, noch Stuhlgang hat, schreibe ich lieber noch einmal. – Es ist heute fabelhaft schön, warm mit mächtigem Wind u. tobendem Meere, der Strand liegt in einem dichten |:Sand-:|Staubschleier, der tief in die Straßen hinein einem das Gesicht krebsroth peitscht u. förmlich wund macht, – man legt sich auf die sonnenwarmen schwarzen Steine der Basalt-Buhnen1 u. wird |:dort:| durch den feinen Wasserstaub ganz eingepökelt. – Schlafen ist nicht viel, da ich kein Brom2 nehme. – Eben habe ich den Lunch – Thee, kaltes Fleisch – hinter mir u. gehe wieder zum Strand. Um 6 Uhr wird „diniert“. Ein mächtiger weiß-schwarzer Kater springt eben ins Fenster u. biedert sich an, – „bloß“ Schnauzel fehlt also! Schönste Grüße u. e[inen] herzl[ichen] Kuß Dein Max
1 Rechtwinklig zum Strand verlaufender wand- oder dammartiger Küstenschutz. 2 Die Verabreichung von Bromiden galt – insbesondere in Form des „Erlenmeyer’schen Bromwassers“ (vgl. Schwalbe, J., Zusammensetzung des Erlenmeyer‘schen Bromwassers, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, Jg. 29, Heft 43, 1903, S. 791) oder „Sandow’s Bromsalz“ – als probate Therapie bei der Behandlung von Nervenleiden. Marianne Weber hatte von ihrem Vater Eduard Schnitger, der Arzt war, davon erfahren (Brief von Marianne Weber an Max und Helene Weber, undat. [2. Jan. 1900], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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14. Oktober 1903
Marianne Weber PSt 14. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schnauzel – heute ist das Wetter mäßig, u. mein Kopf auch, da der Schlaf nicht kommen will u. ich das Trional1 zu Haus gelassen habe dummer Weise. Hätte ich nur erst ein paara gute Nächte, dann sollte es mir schon anders gehen u. das verfl. Helgoland aus dem Leibe kommen.2 – Es ist sehr warm hier nach wie vor, aber stete Neigung zum Regen. Ich wollte es käme ein scharfer Nordwest u. bliese den Himmel klarer. Hoffentlich geht Alles gut, herzlichst Dein Max
a O: par 1 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone. 2 Max Weber hatte sich bei seinem vorausgegangenen Aufenthalt in Helgoland einen hartnäckigen Husten zugezogen (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 15. Okt. 1903, unten, S. 174).
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Marianne Weber PSt 14. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schn.
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Eben kam Dein Kärtchen u. die Zeitungen. Hat Fuchs keine Quittung über meinen Brief an ihn betr. Hist. Commission geschickt? Ich hatte ihm eine adressierte Postkarte beigelegt, um sicher zu sein, daß der Brief nicht verloren gegangen ist.1 Merkwürdig ist auch, daß sonst noch gar nichts eingelaufen ist. – Hier bleibt heut der Himmel verhängt, ich gehe jetzt noch etwas zum Strand, hoffe heut Nacht einmal besser zu schlafen, um endlich in die Höhe zu krabbeln. Herzlichst Dein Max Schick mir doch ev. mit den Briefen 1–2 Trionalpulver2 aus der Nachttisch-Schublade. Es ist doch immer lästig es nicht zu haben.
1 Der Brief und die Rückantwortkarte sind nicht nachgewiesen. Max Weber hatte an Carl Johannes Fuchs vermutlich wegen des gemeinsamen Antrags zur Aufnahme von Karl Rathgen in die Badische Historische Kommission geschrieben. 2 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone.
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15. Oktober 1903
Marianne Weber PSt 15. Oktober 1903; Den Haag Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Haag, Donnerstag früh L. Schnauz – heut habe ich e[ine] wesentlich bessere Nacht hinter mir – immerhin ist der Besitz von Trional1 doch angenehm, man kommt damit schneller in die Abspannung, die man braucht, um wieder hoch zu krabbeln. Das Wetter ist verhängt u. langweilig, starker Wind noch immer, hoffentlich geht er bald nach Nordwest herum, damit man einige kalte frische Tage hat. – Zu erzählen ist weiter nichts – ich war gestern fast ganz zu Hause geblieben, da die lange Serie von Nächten mit nur 4–5 Stunden, zuletzt 3 Stunden Schlaf mir doch starke „Unlust“gefühle gemacht hatte. Die Ablenkung, die so eine Sache bringt, wenn man sie zum ersten Mal sieht, ist eben beim zweiten u. öfteren Besuch nicht mehr da, 2 |:– es sei denn, daß Schnäuzchen mit wäre –:| man denkt doch immer zu viel nach Haus u. an seine Sachen, u. krempelt sich nicht um. Vorerst ist auch der Helgoländer Husten3 noch da, aber allerdings wesentlich gebessert. Meine Verpflegung ist einfach, aber ganz ausreichend, – Alfred würde freilich dabei verhungern. Herzlichst Dein Max
1 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone, das sich Max Weber in der Karte an Marianne Weber vom 14. Okt. 1903, oben, S. 173, erbeten hatte. 2 Max Weber hatte sich bereits vom 4. bis 19. Juni 1903 in Scheveningen aufgehalten (vgl. oben, S. 72–110). 3 Max Weber hatte im Anschluß an die vom 14. bis zum 16. September 1904 in Hamburg tagende Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik noch ein paar Tage auf Helgoland verbracht.
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Marianne Weber PSt 16. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
Freitag früh. L. Schnauz –
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auch heut habe ich dem Quantum nach erträglich geschlafen u. da das Wetter sich einigermaßen hält, so will ich gleich an den Strand. Gestern war es erst so erbärmlich, daß ich mich doch zu den Rembrandts nach dem Haag gezogen fühlte [.]1 Gegen Abend war es dann wieder klar u. schön. Schönen Dank für die Briefchens, ich bin begierig, was nunmehra kommt. Hat Fuchs nichts gepiept? Dann muß ich die Eingabe von hier aus nochmals an ihn schicken.2 Daß das mit Frau Webers Hause etwas werden sollte, 3 kann ich mir nicht recht denken, es wird zu unsinnig teuer werden. Auch würde man wohl nur die untere Etage vermiethen können, also die, zu der die Veranda gehört. Aber immerhin macht es ja Spaß, die Möglichkeiten auszuprobieren. Bleib gesund und vergnügt, – das ist die Hauptsache für Deinen Max
a O: nun mehr 1 Die Sammlung von Gemälden Rembrandts in der Königlichen Gemäldegalerie im Mauritshuis. 2 Vgl. die Karte an Marianne Weber vom 14. Okt. 1903, oben, S. 173 mit Anm. 1. 3 Angeregt von Helene Weber erwogen Max und Marianne Weber 1903 aus ihrer balkonlosen Wohnung in der Hauptstraße 73 in eine sonnigere Unterkunft mit Garten umzuziehen (vgl. Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 289). Nachdem sich die Überlegung, das Max Webers Onkel Ernst Wilhelm Benecke gehörende Haus Ziegelhäuser Landstraße 1 zu kaufen, zerschlagen hatte (vgl. den Brief an Alfred Weber vom 17. Juli 1903, oben, S. 114), nahm Marianne Weber „das Webersche Grundstück“ in Augenschein (deren Brief an Max Weber, undat. [15. Okt. 1903], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Bei diesem Objekt handelte es sich vermutlich um die dem Hamburger Ratsherren Johannes Theodor Weber gehörende Villa Charlottenberg, Ziegelhäuser Landstraße 63 (vgl. Rink, Claudia, Die Villa Charlottenberg an der Ziegelhäuser Landstraße. Zur Geschichte des Heidelberger Villenbaus im 19. Jahrhundert, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt, Jg. 2, 1997, S. 137–161).
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Marianne Weber PSt 17. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schnauz – schönen Dank für Zeitungen u. Briefe. – Die Sozialdemokraten schweigen also bisher noch auf die Anfrage,1 ich bin begierig, ob sie sich aus ihren Höhlen herauslocken lassen werden (besonders Schippel u. Bernstein) oder welche Vorwände sie brauchen werden um sich zu drücken. – Knittel habe ich geschrieben.2 – Von Schulze-Gävernitz also auch noch nichts.3 – Hier ist wieder klares Wetter jetzt, aber so sehr scharfer Wind, daß ich es draußen nicht vertrage. Nicht daß es kalt wäre, es ist mehr die Seele, die friert. Der Kopf ist erst jetzt in die unvermeidliche Abspannung gekommen, ich wollte nun eigentlich gern meine „schlechte Nacht“ hier abwarten, um dann noch 2–3 Tage hier zu sein u. nach der Heimkehr den „Aufstieg“ zu beginnen. Aber kommt sie nicht bald, dann wird mir die Sache zu langstielig. Herzlichst Dein Max
1 Max Weber bezieht sich vermutlich auf die Resolution betreffs eines möglichen Wahlbündnisses mit der SPD, die der Wahlverein der Liberalen auf seiner am 10. und 11. Oktober 1903 tagenden Generalversammlung angenommen hatte. Mit Blick auf die bevorstehende Landtagswahl in Preußen und einer angestrebten Änderung der dortigen Machtverhältnisse sollten Verhandlungen mit den Sozialdemokraten – trotz „der prinzipiellen Gegensätze, die uns von [ihnen] trennen“ und „unter Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse“ – aufgenommen werden (vgl. [Bericht über] Die Generalversammlung des Wahlvereins der Liberalen, in: Die Hilfe, Jg. 9, Nr. 42 vom 18. Okt. 1903, S. 5 –11, hier insbes. S. 8 f.). Max Weber erwartete vor allem von Eduard Bernstein und Max Schippel als Vertreter des revisionistischen Flügels der SPD eine Reaktion auf diesen Beschluß. 2 Es handelt sich vermutlich um einen nicht nachgewiesenen Brief an den mit Marianne Weber befreundeten Richard Knittel. 3 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden.
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Marianne Weber PSt 17. Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446
L. Schnauzel –
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vielen Dank für Briefchen u. Zeitungen, sowie Trional1 – es kam grade zur rechten Zeit, da die Nacht wieder ganz schlaflos werden wollte. Das Wetter ist erbärmlich schlecht heute1), nachdem gestern Abend ein Gewitter (!) war u. es ist keine Möglichkeit draußen zu sein, – aber auch der scharfe Wind thut mir nicht gut, wenigstens jetzt nicht; ich denke die Wirkung kommt nocha, wenn ich wieder behaglich zu Haus sitze. Ich denke [,] ich fahre Dienstag hier ab u. ev. gleich durch, wenn ich so früh herauskomme, – sonst bis Köln u. von da Mittwoch nach Haus. Den dummen Husten werde ich hier doch offenbar nicht los, 2 im Gegenteil scheint ihn die Seeluft eher zu ärgern, – u. da ich dummer Weise nichts Rechtes zu lesen mitgenommen habe, so ist es hier doch ziemlich öde auf die Dauer. Nun, jedenfalls habe ich nicht viel Geld verbraucht, ich glaube bis zu Haus wenig mehr als 100 Mk im Ganzen. Herzlichst Dein Max 1)
Eben (11 Uhr) wird’s schön [.]
a Alternative Lesung: nach 1 Ein Psychopharmakon aus der Gruppe der Sulfone, das sich Max Weber in der Karte an Marianne Weber vom 14. Okt. 1903, oben, S. 173, erbeten hatte. 2 Max Weber hatte sich bei seinem vorausgegangenen Aufenthalt in Helgoland einen hartnäckigen Husten zugezogen (vgl. die Karte an Marianne Weber vom 15. Okt. 1903, oben, S. 174).
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Marianne Weber [18.] PSt Oktober 1903; PSt Scheveningen Karte; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Das Datum erschließt sich aus der Tagesangabe „Sonntag“ in Verbindung mit dem Poststempel vom „19. Oktober 1903“. „Sonntag“ war der 18. Oktober 1903.
L. Schnauz – heut – Sonntag – scheint keine Post zu kommen, was recht öde ist. Das Wetter ist klar, aber zu windig u. ungemütlich, auch immer einmal Regen. Ich war einen Augenblick im Haag in der Kirche, aber da man dort immer stehen muß, wenn man nicht sehr früh kommt oder seinen festen Platz hat, hielt ich es nicht lange aus. Ich freue mich nun, bald heimzukommen, wie gesagt, entweder Dienstag Abend oder Mittwoch Nachmittag, ich schreibe oder telegraphiere noch. – Du wirsta nun Frau Stritt dahaben,1 der ich mich zu empfehlen bitte unbekannterweise, – irgend wann werde ich sie ja wohl auch einmal kennen lernen. Genieße sie recht u. überanstrenge Dich nicht. – Die Post kommt wirklich nicht. Also – wenn nicht die „schlechte Nacht“ kommt, reise ich Dienstag. Schick also nichts mehr, wenn ich nicht schreibe oder telegraphiere. Herzlichst Dein Max
a Alternative Lesung: mußt 1 Marie Stritt, die Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, hielt am 19. Oktober 1903 auf Einladung der Heidelberger Abteilung des Vereins „Frauenbildung-Frauenstudium“ einen öffentlichen Vortrag über „Die Frauen und die Politik“.
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Paul Siebeck 21. Oktober [1903]; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Das Jahr ist aus der Eingangsregistratur des Verlags („23. Okt. 1903“), die handschriftlich auf dem Brief vermerkt ist, erschlossen.
Heidelberg 21.10. Sehr geehrter Herr Dr. Siebeck,
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Ich schicke anliegenden Brief des Herrn Dr. Jastrow mit dem Anheimstellen, ob nicht von seinem Anerbieten s.Z. Gebrauch zu machen wäre.1 Es ist eine kostenlose u. vornehme Form der Reklame. Eine erhebliche Kalamität für das Archiv wäre es, wenn Sie auf Ihrer Absicht die Litteraturberichte im Satz den Abhandlungen gleich zu stellen beharren würde[n] a. Ich kann Ihnen leicht nachweisen, bezw. Sie können sich leicht überzeugen, daß das Archiv an Silbenzahl, sowohl wie an Zahl der gebrachten Aufsätze u. Rezensionen trotz höheren Preises ganz außerordentlich hinter Schmoller’s Jahrbüchern u. Conrad’sb Jahrbüchern zurücksteht.2 Wenn wir die Litteraturberichte a Lochung. b O: Konrad’s 1 Paul Siebeck erklärte am 23. Oktober 1903 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446) in seiner Antwort an Max Weber, daß er „gern“ auf die von Jastrow gemachten Vorschläge eingehe und sie sich „für den gegebenen Zeitpunkt“ vormerke. Jastrows Brief, den Siebeck zurückschicken wollte, ist nicht mehr nachzuweisen. Der Brief eines Mitarbeiters von Paul Siebeck vom 12. März 1904 an Edgar Jaffé (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183) legt nahe, daß Jastrow eine Kooperation mit dem von ihm gegründeten „Arbeitsmarkt“ angeboten haben könnte: Verband Deutscher Arbeitsnachweise (Hg.), Der Arbeitsmarkt. Monatsschrift des Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise. – Berlin: Reimer 1897–1913. Siebecks Mitarbeiter bezieht sich in seinem Brief auf ein nicht mehr nachzuweisendes Schreiben Jastrows an Weber vom 12. Okt. 1903 (das ggf. mit dem hier genannten identisch ist), nach dem die Aushängebögen des AfSSp an die Redaktion des „Arbeitsmarkt“ zu schicken seien, nicht an die Privatadresse Jastrows. In den folgenden Monaten hoffte Jaffé stets auf Vorabbesprechungen von Artikeln des AfSSp im „Arbeitsmarkt“, wurde jedoch immer wieder enttäuscht und ließ die Zusendung von Rezensionsexemplaren an diese Zeitschrift einstellen (Edgar Jaffé an Paul Siebeck, Brief vom 5. Juni 1905, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 199). Vgl. den Brief Max Webers an Ignaz Jastrow vom 10. Okt. 1903, oben, S. 165 f. 2 Max Weber knüpft hier an seine Ausführungen in der Karte an Edgar Jaffé, vor dem 12. Okt. 1903, oben, S. 167 mit Anm. 5, an. Das „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ (SchmJb), 1877ff., erschien zu diesem Zeitpunkt vierteljährlich im Umfang von ca. 400 Seiten pro Heft, während die „Jahrbücher für National-
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– es sind ja auch bisher gelegentlich zusammenfassende Berichte u. dann stets im Druck der Rezensionen erschienen – garnicht über den bisherigen Umfang ausdehnen können, so würde für einen sehr wertvollen Teil der Arbeit, die wir beabsichtig[e]nc in das Archiv zu stecken [,] der Boden fehlen. Ich meine, man sollte darüber doch noch einmal konferieren, resp. Sie sollten mit Herrn Dr. Jaffé in möglichst entgegenkommendem Sinne darüber verhandeln.3 Mit besten Empfehlungen u. freundlichen Grüßen Ihr ergebenster d Max Weberd
c Lochung. d–d Eigenhändig. ökonomie und Statistik“ (Conrads Jahrbuch), 1863ff., monatlich im Umfang von ca. 145 Seiten erschienen. Vom reinen Jahresumfang her (ca. 1600 Seiten) waren sie damit genauso groß wie das AfSSp ab 1904. 3 Edgar Jaffé hatte schon am Tag zuvor (20. Oktober 1903) Paul Siebeck darum gebeten, die Literaturberichte in mittlerer Schriftgröße zu drucken, um Platz für Rezensionen zu schaffen (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169). Paul Siebeck ging auf den Vorschlag Webers ein und wollte „Herrn Dr. Jaffé bezüglich der Satzeinrichtung für die Litteraturberichte gerne nach Möglichkeit entgegenkommen.“ Zugleich empfahl er aber auch, nicht allzu viel in kleineren Drucktypen in das Heft aufzunehmen: „Ich finde, je mehr Stoff zusammengedrängt wird, desto leichter wird er nicht gelesen.“ (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 23. Okt. 1903, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Schließlich erschienen die Literaturübersichten im AfSSp in kleinerer Drucktype als die Aufsätze. Die Abmachungen selbst trafen Jaffé und Siebeck in mündlichen Unterredungen Ende Oktober 1903, wie aus dem Briefwechsel der beiden hervorgeht (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169).
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Marie Auguste Mommsen 2. November 1903; Heidelberg Abschrift; maschinenschriftlich, mit Korrekturen von der Hand Marianne Webers GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Bd. 4, Bl. 90–91
Heidelberg, 2. 11. 1903. Hochverehrte Frau Professor!
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Mit tiefster Bewegung sehe ich, daß unser größter Meister nun von uns gegangen ist.1 Im vollen Besitze jener wunderbaren und einzigartigen Gaben des Geistes und der Persönlichkeit, ohne daß das Alter, das ihn nur mit leiser Hand berührt hat, dem beispiellosen Zauber seines Wesens Eintrag zu tun vermocht hat, – ist er aufs ewige Ruhebett gesunken. Ein solches Leben wird von allen uns Jüngeren niemals wieder Jemandem zuteil, aber keiner von allen, denen es vergönnt sein wird, an seiner Bahre zu stehen, wird davon scheiden ohne den stillen Wunsch: möchte auch uns doch ein solches Ende beschieden sein. – In ihm geht eine der letzten ganz großen Erscheinungen aus einer Zeit, mit der sich die Gegenwart nicht messen kann, dahin, – es scheint unmöglich, daß die Gegenwart und diejenige Zukunft, die unser Tag sein wird, seinesgleichen sehen wird an glaubensstarker Überzeugung an den unvergänglichen Wert der Wissenschaft und unserer Kultur. Wenn es für ein so gänzlich anders geartetes und gesinntes Geschlecht, wie wir es sind, überhaupt möglich ist, von ihm und seiner Persönlichkeit etwas ins eigene Sein zu übertragen, so hoffentlich am ersten die Fähigkeit, geistig jung zu bleiben, wie er es bis zuletzt war, fähig, das Kleine zu hassen und das Größte zu sehen und dafür zu kämpfen, den schweren Druck der Resignation immer wieder aus der Tiefe eines mächtig schlagenden tapferen Herzens heraus abzuwehren. Ich wenigstens danke ihm neben unendlich vielem Einzelnen als Größtes und Letztes diesen Entschluß, – im silbernen Haar war er mir, so oft mir vergönnt war, ihn zu sehen, ein Jungbrunnen geistiger Lebensfreude. Nur die Nächststehenden wissen, was Sie, hochverehrte Frau Professor, für ihn waren, oder wenigstens nur sie wissen es ganz. Er selbst aber hat es gewußt, – und nicht vielen Frauen, die in stiller Sorge ein Leben lang neben einem Mann, der zu den Größten der Erde im Rei1 Theodor Mommsen war am 1. November 1903 verstorben.
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che des Geistes gehörte, gestanden haben, wurde so das Bewußtsein zuteil, daß er sein Höchstes aus dankbarem Herzen heraus mit ihnen so teilte, wie er mit Ihnen. In herzlicher und warmer Teilnahme mit Ihnen und Ihren Kindern, zumal Ihren Töchtern, 2 denen noch in der letzten Zeit seine Fürsorge gegolten hat, Ihr Max Weber.
2 Theodor und Marie Auguste Mommsen hatten 16 Kinder, davon sieben Töchter, von denen jedoch nur sechs den Vater überlebten. Max Webers Schwester Clara war seit 1896 mit Mommsens Sohn Ernst verheiratet.
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Stephan Bauer 9. November 1903; Heidelberg Brief; von dritter Hand UB Basel, WWZ-Bibliothek/Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, PA 417
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Ich acceptiere mit bestem Dank Ihre freundliche Bereitwilligkeit, im Lauf des nächsten Jahres einen kleinen Artikel über nationale und internationale soziale Statistik zu bringen.1 Angesichts Ihrer großen Überlastung werde ich versuchen für die Mittelstandsbewegung im Handelsgewerbe einen anderen Berichterstatter zu gewinnen, doch versteht es sich von selbst, daß es uns nur willkommen ist, wenn Sie aus Anlaß der von Ihnen erwähnten Dissertation uns gelegentlich auch Ihrerseits einen Aufsatz darüber bringen. Bezüglich der Literatur über gewerbliche Mittelstandsbewegunga werde ich, Ihrem Wunsche folgend, ebenfalls zunächst versuchen, einen anderen Berichterstatter zu gewinnen.2 Sie wissen aber, daß es außer Wäntig3 und Ihnen kaum erhebliche Leute dafür giebt, und Wäntig ist jetzt mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Eventuell muß ich mir aber erlauben auf Ihre prinzipielle freundliche Geneigtheit zurückzugreifen. Mit verbindlichstem Dank in ausgezeichneter Hochachtung b ergebenst Max Weberb
a O: Mittelstandsbewegung b–b Eigenhändig. 1 Von Stephan Bauer erschienen zwei Beiträge im AfSSp: Die Entwicklung zum Zehnstundentage, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 203–223; Die neuere Kinderschutzgesetzgebung in Deutschland und in Großbritannien, in: ebd., Band 19, Heft 3, 1904, S. 616–640. 2 Laut einem Brief von Edgar an Else Jaffé vom 17. September 1903 gab es eine Absprache unter den drei Herausgebern, laut der Weber und Sombart für die Einwerbung von ständigen Beiträgern für Literaturberichte verantwortlich waren (Leo Baeck Institute, New York, Christopher Jeffrey Collection, AR 25348, Box 1, Folder 3). Von Stephan Bauer sind solche jedoch nicht nachgewiesen. 3 Von Heinrich Waentig ist kein Beitrag im AfSSp nachgewiesen.
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22. November 1903
Franz Böhm 22. November 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig GLA Karlsruhe, Nl. Franz Böhm, 52/XIV
Heidelberg 22. 11. 03. Hochgeehrter Herr Ministerialrath! Ich sende anbei die Erklärung1 und bedaure nochmals, Ihnen so viele Weitläufigkeiten verursacht zu haben. An Professor Gothein hatte ich, – nachdem die Sache in der Zeitung stand, 2 – geschrieben und ihm nahe gelegt, sich an Ort und Stelle hier zu informieren, zugleich auch versucht, ihn darüber zu beruhigen, daß ihm etwa von meiner Seite „Concurrenz“ drohe. Sollte seine Gewinnung gelingen, so würde mich das herzlich freuen, – die Lage der Universität wird doch unverkennbar, langsam, aber sicher, schwieriger.3 Ich meine dabei weniger die Frequenz, als die Qualität der Studenten, bei denen die Neigung zu Beschäftigung mit allgemeineren Gesichtspunkten, seien diese |:fach-:|theoretischer oder philosophischer Art in unverkennbarem Wachsen begriffen ist. Grade die werthvollsten Schichten werden durch Gelehrte dieses und ähnlichen Gepräges angezogen. Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener Professor Max Weber Soeben stellt mir Herr Professor Gothein seinen Besuch in Aussicht. Ich hoffe nur, daß es gelingt, ihn herüberzuziehen. 1 Vgl. dazu den Brief an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom gleichen Tag, unten, S. 185. Zu Webers Ruhegehalt vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 11. Sept. 1903, oben, S. 141. 2 In der Frankfurter Zeitung, Nr. 312 vom 10. Nov. 1903, Ab.Bl., S. 2, war zu lesen: „Der o. Professor und Direktor des staatswissenschaftlichen Seminars an der Universität Bonn, Dr. E. Gothein erhielt, wie man uns meldet, einen Ruf an die Heidelberger Universität auf die Lehrkanzel des Professors Dr. Weber.“ 3 Max Webers Nachbemerkung zu diesem Brief deutet an, daß es schon am gleichen Tag zu einem Treffen zwischen ihm, Eberhard Gothein und Karl Rathgen kam. Laut einem Brief Gotheins an Franz Böhm vom 23. November 1903 wurde dabei die zukünftige „Reihenfolge der nationalökonomischen Vorlesungen verabredet“ (GLA Karlsruhe, 235/3140, Bl. 145–150). Wie aus einem Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 23. November 1903 hervorgeht, zeigte sich Gothein bei dem Treffen wohl entschlossen, den Ruf nach Heidelberg anzunehmen: „Gestern war Prof. Gothein hier, er wird den Ruf wohl annehmen […]“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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22. November 1903
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Großherzogliches Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts, Karlsruhe 22. November 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 75 Zu Webers Ruhegehalt vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an das Großher zogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und Unterrichts vom 11. September 1903, oben, S. 141.
Heidelberg 22. November 03 Dem Großherzoglichen Ministerium der Justiz, des Cultus und Unterrichts 5
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gestatte ich mir ehrerbietigst mitzuteilen, daß ich auf das mir durch die Staatsministerial[-]Entschließung vom 18. Juni d.J. zugesprochene Ruhegeld keinen Anspruch erhebe. Ehrerbietigst Professor Max Weber An das Großherzogliche Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts, Karlsruhe.
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24. November 1903
Ernst Wilhelm Benecke 24. November 1903; Heidelberg Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Otto Benecke, der Sohn von Emilie („Nixel“) und Ernst Wilhelm Benecke, hatte am 21. November 1903 im Alter von 24 Jahren Suizid begangen (dazu der Brief von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 21. November 1903, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Er war schon länger psychisch krank und hatte wie Max Weber einige Zeit im Sanatorium von Richard Klüpfel in Urach zugebracht. Von dort aus hatte er Max und Marianne Weber von November 1900 bis April 1901 auf deren Reise nach Ajaccio und Rom begleitet. Ein längeres Zusammensein scheiterte jedoch daran, daß Max Weber Otto Beneckes Gesellschaft zunehmend als „Mehlthau“ (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 25. Januar 1901, ebd.) und „bösen Traum“ (Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 1. April 1901, ebd.) empfunden hatte. Otto Benecke hatte zuletzt in Berlin studiert.
Heidelberg 24.11.03. Lieber Onkel – wir sind – Ihr wißt es – tief innerlich bewegt bei dem Abschluß dieses Lebensschicksals. Jedesmal in Ajaccio, wenn er länger ausblieb, fürchteten wir ihn nicht wiederzusehen, – fürchteten es nicht seinet- sondern unsrer Verantwortung wegen. Ich habe es immer für eine Verirrung unsrer lebensunkundigen Alltagsmoral gehalten, daß sie, im Gegensatz zu der so viel freieren und größeren Empfindungsart des Altertums, das irdische Leben zu einem Gute stempeln will, auf welches der Mensch nie, auch nicht wenn seine Fortsetzung jeden geistigen Sinn verliert, verzichten dürfe. – Er war ein Mensch, der angekettet an einen unheilbar kranken Körper, sich dennoch – vielleicht mit deshalb – zu einer Feinheit des Empfindens, einer Klarheit über sich selbst und einer tief verborgenen stolzen und vornehmen Höhe der innerlichen Lebensführung entwickelt hatte, wie sehr wenig Gesunde, – das kann nur wissen und beurteilen, wer ihn so ganz nahe gesehen und lieb gewonnen hat wie wir und der zugleich selbst weiß, was Krankheit ist. So arm, und – wie er selbst nur zu genau wußte – zunehmend ärmer der Inhalt seines Lebens nach dem Gang seines Schicksals sich gestaltete, so reich und zart war seine in die Kerkerwände seiner überall hemmenden Krankheit verschlossene und doch so eigenartig freie Seele. – Es gehört zu meinen schmerzlichsten Erinnerungen, daß wir seinerzeit das Zusammenleben mit ihm unterbrechen mußten, – es war meine täglich zunehmende Angst, daß er, der unendlich Feinfühlige, bemerken könnte, daß meine Fähigkeit, Gesellschaft zu ertragen ebenso wie Ma-
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riannes Kraft zu Ende gingen. Grade in letzter Zeit besprachen wir, ob wir Euch rathen könnten, ihn mit uns nach Amerika zu schicken1 oder hier studieren zu lassen. Vielleicht hätte es sein Leben etwas gefristet, – – aber fast glaube ich, daß für ihn (und Euch) es besser kam, wie es gekommen ist. Denn: – so wie seine Zukunft vor ihm lag, hat er Recht gethan [,] jetzt ins unbekannte Land zu gehn, vor Euch, die Ihr sonst ihn einst rathlos, einsam, einem dunklen Schicksal entgegengehend, hättet auf der Erde zurücklassen müssen. Wahrlich, schwer lastet das Leben, – und doch nicht mehr wie einst, wo jener griechischen Mutter für ihre blühenden Söhne auf ihr Gebet als einziges Glück der Tod gewährt wurde.2 Wie vielen Eurer Kinder hat das Leben die reichsten Aufgaben gestellt3 – für dieses Kind hättet Ihra selbst kaum etwas Andresb als jenes Gut erbeten. Er hat erfüllt, was von ihm gefordert wurde: Verinnerlichung und geistige Verfeinerung seines Selbst, willensstarkes Dulden ohne Klage. Äußere Aufgabec stellte ihm das Schicksal nicht und nahm ihm die Möglichkeit sie sich selbst zu stellen. Es war keine feige Flucht, als er über sich selbst verfügte und ein Leben, welches seiner nicht mehr würdig geblieben wäre, aufgab. Wir werden ihn niemals vergessen, und sein Andenken ehren und lieben, ebenso wie Ihr. Herzlichst Euer Max
a O: ihr b 〈erbeten〉 c Alternative Lesung: Aufgaben 1 Auf die anläßlich der Einladung zum Kongreß in St. Louis geplante Reise. 2 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 3 Von ursprünglich zehn Kindern lebten damals noch die Töchter Dorothea (Dora), Elfriede, Marie (seit 1894: verheiratete Schmidt, später: Schmidt-Brücken), Auguste (seit 1895: verheiratete Schmidt) und Margarete (seit 1898: verheiratete Beneke) sowie der Sohn Wilhelm, ein habilitierter Botaniker und seit 1900 Titularprofessor in Kiel.
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1. Dezember 1903
Edgar Jaffé [nach dem 1. Dezember 1903]; o.O. Brief; von der Hand Marianne Webers Privatbesitz Das Datum ist erschlossen aus einer Karte von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 1. Dezember 1903 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 169), in der von dem auch im folgenden erwähnten Brief an Gustav Fischer gesprochen wird. Zur Übernahme und Fortführung des AfSSp durch Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber vgl. die Editorische Vorbemerkung zur Karte Max Webers an Edgar Jaffé vom 1. Juni 1903, oben, S. 68–70.
Lieber Herr Doktor, Falls ich Ihnen als Rechtsanwalt genehm bin, erlaube ich mir beifolgend den Entwurf einer Antwort auf einea etwaige abermalige Ablehnung Fischer’s beizufügen,1 durch welche wie ich glaube Ihre Interessen sowohl Braun wie Fischer gegenüber gewahrt werden würden. Herzliche Grüße an Sie Beide2 Ihr bMax Weberb
a O: einen > eine b–b Eigenhändig. 1 Der Entwurf ist nicht überliefert. 2 Edgar Jaffé und Else Jaffé, geb. von Richthofen.
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Edgar Jaffé [vor oder am 15. Dezember 1903]; o.O. Brief; eigenhändig Privatbesitz Die Datierung ist erschlossen aus einem handschriftlichen Vermerk Edgar Jaffés: „15/XII/03“. Webers Ausführungen handeln über ein Werk des im weiteren Briefverlauf noch genannten Josef Graf Mailáth, der Werner Sombart bereits am 4. März 1903 eine größere Studie über die Landarbeiterfrage in Ungarn angekündigt und ihm den 1. Teil über die agrarsozialistische Bewegung bereits zu dieser Zeit zugeschickt und ihm zwei weitere Teile über die Lage der Landarbeiter und über die zu ergreifenden sozialpolitischen Maßnahmen in Aussicht gestellt hatte (GStA PK, VI. HA, Nl. Werner Sombart, Nr. 4 5). Offensichtlich hatte Mailáth die Absicht, die fertige Arbeit im AfSSp zu publizieren und hat sie im Laufe des Jahres vermutlich an Sombart geschickt, der sie dann zur weiteren Begutachtung an Weber sandte. Dieser lehnte jedoch, wie der hier abgedruckte Brief deutlich macht, eine Aufnahme in das AfSSp ab. Tatsächlich ist kein Aufsatz von Mailáth nachweisbar. 1905 erschien dann von ihm aber eine Monographie zu diesem Thema: Studien über die Landarbeiterfrage in Ungarn (Wiener Staatswissenschaftliche Studien, hg. v. Edmund Bernatzik und Eugen von Philippovich, 6. Band, 2. Heft). – Wien und Leipzig: Franz Deuticke 1905. Mailáth verweist hier (ebd., S. 75) kritisch auf den Aufsatz von Julius Bunzel, Die Lage der ungarischen Landarbeiter, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 17, Heft 2, 1902, S. 341–383, der die Lage der Landarbeiter Mailáths Ansicht nach in zu düsteren Farben gemalt habe. Sombart dürfte daher gemäß des von Weber zitierten Grundsatzes aus dem Römischen Recht argumentiert haben, daß man nun prinzipiell auch die andere Seite hören müsse. Augenscheinlich haben sich die Herausgeber aber dagegen entschieden. Mailáths Buch wurde stattdessen von Bunzel sehr kritisch rezensiert (vgl. Bunzel, Julius, Die Landarbeiterfrage. I. Schriften über die Landarbeiterfrage in Ungarn, in: AfSSp, Band 24, Heft 2, 1907, S. 4 33–450).
Lieber Herr Doktor!
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Wenn Sombart auf seinem Standpunkt „audiatur et altera pars“1 besteht, dann müssen wir wohl oder übel Teil III, allerdings stark verbessert u. umgearbeitet, nehmen. Es wäre aber dankbar zu begrüßen, wenn er es nicht thäte und wir uns dahin einigten,a von jetzt an gar keine reine advokatorischen Leistungen von irgend einer Seite mehr zu nehmen: Die Arbeit [beste]htb nur aus Werthurteilen, welche durch Belege erhärtet werden. Teilweise ist sie kindlich. Überall hat man das peinliche Gefühl, etwas aus dritter Hand zu bekommen. Ich fürchte, in Ungarn blamiert sie uns gradezu. Leider [ist] c mir die deutsche Litteraa 〈künftig〉 b Lochung. c Lochung. 1 Rechtsgrundsatz aus dem Römischen Recht: „man höre auch die andere Seite“. Der Satz ist bezeugt bei Seneca, Medea 199.
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tur über das Alföld (es sind einige Zeitschriften-Aufsätze erschienen) z.Z. nicht zur Hand. Ich glaube, es besteht kein Interesse, einer schlechten Advokatenleistung durch eine noch schlechtere oder etwa so schlechte entgegnen zu lassen. – Das 2te Drittel von Teil I[I] d ist das Beste, der historische Teil |:von Teil III:| unbrauchbar, da fehlen z.T. die Grundbegriffe (Bauernschutz pp.) [.] Die Sentiments S. 1, 2, 5, 6, 27, 28 sind fast unerträglich, Zahlen fehlen durchweg, S. 26, 27, 28 sind kritiklos, Quellenangaben sind durchweg [zu] e vermissen. Auch die besseren Partien würden glaube ich Sombart nicht genügen [,] um die Arbeit z.B. als Doktor-Arbeit zuzulassen. – Ich fände esf bedauerlich, wenn wir sie nehmen müßten, aber wenn Sombart nicht darauf verzichtet, können wir wohl nicht gut anders, da er mit seinem Argument formell in der That im Recht ist. – Graf M[ai láth] ist, wie ich mich zu erinnern glaube, der Schrecken auch andrer Redaktionen. Ich hatte, zumal nach Braun’s Erzählung,g von Anfang an ziem[lic]henh Schiß vor ihm. Wäre es möglich ihm zu entgehn, so wäre das nur erfreulich. Muß die Arbeit gedruckt werden (d.h. Teil III), dann doch aber nur in umgearbeiteter, comprimierter Form (als „Miszelle“?) und so spät wie möglich (3., oder 4. Heft). Als wissenschaftlicher Aufsatz darf sie sich m.E. bei uns nicht aufspielen, denn das ist sie nicht. Besten Gruß! M.W.
d Lochung. e Lochung. f 〈doch〉 g 〈eine〉 h Lochung.
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Paul Siebeck 27. Dezember 1903; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigen Zusätzen Max Webers VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Über die Debatte zur Buchpreisbindung vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Ignaz Jastrow vom 10. Oktober 1903, oben, S. 165. a Heidelberg
27.XII.03a
Hochverehrter Herr Doktor,
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Anbei mit bestem Dank Ihre Aushängebögenb zurück, die ich mit größtem Interesse gelesen habe u. zu denen ich meine Bemerkungen auf kleinen Blättchen den einzelnen Seiten beigelegt habe.1 Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihre klaren u. ruhigen Ausführungen möglichst alsbald Herrn Professor E[berhard] Gothein in Bonn zugänglich machen würden, der im „Archiv“ über Bücher berichten wird.2 Außerdem schiene es mir sehr nützlich, wenn Sie sie als Broschüre drucken ließen oder in einer Zeitschrift publizierten. Wir hatten s.Z. uns überlegt, ob wohl Aussicht bestände, daß Sie sich zu einer Auseinandersetzung mit Bücher im „Archiv“ entschlössen, hielten es aber bei Ihrer bekannten großen Zurückhaltung für sicher, daß Sie nicht zu haben sein würden u. waren auch im Zweifel, wen wir dann als Korreferentenc zur Vertretung des Standpunkts des Schutzverbands gewinnen könnten.3 –
a–a Eigenhändig. b O: Aushängebogen c O: Ko〈r〉referenten 1 Paul Siebeck hatte Weber die Aushängebögen seines Vortrages zum „Bücher-Streit“ zur Ansicht geschickt (veröffentlicht als: Siebeck, Paul, Die Organisation des deutschen Buchhandels und seine Bücherpreise in der wissenschaftlichen Literatur. Vortrag, gehalten in der Dienstagsgesellschaft zu Tübingen am 15. Dezember 1903. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) [1904]). Die Korrekturen und Anmerkungen Max Webers sind nicht überliefert, wohl aber ein Dankesbrief von Paul Siebeck an Weber vom 29. Januar 1904 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). 2 Paul Siebeck hat Gothein die Revisionsbögen seines eigenen Vortrages wohl erst im Januar zugesandt, wie aus einem Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 29. Januar 1904 (ebd.) hervorgeht. 3 Gemeint ist der „Akademische Schutzverein“. Tatsächlich lehnte Paul Siebeck in dem Brief vom 29. Januar 1904 (ebd.) eine intensivere Beschäftigung mit Bücher aus Zeitgründen ab.
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27. Dezember 1903
Mein allgemeiner Standpunkt in der Sache ist der: Ich zahle den Rabatt gern u. halte seine Beseitigung, d|:wegen des Conditionsgeschäfts:|d für gerecht, außer bei Bibliotheken u. öffentlichen Instituten, die ihren festen Etat haben. Der Privatmann trinkt für die 20, 30 Mk im Jahre ein paar Flaschen Wein weniger, die Bibliothek kann das nicht. Der Schutzverband soll sich m.E.s gegen die modernen kapitalistischen Verleger à la Göschen richten; daß dieser Kerl nicht preisgegeben wird ist tiefbedauerlich. Ich kenne seine Geschäftsgebahrung etwas näher u. halte sein Verfahren gegenüber den Autoren für direkt unredlich.4 Vielleicht komme ich im „Archiv“ darauf in einem Korreferate zu Gothein zu sprechen. Sie sehen: allzu fern stehe ich Ihrer Auffassung nicht. fMit freundschaftlichen Grüßen Ihr ergebenster Max Weberf
d–d Eigenhändig. e O: Koreferat f–f Eigenhändig. 4 Vgl. die Briefe Max Webers an den Göschen-Verlag vom 25. Febr. und 2. März 1905, unten, S. 429–434.
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Edgar Jaffé 4. Januar 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig Privatbesitz
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Anbei der Aufsatz des Herrn Arens.1 Die Arbeit ist für uns werthvoll m.E. Ich habe auf einigen Blättern und am Rande mit Bleistift hie und da einige Desiderata angemerkt, die durch Einschiebung von je einigen kurzen Sätzen leicht zu beheben sein werden. Kürze wäre dabei allerdings notwendig, denn länger darf die Besprechung2 nicht wohl ausfallen. Vielleicht könnte der Verf[asser] die Arbeit noch einmal unter dem Gesichtspunkt durchsehen, wo er durch noch weitere stilistische Kürzungen den Raum für die erwünschten Ergänzungen gewinnen könnte? H. 4. I. 4. M.W.
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Die Ausführungen S. 34–39 sagen nur Bekanntes u. müssen fortfallen. Statt dessen wäre eine kurze Resumierung der Richtungen, in denen die mangelnde Eignung der Leistungen der Arbeiter-Versicherunga für die Beamtenb (nach deren Ansicht) längst erwünscht. Natürlich wäre dazu zu beachten, daß eine wissenschaftl[iche] Arbeit referieren, nicht plaidieren soll. Zu S. 42 ff.
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Es ist nötig festzustellen, welche Merkmale nach Annahme der österreichischen Regierung die „Privatangestellten“ im Sinn ihrer Enquete kennzeichnen sollten. a O: Arbeiter Versicherung b Angestellten > Beamten 1 Arens, Wilhelm, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. (Mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Gesetzentwurfs), in: AfSSp, Band 19, Heft 2, 1904, S. 378–402. 2 Der Aufsatz von Arens befaßt sich mit den Bemühungen, eine staatliche Pensions- und Hinterbliebenenversicherung der Privatangestellten im Reichstag auf den Weg zu bringen, die durch eine privat veranstaltete Erhebung über die sozialen Verhältnisse der Privatangestellten im Oktober 1903 neuen Schub erhalten hatte. Zur Eröffnung des neuen Reichstages im Dezember 1903 waren zahlreiche diesbezügliche Anträge eingebracht worden. Im AfSSp erschien der Aufsatz von Arens folgerichtig in der Rubrik „Gesetzgebung“, auch wenn er keine Besprechung oder Mitteilung eines bereits verabschiedeten Gesetzes ist.
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– Der Werth der Arbeit würde aber stark gewinnen, wenn der Verfasser – vielleicht am besten schon im ersten Teil – seinerseits diesen Begriff scharf zu umgrenzen suchen würde u. was entscheidet: Art der Dienste? Art der Vorbildung? Art des Entgelts? Art der „gesellschaftlichen“ Stellung und Standespflichten? – Ferner wäre dabei eine kurze Feststellung des verschiedenen Maßes der Flüssigkeit der Grenze zwischen „Arbeiter“ und „Angestellten“ erwünscht. – Manche andren Ausführungen könnten dann vielleicht zu Gunsten dieser Erörterung noch etwas knapper gesta[lte]tc werden, um den Umfang der Arbeit nicht anschwellen zu lassen. S. 59 unten wäre wohl hervorzuheben, daß diese Bestimmung eine weit größere Tragweite gehabt hätte als § 75 K[ranken]V[ersicherungs]G[esetz].3 Ist dieser Punkt nicht kritisiert worden?
c Lochung. 3 Der § 75 des Krankenversicherungsgesetzes von 1884 befaßte sich mit der Stellung der freien Hilfskassen innerhalb der Krankenversicherung und ihrem Verhältnis zu den gesetzlichen Kassen. Die Mitgliedschaft bei einer freien Hilfskasse als Ersatz für den Eintritt in eine der gesetzlichen Pflichtkassen war an bestimmte Voraussetzungen und Leistungen gebunden, die von der Hilfskasse erfüllt werden mußten. Ihre Leistungen sollten damit denen der Pflichtkassen angeglichen werden. Obwohl das Gesetz die gesetzlichen Kassen bevorteilte, fanden zunächst die Hilfskassen weiteren Zulauf, da bei ihnen Zuschüsse des Arbeitgebers keine Rolle spielten, die Mitglieder die Kasse selbst verwalteten und nicht zuletzt freie Arztwahl hatten. Eine Folge des Gesetzes in den Anfangsjahren war daher die Stärkung der Hilfskassen, obwohl gerade diese sich zuvor vehement gegen gesetzliche Regelungen aussprachen. Provoziert durch unklare Bestimmungen des § 75, kam es in den ersten Jahren nach dessen Einführung zu reichsweiten gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen den gesetzlichen Kassen und den Hilfskassen. 1892 wurde daher das Gesetz novelliert und durch die §§ 75a und b ergänzt, die zukünftig für eine größere Rechtssicherheit in Bezug auf Zulassung der Hilfskassen, deren Leistungen und Streitigkeiten mit den Pflichtkassen sorgen sollten.
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Edgar Jaffé PSt 6. Januar 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz
Lieber Herr Doctor!
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Die Frage der „Tendenz“ des Archivs sollte m.E. aus den einleitenden Worten fortbleiben.1 Es läßt sich kurz etwas Adäquates darüber nicht sagen u. mein ganzer langer Artikel handelt ja davon.2 – Wollen Sie übrigens nicht auch Lask (wegen R[ichard] Schmidt |:oder Stammler:|) u. Herkner (wegen Jastrow[)] mahnen bezw. anfragen, wann die Sachen kommen?3 Mit herzlichema Gruß Max Weber Jastrow kann über Scherl jetzt nicht schreiben.4 Also wohl Schachner?5
a O: Herzlichem 1 [Jaffé, Edgar, Sombart, Werner, Weber, Max], Geleitwort, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. I–VII (MWG I/7). Über die „Tendenz“ des AfSSp, worunter hier übereinstimmende wissenschaftliche Grundannahmen (etwa über den Kapitalismus als unausweichliches Signum der eigenen Zeit) verstanden werden, vgl. ebd., S. III f. 2 Weber, Objektivität. 3 Gemeint sind folgende Besprechungen: Lask, Emil, [Rezension zu Richard Schmidt, Die gemeinsamen Grundlagen des politischen Lebens], in: AfSSp, Band 19, Heft 2, 1904, S. 460–478; zu Stammler ist keine Rezension von Lask im „Archiv“ erschienen, allerdings besprach Weber später selber die 2. Aufl. von „Wirtschaft und Recht nach der materiali stischen Geschichtsauffassung“: Weber, Max, R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung, in: AfSSp, Band 24, Heft 1, 1907, S. 94–151 (MWG I/7); Herkner, Heinrich, [Rez. zu Ignaz Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Band 1], in: AfSSp, Band 20, Heft 3, 1905, S. 704–709. 4 Vgl. zum Scherlschen Sparsystem den Brief Max Webers an Ignaz Jastrow vom 4. Okt. 1903, oben, S. 160 f., insbes. Anm. 2 und 3. 5 Schachner, Robert, Kritik des Scherlschen Prämien-Sparsystems, in: AfSSp, Band 21, Heft 1, 1905, S. 151–161.
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23. Februar 1904
Edgar Jaffé PSt 23. Februar 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz
Lieber Herr Doctor! Der Bauer’sche Aufsatz kann doch eigentlich nur eine Sudelei sein.1 Dann schon lieber Arensa, 2 scheint mir. Oder taugt er doch etwas? Jedenfalls sind 16 Bogen |:gegen 13 später:| zu viel3 u. ich bin grade dabei, Sombart zu schreiben, daß ich gegen die Teilung4 nichts einwende. Ich will mich von ihm „nicht lumpen lassen“. Besten Gruß M.W.
a O: Arends 1 Bauer, Stephan, Die Entwicklung zum Zehnstundentage, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 203–223. Dieser Aufsatz wurde erst zu diesem späten Zeitpunkt aufgenommen, da Jaffé das Heft in seiner ursprünglich geplanten Form für zu theoretisch hielt, um es von Verlagsseite aus „zu einer ausgiebigen Reklame zu verwenden“. Er bemühte sich daher um den Artikel Bauers, den er dann am 22. Februar 1904 an den Verlag sandte (Edgar Jaffé an Paul Siebeck, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). 2 Arens, Wilhelm, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. (Mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Gesetzentwurfs), in: AfSSp, Band 19, Heft 2, 1904, S. 378–402. 3 Das 1. Heft hatte 272 Seiten (also 17 Druckbögen), das 2. Heft 232 Seiten (14,5 Druckbögen), das 3. Heft 224 Seiten (14 Druckbögen). Die einzelnen Bände umfaßten in der Folgezeit immer mindestens 720 Seiten (45 Druckbögen). 4 Der Brief an Werner Sombart ist nicht nachgewiesen. Laut Marianne Weber gab es einen Streit zwischen Max Weber und Werner Sombart um die Reihenfolge ihrer Artikel für das 1. Heft des AfSSp. Am 29. Februar 1904 schrieb sie an Helene Weber: „Nächstens erscheint das erste Archivheft nachdem noch allerlei Schwierigkeiten, die Sombarts Eitelkeit bereitete, glücklich beigelegt sind. Max hat einen sehr guten logischen Aufsatz geschrieben, der eigentlich das Heft eröffnen sollte – da er aber einen Bogen länger war als ein Aufsatz von Sombart u. diesem überhaupt nicht ganz zusagte, wollte er ihn nur zur Hälfte in dieses erste Heft haben, da er sich sonst durch Max ,sachlich-persönlich er drückt fühle’! Das gab dann noch einen kleinen Krawall, denn M’s Artikel wäre durch die Teilung ganz um seine Wirkung gebracht – nun ist Sombart’s Aufsatz an die erste und M.’s an die 2. Stelle gerückt u. nach verschiedenen ellenlangen Briefen ist allseitiger Frieden wiedereingekehrt.“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) Der Briefwechsel zwischen Max Weber und Werner Sombart zu diesem Thema ist nicht nachweisbar.
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Edgar Jaffé PSt 23. Februar 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz
Lieber Herr Doktor!
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Gleichzeitig die Superrevision.1 Ich habe S. 38 die Stelle der Teilung mit einem Bleistiftstrich bezeichnet.2 Bitte entschuldigen Sie der Drukkerei gegenüber die langen Correkturen auf S. 1 u. 15. Der Rest des Aufsatzes kann ja gleich jetzt für Heft 2 abgesetzt werden. Mir wäre es dann lieb, für meine Separatabzüge (ich erbitte 40, nicht, wie ich schrieb, nur 30) – ca 10 Superrevisionsabzüge oder Aushängebogenabzüge als Beilage mitversenden zu können. Das wird ja wohl gehen? Besten Gruß Max Weber
1 Gemeint ist: Weber, Objektivität. Aufgrund zahlreicher Korrekturen hatte Edgar Jaffé bei der Druckerei eine Superrevision verlangt. Vgl. Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 19. Febr. 1904 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). 2 Gemeint sein könnte Weber, Objektivität, S. 59, Ende des 1. Absatzes. Ein entsprechender Anhaltspunkt ist der folgende Überleitungssatz: „Nach diesen langwierigen Auseinandersetzungen können wir uns nun endlich der Frage zuwenden [. . .]“ (ebd.). Vgl. dazu auch die Karte an Edgar Jaffé vom gleichen Tag, oben, S. 196 mit Anm. 4.
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9. März 1904
Lujo Brentano 9. März 1904; Heidelberg Brief; von dritter Hand mit eigenhändigem Zusatz Max Webers BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 149–150 Zu Webers Versuchen, Lujo Brentano als Rezensenten von Sombarts „Der moderne Kapitalismus“ für das AfSSp zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Oktober 1903, oben, S. 157.
Heidelberg 9.III.04. Sehr geehrter Herr Geheimrat! Nach dem nunmehrigen Eintritt der akademischen Ferien, nehme ich mir die Freiheit, auf meine früher ausgesprochene Bitte zurückzukommen. Sie hatten mir halb und halb die Zusage gegeben, sich im Archiv über Sombart’s Buch (bezw. über seine beiden Bücher?)1 zu äußern. Ich wüßte in der Tat nicht, wie wir es möglich machen sollten, eine [w]issenschaftlichea Charakteristik seiner Bedeutung im Archiv überhaupt noch zu bringen, falls Sie sich nicht dazu entschließen, meiner Bitte zu willfahren. Und doch wäre eine solche Besprechung, wie ich schon früher mir auszuführen erlaubte, sachlich dringend erwünscht. Abgesehen von Schmoller, 2 der nur die Person rezensiert hat, und von Delbrück, der von den Dingen nichts versteht, 3 haben sich lauter Detailkrämer mit der Sache befaßt, und hat niemand versucht, und sei es auch in noch so abweisendem und negativem Sinn, dem Buche in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Zeit seinen [P]latzb zuzuweisen. Das kann aber nur jemand tun, der über wissenschaftliche Autorität verfügt.
a Lochung. b Lochung. 1 Es muß offen bleiben, ob Weber hier von Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II, als zwei Büchern spricht, oder ob er sich auch bezieht auf: Sombart, Werner, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert (Das 19. Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung, Band 7). – Berlin: Georg Bondi 1903 (hinfort: Sombart, Volkswirtschaft). 2 Schmoller, Gustav, [Rezension zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: SchmJb, Jg. 27, Heft 1, 1903, S. 291–300. 3 Delbrück, Hans, [Rezension zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: PrJbb, Band 113, Juli–Sept. 1903, S. 333–350. Delbrück rezensiert hier neben den beiden Kapitalismus-Bänden noch Sombart, Volkswirtschaft (wie oben, Anm. 1). Noch in der 3. Auflage der „Agrarverhältnisse im Altertum“ von 1908 (MWG I/6, S. 736) mokierte sich Weber über Delbrücks Kritik an Sombart als „Nichtfachmann“. Vgl. auch den Brief an Alfred Weber vom 30. Jan. 1907, MWG II/5, S. 232.
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Von einem Jüngerenc können wir in unsere Zeitschrift eine über das Buch, sei es ungünstig [,] sei es günstig urteilende Besprechung nicht wohl bringen. Und um eine Rezension im gewöhnlichen Sinne des Wortes handelt es sich ja überhaupt nicht. Ich hoffe sehr, daß Sie sich entschließen werden, meiner Bitte zu willfahren. Sollte einer Ihrer Schüler nach Ihrer Ansicht geeignet und geneigt sein, sich zu dem Thema: „Grenzen der Gewerkschaftsbewegung“ zu äußern,4 so wäre uns das in hohem Grade willkommen. Ich wage es nicht, Ihnen selbst auch noch mit dieser Bitte zu kommen. Nach meiner Empfindung werden aber in der öffentlichen Diskussion dieser Sache in den Zeitungen und sonst längst bekannte Dinge breitgetreten d|:– grade von liberaler Seite –:|d , und daraus ziemlich thörichte Konsequenzene gezogen, und es wäre schon gut, wenn dem ein Ende gemacht werden könnte. Mit angelegentlichster Empfehlung und in ausgezeichneter Hochachtung verbleibe ich fIhr stets ergebener Max Weberf
c O: jüngeren d–d Eigenhändig. e 〈daraus〉 f–f Eigenhändig. 4 In Band 20 des Archivs erschien folgender Aufsatz: Prager, Max, Grenzen der Gewerkschaftsbewegung, in: AfSSp, Band 20, Heft 2, 1905, S. 229–300 (vgl. dazu die Karte Max Webers an Lujo Brentano vom 29. März 1904, unten, S. 209). Prager war von Walther Lotz in München promoviert worden, hatte aber auch Vorlesungen bei Lujo Brentano gehört; vgl. Prager, Max, Die Währungsfrage in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie. – Stuttgart: Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1897, S. XII.
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Karl Renner 9. März 1904; Heidelberg Brief; von dritter Hand Renner-Museum Gloggnitz, Nl. Karl Renner, Lade 23, Mappe 5
Heidelberg 9. III 1904 Hochgeehrter Herr. Professor von Philippovich teilte mir auf eine gelegentliche Anfrage mit, daß er es nicht für ausgeschlossen halte, daß Sie für das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik als Mitarbeiter zu gewinnen sein würden.1 Es käme für uns in erster Linie auf akritisch referierendea Essays über den Gang der sozialpolitischen Gesetzgebung Österreichs an. Dieselben könnten ja nach Neigung unseres Herrn Mitarbeiters entweder die bisher üblich gewesene Form der kritischen Analyse einzelner besonders wichtiger Gesetzgebungsakte annehmen, 2 oder auch die andere eines zusammenhängenden Essays über die sozialpolitische Lage und die Entwicklung der sozialpolitischen Gesetzgebung im Ganzen. Würde im letzteren Fall der Gang der Gesetzgebung mit den historisch gegebenen Interessen- und Parteikonstellationen in Zusammenhang gebracht undb ein derartiges Essay in Zeiträumen [,] welche zu bestimmen dem Herrn Mitarbeiter gänzlich überlassen bliebe, wiederholt, so würde dies eine für unser deutsches Publikum im höchsten Grade wertvolle Infomationsquelle darstellen. Ich erlaube mir die ergebenste Anfrage, ob Sie, hochgeehrter Herr, zur Mitarbeit eventuell bereit wären, und wenn dies zu meiner großen Freude der Fall sein sollte, so bitte ich Sie um eine Äußerung, ob eventuell auch in der eben a–a O: kritischreferierende b 〈und〉 1 Eine Mitarbeit Karl Renners im AfSSp ist nicht nachgewiesen. 2 Im „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ gehörten referierende Aufsätze zur Sozialgesetzgebung ebenso zur Praxis wie der Abdruck von wichtigen Gesetzen. Mit dem Erscheinen von Band 21 im Jahre 1906 wurde die Rubrik „Gesetzgebung“ jedoch eingestellt. Zukünftig erschienen Besprechungen von Gesetzen unter den „Abhandlungen“, Gesetzestexte selbst wurden nicht mehr abgedruckt. Vgl. den Briefwechsel zwischen Edgar Jaffé und Paul Siebeck vom 8. Mai und 10. Mai 1905 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 199). Die Herausgeber hatten schon im Geleitwort 1904 angekündigt, den wörtlichen Abdruck von Gesetzen zugunsten kritischer Referate einschränken zu wollen ([Jaffé, Edgar, Sombart, Werner, Weber, Max], Geleitwort, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. I–VII, hier S. VI; MWG I/7).
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zuletzt geschilderten Form, oder ob Sie es vorziehen, sich nur gelegentlich größerer gesetzgeberischer Aktionen zu äußern. Mit der Bitte um eine freundliche Antwort verbleibe ich in ausgezeichneter Hochachtung Ihr sehr ergebener cProfessor Max Weberc
c–c Eigenhändig.
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Edgar Jaffé PSt 16. März 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz
Lieber Herr Doktor! Ich weiß nicht, ob Sie den Herren v. Kelles-Krauz schon an seine Rezension der „Natur und Staat“-Bücher erinnert haben?1 Es wäre Zeit, daß er nunmehr einige davon wenigstens vornähme u. er wird jetzt Ferien haben, denke ich. Ich schrieb heut an Goldstein, 2 Simmel3 (für Heft 3 oder 4) 4[,] Lotmar, 5 nach Brüssel u. London.6 Guten Umzug!7 Besten Gruß! M.W. Ob nicht Struvea bald etwas liefern könnte?8 a Alternative Lesung: Struwe 1 Zwischen 1903 und 1907 erschien in loser Folge im Verlag Gustav Fischer in neun Bänden die Reihe „Natur und Staat: Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Eine Sammlung von Preisschriften“, die von dem Zoologen Heinrich Ernst Ziegler herausgegeben wurde. 1918 erschien noch ein zehntes und letztes Buch dieser Reihe. Eine Rezension von Kelles-Krauz (oder einem anderen Autor) zu diesen Büchern ist im AfSSp nicht nachgewiesen. 2 Zwei Arbeiten von J. Goldstein sind im AfSSp nachgewiesen: Goldstein, J., [Rez. zu Theodor Vogelstein, Die Industrie der Rheinprovinz 1888; Lorenz Pieper, Ein Beitrag zur Frage der Handelspolitik und der Kartelle; Elisabeth Gottheiner, Studien über die Wuppertaler Textilindustrie und ihre Arbeiter in den letzten 20 Jahren], in: AfSSp, Band 19, Heft 2, 1904, S. 489–502; ders., Das Kohlensyndikat im Lichte der Kartellenquete, in: AfSSp, Band 20, Heft 3, 1905, S. 610–632. 3 Die erste Arbeit Georg Simmels für das AfSSp war der Aufsatz: Zur Soziologie der Armut, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S. 1–30. 4 Die Herausgeber einigten sich schließlich darauf, immer drei Hefte in einem Band zusammenzufassen. Ein viertes Heft gab es daher nicht. 5 Philipp Lotmar hatte zwei Artikel für das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ unter der Leitung von Heinrich Braun verfaßt. Sein einziger Artikel für das AfSSp erschien aber erst 1913. 6 In den ersten beiden Bänden des AfSSp unter der Mitherausgeberschaft von Max Weber finden sich zwei Autoren, deren Wohnorte laut Inhaltsverzeichnis Brüssel und London gewesen sind: Bertrand, Louis, Die genossenschaftliche Bewegung in Belgien und ihre Resultate, in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1905, S. 55–79; Hooper, Richard H., Dreizehn Jahre sozialen Fortschrittes in Neuseeland, in: AfSSp, Band 19, Heft 3, 1904, S. 575–615. Ob Weber tatsächlich diese Autoren angeschrieben hat, ist nicht mehr nachweisbar. 7 Edgar und Else Jaffé zogen innerhalb Heidelbergs um, von der Rohrbacherstr. 21 in die Ufer Straße 8A. Vgl. den Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 15. März 1904 (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). 8 Gemeint sein könnte Peter von Struve, der 1899 einen Artikel für das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ verfaßt hatte. Eine Arbeit von ihm oder eines anderen Struve/ Struwe ist für das AfSSp nicht nachgewiesen.
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Alfred Weber 16. März [1904]; Heidelberg Brief; eigenhändig Privatbesitz Prof. Dr. Gerhard Hufnagel Das Jahresdatum ist aus dem beiliegenden Briefumschlag erschlossen. Im Zentrum dieses sowie des Briefes an Alfred Weber vom 16. Mai 1904 (unten, S. 224) stehen die Berufungsaussichten Alfred Webers für eine Professur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Alfred Weber hatte im März nur zwei Optionen, die er selbst ernsthaft in Erwägung zog (die ihm angebotene Gastprofessur für Nationalökonomie im Rahmen der Hamburger Vorlesungskurse für Kaufleute für das Wintersemester 1904/05 schlug er aus, obwohl ihm dort die „Schaffung einer ständigen Professur für Nationalökonomie“ in Aussicht gestellt wurde; vgl. den Brief von Werner von Melle an Alfred Weber vom 5. April 1904, in: Weber, Alfred, Ausgewählter Briefwechsel, hg. von Eberhard Demm und Hartmut Soell (Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 10). – Marburg: Metropolis 2003, S. 541): Entweder nach Zürich zu gehen oder eine Professur in Bonn anzunehmen als Nachfolger Eberhard Gotheins, wozu ihn insbesondere Friedrich Althoff drängen wollte. Althoff hatte Alfred Weber so verstanden, daß er mit einer vierstündigen Lehrverpflichtung für den Herbst anzunehmen bereit sei. Schließlich bot er ihm ein Extraordinariat in Bonn ab Herbst an, das Alfred Weber nach kurzer Bedenkzeit auch annahm. Zugleich hielt er sich aber die Züricher Option Althoff gegenüber offen. Gleichzeitig wurde dann in Bonn der Ökonom Hermann Schumacher als Nachfolger Gotheins ernannt, allerdings gegen den Willen der Universität (vgl. den Brief von Alfred Weber an Max Weber vom 15. März 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Ende März zerschlug sich die Berufung nach Zürich, wie aus einem Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 1. April 1904 hervorgeht (ebd.). Im April eröffnete sich dann schließlich die Möglichkeit, an die Deutsche Universität nach Prag zu gehen. Ihren Ruf nahm Alfred Weber an, am 16. Oktober 1904 wurde er rückwirkend zum 11. Juli ernannt (vgl. die Quellennachweise bei Demm, Eberhard, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920 (Schriften des Bundesarchivs, Band 38). – Boppard am Rhein: Harald Boldt Verlag 1990, S. 4 5 f.).
H. 16/III Lieber Alfred!
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Mit nur 4 Stunden Lehrzwang finde ich Bonn1) doch nicht so übel |:als Anfang:|, so ekelhaft die Combination mit Sch[umacher] ist. In Zürich ist der Regierungsrath gewesener Volksschullehrer, mit dem Banausen würdest Du ev. glaube ich nicht viel Freude erleben. – Mama soll sich nur ja recht ausruhen, ehe sie kommt, dann aber für lange Zeit kommen. Oder hält Ernst1 einen Aufenthalt anderswo für 1)
Du hast Dich doch mit Dietzel per Correspondenz jetzt in Verbindung gesetzt? Das wäre gut!
1 Ernst Mommsen, ein Schwager Max Webers und Arzt.
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nötig? Die Sorge mit St Louis ist ganz unnötig, 2 es ist schließlich nicht so heiß, wie Rom im Juni u. Juli, wo wir da waren. 3 Überdies habe ich dort nur 1 Stunde zu thun: 40 Min. Vortrag, 20 Min. für die Abhebung des Checks, dann stinken wir nach dem Felsengebirge zu ab.4 Die Leute [,] die |:jetzt:| ablehnen, wollen alle noch mehr Geld herausschinden u. brauchen die „Ungesundheit“ als Vorwand, als sie das nicht erreichten.5 Ist nicht grade gelbes Fieber da – dann geht man natürlich nicht hin – dann kann es sich äußerstenfalls um Malaria in der Umgebung handeln; der kann man ausweichen resp. durch Chinin vorbeugend sich immunisieren. Bedenken erregt nur die pekuniäre Seite, |:besonders:| wenn Ihr Euch für Naumann erheblich belasten würdet, was auch ich |:für wenigstens:| möglicherweise für ihn wichtig halte.6 Carl Weber 2 Gemeint ist die Reise in die USA anläßlich des „International Congress of Arts and Science“ von August bis November 1904. 3 Weber meint hier vermutlich den Sommer des Jahres 1901, den er bis Juli in Italien verbrachte. 4 Gemeint sind die Rocky Mountains, die Weber aber nicht besuchte. Von St. Louis aus führte die nächste Etappe der Reise in das Indian Territory, dem östlichen Teil des heutigen Bundesstaates Oklahoma. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, unten, S. 301. 5 Max Weber bezieht sich hier auf eine Stelle in Alfred Webers Brief vom 15. März 1904: „Hier [in Berlin] hört man allgemein, daß Professoren für St. Louis absagen, weil September dort die heißeste Zeit sei und die Sache ungesund sei. – ,Heißeste Zeit‘ ist natürlich Blödsinn. Aber die Ungesundheit geht Mama in ihren Träumen nach. Wißt Ihr schon etwas darüber?“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Vgl. dazu den Brief Max Webers an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, unten, S. 232 f., mit der Editorischen Vorbemerkung. 6 Die Familie Weber hatte Friedrich Naumann bereits in den 1890er Jahren bei der Realisierung seiner politischen Ziele mehrfach unterstützt (vgl. MWG I/4, S. 612 u. 885); v.a. ermöglichten erst die beiden Schwestern Helene Weber und Ida Baumgarten seine Reichstagskandidatur 1897/98 durch die Bereitstellung erheblicher Mittel (vgl. Roth, Familiengeschichte, S. 536–538, 692–694). Darum handelte es sich auch jetzt wieder, ohne daß sich jedoch die konkreten Umstände exakt nachvollziehen ließen. Alfred Weber hatte im Brief vom 15. März 1904 an Max Weber geschrieben: „Ich werde wahrscheinlich bald Dich mit einer etwas komplizierten Bitte behelligen müssen. Man wird wahrscheinlich wünschen, daß Du mich als einen zuverlässigen Beobachter Naumann’s bestätigst. Es handelt sich um die Frage, ob seine pekuniäre Sicherstellung für ihn psychisch sehr wertvoll wäre.“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Am 23. März 1904 schrieb auch Helene Weber an Max und Marianne in dieser Angelegenheit: man sei „neulich an Alfred von Seiten der neuen Freunde Naumanns Katz, Dohre, mit der Frage nach einer pekuniären Sicherstellung von Naumanns persönlichen Verhältnissen herangetreten. Daß Alfred da natürlich gleich betont, daß wir nicht in der Lage etwas dabei zu leisten, sich aber weiteren Erkundigungen danach nicht entziehen da vielleicht Hoffnung vorhanden doch potente Leute dafür zu gewinnen und es einem wirklich immer schleierhaft wo seine Mittel eigentlich herkommen sollen, da er mit seinen Büchern so gut wie nichts verdient.“ (ebd.)
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sen. wird, Allem nach, uns jedenfalls eher überleben als das Umgekehrte – er wird 80 Jahre und wir haben viele 90jährige in der Familie gehabt, die ganz seinen Typus trugen. Und auch bei Arthur kann doch immer einmal Zuwachs u. damit die Nötigung zu Wohnzuschüssen eintreten.7 Länger als noch ca 1½ Jahre aber halten wir es, wenn ich dann nicht wiedera mehr verdienen kann, nicht ohne Defizit-Wirtschaft aus, wenn wir jetzt die Reise machen. Und in Örlinghausen in Credit zu gehen, – wie es Major Wilhelm Müllers8 thun, – wäre beib irgend erheblichen Beträgen aus vielen Gründen nicht grade erwünscht, auch ev. für mich ein Risiko. Wir müssen das einmal mündlich bereden, ich weiß ja gar nicht, wie Ihr steht. – Bitte unterschlage Mama diesen letzten Teil des Briefs, sie sorgt sich sonst womöglich. Herzlichen Gruß Max Ich kann noch immer arbeiten – zwar nur 2–3 Stunden, aber doch immerhin überhaupt. So lange das geht, gehe ich nicht fort.
a O: wieder, b 〈höhe〉 7 Max und Alfreds Bruder Arthur Weber war preußischer Offizier und lebte oft über seinen Verhältnissen. Mehrfach mußte er daher Familienmitglieder um Kredite bitten. Seit seiner Eheschließung 1903 erhielt er eine jährliche Unterstützung in Höhe von 3300 Mark durch Helene Weber. Vgl. den Brief von Max Weber an Lili Schäfer vom 6. Okt. 1912 (MWG II/7, S. 686). 8 Gemeint sind die Cousine von Alfred und Max Weber und ihr Ehemann, Eleonore und Wilhelm Müller.
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Lujo Brentano 28. März 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 147−148 Zu Webers Versuchen, Lujo Brentano als Rezensenten von Sombarts „Der moderne Kapitalismus“ für das AfSSp zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Oktober 1903, oben, S. 157.
Heidelberg, Hauptstraße 73 28/III 04. Hochverehrter Herr Geheimrath! Eine sachlich ungünstige Rezension muß Sombart nach unsren Abmachungen1 sich gefallen lassen. Auch den Tadel seines Tons und seiner Geschmacklosigkeiten müßte er über sich ergehen lassen. Nur sind diese von Delbrück, Below2 u. andren schon weidlich hervorgehoben – immer mit dem Erfolg, daß er (Sombart) in diesen Unarten bestärkt wird, weil er stets meint, es sei Mißgunst, die aus diesen Kritiken spräche. Was ganz fehlt und was ihm persönlich gut thäte, wäre aber, glaube ich, eine diesen „Snobbismus“ einfach ignorierende oder nur nebenher |:als störendes Element:| constatierende rein sachliche Feststellung der Bedeutung der Leistung. Er will persönlich kritisiert sein, grade die Attacken auf seine persönlichen Eigen- und Unarten reizen und schmeicheln ihn zugleich. Über die Dinge, die Sie im Auge haben, haben wir, zumal ich, ihm – vor vielen Zeugen3 – das Äußerste gesagt, was man Jemand sagen kann, und mehr als dies. Es hat pädagogisch gar nichts gefruchtet. So würde es auch bei einer auf diese Dinge ein1 Vgl. dazu die Ausführungen Webers in Teil I seines „Objektivitätsaufsatzes“, der ausdrücklich auch im Namen seiner Mitherausgeber geschrieben wurde: „Sie [die Zeitschrift AfSSp] kann kein Tummelplatz von ,Erwiderungen‘, Repliken und Dupliken sein, aber sie schützt niemand, auch nicht ihre Mitarbeiter und ebensowenig ihre Herausgeber dagegen, in ihren Spalten der denkbar schärfsten sachlich-wissenschaftlichen Kritik ausgesetzt zu sein.“ Weber, Objektivität, S. 33. 2 Delbrück, Hans, [Rez. zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: PrJbb, Band 113, Juli–Sept. 1903, S. 333–350, und Below, Georg von, Die Entstehung des modernen Kapitalismus, in: HZ, Band 91, 1903, S. 4 32–485. 3 Weber könnte sich hier auf die Hamburger Tagung des VfSp und die anschließende Helgoland-Reise im September 1903 beziehen, an der neben Sombart u.a. auch Brentano und Alfred Weber teilnahmen. Edgar Jaffé berichtet am 17. September 1903 an seine Frau Else von der „erschütterten Stellung“ Sombarts: „Er hat sowohl in der Discussion wie auch privatim genug hören müssen, um sich etwas zu ducken.“ (Leo Baeck Institute, New York, AR 25348, Christopher Jeffrey Collection, Box 1–2, Folder 3).
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gehenden Rezension sein. Wo er dagegen Anerkennung und – was ihm so sehr fehlt – neidloses Interesse an seiner wissenschaftlichen Arbeit durchfühlt, ist er sehr stark beeinflußbar auch in seinen persönlichen Unarten, die mir oft gradezu unerträglich auf die Nerven fallen, auf die ich aber doch bei Dem, was er in Breslau constant erlebt, keinen Stein werfen kann.4 Wenn Sie Sich entschließen könnten, Sich aufa eine kurze Bemerkung, daß die Form – wie Sie mir schrieben – die unbefangene Anerkennung erschwere, zu beschränken, würde, glaube ich, der Eindruck auf ihn größer sein als bei einer eigentlichen Geißelung grade dieser Seiten, so sehr nahe sie natürlich liegt. Es ist bei S[ombart] ein gewisser Trotz, grade diese Unarten „nun erst recht“ herauszukehren. Hoffentlich entschließen Sie Sich zu einer Kritik. Die bloße Thatsache einer solchen wäre für S[ombart] und die Zeitschrift viel werth. Führt Ihr Weg nicht über Heidelberg? Ev. komme ich einmal auf einen halben Tag nach Baden.5 Mich künftig, wenn ich wieder 2–3 Stunden Colleg lesen kann, an einer großen Universität neu zu habilitieren, ist ein Gedanke, der mir a 〈die〉 4 Vermutlich handelt es sich um eine Anspielung auf Sombarts prekäre Universitätskarriere. Werner Sombart hatte zum 1. Oktober 1890 auf Druck von Friedrich Althoff einen Ruf als Extraordinarius an die Universität Breslau erhalten. Seine Arbeiten in den folgenden Jahren und v.a. seine sozialpolitischen Stellungnahmen zugunsten einer arbeiterfreundlichen Sozialpolitik führten schnell dazu, daß er in Wissenschaft und Öffentlichkeit als Sozialist verschrien war; zumindest innerhalb des engeren Fachkollegenkreises war er isoliert, wenn auch oft genug die Ministerialbürokratie auf politischen Druck hin eine Berufung Sombarts verhinderte. Zahlreiche Berufungsverfahren scheiterten um die Jahrhundertwende, ein Ordinariat in Breslau scheiterte am Widerspruch Althoffs. Allein Max Weber hat zwischen 1897 und 1907 viermal versucht, eine Berufung Sombarts in Baden zu betreiben (zweimal als sein eigener Nachfolger in Freiburg und Heidelberg); dies erregte jedoch stets den Widerspruch des Großherzogs, bei dem Sombart als Sozialist in Mißgunst stand (Brocke, Bernhard vom, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff“, in: Baumgart, Peter (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. – Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 9 –118, hier S. 86). Vier Jahre später, in einem Brief vom 16. August 1908 an Robert Michels, bestreitet Weber aber selbst, daß bei der Ablehnung Sombarts immer nur politische Motive im Vordergrund gestanden hätten; vielmehr habe man ihn persönlich als „unreif“ oder sein (auch privates) Verhalten als unangemessen erachtet (MWG II/6, S. 6 37–642, hier S. 6 38 f.). Erst 1906 wurde Sombart als o. Prof. an die neugegründete Handelshochschule nach Berlin berufen. Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Marianne Weber vom 19. Sept. 1903, oben, S. 153 f. mit Anm. 4. 5 Einem Brief Brentanos an Max Weber vom folgenden Tag ist zu entnehmen, daß er am 30. April nach Baden-Baden reisen wollte (Brief von Lujo Brentano an Max Weber vom 29. März 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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oft sehr naheliegt. Aber in München würde das doch wohl nicht so einfach zu machen sein: ich bin Dr jur., nicht Dr phil., u.s.w.6 Mit angelegentlichster Empfehlung Ihr stets ergebenster Max Weber Ihren liebenswürdigen Beitrag hat Jaffé – da er sich äußerlich als Besprechung gab – wie ich sehe, als Litteraturbericht behandelt.7 Hoffentlich ist es Ihnen recht? Heft 1 erscheint, – auf Wunsch der Sortimenter (Osterarbeit für die Messe) 8 – erst in 8 Tagen.9
6 Offensichtlich hatte Lujo Brentano Weber vorgeschlagen, an die Universität München zu wechseln. Auch in der Antwort zum vorliegenden Brief kam er kurz auf dieses Thema zu sprechen: „Solche Quisquilien wie den Dr. würden wir schon überwinden. Sie könnten hier auch politisch so segensreich wirken. Welch’ ein Jammer, daß jetzt Alles, was nicht Centrum u. Sozialdemokratie ist, wieder in Culturkampfswut schwelgt! Ich habe jetzt eine ganze Anzahl junger Leute, welche tapfer gegen diese Strömung ankämpfen. Allein, welch’ anderer Erfolg stünde in Aussicht, wenn Sie sie regelrecht in die Hand nehmen wollten, wozu mir die Zeit fehlt. Und es würde Ihnen gar keine Mühe machen, sondern nur Erfrischung bringen. Überlegen Sie’s doch!“ (ebd.). Zu Beginn des Jahres 1906 kam Brentano augenscheinlich erneut darauf zurück, diesmal sagte Weber deutlich ab (vgl. den Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 28. Febr. 1906, MWG II/5, S. 42 f.). Zu Webers Ansichten über eine Neu-Habilitation an der Berliner Universität vgl. auch den Brief an Gustav Schmoller vom 16. Nov. 1905, unten, S. 599 mit Anm. 12. 7 Brentano, Lujo, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum, in: AfSSp, Band 19, Heft 1, 1904, S. 251–271. Die Schrift ist eine Rezension des Buches von Glaser, Friedrich, Die franziskanische Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte sozialer Reformideen im Mittelalter (Münchener Volkswirtschaftliche Studien, hg. von Lujo Brentano und Walther Lotz, Band 59). – Stuttgart: Cotta 1903. 8 Gemeint ist die Leipziger Buchmesse. 9 Das 1. Heft des AfSSp wurde im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel am 14. April 1904 annonciert.
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Lujo Brentano PSt 29. März 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 145–146
Heidelberg, Hauptstraße 73 Hochverehrter Herr Geheimrath!
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Ich vergaß gestern1 ganz zu bemerken, daß wir über Herrn Dr Prager’s Angebot sehr erfreut sind und Ihnen für die Anregung sehr danken.2 Vielleicht hat Herr Dr P[rager] – dessen Adresse ich nicht kenne – die Güte, Herrn Dr Jaffé, hier, Uferstraße 8a einen bestimmten Termin mitzuteilen, bis [zu] a dem er jedenfalls in der Lage sein würde, die Arbeit zu liefern (etwa Anfang August? oder Anfang September?) b[,] dann könnte sie in das Novemberheft (Heft 1 von Band II der Neuen Folge). Mit angelegentlichster Empfehlung und verbindlichstem Dank Ihr ergebenster Max Weber
a Lochung. b Klammer fehlt in O. 1 Vgl. den Brief Max Webers an Lujo Brentano vom 28. März 1904, oben, S. 206–208. 2 Prager, Max, Grenzen der Gewerkschaftsbewegung, in: AfSSp, Band 20, Heft 2, 1905, S. 229–300. Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Brentano vom 9. März 1904, oben, S. 199, Anm. 4.
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Ignaz Jastrow 8. April 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114 Der Staatsrechtler Julius Hatschek hatte sich 1898 in Heidelberg als Schüler Georg Jellineks habilitiert und wurde 1902 dort zum a.o. (Titular-)Professor ernannt. Max Webers Fürsprache bei Jastrow, der der Gründungsrektor der 1906 eröffneten Handelshochschule in Berlin war, hatte keinen Erfolg. 1905 wurde Hatschek a.o. Prof. an der Königlichen Akademie zu Posen. Erst 1921 wurde Hatschek o. Prof. in Göttingen. Vgl. auch den Brief Webers an Ignaz Jastrow vom 17. April 1904, unten, S. 218.
Heidelberg 8/4 04 Sehr geehrter Herr College! Herr Professor Dr Hatschek hier, ein Schüler meines hiesigen Collegen Jellinek und Ihnen wahrscheinlich wissenschaftlich nicht unbekannt, bittet mich, bei Ihnen für die eventuelle Besetzung einer staats- oder verwaltungsrechtlichen Professur an der Berliner Handelshochschule für ihn einzutreten. Ich thue dies mit dem besten Gewissen und um so lieber, als mir Hatschek speziell nach Seite des wissenschaftlichen Charakters die denkbar größten Garantien zu bieten scheint. Mir ist unter dem Nachwuchs der deutschen Publizisten – vielleicht mit Ausnahme von Preuß, an den ich nach Seite der persönlichen Charakterfestigkeit gleichfalls von einigen ganz konkreten Fällen her sehr gute Erinnerungen habe – Niemand bekannt, der so frei von „Rücksichten“ wäre (wie sie ja in diesem Fach zum „täglichen Brot“ gehören), wie er. Sein großes „Englisches Staats- und Verwaltungsrecht“,1 welches eben in den Druck gelangt, wurde mir von Jellinek als eine schlechthin glänzende Leistung geschildert, – ähnlich scheint Piloty zu urteilen; 2 und ich selbst habe, wo immer ich bei H[atschek] anklopfte, ein absolut si-
1 Hatschek, Julius, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Band I: Die Verfassung (Handbuch des öffentlichen Rechts. IV.II.4.1). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905. 2 1907 erschien, als Reaktion auf eine äußerst kritische Rezension von Edmund Bernatzik zum Buch von Hatschek (wie oben, Anm. 1), eine Besprechung der Arbeit durch den Mitherausgeber des Handbuchs des Öffentlichen Rechts: Piloty, Robert, Englisches Staatsrecht. Eine Besprechung, in: AfSSp, Band 24, Heft 1, 1907, S. 152–158. Auch Georg Jellinek erklärte sich zu einer Antikritik bereit, die aber schließlich nicht gedruckt wurde. Vgl. zu den Auseinandersetzungen die Editorische Vorbemerkung zum Brief Max Webers an Georg Jellinek vom 1. Aug. 1906 (MWG II/6, S. 126).
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cheres Wissen und vor Allem ein ganz überaus scharfes Urteil und die Fähigkeit, den Stoff auf große Gesichtspunkte zu beziehen, gefunden. Ich glaube, sowohl wissenschaftlich wie dozentisch, könnte jede Hochschule glücklich sein ihn zu gewinnen. Welche Umstände es bedingt haben, daß so [viel] a Unerheblichere ihm vorangestellt wurden, wissen Sie selbst, – gegen die Macht des Antisemitismus in den Fakultäten ist heute, wie ich aus nun schon mehrfacher eigenster Erfahrung weiß, einfach nicht aufzukommen. Können Sie etwas für H[atschek] thun, so werden Sie nicht in die Lage kommen, es zu bedauern. Ich meinerseits würde, im sachlichen Interesse, gern bereit sein, auch andren Herren, wenn Sie es für nützlich halten, meine Ansicht auszusprechen, z. B. Frentzel, falls dieserb mitzuwirken hat. Mit bester Empfehlung Ihr stets ergebenster Max Weber
a Lochung. b 〈noch〉
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12. April 1904
Paul Siebeck 12. April 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
Heidelberg 12/4 04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck! Ich schulde Ihnen vielen Dank für das schön ausgestattete Buch über Neumann,1 welches ich mit großem Interesse lesen werde, sobald meine augenblickliche Arbeit für das Archiv abgeschlossen2 und die folgende („Protestantische Ethik und kapitalistischer Geist“), 3 von der ich mir viel verspreche, etwas in Gang gebracht ist. Heute nur etwas über die Angelegenheiten des Archivs in redaktioneller Hinsicht: Es geht einfach nicht, daß wir nach diesem I Heft1) ein zweites und drittes von nur je 13 /17 seines Umfangs bringen.4 Auch müßte ich dann, um für Andre Raum zu schaffen, meine Sachen teilweise bei Schmoller publizieren. An der Dicke von Heft 1 ist in erster Linie die falsche Rechnung der Druckerei, 5 in zweiter bin ich mit meinem langen Aufsatz6 daran schuld. Jaffé kann jetzt keine weiteren Opfer bringen, also will für dies Heft ich dran. Ich bitte Sie, für einen 1)
Übrigens ist das Papier vortrefflich und sehr schön!
1 Neumann, Franz, Erinnerungsblätter von seiner Tochter Luise Neumann. – Tübingen und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1904 (hinfort: Neumann, Erinnerungsblätter). Vgl. auch die Briefe an Paul Siebeck vom 15. Apr. und 4. Mai 1904, unten, S. 216 f. und 220 f. 2 Weber, Fideikommißfrage, erschien in: AfSSp, Band 19, Heft 3, 1904 (MWG I/8, S. 81– 188). 3 Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215. 4 Zur Frage des Heftumfangs vgl. die Karte an Edgar Jaffé vom 23. Febr. 1904, oben, S. 196 mit Anm. 3. 5 Das AfSSp wurde bis einschließlich Band 23, Heft 3 (1906) von Lippert & Co. (G. Pätz’sche Buchdruckerei) in Naumburg a.S. gedruckt. Eine Ausnahme war die Beilage zum 1. Heft dieses Bandes, „Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“, die von der Piererschen Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg gedruckt wurde. Ab Band 24, Heft 1 (1907) wurde der Druck von H. Laupp jr. in Tübingen übernommen. Max Weber hat sich in den folgenden Monaten noch häufiger bei Paul Siebeck über die schlechte Arbeit der Druckerei Lippert & Co. beschwert. Vgl. die Briefe und Karten vom 20., 21. und 24. Juli und 17. Aug. 1904, unten, S. 246–250 und 258–260, 29. Apr., 3. und 8. Sept. 1905, unten, S. 480, 515–517 und 524 f. 6 Weber, Objektivität.
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Extrabogen – so daß das Heft dann doch wenigstens 14 Bogen betrüge – mich mit den Kosten für Satza, Druck und Papier zu belasten, – andre Kosten entstehen ja durch einen so unerheblichen Mehrdruck nicht. Für Heft 3 ist damit noch nicht Rath geschafft, das muß dann noch geschehen. Von Band II unsrer Folge ab muß dann Alles normal (je 14 Bogen) sein, der erste Band ist dann eben ein durch die Notwendigkeit programmatischer Erklärungen stärker gerathenes Wunderkind. Ich bitte mir zunächst Ihr Einverständnis zu schreiben und nicht vorher an Jaffé, da er sonst nicht wollen würde, |:daß ich zuschieße [.] :| Sind wir beide einig, so muß er schon. Ein Absturz von 17 auf 13 Bogen würde uns direkt dem Spott preisgeben und diskreditieren, jeder Bogen mehr für Heft 2 ist hier von Werth.7 Mit bester Empfehlung Ihr aufrichtig ergebenster Max Weber NB! Die Druckerei verrechnet sich übrigens anscheinend immer. Auch dauert es endlos, bis Heft 1 erscheint! 8
a 〈und〉 7 Paul Siebeck sicherte bereits am nächsten Tag in seiner Antwort an Weber zu, die Übernahme der Kosten für die drei überzähligen Bögen des ersten Heftes des AfSSp als „Morgengabe“ zu übernehmen (vgl. Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 13. Apr. 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Das erste Heft erschien dann dank Siebeck in 17 Bögen, die beiden folgenden Hefte des ersten Bandes umfaßten 14,5 und 14 Bögen. 8 Paul Siebeck sah die Verzögerung beim Druck für das 1. Heft noch nicht als tragisch an, versprach jedoch, ein Auge auf die Arbeit der Drucker zu halten und zukünftig ggf. eine neue Druckerei zu wählen. Vgl. den Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 13. Apr. 1904 (ebd.). Das 1. Heft erschien schließlich zwei Tage später, am 14. April 1904.
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Helene Weber 13. April 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 3, Bl. 190 f.
Hbg 13/4 04 Liebe Mutter! Der Rücken ist heut etwas müde, da ich eine größere Arbeit fertig gemacht habe,1 – aber einen herzlichen Geburtstagsglückwunsch zum Jahre 60 muß er doch noch hervorbringen.2 Du hast früher öfter gesagt, Du freutest Dich auf das 7te Jahrzehnt des Lebens – nun freu Dich aber auch, wo es da ist, am Leben! daß Du es können wirst, ist unser herzlichster Wunsch. Mit Alfreds ja doch wohl ziemlich sicherem Fortgehen3 kommt nun noch einmal eine große Veränderung, und wir können uns noch kein rechtes Bild davon machen, wie sich Alles nachher gestalten wird. Du wirst dann mit den Gedanken, wohl noch mehr auf der Wanderschaft sein als jetzt schon, – aber wir wollen hoffen, daß Du dann an uns Allen mehr Heitresa erlebst, als in manchen Partien des verflossenen Lebensjahrzehnts, und Allem nach scheint es ja so, als ob der Frühling im Aufsteigen wäre, nicht nur in der Natur. Alfred scheint ja erstaunlich anhaltend arbeiten zu können – warum übrigens diese verfl… Ferienkurse? – und wird sich nun hoffentlich bald erst einmal aufs Wasser begeben,4 – was mich anlangt, so zeigt sich, daß ich immerhin immer wieder etwas fertig brin-
a Alternative Lesung: Heiteres 1 Es handelt sich vermutlich um: Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188 (vgl. die Briefe an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212 mit Anm. 2, sowie vom 15. Apr. 1904, unten, S. 216 mit Anm. 2). 2 Helene Weber feierte ihren 60. Geburtstag am 15. April 1904. 3 Alfred Weber hatte Aussichten auf Professuren in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Er ging schließlich an die Deutsche Universität Prag. Vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203, sowie den Brief an Alfred Weber vom 16. Mai 1904, unten, S. 224 mit Anm. 2. 4 Alfred Weber brach am 19. April 1904 zu einer Reise nach Boulogne sur Mer auf (Brief von Alfred Weber an Helene Weber vom 18. Apr. 1904, BA Koblenz, Nl. Alfred Weber, Band 47) und machte von Nordfrankreich einen Abstecher nach England (sein Brief an Helene Weber vom 23. Apr. 1904, ebd.).
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gen kann, – und worüber sollte ich mich dann, mit unsrem so glücklichen Leben hier, beschweren? Ich verdiente ja Prügel – wenn man denkt, was Andren auferlegt ist. – Hoffentlich – vor Allem – geht nun die „wabernde Last“ bald fort, – Das ist doch nervös, man sollte dir den Rücken einmal mit etwas Levico-Wasser5 stärken. Mich wundert [,] daß sie das – oder etwas Ähnliches – nicht schon gethan haben. Immer wieder fragen wir uns, ob nicht besser doch ein Aufenthalt in hohen Bergen wäre, der Dich doch vielleicht überhaupt tüchtig in die Höhe brächte. Etwa am Südfuß des M te Rosa oder so etwas. Behaglicher ist es natürlich hier, und in die Höhe könnte man auch kaum vor der letzten Mai-Woche. Jedenfalls sehnen wir uns sehr nach dem Zusammensein.6 – Frensdorff war gestern hier, verfehlte mich aber. Außerdem Otto Baumgarten – er ist doch ein unendlich glücklicher Mensch! Beneckes reisen in Frankreich, wie die Tante schrieb. Die Frl.b Ubisch ist, wie mir gestern ein Vetter7 von ihr sagte, also in Mariannes Adresse untergebracht.8 Sonst nichts Neues. Uns geht es gut. – Herzlichst Dein getreuer Max
b Unsichere Lesung. 5 Nach dem im Trentino gelegenen Kurort Levico benanntes Heilwasser, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur inneren und äußeren Anwendung bei zahlreichen Erkrankungen in Mode kam. 6 Helene Weber wollte sich in Heidelberg von ihren gesundheitlichen Problemen erholen und die Höhenluft auf der sogenannten Molkenkur oberhalb des Heidelberger Schlosses genießen (Brief von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 5. Apr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 7 Möglicherweise der Physiker Paul Hertz. 8 Gertrud (Gerta) v. Ubisch, die Schwester von Lili Schäfers enger Freundin Lisa v. Ubisch, studierte 1904 ein Semester in Heidelberg (vgl. Ubisch, Gerta von, Zwischen allen Welten. Die Lebenserinnerungen der ersten Heidelberger Professorin Gerta von Ubisch, hg. von Susan Richter und Armin Schlechter. – Ostfildern: Thorbecke 2011, S. 35 f.). Marianne Weber hatte in ihrem Brief an Helene Weber vom 1. April [1904] (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) verschiedene Quartiervorschläge gemacht.
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Paul Siebeck 15. April 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
Heidelberg 15/4 04 Hochverehrter Herr Dr Siebeck! Die Redaktion ist überaus erfreut und angenehm überrascht von Ihrer generösen „Morgengabe“.1 Mir ist es fast etwas penibel, daß ich nun mein Scherflein nicht beitragen soll, da ich doch etwas das „Karnickel“ bin. Aber wir nehmen Ihr Anerbieten mit Dank an, da es eine sehr ernstliche Klippe beseitigt. Von nun an soll den Autoren streng die Innehaltung Ihres Bogen-Umfangs zur Pflicht gemacht werden. Nehmen Sie meinen herzlichen Dank! Sobald ich (morgen) meinen Aufsatz für Heft 2 und 3 (Fideicommisse) 2 fertig habe, gehe ich mit großem Vergnügen an die Lektüre Ihres „Neumann“, 3 von der ich mir viel verspreche. Sie müssen viel Mühe damit gehabt haben. Hoffentlich bleiben Sie uns recht gesund!4 Mir
1 Als Antwort auf Webers Brief vom 12. April 1904, oben, S. 212 f., hatte Paul Siebeck am 13. April 1904 die Übernahme der Kosten für die drei überzähligen Bögen des ersten Heftes als „Morgengabe“ zugesagt (vgl. Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 13. Apr. 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). 2 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188. Da Weber den Artikel erst im Mai 1904 fertiggestellt hatte und Probleme mit der Druckerei hinzukamen, konnte er schließlich erst im 3. Heft des AfSSp erscheinen. Vgl. den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 23. Mai 1904, unten, S. 227, und seinen Brief an Paul Siebeck vom 20. Juli 1904, unten, S. 246 f., sowie den Brief von Edgar Jaffé an Paul Siebeck vom 30. April 1904, in dem er ankündigt, daß Webers Aufsatz erst in Heft 3 erscheinen könne (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). 3 Neumann, Erinnerungsblätter (wie oben, S. 212, Anm. 1). Vgl. dazu die Briefe Max Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212 f., und vom 4. Mai 1904, unten, S. 221 f. 4 Paul Siebeck hatte Weber schon am 29. Januar 1904 angekündigt, für einige Zeit zur Nervenberuhigung in Kur fahren zu wollen (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Im Brief vom 19. April 1904 (ebd.) zeigte Siebeck sich mit den Fortschritten seines Befindens „recht zufrieden“.
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geht es ganz erträglich, ich habe eine umfangreiche recht schwierige Arbeit fertig machen können.5 Mit besten Empfehlungen und Grüßen Ihr aufrichtig ergebener Max Weber
5 Weber spricht hier erneut vom Fideikommiß-Aufsatz (wie oben, S. 216, Anm. 2), für den er laut Marianne Weber seit März 1904 „allerlei greuliches statistisches Zeugs“ zu berechnen hatte; sie fürchtete daher eine neuerliche Arbeitsüberlastung (vgl. den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 18. März 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Zur Entstehung von Weber, Fideikommißfrage, vgl. auch den Editorischen Bericht in: MWG I/8, S. 88.
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17. April 1904
Ignaz Jastrow 17. April 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig British Library of Political and Economic Science, London School of Economics and Political Science, Nl. Ignaz Jastrow, Misc. 114 Weber hatte bereits am 8. April 1904 bei Ignaz Jastrow für eine mögliche Berufung von Julius Hatschek an die Handelshochschule in Berlin geworben. Vgl. die Editorische Vorbemerkung zu diesem Brief, oben, S. 210.
Heidelberg 17. IV. 04 Sehr geehrter Herr College! Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Hatschek gehört zu den sehr seltenen Juristen mit gründlicher philosophischer Bildung, würde also für encyclopädische Vorlesungen (Allgemeine Rechtslehre u. dgl.) besonders geeignet sein. Spezialisten für Handelsrecht giebt es ja kaum noch, da wird ein germanistischer Civilist wohl das einzig Mögliche sein. – Über die Besetzung der Professuren an den Universitäten habe ich leider längst aufgehört mich zu wundern. Mit bestem Gruß Ihr ergebenster Max Weber
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Lujo Brentano 1. Mai 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 55, Bl. 129 Das Schreiben findet sich als Zusatz auf einem Brief von Franz Schoenberg an Lujo Brentano vom 28. April 1904 (BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 55, Bl. 128 f.). Schoenberg war ein Schüler Brentanos und nun Referendar in Grevenbroich im Rheinland. Bei seiner Arbeit stieß er auf die von einem Amtsrichter angelegte Statistik, die die jährlichen Hypothekeneintragungen und Löschungen seines Gerichtes auf deren Ursachen hin untersuchte. Die Ergebnisse könnten laut Schoenberg dazu beitragen, die Behauptung agrarischer Interessenverbände, daß die Verschuldung landwirtschaftlichen Grund und Bodens stark im Zunehmen begriffen sei, zu entkräften. Diese Behauptung stütze sich wesentlich auf die Zusammenstellung der Amtsgerichte über die jährlichen Hypothekeneintragungen und Löschungen. Die erwähnte Statistik zeige jedoch, daß die Mehrbelastung für die Bauern eine äußerst geringe sei und hauptsächlich auf Krediten und Erbteilungen beruhte. Schoenberg wollte nun von Brentano wissen, ob sich diese Statistik zur Publikation eigne. Dieser leitete die Anfrage umgehend an Max Weber mit der Frage weiter, ob ein Artikel dieser Art für das AfSSp geeignet sei. Der Abdruck eines Aufsatzes von Franz Schoenberg kann jedoch nicht nachgewiesen werden.
Heidelberg 1. V. 04 Hochverehrter Herr Geheimrath!
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Besten Dank für Ihr freundliches Gedenken! Eigentlich dürfen wir (laut Contrakt) rein statistische Sachen nicht nehmen.1 Wenn Sie glauben, daß der Verfasser es nicht übel nimmt, falls es eventuell nicht gehen sollte, so wäre ich für eine Anregung zur Einsendung sehr dankbar, ich würde dann versuchen, ob sich eine „Notiz“ daraus stylisieren läßt und, wenn irgend möglich die Sache bringen. Nur kann ich grade in diesem Fall nicht gut ohne Correspondenz mit Sombart definitiv verfügen. Mit angelegentlichster Empfehlung und bestem Dank Ihr ergebenster Max Weber.
1 Der zwischen Edgar Jaffé und Paul Siebeck am 23. August 1903 abgeschlossene Vertrag besagt dazu nichts. In § 2 heißt es nur allgemein: „Dr. Jaffé übernimmt die Redaktion des Archivs, er hat allein das Recht sich Mitredakteure, Mitherausgeber oder Stellvertreter zu wählen. Er bestimmt die Mitarbeiter sowie die Zusammensetzung des Inhaltes des Archivs.“ Zum vollständigen Wortlaut vgl. den Abdruck im Anhang, unten, S. 617–620.
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Paul Siebeck 4. Mai 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
Heidelberg 4/V 04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck! Nachdem ich den „Neumann“1 nun gelesen habe, muß ich doch sagen, daß Ihnen Jeder, der menschliches Interesse und kulturhistorischen Sinn besitzt, dankbar sein muß, daß Sie der Tochter diese Publikation ermöglichten. Das Buch hat – besonders die erste Hälfte – etwas Ergreifendes, es spricht deutlicher als alle historischen Schilderungen aus: daß wir ein großes Volk von großen Menschen gewesen sind, so lange wir arm waren. Welche verwickelten und für uns so fremdartigen Empfindungen in den Beziehungen der „Gräfin“ zu Vater und Sohn.2 Man wüßte gern viel mehr – nicht den Namen (den Quinckea hier ja z.B. kennt), denn der Name thut gar nichts zur Sache, zöge das Interesse von dem Vorgang als solchem nur ab – aber von dem Urteil des Sohnes über die Mutter. Da auch mein Großvater bei Ligny geblutet hat, interessierte mich auch diese Partie, 3 noch mehr die Darstellung der Burschenschaft, ein neuer Protest gegen Treitschkes rohe unwahre lieblose Art.4 a O: Quinke 1 Neumann, Erinnerungsblätter (wie oben, S. 221, Anm. 1). Vgl. die Briefe an Paul Siebeck vom 12. und 15. Apr. 1904, oben, S. 212 f. und 216 f. 2 Franz Neumann war der uneheliche Sohn der Gräfin Charlotte Friderike Wilhelmine von Mellin und ihres Gutsverwalters Franz Ernst Neumann. Erst in der Jugend erfuhr Neumann von seiner adeligen Herkunft. Der Name von Neumanns Mutter war zu Webers Zeit nicht bekannt und wurde auch in der Publikation der Tochter ausdrücklich verschwiegen (Neumann, Erinnerungsblätter (wie oben, Anm. 1), S. 149). 3 Die Schlacht von Ligny am 16. Juni 1815, in der die französische auf die preußische Armee traf, war Napoleons letzter Sieg vor der Niederlage von Waterloo zwei Tage später. Franz Neumann wurde bei dieser Schlacht schwer verwundet. Max Weber bezieht sich hier auf seinen Großvater väterlicherseits, Karl August Weber. 4 Heinrich von Treitschke hatte sich im 2. Band seiner „Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ mit der Burschen- und Turnerschaft in den Jahren nach 1815 auseinandergesetzt. Obgleich Treitschke in der Bewegung einen „gesunden Kern“ erblickte, war seine Haltung grundsätzlich durch eine kritisch-ironische Distanz geprägt, die sich insbesondere im wiederkehrenden Begriff des „Teutonentums“ widerspiegelt. In den politischen Bestrebungen der Burschenschaft, die in Jena ihren Ursprung hatte, vermochte er zumeist nicht mehr als die „Regungen christlich-germanischer Schwärmerei“ zu erblicken,
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Ein höchst werthvolles und lesenswerthes Buch, unter seines Gleichen turmhoch hervorragend. Nochmals herzlichen Dank dafür Ihr stets ergebenster Max Weber
einen politisch fruchtlosen und „überspannten Idealismus“, der schließlich im „Terrorismus“ geendet habe.“ Treitschke, Heinrich von, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Teil: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen (Staatengeschichte der neuesten Zeit, 25. Band). – Leipzig: Samuel Hirzel 1882, S. 383–443, hier S. 424.
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8. Mai 1904
Georg Jellinek PSt 8. Mai 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Georg Jellinek, Nr. 31
Lieber College! Wollen Sie das v. Jagemann’sche Machwerk im Archiv kurz abfertigen?1 – Ich würde mich sehr freuen. Besten Gruß Max Weber
1 Jagemann, Eugen von, Die deutsche Reichsverfassung. Vorträge. – Heidelberg: Winter 1904. Eine Rezension durch Georg Jellinek oder jemand anderen im AfSSp ist nicht nachgewiesen.
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Paul Siebeck 15. Mai [1904]; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Das Jahr wurde aus einer Anfrage von Paul Siebeck an Max Weber vom 10. Mai 1904 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446) erschlossen, in der Siebeck in einer verlegerischen Angelegenheit um Rat bat: Der Herausgeber und Bearbeiter des bei J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erscheinenden Gaupp’schen Kommentars zur Zivilprozeßordnung, Friedrich Stein, war so schwer erkrankt, daß Siebeck dessen Ableben befürchtete. Von Weber erbat er sich daher Vorschläge für einen potentiellen Nachfolger. Stein erholte sich jedoch wieder und war schließlich verantwortlich für die 8. und 9. Auflage des Werkes, die 1906 bei J.C.B. Mohr erschien. Der von Max Weber vorgeschlagene Hermann Staub starb bereits im September 1904.
Heidelberg 15/V Sehr geehrter Herr Dr Siebeck!
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Nach wiederholtem Besinnen scheint es mir, daß ich doch am gewissenhaftesten handle, wenn ich Ihnen rathe, in diesem Fall einen Andren als mich um Rath zu fragen: ich kenne den Nachwuchs der Prozeßdisziplin zu wenig, um nicht mit großer Wahrscheinlichkeit fehlzugreifen. Können Sie Sich nicht an R[ichard] Schmidt, Freiburg, den Sie ja kennen, wenden? Oder an einen Ihrer juristischen Autoren? vielleicht an Jellinek? – Nur einen Praktiker könnte ich nennen, der[,] wenn er die Sache übernimmt, sie jedenfalls auch gut macht, und der sie ferner jedenfalls nur dann übernimmt, wenn er ihr sich gewachsen weiß: Rechtsanwalt Dr Staub, Berlin, – Commentator des Handelsgesetzbuchs (Berlin, Heine),1 – der Commentar ist ganz vorzüglich, Staub ein brillantera Praktiker, mit gediegener Fachbildung. Aber ob Staub |:eventuell:| bereit ist, ist mir sehr fraglich, da er gewaltig mit Arbeit beladen ist. Ganz unmöglich ist es dennoch wohl nicht; vielleicht würde er sich einem Andren beigesellen. Aber das ist auch Alles, was ich sagen kann. Besten Gruß Ihr stets ergebenster Max Weber a O: brillianter 1 Staub, Hermann, Kommentar zum allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch (ohne Seerecht). – Berlin: Heine 1893. Das Werk erlebte zahlreiche Neuauflagen.
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Alfred Weber PSt 16. Mai 1904; PSt Heidelberg Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 54–55 Zur Berufung Alfred Webers nach Prag, zu der Max Weber hier gratuliert, vgl. seinen Brief an Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203–205.
Lieber Alfred! Also herzlichen Glückwunsch. – In Österreich wirst Du ja dem unvermeidlichen Adelsprädikat auch nicht lange entgehen, für welchen Fall ich aber entschieden vorschlagen möchte: „Weber von Fallenstein“.1 Hoffentlich hören wir bald das Nähere, – ob Du finanziell, mit Wohnung pp. gut abgeschnitten hast etc.2 Nachdem Althoff selbst den schon abgeschlossenen Contrakt mit Dir als noch nicht perfekt behandelt hat, kann er sich ja nun nicht beklagen, daß Du ihm durchgehst. Mir persönlich ist gefühlsmäßig an der Sache angenehm, daß Du nicht mehr von Schmoller abhängig bist. Herzlichen Gruß Max
1 Auch auf dem Briefumschlag findet sich über der eigentlichen Anschrift, vermutlich von der Hand Marianne Webers später hinzugefügt, die Formulierung „Prof. Dr. Weber von Fallenstein!“ Fallenstein war der Geburtsname von Helene Weber. 2 Bereits am 21. April 1904 hatte Alfred Weber detailliert an Max Weber über die finanziellen Details seiner Stellung in Prag berichtet: „ich verdiene im Jahr 9000 Kronen (incl. der circa 2000 Kr. betragenden Promotions- und Staatsexamens-Gebühren). Von dem 6000 Kr. betragenden festen Gehalt (außerdem giebt es auch 900 Kr. Aktivitätszulage) muß ich eine Anstellungsgebühr von 2000 Kr. zahlen; so daß ich im ersten Jahr nur 7000 Kronen verdiene. Alle 5 Jahre steigt das Gehalt um 900 Kr. – 4 Referendariatsjahre werden mir für meine Pensionsfähigkeit angerechnet. – An Umzugsgeldern werden nur 200 Kronen bezahlt. / Im ganzen ist das Materielle also, wenn auch nicht glänzend – es giebt keine Kolleggelder – so doch nicht schlecht.“ Zit. nach Weber, Alfred, Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Eberhard Demm und Hartmut Soell (Alfred Weber-Gesamtausgabe, Band 10). – Marburg: Metropolis 2003, S. 544.
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Lujo Brentano 22. Mai [1904]; Heidelberg Brief; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 67, Bl. 159–160 Das Jahr wurde aus dem Inhalt des Briefes erschlossen; in der Datumszeile des Schreibens findet sich von dritter Hand die irrtümliche Jahresangabe „03“. Zu Webers Versuchen, Lujo Brentano als Rezensenten von Sombarts „Der moderne Kapitalismus“ für das AfSSp zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Oktober 1903, oben, S. 157. Max Weber benutzt Briefpapier mit dem gedruckten Briefkopf: Charlottenburg Marchstr. 7F. Diese Adresse seiner Mutter wurde eigenhändig durchgestrichen und durch die Heidelberger Adresse ersetzt.
Heidelberg 22/V Hochverehrter Herr Geheimrath!
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Wir möchten Sie mit Sombart nicht quälen und „anöden“. Aber die bisherigen ernsthaften Kritiker sind Historiker u. haben alle nur Band I mit der verfehlten Grundrenten-Hypothese aufs Korn genommen. Da diese Sache eigentlich erledigt ist, so wäre grade die Auseinandersetzung mit S[ombart]’s „Handwerks“-Begriff, wie Sie sie geben würden, so sehr werthvoll. Und dann enthält der 2te Band doch noch eine ganze Reihe recht geistvoller, aber hie u. da auch anfechtbarer Theorien, und der Werth der ganzen Methode, der Grundgedanke des Werks für das mächtige Problem der Entstehung des modernen wirtschaftlichen Geistes, welches Ihnen immer so nahe lag, lassen uns den größten Werth auf Ihre Stellungnahme legen. − S[ombart] selbst ist jetzt mit ganz andren Sachen befaßt. − Wenn Sie Sich also entschließen könnten, zu gelegener Zeit doch wieder an die Sache zu gehen, so würden Jaffé und ich darüber aufrichtig erfreut sein. − Daß mein Bruder Alfred W[eber] als Ordinarius nach Prag geht, werden Sie wissen.1 Nicht grade sehr dankbar, − aber besser als unter Althoffs Knute! Mit angelegentlichster Empfehlung Ihr ergebenster Max Weber 1 Alfred Weber hatte im April 1905 die Berufung an die Deutsche Universität Prag an genommen. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203.
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Edgar Jaffé [22.] PSt Mai 1904; PSt Heidelberg Karte; eigenhändig Privatbesitz Das Datum erschließt sich aus dem Inhalt der Karte, mit dem Hinweis auf den Brief an Jaffé „mit Koppel’s Arbeit morgen“ (vgl. den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 23. Mai 1904, unten, S. 227). Die Karte wurde erst am „23. Mai 1904“ abgestempelt.
Lieber Herr Dr! Da ich an Brentano ohnehin schrieb,1 antwortete ich gleich auf dessen Brief an Siea, den ich mit Koppel’s Arbeit morgen an Sie zurückschicke.2 Gegen die letztere habe ich recht viele Bedenken, – jedenfalls soll nun zunächst einmal Sombart sich die Sache ansehen; hat er nichts dagegen, dann will ich nicht Spielverderber sein. Aber es ist „viel Geschrei u. wenig Wolle“.3 Recht unerfreulich ist die Langsamkeit der Fortschritte Ihrer Frau.4 Ich bin mit abscheulichem Schnupfen etc. an das Zimmer gefesselt u. kann nicht arbeiten. Besten Dank für Ihren Brief und Gruß! M.W.
a O: sie 1 Vgl. den Brief an Lujo Brentano vom 22. Mai 1904, oben, S. 225. 2 Vgl. den Brief Max Webers an Edgar Jaffé vom 23. Mai 1904, unten, S. 227. Ein Aufsatz von Koppel ist im AfSSp nicht nachgewiesen. Bei der Arbeit könnte es sich um die Dissertation von August Koppel handeln, der im Februar 1904 von Karl Rathgen in Heidelberg promoviert worden war. Vgl. Koppel, August, Für und wider Karl Marx. Prolegomena zu einer Biographie. – Karlsruhe: Braun 1905. 3 Eine bis ins Mittelalter zurückgehende Redewendung. 4 Marianne Weber berichtete am 12. April 1904 an Helene Weber von einem Ischiasanfall bei Else Jaffé, der sie zu dieser Zeit ans Bett fesselte (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Zudem litt sie vermutlich seit der Geburt des ersten Sohnes Friedel am 28. September 1903 an postnatalen Depressionen, die sie im Mai/Juni 1904 zu einem Sanatoriumsaufenthalt in Baden-Baden zwangen. Vgl. Roth, Guenther, Edgar Jaffé and Else von Richthofen in the Mirror of Newly Found Letters, in: Max Weber Studies, Vol. 10, No. 2, 2010, S. 151–188, hier S. 167.
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23. Mai 1904
Edgar Jaffé 23. Mai [1904]; Heidelberg Brief; eigenhändig Privatbesitz Jahresdatum aus dem Zusammenhang mit der Karte an Edgar Jaffé vom Tag zuvor erschlossen, oben, S. 226.
Hbg. 23/V Lieber Herr Doktor!
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Anbei den Koppel.1 Ich bin nicht sehr für die Aufnahme. Die Leistung ist ganz wesentlich schriftstellerischer, u. zwar journalistischer Art. Analysiert man sich nach dem vielen Feuerwerk, was denn nun eigentlich gesagt ist, so ist es gradezu erstaunlich wenig. Viele neue Bilder und Analogien, recht wenig neue Gedanken, – ja eigentlich kein einziger. Nirgends eine klare sachliche Analyse der angezogenen Schriftsteller. Alle Schwächen der Simmel’schen Diktion und Manier, keine seiner Stärken. Teil I kommt gar nicht in Frage, wie Sie ja auch schreiben. Auch gegen Teil III hatten doch auch Sie von Anfang an gegründete Bedenken, die ich teile. Bliebe also Teil II, der aber, um selbständig erscheinen zu können, eine andre Form erhalten müßte. Aber bitte veranlassen Sie nun erst einmal Sombart seine Meinung zu sagen. Besten Gruß Ihres Max Weber Mein Fideicommißaufsatza liegt fertig hier zu Ihrer Verfügung.2
a O: Fideicomißaufsatz 1 Vgl. die Karte an Edgar Jaffé vom [22.] Mai 1904, oben, S. 226, Anm. 2. 2 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188.
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zweite Maihälfte 1904
Emil Zürcher [zweite Maihälfte 1904]; Heidelberg Brief; eigenhändig Zentralbibliothek Zürich, Nl. E. Zürcher 31.53 Das Datum ist aus dem Inhalt des Briefs erschlossen mit Bezug auf: Zürcher, Emil, Zwei Volksinitiativen im Kanton Zürich für und gegen die Abolition, in: AfSSp, Band 20, Heft 2, 1905, S. 3 01–340. Das Heft erschien zu Jahresbeginn, die Korrespondenz mit Zürcher bezüglich seines Aufsatzes muß also aus dem Jahr 1904 stammen. Am 23. November 1904 berichtet Edgar Jaffé an Paul Siebeck über den Eingang des Beitrags von Zürcher in der Druckerei (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). In der ersten Briefzeile berichtet Weber von einer Grippe, die auf den Mai 1904 hinweist. In der Karte vom [22.] Mai 1904 an Edgar Jaffé (oben, S. 226) heißt es nämlich, er sei mit „abscheulichem Schnupfen“ ans Zimmer gefesselt, was auf eine Grippe hindeuten mag. Schließlich verwendete Weber bei seinem Brief an Lujo Brentano am 22. Mai (oben, S. 225 mit Editorischer Vorbemerkung) ebenfalls das Briefpapier seiner Mutter, die Anfang Mai 1904 zu Besuch in Heidelberg war. Max Weber benutzt Briefpapier mit dem gedruckten Briefkopf: Charlottenburg Marchstr. 7F. Diese Adresse seiner Mutter wurde eigenhändig durchgestrichen und durch die Heidelberger Adresse ersetzt.
Heidelberg Hauptstr. 73 Verehrter Herr College! Eine hartnäckige Grippe schloß mich von aller Correspondenz ab, sonst hätte ich natürlich umgehend auf Ihren liebenswürdigen Brief geantwortet. Wir bitten in erster Linie Sie, zu sagen, welchen Raum Sie brauchen und wann Sie fertig werden könnten. Wenn der Aufsatz bis Anfang September (spätestens) in unsren Händen wäre, könnte er in das November-Heft kommen. Wir hatten mita etwa 1½–2 Bogen gerechnet, bitten aber wie gesagt, daß Sie den Umfang nach Ermessen bestimmen und uns nur vorher ungefähr angeben. Wie gesagt, kommt es uns nicht auf eine Erörterung de lege ferenda an. Derartiges existiert ja freilich fast durchweg in unwissenschaftlicher Form, massenhaft, – von den abolitionistischen Zeitschriften und Flugblättern bis zu den ärztlichen Congressen und Gutachten mit ihrem „veterinären“ Standpunkt gegenüber der Sache. Sondern wir wollen gern wissen, welche angeblichen und wirklichen Motive und Interessen, materieller und ideeller Art, in Zürich im Kampf gelegen haa Alternative Lesung: auf
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ben und wie dieser Kampf verlaufen und so u. nicht anders entschieden ist, – welches der bestehende Rechts- und thatsächliche Zustand ist und wie er wirkt. Die Ansichten über das Wünschenswerthe werden dabei ja immer mit in die Erörterung hineinspielen, aber es wäre uns angenehm, wenn sie die Nebenrolle spielten. Ich bin (im Wesentlichen) Abolitionist, das hindert aber die Aussprache anderer Standpunkte in der Zeitschrift keineswegs. Der Ordnung halber füge ich bei, daß das Archiv per Bogen 64 M. Honorar zu zahlen pflegt. – Wir sind sehr erfreut über Ihre liebenswürdige Zusage und ich empfehle mich mit ausgezeichneter Hochachtung ergebenst Max Weber
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Heinrich Rickert 14. Juni 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 25, Bl. 11–12
Heidelberg 14/VI 04 Lieber Rickert! Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Ich finde es ganz unverantwortlich von den Ärzten, daß man Sie hat lesen lassen u. meine, Sie sollten noch jetzt abbrechen. Solche Sachen sind doch kein Pappenstiel!1 – Ihre Zustimmung zu dem Gedanken des „Idealtypus“ erfreut mich sehr.2 In der That halte ich eine ähnliche Kategorie für notwendig, um „werthendes“ und „werthbeziehendes“ Urteil scheiden zu können [.] Wie man sie nennt [,] ist ja Nebensache. Ich nannte sie so, weil der Sprachgebrauch von „idealem Grenzfall“, „idealer Reinheit“ eines typischen Vorgangs, „idealer Construktion“ etc. spricht, ohne damit ein Sein-sollendes zu meinen, ferner weil das, was Jellinek (Allg[emeine] Staatslehre) „Idealtypus“ nennt, |:als:| nur im logischen Sinn perfekta gedacht ist, nicht als Vorbild.3 Im Übrigen muß der Begriff weiter gea 〈ist〉 1 Heinrich Rickert mußte sich zum Jahresbeginn 1904 einer schweren Blinddarmoperation unterziehen, an deren Folgen er den Rest seines Lebens in Form einer chronischen Agoraphobie mit ihren Begleiterscheinungen (Depressions- und Angstzustände, Nervosität usw.) zu leiden hatte (Oaks, Guy, Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1982. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 160, Anm. 3). Nach Aussage Marianne Webers habe er unmittelbar nach der Operation in Lebensgefahr geschwebt, weshalb sich ein Krankenhausaufenthalt bis in den März anschloß (vgl. den Brief von Marianne Weber an Helene Weber, undat. [zwischen dem 6. und 10. Jan. 1904], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Dazu auch: Heinrich Rickert an Emil Lask vom 2. März 1904 (UB Heidelberg, Heid.Hs. 3820, 71). 2 Max Weber bezieht sich hier auf eine nicht überlieferte briefliche Reaktion von Heinrich Rickert auf Weber, Objektivität. 3 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre (Das Recht des modernen Staates, 1. Band). – Berlin: O. Häring 1900. Ebd., S. 31–39, beschäftigt sich mit den „Typen als Gegenstand der Staatslehre“; „Idealtypen“ stellen laut Jellinek etwas „Sein-Sollendes“ dar, nichts „Seiendes“. Damit haben sie teleologischen Charakter und sind wissenschaftlich wertlos. Demgegenüber steht bei ihm der „Durchschnittstypus“, der dem „Idealtypus“ entgegengesetzt ist; seine Ermittlung sei das Ziel der „Wissenschaft vom Staate“, wobei der „Durchschnittstypus“ stets an neueren realen Entwicklungen zu messen und ggf. zu ändern ist. Als ein Beispiel führt Jellinek den Idealtypus der antiken Polis als Einheitsstaat an, dem
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klärt werden, er enthält allerhand bei meiner Darstellung noch ungeschiedene Probleme. Ich werde demnächst einmal (im Winter) die Bedeutung der Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ für das historische Urteil u. den |:Entwicklungsbegriff:| zu analysieren suchen.4 Vorerst kommt ja durch St Louis ein großer Hiatus hinein.5 Auch schwankt mein Befinden constant, so daß ich zu meiner Hauptarbeit: „protestantische Ethik und Geist des Capitalismus“6 nur sporadisch komme. Meine Frau ist in Berlin.7 Herzliche Grüße und Wünsche an Sie beide8 – und, wie gesagt, schaffen Sie Sich Ruhe – wie kann Sie denn die Unterbrechung des Collegs „deprimieren“! Dann müßte ich mich ja totschießen. Ihr Max Weber
allerdings „nicht einmal die Verhältnisse der antiken Polis“ entsprochen hätten (ebd., S. 573). 4 Webers Auseinandersetzung mit dieser auf den Physiologen Johannes von Kries zurückgehenden Kategorie erschien erst 1906: Weber, Kritische Studien, S. 185–207: „II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung“. 5 Gemeint ist die Reise in die USA anläßlich des „International Congress of Arts and Science“ von August bis November 1904. 6 Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215. 7 Marianne Weber nahm vom 12. bis 18. Juni 1904 am Internationalen Frauenkongreß in Berlin teil. 8 Heinrich Rickert und seine Frau Sophie Rickert, geb. Keibel.
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Hugo Münsterberg 21. Juni 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig Boston Public Library, Münsterberg Papers, Mss. Acc. 2077 Im Zentrum dieses Briefes sowie derjenigen an Georg Jellinek nach dem 21. Juni 1904, unten, S. 234, und an Hugo Münsterberg vom 17. Juli 1904, unten, S. 237–242, stehen Auseinandersetzungen, die sich im Vorfeld des „International Congress of Arts and Science“ im Rahmen der Weltausstellung von St. Louis entwickelten. Von den deutschen Teilnehmern wurde Münsterberg im Sommer 1904 mit dem Vorwurf konfrontiert, daß die Kongreßteilnehmer nach nationaler Herkunft unterschiedlich bezahlt werden würden. Münsterberg sah in Max Weber den Urheber dieses Vorwurfs. Zu dessen Unmut benutzten einige deutsche Gelehrte diesen Vorwurf, um ihre im Jahr zuvor gegebene Zusage nun doch noch kurzfristig zurückzuziehen, offenbar nicht ohne zuvor noch bei Münsterberg um mehr Geld gebeten zu haben. Laut einem Brief von Ernst Troeltsch an Adolf Harnack vom 23. Juni 1904 waren es 24 Gelehrte, darunter namentlich Wilhelm Windelband, Georg Jellinek und Albrecht Kossel, „weil Ihnen die Reiseentschädigung zu gering war“ (SBPK zu Berlin, Nl. A. v. Harnack, K. 44: Troeltsch, Ernst, Bl. 9r–10v). Woher die Annahme einer differentiellen finanziellen Vergütung der Kongreßteilnehmer stammte, ist nicht festzustellen; nahezu alle Briefe, die Weber in diesem Zusammenhang erwähnt (ein „Kollektivbrief“ Münsterbergs an Windelband z. B., von dem Weber Kenntnis hatte, Briefe Adolf Harnacks an Ernst Troeltsch etc.), sind heute nicht mehr nachweisbar. Unter dem Datum des 1. November 1903 hatten alle europäischen Kongreßteilnehmer ein Merkblatt mit den wichtigsten Hinweisen zur Organisation erhalten. Hier heißt es ausdrücklich: „Each European speaker visiting the Congress and delivering an official address by special invitation will be entitled to receive from the management of the Exposition the sum of Five Hundred Dollars ($ 500) in reimbursement of his travelling expenses, payable on his arrival at St. Louis.“ (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nl. Wilhelm Ostwald, Nr. 3495). Die Summe entsprach dem Wert von ca. 2100 Mark und diente nur zur Deckung der Reisekosten, während die Unterbringung in St. Louis kostenfrei war. Lujo Brentano gegenüber hatte Münsterberg schon in seiner Einladung vom 8. Juli 1903 genau diese Summe genannt (BA Koblenz, Nl. Lujo Brentano, Nr. 39, Bl. 142–144).
Heidelberg 21.6. 04 Sehr geehrter Herr College! Nach Ihrem Brief an Windelband muß ich Sie – zugleich im Auftrag von Tröltsch – dringend um Auskunft bitten, ob etwa eine differenzielle Behandlung der Gelehrten der verschiedenen Nationen stattgefunden hat, d.h. ob den Deutschen wegen ihrer „Lebenshaltung“ weniger gezahlt werden soll als andren. Wenn ja, dann komme ich zwar, da ich dies ohnehin vorhatte, nach den U[nited] S[tates], aber nicht auf den Congreß, und ich glaube viele Andre werden ebenso handeln. Die höchst wenig erquickliche Form („deutscher Durchschnittsprofessor“) Ihrer Bemerkung, die natürlich
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allgemein bekannt wird, könnte mich zu einem Rücktritt von meinem einmal gegebenen Wort nicht veranlassen und die Höhe der Entschädigung an sich zu diskutieren widerstrebte mir. Aber unbedingte Gleichbehandlung war selbstverständliche Voraussetzung der Annahme für uns Alle. Mit collegialer Empfehlung Ihr ergebenster Max Weber
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Georg Jellinek [nach dem 21. Juni 1904]; o.O. Brief; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Georg Jellinek, Nr. 31 Datum erschlossen durch den Hinweis auf den Brief an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232 f. Zum Streit um die angeblich schlechtere Behandlung der deutschen Teilnehmer vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232.
Lieber College! Besten Dank für den freundlichen Hinweis auf die Montesquieu-Stelle!1 Es thut mir leid, neulich etwas lebhaft geworden zu sein, aber in der Sache bleibe ich der Überzeugung, daß die nachträgliche Absage so vieler Deutscher, |:zumal:| aus pekuniären Gründen, nicht nur das Interesse von uns Jüngeren, die wir an die Sache gebunden sind, sehr schädigt, sondern auch, nachdem nun einmal diese an sich höchst skurrile Congreß-Veranstaltung ins Leben getreten war, „nationale“ Inter essen unangenehm berührt und unser Ansehen wenigstens schädigen kann. – Anders liegt die Sache, wenn – wonach ich Münsterberg peremtorisch gefragt habe2 – Differenzierungen vorgekommen sind. Dann gehe ich, wie ich M[ünsterberg] schrieb, zwar vielleicht nach Amerika, aber nicht zum Congreß. Harnack bestreitet das auf das schärfste; Althoff habe grade diesen Punkt urgiert.3 Herzlichen Gruß, auf Wiedersehen Max Weber
1 Ein Brief von Georg Jellinek an Weber ist nicht nachgewiesen. Vermutlich geht es jedoch um eine Stelle aus dem „Esprit des lois“, die Weber im 1. Aufsatz der „Protestantischen Ethik“ zitiert: „Montesquieu sagt [. . .] von den Engländern, sie hätten es ,in drei wichtigen Dingen von allen Völkern der Welt am weitesten gebracht: in der Frömmigkeit, im Handel und in der Freiheit‘.“ (Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 139 f.). 2 Vgl. den Brief an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232 f. 3 Weder im Nachlaß von Adolf Harnack noch dem von Friedrich Althoff ist das nachgewiesen.
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Georg von Below 17. Juli 1904; Heidelberg Abschrift; maschinenschriftlich ohne Schlußformel, mit Korrekturen von der Hand Marianne Webers GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 95–96
Heidelberg, den 17. 7. 04. Sehr geehrter Herr Kollege!
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Ich danke verbindlichst für Ihre sehr freundliche Zusendung1 und ebenso im sachlichen Interesse wie aus persönlichen Gründen für Ihren Hinweis auf meine Arbeit.2 Fast muß ich nur fürchten, daß mir von deren Ergebnissen zu viel als Verdienst zugerechnet werden wird. Ausser dem mir allerdings wichtigsten letzten Drittel enthält der Aufsatz ja eigentlich nur eine Anwendung der Gedanken meines Freundes Rickert. Zustimmung habe ich bisher nur von Philosophen erfahren, von Fachgenossen nur von Gothein und Sombart (nicht in allen Einzelheiten),3 welch letzterer doch die sehr wertvolle Eigenschaft hat, Fehlgriffe einsehen zu können, wenn sie ihm nicht in so ungeschliffener Form wie von Delbrück vorgehalten werden.4 Ich komme auf diese Arbeiten natürlich zurück; 5 jedenfalls schon im Lauf des Winters. Bis dahin hindert mich die Reise nach St. Louis6 – ich habe mich für diesen zoologischen Garten einfangen lassen – und einige andere Arbeiten.
1 Below, Georg von, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 159 vom 14. Juli 1904, S. 89–91 (hinfort: Below, Objektivität). 2 Weber, Objektivität. 3 Es muß sich um private Äußerungen gehandelt haben, da die Schriftenverzeichnisse von Gothein und Sombart keine entsprechenden Arbeiten in dieser Zeit aufweisen. Vgl. Maurer, Michael, Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie. – Köln u.a.: Böhlau 2007, S. 375; Lenger, Sombart (wie oben, S. 154, Anm. 4), S. 516. 4 Delbrück, Hans, [Rez. zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: PrJbb, Band 113, Juli–Sept. 1903, S. 333–350. Vgl. dazu auch die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Okt. 1903, oben, S. 157. 5 Below gab in seinem Artikel der Hoffnung Ausdruck, daß Weber „seine Abhandlung, wie wir zuversichtlich hoffen, noch weiter ausbauen und seinen fruchtbaren Gedanken damit noch größere Wirkung verschaffen“ wird. Below, Objektivität (wie Anm. 1), S. 91. 6 Gemeint ist die Reise in die USA anläßlich des in St. Louis stattfindenden „International Congress of Arts and Science“ von August bis November 1904.
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Daß auch Schmoller wieder gar keine sachliche Rezension von natio nalökonomischer Seite erfährt,7 ist wirklich beschämend für uns. Ich komme vielleicht im Sommer einmal dazu.8 So wie Sie könnte ich ihn, obwohl Sie in allem Einzelnen recht haben, nicht behandeln.9 Denn ich fühle mich ihm – wozu Sie ja keinen Anlaß haben – wissenschaftlich doch zu sehr verpflichtet (persönlich nicht, im Gegenteil). Jedenfalls ist nicht Schmoller deshalb ein bedeutender Gelehrter, weil er dies Buch geschrieben hat, sondern weil Sch[moller] ein bedeutender Gelehrter ist, interessiert man sich für das Buch. Es ist wahr, daß die „Gelehrtenrepublik“ keine Höflingswirtschaft dulden soll, wie sie hie und da besteht, aber – wenn Sie diese Bemerkung gestatten – ich glaube, die große Vehemenz Ihrer Form schädigt gelegentlich die sachliche Förderung, die man Ihrer Kritik stets verdankt, macht es wenigstens schwerer, sie zu erkennen. Doch entschuldigen Sie – es hat schließlich jeder sein Temperament, ich nicht zuletzt.
7 Gemeint ist: Schmoller, Gustav, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 2. Teil: Verkehr, Handel und Geldwesen. usw. – Leipzig: Duncker & Humblot 1904 (hinfort: Schmoller, Grundriß). 8 Eine Rezension von Max Weber zu Schmoller, Grundriß (wie Anm. 7) ist nicht nachgewiesen. 9 Vgl. Below, Georg von, Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Band 7, 1904, S. 145–185; 221–237; 304–330; 367– 391; 451–466; 654–659; 685 f.; 710–716; 787–804.
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Hugo Münsterberg 17. Juli 1904; Heidelberg Brief; von der Hand Marianne Webers mit eigenhändigen Korrekturen und Zusätzen Max Webers Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2229 Zum Streit um die angeblich schlechtere Behandlung der deutschen Teilnehmer vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief von Max Weber an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232.
Heidelberg 17. VII. 04. Sehr geehrter Herr Kollege,
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Ich sehe aus Ihrem Briefe, daß Ihnen tatsächlich bittres Unrecht geschehen ist und begreife daher Ihre Entrüstung, muß deshalb auch den Umstand, daß diese sich – in einem allerdings etwas auffälligen Gegensatz zu Ihrer gleichzeitigena Antwort an Windelband – grade gegen mich entlädt, mit einigen später zu erwähnenden Vorbehalten, hinnehmen. Wenn Sie allerdings schreiben, ich sei „der Erste“ gewesen, der geglaubt habe, Sie hätten eine differenzielle Behandlung geduldet, so ist daran nur richtig, daß ich allein, meinen Gepflogenheiten gemäß, mich für verpflichtet hielt Sie darüber offen zur Rede zu stellen. Der Glaube selbst aber bestand, und zwar nicht nur hier, längst vor Ihrem |:Collectiv-:|Briefeb an Windelband, und hat zweifellos seine Folgen gehabt. Woher er rührt, ist nicht festzustellen; dem Collegen [,]1 der hier die Verantwortung dafür trägt, haben Tröltsch u. ich schon das Entsprechende bemerkt. Was mich anlangt, so bin ich seiner Behauptung bis zum Eintreffen Ihres Briefes an Windelband auf das Entschiedenste als ganz undenkbar entgegengetreten. Nicht minder habe ich die nachträgliche Bettelei um mehr Geld u. die nachträglichen Absagen aus pekuniären Gründen als eine Schäbigkeit u. dem deutschen Ansehen nachteilig empfunden u. bezeichnet: 2 Die Herren waren in der Lage sich das sechs Monate früher zu überlegen u. es müßte übera letzten > gleichzeitigen b Eigenhändig. 1 Am Kongreß nahmen neben Weber und Ernst Troeltsch noch zwei weitere Professoren aus Heidelberg teil: der Physiologe Otto Cohnheim und der Literaturhistoriker Johannes Hoops. Ob einer von diesen beiden gemeint ist oder ggf. ein Wissenschaftler, der schließlich am Kongreß nicht teilnahm, ist spekulativ. 2 So z.B. im Brief an Georg Jellinek, nach dem 21. Juni 1904, oben, S. 234, und schon im Brief an seinen Bruder Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203–205.
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haupt dem Taktgefühl des amerikanischen Komité’s3 überlassen bleiben die Entschädigung nach Maßgabe seinerc Mittel in anständiger Höhe zu normieren, während wir uns nur zu überlegen hatten, ob sie uns genüge, an unser einmal gegebenes Wort aber uns binden mußten. – Nun kam aber Ihr Kollektivbrief an Windelband. In diesem wurde den Kollegen vorgehalten: Es sei ja den Herren drüben ein leichtes gewesen, uns das doppelte zu bieten, aber man habe gefunden, der „Durchschnittsprofessor“ reise ja doch 2. Klasse u.s.w. u.s.w., und Geheimrat Althoff habe sich dieser Auffassung angeschlossen. Nun scheinen Sie 1) keine Ahnung zu haben, wie die Bezugnahme auf das Urteil dieses Herrn über unsre Lebenshaltung heute – u. immerhin nicht ganz ohne Grund – auf deutsche Professoren wirkt. – Und 2): Von diesem Moment an war allerdings auch ich, wie wir Alle ohne Ausnahme, der Meinung, daß also der Betrag für die einzelnen Nationen je nach dem Ergebnis der Verhandlungen mit den einzelnen Unterrichtsverwaltungen festgesetzt sei, und ich vermag mir keinen Vorwurf daraus zu machen, daß dem so war. In dieser Überzeugung, die erst vor kurzem durch einen an Tröltsch gerichteten Brief Harnack’s wieder erschüttert wurde, habe ich Ihnen, so wie geschehen, geschrieben.4 Daß ich Ihnen mit allgemeiner Bekanntgabe der Angelegenheit „gedroht“ hätte, lesen Sie in meinen Brief hinein. Wäre die Sache, wie es bei dem entstehenden Mordsspektakel zunächst unvermeidlich schien, in die Presse gekommen, so hätte ich allerdings sowohl Althoff auf der einen, wie den Bettelbriefstellern auf der andren Seite gegenüber meine Ansicht vertreten u. habe das den Herren hier auch in Aussicht gestellt. – Jene Deutung Ihres Briefs |:aber:| war, wenn man ihn eben mit deutschen Augen las, in der That kaum vermeidbar. Und wir sind auch jetzt einmütig der Meinung, daß die Hereinziehung Althoff’s – auf dessen Sprachschatz man insbes. den Ausdruck „Durchschnittsprofessor“ zurückführte – in diese Frage für uns, so wie wir die Sache ansahen, höchst unerfreulich dsein mußted , während ich andrerseits zugebe, daß Sie das in ediesem Gradee wohl nicht haben voraussehen können. c ihrer > seiner d war > sein mußte e dieser Art > diesem Grade 3 Gemeint sind die federführenden Veranstalter des „Congress of Arts and Science“: Howard J. Rogers als Direktor, Simon Newcomb als Präsident, Hugo Münsterberg und Albion Small als Vizepräsidenten. Daneben gab es noch ein Administrative Board, dem sieben Mitglieder angehörten. 4 Vgl. den Brief Max Webers an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232 f.
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Daß Sie nun die allgemein gehegte Annahme, Sie hätten einer differentiellen Behandlung der einzelnen Nationen nicht vorgebeugt, als Vorwurf empfinden, freut mich, – so sehr ich natürlich bedaure Ihnen durch ihre Aussprache Ärger bereitet zu haben. Allein nicht alle Kollegen pflegen auf diesem Standpunkt zu stehenf u. standen auf demselben in diesem Fall, so selbstverständlich er mir |:(wie Ihnen):| erscheint. Hensel z.B. (der einzige Auswärtige, dem ich, als er nach dem Tag unsrer Reise fragte, davon Mitteilung machte), war der Ansicht, das brauche uns garnicht zu kümmern. (Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß ich ihm sowohl von Harnack’s gegenteiliger Behauptung wie jetzt alsbald von Ihrem Dementi Mitteilung gemacht habe) [.] Dies der Sachverhalt. – Sie sind |:nun:| jedenfalls ganz u. gar im Irrtum, wenn Sieg meinen, meine liebe Eitelkeit habe an dem Ausdruck „Durchschnittsprofessor“, der ja h|:immerhin recht:|h verschieden gedeutet werden konnte, Anstoß genommen. Bei dem jetzigen Stande meiner Leistungsfähigkeit muß ich recht zufrieden sein [,] wenn Jemand mich dafür gelten läßt. Sondern es war wie gesagt 1) die Hereinziehung der Ansicht Althoff’s 2) der Umstand, daß wir nach Ihrem Brief bestimmt annahmen, die Lebenshaltung des „Durchschnittsprofessors“ sei, da die Unterrichtsverwaltung mitgesprochen habe, als Funktioni der Nationalität behandelt worden, was uns Alle hier in einem Grade verletzte, dem ich durch die Wendung „unerquicklich“5 |:wohl:| nur sehr vorsichtig Ausdruck verliehen habe. Alle Anerkennung der ungeheuren Opfer[,] die Sie selbstlos für den Kongreß u. die deutsche Wissenschaft gebracht haben, konnte an jener Empfindung, so lange wir die Irrigkeit unsrer Voraussetzung nicht kannten, nichts ändern. Wenn Andre in demselben Zeitpunkt Ihnen höfliche Briefe schrieben, wo sie bemüht waren einen alle Hochschulen ergreifenden Spektakel anzurichten, so entspricht das nicht meinem Geschmack. Und wenn Sie meinen Brief „unfreundlich“ fanden, so ist es nicht meine Gewohnheit, mich Jemandem in’s Gesicht anders vorzustellen als hinter seinem Rücken. Klarheit mußte geschaffen werden, und da die hiesigen Collegen behaupteten, Sie würden vermutlich nur antworten können, daß Sie, da die Verhandl[ungen] mit andren Regief 〈oder〉 g 〈hi〉 h–h Eigenhändig. i O: Funktion |:Funktion:| ; Max Weber hat das Wort eigenhändig hinzugefügt, obwohl es bereits an dieser Stelle stand. 5 In seinem Brief vom 21. Juni 1904 an Münsterberg, oben, S. 232, hatte Weber die Wendung „wenig erquickliche“ verwandt.
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rungen durch Andre geführt seien, j|:von der Sache nichts wußten,:|j so mußte eine Antwort, ev. seitens des Komité’s erzwungen werden. Daher der prononciert k„offizielle“k Ton meiner Anfrage. – Nun einige persönliche Bemerkungen. Die Ausführungen auf S. 4 Ihres Briefes unten sind einer sehr bösartigen Auslegung fähig. Nach Rücksprache mit Tröltsch sehe ich davon ab sie so zu deuten u. bemerke nur folgendes: Wennschon der Wunsch, die Verein[igten] Staaten zu besuchen u. dazu einen Anlaß zu haben, für mich (offen gestanden) im Vordergrunde stand, so war es mir doch natürlich auch eine erhebliche Ehre zu diesem Unternehmen eingeladen zu sein. Ich bleibe dabei, obwohl Ihre Andeutung, wie sauer es Ihnen geworden sei, grade mich „durchzusetzen“,6 davon nicht viel bestehen läßt. Wenn Sie nun aber weiter glauben, das „Entscheidende“ sei, auf Ihrem Programm öffentlich zu figurieren, diese „Auszeichnung“ zu empfangen etc., so gebietet mir die Ehrlichkeit, Ihnen zu sagen, daß ich dafür keinen Groschen gebe – wie Jeder, der mich irgend kennt, Ihnen bestätigen muß. – Undl daß die Eitelkeit, die ich wahrscheinlich so gut wie Andre besitze, sich jedenfalls nicht grade in dieser Richtung äußert. Denkt Ihre Kongreßleitung darin anders, dann müßte ich freilich anheimstellen mich noch jetzt – vielleicht |:auch:|m öffentlich – wieder n„auszuladen“n . Eine ent sprechende Nachricht träfe mich hier bis 17. August oder auf dem Lloyddampfer „Bremen“ (am 1. Sept. dort ankommend). Denn ich sage Ihnen ganz offen, daß ich ausschließlich der interessanten Gelehrtengesellschaft wegen, die ich zu treffen Aussicht habe u. um die Vereinigten Staaten zu sehen, komme. – Daß ich es gar Ihnen gegenüber als eine „Großmut“ hingestellt hätte, wenn ich den Kongreß besuche, werden Sie bei kaltem Blut schwerlich in meinem Brief finden. Ich habe solche persönlichen Momente in unsre Auseinandersetzung nicht hineingetragen. Ich betrachte die Aufwendung der immerhin gewaltigen Kosten – denn der gebotene Betrag7 ist, wie nunmehr auch ich bemerken möchte, tatsächlich völlig unzulänglich selbst für ein einj–j Eigenhändig. k Anführungszeichen eigenhändig. l Eigenhändige Korrektur: u > Und m Eigenhändig. n Anführungszeichen eigenhändig. 6 Max Weber gehörte offensichtlich nicht zu den ursprünglich eingeplanten deutschen Vertretern. Georg Jellinek regte in einem Brief vom 27. Juli 1903 an Hugo Münsterberg an, auch Weber einzuladen, da er „wieder arbeitskräftig und bester Stimmung“ sei (Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 24996b (681a)). 7 500 Dollar.
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faches Billet8 eines o„Durchschnittsprofessors“o und insbes. hat der Lloyd mir jede Ermäßigung rundweg abgeschlagen9 – einfach als eine nationale Repräsentationspflicht, p|:nachdem man die Einladung angenommen hat,:|p obwohl natürlich jeder Andre die deutsche Wissenschaft ebenso gut oder weit besser vertreten könnte als grade ich. – Ich war ferner, um auch darauf einzugehen, Ihnen persönlich – wie ich Ihnen s.Z. schrieb u. sagte, – aufrichtig dankbar dafür, daß Sie an mich gedacht hatten – ich vermuthe allerdings nach Äußerungen Jellineks, daß er Sie dabei beeinflußt hat,10 – u. dies bleibt in gewissem Sinne auch so, denn obwohl ich nach der Art, wie Sie mir diese Dinge jetzt vorrücken, wohl die Empfindung haben könnte: Wir seien nun gründlich „quitt“, – so muß ich mir doch sagen, daß Sie sich in einer grade nach meinem Empfinden berechtigten Entrüstung befanden u. daß Sie nicht wissen konnten u. – da ich keine Lust habe, Ihnen hiesigen Klatsch vorzutragen – auch künftig nicht wissen werden, wie sehr dieselbe sich, gelinde gesagt, an die falsche Adresse gerichtet hat. Ich werde nun natürlich – vorbehaltlich der oben berührten Eventualität – trotz dieser Korrespondenz den Kongreß besuchen. Daß der Verdacht der „Differerenzierung“ nicht weiter um sich griff, haben Tröltsch u. ich schon nach Harnack’s Brief durch ziemlich energisches Vorgehen gegen gewisse Kollegen gehindert. – Schließlich habe ich Ihnen noch für Ihr in der Form sehr glückliches u. zur sachlichen Information in jeder Hinsicht wertvolles Buch zu danken.11 Ich kenne die Litteratur ziemlich u. weiß daher zu beuro Anführungszeichen eigenhändig. p–p Eigenhändig. 8 Allein das Hinfahrtticket hat 500 Mark pro Person gekostet, wie aus dem Brief von Marianne Weber an Helene Weber und Familie vom 23. und [28.] August 1904, unten, S. 264, hervorgeht. 9 Im März 1904 hatte Hugo Münsterberg den deutschen Teilnehmern eine kleine Broschüre zusammengestellt mit Hinweisen zu den alltäglichen Gepflogenheiten vor Ort, den besten Hotels, Ausflugszielen usw. Darin heißt es auch ausdrücklich, daß die deutschen Schiffahrtsgesellschaften bereit seien, „die Fahrpreise für die Kongreßteilnehmer zu ermäßigen“ (zit. nach Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin, Nl. Wilhelm Ostwald, Nr. 3495; S. 4 der Broschüre). Die Gesamtkosten der Reise bezifferte Weber zunächst mit 7200 Mark, von denen die $ 500 (= 2100 Mark) Reisekostenentschädigung abzuziehen waren, dann auf weniger als 7000 Mark (vgl. die beiden Briefe an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. sowie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 376–390 und 398–407). Zu späteren Kontakten zum Lloyd vgl. die Karte an Marianne Weber vom 4. Juni 1905, unten, S. 486 mit Anm. 5. 10 Siehe oben, S. 240, Anm. 6. 11 Münsterberg, Hugo, Die Amerikaner, Band 1: Das politische und wirtschaftliche Leben; Band 2: Das geistige und soziale Leben. – Berlin: Mittler 1904.
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teilen, wie wertvoll auch da, wo Sie sich (mit Recht) Bryce12 u. Andren angeschlossen haben, Ihre Mühe gewesen ist, die für europäisches Verständnis adäquate Form zu finden. q Ihr ergebenster Max Weberq
q–q Eigenhändig. 12 Bryce, James, The American Commonwealth, Second Edition Revised, 2 vols. – London and New York: Macmillan u. Co. 1890. Daß Weber wohl diese und nicht die erste Auflage benutzt hat, ist nachgewiesen in MWG II/5, S. 57, Anm. 4 (Brief an Robert Michels vom 26. März 1906).
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Georg von Below 19. Juli 1904; Heidelberg Abschrift; maschinenschriftlich ohne Anrede und Schlußformel, mit Korrekturen von der Hand Marianne Webers GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 4, Bl. 96–97
H., 19. 7. 04.
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Ich danke sehr für Ihren freundlichen Brief, besonders, daß Sie meine Bemerkungen bezüglich Schmoller freundlich aufgenommen haben, – die Sie ja schließlich als „unberufen“ hätten ablehnen können.1 Sie waren bei mir wesentlich dadurch veranlaßt, daß ich nicht gern als „Höfling“ gelten wollte, wenn ich seiner Zeit Schmoller im ganzen doch anders behandeln werde. Obwohl ich – wie ich das den Kollegen hier ausdrücklich gesagt habe – finde, daß Sie in allem Einzelnen im Recht sind. ....a Es ist und bleibt ein Skandal, daß hier (wie bei Sombart) 2 eine wirklich sachliche Kritik aus unserem Fach heraus nicht erfolgt und alles Ihnen überlassen bleibt, der Sie doch natürlicher- und berechtigter Weise, zunächst wenigstens, die Interessen der Historiker dabei vertreten. Erst hinterher trauen sich dann die Nationalökonomen hervor; bei Lamprecht war es ja ähnlich.3 – a Auslassungszeichen in Abschrift. 1 Vgl. den Brief Max Webers an Georg von Below vom 17. Juli 1904, oben, S. 235 f. Der gesamte erste Absatz bezieht sich erneut auf Gustav Schmollers jüngstes Werk und die Reaktionen darauf: Schmoller, Grundriß (wie oben, S. 236, Anm. 7). Below hatte sich dazu ebenso ausführlich wie kritisch geäußert in: Below, Georg von, Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Band 7, 1904, S. 145–185; 221–237; 304–330; 367–391; 451–466; 654–659; 685 f.; 710–716; 787–804. 2 Vgl. hierzu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Okt. 1903, oben, S. 157. Die Rezension von Belows zu Sombart: Below, Georg von, Die Entstehung des modernen Kapitalismus, in: HZ, Band 91, 1903, S. 4 32–485. 3 Weber spielt hier auf die sog. Lamprecht-Kontroverse der 1890er Jahre an, an der auch Georg von Below als heftigster Kritiker von Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ federführend beteiligt war. In den wichtigsten nationalökonomischen Zeitschriften der Zeit erschienen kaum Rezensionen. Neben einer weitgehend positiven Besprechung des ersten Bandes durch Gustav Schmoller (SchmJb, 15. Jg., Heft 3, 1891, S. 615–617) läßt sich noch eine anonyme, sehr wohlwollende Notiz von Band 4 und 5,1 der „Deutschen Geschichte“ in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (Band 51, Heft 1, 1895, S. 176 f.) nachweisen. In den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik ist keine Besprechung nachweisbar. Eine grundsätzlich positive Würdigung fanden die Bände 2 und 3 in einer ausführlichen Rezension durch Ignaz Jastrow, die allerdings in einer mediävistischen Fachzeitschrift in Frankreich erschien (Le moyen âge, Band 6, 1893, S. 236–242).
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Meinen Fideikommißaufsatz4 werde ich Ihnen demnächst in Revisionsbögen schicken – es interessiert mich sehr zu hören, daß auch Sie darüber schreiben werden.5 Für mich ist der Hauptgesichtspunkt die Scheidung zwischen alten Fideikommissen in den Händen alter historischer Adelsfamilien und den modernen kapitalistischen Parvenufideikommissen. Beide wirken in jeder Hinsicht verschieden. Leider hätte eine, wirklich wissenschaftlichen Anforderungen genügende, Kritik der Punkte, auf die es mir ankam, weit größere Vorarbeiten erfordert, als ich jetzt machen konnte. St. Louis6 hat mir eine etwas lästige Arbeit – Stellungnahme zu der Streitfrage Wittich, Knapp, Henning, Meitzen, Brunner, Schröder, Heck eingetragen, lästig deshalb, weil ich auch hier nur einige frühere Studien über Caesar7 u.s.w. verwenden konnte, ohne jetzt vollständig und erschöpfend in die Kontroverse hineinsteigen zu können.8 Nun gestatte ich mir noch eine Anfrage. Ich möchte Jellineks „Erklärung der Menschenrechte“ gern in einer kurzen Besprechung9 – nicht: Kritik, das würde kaum passen – ergänzen, in Bezug auf die für den Inhalt der im Cromwellschen Zeitalter geforderten Individualrechte maßgebende geschichtliche Situation.10 4 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188. 5 Below, Georg von, Die Frage der Vermehrung der Fideikommisse in Preußen, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 299 vom 29. Dez. 1904, S. 593–596, und Nr. 300 vom 30. Dez. 1904, S. 6 03–605. 6 Gemeint ist die Teilnahme am „International Congress of Arts and Science“ in St. Louis und die damit verbundene USA-Reise von August bis November 1904. 7 Weber bezieht sich hier auf Vorstudien zu früheren Lehrveranstaltungen. Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Webers Aufsatz: Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung, in: MWG I/6, S. 236 f. 8 Weber, Max, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts, MWG I/6, S. 228–299. 9 Jellinek, Georg, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. erweiterte Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1904. Ein eigenständiger Artikel Max Webers zu Jellineks Buch ist nicht nachgewiesen. Webers Idee mag jedoch motiviert gewesen sein durch Jellineks Vortrag im Eranos-Kreis über „Die religiösen und metaphysischen Grundlagen des Liberalismus“, den er am 3. Juli 1904 gehalten hatte. Vgl. Treiber, Hubert, Der „Eranos“ – Das Glanzstück im Heidelberger Mythenkranz?, in: Schluchter, Wolfgang, Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch. – Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 75–153, hier S. 150. Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Georg von Below vom 23. [Sept.] 1905, unten, S. 536 mit Anm. 9. 10 Max Weber dürfte sich hier v.a. auf die Bestrebungen der sog. Levellers beziehen, die im 17. Jahrhundert u.a. völlige Religionsfreiheit und direkte Wahlen aller freien Männer forderten. Damit gerieten sie v.a. in Widerspruch zu Oliver Cromwell, der die mit den Levellers sympathisierenden Teile der Armee 1649 endgültig militärisch besiegen konnte und ihre Führer anschließend arrestieren oder exekutieren ließ.
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Glauben Sie, daß dafür in Ihrer Zeitschrift11 event. Unterkunft wäre, eventuell: weil ich nämlich nicht sicher bin, ob ich vor meiner Abreise dazu komme, die Sache zu Papier zu bringen. Paßt diese – wesentlich die Staatsdoktrin des Anabaptismus und dergleichen Dinge berührende – Sache in Ihr Arbeitsgebiet nicht, so bitte ich um einfache Ablehnung.
11 Weber meint die Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die seit 1903 u.a. von Georg von Below herausgegeben wurde.
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Paul Siebeck 20. Juli 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
H. 20.VII.04 Sehr verehrter Herr Dr Siebeck! Die Druckerei bringt mich auch diesmal wieder zur Verzweiflung.1 Es sind nun mehr als 4 Tage, daß ich eine Fortsetzung der Correktur meines Artikels über die „Fideicommisse“ |:(für Heft 3):| vergebens erwarte.2 Dabei wäre an sich so sehr wünschenswerth, daß man die mehreren Bogen gleich nacheinander hätte, damit man nicht den einzelnen ganz aus dem Zusammenhang heraus gerissen corrigieren muß. Aber wichtiger ist mir: ich soll noch den Aufsatz über „Protestantische Ethik und Geist des Kapitalismus“3 vor meiner Abreise (15. August) in mindestens zwei Correkturen lesen, muß das auch – da ich bis Ende November fortbleibe – wenn er in Band XX Heft I soll und habe daran sehr viel zu bessern u. zu corrigieren, da ich ihn auf Wunsch der Drukkerei vorzeitig einschickte. Wie soll das in diesem Tempo gehen? Ich gestehe, daß mir ein solcher Schlendrian einer Druckerei doch eigentlich noch nie vorgekommen ist. Könnte und sollte man nicht bald wechseln?4 Jaffé in seiner großen Gutmütigkeit und Weichheit entschließt sich schwer zu energischen Schritten. Aber hier handelt es sich um die zweimalige Correktur von 7–8 Bogen (Alles in Allem), die in 3 Wochen erledigt sein muß! 5
1 Vgl. zu den Problemen mit der Druckerei den Brief Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212, Anm. 5. 2 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188. 3 Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215. 4 Wie schon im April (vgl. den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212, Anm. 5) reagierte Paul Siebeck auch jetzt nur ausweichend und sicherte erneut zu, die Druckerei-Frage „im Auge“ zu behalten. Einen Wechsel hielt er zu dieser Zeit aufgrund der Überlastung seiner eigenen Laupp’schen Druckerei noch nicht für möglich (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 21. Juli 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). 5 Paul Siebeck antwortete daraufhin am 21. Juli 1904 (ebd.), daß er zum einen die Druckerei telegraphisch beauftragt habe, die Korrekturen der beiden Aufsätze „schleunigst“ an Weber zu senden. Zum anderen habe er sie brieflich „um Aufklärung ersucht, warum sie die Korrekturen nicht rascher liefert.“
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Schließlich eine Bitte: da ich stets – schon meiner Handschrift wegen – sehr viel corrigiere, bitte ich von der Clausel bezüglich Abzug der Correkturkosten6 mir gegenüber stets Gebrauch zu machen. Sonst ist mir die Sache zu unangenehm.7 Mit angelegentlichster Empfehlung Ihr aufrichtig ergebener Max Weber.
6 Laut § 6 des Vertrages zwischen Edgar Jaffé und Mohr-Siebeck war es möglich, ungewöhnlich hohe Korrekturkosten dem jeweiligen Autor in Rechnung zu stellen, respektive von seinem Honorar abzuziehen. Zum vollständigen Wortlaut vgl. den Abdruck im Anhang, unten, S. 617–620. 7 Siebeck stimmte diesem Vorschlag umgehend zu (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 21. Juli 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446).
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21. Juli 1904
Paul Siebeck 21. Juli 1904; Heidelberg Karte; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
H. 21/7 04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck! Besten Dank! Hoffentlich wirkts.1 Die Druckerei hatte mir |:inzwischen:| gestern – am 5ten Tage, – wieder einen Fetzen von 10 (!) Seiten geschickt, das war Alles.2 100–120 sind zu corrigieren und zu revidieren! 3 – Beste Empfehlung Ihr stets ergebener Max Weber
1 Paul Siebeck hatte Weber am selben Tag unterrichtet, daß er die Druckerei telegraphisch beauftragt habe, „die Korrekturen Ihrer beiden Aufsätze […] schleunigst in Fahnen an Sie abzusenden“ (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 21. Juli 1904, VA Mohr/ Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 20. Juli 1904, oben, S. 246 f. 2 Gemeint sind die Korrekturfahnen zu: Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97– 215. Vgl. zu den Problemen mit der Druckerei den Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212, Anm. 5. 3 Paul Siebeck schrieb am 28. Juli 1904 an Max Weber (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446), daß die Druckerei nun versprochen habe, „alle Correcturen Ihres Aufsatzes über die Protestantische Ethik heute an Sie abzusenden.“
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Paul Siebeck 24. Juli 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Im Mittelpunkt dieses Briefes und der weiteren Karten und Briefe an Paul Siebeck vom 29. Juli und 17. August 1904, unten, S. 253 und 258–260, der Briefe an Walther Köhler vom 24. Juli und 17. August 1904, unten, S. 251 f. und 257, sowie des Briefes an Friedrich Michael Schiele vom 16. Mai 1905, unten, S. 482, steht die Frage nach Webers Bereitschaft zur Mitarbeit an einem theologischen Lexikon, aus dem später „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ wurde, das ab 1909 bei J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erschien. Schon 1900 gab es erste Diskussionen zwischen Martin Rade, Paul Siebeck, Gustav Krüger und Walther Köhler über das Profil eines neuen theologischen Nachschlagewerks, das sich insbesondere von der 3. Auflage der „Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ abgrenzen sollte. Die ersten redaktionellen Arbeiten wurden dabei ab 1903 von Walther Köhler übernommen, der jedoch aufgrund seiner fehlenden Erfahrung mit Großprojekten dieser Art zunehmend skeptischer von Rade und Siebeck beobachtet wurde. Im Sommer 1904 einigte man sich schließlich auf ein programmatisches Konzept des Lexikons, das in einem vertraulichen Rundschreiben an 100 potentielle Mitarbeiter verschickt wurde. Organisatorisch wurde beschlossen, die jeweiligen Abteilungen einzelnen Redakteuren zu überlassen und diesen bei der Gestaltung größtmögliche Freiheiten einzuräumen. Max Weber war dabei für den Bereich „Sozialwissenschaft“ vorgesehen und sagte nach anfänglichem Zögern auch zu. Walther Köhler zog sich schließlich im April 1905 nach Auseinandersetzungen mit dem Verlag über inhaltliche, personelle und organisatorische Fragen von dem Projekt zurück. Die Hauptredaktion übernahm daraufhin Friedrich Michael Schiele. Auch Weber sagte im Mai 1905 seine Mitarbeit als Abteilungsredakteur ab; er beriet jedoch weiterhin den Verlag bei der Wahl von Mitarbeitern und Stoffverteilungsplänen. Die sozialwissenschaftliche Abteilung übernahm Gottfried Traub mit dem Auftrag, „möglichst viele wichtige Artikel in Webers Hände zu legen“ (Paul Siebeck an Friedrich Michael Schiele vom 20. Mai 1905, zitiert nach: Hübinger, Gangolf, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1994, S. 201, Anm. 27). Von Weber erschien in der RGG1 nur ein kurzer Artikel, der 1908 entstand: „Agrargeschichte. I. Altertum“ (MWG I/6, S. 754–765).
24/VII 04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck!
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Die Druckerei schickte gestern wenigstens 1 Bogen, hoffentlich bleibts dabei!1 sonst wüßte ich nicht, was machen, da ich mein Überfahrtsbillet nach New York schon habe. Ich erhielt Ihre und Prof. Köhlersa (Gießen) Anfrage wegen des Lexikons. Ich danke sehr für Ihr Vertrauen, muß aber um Bedenkzeit a O: Köhler 1 Vgl. den Brief und die Karte an Paul Siebeck vom 20. und 21. Juli 1904, oben S. 246– 248. Vgl. zu den Problemen mit der Druckerei den Brief Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212, Anm. 5.
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bitten, wie ich Herrn Köhler auch schreibe.2 Die große Schwierigkeit für jetzt ist schon, daß ich bis Ende November keine Minute an die Sache auch nur denken kann. Das wäre ganz einfach ausgeschlossen. Ich könnte bis dahin Erwägungen über die erwünschten Artikel, Mitarbeiter etc. schlechterdings nicht auch nur provisorisch anstellen.3 – Doch: Weiteres durch Prof. Köhler. – Nur noch eine Bitte um eine große Gefälligkeit. In der Zeitschriften-Bibliographie4 |:von 1898:| steht ein Aufsatz von Kötzschke über die sozialen Urzustände der Germanen, den ich seit langem vergebens suche, notiert: „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Neue Folge, II S. 269–310.“ Dieser Band ist aber 1899 erst erschienen u. enthält von Kötzschke etwas Anderes, aber nicht diesen Aufsatz [.]1) Wissen Sie, wann der Aufsatz erschienen ist, oder kennen Sie den Autor und könnten ihn fragen?5 Seine Adresse ist hier nicht festzustellen, während Sie ja mit ihm zu thun gehabt haben müssen. Die Sache ist für mich ziemlich wichtig. Für jedeb Auskunft6 herzlich dankbar mit ausgezeichneter Hochachtung und bester Empfehlung Ihr ergebenster Max Weber. 1)
Ich finde ihn auch sonst nicht in der Zeitschrift
b 〈Ausku〉 2 Vgl. den Brief Max Webers an Walther Köhler vom 24. Juli 1904, unten, S. 251 f. 3 Vgl. dazu den Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 28. Juli 1904 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446): „Für Ihre Nachricht bezüglich des Lexikons bestens Dank! Dr. Köhler und ich warten gerne auf Sie, wenn Sie nur mittun.“ 4 Gemeint ist: Bibliographie der deutschen Zeitschriften-Litteratur, Band 3: Alphabetisches nach Schlagworten sachlich geordnetes Verzeichnis von Aufsätzen, die während des Jahres 1898 in ca. 520 zumeist wissenschaftlichen Zeitschriften deutscher Zunge erschienen sind, hg. v. F. Dietrich. – Leipzig: Felix Dietrich 1899, S. 82. 5 Kötzschke, Rudolf, Die Gliederung der Gesellschaft bei den alten Deutschen, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N.F., 2. Jg., 1897/98, S. 269–316. Weber benutzte diesen Aufsatz für seine Arbeit: Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts (MWG I/6, S. 228–299, hier S. 230). Vgl. die Karte an Paul Siebeck vom 29. Juli 1904, unten, S. 253 mit Anm. 2. 6 Siebeck selbst hatte sich daraufhin an „den Sozialpolitiker Pastor a.D. Kötzschke in Charlottenburg“ gewandt, der jedoch nicht der Autor des besagten Artikels war (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 28. Juli 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Auf Hinweis von Hermann Kötzschke schrieb Siebeck dann an den tatsächlichen Autor, Rudolf Kötzschke, in Leipzig (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 30. Juli 1904, ebd.).
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Walther Köhler 24. Juli 1904; Heidelberg Abschrift; maschinenschriftlich Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), Alte Korrespondenz RGG2, RGG2 Duplikate Zum Versuch, Max Weber als Mitarbeiter und Redakteur für die spätere RGG zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, oben, S. 249. Auf dem Blatt befindet sich von Verlagsseite der Vermerk: „Material zum Lexikon.“
Heidelberg, 24.7.04. Sehr verehrter Herr Kollege,
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Sie sind mir allerdings als Verfasser des vorzüglichen theologischen Litteraturberichtes bekannt,1 wie als Conphilister2 – aber ich freue mich auch dieser persönlichen Beziehung! Was nun Ihr freundliches und ehrenvolles Angebot anbelangt, so möchte ich eventuell um Bedenkzeit bitten. Von allem andern abgesehen aber steht folgende, wie mir scheint, unüberwindliche Schwierigkeit im Wege. Ich gehe 20. August nach den Vereinigtena Staaten, komme Ende November zurück, bis dahin habe ich buchstäblich nicht eine Minute Ruhe, mir irgend etwas noch so allgemeines über die Sache zu überlegen. Es ist ausgeschlossen, daß ich auch nur in Gedanken mich damit beschäftige. Auf der Reise nämlich geht dies nicht. Nachher muß ich mich intensiv unserem „Archiv“ widmen, da es rücksichtslos genug ist, daß ich Jaffé Monate lang die Arbeit allein tun lasse. Ich sehe gar keine Möglichkeit, vor Januar an diese wichtige Sache auch nur zu denken, geschweige denn Vorschläge zu machen oder daran zu arbeiten. Der Mensch kann nicht mehr als er eben kann. Ich meine daher, Sie sollten doch an Jemand Anderen gehen! Rathgen, Oldenberg oder so jemand. Item, so sehr mich die Sache interesa O: vereinigten 1 Seit 1902 war Walther Köhler neben Gustav Krüger Herausgeber der Zeitschrift „Theologischer Jahresbericht“. Köhler war verantwortlich für den Teil „Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1648“, für den er alljährlich umfangreiche Literaturübersichten verfaßte. Vgl. erstmals Köhler, Walther, Kirchengeschichte vom Beginn der Reformation bis 1648, in: Theologischer Jahresbericht, Band 21, 1902, S. 533–643. 2 Weber und Walther Köhler waren Mitglieder der Burschenschaft Allemannia in Heidelberg, ohne sich jedoch zuvor persönlich gekannt zu haben. „Philister“ bezeichnet in der Begrifflichkeit der Allemannia einen „Alten Herrn“.
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sieren würde, nach den Vereinigten Staaten kann ich in meinem Leben nur einmal, das kann ich nicht abkürzen deshalb, und jetzt gilt es mit meinen 5 Stunden Arbeitszeit täglich noch einen Vortrag für St. Louis zu bauen.3 Ob ich mich zum „Redakteur“ qualifizieren würde, kann ich jetzt, wie gesagt, nicht einmal erwägen. Mitarbeiten würde ich nachher gerne. Mit angelegentlichster Empfehlung und in vorzüglicher Hochachtung Max Weber.
3 Weber, Max, The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: MWG I/8, S. 200–243.
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Paul Siebeck 29. Juli 1904; Heidelberg Karte; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Zum Versuch, Max Weber als Mitarbeiter und Redakteur für die spätere RGG zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, oben, S. 249.
Heidelberg 29.7.04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck!
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Besten Dank für Ihren Brief!1 Ich bitte Sie Sich nicht zu bemühen, – der qu[ästionierte] Kötzschke ist nicht Hermann K[ötzschke], sondern der Gelehrte, der in der Z[eitschrift] f[ür] Gesch[ichts-]Wissenschaft, als sie in Ihrem Verlage war, 2 Aufsätze schrieb, ein Historiker.3 Ich nahm sicher an, Sie wüßten seine Adresse oder könnten sie erfahren; da dies nicht der Fall, so danke ich für die Mühe und bedaure sie Ihnen verursacht zu haben. – Bzgl. des Lexikons habe ich noch schwere Bedenken. Ich schreibe in 2–3 Tagen an Köhler.4 Mit angelegentlichster Empfehlung Max Weber
1 Paul Siebeck hatte Max Weber am Tag zuvor über seinen erfolglosen Versuch geschrieben, den von Weber gesuchten Kötzschke ausfindig zu machen (Brief von Paul Siebeck an Max Weber vom 28. Juli 1904, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). 2 Gemeint ist: Kötzschke, Rudolf, Die Gliederung der Gesellschaft bei den alten Deutschen, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N.F., 2. Jg., 1897/98, S. 269– 316. Die „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“, hg. von Ludwig Quidde, erschien zwischen 1888 und 1895 bei der Akademischen Verlagsbuchhandlung von J.C.B. Mohr in Freiburg i.Br. Ab 1898 erschien die „Historische Vierteljahrschrift“, hg. von Gerhard Seeliger, mit dem Titel „Neue Folge der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ im Verlag von B.G. Teubner in Leipzig. 3 Vgl. den Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, oben, S. 250, Anm. 5 und 6. 4 Webers nächster nachgewiesener Brief an Walther Köhler datiert vom 17. August 1904, unten, S. 257.
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Alfred Weber 29. Juli 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 4, Bl. 56–58
Heidelberg 29.7.04 Lieber Alfred! Ich sitze tief in Correkturen,1 – möchte aber doch mit meinen Glückwunsch-Grüßen nicht zurückbleiben.2 Unsere Gedanken und Interessen sind natürlich sehr lebhaft immer wieder zu der Frage zurückgekehrt, wie es Dir nun in Prag ergehen wird – da es ja doch einmal ein Experiment ist und bleibt.3 Weniger das Colleg, als das nach meiner Erfahrung höchst strapazante Examinieren ist es, was da zu Bedenken Anlaß giebt. Hauptbedingung ist natürlich, wenigstens nach meiner in diesem Punkt ganz unzweideutigen Erfahrung in früheren Jahren: keinerlei wissenschaftliche Arbeit produktiver Art während des Semesters, zumal während der ersten Dozenten-Semester; – obwohl die durch das Sprechen angeregten Nerven natürlich grade dann besonders gern „möchten“, – es ist der sichere Ruin. Sehr freut es uns, daß die Haushaltsfrage sich so glatt geregelt hat, so viel Ärger und Schwierigkeit im Einzelnen noch kommen mag. Aber Abends? Auch bei Annahme eines Skat- und eines Kegelabends bleiben doch 5 andre, für die Du Dir doch wohl einen Vorleser halten willst? Uns interessiert das Alles, weil wir auch solche Schwierigkeiten kannten und kennen, trotzdem die Sache bei uns darin soviel einfacher liegt. Soll ich etwas Einzelnes noch rathen, so wäre es: Bankguthaben und Checkbuch. Nur durch letzteres, welches zur summarischen Notiz des Zweckes der Erhebung auf dem Coupon nötigt, haben wir jetzt klare Einsicht in die Finanzen. Du wirst nämlich noch Dein „blaues Wunder“ erleben mit den Kosten eines Haushalts.4 – Für die Collegs wirst Du doch nicht die 1 Für den Aufsatz: Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188; vgl. den Brief an Paul Siebeck vom 20. Juli 1904, oben, S. 246 f. 2 Alfred Weber feierte am 30. Juli 1904 seinen 36. Geburtstag. 3 Alfred Weber hatte im April 1904 eine Professur an der Deutschen Universität in Prag angenommen. Vgl. dazu den Brief Max Webers an Alfred Weber vom 16. Mai 1904, oben, S. 224. 4 Alfred Weber gründete mit der Übersiedlung nach Prag erstmals einen eigenen Hausstand.
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Thorheit begehen, die ich in Freiburg machte (und machen mußte) [,] sie ab ovo selbst zu bauen?5 In Berlin habe ich ein Colleghefta nach Goldschmidt genommen und umgestaltet u. ausgebaut,6 nach 2 Semestern war es absolutb bis zur Unkenntlichkeitc umgestaltet, – aber es hatte mir doch gewaltige Dienste in den ersten Semestern des Dozierens geleistet und ganz unnötige Kraftvergeudung gespart! – Doch genug all der guten Ratschläge. – Trotz einer ziemlich gereizten Correspondenz, die ich mit Amerika zu führen hatte7 – wir hatten den Verdacht, daß die Deutschen schlechter als Andre gestellt seien, ich mußte anfragen und die Leute drüben sind nun wüthend, – fahren wir, denke ich doch am 20ten August.8 Pekuniär ist es höchst leichtfertig. Aber es ist grade für uns vielleicht doch nicht angebracht, allzu ängstlich zu sein, – obwohl es mir wegen der dunklen Andeutungen über eigentümliche Bestimmungen des Örlinghäuser Testaments9 zuweilen Sorge macht. Wir fahren mit meinem
a Heft > Collegheft b 〈in meinem eigen〉 c 〈gestaltet〉 5 Max Brod war einer der ersten Studenten Alfred Webers in Prag. In seinen Erinnerungen betonte er Jahrzehnte später, daß Weber stets frei gesprochen und den Studenten lediglich eine handschriftliche hektographierte Disposition der Vorlesungsstunde an die Hand gab. Brod, Max, Streitbares Leben. Autobiographie. – München: Kindler 1960, S. 321. 6 Zum Sommersemester 1892 übernahm Max Weber, neben seiner Anwaltstätigkeit beim Berliner Kammergericht, die Vertretung seines schwer erkrankten Doktorvaters Levin Goldschmidt an der Berliner Universität. 7 Vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Hugo Münsterberg vom 21. Juni 1904, oben, S. 232. 8 Max und Marianne Weber traten die Reise am 18. August 1904 an. 9 Gemeint ist das Testament von Max Webers Onkel und Marianne Webers Großvater, Carl David Weber, der am 21. Juli 1907 verstarb. Mariannes Erbteil belief sich auf ca. 350 000 Mark, die z.T. in der Oerlinghausener Firma angelegt waren. Die daraus erwachsenden Zinsen machte das Paar nach der Testamentsvollstreckung im Herbst 1907 deutlich unabhängiger von den gelegentlichen Zuwendungen durch Helene Weber. Max Webers Befürchtungen um das Testament waren also unbegründet. Vgl. zu den Testamentsbestimmungen den Brief von Max Weber an Marianne Weber vom 3. Sept. 1907 (MWG II/5, S. 385 f.).
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Freund Tröltsch, auf dessen Rede ich übrigens, wenn ich Zeit habe, wohl noch in der Christl[ichen] Welt antworten werde.10 – Herzliche Grüße und Wünsche – was machst Du in den Ferien? – Max
10 Weber bezieht sich hier auf Ernst Troeltschs Rede über „Die christliche Ethik und die heutige Gesellschaft“ auf dem 15. Evangelisch-sozialen Kongreß im Mai 1904 in Breslau. In überarbeiteter Form erschien sie im Juli unter dem Titel: Troeltsch, Ernst, Politische Ethik und Christentum. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1904, sowie in den Kongreßprotokollen: Die Verhandlungen des fünfzehnten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Breslau am 25. und 26. Mai 1904. Nach dem stenographischen Protokoll. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1904, S. 11–40. In seinem Artikel „,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika“, der im Juni 1906 in der „Christlichen Welt“ erschien, setzte sich Weber nur in einer umfangreichen Fußnote mit Troeltsch auseinander (Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, MWG I/9, S. 4 54 f., Fn. 1 mit Erläuterungen). Die Fußnote findet sich nicht in der Fassung des Textes, die zuvor in zwei Folgen in der „Frankfurter Zeitung“ erschienen war.
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Walther Köhler 17. August 1904; Heidelberg Abschrift; maschinenschriftlich Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), Alte Korrespondenz RGG2, RGG2 Duplikate Zum Versuch, Max Weber als Mitarbeiter und Redakteur für die spätere RGG zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, oben, S. 249.
Heidelberg, 17.8.04. Sehr geehrter Herr College!
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Unter diesen Umständen1 bin ich bereit. Entschuldigen Sie die große Kürze dieser Mitteilung, ich bin in höchster Eile, da ich morgen früh abfahre.2 Mit besten Empfehlungen und hochachtungsvollem Gruß Ihr ergebener gez. Max Weber.
1 Die wichtigen strategischen Entscheidungen für das Unternehmen sollten nun doch erst 1905 getroffen werden. Vgl. dazu den Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom gleichen Tag, unten, S. 259. 2 Max und Marianne Weber brachen am 18. August 1904 zu ihrer USA-Reise auf.
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Paul Siebeck 17. August 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 Zum Versuch, Max Weber als Mitarbeiter und Redakteur für die spätere RGG zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Paul Siebeck vom 24. Juli 1904, oben, S. 249. Im August 1904 war noch Walther Köhler als leitender Redakteur vorgesehen.
Heidelberg 17/8 04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck! Die Correkturen1 sind Gott sei Dank erledigt [.] Die Druckerei2 hat dabei constant neue Fehler gemacht, z.B. wenn ein Wort in der Correktur eingeschoben war, ein andres statt dessen weggelassen, beim Neu-Umbrechen von Zeilen diese durcheinandergebracht etc., so daß ich finde, es war wirklich etwas arg. Richtig ist ja, daß die Sache, da ich das Mscr. auf Wunsch nicht ganz druckfertig einlieferte, diesmal recht schwierig war. – Nun habe ich noch eine Bitte an Sie. Ich komme erst Ende November – etwa am 27ten – zurück.3 Würden Sie in diesem Fall einmal ausnahmsweise die Separatabzüge des Aufsatzes im Septemberheft (Fideicommisse) 4 auf meine Kosten von dort aus versenden lassen können? Da der Entwurf wahrscheinlich im Winter in den Landtag kommt, 5 liegt mir sachlich an dem Gelesenwerden meiner Kritik. Falls Sie – wofür ich sehr dankbar wäre – in diesem Fall so freundlich sein könnten, schicke ich die Liste mit. Ich bestellte (m.W.) 30 Separatabzüge. Morgen früh reise ich, bin also für Briefe jetzt unerreichbar, meine Adressen hat Dr Jaffé. Fällig werdende Honorare würde ich bitten an die Rhein. Creditbank, Filiale Heidelberg, zu schicken. – 1 Zu: Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215. 2 Vgl. zu den Problemen mit der Druckerei den Brief Webers an Paul Siebeck vom 12. Apr. 1904, oben, S. 212, Anm. 5. 3 Max und Marianne Weber kehrten Ende November über Hamburg zurück nach Heidelberg, vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 398–407. 4 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188. 5 Aufgrund der Kritik in der Öffentlichkeit und durch amtliche Gutachter verzichtete die preußische Regierung schließlich darauf, den „Vorläufigen Entwurf eines Gesetzes über Familienfideikommisse“ in den Landtag einzubringen. Stattdessen wurde er weiter beraten. Erst knapp zehn Jahre später wurde ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt. Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Fideikommißfrage, in: MWG I/8, S. 81–91, hier S. 9 0.
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Ich habe Köhler – mit Bedauern! – abgesagt.6 Aber ich konnte jetzt nichts mehr machen und bis Weihnachten |:(oder länger!):| können Sie nicht gut warten. Mitarbeiten werde ich natürlich, da ich die Sache für sehr nützlich halte. Ich bin begierig, ob die Organisation glückt. – Ihren Herrn Sohn bitte ich einstweilen sehr für seine Dissertation zu danken,7 ich habe sie schnell noch gelesen und komme, sobald ich die ganze Arbeit gelesen habe, näher darauf zurück. Nach Stoff und Behandlungsweise gleich interessant für mich! Vorerst konnte ich nur in einer Litteraturübersicht (für Conrad, Agrargeschichte betr.) darauf kurz hinweisen.8 Mit angelegentlichsten Empfehlungen von Haus zu Haus Ihr stets ergebenster Max Weber Nachträglich: Ich habe eine eventuelle Aufforderung Dr Köhler’s, da Sie bis 1905 warten wollen, eben angenommen [.] 9 Q[uod] b[onum] f[elix] f[austum] [fortunatum] q[ue] s[it]!10 Fideicommisse (Septemberheft)
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Prof. v. Below, Tübingen Geheimrath Prof. Dr Frensdorff, Göttingen Professor Dr Sering, Berlin-Wilmersdorf Professor Dr Schmoller, Berlin W, Wormserstraßea 17
a Wormer > Wormserstraße 6 Offenbar ist der Absagebrief zwischen dem 24. Juli und 17. August 1904 nicht überliefert, dagegen die hier im Nachsatz erwähnte Zusage. 7 Siebeck, Oskar, Das Arbeitssystem der Grundherrschaft des deutschen Mittelalters. Seine Entstehung und seine sociale Bedeutung. – Tübingen: Laupp 1904. Sie erschien zeitgleich auch unter dem Titel: Der Frondienst als Arbeitssystem. Seine Entstehung und seine Ausbreitung im Mittelalter (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft 13). – Tübingen: Laupp 1904. 8 Weber, Max, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hg. von Johannes Conrad, Edgar Loening und Wilhelm Lexis, III. Folge, Band 28, 1904, S. 4 33–470 (MWG I/6, S. 228–299). Die Arbeit von Siebeck wird zitiert ebd., S. 276. 9 Vgl. den Brief an Walther Köhler vom gleichen Tag, oben, S. 257. 10 Lat. für: Dies möge gut, günstig, glücklich und gesegnet sein. Bei Cicero, De Divinatione I, 102, heißt es: „quod bonum, faustum, felix, fortunatumque esset“.
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Geheimrath Prof. Dr Adolph Wagner Berlin W, Lessingstraße Professor Dr J. Haller, Gießen Geheimrath Professor Dr E. Marcks, Heidelberg, Scheffelstraße Professor Dr G. Anschütz, Heidelberg, Ziegelhäuserb Landstraße Professor Dr C. J. Fuchs, Freiburg i /B. Professor Dr v. Schulze-Gävernitz, daselbst. Professor Dr G. Baist, Freiburg i /B, Thalstraße Professor Dr U. Stutz, Bonn Professor Dr Tröltsch, Marburg Professor Dr Sieveking, Marburg Professor Dr E. Gothein, Heidelberg Handelskammersyndikus W. Hirsch, Essen Geh. Regierungsrath Dr Evert, Berlin S, K. Preuß. Statistisches Bureauc Lindenstraße Professor Dr K. Oldenberg, Greifswald Geheimrath Dr J [.] Conrad Halle a /S Geheimrath Professor Dr Lujo Brentano Münchend Professor Dr W. Lotz, München Ainmillerstraßee Professor Dr H. Herkner Zürich Geheimrath Professor Dr Dietrich Schäfer Berlin – Gr. Lichterfelde Professor Dr G. F. Knapp Straßburg i /Els. Professor Dr W. Wittich, daselbst. Professor Dr Jellinek, Heidelberg, Bunsenstraße Geheimrath Professor Dr Gierke Charlottenburg, Carmerstraße b O: Ziegelhauser c Unsichere Lesung. d Münn > München e O: Ainmüllerstraße
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[Marianne Weber an] Helene Weber [21. August 1904]; BK Dampfer „Bremen“ Brief; handschriftlich von Marianne Weber Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB, München, Ana 446 Dieser Brief von Marianne Weber vervollständigt die Amerikabriefe und wird deshalb in die Edition aufgenommen. Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Das Datum ergibt sich aus der Tagesangabe „Sonntag“. Die „Bremen“ war am 20. August 1904 ausgelaufen. Dampfer „Bremen“
Sonntag früh Liebste Mama!
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Nun schwimmen wir schon über 24 Stunden auf dem Wasser. Es ist köstlich heute: warme Sonne, Bläue, u. ganz ruhige See, man fährt so still wie auf einem Teiche, jetzt vis à vis der englischen Küste. Wir preisen unser Schicksal, das uns so herrliches Wetter bescherte,a denn als wir am Donnerstag nach Norden fuhren, begann es zu regnen u. die Bäume bogen sich u. rauschten so kräftig im Winde, daß wir auf eine recht tüchtige Schaukelei gefaßt waren. Gestern war das Wasser auch etwas unruhiger u. der Wind kühl u. kräftig, mir war nachmittags schlecht [,] aber zum Dinner hatte ich mich schon wieder erkobert.1 Meine beiden Männer sind munter bisher, Tröltsch hat sich zwar eine leichte Erkältung mitgebracht mit etwas Fieber – aber heute früh hat er so kräftig das lukullische Mahl eingehauen, daß an seinem Aufkommen nicht zu zweifeln ist. Das Futter ist gradezu epikuräischb, 2 ich fürchtec wir werden statt an Weisheit, sehr erheblich an Gewicht zunehmen bis New York, – wunderbar war es heute morgen eine Melone zum Tagesbeginn sich einverleiben zu können. Wir finden übrigens das Schiff sehr schön u. ganz standesgemäß, der Damenflor ist zwar nicht first rate u. Toilette wird nicht gemacht, unter den Herren giebt es aber ganz feine Typen, der Maler Schlichting, der von der Regierung herübergeschickt wird zur Kritikd der Kunstwoche in St. Louis [,] hat sich Max vorgestellt, u. Tröltsch teilt seine Kabine mit einem preußischen Fabrik inspektor, der ebenfalls offiziell herübergeht. Unsre Kabine ist sehr nett, nicht zu eng, mit Fenstern nach dem Deck, 2 Kleiderschränkchen, 2 Waschtoiletten u. Sofa, fabelhaft wie man die Räumchen auszunutzen u. alles so praktische einzurichten versteht! Wenn uns der Himmel auch weiterhin so ein liebenswürdiges Gesicht
a O: bescheerte b Unsichere Lesung. c O: wurde d Unsichere Lesung. e O: pracktisch 1 Veraltet für: zu Kräften gekommen. 2 Zu der auf den griechischen Philosophen Epikur (341–271/270 v. Chr.) zurückgehenden Lebensweise gehörte auch Eßgenuß.
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macht, wird die Sache erholsam – bisher ist mein Schädel noch etwas dösig u. sehr zum dämmern aufgelegt. Nun leb wohl, liebste Mama, von nun an schicke ich also „Rundreisebriefe“3 – Tausend Grüße an Euch Alle von Deiner Janne
3 Die Briefe von der Amerikareise sollten im Familien- und Freundeskreis zirkulieren. Vgl. dazu die Einleitung, oben, S. 23 f.
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[Marianne Weber an] Helene Weber und Familie [23.] und [28.] August [1904]; an Bord der „Bremen“ Brief; handschriftlich von Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 2–4 Dieser Brief von Marianne Weber vervollständigt die Amerikabriefe und wird deshalb in die Edition aufgenommen. Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Die ursprüngliche Datumsangabe „24. August“ wurde anhand der Tagesangabe „Dienstag“ und des Briefinhalts korrigiert: Marianne Weber begann den Brief am „4. Tag“ auf See (die „Bremen“ war am 20. August ausgelaufen) und setzte diesen am „Sonntag“, dem 28. August 1904, fort. Der handschriftliche Vermerk „Mit freundlichen Grüßen von Deiner Marie Schnitger“ am Briefende verweist auf das Zirkulieren des Briefes im Familienkreis.
Bremer Lloyd, Dienstag, 23.a Aug. Ihr Lieben!
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Heute schwimmen wir schon den 4. Tag und benehmen uns bisher, dank des guten Wetters, ganz anständig. Wirklich seekrank war noch Niemand von uns dreien,1 trotzdem der von Max so getaufte „Kötzmatrose“ schon manchmal oben in Aktion trat u. die Damen u. auch Herrlein wie Morgue-Leichen2 auf ihren Stühlen lagen. Also wir hielten uns tapfer, aber mein Kopf fühlt sich doch noch nicht ganz behaglich, mag sein, daß das ebenso viel von der sehr frischen Brise wie von der Wackelei kommt. Im ganzen ist die Sache riesig behaglich. Wir sind sehr vergnüglich auf dieser schwimmenden Stadt. Tröltsch ist sogar ausgelassen wie einb Schuljunge, freut sich über alles u. jedes, u. macht bei Tisch so viel Reden [,] daß man ihm eigentlich noch Geld zuzahlen lassen sollte, dafür daß er einen Teil der Gäste bei guter Laune hält. Nur gut, daß seine „kleine“ Martac[,]3 die so [??] mußte, ihn dann nicht sehen konnte [.] Maxel ist still zufrieden u. behaglich, er futtert aber bisher schreckensvoll viel, morgens zum Frühstück z.B. Seezunge, Beefsteak und Haferbrei! Wo wird die mühsam erworbene Schönheit bleiben! Wir werden Alle gemästet in der neuen Welt ankommen. Man wird hier ja gradezu zum Schlemmen a O: 24. b O: eine c O: Martha 1 Max und Marianne Weber reisten zusammen mit Ernst Troeltsch bis nach St. Louis. Dort trennten sich ihre Wege. Weber reiste nach Oklahoma und in den Süden, Troeltsch folgte dem Kongreßprogramm und fuhr nach Washington und Boston. Wegen des Todes seiner Schwiegermutter, Anna Fick, mußte er allerdings vorzeitig zurückfahren. Vgl. Rollmann, Hans, „Meet me in St. Louis“: Troeltsch and Weber in America, in: Lehmann, Hartmut und Guenther Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts. – Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 357–383, bes. S. 379 f. 2 Frz. „morgue“ für: Leichenschauhaus. 3 Marta Troeltsch, seine Ehefrau.
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dressiert. Nirgends soll das Futter so gut sein wie auf den Bremer Schiffen4 – 6 Mal am Tage kann man nötigenfallsd essen u. mittags u. abends 7–8 Gänge. Es ist die reinste Mastkur. Was mir manchmal, wenn auch nur theoretisch, den Appetit verdirbt [,] ist der Gedanke an die Zwischendeckpassagiere, wir haben 1100 an Bord darunter 400 russische u. polnische Juden in einem gradezu unglaublich verlumpten Zustande. Namentlich die Weiber. Sie sehen ärmer u. schmutziger aus als alles was man bei uns sieht. Und diese Menschenmassen [,] unter der sich auch einige sehr nobel u. sauber gekleidete junge Kaufleute u. Handwerker befinden [,] sind auf einen relative winzigen Teil des Schiffs zusammengepreßt, haben oben auf Deck keine Bänke zum Sitzen u. keinerlei Schutz gegen Nässe. Wenn alle oben sind [,] drängen sie sich so dicht wie die Heringe. Wie es unter Deck aussieht und riecht [,] mag man nicht ausdenken. Dabei bezahlen diese Leute je 140 Mk[,] also ⅓ des durchschnittlichen 1. Kajütenfahrpreises! [,] und jeder Kajütengast wird gemästet, während die armen Teufel [,] so viel man sehen u. erfragen kann [,] mit recht einfacher Kost, die sie sich selbst in Blechgeschirren holen [,] fürlieb nehmen müssen. „Wir“ leben also hier eigentlich nur auf Kosten der Zwischendeckspassagiere. Das ist wirklich scheußlich. Man sollte mal öffentlich darauf hinweisen. – Unser Schiff ist sehr voll, mit Besatzung werden wir über 2000 Menschen sein, also eine kleine Stadt. Die Organisation eines solchen schwimmenden Kosmos ist wirklich bewundernswert, namentlich imponiert mir auch die Raumausnutzung und Bequemlichkeit der Kabinen. Die unsrige hat 2 Waschtoiletten [,] 2 Kleiderschränkchen u. ein Sofa u. wir können uns zu zweien darin anziehen, kostet à Person 500 Mk. Tröltsch zahlt 400, und hat’s enger, er u. sein Genosse, übrigens ein sehr angenehmer preußischer Fabrikinspector, 5 müssen sich nacheinander an- u. ausziehen. Das Personal fzeichnet sichf trotz Arbeitsüberhäufung – das Schiff ist bis auf den letzten Platz besetzt – durch ruhige Liebenswürdigkeit ausg. Unsere Mitreisenden gehören nicht zur eleganten Gesellschaft, namentlich die vielen Amerikaner nicht [,] aber unter den Herren sind recht gebildete Leute, doch fühlen wir uns „at the top“. Bei Tisch haben wir 2 sehr nette Amerikanerinnen (teachers) zu Nachbarn,6 die uns zur Vervollkommnung unsres Englisch verhelfen. Tröltsch hat sich in 12 Berlitzstunden7 noch keinen imponierenden Akzent zugelegt. Seine Aussprache ist großartig. Nun genug für heute. Das lange Krummsitzenh scheinen die Eingeweide nicht zu lieben! – Sonntag.8 Nur noch ein Tag u. wir stehen wieder mit den Füßen auf der Erde. Die Tage sind ganz traumhaft schnell verflogen, obwohl das Wetter teilweise d O: nötigensfalls e Unsichere Lesung. f–f Unsichere Lesung. g Fehlt in O; aus sinngemäß ergänzt. h Unsichere Lesung. 4 Gemeint sind die Schiffe der Reederei Norddeutscher Lloyd mit Sitz in Bremen. 5 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 6 Eine der beiden amerikanischen Lehrerinnen war vermutlich Ida Pahlman aus Chicago (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 26). 7 Die von dem Deutschamerikaner Maximilian Berlitz (1852–1921) gegründete Sprachschule unterhielt eine Dependance in Heidelberg. 8 Sonntag, 28. August 1904.
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schauderhaft, kalt u. nebelig war, u. die „Sirene“1) uns sehr unmelodisch in die Ohren grunzte. Seekrank sind wir alle drei nicht gewesen – allerdings war mein Kopf wenig schön, auch bei Tröltsch konstatierten wir eine Neigung zur Askese, nur Max hat sich täglich fröhlich durch die ganze Speisekarte hindurch gegessen, er ist dazu geschaffen [,] um vom Lloyd9 zu profitieren [,] u. ich habe mich darein ergeben seine Schönheit wieder schwinden zu sehen [.] – Es geht ihm überhaupt gut, wie mir scheint. Ein Zeichen dafür ist seine unentwegte Assistenz bei den entsetzlich langen Diners, auch pflegt er nachher noch gern zu kakelni im Rauchzimmer, wo wir mit dem netten Regierungsrat u. einigen Oberingenieuren10 abends ein behagliches Eckchen occupieren. Im übrigen ist keine Form der Existenz so geschaffen [,] um absolut wunsch- u. gedankenlos zu vegetieren wie die Seefahrt, man wird zum bloßen Gedankenstrich oder zur Qualle, die nur aus einem Schlunde und Verdauungswerkzeugen besteht. Doch pflegt Max auch einige sozialpolitische Grundsätze etc. auszubreiten, u. den Leuten „Gesichtspunkte“ aufzustecken, wobei mir immer wieder eindrücklich wird, daß er nicht nur blödsinnig viel weiß, sondern auch alles Wissen für Andre verständlich von sich geben kann, u. also der geborene Lehrer ist. Heute haben wir noch einen göttlich schönen Sonntag. Wir fahren endlich südwärts, nachdem wir uns bisher im Norden hielten, u. nun sind Himmel u. Meer blau geworden, wolkenlos so weit der Blick reicht, u. die Luft ist warm, so daß wir wieder unsrer verschiedenen Hüllen ledig auf dem Oberdeck, dem Dach des Hauses [,] sitzen können. Morgen sollen wir ankommen, vielleicht noch früh genug [,] um ausgeschifft zu werden, wenn nicht, so bleiben wir eine Nacht im New Yorker Hafen. Und dann ist also die Idylle zunächst vorüber u. es beginnt die „Arbeit“. Lebt wohl für heute – tausend Grüße u. alles Liebe von Janne gen. Schnäuzchen Mama bitte ich, diese Epistel nach Lemgo an Frau Dechantinj Schnitger u. diese ihn an Wina zu schicken.11 Wina hebt sie uns wohl zur späteren Erinnerung auf. 1) Nebelhorn.
i Unsichere Lesung. j O: Dechentin 9 Die Reederei Norddeutscher Lloyd. 10 Die Namen konnten nicht ermittelt werden. Bei dem Regierungsrat handelt es sich möglicherweise um den Kabinengenossen von Ernst Troeltsch, einen preußischen Fabrik inspektor. 11 Marianne Webers Tante Florentine (Flora) Schnitger, die das Amt der Dechantin im Damenstift St. Marien in Lemgo innehatte, sollte den Brief als nächste erhalten, bevor er an Alwine (Wina) Müller ging. Tatsächlich leitete Florentine Schnitgers Schwester Marie den Brief weiter (vgl. die Editorische Vorbemerkung, oben, S. 263).
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Helene Weber und Familie 2., [4. und am oder nach dem 5.] September 1904; BK New York, auf der Fahrt nach und in Niagara Falls Brief; handschriftlich von Marianne Weber mit eigenhändigen Zusätzen und einem Nachtrag von Max Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 7–14 Der folgende Brief wurde von Marianne Weber am 2. September in New York begonnen und auf der Fahrt nach Niagara Falls am 4. September fortgesetzt. Max Weber begann seinen Nachtrag auf der Reise und schloß ihn nach der Ankunft in Niagara Falls ab. Das Datum der Zugfahrt von New York nach Niagara Falls ist erschlossen aus dem Brief Ernst Troeltschs an Marta Troeltsch vom 3. September 1904, Privatbesitz Horst Renz, in dem dieser ankündigte: „Morgen[,] Sonntag früh[,] nach Niagara Fall, werde Abend 10 Uhr ankommen“. Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f.
Astor House Broadway New York 2. Sept. 1904 Ihr Lieben.
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Ich will einen ruhigen Augenblick benutzen [,] den wir hier im Hotel verbringen, weil Mr. and Mrs. Herveya (ein Universitätsprofessor[,] der uns hier sehr liebenswürdig empfing)1 sich verpflichtet fühlen das Maß ihrer Güte durch einen Besuch voll zu machen. Sonst sind wir seit unsrer Landung von Morgen bis Abend unterwegs, resp. nur hier, um uns im Riesenschlangenzustand auf unsre Double-Betten zu werfen. Daß wir die neue Welt erst 3 Tage lang kennen [,] ist nicht auszudenken, wir sind schon so eingetaucht in den gewaltigen lärmenden Strom des Lebens, daß wir für Wochen genug Eindrücke gesammelt haben. Freilich kommen wir noch zu keinerlei Resultat, – wenigstens ich nicht – ob wir dies Stück Welt, auf dem sich 5 Millionen Menschen zusammenhäufen [,] großartig u. gewaltig, oder roh, scheußlich u. barbarisch finden sollenb. Am ceindeutigsten begeistertc ist wie immer auf 2
a O: Harvey b O: soll c–c Eigenhändige Unterstreichung Max Webers und eigenhändige Einfügung oberhalb: ?? stimmt so nicht. S.u. Max ; dazu findet sich am Blattende der eigenhändige Zusatz: (Schlecht ist die Straßenbeleuchtung, miserabel das Pflaster außer im „Tiergartenviertel“2 und zudem immer aufgerissen). 1 May und William Addison Hervey. Letzterer war Professor an der Columbia University und Mitglied des offiziellen Empfangskomitees für die Teilnehmer am International Congress of Arts and Science. 2 Weber bezieht sich offensichtlich auf den Baedeker, Nordamerika, S. 39, der von der 5th Avenue schreibt: „ähnlich der Tiergartenstraße in Berlin“ führt sie an der Ostseite des Central Parks entlang.
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Reisen: Max, er findet dank seines Temperaments u. wohl auch seines überschauendend Wissens u. wissenschaftlichen Interesse’s erst mal grundsätzlich alles schöne u. besser als bei uns – die Kritik kommt dann erst später, mir geht es meist anders, ich bin zuerst kühl u. kritisch [,] um mich mit der Zeit anzuwärmen, u. Tröltsch wiederum empfindet eigentlich die äußeren Symbole des amerikanischen Geistes [ – ] so wie sie sich hier in New York präsentierenf [–] antipathisch u. abstoßend.3 Unser Hotel liegt im Mittelpunkt des Geschäftsviertels an der meilenlangen Broadwaystrasse [,]4 der nimmer beruhigten Schlagader des Geschäftslebens. Grade gegenüber türmen sich zwei von den mächtigen „Biestern“ [,] den 30stökkigen „Wolkenkratzern“ auf, 5 die man gesehen haben muß, um sie für wirklich zu halten. Noch frage ich mich vergeblich, ob sie bloßg scheußlich grotesk u. prahlhansig sind, oder ob sie auch ihre Schönheit u. Würde für sich haben – jedenfalls schlagen sie wohlh, dem Turmbau zu Babel-gleicher Anmaßung rundherum alles Andre tot, namentlich die armen Kirchlein mit ihren gothischen Türmchen [,] 6 die sich wie kleine Friedensinseln in dem wilden Straßenlärm zu behaupten suchen, verschwinden im Straßenbilde vollständig [.] Die Türme scheinen garnicht mehr den Weg zum Himmel zu finden u. die Stille u. Sammlung [,] die der dämmrige Innenraum bieten soll [,] wird verschlungen durch das tosende Getriebe draußen, das bis dicht an ihre Mauern heranflutet, denn nur hie u. da kann man ihnen ein ganz bescheidnes grünes Vorgärtchen mit einigen alten Leichensteinen gönnen. So werden die Symbole des Glaubens an die jenseitigen und unirdischen Mächte, die fast in jeder Straße errichtet sind, äußerlich überall überschrieen u. erdrückt [,] um den Symbolen, die sich der „kapitalistische Geist“,7 die straffgespannte auf rein innerweltliche u. materielle Zwecke gerichtete Energie des wirtschaftenden Menschen geschaffen hat. Die Börse – das ist der Mittelpunkt, um den sich hier an unsrer
d Unsichere Lesung. e Eigenhändige Unterstreichung Max Webers und eigenhändige Einfügung oberhalb: ?? f O: presentieren g O: blos h Alternative Lesung: voll 3 Vgl. Ernst Troeltschs eigene Charakterisierung New Yorks in seinem Brief an Marta Troeltsch vom 3. Sept. 1904 (wie Editorische Vorbemerkung, oben, S. 266). 4 Max Weber hatte – wie Ernst Troeltsch, ebd., berichtete – das Astor House nicht zuletzt wegen seiner Nähe zur „Festung des Capitalismus“ um die Wall Street ausgesucht. Das Astor House (225 Broadway) lag in der Nähe der Börse und dem Sitz von Unternehmen wie Standard Oil sowie der Pressehäuser der New York Times und der deutschsprachigen New Yorker Staatszeitung, vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 27–31. 5 Das 1899 erbaute Park Row Building (15 Park Row) war mit einer Höhe von 119 Metern und 30 Stockwerken bis 1908 das höchste Gebäude der Welt; das ebenfalls 1899 errichtete St. Paul Building (220–222 Broadway) war nach der gegenüber liegenden historischen St. Paul’s Chapel benannt worden und maß bei 26 Stockwerken 94 Meter. 6 New York zählte damals rund 560 Kirchen. Marianne Webers Beschreibung paßt besonders auf die oben, Anm. 5, genannte St. Paul’s Chapel mit ihrem im gotischen Stil erbauten Kirchenturm. 7 Marianne Weber bedient sich eines Begriffes von Max Weber, Protestantische Ethik I, z.B. S. 18 (MWG I/9, S. 146).
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Ecke, wo jeder Quadratfuß8 Land 5000 Mk! etwa kostet, diese Hochburgen des Kapitalismus schaaren. Denn je näher dem Herzen des Geschäftslebens – eben der Börse – je mehr Chancen auf Gewinn [,] so haben sich alle die großen Geldmagnaten und die Zeitungen hier dicht zusammengedrängt – Max sagt: „Die Grundrente peitscht die Häuser in die Höhe“ – die Straßen sehen aus wie enge dunkle Schluchten zwischen himmelhohen Felsen, abends sieht man statt der Sterne die Lichter der obersten Stockwerke am Himmel leuchten. – Wo sie sich wie hier im Geschäftsviertel auf einen Haufen zusammendrängen [,] ist der Blick aus der Ferne namentlich vom Hafen u. von der Brücke9 malerisch u. eindrucksvoll, an die seltsamen mittelalterlichen Festungshäuser der italienischen Städte erinnernd – aber sobald sie sich vereinzelt über die andreni Häuser erheben, produzieren sie eine wilde unharmonische Silhouette u. zerstören in ihrer Maßlosigkeit alles rund her um. Der Schmutz u. Lärm in unsrem Geschäftsviertel ist unbeschreiblich, man atmet u. schmeckt förmlich den Pferdedreck[,] den die Leute auf der Straße vermodern lassen. – Ich wollte New York schon abscheulich finden, da bummelten wir durch die Wohnviertel der Reichen u. fanden schöne, ruhige Straßen mit teilweise geschmackvollen Miethshäusern aller Stylarten pêle-mêle.10 Dann in der 5. Avenue die Paläste der Geldmagnaten, welche von den Skyscrapers aus die neue Welt regieren! Astor, Vanderbilt, Carnegie, Morgan etc. [,] aus weißem Marmor oder dunklem Sandstein, z.T. vornehm u. geschmackvoll, z.T. überladen, schwer, in romanisierendem Styl mit der Absicht die Aufmerksamkeit zu erregen. Die Großmannssucht der Amerikaner tritt überhaupt an manchen Ecken zu Tage: alles ist „the greatest of the world“ oder [„] the best of the world“. Und der Preis aller Herrlichkeiten wird Einem zur Erhöhung des Genußes gleich dabei genannt, gewiß würde es dem kleinbürgerlichen Yankee am besten gefallen, wenn alle Sehenswürdigkeiten, Gebäude u. Kunstsachen „ausgezeichnet“ – mit ihrem Kostpreise versehen wären. So wurde uns z.B. in der Stadt der Toten [,] dem großen Brooklyner Kirchhof,11 von unsrem Kutscher bei jedem bemerkenswerten Monument die Dollarsumme genannt! Und unter den kostbaren Steinen ruhten Mr. So u. So – „Sodawasserfabrikant“ oder „Knopffabrikant“ etc. [–] lauter Geldmänner, während unser Kutscher offenbar die „Geist“-Männer [,] die doch auch ab u. zu dort liegen müßten [,] nicht kannte. Im übrigen war der Kirchhof das ästhetisch Wohlthuendste, was ich in New York gesehen: Ein riesengroßes welliges Gebiet – hie und da durch kleine Teiche mit Wasserrosen parkartig geschmückt. Die meist schlichten grauen Grabsteine besäen die sammetgrünen Hügel, dazwischen schöne grüne Bäume, Hängebirken u. Weiden, u. leuchtende Blumen, aber keine melancholischen Cypressen; ein i Unsichere Lesung. 8 In Deutschland seit der Einführung des metrischen Systems (1872) veraltetes Flächenmaß. Es entspricht etwa 0,09 m2. 9 Gemeint ist die Brooklyn Bridge. 10 Frz. für: bunt durcheinander. 11 Der Green-Wood Cemetery in Brooklyn, der von Baedeker, Nordamerika, S. 6 3, durch einen Asterisken als besonders sehenswert hervorgehoben wurde.
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schöner, friedlicher, liebevoll gepflegter Garten, ohne die kalte protzenhafte Pracht, die so manche italienische Campisanti12 auszeichnen, u. die uns anj den Behausungen der Lebenden so häufig beleidigt. Dann von dem höchsten Punkte aus ein wunderbarer Blick auf den Hafen und die gewaltige Stadt, deren Häßlichkeiten u. Disharmonien von da aus ganz verschwinden in dem zarten Duftschleier, mit dem der Dunst der Luft u. der Rauch der Kamine sie umwebt. Aberk die Brooklyner Brücke [,] die uns zurück zum Lärm des Lebens führte, machte mich melancholisch. – Minute auf Minute werden tausende von Menschen hinübergekarrt durch die dichtbesetzten Züge. Wo bleibt da das Gefühl des absoluten Wertes des Einzelnen? Und der Glaube an die Leitung des Einzelschicksals von einer unsichtbaren Macht? – Übrigens haben wir uns nicht nur auf dem Friedhof am Grün erquickt, in der Mitte der Stadt liegt auch ein Park, der sich an Größe u. Schönheit sehr wohl mit dem Berliner Tiergarten messen kann.13 Er ist eine wahre Erquickung nach dem Herumlaufen auf dem scheußlichen Straßenpflaster unsres Geschäftsviertels. – Sehr fremdartig ist der Anblick der vielen Schwarzen. In unsrem Hotel waren sie als Diener von jeder Schattierung, vom waschechten glänzenden Kohlschwarz bis zum Olivenbraun. Die Farbe gefällt mir manchmal ganz gut, sie kann wie Bronze wirken, wenn die Kerls nur nicht ein so entsetzliches Mundwerk hätten! Man meint, sie müßten Einen fressen wollen. Die Mischlinge haben manchmal bei dunkler Färbung schon kaukasische Gesichter u. sind dann mit lihrem riesigenl Körperbau sehr ansehnlich.m Manche sehen tief traurig aus, die armen Leute werden ja auch trotz aller prinzipiellen Gleichberechtigung von den Meisten verachtet u. am Emporsteigen in bessere Stellungen verhindert.14 Sie sind hier die Parias der Gesellschaft, u. alle demokratischen Ideale zerschellen an der Starrheit des Rassengefühls [.] Gradezu grotesk sehen die Neger-„Damen“ in moderner Toilette mit großen Federhüten etc. aus, man glaubt jedes Mal aufs neue, eine aus der Menagerie entlaufene angeputzte Äffin vor sich zu sehen. Nun für’s erste genug von New York, dem wir nun schon seit 8 Stunden Bahnfahrt den Rücken gekehrt haben.15 Gestern wurde es auf einmal furchtbar schwül, man fühlte sich wie im Dampfbade, u. unsren liebenswürdigen, aber nicht sehr interessanten Wirten16 haben wir gestern abend einen wenig ästhetischen Anblick geboten. Namentlich meine Männer dampften still vor sich hin, u. schon nach der ersten halben Stunde waren ihre reinen Krägen durchgeweicht. Es ist also ganz j In O durchgestrichen. k Unsichere Lesung. l–l O: ihren riesigem m O: ansehnlich, 12 Ital. für Friedhöfe. 13 Den Central Park bezeichnete Baedeker, Nordamerika, S. 4 4, als „Tiergarten von New York“. 14 Durch den 13. Zusatz zur Verfassung der Vereinigten Staaten war die Sklaverei seit 1865 in allen Bundesstaaten abgeschafft. Dessen ungeachtet war unter der Maxime „sep arate but equal“ seit 1896 die Segregation in den Südstaaten legalisiert. 15 Max und Marianne Weber reisten gemeinsam mit Ernst Troeltsch am 4. September 1904 mit dem Zug nach Niagara Falls. 16 William Addison und May Hervey (wie oben, S. 266, Anm. 1).
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gut, daß wir heute weiterziehen mußten, und der wundervolle Eindruck[,] den die Fahrt am Hudson hinauf heute morgen bot, war eine wahre Erquickung nach der heißen lärmenden Nacht. Wir sitzen nun also ganz behaglich, Jeder in seinem beweglichen Sessel in einem Pullman car,17 der natürlich nur durch einen Zuschlag zu dem gewöhnlichen Fahrpreis zu erobern ist. Da aber die andren Wagen alles Gebein aufnehmen: verschiedene Wagenklassen giebt es hier nicht – u. recht unbequem sind, muß man sich für längere Strecken den Pullman leisten. Der Ausblick auf den Hudson war köstlich u. erweckte ganz neue Empfindungen gegenüber der neuen Welt als das bisher Gesehene. Der herrliche Fluß ist wohl stellenweise 10fach so breit wie der Rhein, u. wo die abstürzenden schön bewaldeten Felsen den Blick begrenzen, glaubt man jedes Mal auf einen neuen See zu blicken. Die Berge, welche die herrliche Wasserfläche einrahmen [,] haben großzügige, sanfte Formen u. über Allem lag heute früh ein blauer Glanz. Heute abend sollen wir also in Niagara-Falls eintreffen, u. da wir wahrscheinlich dort mit unsrem guten Hensel zusammenstoßenn[,]18 wird in den nächsten Tagen noch weniger Schreibzeit sein als bisher. Deshalb haben wir versucht, hier in der Bahn zu plaudern. Hoffentlich könnt Ihr es lesen. Das Schreiben ist ein Kunststück. Lebt wohl für jetzt.1) Tausend Grüße von Max u. Janne 1) Max geht es übrigens bis jetzt so gut wie noch nie (seit seiner Krankheit) . 19 [ ] Namentlich in bezug auf das Laufen. Er ist mir jetzt an Leistungsfähigkeit wieder ganz über!
NB! 20 Von besondrer Begeisterung ist bei mir nicht die Rede, ich ärgere mich nur über die deutschen Mitreisenden, die nach 1½ Tagen New York |:über:| Amerika stöhnen. – Die weitaus großartigsten Einn 〈(hoffentlich [??] er nicht zu viel)〉 17 In den nordamerikanischen Eisenbahnen gab es im Unterschied zu den deutschen Bahnen keine Wagenunterteilung nach Klassen. Doch waren Schnellzügen besondere Waggons privater Gesellschaften angehängt, von denen die Pullman Company die bekannteste ist. Deren „Parlor Cars“ waren mit drehbaren Sesseln und besonders großen Fenstern ausgestattet. 18 Paul Hensel war 1898–1902 außerordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg und mit Max und Marianne Weber befreundet. Marianne Weber hatte bei ihm studiert, und er hatte sie bei der Abfassung ihrer Schrift: Weber, Marianne, Fichte‘s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx‘schen Doktrin (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, Heft 4,3). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, beraten. 19 Max Weber hatte im Sommer 1898 einen psychophysischen Zusammenbruch erlitten und mußte sich wiederholt beurlauben lassen. Obwohl er sich langsam bis 1903 erholte, hatte er am 8. April 1903 seine Entlassung aus dem badischen Hochschuldienst beantragt (vgl. den Brief an Franz Böhm vom 8. Apr. 1903, oben, S. 45–48). 20 Nachtrag von Max Weber.
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drücke in New York sindo einerseits der Blick von der Mitte der Brook lyn Bridge, andrerseits der große Greenwood Cemetery21 in Brooklyn, zu dem hin man mit der Elevated über die Brücke fährt. 22 Der Contrast ist fabelhaft. Auf der Brooklyn Bridge ist der Fußsteig in der Mitte erhöht, zu beiden Seiten sausen an einem [,] wenn man Abends gegen 6 Uhr drauf steht, die Dächer der Eisenbahnwagen der Elevated-Züge, in Abständen von ¼ Minute von einander, vorüber, noch weiter nach außen beiderseits die Trams, in wenigen Metern Abstand von einander, alles gestopft mit Menschen, die halb daran hängen, – ein ewiges Sausen und Zischen, zwischen das Eisenbahngepolter heulen die Dampfpfeifen der großen Fährschiffe tief unten, – dabei der großartige Blick auf die Zwingburgen des Capitals auf der Südspitze der Insel, auf welcher die City von New York liegt, lauter Türme wie auf den alten Bildern von Bologna und Florenz, überall die leichten Dampfwolken der Elevatoren-Maschinen23 um sich – dazu die ausgequetschtenp Menschen [,] die an einem vorüberstürzen – das ist ein in der That durchaus einzigartiger Eindruck, zumal verbunden mit dem Ausblick auf den weiten äußeren Hafen, die Freiheits-Statue und die ferne See. Ich kann auch die „Wolkenkratzer“ nicht „häßlich“ finden. Unsre Mietskasernen mit ihrer öden Front 10 Mal auf einander gestellt ergeben ein Bild wie ein gemaserter Felsen, |:mit einem Räubernest darauf[,] :| was gewiß nicht „schön“ ist, aber auch nicht das Gegenteil, sondern jenseits von beiden liegt und, nicht von zu nahe gesehen, ein Symbol dessen ist, was sich hier abspielt, wie ich mir kein passenderes denken könnte. Innen sind sie meist vortrefflich eingerichtet, das Comptoirq unsrer Bank, ich glaube im 14ten Stockwerk, höchst praktisch und geschmackvoll mit Marmor etc. decoriert. Der Platz ist aber eng auf der Manhattan[-]Insel, die Miethen teilweise wahnsinnige. Der Gewerberath beim deutschen Consulat24 mußte für 1 Zimmer o O: ist p Unsichere Lesung. q Unsichere Lesung; in O möglicherweise: comtoir. 21 Damals New Yorks Hauptfriedhof, vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 6 3. 22 Die Hochbahn der Brooklyn Bridge Railway, die mit der Third Avenue Line der New Yorker Hochbahn verbunden war. 23 Die zum Antrieb von Aufzügen gebräuchlichen Dampfmaschinen waren am oberen Ende der Aufzugsschächte untergebracht. 24 Daniel Waetzoldt war damals vom preußischen Handelsministerium als Gewerberat beurlaubt und am Generalkonsulat in New York als Handelssachverständiger tätig (vgl. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Band 5. – Paderborn: Schöningh 2013, S. 150).
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nebst Schlafkammer u. Baderaum durchschnittlich pro Monat 120 $ (jährlich 6000 Mk) zahlen. Boarding House ist natürlich weit billiger, für wöchentlich 25 $ kann man da schon leidlichen full board haben. Aber wer sich seine Gesellschaft gern selbst aussuchen will, der pflegt darnach zu streben [,] in einen der großen Clubs, die in Unmassen existieren, aufgenommen zu werden (sehr hohes Aufnahmegeld!) und dann für ca 60 $ im Clubhaus zu wohnen. Was theuer ist, ist bei dieser Massenanhäufung ebenr jede Regung von Individualismus, sei es im Wohnen sei es im Essen. So war denns auch die Wohnung25 von Professor Hervey,t einem der Germanisten an der Columbia University, ein wahres Puppenheim. Winzige Zimmerchen, Wasch- und Bad-Gelegenheit und Abtritt in einem Raum (wie fast immer), Gesellschaften mit mehr als 4 Gästen unmöglich (beneidenswerth!), dabei 1 Stunde Fahrt zum Centrum der Stadt. Die Leute waren von fast übermäßiger Liebenswürdigkeit und er sowohl wie sie leidenschaftlich „deutsch“ in ihren Gewohnheiten. Von ihr wird Marianne wohl erzählen.26 Was ihn anlangt, so erzählte er mit Stolz, daß jetzt zwei Mal jährlich ein „deutscher Commers“27 in deru germanistischen Abteilung der Universität gefeiert werde, mit Schlägern, 28 Liedern und Bier vom Faß, die 8 germanistischen teach ers, 29 die graduates und die college-Studenten außer den freshmen (Füchse). Es sei – hieß es dann ganz im üblichen Styl – v das erste Universitätsgebäude in Amerika, in welches ein Faß Bier gebracht worden sei. So ernst nimmt man es hier mit der Einführung der Studenten in den Geist der deutschen Cultur. – Die Frau30 sprach von nichts als
r Unsichere Lesung. s Alternative Lesung: dann t 〈d〉 u 〈deutschen〉 v 〈die erste Univ〉 25 Vermutlich handelt es sich um die Adresse 607 West 138th Street. 26 Tatsächlich bezieht sich Marianne Weber in demselben Brief an Helene Weber und Familie, oben, S. 266 und 269, beiläufig auf Max Webers folgende Beschreibung. 27 Im Laufe des 19. Jahrhunderts stark formalisiertes und meist aus offiziellen Anlässen wie Stiftungsfeiern, Stadt- oder Universitätsjubiläen von Studentenverbindungen gepflegtes studentisches Trinkgelage. 28 Traditionelle Fechtwaffe schlagender Verbindungen. 29 Das Department of Germanic Languages and Literatures der Columbia University hatte zum Zeitpunkt von Max Webers Besuch 12 angestellte Professoren und Dozenten, von denen aber nur 8 Kurse abhielten. Vgl. Columbia University in the City of New York (Hg.), Catalogue and General Announcement. 1903–1904. – New York: Columbia University 1903, S. 111–114. 30 May Hervey.
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Haushalt, zeigte ihr Eingemachtes etc. etc., erzählte mir von Lebensmittelpreisen – Fleischpreis per 1 Mk. (Rindfleisch bester Sorte) wie bei uns! Brot wie bei uns – etc. Es war ein Stück professoralen Lebens von durchaus deutschem Charakter, obwohl beide Gatten von Rein-Amerikanern stammen. Der Mann hatte 13, die Frau 9 Geschwi ster, sie selbst sind kinderlos, die Geschwister haben zusammen ca 8–9 Kinder (das jetzt hier Übliche, die alten Anglo-Amerikaner sterben |:allmälig:| aus). – Niagara. 31 Vorstehendes wird wohl nur in der Idee zu lesen sein, da es auf der Bahn geschrieben wurde. – Der Niagara ist nicht so einfach mit Worten zu beschreiben. Genug, daß er unglaublich viel gewaltiger wirkt, als irgend Einer von uns erwartet hatte. Alles Menschenwerk, die Schornsteine, Boulevard-Arbeiten etc. in der Nähe vergißt man doch über der Stimmung, welche vom canadischen Ufer aus der scheinbar aus unbekannter Ferne heranströmende riesenbreite Fluß und die stets in dichtem Wasserdampf halb verhüllten Abstürze machen. Man lebt hier wie in einem Badeort und fabelhaft billig. Für je 3 Dollar wird man in einem allerliebsten deutschen Hotel fast zu Tode gefüttert.32 Überhaupt ist die Sache nur halb so teuer, wie ich gerechnet hatte. Excl[usive] Eisenbahn – die so teuer ist wie bei uns, nicht teurer, und dabei so behaglich wie ein Salon – verbrauchen wir per Person und Tag win New Yorkw ca 26 M. bei brillantester Kost in reizend anmutigen Restaurants.
w–w bisher > in New York 31 Max und Marianne Weber waren in Begleitung von Ernst Troeltsch am Abend des 4. September 1904 in Niagara Falls eingetroffen. 32 Es handelt sich – wie aus dem Briefkopf des nachfolgenden Briefes an Helene Weber vom 8., am und nach dem 9. bzw. 11. Sept. 1904, unten, S. 274, ersichtlich – um das 1878 eröffnete Hotel Kaltenbach. Dessen Besitzer, Andreas Kaltenbach, gehörte zu jenen Emigranten, die nach der Revolution von 1848 aus politischen Gründen ausgewandert waren.
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Helene Weber 8., [am und nach dem 9. bzw. dem 11. September 1904]; BK Niagara Falls, auf der Fahrt nach Chicago, BK Chicago Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 16–24 Der folgende Brief wurde über mehrere Tage und an verschiedenen Orten verfaßt. Er wurde von Max Weber am 8. September 1904 begonnen und dann von Marianne Weber auf der Zugfahrt nach Chicago am 9. September und ebendort fortgeführt. Ihr Text schließt unmittelbar – d.h. auf demselben Blatt – an jenen Max Webers an. Aus dem von Marianne Weber erwähnten Besuch einer Versammlung der Women‘s Trade Union League (WTUL) am 11. September 1904 („Am Sonntag machte ich dann auch eine Sitzung der weiblichen Gewerkvereins-Liga mit …“) ergibt sich, daß sie den Brief nach dem 11. September abgeschlossen hat. Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f.
Hotel Kaltenbach. Niagara Falls, Donnerstag 8/IX 1904 Liebe Mutter! Marianne ist mit Prof. Conrad aus Halle1 und dessen Schwiegertochter, Frau Pfarrer Haupt, 2 nach Buffalo [,] um dort einige „settlements“ anzusehen,3 von denen sie dann wohl erzählen wird. Ich blieb hier[,] um mich von dem vielen Herumlaufen und Sprechen auszuruhen in der überraschend schönen Ruhe dieses in jeder Hinsicht herrlichen Platzes, an dem wir nun 3 Tage sind. Morgen fahren wir nach Chicago – wo wir endlich auch europäische Nachrichten zu finden hoffen – und ich will daher noch schnell ein paara Zeilen für Dich zu Papier bringen, a O: par 1 Der Nationalökonom Johannes Conrad. 2 Margarethe (Grete) Haupt war die Tochter (nicht: die Schwiegertochter) von Johannes Conrad. 3 Die in den 1880er Jahren von London ausgehende und insbesondere nach Nordamerika, aber auch in das protestantische Deutschland übergreifende Settlement-Bewegung versuchte die „soziale Frage“ zu lösen, indem sich Angehörige des gebildeten Mittelstandes in Armen- und Arbeitervierteln niederließen und dort Hilfe zur Selbsthilfe vorlebten. So gab es in Buffalo seinerzeit sechs „settlements“, darunter „Neighborhood House“ und „Westminster House“, die in von deutschen Aussiedlern bewohnten Vierteln lagen (vgl. Woods, Robert A. und Albert J. Kennedy (Hg.), Handbook of Settlements (Russell Sage Foundation Publications). – New York: Charities Publication Committee 1911, S. 171–175).
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während Hensel und Tröltsch durch die grüne Insel zwischen den beiden großen Fällen gegangen sind,4 wo unzählige stille Plätze in dichtem Grün und an dem stürmisch vorüber- und dem Fall zu eilenden Wasser ein ganz eignes Gefühl tiefer Ruhe vor dem Sturm geben. So wunderbar die Naturschönheit – trotz aller schmählichen Verhun zung – ist, so war das Interessanteste doch unser vorgestriger Besuch in dem Industriestädtchen North Tonawanda (Holzhandel und -Verarbeitung, 10000 Einwohner), eine halbe Stunde von hier, bei dem schon genannten Pfarrer Haupt, Sohn des Hallenser Theologen, 5 Schwiegersohn Conrads, der, im Johannesstift gebildet,6 ohne Abiturientenexamen, mit seiner Frau |:vor ca 12 Jahren nach den V[ereinigten] Staaten ging und:| zuerst in der Prärie eine kleine Gemeinde leitete,7 jetzt hier eine reine Arbeitergemeinde hat,8 welche der „German Evangelical Church“9 angehört und offiziell den Bekenntnisstand der Preußischen Landeskirche hat, auch vom Johannistisch10 in Berlin aus mit Pfarrern gelegentlich unterstützt wird. Schon der Anblick des Städtchens
4 Paul Hensel und Ernst Troeltsch besuchten Goat Island, die zwischen den Horseshoe und Bridal Veil Falls im Niagara River gelegene Insel. 5 Hans Haupt war der Sohn des Hallenser Theologen Karl Haupt. 6 Am Johannesstift, damals in Plötzensee gelegen, wurden nach dem Vorbild des ebenfalls von Johann Hinrich Wichern gegründeten Rauhen Hauses Diakone für die „Innere Mission“ ausgebildet. Seit 1867 schulte es außerdem „Kolonistenprediger“ für Nordamerika (vgl. Bräutigam, Helmut, Mut zur kleinen Tat. Das Evangelische Johannesstift 1858– 2008. – Berlin: Wichern 2008, S. 105 f.). Zu Hans Haupt findet sich in den Unterlagen des Johannesstiftes allerdings kein Nachweis (schriftliche Nachricht des Historischen Archivs des Johannesstifts vom 17. Sept. 2012). 7 Hans Haupt war mit seiner Frau Margarethe (Grete) 1894 nach Iowa emigriert und dort in Newell als Pfarrer an der St. Johns United Church of Christ tätig gewesen. 8 Hans Haupt war bis 1910 Pastor an der 1890 eingeweihten Friedenskirche der Deutschen Vereinigten Evangelischen Friedensgemeinde von North Tonawanda. 9 Der 1840 als offizielle Filialkirche der unierten Evangelischen Kirche in Preußen gegründete „Deutsche Evangelische Kirchenverein des Westens“ nannte sich nach dem Zusammenschluß mit dem „Deutschen Evangelischen Kirchenverein von Ohio“ und der „Deutschen Unierten Evangelischen Synode des Ostens“ sowie der „Evangelischen Synode des Nordwestens“ seit 1877 „German Evangelical Synod of North America“. Diese war um eine Synthese von lutherischen und reformierten Traditionen bemüht und stützte sich sowohl auf das Augsburger Bekenntnis als auch auf das Luthers und den Heidelberger Katechismus. Darin unterschied sich die „German Evangelical Synod of North America“ von der rein lutherischen „Missouri-Kirche“ (vgl. den Brief an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, unten, S. 290 f.). 10 Ein Bezug zu der Am Johannistisch in Kreuzberg gelegenen Kirche „Zum Heiligen Kreuz“ konnte nicht ermittelt werden. Vermutlich handelt es sich um einen Flüchtigkeitsfehler und Max Weber meinte das Johannesstift (wie Anm. 6).
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ist ein Contrast sonder gleichen gegen die Wolkenkratzer von New York. Lauter 1–2 stöckige Holzhäuschen an einem ausb quer gelegten Brettern bestehenden Trottoir, jedes mit Veranda, Blumen, kleinem Gärtchen, Bäumen an der Straße, unendlich freundlich und bescheiden im Äußeren, winzig im Innern. Die Häuser werden in großen Sägemühlen und Fabriken fertig zugeschnitten wie ein Rock, dann angefahren und aufgezimmert, haben natürlich fast alle dieselbe Raumeinteilung je nach der Größe, kosten per Stück 1000–3000 $ (4200 – 12800 Mk). Die Räume sind sehr klein, 6 Personen füllen mit Tisch und Stühlen den größten zum Bersten, die Decken kann man mit der Hand erreichen, aber die freundliche Dekoration mit den schönen amerikanischen Hartholz-Paneelenc und Thür-Einfassungen und einfarbige Tapeten machen den Raum sehr freundlich. Küche liegt stets neben dem Eßzimmer, Closet, Waschtisch (einer für alle), Badewanne in einem Raumd eng miteinander verschlungen. Die Fenster sind winzig. Nicht wesentlich größer als alle andren war auch das Pfarrhaus neben der kleinen, sehr freundlich und behaglich (mit Küche und Dining Room für die häufigen Gemeindefeierlichkeiten) eingerichteten Holzkirche. Die Gemeinde besteht aus 125 Familien, der Kirchenbesuch scheint (grade bei den Männern) ganz brillant zu sein, die Unterhaltung der Kirche und des Pfarrers bringt die Gemeinde – fast alles ungelernte Handarbeiter aus den Holzmühlen und Packhöfen pp. [–] natürlich selbst auf: den einzelnen Arbeiter kostet das an Umlage ca 20– 30 $ (80–120 Mk) jährlich, daneben Collekten.e11 Die Lehre, die gepredigt wird, ist ein so gut wie gänzlich undogmatisches Christentum sehr freien Charakters, die Gemeinde sieht nur auf Persönlichkeit und Predigttalent des Pfarrers, macht die Generalsynode Schwierigkeiten, dann – meinte Haupt – würde die Gemeinde austreten. Der Pfarrer ist auf 3monatliche Kündigung (wie fast alle) angestellt, die aber sehr selten vorkommen soll. An Gehalt bezog Haupt – in seiner Erscheinung und Redeweise an Rade12 erinnernd – s.Z. in der Prärie
b 〈bra〉 oder: 〈ora〉 c O: Hartholz Pannelen d 〈die in〉 e 〈Das Christen〉 11 Diese Informationen flossen ein in: Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, MWG I/9, S. 426– 462, sowie in Max Webers Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Ernst Troeltsch: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 39–62 (MWG I/9, S. 741–764). 12 Der Pfarrer und Theologe Martin Rade gab die Zeitschrift „Christliche Welt“ heraus, in
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250 $ (1050 Mk) pro Jahr, daneben luden ihn die Farmer Sonntags zu Tisch und schickten ihm Schweine etc., während die Frau Kaninchenfallen stellte. Jetzt, in Tonawanda, scheint (nach seinen Andeutungen) sein Gehalt gegen 1000 $ (4200 M) zu betragen – ein Maurer in New York verdient 1½–2 Mal so viel, ein Arbeiter in Tonawanda jedenfalls ebenso viel. Das 15jährige Dienstmädchen (Gemeindekind)13 bekommt 104 $ (422 M) pro Jahr. Die Frau kocht, macht die Hälfte des Hauses mit rein, der Mann schleppt schwere Sachen u. dergl.f mit ins Haus, Wäsche |:ist:| nur im Haus, Kleider der Frau und (4) Kinder14 werden ganz im Haus gemacht. Dieg Modejournaleh und Modehandlungen verkaufen in dünnem Papier vollständig |:bis auf das T.Z.15 :| zugeschnittene Kleider, nach denen auch – wie die Frau sagte – Jemand, der noch nie eine Nadel in der Hand gehabt hat, die compliziertesten Kleider selbst zuschneiden und nähen kann. Das älteste Mädchen16 muß natürlich mithelfen. Fleisch, Brot, Schuhe sind so billig wie bei uns, teuer nur Hüte, Kleider des Mannes u. dgl. Es bleibt trotzdem ein Rätsel, wie die Leute auskommen und dabei nett und cultiviert (wenn auch – die Frau – nicht elegant) aussehen |: [,] aber die Pfarrgehälter scheinen sehr oft zwischen 600 und 1000 $ zu variiereni, außer für die „Stars“ der Großstädte.:|j Welche Contraste gegen Gehalte wie die des Steel Trust-Präsidenten17 (1 Million $ = 4,2 Millionen Mk)! Und dabei welch ungeheuer arbeitsreiches und hartes Leben für Mann und Frau, besonders für so eine deutsche Professorentochter – vollends [,] nach dem was sie von ihrer Existenz in der Präirie erzählten. Dabei sind sie im Vorwärtskommen überall gehemmt durch ihren deutschen „Accent“, der namentlich bei Predigern jede Avancements-Chance fast ausschließt. Der Mann ist deshalb im Tonfall schon stark anglisiert. Er predigt – noch – meist deutsch, aber dazwischen
f Unsichere Lesung. g 〈Stofflieferanten〉 h 〈geb〉 i O: varieren j 〈uns〉 der Max Weber seit 1892 mehrere Beiträge veröffentlicht hatte. Beide engagierten sich im Evangelisch-sozialen Kongreß. 13 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 14 Ilse, Walter, Charlotte und Eleanore Haupt. 15 Umgangssprachliche Wendung u.a. im Berlinischen für „von A bis Z“ bzw. „von Anfang bis Ende“. 16 Die 1895 geborene Ilse Haupt. 17 Zur Zeit von Max Webers Besuch war Elbert Henry Gary der Chairman of the Board of Directors der United States Steel Corporation. Den Titel „President“ trug nur dessen 1903 zurückgetretener Vorgänger, Charles M. Schwab.
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auch englisch, die high schools (höhere Bürgerschule18 oder Quarta bis Untersekunda19 eines Gymnasiums etwa) sind natürlich rein englisch, er muß bei sichk, seinen Kindern und seiner Gemeinde auf englische Sprache dringen, wenn sie nicht dauernd second rate bleiben wollen. „Geselligkeit“ ist schon durch die Raumverhältnisse ausgeschlossen, aber auch durch die Wohngegend. Es ist üblich, daß die Leute [,] die in derselben Straße wohnen [,] sich besuchen, er wohnt aber nur unter seinen Arbeitern. Der Doktor und Apotheker in der zweitnächsten Straße besuchen ihn deshalb nicht, vollends nicht die „first set“-Familien aus den andren Stadtvierteln. Denn erst das Miethen einer Wohnung in einer Straße, die als zum „first set“ gehörend gilt, bekundet |:hier:| den Entschluß, zu den gentlemen zu gehören [,] und führt – auch für den Reichsten! – zur Aufnahme in die „society“, – eine wunderlichel Consequenz der rein mechanischen Merkmale, nach denen die demokratische Gesellschaft hier gegliedert ist. Wir haben einen gewaltigen Respekt davor, daß unter solchen Lebensbedingungen die Leute (und ihre Kinder) geblieben und geworden sind, was sie sind. – Gestern trafen wir dann hier Mr. James, Präsidenten der Northwestern University, 20 der einen von den beiden in Chicago residierenden Universitäten – die andre ist die von dem Petroleum-König Rockefeller gegründete21 – [,] mit seiner aus Halle stammenden Frau (er war Schüler von Prof. Conrad dort), 22 die in ihrer deutschen äußeren und inneren k 〈und〉 l 〈Kehrseite〉 18 An den Höheren Bürgerschulen wurde zwar Latein, aber kein Griechisch unterrichtet; es fehlte ihnen die Oberstufe der Gymnasien. Ihr Abschluß, die sogenannte Mittlere Reife, berechtigte jedoch zum einjährig-freiwilligen Militärdienst und hieß deshalb auch das „Einjährige“. 19 Entspricht den heutigen Jahrgangsstufen 7 bis 9. 20 Edmund Janes James war seit August 1904 Präsident der University of Illinois in Urbana-Champaign. Zuvor war er seit 1902 Präsident der von einflußreichen Methodisten gegründeten Northwestern University in Chicago gewesen, die Max Weber am 14. September 1904 besuchte (vgl. seinen Brief an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, unten, S. 293–296). 21 Die University of Chicago war 1857 gegründet, 1886 geschlossen und 1892 von der American Baptist Education Society wiedereröffnet worden. Zu den Stiftungsgeldern in Höhe von 12,5 Millionen Dollar hatte John D. Rockefeller mit 7,5 Millionen Dollar einen wesentlichen Teil beigesteuert. Deshalb wurde die Universität umgangssprachlich auch Rockefeller University genannt. 22 Edmund Janes James hatte 1875–1877 in Halle bei dem Nationalökonomen Johannes Conrad studiert und war mit der Arbeit „Studien über den amerikanischen Zolltarif“ promoviert worden. In Halle hatte er auch seine Frau Anna Margaret(he), geb. Lange, kennengelernt.
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Formlosigkeit und mangelhaften Toilette „terribly dutch looking“23 aussah, während er, wie die meisten Präsidenten – sie nehmen eine Stellung zwischen einem Cultusministerm, Curator24 und Rektor der betreffenden Universität, die ja eine autonome Corporation ist, ein – durch mächtige Haarmähne, gewählte Toilette und gemessene Grandezza des Wesens keinen Moment die „repräsentative“ Persönlichkeit vergißtn, übrigens ganz nett war. Die beiden Söhne waren [,] der eine graduate student, 25 der andere Cadett, eben in die Marine als Offizier eintretend, 26 äußerst angenehme junge Leute, denen kein Mensch ansieht, daß sie, wenn ihre Mutter grade kein Dienstmädchen hat – ein Fall [,] der jede Stunde jedes Tages eintreten kann, das Trottoir vor dem Hause fegen, den Flur reinigen, Kohlen tragen etc.,o27 wie die Mutter selbst dies natürlich |:auch:| immer wieder thun muß. Die besten Dienstboten hat man – meinte Mrs James – ausp armen Studenten der Universität, die sich in den Ferien in den Badeorten, während des Semesters bei Professoren (und andren guten Familien) auf den halben Tag zum Aufwarten etc. vermiethen. Die Zahl solcher Studenten scheint in der N[orth] W[estern] University besonders groß, angeblich die große Mehrzahl (?) zu sein. Auf der Fahrt nach Chikago Mein Ausflug nach Buffalo28 gestern war sehr nett, wenn auch von wegen des vielen „Latschens“ in den weitläufigen Straßen ziemlich anstrengend. Die Geschäftsstraßen sehen trotz der Prachtbauten im ganzen so wenig einladend aus wie die von New York: Alles ist mit einem schwarzen Rußschleier überzogen, die Fenster z.T. staubig, kurz: neu u. doch schon verwahrlost, so wie etwa die Vorstädte bei uns. Das Wohnviertel der eleganten Welt ist dagegen reizend, lauter baumbepflanzte grüne Straßen mit entzückenden Holzhäuschen, die so aussehen, als hätte man sie m 〈u [??]〉 n Alternative Lesung: verpaßt o 〈und helfen [??]〉 p 〈den Stud〉 23 Als Redewendung „dutch“ für: sparsam. 24 In Deutschland wirkte der Kurator vor Ort an der Spitze der Universitätsverwaltung als Vertreter des Staates. Ihm oblag die Rechtsaufsicht sowie die Überwachung der akademischen Ordnung und Disziplin, was oftmals eine Einschränkung der Hochschulfreiheit bedeutete. 25 Herman Gerlach James machte erst 1906 seinen Bachelorabschluß und war demzufolge seinerzeit vermutlich erst „undergraduate“. 26 Anthony John James besuchte die Naval Academy von Annapolis. 27 Max Weber schilderte in „Der Sozialismus“ (MWG I/15, S. 597–633, hier: S. 6 06) eine entsprechende Szene. 28 Zu Marianne Webers Ausflug nach Buffalo am 8. September 1904 vgl. oben, S. 274.
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geradeq aus der Spielzeugschachtel genommen u [.] auf den sammetgrünen Rasen gestellt. Sie sind das einzig ganz Neue u. Eigenartige, was ich hier bisher an Architektur gesehen haber, u. ästhetischs weit befriedigender als die stolzen Steinpaläste in New York. Die beiden settlements29 waren am Tage natürlich nicht im Betrieb und deshalb nicht so interessant wie ich gedacht hatte. Es sind überhaupt einfach „Heime“ größeren Stils, wie wir sie auch für Handlungsgehilfinnen einrichten.30 Mädchen u. junge Leute finden hier nachmittags allerlei Handfertigkeitskurse: Kochen u. Tischlern, Nähen etc. – u. abends allerlei Unterhaltung, durch Theaterspielen, Turnen u. dgl. Das weitaus netteste und belehrendste war für mich die Unterhaltung mit Frau Haupt.31 Sie ist wirklich famos, klug u. tüchtig, nur fehlt ihr Grazie und Eleganz (woher sollte sie diese Dinge auch beschaffen bei ihrer harten Existenz!?). Dieser Mangel wird ihr aber wohl die anglo-amerikanische Gesellschaft, die sehr viel Gewicht auf die tästhetische Kulturt der Frau legt, noch fester verschließen, als es ohnehin das Herabsehen auf die Deutschen thut. Die „Deutschen“ repräsentieren hier eben die niedrigere Kaste, die amerikanische Geselligkeit verschließt sich ihnen meistens, auch sind sie ja meist zu arm [,] um mitthun zu können. Für die eingewanderten Deutschen ist es deshalb das einzig Richtige, ihre Kinder äußerlich vollständige Amerikaner werden zu lassen in Sprache u. Sitte, sonst müssen sie sich immer fremd u. ausgeschlossen fühlen. Frau Haupt hat natürlich immer Sehnsucht nach Deutschland, u. ich muß sagen, daß ich als Deutsche hier um keinen Preis leben möchte, schon weil es so schwer ist wirklich gebildete Leute zum Verkehr zu finden. Dies empfindet auch Frau H[aupt] am schmerzlich sten, ihre Gemeinde besteht nur aus Arbeitern, u. von der besseren amerik[anischen] Gesellschaft ist sie ausgeschlossen [,] so bleiben zum Verkehr nur die deutschen Pastoren in Buffalo. Als Frau unsres Standes u. Geldbeutels hat sie es hier überhaupt in jeder Beziehung sehr schwer. Mit 4 Kindern, zeitweise ohne Dienstmädchen oder sonst mit einem jungen Dinge von 13–15 Jahren wirtschaften zu müssen, denke ich mir für eine Frau mit geistigen Interessen auf die Dauer gräßlich u. auch sehr aufreibend. Natürlich müssen dann die Männer auch im Hauq Unsichere Lesung. r O: haben s O: esthetisch t–t O: esthetische Kultur oder: esthetische Cultur 29 Wie oben, S. 274, Anm. 3, hat Marianne Weber zwei Settlements für deutsche Einwanderer in Buffalo besucht. 30 Marianne Weber hatte vermutlich die Aktivitäten des von ihr mitgegründeten Heidelberger Kaufmännischen Vereins für weibliche Angestellte im Sinn (vgl. die Briefe von Marianne Weber an Helene Weber, undat. [vor dem 7. Jan. 1904], Verbleib des Originals unklar, hier nach Transkript, Max Weber-Arbeitsstelle Heidelberg, sowie denjenigen vom 10. Jan. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446): Dieser Verein hatte am 24. April 1904 in der Hauptstraße 78 ein Heim für Handlungsgehilfinnen eröffnet (vgl. die Meldung in der Heidelberger Zeitung, Jg. 46, Nr. 95, 3. Blatt vom 23. April 1904, S. 1, sowie den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 12. Apr. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 31 Zu der mit dem Pfarrer Hans Haupt verheirateten Margarethe (Grete) Haupt vgl. oben, S. 274 f.
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se helfen, die Versorgung der Centralheizung fällt z.B. ihnen fast überall zu, auch Stiefel wichsen u. Fußböden kehren. Das wäre mal was für Max u. Alfred! Eine Köchin bekommt 80 Mk den Monat, doppelt so viel wie manche Lehrerinnen [,] u. wo die Dienstmädchen durch die Unions32 organisiert sind, wollen sie nach 8u Uhr abends vollständig frei sein. Sie sollen allerdings noch mehr leisten als bei uns, jedenfalls müssen sie 3 warme Mahlzeiten liefern u. einenv Teil der Zimmer reinigen, während die Frauen derjenigen Kreise, die sich eine Köchin halten können, die Schlafzimmer u. Wohnzimmer zu machen pflegen. Hoffentlich lernen wir nun auch mal echte amerikanische Haushaltungen u. Frauen kennen. Außer der kleinen New Yorker Professorenfrauw, von der Max erzählt hat, 33 u. die offenbar Hausfrau nach deutschem Muster ist, – sie zeigte mir gleich mit Stolz ihr Eingemachtes – sahen wir noch Niemand. x Das Papier ist zu Ende. Ich [??] mit. x The Congress Hotel Company Chicago_____________190 Ich muß, nun ich in Ch[icago] an einem festen Schreibtischchen sitze u. nicht jeden Moment einen Ruck im Arm verspüre [,] noch etwas über Frau Haupt‘s Leben in der Prairie erzählen. Diese Hallenser Geheimratstochter hat ihre Ehe auf einer kleinen Farm im Westen begonnen; 34 es war ihres Mannes erste Stelle – die zerstreut liegenden deutschen Farmer hatten ihn mit einem Gehalt von 1200 Mk! freier Wohnung u. gelegentlichen Unterstützungen mit Lebensmitteln angestellt. Das „Haus“ hatte nur zwei bewohnbare Räume u. eine Küche, von Bedienung natürlich keine Spur, die beiden Leutchen prutzelten sich ihr Essen u. fegten ihre Stuben selbst. Montags brachte ihnen eines ihrer Pfarrkinder ein Stück Fleisch für die ganze Woche, im Sommer wurde es natürlich manchmal oberfaul [,] denn Eisschränke gab es nicht. – Dann bekamen sie Butter u. Würste von Andren, auch Milch, Eier hatten sie selbst, u. Mehl u. Reis mußte das ferne Städtchen liefern. Ihre Existenz war also denkbar anspruchslos, selbst Pfannkuchen mit Milch gehörte zu den Raritäten – aber am Schluß des Jahres hatten sie noch Geld gespart! Im Sommer war es glühend heiß, denn natürlich gab es weit u. breit keinen Schatten, u. der Prairiewind umglühte das Haus. Im Winter dagegen eisige Kälte, im
u Papier in O beschädigt; 8 nach Abschrift ergänzt. v O: ein w Unsichere Lesung. x–x Unsichere Lesung wegen Bindung des Originals. 32 D.h. durch Gewerkschaften wie die Working Women‘s Association of America (WWAA). 33 Die mit William Addison Hervey, einem Germanisten an der Columbia University, verheiratete May Hervey (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 2., [4. und am oder nach dem 5.] Sept. 1904, oben, S. 272). 34 Margarethe (Grete) Haupt, deren Vater, Johannes Conrad, neben seinem Professorentitel auch den Titel eines Geheimen Regierungsrats trug (vgl. oben, S. 278, Anm. 22), hatte nach der Immigration zunächst in Iowa gelebt (vgl. oben, S. 275, Anm. 7).
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Schlafzimmer 10 Grad. Und da wurde das erste Kindchen35 geboren. – Bei solchen Erzählungen merkt man erst, wie verwöhnt man ist! Nun sind wir in Chikago.36 Wir haben noch nicht viel gesehen, der Haupteindruck ist die Vertauschung der schönen grünen Stille in Niagara mit dem rußigen und heißen Lärm der aufstrebenden Geschäftsstadt. Auch hier wieder verrückte sky-scrapers u. schauerliches Straßenpflaster. Dazwischen einige großartige u. auch ästhetischy befriedigende Bauten, die in unsrer Gegend37 Alle Geschäftszwecken dienen. Außen schwerer u. berußter Sandstein, innen weißer Marmor, Bronze u. Mahagoni – das Teuerste vom Teuren, die ganze Architektur über die Maßen prachtliebend und massig, „ein Ausdruck wirtschaftlicher Kraft“ sagt Maxens Tendenz die besten Seiten zu sehen – „protzenhaft“ fühlen sich die schlichter Gesinnten manchmal gedrungen zu sagen. Dann dicht neben den reichen Straßen [,] in denen die Waarenhäuser die erste Violine spielen, die aber wegen des gradezu schandbaren Straßenpflasters u. des unergründlichen Schmutzes nicht elegant wirken, die Arbeiterstraßen mit kleinen ein[-] u. zweistöckigen Häusern – das System der kleinen Häuser für Arbeiter ist sicher sozial dem der Mietskasernen vorzuziehen, sicher wohnt der einzelnez Arbeiter hier besser als bei uns – aber die Straßen sehen äußerlich gradezu schauderhaft aus, freudlos u. verwahrlost, u. daß sie sammt u. sonders nach dem Lineal gezogen sind, macht das Bild aller amerikanischen Straßen noch extra unmalerisch. Dazu speziell hier die schmutzige Athmosphäre, man ist nach jedem Ausgang im Gesicht schwarz, Gott sei Dank kann man dafür im Hause um so ausgiebiger der Reinlichkeit fröhnen. Hier in unsrem sehr eleganten Hotel, das zugleich ein Theater, eine Kirche, eine Apotheke, ein Wetterobservatorium u. ich weiß nicht was sonst noch alles umschließt [,] hat jedes gute Zimmer einena Nebenraum, der in lieblicher Eintracht: Waschtisch, Badewanne u. Closet enthält, kaltes und warmes Wasser stehen immer zur Verfügung u. man hat sein Bad in 5 Minuten fertig. Das ist also wirklich herrlich u. als Besitzer eines eignen Closets u. einer eignen Badewanne fängt man, sobald man nach Hause kommt, an, sich als Kulturmensch zu fühlen. Das Interessanteste, was ich hier gesehen, ist ein settlement großen Stils, das mit einem Aufwande von erheblichen Mitteln von einer ganz außerordentlich anziehenden Dame in einem Arbeiterviertel errichtet ist.38 Es umfaßt eine Kinderkrip-
y O: esthetisch z O: Einzelne a O: ein 35 Die am 26. Juni 1895 geborene Ilse Haupt. 36 Mit 1,8 Millionen Einwohnern war Chicago die zweitgrößte Stadt der USA und ihr größtes Eisenbahnzentrum. 37 Max und Marianne Weber waren im Hotel „The Auditorium“, Ecke Congress Street und Michigan Avenue, abgestiegen. In dem von Dankmar Adler und Louis Sullivan entworfenen Prachtbau waren außer dem Hotel auch ein Konzertsaal und ein Theater mit 5000 Sitzplätzen untergebracht (vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 311). 38 Zu den Eindrücken von dem maßgeblich von Jane Addams geprägten Settlement „Hull House“ vgl. Weber, Marianne, Was Amerika den Frauen bietet. Reiseeindrücke, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 6, Heft 23, 1905, S. 177–179, hier S. 179 f.
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pe, Wohngelegenheit für 30 Arbeiterinnen, eine Sportshalle für junge Leute, einen großen Conzertsaal mit Bühne, eine Lehrküche, Kindergarten, Räume für Handfertigkeits- u. Handarbeitsunterricht jeglicher Art etc. Hier verkehren im Winter etwa 15000 Personen beiderlei Geschlechts, u. empfangen hier Belehrung, Anregung, Rat u. Vergnügungen – es ist wirklich großartig, u. bekundet sowohl ein großartiges Organisationstalent wie auch in seiner ganzen Ausstattung feinsten Geschmack. Miss Addamsb[,] die Gründerin u. Leiterin, der immer viel freiwillige Helfer und Helferinnen zur Seite stehen, ist eine überaus anziehende, sanfte, vornehme Erscheinung – man glaubt es gleich, daß sie ihren Beinamen „angel“ Johanna verdient. Ihre Fähigkeit [,] den reichen Leuten Geld abzuknöpfen u. so viele Kräfte zur Arbeit heranzuziehen [,] ist mir nicht weniger imponierend wie ihre Fähigkeit [,] den Armen u. Arbeitern ein Mittelpunkt zu sein u. ihr Vertrauen zu gewinnen. – Am Sonntag machte ich dann auch eine Sitzung der weiblichen Gewerkvereins-Liga mit, 39 die mir sehr interessant war. Miss Addamsc u. ihr Kreis befördert die Arbeiterinnenorganisationen so viel sie kann, u. arbeitet dabei Hand in Hand mit den männlichen Trade-Unions-Führern. Offenbar hat man auch hier mit den Frauenorganisationen schon größere Erfolge als bei uns gehabt, es ist sogar gelungen, die Heimarbeiterinnen zu organisieren, d.h. sie zu Trade-Unions-Mitgliedern zu machen u. die Unternehmer zu zwingen [,] nur solche „labelled“ women (d.h. also Mitglieder der Gewerkvereine) zu beschäftigen. In jener Versammlung wurde nur über den verlorenen großen Stockyardstrike,40 den Streik der Riesenschlachthaus-Arbeiter u. Arbeiterinnen (20–30000) [,] der noch ganz Chikago in Aufregung u. teilweis auch in Aufruhr hält, diskutiert. Die Gedankengänge u. Ansichten über die Sache waren ganz denen in meinen Kreisen üblichen ähnlich – ich fühlte mich sofort von heimatlicher Luft u. von mir bekannten Aufgaben umgeben – mußte aber wieder aufs neue die anmutige Redegewandtheit der amerikanischen Frauen bewundern. Sie haben – ebenso wie die amerikanischen Männer – eine reizende Art, ihre Ansichten anschaulich, warm u. humorvoll anzubringen. Ich Unglückswurm wurde dann von Miss Addamsd getrietzt [,] auch noch ein Wort zu sagen – das scheint hier so Sitte zu sein, u. ich konnte es leider nicht machen wie jener Indianerhäuptling [,] der bei der Einweihung irgend einer Sache trotz seines Protestes auf die Tribüne getriezt, das erwartungsvolle Publikum mit unnachahmlicher Würde einfach anschnauzte41 – ich mußte also in Englisch irgendwas sagen – natürlich war es eine Hymne auf Miss Addamse – zu ihrem Entsetzen. Das hatte sie davon! Es geschah ihr schon recht. b O: Adams c O: Adams d O: Adams e O: Adams 39 Nach Scaff, Max Weber in America, S. 4 3, handelte es sich um die Sitzung der zu Jahresbeginn von Jane Addams mitgegründeten Women’s Trade Union League (WTUL) am 11. September 1904. 40 Der Streik der AMC (Amalgamated Meat Cutters and Butcher Workmen of North Am erica) war nach 59 Tagen am 8. September 1904 zu Ende gegangen (vgl. den Brief an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, unten, S. 287 f., sowie Scaff, Max Weber in America, S. 42 f.). 41 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden.
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So, nun Schluß. Max hatte gestern u. heute Ruhetag, so habe ich mich gestern nur mit Tröltsch in den Parkanlagen am Michigansee herumgetrieben, die ja den Vorzug der Reinlichkeit, guten Luft u. grünen Rasenflächen vor der Stadt haben, aber im übrigen doch, gerade wegen der unglaublichen Raumverschwendung, den breiten öden Wegen, u. dem kümmerlichen Baumwuchs ziemlich freudlos u. melancholisch wirken. Vielleicht sehen wir heute Lustigeres in den Wohnvierteln. Übrigens haben wir bis jetzt auf der Post vergeblich nach Briefen gefragt – wo bleibst du, Mama?? Von Tante Flora42 u. Wina43 können wir am Ende erst recht nichts verlangen. Nun ade. Mit tausend Grüßen bin ich Euer alle Janne
42 Florentine (Flora) Schnitger. 43 Alwine (Wina) Müller.
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Helene Weber 19. und 20. September 1904; St. Louis Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 26–35
St Louis 19/IX 04 Liebe Mutter!
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Wir feiern nun hier an den Ufern des Mississippi morgen unsren 11ten Hochzeitstag, fürstlich einquartiert mit zwei Riesenzimmern und der üblichen Combination von Bad, Waschgelegenheit und W.C., bei einem Deutschamerikaner, Herrn A. Gehner,1 einem geborenen Westfalen – Bauernsohn – mit einer ebenfalls aus kleinen Verhältnissen stammenden sehr angenehmen |:deutschen:| Frau. Er fing an als Beamter der Vermessungsbehörden des Staates Missouri nach dem Bürgerkrieg, den er auf Seiten des Nordens mitmachte, kannte so die Besitzverhältnisse genau und machte sein Vermögena durch eine etwa unsrem Notariat entsprechende Thätigkeit: die Controlle und Prüfung der Besitztitel bei Käufen. Da man hier kein Grundbuch deutscher Art hat, muß man bei jedem Kauf die Urkunden bis zum ersten Ansiedler, 150 – 200 Jahre zurück prüfen, um sicher zu gehen, daß man vom richtigen Eigentümer gekauft hat. Mit diesem verantwortlichen aber einträglichen Geschäft verband er, wie dies ja nahe lag, die Vermittlung von Hypothekendarlehen und hat sich jetzt auf dies Geschäft zurückgezogen. Er ist also völlig selfmade, dabei ein completter gentleman, schön und stattlich, von vortrefflichen Formen, besseren als sein Schwiegersohn, ein Eisenfabrikant; 2 die Tochter3 ist natürlich college-bred4 und sehr comme il faut. Das Haus ist sehr groß und äußerst geschmackvoll ohne Prunk, mit einfarbigen (waschbaren) Leinentapeten und den üblichen a 〈als〉 1 August Gehner und seine Frau Wilhelmina gehörten zu einem Kreis prominenter Familien aus St. Louis, die in Begleitung von weiblichen Familienangehörigen reisende Kongreßteilnehmer beherbergten (vgl. Rogers, Howard J., The History of the Congress, in: Ders. (Hg.), Philosophy and Metaphysics (Congress of Arts and Science, Band 1). – Boston, New York: Houghton, Mifflin & Co. 1906, S. 1–44, hier S. 22 f.). 2 Frank Mesker, Mitinhaber von Mesker Brothers Iron Works in St. Louis. 3 Pauline Mesker, geb. Gehner. 4 Engl. für: auf einem College ausgebildet.
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aus den schönen amerikanischen Harthölzern hergestellten Holzpaneelenb, Thürpfosten etc, das Essen – denn wir sind zu vollem Quartier eingeladen – erfreulich einfach. Tröltsch, der einsam in einem Club untergebracht war, 5 erschien gestern (Sonntag) [,] wo Alles – auch die World’s fair – zu war,6 verzweifelt hier und blieb alsbald ebenfalls hängen. Heut Abend geht der Congreßschwindel7 los. Alles bisher ist also äußerst behaglich, und, bis auf 3 schlechte Tage in Chicago,8 – wo wir Deinen Brief9 übrigens richtig erhalten hattenc – geht es mir nach wie vor brillant, trotz endlosen Geplauders mit all den vielen Leuten. Das Wetter ist jetzt feucht und kühl, während gestern früh und auf der Fahrt hierher 92° Fahrenheit, zeitweise mehr, also über 30° Celsius, herrschten. – Chicago ist eine der unglaublichsten Städte. Am See10 liegen einige behagliche und schöne Villenviertel, meist Steinhäuser schwersten und lastendsten Stils, direkt dahinter liegen alte Holzhäuschen, genau wie sie in Helgoland sind, dann kommen die Tenements11 der Arbeiter und ein wahnwitziger Straßenschmutz, kein Pflaster oder miserable Chaussierung12 außerhalb der Villenviertel, in der city zwischen den skyscrapers ein haarsträubender Straßenzustand. Dabei wird Weichkoh-
b O: Holzpannelen c Alternative Lesung: haben 5 Ernst Troeltsch war, wie alle einzelreisenden Kongreßteilnehmer, im Dormitorium der Washington University von St. Louis untergebracht (vgl. Rogers, History of the Congress (wie oben S. 285, Anm. 1), S. 22). 6 In der Abschrift der „Amerikabriefe“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) findet sich an dieser Stelle eine Lücke, da das „Maschinenfräulein“ offenbar „World’s fair – zu war“ nicht entziffern konnte. In die Textlücke fügte Max Weber in die Abschrift eigenhändig ein: „Ausstellung (auf Verlangen der Methodisten)! – geschlossen ist“ (ebd., S. 32). 7 Die deutsche Presse schrieb ironisch über den Gelehrtenkongreß als „wissenschaftlichen Zirkus Barnum“ (vgl. Rollmann, Hans, „Meet me in St. Louis“. Troeltsch and Weber in America, in: Lehmann, Hartmut und Roth, Guenther (Hg.), Weber‘s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts (Publications of the German Historical Institute, Washington D.C.). – Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 357–383, hier S. 365). 8 Max Webers körperliche Unpäßlichkeiten erwähnt auch Ernst Troeltsch in seinem Brief an Marta Troeltsch vom 14.–15. Sept. 1904, Privatbesitz Horst Renz. 9 Helene Weber schickte zu von Max Weber vorgegebenen Terminen Briefe an verschiedene Reisestationen (vgl. den Brief von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 2. [Okt.] 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Der genannte Brief nach Chicago ist allerdings nicht nachgewiesen. 10 Gemeint ist der Michigansee. 11 Häuser mit Mietwohnungen. 12 Straßenbefestigung.
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le13 gebrannt. Wenn nun der |:heiße trockene:| Wind aus den Wüsten des Südwestens durch die Straßen fegt, so ist der Anblick der Stadt, zumal wenn die Sonne dunkelgelb untergeht, ein phantastischer. Man sieht am hellen Tage 3 Straßen-Blocks weit, auch von den Aussichtstürmen, Alles ist Dunst, Qualm, der ganze See mit einer violetten Rauchathmosphäre turmhoch bedeckt, aus der die kleinen Dampfer plötzlich auftauchen und in dem die Segel der auslaufenden Schiffe rasch verschwinden. Dabei eine endlose Menschenwüste. Man fährt aus der city durch die – ich glaube 20 |:(englische):| Meilen lange Halsted street in endlose Fernen, zwischend Blocks mit griechischen Aufschriften, Xenodochien14 etc., dann andre mit chinesischen Kneipen, polnischen Reklamen, deutschen Bierhäusern – bis man an die „stock Yards“ gelangt:15 so weit man von dem Uhrturm der Firma Armour16 sehen kann, nichts als Hürden17 mit Vieh, Gebrüll, Geblöke, endloser Dreck – am Horizont aber rundum – denn die Stadt geht noch Meilen und Meilen weiter, bis sie sich im Grün der Vorstädte verliert – Kirchen und Kapellen, Elevator-Speicher, rauchende Schlote – jedes große Hotel hat einen für seine Elevators etce – und Häuser jeden Formats. Meist kleine für höchstens 2 Familien, daher die ungeheueren Dimensionen der Stadt undf je nach den Nationalitäten differenziert in der Sauberkeit. Der Teufel war los gewesen in den Stock yards: ein verlorener Streik,18 massenhafte Italiener und Neger als Streikbrecher: täglich Schießereien mit Dutzenden von Toten auf beiden Seiten, Trambahnwagen umgestürzt und dabei ein Dutzend Frauen zerquetscht, weil ein Non-union-man darauf gefahreng war, Drohung mit Dynamit d 〈Straß〉 e Unsichere Lesung. f 〈meist〉 g Alternative Lesung: gesehen 13 Eine Art von Braunkohle. 14 Griech.-lat. für: Fremdenherberge. 15 Der Union Stock Yard, Chicagos riesiger Schlachthof, war 1865 eröffnet worden. Auf einem Areal von ca. 200 ha konnten gleichzeitig 75.000 Rinder, 300.000 Schweine, 50.000 Schafe und 5000 Pferde untergebracht werden. Im Jahr wurden hier 3–4 Millionen Rinder, 7–8 Millionen Schweine, 3–4 Millionen Schafe und 100.000 Pferde geschlachtet und zu Fleisch verarbeitet (vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 317). 16 Armour & Co. war Chicagos größter fleischverarbeitender Betrieb. 17 Tiergehege. 18 Am 8. September 1904 war nach 59 Tagen der Streik der Gewerkschaft AMC (Amalgamated Meat Cutters and Butcher Workmen of North America) durch den massiven Einsatz von Streikbrechern seitens der fleischverarbeitenden Betriebe zusammengebrochen (vgl. den Zeitungsartikel: Strike is ended, Men surrender. Unions’ Fight against Meat Packers is abandoned, one New Concession being made, in: Chicago Daily Tribune, Jg. 63, Nr. 217 vom 9. Sept. 1904, S. 1 und 3).
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gegen die Elevated, von der richtig ein Waggon entgleiste und halb in den Fluß herabstürzte. Dicht bei unsrem Hotel ein Mord eines Cigarrenhändlers am hellen Tage,19 wenige Straßen davon in der Dämmerung ein Raubanfall von drei Negern auf einen Tramwagen20 etc, etc. – eine eigentümliche Culturblüthe Alles in Allem. Rasant ist das Durcheinanderquirlenh der Völker: die Griechen putzen StraßaufStraßab den Yankee’s die Stiefel für 5 cts, die Deutschen sind ihre Kellner, die Iren besorgen ihnen die Politik, die Italiener die schmutzigsten Erdarbeiten. Eine sehr instruktive Zeichnung im Hull House, 21 – von dem Marianne wohl erzählte – zeigte wie diesi Durcheinanderwehen der nationalen Zusammengruppierung Platz macht, die Lehrtafel daneben zeigte (zu meinem Erstaunen) [,] daß die Italiener die niedrigsten Löhne haben, niedriger als die Russen. Die ganze gewaltige Stadt – ausgedehnter als London! – gleicht außer in den Villenvierteln – einem Menschen, dem die Haut abgezogen ist und dessen Eingeweide man arbeiten sieht. Denn man sieht Alles – Abends z.B. in einer Nebenstraße in der city die Dirnen ins Schaufenster |:bei elektrischem Licht:| gesetzt nebst Preisangabe! Charakteristisch ist hier wie in New York die Behauptung einer eigenen jüdisch-deutschen Cultur. Theater spielen
h Unsichere Lesung. i Alternative Lesung: das 19 Es handelte sich um den Raubmord an Hans Peterson, dessen Zigarrenladen Ecke West Lake und Robey Street lag (vgl. die Zeitungsartikel: Holdup Men kill with No Warning, in: Chicago Daily Tribune, Jg. 63, Nr. 220 vom 13. Sept.1904, S. 1, Identify a Bandit Trio. Police believe they have the Peterson Muderers, in: Chicago Daily Tribune, Jg. 63, Nr. 222 vom 15. Sept. 1904, S. 3, sowie Think Prisoner is the Slayer. Police name Joseph Briggs as Leader of the Gang that killed Storekeeper, in: Chicago Daily Tribune, Jg. 63, Nr. 222 vom 15. Sept. 1904, S. 3). 20 Der Überfall auf einen Kartenverkäufer der South Side Elevated Railway ereignete sich am Morgen des 13. September 1904 an der 18th Street-Haltestelle (vgl. den Zeitungsartikel: Identify a Bandit Trio, wie Anm. 19). 21 Als Teil einer großangelegten, vom Kongreß in Auftrag gegebenen Studie über „The Slums of Baltimore, Chicago, New York and Philadelphia“ erhoben 1893 Bewohner von Jane Addams Settlement „Hull House“ unter Leitung von Florence Kelley, zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiterin des United States Bureau of Labor, umfangreiches Datenmaterial über die Lebensumstände in umliegenden Arbeitervierteln. Dieses Datenmaterial wurde in farbigen Übersichtstafeln graphisch aufbereitet und erlaubte so einen visuellen Eindruck von der grundstücks- bzw. gebäudeweisen Verteilung von Nationalitäten und Einkommen (vgl. Hull House Maps and Papers. A Presentation of Nationalities and Wages in a Congested District of Chicago. – New York, Boston: Thomas Y. Crowell 1895).
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in Judendeutsch der Kaufmann von Venedig1)22 und eigne Judenschauspiele [,] die wir uns in New York ansehen wollen.23 Die Rolle der Deutschen ist in Chicago – trotz großer Zahl – ganz unbedeutend, selbst ihr „Schiller“-Theater24 haben sie – infolge Uneinigkeit – verkauft. Dagegen hat St Louis eine große Zahl höchst angesehener deutscher Familien (natürlich mit amerikanisierten Kindern) und der deutsche Reichtum ist dem angloamerikanischen äquivalent. Carl Schurz lebte früher hier, ihm gehört noch die Mississippi-Zeitung zu ⅔, welche die originelle Leistung fertig bringt, in einer streng republikanischen Morgen-Ausgabe und – mit andrem Redakteur – einer ebenso streng demokratischen Nachmittags-Ausgabe zu erscheinen.25 Für das hiesige Parteiwesen und seine rein auf Ämterbesetzung gerichtete Eigenart oder vielmehr Charakterlosigkeit spricht das Bände! 1)
Wobei aber Shylock Recht behält.26
22 Nachgewiesen ist lediglich eine Aufführung von William Shakespeares Schauspiel „King Lear“ in Glickman’s Yiddish Theatre am 11. September 1904 (vgl. den Zeitungsartikel: Playbills, in: Chicago Sunday Tribune, Jg. 63, Nr. 37 vom 11. Sept. 1904, S. C1). 23 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 402 f. 24 Das 1892 eröffnete und nach Friedrich Schiller benannte Theater wurde nur wenige Jahre für die Aufführung klassischer deutschsprachiger Stücke genutzt. 1898 in Dearborn Theater umbenannt, war es seit 1903 als Garrick Theater bekannt. 25 Carl Schurz, der wegen seiner Teilnahme an der Revolution von 1848/49 emigrieren mußte und in den Vereinigten Staaten von Amerika als General und Politiker bekannt wurde, war 1867–1881 Miteigentümer und anfangs auch Redakteur der deutschsprachigen Zeitung „Westliche Post“. Das in St. Louis erscheinende Blatt fusionierte 1898 mit dem Abend-Anzeiger. Beide Zeitungen erschienen weiterhin wie gewohnt morgens bzw. abends und behielten auch ihre politische Ausrichtung bei: Die Westliche Post blieb republikanisch und der Abend-Anzeiger galt weiterhin als unabhängig. Unter dem Namen „Mississippi Blätter“ erschien von 1857 bis 1932 eine Sonntagsausgabe. 26 Die bekannteste jiddische Adaption von Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ stammt von Jacob P. Adler und wurde 1901 im People’s Theatre am Broadway in New York uraufgeführt. Adler, der die Hauptrolle selber spielte, ging es darum, Shylock als einen mehr von Stolz als von Rache angetriebenen Menschen zu zeigen: „He wishes to humble and terrify Antonio in return for the insult and humiliation he has suffered at his hands. […] For Shylock, however, the desired climax was to refuse the pound of flesh [Antonios Sicherheit für das ihm von Shylock geliehene Geld] with a gesture of divine compassion. When the verdict goes against him, he is crushed because he has been robbed of this opportunity, not because he lusts for Antonio’s death.” (Zit. nach Rosenfeld, Lulla, Bright Star of Exile. Jacob Adler and the Yiddish Theatre. – London: Barrie & Jenkins 1978, S. 3 04).
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20/IX (unser 11ter Hochzeitstag!) Chicago ist – infolge der Völkermischung27 – weniger kirchlich als selbst New York – trotzdem ist grade in den Arbeitervierteln die Zahl der (von den Arbeitern selbst bezahlten) Kirchen sehr groß. Hier liegen die charakteristischsten Züge amerikanischen Lebens, zugleich auch die schicksalsvollsten Momente tiefer innerer Umgestaltung. Orthodoxe Sekten waren es bisher, die dem ganzen Leben hier ihr Gepräge gaben. Alle Geselligkeit, aller soziale Zusammenhalt, alle Agitation zu Gunsten philanthropischer oder ethischer, auch – bei Campagnen gegen die Corruption – politischer Zwecke fanden an ihnen Halt. Jetzt ist, neben den Katholiken (die nur durch die Einwanderungj ihre Zahl behalten bzw. vermehren) nur die altlutherische große Missouri-Kirche28 noch ein Fels der Orthodoxie. Sonst ist Alles im Fluß. Die Presbyterianer haben die Prädestinationslehre und die Verdammnis der ungetauft Sterbenden abgeschafft, 29 die großen Sekten stehen im „pulpit change“k (d.h. ihre Geistlichen predigen oft gegenseitig in den an dren Kirchen), die Arbeiter wollen von Dogmatik gar nichts hören.
j 〈auch〉 k Lies: exchange“ 27 Auf ca. 495 km² lebten 1900 in Chicago mehr als 1,8 Millionen Einwohner. Darunter waren rund 600.000 deutscher, 200.000 irischer, 190.000 englischer bzw. schottischer, 180.000 skandinavischer, 100.000 polnischer und 90.000 böhmischer Herkunft. Dazu kamen etwa 30.000 Farbige. Zu hören waren in der Stadt annähernd 40 verschiedene Sprachen (vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 310). 28 Die Kirche mit der vollständigen Bezeichnung „Deutsche Evangelisch-Lutherische Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten“ (seit 1947: Lutheran Church – Missouri Synod) wurde am 26. April 1847 von deutschstämmigen, in den 1830er und 1840er Jahren in die USA eingewanderten Lutheranern gegründet. Ihr Hauptsitz ist bis heute in St. Louis, Missouri. Streng konservativ und konfessionell-lutherisch, pflegte sie einen an Luthers „Deutsche Messe“ von 1526 angelehnten Gottesdienst und hielt an den Bekenntnissen des 16. Jahrhunderts fest. Ihr Hauptaugenmerk galt der Mission und der Integration deutscher Einwanderer (vgl. Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 211, Fn. 1; MWG I/18). 29 Max Weber gibt hier das Glaubensverständnis der „Presbyterian Church in the United States of America“ wieder. Es stellt eine weniger strenge Auslegung der in der Westminster Confession of Faith von 1646 festgelegten Prädestinationslehre dar. Die Revision von 1902/03 (vgl. Müller, Ernst Friedrich Karl, Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register. – Leipzig: Deichert 1903, S. 941–946) galt allerdings nur für den o.g. Zusammenschluß presbyterianischer Gemeinden in den USA.
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Die „ethische Cultur“30 hat einen Tempel mit sonntäglicher Predigt in New York. Vor Allem stehen überall Tempel der Christian Science,31 oft riesengroß, und die Staaten müssen gegen die Unsitte, keinen Arzt zu rufen, die Dyphteritis- etc. -Kranken nicht anzuzeigen u. nicht zu behandeln etc, mit dem Strafgesetz vorgehen. Die alte scharfe methodistische Kirchenzucht ist ebenfalls verblaßt. Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Dinge weiter entwickeln werden. Unglaublich muthet es an, wenn man in den Statuten der Northwestern University in Chicago (methodistisch ursprünglich, die große Rockefeller’sche Gründung ist baptistisch, 32 beide concurrieren in derselben Stadt!) liest: der Student muß von den täglichen Gottesdiensten 3 / 5 besuchen, doch lkann erl aber |:statt:|m je 3 Stunden Gottesdienst 1 Stunde Colleg mehr hören. Hat er einen größeren „Chapel record“ (!!) als verlangt, so wird es ihm auf das nächste Studienjahr gutgeschrieben u. er braucht dann so viel weniger attendance zu leisten, bei ungenügendem „Chapel record“ wird er nach 2 Jahren relegiert.33 Der „Gottesdienst“ ist dabei eigenar-
l–l Fehlt in O; kann er sinngemäß ergänzt. m 〈für〉 30 Gemeint ist die in den 1860er Jahren von den Vereinigten Staaten ausgehende, auch in England und Deutschland verbreitete Ethische Bewegung, vgl. auch den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, unten, S. 387 mit Anm. 63. 31 Die „First Church of Christ, Scientist“ war 1879 von Mary Baker Eddy in Boston begründet worden. Umgangssprachlich als „Christian Science“ oder „Christliche Wissenschaft“ bekannt, sieht diese Glaubensgemeinschaft in der Lehre Jesu Christi eine vollständige und in sich schlüssige Wissenschaft, nach der allein die göttliche Harmonie wirklich ist und Leiden (wie alles Unvollkommene) nur aus einer falschen, auf Illusion beruhenden Sichtweise resultiert. Aus dieser Überzeugung folgt, daß alle Krankheiten mentalen Ursprungs und deshalb durch Glauben und Studium der Bibel heilbar sind. Max Weber besuchte am 6. November 1904 in New York einen Gottesdienst der „First Church of Christ, Scientist“ (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, unten, S. 378). 32 Die University of Chicago – die zweite große Universität in Chicago – war von John D. Rockefeller finanziell großzügig bedacht worden. Vgl. den Brief an Helene Weber vom 8., [am und nach dem 9. bzw. 11.] Sept. 1904, oben, S. 278 mit Anm. 21. 33 Gemeint sind die Statuten des College of Liberal Arts, in: Bulletin of Northwestern University. Annual Catalogue 1903–1904. – Evanston, Chicago: Northwestern University 1904. Sie schrieben wörtlich vor: „1. When a student’s record shows an attendance of less than three-fifths of the chapel exercises of any semester, one semester-hour is added to the requirements for graduation of that student for every three credits needed to make good the deficiency. In applying this rule, a deficiency of one or two credits is passed over to the next semester; in larger deficiences, the excess above the highest multiple of three is carried over. 2. When at the close of a semester the chapel record of a student shows a surplus of chapel credits, the surplus credits are applied to cancel any semester-hours which may have been added to the requirements because of the defective chapel record
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tig: Vorträge über Harnack’s Dogmengeschichte34 z.B. ersetzen ihn zuweilen. Am Schluß werden die Zeiten des nächsten Foot-Ball, BaseBall, cricket etc. verkündet – wie früher in den deutschen Dörfern die Erntearbeit. Das Ganze ist ein wildes Durcheinander – es ist schwer zu sagen, wie stark die Indifferenz zur Zeit ist, daß sie zugenommen hat – namentlich durch die Deutschen – ist ziemlich sicher. Aber die Macht der kirchlichen Gemeinschaften ist noch immer gewaltig im Vergleich zu unsrem Protestantismus. Überall fällt die gewaltige Intensität der Arbeit ins Auge. In den Stock yards mit ihrem „Ozean von Blut“, 35 wo täglich mehrere Tausend Rinder und Schweine geschlachtet werden, fällt sie am meisten in die Augen. Von dem Moment an, wo das Rind ahnungslos den Schlachtraum betritt, vom Hammer getroffen zusammenstürzt, dann alsbald von einer eisernen Klammer gepackt in die Höhe gerissenn wird und seine Wanderung antritt, geht es unaufhaltsam weiter, an immer neuen Arbeitern vorüber, die es ausweiden, abziehen etc., – immer aber im Tempo der Arbeit an die Maschine gebunden sind, die es an ihnen vorbeizieht. Man sieht ganz unglaubliche Arbeitsleistungen in dieser Athmosphäre von Qualm, Koth, Blut und Fellen, in der ich mit einem Boy, der mich allein gegen ½ $ führte,36 herumbalanzierte, um nicht im Dreck zu ersaufen, – und wo man das Schwein von der Kofe bis zur Wurst und Conservenbüchse verfolgt. – Stundenweit haben die Leute vielfach, wenn um 5 Uhr die Arbeit aus ist, nach Hause zu fahren, – die Tram-Gesellschaft ist bankrott, seit Jahren – wie üblich – verwaltet sie
n 〈un〉 of any preceding semester; and the surplus chapel credits not needed to remove such semester-hours are transferred to the chapel record of the following semester. 3. When a student’s chapel credits are deficient as many credits as he is expected to secure in onehalf of a semester, his registration is cancelled, and may be restored only on the recommendation of the committee on chapel attendance“ (S. 168). Auf diese Statuten bezieht sich Max Weber auch in: „Kirchen“ und „Sekten“, MWG I/9, S. 4 35 f. mit Anm. 4. 34 Wer die Vorträge über: Harnack, Adolf, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bände. – Freiburg i.Br.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1886–1890, hielt, ist nicht bekannt. 35 Mit diesem Bild veranschaulichte Grand, W. Joseph, The Illustrated History of the Union Stockyards. – Chicago: Knapp 1896, S. 50, den Prozeß der Massenschlachtung in den Schlachthöfen von Chicago. 36 Die Führung durch die Stockyards erleichterte ein Empfehlungsbrief an eine der dort ansässigen Firmen (vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 317).
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ein „receiver“,37 der kein Interesse an der Abkürzung der Liquidation hat und daher keine neuen Wagen anschafft – die alten versagen alle Augenblick. Jährlich |:gegen:| 400 Leute werden tot- oder zu Krüppeln gefahren, ersteres kostet |:laut Gesetz:| die Gesellschaft 5000 $ (an die Wittwe oder Erben), letzteres 10000 $ (an die Verletzten), so lange sie keine Vorsichtsmaßregeln trifft [.] o – Sie hat calculiert, daß sieo die 400 Entschädigungen weniger kosten als die verlangten Vorsichtsmaßregeln und bringt diese nicht an. – Die Stadt Chicago trinkt das Wasser des Michigan-Sees, unfiltriert – der Dreck der Stadt floß bis vor Kurzem ganz und jetzt noch zum Teil dahin: ein österreichischer College bekam alsbald gastrisches Fieber,38 Typhus ist alltäglich. Jetzt hat man den Chicago-River gestaut und nach der Wasserscheide zum Mississippi hin abgeleitet, 39 und läßt mit ihm den Dreck der Stadtp St Louis in den Mund laufen. Der Tunnel der Underground-Strecke unter dem River40 wird sicherlich bald einstürzen, da die Schiffe mit größerem Tiefgang fast immer auf ihm festlaufen: Niemand denkt dran, ehe er einstürzt, etwas zu thun. U.s.w. u.s.f. in infinitum. Es ist ein wildes Leben trotzq |:der:| raffinierten Culturschicht, die darüber liegt, wir sind ganz vergnügt – zumal auch die (Nacht-)Züge beraubtr worden sind (2 Mal innerhalb 14 Tagen!) – wir fahren nur am Tage – jetzt hier zu sein, wo es ruhiger zugeht. Sehr erquicklich war der Besuch der Northwestern University in der Vorstadt Evanston,41 schön im Grünen am See, mit großen Playgrounds und reizenden Holz- oder auch Steinhäusern der Professoren. Wieder die kleinen, oft winzigen Räume der Professorenhäuser – ein o Unsichere Lesung: 〈bei〉 p 〈Mi〉 q 〈aller〉 r 〈zu〉 37 Max Weber bezieht sich vermutlich auf den Bankrott der Union Traction Company (vgl. den diesbezüglichen Artikel in: Chicago Daily Tribune, Jg. 63, Nr. 133 vom 3. Juni 1904, S. 6). Diese Gesellschaft war 1899 entstanden, als Charles T. Yerkes, ein als skrupellos und korrupt bekannter Investor, die beiden ihm gehörenden Transportgesellschaften, die North und die West Chicago Street Railroad Company, verkaufte. Als deren Konkursverwalter (receiver) war Henry August Blair, Vizepräsident der Merchant’s National Bank, eingesetzt. 38 Der an einer abgeschwächten Form von Typhus erkrankte Kollege war möglicherweise der ebenfalls in Chicago weilende Wiener Soziologe Gustav Ratzenhofer. 39 Durch den in den Jahren 1889–1900 erbauten „Sanitary and Ship Canal“ wurde der Chicago River kurz vor seiner Mündung in den Michigansee in den zum Mississippi-System gehörenden Des Plains River umgeleitet. 40 Den Chicago River unterquerten damals drei Straßenbahntunnel. 41 Zum Besuch der Northwestern University am 14. September 1904 vgl. auch den Brief von Ernst Troeltsch an Marta Troeltsch vom 14.–15. Sept. 1904 (wie oben, S. 286, Anm. 8).
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Paff aus meiner langen Pfeife würde das Arbeitszimmer dauernd verfinstern –, ein sehr hübsches Heim einer studentischen Verbindung („Greek letter society“),42 die – außer Mensuren43 und Saufereien – Alles machen wie wir, hübsche Albums einer Studentinnen-Verbindung gleicher Art, mit amüsanter Schilderung der Art, wie dies „alten Herren“ oder vielmehr „alten Damen“ der Verbindung vor Beginn des Semesters kommen [,] um Füchse44 („freshmen“) „keilen“ zu helfen etc. etc. – kurz viele hübsche Einblicke in das ebenso arbeits- wie Poesie-reiche amerikanische Studentenleben. Diet Poesie ist anders als die des unsrigen, – denn während der amerikanische Junge auf der primary school, grammar school u. high school45 sehr langsam u. wenig zu arbeiten hat, ca 17–18 Jahre wird, bis er so weit ist wie ein Untersekundaner,46 die denkbar größte Freiheit genießt, deshalb für unsren Geschmack oft schwer erträglich, aber allerdings sehr kräftig und selbständig wird, – geht der College-Student (17/18 – 21/22 Lebensjahr) – normalerweise ins Internat,47 hat sich der Hausordnung zu fügen, ist bezüglich des Trinkens etc. wenn nicht formell, so doch faktisch controlliert, sein Studiengang ist – mit gewissenen elective lessons – vorgeschrieben, Schwänzen giebt es nicht, Kirchgang mindestens wöchentlich, |:Examina alle Vierteljahr:|. Trotzdem liegt bei allen älteren Leuten der ganze Zauber der Jugenderinnerung allein auf dieser Zeit. Massenhafter Sport, hübsche Formen der Geselligkeit, unendliche geistige Anregung, zahlreiche dauernde Freundschaften sind der Ertrag u. vor Allem wird ernstlicher als bei uns die Gewöhnung zur Arbeit erzogen. Der Schwiegersohn unsres Gastfreundes48
s 〈alten〉 t Zu Beginn des neuen Briefbogens eigenhändige Wiederholung des Datums: 20/IX 42 Die Namen der universitären fraternities (Verbindungen) setzen sich in der Regel aus griechischen Buchstaben zusammen, daher auch die umgangssprachliche Bezeichnung als Greek letter societies. 43 Streng ritualisierte Fechtkämpfe zwischen Mitgliedern studentischer Verbindungen. 44 Neumitglieder einer Verbindung. 45 Nach der rein altersmäßigen Differenzierung des amerikanischen Schulsystems be ginnt die Schullaufbahn mit sechs Jahren in der primary school (Elementarschule), wird mit 10 Jahren auf der grammar school (Mittelschule) fortgeführt und in der high school (Oberschule) abgeschlossen. 46 Zeitgenössische Bezeichnung für Gymnasiasten der 10. Klasse. 47 Der Besuch eines Colleges schließt in der Regel die Unterbringung in einem Wohnheim auf dem Universitätsgelände (von Max Weber mit einem Internat verglichen) ein. 48 Frank Mesker war der Schwiegersohn von August Gehner.
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versicherte, ein college-bred-man lerne das Geschäft in ½ Jahr, andre in 2–3. Erst nach der Graduierung als B.A. beginnt für die graduates – also Leute, die unsren Abiturienten entsprechen, nur einige Semester philosophischer, |:naturwissenschaftlicher:|, classischer und histori scher Studien hinter sich haben und volljährig sind, – u ein Studium von ca 2–3 Jahren bis zum Ph.D [.] , Ll.D [.] , M.A[.] oder D [.] in Science, welches unserm Universitätsleben entspricht. Die jungen Professoren – meist auf Kündigung angestellt, – unterrichten mehr am college, die älteren – speziell die „heads of department“, unsern Institusdirektoren in der medizin[ischen] Fakultät entsprechend – nur oder doch meist die graduates. Die Einnahmen sind niedrig: Die höchste in den V[ereinig ten] St[aaten] ist 9800 $ für den Präsidenten – = Curator,49 Cultusminister und Professor – am Harvard College, sonst meist für ordentliche Professoren zwischen 3000 und 5000 $, dabei meist 8–10 vorgeschriebene Colleg-Wochenstunden, die jüngeren mehr, so daß grade für diese wissenschaftliche Arbeit nicht leicht ist. Die Kosten des Studiums sind – auch an den auf Stiftung beruhenden Universitäten, denn an den Staatsuniversitäten ist Alles frei oder doch so gut wie frei – nicht hoch. Der Gesammtverbrauch in Chicago prov Jahr wurde uns als im Minimum ca 300 $ (1250 M), bei gut Situierten bis zu 500 $ geschildert, da die College-board-Gelder sehr niedrig sind. Anderwärts (New York) werden 800 $ genannt. Das Verdienen eines Teils davon ist sehr häufig, vom Stundengeben bis zum Stiefelputzen ist jede Form im Gange. Die Concurrenz der Universitäten (im Staat Illinois allein 3, 50 von den kleinen Colleges ganz abgesehen) treibt wunderliche Reklameblüthen, starker Lokalpatriotismus der Studenten, daneben der Verbindungen (Greek Letter Societies) entwickelt sich. Es war rührend, als in Evans ton unser Gastfreund – Goetheforscherw51 – im „Couleurhaus“52 einen freshman, der grade da war, einhakte und mit Begeisterung den „can-
u 〈die〉 v Alternative Lesung: per w Unsichere Lesung. 49 Zur Position des Universitätskurators in Deutschland vgl. oben, S. 279 mit Anm. 24. Dem Kurator oblag es insbesondere, Habilitationsgesuche und Berufungsvorschläge zu begutachten, bevor diese an die Regierung weitergeleitet werden konnten. 50 Es handelt sich um die Northwestern University, die University of Chicago und die University of Illinois. 51 Der Germanist James Taft Hatfield war Mitglied der Beta Theta Pi Fraternity. 52 Im deutschen Kulturraum dem Gemeinschaftsleben einer studentischen, hier farbentragenden Verbindung dienendes Gebäude.
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tus“ ihrer society („BΘΠ“53 – die Bedeutung der Buchstaben ist „Couleur“-Geheimnis, siex entsprechen sonst dem „Zirkel“54 unserer Couleurn) [,] anstimmte – Melodie: „O Tannebaum, o Tannebaum“! In der Kirche haben sie bekanntlich oft (besonders die Methodisten) 55 Commerslieder-Melodien.56 – Die Sachen haben, wie so vieles hier, etwas Kindliches, aus gesundem Menschenverstand, Enthusiasmus und Naivität seltsam Gemischtes. – Doch nun mag Marianne weiter erzählen. Sie ist eben in der Ausstellung mit Mrs Gehner.57 Über diese kann ich nur sagen, daß der Eindruck gestern Abend am großen Bassin, 58 als die Linien der Architekturen ruhig und vornehm durch Glühlampen erleuchtet waren, einer der grandiosesten war, die wenigstens ich mich entsinnen kann je gehabt zu haben. – Wir denken viel daran, daß nun Alfred bald seine Koffer packt.59 Das ist ein großer Abschnitt, hoffentlich kommt er nicht gleich zu sehr ins Geschirr und geht Alles gut an und Du kommst über die Zeit dieser Änderung desy Lebens gut fort! Ich schicke den Brief lieber doch ab, – wer weiß wann Marianne zum Schreiben kommt u. ichz muß morgen sprechen.60 Dann zahllose re-
x 〈bilden〉 y Unsichere Lesung: deines > des z Unsichere Lesung. 53 Das zum Liedgut von Beta Theta Pi gehörende „Gemma Nostra“ wird nach der Melodie des im Englischen als „O Christmas Tree“ bekannten Weihnachtsliedes gesungen. 54 Monogrammähnliches Erkennungszeichen einer studentischen, insbes. einer farbentragenden Verbindung. 55 Anhänger der von den Brüdern Charles und John Wesley sowie George Whitefield 1729 in Oxford ins Leben gerufenen Erweckungsbewegung, die sich 1797 von der anglikanischen Kirche trennte und insbesondere in Irland, Schottland und Nordamerika verbreitete. 56 Studentische, vorzugsweise anläßlich einer offiziellen Verbindungsveranstaltung (Kommers) gesungene Lieder. 57 Wilhelmina Gehner war die Gastgeberin von Max und Marianne Weber in St. Louis (vgl. oben, S. 285, Anm. 1). 58 Jenseits des Haupteingangs der Weltausstellung befand sich das „Grand Basin“, ein großes künstliches Wasserbecken mit Kaskaden. 59 Alfred Weber hatte eine Professur an der Deutschen Universität in Prag angenommen. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203. 60 Max Weber hielt seinen Vortrag über „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ (veröffentlicht in: Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis, 1904, Volume 7. – Boston, New York: Houghton, Mifflin and Co. 1906, S. 725–746; MWG I/8, S. 200–243) am Nachmittag des 21. September 1904.
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ceptions. Sonntag through-train in 24 Stunden nach Washington zu Roosevelt.61 Von James oder William Miller bisher keine Antwort, ich habe nun „eingeschrieben“ geschrieben.62 Hinreisen werden wir jedenfalls. Herzlichst – mit vielen Grüßen und Wünschen auch für Alfred – Dein Max
61 Die Fahrt nach Washington war für Sonntag, 25. September 1904, geplant. Präsident Theodore Roosevelt empfing die Teilnehmer des Gelehrtenkongresses am 27. September. Max Weber verzichtete jedoch offensichtlich kurzfristig auf die Teilnahme und reiste stattdessen nach Oklahoma ins Indian Territory. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, unten, S. 301. 62 Eine Korrespondenz mit den amerikanischen Verwandten Emil James (Jim) Miller in Mount Airy, North Carolina, und William Francis (Bill) Miller in Knoxville, Tennessee, ist nicht nachgewiesen. Zum Besuch dort vgl. den Brief an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 335–350.
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Hugo Münsterberg 20. September [1904]; St. Louis Brief; eigenhändig Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2229 Das Jahr wurde aus dem Inhalt des Briefes erschlossen.
4494 Lindell Boul[evard] St Louis 20/9 Sehr geehrter Herr College! Ich erlaube mir zu wiederholen, was ich mündlich sagte, daß wir aller Voraussicht nach genötigt sind, unsre Reise nach dem Süden zu unsren Verwandten in die erste Oktoberhälfte1 zu legen, so daß wir Ihrer liebenswürdigen Einladung dann nicht würden folgen können. Gleichwohl hoffen wir Ihrer Frau Gemahlin2 und Ihnen gegen Ende Oktober unsre Aufwartung zu machen.3 Ich lege aber das größte Gewicht auf die wiederholte Bemerkung, daß – wie ich bisher alle Einladungen ohne Ausnahme abgelehnt habe – ich, schon einfach aus gesundheitlichen Gründen, auch Sie höchstens mit einer Cigarre zu einem halbstündigen Geplauder in Contribution setzen werde und auf das dringendste bitte, nicht etwa zu glauben, ich wollte zu den ohnedies Zahlreichen gehören, die Ihre Pein noch um einen weitren Monat verlängern. Die Buildings von Harvard zeigt uns der Präsidentschaftssecretär auf unsre Bitte resp. instradiert4 uns an einen Clerk, den Studiengang kenne ich aus Magazines etc. in der Theorie, wegen der Praxis werde ich meine dortigen Fachcollegen um die Erlaubnis zum Hospitieren in einer Collegstunde bitten.5 Gesellschaften pp. mache ich nicht mit, weil
1 Max und Marianne Weber besuchten die amerikanischen Nachfahren von Fritz Fallenstein (Francis Miller) in den USA in Knoxville, Tennessee und Mount Airy, North Carolina vom 9. bis 16. Oktober 1904. 2 Selma Münsterberg, geb. Oppler. 3 Max und Marianne Weber waren zwischen dem 28. Oktober und 4. November 1904 in Boston. Dort kam es dann zu zwei Besuchen bei Familie Münsterberg: Am 30. Oktober und am 2. oder 3. November. 4 Veraltet für: Soldaten in Marsch setzen. 5 Weber dürfte sich hier auf John Brooks und v.a. William Z. Ripley beziehen, dessen Vortrag über „Problems of Transportation“ in St. Louis er vermutllich gehört hatte. Der Seminarbesuch fiel auf den 2. oder 3. November 1904, vgl. den Brief Max Webers an Hugo Münsterberg vom 27. Okt. 1904, unten, S. 354.
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ich sie nicht vertrage. Es handelt sich also um eine Visite, am besten an einem Sonntag-Nachmittag [.] 6 Beste Empfehlung, auch an Ihre Frau Gemahlin, und Dank für Ihre viele Mühe Ihr ergebenster Max Weber
6 Der Tag des ersten Zusammentreffens, der 30. Oktober, war ein Sonntag.
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Simon Newcomb 20. September 1904; St. Louis Brief; eigenhändig Library of Congress Washington, Simon Newcomb Papers Der Mathematiker und Astronom Simon Newcomb hatte die Präsidentschaft des Congress of Arts and Science in St. Louis übernommen. Ihm oblagen auch organisatorische Aufgaben, wie etwa die Versendung von Namensschildern, die die Teilnehmer bei ihrer Ankunft in New York und in St. Louis zur Identifizierung tragen sollten. (Vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 55, und das Merkblatt für ausländische Referenten des Kongresses vom 12. Juli 1904, ein Exemplar in der UB Frankfurt a.M., Archivzentrum, Nl. Fürbringer, D. 5/Nr. 6 3a, Bl. 104).
St. Louis 20/IX 04 Dear Sir, I received with much thanksa your very kind invitation for Sept. 28th at Washington, but must beg you to excuse me. Owing to an engagement, I must leave Washington perhaps 28th morning and so I cannot be sure, if I shall be able to meet you in the evening of that day.1 With sincere thanks Yours very respectfully Prof. Max Weber
a O: thank 1 Um welche Einladung es sich gehandelt hat, konnte nicht ermittelt werden. Am 20. September 1904 folgte Max Weber noch dem Programm des Kongresses, er wollte am 25. September von St. Louis nach Washington reisen und am 27. September am Empfang der ausländischen Kongreßteilnehmer durch Präsident Theodore Roosevelt im Weißen Haus teilnehmen (vgl. den Brief an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, oben, S. 297 mit Anm. 61). Anschließend wollte er dann offenbar zu seinen Verwandten nach North Carolina weiterreisen.
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Georg Jellinek 24. September 1904; St. Louis Brief; eigenhändig BA Koblenz, Nl. Georg Jellinek, Nr. 31 Max Weber änderte seine Reisepläne in den Tagen nach dem 21. September spontan und grundlegend, wie aus dem hier edierten Brief hervorgeht. Statt nach Washington und North Carolina fuhr er nach Oklahoma und New Orleans. Am 21. September hielt Weber seinen Vortrag auf dem Kongreß (vgl. dazu den Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 27. und [30.] September [1904], unten, S. 306). Am 22. September hörte er wahrscheinlich den Vortrag von Jacob H. Hollander über „The Scope and Method of Political Economy“. Hollander, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Johns Hopkins University in Baltimore, war von Präsident Roosevelts Innenstaatssekretär Ethan Allen Hitchcock zum „special agent on taxation in the Indian Territory“ ernannt worden und kam gerade von dort und aus Oklahoma zurück. Durch ein Gespräch mit Hollander ist vermutlich Webers Interesse für die Indian Territories geweckt worden, zumal Hollander ihm auch Empfehlungsschreiben für örtliche Experten mitgab (vgl. dazu den Brief an Jacob H. Hollander vom 27. Oktober 1904, unten, S. 351–353, und Scaff, Max Weber in America, S. 75 f.). So schrieb Weber dann in dem hier edierten Brief: „Ich gehe jetzt vielleicht […] nach Oklahoma & Texas u. lasse meine Frau hier, dann gehen wir zu unsren Verwandten nach Carolina.“ Weber ließ dann den Reiseplan nach Texas wieder fallen und ersetzte diesen durch einen Besuch des Instituts von Booker T. Washington in Tuskegee, der wahrscheinlich bei einem Frühstück am 23. oder 24. September mit W. E. B. Du Bois von diesem angeregt wurde (vgl. den Brief an Booker T. Washington vom 25. September 1904, unten, S. 304). Diese kurzfristigen Entscheidungen führten dazu, daß Weber auf den Empfang der Kongreßteilnehmer bei Präsident Roosevelt am 27. September in Washington verzichten mußte.
St Louis 24/9 04 Lieber College!
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Auf Ihre freundliche Karte möchte ich nur mit einem Gruß von den Ufern des Mississippi antworten. Die Reise bisher war wunderbar schön und interessant und wird – zumal sie mir erstaunlich gut bekommt – stets eine der schönsten Erinnerungen für mich sein. Auch meine Frau genießt sie – trotz der großen Anstrengung, die grade sie infolge des Übermaßes an Gastfreundschaft hier, der ich mich entziehe, auszuhalten hat – in hohem Maß. Hier sind wir bei einem reichen Deutschen fürstlich aufgenommen,1 die Ausstellung ist speziell nach der Seite des Geschmacks ganz hervorragend und das Zusammensein mit den vielen recht interessanten Leuten des Congresses ist – mit Maß genossen – doch sehr erfreulich. – 1 Max und Marianne Weber waren in St. Louis bei August Gehner und seiner Familie untergebracht.
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Sehr vieles ist sehr anders hier, als es die Reiseschriftsteller, auch Münsterberg, 2 schildern; ich habe für meine Zwecke viel gesehen. Ich gehe jetzt vielleicht, statt zu Roosevelt, nach Oklahoma & Texas u. lasse meine Frau hier, 3 dann gehen wir zu unsren Verwandten nach Carolina.4 Leider muß Tröltsch schleunigst zurück, da die Mutter seiner Frau5 gestorben ist. Wir werden kaum vor Anfang Dezember zurück sein; da das Reisen nur etwa halb so teuer ist (ca 27 Mk pro |:Person und:| Tag excl. Eisenbahnen, die sehr billig sind) [,] als ich berechnet hatte. Es ist doch sehr schade, daß Sie nicht hier sind, aber jeder versteht es.6 Bedauerlich ist aber, daß – dies unter uns! – Windelband auf die Aufforderung der Columbia University, 4 Memorial-Reden zu halten (die höchste Ehrung die dort zu vergeben ist, und daher nur mit Ersatz der Hotelkosten honoriert) gar nicht geantwortet hat.7 Die Leute sind ausser sich und ich finde auch, er hätte wenigstens ablehnen sollen. (Dies wie gesagt nur für Sie!) Die Leute sind musterhaft höflich und fein. Über den „Beruf“ ein ander Mal. Gewiß kannte man den Gedanken der Pflicht auch in der „Berufs“-Arbeit. Aber für die opera servilia
2 Münsterberg, Hugo, Die Amerikaner, Band 1: Das politische und wirtschaftliche Leben; Band 2: Das geistige und soziale Leben. – Berlin: Mittler 1904. 3 Max und Marianne Weber trennten sich am 26. September und trafen sich erst am 2. Oktober in Memphis wieder. 4 Max und Marianne Weber besuchten die amerikanischen Nachfahren von Fritz Fallenstein (Francis Miller) in Asheville/North Carolina und Mount Airy/North Carolina in der ersten Oktoberhälfte. 5 Anna Fick, geb. Rose. 6 Die konkreten Gründe für Georg Jellineks Absage des USA-Besuchs sind nicht überliefert. Es scheint sich jedoch um eine recht kurzfristige Entscheidung gehandelt zu haben, wie auch ein Brief Carl Samuel Grünhuts an Georg Jellinek vom 25. Juli 1904 nahelegt: „Sehr weise ist es, daß Sie die qualvolle Fahrt nach Amerika aufgegeben haben.“ (BA Koblenz, Nl. Georg Jellinek, N 1136, Bd. 9). Nach Camilla Jellineks Bericht waren es v.a. die befürchteten Reisestrapazen „zur ungünstigen Sommerzeit“, die ihn zögern ließen (Jellinek, Camilla, Georg Jellinek. Ein Lebensbild, entworfen von seiner Witwe, in: Georg Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden. Neudruck der Ausgabe Berlin 1911, Band 1. – Aalen: Scientia Verlag 1970, S. 5*–140*, ebd., S. 126*f.). 7 Bereits am 7. Mai 1904 hatte Wilhelm Windelband in einem Brief an Hugo Münsterberg geschrieben, daß er es für eine Zumutung hielt, für 100 Dollar vier Vorträge in einer Woche zu halten: „Natürlich habe ich auf solche Zumutung nicht erst geantwortet.“ (Köhnke, Klaus Christian, Sinn für Institutionen. Mitteilungen aus Wilhelm Windelbands Heidelberger Zeit (1903–1915), in: Treiber, Hubert und Sauerland, Karol (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“: 1850–1950. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 32–69, ebd., S. 50 f.).
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kennt ihn das Altertum (und Mittelalter) nicht und als Mittel der religiösen Bewährung auch nicht. Das ist calvinistisch. Mit besten Empfehlungen an Ihre Frau8 – auch von der meinigen – und herzlichen Grüßen Ihr Max Weber
8 Camilla Jellinek, geb. Wertheim.
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Booker T. Washington 25. September 1904; St. Louis Brief; eigenhändig Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88
St Louis 25/9 04 Dear Sir Being here as speaker at the Congress of Arts and Science, I should be very glad to visit – if I am allowed to do so – your world-known Normal and Industrial School at Tuskegee.1 I am going now to Oklahoma and the Indian Territory and shall come, I think, the 1st October to New Orleans, 2 so that I could be October 3d at Tuskegee.3 I should be very obliged to you, if you kindly would write me to New Orleans, St Charles Hotel, if I may have the honour to visit you and see your Institute.4 I made here the acquaintance of M r a Du Boisa , 5 from Atlanta, and am exceedingly interested in your great and humanitary work. Yours very respectfully Max Weber Professor of social science at the University of Heidelberg, Germany
a O: Dubois 1 Zu einer persönlichen Begegnung kam es nicht. Das Institut wurde 1881 als Lehrerbildungsstätte für Afroamerikaner unter dem Namen „Negro Normal School in Tuskegee“ gegründet. 1892 erhielt die Schule die Erlaubnis, ihren Namen in „Tuskegee Normal and Industrial Institute“ zu ändern und den staatsunabhängigen universitären Lehrbetrieb aufzunehmen. Neben den allgemeinen Bildungsaufgaben lag von Beginn an ein Schwerpunkt auf der Verbreitung landwirtschaftlicher Kenntnisse in der afroamerikanischen Landbevölkerung. 2 Weber hielt sich vom 3. bis 5. Oktober 1904 in New Orleans auf. 3 Weber hielt sich vom 5. bis 7. Oktober 1904 in Tuskegee auf. 4 Washington wies Weber schon am 30. Sept. 1904 darauf hin, daß sie sich ggf. verpassen werden (abgedruckt in: Scaff, Max Weber in America, S. 265). Vgl. auch den Brief Webers an Booker T. Washington vom 6. Nov. 1904, unten, S. 374 f. 5 Weber lernte Du Bois bei einem Frühstück auf dem Kongreß in St. Louis persönlich kennen. Vgl. dazu den Brief an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, unten, S. 391 mit Anm. 1.
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[Marianne Weber an] Helene Weber und Familie 27. und [30.] September [1904]; St. Louis Brief; handschriftlich von Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 36–40 Dieser Brief von Marianne Weber vervollständigt die Amerikabriefe und wird deshalb in die Edition aufgenommen. Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Das Jahr ist aus dem Inhalt des Briefes erschlossen. Das Datum 30. September, an dem Marianne Weber ihren am 27. September begonnenen Brief fortsetzte, ist aus der Tagesangabe „Freitag“ erschlossen.
St. Louis, 27. September Ihr Lieben!
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Ich bleibe noch bis Ende dieser Woche bei unsren guten liebenswürdigen Gastfreunden, von denen Max im letzten Brief erzählt hat,1 während er einen „trip“ in die südliche „wilderness“a nämlich nach Oklahoma macht, einem ganz jung besiedelten Gebiet, 2 wo er die Lebensbedingungen der Farmer erfragen will. Es hatte für mich keinen Zweck mitzugehen, da dort sonst nichts zu sehen u. noch alles sehr primitiv ist, u. so „schinde“ ich noch einige Tage länger hier u. treffe dann Max entweder in New Orleans unten an der Mündung des Mississippi oder vielleicht erst in Knoxville, wo wir von Bill Miller3 mit Freuden erwartet werden.4 Ich bin ganz zufrieden hier einige Ruhetage zu haben, denn wir werden hier in den Südstaaten noch genug herumsausen u. die vorige Woche mit Kongreß, world’s fair receptions u. dinners u. dabei fortwährendem Zusammensein mit unsren Wirten, Tröltsch und Hensel, die sich auch beinahe täglich an den Fleischtöpfen Egyptens einfanden, 5 war ziemlich anstrengend. Dabei hatten wir einige recht schwüle Tage, der schlimmste war gestern – hoffentlich haben Maxel kühlere Lüfte gefächelt, – es a O: „wilderniss“ 1 Marianne Weber blieb bis zum 1. Oktober 1904 bei August und Wilhelmina Gehner in St. Louis. Vgl. den Brief Max Webers an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, oben, S. 302. 2 Max Weber war am 26. September 1904 mit dem Nachtzug nach Guthrie im Oklahoma Territory aufgebrochen. Von einer Haltestelle der ins Indian Territory führenden Bahnlinie wurde Guthrie nach dem „land run“ von 1889 (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 28. und 29. Sept. sowie [2. oder 3. Okt.] 1904, unten, S. 319 mit Anm. 38) zur Hauptstadt des Oklahoma Territory und kurzzeitig auch des 1907 aus beiden Territorien entstandenen Bundesstaates Oklahoma. 3 William Francis (Bill) Miller, einer von Max Webers amerikanischen Verwandten. 4 Zu Max Webers geänderter Reiseroute vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, oben, S. 301. Marianne und Max Weber trafen sich wieder in Memphis. 5 Troeltsch und Hensel kamen zum Essen zur Familie Gehner. Anspielung auf 2. Mose 16,3: „Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HErrn Hand, da wir bei
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war unerhört drückende Luft, u. auch die Nacht brachte trotz fortwährender elektrischer Entladungen keine Abkühlung. So bleibe ich heute morgen zu Hause, um ein bischen zu kakeln.6 – Das große Ereignis der letzten Woche war für mich Maxens Vortrag!7 Ihr könnt denken, was in mir vorging, als ich ihn seit 6½ Jahren zum ersten Male wieder vor einem aufmerksam lauschenden Hörerkreis stehen sah! Er sprach ausgezeichnet, sehr ruhig u. doch kraftvoll, der Vortrag war nach Form und Inhalt glänzend, mit vielen politischen Pointen, die die Amerikaner interessierten. Der Hörerkreis war leider sehr klein, wie bei allen ausländischen Sprechern, die nicht wie Harnack,8 Weltruf haben, aber es waren M[axen]’s amerik[anische] Fachkollegen da,9 u. so hat er doch manche wertvolle Bekanntschaften gemacht, Einladungen erhalten etc.10 Und Gott sei Dank, dem Vortrag folgten keine besonders schlechten Tage. Er ist sogar am Tag darauf zu einem lunch bei dem hiesigen deutschen Regierungsvertreter11 und zu einem dinner beim Gouverneur12 gegangen, hat freilich dann mörderlich geflucht über diese gesellschaftlichen Massenvergnügungen (es waren nie weniger als 200–600 Leute dabei) u. geschworen, daß er nun genug davon hätte, aber es ging doch überhaupt, u. das ist ganz gewiß ein prinzipieller Fortschritt. An dem Empfange im „German building“,13 einer wunden Fleischtöpfen saßen, und hatten die Fülle Brot zu essen; denn ihr habt uns darum ausgeführt in diese Wüste, daß ihr diese ganze Gemeine Hungers sterben lasset.“ 6 Umgangssprachlich für: plaudern. 7 Max Weber hielt seinen unter dem englischen Titel „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ publizierten Vortrag (vgl. den Brief an Helene Weber vom 19. und 20. Sept. 1904, oben, S. 297, Anm. 61) auf Deutsch. 8 Adolf Harnack hielt seinen Vortrag in der Sektion „History of Religion“ am 24. September 1904 (vgl. das Programm in: Rogers, Howard J. (Hg.), Philosophy and Metaphysics (Congress of Arts and Science, Band 1). – Boston, New York: Houghton, Mifflin & Co. 1906, S. 6 0). 9 Es handelt sich vermutlich um die des Deutschen mächtigen Jacob H. Hollander, Edwin R. A. Seligman, W. E. B. Du Bois, William Z. Ripley und John Bates Clark (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 75). 10 Zu Max Webers Teilnahme an Jacob H. Hollanders Seminar vgl. den Brief an Jacob H. Hollander vom 27. Okt. 1904, unten, S. 351. Bei Edwin R. A. Seligman und seiner Frau, Caroline Beer Seligman, waren Max und Marianne Weber mindestens einmal, am 14. November 1904, eingeladen (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, unten, S. 387; sowie den Brief an Edwin R. A. Seligman vom 19. Nov. 1904, unten, S. 385). Zum gescheiterten Besuch bei W. E. B. Du Bois in Atlanta vgl. den Brief an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, unten, S. 391. 11 Theodor Lewald. 12 Es handelte sich um das „Shaw Banquet“ zu Ehren der ausländischen Wissenschaftler. Max Weber wird in der Teilnehmerliste fälschlicherweise als „Prof. Max Verworn“ geführt (vgl. den Zeitungsartikel: Noted Scientists at Shaw Banquet, in: St. Louis Republic, Jg. 79 vom 23. Sept. 1904, S. 9). 13 Dieser Empfang fand am 21. September 1904 zu Ehren der Kongreßteilnehmer statt und wurde von über 1800 Personen besucht, vgl. Amtlicher Bericht über die Weltausstellung in St. Louis 1904. Erstattet vom Reichskommissar. Teil I (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 11. Legislaturperiode. II. Session, zweiter Sessionsabschnitt 1906. Siebenter Anlageband, Nr. 527). – Berlin: Julius Sittenfeld 1906, S. 42 (hinfort: Amtlicher Bericht).
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dervollen Copie des Charlottenburger Schlosses, nahmen 1200 Personen teil, man schiebt sich dabei durch eine dichte Menschenmenge u. bleibt stehen, wenn man zufällig einer bekannten Seele begegnet. Diese Art receptions bilden hier den Hauptbestandteil der geselligen Vergnügungen u. sind für Wirt u. Gast gleichermaßen bequem. Es giebt nur Getränke, Kuchen, Butterbrote u. Eis, man kommt u. geht, wie man will, hat aber doch Gelegenheit seine Bekannten zu sprechen. Von unseren Landsleuten haben wir dabei kaum jemand erwischt – Harnacks14 habe ich z.B. nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen, man war eben viel zu sehr in Anspruch genommen. Ein interessantes Vergnügen war für mich das Damendinner, das der St. Louis’ Frauenklub15 den auswärtigen Gästen gab. Ich traf dabei die Präsidentin eines der besten amerikanischen Frauen-colleges: Miss C. Thomas, die in Berlin am selben Vormittag wie ich geredet hatte.16 Ich darf nun ihr college nächstens von Philadelphia aus besuchen, u. das ist mir natürlich sehr wertvoll. Ich hatte auch sonst dabei Gelegenheit, mit amerikanischen Frauen zu plaudern u. ihre Ansichten über Erziehungs- u. Frauenfragen auszuhorchen – sie haben eine große Leichtigkeit im Verkehr, sind garnicht steif u. sehr liebenswürdig gegen ihre Gäste. Auch hier hörte ich wieder über die schwerste Kalamität des häuslichen Lebens in Amerika: den Dienstbotenmangel seufzen, nach Ansicht Vieler bleibt nichts übrig [,] als die Privatküche zum mindesten aufzugeben. Für Leute unsres Standes u. unsres Portemonnaies ist das Leben überhaupt weit härter als bei uns [,] namentlich für die Frauen. Sie müssen alle Hausarbeit thun u. dann abends in eleganten Kleidern die lady spielen. Die Eleganz des äußeren Auftretens ist hier in allen Kreisen das wesentlichste Mittel sich zur Geltung zu bringen u. das größte Vergnügen – man sieht unglaublich kostbare Toiletten u. eben zeigte mir Frau Gehner das Brautkleid ihrer Tochter,17 das mehr als 300 Dollar = 1200 Mk gekostet hat – wenn man bedenkt, daß die Eltern Gehner beide aus armen Bauernfamilien stammen u. hart gearbeitet haben, dabei keineswegs protzig oder extravagant sind, so bekommt man einen Begriff über die hiesigen Toiletten-Anschauungen. – In der Ausstellung ist über Erwarten viel Schönes zu sehen – das weitaus Schön ste aber sind die von den deutschen Künstlern ausgestellten Zimmer u. kunstgewerblichen Gegenstände.18 Während wir noch bis vor 10 Jahren in diesen Dingen
14 Adolf Harnack war vermutlich in Begleitung seiner Frau Amalie nach St. Louis gereist. 15 Gemeint ist die „Science Section of the Wednesday Club“ (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 254). 16 Marianne Weber hatte am 17. Juni 1904 mit einem Vortrag über „Die Beteiligung der Frau an der Wissenschaft“ die Untersektion „Das Universitätsstudium der Frauen“ des Internationalen Frauenkongresses eröffnet. Martha Carey Thomas, die Präsidentin von Bryn Mawr, sprach in dieser Untersektion abschließend über „The University Education of Women in the United States of America, with special Reference to Coeducation“ (vgl. Stritt, Marie (Hg.), Der Internationale Frauen-Kongress in Berlin 1904. Bericht mit ausgewählten Referaten. – Berlin: Carl Habel o.J., S. 105–115 und 124–130). 17 Pauline Gehner hatte 1903 Frank Mesker geheiratet. 18 Marianne Weber bezieht sich auf die Kunstgewerbeausstellung im Rahmen der Weltausstellung (vgl. Amtlicher Bericht (wie oben, S. 306, Anm. 13), insbes. S. 4 55–467).
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hinter andren Nationen zurück standen, nehmen wir jetzt in Geschmacksfragen entschieden den ersten Platz ein, u. die modernen Künstler, namentlich die Darmstädter [,]19 haben wirklich einen eigenartigen u. neuen Styl gefunden, der Einem den Wunsch nach Renaissance- oder gothischen Möbeln einschlafen läßt. Die Formen sind möglichst zweckmäßig u. schlicht, ohne jede erhabene Verzierung, also sehr angenehm zum Staubwischen – alles ist auf die Farben abgestimmt, u. die Combination zwischen denb verschieden gefärbten, manchmal auch eingelegten Hölzern, den Farben des Polsters, der Wandtäfelung, den Decken und Teppichenc ist über alle Maßen ästhetischd befriedigend. Die künstlerische Pointe besteht auch darin, die Meubel auf einen bestimmten Raum abzupassen u. die Fenster in jedem Zimmer individuell in Form und Farbe zu gestalten. Überhaupt sind alle kunstgewerblichen Sachen der Deutschen schön u. dabei so wundervoll zu einem Gesammtbilde arrangiert, daß jede andre Nation weit dahinter zurücksteht, was auch bereitwillig von allen Seiten anerkannt wird. Ich hoffe in diesen Tagen noch Manches zu sehen, werde aber wohl immer wieder zur deutschen Abteilung zurückgehen. Morgen hoffe ich mit Frau G[ehner]’s sehr feiner Tochter20 eine coeducational high school besuchen zu können, ich möchte liebend gern einer Stunde beiwohnen. Wir haben bisher nur einen einzigen Brief von dir[,] Mama [,] in Chikago bekommen, 21 hier aber nichts gefunden u. nun werden wir noch 8 Tage länger warten müssen, da unsre Reiseroute sich etwas verändert. 22 Hoffentlich geht es Euch Allen gut! Hoffentlich habt Ihr auch alle unsre dicken Briefe bekommen, ich denke dies muß der 6ste sein. Freitag. 23 Übermorgen früh werde ich mein Jungchen in Memphis aufgabeln, ich habe bisher durch Telegramme von ihm 24 gehört, er hat auch große Hitze ge habt, heute ist es zum ersten Male wieder kühl, man athmet auf, u. ich werde noch die Filipinos u. die Indianer in der Ausstellung25 ansehen. Gestern besuchte ich also die hiesige highschool. 26 Es war sehr interessant. Ein großartig ausgestattetes Gebäude mit chemischen [,] physikalischen, botanischen b O: dem c O: Teppiche d O: esthetisch 19 Gemeint ist die von den Jugendstilkünstlern Joseph Maria Olbrich und Peter Behrens gegründete und von Herzog Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt protegierte Künstlerkolonie Mathildenhöhe bei Darmstadt. Vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 69. 20 Pauline Mesker. 21 Der Brief Helene Webers ist nicht nachgewiesen. 22 Ursprünglich sollte nach St. Louis Washington die nächste Station der Reise sein. Vgl. die Editorische Vorbmerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, oben, S. 301. 23 Freitag, 30. September 1904. 24 Die Telegramme sind nicht überliefert. 25 In der Weltausstellung war als „Attraktion“ ein Filipino-Dorf mit 1200 Menschen aufgebaut; auch Indianer wurden in ihrem Alltagsleben zur Schau gestellt. 26 Es handelte sich vermutlich um eine der beiden Neugründungen des Schulreformers Calvin M. Woodward in St. Louis. Vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 71, und Marianne Webers Bericht: Was Amerika den Frauen bietet. Reiseeindrücke, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 6, Heft 22, 1905, S. 170–172, hier S. 171.
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Laboratorien, Lunchküche, Stühlen bequemster Construktion, geschmackvollen Bildern u.s.w. für 2000 Kinder etwa berechnet, die dort allen Unterricht gratis genießen. Der Kursus ist vierjährig u. wird im Alter von 14–18 Jahren besucht. Das Pensum unsrer Gymnasien wird nicht ganz erreicht, etwa bis zur Unterprima, 27 die Kinder können bestimmte Gruppen der dort gelehrten Fächer wählen, brauchen also nicht an allen Stunden teilzunehmen. Der Direktor [,]28 ein höchst angenehmer liebenswürdiger Mann, führte uns umher, er ist begeisterter Anhänger der Coeducation, u. zwar vor alleme aus moralischen Gründen, er sagt, man merke es den Jungen und Mädchen immer an, ob sie eine gemeinsame Schule besucht hätten oder nicht. Von flirtations sei keine Rede. Die Mädchen lernten meist eifriger als die Jungen u. seien ehrgeiziger, was letztren sehr unbequem. Die Kinder werden von Lehrernf und Lehrerinnen unterrichtet. Die Disciplin der Lehrerinnen über die Jungen lasse nichts zu wünschen übrig. Der Junge wird hier überhaupt ganz anders als bei uns zum gentlemen-liken Betragen gegen ladies erzogen, d.h. er ererbt schon die Tendenz dazu. Dann will man hier überhaupt nichts von unsrem deutschen Autoritätsprinzip wissen, die Kinder werden schon als indiv[iduelle] Persönlichkeiten behandelt, bei jedem Befehl wird ihnen der Grund dafür gegeben, wenn sie ihn wissen wollen. Und es wird behauptet, daß sie sich aufg diese Weise sehr leicht „managen“ lassen – die deutschen Lehrer aber fänden nicht leicht die richtige Art gegenüber amerikanischen Kindern – [.] Alle moralischen Bedenken gegen die coeducation verfliegen in den Wind, wenn man eine solche Schule einmal mit eignen Augen sieht, es erscheint so ungeheuer einfach u. natürlich. Und dabei waren diese Kinder doch grade im Entwicklungsalter. Nun ade. Der Brief wird sonst zu corpulent. Tausend Grüße von Eurer Janne
e O: allen f O: Lehrer g O: auf auf 27 Die Prima, unterteilt in Unter- und Oberprima, umfaßte die letzten beiden von neun Klassen des Gymnasiums. 28 Der Name konnte nicht ermittelt werden.
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28. und 29. September sowie 2. und 3. Oktober 1904
Helene Weber 28. und 29. September sowie [2. und 3. Oktober] 1904; Muskogee, auf der Fahrt nach und in Memphis Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 42–50 Die Datumsangaben 2. und 3. Oktober 1904 sind erschlossen aus dem Briefinhalt: Max Weber hatte zunächst geplant, am 1. Oktober nach Memphis weiterzureisen („Ich reise nun 1. Oktober (Sonnabend) von hier nach Memphis“), wollte aber vorher („Heute [d.i. am 29. September] oder morgen Abend“) noch einen Ausflug nach Fort Gibson machen. Weil er von dort verspätet zurückkehrte, verpaßte er jedoch den Zug („Ich kam gestern Abend nicht von Muskogee fort“). Demnach verschob sich seine Abreise auf den Abend des 2. Oktober. Am Abreisetag beobachtete Max Weber noch, wie „die Indianer truppweise kommen ihr Geld zu holen“. Anlaß dazu war vermutlich die am 1. Oktober 1904 begonnene Auszahlung von Geldern aus dem „Loyal Creek Fund“ (vgl. unten, S. 317 f., Anm. 31). Das Wiedersehen mit Marianne Weber („Nach beidseitiger Nachtreise sind wir nun wieder zusammen in Memphis“) fand folglich am 3. Oktober statt. – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Der Brief enthält einen nachträglichen handschriftlichen Zusatz von Alfred Weber: „Bitte diesen Brief, wenn er unleserlich ist, ohne weiteres an meine Mutter zurückschicken. Er wird dann abgeschrieben[.] Alfred Weber“
Missouri, Kansas & Texas Railway System. Hotel and Restaurant Department. Muskogee, Indian Territory 1904 28/9 Liebe Mutter! Ich komme eben vom Lunch bei einem Mitglied des Stammes der Cherokee-Indianer.1 Der Mann gehört zum Stamm, weil seine Mutter2 Indianerin ist, während sein Vater3 Virginier war und sie heirathete, als sie auf dem College in Richmond war. Die 73jährige alte Dame erinnert im Äußern etwas an „Tante Monsa“,4 ist aber eine perfect lady, malt Stilleben und Porträts und ist im Indian Building der Ausstellung
a O: Monts 1 Robert Latham Owen jun. 2 Narcissa Chisholm Owen (vgl. unten, S. 311, Anm. 5). 3 Robert Latham Owen sen. 4 Emma Mons war die Frau des königlichen Baurats und Betriebsdirektors der thüringischen Eisenbahngesellschaft, August Mons. Ihnen gehörte das Haus in Erfurt, Kartäuser Straße 43b, in dem Max Weber seine ersten Lebensjahre verbracht hatte.
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28. und 29. September sowie 2. und 3. Oktober 1904
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mit einigen Bildern vertreten.5 Der Sohn heirathete in Virginia, wo er geboren wurde [,] eine Weiße6 und ging dann mit Mutter und Frau hierher zurück,b „to make money“. Als Stammesmitglied hatte er das Anrecht auf einen entsprechenden Anteil des Bodens, er wurde als Vertreter der „five civilized tribes“, denen das Territory bis vor wenigen Jahren reserviertc war,7 nach Washington geschickt, wurde Indian agent,8 spekulierte offenbar, als das Privateigentum durchgeführt wurb 〈um〉 c Alternative Lesung: reservirt 5 Narcissa Chisholm Owen hatte an der Corcoran Gallery in Washington D.C. Malerei studiert. Ihre Gemälde von Thomas Jefferson, einem Freund ihres Vaters, dessen Heim und Familie, waren auf der Louisiana Purchase Exhibition in St. Louis ausgestellt (vgl. Scaff, Lawrence A., Remnants of Romanticism. Max Weber in Oklahoma and Indian Territory, in: Swatos, William H. (Hg.), The Protestant Ethic Turns 100. – Boulder, London: Paradigm Publishers 2005, S. 77–110, hier S. 94). 6 Daisy Deans Hester Owen. 7 Als „zivilisierte Stämme“ wurden die Stämme der Cherokees, Choctaws, Chickasaws, Creeks (Muskogees) und Seminoles bezeichnet, weil sie sich ein Regierungssystem nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten gegeben hatten und der Kultur der weißen Einwanderer anzupassen versuchten (vgl. Frank, Andrew K., Five Civilized Tribes, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital.library.okstate.edu/encyclopedia/entries/F/ FI011.html〉 (2007)). Aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten südöstlich des Mississippi waren sie während der ersten vier Dekaden des 19. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Erlaß des „Indian Removal Act“ (1830) – zwar vertraglich geregelt, aber meist wenig freiwillig („trails of tears“) – in Gebiete westlich des Mississippi umgesiedelt (vgl. ebd.). Doch auch das seit Mitte der 1830er Jahre als „Indian Territory“ bekannte und sich um die Jahrhundertmitte in etwa auf den heutigen Bundesstaat Oklahoma erstreckende neue Siedlungsgebiet blieb nicht unangefochten. Wegen ihrer Verträge mit den Konföderierten mußten die fünf Stämme nach dem Ende des Bürgerkriegs 1866 in den „Reconstruction Treaties“ Zugeständnisse machen (vgl. Pennington, William D., Reconstruc tion Treaties, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital.library. okstate.edu/encyclopedia/entries/R/RE001.html〉 (2007)): Sie blieben zwar souverän, hatten aber die übergeordnete Rechtsprechung der Vereinigten Staaten anzuerkennen, Eisenbahnbau auf ihren Gebieten zu erlauben und Land abzutreten, auf dem Reservate für Prärieindianer eingerichtet werden sollten. Am 2. April 1889 begann mit dem ersten „Oklahoma Land Run“ die organisierte Öffnung der westlichen Hälfte des alten Indianerterritoriums für weiße Zuwanderer. Am 2. Mai 1890 schuf der „Organic Act for the Territory of Oklahoma“ einen rechtlichen, die spätere Aufnahme als Bundesstaat vorbereitenden Rahmen (Hoig, Stan, Land Run of 1889, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital.library.okstate.edu/encyclopedia/entries/l/la014.html〉 (2007)). 8 Auf der Grundlage des „Act to Regulate Trade and Intercourse with the Indian Tribes, and to Preserve Peace on the Frontiers“ von 1799 waren die „Indian Agents“ Regierungsbevollmächtigte auf lokaler Ebene und fungierten gewissermaßen als Regierungs sprachrohr und Beobachter indianischer Aktivitäten sowie als Vermittler zwischen Indianern und weißen Siedlern. Sie waren dem „Bureau of Indian Affairs“, seit 1849 eine Abteilung des US-Innenministeriums, unterstellt. Anfänglich lediglich von zwei Gehilfen und einer indianischen Einsatztruppe unterstützt, unterstand dem Indian Agent des Indian Territory um die Jahrhundertwende eine Behörde mit einem Mitarbeiterstab im dreistelli-
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de,9 sehr glücklich in Land und besitzt jetzt eine reizende große und behagliche Holzvilla. Da der Redakteur des „Muskogee Phoenix“,10 den ich in der Bahn traf, meine Anwesenheit hierd unter der riesengroßen Überschrift „Very distinguished visit“ publik gemacht hatte,11 kam er alsbald heute Morgen – er kennt Heidelberg, wo er als Tourist war – und hat ein höchst intelligentes, eigentümlich südländisch anmuthendes Gesicht. Das Land hier ist bei Weitem das Interessanteste [,] was ich sah. Bis 1889 gehörte das ganze alte Indian Territory den India nern, die wie eine fremde Macht behandelt wurden. Dann verkauften die Creeks und Cherokeese die Hälfte für 15 Mill $. an die V[ereinig ten] Staaten – das jetzige Territorium Oklahoma.12 Das Geld verteilten sie – Mr Owen war noch entrüstet über die Niedrigkeit des Preises und diese Dummheit – an die Stammesmitglieder, die es natürlich (pro d 〈als〉 e Alternative Lesung: Cherokee gen Bereich. Zwischen 1885 und 1889 war Robert Latham Owen jun. (vgl. oben, S. 310, Anm. 1) als Indian Agent für die Stämme des Indian Territory zuständig. 9 1887 dekretierte der von dem US-Senator Henry L. Dawes entworfene „General Allotment Act“ die Überführung von Stammes- in Privateigentum auf dem Verhandlungswege. (Dawes’ philanthropisch inspirierte Überzeugung, auch die Indianer benötigten um des allgemeinen Fortschritts willen Privateigentum, traf sich mit den ökonomischen Begehrlichkeiten weißer Siedler und Geschäftsleute.) Nach der Ergänzung um den „Curtis Act“ von 1898 brach der Widerstand gegen den „General Allotment Act“ zusammen und die Landverteilung konnte nun auch bei den „fünf zivilisierten Stämmen“ durchgesetzt werden (vgl. unten, S. 313, Anm. 13). 10 Colonel Clarence B. Douglas war seit 1902 Verleger und Redakteur der 1888 gegründeten Tageszeitung. 11 Vgl. den Zeitungsartikel: A Distinguished Visitor, in: Muskogee Phoenix vom 28. Sept. 1904, S. 1. Auf Max Webers Besuch machten weitere Zeitungen aufmerksam: The Professor. Heidelberg Man looking at the Oklahoma People, in: The Oklahoma State Capital, Jg. 16, Nr. 136 vom 28. Sept. 1904, Ed. 1, S. 5; To study Conditions, in: The Guthrie Daily Leader, Jg. 24, Nr. 56 vom 30. Sept. 1904, Ed. 1, S. 3, sowie: To study Conditions. Special Dispatch to the State Capital, in: The Oklahoma State Capital, Jg. 16, Nr. 139 vom 1. Okt. 1904, Ed. 1, S. 3. Die Notiz in der Oklahoma State Capital ging auch auf Max Webers Sprachkenntnis und Erscheinungsbild ein: „Mr. Von[!] Weber is easily distinguished as a foreigner, as his speech is somewhat broken, and he dresses unlike Americans. When he appeared on the depot platform this morning ready for travel, he wore a brown plaid suit with knickerbockers, a stiff hat, and a pair of fine tan shoes. His other articles of dress were in keeping with his particular style of fashion.“ 12 Die 1889 offiziell begonnene Öffnung des westlichen Teils des Indian Territory für weiße Siedler (vgl. oben, S. 311, Anm. 7) erweiterte sich sukzessive (vgl. Brown, Kenny L., Oklahoma Territory, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital. library.okstate.edu/encyclopedia/entries/o/ok085.html〉 (2007)): 1890 verkauften die Cherokees erzwungenermaßen das „Cherokee Outlet“. Dazu kam der bei Umwandlung von Gemeinschafts- in Privateigentum anderer im Oklahoma Territory beheimateter Indianerstämme erzielte „Surplus“ an Land (vgl. unten, S. 313, Anm. 13).
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Nase 500 $) schleunigst durchbrachten. Der Rest, das heutige Indian Territory, ist eben im Begriff, das Schicksal Oklahoma’s zu teilen. Den Indianern ist das Privateigentum oktroyiert, das Land vermessen und den einzelnen Familien zugeteilt worden.13 Die zahlreichen Neger – meist die Sklaven der Indianer – waren nach dem Bürgerkrieg von diesen als citizensf zugelassen worden und erhielten folglich auch ihren Landanteil. Nun ist den Negern seit 2 Jahren erlaubt, ihr Land bis auf die homestead14 von 40 acres, die unveräußerlich ist, zu verkaufen: Die Folge ist, daß jedes Jahr 2000 Negerfarmen von Weißen – bis auf die homestead – aufgekauft werden. Jenes selbe Gesetz erlaubte auch den Indianern den Verkauf |:des Landes:|, nurg muß derselbe unter Vermittlung des Indian agent der V[ereinigten] Staaten in öffentlicher Versteigerung erfolgen und es wird ein Minimalpreis – meist 10 $ pro acre (ca. 24 Mk proh Morgen, 96 proi Ha) festgesetzt. Etwa 8–900 Indianerfarmen gehen jährlich in weiße Hände über. Daneben gab es von jeher zahlreiche weiße Pächter auf dem Indianerlande. Jetzt ist Asphalt und Petroleum gefunden worden, und die weiße Bevölkerung ist schon stärker als die rothe, selbst mit Einschluß der Halbblütigen, – Vollblütige gibt es hier ca 14–15000, und diese verschmähen jede Beschäftigung außer Viehzucht, Jagd, Fischerei, Ackerbauprodukte gewinnen f O: citizen’s g 〈müssen〉 h Alternative Lesung: per i Alternative Lesung: per 13 Mit der Umsetzung des „General Allotment Act“ im Indian Territory (vgl. oben, S. 312, Anm. 9) war die 1893 eingesetzte Dawes Commission betraut. Unter dem Vorsitz ihres Namensgebers und ab 1903 von Tams Bixby überprüften Hunderte von Mitarbeitern (1903: 240, darunter namentlich Gutachter und Landvermesser) 250.000 Antragsteller und bestätigten 101.000 die Stammeszugehörigkeit zu einem der „fünf zivilisierten Stämme“. Des Weiteren vermaßen und bewerteten sie Stammesgebiete von einer Fläche von rund 20 Millionen amerikanischer Morgen (acres). Rund 16 Millionen Morgen wurden an anerkannte Stammesmitglieder verteilt und das überzählige Land (surplus) – sofern es nicht dem Bau von Eisenbahnlinien oder Kommunen und öffentlichen Einrichtungen vorbehalten war – verkauft (vgl. Carter, Kent, Dawes Commission, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital.library.okstate.edu/encyclopedia/entries/d/da018. html〉 (2007)). 14 Der „Homestead Act“ (Bundes-Heimstättengesetz) von 1862 (modifiziert 1891) regelte die Besitznahme unbebauten, öffentlichen Landes westlich des Mississippi durch weiße Siedler. Demzufolge konnten Familienvorstände über 25 Jahre, die Bürger der Vereinigten Staaten waren, 80 bis 160 Acres (amerikanische Morgen) nahezu unentgeltlich als Wohnund Wirtschaftsstätte (die sog. „homestead“) in Besitz nehmen, indem sie dieses Land fünf Jahre lang bewirtschafteten. Ein Teil der „homestead“ war bei Verschuldung vor gerichtlicher Zwangsvollstreckung geschützt. Dieser Schutz der „homestead“ im engeren Sinn galt in Oklahoma analog für einen Teil des in Privatbesitz überführten Stammeseigentums (vgl. Perdue, Theda und Michael D. Green, The Columbia Guide to American Indians of the Southeast. – New York: Columbia University Press 2001, S. 118).
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sie, indem sie Weiße als Teilpächter ersetzenj. Oklahoma und Indian Territory werden demnächst zum Staat erhoben, man streitet nur[,] ob zu einem – worin die Republikaner die Mehrheit hätten, oder zu zwei – dann hätten die Demokraten im Indian Territory Chancen die Mehrheit zu haben.15 – Nirgends so wie hier mischt sich nun die alte Indianerpoesie mit modernster capitalistischer „Cultur“. Die neu angelegte Bahn von Tulsa nach Mc Alester führt zuerst, am Canadian River,16 eine Stunde lang durch veritablen Urwald – nur darf man sich nicht das „Schweigen im Walde“17 mit Riesenstämmen etc. darunter vorstellen. Undurchdringliches Dickicht – so dicht, daß man gar nicht merkt, außer an wenigen Durchblicken, daß man nur wenige Meter vom Canadian River entfernt fährt, – dunkle Bäume, denn das Klima ist schon ziemlich südlich, Schnee selten, bis oben hin von Schlinggewächsen übersponnen, dazwischen gelbe stille Waldbäche und kleine Flüsse, vollkommen vom Grün übersponnen, – am meistenk Lederstrumpf-Poesie18 haben die größeren Flüsse, wie der Canadian River, die in ihrem gänzlich wildenl Zustande, mit riesigen Sandbänken und dichtem dunklem Grün an den Ufern, in Verkrümmungen und Verzweigungen ihre Fluthenm dahinwälzenn und oeinen eigenen Eindrucko von etwas Geheimnisvollem machen, – man weiß nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen, sie sind, ein einziges indianisches Fischerboot abgerechnet, welches ich sah, völlig tot. – Aber die Stunde des Urwalds hatp auch hier geschla-
j Alternative Lesung: ansetzen k 〈Lederst〉 l Unsichere Lesung. m 〈[??]〉 n 〈, eine Art〉 o–o O: eine eigne Art von > einen eigne [Korrektur: eignen] Eindruck p 〈Republikaner siegen, die dann die Mehrheit hätten, oder zu zwei – in welchem Fall im Indian Territory die Mehrheit hätten〉; bei der Streichung handelt es sich vermutlich 15 Vertreter der „five civilized tribes“ (vgl. oben, S. 311, Anm. 7) arbeiteten anfangs des 20. Jahrhunderts auf einen eigenen Staat hin, der nach Sequoyah, dem Erfinder des Schriftsystems für die Cherokee-Sprache, benannt werden sollte. Die Initiative fand jedoch keine Unterstützung in Washington, und so bildeten das Indian und das Oklahoma Territory seit 1907 als „Oklahoma“ gemeinsam den 46. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika. 16 Tatsächlich handelt es sich um den Arkansas River und nicht um dessen Nebenfluß, den Canadian River, den Max Weber vermutlich auf Bahnfahrt von St. Louis ins Indian Territory überquerte. 17 Vermutlich Anspielung auf Ludwig Ganghofers 1899 erschienenen Heimatroman „Das Schweigen im Walde“ und dessen idealisierende Darstellung der Natur. 18 Anspielung auf James Fenimore Coopers fünfbändigen Romanzyklus „Lederstrumpf“ (Leatherstocking), der den Jäger und Fallensteller Nathaniel (Natty) Bumppo zur Hauptfigur hat.
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gen. Man sieht im Walde zwar gelegentlich Gruppen richtiger alter Blockhäuser – die indianischen kenntlich an den buntfarbigen Shawls unterq der aushängenden Wäsche, – aber daneben auch ganz moderne Holzhäuser und -häuschen aus der Fabrik, zum Preise von 500 $ an, auf Steine gelegt, dabei eine große Lichtung, mit Mais und Baumwolle bepflanzt: die Bäume hat man unten mit Theer beschmiert und angezündet, sie sterben ab und recken ihre bleichen, angeblakten19 Finger durcheinander in die Luft, was so mit den frischen Saaten unter ihnen zusammen einen wunderlichen, aber keineswegs anheimelnden Eindruck macht. Dann kamen große Prairiestrecken – teils Weidenr, teils ebenfalls Baumwoll- und Maisfelder – s und plötzlich fängt es an nach Petroleum zu stinken: man sieht die hohen Eiffelturm-artigen Gerüste der Bohrlöcher, selbst mitten im Wald [,] 20 und kommt an eine „Stadt“. Eine solche ist nun vollends ein tolles Ding. Zeltlager der Arbeiter – besonders der Streckenarbeiter der zahlreichen im Bau befindlichen Bahnen, „Straßen“ im Naturzustande, meist mit Petroleum zweimal im Sommer getränkt gegen den Staub und entsprechend duftend, Holzkirchen von mindestens 4–5 Denominationent 21 (Muskogee hatte vor 4 Jahren 4000 und hat jetzt 12000 Einwohner, meist Methodisten), auf diesen „Straßen“ als Verkehrshindernisse Holzhäuser, auf Rollen gesetzt und so fortbewegt: der Eigentümer ist reich geworden, hat sie verkauft und sich ein neues Haus gebaut, das alte wird aufs Feld gefahren, wo ein Newcomeru[,] der es gekauft hat, hineinzieht. Dazu das übliche Gewirr von Telegraphen- und Telephondrähten, elektrische Bahnen im um die Fortsetzung des Satzes Oklahoma und Indian Territory werden demnächst zum Staat erhoben, man streitet nur [ , ] (oben, S. 314, Z. 1 f.), der sich im Original auf der Vorderseite von Blatt 2 findet. Die Fortsetzung des Satzes auf der Vorderseite von Blatt 3 wurde dann wegen der Beschriftung der Rückseite von Blatt 2 gestrichen. q Unsichere Lesung. r Unsichere Lesung. s 〈dazwischen〉 t O: Denomination u 〈es in〉 19 Von Niederdeutsch „blaken“: brennen, rußen oder qualmen. 20 Lange vor dem um die Wende zum 20. Jahrhundert einsetzenden Ölboom wußte man im heutigen Oklahoma um das vielerorts aus der Erde sickernde Petroleum und nutzte es vor allem zu medizinischen Zwecken. Die Parzellierung des Stammeslandes (vgl. oben, S. 313, Anm. 13) und der Ausbau des Eisenbahnnetzes waren wesentliche Voraussetzung, um den im Zuge der Industrialisierung rasant ansteigenden Energiebedarf auch mittels der riesigen, unter Oklahoma schlummernden Öl- und Gasvorkommen zu stillen und umfänglich nach Öl zu bohren (vgl. Franks, Kenny A., Petroleum, in: Encyclopedia of Oklahoma History and Culture, 〈http://digital.library.okstate.edu/encyclopedia/entries/p/pe023. html〉 (2007)). 21 Besonders für Konfessionen oder Sekten in den Vereinigten Staaten gebräuchlicher Begriff.
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Bau – denn die „Stadt“ erstreckt sich in unermeßliche Fernen, wir fuhren in einem kleinen Wagen mit einem Riesengaul darum herum, 4 Schulen der verschiedenen Sekten, dazu public schools (gratis) – Schulzwang ist in Sicht22 – ein Hotel mit bescheidenen Zimmernv, aber – trotz niedriger Preise – Teppiche auf allen Fluren und allen „accomodations“, Interviewer, die von der Größe ihres Landes hören wollen, etc. etc. – ein fabelhaft reizvolles – d.h. nicht ästhetisch reizvolles – Bild des Werdens, welches im nächsten Jahr schon ganz den Charakter von Oklahoma Cityw etc., d.h. den jeder andren westlichen Stadt ange nommen haben wird. Die Einwanderer kommen aus dem Norden und Osten, sind meist arme Teufel und können thatsächlich in wenigen Jahren reiche Leute sein: der „boom“ ist daher kolossal und trotz aller Gesetze blüht die Landspekulation. Kein Wunder, da hier das Land mit 10 $ bezahlt wird und in Oklahoma der Preis schon jetzt auf 75 $ steht. 2 Real Estate men, 1 Asphaltkerl und 2 Handlungsreisende sprachen mich an.23 29/9x Heute oder morgen Abend werde ich einen „trip“ nach Fort Gibson und demy Canadian River mit einigen hiesigen Anwälten24 machen, die ich kennen lernte [,] und so etwas Urwald-Poesie genießen, denn das Clubhaus, in welchem wir das supper nehmen sollen, liegt an einer Stelle, die durch Longfellow und andre bekannt ist – sogar die Hiawatha-Legende wird dorthin verlegt.25 Ich habe nun Vertreter fast aller v 〈und〉 w O: city x O: 29/8 y Alternative Lesung: den 22 Die von den „Indian Nations“ des Indian Territory unterhaltenen Schulen standen weder den Kindern der weißen Siedler noch denen der Afroamerikaner – sofern es sich nicht um ehemalige Sklaven von Indianern handelte – offen. Die Ernennung eines Inspektors für das Schulwesen markiert im Jahr 1899 den Übergang vom Stammes- zu einem Schul system unter US-Kontrolle. 23 Die Namen konnten nicht ermittelt werden. Bei einem der Reisebekanntschaften dürfte es sich um den in Max Webers „Sekten“-Aufsatz erwähnten „Handlungsreisenden in ‚Undertakers hardware‘ (eisernen Leichenstein-Aufschriften)“ gehandelt haben, vgl. Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, MWG I/9, S. 4 39. 24 Die Namen konnten nicht ermittelt werden. 25 Henry Wadsworth Longfellows Epos über den mythischen Indianerhäuptling Hiawatha und die Gründung des Irokesen-Bundes (Longfellow, Henry Wadsworth, Das Lied von Hiawatha. – Stuttgart: Cotta 1894) spielte am Oberen See (Lake Superior). Die örtliche Überlieferung (Scaff, Max Weber in America, S. 93 f.) verlegte die Handlung jedoch in das Indian Territory und vermischte sie mit Schilderungen aus Irving, Washington, Ausflug auf die Prairien zwischen dem Arkansas und Red-river. – Stuttgart und Tübingen: Cotta 1835.
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beteiligtenz Interessenten und Ämter gesprochen, den Indian Inspector, 26 den Indian Agent, 27 den Vorsitzenden der Indian Comission, 28 welche sämmtlich für Beschränkung des Landverkaufs, sorgfältige Auswahl der settler zum Ausschluß der Landspekulation und Erlaubnis, das Geld in Renten zu zahlen, sind [,] letzteres um deutsche Bauern aus Iowa und Wisconsin heranzuziehen. Die Landspekulanten, – ich sprach heute lange einen köstlichen Typus dieser Real estate amen29 – a verlangen [,] daß nur Vollblut-Indianer und nur ein Besitz von 40 acres (homestead) 30 b geschützt werden solle, und ein Teil der Indianer – die zum Teil steinreichen und äußerst geschäftskundigenc großen Heerdenbesitzer – unterstützen sie darin. Sie wollen schnell Geld haben und es paßt ihnen die Bevormundung nicht. Sie hatten schon die leidenschaftlichste Opposition gemacht, als der alte Landcommunismus, der faktisch ihnen (als Heerdenbesitzern, die Weideland brauchen) zu Gute kam [,] aufgehoben und jedem Indianer jeden Alters und Geschlechts der gleiche Teil (dem Werth nach) zugewiesen wurde, ein Geschäft, welches nächstes Jahr fertig sein wird und übrigens – ich sah die Aufmessungskarten etc. etc. – eine gewaltige Arbeitsleistung gewesen ist. Morgen findet nun eine Landauktion von Creek-Land statt, der ich beiwohnen werde [,] und dann kommen 5000 Creeks, lagern hier in Zelten und empfangen die Zahlung, 31 die unter sie verteilt wird. Den z Unsichere Lesung: 〈Tei〉 a–a O: men, b 〈gestützt〉 c Alternative Lesung: geschäftsklugen 26 J. George Wright war als Indian Inspector der Stellvertreter des US-Innenministers im Indian Territory. Zu seinen Aufgaben gehörte die Überwachung des Indian Agent und dessen Behörde (Union Agency), der Stammesregierungen und -schulen sowie der Stammeseinkünfte. Außerdem oblag ihm die Kontrolle über die Asphalt- und Kohlenminen im Besitz der Chickasaws und Choctaws sowie über die Anlage neuer Städte und die allgemeine Verwaltung von gemeinschaftlichem Stammeseigentum (vgl. Debo, Angie, And still the Waters run. The Betrayal of the Five Civilized Tribes. – Princeton: Princeton University Press 1940, S. 61). 27 Gemeint ist Jacob Blair Shoenfelt; zum Amt des Indian Agent vgl. oben, S. 311 f., Anm. 8. 28 Tams Bixby leitete seit 1903 die Dawes Commission (vgl. oben, S. 313, Anm. 13). 29 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 30 Wie oben, S. 313, Anm. 14. 31 Max Weber vermischte offensichtlich zwei Ereignisse: Die eigentliche Auktion und die Auszahlung von Geldern aus dem „Loyal Creek Fund“ (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 89). Letztere (vgl. den Zeitungsbericht: Payment October 1. Government Distribution of $ 510.000 among Loyal Creeks to be made at Muskogee, in: The Oklahoma State Capital, Jg. 16, Nr. 132 vom 23. Sept. 1904, Ed. 1, S. 3) waren 1866 jenen Creek vertraglich zugesichert worden, die im amerikanischen Bürgerkrieg loyal zu den Nordstaaten gestan-
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Häuptling der Cherokee’s verfehlte ich leider, er ist in St Louis.32 Alle Führer der Indianer sind übrigens Mestizen, 33 mit den Vollblutleuten, – vielleicht 15000 – ist nichts anzufangen, sie sind geblieben, was sie waren. Heut sah ich auch das seltene Beispiel eines Indianermädchens, die etwas Negerblut hatte und einen Wagen mit wundervollen Schimmeln kutschierte – die einigermaßen Geschäftskundigend unter den five tribes34 sind alle steinreiche Rentiers geworden – aber Mischung von Indianern und Negern findet sonst nicht statt. Es ist ein fabelhaftes Getriebe hier und ich kann mir nicht helfen, ich finde einen gewaltigen Zauber darin trotz Petroleumdrecks und Qualm, spuckender Yankee’s und des entsetzlichen Getöses der zahlreichen Bimmelbahnen. Ich kann auch nicht leugnen, daß ich die Kerle – im Allgemeinen – angenehm finde. Alle Beamten empfingen natürlich in Hemdsärmeln und wir strecktene gemeinsam die Beine auf die Fensterbank, die „Rechtsanwälte“ etc. machen einen etwas verwegenen Eindruck – aber es herrscht eine fabelhafte burschikose und doch den gegenseitigen Respekt stets im Auge behaltende Ungezwungenheit. Was ich Alles gefragt worden bin: – wie wir mit den Negern in Deutschland fertig würden? war noch nicht das Tollste – ist unglaublich, aber die Leute erzählen auch und ich glaube seit meinem ersten Studentensemester nicht mehr so lustig gewesen1) zu sein als hier mit diesem kindlich-naiven und doch jeder Situation gewachsenen Völkchen. „Civilisation“ ist hier mehr als in Chicago, es ist ganz falsch zu glauben, man könne sich benehmen wie man wollte: die Höflichkeit liegt bei der freilich sehr kurz 1) trotz
des hier herrschenden absoluten – und auch faktisch wirksamen – Verbotes alles Alkohols. d Unsichere Lesung. e O: strekten den hatten (vgl. Foreman, Carolyn Thomas, General William Babcock Hazen, in: Chronicles of Oklahoma, Jg. 20, Heft 4, 1942, S. 322–342, hier S. 327 mit Anm. 19). 32 William Charles Rogers hielt sich wie Pleasant Porter von den Creeks anläßlich des „Indian Territory Days“ auf der „World’s Fair“ in St. Louis auf (vgl. die Meldung von der Ankunft des Häuptlings der Cherokees, William Charles Rogers, in St. Louis: Celebrations this Week, in: St. Louis Republic, Jg. 97 vom 27. Sept. 1904, S. 4). 33 Der aus dem Spanischen entlehnte Begriff für Mischling bezeichnet Nachfahren von Europäern und (ursprünglich lateinamerikanischen) Indianern. Von den Häuptlingen der „five civilized tribes“ traf diese Spezifik auf William Charles Rogers von den Cherokees, Green McCurtain von den Choctaws, Douglas H. Johnston von den Chickasaws und Pleasant Porter von den Creeks zu. Nur Hulbutta Micco von den Seminoles war ein voll blütiger Indianer (vgl. Debo, And still the Waters run (wie oben, S. 317, Anm. 26), S. 64). 34 Wie oben, S. 311, Anm. 7.
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angebundenen Rede in Tonfall und Haltung und der Humor ist gradezu köstlich. – Schade: in Jahresfrist sieht es hier aus wie in Oklahoma, d.h. wie in jeder anderen Stadt Amerikas. Mit gradezu rasender Hast wird Alles, was der kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt. Doch genug. – Ich glaube mein letzter Brief, den ich durch Marianne an Dich schicken wollte – von Oklahoma aus – [,] ist verloren gegangen,35 ich finde ihn nicht in meiner Tasche und erinnere mich nicht ihn abgeschickt zu haben. Ich trage daher nur nach, daß ich auch dort höchst interessante Dinge, aber meist nur solche sah, die man im Osten heut auch sieht. Die Stadt hat seit 7 Jahren von 7000 auf 35000 Einwohner zugenommen, das Land ist fast ganz vergeben und in vollem Anbau. Ich ging schnell von dort fort, zumal der Redakteur, 36 an den ich empfohlen war,37 soeben seinen Concurrenten totzuschießen versucht hatte38 – und zwar, was die Zeitungen an derf Sache ungentlemanlike und für das Ansehen des Westens compromittierend fanden, nachdem er ihn zu einem „drink“g in die Zimmerh |:gelockt:| hatte und ihm |:dabei überdies:| eine entsetzlich zerknirschte Abbitte gewisser Angriffe entpreßt und diese publiziert hatte. 39 Das ging mir doch etwas zu weit.40 f 〈Zu〉 g 〈an die Bar〉 h 〈gelockt〉 35 Die im folgenden geschilderte Episode (vgl. unten, Anm. 38) legt nahe, daß Max Weber eigentlich die Stadt Guthrie meint. Ein Brief ist weder aus Oklahoma City noch aus Guthrie nachgewiesen. 36 Frank Greer, Herausgeber der in Guthrie erscheinenden Tageszeitung „Oklahoma State Capital“. 37 Vermutlich stammte die Empfehlung von Jacob H. Hollander, vgl. die Vorbemerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. Sept. 1904, oben, S. 301. 38 Der Streit zwischen Frank Greer (wie oben, Anm. 36) und John Golobie, dem Herausgeber der Tageszeitung „Oklahoma State Register“, hatte sich an Grundstücksinvestitionen und an der Frage, ob Guthrie Hauptstadt des zu gründenden Bundesstaates Oklahoma werden sollte, entzündet (vgl. Scaff, Weber in America, S. 77 f.) und war am 24. September 1903 in einem Nebenraum des Royal Bar Saloon eskaliert (vgl. die Zeitungsberichte: The Pistol vs. the Pen, in: Muskogee Democrat vom 26. Sept. 1904, S. 1; Greer goes gunning. Uses Smoke-Pole to intimidate Herr Golobie, in: The Guthrie Daily Leader, Jg. 24, Nr. 51 vom 24. Sept. 1904, S. 1). 39 Vgl. den Zeitungsbericht: Mr. John Golobie of The State Register makes Signed Apology, in: The Oklahoma State Capital, Jg. 16, Nr. 134 vom 25. Sept. 1904, Ed. 1, S. 1. 40 Über Max Webers Reaktion (vgl. den Zeitungsartikel: Wouldn‘t stay. A German Professor’s Visit at Guthrie was suddenly terminated, in: The Daily Oklahoman vom 29. Sept. 1904) wurde auch in Washington berichtet (vgl. die Zeitungsnotiz: Wild and Wooly West was too much for him. Prof. von Weber, of Germany, leaves Guthrie, Okla., in a very Great Hurry, in: The Washington Times vom 29. Sept. 1904, S. 6). Mit Bezug auf den Arizona Kicker griff die Heidelberger Zeitung die Geschichte auf und ließ Max Weber zum Augenzeu-
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Ich reise nun 1. Oktober (Sonnabend) von hier nach Memphis und treffe dort Marianne. Dann gehen wir entweder nach New Orleans2) – wahrscheinlich, da wir so nahe sind – oder direkt zu den zwei Führern der Neger, Booker Washington und iDu Boisi ,41 die ich besuchen möchte, – und dann zu Bill und James.42 Herzlichst Dein Max 2) so
weit von hier – der Fahrzeit nach wie Rom von Berlin. Aber man vergißt alle Entfernungen.
i O: Dubois gen einer Auseinandersetzung in Wildwestmanier werden (vgl. die Zeitungsmeldung: Amerikanisch, in: Heidelberger Zeitung, Jg. 45, Nr. 231 vom 3. Okt. 1904, 1. Bl., S. 2): „Aus Guthrie, Oklahoma wird über den Austrag einer Preßfehde folgendes Stückchen mitgeteilt: Professor Weber, Lehrer der National-Ökonomie an der Universität Heidelberg, der auf einer Studienreise zur Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Vereinigten Staaten am Mittwoch hier eintraf, erlebte gleich am ersten Tage etwas echt Amerikanisches. Er hatte einen Empfehlungsbrief an den Redakteur Frank Greer vom ‚Oklahoma State Capitol‘[!], den er auch dem Adressaten überreichte, da er zur Erforschung der Verhältnisse im Westen eine Woche lang in Guthrie bleiben wollte. Während Greer den Brief in Empfang nahm, kam der Redakteur John Gologie[!] vom ‚Oklahoma State Register‘, mit dem Greer in bitterster Feindschaft lebt, in Sehweite. Sofort begannen die beiden Redakteure wild aufeinander loszuschießen, um ihre Meinungsverschiedenheiten zum Austrag zu bringen. Prof. Weber stand zuerst starr; nachdem er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, ließ er sich sein Gepäck geben, begab sich zur Bahn und reiste mit dem ersten Zuge in die Zivilisation zurück. Von den beiden Redakteuren wurde bei der Schießerei niemand verletzt.“ Einen Zeitungsausschnitt von der „Revolver[-]Legende“ erhielt Max Weber mit einem Brief seiner Mutter zugeschickt (vgl. den Brief von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 19. Okt. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). 41 Zur Besichtigung von Booker T. Washingtons „Tuskegee Normal and Industrial Institute“ vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904, unten, S. 327–330. Zu einer persönlichen Begegnung kam es allerdings nicht (vgl. die Briefe an Booker T. Washington vom 25. Sept. und 6. Nov. 1904, oben, S. 304 und unten, S. 374 f.). Der Besuch bei W. E. B. Du Bois in Atlanta, den Max Weber in St. Louis kennengelernt hatte, scheiterte an Marianne Webers klimatisch bedingter Unpäßlichkeit (vgl. den Brief an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, unten, S. 391 f.). 42 William Francis (Bill) und Emil James (Jim) Miller waren Söhne von Helene Webers emigriertem Halbbruder Friedrich (Fritz) Fallenstein (amerikan.: Francis Miller). Zum Besuch bei Max Webers Verwandten in Knoxville bzw. Mt. Airy vgl. die Briefe an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. und 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 325–350.
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McFarland’s Hotel and Cafe South McAlester I.T., …….1904 Auf der Reise nach Memphis.
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Ich kam gestern Abend nicht von Muskogee fort, denn der gentleman, der mich in das Clubhaus in Fort Gibson am Canadian River kutschierte, verlor auf dem Rückweg den Weg und erst als der Mond aufstieg, konnten wir wieder etwas in der weiten Prärie unterscheiden. So kamen wir erst um 2 Uhr nach Haus und mein Zug war fort. Fort Gibson, d.h. das Clubhaus, ist ein reizender Punkt im Walde ziemlich hoch über dem Grand River, das Clubhaus, wie alle seinesgleichen, ein Ort, in dem eine „Gemüthlichkeit“ herrscht, die wir in Deutschland nicht kennen. [„]Aunt Bessie“ und „Uncle Tom“,43 zwei steinalte Schwarze, sind als Bedienung angestellt, Betten für Leute [,] die in der Zeit glühender Hitze für die Nacht kommen, vorhanden, einfache „country-dinners“: rohe Tomaten, Schinken, Eier, wilder Honig, Milch zu haben und vor Allem fast stets lustige Gesellschaft. Der Club besteht – ohne Parteiunterschiede – aus ca 40 Leuten aller möglichen Berufe, ergänzt sich durch Ballotage44 und kostet seine Mitglieder pro Mann ca 75 $ (310 M) pro Jahr. Dafür ersetzt er die Kneipe,45 den Dämmerschoppen, die Gesellschaften (für die Herren, die Damen haben ihre receptions) und ist Gegenstand des Stolzes, weil Träger sozialer Exclusivität aller Beteiligten. Er ist das ins Amerikanische übersetzte Symposion,46 denn es wird nur Unterhaltung und Scherz gepflogen, allenfalls etwas Sport – wozu aberj |:am Grand River:| keine Gelegenheit ist, auch existieren dafür andere Verbände. Die Sache war sehr nett, mein Kutschier-Kamerad47 ein Sohn deutscher Eltern, der Vater ein Ingenieur, der seinen Namen gewechselt hat j 〈hier〉 43 „Onkel Tom“ ist eine abschätzige Bezeichnung für einen unterwürfigen Schwarzen und der Name der titelgebenden Figur von Harriet Beecher Stowes Roman „Uncle Tom’s Cabin“. Dessen Frau Chloe, die als Köchin der Sklavenhalterfamilie arbeitete, hatte Max Weber vermutlich bei „Aunt Bessie“ im Sinn, da diese Bezeichnung anderweitig nicht nachgewiesen ist. Möglicherweise resultiert Max Webers „Aunt Bessie“ auch aus der Klangähnlichkeit mit „Cassy“, einer weiteren Figur aus Harriet Beecher Stowes Roman. 44 Geheime Abstimmung mittels weißer und schwarzer Kugeln. 45 In Studentenverbindungen ein formelles abendliches Trinkgelage. 46 Trinkgelage im antiken Griechenland, bei dem das philosophische Gespräch im Vordergrund stand. 47 Der Namen konnte nicht ermittelt werden.
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|:(wie Onkel Fritz) 48 :| und der Frau und den Kindern nie den richtigen verraten hat. Ich will ihn nun nach bestimmten Anhaltspunkten in Heidelberg, wo er promoviert hat, festzustellen versuchen. Meinem Hinterviertel ist freilich nie eine solche Bastonnade49 zugemuthet worden, wie auf diesen „Straßen“, d.h. die |:schnurgrade:| auf und ablaufenden section lines der Landvermessung.50 „Löcher“ wäre keine richtige Bezeichnung für diese Thalformationen, in die der Wagen hineinsaust, um dann wieder herausgerappelt zu werden, Pfützen, Sümpfe, Baumstämme, alles läßt die Pferde kalt und thut den stahlharten dünnen Rädern aus hickory|:-Holz:| nichts. Man fährt über |:eine:| lange Eisenbahnbrücke, – auf die Gefahr hin [,] daß ein Zug sich den Spaß macht einen auf seine cow-catcher51 zu nehmen – setzt auf einer Floß-artigen Fähre über eine andre Stelle des Flusses – dazu die Wildheit der Rodungsgegend: k angekohlte Baumstämme, |:dabei:| Zeltlager von Ansiedlern, |:zuweilen:| hochbepackte Wagen umziehender kleiner Pächter, Blockhütten älteren Datums, halb aufgeschlagene moderne Fabrikhäuser[,] |:dicht mit schwarzem Volk angefüllte Negerhütten:|, alles in weiten Entfernungen über die Prärie und durch den dichten Wald am Fluß zerstreut, dann plözlich so eine im Entstehen begriffene „Stadt“ wie Fort Gibson, mit vielleicht 100 weit verstreuten Häuschen, aber Elektrizitätswerk, Telephonnetz etc. Dann wieder die absolute Einsamkeit, zweimal überfuhren wir eine Kuh, einmal eines jener schwarzen scheußlichen Texas-Schweine, dann mußten wir um Mitternacht mehrmals Farmer, die wir bei offenem Fenster |:bzw. Zeltthüre:| schnarchen3) hörten, aus dem Schlaf rufen, um den Weg zu er3) À
propos „schnarchen“. In dem Zimmer des Muskogee Hotel steht auf dem Preiscourantl 52 bei der elektrischen Klingel: „Frog in your throat? – 10 cts.“ Ich habe für „Schnarchen“ weder je einen so guten Ausdruck noch eine so verdiente Behandlung gefunden. k 〈überall〉 l Zettel > Preiscourant 48 Helene Webers Halbbruder Friedrich (Fritz) Fallenstein nannte sich nach der Emigration in die Vereinigten Staaten Francis Miller. 49 Frz. für: Stockschläge. 50 Nach der in den USA seit 1785 üblichen und in Oklahoma 1870 angewendeten Vermessungsmethode wurde das Gelände durch in nordsüdlicher sowie ostwestlicher Richtung verlaufende Linien in Abschnitte (sections) unterteilt. 51 Vorrichtung am Kopf einer Lokomotive zum Schutz vor Gegenständen auf den Gleisen. 52 Gemeint ist eine Preisliste.
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fragen – ich wunderte mich wie höflich die Leute blieben – kurz es war erst in der Finsternis, dann bei Mond eine eigenartige „Spazierfahrt“. Heut sah ich die Indianer truppweise kommen ihr Geld zu holen53 – die Vollblutleute haben einen eignen müden Zug im Gesicht und sind sicherlich dem Untergang geweiht, unter den Andren sieht man intelligente Gesichter. Die Tracht ist fast regelmäßig europäisch. – Ich habe noch sehr viel Interessantes von den verschiedensten Leuten gehört und denke, meinm Gastfreund, der Cherokee, wird im „Archiv“ gegen die weiße Indianer-Politik der V[ereinigten] Staaten losschlagen.54 Seine Augen funkelten als er davon sprach. Doch genug von dieser Fahrt ins „alte romantische Land“ – wenn ich das nächste Mal hinkomme, wird der letzte Rest „Romantik“ dahingegangen sein. Morgen früh treffe ich Marianne hoffentlich gesund und wohl in Memphis. Nach beidseitiger Nachtreise sind wir nun wieder zusammen in Memphis, fahren morgen nach New Orleans, wo wir Nachricht von Bill und James finden [.] Max Peabody Hotel Memphis, Tenn. ___________190___ Liebste Mama!
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Eben haben Max u. ich uns hier in einer ziemlich scheußlichen Stadt ganz vergnüglich wiedergefunden, nachdem wir beide eine Nachtfahrt ohne viel Schlaf hinter uns haben. Der Zug wackelte so stark von einer Seite zur andren, daß man kaum stehen kann [,] u. steht nachts X[-]mal außer der Zeit still, weil eine Kuh oder so was über das Geleise läuft. Max hat sich trotz seiner Abenteuer, von denen er dir ja eingehend und anschaulich erzählt, mit Milch dicke Pustebacken angetrunken, ich muß nun wieder etwas auf seine Schönheit achten. Unser Hotel ist echt südlich-schmutzig, u. die schönen Tage von St. Louis, mit dem eigenen Bad zum ev. mehrmaligen Gebrauch sind nun vorbei. Der Abschied von unsren Wirten55 ist mir ordentlich schwer geworden, obwohl Frau Gehner’s nicht sehr geistreiches Geplauder in schauderhaftem Deutsch mir manchmal auf
m 〈Freund〉 53 Anspielung auf die Auszahlung von Geldern aus dem „Loyal Creek Fund“ am 1. Oktober 1904 (vgl. oben, S. 317 f., Anm. 31). 54 Ein Beitrag von Robert Latham Owen jun. im AfSSp ist nicht nachgewiesen. 55 August und Wilhelmina Gehner.
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die Nerven fiel. Sie ist eine herzensgute und durchaus nicht dumme Frau mit sehr guten Formen, aber man merkt’s, daß sie nur eine Kirchenschule besucht u. nur Katechismus gelernt hat, während man es durchaus nicht merkt, daß sie aus ganz kleinen Verhältnissen stammt u. in ihrer Jugend alle grobe Hausarbeit gethan hat. Die gesellschaftlichen Formen beherrscht sie vollständig, hat auch guten Geschmack in Haus u. Kleidung. Aber da sie lediglich durch „Erfahrung“ gelernt hat, waren ihre Ansichten u. ihre Art sich zu unterhalten meist kindlich – in der Erinnerung bleibt mir aber von unsren beiden Wirten nur der Eindruck ungewöhnlicher Herzensgüte u. vornehmer Gesinnung. In den Beweisen ihrer Gastfreundschaft konnten sie sich garnicht genug thun, alle Wünsche wurden uns an den Augen abgelesen, ich bin wirklich noch nie so verwöhnt worden, u. nirgends hat man so viele Dollars für mich springen lassen. Gestern abend wollte sogar Herr G[ehner] durchaus mein Billet hierher bezahlen, das ging natürlich nicht an, aber er setzte es dann durch [,] mir ein Billet im sogen. drawing-room56 zu schenken, sodaß ich in der Nacht allein war. Einen unvergeßlichen Einduck hat mir auch die Liebenswürdigkeit der Familie Gehner untereinander gemacht, Jeder sucht dem Anderen Gefälligkeiten zu erweisen u. allerlei kleine Arbeiten abzunehmen, dabei – u. das ist offenbar spezifisch amerikanisch – ärgert man sich nie, wird nie ungeduldig, hat ein köstliches Phlegma dem Widerstand der Objekte gegenüber u. einen feinen, gütigen Humor. Dies fand ich vor allem bei längerer Bekanntschaft an Gehners Schwiegersohn, Eisenfabrikant, 57 der uns zuerst einen etwas robusteren Eindruck machte. Er war aber von so zarter Rücksichtnahme u. Liebenswürdigkeit, wie ich sie kaum an Irgendjemand gefunden habe – u. von großartigster Gelassenheit, immer auf die Wünsche seiner Damen eingehend, auf alles bedacht. Man kam durch dies Beispiel dazu es sich zur Pflicht zu machen, nie krabbelig über irgend ein Hinderniß zu werden, u. für alles einen Scherz und ein duldsames Lächeln zu haben. Bei diesen ruhigen Männern sind die Frauen wirklich well-off. Es scheint als sei der Mann im Hause dazu da [,] um in erster Linie ihre Wünsche zu erfüllen, natürlich unter der Voraussetzung, daß sie es ihm so behaglich wie möglich macht. Eine gegenseitige Unhöflichkeit oder Ungeduld scheint ganz unmöglich, dabei ist der Mann der körperlich bei weitem robustere, spezifisch „männlich“ – die Frau zart, fein, u. intellectuell durchgebildet – das Juwel, mit dem er sein Haus schmückt. Und das Bewußtsein [,] ihr dadurch den richtigen Rahmen in Toiletten u. häuslichem Behagen zu geben [,] erfüllt seinen Erwerbstrieb mit einer gewissen Poesie. So nun genug, nun wollen wir sehen, was es noch weiter hier unten im Süden gibt. Deine Janne
56 In amerikanischen Zügen Bezeichnung für ein Privatabteil. 57 Frank Mesker, Teilhaber von Mesker Brothers Iron Works, war mit Pauline Gehner verheiratet.
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Helene Weber und Familie [12.] Oktober 1904; BK Asheville Brieffragment; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 52–58 Der folgende Brief besteht aus zwei Teilen. Deren Anordnung folgt der vermutlich nachträglichen Numerierung I und II, die auch der maschinenschriftlichen Abschrift (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, S. 6 3–74) zugrunde liegt. Der von Max Weber verfaßte Briefteil (Bl. 52–55) bricht ohne Grußformel und Unterschrift ab. Auf dem von ihr dem Original vorgelegten Deckblatt notierte Marianne Weber: „unvollständig“. Vermutlich handelt es sich um das eine Briefblatt, das nach ihrer Mitteilung im Brief an Helene Weber vom 21. Dezember 1904 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) von den Amerika-Briefen fehlt. – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Max Webers ursprüngliche Datierung seines Briefteils auf den 13. Oktober 1904 wurde, da dieser Tag auf einen Donnerstag fiel, anhand der Tagesangabe („Mittwoch“) korrigiert. Zu den im Brief zur Sprache kommenden Familienbeziehungen zu Bill Miller, Francis Miller und George Miller vgl. die Verwandtschaftstafeln und die Übersicht über die Söhne und Enkel aus der ersten Ehe von Georg Friedrich Fallenstein, unten, S. 709 und 714.
The Manor Albemarle Park … Asheville, N.C. Mittwoch 12.a Oktober 04 Liebe Mutter!
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An diesem wunderbar schönen und – zumal jetzt außerhalb der Saisonb – stillen Platz hoffen wir uns von den nicht geringen Strapazen der letzten Zeit auszuruhen, ehe wir Freitag nach Mount Airy gehen. Über Bill und sein Haus1 wird [,] denke ich [,] Marianne schreiben, 2 ich trage einige andre Dinge nach. Ich schrieb zuletzt auf dem Wege nach New
a O: 13. b O: Saisons 1 Von Tuskegee kommend hatten Max und Marianne Weber den Vetter William Francis (Bill) Miller und dessen Familie in Knoxville besucht. Dieser war 1895 mit seinem Vater Francis (vormals Friedrich (Fritz) Fallenstein) in Deutschland gewesen und hatte dabei auch Max und Marianne Weber in Freiburg besucht. 2 Vgl. unten, S. 332–334.
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Orleans.3 Dort erwartete uns eine Hölle von Temperatur, die höchste nicht nur dieses, sondern einer ganzen Reihe von Jahren. Kein Gedanke an Schlaf, man wälzte sich nackt auf dem Bett, klingelte Nachts nach Eiswasser, suchte sich durch Baden zu helfen – aber nichts nützte gegen diesen furchtbaren |:glühenden:| Wind aus Südwest, der Qualm und Staub der Stadt mit dem Wasserdunst des Mexikanischen Golfes und den Mosquitos der umliegenden Sümpfe4 vermischt ins Zimmer trug. Selbst den Negern5 ging diese – in dieser Jahreszeit ganz unerhörte – Temperatur über den Spaß. Die Stadt war eine einzige Staubwolke, und da das alte Creolenviertel6 ohnedies stark in Verfall und amerikanisiert ist, St Charles Avenue mit den Residenzen der Zuckerkönige7 Nachmittags glühend heiß war, die zum Teilc schönen Steineichen und südliche Vegetation zeigenden „Parks“8 (d.h. meist play grounds) von Mosquitos schwirrten und die interessante Fahrt nach den cemeteries9 – wie immer – infolge der unglaublichen Dimensionen dieser zur Hälfte aus |:dürren:| Grasflächen bestehenden Städte meilenlange sehr strapazante Wagenfahrten auf entsetzlichen „Straßen“ kostete, so waren wir froh das verfluchte Loch nach 2½ Tagen hinter uns zu haben und den Alabama River entlang nordwärts zu fahren, – durch Gegenden, die alle Spuren des scheußlichen Raubbaus der alten c 〈mit〉 3 Max Weber meint vermutlich jenen „Auf der Reise nach Memphis“ betitelten Teil des Briefes an Helene Weber vom 28. und 29. Sept. sowie [2. und 3. Okt.] 1904, oben, S. 310. Von der Weiterfahrt nach New Orleans – wo sich Max und Marianne Weber vom 2.–5. Oktober aufhielten – ist kein Brief nachgewiesen. 4 Die Gemarkung des im weitverzweigten Mississippi-Delta liegenden New Orleans be stehe, so Baedeker, Nordamerika, S. 412, „zu drei Vierteln aus unbewohnbarem Sumpf“. 5 New Orleans zählte im Jahr 1900 287.104 Einwohner. Davon waren 77.714 Afroamerikaner (vgl. ebd., S. 412). 6 Das „Vieux Carré“ oder „French Quarter“ von New Orleans wurde meist von Nachkommen europäischer Einwanderer (im lokalen Sprachgebrauch: Kreolen) bewohnt. Dessen charakteristische Architektur (Arkaden, schmiedeeiserne Balkone, Ziegeldächer, Innenhöfe, Mauern aus Luftziegeln) geht insbesondere auf die Spanische Zeit (1768–1801) zurück. 1803 war die 1718 von Franzosen gegründete Hafenstadt am Mississippi durch den „Louisiana Purchase“ an die Vereinigten Staaten von Amerika gekommen. Die Suche nach der „Eigenart des ursprünglich französischen Untergrundes“ war nach Weber, Marianne, Lebensbild³, S. 3 07, das Motiv für den Abstecher nach New Orleans. 7 Im Kolonialstil erbaute Stadtvillen von Plantagenbesitzern, die mit dem Anbau von Zukkerrohr ein Vermögen gemacht hatten. 8 Baedeker, Nordamerika, S. 415, erwähnt den Audoban und den City Park. 9 Der hohe Grundwasserspiegel und die spanische Bestattungstradition bedingen die besondere Erscheinungsform der Friedhöfe von New Orleans: Mit ihren Mausoleen ähneln sie Stadtanlagen.
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Baumwoll-Plantagen tragen, einst Centren der Pflanzerwirtschaft, jetzt Pinienwald, Holzexportgebiete mit elenden Negerhütten. In der Dunkelheit kamen wir in Tuskegee (Alabama) an10 und ein schwarzer Kerl fuhr uns in das „Hotel“, d.h. ein altes Pflanzerhaus mit feiner |:Holz-:|Säulenfront, in dem ein alter Bauer,11 der gut ein Deutscher hätte sein können, die großen Zimmer jetzt parzelliert hat und an die Handlungsreisenden vermiethet. Zwei der alten Räume waren ungeteilt, im einen logierten wir, im andren ein Deutscher, der behauptet ein Graf |:von:| Vornstock oder Fonstock zu sein, jetzt den Namen „Becker von Grabill“d führt, als Pianist auftritt und im Winter in dem (weißen) Frauen„college“ in Tuskegee |:Musik-:|Unterricht giebt:12 die südlichen Mädchen werden etwa so erzogen wie unsre „höheren Töchter“. Es stellte sich alsbald heraus, daß Marianne dies College nicht gezeigt bekommen würde, da wir kein Hehle daraus machten, Booker Washington’s und seiner Negerschule13 wegen gekommen zu sein. Am nächsten Tage fuhren wir dorthin: leider war er selbst nicht da – er muß die 150000 $ [,] die er jährlich braucht, persönlich collektieren14 – aber die Bekanntschaft mit seiner Frau15 – beif der wir lunchten – seinem
d O: Gabich“ e O: Hähl f mit > bei 10 Max und Marianne Weber trafen am 5. Oktober 1904 in Tuskegee ein. 11 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 12 Stanton Becker von Grabill hatte angeblich am Berliner Konservatorium studiert und unterrichtete Musik am Alabama Conference Female College, einer 1854 gegründeten Einrichtung der United Methodist Church für Mädchen. Wegen eines zu niedrigen Honorarangebots für einen Konzertauftritt am Tuskegee Normal and Industrial Institute (vgl. Harlan, Louis R., Booker T. Washington, Band 2: The Wizard of Tuskegee, 1901–1915. – New York, Oxford: Oxford University Press 1983, S. 157–159) veröffentlichte Becker von Grabill ein Pamphlet gegen dessen Leiter, Booker T. Washington, und benutzte dazu das Pseudonym Rupert Fehnst(r)oke (vgl. Grabill, Stanton Becker von, Letters from Tuskegee. Being the Confessions of a Yankee. – Birmingham, Ala.: Roberts & son 1905). 13 Booker T. Washington war seit 1881 Direktor des Tuskegee Normal and Industrial Institute, dessen Schüler in mehr als 20 landwirtschaftlichen und handwerklichen Sparten unterrichtet wurden. Für Booker T. Washington waren profunde berufliche Kenntnisse (industrial education) der Schlüssel, um die Lebensumstände der afroamerikanischen Bevölkerung im Süden der Vereinigten Staaten zu verbessern. 14 Vgl. den Brief an Booker T. Washington vom 25. Sept. 1904, oben, S. 304. In seinem Antwortschreiben hatte Booker T. Washington bereits auf die Möglichkeit seiner Abwesenheit während Max und Marianne Webers Besuch hingewiesen (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 265). Zu den Förderern des Instituts gehörten u.a. die Unternehmer Andrew Carnegie, John D. Rockefeller, George Eastman und Julius Rosenwald. 15 Margaret Murray Washington.
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Lehrkörper,16 seinen Schriften17 und der ganze unvergeßliche Eindruck der Sache ersetzteg das einigermaßen. Ich denke, Marianne wird davon erzählen.18 Es unterliegt nicht dem mindesten Zweifel, daß die 1500–2000 |:jungen:| Leute [,] die hierher kommen, scharfh arbeiten lernen wollen – und zwar Feldarbeit, Handwerk (für Reparaturzwecke), Elektrotechnik, Druckerei, Lehrfach und „Bible lecture“ (teils Vorbildung füri den Predigerberuf, teils um der Bibel willen, dabei – ebenso wie der Gottesdienst – streng confessionslos bezeichnenderweise!). Niemand darf nur geistige Arbeit treiben, Zweck ist die Züchtung von Farmern, der „conquest of the soil“ ausgesprochenes Ideal.19 Ein ungeheures Maß |:an:| begeistertem Enthusiasmus wird bei Lehrern und Schülern entwickelt, und zumal für die zahlreichen Halb- [,] Viertelsund Hundertstels-blütigen, die ja alle gesetzlich von der Ehe mit Weißen, faktisch von jedem Verkehr ausgeschlossen, auf eigne Waggons, Wartesäle, Hotels, Parks (so in Knoxville) 20 angewiesen sind21 und die kein Nicht-Amerikaner von Weißen unterscheiden kann, bildet Tuskegee die einzige Stätte sozial |:u.:| geistig freier Luft. – Fürchterlich ist der Contrast einerseits der Halbaffen, die man in den Plantagen undj
g 〈dies〉 h 〈geisti〉 i 〈Baptisten〉 j Unsichere Lesung: 〈auß〉 16 Max Weber erwähnte im Dankesbrief an Booker T. Washington vom 6. Nov. 1904, unten, S. 374, Warren Logan, Robert Robinson Taylor und Jane Ethel Clark (wie unten, S. 332, Anm. 39) sowie vermutlich George Washington Carver. 17 Bis 1904 waren erschienen: Washington, Booker T., The Future of the American Negro. – Boston: Small, Maynard & Co. 1899; ders., Up from Slavery. An Autobiography. – Garden City: The Country Life Press 1900; ders., The Story of my Life and Work. An Autobiography. – Toronto, Naperville, Atlanta: J.L. Nichols & Co. 1901 sowie ders., Working with the Hands. Being a Sequel to „Up from slavery“, Covering the Author’s Experiences in Industrial Train ing at Tuskegee. – New York: Doubleday, Page & Co. 1904. 18 Vgl. unten, S. 332 f. 19 Landbesitz und -arbeit war für Booker T. Washington der Schlüssel, um die Lage der Afroamerikaner zu verbessern. In einer als „Atlanta Compromise“ berühmt gewordenen Rede hatte er seine afroamerikanischen Schicksalsgenossen dazu aufgefordert, „cast down your bucket where you are“. Er meinte damit, sie sollten im Süden der Vereinigten Staaten bleiben und dort Land bestellen. Für jene, die in den Städten des Nordens ver elendeten, wünschte er sich, „I might remove the great bulk of these people into the country districts and plant them upon the soil, upon the solid and never deceptive foundation of Mother Nature, where all nations and races that have ever succeeded have gotten their start“ (vgl. Washington, Up from Slavery (wie oben, Anm. 17), S. 9 0). 20 Zu Max und Marianne Webers Besuch in Knoxville vgl. oben, S. 325, Anm. 1. 21 Die ab 1874 erlassenen Gesetze zur Rassentrennung („Jim Crow Laws“) waren – sofern sie dem Grundsatz „separate but equal“ folgten – durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofes von 1896 sanktioniert worden.
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Negerhütten des Cottonk Belt’s22 sieht, aberl ebenso der geistige Zustand der Weißen des Südens, sobald man durch die menschlichm anziehende Oberfläche hindurchsieht. Über Booker Washington u. sein Werk hat jeder von ihnen eine andere Meinung, von tiefstem Abscheu gegen jede Negerbildung, welche den Pflanzern die „Hände“ nimmt, bis zu der bei südlichen Weißen nicht seltenen Meinung, er sei der größte Amerikaner aller Zeiten außer Washington und Jefferson, 23 – aber ausnahmslos teilen sie die Ansicht „social equality“ oder „social intercourse“ sei ewig undenkbar, auch oder vielmehr grade mit der gebildeten undn oft zu 9 /10 weißeno Oberschicht der Neger.1) Dabei Planlosigkeit, ohnmächtiger Haß gegen den Yankee24 –ich habe wohl hundert |:weiße:| Südstaatler aller Parteien und sozialen Klassen gesprochen und das Problem scheint darnach absolut hoffnungslos, was aus diesen Leuten werden soll. In der That, unser Onkel Fritz, der nie einen Sklaven besaß, strenger Abolitionist war, 25 dabei aber für die Sklavenhalter ins Feld zog, weil nach seiner Jefferson-Calhoun’schen Theo rie26 sein Staat, Virginia, 27 das formale Recht der Sezession hatte, der verblutenp sich die Weißen bei dieser als „Rassenschutz“ gedachten Absperrung – und der einzige Enthusiasmus [,] der im Süden zu finden ist, 28 ist bei den Negern – d.h. jener Oberschicht [.] 1) Dabei
k 〈Bellt〉 l 〈and〉 m 〈ehe〉 n 〈zu〉 o 〈Schicht〉 p Unsichere Lesung. 22 Das Baumwollanbaugebiet der USA, der „Cotton Belt“, erstreckte sich quer über den alten Süden der Vereinigten Staaten von der atlantischen Küste bis Texas. Zur billigen Bewirtschaftung der Plantagen waren seit 1619 Sklaven aus Afrika eingesetzt worden. 23 George Washington und Thomas Jefferson, der erste und der dritte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. 24 In den Südstaaten seit dem Bürgerkrieg gebräuchliche abschätzige Bezeichnung für die Bewohner der ehemals verfeindeten nordamerikanischen Bundesstaaten. 25 Ob Helene Webers Halbbruder Friedrich (Fritz) Fallenstein, der sich nach der Emigration Francis Miller nannte, tatsächlich ein Anhänger der Abschaffung der Sklaverei gewesen war, erscheint anhand der Familienkorrespondenzen fraglich. In einem Brief an Emilie (Nixel) Benecke vom 3. März 1866 stieß sich Ida Baumgarten an dessen „Vorliebe für die Sklaverei“ (zit. nach Roth, Familiengeschichte, S. 94 f. mit Anm. 60). 26 James Caldwell Calhoun war ein Wortführer der Südstaaten und wurde mit seiner Nullifikationsdoktrin (1832) zum Wegbereiter der Sezession (1861) und des amerikanischen Bürgerkrieges. Calhoun vertrat die Auffassung, daß sich jeder Bundesstaat die Umsetzung von Bundesgesetzen vorbehalten könne, und berief sich damit auf Thomas Jefferson und dessen Eintreten für die Rechte der Einzelstaaten gegenüber der Union. 27 Francis Miller hatte in Virginia u.a. in Hillsville, Carroll County, gelebt und als Hauptmann der Konföderierten Armee am amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen. 28 Vgl. die beinahe wortgleiche Formulierung im Brief an Booker T. Washington vom 6. Nov. 1904, unten, S. 374.
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immer zu viel Pferde hielt undq die |:höchsten:| Kaufangebote abwies, weil dann sein Nachbar29 ein schöneres Pferd haben würde als er, der Methodist war, weil sein Scheusal von Frau30 – Bill erzählte von ihr |:mit tiefster Erbitterung:| – sichr täglich mit dem Chaos der Höllenstrafen plagte, denen er sonst verfallen würde – paßte zu diesen braven, stolzen, aber kopflosen unds im heutigen Daseinskampf verlorenen Menschen. – Auch Bill, zu dem wir über |:Atlanta und:| Chattanooga von Tuskegee aus fuhren, 31 gehört in manchem Sinn dahin. Marianne wird ja von seiner Häuslichkeit erzählen. Sein Einkommen beträgt 1000 $ ca (4200 M), er hat davon noch abzuzahlen an Schulden für seine Bureau-Einrichtung32 und legt etwas zurück, spekuliert etwas in Boden, sein Häuschen und Land hat er für 900 $ gekauft (½ des Werthes), Nola’st 33 Haushaltungsbudget beträgt, – da sie sweet pota toes u. dgl. selbst ziehen, – 20–25 $ (80–100 Mk.) monatlich. Solche Ziffern sind nur in den Südstaaten möglich, wo der Boden z.B. in Tennessee nur ½, in Alabama nur 1/5 –1/10 so viel kostet wie in den von den Yankees eben erst seit einigen Jahren in Besiedlung genommenen Indianergebieten von Oklahoma. Entsprechend sind nun aber auch die Menschen hier. Bill schärfte mir immer wieder ein, Dir zu sagen, er werde nie ein „rich man“ werden, aber er sei ein „very happy man“. In der That so ist es – Marianne wird es wohl erzählen – eben diese Mischung von demokratischen Instinktenu und Jefferson’schen Ideenv, dem Typus der Fallenstein’schen Unfähigkeit sich zur Geltung zu bringen, wie ihn Onkel Roderich’s meistew Kinder34 repräsentieren und ebenx doch mit dem aristokratischen Instinkt des alten Miner’s,y des q 〈sie ver〉 r ihn > sich s 〈verlorenen〉 t sein > Nola’s u 〈aus der Zeit seiner „Miner“-Thä〉 v 〈mit jener Fallenstein’schen Abneigung gegen die〉 w Alternative Lesung: weiße x Unsichere Lesung. y 〈und〉 29 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 30 Mary Ann, die 1894 verstorbene, tiefreligiöse Frau von Francis Miller (vgl. den Brief an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 340 f. mit Anm. 20). 31 Max und Marianne Weber waren am 8. Oktober 1904 von Tuskegee nach Knoxville gereist, verzichteten jedoch auf den ursprünglich geplanten Aufenthalt in Atlanta (vgl. den Brief an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, unten, S. 391 f.). 32 William Francis (Bill) Miller betrieb mit John P. Murphy (vgl. unten, S. 331, Anm. 35) eine Anwaltskanzlei. 33 Magnolia (Nola) war die Frau von William Francis (Bill) Miller. 34 Roderich Fallenstein war ein Halbbruder von Max Webers Mutter Helene. Seine Söhne Heinrich, Friedrich (Fritz), Julius Carl (Julius) und Roderich jun. arbeiteten für die Verwandten gehörende Firma Bunge & Co. Heinrich verlor 1881 sein Vermögen durch eine Brandkatastrophe (vgl. Roth, Familiengeschichte, S. 91ff.). Ein weiterer Sohn von Roderich Fal-
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weißen Südstaatlers und des werdenden Honoratioren ist doch etwas sehr Wunderliches und zeitigt nicht unbedenkliche Erziehungsprinzipien, welche die Kinderz außer stand lassen wird, hier im Land in die Höhe zu kommen. Er arbeitet mit einem Iren zusammen – d.h. Bill thut die Arbeit; der Ire ist Assembly-Deputierter, Politiker und Schwerenöther, 35 jener Typus des jovialen Schwadroneurs, der hier am ehesten politische Carriere macht, freundete sich sehr mit mir an, fand [,] ich sähe wie ein Tennesseeman oder doch wie ein Kentuckyman aus etc. [,] u. hat es hinter den Ohren. Trotzdem ist die Verbindung, wie ich mich nach Darlegung der Verhältnisse einsehen mußte, für Bill vorteilhaft. Der Ire thut zwar nichts, zahlt aber ⅓ des Bureaus und sein Anteil am Gewinn ist sehr klein. Der alte Kerl, der mich alsbald mita Geschenken von (ganz werthvollen) Büchern überschüttete,36 hat Bill nach dessen 2jährigem „Universitätsstudium“ eines Tags auf der Straße gesehen, in sein Office geholt und sich Knall u. Fall mit ihm assoziiert und ihn so „gemacht“. Es ist eben Alles ein tolles Wechselspiel in diesen halbfertigen Verhältnissen – daß Bill 7 Monate miner, 5 Monate primaryschool-teacher zu sein pflegte, wußte ich |:bisher auch:| nicht, sein Bruder wurde vom miner aus als physician37 auf die Menschen losgelassen.b Vor Kurzem vertrat Bill, dessen Juristerei der eines deutschen Bureauvorstehers entspricht, den „Professor“ für common law auf 14 Tage, d.h. fragte die „Studenten“ das aufgegebene textbook-Pensum ab u.s.w. u.s.w. – ein tolles Durcheinander, in dem nichts bleibt als der ewige Wechsel aller Dinge, vor Allem des „Berufs.“c z 〈dem Verbauern und der au〉 a Unsichere Lesung: 〈für〉 b 〈Zur Zeit〉 c An dieser Stelle bricht der Brief ab. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung, oben, S. 325. lenstein, Emil, tat sich schwer, in den Vereinigten Staaten wirtschaftlich Fuß zu fassen (vgl. den Brief an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 340 f. mit Anm. 20). Über die Lebensumstände der Töchter Ottilie und Laura (verheiratete Erbe) ist nichts Näheres bekannt. 35 John P. Murphy war in Bulls Gap, Hawkins County, Tennessee geboren worden, seine Eltern stammten jedoch aus Irland. Als Politiker der Demokratischen Partei war er langjähriger Stadtrat von Knoxville, außerdem Mitglied des Parlaments von Tennessee, vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 123–125. 36 John P. Murphy schenkte Max Weber die zweibändige Biographie Andrew Jacksons, die er sich selber offenbar am 22. September 1904 gekauft hatte, mit der Widmung „To Prof. Weber by John P. Murphy Knoxville Tenn. U.S.“. Colyar, Arthur St. Clair, Life and Times of Andrew Jackson, 2 vols. – Nashville, Tenn.: Marshall & Bruce Company 1904 (Hand exemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). 37 George Edward (George) Miller, der 1903 gestorben war, hatte zuletzt als Arzt in Sebastian County, Arkansas gearbeitet (vgl. den Brief an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 342).
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Ihr Lieben Max u. ich haben uns in den Stoff geteilt, u. so werde ich Euch noch über Bill’s Familienleben u. über die Eindrücke in Tuskegeed erzählen. Diese Negerschule war wirklich die Tagereise wert, es wurde uns dadurch ein Stück Lebenskampf u. idealen Strebens veranschaulicht, von dem wir wohl in Büchern gelesen, aber das uns doch nicht lebendig geworden war. Der Eindruck war für mich ein ganz ergreifender. Wir sahen eine ganze Menge hochgebildeter „coloured women“: Frau Booker Washington38 u. die Lehrerinnen der Schule, sie waren teilweise fast so weiß wie ich, anmutige Erscheinungen mit edlen Zügen, die Vorsteherin der Mädchenabteilung39 war jung, schön [,] hochgebildet und von vornehmsten Formen, sie hatte ihre college-degrees genommen u. opferte sich nun mit vollem Bewußtsein dem so unsäglich schweren Werke der Erziehung ihrer Rasse. Ihrer „Rasse“?? Es scheint gradezu grotesk, sie in dieselbe Kategorie mit den schwarzen Vollblutnegern, deren fürchterliches Mundstück, zurückliegende Stirn u. breitgequetschte Nase in der That mehr an ein Affen- als an ein Menschenantlitz erinnert, zu stellen – ist sie nicht tausend Mal mehr äußerlich u. in jedem Gefühl u. Bedürfnis zu uns gehörig? Und doch – zwischen ihr u. den Weißen besteht keinerlei soziale Gemeinschaft, sie wird von ihnen zu der verachteten Rasse gerechnet, niemals darf sie hoffen, von den Leuten ihrer Bildung u. ihrer Empfindungsweise als gleichwertig anerkannt zu werden, der eine Tropfen Negerblut in ihren Adern schließt sie für immer aus von der legitimen Lebensgemeinschaft mit einem weißen Mann. In der That, jeder Weiße, der vorurteilslos genug wäre [,] um mit diesen Menschen gesellschaftlich zu verkehren [,] wird von seinen eigenen Rassengenossen geboykottet. Und das nennt man Christentum u. Anerkennung der „Menschenrechte“! Ich finde das ganze Verhalten der Weißen hier im Süden gegenüber diesen hochgebildeten Mischlingen einfach empörend. Bill sagte, wenn er nur ein einziges Mal in seinem Hause einen Menschen mit einem Tropfen Negerblut in den Adern als Gast empfangen würde, wäre aller Verkehr mit seinen weißen Freunden zu Ende. Und das eigentliche letzte Motiv dieses Rassenhasses ist doch dies: man will die „schwarze“ Rasse in der Verachtung halten – Herrenkitzel – ja man möchte ihnen auch nur grade so viel Bildung gönnen, wie sie nötig haben [,] um begehrtee „Hände“ zu werden – vor allem sollen sie eben nach wie vor alle harte u. verachtete Arbeit leisten. – Ich wohnte abends einer Versammlung des women’s club der Tusd O: Tuskegie e Unsichere Lesung. 38 Margaret Murray Washington. 39 Jane Ethel Clark.
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kegeefrauenf bei,40 Frau Wash[ington] ist die Vorsitzende, es war ergreifend den Idealismus u. das Streben dieser Frauen zu spüren aus sich selbst u. ihren verachteten Genossen etwas zu machen, was die Achtung des weißen Mannes erzwingt. Wir sprachen mit Bill über das Rassenproblem u. er ist viel zu gutherzig [,] um nicht schließlich zuzugeben, daß das Verhalten der Weißen gegenüber der gebildeten Oberschicht der Neger Ungerechtigkeit ist. Nun genug davon u. zu Bill. Die guten Leute ließen es sich durchaus nicht nehmen uns bei sich zu logieren, was nun für beide Teile, für sie u. uns [,] mit einigen Unbequemlichkeiten verknüpft war. Mir schwante schon, daß uns ein Doppelbett erwarten würde. Und so war es. Sie hatten uns ihr eignes Schlafzimmer eingeräumt u. Vater, Mutter[,] Großmutter,41 Cousine42 u. zwei Kinder43 pferchten sich zusammen in drei Betten! Das giebt Euch schon einen Begriff von der Bescheidenheit ihrer Verhältnisse. Das Holzhäuschen, das weit draußen zwischen grünen resp. jetzt braunverbrannten Hügeln lag u. das wir auf einem unbeschreiblichen Feldwege erreichten [,] war denkbarst bescheiden u. nach unsren Begriffen sogar etwas verwahrlost. Das Örtchen war ein Verschlag im Garten, im Dunkeln setzte man sich natürlich einfach ins Freie an den Hühnerhof – ihr Wasser bekommen sie aus einer Cisterne. Der sogenannte Garten ist ein von Bill bebautes Stück Kartoffel[-] u. Maisland, mit einigen schönen Rosen – sonst Hühnerhof u. schrecklich viel Dreck, da man natürlich allerlei Abfall u. Papier aus dem Hause in den Garten kehrt. Das doublebed erwies sich natürlich für mich als disastrous, denn mein herzliebes Ehegemahl pflegt sich wie ein großes Gebirge herumzuwälzen u. dabei jedes Mal ein Erdbeben zu verursachen. Dazu hatte ich Migräne – na es war nicht schön, u. doch waren wir so gerührt über die Opfer, die die guten Menschen uns brachten. Für die 2. Nacht durfte Max dann zum Glück in die Stadt ziehen, u. ich blieb Alleinbesitzerin des Bettes, u. wurde dann nur noch von einigen Moskitos u. Mäusen gezwackt. Nun die Menschen – Bill ist reifer u. etwas mehr honoratiorenhaft geworden als Familienhaupt. Zu den „führenden“ Leuten wird er aber wohl nie gehören, u. keiner seiner Brüder44 hat etwas „Schneidiges“ aus sich gemacht – ihnen f O: Tuskegiefrauen 40 Dem 1895 von Margaret Murray Washington gegründeten Tuskegee Woman’s Club gehörten Lehrerinnen und Frauen von Lehrern des Tuskegee Institutes an. Das Betätigungsspektrum des Clubs war breit gefächert. Er unterhielt Abend- und Sonntagsschulen sowie Mütterclubs, engagierte sich in der Abstinenzbewegung und der Gefangenenbetreuung und unterstützte außerdem den Kampf für das Frauenwahlrecht. In der nahe gelegenen Russell Plantation schulte der Club die afroamerikanischen Bewohnerinnen in Haushaltsführung, Kinderpflege und -erziehung, um auf diese Weise die Lebenssituation ihrer Familien zu verbessern (vgl. Thomas, Mary Martha, The New Woman in Alabama. Social Reforms and Suffrage, 1890–1920. – Tuscaloosa, Ala.: University of Alabama Press 1992, S. 74ff.). 41 Martha E. Brittain. 42 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 43 Fritz jun. und Ida Miller. 44 William Francis (Bill) Miller hatte insgesamt acht Brüder. Von diesen starben James
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fehlt der Yankeegeist u. sie hassen ihn noch obendrein, wollen ihre Kinder möglichst „einfach“ u. „demokratisch“, d.h. ohne äußeren Schliff erziehen etc. – Er – Bill – ist der zärtlichste verliebteste Vater[,] den ich je gesehen, seine kleine 4 jährige Ida, seine „blue-eyed lily“ [,] ist einfach sein Abgott u. ich fürchte [,] er wird sie verwöhnen wie nur irgend ein Prinzeßchen, die Kinder bekommen von ihm gradezu Alles [,] was sie wollen, u. wenn sie in der nächsten Sekunde ihre Wünsche wechseln, dann ist es auch allright. Das eigentliche Erziehungswerk bleibt also der Mutter „Mrs Nola“ – aber ich habe keinen Eindruck[,] ob sie es versteht. Sie zupft so prinzipienlos an ihnen herum, ohne doch je strikten Gehorsam erzwingen zu können. Überhaupt habe ich nicht allzuviel mit ihr machen können. Sie ist gutherzig u. nett, aber so passiv, phlegmatisch, verträumt u. pflanzenhaft – ihre alte geschäftige Mutter45 mit ihrem lebhafteren Temperament u. auch die Cousine [,]46 die offenbar zur Hilfe gekommen war u. für uns prutzelte u. schaffte, gefielen mir eigentlich besser, aber die Zeit war zu kurz, um einen richtigen Eindruck zu gewinnen u. natürlich hatten wir nicht viele Berührungspunkte mit ihr u. waren für sie sicher eine rechte Last. Irgendwann [,] wenn sie mal mehr Geld haben [,] wird sie es gewiß sehr gut verstehen eine „lady“ zu repräsentieren u. ihre Kinder entsprechend zu erziehen, sie läßt sie schon beileibeg nicht mit den Arbeiter-Kindern aus der Nachbarschaft spielen. Das Standesbewußtsein schießt wie ein Pilz aus dem Boden. – Nur müßte sie sich dann noch das Spucken abgewöhnen. Ich wußte nicht, wie mir wurde, als abends die drei Frauen um mich herum sitzend, offenbar als Ausdruck ihres Behagens um die Wette an zu spucken fingen! Schauderhaft. Auch Bill spuckt wie ein Springbrunnen und verschafft sich sein Material dazu durch fleißiges Tabakkauen. Es ist ein köstliches Völkchen, aber Jedem giebt das Gefühl von der untersten sozialen Stufe durch eigne Kraft in den Kreis der Honoratioren aufsteigen zu können, schon von vornherein, auch wenn er noch ziemlich weit unten ist, Selbstbewußtsein u. Sicherheit des Auftretens. Nun ade für heute. In Washington, das wir in 5 Tagen etwa erreichen,47 hoffen wir endlich Nachrichten zu finden. Tausend Grüße von Eurer Janne
g O: bei leibe Wiley und Alexander Adalbert im Kindes- bzw. Jugendalter. Über den Lebensweg von Julius Emmet und Charles Otto ist nichts bekannt. Jefferson Frederick (Jeff) und Emil James (Jim) lebten als Farmer in Mount Airy (vgl. den Brief an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, unten, S. 340 f.). Bei letzterem wohnte Hugh Miller, ein weiterer Bruder, der Epileptiker war (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, unten, S. 377). Zu George Edward (George) Miller vgl. oben, S. 331, Anm. 37. 45 Martha E. Brittain. 46 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 47 Max und Marianne Weber trafen am 18. Oktober 1904 in Washington ein.
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Helene Weber und Familie 14., 19. und 21. Oktober 1904; BK Greensboro, N.C. und BK Washington, D.C. Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 60–73 Der folgende Brief, bei dessen archivarischer Foliierung offensichtlich eine Fehlzählung unterlaufen ist (auf Blatt 62 folgt Blatt 64), setzt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste Teil umfaßt die von Max Weber auf dem Weg zu den Verwandten in Mount Airy beidseitig beschriebenen Blätter 60–62. Er benutzte dazu Briefpapier des Hotels „Huffine“ in Greensboro, N.C. Der zweite und dritte Teil (Blatt 64–69 eigenhändig von Max Weber sowie Blatt 70–73 von der Hand Marianne Webers, alle beidseitig beschrieben) wurden – jeweils auf Briefpapier des Hotels „The Raleigh“, Washington, D.C. – nach dem Besuch in Mount Airy geschrieben. Deren Abfolge machte Marianne Weber für die Adressaten durch zwei handschriftliche Zusätze kenntlich: „Max Brief erst lesen“ (am rechten oberen Rand von Blatt 64r) sowie „Bitte erst Max u. dann meinen Brief lesen“ (Blatt 70r oben). Als weiterer handschriftlicher Zusatz von Marianne Weber findet sich ebd.: „Liebe Mama, Du läßt von Euch diese Briefe zurück an Tante Nixel gehen u. sie schickt sie weiter an Tante Flora. Tante Nix ist ihnen Allen am lebendigsten, weil sie am meisten mit ihnen korrespondiert hat. Jim hat ihr 4 Mal geschrieben, aber nur einen einzigen Brief u. eine Karte von ihr bekommen.“ Wie die anderen Amerikabriefe sollte auch dieser Brief im Familienkreis zirkulieren und an die Tanten Florentine (Flora) Schnitger und Emilie (Nixel) Benecke weitergeschickt werden. Die erwähnte Korrespondenz von Emilie (Nixel) Benecke mit ihrem Neffen Emil James (Jim) Miller ist nicht überliefert. – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f.
Hotel Huffine, Gresham & Co., Proprietors Greensboro, N.C., 14/X. 1904 auf dem Wege nach Mount Airy Liebe Mutter!
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Wir haben hier 3 Stunden Aufenthalt, Marianne schläft etwas – wir mußten in Asheville um 5 Uhr aufstehen [–] und so kann ich wieder etwas zu erzählen anfangen. Asheville, in der südlichen Alleghenies (Smoky M[oun]t[ain]s und Blue Ridge M[oun]t[ain]s) gelegen, ist einer der schönsten Punkte [,] die wir sahen. Rundum blaue waldige Berge und der Wald in der Pracht seiner Herbstfarben, dazu ein ganz reizendes Hotel, in lauter Cottages auf grünem Rasen zerstreut, unmittelbar anstoßend steigt man in den Wald hinein, man sitzt mit netten Leuten zusammen an kleinen Tischen zum Essen, geht um 9 zu Bett und zahlt (da weder Sommersaison – für die Südländer – noch Wintersaison – für die Nordländer – ist) deutsche Hotelpreise. Dazu die schönsten Wagenpartien in die Umgegend, gestern waren wir mehrere
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Stunden in Vanderbilt’s berühmten „Estate“,1 so groß wie das Fürstentum Lippe, mit Chausseen darin von 71 (englischen) Meilen Länge, d.h. soweit wie von Heid[el]berg nach Straßburg. |:Schwarze:| Schweine, die täglich geseift und wie Odysseus mit Öl massiert werden, 2 Kühe aller denkbaren Rassen, jede in ihrer |:stilvollen:| cottage1) – ganz brillanter frischer Ice-cream, d.h. hier wirklich gefrorne Sahne – prachtvolle Hühner etc. etc. – Jagdgründe [,] die mehrere hohe Bergkuppen und Quadratmeilen von dichtem Walde umfassen, die Farmer hat er (à la „Jakob der Letzte“) 3 ausgekauft, dazu auf einer Hügelkuppe das prachtvolle, für uns – da er anwesend war – leider nur von der backside anzusehende Schloß, endlich ein höchst „stilvoll“ gebautes Dorf nebst Kirche, vermiethet teils an die 500 Mann betragende Dienerschaft bzw. die Förster u [.] dgl., teils ana Kurgäste, – ein ungeheurer Eindruck von Besitz und – Vergeudung von Kraft, Land und Leuten. Aber allerdings wundervoll. – Die Eisenbahnreiserei ist hier eine eigne Sache. Nach Asheville hatten wir mit der ordinary car fahren müssen, wenn der ganze lange Wagen voll ist (60 Leute) kein großes Vergnügen, zumal alles auf hagere Leute berechnet ist. Ausnahmsweise bekamen wir bei dieser Tour nicht das geringste zu essen, da Alles auf Lokalverkehr berechnet war – sonst ist, abgesehen von dem in keinem Wagen fehlenden Eiswasser kübel, stets Jemand im Zuge, der Früchte, Gebäck, Magazines und Ro 1) Die in einer Art Schweizerstil gehaltenen Schweine-cottages haben reichlich die Dimensionen von Bill’s Haus [.] a 〈Fr〉 1 Zum Landsitz von George Washington Vanderbilt gehörte ein von französischen Königsschlössern inspiriertes Herrschaftsgebäude im neoklassizistischen Stil sowie eine von dem führenden amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederick Law Olmsted entworfene, riesige Außenanlage samt einem Musterdorf sowie einem land- und forstwirtschaftlichen Musterbetrieb. Vgl. dazu Scaff, Max Weber in America, S. 127 f. 2 Im zehnten Gesang von Homers Odyssee strandet der Held auf der Insel Aiaia, wo ein Teil seiner Gefährten von der Zauberin Circe in Schweine verwandelt wird. Odysseus gerät auf der Suche nach den Gefährten ebenfalls in Circes Bann, ist jedoch durch ein Gegenmittel vor deren Kräften geschützt. So gewinnt er die Liebe der Zauberin, von deren Mägden er umhegt wird („[…] Als sie mich jetzo gebadet und drauf mit Öle gesalbet […]“, zit. nach Homer: Ilias / Odyssee. – Übers. v. Johann Heinrich Voß, München: Winkler Verlag 1976, S. 576 f.), und befreit seine Freunde. 3 Peter Roseggers 1888 erschienener Roman „Jakob der Letzte“ handelt vom Untergang des alten Bauerntums in einer steirischen Gemeinde. Dem Aufkauf zahlreicher Bauernhöfe durch einen Kapitalisten stemmte sich der Bauer Jakob Steinreuter vergeblich entgegen.
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mane ausbietet. Der Unterschied der Pullman[-]Cars – namentlich der Chair cars in den Tageszügen – istb |:gegenüber dieser Reiserei:|, was Behaglichkeit anlangt, ganz außerordentlich, stets sind behagliche Rauchzimmerc, Schreibzimmer, library, oft hinten Aussichtswagen mit Plattform da, die großen Sessel sind drehbar und die Zwischenräume sehr weit, die Wagen luftig. Der Preisunterschied gegen die gewöhnlichen Cars ist meist minimal, für eine volle Tagesfahrt 2½–3 $ oder weniger,– es ist wie auf dem Schiff: die Masse, der es auf jeden Dollar mehr ankommt, muß die Einnahme bringen, die Pullman’s dienen der Reklame. Weniger anmuthig sind die Schlafwagen. Ein Gang in der Mitte,d an den Seiten die Bettstätten, je zwei übereinander in der Richtung des Zuges, mit Gardinen verhängt. Man zieht sich hinter der zusammengezogenen Gardine auf dem Bett sitzend oder auch liegend aus und an. Als wir z.B. heut Morgen in Asheville einstiegen, schlief noch Alles und erst lange nach Sonnenaufgang begann die Maulwurfsarbeit in den Betten, und dann schliche jeweils eine unvollkommen toilettierte Gestalt nach dem gemeinsamen (d.h. nur je 1 für ladies u. „gent’s“) Waschraum – ich fand es, als ich von St Louis nach Oklahoma fuhr und der Neger mich spät morgens weckte, weiter nicht so besonders erquickend, in jenem Raum – der bei den „gent’s“ zugleich Rauchzimmer ist,f vor 3 rauchenden und spuckenden gentlemen Toilette zu machen. Im Übrigen läuft in den Pullman-Cars fortwährend eine Unmasse Bedienung um Einen herum und man bekommt natürlich |:Breakfast:| [,] Lunchg u. Dinner serviert genau wie im Hotel, d.h. man kannh à prix fixe die ganze (sehr lange) Speisekarte incl. Eis etc. herunterfressen. Heut zogen wir es vor, hier in einem kleinen „Inn“ am Bahnhof zu lunchen. Zum Erstaunen der Leute hier – die, wie meist im Süden, noch halbe Bauern sind, noch nie einen Deutschen gesehen hatten und meinen Reiseanzug4 für die deutsche Nationaltracht hielten – mußten wir doch lachen, als in der früher allgemein üblichen, im Norden aber schon in Verfall gerathenen Weise, der Neger |:nun:| jedem von uns |:gleichzeitig:| je 12 Näpfchen mit: 3erlei Fleisch, 1 Fisch„steak“, Bohnen, grünem Mais, Nudeln, Turnips, Kohl, heißem Weizenbrot, Butter, Pie und ferner je eine große Tasse Kaffee – wird zu b 〈in der〉 c 〈un〉 d 〈z〉 e Unsichere Lesung: 〈inge〉 f 〈mich〉 g 〈oder〉 h 〈sucht〉 4 Zu Max Webers Aufmerksamkeit erregender Reisebekleidung vgl. den Brief an Helene Weber vom 28. und 29. Sept. [sowie 2. und 3. Okt.] 1904, oben, S. 312 mit Anm. 11.
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jeder Mahlzeit getrunken – setzte. (Die Sache kostete – man durfte beliebig nachfordern – ½ $ (2 Mk) – die Preise des Südens sind darin in der That billiger als die deutschen). Der Kellner absolviert so jeden Gast auf einmal, der Gast kann so schnell schlucken wie es ihm behagt und hat nicht zu warten, – was er übrig läßt [,] wird weggeworfen, wie denn die ungeheuerlichste Verschwendung in diesen Dingen Charakteristikum auch jedes amerikanischen Haushalts – im Gegensatz z.B. zu den hiesigen Deutschen – ist. – Die Fahrt durch Nordcarolina war teilweise wundervoll: waldige Thäler, viel Ähnlichkeit mit der Schwarzwaldbahn, 5 und |:meist:| Laubwald in Herbstfarben und dichtes Buschwerk, Immergrün und Rhododendron auf dem Boden, dazwischen die winzigen Holzbrett-Häuschen, „Städte“, d.h.: etwas näher zusammengerückte Häuschen, einige Backstein-Geschäftsstraßen mit elektrischer Bahn selbst in den kleinsten Nestern und ein paari Kirchen, Unmassen der kleinen Farmer-Wagen mit den haardünnen, aus dem harten Hickory-Holz gemachten Rädern, ohne Bremse (bei den hiesigen Wegen |:Thal-auf Thal-ab:| eine gewaltige Strapazej für die Pferde. – Zerzauster Wald, aus dem die |:massenhaften kleinen mit kleinen Geleisen in den Wald hineingreifenden:| Sägemühlen die großen Stämme herauspicken, Mais- und Baumwollfelder, viel Grün um die Häuser, die „Städte“, wie fast immer, ganz im Grünen. – Nun sind wir begierig, was „Jeff“6 und „Jim“7 mit uns in Mount Airy aufstellen werden. Ich schrieb ihnen, daß meine „tonnage“ es leider für Marianne unmöglich mache, mit mir, selbst in einem double-bed, zusammen zu schlafen.8 Bei Bill hatte die Sauberkeit der Kinder und auch der Frau9 doch sehr ihre Grenzen. Überhaupt, wie wir schon schrieben, es sind Südländer und |:zugleich:| deutsche Bauern oder Kleinbürger ihrem Wesen nach. Z.B. war weder Schreibpapier noch Tinte im Haus, Bücher nimmt er nie mit dorthin – es stehen einige von seinem Vater10 ererbte und seine Text-books von der „Universii O: par j O: Strapatze 5 Die 1863–1873 zwischen Offenburg und Singen erbaute Gebirgsbahn. 6 Jefferson Frederick (Jeff) Miller. 7 Emil James (Jim) Miller. 8 Der Brief ist nicht nachgewiesen. 9 William Francis (Bill) Miller lebte mit seiner Frau Magnolia (Nola) sowie den Kindern Fritz jun. und Ida in Knoxville, Tennessee; vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904, oben, S. 330. 10 Francis Miller (vormals Friedrich (Fritz) Fallenstein).
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tät“ im Parlour.11 Nun bin ich begierig, wie die waschechten Bauern, – „Jim“ hat ca 300 acres (100 Hektar), „Jeff“ ca 100, letzterer soll derk klügere Landwirth sein, – zu denen wir heute kommen, ausschauen werden. – Es ist jetzt Zeit, daß ich Marianne wecke, der Zug geht in ½ Stunde. The Raleigh Washington, D.C. Mittwoch 19/X 1904 Nach Mount Airy.
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Hier endlich Nachrichten von Dir12 – zwar 4 Wochen hier lagernd und 6 Wochen alt, aber Gott sei Dank gut. – Wir sitzen hier bei ziemlicher Wärme gut luftig im 8ten Stock und ziehen uns kühl an, nachdem wir vor 2 Tagen noch in Mount Airy am grellen Kaminfeuer bei starken Nachtfrösten uns dick eingepackt hatten. Die Fahrt nach Mount Airy ist schier endlos auf einer kleinen Sekundärbahn durch Buschwald langsam im Thal eines kleinen „River“ zwischen den Vorhügeln der Blue Ridge Mountains (Grenze zwischen North Carolina u [.] Virginia) bergan. Unterwegs sprach uns im Waggon ein alter Gentleman13 an, der der banker des „old cap’tain“ (Onkel Fritz)14 gewesen war. In der Dunkelheit15 kamen wir nach Mount Airy, „Jim“ und sein ältestes Söhnchen16 (ein netter Bengel, der ein guter Farmer wird) holten uns ab im Wagen und dann gings 1½ Stunden in k 〈bessere〉 11 William Francis (Bill) Miller arbeitete als Anwalt und war früher auch einmal Grundschullehrer gewesen (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904, oben, S. 331). Welches Studium er absolviert hatte, konnte ebenso wenig ermittelt werden wie die Universität, die er besuchte. 12 Der Brief Helene Webers ist nicht überliefert. 13 Der Name konnte nicht ermittelt werden. 14 Francis Miller bekleidete während des Bürgerkriegs den Rang eines Hauptmanns der Konföderierten Armee (vgl. den Nachruf in den Mount Airy News vom 2. Dez. 1897, (15.09.2014). 15 D.h. am Abend des 14. Oktober 1904. 16 Emmet(t) James Miller, der älteste Sohn von Emil James (Jim) Miller, vgl. Cook, M. Evelyn, Max Weber and the Fallensteins of Mount Airy, Surry County, North Carolina. – Durham, N.C., Duke University 1980.
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völliger Nacht bei beginnendem Mond durch Buschwald, über Furtenl durch den River, thalauf thalab, fürchterliche Wege. Einmal glaubten wir ernstlich, alle Rippen gebrochen zu haben, der Wagen krachte in allen Fugen – m wir hatten einen dicken Baumstamm, der quer lag, überfahren. Aber die Pferde blieben ruhig und „Jim“ erst recht. Dann Empfang durch Jim’s Frau,17 eisige Kälte – der erste Frost, diesmal spät: sonst am 20. September, der letzte am 10. Mai – n und von vorn geblendet und gebraten durch den Kamin. Marianne kämpfte beide Nächte (die dritte waren wir in Mount Airy im „Hotel“) mit Asthma, glücklicherweise erfolgreich. Im ganzen Haus kein Fetzen Papier – weder zum Schreiben 2) noch zu irgend welchen sonstigen Zwecken, denen der Culturmensch es zu widmen pflegt – dagegen ein Brunnen (bei Bill hatten wir nur Cisternenwasser), eisiges Wasser, 2 (Gott sei Dank) sehr gute Betten in einem Zimmer oben in dem zweistöckigen Holzhäuschen [.] – Über die Personen mag nun Marianne berichten,18 ich schildere mehr die Äußerlichkeiten und äußeren Hergänge. Die Häuser der beiden Brüder Jefferson (der Älteste) und James (der Jüngste)19 liegen auf zwei nach dem kleinen Bach in der Mitte zu ziemlich steil abfallenden Hügeln einander gegenüber |:in Rufweite von ein ander:|. Unten in der Niederung ist der gute Boden, wo sie – jeder auf seinem Anteil – Tabak, Mais (hauptsächlich) und Weizen bauen, auf dem Hügellandeo grast das Vieh (neben dem Tabak einziges Absatzprodukt, dasp Korn essen sie selbst oder verfüttern es. Jefferson hat ca 160, James etwas über 200 acres (à ⅓ Hektar), James mehr gutes Land, der größere Teil ist bei Jedem von beiden Buschwald (James z.B. hat ca. 35 acres Weizen, 35 acres Mais, 15 a. Tabak in Cultur). Jefferson’s Haus ist ein altes Backstein-Pflanzerhaus, einst in Emil Fallenstein’s Besitz, der hier gänzlich scheiterte (weil er „zu hoch lebte“) 20 2) James
schreibt seine Briefe in Mount Airy, wenn er dort hin-
kommt [.] l O: Fuhrten m 〈die〉 n 〈von〉 o Alternative Lesung: Hügelboden p 〈andere〉 17 Margaret Ann (Maggie) Miller. 18 Vgl. unten, S. 347–350. 19 Der 1847 geborene Jefferson Frederick (Jeff) und sein 21 Jahre jüngerer Bruder Emil James (Jim) Miller. 20 Emil Fallenstein, ein Sohn von Helene Webers Halbbruder Roderich, war ebenfalls nach Amerika ausgewandert. Nach der Familienüberlieferung (vgl. Cook, Max Weber and the Fallensteins, wie oben, S. 339, Anm. 16) hatte er versucht, auf dem Grund seines On-
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und dem „Jeff“ die Sache abkaufte. James hat sich sein Holzhaus selbst gebaut. Das |:kleine:| Sterbehaus21 von Onkel Fritz lag abseits im Buschwald. Sein Grab22 und die kleine gänzlich schmucklose Methodistenkirche (wie eine große Scheune aussehend) sahen wir Sonntag beim Kirchgang.23 Davon nachher. James hat 7 Kinder, 24 Jefferson 10 25 (davon zwei Töchter verheirathet, eine an einen Farmer in Oklahoma, 26 eine an einen Arzt in Virginia, 27 beiden geht es gut). Jeff’s beide Söhne sind keine Farmer, 28 sondern sehr begabt für „Engineering“, der Eine ist Handwerker auswärts, der Andre soll nach Raleigh auf die Ingenieurschule – wenn Jeff das Geld dazu hätte – die |:jüngeren:| Töchter, 29 sehr hübscher schwarzer Typus, wie die Söhne nach Italienern aussehend [,] tragen Modetracht und -Frisur, die eine war Hotelköchin.30 James ist der bessere und gut prosperierende Farmer – Baar einnahme ca 1000 $ im Jahr (4200 M) – handelt mit „buggies“ (Wagen) und Pferden neben dem „farming“, hält einen Neger-Arbeiter,31
kels, Francis Miller, Wein anzubauen und zu keltern. Als der Weinkeller einstürzte, verzichtete Emil Fallenstein auf den Wiederaufbau – angeblich mit der Begründung, es sei ein nutzloses Unterfangen, denn die tiefreligiöse Frau seines Onkels, Mary Ann Miller, die in der Nacht des Einsturzes eifrig gebetet haben soll, „would just pray away the new one.“ Entgegen Cooks Darstellung kehrte Emil Fallenstein daraufhin jedoch nicht nach Deutschland zurück, sondern war – vermutlich nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1881 – mit seinem Sohn nach Texas gezogen (vgl. den Brief Max Webers an Hermann Baumgarten vom 29. Juni 1887, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 7, Bl. 23–25; MWG II/2), wo er in Austin den Kurzwarenhandel „Fallenstein & Haralson“ betrieb. 21 Es handelt sich vermutlich um das drei Meilen westlich von Mount Airy gelegene kleine Blockhaus, das Francis Miller ab dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges bewohnt hatte (vgl. Cook, Max Weber and the Fallensteins, wie oben, S. 339, Anm. 16). 22 Francis Miller liegt auf dem Friedhof der Zion United Methodist Church von Mount Airy begraben. 23 Sonntag, der 16. Oktober 1904. 24 Sechs Kinder sind für diesen Zeitraum nachweisbar: Marjorie Ruth, Emmet(t) James, Annie Ella, Charles H. (Carlie), William Edward (Edward) und Julius Jefferson. Sarah Letitia (Lettie) wurde im März 1905 geboren, ein letzter Sohn 1908. 25 Von Jefferson Frederick (Jeff) Millers Kindern konnten zwei namentlich nicht ermittelt werden. Zu den übrigen vgl. die folgenden Anmerkungen. 26 Alice Jarvis (geb. Miller) lebte damals mit ihrem Mann Elmer vermutlich in Kingfisher, Oklahoma. 27 Mary Miller war mit dem Arzt John Reuben Branscombe in Fancy Gap, Virginia, verheiratet. 28 Tatsächlich wurden sowohl William Cleveland (Cleve) Miller als auch James Dickerson (Dick) Miller Farmer. 29 Nancy, Nellie, Victoria und Olga Miller. 30 Dem Alter nach dürfte es sich um die 1882 geborene Nancy Miller handeln. 31 Ervin Johnson, vgl. unten, S. 344 mit Anm. 44.
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und ist, was Jeff und einige andre Farmer mißbilligendq constatierten, „busy“ wie ein Yankee [.] Eine Meile entfernt lebt die Schwester Betty – offenbar jetzt schwindsüchtig, sehr nervös, wir sahen sie in und nach der Kirche – mit einem „Gambler“, Mr Rawleyr, verheirathet, der nichts vor sich bringt, aber mit tüchtigen Kindern, der Eine ist Kaufmann in Mt Airy (d.h. Commis).32 Der Bruder George [,] nach dem Du fragst [,] ist tot, lebte in Arkansas mit seiner Frau (Indianerin, d.h. Halbblut), die jetzt dort mit ihren Kindern lebt.33 Sonntag früh kam Frank Fallenstein (der Einzige [,] der durch seine zwei Söhne erster Ehe34 Deinen Namen fortpflanzt!) mit seiner Tochter35 hinter sich auf einem Maul esel angeritten. Es geht ihm, sagte er, jetzt ökonomisch besser,36 er soll eine ganz vorzügliche (zweite) Frau37 geheirathet haben. Ein kleines nervöses Männchen, vollständig verbauert. Rundum leben angeheirathete Verwandte, Freunde des Onkel Fritz etc. in Masse, wären wir längers dageblieben – wofür aber Marianne nicht wohl genug war – so hätten wir mindestens 12–15 Farmen besuchen müssen, bei Strafe des Übelnehmens. So besuchten wir Sonnabend Jeff, waren Abends zu Hause, Sonntag früh mit Jamest, Frank u. Betty die Kirche.38 Der junge Methodistenprediger39 war dann Mittags mit bei James, ebenso der gänzlich unkirchliche Jeff und Familie. Nachmittags ging Alles zu eiq O: misbilligend r O: Rowley s 〈dageg〉 t 〈und〉 32 Elizabeth Nancy (Betty) Miller war mit Robert Pinkney Rawley verheiratet. Ob ihr ältester, damals 20-jähriger Sohn, James Walter Rawley, den Max Weber hier vermutlich meinte, Handlungsgehilfe war, konnte nicht ermittelt werden. Weitere Kinder waren Mary, Frances M., Robert Pinkney jun. und David Albert Rawley. 33 George Edward (George) Miller war 1903 gestorben. Frances (Fanney oder Fannie) Miller und vermutlich William, Cora und Ida M. Miller lebten in Sebastian County, Arkansas. 34 John Otto und Frederick Frank Fallenstein stammten aus der Ehe von Frank Theodore (Frank) Fallenstein mit Elisa Flem(m)ing. 35 Marie Margaret (Maggie) Fallenstein. Sie schilderte 1976 ihre Eindrücke von Max und Marianne Webers Besuch (vgl. Keeter, Larry G., Max Weber‘s Visit to North Carolina, in: The Journal of the History of Sociology, Jg. 3, Heft 2, 1981, S. 108–114, hier insbes. S. 111). 36 Frank Theodore (Frank) Fallenstein war bereits in jungen Jahren zu Francis Miller nach Amerika geschickt worden. Seine ärmlichen Lebensumstände (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 27. Okt., [am 1. oder 2.] sowie am 2. Nov. 1904, unten, S. 362 f.) waren Thema der Familienkorrespondenz (vgl. Roth, Familiengeschichte, insbes. S. 366– 368). 37 Ellen Tickle, mit der Frank Theodore (Frank) Fallenstein seit 1892 in zweiter Ehe verheiratet war. 38 Es handelt sich um die Zion Methodist Church, vgl. Cook, Max Weber and the Fallensteins (wie oben, S. 339, Anm. 16). 39 Der Name konnte nicht ermittelt werden.
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ner Baptistentaufe. 8 Leute: 3 Frauen, mehrere Halberwachseneu, 2 Männer wurden in der freien Natur in dem eisigen Wasser des Gebirgsbachs untergetaucht – die einzig gültige Form der Taufe nach strenger Baptistenlehre.40 Der Prediger steht in schwarzem Anzug bis an die Hüften im Wasser, nach einander steigen die Täuflinge in vollem „Dress“ in den Bach, reichen ihm die Hand und – nachdem die verschiedenen Gelübde gesprochen sind, lehnen sie sich, in den Knien einknickend, in seinem Arm hintenüber bis das Gesicht unter Wasser ist, kommen prustend heraus, steigen ans Landv, werden congratulated und fahren pladdernaß entweder nach Haus oder ziehen sich, wenn es weit ist, in einer Holzbude um. Sie praktizieren Das auch mitten im Winter, hacken das Eis dazu auf – „faith“ schütze sie vor Erkältung meinte James –; Jeff[,] der die Sache für „Unsinn“ hält, erzählte [,] daß er Einen41 gefragt habe: „didn’tw you feel pretty cold, Bem?“ – Antwort: [„] I thought of a pretty hot place,x (= Hölle natürlich) Sir, and so I didn’ty care for the cool water.“ Betty ist streng kirchlich – „almost as fanatic as her mother42 was“, meinte Jeff, den – wie die |:Anderen:| [–] die fürchterliche Härte der Mutter – ihr Gesicht sieht aus wie das eines Priesters auf dem Bild – aus allem Verband mit der Kirche getrieben hat. – Die Kirchlichkeit ist im Rückgang, d.h. die alten methodistischen revivals und class meetings (wöchentliche Beichte |:Aller Einzelnen:| im Kreise der Nachbarn), sind, wie der junge Prediger zugab, verfallen, – die Predigt war gut, rein praktisch, mit starker Erregung vorgetragen, wer sich „erweckt“ fühlte, kniete dann, vortretend an den Altar, ein alter Bauer betete laut und leidenschaftlich für Alle, – aber der unsäglich schauderhafte Gesang der schrillen Stimmen brachte Einenz imu Kinder > Halberwachsene v 〈und〉 w O: did’nt x 〈[??]〉 y O: did’nt z O: Einem 40 Die Baptisten, eine im 17. Jahrhundert in Holland entstandene, vor allem in England und Nordamerika verbreitete, freikirchliche Gemeindebewegung von Calvinisten, praktizieren statt der Kindertaufe die Erwachsenentaufe durch Untertauchen. Die von Max Weber beobachtete und in: Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, Sp. 560 f. (MWG I/9, S. 4 42), sowie in: Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 209 f. (MWG I/18), erwähnte Zeremonie der Mount Carmel Baptist Church fand nach den Recherchen von Cook, Max Weber and the Fallensteins (wie oben, S. 339, Anm. 16), sowie Keeter, Weber’s Visit to North Carolina (wie oben, S. 342, Anm. 35), hier S. 112, an einem Bach oder Teich in der Nähe von Emil James (Jim) Millers Haus statt. 41 Nach Annie Ella Miller handelte es sich um Bill (Bem) Phillips, dessen Vater das Grundstück gehörte, auf dem die Taufe stattfand (vgl. Keeter, Weber’s Visit to North Carolina (wie oben, S. 342, Anm. 35), hier S. 112). 42 Mary Ann Miller.
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mer in die Nüchternheit der Scheune, in der man sich befand, zurück. Natürlich fehlte jeder Talar, der Pfarrer – er darfa, dem Missionscharakter der Methodistenkirche entsprechend, wie alle Methodistenprediger nur für höchstens 4 Jahre in demselben „circuit“ bleiben, der 8 Kirchen umfaßt, die er abwechselnd besucht – sprach im Jacket und ganz wie ein politischer Redner, auf dem „Altar“ (Tisch) lag sein Filzhut. Poësie war in der Einsamkeit des bunten Waldes umher und nachher bei jener Taufe, ebenso in dem Ernst der alten Bauern, von westfälisch-holsteinischem Typus. Auch die alte soziale Funktion dieser Sekten ist abgeschwächt. Zwar wird ein jeder, auch der Pfarrer, als „brother“ X vorgestellt,b aber James gehört einem „Orden“ an, 3) in den man auf Vorschlag von 5 Mitgliedern cooptiert und aus dem man bei schlechtem Wandel ausgestoßen wird: dieser ist Kranken- [,] Sterbe|:und:| Wittwenkasse und verpflichtet die Mitglieder zur |:gegenseitigen:| Hülfe im Falle unverschuldeter wirtschaftlicher Noth durch Creditgeben – bei Strafe der Ausstoßung im Falle unmotivierter Weigerung. Das war einst die wichtigste weltliche Funktion (und der mächtigste Hebel) der amerikanischen Sekten. – c43 Das Ceremoniell des überreichlichen und sehr guten, aber ganz einförmigen Essens: gekochtes Rindfleisch, Schweine-Haché, Obstconserven, „hot rolls“ (Maiskuchen, glühend heiß gebacken), eingekochtes Obst, Kaffee und Milch drei Mal täglich – war überall dasselbe. Eines der Backfische wedelte mit einem gewaltigen Fliegenwedel um Einen herum, James bzw [.] Jeff packten die Teller brechend voll, die Frauen standen und schenkten Caffee oder Milch ein, reichten das Obst etc. – wenn dann die Alten gegessen hatten, kam die zweite Serie, zuweilen noch eine Dritte (die Kinder) an den Tisch, der Neger allein zuletzt, (er lebt in einer Bude mit etwas Land, was beides er von James erhält),44 bei 3) Darauf beruht zum guten Teil die Creditwürdigkeit, Jeder trägt daher im Knopfloch die „badge“ seines Ordens. a ist > darf b 〈aber und〉 c 〈Sonntag〉 43 Vgl. Max Webers Überlegung zur sozialen Bedeutung der Zugehörigkeit zu Sekten und Clubs in: Weber, „Kirchen“ und „Sekten“, MWG I/9, S. 4 39 ff., bzw. in: Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 209ff. (MWG I/18). 44 Ervin Johnson war ein ehemaliger Sklave, vgl. Keeter, Larry G., A Note on Max Weber’s Visit to North Carolina. Responses to Research, in: Subject File „Max Weber in North Car olina”, Edward A. Tiryakian Papers, Historical Collections and Labor Archives, Pennsylvania State University.
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James bei Beginn ein kurzes Tischgebet, bei Jeff, dessen Kinder, außer einer Tochter,45 zu keiner Kirche gehören, nichts dergleichen. Nachher sitzt man um den Kamin, – draußen sitzen gilt nicht als behaglich – und alles kaut Tabak, Jeff spie wohlgezielte Ströme brauner Sauce zwischen uns über die Beine derd Zwischensitzenden in das Feuer. Wir waren ganz vergnüglich, nur Jeff, der eine tiefe Abneigung gegen das „Farming“ hat, blieb meist in gedrückter Stimmung. Davon wird wohl Marianne erzählen.46 – Welch ein Schicksal dieser Familie, d.h. spezielle Deines Bruders.47 Nachdem er vom Schiff entlaufen war, focht er zuerst in Florida und Georgia gegen die Seminolen-Indianer.48 Dann wanderte er nordwärts, so weit sein Geld reichte, um New York zu erreichen, und suchte sich durch Cabinet-making (Tischlerei) durchzuhelfen. fHätte erf den Norden erreicht, wäre sein Glück gemacht gewesen, tüchtig wie er war. Aber einige „Moravians“ (mährische Herrenhuter) 49 wiesen ihm den Weg ins Gebirge in Virginia, da blieb er hängen und heirathete, zu seinem Unglück. Zwar hatte die Frau50 wohl |:an sich:| recht, als sie ihn veranlaßte lieber Farmer zu werden, denn im Gebirge machte jeder Farmer sich seine Sachen selbst – aber er verstand kaum Englisch, die Leute hielten ihn für einen „fool“, ihm und der Frau war dies blutarme, aber immer lustige, fiedelnde und tanzende Gebirgsvolk (die Erzählung davon erinnerte an G[ottfried] Keller’s Romeo u [.] Julia) 51 tief zuwider, er wechselte zwei Mal den Ort und kam nach dem Krieg52 nach North Carolina, wieder hoch oben im eisd 〈daz〉 e 〈unse〉 f–f Wäre e[r] > Hätte er 45 Es konnte nicht ermittelt werden, um welche Tochter von Jefferson Frederick (Jeff) Miller (vgl. oben, S. 341, Anm. 26, 27 und 29) es sich handelt. 46 Vgl. unten, S. 347–350. 47 Friedrich (Fritz) Fallenstein war als Jugendlicher von zuhause ausgerissen und vermutlich 1837 oder 1838 in die USA emigriert. Um seine Spuren zu verwischen, nannte er sich dort Francis Miller. 48 Im sogenannten 2. Seminolenkrieg (1835–1842) versuchte sich der Stamm der Seminolen der Vertreibung aus Florida zu widersetzen. 49 Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine auf die böhmische Reformation zurückgehende und später durch den Pietismus geprägte überkonfessionelle Glaubensbewegung, deren Anhänger 1722 auf dem Gut des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf Aufnahme fanden. Ihre Ansiedlung nannten die Brüder Herrnhut, weil sie sich dort in der „Obhut des Herren“ sahen. In den Vereinigten Staaten als „moravians“ bekannt, siedelten sich Herrnhuter insbesondere in Pennsylvania (Bethlehem) und North Carolina (Winston Salem) an. 50 Mary Ann Stoneman und Francis Miller hatten 1843 in Hillsville, Virginia geheiratet. 51 Keller, Gottfried, Romeo und Julia auf dem Dorfe. Erzählung. – Stuttgart: Göschen 1876. 52 Der amerikanische Bürgerkrieg endete 1865.
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kalten Gebirge. Vom „Farming“ verstand er nicht das Geringste, mußte einen Großknecht halten, verdiente etwas durch Tischlern (bis an sein Lebensende), aller „Handel“ war ihm zuwider, noch die Kinder warnte er vor dem Versuch, durch Viehverkauf und Viehhandelg Geld zu machen. Der älteste Sohn Jefferson brachte ihn schließlich dahin, wenigstens in das Hügelland zu ziehen, Vater und Sohn rodeten das Land, welches die Brüder jetzt noch besitzen. Aber ihn interessierte nur der „Garten“ (fehlt jetzt gänzlich) und bis auf die paarh hundert Dollar für die zwei Reisen nach Europa53 verdiente er nichts oder doch fast nichts. In seinem ganzen Leben hatte er nur 3 Freunde, alles tüchtige Farmer – der Sohn Eines von ihnen wurde mir gezeigt,54 sonst lebte er einsam. Dabei war er je länger je mehri angesehen, captainj in der conföderierten Armee – Jeff schilderte das Fürchterliche der Gefangenschaft nach diesem „foolish war“, den sie, selbst Abolitionisten, aus Loyalität gegen ihren Staat mitmachten55 – dann „county commissioner“ (Mitglied der aus 3 Mitgliedern bestehenden county-Behörde, die, wie Alles, gewählt wird).k– Wenn alle diese Fallensteins um den Tisch sitzen – l Jefferson sieht dem Onkel ähnlich, ist 58 Jahr alt, James lacht wie Julius Jolly, 56 Betty sieht Lieserle57 ähnlich, Frank gleicht Poppy, 58 – alle an ihren Bergen hängend: deshalb und weil es so einsam sei, gehen sie nicht nach dem Westen, alle einig in der Abneigung gegen die Yankee’s, alle richtige Bauern und mit Ausnahme von James und einigen der Kinder dazu bestimmt nie etwas Anderes und nie reich oder auch nur wohlhabend zu sein, dann wird Einem doch ganz eigen zu Muthe. – Doch mag Marianne von den Personen erzählen.59 –
g O: Viehandel h O: par i 〈ho〉 j O: capitain k O: wird ; schließende Klammer und Punkt ergänzt. l 〈James〉 53 Francis Miller hatte 1870 und 1895 – dieses Mal begleitet von seinem Sohn William Francis (Bill) – seine Verwandten besucht. 54 Die Namen konnten nicht ermittelt werden. 55 1861 hatten sich elf Südstaaten, darunter Virginia und North Carolina, die gegen die Abschaffung (abolition) der Sklaverei waren, von der Union abgespalten und im Sezessionskrieg vergeblich um die staatliche Eigenständigkeit als „Confederate States of America“ gekämpft. 56 Es handelt sich um Julius Jolly, den ältesten Sohn von Helene Webers Halbschwester Elisabeth Fallenstein, verh. Jolly. 57 Julius Jollys Schwester Elisabeth Heil. 58 Kosenamen für Laura v. Klock, geb. Fallenstein. 59 Vgl. unten, S. 347–350.
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Sonntag Abend fuhren Jeff und Jim uns nach Mount Airy in das „Hotel“, Montag früh ging unser Zug, Abends waren wir in Richmond, nahmen von derm einstigen Hauptstadt des Südens Dienstag einen kurzen Eindruck mit und kamenn gegen Abend nach Washington.60 Hier bleiben wir 5–6 Tage, dann geht es nach Baltimore, Philadelphia, Boston, zuletzt New York. – The Raleigh Washington, D.C. 21. Okt. 1904 Ihr Lieben!
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Wir waren beide versessen darauf, Euch über die Vetternreise nach Mount Airy zu berichten und wollten uns den Stoff teilen, nun hat aber mein schreibfertiger Herr u. Gebieter Euch schon ein so detailliertes Culturbild gezeichnet, daß mir nur wenige Striche hineinzuzeichnen übrig bleiben u. ich eigentlich mehr zu meinem eigenen Vergnügen das Papier bequackeleo.61 Der Einblick in das für uns so absolut fremdartige Leben der Mountairy-Leutchen gehört zu unsren interessantesten Erlebnissen, so lange wir dort waren, fühlte ich mich allerdings ziemlich unbehaglich – ich war noch nicht genügend auf den Verzicht aller Arten von „Culturgütern“ – wie z.B. Closetpapier irgendwelcher Sorte, brauchbarer Handtücher – die unsrigen waren funkelnagelneu u. noch apprettur-steif – genügend Waschwasser, zwei Tellern zum Essen etc etc eingestellt, hatte außerdem u. vor allem mit Asthmap zu kämpfen – aber ich möchte die Erinnerung an dieses Erlebniß u. an die guten u. merkwürdigen Menschen doch auf keinen Fall missen u. würde das nächste Mal sicher ganz auf der Höhe der Situation sein. Das schlimmste war der kolossaleq Temperaturwechsel, wir hatten noch die tropischen New-Orleanstage in den Knochen u. dann kam die 1½ stündige Wagenfahrt abends um 9 Uhr bei eisiger Kälte im offenen Wagen ohne irgend eine wärmende Hülle, brrr! – ich fühlte, wie mir die Erkältung in alle Poren kroch. Und der Weg! Ihr könnt Euch wirklich, auch wenn Ihr viel Phantasie habt, keine Vorstellung machen, wie Einem die Eingeweide durcheinander geschüttelt u. man von einer Seite auf die andre geworfen wird, sich ängstlich an den Wagen klammernd, gewärtigr, daß er entweder umwirft oder auseinander kracht. Dann Staub – Staub – wie Mehl, man sah ihns am Abend nicht, aber man schmeckte ihn, u. morgens war alles bepudert. (Ich muß hier noch einschieben, daß das Reisen hier überhaupt das schmutzigste Geschäft ist, daß man sich für einen reputierlichen m 〈einzigen〉 n 〈Nachmittags〉 o Unsichere Lesung; alternativ auch: bequeckele p O: Astmah q O: kollossale r Unsichere Lesung. s O: in 60 Max und Marianne Weber waren am 17. Oktober 1904 von Mount Airy abgereist und – nach einer Übernachtung in Richmond – am 18. Oktober in Washington, D.C. eingetroffen. 61 Umgangssprachlich für: bereden.
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Menschen vorstellen kann – die weiche Kohle [,] 62 die fortwährend einen Aschenregen auf die Eisenbahnwagen streut [,] u. der Staub verwandeln Einen schon nach einer Viertelstunde – trotz der Doppelfenster [–] in einen Dreckspatzen, u. die Kleider werden unglaublich mitgenommen) [.] Wie die Leutchen in Mount Airy leben, hat Max erzählt, mir bleibt nur wenig über den Eindruck ihrer Persöhnlichkeiten nachzutragen. Sie sind u. leben in der That vollständig wie Bauern, und zwar wie solche, die sich trotz ihres großen Areals fast gar keine fremde Hilfe leisten können. Deshalb ist es kein Wunder, daß für die häusliche u. persönliche Sauberkeit keine Zeit bleibt, ich habe allerdings erst jetzt ganz erlebt, daß Reinlichkeit ein ungeheurer Luxus, ein Culturgut t kat‘ exochent 63 (aus dem ff) ist. In den Küchen und Schlafstuben u. um das Haus herum sah es in dieser Beziehung wunderlich genug aus, und als wir „Jeff“ (Jefferson) am Morgen, wohl unvermutet, besuchten, hatte er nichts wie eine Hose u. ein Hemd an, das so aussah als wäre es schon mal mit dem Komposthaufen in Berührung gekommen. In seltsamemu Kontrast dazu stand dann die Sonntagstoilette der jüngeren Generation, die Mädels waren alle ganz städtisch mit hellen Spitzen-besetzten Blusen oder gar weißen frisurenreichenv64 Kleidern angethan, hatten die fabelhaftesten Haarfrisuren, u. die Schönheit der Familie, die schwarzäugige Tochter von „Jeff“,65 hatte spitze Lackschühchen an, wie ich sie nur auf meinen ersten Bällen besessen. Bei beiden Häusern fehlt jede Spur von Garten oder Blumenschmuck, jedes steht schmucklos auf einer kahlen gelbgebrannten Anhöhe – „kein Baum verstreuet Schatten“ [.] 66 Die Schweinchen, Hündchen, Kälbchen, Hühnchen u. Kinder laufen im blanken Sonnenschein u. Dreck um die Behausungen der Menschlein herum – u. diese sitzen, wenn sie sich’s wohl sein lassen wollen [,] eben nicht draußen in der freien Natur, sondern in der frostigen Stube auf ihren rockingchairs, oder, wenn kein Besuch da ist, in der Küche am rauchigen Kaminfeuer. Was uns so auffiel [,] war, daß nirgends draußen für ein grünes schattiges Plätzchen gesorgt ist – ich denke, alle unsre deutschen Bauern haben das. Die Menschen sind warmherzig, unbefangen zutunlich u. gut – beweglicher u. [,] wenn ich so sagen soll, gesellschaftlich gewandter u. graziöser – trotz ihres blödsinnigen Tabakkauens u. Spuckensw – als unsre deutschen Bauern. Den städtischen Schliff würden sie sich schnell aneignen u. ihre unbefangene Herzlichkeit machte den Verkehr leicht. Alle Frauen der Familie – Jim’s Frau,67 Jeffs Frau,68 Betty69
t–t O: cat‘ exochen u O: seltsamen v O: Frisurenreichen w O: Spukens 62 Eine Art von Braunkohle. 63 Griechisch (κατ‘ ἐξοχήν) für: vorzugsweise. 64 Hier frz. „frisure“ für: (Stoff-)Kräuselung. 65 Es konnte nicht ermittelt werden, welche von Jefferson Frederick (Jeff) Millers Töchtern gemeint ist. 66 Zitat aus Ludwig Uhlands Gedicht „Des Sängers Fluch“. 67 Margaret Ann (Maggie) Miller. 68 Amanda Miller. 69 Elizabeth Nancy (Betty) Rawley.
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– die Töchter,70 – empfingen mich mit einem Kuß – am meisten Bäuerin ist Jims Frau, groß, starkknochig u. einfach, auch seine Kinder haben sehr schlichte Gesichter. Jim selbst ist von zierlichem Kaliber, frisch u. lebhaft, sein helles fröhliches Lachen erinnert an Philipp Jolly.71 Jeff, ein großer breiter Mann mit fleischigem weißbärtigem Gesicht, sieht im sauberen Rocke nobel aus, er ist klug u. sicher geschickt zu Allem, aber ein Schleier von Melancholie liegt über ihm – man hat das Gefühl, einen Menschen [,] der seinen Beruf, die Entwicklung seiner Fähigkeiten u. Kräfte, verfehlt hat, vor sich zu haben – er mag nicht farmer sein, „hätte ich ein Geschäft oder dgl. [,] so könnte ich von Morgen bis Abend schaffen u. brauchte nichts anderes, beim Pflügen werde ich nach einigen Stunden müde“! So thut er offenbar nur grade das, was nötig ist, um seine Familie zu erhalten, an den Seinen hängt er mit allen Fasern, er ist stolz auf seine Kinder u. möchte ihnen jeden Dollar opfern – aber sonst bietet ihm seine Existenz wenig Freude und Befriedigung – dazu plagt ihn Rheumatismus, seine Finger sind steif u. zittrig, hätte er Geld, so würde er sich in Deutschland in einem Schlammbade auskurieren. Jeff machte mich traurig, für ihn bedeutete diese Existenzform: Misere – er war für eine intellectuellere, verfeinertere Umgebung geboren. Dabei doch ohne Energie, sie sich zu erzwingen, vielleicht auch gelähmt durch die Sorge für das tägliche Futter der Seinigen. Er hatte 10 Kinder u. 7 leben.72 Seine Frau ist außerordentlich fein u. anziehend, brünett mit großen schwarzen Augen, natürlich jetzt alt u. verbraucht, von ihr haben seine Kinder offenbar den absolut südlichen brünetten Typus. Das Triebrad des inneren Lebens u. aller Handlungen ist bei diesen Menschen überhaupt das Familiengefühl, die Liebe u. Sorge für ihre Kinder und den ganzen Familienklüngel. Namentlich in den Herzen und Köpfen der Frauen regt sich sonst nicht viel, wie sollte es auch? Ihre Schulbildung ist denkbarst elementar, – kein Schulzwang – und die sogenannte Freischule läuft nur 4 Monate im Jahre. Man merkt’s auch. Die geistige Regsamkeit der Frauen ist unendlich viel geringer als die ihrer Männer u. deshalb ist es schwer mit ihnen auf einen grünen Zweig zu kommen. Die Männer erleben u. erfahren vom Getriebe der Welt durch ihre geschäftlichen Beziehungen u. waren trotz des sehr unregelmäßigen Zeitungslesens ganz gut orientiert über das [,] was vorging. Mir fiel natürlich meist das Zusammensein mit den Frauen zu, während Max draußen mit den Männern herumspazierte u. sie durch seine schönen Geschichten ergötzte [.] – Man nahm einfach an, daß ich bei meinen eigenen Geschlechtsgenossinen am besten zu meinem Rechte käme.x – Aber wie seufzte ich nach den Männern!! Und wie spitzte ich die Ohren [,] um von ihren Gesprächen etwas zu ergattern, und wie sehr habe ich einmal wieder das Loos meines Geschlechts, das ihren Gesichts- u. Interessenkreis so klein wie ihren Thätigkeitskreis bleiben läßt, bedauert! x O: käme, 70 Zu den Töchtern von Emil James (Jim) Millers vgl. oben, S. 341, Anm. 24; zu jenen von Jefferson Frederick (Jeff) Miller vgl. oben, S. 341, Anm. 26, 27 und 29. 71 Ein Sohn von Helene Webers Halbschwester Elisabeth (verh. Jolly). 72 Zu den Kindern von Jefferson Frederick (Jeff) und Amanda Miller vgl. oben, S. 341, insbes. Anm. 26–30.
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Mit einem Worte: die Frauen waren sehr lieb u. gut, aber langweilig, mit den Männern war dagegen immer was anzufangen u. ich mußte eben bei den Frauen bleiben u. konnte nur ab u. an mal einer Lachsalve nachlaufen [,] die Max auf der Männerseite hervorzauberte. Natürlich gewann er schnell ihre Herzen mit seinem schönen nigger-Englisch u. seinen Geschichten. Sie fanden ihn einen „mighty jolly fellow“ [.] – Nun noch einige Worte über Betty, Onkel Fritz’s einziger u. sehr geliebter Tochter. Wir trafen sie am Sonntag vor dem Kirchlein, sie trug eine große Kate-Greena way-Haube73 u. wie bei uns die Bäuerinnen ein Taschentuch u. ein Blümchen in der Hand. Sonst aber ist sie gar kein bäuerlicher Typus, sehr zierlich u. zart, mit Lolo H[ausrath]s74 braunem welligen Haar u. großen grauen Augen, sehr krank, schwächlich u. nervös aussehend, hustend, und auch sie hat 7 Kinder,75 dazu einen schlechten Mann,76 der ihr Geld verspielen würde, wenn Bill es nicht behüten würde. Sie war sehr zuthunlich, interessierte sich für alle ihre deutschen Verwandten, war aber wenig orientiert, meinte ich sei ihre Cousine. Von dir Mama u. von Tante Nixel77 haben sie noch die klarste Vorstellung u. Bill hat ihnen offenbar sehr viel u. sehr enthusiastisch von Euch erzählt. Nun genug. In Liebe grüßt Euch Alle Eure Janne
73 Elizabeth Nancy (Betty) Rawley, die Tochter von Francis Miller, trug eine Kopfbedekkung im Stil der englischen Kinderbuchautorin und -illustratorin Kate Greenaway (1846– 1901). 74 Max Webers Cousine Laura (Lolo) Hausrath. Ihre Mutter Henriette war wie Helene Weber eine Halbschwester von Francis Miller. 75 Vgl. oben, S. 342, Anm. 32. 76 Robert Pinkney Rawley. 77 Emilie (Nixel) Benecke hatte mit den amerikanischen Verwandten korrespondiert (vgl. die Editorische Vorbemerkung, oben, S. 335).
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Jacob H. Hollander 27. Oktober 1904; BK Philadelphia Brief; eigenhändig Milton S. Eisenhower Library, Johns Hopkins University, Hollander Papers, Special Collections Ms. 59, Series 1, Box 11 Weber hatte Jacob H. Hollander auf dem Kongreß in St. Louis kennengelernt. Dieser hatte ihm Informationen und Empfehlungsschreiben für seine Reise nach Oklahoma gegeben und ihn zu einem Besuch der Johns Hopkins University in Baltimore eingeladen. Vgl. Vorbemerkung zum Brief an Georg Jellinek vom 24. September 1904, oben, S. 301.
Philadelphia 27/10 1904 Dear professor Hollander –
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Allow me to express, again, how much I enjoyed my visit in your seminary,1 the acquaintance I made of your scholars and of your assistant fellow-teacher.2 I was deeply impressed by the intensity of the work done in your department and, before all,a learned with pleasure, that – at least in your University – the ambition to get the largest number of students, so dangerous |:even now:| to almost all our German Universities – is not allowed to lower the high standard of scientific investigation. In Germany we suffer much more than you are able to imagine from that illness resulting out of our system of paying the teachers by taxes paid by the students for each lecture.3 – When I come again after some years – as I hope to do – I thinkb my English will be improved so that I will be more able to express myself. – I talked with you about the questions of the Indian Territory4 and asked you, during our conversation, if you would be inclined to give us a 〈saw〉 b 〈to〉 1 Weber besuchte die Johns Hopkins University am 25. Oktober 1904. Dort nahm er an zwei Veranstaltungen teil, die an diesem Tag stattfanden: Um 9 Uhr „Economic Theories since Adam Smith“ von Jacob H. Hollander, um 11 Uhr das „Economic Seminary“ von Hollander und seinem Kollegen George E. Barnett. Vgl. dazu auch den Brief an Helene Weber und Familie vom 27. Okt., [1. oder 2. Nov.] sowie 2. Nov. 1904, unten, S. 364. 2 Es handelt sich um George E. Barnett. Vgl. The Johns Hopkins University Circular. Enumeration of Classes. Scientific Papers, etc., New Series, No. 172, 1904, S. 21. 3 Gemeint sind die Kolleggelder, die die Studenten pro belegter Semesterwochenstunde zu bezahlen hatten. 4 Als 1854 mit dem Kansas-Nebraska-Act diese beiden Bundesstaaten gegründet wur-
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for the „Archiv für Sozialwissenschaft & Sozialpolitik“ an essay about the development of these questions during the time since the treaties giving existence to that Territory.5 Do you think to be able to fulfil my request and – perhaps – to inform me about the time, at which you will probably be able to do so? I should be even more happy, if I could get from you for our periodical an essay about the present development of economic investigation in America. I agreed so much with your statement – at St Louis – that the rapid progress of the scientific work done in your country is almost unknown in Germany, even by many specialists in economic science.6 I am quite sure thatc critics of single works of American writers would not change this situation, if not our public, before reading such critics as we hope to give in the future in our periodical, has get some broader information about the evolution of American economic investigation as a whole, the different methods used, the „schools“ and their relations to European „schools“ etc. – I don’t know where to apply if not to you and should indeed be very happy if you could give us an essay of this character. I beg you to take this request in consideration and hope to get from you a promise. I am informed that you have recently pub lished some articles aboutd objects like this.7 – Do you think I should be able to get some recent reports of the Johns Hopkins University and, if possible, the rules for taking the Ph.D.-degree, by simply applying to the Secretary of the President? or are theye c 〈the〉 d 〈the〉 e O: the den, blieb das Gebiet des späteren Oklahoma als „Unorganized Territory“ übrig, für das sich der Name „Indian Territory“ schnell einbürgerte: Zahlreiche Stämme der indigenen Bevölkerung der USA lebten hier in einer eingeschränkten Selbstverwaltung. Zwischen 1902 und 1905 gab es Bestrebungen, den Osten Oklahomas als eigenständigen Bundesstaat zu konstituieren. 1907 wurde schließlich ganz Oklahoma in die Union aufgenommen, womit auch die indigenen Stämme ihre Residualrechte verloren. 5 Im AfSSp ist keine Arbeit von Hollander nachgewiesen. Vgl. auch Webers Brief an Hollander vom 3. Nov. 1904, unten, S. 370 f. Offenbar hatte Hollander zunächst seine Mitarbeit zugesagt. 6 Auf dem Kongreß in St. Louis 1904 hielt Hollander am 22. September einen Vortrag mit dem Titel „The Scope and Method of Political Economy“, in: Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis, 1904, hg. von Howard J. Rogers, vol. 7. – Boston and New York: Houghton, Mifflin and Company 1906, S. 57–67. In dem Vortrag sprach er nicht über diese Problematik; höchstwahrscheinlich bezieht sich Weber auf eine persönliche Begegnung im Rahmen des Kongresses. 7 Vgl. z.B. Hollander, Jacob H., Economic Investigation in the United States, in: The Yale Review, Vol. 12, May 1903–February 1904, S. 25–31; ders., Political Economy and the Labor Question, in: North American Review, Vol. 176, 1903, S. 563–570.
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sold by the booksellers?8 I should be much obliged for any information about that and am sorry having forgotten to ask you in Baltimore. Yours very respectfully Max Weber (Young’s Hotel, Boston or: Holland House, New York) P.S. For your information about the formalities of our periodical: we pay for essays 80 Mark (= ca. 19$) for each 16 pages, Maximum 240 Mks. for the single essay
8 Es ist nicht ganz klar, welche „reports“ Weber hier gemeint haben könnte. Für seine Zwecke dürfte das „Johns Hopkins University Circular“ hilfreich gewesen sein, das immer zwischen Oktober und Juli erschien. Es verzeichnete die Vorlesungen und die Studenten der einzelnen Seminare, publizierte Berichte aus den Fakultäten usw., war aber auch ein fachliches Publikationsorgan für die Wissenschaftler der Universität. Hier erschien z.B. 1905 ein von Jacob H. Hollander und George E. Barnett herausgegebenes Heft, das über die Aktivitäten des ökonomischen Seminars informierte: The Economic Seminary, 1904/05, in: The Johns Hopkins University Circular. Enumeration of Classes. Scientific Papers, etc., New Series, No. 179, 1905.
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Hugo Münsterberg 27. Oktober 1904; Philadelphia Brief; eigenhändig Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2229
Philadelphia 27/X 1904 Lieber College! Sie wünschten s.Z., daß ich Ihnen mitteilen sollte, wann wir in Boston eintreffen würden. Wir werden morgen (Freitag) Abend von hier aus dort ankommen und 5–6 Tage in Young’s Hotel bleiben.1 Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir ein paara Zeilen dorthin schicken würden, die uns wissen lassen, ob wir Sie und Ihre Frau Gemahlin2 Sonntag Nachmittag für eine Stunde besuchen dürfen.3 Ich bitte Sie dringend, uns im Übrigen gänzlich unsrem Schicksal zu überlassen. Ich werde Ripley und Brooks zu treffen versuchen4 und wenn Sie mir Sonntag noch Jemand nennen, den ich nach Ihrer Meinung durch einen Besuch nicht zu sehr derangiere, so werde ich von Ihrem Rath dankbar Gebrauch machen. Um die „Buildings“ – ich habe nun wohl Hunderte zu schlucken gehabt – von Harvard zu sehen [,] 5 wende ich mich an den Sekretär oder an wen sonst Sie mir rathen werden mich zu wenden. Sie selbst wünschen wir auch nicht 5 Minuten als „Bärenführer“6 in Anspruch zu nehmen, hoffenb vielmehr die Stunde, die Sie etwa erübrigen können, nützlicher im Austausch von Gedanken über einige der in Ihrem Werk7 berührten Punkte zu verbringen. –
a O: par b 〈die〉 1 Max und Marianne Weber kamen am Freitag, den 28. Oktober in Boston an und reisten am 4. November weiter nach New York. 2 Selma Münsterberg, geb. Oppler. 3 Max und Marianne Weber besuchten das Ehepaar Münsterberg zweimal: Am Sonntag, den 30. Oktober und am 2. oder 3. November 1904. 4 Weber traf John Brooks und William Ripley am 2. oder 3. November 1904. Ripley hatte er vermutlich auch schon am 30. Oktober getroffen. Vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 148 f. 5 Am 2. und 3. November 1904 arbeitete Weber in der Bibliothek der Harvard University. 6 Bezeichnung für einen Fremdenführer. 7 Münsterberg, Hugo, Die Amerikaner, Band 1: Das politische und wirtschaftliche Leben. Band 2: Das geistige und soziale Leben. – Berlin: Mittler 1904.
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Wir haben eine Verwandte in Boston8 zu besuchen und gehen dann nach New York, von dort nach ca 1½ Wochen, während deren ich Yale und Brown Coll[ege] zu besuchen hoffe,9 nach Paris. Mit besten Empfehlungen seitens meiner Frau und an die Ihrige und collegialen Gruß Ihr aufrichtig ergebener Max Weber
8 Zu Laura von Klock, geb. Fallenstein vgl. Roth, Familiengeschichte, S. 363–370. 9 Weber besuchte die Brown University am 4. November 1904 und deren Bibliothek. Yale besuchte er nicht.
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Helene Weber und Familie 27. Oktober, [am 1. oder 2. November] sowie am 2. November [1904]; BK Philadelphia und Boston Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 75–85 Der folgende Brief setzt sich aus drei Teilen zusammen, wobei die Blattzählung im Archiv nicht der chronologischen Abfolge entspricht. Der erste Teil umfaßt die von Marianne Weber beidseitig beschriebenen Blätter 75–78. Sie benutzte dafür das Briefpapier des „Aldine Hotel“ in Philadelphia und datierte ihn auf den 27. Oktober. Max Weber verwendete für seinen Teil, der undatiert ist, das Briefpapier des „Young’s Hotel“ in Bos ton (Bl. 81–85). Der dritte Teil ist von Marianne Weber ebenfalls auf dem Papier des „Young’s Hotel“ in Boston verfaßt und unter dem 2. November datiert (Bl. 79–80). – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Das Jahr des Gesamtbriefes und das Datum von Max Webers Briefteil sind aus dem Briefinhalt erschlossen. Max und Marianne Weber waren am 28. Oktober von Philadelphia nach Boston weitergereist. Am 29. Oktober sahen sie dort das Football-Match zwischen den Mannschaften von Harvard und der University of Pennsylvania „vom Wagen aus“ (unten, S. 366), und am 30. Oktober wollten sie Hugo Münsterberg und seine Frau Selma in Cambridge, Mass. treffen (vgl. den Brief an Hugo Münsterberg vom 27. Oktober 1904, oben, S. 354 f.). Vermutlich besuchten sie anschließend für „zwei Tage“ (also am 31. Oktober und 1. November 1904) ihre Verwandte Laura v. Klock, die mit ihrer Familie im 7 Meilen nördlich von Boston gelegenen Wyoming lebte. Von diesem Besuch berichtete Marianne Weber mit Datum vom 2. November (vgl. unten, S. 367– 369). Sie bezog sich dabei auf Max Webers Schilderung der Lebensumstände dieser Verwandten („über die äußere Existenz u. Erlebnisse der Klocks hat Max erzählt“). Max Webers undatierter Briefteil muß demzufolge vor der zweiten, am 2. November verfaßten Passage von Marianne Weber (unten, S. 367–369) abgeschlossen gewesen sein. Als frühestmögliches Abfassungsdatum kommt der 1. November 1904, unmittelbar nach der Rückkehr aus Wyoming, infrage. Zu den im Brief zur Sprache kommenden Familienbeziehungen zu Frank T. Fallenstein, Max Otto von Klock, Laura von Klock, Laura Bunge, Eduard Bunge vgl. die Verwandtschaftstafeln und die Übersicht über die Söhne und Enkel aus der ersten Ehe von Georg Friedrich Fallenstein, unten, S. 709 und 713 ff.
Aldine Hotel Chestnut Street above 19th Philadelphia 27. Okt. 190_ Ihr Lieben! Von Washington wird Max erzählen,1 ich stand dort im Zeichen des „Pnüffels“a (Schnupfens) u. habe deshalb nicht so viel davon gehabt, hier habe ich mich dann, a Unsichere Lesung. 1 Unten, S. 363.
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während Max einen Abstecher zu der Johnsb Hopkinsuniversität nach Baltimore machte [,]2 erst auskuriert u. dann gestern einen Ausflug nach Bryn Mawr [,] einem der besten Frauencollege’s [,]3 sehr genossen. Ich hatte die „Präsidentin“ derselben auf unsrem Berliner Congreß kennen gelernt4 u. bekam so das zu sehen [,] was ich wollte, d.h. nicht nur die sehr poetischen schönen Gebäude – davon haben wir nun schon massenhaft gesehen – sondern ich konnte einer philosophischen u. nationalök[onomischen] Vorlesung beiwohnen u. erhielt dadurch wenigstens einen Schimmer von der englisch-amerikanischen Lehrmethode [,] die von der unsrigen so ganz verschieden ist. Das College ist ja überhaupt ein ganz eigenartiges Gebilde, ein Mittelding zwischen unsrem Gymnasium u. unsrer Universität, mit keinem vergleichbar. 5 Der Bildungsstoff umfaßt etwa die Prima unsrer Gymnasien6 und die ersten 3 Semester an unsren Universitäten, er ist auf 4 Jahre verteilt u. hat den Zweck den Studenten eine gründliche wissenschaftliche Allgemeinbildung zu vermitteln, schließt aber jede Fachbildung aus. Gelehrt werden etwa die Fächer unsrer philosophischen und naturwissenschaftlichen Fakultät, wer aber dann Arzt oder Jurist oder Theologe werden will, muß nach Absolvierung des college’s noch mehrere Jahre die sogenannten professionalc schools (manchmal auch Universitäten genannt) besuchen. Ein großer Teil sowohl der männlichen wie vorallem natürlich der weiblichen Collegestudenten betrachtet das Studium nicht als Durchgangsstufe zum Beruf u. Examensvorbereitungsanstalt, sondern lediglich als Mittel zur wissenschaftlichen Durchbildung, zur Vervollkommnung der Persönlichkeit. So erscheint das college grade hier in Amerika, wo sich ein so ungeheurer Prozentsatz in das Geschäftsleben stürzt [,] als Hort des Idealismus, wo die jungen Leute in relativer Abgeschiedenheit von der Welt u. in naher Beziehung zu ihren Lehrern in der Nähe von allem [,] was Großes u. Gutes gedacht u. ersonnen ist [,] leben, in einer reinen u. geistigen Athmosphäre, die sie hier[,] wo alles raucht u. dampft in der Jagd nach materiellen Gütern u. so ganz von der Erfüllung wirtschaftlicher Aufgaben in Anspruch genommen ist, wohl noch nötiger haben als bei uns. Diese Colleges sind auch ästhetischd das Be-
b O: John c O: professinell d O: esthetisch 2 Max Weber besuchte diese Universität am 25. Oktober 1904. 3 Das 1885 in der Stadt gleichen Namens gegründete Bryn Mawr gehört wie Wellesley (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, unten, S. 382) zu einer seit 1927 als „seven sisters“ bekannten Gruppe von zwischen 1837 und 1889 gegründeten Frauencolleges. Marianne Weber besuchte das College am Mittwoch, 26. Oktober 1904. 4 Martha Carey Thomas war von 1894 bis 1922 „President“ des Frauencolleges Bryn Mawr. Marianne Weber hatte sie auf dem Internationalen Frauenkongreß in Berlin getroffen (vgl. den Brief von Marianne Weber an Helene Weber und Familie vom 27. und [30.] Sept. [1904], oben, S. 307 mit Anm. 16). 5 Vgl. zu dieser Klassifizierung auch Münsterberg, Hugo, Die Amerikaner, Band 2: Das geistige und soziale Leben. – Berlin: Mittler 1904, S. 25, 69 und 266. 6 Die Prima, unterteilt in Unter- und Oberprima, umfaßte die letzten beiden von neun Klassen des Gymnasiums.
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friedigendste [,] was man hier siehte, meist kleine Oasen der Schönheit in der Nähe der großen schmutzigen Städte. Bryn Mawr liegt ganz entzückend in einer der Villenvorstädte – ein malerischer Häuserkomplex in mittelalterlich englischem Styl auf grünemf Rasen, buntberankt u. von alten Bäumen umschattet. Das Schönste seiner Art [,] was wir bis jetzt sahen, war ein für männl[iche] Studenten bestimmtes Quäker-Collegeg,7 das wir heute morgen zusammen besuchten. Der Park mit den herrlichen alten Bäumen schien sich schier endlos auszustrecken, der Rasen war wundervoll gepflegt, – die Gebäude malerisch u. schmuck, man könnte glauben in einem Sommeraufenthaltsort der „oberen Zehntausend“8 zu sein u. sollte meinen [,] die jungen Leute müßten sich sehr glücklich in solcher Umgebung fühlen. Sie haben da ihre großen Tennis[-] u. Cricket-Plätze [,] ihre Turnhallen u. Schwimmbassins, elegante Empfangsräume u. Eßsäle u. dann reizende Privatzimmer u. bezahlen für alles durchschnittlich nicht mehr als unsre Studenten verbrauchenh (ca. 500 Dlrs) [.] Ihre persönliche Freiheit ist nur so weit beschränkt, wie es das nahe Zusammenleben u. das renomée des colleges fordert, ein von den Studenten aus ihrer eignen Mitte gewähltes Komiteei stellt dafür die Regeln auf – nur ihre Arbeit wird einer weit stärkeren Kontrolle unterworfen als bei uns, ein chronisches Bummeln und Schwänzen wie auf unsren Universitäten ist nicht möglich, denn sie müssen am Schluß jedes Semesters in bestimmten Examina Rechenschaft über ihre Studien ablegen. Und der Professor ist mitverantwortlich für den Erfolg. Die Lehrmethode ist deshalb offenbar mehr auf gründliche Eintrichterung eines bestimmten Wissenstoffs als auf intensive Anregung durch die Anschauungen u. Meinungen des Lehrers gerichtet. Der Professor tritt stärker hinter seinem Lehrstoff zurück als bei uns. Wenigstens schien es mir so. Das Lehrverfahren ist in gewisser Weise grade umgekehrt wie bei uns: Der Student muß zuerst ein ihm vorgeschriebenes Pensum lesen [,] dann interpretiert u. diskutiert (soi disant) 9 der Professor mit ihm das Gelesene [,] d.h. er spricht meistens selbst u. entwickelt das Thema, richtet aber zwischendurch Fragen an seine Hörer, u. sucht immer zu kontrollieren [,] ob er auch verstanden wird – auch dürfen die Hörer jederzeit ihm Fragen stellen. So wird in einer Stunde wohl in der Regel weniger Stoff als bei uns geboten, das Gebotene aber nachhaltiger durchgearbeitet. Interessanter, weil mehr die eigenartige u. unmittelbare Schöpfung des Lehrers [,] sind unsre Vorlesungen, bei welcher Art man aber mehr profitiert, weiß ich nicht, – sehr nützlich ist es jedenfalls, daß der Student gezwungen wird sehr viel zu lesen. e Fehlt in O; sieht sinngemäß ergänzt. f O: grünen g O: Quäkerkollege h O: verbrauchen. i O: Komite 7 Es handelt sich um das ca. eine Stunde Fahrtzeit nordwestlich von Philadelphia gelegene Haverford College. Dieses war 1833 gegründet worden, um jungen Quäkern eine an den Werten der Sekte (vgl. unten, S. 359, Anm. 10) orientierte Erziehung zu ermöglichen. Zu Max Webers vorausgegangenem Besuch am Haverford College vgl. seinen Bericht, unten, S. 364 f. 8 Der Begriff geht auf den amerikanischen Journalisten Nathaniel Parker Willis (1806– 1867) zurück, der ihn erstmals 1844 für die gesellschaftliche Oberschicht New Yorks verwendete. 9 Frz. für: angeblich.
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Beim lunch mit der sehr energischen Präsidentin unterhielten wir uns auch über die Negerfrage, die eben das ist, was Einen hier am stärksten beschäftigt. Tritt man aber für die armen „darkies“ ein, so werden die Amerikaner, selbst die sozial gesinntesten, doch gleich ungemüthlich, u. vergessen alle ihre christlichen u. demokratischen Ideale. So war es auch hier – „nein, es ist unmöglich irgend jemand, der auch nur einen Tropfen Negerblut in sich hat, u. mag er auch ein Engel sein, als seines Gleichen zu behandeln u. in seinem Hause zu empfangen – denn dann verheiraten sich unsre Kinder mit ihnen u. das würde den Niedergang der weißen Rasse u. unsrer Kultur bedeuten. Wir würden dann auf dieselbe tiefe Stufe wie die Südamerikaner, die Mischlinge der verschiedensten Rassen sinken!“ Und dann werfen sie den Negern vor, daß sie so versessen auf weiße Frauen u. diese deshalb vor ihnen nicht sicher sind. Und wenn man ihnen sagt, daß Neger und Neger aber sehr differenziert sind, machen sie ein sarkastisches Gesicht u. sagen „davon merken wir nichts“. Von Philadelphia ist nicht sehr viel zu erzählen. Eine Riesenstadt, mit vorwiegend kleinen zweistöckigen Häuschen [,] von denen eins wie ein Ei dem andren gleicht – alle aus rotem Backstein mit weißen Marmortreppen, Marmorthürrahmen u. Fenstersteinen, dann grüne Läden u. flache Dächer, unendlich schmucklos schlicht, nüchtern, den alten Quäkergeist, der die Stadt geschaffen hat, im übrigen aber jetzt sehr verflüchtigt ist, athmend.10 Dazu die Straßen sich alle rechtwinklig j schneidend, schnurgrade, nummeriert, so daß man sich auch im Schlafe zurecht finden kann, – dann einige Hauptstraßen mit prachtvollen Riesengebäuden, Marmor-geschmückten „Wolkenkratzern“ [,] wie wir sie ähnlich auch in New York u. Chikago gesehen haben – ein scharfer Contrast zu der puritanischen Schlichtheit und Einförmigkeit der Durchschnittshäuser. Die Straßen verlieren sich alle ins Endlose, denn da die Mietskaserne eben völlig fehlt, bedeckt sie mit ihren 1½ Mill[ionen] Menschen ein ganz ungeheures Areal. Heute Morgen wohnten wir in dem Quäkercollegek, das Max gestern allein besucht hatte,11 einem Quäkergottesdienst bei. „Gottesdienst“ ist eigentlich nicht der richtige Begriff – denn es fehlen Orgel und Altar, es fehlen vor allem die Gesänge, die Bibelvorlesung und – der Pastor. Das „meeting“ beginnt in tiefstem Schweigen, bis der Geist ein Gemeindeglied zu einer Ansprache, zur Mitteilung religiöser Erlebnisse u. der Früchte seines Bibelstudiums oder – und das ist nicht j O: rechtwinklich k O: Quäkerkollege 10 Das 1692 von Quäkern unter der Leitung von William Penn gegründete Philadelphia, wegen seiner Bebauung auch „City of Homes“ genannt, war damals die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten und übertraf von der Fläche her London (ohne dessen Vororte), vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 230. Die Bezeichnung „Quäker“ war ursprünglich ein Spottname (von engl. to quake „beben, zittern“) und spielte auf die Ekstase an, in die Mitglieder der „Society of Friends“ während der Gottesdienste fielen. Die 1649 in England gegründete Sekte lehnte kirchliche Einrichtungen ab und vermutete in jedem Menschen ein „inneres Licht“ als Quelle der Offenbarung Gottes. Wegen der Verfolgung in ihrer Heimat wanderten ab 1656 viele Sektenmitglieder nach Amerika aus und siedelten sich vorzugsweise in Pennsylvania an. 11 Haverford College wie oben, S. 358, Anm. 7.
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selten – auch nur zu einem Gebet treibt, Jeder kann aufstehen u. reden, genau wie bei den ältesten Christengemeinden, wer öfters u. gut spricht [,] wird zum „minister“ oder alderman ernannt u. auf eine Extrabank gesetzt – Frauen so gut wie Männer. Sie haben genau dieselben Rechte u. hier saßen sechs ältliche Frauen und 3 Männer auf der Bank der Auserwählten, leider besuchte der Geist aber diesmal nur einen Mann. Nach Beendigung der Ansprachen oder des Gebets geht alles schweigend auseinander. Der Gottesdienst ist so einfach u. schmucklos wie man sich nur denken kann – so antikatholisch wie möglich – verzichtend auf jede Art sinnlicher oder ästhetischerl Beeinflussung, und dabei doch ungeheuer eindrucksvoll, namentlich das Schweigen u. die gesammelte Erwartung dessen [,] was der heilige Geist aus dem Munde eines der Gemeindeglieder verkünden wird. – –
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Young’s Hotel Boston Liebe Mutter! Wir haben nun Wyoming12 (= Laura von Klock) hinter uns, wo wir zwei Tage waren und worüber Marianne gern berichten möchte.13 Ich schreibe daher nur über einige Äußerlichkeiten: Der Mann, Otto v. Klock, kam in den 70er Jahren, nachdem sein Vater14 sein Vermögen verloren hatte u. er deshalb seine Studien mit dem Physikum abbrechen mußte, hierher,15 war zunächstm mit Zimmerfegen etc. in einer Buchhandlung beschäftigt, gelangte aber bald in die Stellung eines Commis16 daselbst. Die Handlung war ein bekanntes Importhaus französischer, deutscher u. italienischer Belletristik u. illustrierter Werke, daher oft von den Predigern hier attackiert, – als Residuum ist ein intensiver „Pfaffenhaß“ bei ihm geblieben. Er gebe nie jemand Credit, der Frömmigkeit „heuchele“ – das sei das Princip seiner Firma gewesen. Dann kam er in ein Typewriter- und Übersetzungs-Geschäft u. lernte dort zufällig Laura kennen, die dort etwas bestellte, heirathete sie (nach einem erstmaligen „Korb“) sehr bald und, da er contraktlich kein |:gleichartiges:| Geschäft unter seinem Namen beginnen durfl O: esthetischer m 〈Hau〉 12 Vgl. die Editorische Vorbemerkung, oben, S. 356. 13 Vgl. unten, S. 367–369. 14 Maximilian Nepomuk v. Klock. 15 Max Otto v. Klock hatte in Freiburg und Greifswald bis zum Physikum Medizin studiert und sich parallel dazu in orientalischer Philologie eingeschrieben.1885 emigrierte er in die USA. 16 Ein Handlungsgehilfe.
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te, wählte er ihren als Firma: L. Fallenstein & Co. Er floriert sehr, – d.h. nach den Chancen solcher Geschäfte gemessen – beschäftigt Gehülfen, ist Notar u. Justice of the Peace,17 – Einnahmen ca 1500 $ (6300 M), besitzt ein ca 5000 $ kostendes 12zimmriges Haus in der Vorstadt Wyoming, wovon can ⅓ baar bezahlt ist, ist ein sehr gut unterrichteter, sehr viel lesender, recht intelligenter kleiner Mann, der einem bei längerem Verkehr besser als anfangs und zunehmend besser gefällt, leidenschaftlicher Deutscher, voll Haß gegen die Yankees, dabei die meisten Deutschen hier als dem Biertrinken ergeben verachtend, und von sehr entschiedenem Selbstgefühl. Daß er sich einer so entschiedenen Willensnatur wie Laura gegenüber so gut behauptet – denn das Verhältnis zu Frau und Kindern ist ersichtlich zärtlich und in jeder Hinsicht auch nach deutschen Begriffen normal – spricht entschieden für ihn. Wir haben uns sehr gut vertragen. Sein ersichtliches Bedürfnis war, constatiert zu sehen, daß er die Hülfe, die ihm Tante Laura B[unge] in einem unbegreiflichen Brief „bei nachweislicher Notlage“ in Aussicht stellte – er hatte sieo, ihrer früher gegebenen Zusage und Aufforderung entsprechend, um ein Darlehen zum Ankauf des Geschäfts seines Principals gebeten, [–] niemals bedurft habe.18 Laura und er hatten das Bedürfnis, auch über ihre Beziehung zu Otto19 zu sprechen u. es scheint, daß in der That da auch von Otto’s Seite Misverständnisse obgewaltet haben, ich habe ihnen aber gesagt, daß |:u. warum:| diese Misverständnisse mir sehr erklärlich seien u. habe überhaupt Ottos Standpunkt gewahrt, obwohl ich den sicheren Eindruck habe, daß vonp Lauras und Klock’s Seite die Sache anders gemeint war, als in Deutschland vorausgesetzt wurde.20 – Das Nähere würde hier zu weit führen. – In seinem Geschäft macht er nun auch Stammbaumforschungen, für Astor21 z.B. u. ähnliche Familien, die sehr einträglich sind, u. dadurch
n 〈2〉 o 〈auf ihr〉 p 〈ihrer〉 17 Nähere Angaben zur Amtstätigkeit von Max Otto v. Klock als Notar oder Friedensrichter konnten nicht ermittelt werden. 18 Vermutlich bemühte sich Max Otto v. Klock bei Laura Bunge (geb. Fallenstein), der Tante seiner Frau Laura, um das von Emilie Fallenstein für ihre Stiefenkelkinder hinterlassene Legat (wie unten, S. 363, Anm. 31). 19 Otto Baumgarten war mit Laura v. Klocks verstorbener Halbschwester Emily verheiratet gewesen. 20 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 21 Die Astors galten im 19. Jh. zeitweise als reichste Familie der USA; ihr Begründer Johann Jakob Astor war nach der Amerikanischen Revolution aus Deutschland eingewan-
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ist er auf die so viel belachten Forschungen über unsre Vorfahren gekommen. Ich muß sagen, er hat da sehr interessante Dinge gefunden: Deines Vaters22 Schulzeugnisse z.B. – in Bezug auf „Fleiß“ und „Betragen“ frappant meinem Abiturientenzeugnis gleichend – hat er in amtlicher Abschrift bekommen; – hast Du ferner gewußt, daß Dein ältester Bruder (Adalbert) 23 einen Monat nach der Eheschließung Deines Vaters (Februar 1811) zur Welt kam? u. dgl. mehr. Daß er dabei die alten Adelsprädikate aufwärmt, 24 ist eine kleine Schwäche, – er ist ein Familienfanatiker, daher auch sein Wunsch, das Silber von Laurasq Mutter25 zu haben. Kurz der Eindruck der Dinge in Wyoming ist weit günstiger als ich erwartete. – Laura ist ganz dieselbe wie in Straß burg, 26 frappant an Clara Friedländer27 erinnernd, (nur ohne deren Humor), strotzend von Energie inmitten der unausgesetzten Arbeit und des Tumults ihrer acht reizenden Kinder. Das Nähere wird darüber ja Marianne erzählen.28 Bei all ihrem Zorn gegen die Corruption und die Rechtsbeugung hier ist sie doch dem Leben hier tausendmal mehr angepaßt als einer Existenz in Deutschland. Fürchterlich waren die Schilderungen ihrer Existenz im Süden, bei Frank29 und einer verarmten Pflanzer-Familie30 – aber das schlimmste sind doch die unerhörten Misgriffe, die Bunge’s, wo immer sie in das Schicksal der verschiedenen Fallensteins
q 〈Vater (oder〉 dert und durch Pelzhandel und Immobiliengeschäfte im aufstrebenden New York vermögend geworden. 22 Georg Friedrich Fallenstein. 23 Adalbert (Gustav) Fallenstein war das älteste Kind aus der ersten Ehe von Georg Friedrich Fallenstein mit Elisabeth Benecke und damit ein Halbbruder von Helene Weber. 24 Max Otto v. Klock titulierte die Verwandten seiner Frau Laura als „Fallenstein v. Muehlen“, vgl. Klock, Max Otto von, Beiträge zur Geschichte der Familien v. Klock genannt v. Offingen und Risseck, Fallenstein von Muehlen genannt Fallenstein, Cordel, Manché und Campbell of Redgate, Teil 1: Die von Klock genannt von Offingen u. Risseck. – Boston: The Bradbury Press 1906, S. 26. 25 Elisabeth Fallenstein, geb. Campbell. 26 Laura v. Klock hatte vor ihrer Emigration einige Zeit als Haustochter bei Ida Baumgarten, der Halbschwester ihres Vaters Otto Theodor Fallenstein, in Straßburg gelebt, wo Max Weber um diese Zeit (1885) seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger ableistete. 27 Eine Jugendfreundin von Helene Weber. 28 Unten, S. 367–369. 29 Frank Theodore (Frank) Fallenstein, Laura v. Klocks Bruder (wie unten, S. 367, Anm. 60). 30 Der Name konnte nicht ermittelt werden.
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eingriffen, gemacht haben.31 Daß Eduard Bunge32 Mount Airy eine „Idylle“ nennen konnte, zeigt nur wie unfähig reiche Leute sind überhaupt zu verstehen, was das Lebenr außerhalb ihres Comptoir’s33 und ihres Schlemmerlebens ist. Doch genug davon. – Ich schrieb zuletzt von Baltimore, glaube ich, oder von Washington, – nein richtig: kurz nach der Ankunft in W[ashington].34 Seitdem tausenderlei Eindrücke: die weiträumige Hauptstadt der Union mit schönen, überbreiten Avenues, dem (äußerlich) prachtvollens Dom des Capitols und dem ebenso prachtvollen riesenhaften Washington Obelisk, stimmungsvolle Fahrten nach Mount Vernon (Washington’s Wohnhaus) t auf dem Potomac – die Landschaft etwa der Havel gleichend, nur schöner |:herbstlich:| bunter Blätterwald statt der Fichten, der Arlington-Friedhof mit General Lee’s (des Onkels Chef im Civil War) Haus35 und den Gräbern vonu 16000 Soldaten, darunter am eindrucksvollsten die endlosen kleinenv Granitklötze nur mit den Namen, unter den alten Bäumen unabsehbar weit sich hügelauf hügelab erstreckendw. Dann Conferenzen mit M r Gompers,36 dem amerikanischen TradeUnion-Führer, – hyperdiplomatisch und immer sich interviewt fühlend [–] schluckte er immer die zweite Hälfte eines Satzes, der etwas Inter essantes enthielt [,] herunter, so daß ich seine Gedanken mehr errieth als erfuhr. Dann die elegante 19th Street Baptist Church – eine Negerkirche u. zwar die der feinen Negerwelt. Alles in Seide, hochelegante r 〈ohne die〉 s 〈Cap〉 t 〈am str〉 u 〈der〉 v 〈wie〉 w 〈,〉 31 Emilie Fallenstein hatte ihren Stiefenkelkindern Emily (verh. Baumgarten), Frank Theodore (Frank) Fallenstein und Laura (verh. v. Klock), Nachkommen aus der ersten Ehe ihres Mannes Georg Friedrich Fallenstein, ein Legat vermacht, und als dessen Verwalterin ihre Stieftochter Laura Bunge (geb. Fallenstein) eingesetzt. 32 Der Sohn von Laura und Carl Gustav Bunge. 33 Bunge & Co. war – 1811 in Amsterdam gegründet, seit 1850 mit Schwerpunkt in Antwerpen – durch den Import von Tabak, Baumwolle, Wolle und Häuten groß geworden. Ende des 19. Jahrhunderts war die Firma, nun Bunge & Born, im weltweiten Weizenhandel führend. 34 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, oben, S. 339. 35 Robert E. Lee war seit 1865 Oberkommandierender der Konföderierten Armee gewesen, in der Francis Miller (vormals Friedrich (Fritz) Fallenstein) gekämpft hatte. Nach Kriegsende bemühte sich Lee um Aussöhnung zwischen den Nord- und Südstaaten und wurde zum gemeinsamen Nationalhelden. Auf seinem während des Sezessionskrieges enteigneten Landgut in Arlington, Virginia, war ab 1864 ein Soldatenfriedhof angelegt worden, der heutige Nationalfriedhof Arlington. 36 Das Treffen mit Samuel Gompers, Präsident der American Federation of Labour, fand zwischen dem 18. und 24. Oktober 1904 in Washington, D.C. statt.
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schwarze ladies, feine und kluge Neger- und Mulatten-Gesichter; der Prediger37 war verreist, ein Laie und dann ein Gast von auswärts vertraten ihn. Unheimlich, wie mit der zunehmenden Eindringlichkeit und schließlichen Leidenschaftlichkeit der Predigt dumpfes Stöhnen anfing, zuerst ziemlichx an Magenknurren erinnernd, dann eine Art flüsterndesy Echo: die letzten Worte jedes Satzes erst leise, dann mit schrillen Stimmen wiederholend, mit „Yes, Yes!“ oder „No, no“ auf das Apostrophieren des Predigers – der nicht leidenschaftlicher war als der junge Methodist in Mount Airyz38 und an Stöcker39 nicht entfernt heranreichte – wiederholend – es wurde einem doch eklig unheimlicha – und dabei dann andrerseits hinten, wo wir saßen, lächelnde Quadroons40 und kichernde Mulattenmädchen, – welche Contraste innerhalb der für unsre Vorstellungb uniformen Negerschicht! In Baltimore hörte ich eine Stunde Undergraduate-Unterricht eines Extraordinarius,41 die übliche Textbook-Methode: der „Student“ lernt zu Haus ca 30–40 Seiten eines nationalökonomischen Lehrbuchs (Hobson’s Evolution of Capitalism) 42 und wird dann abgefragt, wurde hier recht geschickt mit einer Art Vorlesung combiniert. Dann Seminar; 43 eine gute Seminararbeit wurde (sehr streng) kritisiert u. ich hatte die Frechheit, mit meinem Nigger-English die Diskussion mit den Studenten an mich zu reißen. – Dann Philadelphia und Haverford College (orthodoxes Quäker-College),44 wo ich die Bibliothek für meine Arbeit durchsah, x Unsichere Lesung. y Alternative Lesung: flatterndes z 〈oder als der〉 a 〈in dieser gänzlich〉 b 〈so〉 37 Nach Kaesler, Dirk, Man sieht nur, was man zu wissen glaubt. Max und Marianne Weber im Amerika der Jahrhundertwende, in: Kelleter, Frank und Wolfgang Knöbl (Hg.), Amerika und Deutschland. Ambivalente Begegnungen. – Göttingen: Wallstein 2006, S. 10–29, hier S. 16, handelt es sich um Walter H. Brooks. 38 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, oben, S. 342. 39 Der frühere Berliner Hofprediger Adolf Stoecker. 40 Jemand mit einem afroamerikanischen Großelternteil. 41 Es handelt sich um George E. Barnett, der seit 1903 Associate Professor an der Johns Hopkins University war (vgl. den Brief an Jacob H. Hollander vom 27. Okt. 1904, oben, S. 351 mit Anm. 2). 42 Hobson, John A., The Evolution of Modern Capitalism. A Study of Machine Production. – London: Scott 1894. 43 Zu Max Webers Teilnahme an einer Veranstaltung von Jacob H. Hollander vgl. den Brief an Jacob H. Hollander vom 27. Okt. 1904, oben, S. 351 mit Anm. 1. 44 Max Weber besuchte das Haverford College am 26. Oktober 1904. Wegen seines Besuches hatte er einen nicht nachgewiesenen Brief an dessen Präsidenten Isaac Sharp less geschrieben. Dieser vermittelte Max Weber, da er am Besuchstag selbst abwesend
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bei einer reizenden Familie45 (der Mann hat Alfred im Frühling in Berlin in den Cursen46 gehört, er hatte sein „Sabbath-year“,c d.h. der Urlaub, den jeder Professor hier alle 7 Jahre für 1 Jahr erhält) lunchte, u. am andren Tag mit Marianne – die inzwischen Bryn Mawr ansah47 – einem Quäker[-]Gottesdienstd beiwohnte.48 Auch diese Quäker sind nur noch insofern „orthodox“, als sie nicht „Unitarier“49 sind, alle andren alten Gewohnheiten sind geschwunden, ihr Cricketteam gilt als das beste des Landes, die Bengels sind steinreich, in einer Studentenbude fand ich gekreuzte Schläger und den Anschlag: „Raucher“, offenbar aus einem deutschen Rauchcoupéee stibitzt. Aber der Gottesdienst ist doch noch eigenartig. Tiefe Stille: man hört in dem vollständig schmucklosen Raum – jeder Altar etc. fehlt – nur das Knistern des Kamins und unterdrücktes Husten (es war eiskalt). Endlich steht Jemand auf, den „der Geist treibt“, und spricht was er will. Meist ist dies
c 〈die〉 d 〈anh〉 e O: Rauchcupée war, den Ökonomen und Dean Don Carlos Barrett (wie unten, Anm. 45) als Betreuer (vgl. den Brief von Sharpless an Max Weber vom 24. Okt. 1904, Haverford College Library Special Collections, No. 910H, Letter Book, Nr. 3, S. 15). Im GStA PK ist ein Konvolut mit Aufzeichnungen insbes. zu Werken und Schriftenreihen der Quäker überliefert. Auf dem dazugehörigen Umschlag notierte Max Weber eigenhändig „Quäker (Haverford Notizen)“. Für seine vermutlich kurz nach der Rückkehr aus den Vereinigten Staaten begonnene Arbeit am zweiten Aufsatz seiner Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ scheint er diese Notizen – bis auf die Bemerkung über den Rückzug reichgewordener Quäker aus dem Erwerbsleben (Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, 361 f. mit Anm. 69) – nicht weiter benutzt zu haben (vgl. den Editorischen Bericht, ebd., S. 240 f.). Bei der Überarbeitung der Protestantischen Ethik in den Jahren 1919 und 1920 ergänzte Max Weber aber manchen Titel aus diesem Konvolut (vgl. GARS I, S. 151, Fn. 4; MWG I/18). 45 Die Familie von Don Carlos und Marcia Frances Barrett. 46 Es konnte nicht ermittelt werden, ob es sich um die im Brief an Helene Weber vom 13. April 1904, oben, S. 214, erwähnten, anderweitig nicht nachgewiesenen Ferienkurse handelte oder um Alfred Webers reguläre Lehrveranstaltungen. Vgl. aufgrund der Zeitangabe („im Frühling“) Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Winter-Semester vom 16. Oktober 1903 bis 15. März 1904 gehalten werden. – Berlin: o.V. 1903, S. 29 f., bzw. Verzeichniß der Vorlesungen, welche auf der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Sommer-Semester vom 16. April bis 15. August 1904 gehalten werden. – Berlin: o.V. 1904, S. 29. Die Teilnahme von Don Carlos Barrett ist nicht nachgewiesen. 47 Vgl. Marianne Webers Bericht, oben, S. 357–359. 48 Nach Scaff, Max Weber in America, S. 143, besuchten Max und Marianne Weber am 27. Oktober 1904 einen Gottesdienst im Haverford Friends Meeting House. 49 Seit dem 16. Jahrhundert entstandene protestantische Religionsgemeinschaften, welche die Trinitätslehre verwarfen und Jesus als göttlich inspirierten Lehrer ansahen. In den USA bildete sich im 19. Jahrhundert die „amerikanische unitarische Gesellschaft“.
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einer von den „elders“, die, – von der Gemeinde nach fmehrfacheng Ansprachenf dazu bestimmt, – auf einer etwas erhöhten Bank sitzen, gleichviel Männer und Frauen. Leider war es diesmal nicht, wie Marianne hoffte, eine Frau – eine steinalte Quäkerin soll die beste Rednerin sein – sondern der Bibliothekar des College, ein tüchtiger[,] ziemlich lederner Philologe.50 Der Geist trieb ihn, eine Anfangs recht lederne, dann aber recht hübsch praktisch gewendete, Interpretation der verschiedenen Bezeichnungen, die das Neue Testament den Christen giebt, zu liefern, – sorgsam präpariert, – dann wieder langes Schweigen, ein improvisiertes Gebet eines andren elder, – langes Schweigen, – Aufbruch. Gesang etc. unbekannt. Doch ich sehe, daß Marianne das schon erzählt hat.51 – Der Aufbruch nach Boston52 hätte fast seine Schwierigkeiten gehabt. Es reiste nämlich das Football-team der hPennsylvania Universityh zum Kampf mit Harvard nach Boston ab, u. alle 2000 Studenten gaben ihnen das Geleit zum Bahnhof, Hunderte fuhren die 10 Stunden hierher mit. Der Bahnhof war infolgedessen den einen Abend stundenlang unzugänglich, die Bengels ließen Niemand durch, Alles verpaßte seine Züge, eine Dame wurde übel zertrampelt. Hier sahen wir dann den Game vom Wagen aus; die „alten Herren“ haben für ½ Million ein gewaltiges steinernes Amphitheater gebaut, so groß wie das Amphitheater, mit Platz für 40000 Menschen.53 Donnernder Gesang der jeweils siegreichen Partei – denn ganz Boston und ein gut Teil Philadelphia war da – ertönte nach jedem play,i die City Hall und die ganze Stadt war geflaggt, – und als dann Harvard unterlag, 54 folgte tiefe Depression –
f–f Alternative Lesung: mehrfachem Ansprechen g 〈diese derartigen〉 h–h 〈Phil adelphia > Pennsyl University〉 i 〈und als〉 50 Es handelt sich um den Historiker Allen Clapp Thomas. An dessen Rede über den Begriff „saint“ erinnerte Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 230, Fn. 2 (MWG I/18), ebenso wie an die imposante Erscheinung der „alte[n] Lady“. 51 Oben, S. 359 f. 52 Vgl. unten, S. 367, Anm. 59. 53 Im 1903 mit Spendengeldern erbauten „Soldiers Field Stadium“ traten am 29. Oktober 1904 die Football-Mannschaften von Harvard und der University of Pennsylvania gegeneinander an (vgl. unten, Anm. 54). 54 Zur Niederlage der Football-Mannschaft von Harvard gegen Pennsylvania vgl. den Zeitungsaufmacher: Pennsy defeats Harvard 11 to 0, in: Boston Daily Globe, Jg. 66, Nr. 122 vom 30. Okt. 1904, S. 1.
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½ Seite über den ostasiatischen Krieg, 55 3 über die Präsidentenwahl, 56 8 über den Game in den großen Bostoner Zeitungen, dann endlose Interviews mit jedem Einzelnen der 22 mitspielenden Bengels |:hier:| – in Philadelphia Illumination und natürlich Einstimmigkeit in der Ansicht, daß die zertrampelte lady durch diesen Erfolg weit aufgewogen sei. Eine unglaubliche Wirtschaft. – Doch es ist Essenszeit, von Harvard und dergleichen schreibe ich daher das nächste Mal. Von hier geht es nach Providence, 57 New Haven (Yale University), 58 dann New York, von dort am 19ten November mit der „Hamburg“ (H[amburg]-A[merika]-Linie) nach Cherbourg-Paris-Heidelberg. Herzlichst Euer Max Young’s Hotel Boston d. 2. Nov. Inzwischen sind wir hierher nach Boston gereist59 u. haben in den wenigen Tagen unsres Hierseins schon wieder eine Fülle ganz andersartiger Eindrücke gehabt. Am interessantesten für Euch u. in gewisser Weise auch für uns sind wohl unsre Eindrücke bei Laura v. Klock.60 Es ist wirklich alles wahr, was uns so märchenhaft
55 Japan hatte Rußland am 10. Februar 1904 den Krieg erklärt. Zwischen beiden Mächten war der Einfluß über Korea und die Mandschurei seit langem strittig gewesen. Über das Kriegsgeschehen und über Umbesetzungen in der russischen Armee berichtete: Russian Loss. 800 Officers, 45.000 Men in 10 Days, General Staff reports Shocking Total at Shakhe, in: The Boston Daily Globe, Jg. 66, Nr. 122 vom 30. Okt. 1904, S. 9. 56 Am 8. November 1904 fand die amerikanische Präsidentenwahl statt. Der Republikaner Theodore Roosevelt strebte eine zweite Amtszeit an. Sein schärfster Konkurrent war Alton B. Parker von der Demokratischen Partei. 57 Zum Besuch der Brown University am 4. November 1904 in Providence vgl. den Brief an Hugo Münsterberg vom 14. Nov. 1904, unten, S. 393. 58 Ein Besuch in Yale ist nicht nachgewiesen. 59 Max und Marianne Weber waren am 28. Oktober von Philadelphia nach Boston gereist. Zur Bahnfahrt vgl. den Bericht von Max Weber, unten, S. 376 f. 60 Laura v. Klock (geb. Fallenstein) war die 1863 geborene Tochter von Helene Webers Halbbruder Otto Theodor Fallenstein aus dessen zweiter Ehe mit Elisabeth Beresford Campbell. Nach dem frühen Tod der Eltern (Otto Theodor Fallenstein war 1868 gestorben, seine zweite Frau 1878) wuchs Laura bei einer Pflegefamilie auf einer Farm in Australien, wo sie mit ihrer Mutter zuletzt gelebt hatte, auf. 1881 kehrte sie nach Europa zurück, lebte zeitweilig bei ihrer Halbschwester Emily (verh. Baumgarten) und nach deren Tod 1883 bei verschiedenen Verwandten väterlicherseits, bevor sie 1887 zu ihrem Bruder Frank Theodore (Frank) Fallenstein in die USA auswanderte. Dieser war bereits als Zehnjähriger zu seinem Onkel Francis Miller (vormals Friedrich (Fritz) Fallenstein) in die USA geschickt
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klang, u. ich muß sagen [,] meine Bewunderung für ihre Leistungen findet kein Ende. Sie hat ein 13zimmeriges Häuschen, recht nett mit Wasserleitung in allen Zimmern, Badestube u. ähnl[ichen] Kulturmerkmalen – sie hat 8 reizende, zu thunliche Kinder, das baby erinnert mich ganz frappant an das verstorbene Fritzchen Baumgarten.61 Sie hat kein Dienstmädchen, nur eine Waschfrau. Sie backt ihr Brot selbst, sie näht die weißen Sachen62 für sich u. die Kinder selbst, sie unterrichtet die Kinder morgens von 9–12 selbst u. zwar in englisch, französisch [,] lateinisch, Geschichte, Geographie!1) Und das alles scheint ihr wohl ziemlich selbst verständlich, wenigstens garnicht außergewöhnlich oder besonders verdienstvoll – ich muß sagen, ich finde diese Leistungen gradezu phänomenal! Und konstatierte einmal wieder[,] wie unendlich dehnbar der Begriff des Haushaltens ist u. wie viele Frauen bei uns ihre Zeit positiv vergeuden müssen. Vorbedingung einer derartigen Haushaltsführung ist es natürlich, daß man den Haushalt nicht als Selbstzweck[,] der nur auf eine bestimmte Weise mit einem bestimmten Aufwand an Zeit befriedigend geführt werden kann, betrachtet, sondern als ein Mittel genährt, gekleidet u. behaust zu sein, daß es aber schließlich ziemlich egal ist [,] auf welche Weise diese Bedürfnisse erfüllt werden. Dies soll aber nicht bedeuten, daß Laura’s Haushalt ohne Comfort, Nettigkeit u. Sauberkeit ist, nein, es sieht bei ihr sehr viel behaglicher als z.B. bei Bill63 aus, – sie nimmt es nur nicht tragisch, wenn die Zimmer nur 2x in der Woche gefegt werden oder heute einmal kein Fleisch auf den Tisch kommt. Die Zimmer haben viele nette Bilder, ein Klavier, Schaukelstühle, Sofa, Schreibtisch, und sehr viele Bücher, kurz alles [,] was dem ‚gebildeten‘ Menschen Bedürfnis ist, u. sie selbst macht durchaus nicht den Eindruck einer Nur-Hausfrau, im Gegenteil, sie hat reges Interesse für alle möglichen allgemeinen Fragen, liest auch offenbar viel. Allerdings hat sie bis vor kurzem ganz ohne Verkehr gelebt. – Ihrej 8 Kinder würde man ihr nicht zutrauen, sie sieht aus wie eine 1) Hier muß noch gesagt werden, daß sie den Unterricht nicht aus Sparsamkeit , [ ] sondern aus Prinzip selbst erteilt, die Schulen kosten nichts, aber sie will ihre Kinder zunächst möglichst „deutsch“ erziehen u. sie zweitens nicht mit den Kindern der unteren Ständek zusammenkommen lassenl. Nächstes Jahr kommen die Ältesten in die high school.
j O: Ihr k O: Ständen l Fehlt in O; lassen sinngemäß ergänzt. worden und lebte jedoch in so ärmlichen Verhältnissen (vgl. oben, S. 362), daß Laura nach Boston weiterzog. 1889 heiratete sie dort Max Otto v. Klock (vgl. Roth, Familiengeschichte, S. 356–370). 61 Conrad Max Guy, Francisca Sophie Laura, Elisabeth Marie Leanor, Laura Emma Natalie, Marion Irmgard Beresford, Maximilian Otto Adrian und Gerhard Karl Anton von Klock. Der 1902 geborene Werner Frank Ludwig ähnelte nach Marianne Weber dem 1896 im Alter von drei Jahren an einer Gehirnhautentzündung verstorbenen Fritz (Fritzchen) Baumgarten, dem Sohn von Max Webers gleichnamigem Vetter. 62 Weiße Textilien („Weißzeug“) aus Leinen, Baumwolle oder Halbleinen. 63 William Francis (Bill) Miller. Zu Marianne Webers Schilderung der Häuslichkeit von Max Webers Vetter vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904, oben, S. 332–334.
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englische Gouvernante. Versteht’s offenbar sehr nett mit ihnen, natürlich müssen sie außer dem baby Alle helfen, sie hat das ja selbst in dem Briefe an Emmy64 beschrieben: Jedes macht sein Bett selbst, hilft beim Kochen, Reinmachen etc. Kurz [,] Mutter u. Kinder versorgen den ganzen Haushalt zusammen, wodurch die Erziehungsaufgabe gewiß erleichtert wird; die Kinder lernen sich kolossalm früh selbst helfen, u. nicht nur sich, sondern auch den Andren. Laura hat eine sehr ruhige, garnicht krabbeliche Art mit den Kindern, läßt sie sich selbst helfen so viel wie möglich u. nimmt die Dinge des tägl[ichen] Lebens, den „Kampf mit dem Objekt“ [,] 65 offenbar garnicht tragisch. Ihren Mann66 scheint sie zu respektieren u. man kann durchaus nicht sagen, daß er unter dem Pantoffel steht. Innere Probleme giebt es offenbar vorläufig nicht, dazu ist jedenfalls keine Zeit bei dieser Form des Daseinskampfes. Innerlich muß schon das Leben unendlich einfach sein, wenn Jeder so viel zu thun hat, daß er kaum schnappen kann! Alles Andre über die äußere Existenz u. Erlebnisse der Klocks hat Max erzählt, auch über unsre sight-seeings in Washington und Philadelphia.67 Über Boston schreibe ich vielleicht morgen. Heute noch, daß wir jetzt Billets für ein Schiff der Hamburg[-]Amerika-Linie zum 19. Nov[ember] genommen haben, bis Cherbourg fahren [,] 68 um die Nordsee zu sparen, u. dann Enden dieses Monats, am 29. o. 30.o in Heidelberg ankommen. Ob ich mich auf zu Hause freue!!! Deinen letzten Brief, Mama [,] haben wir hier gefunden, von Euch Andren [,] Tante Flora u. Wina [,] 69 aber bisher nichts. Ihr müßt dann zur Belohnung für unsre langen Briefe nach Heidelberg schreiben. Ja? Und dann bekommen wir auch von dir, Tante Wina, die Briefe zurück,70 weil ich einige Angaben daraus wahrscheinlich in Vorträgen verwenden werde.71
m O: kollossal n O: ende o Unsichere Lesung. 64 Emmy Baumgarten war die Schwägerin von Lauras verstorbener Halbschwester Emily. 65 Anklang an die Redewendung von der „Tücke des Objekts“, die zurückgeht auf Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, 2 Bände. – Stuttgart: Hallberger 1879. 66 Max Otto v. Klock. 67 Vgl. oben, S. 362 ff. 68 Tatsächlich fuhren Max und Marianne Weber mit dem Dampfschiff „Hamburg“, das am 19. November den Hafen von New York verließ, bis Hamburg (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 398). 69 Marianne Webers Tanten Alwine (Wina) Müller und Florentine (Flora) Schnitger. 70 Alwine (Wina) Müller sollte Max und Marianne Webers Briefe aus Amerika sammeln (vgl. den Brief an Helene Weber vom [23.] und [28.] Aug. [1904], oben, S. 265). 71 Marianne Weber hielt im Januar 1905 mehrere Vorträge in Heidelberg, Karlsruhe und Mannheim über ihre Reiseeindrücke (Briefe von Marianne Weber an Helene Weber vom 21. Dez. [1904], vom 20. Jan. 1905 und vom 4. Feb. 1905, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446); ihre Beobachtungen flossen schließlich in die dreiteilige Artikelserie „Was Amerika den Frauen bietet“, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 6, Heft 22, 1905, S. 170–172 und Heft 23, 1905, S. [177]–179 sowie Heft 24, 1905, S. 186–188, ein.
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Jacob H. Hollander 3. November 1904; BK Boston Brief; eigenhändig Milton S. Eisenhower Library, Johns Hopkins University, Hollander Papers, Special Collections Ms. 59, Series 1, Box 11
Young’s Hotel Boston Nov. 3d 04 Dear professor Hollander I received with thanks your letter of Nov. 2d and am glad to see, that you area willing to contribute to our periodical.1 We should be interested to get specially a sketch of the present tendencies of development in American economic investigation and should be very glad if you would develop your essay in that direction – the earlier history of American economic thoughts being to-day rather better known in Germany than their present conditions. I beg you to write me to Heidelberg, or – if you areb able to inform me already now – to New York, Holland House, 2 at what time you think we shall have to expect your essay and how large it (approximately) will be (longer or shorter than your essay in the Yale Review[)]. 3 I am at N[ew] York until 18th November.4 I will try to make arrangements for an exchange of our publications5 so as you kindly suggest. The difficulty is, that our library and our se-
a O: ar b O: ar 1 Vgl. den Brief Max Webers an Jacob H. Hollander vom 27. Okt. 1904, oben, S. 351 f. Ein Beitrag Hollanders für das AfSSp ist nicht nachgewiesen. 2 Max und Marianne Weber verbrachten ihre letzten Tage in den USA vom Abend des 4. bis zum 19. November 1904 in New York. Bis zum 7. wohnten sie im Hotel Holland House, zogen danach jedoch aus Kostengründen in eine Privatpension in der Madison Avenue um. 3 Hollander, Jacob H., Economic Investigation in the United States, in: The Yale Review, Vol. 12, May 1903–February 1904, S. 25–31. 4 Max und Marianne Weber starteten ihre Rückreise am 19. November von New York aus. 5 Zu einem Publikationsaustausch ist es vermutlich nicht gekommen; weder im Briefwechsel zwischen Max Weber und Paul Siebeck, noch in dem zwischen Edgar Jaffé und Siebeck, wird davon gesprochen.
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minary both are subscribers to the Johns Hopkins Studies1)6 and the numbersc to our disposition for exchanges are very limited now – we exchange, I think, with at least 8–10 American periodicals –, dand sod my fellow-editors Sombart & Jaffé might perhaps not yield to your proposal. I write you about that from Germany. Sombart is – I was surprised toe be informed so here – gone back to Germany October 28th. Yours very respectfully Max Weber
1)
and, of course, the Breslau library7 toof
c 〈of〉 d so that > and so e 〈learn〉 f O: to 6 Gemeint sind die Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science, 1884ff. 7 Werner Sombart lehrte zu dieser Zeit in Breslau.
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Paul Lichtenstein 5. November 1904; New York Brief; eigenhändig Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446 Friedrich Kapp war für Max Weber junior ein väterlicher Freund, der ihm die Autobiographie von Benjamin Franklin geschenkt und ihm Amerika nahegebracht hatte. Zu den Beziehungen von Friedrich Kapp zu Max Weber senior vgl. Roth, Guenther, Transatlantic Connections: A Cosmopolitan Context of Max and Marianne Weber’s New York Visit 1904, in: Max Weber Studies, Vol. 5, No. 1, 2005, S. 81–112 (hinfort: Roth, Transatlantic Connections). Helene Weber hatte auf einen Besuch der beiden Töchter von Friedrich Kapp, Clara und Johanna (Hannah), die mit den Brüdern Paul und Alfred Lichtenstein, beide Bankiers, verheiratet waren, gedrungen (vgl. die Briefe von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 2. und vom 19. Oktober 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
from Monday noon until 18th November: 167 Madison Avenue New York C y 5/XI 04 Dear Sir Your father-in-law, Dr. Friedrich Kapp, was one of the best friends of my late father, Stadtrat Dr Max Weber, at Berlin. Some 15 (?) years ago, I had the opportunity to meet your late daughter Lela, and we, my wife and myself, know very well M rs Kapp, Miss Ida Kapp and the family of M r von der Leyen. M rs Kapp gave us your address and encouraged us to visit you.1 I am here with my wife, coming back from the International Congress of Arts and Science at St Louis, and we should indeed be very glad toa be allowed to meet you and, perhaps, also the family of M r Alfred Lichtenstein, for a short afternoon visit. If such visit would not be too troublesome for Mrs Lichtenstein2 and yourself,
a 〈if we should〉 1 Luise Kapp war die Schwiegermutter von Paul Lichtenstein, Ida Kapp und Luise von der Leyen waren Schwestern von Clara und Johanna (Hannah) Lichtenstein. Es kam mindestens zu zwei Besuchen von Max und Marianne Weber bei Familie Lichtenstein, am 11. und 17. November, wie aus dem Brief an Helene Weber vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904 hervorgeht, unten, S. 384 und 390. 2 Clara Lichtenstein, geb. Kapp.
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I should be much obliged to you, if you would kindly write me the most convenient time. I am, Sir, with respectful compliments to M rs Lichtenstein, your very respectfully Professor Max Weber (from Heidelberg)
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Booker T. Washington 6. November 1904; New York Brief; eigenhändig Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88
167 Madison Avenue New York C y 6/XI 04 Dear Sir – I was, some weeks ago, at Tuskegee,1 and my wife and myself were so deeply impressed by all we saw and learned there, that we hoped to be in a position to come again before leaving the country. I should especially have been very glad to meet you, yourself, after having read your works and seen your work. But my wife could not stand the climate of the South and so we went back and have now, the 19th, to cross the oceana to Germany. Before going, allow me to express our respectful and hearty thank to M rs Washington and to the officers and teachers of your Institute, especially 1) M r Warren Logan, 2) Mr Taylor, 3) the professor of Agriculture2 and 4) Miß Clarkb. I hope to come again after some 2 or 3 years latest3 and then to have the opportunity to express you the high admiration and consideration, which I, asc I think everybody who saw Tuskegee, feel for you and your important work. It was – I am sorry to say that – only at Tuskegee I found enthusiasm in the South at all. –
a O: Ocean b O: Klock c and > as 1 Zu Tuskegee vgl. den Brief an Booker T. Washington vom 25. Sept. 1904, oben, S. 304, Anm. 1. Max Weber hielt sich vom 5. bis 7. Oktober dort auf, vgl. den Brief an Helene Weber vom 12. Okt. 1904, oben, S. 327–330. 2 Damit ist vermutlich George Washington Carver gemeint. 3 Max Weber hat die USA nicht mehr besucht.
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I hope to get some reports of your Institute4 here by the booksellers; if not, I hope not to trouble too much your secretary5 in applying to him. With high respect Yours very truly Professor Max Weber
4 In seiner Antwort vom [10.] Nov. 1904 versicherte Washington Weber, das erbetene Material zuzuschicken: „I am sending a copy of my last Annual Report, and other printed matter, which contains information with reference to our work“ (zit. nach Scaff, Max Weber in America, S. 266). Das Institut gab mehrere offizielle Publikationen heraus: den jährlich erscheinenden „Annual Catalogue of the Tuskegee Normal and Industrial Institute“, der über die Kurse und Arbeiten des Instituts berichtete; dann den „Principal‘s Annual Report to the Board of Trustees of the Tuskegee Normal and Industrial Institute“, sowie den „Southern Letter“, die offizielle Zeitung des Instituts. 5 Emmett J. Scott.
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Helene Weber und Familie 6., 11., [15.] und 16. November 1904; BK New York Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 87–102 Der folgende Brief besteht aus drei Teilen. Deren Anordnung folgt der vermutlich nachträglichen Numerierung von I–III, die auch der maschinenschriftlichen Abschrift (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446, S. 113–130) zugrunde liegt. Teil I (Bl. 87–89) schrieb Max Weber unter dem Datum 6. November auf Briefpapier des Hotels „Holland House“. Teil II (Bl. 90–99) verfaßte Marianne Weber auf schmucklosem Briefpapier, beginnend am 11. November. Teil III, Bl. 101–102 umfassend (offensichtlich aufgrund einer Fehlzählung bei der archivarischen Foliierung fehlt Bl. 100), wurde wiederum von Max Weber geschrieben und auf den 16. November datiert. Er benutzte dafür ebenfalls ein schmuckloses, aber anderes Papier als Marianne Weber. Das Datum 15. November, an dem Marianne Weber ihren am 11. November 1904 begonnenen Teil fortsetzte, ist erschlossen aus der Tagesangabe („Erst heute, Dienstag[,] komme ich zur Fortsetzung“) und dem Hinweis auf die bevorstehende Abfahrt aus New York am 19. November 1904 („in 4 Tagen schwimmen wir“). – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f. Zu den im Brief zur Sprache kommenden Familienbeziehungen zu Francis Miller, Emil James (Jim) Miller, Hugh Miller vgl. die Verwandtschaftstafeln und die Übersicht über die Söhne und Enkel aus der ersten Ehe von Georg Friedrich Fallenstein, unten, S. 709 und 714.
Holland House New York 6/XI. 04 Liebe Mutter! Nun ist unser „round trip“ beendet – ca 180 Stunden Eisenbahnfahrt im Ganzen und wenn uns nicht noch hier etwas zustößt, so sind wir wenigstens den Eisenbahnen dieses „country“ glücklich entronnen und nur die weit weniger gefährliche Seefahrt steht uns |:noch:| bevor, die freilich zu dieser Jahreszeit kein Vergnügen sein wird. Da das Billet nach Paris (direkt) so viel kostet, wie das Billet nach Bremen so zogen wir, um die stürmische Nordsee zu vermeiden, Paris vor und werden dort selbst im Fall starker Verspätung hoffentlich am 29ten Nov[ember] eintreffen.1 Wir erhielten hier Deinen lieben Brief und sehen, daß Alles so weit gut geht; 2 wir sind natürlich besonders gespannt auf Alfreds 1 Tatsächlich endete die Seereise in Hamburg, vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 398. 2 Helene Weber hatte in ihrem Brief an Max und Marianne Weber vom 19. Oktober 1904 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) über die Besuche von Lili
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weitere Nachrichten. Hoffentlich drückt ihn das Gefühl des Exils in Prag nicht zu sehr,3 denn ein solches, für eine Reihe von Jahren, ist es ja natürlich. – Ich trage noch Einiges zu früheren Briefen nach. Wir haben glaube ich von Hugh,4 dem epileptischen Bruder in Mount Airy, zu berichten vergessen. Er ist nicht imstande seine Angelegenheiten zu besorgen, da er alle 10 Tage ca. einen Anfall hat, u., als er einmal einen solchen auf seiner eignen Farm hatte, in den Kamin fiel und fast verbrannte. Er sieht etwas struppig aus in seinem Bart, ist aber ein guter Kerl, nicht unintelligent trotz Allem, spricht sehr klar von seinem Zustand und Schicksal, hilft James5 als Arbeiter und ist Vorsänger in der Methodistenkirche. Wie Bauern sind, ist die Behandlung seitens der Brüdera, wenn auch nicht unfreundlich, so doch natürlich auch nicht immer allzu rücksichtsvoll; sie betrachten ihn doch mehr als Last. Sein Geld verwaltet Bill.6 – Von Wyoming7 zogen wir nach 2 Tagen – sehr zum Kummer des Mannes und besonders der netten Kinder – nach Boston zurück, um es näher zur Harvard University etc. zu haben. Der Mann mit seinem ruhigen Selbstgefühl des selfmade man8 und seinem Heimweh nach a 〈natürlich〉 Schäfer mit Familie und von Valborg Weber berichtet sowie über die Neuorganisation ihres Haushalts nach Alfred Webers Auszug (vgl. die folgende Anm.) und die neue Köchin. 3 Zu Alfred Webers Berufung an die Deutsche Universität in Prag vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Alfred Weber vom 16. März 1904, oben, S. 203. 4 Hugh Miller war der Bruder von Emil James (Jim), Jefferson Frederick (Jeff) und William Francis (Bill) Miller und ein Sohn von Helene Webers Halbbruder Friedrich (Fritz) Fallenstein, der sich seit seiner Emigration in die Vereinigten Staaten Francis Miller nannte. Zu Max und Marianne Webers Besuch bei den Verwandten in Knoxville und in Mt. Airy vgl. die Briefe an Helene Weber und Familie vom 12. Okt. 1904 sowie an Helene Weber vom 14., 19. und 21. Okt. 1904, oben, S. 325–334 und 335–350. 5 Emil James (Jim) Miller und Jefferson Frederick (Jeff) Miller. 6 William Francis (Bill) Miller. 7 In Wyoming (heute ein Stadtviertel des nördlich von Boston gelegenen Melrose) besuchten Max und Marianne Weber vom 31. Oktober bis 1. November 1904 Max Webers Halbcousine Laura v. Klock (geb. Fallenstein), ihren Mann, Max Otto v. Klock, und deren Kinder Conrad Max Guy, Francisca Sophie Laura, Elisabeth Marie Leanor, Laura Emma Natalie, Marion Irmgard Beresford, Maximilian Otto Adrian, Gerhard Karl Anton und Werner Frank Ludwig (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 27. Okt., [am 1. oder 2.] sowie am 2. Nov. 1904, oben, S. 360–362). 8 Max Otto v. Klock war, nachdem er ein Medizinstudium in Greifswald abgebrochen hatte, in die Vereinigten Staaten emigriert und hatte in Boston eine Firma für Übersetzungsarbeiten und genealogische Recherchen aufgebaut (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 27. Okt., [am 1. oder 2.] sowie am 2. Nov. 1904, oben, S. 360–363).
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Deutschland – wohin er freilich absolut nicht passen würde, so wenig wie Laura, hat mir auch weiter gut gefallen. Die Kinder werden trotz des forcierten Deutschtums und Hasses gegen die Neu-Engländer ihren Weg schon machen. Der Älteste9 verdient schon jetzt gelegentlich. Die Mehrzahl sind protestantisch getauft (der Vater ist altkatholisch),10 der Rest soll „vielleicht gelegentlich“ auch getauft werden. Im Übrigen kümmert sich Niemand um die Kirche etc., – der hervorstechendste Zug der jüngsten Generation der östlichen Amerikaner, soweit sie von Immigranten abstammen, – teilweise auch der Altamerikaner. Seltsame Widersprüche: heut war ich hier im „service“ der „Christian Scientists“ (Gesundbeter).11 Sie haben zwei pompöse Kirchen hier,12 vor denen je ein Dutzend feinster Equipagen halten, wenn „Gottesdienst“ ist. Die „Christian Science Quarterly“13 giebt Programm, Text der Psalmen, Stellen aus der Bibel und aus dem symbolischen Buch „Science and Life“14 für die Predigt für alle Gottesdienste des Quartals im Voraus an, ihr „Hymn Book“15 ist compiliert aus Chorälen aller Nationen, mit Melodien von Händel, Haydn, Weber, Mendelssohn, 9 Conrad Max Guy v. Klock. 10 Max Otto v. Klock gehörte zur Altkatholischen Kirche, die sich als Reaktion auf die am 18. Juli 1870 vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündete Unfehlbarkeit und das Jurisdiktionsprimat des Papstes von der römisch-katholischen Kirche abgespaltet hatte. 11 Max Weber besuchte am Sonntag, 6. November 1904 in New York einen Gottesdienst der „First Church of Christ, Scientist“ – abgekürzt auch „Christian Science“ oder „Christliche Wissenschaft“ genannt. Diese Glaubensgemeinschaft war 1879 von Mary Baker Eddy in Boston begründet worden. Diese sieht in der Lehre von Jesus Christus eine vollständige und in sich schlüssige Wissenschaft, nach der allein die göttliche Harmonie wirklich ist und Leiden (wie alles Unvollkommene) nur aus einer falschen, auf Illusion beruhenden Sichtweise resultiert. Wegen der damit verbundenen Überzeugung, daß alle Krankheiten mentalen Ursprungs und durch Gebet heilbar seien, hießen die Anhänger der „Christian Science“ umgangssprachlich auch „Gesundbeter“. 12 Die „Second Church of Christ, Scientist“ in New York war 1899–1901 nach dem Entwurf von Frederic R. Comstock an der Ecke 68. Straße zum Central Park im Beaux-Arts-Stil gebaut worden; die im selben Stil von Carrère & Hastings gestaltete „First Church of Christ, Scientist“ war 1903 an der 96. Straße gegenüber dem Central Park eröffnet worden (vgl. Ivey, Paul Eli, Prayers in Stone. Christian Science Architecture in the United States, 1894– 1930. – Urbana und Chicago: University of Illinois Press 1999, S. 6 3–68). 13 Die seit 1890 vierteljährlich erscheinende Zeitschrift mit den wöchentlichen Lektionen der Glaubensgemeinschaft. 14 Gemeint ist: Eddy, Mary Baker, Science and Health. – Boston, Massachusetts: Christian Science Publishing Company 1875. 15 Es handelt sich um: Christian Science Hymnal. A Selection of Spiritual Songs. – Boston, Mass.: Christian Science Publishing Society 1893, mit Stücken der im folgenden genannten Komponisten Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Carl Maria v. Weber und Felix Mendelssohn Bartholdy.
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deutschen Volksliedern, vielen englischen Melodien. Die „Kirche“,16 ein gewaltiger gewölbterb Raum mit Tribünen und mächtiger Orgel [,] war gestopft voll: Alles „gute Gesellschaft“, aber incl. Mittelstand. Vor der Orgel sitzen erhöht ca 10–12 Männer und Frauen im Smoking bzw. weißer Seide, vorne zwei pulpits, von denen aus ein Mann im Smoking und eine Frau |:– ca 40 Jahr alt –:| in weiß, einen Immortellenkranz im Haar, mit tiefer Altstimme den Gottesdienst leiten.17 Zuerst Chor aus dem „Messias“18 (wundervoller Gesang), dann Liturgie: Psalm 38, abwechselnd von derc Predigerin19 und der Gemeinde gesprochen, dann 10 Minuten tiefe Stille zum Gebet (um geistiges und körperliches Wohl der Nächsten) mit lautem allgemeinem „Amen“ am Schluß, dann Gemeindegesang, mit allgemeiner Beteiligung, unbedingt eindrucksvoll zu nennen, – dann „sermon“, d.h. die Predigerin und der Prediger wechseln sich ab im Vorlesen: er ca 30 Stellen aus dem A[lten] und N[euen] Testament, sie aus dem Buch „science and life“, 20 und wie es schien aus ihrem Predigtconzept. Inhalt: wieder und wieder die „immortality“, metaphysisch nach Art von Platons – oder wohl besser: Moses Mendelssohn’s [–] „Phaedon“21 in kurzen, feierlich und langsam gesprochenen Sentenzen begründet, dann die alleinige Realität des „spirit“ und die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der Materie, Gottes unbegrenzte Allmacht über den Menschen und die Verworfenheit aller derer, die ihr sich zu entziehen versuchen und dadurch beweisen, daß sie nicht vom „spirit“ bewohnt, also nicht der immortality teilhaft sind, Warnung vor den „falschen Freunden“ (den Ärzten offenb 〈heller〉 c 〈Frau u.〉 16 Aufgrund von Max Webers Hinweisen zur Architektur handelt es sich vermutlich um die „First Church of Christ, Scientist“ (wie oben, S. 378, Anm. 11). 17 Es handelt sich vermutlich um Laura C. Lyman und Stewart C. Rowbotham, die als „first“ bzw. „second reader“ an der „First Church of Christ, Scientist“ in New York City wirkten (vgl. Christian Science Journal, 21. Jg., Nr. 10 vom Januar 1904, S. 586). 18 Georg Friedrich Händels Oratorium „Der Messias“. 19 Die „Christian Science“ kennt keine ordinierten Geistlichen. Der Titel „pastor“ war der Gründerin Mary Baker Eddy vorbehalten. Nachdem diese sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte – und den Ehrentitel „pastor emeritus“ annahm – galten die Bibel und das Werk von Eddy „Science and Health“ (wie oben, S. 378, Anm. 14) als alleinige „Pastoren“ der Glaubensgemeinschaft (vgl. Eddy, Mary Baker, Manual of the Mother Church. – Boston, Mass.: Armstrong 1904, S. 4 4). Eine leitende Funktion im Gottesdienst kam daher den beiden „readers“ zu (ebd., S. 31 f.). 20 Gemeint ist das Werk „Science and Health“ (wie oben, S. 378, Anm. 14). 21 Vgl. Platon, Phaidon, in: Platons Werke, Band 3,2, 3. Aufl. – Berlin: Georg Reimer 1861, und Mendelssohn, Moses, Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen. – Berlin und Stettin: Nicolai 1767.
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bar) – ¾ Stunden lang ohne alles Pathos und schließlich bis zur Langeweile vorgetragen; – dann Orgelfuge und Klingelbeutel (d.h.d mit Papierdollars dicht bedeckte Tellere vom Herrn im Smoking herumge reicht), dann ein Sopransolo (zu viel Tremolage22 und der englische Kloß im Munde, Gegenstand mir unbekannt, wohl moderne Composition), dann Gemeindegesang und Schluß, Abmarsch der hübsch angezogenen Kinder zur Sonntagsschule |:(in einem Nebenraum):|, die hier wie überall eine pièce de résistancef 23 ist. Es waren sicher 800, vielleicht 1000 Leute da und ihr Verhalten fällt unzweideutig unter den Begriff „Andacht“. – Die Bewegung hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, sie geht durch alle großen Städte der Union. Inzwischen hörte Marianne einen presbyterianischen Gottesdienst in der fashionablesten Kirche hier neben unsrem Hotel, 24 von dem sie wohl berichten wird. Auch unser Hotel hier in der 5th Avenue |:(= Unter den Linden25 hier):| ist höchst fashionable und entsprechend teuer, morgen ziehen wir in ein Boarding House in Madison Avenue (Besitzerin eine Deutsche, Frau von Hilsen), 26 das uns sehr empfohlen ist und uns viel Geld spart. Zwischen Boston und hier stoppten wir nur in Providence, Rhode Island, der |:ältesten:| Heimath voller Gewissensfreiheit (Roger Williams) und der Trennung von Staat und Kirche auf der Erde. 27 Ich wollte auf der Bibliothek nach historischer Baptisten-Litteratur suchen, aber – wieder charakteristisch – die Leute dort wollen ihren jetzigen Charakter als nicht-mehr-„Sectarian University“ so stark betod 〈im〉 e 〈)〉 f O: resistance 22 Lexikalisch nicht nachgewiesene Ableitung von ital. tremolo für: Gesang mit bebender Stimme. 23 Frz. für: Meisterstück. 24 Das Gotteshaus der 1628 von holländischen Siedlern gegründeten reformierten Kon gregation der „Marble Collegiate Church“ lag damals neben dem Hotel „Holland House“. Der Name leitete sich vom teils als Baumaterial verwendeten Marmor her. 25 Die Berliner Prachtstraße. 26 Die Pension hatte als Adresse 167 Madison Avenue (vgl. die Briefe an Paul Lichtenstein vom 5. Nov. 1904, an Booker T. Washington vom 6. Nov. 1904, an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904 sowie an Hugo Münsterberg vom 14. Nov. 1904, oben, S. 372, 374, 391 und 393). Zur Pension und ihrer Betreiberin Frau v. Hilsen konnte weiteres nicht ermittelt werden. 27 Roger Williams war ursprünglich ein anglikanischer Theologe und Pfarrer, der, 1630 nach Massachusetts ausgewandert, den Baptisten nahestand. Wegen seiner entschiedenen Ablehnung staatlicher Einflußnahme auf innerkirchliche Angelegenheiten mußte Williams jedoch aus Massachusetts fliehen und gründete daraufhin 1636 an der Narragansett Bay die Siedlung Providence, die zur Keimzelle des US-Bundesstaates Rhode Island wurde. In dessen von Williams entworfener Verfassung ist zum ersten Mal in der Geschichte die Trennung von Staat und Kirche verankert.
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nen, daß sie moderne Litteratur über die Geschichte derselben Denomination, 28 die sie gegründet hat, überhaupt nicht anschaffen. 29 Ich werde wohl ein kleines Baptisten-College auf dem Lande aufsuchen müssen. – Doch nun hat Marianne das Wort. – New York, 11. Nov. Ihr Lieben!
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Wir sitzen seit einigen Tagen sehr behaglich in einem New Yorker boarding house bei einer alten dicken gutmütigen deutschen Dame. Die Gesellschaft besteht aus jungen deutschen Kaufleuten, 30 die sich vor allem deshalb hier wohl fühlen, weil ihre Prinzipale31 sie außerhalb der Geschäftszeit als gleichstehende gentlemen behandeln, während die deutschen Arbeitgeber sich ihren Angestellten gegenüber immer, auch bei geselligen Zusammenkünften in den deutschen Clubs,g als Autoritäten aufzuspielen pflegten, überhaupt viel tiffeliger32 u. kleinlicher wären. Diese deutsche Jugend ist ganz nett, u. Max pflegt sie alle herrlich zu unterhalten mit seinen hiesigen von ihm plastisch gestalteten Erlebnissen. Außerdem sind 2 amerikanische Ehepaare33 hier, die auch einen Typus repräsentieren; sie haben keinen Haushalt begründet, keine Kinder u. wohnen offenbar Bequemlichkeits- Sparsamkeits-halber dauernd hier, die Einen schon seit 16 Jahren. Wenn ich hier in Amerika mit unsrem deutschen Geldbeutel u. folglich ohne „Bertha“34 zu existieren hätte, würde ich auch 100 x lieber in einem boarding house wohnen [,] als meine Tage gänzlich mit Reinlichkeit u. Kochen zu verbringen, aber natürlich dann intensiv geistig oder so was arbeiten. Was die beiden Ehefrauen hier im Hause thun [,] habe ich leider noch nicht ergründen können – vielleicht machen sie ihre Kleider selbst. Es ist sehr nett, daß wir zum Schluß noch 14 Tage an einem Orte still sitzen, ich genieße das immer viel mehr als den fortwährenden Ortswechsel, namentlich wenn man dabei Gelegenheit hat Menschen kennen zu lernen, u. von ihnen etwas g O: Clubs – 28 Besonders für Konfessionen oder Sekten in den Vereinigten Staaten gebräuchlicher Begriff. 29 Zum für Max Weber enttäuschenden Besuch der Brown University und von deren Bibliothek am 4. November 1904 in Providence vgl. auch die Ausführungen im Brief an Hugo Münsterberg vom 14. Nov. 1904, oben, S. 393. 30 Max und Marianne Weber wohnten vom 7. bis 19. November 1904 im Boarding House von Frau v. Hilsen (vgl. oben, S. 380, Anm. 26). Die im weiteren genannten Pensionsgäste konnten namentlich nicht ermittelt werden, doch trugen sie – wie Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 216, Fn. 1 (MWG I/18), erwähnt – die „besten hanseatischen Namen“. 31 Veralteter Ausdruck für Vorgesetzte. 32 D.h. schwieriger. 33 Die Namen konnten nicht ermittelt werden. 34 Bertha Schandau war das langjährige Dienstmädchen von Max und Marianne Weber.
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über die Innenseite der Dinge [,] die man um sich sieht [,] zu erfahren. Da wir hier in Amerika relativ recht viele Menschen sehen konnten, war dies entschieden unsre weitaus interessanteste Reise. Und man muß es sagen, die Leute sind gradezu rührend gastfrei u. entgegenkommend! In Boston hatten wir es auch gut, Münsterbergs35 waren sehr liebenswürdig, luden uns zweimal ein u. setzten uns verschiedene Kollegen36 vor. Dann sah ich bei ihnen eine Freiburger Bekanntschaft, eine reizende Amerikanerin [,]37 die eine Zeit lang bei M[ünsterberg] u. Rickert in Freiburg studierte [,] wieder – ihre von Sophie R[ickert] modellierte Büste38 steht übrigens neben meinem Schreibtisch. – Sie ist jetzt Dozentin in einem Frauencollege bei Boston, 39 wir waren zwei Mal dort u. ich durfte ihrer sehr hübschen Vorlesung über Ästhetik zuhören. Wellesley-college ist noch viel größer als Bryn Mawr – tausend Mädels studieren da bei fast ausschließlich weiblichen Lehrkräften, was ein kleiner draw-back ist.40 Sie leben auch dort in einem kleinen Paradies – die schön sten Häuser liegen in der entzückendsten Gegend, Wiesen, Bäume, See, alles haben sie da – aber diese relative Abgeschlossenheit von der Welt in einer spezifisch weiblichen Athmosphäre erscheint mir nicht unbedenklich. Die Mehrzahl studiert hier zunächst nur zum Zwecke der Allgemeinbildung (es muß himmlisch sein 4 Jahre lang bloß an seiner Selbstvervollkommnung arbeiten zu dürfen!) viele werden später Lehrerinnen. Ich sah dann in Boston auch das Gegenstück zu dieser geistigen Nährmittelanstalt – ein großartiges von einem Geschäftsmann gestiftetes „college“41 in der Art unsres Lettehauses,42 dazu bestimmt [,] um die Mädchen zur Erwerbsthätigkeit u. für die Hausfrauenthätigkeit vorzubereiten. In einer
35 Hugo und Selma Münsterberg lebten nahe Boston in Cambridge, Mass., wo Hugo Münsterberg an der Harvard University lehrte. Max und Marianne Weber besuchten sie dort am 30. Oktober und am 2. oder 3. November 1904. Vgl. die Briefe an Hugo Münsterberg vom 20. Sept. und 27. Okt. 1904, oben, S. 298 f. und 354 f. 36 Scaff, Max Weber in America, S. 149, vermutet, daß William Z. Ripley, John G. Brooks und Josiah Royce zu den namentlich nicht genannten Gästen gehörten. 37 Ethel Dench Puffer hatte 1896–97 in Freiburg i.Br. studiert. 38 Heinrich Rickerts Frau Sophie war Bildhauerin. 39 Es handelt sich um das etwa 30 km westlich von Boston gelegene Wellesley College. Dieses gehört wie Bryn Mawr, das Marianne Weber am 26. Oktober 1904 von Philadelphia aus besuchte (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 27. Okt., [am 1. oder 2.] sowie am 2. Nov. 1904, oben, S. 357–360), zu den bekanntesten Frauencolleges (seit 1927: seven sisters) der Vereinigten Staaten. 40 Zu Marianne Webers grundsätzlicher Kritik an einem geschlechtsspezifisch differenzierten Schul- und Universitätssystem, vgl. das Interview: A German Woman‘s Opinions. Frau Weber critizises her American Sisters, in: The Sun (N.Y.), Jg. 72, Nr. 81 vom 20. Nov. 1904, S. 8, sowie Weber, Marianne, Was Amerika den Frauen bietet. Reiseeindrücke, in: Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, Jg. 6, Heft 22, 1905, S. 170–172, hier insbes. S. 171 f. Sie sah darin einen Rückschlag für die von Seiten der Frauenbewegung geforderte Verbesserung weiblicher Bildungschancen. 41 Das 1899 von dem Kleiderfabrikanten John Simmons gegründete und nach ihm benannte Simmons College. 42 Der 1866 von Wilhelm Adolf Lette gegründete Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts war Mitglied im BDF. Für seine Lehreinrichtungen (eine
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Nahrungsmittelchemiestunde lernte ich [,] daß man weiche Eier nicht in kochendem Wasser „kochen“ sollte – u. daß Hafergrütze Fett, Weizen aber keines enthielte, worauf ich beschloß, morgens zum Frühstück keinen Hafer – sondern höchstens noch Weizenbrei, den man hier auch immer angeboten kriegt – zu vertilgen. Die Sache mit den Eiern muß ich erst mal ausprobieren. Münsterbergs scheinen übrigens in der Harvarduniversität eine Art sozialen Mittelpunkts zu bilden, alle deutschen Leute kommen zu ihnen, ihre Gastfreundschaft wird offenbar fabelhaft in Anspruch genommen, sie sähen in einem Monat so viel deutsche Grafen u. Barone wie in Deutschland in Jahren nicht – kurz [ : ] sie sind offiziöse Persönlichkeiten in der nobelsten u. größten hiesigen Universität – während man sie in Freiburg nicht mal zu Extraordinarien machen wollte!!43 Boston ist eine feine Stadt. Älter, farbiger u. harmonischer als alle andren, hat auch einige Gebäude von wirklich künstlerischem Wert, z.B. eine wundervolle höchst eigenartige mit nichts andrem vergleichbare Kirche des besten amerik[anischen] Architekten Richardson,44 ich möchte wissen wie Karl45 sie fände – dann die wundervolle öffentl[iche] Bibliothek in klassizistischem Stil, mit einem herrlichen Treppenhaus in warmemh gelben Marmor, u. die memorial-hall, zum Gedächtnis der im Bürgerkriege Gefallenen, ein klassischer Rundbau auch aus wundervoll iwarmem gelbeni Marmor. Ich hätte nicht erwartet hier solche wirklich ästhetisch befriedigende, maßvolle Bauwerke zu finden. Übrigens wohnen wir auch hier in New York jetzt in einem Stadtteil,46 der mir den neulich in dem abscheulichen Astorhotel47 im Geschäftsviertel gewonnenen Begriff der Stadt erweitert. Hier ist alles zahmer u. gesitteter, die asphaltierten Straßen ziemlich reinlich, die Straßenbilder zum Teil imponierend, man gewöhnt sich auch an die wilden Konturen u. findet allmählich die Riesenkästen nicht mehr nur wahnsinnig, sondern auch großartig, namentlich abends, wenn sie von oben bis h O: warmen i–i O: warmen gelbem Handels- und eine Gewerbeschule sowie eine Photographische Lehranstalt) unterhielt er seit 1873 das Lette-Haus. 43 1890 hatte der Senat der Universität Freiburg den von Alois Riehl initiierten Antrag der Philosophischen Fakultät, Hugo Münsterberg ein Extraordinariat zu verleihen, zunächst abgelehnt. Erst nach Intervention des badischen Großherzoglichen Ministeriums der Justiz, des Kultus und Unterrichts erfolgte dann zum Wintersemester 1892/93 doch noch die Ernennung Münsterbergs zum Extraordinarius (vgl. Fahrenberg, Jochen und Stegie, Reiner, Beziehungen zwischen Philosophie und Psychologie an der Freiburger Universität. Zur Geschichte des Psychologischen Laboratoriums/Instituts, in: Jahnke, Jürgen, Fahrenberg, Jochen, Stegie, Reiner und Bauer, Eberhard (Hg.), Psychologiegeschichte – Beziehungen zu Philosophie und Grenzgebieten (Passauer Schriften zur Psychologiegeschichte, Band 12). – München: Profil 1998, S. 251–266, hier S. 254). 44 Die Trinity Church von Henry Richardson. 45 Max Webers Bruder Karl war Architekt. 46 Max und Marianne Weber wohnten seit dem 7. November in einer Pension, 167 Madison Avenue, vgl. oben, S. 380 mit Anm. 26. 47 In Astor House hatten Max und Marianne Weber während ihres ersten Aufenthalts in New York vom 30. August bis zum 4. September 1904 gewohnt (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 2., [4. und am oder nach dem 5. Sept.] 1904, oben, S. 266).
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unten erleuchtet sind. Ich denke [,] die deutschen Straßen werden Einem liliputhaft vorkommen. Heute Abend werden wir bei Lichtensteinsj essen,48 u. Frau L[ichtenstein] will uns, da ihre Wohnung weit weg in Brooklyn liegt, abholen – das ist doch auch wieder sehr liebenswürdig. Gestern abend aßen wir mit dem Sekretär einer hiesigen Trade-union u. seiner Frau zusammen,49 sehr liebenswürdigen Leuten. Daß der Mann früher Arbeiter: Setzer in einer der großen Zeitungsdruckereien, 50 die er uns gestern abend mit Stolz zeigte, war, konnte man sich schwer vorstellen. Er war vollkommen gentleman, seine Frau eine sehr gescheute, belesene lady, sie bezeichneten sich selbst als zu dem „oberen Mittelstand“ gehörig, haben ein selbstgebautes Haus in einer Vorstadt, das die Frau allerdings ohne „Bertha“51 zu versorgen hat u. gehen alle paar Jahre für Monate lang nach Europa auf Reisen. (Schluß, ich höre die dinnerbell) – – – – Erst heute, Dienstag [,] 52 komme ich zur Fortsetzung. Wir haben in diesen Tagen in Saus u. Braus gelebt u. so viel neue Leute gesehen wie in Heidelberg in einem Jahre. Wunderbar, daß unser „Jungchen“ das alles vertragen hat! Er grunzt manchmal ein bischen, wenn er in seinen smoking steigen u. ein reines Hemd anziehen muß, aber er leistet es wirklich sowohl mittags wie abends auszugehen. Um das zu können [,] müssen wir uns natürlich den halben Nachmittag mit unsrer Toilette beschäftigen, von Stiefel putzen bis zum exakten Schlips, was denn natürlich sehr ausruhlich ist. Also bei Lichtensteins bekamen wir sehr feines Essen u. gute liebenswürdige, aber indeed ganz uninteressante Menschen vorgesetzt. Die beiden Frauen kennst Du Mama ja, ich denke sie sind nicht so fein wie Frau v.d. Leyen, 53 u. ihre Männer
j O: Liechtensteins 48 Clara und Johanna (Hannah) Lichtenstein, die Töchter des mit Max Weber sen. befreundeten Friedrich Kapp, waren mit den ebenfalls deutschstämmigen Brüdern Paul und Alfred Lichtenstein verheiratet. Beide Paare lebten in Brooklyn (vgl. Roth, Transatlantic Connections (wie oben, S. 372, Editor. Vorbemerkung), hier S. 9 6 mit Anm. 34). Helene Weber hatte ein Zusammentreffen mit ihnen angeregt (vgl. die Briefe von Helene Weber an Max und Marianne Weber vom 2. und vom 19. Okt. 1904, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Auf Max Webers Brief an Paul Lichtenstein vom 5. Nov. 1904, oben, S. 372 f., hin, kam es wohl zu dem im folgenden geschilderten Abendessen bei Clara und Paul Lichtenstein. Am 17. November waren Max und Marianne Weber dann bei Johanna (Hannah) und Alfred Lichtenstein eingeladen (vgl. unten, S. 399). 49 Es handelt sich vermutlich um Jerome F. und Margaret Healy (vgl. Scaff, Max Weber in America, S. 176). 50 Jerome F. Healy hatte als Korrektor für Joseph Pulitzers Zeitung „The New York World“ gearbeitet. 51 Ein Dienstmädchen wie Bertha Schandau. 52 Dienstag, 15. November 1904. 53 Luise von der Leyen war die Schwester von Clara und Johanna (Hannah) Lichtenstein und lebte in Berlin.
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sind ein paar sehr lustige aber sonst nicht hervorragende bankers 54 – kurz, es war nett, aber wir profitierten nur für unseren Leib, nicht für den Geist. Mein FrauenLunch am folgenden Tage bei Frau Prof. Seligmank[,] deren Mann Nationalökonom ist u. Max inzwischen allein in Entreprise genommen hatte, war viel ergiebiger, es waren 4 sehr angenehme „arbeitende“ Frauen eingeladen [,] 55 die dann mit großer Liebenswürdigkeit ein ganzes Programm von Sehenswürdigkeiten für mich zusammenstellten, durch das ich mich jetzt mit Mühe durchesse. So hörte ich am Sonnabend vormittag eine Chinesin [,] Dr. der Medizin [,] vor einem erlesenen Publikum ihre Ansichten über den russisch[-]japanischen Krieg darlegen56 – ihre Sympathien waren merkwürdigerweise auf Seite der Russen, die für die orientalische Kultur keine Gefahr wären, da sie sich von ihr vollständig assimilieren ließen, also nach einiger Zeit einfach Chinesen würden – na was sie sagte war interessant genug, aber die reizende Art, in der sie sprach [,] und ihre zierlich-anmutige Erscheinung in ihrer malerischen chinesischen Tracht, die wir unsren Reformkleidern57 ganz gut zugrunde legen könnten [,] die Hauptanziehung, ich mußte ihr beistimmen [,] als sie die westeuropäischen Völker tadelte, weil sie sich anmaßen alle Völker der Erde unter ihre kapitalistisch-industrielle Kultur zu zwingen, so that every nation becomes exactly alike the other, grade wie eine Fabrikwaare der andren gliche. Dies kleine, zierliche u. kluge Persönchen war wenigstens ein erfreuliches Exemplar ihrer Art, man möchte sie nicht in unsre Formen gepreßt wissen. Die verschiedenen Chinesen mit ihren steinernen unbeweglichen u. plumpen Gesichtern, die man hier sah, haben mir allerdings weniger imponiert. – Sonnabend abend waren wir in dem University-settlement 58 eingeladen, d.h. in einer der viek O: Seligmann 54 Paul und Alfred Lichtenstein waren tatsächlich für die renommierten Bankhäuser Ladenburg, Thalmann & Co. bzw. Heidelbach, Ickelheimer & Co. tätig (vgl. Roth, Guenther, Europäisierung, Amerikanisierung und Yankeetum. Zum New Yorker Besuch von Max und Marianne Weber 1904, in: Schluchter, Wolfgang und Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2005, S. 9 –31, hier S. 19). Paul Lichtenstein engagierte sich außerdem in der mitgliederstarken Deutschen Gesellschaft der Stadt New York (ebd., S. 20 mit Anm. 27). 55 Die Namen der weiteren Gäste von Caroline Beer Seligman konnten nicht ermittelt werden. Max und Marianne Weber waren bei ihr und ihrem Mann Edwin R. A. Seligman am 14. November 1904 auch noch zum Dinner eingeladen (vgl. unten, S. 387). 56 Zum Vortrag von Yamei Kin am 12. November 1904 vor der League for Political Education über den russisch-japanischen Krieg vgl. den Bericht: China a Real Power, Dr. Kin‘s Prediction. Backbone of Asiatic Continent, she says in Lecture, in: New York Times, Jg. 54, Nr. 17117 vom 13. Nov. 1904, S. 5. Japan hatte Rußland am 10. Februar 1904 den Krieg erklärt, nachdem zwischen beiden Mächten seit langem der Einfluß über Korea und die Mandschurei strittig war. 57 Um 1900 wurde die bis dahin durch das einzwängende Korsett geprägte Frauenmode durch das Aufkommen eines locker sitzenden Hängerkleides revolutioniert. Der neue Kleidungsstil wurde nicht zuletzt seitens der bürgerlichen Frauenbewegung propagiert. 58 Zu der von dem Arzt Stanton Coit 1886 in der Lower East Side, 184 Elridge Street, gegründeten Einrichtung vgl. Woods, Robert A. und Kennedy, Albert J. (Hg.), Handbook
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len von sozial empfindenden Leuten, aus privaten Mitteln errichtetenl Anstalten, die in den Vierteln der Armen, Bildung und äußerliches Vergnügen verbreiten, so wie das früher geschilderte Hull-house in Chikago.59 Dieses settlement u. noch ein anderes großartiges Gebäude [,] was wir am selben Abend sahen, lagen in einem fast ausschließlich von eingewanderten Juden, namentlich von russischen Juden bewohnten Viertel.m Eine Viertel Million soll da zusammenwohnen. Und diese Leute bilden inmitten dieser Riesenstadt eine ganze Welt für sich, die sogar eine eigene Nationalsprache „Yiddish“ haben. Und was ist dies Yiddish, das sie in hebräischen Buchstaben drucken u. in dem sie sogar Dramen dichten u. in vier jüdischen Theatern spielen? 60 Ein korrumpiertes Deutsch, das die deutschen Juden [,] die im 17. Jahrhundert nach Rußland einwanderten [,] dort jahrhundertelangn bewahrt u. als ihre Nationalsprache behandelt haben. Das ist doch wirklich merkwürdig! Am Tage vor unsrer Abfahrt! Freitag abend werden wir ein in „Yiddish“ gedichtetes Stück auf einem Judentheater aufgeführt sehen.61 In diesem Judenviertel haben reiche amerikanische Juden eine ganz großartige Erziehungs- u. Unterstützungsanstalt errichtet,62 in der die Einwandrer, die ja aus den aller unkultiviertesten Schichten stammen, nach allen Seiten civilisiert u. amerikanisiert werden. Sie haben hier alles denkbare: Bibliothek, Bäder, Turnhalle, Musik[-] u. Zeichenunterricht, Koch- u. Nähkurse – Handfertigkeits- u. wissenschaftliche Kurse, dann sogar ein kleines Theater, auf dem die Kinder spielen zur Erziehung ihres Geschmacks. Ein höchst eigenartiger Zug all dieser Anstalten ist, daß sie alle eine Unmasse von Knaben- u. Mädchenklubs beherbergen – man begünstigt es also, daß schon die Kinder sich für irgend welche gemeinsamen Zwecke organisieren – das gesellschaftliche Vergnügen ist dabei wohl die Hauptsache, aber jeder dieser Vereinchen thut auch irgend eine soziale Arbeit – bringt z.B. Geld für ein Hospital, oder für Weihnachtsgeschenke an arme Kinder zusammen, verteilt irgend ein belehrendes Flugblatt o[der] dgl. Der Vorstand solcher clubs besteht immer aus Kindern, die dann über die Aufnahme ihrer Mitglieder abstimmen etc. [,] kurz sich in parlamentarischen Formen bewegen, um auf diese Weise auch die Grundsätze des selfgovernment u. der cooperation sozusagen mit der Mutterl O: errichten m O: Vierteln, n O: jahrhunderte lang of Settlements (Russell Sage Foundation Publications). – New York: Charities Publication Committee 1911, S. 227–232. 59 Zu Jane Addams Settlement „Hull House“ vgl. den Brief an Helene Weber vom 8., [am und nach dem 9. bzw. 11. Sept.] 1904, oben, S. 282–284. 60 An jüdischen Theatern gab es in der Lower East Side am Anfang des 20. Jahrhunderts das Thalia, das Windsor (früher: Neue Stadt), das People’s und das Grand (vgl. Maffi, Mario, Gateway to the Promised Land. Ethnic Cultures on New York’s Lower East Side. – New York: New York University Press 1995, S. 91). 61 Zum Besuch von Jacob Gordins Theaterstück „Die emese kraft“ am 18. November 1904 vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 402 f. 62 Die Gründung der Educational Alliance im Jahr 1889 hatten die deutsch-jüdischen Philanthropen Isidor Straus, Samuel Greenbaum, Myer S. Isaacs, Jacob H. Schiff, Morris Loeb und Edwin R. A. Seligman ermöglicht.
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milch in sich aufzunehmeno – ich denke [,] diese uns so völlig fremde Seite des hiesigen Kinderlebens muß einen wertvollen erzieherischen Einfluß haben. In diesem jüdischen Erziehungshaus [,] das übrigens nicht nur den Kindern, sondern auch den Erwachsenen ein Mittelpunkt ist, gehen täglich etwa 6000 Menschen ein u. aus – 400000 Mk. werden jährlich dafür verausgabt – 122 bezahlte u. etwa 300 unbezahlte Kräfte arbeiten daran, – es ist imponierend, daß so viel finanzielle Mittel u. geistige Kräfte für solche Werke zu haben sind. Und hier in New York sind etwa 50 ähnliche, wenn auch bescheidnere Anstalten. Natürlich bilden sie für den ungeheuren jährlichen Zufluß völlig unbemittelter unzivilisierter Proletarier aller Länder immer nur kleine Inseln, deren Wirkung äußerlich wenig erkennbar ist. Am Sonntag hörten wir einen Vortrag in der Gesellschaft für ethische Cultur,63 die hier offenbar eine bedeutendere Rolle spielt u. auch einen etwas andren Charakter hat als bei uns. Ihr Sonntagsredner Dr. Adler, Deutschamerikanerp, hat hier einen gewissen Ruf, seine Auseinandersetzung mit der Christian Science (den Gesundbetern, von denen Max erzählt hat) [,] 64 die das Thema seiner „Predigt“ war,65 fiel aber etwas ledern aus, ich dachte dabei [,] wie kolossalq Naumann z.B. die Leute begeistern müßte, wenn sie schon an Adler so großen Gefallen finden. Gestern abend lernten wir dann ihn u. seine Frau66 bei einem Dinner, das die sehr rührenden Prof. Seligmansr67 für uns gaben, auch persönlich kennen u. fanden einen liebenswürdigen, bescheidenen, wenn auch nicht grade fascinierenden Mann in ihm. Am Sonntag u. Montag abend waren wir also auch eingeladen – daß wir, resp. Maxel das alles aushält, ist doch märchenhaft, nicht wahr? Und inzwischen sahen wir noch Hermann Rösing68 u. Otto Weber[,] der uns mit seiner kleio O: aufnehmen; aufzunehmen sinngemäß ersetzt. p Unsichere Lesung wegen Tintenfleck in O. q O: kollossal r O: Seligmanns 63 Die in den 1860er Jahren von den Vereinigten Staaten ausgehende, auch in England und Deutschland verbreitete ethische Bewegung wollte Ethik und Religion voneinander trennen und eine als „Zustand der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit und gegenseitiger Achtung“ verstandene ethische Kultur durch Unterricht verbreiten (Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6, 6. Aufl. – Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1906, S. 139). In den USA war die Bewegung insbesondere mit dem Namen Felix Adlers (vgl. Anm. 65) verbunden, aber auch Edwin R. A. Seligman und Oswald Garrison Villard gehörten zu ihren Exponenten. Die von den Professoren Wilhelm Förster und Georg v. Gizycki gegründete „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“ fand in Max Webers Freundes- und Bekanntenkreis bei Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Gerhart v. SchulzeGaevernitz und Alois Riehl Anklang (vgl. Roth, Transatlantic Connections (wie oben, S. 372, Editor. Vorbemerkung), hier S. 102). 64 Vgl. oben, S. 378–380. 65 Felix Adlers Vortrag am Sonntagmorgen, 13. November 1904, war „Healing as a Religion“ betitelt (vgl. die Ankündigung in der New York Times, 44. Jg., Nr. 17117 vom 12. Nov. 1904, S. 11; das Manuskript ist überliefert in: Felix Adler Papers, Columbia University Li braries Archival Collections, Box 71, Folder 53). 66 Helen Adler. 67 Edwin R. A. und Caroline Seligman. 68 Hermann Rösing war ein Sohn von Johannes Rösing, einem Jugendfreund von Max Weber sen.
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nen Frau69 besuchte. Otto Weber machte wirklich einen sehr netten Eindruck, u. scheint ganz gehörig zu arbeiten – n.b. in demselben großen Export u. Importgeschäft70 wie Herr Rösing. Seine Frau, die ein zierliches, hübsches u. vollständig lady-likes, unbefangenes Geschöpfchen ist, klagte bitterlich, wie schwer es für sie in der ersten Zeit gewesen wäre, häufig bis 11 Uhr abends, manchmal sogar bis 2 Uhr nachts mutterseelenallein in ihrer kleinen Wohnung auf ihn warten zu müssen. Er war dann schon von morgens an ununterbrochen im Geschäft gewesen. Er meinte, ja das ginge nun mal nicht anders, das müsse eben sein. Jetzt haben sie ein 8 Monate altes Baby und wohnen mit der Familie der Frau zusammen, damit sie nicht allzu allein mit dem kleinen Kinde ist. Otto W[eber] sagte mir aber mit Nachdruck: „We are very happy“, er will uns nocheinmal besuchen u. sein Baby zeigen. – Sehr interessant war uns gestern ein Zusammensein mit Mrs. Fl[orence] Kelley, der früheren Fabrikinspectorin des Staates New York, jetzigen Sekretärin einer Organisation [,] die dafür agitiert, daß das Publikum nur Waaren kauft, die unter gesunden, anständigen Arbeitsbedingungen hergestellt sind. Sie macht einen sehr bedeutenden, mächtig energischen u. „sachlichen“ Eindruck. Sie hat 4 Kinder, schied sich von ihrem Mann, weil er sich unanständig benahm [,] u. ergriff dann erst ihren Beruf [,] mit dem sie ihre Kinder ernährte.71 Es ist doch ganz famos, daß es so etwas überhaupt giebt: 4 Kinder haben, Fabrikinspektorin sein – u. außerdem noch Vorlesungen halten und dgl.!! So nun Schluß für heute. In 4 Tagen schwimmen wir, bis dahin giebts aber noch viel zu erzählen. Tausend Grüße u. viel Liebes von Janne.
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NB. Freitag ist (am letzten Tage) noch eine „Receptions in honour of Mrs t Weber“ im University Club.72
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16.XI.04 Otto Weber war eben nochmals (allein) hier und machte wieder einen ganz guten Eindruck. Hermann Rösing, mit dem ich heut lunchte, gab sein Einkommen auf 1400 $ (5700 M.) an, mit dem er offenbar reichlich
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s 〈of〉 t In O mehrfach unterstrichen. 69 Otto Weber, ein Vetter väterlicherseits von Max Weber, hatte 1903 Mabel Janes (oder: James) geheiratet und war vor kurzem Vater einer Tochter namens Mabel Gertrude geworden. 70 Es handelt sich um die New Yorker Filiale der Hamburger Firma G. Amsinck & Co. 71 Florence Kelley hatte, bevor sie nach New York übergesiedelt und Generalsekretärin der von ihr mitgegründeten National Consumers League geworden war, von 1893 bis 1899 als erste leitende Fabrikinspektorin des Staates Illinois gearbeitet. Aus ihrer 1891 geschiedenen Ehe mit dem polnisch-russischen Sozialisten Lazare Wischnewetzky stammten drei Kinder (nicht vier, wie Marianne Weber irrtümlich meinte): John Bartram, Margaret Dana und Nicholas Kelley. 72 Der Columbia University Club gehörte damals zu den angesehenen gesellschaftlichen Vereinen von New York (vgl. Baedeker, Nordamerika, S. 19 f.).
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auskommt (Rösing braucht – als Junggeselle – 1800 $ – 7400 M., obwohl sein Zimmer ihn nur 25 $ per Monat kostet, er fortwährend eingeladen ist und weniger Anzüge braucht, als sonst hier üblich ist: Thea ter und Sommerfrisch-Wohnung an der See kosten eben viel). Von dem Strudel von Eindrücken der letzten Woche hat ja Marianne berichtet. Ich habe daneben noch Colleg auf der Columbia University gehört u. Collegen kennen gelernt,73 auch etwas auf den Bibliotheken gearbeitet. Der gewaltigste Eindruck war der des Judenviertels und der jüdischen Erziehungsanstalten für Immigranten [.]74 Das absolute self-government der Kinder, mit Clubs, in die sie Niemand hineinreden u. Fremde auch nicht hineinsehen lassen, ist doch das wesentlichste Amerikanisierungsmittel. Die absolute Autoritätslosigkeit der Jugend trägtu im Kampf ums Dasein hier ihre Früchte. Als Kinder von Schnorrern, die streng an allem Rituellen der Religion festhaften, kommen sie hierher, als „gentlemen“ verlassen sie diese Trainierungsanstalt und – stürzen sich auf die Neger des Südens, die sie fürchterlich auswuchern. – Dann eine so imponierende Frau wie Florence Kelley mit ihrem leidenschaftlichen Sozialismus.75 Die ganze Hoffnungslosigkeit sozialer Gesetzgebung bei dem System des Staatenpartikularismus, der Korruption vieler Arbeiterführer – die Strikes anrichten u. sich dann für die Beilegung von den Fabrikanten bezahlen lassen (ich selbst hatte einen letter of introduction an so einen Hallunken!) 76 – die Zustände in Chicago, wo sie war,77 wo es trotz leidenschaftlicher Agitation nicht gelang, ein Gesetz zum Schutz von Frauen gegen die Gefahren beu Unsichere Lesung. 73 Max Weber wurde von Edwin R. A. Seligman über den Campus der Columbia University geführt und mit anderen Wissenschaftlern bekannt gemacht. Welche Seminare oder Vorlesungen er besucht hat, ist jedoch nicht bekannt. 74 Vgl. dazu die Ausführungen von Marianne Weber oben, S. 386, Anm. 62. 75 Florence Kelley war seit ihrer Studienzeit in Zürich (1883) Sozialistin. Mit Friedrich Engels befreundet, hatte sie dessen „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ 1887 ins Englische übersetzt. 76 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 77 Florence Kelley lebte von 1892 bis 1899 in Chicago, wo sie als Mitstreiterin von Jane Addams in „Hull House“ wohnte. Als leitende Fabrikinspektorin des Staates Illinois kämpfte sie gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in den die Textilbranche prägenden „Sweatshops“ und für die Abschaffung der weitverbreiteten Kinderarbeit sowie die Einführung des Achtstundentags. Vermutlich bezieht sich Max Weber im folgenden auf Bestimmungen zur Sicherheit am Arbeitsplatz, die auf Anregung von Florence Kelley unter Gouverneur John Peter Altgeld erlassen wurden. Näheres konnte ohne Zugang zu den „Annual Reports“ der Fabrikinspektion nicht ermittelt werden.
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stimmter Gewerbe zu schaffen, bis eine Firma entstand, die solche Schutzapparate herstellte und nun durch Bestechung derv |:Abgeordneten:| verschiedener Staaten durchsetzte, daß ihre Benutzung gesetzlich vorgeschrieben wurde!78 – etc. etc. – und dennoch ist es ein wunderbares Volk und nur |:die Frage der:| Neger und die entsetzliche Einwanderung bilden die großen schwarzen Wolken. Und auch New York ist eine wunderbar anziehende Stadt. Der Blick in der Abenddämmerung im Winter um 5 Uhr, von der Brooklyn-Bridge auf die berghohen strahlenden Sky-scrapers gehört zu den Herrlichkeiten der Erde. – Morgen noch A[lfred] Lichtensteins,79 Freitag Nachmittag Frau Villard,80 Abends das jüdische Theater,81 dann Schluß. Ist das Wetter gut, so fahren wir über Hamburg, sonst über Paris. – Kosten der Reise (3 Monatew 12 Tage) 7200 Mk, |:(alles eingeschlossen, auch die Rückfahrt):| ab[züglich] x 500 $ y (2100 Mk) y |:Honorar:|, macht Nettokosten vonz 5100 M. Ein bodenloser Leichtsinn, aber ich mußte entweder jetzt oder nie hierhergehen. Befinden gut, bis auf eine tüchtige Erkältung. Daß ich die Sache so gut aushielt, hängt freilich auch mit dem starken Gebrauch der von Ernst82 mir verschriebenen Beruhigungsmittel zusammen. Sonst wäre es nicht gegangen. Aber Anregung und Beschäftigung des Gehirns ohne geistige Anstrengung ist eben überhaupt das einzige Heilmittel. Nun kommt die Seekrankheit. Auf Wiedersehen herzlichst Dein Max
v 〈Abgeordnet〉 w O: Monat x Unsichere Lesung. y–y O: (2100) Mk z Fehlt in O; von sinngemäß ergänzt. 78 Der Sachverhalt konnte nicht ermittelt werden. 79 Zur Einladung bei Familie Alfred Lichtenstein am Donnerstag, 17. November 1904 vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 399. 80 Es handelt sich um den Besuch bei Helen Frances Villard, der Witwe des mit Max Weber sen. befreundeten Henry Villard, am Freitag, 18. November 1904; vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 19. und 26. Nov. 1904, unten, S. 408 f. mit Anm. 28. Vgl. auch Roth, Transatlantic Connections (wie oben, S. 372, Editor. Vorbemerkung), S. 86, 94. 81 Vgl. oben, S. 386, Anm. 60. 82 Ernst Mommsen, Max Webers Schwager, war von Beruf Arzt.
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W. E. B. Du Bois [vor dem 8. November 1904]; New York Brief; eigenhändig ohne Schlußformel University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 Das Datum ist aus dem Inhalt des Briefs erschlossen: In Webers Brief an Du Bois vom 17. November 1904 (unten, S. 395) bedankt er sich für die Zusage zur Mitarbeit am AfSSp vom 8. November, um die im hier abgedruckten Brief gebeten wird. – Der Brief ist unvollständig; es ist unklar, ob lediglich die Schlußformel fehlt.
167 Madison Avenue New York (until 18th Nov., afterwards: Heidelberg, Germany) 5
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Dear Sir – I learned from you at St Louis1 that you hoped to be back at Atlanta after the 20th of October. Unfortunately my wife could not stand the climate of the South and so I failed to see your University2 and to make your acquaintance, – the few minutes at St Louis not counting in this respect. I hope to be allowed to do so another time. To-day I beg you to take into consideration a request I have to make as editor (together with Prof. Sombart) of the „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“a. Until now, I failedb in findingc in the American (and, of course, in any other) literatured an investigation about the relations between the (so-called) „race-problem“ and the (so-called) „class-problem“ in your country, although it is impossible to have any conversation with white people of the South without feeling a O: Sozialpolitik“) b 〈to〉 c seeking > finding d O: litterature 1 Nach Max Webers eigener Aussage trafen sie sich während des Kongresses zu einem Frühstück. Weber kam sechs Jahre später während der Verhandlungen des ersten Deutschen Soziologentages im Oktober 1910 anläßlich einer Debatte mit Alfred Ploetz über die Begriffe Rasse und Gesellschaft darauf zu sprechen: „Ich möchte konstatieren, daß der bedeutendste soziologische Gelehrte, der in den amerikanischen Südstaaten überhaupt existiert, mit dem sich kein Weißer messen kann, ein Neger ist, – Burckhardt [!] Du Bois. In St. Louis auf dem Gelehrtenkongreß durften wir mit ihm frühstücken.“ Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M. Reden und Vorträge von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Werner Sombart, Alfred Ploetz, Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein, Andreas Voigt, Hermann Kantorowicz und Debatten (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, I. Serie: Verhandlungen der Deutschen Soziologentage, I. Bd.). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 164 (MWG I/12). 2 University of Atlanta.
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the connection. We have to meet to-day in Germany |:not only:| the dilettantic literaturee à la H[ouston] St[ewart] Chamberlain3 & Cons., but a „scientific“ race-theory, built up on purely anthropological fundaments, too, – and so we have to accentuate especially those connections and the influence of social-economic conditions upon the relations of races to each-other. I saw that you spoke, some weeks ago, about this very question,4 and I should be very glad, if you would find yourself in a position to give us, for our periodical, an essay about that object. So I bid you to write me, whetherf you should be willing to do so, and at what time?g5
e O: litterature f if > whether g Ende des Briefes ohne Schlußformel. 3 Weber dürfte sich hier v.a. beziehen auf Chamberlain, Houston Stewart, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde. – München: Bruckmann 1899. 4 Nach Nahum D. Chandler und Lawrence A. Scaff handelt es sich um eine Rede von Du Bois, die er zwischen Februar und Oktober 1904 häufiger hielt, u.a. vor dem Twentieth Century Club in New York mit dem Titel „Caste in America“. Weber dürfte darüber aus der Presse erfahren haben. Nachgewiesen ist sie in den W. E. B. Du Bois Papers (MS 312), Special Collections and University Archives, W. E. B. Du Bois Library, University of Massachussetts Amherst. Vgl. Chandler, Nahum D., The Possible Form of an Interlocution. W. E. B. Du Bois and Max Weber in Correspondence, 1904–1905, in: The New Centennial Review, Vol. 6, No. 3, Winter 2006, S. 193–239 (hinfort: Chandler, The Possible Form), hier S. 196, Anm. 7; Scaff, Lawrence A., The ‚Cool Objectivity of Sociation’: Max Weber and Marianne Weber in America, in: History of the Human Sciences, Vol. 11, No. 2, 1998, S. 61– 82, hier S. 71 und 80. 5 Der gewünschte Aufsatz erschien im Januar-Heft des Archivs 1906: Burghardt Du Bois, W. E., Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten, in: AfSSp, Band 22, Heft 1, 1906, S. 31– 79 (hinfort: Du Bois, Negerfrage). Der Nachname Du Bois’ ist hier falsch wiedergegeben, Burghardt ist tatsächlich der dritte Vorname.
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Hugo Münsterberg 14. November 1904; [New York] Brief; eigenhändig Boston Public Library, Münsterberg Papers, Ms. Acc. 2229
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Ihre freundlichen Empfehlungen nach Brown U[niversity] konnte ich nicht verwenden, da – charakteristischer Weise – der Librarian1 mit großer Energie die Universität dagegen in Schutz nahm, eine „Sectarian University“2 zu sein und – als Folge dieses allgemeinen Strebens, die eigne Vergangenheit zu vergessen, dort nichts über Baptisten-Geschichte angeschafft wird.3 Da Faunce und der ökonomische College4 grade Sitzung hatten, suchte ich sie nicht auf, sondern fuhr direkt weiter hierher. Zweck dieser Zeilen ist einzig, Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin5 nochmals für die fast über das Maß des Erlaubten hinaus freundliche Aufnahme in Cambridge zu danken. Zugleich möchte ich nochmals aussprechen, wie sehr es mich gefreut hat, daß es Ihnen als Deutschen gelungen ist in Harvard sich die soziale Position zu schaffen [,] die Sie einnehmen und für wie überaus werthvoll ich diesen Erfolga im Interesse des Deutschtums halte. Auch der Congreß in St Louis übertraf die Erwartungen [,] die ich hegte. Er war unter allen Umständen eine Quelle der Anregung für alle Beteiligten, die den guten Willen hatten von der gebotenen Gelegenheit Gebrauch zu machen. Die Frage kann nur sein, ob die große Mühe und der nicht gea Umstand > Erfolg 1 Der Leiter der Universitätsbibliothek zu dieser Zeit war Harry Lyman Koopman. 2 Die Brown University in Providence, Rhode Island, wurde 1764 von einem Baptistenpastor gegründet. 3 Über diese Erfahrung berichtete Weber auch in der „Protestantischen Ethik“: „In Amerika führt leider jetzt die charakteristische geflissentliche Verläugnung der ,sektiererischen‘ Vergangenheit durch die Universitäten dazu, daß die Bibliotheken wenig oder oft geradezu nichts Neues an derartiger Literatur anschaffen, – ein Einzelzug aus jener allgemeinen Tendenz zur ,Säkularisation‘ des amerikanischen Lebens, welche in nicht langer Zeit den historisch überkommenen ,Volkscharakter‘ aufgelöst und den Sinn mancher grundlegenden Institutionen des Landes völlig und endgültig verändert haben wird.“ Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 246 f., Fn. 3. 4 Weber meint vermutlich Henry Brayton Gardner. 5 Selma Münsterberg, geb. Oppler.
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ringe Ärger, die Ihnen bei dieser Gelegenheit erwachsen sind, für Sie sich verlohnt haben. Wir leben hier in einem fortgesetzten Taumel neuer Eindrücke und ich bitte Sie die Kürze dieses Grußes damit zu entschuldigen, daß wir kaum noch imstande sind, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Ich sende Ihnen von Heidelberg ein kurzes Essay über den Puritanismus (Artikel 1).6 Wenn ich dann eine Gegengabe erbitten darf, so wäre es die „Schedule“ (Colleganzeige) und ev. ein Report der Harvard Universität, sobald im nächsten Jahr ein solcher erscheint.7 Ihren Aufsatz in Ihrer Zeitschrift8 werde ich mir auf der Seefahrt einverleiben, so weit dies möglich sein wird. Wir fahren Sonnabend früh.9 Mit collegialem Gruß und bester Empfehlung Ihr Max Weber
6 Weber, Protestantische Ethik I, MWG I/9, S. 97–215. 7 1905 erschien erstmals ein solcher „Class Report“ für das zurückliegende Jahr: Harvard College (Hg.), Class of 1904. Secretary’s First Report. – Cambridge: The University Press [1905]. 8 Münsterberg, Hugo, The Position of Psychology in the System of Knowledge, in: Harvard Psychological Studies, Vol. 1, 1903, S. 641–654. Münsterberg gab die ersten vier Bände der „Harvard Psychological Studies“ zwischen 1903 und 1915 heraus. 9 19. November 1904.
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W. E. B. Du Bois 17. November 1904; New York Brief; eigenhändig University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3
New York 17. XI. 04 Dear Sir – 5
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I received your kind letter dated Nov. 8th and am indeed very glad, that you are disposed to give us the essay I asked you for.1 I shall with pleasure read the studies about the race problem you kindly promised to send me, 2 and hope to be allowed to ask you also for a report and schedule of the lectures of the Atlanta University,3 showing |:– if possible –:| the text books used in the social-science-lectures, if I could get them. I am quite sure to come back to your country as soon as possible and especially to the South,4 because I am absolutely convinced that the „colour-line“ problem will be the paramount problem of the time to come, here and everywhere in the world. My German address is, simply: Prof. M.W., Heidelberg. I am going there this Saturday, 5 and am Yours very respectfully Max Weber
1 Du Bois, Negerfrage (wie oben, S. 392, Anm. 5). Vgl. dazu auch den Brief Max Webers an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, oben, S. 391 f. 2 Weber könnte sich hier auf die Atlanta University Publications beziehen, die zwischen 1896 und 1947 fast jedes Jahr erschienen und sich sozialwissenschaftlich mit der Rassenfrage in den USA beschäftigten und von Du Bois herausgegeben wurden. Bis 1904 waren neun Bände erschienen. In einer „Bibliographischen Notiz“ zum Aufsatz von Du Bois im AfSSp wird zudem auf sie hingewiesen: Du Bois, Negerfrage (wie oben, S. 392, Anm. 5), S. 79. 3 Die Atlanta University brachte seit 1877 jährlich einen Catalogue of the Officers and Students of Atlanta University heraus, der auch über Lehrveranstaltungen, Forschungsprojekte etc. informierte. 4 Max Weber hat die USA nicht mehr besucht. 5 Max und Marianne Weber verließen New York am Samstag, 19. November 1904, mit der „Hamburg“.
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Edwin R. A. Seligman 19. November 1904; New York Brief; eigenhändig Columbia University Libraries, New York, Archival Collections, Ms Coll/Seligman
New York 19/XI 04 Sehr geehrter Herr College! Wir können New York nicht verlassen, ohne Ihrer Frau Gemahlin1 und Ihnen nochmals unsren verbindlichsten Dank auszusprechen für die ganz außerordentliche Liebenswürdigkeit, mit der Sie uns aufgenommen und uns hier die Wege geebnet haben. Eine ganze Reihe der genuß- und lehrreichsten Abende verdanken meine Frau und ich ausschließlich Ihrer freundlichen Fürsorge und Vermittlung.2 Ich werde voraussichtlich im Lauf der nächsten Jahre die V[ereinigten] Staaten noch einmal besuchen, 3 und hoffe dann nicht in dem Maße wie jetzt in der Eile und überdies durch meine ungenügende Beherrschung der englischen Sprache und außerdem durch meine auch hier gelegentlich noch recht fatal fühlbare Krankheit gehemmt zu sein. Ich bitte Sie nochmals, die selbst für „Dutchmen“ außergewöhnliche Formlosigkeit, mit der wir uns hier betragen haben, zu verzeihen, – es war thatsächlich nicht anders möglich gegenüber dem überwältigenden Maße von persönlichen Beziehungen, die sich hier alsbald entwikkelten. Ich hoffe, Ihre Frau Gemahlin und Sie geben uns recht bald die Ehre eines Besuchs in Heidelberg – vielleicht während Ihres „Sabbathjahrs“?4 Ich erlaube mir, Ihnen demnächst einige Essays zu schik-
1 Caroline Beer Seligman. 2 Max und Marianne Weber waren mindestens einmal bei der Familie Seligman zum Abendessen eingeladen, nachweisbar am 14. November 1904, wie sich aus dem Brief an Helene Weber vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, oben, S. 387, erweist. Durch die Vermittlung des Ehepaars Seligman machten Max und Marianne Weber in New York noch weitere Bekanntschaften, z.B. mit Felix Adler, David Blaustein und Florence Kelley. 3 Max Weber hat die USA nicht mehr besucht. 4 Seligman nahm zumindest bis 1910 kein Sabbatjahr, wie aus dem jeweiligen „Catalogue and General Announcement“ der Columbia University hervorgeht.
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ken, die Sie vielleicht im Anschluß an unsre Unterhaltungen interessieren.5 Mit ausgezeichneter Hochachtung und collegialem Gruß sowie angelegentlichster Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin Ihre ergebensten Max Weber und Frau.
5 Es ist unklar, welche Arbeiten Weber hier gemeint haben könnte. Es könnte sich u.a. um Weber, Protestantische Ethik I, handeln.
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Helene Weber und Familie 19. und 26. November 1904; BK Am Bord des Dampfers [Hamburg] Brief; eigenhändig von Max Weber und Marianne Weber GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6, Bl. 104–113 Der folgende Brief besteht aus zwei Teilen, deren Abfolge vermutlich im Nachhinein durch die Numerierung „I“ und „II“ kenntlich gemacht wurde und dessen II. Teil von Marianne Weber mutmaßlich ebenfalls zu diesem späteren Zeitpunkt mit der Datumsangabe „Dezember 1904“ versehen wurde. Tatsächlich verfaßten Max und Marianne Weber ihre Briefteile wohl etwa zeitgleich am Morgen des 19. November, bevor die „Hamburg“ um 12 Uhr mittags aus dem Hafen von New York auslief (vgl. unten, Anm. 1): Marianne Weber beendete ihren Teil im wesentlichen (Bl. 104–109 beidseitig beschrieben), bevor das Schiff den Hafen von New York verließ („gleich beginnt die Maschine lebendig zu werden“) und verwies darin bereits auf Max Webers undatierten Teil (Bl. 110–113 ebenfalls beidseitig beschrieben) mit seinem Bericht über den Besuch im jiddischen Theater am Abend zuvor (unten, S. 402 f.). Marianne Weber fügte ihrem Teil am 26. November noch eine kurze Notiz bei (Bl. 109v), diese wird hier im Anschluß an den Teil Max Webers wiedergegeben. – Zur Entscheidung, im Rahmen der ‚Amerikabriefe‘ auch die Briefe und Briefteile von der Hand Marianne Webers in die Edition der Briefe Max Webers einzuordnen, vgl. die Einleitung, Abschnitt „Zur Überlieferung und Edition“, oben, S. 23 f.
Am Bord des Dampfers Hamburg den 19. Nov.1904 Hamburg – Amerika Linie. Ihr Lieben, Bevor unser Schiffchen anfängt zu wackeln1 u. vielleicht unsern Geist verschüttet, wollen wir Euch noch einen letzten Gruß aus dem Lande schicken, in dem wir[,] vor allem in Bezug auf Maxens Befinden, eine so gute glückliche Zeit verlebt haben. Ich habe manchmal das Gefühl, als brächte ich einen Genesenen mit nach Hause, der sich des Kapitals an Kräften, das er langsam, langsam angesammelt hat, wieder bewußt geworden wäre – aber wir wollen keine Überflieger sein, natürlich ist es etwas anderes zu reisen u. dann allem gewachsen zu sein, als zu arbeiten – für fast Jeden ist ja eine derartige Reise Erholung von Kopfarbeit. Aber allerdings vor 1 Jahr hätte Max die mannigfachen Strapazen [,] vor allem die geselligen Vergnügungen der letzten Zeit [,] sicher nicht ertragen – wir waren manchmal mittags u. abends eingeladen, sind gestern abend erst um 1½ Uhr nach Hause gelangt etc. – haben zwar verschiedentlich gegrunzt, namentlich wenn das Toilettenmachen so viel Zeit in Anspruch nahm – aber after all, wir haben es ganz fein wie normale Menschen ausgehalten. Seit mir New York räumlich etwas bekannter geworden ist, sodaß ich mich zurecht finden konnte, habe ich mich ganz heimisch gefühlt u. auch mehr Schönheit in dem seltsamen Durcheinander von kleinen u. 1 Das Dampfschiff „Hamburg“ der Hamburg-Amerika-Linie verließ New York am 19. November 1904 um 12 Uhr mittags mit Hamburg als Zielhafen (vgl. die Rubrik „Shipping and Foreign Mails“, in: New York Times, Jg. 54, Nr. 17123 vom 19. Nov. 1904, S. 13).
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unverschämten Riesenhäusern u. in dem Gemisch von Nationen gefunden als in der ersten Zeit. Auch war es jetzt nicht heiß. Wunderbar phantastisch ist der Blick von der Brooklyn[-]Brücke im Abendschein auf die erleuchteten skyscrapera ! Der Himmel dunkel rot u. lila verdämmernd u. in ihn hineinragend wie ein Gebirge mit seltsamen Konturen der Haufen von Riesenbauwerken auf der Spitze von Manhattan island, durchglüht von Millionen Lichtern, – so als ob der Geist [,] der in diesen Gebäuden lebt – das Geldstreben [,] sich verkörperlicht hätte in glühenden Geldströmen, die die Wände durchleuchten. Ein märchenhafter Anblick! Man könnte auch meinen die Gralsburg oder irgend ein Zauberschloß vor sich zu sehen. – Nun noch von unsren letzten Erlebnissen – Donnerstag waren wir nochmal bei Lichtensteins, 2 sehr liebenswürdig aufgenommen u. vorzüglich gespeist, sonst nichts Bemerkenswertes. Interessanter war mir der Abend vorher in einem work ing-girls club, deren es hier unzählige giebt. 3 Die Mädchen aus allen Gewerben finden da geselligen Anschluß, anständiges Vergnügen, auch einzelne Fortbildungskurse u. Diskussionsabende. Was bei uns das Organisieren der Angehörigen verschiedener Berufszweige unmöglich machen würde – die Mannigfaltigkeit der Standesunterschiede [–,] existiert hier nicht, die Stenographin, die Verkäuferin, Putzmacherin u. das Fabrikmädchen fühlen sich nach der Arbeit in „Toilette“ u. Federhut als Gleiche. An dem Abend war eine allgemeine Diskussion über ein von der Vorsitzenden [,]4 die keine Arbeiterin sondern eine „Dame“ war[,] gewähltes Thema: sehr philosophisch u. scheinbar abstrakt: „Über die Fähigkeit“ [.] – Aber es war gradezu bewundernswert [,] wie die Vorsitzende den Faden fortzuspinnen u. allerlei Fragen [,] die einen jungen Menschen nur beschäftigen können, bis zur Religion u. Sittlichkeit hineinzuziehen wußte [,] u. noch wunderbarer[,] wie sie wirklich die Mädchen zum Sprechen u. zur lebhaften Meinungsäußerung zu bringen wußte. Diese Dame gehörte zu den vielen Reichen, die hier voll wärmster Liebe für ihre Mitmenschen u. voll echt demokratischen u. sozialen Verantwortlichkeitsgefühlsb ihre ganze Kraft u. Zeit widmen. – a O: skyskraper b O: Verantwortlichkeitsgefühl 2 Es handelt sich um den im Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, oben, S. 384, angekündigten Besuch bei Alfred und Johanna (Hannah) Lichtenstein. 3 1884 hatten junge New Yorker Fabrikarbeiterinnen und Verkäuferinnen, sogenannte working girls, mit der Unterstützung von Grace Hoadley Dodge (1856–1914), einer philanthropisch gesinnten „höheren Tochter“, die „Working Girls‘ Society“ gegründet. Sie wollten damit zunächst einmal ein Gesprächsforum schaffen und als Gruppe von selbstbewußten jungen, berufstätigen Frauen sichtbar werden. Um 1900 gab es in New York 21 derartige Clubs, die sich zunehmend in der beruflichen Weiterbildung engagierten. In der Regel wurden sie von weiblichen Angehörigen der Oberklasse finanziell unterstützt und waren vielfach der seit 1893 bestehenden „Association of Working Girls’ Societies“ angeschlossen (vgl. Gaudiani, Claire und David Graham Burnett, Daughters of the Declaration. How Women Social Entrepreneurs built the American Dream. – New York: Public Affairs 2011, S. 148ff.). Der Name der von Marianne Weber besuchten Einrichtung konnte nicht ermittelt werden. 4 Der Name konnte nicht ermittelt werden.
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Lehrreich war auch der Besuch der „philanthropischen Schule“, 5 die ganz in der Art von Alice Salomons „Mädchengruppen“ für soziale Hilfsarbeit, Frauen theoretisch u. praktisch zur sozialen Arbeit vorbereitet.6 Ich hörte dort Mrs Fl[orence] Kelley [,] von der ich wohl im letzten Brief erzählt habe,7 über einige industrielle Ursachen der Bedürftigkeit sprechen, ihre Schilderung der hiesigen Zustände war ziemlich düster, der Mangel einer einheitlichen Arbeiterschutzgesetzgebung macht sich sehr unangenehm fühlbar, wird in einem Staate z.B. ein Kinderschutzgesetz o. dgl. glücklich durchgebracht, so wandert die dadurch betroffene Industrie einfach 5 Meilen weiter über die Grenze in einen andren Staat u. beutet dort die Kinder fröhlich weiter aus. M rs. K[elley] ist höchst anziehend u. interessant, ich weiß nicht, ob ich schon erzählt habe, daß sie 4 Kinder groß gezogen hat, u. nach der Scheidung von ihrem Mann, der ein Lump war, Fabrikinspektorin geworden ist.8 Großartig, daß es Frauen mit so viel Kraft u. Energie giebt. Eine andre höchst anziehende Persönlichkeit ist Miss Wald, die Organisatorin von Krankenpflegerinnen-settlements in den armen Stadtteilen.9 Eine Gruppe von ausgebildeten [,] höchst gebildeten Pflegerinnen lebt ohne irgend welche Beziehung zu einer sie kontrollierenden Gemeinschaft, einem Diakonissen- oder Schwesternhaus [,] aus freien Stücken und selbständig in einem Heim, u. besucht von da aus jeden Morgen die armen Familien [,] die sie um Hilfe angehen. Außerhalb ihrer „Geschäfts“stunden sind sie frei zu thun u. zu lassen, was Jede will, ihre Regeln geben sie sich selbst [.] – Diese Damen gehen z.B. nachts nicht aus, sondern beschaffen für die Nachtstunden bezahlte Kräfte. Ihr Heim ist in jedem Stadtviertel überdies ein Mittelpunkt für das soziale Leben der Nachbarschaft, die boys and girls clubsc haben dort ihre meetings, sie richten auch Kochschulen u. Kurse ein – besuchen die Familien etc. [,] kurz [ : ] wirken wie die settlements. Als ich abends bei ihnen aß, waren alle Damen in weißen Kleidern – vollkommen ladylike weltlich u. selbstherrlich u. doch offenbar ebenso wertvoll für die Kranken u. Armen u. ihre c O: club 5 Die 1904 gegründete „New York School of Philanthropy“ bot in den Vereinigten Staaten erstmals eine Vollzeitausbildung auf dem Feld der Sozialen Arbeit an. Ihre Anfänge gingen auf sechswöchige, seit 1898 veranstaltete Sommerkurse zurück. 6 1893 waren in Berlin die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ gegründet worden mit dem vorrangigen Ziel, Arbeitskräfte für karitative Tätigkeiten zu gewinnen und sozialreformerische Kompetenz zu entwickeln. 7 Vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, oben, S. 388. 8 Florence Kelley hatte aus der 1891 geschiedenen Ehe mit dem polnisch-russischen Sozialisten Lazare Wischnewetzky tatsächlich drei Kinder. Ihre berufliche Laufbahn hatte sie als erste leitende Fabrikinspektorin des Staates Illinois begonnen und war seit 1899 Generalsekretärin der National Consumers League (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, oben, S. 388 mit Anm. 71). 9 Lillian D. Wald war die Gründerin des Henry Street Settlement. Dieses zunächst in der Lower East Side als Pflegedienst für bedürftige Kranke angesiedelte Sozialprojekt konnte durch die finanzielle Unterstützung des Bankiers Jacob Schiff beträchtlich ausgeweitet werden.
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ganze Nachbarschaft wie unsre unter derd Kontrolle des Mutterhauses u. der religiösen Disciplin arbeitenden Diakonissinnen. Die Einrichtung ist der unserigen total entgegengesetzt u. leuchtet mir ungeheuer ein. In dieser Form würde der Beruf sicher einer weit größeren Zahl gebildeter, weitsichtiger Frauen annehmbar, – denn sie fordert in keiner Richtung einen so vollständigen Verzicht auf die eigne Initiative u. Freiheit der Persönlichkeit wie bei uns. Fabelhaft [,] was für Gelder die Leute hier für solche Werke zusammenbringen. Alle mit Miss Wald verknüpften Pflegerinnen u. alle ihre Häuser existieren durch private Zuwendungen. In diesem Hause hatte ich auch mal Gelegenheit einem Knabenklubs-meeting beizuwohnen. Das ist nun auch eine merkwürdige [,] in unsrem Leben absolut fehlende und wohl auch nach unsren Erziehungsgrundsätzen ganz unmögliche Veranstaltung. Die kleinen 12jährigen Kerlchen bewegten sich ganz in den parlamentarischen Formen, über die Aufnahme eines neuen Mitglieds wurde nach dem Bericht einer „Kommission“ über seinen Charaktere abgestimmt, dann kam ein literarischer Teil – ein Junge las offenbar etwas selbst Gedichtetes vor, u. dann – u. dies war das köstlichste – eine Diskussion über eine politische Frage: u. zwar darüber, ob es besser sei die Senatoren durch das „Volk“ oder wie jetzt durch die Abgeordneten wählen zu lassen. 2 Buben mußten die eine u. 2 die andre Ansicht vertreten, u. der eine Bengel sprach mit Gesten u. allem Zubehör, „kritisierte“ die Schäden des gegenwärtigen Systems wie ein Alter. Dabei genierten sich die jungen Politiker (lauter kleine jüdische Proletarierkinder) nicht eine Spur vor uns Erwachsenen. So, gleich beginnt die Maschine lebendig zu werden, – und dann verfallen wir wahrscheinlich in einen geistigen Dämmerzustand. Und da Max von unsrem letzten Abend im jüdischen Theater erzählt hat,10 mache ich jetzt Schluß. Nun schreibt uns fein nach Heidelberg, namentlich Ihr, Tante Flora u. Marie,11 denn von Euch habe ich nun seit 3½ Monaten kein Lebenszeichen! In Liebe und mit vielen Grüßen Euer Schnäuzchen. Schickst unsre Briefe nach Heidelberg, du, Wina, gelt?
d O: dem e O: Charakter, 10 Zu Max Webers Schilderung der Aufführung von Jacob Gordins Drama „Die emese kraft“ vgl. unten, S. 402 f. mit Anm. 14. 11 Marianne Webers Tanten väterlicherseits, Florentine (Flora) und Marie Schnitger.
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Am Bord des Dampfers _______ den _____19_. Hamburg – Amerika Linie Liebe Mutter! New York liegt im Dunst eines schönen Wintermorgens hinter uns12 und alles ist vorüber – „après nous“ – und vielleicht auch „dans nous“ le déluge,13 denn gestern Nachtf waren wir noch bis ½2 Uhr im Judenviertel, erst in einem „yiddischen“ Theater,14 dann zusammen mit unsrem speziellen Freund, Dr Blaustein, dem Leiter des Immigrantenempfangshauses [,]15 und dem Dichter des Dramas „Die emeseg |:(= wahre):| Kraft“, welches wir gestern Abend hörten. Trotzdem die Sprache zu ⅔ unverständlich ist – eine entsetzlich corrumpierte Aussprache des Deutschen, mit hebräischen und teilweise russischen Wörtern versetzt: „was is des Läben mies“ (= jammervoll) bekommt man in hochtragischen Momenten zu hören – trotzdem wir folglich dem Sprechenh nur wenig folgen konnten, war die schauspielerische Leistung so großartig in ihrer Art, daß man die Handlung (ein Arzt, der eine „Frau aus dem Volk“ heirathet, die Conflikte der Culturschichten, die entstehen, erlebt, von ihr betrogen wird, sich aber am Totenbetti seiner Tochter erster Ehe, die sie pflegen hilft, mit ihr versöhnt) j vollständig verstand, zumal die nicht einwandfreie Dichtung einige Charaktertypen (insbesondre eines „Sozialisten“ und eines rabbinischen „Gelehrten“) aufwies, welche von den jüdischen Schauspielern, den besten, die Amerif Abend > Nacht g O: emtje h Dialog > Sprechen i Alternative Lesung: Todtenbett j 〈un〉 12 Die „Hamburg“ hatte um 12 Uhr mittags abgelegt (vgl. oben, S. 398, Anm. 1). 13 Die Redewendung „après nous le déluge“ (dt.: nach uns die Sintflut) wird Mme de Pompadour, Mätresse König Ludwigs XV. von Frankreich, zugeschrieben, die sie 1757 nach einer verlorenen Schlacht geäußert haben soll. 14 Max und Marianne Weber besuchten am 18. November eine Vorstellung des Dramas „Die emese kraft“ (vgl. Gordin, Jacob, Die emese kraft. Drama in 4 Akten. – New York: Internat. Libr. Publ. Co. 1910). Die Aufführung fand vermutlich im Grand Theatre statt (vgl. Warnke, Nina, Patriotn and Their Stars. Male Youth Culture in the Galleries of the New York Yiddish Theatre, in: Berkowitz, Joel und Barbara J. Henry (Hg.), Inventing the Modern Yiddish Stage. Essays in Drama, Performance, and Show Business. – Detroit: Wayne State University Press 2012, S. 161–183, hier S. 174 f. mit Anm. 55). 15 David Blaustein leitete die Educational Alliance (vgl. den Brief an Helene Weber und Familie vom 6., 11., [15.] und 16. Nov. 1904, oben, S. 386), eine Einrichtung, die sich insbesondere um die Integration jüdischer Einwanderer verdient machte.
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ka kennt,16 in absolutester Selbstkarrikierung großartig gegeben wurden. Wir wurden natürlich hinter die Culissen zu den Akteurs, darunter einem 12jährigen allerliebsten Mädchen,17 geführt, und dask Beisammensein im Schauspielercafé nachher war recht interessant. Es ist das 73. Stück des Autors, der einen yiddisch’en „Faust“18 geschrieben hat, – offenbar schreibt er für jedes seiner 11 Kinder 10 Stücke, wenigstens hat er es so vor, und da auch Romane u. Novellen in yiddish geschrieben werden, so ist, vorläufig wenigstens, der in Rußland selbst teils durch Deutsch, teils durch Russisch allmälig verdrängte Dialekt vor dem Aussterben gesichert. Ca. 800000 Menschen sprechen ihn. – Dr Blaustein, der für das Archiv schreiben wird,19 ist ein Idealist rein sten Wassers, dabei ein „Knalljud“20 tollster Physiognomie, lehnte es ab, bei den Freimaurern „Meister vom Stuhl“21 zu werden, weil er dann (als „Atheist“) den confessionslos-christlichen Eid („das Christentum zu schützen [“]) zu leisten hätte.22 Die Erzählung gab |:wieder einmal:| einen Einblick in die Art, wie hier die Clubs, Orden etc. funktionieren. Er meinte, ein Richter[,] der Freimaurer sei, würde ihn |:– als Freimaurer –:| nicht leicht verurteilen, sondern ihn öffentlich freisprechen, aber seine Ausstoßung aus dem Orden veranlassen (durchaus wie die katholische Kirche, – eben jetzt bekam Cardinal Gibbons eine Katzenmusik wegen ähnlichen Verhaltens bezüglich eines wegen Sittlichkeitsvergehen von seinen Collegen bei der Staatsanwaltschaft angezeigten Priesters: er hatte den Anklägerl und den Angeklagten ihrer Stellen entsetzt.23 Er (Dr Blaustein) m berichtete ferner, wie das Freimaurerzeik 〈Nach〉 l 〈bestraft〉 m 〈meinte〉 16 Mit Jacob P. Adler stand der überragende Schauspieler des jiddischen Theaters auf der Besetzungsliste von Gordins „Die emese kraft“ (vgl. Jacob Gordin, in: Lives in the Yiddish Theatre. Short Biographies of Those Involved in The Yiddish Theatre As Described in Zalmen Zylbercweig’s „Leksikon Fun Yidishn Teater“, 〈http://www.museumoffamilyhisto ry.com/yt/lex/G/gordin-jacob.htm〉 (o.J.)). 17 Frances Adler. 18 Gordin, Jacob, Got , mensh un tayvel. Drama in fir akt en mit a prolog. – New York: In˙ pablishing komp. 1903. ˙˙ ˙ t ernatsyonale bibliot hek ˙19 Ein Beitrag von David ˙ ˙ Blaustein im ˙ AfSSp ist nicht nachgewiesen. 20 Zum Ausdruck vgl. den Brief an Marianne Weber vom 8. Juni 1903, oben, S. 81 mit Anm. 5. 21 Der Vorsitzende einer Freimaurerloge. 22 David Blausteins Ansicht über die Bedeutung der Führungsposition einer Freimaurerloge fand Eingang in: Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 212, Fn. 3 (MWG I/18). 23 Max Weber spielt auf einen Vorfall an, der sich am 13. November 1904 vor der polnisch-katholischen Kirche in Baltimore ereignet hatte: Auf dem Weg zum Gottesdienst war
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chen noch jetzt [,] bei der Kundenwerbung, für Handelsreisende etc. von Werth ist (ob nicht Richard Müller24 in die Loge eintreten könnte?) – genau wie wir es in den alten methodistischen und baptistischen Katechismen lesen. Das riesige Anschwellen der Clubs und Orden hier ersetzt die zerfallende kirchliche (d.h. Sekten-) Organisation. Ziemlich jeder Farmer und sehr viele Geschäftsleute mittleren und kleineren Ranges tragen ihre „badge“ im Knopfloch, wie die Franzosen dasn rothe Bändchen.25 Nicht in erster Linie aus Eitelkeit, sondern weil es alsbald die Legitimation dafür ist, daß er von einer bestimmten Gruppe Menschen, die ihn nach angestellten Recherchen über seinen Charakter und Wandel – man denkt unwillkürlich an unsre Reserveoffiziers-Recherchen26 – o durch Ballot27 als ein gentleman anerkannt und aufgenommen ist, – genau derselbe Dienst, welcher dem Mitglied der alten Sekten |:(Baptisten, Quäker, Methodisten, etc.):| vor 100 und 50 Jahren seine „letter of recommendation“ [,] die ihm seine Gemeinde an die auswärtigen „Brüder“ mitgab, leistete.
n d[en] pour le m > das o 〈als di〉 Kardinal James Gibbons von aufgebrachten Gemeindemitgliedern angegriffen worden, weil er deren Pastor versetzt hatte. Dieser, ein Vater Morris, hatte seinen früheren Assistenten, Vater Wisok, wegen anzüglicher Briefe an die Pfarrhaushälterin angezeigt. Damit hatte er gegen Kirchenrecht verstoßen, demzufolge kein Priester gegen einen anderen ein (weltliches) Strafverfahren veranlassen durfte (vgl. Cardinal Gibbons pursued by a Mob. Members of St. Stanislaus Church smash Rectory Furniture, in: New York Times, Jg. 54, Nr. 17118 vom 14. Nov. 1904, S. 1). 24 Richard Müller, der Sohn von Alwine (Wina) und Bruno Müller, arbeitete im Familienunternehmen Carl Weber & Co. 25 Es handelt sich um das Kennzeichen der „Legion d’honneur“, des 1802 von Napoléon Bonaparte gestifteten Verdienstordens. 26 Um Reserveoffizier zu werden, mußten im Kaiserreich nicht allein formale Voraussetzungen (wie ein höherer Schulabschluß und die Ableistung des einjährig-freiwilligen Militärdienstes) erfüllt sein, vielmehr bedurfte es der Wahl durch ein aus dem Offizierskorps der Landwehrbezirke zusammengesetztes Ehrengericht. Zuvor stellten die Militärbehörden Recherchen über Familienverhältnisse und Lebensumstände des Aspiranten an (vgl. John, Hartmut, Das Reserveoffizierskorps im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zur Untersuchung der gesellschaftlichen Militarisierung im Wilhelminischen Deutschland (Campus Forschung, Band 224). – Frankfurt am Main, New York: Campus 1981, S. 238–270). 27 Gemeint ist ein geheimes Abstimmungsverfahren (die Ballotage) mit weißen und schwarzen Kugeln für Zustimmung bzw. Ablehnung.
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Das heutige amerikanische Leben steckt voll solcher säcularisierter Sprößlinge des alten puritanischen Kirchentums.1) — Vorher M rs Villard.28 Sie ist trotz der vielen Jahre seit ihrem Berliner Aufenthalt29 noch immer so graziös und anziehend wie früher, in ihrem weißen welligen Haar und anmuthiger Toilette, ging Abends auf die „Horseshow“ (Beginn der Society season im Garden theatrep : die Vanderbilts etc. führen in der Arena ihre Gespanne, auf dem Balkon ihre Toiletten der sich zwischen Balkonen und Arena staunenden misera plebs30 vor.) 31 Wir sahen ihre recht anmuthige Schwiegertochter,32 – der Sohn33 ist Redakteur der Evening Post (ganz gute Zeitung, die immer Villard mitgehörte).34 Sie sprach viel und bewegt von ihrem Mann, läßt Dich vielmals grüßen, denkt, wie sie sagt, mit Dankbarkeit an die Berliner Freunde, die ihren Mann nach dem Sturz psychisch 1) Auch Lichtenstein’s sagten, die erste Frage der Amerikaner – mit denen sie deshalb nicht verkehrten – sei stets: „which church do you belong to?“35 Alle gesellschaftlichen Bekanntschaften [,] wenigstens in demq im Gegensatz zu New York sehr frommen Brooklyn36 und die Verkehrs-, Diner- etc. Beziehungen in den eigentlichen Yankee-Kreisen knüpfen an die Kirche an, – noch jetzt! Trotz allen Verfalls. p Alternative Lesung: theater q 〈sehr [ch]〉 28 Helen Frances Villard war die Witwe des mit Max Weber sen. befreundeten Henry Villard. 29 Henry Villard hatte sich nach dem Bankrott der von ihm gegründeten „Northern Pacific Railroad Company“ von 1884 bis 1886 mit seiner Familie in Berlin aufgehalten und mit Familie Weber gesellschaftlich verkehrt (vgl. Roth, Transatlantic Connections (wie oben, S. 372, Editor. Vorbemerkung), hier S. 84). Bei Hilgard-Villard, Heinrich, Lebenserinnerungen. Ein Bürger zweier Welten, 1835–1900. – Berlin: Reimer 1906, S. 462–466, sowie Villard, Oswald Garrison, Fighting Years. Memoirs of a Liberal Editor. – New York: Harcourt, Brace and Company 1939, S. 72–77, wird die Bekanntschaft mit der Familie Weber allerdings nicht erwähnt. 30 Lat., im Sinne von: elender Pöbel. 31 Zu diesem gesellschaftlichen Ereignis im Madison Square Garden titelte die New York Times, Jg. 54, Nr. 171213 vom 19. Nov. 1904, S. 5: „Horse Show’s Greatest Day in the Garden. Another Lavish Display of Gems and Handsome Gowns“. 32 Julia Villard. 33 Oswald Garrison Villard. 34 Henry Villard hatte 1881 die traditionsreiche Tageszeitung „New York Evening Post“ erworben. 35 Max Weber bezieht sich auf diese Konversation in: Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 208 (MWG I/18). 36 Zwar gehörte Brooklyn seit 1898 zu New York, aber nach wie vor machten Manhattan und die Bronx das „eigentliche“ New York aus.
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gerettet hätten. Seine Erinnerungen kommen jetzt auch deutsch her aus.37 – – Über Otto Weber möchte ich noch nachtragen, daß Rösing ihn sehr lobt, – er hatter früher „flott“ gelebt, aber seit der Heirath38 nicht mehr. Er selbst ist voll der größten Zuversicht, will im nächsten Jahr eine Stadtwohnung beziehen und „boarders“ nehmen, denkt auch noch immer an den Ankauf einer der „spottbilligen“ farms |: nahe bei New York als Wohnsitz,:| (in der That sind in einiger Entfernung viele Farmen durch die Concurrenz des Westens bankrott gegangen und das Land teilweise billig) und träumt von „Entenzucht“ etc. in den Mußestunden. Meine sehr nachdrücklichen Einwendungen ökonomischer und (unter dem Gesichtspunkt der Frau) „sozialer“ Hinsicht schienen ihm immerhin Eindruck zu machen. Daß er sehr tüchtig arbeitet, – freilich ohne in dem Amsinck’schens Geschäft, 39 von Gehaltszulagen abgesehen, erhebliche Chancen zu haben, – und daß die Frau klug genug ist, ihn vor übereilten Schritten zu bewahren, scheint mir sicher. Mit einer leichten Verlegenheit trug er mir Grüße an Dich auf, – sein Benehmen war wirklich recht nett und bescheiden. Merkwürdig doch, daß nur er von all uns Vetternt die Weber’sche Familie im Mannesstamm fortsetzt, wie es scheint – wie Frank der einzige Stammhalter des Fallenstein’schen Namens40 ist! – Die Kosten der Reise habe ich doch etwas zu hoch angesetzt,u wir werden doch noch mit ca 500 Mk in der Tasche in Europa landen und auch nach Bestreitung der Kosten bis Heidelberg weniger als 7000 Mk im Ganzen und etwa 4900 Mk nach Abzug der Reisekosten-Entschä digung als Nettokosten zu unsren Lasten haben. – Daß das „wissenschaftliche“ Resultat der Reise für mich zu diesen Kosten im Verhältnis stände, läßt sich natürlich nicht behaupten. Ich habe für unsre Zeitschrift eine erhebliche Zahl interessanter Mitarbeiter gewonr Alternative Lesung: habe s O: Amsink’schen t 〈bi〉 u 〈ich〉 37 Henry Villards Lebenserinnerungen waren 1904 auf Englisch erschienen; die deutsche Übersetzung folgte 1906 (wie oben, S. 405, Anm. 29). 38 Otto Weber hatte 1903 Mabel Janes (oder: James) geheiratet. 39 Der aus Hamburg stammende Gustav Amsinck hatte von seinem Bruder ein Importund Exportgeschäft übernommen und dieses insbesondere durch den Handel mit Süd amerika ausgebaut. Als „merchant banker“ war er zudem im Finanzgeschäft tätig (vgl. Rheinholz, Constanze, Gustav Amsinck. Ein Hamburger Großkaufmann in New York (Mäzene für Wissenschaft, Band 11). – Hamburg: Hamburg University Press 2011, S. 28ff.). 40 Frank Theodore (Frank) Fallenstein und seine Söhne John Otto und Frederick Frank.
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nen,41 bin ganz anders als früher im Stande, die Zahlen der Statistik und die Berichte der Regierungen in den V[ereinigten] Staaten zu verstehen, werde selbst einige Kritiken über Negerlitteratur u. dgl. schreiben, auch sonst einige kleine Sachen vielleicht,42 – aber für meine kulturgeschichtliche Arbeit habe ich nicht viel mehr gesehen, als: wo die Dinge sind, die ich sehen müßte, insbesondere die Bibliotheken etc., die ich zu benutzen hätte, und die weit über das Land zerstreut in kleinen Sekten-Colleges stecken. – Unter diesen Umständen ist die Reise (in unsrer jetzigen Lage) natürlich nur unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Erweiterung des wissenschaftlichen Horizontes (und dem gesundheitlichen) zu rechtfertigen. Ihre Früchte in dieser Hinsicht können sich natürlich erst nach einiger Zeit zeigen, zunächst wird der klatrige43 Winter bei uns in Heidelberg nichts besonders Erquickliches sein und von der Seefahrt zu dieser Jahreszeit verspreche ich mir wenig. Immerhin war es gut, daß ich die Sache so habe leisten können – noch vor Jahresfrist eine bare Unmöglichkeit. Auf diev New Yorker Abendgesellschaften verzichte ich freilich herzlich gern. Ich denke Marianne wird Alles Andre erzählen. Fast hätte ich Lust, von Hamburg die paarw Stunden nach Berlin hin überzufahren, da ich zu Haus doch |:Anfangs:| eher im Wege bin. Aber Alles, auch eine Reise, muß ein Ende haben. Keine weitere Nachricht von Dir, – außer Deinem letzten Brief, den wir vor 14 Tagen hier bekamen. Herzlichst Dein Max Hoffentlich hörst Du Gutes von Alfred. D[en] 26. Nov. Wir nähern uns dem Lande. Die Fahrt war ganz über Erwarten erfreulich, d.h. als vor 3 Tagen die See hoch ging [,] hatten wir uns schon an das Geschaukel gewöhnt u. wurden nicht mehr seekrank. Nur der Schlaf ließ uns im Stich. Nun werden wir auch noch durch den Kanal bis Hamburg gondeln. v 〈verdamten〉 w O: par 41 Max Weber bemühte sich nachweislich um die Mitarbeit von Robert Latham Owen jun. und Edwin R. A. Seligman (vgl. die Briefe an Helene Weber vom 28. und 29. Sept. sowie [2. und 3. Okt.] 1904, oben, S. 323 mit Anm. 54, und an Edwin R. A. Seligman vom 18. Dez. 1905, unten, S. 611 mit Anm. 3). Aber nur W. E. B. Du Bois publizierte im Januar-Heft 1906 des AfSSp einen Aufsatz über die „Negerfrage“ (vgl. den Brief an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. Nov. 1904, oben, S. 392 mit Anm. 5). 42 Tatsächlich realisiert wurde im AfSSp lediglich: Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 222–425. 43 Aus der norddeutschen Umgangssprache für: schlimm, jämmerlich.
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1. Dezember 1904
Heinrich Sieveking 1. Dezember 1904; o.O. Abschrift; maschinenschriftlich ohne Anrede und Schlußformel StA Hamburg, Nl. Heinrich Sieveking Die folgende, auf den 1. Dezember 1904 datierte, Abschrift findet sich in einem Typoskript von Heinrich Sieveking, Erinnerungen 1871–1914, S. 185. Zu Webers Versuchen, Lujo Brentano als Rezensenten von Werner Sombarts „Der moderne Kapitalismus“ für das AfSSp zu gewinnen, vgl. die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Oktober 1903, oben, S. 157.
Ich trete für Sombart ein, weil ich die rein persönliche Kritik Schmol lers1 für eine Balleteusen-Rezension, die „Kritik“ H[ans] Delbrücks2 für eine Anmaßung zugleich halte, und weil sonst niemand dem Werk als ganzem – positiv oder negativ – als Kritiker gerecht zu werden auch nur versucht hat. Das ist eine Schande. Nur die historischen Partien sind bisher behandelt, und auch da nur einzelne Thesen, die ich (mit Ihnen) für falsch halte wie ich denn Ihrer Kritik dieser Dinge durchaus zustimme.3
1 Schmoller, Gustav, [Rezension zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: SchmJb, 27. Jg., Heft 1, 1903, S. 291–300. 2 Delbrück, Hans, [Rezension zu: Sombart, Der moderne Kapitalismus I, II], in: PrJbb, Band 113, Juli–Sept. 1903, S. 333–350. 3 Vermutlich bezieht sich Weber auf die entsprechenden Passagen in: Sieveking, Heinrich, Die mittelalterliche Stadt. Ein Beitrag zur Theorie der Wirtschaftsgeschichte, in: VSWG, Band 2, 1904, S. 177–218.
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6. Dezember 1904
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Friedrich von Weech 6. Dezember 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig GLA Karlsruhe, 449, Nr. 11 Im November 1896 wurde Max Weber als ordentliches Mitglied in die Badische Historische Kommission aufgenommen, deren Sekretär zwischen 1883 und 1905 Friedrich von Weech war. An wissenschaftlichen Projekten hat sich Weber in den folgenden Jahren nicht beteiligt, er nahm auch nur dreimal (1897, 1899, 1903) an den jährlichen Ple narsitzungen teil (vgl. die Berichte über die jeweiligen Sitzungen, in: ZfGO, N.F., Band 13, 1898, S. 1; Band 15, 1900, S. 1; Band 19, 1904, S. 1). Nach der Entlassung Webers von seiner Professur 1903 konnte er kein ordentliches Mitglied der Kommission bleiben. Die Bestätigung des Austritts durch den Großherzog vom 17. November 1904 wurde Weber vier Tage später zugesandt (GLA Karlsruhe, 235/2643, Bl. 77). Kurz darauf wurde Weber dann als korrespondierendes Mitglied wieder in die Kommission gewählt, wofür er sich in dem hier edierten Brief bei Friedrich von Weech bedankt. Offiziell bestätigt wurde Webers Wahl am 10. Dezember 1904 (ebd., Bl. 78). Zur Zuwahl Max Webers als ordentliches Mitglied in die Kommission 1896 vgl. den Brief Webers an Friedrich von Weech vom 9. Dezember 1896 (GLA Karlsruhe, Nl. Friedrich v. Weech 65/1394, Bl. 99; mit Editorischer Vorbemerkung in MWG II/3), sowie Fünfundzwanzig Jahre der Badi schen Historischen Kommission. 1883–1908. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1909, S. 6 6.
Heidelberg 6. XII. 04 Sehr geehrter Herr Geheimrath
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Ich kam vorgestern von den Vereinigten Staaten hieher zurück. Ihr gefälliges Schreiben vom 31. Oktober hat die Post mir nicht nachsenden können, da ich für Mitte November keine Adresse im Voraus hatte bezeichnen können, und so kann ich – zu meinem aufrichtigen Bedauern – dasselbe erst heute beantworten. Wenn ich durch diese – wie gesagt, nicht leicht zu vermeidende – Verzögerung die mir zugedachte Ehrung der Historischen Commission nicht verscherzt haben sollte, so bin ich, wie ich kaum besonders zu versichern brauche, selbstverständlich mit dem Ausdruck meines verbindlichsten Dankes sehr gern bereit, dieselbe anzunehmen. Mit vorzüglicher Hochachtung Professor Max Weber
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7. Dezember 1904
Paul Siebeck 7. Dezember 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446
Heidelberg 7.XII.04 Sehr geehrter Herr Dr Siebeck Es ist immer eine Verantwortung, einem Verlage von der Übernahme eines Buches abzurathen, welches man nicht gesehen hat.1 Selbst die blindeste Henne – und hier handelt es sich um eine wissenschaftlich blinde und taube, nur leider nicht stumme – findet zuweilen ein Korn. Ich sage also nur, daß, wenn Herrn Scherrer’s Buch etwas taugt, ich alsbald an die Theorie von der wörtlichen Inspiration der Bibel zu glauben beginnen und für die amtliche Verbrennung aller „modern“theologischen Erscheinungen Ihres Verlages eintreten werde. Kein Dozent oder Student1) der hiesigen Hochschule nimmt ihn ernst und es ist schlechterdings keine Auskunft darüber zu erhalten, wie es geschehen konnte, daß dieser wunderliche Heilige in den akademischen Lehrkörper gerieth. Sein „Werk“ kann m.E. unmöglich aus etwas Anderem als Lesefrüchten bestehen, – aber es wäre mir doch lieber, sie ließen es Sich kommen und sehen es Sich an. Sie haben es ja noch immer in der Hand, dann zu schreiben, „es passe nach seinem Charakter nicht in Ihren Verlag“ – und dabei die höflichsten Formeln zu gebrauchen. Denn wie gesagt, die Verantwortung dafür, daß Ihnen ein – Gott weiß wie? – zu stande gekommenes unter irgend einem Gesichtspunkt vielleicht doch brauchbares Buch entginge, trüge ich sehr ungern allein. 1) Ausgenommen
3–4 Füxe, die sich in sein Colleg: „Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ zu verirren pflegen.2
1 Paul Siebeck hatte Edgar Jaffé am 2. Dez. 1904 um Auskunft über ein Manuskript Hans Scherrers gebeten (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 183). Jaffé hat diese Anfrage dann an Max Weber weitergeleitet. Es handelt sich um folgendes Buch, das dann tatsächlich nicht von Paul Siebeck verlegt wurde: Scherrer, Hans, Soziologie und Entwicklungsgeschichte der Menschheit, 2 Bände. – Innsbruck: Wagner 1905–1908. 2 Scherrer hat dieses Kolleg häufiger angeboten. Vgl. Anzeige der Vorlesungen, welche im Winter-Halbjahr 1900/1901 auf der Grossh. Badischen Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg gehalten werden sollen. – Heidelberg: Universitäts-Buchdruckerei von J. Hör-
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– Besten Dank dafür, daß Sie so freundlich waren, meinen „Fideicommiß“-Artikel von dort aus versenden zu lassen. 3 Ich weiß nicht mehr sicher, ob ich s.Z. über alle Expl. disponiert hatte? oder lagern noch einige dort? In diesem letzten Fall wäre ich, da ich mehrfach um den Artikel gebeten wurde, dankbar, wenn Sie die Zusendung an mich veranlassen würden.4 Mit den freundschaftlichsten Grüßen stets aufrichtig der Ihrige Max Weber
ning 1900, S. 12; dass. (Sommer-Halbjahr 1901), S. 15; dass. (Winter-Halbjahr 1903/1904), S. 14. 3 Weber, Fideikommißfrage, MWG I/8, S. 81–188. Vgl. den Brief an Paul Siebeck vom 17. Aug. 1904, oben, S. 258–260, mit der Liste der Sonderdruckempfänger. 4 Paul Siebeck hatte nach Webers Disposition vom 17. Aug. 1904, oben, S. 259 f., noch zwei Separatabzüge übrig, die er dann an Weber schickte. Vgl. den Brief Paul Siebecks an Max Weber vom 12. Dez. 1904 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446).
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10. Dezember 1904
Eduard Bernstein 10. Dezember 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig IISG Amsterdam, Nl. Eduard Bernstein
Heidelberg, Hauptstraße 73 10/XII 04 Sehr geehrter Herr Doktor!1 Es wäre mir sehr werthvoll, wenn Sie gelegentlich Ihrer Anwesenheit hier mir Zeit und Ort bestimmen könnten, wo ich Sie persönlich treffen könnte. Ich werde natürlich in Ihren Vortrag kommen, – wenn nicht, wie so oft, mein Körper mir Alles verdirbt und mir das Abends-Ausgehen untersagt.2 – Neben Andrem läge mir daran Sie über folgende rein wissenschaftliche Frage zu consultieren. Sie erwähnen gelegentlich in Ihrer Arbeit über die englischen Sekten des 17. Jahrh[underts] (in der Gesch[ichte] des Sozialismus), daß die Quäker der Überlieferung nach das System der festen Preise geschaffen bezw. vornehmlich mit gestützt hätten.a3 Die gleiche Angabe findet sich in verschiedenen andren modernen Arbeiten zur Quäkergeschichte (z.B. dem Aufsatz von Thomas bet al.b),4 a Randbemerkung Max Webers: S. 6 82 Anm. b In O unleserlich; al. sinngemäß ergänzt. 1 Eduard Bernstein hatte keinen Doktortitel. 2 Am 18. Dezember 1904 hielt Eduard Bernstein bei den Gewerkschaftskartellen in Heidelberg einen Vortrag über „Die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung der Arbeiterbewegung“. Aus einem Brief von Marianne Weber an Helene Weber vom 21. Dezember 1904 erweist sich, daß Weber den Vortrag besucht hat (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). An der anschließenden Diskussion hat er sich offenbar nicht beteiligt. Vgl. Heidelberger Zeitung, Nr. 297 vom 19. Dez. 1904, Erstes Bl., S. 1. 3 Bernstein, Eduard, Kommunistische und demokratisch-sozialistische Strömungen während der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, in: ders. u.a., Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, 1. Band, 2. Tl., 5. Abschnitt: Die Vorläufer des neueren Sozialismus. – Stuttgart: Dietz 1895, S. 507–718 (hinfort: Bernstein, Kommunistische Strömungen). Auf der von Weber genannten Seite (ebd., S. 682) heißt es: „So schreibt man den Quäkern ein wesentliches Verdienst an der Einbürgerung des Systems der festen Preise im Handel zu.“ Auf Quellen oder Literatur wird von Bernstein dort nicht verwiesen. Vgl. auch den Brief an Lujo Brentano vom 10. Okt. 1903, oben, S. 162 f., in dem Weber Brentano auf diesen Aufsatz hinweist. 4 Weber bezieht sich hier vermutlich auf: Thomas, Allen C., What the Friend has done in Past, in: Bi-Centennial Anniversary of the Friends’ Meeting-House at Merion, Pennsylvania. – Philadelphia: Friends’ Book Association 1895, S. 3 0–36. Hier (ebd., S. 35) heißt es: „[. . .] it was the Quaker shop-keeper who introduced into English trade the practice of fixed
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stets ohne Angabe, auf welche Quellen er sich stützt, und keiner der Autoren, die ich darnach fragte, wußte sich zu erinnern, auf welche Quelle er sich dabei seinerseits gestützt hatte. Ist dies Ihnen vielleicht noch in der Erinnerung? Daß gewisse Quellenzeugnisse indirekt die Angabe stützen [,] ist mir bekannt, ebenso natürlich die Stellung des offiziellen Puritanismus zur Frage des justum pretium. Aber grade für diese Einzelfrage liegt mir bezüglich einer direkten Stellungnahme der Quäker bisher kein Quellenzeugnis vor. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir, falls Sie Sich Ihrer Quelle noch entsinnen, über dieselbe Auskunft geben könnten.5 – Ohnehin werde ich in meinem Aufsatz, dessen ersten Artikel Sie vielleicht im „Archiv“ gesehen haben, auf Ihre vortrefflichen Ausführungen überall zurückzugreifen haben.6 – Natürlich möchte ich, falls ich Sie persönlich sprechen könnte, nach Redakteurs-Art mich auch erkundigen, ob das „Archiv“ in absehbarer Zeit, vielleicht im Sommer, einmal wieder auf Ihre Mitarbeit rechnen dürfte.7 –
prices and strict uprightness in dealing.” In der Gesamtdarstellung der Quäkergeschichte (Thomas, Allen C. und Thomas, Richard H., History of the Society of Friends in America, in: The American Church History Series, Vol. XII. – New York: The Christian Literature Co. 1894, S. 173–308), auf die Weber in der überarbeiteten Fassung der „Protestantischen Ethik“ aus dem Jahr 1920 verweist (Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 17–206 (MWG I/18), hier S. 150, Fn. 4), wird die ökonomische Praxis der Quäker jedoch nicht behandelt. 5 In der überarbeiteten Fassung der „Protestantischen Sekten“ aus dem Jahr 1920 bedankt sich Weber ausdrücklich bei Bernstein für den Nachweis eines Zitates, das die Einrichtung von festen Preisen bei den Quäkern darlegt. Vgl. Weber, Max, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 207–236 (MWG I/18), hier S. 219, Fn. 1. Weber zitiert hier ausführlich Clarkson, Thomas, A Portraiture of the Christian Profession and Practice of the Society of Friends: Embracing a View of the Moral Education, Discipline, Peculiar Customs, Religious Principles, Political and Civil Economy, and Character of the Religious Society. With a Biographical Sketch of the Author. – Glasgow: Robert Smeal, London: Blackie and Son 1869, S. 276. Aber auch dieses von Weber zitierte Zeugnis ist nur eine indirekte Quelle. Die Praxis der festen Preise bei den Quäkern geht bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück und läßt sich schon bei einem ihrer Gründer, George Fox, nachweisen. Vgl. Kent, Stephen A., The Quaker Ethic and the Fixed Price Policy. Max Weber and Beyond, in: Sociological Inquiry, Vol. 53, No. 1, 1983, S. 16–32, ebd., v.a. S. 18 f. 6 Weber, Protestantische Ethik I und II, MWG I/9, S. 97–215 und 222–425. Im zweiten Aufsatz bedankt Weber sich zum einen für die Ausleihe eines Buches durch Bernstein, an anderer Stelle weist er auf die „vortrefflichen Ausführungen“ in Bernstein, Kommunistische Strömungen (wie oben, S. 412, Anm. 3) hin (Weber, Protestantische Ethik II, MWG I/9, S. 248, Fn. 4, S. 362, Fn. 138 (Zitat) und S. 412, Fn. 70). 7 Eduard Bernstein hatte schon zahlreiche Aufsätze in Heinrich Brauns „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ publiziert. Auch in den folgenden Jahren erschienen immer
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Falls Sie etwa Ihr Weg an meiner Wohnung vorbeiführt, – ich bin, schon weil ich das Gehen nur schlecht vertrage, fast immer zu Hause. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebenster Max Weber
wieder Aufsätze im AfSSp, jedoch erst ab 1910: Karl Marx und Michael Bakunin. Unter Benutzung neuerer Veröffentlichungen, in: AfSSp, Band 30, Heft 1, 1910, S. 1–29.
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Gustav Schmoller 14. Dezember 1904; Heidelberg Brief; eigenhändig GStA PK, VI. HA, Nl. Gustav von Schmoller, Nr. 196b, Bl. 133–134 Der Brief steht in Zusammenhang mit Webers Bemühungen, einen Rezensenten für Werner Sombarts „Modernen Kapitalismus“ zu finden. Vgl. dazu die Editorische Vorbemerkung zum Brief an Lujo Brentano vom 4. Oktober 1903, oben, S. 157. Dort ist auch Webers Bemerkung zitiert, durch die sich Schmoller offensichtlich kritisch angesprochen fühlte.
Heidelberg 14/XII 04 Sehr