Martin Luther - Band 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 - 1532 9783766843500

Der zweite Band der Luther-Biografie hat das Thema "Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532".

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German Pages 519 [535] Year 2014

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Martin Luther - Band 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 - 1532
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Martin Luther - Band 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 - 1532
 9783766843500

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Martin Brecht

Martin Luther Zweiter Band Ordnung und Abgrenzung der Reformation

1521-1532

Calwer Verlag Stuttgart

Umschlagbild: Luther in Mönchskutte, aber ohne Tonsur Werkstatt Lukas Cranach d.Ä., 1522–1524

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7668-4350-0

© 1986 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Unveränderte Sonderausgabe 2013 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz: Offizin Chr. Scheufele, Stuttgart Umschlaggestaltung: Otfried Kegel Druck und Verarbeitung: Beltz Druckpartner GmbH & Co. KG, Hemsbach Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . I.

9

Auf der Wartburg .

11

1. Auseinandersetzungen mit den katholischen Gegnern .

16 16

Die Widerlegung des Latomus . . . . . . . . . Das Gegen-Urteil gegen die Pariser Theologen. Der angebliche Widerruf gegenüber Emser. . . Die Maßregelung Albrechts von Mainz. . . . . Die Kritik der neuesten päpstlichen Gründonnerstagsbulle .

21 24

3. »Von der Beichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 27

4. Die geistlichen Gelübde . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

5. Die Umgestaltung der Messe und die Wittenberger Unruhen.

34

6. Die Übersetzung des Neuen und des Alten Testaments.

53

2. Die Wartburgpostille ..

H.

19

20

Der Prediger von Wittenberg (1522-1524). . . . .

64

1. Die Invokavitpredigten und die Bewältigung der Wittenberger Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

2. Die Bemühungen um die Wahl evangelischer Prediger und Pfarrer

73

3. Luther und die Böhmen . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

4. Beziehungen zur reformatorischen Bewegung außerhalb Kursachsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

5. Auseinandersetzungen mit den altgläubigen Gegnern .

88

6. Ehe und Ehesachen .

95

7. Mönche und Nonnen.

99

8. Die Universität. . . .

108

9. Obrigkeit und Politik.

109

Der beharrliche Fürbitter Im Getriebe der Reichspolitik Exkurs: »Daß J esus Christus ein geborner Jude sei. « . Luthers politische Ethik . .. ..........

5

110 111 116 118

10. Neue Gottesdienstordnungen

123

Das Betbüchlein . . . . . . . Das Taufbüchlein . . . . . . Erste Neuordnung der Messe und des Gemeindegottesdienstes . Der Streit mit dem Wittenberger Allerheiligenstift . Die deutschen geistlichen Lieder. . . . . . . . . . . . . . . .

III.

Propheten, Schwärmer, Bilderstürmer, Rottengeister und der Bauernkrieg. . . . . . . . . . . . .

139

1. Die Schule . . . . . . . . . . . . .

140

2. »Von Kaufshandlung und Wucher« .

143

3. ThomasMüntzer. . . . . . . . . .

148

4. Andreas (Bodenstein von) Karlstadt .

158

5. Der Bauernkrieg . . . . . . . . . . .

172

Die Ermahnung zum Frieden. . . . . Wider die stürmenden Bauern und Thomas Müntzer . Die Reaktion auf das »harte Büchlein« und dessen Verteidigung. Luthers Reaktion auf die Folgen des Bauernkriegs .

IV.

V.

VI.

123 124 125 129 132

174 178 184 188

Heirat, Hausstand und Familie (1525-1530) .

194

1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . .

194

2. Hochzeit . . . . . . . . . . . . . .

196

3. Hausstand und wachsende Familie .

200

4. Krankheit . . . . . . . . . . . . .

203

Der Streit mit Erasmus von Rotterdam um die Freiheit des Willens . . . . . . . . . . . . .

210

1. Erasmus schreibt gegen Luther. . .

210

2. Luthers Antwort: De servo arbitrio .

220

3. Die Verteidigung des Erasmus . . .

232

Reform der Universität und akademische Wirksamkeit (1524-1530). . . . . . . . . . . .

235

1. Reform der Universität. . . . . .

236

2. Luthers Vorlesungen (1523-1530)

240

VII. Neuordnung der Kirche und pastorale Tätigkeit.

246

1. Die Ordnung des Gottesdienstes

246

2. Die Visitation . . . . . . . .

253 6

3. Die Katechismen.

267

4. »Von Ehesachen«

273

5. Die pastorale Tätigkeit in Wittenberg und ihre Krise.

276

Der Prediger. . . . . . . . . . . . Die Schwierigkeiten in Wittenberg. . . . . . . . .

277 281

VIII. Der Streit um das Abendmahl und die Taufe (1525-1529)

286

1. Neue Herausforderungen (1525) . . . . . . . . . . . . . . .

286

2. Zögerndes Abwarten im Hintergrund (1526) . . . . . . . . .

295

3. »Daß diese Worte Christi >Das ist mein Leib< noch feststehen, wider die Schwärmgeister« . . . . . . . . . .

302

4. »Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis« .

306

5. Das Marburger Religionsgespräch

315

6. »Von der Wiedertaufe«. . . . . .

325

Reformation und Politik - Förderung und Widerstände (1525-1530). . . . . . . . . .

329

1. Prinzipien . . . . . . . . . .

329

2. Ausbreitung der Reformation.

332

3. Verfolgung und Martyrien . .

336

4. Bündnisse und Gegenbündnisse - die Reformation und die politischen Entwicklungen im Reich . .

339

5. Die Bedrohung durch die Türken. . . . . . . . . . . . . . . ..

350

Auf der Veste Coburg aus Anlaß des Augsburger Reichstages

356

1. Der Aufbruch . . . . . . . . . . .

356

2. Auf der Veste Coburg. . . . . . . .

359

3. Literarische und theologische Arbeit

366

IX.

X.

4. Teilnehmer am Reichstag in Abwesenheit. Die Vermahnung an die Geistlichen auf dem Reichstag. Wechselnde Situationen im Vorfeld des Reichstags. . . Die erste Krise zwischen Luther und Melanchthon . . . »Das schöne Confitemini« - eine Art Bekenntnis Luthers Das Augsburger Bekenntnis und die Unmöglichkeit weiterer Zugeständnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das lange Warten auf die »Confutatio« des Bekenntnisses Die Ausschußverhandlungen . Der Abschied . . . . . . . . 7

370 371 373 374 377 379 383 387 390

XI.

Vom Augsburger Reichstag zum Nürnberger Religionsfrieden 1532 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

1. Die Zulässigkeit des Widerstandes gegen den Kaiser. 2. Die» Warnung an seine lieben Deutschen« 3. Das Eintretenfürden Religionsfrieden . . . . . . .

396 400

XII. Haus, Gemeinde, Kirche und Theologie (1530-1532).

412 412 415

1. Persönliches Ergehen, Familie und Haus . . . . . . . . . 2. Prediger und zugleich Pfarrer in Wittenberg. . . . . . . . 3. Beanspruchungen und Schwierigkeiten in der kursächsischen und in anderen evangelischen Kirchen. . . . . . . . Kursachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Probleme anderer evangelischer Kirchen. 4. Der Lehrer der Rechtfertigung . . . . . . . .

406

421 421 429 432

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Quellen und Literatur.

442

Anmerkungen.

443

Register . . . .

500

Nachweis der Abbildungen.

516

8

Vorwort

Die ganz überwiegend freundliche Aufnahme, die mein Buch »Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521« (1. Auflage 1981, 2. Auflage 1983) gefunden hat, hat mich bewogen, in zwei weiteren Bänden das ganze Leben Luthers darzustellen. Aus diesem Grund wird das vorliegende Buch als zweiter Band der Biographie bezeichnet, während die Lebensbeschreibung des jungen Luther von der in Aussicht genommenen dritten Auflage an im Titel eine geringfügige Änderung erfahren wird: Martin Luther. Erster Band: Sein Weg zur Reformation 1483-1521. Der zweite Band schließt unmittelbar an den ersten an und reicht bis zum Jahr 1532. Bis dahin hatte ursprünglich schon Heinrich Bornkamm sein Buch »Martin Luther in der Mitte seines Lebens« (Göttingen 1979) führen wollen, war dann jedoch vor seinem Tod nur bis zum Jahr 1530 gelangt. Die von ihm ins Auge gefaßte Zäsur hat sich als sachlich angemessen erwiesen. Der Titel »Ordnung und Abgrenzung der Reformation« gibt die beiden charakteristischen Elemente bei der eigentlichen Ausgestaltung der Reformation an, die in dem hier dargestellten Zeitraum erfolgte. Sie traten nicht in einer zeitlichen Abfolge hervor, beides erfolgte vielmehr zumeist gleichzeitig und ineinander. Es ist mir die Frage gestellt worden, ob ich ein eigenes Lutherbild darbieten wolle. Das läßt sich mit der berechtigten Anfrage verbinden, ob es nach Bornkamms Teilbiographie einer weiteren Beschreibung derselben Lebensphase Luthers bedarf. Daß eine Gesamtdarstellung diese nicht auslassen kann, wird ohne weiteres einleuchten. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dürfte zeigen, daß ich bei der wichtigen Anordnung des Stoffes andere Wege als Bornkamm gegangen bin. Zudem läßt sich im Gesamttenor nicht verleugnen, daß wir verschiedenen Generationen angehören. Immer wieder habe ich mich außerdem genötigt gesehen, die Akzente bei der Heranziehung der Quellen und ihrer Auswertung anders zu setzen. Eine geschlossene Biographie unterscheidet sich selbstverständlich auch von den Facetten und Fragestellungen eines Sammelwerks, wie es von Helmar Junghans über »Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546« (Berlin und Göttingen 1983) herausgegeben worden ist. Indem es Wege durch Quellen und Literatur bahnte, war es für mich allerdings vielfach hilfreich. Die Abfassung einer Biographie hat zur Voraussetzung, daß man ein aus den Quellen gewonnenes eigenes Bild von der Person hat, die es darzustellen gilt. Der Plan, Luthers Anfänge zu beschreiben, wurde in dem Augenblick gefaßt, als mir klar geworden war, daß persönliche Frömmigkeit, Eingebundensein in die Kirche und ihren Gottesdienst und theologische Arbeit bei ihm eine Einheit bildeten. Die spannende Frage war, was sich daraus nach und nach entwickeln würde, und das 9

nicht zuletzt, als es an die Ausgestaltung der Reformation ging. Auch als Biograph muß man erfahren, daß ein Leben nicht unbedingt geradlinig verläuft, sondern Biegungen und sogar Brüche erfährt. Die ursprüngliche Auffassung bleibt davon nicht unberührt. Der Historiker hat sie gegenüber der Aussage der Quellen hintanzustellen. Das Bild bleibt in Bewegung. Gerade so erkennt man neben eindrucksvoller Kontinuität überraschend Neues, was das Verstehen Luthers und seiner geschichtlichen wie theologischen Leistung bereichert. Die Aufgabe der Biographie wurde nach wie vor eng gefaßt verstanden, zumal anders der Stoff schwerlich zu bändigen ist. Es soll weder eine Reformations- noch eine Sozialgeschichte des 16. Jahrhunderts oder auch die komplette Beschreibung eines Ausschnitts davon geboten werden. Der Rahmen wurde jeweils vorgegeben durch die im Blick auf Luther relevanten Quellen. Umgekehrt könnte es allerdings sein, daß die Biographie Neues für die Gesamtdarstellungen enthält. Wie sich Luthers Leben in seiner letzten Phase von 1532 bis 1546 weiterentwickelt hat, bleibt einem abschließenden Band vorbehalten, der in absehbarer Zeit vorgelegt werden soll. Die Form der Darstellung mit der Bemühung, breite Verständlichkeit und wissenschaftliche Fundiertheit zu verbinden, wurde beibehalten. Aus diesem Grund stehen die Anmerkungen wiederum am Schluß. Sie beschränken sich hauptsächlich auf die Quellenbelege und die Angabe der wesentlichen Literatur. Die kritische Auseinandersetzung mit der Forschung wurde meist implizit geführt. Die Abbildungen wurden wiederum nach ihrem Bezug zur Darstellung ausgewählt. Meine Mitarbeiter und meine Frau haben mich mit großem Einsatz unterstützt. Die Reinschrift wurde in bewährter Weise von Frau Ingeborg Müller angefertigt. An den Korrekturen beteiligten sich die Studenten Wolfgang Schöllkopf, Uwe Gryczan, Ralf Hoburg und Jens Voß sowie meine Assistentin Frau Bettina Wirsching, die zudem die Literatur besorgte und das Register erstellte. Ihnen allen und dazu einigen Ungenannten sei für ihre Mühe, den Austausch im Gespräch und guten Rat herzlich gedankt.

Martin Brecht

Oktober 1985

10

I. Auf der Wartburg

Kaum hatte Luther auf der Rückreise von Worms wieder kursächsisches Gebiet erreicht, wurde er nach dem vorgetäuschten Überfall am späten Abend des 4. Mai 1521 auf die nächstgelegene Burg, die Wartburg bei Eisenach, verbracht, wo er für die nächsten zehn Monate bleiben mußte. Als Unterkunft erhielt er eine Stube mit sich anschließender schmaler Schlafkammer in der Nordburg über der Wohnung des Burghauptmanns Hans von Berlepsch zugewiesen, wo sonst ritterliche Gefangene untergebracht wurden (Tafel I). Faktisch war auch der in heimliche Schutzhaft genommene Luther ein Gefangener, über den der Burghauptmann sorgfältig wachte. Seine Anwesenheit und Identität wurden streng geheimgehalten. Selbst der Bruder des Kurfürsten, Herzog Johann, erfuhr erst bei einem Besuch auf der Wartburg im September, daß sich Luther dort aufhielt. Gerüchte über den Aufenthaltsort sickerten freilich dennoch durch. Ein Brief Luthers an Spalatin mit dem fingierten Hinweis auf Böhmen sollte ihnen entgegenwirken l . Luther wurde als der Junker Jörg ausgegeben, hatte ritterliche Kleidung zu tragen und mußte sich den Bart und die Haare über der Tonsur wachsen lassen, so daß er bald nicht wiederzuerkennen war2 • So hat ihn Lukas Cranach im Dezember 1521 porträtiert. Zwei Edelknaben hatten ihn zu bedienen. Einmal wurde der »Junker« auch zur Jagd mitgenommen, was für ihn ein zwiespältiges Vergnügen war. Einen kleinen Hasen konnte er im Ärmel seines abgelegten Mantels verstecken, aber die Hunde bissen ihn durch das Kleidungsstück hindurch tot. Für Luther wurde das ganze Unternehmen in bezeichnender Weise zum Gleichnis: Der Teufel stellt den Seelen mit seinen Hunden, den gottlosen Bischöfen und Theologen, nach und verdirbt selbst noch die, die bereits gerettet zu sein scheinen. Von der Jagd hatte er danach genug3 . Die spätere Überlieferung dürfte darin richtig berichten, daß sich Luther, begleitet von einem Knecht, auch sonst gelegentlich außer halb der Burg bewegen durfte und einmal bei der Einkehr in einem Franziskanerkloster fast erkannt worden wäre 4 • Die Beziehung zu dem Burghauptmann Hans von Berlepsch scheint freundlich, aber sachlich gewesen zu sein; es gab zwischen beiden gelegentlich auch theologische Gespräche über die »Menschenlehren«. Luther wollte ihm später seine diesbezügliche Abhandlung widmen und sandte ihm einige seiner Schriften, darunter das übersetzte Neue Testaments. Berlepsch ließ es seinem Schutzbefohlenen an nichts fehlen, so daß dieser sich wegen etwaiger persönlicher Unkosten, die dem Burghauptmann seinetwegen entstehen könnten, Sorgen machte. Jemand anderem als dem Kurfürsten wollte er nicht zur Last fallen 6 . Der Bruch in Luthers Lebensumständen, den der erzwungene Aufenthalt auf der Wartburg darstellte, war denkbar hart. Eben noch hatte er mitten im Weltgesche11

IMAGO MARTINI LVTHERI. EOHABITv EXPRESi SA. QVO RBVBRSVS EiST BX PATHMO VVITTENo bagana. Amo Domini. 1 S ;a J.

Q!azlitus toda, toria tibi Rhoma pttilUS. En tgo per Chrillu,n viuo LUlherus adhuc.

Vna mihi fpel tfl. quo non frauJabor.lefus. Hunc mihi dum rmcarn. perfida Rhoma val..

Martin Luther als Junker Jörg Holzschnitt von Lukas Cranach d. Ä., um 1522

12

hen gestanden, nun befand er sich »in der Einsamkeit«, auf »Patmos«, »im Reich der Vögel« und war in radikalerer Weise denn je ein Mönch oder gar ein Eremit. Schon körperlich gab es Umstellungsschwierigkeiten. Das ungewohnte Essen und Trinken verbunden mit wenig Bewegung bekam ihm nicht. Monatelang plagte ihn als »gottgeschicktes Kreuz« eine schwere Verstopfung, die ihm schlimme Beschwerden und Schmerzen bereitete und den Schlaf raubte. »Mein Ars ist bös worden«, heißt es schon in einem der ersten Wartburgbriefe 7 • Im Juli dachte er wegen dieses Übels daran, ärztliche Hilfe in Erfurt zu suchen, was dann eine dort grassierende Seuche verhinderte. Von Spalatin gesandte Arznei schuf nur teilweise Abhilfe. Im September laborierte Luther immer noch an seinen Beschwerden; erst im Oktober ging es ihm besser. Neben und mit dem körperlichen war auch das seelische Befinden beeinträchtigt. Er kam sich müßig vor; obwohl er, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, unwahrscheinlich hart arbeitete. Er fühlte sich bisweilen im Geist und Glauben schwach, kalt, träge und schläfrig, betete nur wenig; sexuelle Bedürfnisse machten ihm zu schaffen. Wie eine aus dem Feuer gerissene Kohle kam er sich vor. Die Einsamkeit, in der er in den Sünden zu ertrinken meinte, bekam ihm offensichtlich nicht. Er empfand sie zugleich als Gottverlassenheit, als Ort, wo er den Teufeln, den bösen und dummen Dämonen ausgesetzt war, die ihn belästigten. Die Tischreden berichten darüber später einige drastische Geschichten8 • Bei den klappernden und rumpelnden Poltergeistern dürfte es sich aber einfach um die ihm ungewohnten Geräusche auf der Burg gehandelt haben. In den letzten Monaten der Wartburgzeit hört man von persönlichen Schwierigkeiten nichts mehr. Luther hatte sich wohl eingelebt, sah seine Aufgaben und rechnete wohl auch schon mit einem Ende der Isolation. Als geschlagener Mann oder Verlierer fühlte sich Luther auf der Wartburg allerdings zu keiner Zeit. Anfänglich zweifelte er, ob es richtig war, daß man ihn aus der Öffentlichkeit hatte verschwinden lassen. Er hätte lieber weitergepredigt und sich dafür von Herzog Georg, den er nicht ohne Grund für einen seiner Hauptfeinde hielt, töten lassen. Später beruhigte er sich damit, daß er das öffentliche Auftreten eigentlich nie gewollt hatte. Einmal taucht der unrealistische Plan auf, in Erfurt oder sogar Köln einen neuen Tätigkeitsbereich zu suchen. Gelegentlich machte er sich jetzt und auch noch später Vorwürfe, daß er, dem Rat der Freunde folgend, in Worms nicht schärfer aufgetreten war. Die Sorge um die Kirche, in der nun unter dem göttlichen Zorn der Antichrist herrschte, bewegte ihn. Die Verfolgung seiner Person konnte einen Aufstand auslösen, dem nur er selbst zu steuern vermochte. Dafür gab es bereits Anzeichen. Anfang Mai war es in Erfurt zu Übergriffen gegen die Häuser von Geistlichen gekommen. Sie waren dadurch ausgelöst worden, daß drei Stiftsherren des Marien- und des Severistiftes dafür exkommuniziert werden sollten, daß sie sich am Empfang des gebannten Luther in Erfurt bei seiner Reise nach Worms beteiligt hatten. Tatsächlich wurde dem Kanoniker Johann Drach (Draconites) seine Stelle entzogen. An den Unruhen, die sich im Juni verstärkt wiederholten, beteiligten sich nicht nur die Studenten, sondern interessanterweise auch Handwerksknechte und Bauern, die wegen ihrer Sympathien mit Luther von der Geistlichkeit unter Druck gesetzt worden waren. Die reformatori13

sche Bewegung griff hier erstmals über die akademischen Kreise hinaus. Der Erfurter Rat schritt dagegen nicht ein. Luther hatte zwar Verständnis dafür, daß sich das Volk nicht mehr alles von der Geistlichkeit gefallen ließ und wie die Flugschriftenfigur des »Karsthans« gegen falsche Ansprüche der Hierarchie protestierte, dennoch lehnte er solche Unruhen ab. Sie waren nicht die rechte Frucht des Evangeliums, brachten es in Verruf und schufen ihm Gegnerschaft9 • Bezeichnenderweise findet sich in der damals auf der Wartburg vollendeten Auslegung des Magnificats selbst bei Lk 1,52 »Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl« keine Andeutung eines Widerstandsrechts. Die Mächtigen vergehen, und die Unterdrückten werden »ohne alles Rumoren und Brechen« erhoben lO • Hier wird bereits einer der Gründe sichtbar, warum sich Luther später gegen die Wittenberger Unruhen wandte. Die politische Lage insgesamt deutete Luther vom Verhalten der Herrschenden zum Evangelium her. Herzog Georg verschärfte wie einst Rehabeam in gefährlicher Weise den politischen Druck. Karl V. wurde durch den Krieg mit Frankreich und die Aufstände in Spanien bestraft, weil er sich der Wahrheit in Worms versagt hatte. Deutschland wurde in sein Unglück mit hineingezogen, weil es dem Kaiser zugestimmt hatte. Kaiser und Papst war der verdiente Lohn für ihr Unrecht von Gott sicherll . In dem auf der Wartburg fertiggestellten Schluß der Auslegung von Ps 22 wird das vom Papst den Deutschen übertragene römische Reich als bloßes Instrument päpstlicher Machterhaltung gesehen, in dem dieser mit seinen Gesetzen die eigentliche Macht ausübt. Der Kirche widerfährt auf diese Weise dieselbe Verspottung und Geißelung wie Christus. Der Diener des Wortes hatte dagegen nicht nur Widerspruch zu erheben, sondern auch mit seiner ganzen Existenz für sein Zeugnis einzustehen. Daß sich die Erkenntnis Christi gegen die Tyrannei des Papstes durchsetzen würde, konnte einstweilen nur geglaubt werden, solange der Teufel noch los war und die Völker verführte 12 • Die erste Arbeit, die sich Luther auf der Wartburg schon nach wenigen Tagen vornahm, war »Der 67. (68.) Psalm von dem Ostertag, Himmelfahrt und Pfingsttag«13. Dieser Psalm hatte seinen besonderen Platz in der Meßliturgie und der Matutin der Augustiner zwischen Himmelfahrt und Pfingsten; wieder ein Indiz, wie Luther weiter in der liturgischen Sitte lebte. Die Auslegung aktualisiert dann freilich die Auseinandersetzung zwischen Gott und seinen Feinden. Dabei wird Gott schon hier wie später in dem Lied »Ein feste Burg« direkt mit Christus identifiziert. Als das Thema des Psalms gilt »Christus und sein Evangelium«. Christus ist der Herr über die bösen Mächte. Das wird kritisch gegen den bestehenden Gottesdienst, die Heiligen und die Bischöfe gewendet. Das Evangelium ist frei, und Gott erwählt sich seine Diener, durch die er mit seinem Wort wirkt. »Es steht alles im Glauben und seinem Wort, da wird nit anders daraus.« Luthers Kontakte nach außen waren durch seine Isolation stark reduziert. Dennoch fand durch Briefe, die keineswegs die von Luther einmal gebrauchte saloppe Bezeichnung »Abortpapier« verdienen, ein intensiver persönlicher und theologischer Austausch mit den Wittenberger Freunden, vor allem mit Melanchthon, dazu mit Spalatin am kurfürstlichen Hof statt. Luther nahm regen Anteil an den Vorgän14

gen in der Wittenberger Gemeinde. Er beteiligte sich an dem vorwärtsdrängenden theologischen Suchen und Fragen, und daraus entstanden einige der großen Wartburgschriften. Er interessierte sich für das Ergehen der Freunde und bemühte sich, sie seelsorgerlich zu stärken und zu trösten. »Dem armen Häuflein Christi zu Wittenberg« widmete Luther Anfang Juni »Der 36. (37.) Psalm Davids, einen Christenmenschen zu lehren und trösten wider die Müterei (Mutwillen) der bösen und frevlen Gleisner«14. Er imitierte dabei das Beispiel der Gefangenschaftsbriefe des Apostels Paulus. Im Unterschied zu ihm sandte Luther seiner Gemeinde allerdings eine Schriftauslegung, eben den 36. Psalm mit seiner Klage gegen die Feinde Gottes, die er mit den seinen identifizierte, weil er sich auf der Seite der Bibel stehend wußte. Gott verläßt den von Papst, Bischöfen, Königen und Fürsten Verdammten nicht. So ließ er die Wittenberger am Schluß wissen: »Ich bin von Gottes Gnade noch so mutig und trotzig, als ich je gewesen bin.« Unter seinen Freunden in Wittenberg suchte Luther vor allem den etwas weichen Melanchthon (Tafel 11) zu ermutigen und zu stabilisieren. Als ein wichtiges Mittel dazu galt ihm die Fürbitte, die er seinerseits gleichfalls erwartete. Luther hatte das Zutrauen, daß Melanchthon und Amsdorff seine Aufgaben übernehmen konnten, und wollte Klagen, die Wittenberger seien ohne Hirten, nicht hören. Als Melanchthon einmal über seine Sündigkeit gejammert hatte, wies ihn Luther energisch zurecht, sich auf die wirkliche Gnade zu verlassen, die mit der Wirklichkeit der dem Menschen lebenslang anhaftenden Sünde fertig wird. Ob Luther in diesem Zusammenhang das berühmte »pecca fortiter« (sündige kräftig) geäußert hat, ist allerdings fraglich. Selbst als paradoxe Formulierung würde dies aus dem Rahmen der Aussagen Luthers über die Sünde fallen. So hat in dem Brief wohl doch »du magst kräftig gesündigt haben« (peccaveris) gestanden 15 . Mit den Briefsendungen kamen ihm auch die Schriften und Informationen über die Angriffe und Machenschaften seiner Gegner zu, denen er sich mit einer Reihe von Schriften und Briefen stellte. Alle Sendungen an und von Luther liefen über Spalatin als Mittelsmann, der dessen Wünsche, Anweisungen und Aufträge im allgemeinen treu erfüllte. Spalatin konnte damit zugleich Luthers Korrespondenz und Veröffentlichungen kontrollieren. Wo es das Interesse der kursächsischen Politik zu erfordern schien, hielt er kritische Briefe und Druckmanuskripte Luthers zurück, was zeitweilig zu erheblichen Spannungen führte, bis beide Partner wieder einlenkten und ein Ausgleich zwischen politischen Rücksichten und unverblümt geäußerter Kritik gefunden wurde. So gelang insgesamt auch während der Wartburgzeit die Bewältigung dieses komplizierten Problems 16. Auf der Wartburg war Luther von seiner gewohnten Predigttätigkeit abgeschnitten, statt dessen machte er sich in Abänderung eines früheren Vorhabens an die Abfassung einer deutschen Postille, eines Buches von Musterpredigten. Der in den folgenden Monaten fertiggestellte Weihnachts- und Adventsteil ist etwas vom Besten und Wirksamsten, was Luther auf diesem Gebiet geschaffen hat. So wurde die Wartburg in eigentümlichem Sinn seine Kanzel. Am 1. November informierte er den Straßburger Nikolaus Gerbel über seine bisherige literarische Tätigkeit auf der Wartburg. Fertiggestellt waren, abgesehen vom Magnificat und dem 22. Psalm, die

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Schrift gegen den Löwener Professor Latomus, die Auslegungen von Ps 67 und 36, die kommentierte deutsche Übersetzung der Pariser Verurteilung Luthers, eine Schrift gegen den Kardinal von Mainz und die Predigt über die zehn Aussätzigen. Die Postille befand sich in Arbeit, ebenso die Schrift über die Mönchsgelübde. Ferner schrieb Luther damals an der Schrift »Vom Mißbrauch der Messe«. Das waren die »Kinder«, die Luther auf der Wartburg hervorgebracht hatte, und er spricht davon, daß sein Leib fruchtbar und schwanger sei, einen Sohn zu gebären, der mit eiserner Rute die Gegner schlagen würde l7 • In der Tat war die literarische Produktion Luthers auf der Wartburg nach Menge und Inhalt enorm. Sie füllt, abgesehen von den Briefen, weit mehr als zwei der stattlichen Quartbände der Weimarer Ausgabe. Darunter befinden sich einige seiner großen, wegweisenden theologischen und praktischen Entwürfe. Inhaltlich knüpfte Luther zunächst an den aus der Zeit vor Worms vorgegebenen Themen an, ging dann aber auch zur Lösung der inzwischen dringend gewordenen Probleme über. Das »Müßigsein«, über das Luther mehrfach klagte, bestand allenfalls aus kurzen Phasen der Leere und eines Atemholens, meistens handelte es sich wohl eher um die Empfindung des Abgeschnittenseins von der gewohnten öffentlichen Wirksamkeit. Faktisch kompensierte Luther diese Situation mit »ununterbrochenem Schreiben«. Zu dieser gewaltigen Arbeitsleistung kam dann seit Dezember noch das Riesenwerk der Übersetzung des Neuen Testaments hinzu. Als theologischer Schriftsteller hat Luther von der Wartburg aus nahezu ebenso stark auf die beginnende Reformationsgeschichte eingewirkt wie zuvor und danach von Wittenberg aus. Das vollzog sich fast durchweg in konkreten Bezügen und Auseinandersetzungen mit den Freunden und Gegnern. Weil ihm seine Anwesenheit in Wittenberg notwendig schien, unterbrach er im Dezember sein Exil und gab es Ende Februar 1522, früher als vorgesehen, endgültig auf.

1. Auseinandersetzungen mit den katholischen Gegnern Während der Wartburgzeit erhielt Luther gegnerische Schriften und Dokumente von Jacobus Latomus, der Universität Paris, Hieronymus Emser, Albrecht von Mainz, dazu eine päpstliche Bulle, mit denen er sich wohl oder übel auseinandersetzen mußte, obwohl er immer weniger Lust zur Lektüre seiner Gegner hatte und nur ungern seine eigentliche theologische Arbeit zugunsten der Polemik unterbrach. Fast durchweg handelte es sich dabei um eine Fortführung der bisherigen Streitfragen. Die Universitäten und scholastischen Theologen bildeten für Luther eine Einheitsfront mit dem Papst und den feindlichen Fürsten.

Die Widerlegung des Latomus Anfang Mai 1521 war die »Begründung aus der Heiligen Schrift und alten Schriftstellern der durch die Löwener Theologen verdammten Artikel der Lehre des Bruders Martin Luther« des Löwener Professors Jacobus Latomus (Jacques Masson,

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ca. 1475-1544) erschienen l . Die Artikel- außer denen von Köln die erste Verurteilung Luthers - waren im November 1519 beschlossen und im Februar 1520 veröffentlicht worden. Luther gab sie Ende März desselben Jahres seinerseits mit einem Nachwort heraus, das u. a. die fehlende biblische Begründung der Artikel kritisierte 2 • Nachdem Latomus in sachlichem Ton für einige der Artikel eine solche aus der Bibel und der Tradition vorgelegt hatte, war Luther alsbald klar, daß er, wenn auch ungern, antworten mußte 3 • Zwischen dem 8. und 20. Juni 1521 verfaßte er die umfangreiche »Lutherische Widerlegung der von Latomus für die brandstifterischen Sophisten der Universität Löwen gegebenen Begründung«. Als Brandstifter galten die Löwener wegen der dort erfolgten Verbrennung von Luthers Büchern. Es war eine der typischen »Gegenschriften« Luthers, die im Aufbau durch die Ausführungen des Gegners bestimmt war, aus diesen jedoch nur einige zentrale Punkte herausgriff und dann ziemlich abrupt endete. Inhaltlich ist die Widerlegung dennoch eine der geschlossensten und am stärksten systematischen Ausführungen über die zentrale reformatorische Gnadenlehre und Anthropologie vor der späteren Abhandlung »Vom unfreien Willen« geworden. Luther widmete die Schrift Justus Jonas (1493-1555), der aus dem Kreis der Erfurter Humanisten kommend im Juni Propst des Wittenberger Allerheiligenstifts und Professor für kanonisches Recht geworden war, aber bereits im Oktober in die theologische Fakultät überwechselte und einer der engen Mitarbeiter Luthers wurde (Tafel III). Er ermutigte Jonas zum kritischen Umgang mit dem die Kirche verderbenden kanonischen Recht. Die Verwüstung der Kirche durch den Papst und dessen Parteigänger wie Latomus ließ sich überhaupt nicht genug beweinen. Immer wieder wurde Luther zu jener Zeit von solchem Jammer über die herrschenden Zustände ergriffen. Obwohl er selbst von sich urteilte: »Meine Schale mag härter sein, aber mein Kern ist weich und süß«, war für ihn im Widerspruch zu Latomus die offene, keine Rücksicht nehmende Kritik am Papst geboten. An einem deswegen entstehenden Aufruhr wären nicht der Gott des Friedens und sein Wort, sondern die herrschenden Mißstände schuldig. Schon in der Vorrede verteidigte Luther vehement den anstößigen Satz "Gott hat Unmögliches geboten", der seine Auffassung von der Unfähigkeit des freien Willens zum Heil und sein Verständnis des Gesetzes absicherte. In seinen eigentlichen Ausführungen konzentrierte sich Luther auf die Erörterung seiner früheren paradoxen These »Jedes gute Werk ist Sünde« und deren exegetischer Begründung, der auch Latomus fast die Hälfte seiner Schrift gewidmet hatte. Luthers HauptsteIlen waren zunächst Jes 64,5 »So wurden wir alle wie ein Unreiner und all unsere Gerechtigkeit wie ein beflecktes Gewand« und Pred Sal 7,20 »Es ist kein gerechter Mensch auf Erden, der Gutes tue und nicht sündige«. Er verallgemeinerte sie von Paulus ausgehend, nach heutiger exegetischer Auffassung unzulässig, ins Grundsätzliche, was nebenbei immer wieder zu tiefschürfenden Erörterungen über die biblische Redeweise führte. Hier wurden die Auslegungsprinzipien entwickelt, auf die Luther später auch in der Auseinandersetzung mit den Gegnern im eigenen Lager zurückgriff. Luther kam es darauf an, daß die Sünder als »Leute der Barmherzigkeit« sich auf nichts als Christus verlassen. Den An17

gel punkt der ganzen Streitfrage bildete die Auffassung von der Sünde. Luther definierte sie einfach »als das, was nicht nach Gottes Gesetz ist«. Eben diese Sünde hat Christus wirklich und nicht nur bildlich hinweggetragen und ihre schrecklichen Folgen auf sich genommen. Daß die Sünde ihm angerechnet wurde, ist eben noch etwas ganz anderes als bloßes theologisches Gedankenspiel oder Metapher. Nach der Taufe bleibep von der Sünde so nur noch die Reste in unseren Gliedern. Die Frage war nun, ob diese Restsünde mit Paulus und Augustin als wesenhafte Sünde zu verstehen war oder als Schwachheit und Strafe, wie die Gegner annahmen. Unter der Herrschaft der Barmherzigkeit wird für Luther die Sünde lediglich nicht angerechnet, ist aber noch vorhanden. Sie ist nicht mehr herrschende, sondern beherrschte Sünde. Darum gibt es keine guten Werke ohne Sünde, wohl aber solche, die im Kampf gegen die Sünde getan werden. Luther berief sich dafür auf die Erfahrung der Heiligen. Die Auseinandersetzung erreicht ihren Höhepunkt in der Auslegung von Röm 7. Luther ging ganz prinzipiell von der biblischen Lehre von Gesetz und Evangelium aus. Das Gesetz führt in doppelter Weise zur Erkenntnis der Sünde, indem es die Verderbnis der Natur und den Zorn Gottes, ein inneres und ein äußeres, das Gottesverhältnis betreffendes Übel aufweist. Entsprechend predigt das Evangelium einerseits die Gerechtigkeit, die im Glauben, der Gottes Gabe ist, besteht, und andererseits die Gnade und Barmherzigkeit Gottes, die den Zorn ablöst. Dabei ist Gnade als Beziehung, d. h. als Gunst oder freundliche Zuwendung Gottes oder als Geborgenheit unter den Flügeln Christi, verstanden. Sie macht das Gewissen fröhlich, indem sie den Frieden, das bereinigte Verhältnis mit Gott, schenkt. Insofern ist sie das größere Gut als die Gerechtigkeit. Allein die Gnade ist das ewige Leben. Obwohl durch die Gnade alles vergeben ist, ist durch die Gabe noch nicht alles geheilt; das geschieht vielmehr in dem lebenslangen Prozeß der Abtötung der realen Sünde. Luther hatte, sieht man von gewissen Schwierigkeiten bei der Durchführung ab, hier zu einem sehr klaren und einfachen Schema seiner Rechtfertigungslehre gefunden, das dem neuen Verhältnis des Gerechtfertigten zu dem gnädigen Gott und der fortbestehenden bedrückenden Realität des fehlbaren Menschen in gleicher Weise Rechnung trug. Das ist mit der Formel »gerecht und Sünder zugleich« gemeint. Anders als bei Latomus war dabei die menschliche Eigenleistung im Rechtfertigungsprozeß ausgeschaltet und in einfachen Gedankengängen überhaupt klargestellt, »was es um Gnade und Sünde, Gesetz und Evangelium, Christus und den Menschen ist«. Gnade und Gabe sind mit der Wirklichkeit der Sünde zusammengebracht, und dabei erweist sich die Übermacht der Gnade. Latomus antwortete auf Luthers Widerlegung zunächst nicht. Erst nachdem ihm Oekolampad 1525 vorgeworfen hatte, er habe in Luther Paulus verfolgt, verfaßte er eine kurze Antwort, auf die Luther nicht mehr reagierte. Im allgemeinen war das Echo auf diese griffige Darlegung von Luthers Rechtfertigungslehre erstaunlich gering. Nur Melanchthon bediente sich ihrer sofort in seinen damals im Entstehen begriffenen Loci communes, der ersten evangelischen Dogmatik.

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Das Gegen-Urteil gegen die Pariser Theologen Luther hatte es nicht nur mit dem Löwener Theologen zu tun. Seit 1519 stand das von der theologischen Fakultät der Pariser Sorbonne neben Erfurt angeforderte Urteil über die Leipziger Disputation aus. Die Pariser Theologen hatten sich über das Problem der von Luther bestrittenen obersten Autorität des Papstes, die früher auch von der Sorbonne abgelehnt worden war, nicht einigen können. Aus diesem Dilemma befreite sie ausgerechnet die Verurteilung von 41 Sätzen Luthers in der Bannandrohungsbulle. Am 15. April 1521 verurteilte die theologische Fakultät der Sorbonne ihrerseits 104 Sätze Luthers, wobei über die Bannandrohungsbulle hinaus bereits auch die Schrift »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« von 1520 berücksichtigt wurde. Das Urteil übertraf mit seiner vollständigeren Erfassung der Schriften Luthers die früheren Verdammungen und bekam so eine gewisse Aktualität. Das gewählte Verfahren war reichlich primitiv. Die einzelnen Sätze Luthers wurden zitiert und danach meist einer der bisherigen Ketzereien von den Ebioniten, Manichäern und Montanisten bis zu den Waldensern und Hussiten zugeordnet. Selbst knappe Erklärungen finden sich nur selten. Bis auf ganz wenige Ausnahmen beruft man sich höchstens allgemein auf die Bibel, die Konzilien oder die Kirchenväter. Die Verwerfungen betrafen, abgesehen von einigen Spezialproblemen, vor allem die Lehre von den Sakramenten, der Gnade, der Anthropologie und der Ethik sowie die auf Aristoteles gegründete Scholastik selbst. Nur das Fegfeuer, nicht jedoch der Ablaß und auch nicht die Papstautorität wurden angesprochen. Die Sorbonne als die angesehenste abendländische Universität hatte mit dieser scharfen Verurteilung ihre Rechtgläubigkeit unter Beweis gestellt. Daß ihr Vorgehen gegen Luther völlig unzulänglich war, war zwar nicht ihr, wohl aber den Zeitgenossen durchaus bewußt. »Schrift, Schrift schreit Luther offenbar«, hieß es in einem Erfurter Gedicht »Über das frevel unbewährt Erkennen der Hohen Schul Paris«. Mit dem Pariser Urteil begann in Frankreich im Bund mit der Staatsgewalt die erfolgreiche Unterdrückung der Gedanken Luthers. In Wittenberg druckte man nach bewährtem Verfahren das Pariser Urteil, versehen mit einer von Melanchthon verfaßten lateinischen Verteidigung Luthers, nach. Er monierte die fehlende biblische Begründung und wies auf Luthers Nähe zu Augustin und seine wesentliche Übereinstimmung mit den Kirchenvätern und alten Konzilien hin. Es fiel ihm nicht schwer zu zeigen, wie unangemessen die Übertragung der alten Ketzereien auf Luther war. Die Autorität der Pariser Scholastiker wurde von ihm geradezu demontiert. Sie wären würdiger, den Abort zu fegen als mit der Bibel umzugehen. Luther hatten sie nicht zu überwinden vermocht. Der Nutzen Luthers wird so zusammengefaßt: »Er hat eine rechte Weise der Buße gelehrt und den rechten Brauch der Sakramente angezeigt.« Das gilt nach 400 Jahren Finsternis als Werk der göttlichen Barmherzigkeit. Als Luther Anfang Juli das Pariser Urteil und Melanchthons Verteidigung erhalten hatte, war er sofort entschlossen, bei des mit eigenen Anmerkungen deutsch herauszugeben 4 • Auf eine selbständige Widerlegung verzichtete er. Seiner Mei19

nung nach waren die Pariser von Christus verblendet, um ihrer Tyrannei ein Ende zu bereiten. Am 6. August ging das Manuskript bereits an Spalatin ab. Luther nimmt sich gegenüber den Pariser »Eseln« das gleiche Recht einer unbegründeten Lehrfestsetzung heraus und erklärt sie vom Scheitel bis zur Ferse mit dem Aussatz der antichristlichen Hauptketzerei befallen, »eine Mutter aller Irrtümer in der Christenheit, die größte Geisthure, die von der Sonne beschienen ist, und das rechte Hintertor an der Hölle«. Nachdem Melanchthon sie nur mit dem leichten Hobel traktiert hatte, wollte er wie ein Holzfäller den groben Block mit der Bauernaxt bearbeiten. Das Übergehen der Papstautorität und des Ablasses wird als Zustimmung gewertet. Das angemaßte Urteil ohne Begründung gilt freilich nichts. Immerhin wird daran offenbar, daß die Pariser trotz anderslautender Beteuerungen gegen das Evangelium sind. Er gönnt dem Papst gerade diese Verteidiger, die nur seine Schande und den Dreck seiner Gesetze aufdecken können. Als Dokument gottgewirkter Verblendung, die als Vorzeichen des Jüngsten Tags begriffen wird, brachte er ihre Schrift unter die Leute. Im Herbst 1521 erschien in Wittenberg eine im Stil der Dunkelmännerbriefe gehaltene »Zweite Verurteilung« (Determinatio secunda) von Paris, die sich mit Melanchthons »Verteidigung« befaßte und das Verfahren der Sorbonne dem Gelächter preisgab. Im Gegensatz zu Herzog Georg hatte Luther seinen Spaß an ihr, war jedoch nicht, wie später angenommen, ihr Verfasser.

Der angebliche Widerruf gegenüber Emser Luthers Antwort »Auf das überchristlich ... Buch Bock Emsers« vom Anfang des Jahres 1521 ließ diesen nicht ruhen. Er konterte alsbald mit einer »Quadruplica (vierten Entgegnung) auf Luthers jüngst getane Antwort, seine Reformation belangend«5. Hauptpunkte waren erneut das Amtspriestertum neben dem allgemeinen Priestertum aller Getauften, die Normativität der kirchlichen Tradition, die Auslegungsbedürftigkeit der Bibel und das Verhältnis von Geist und Buchstaben. Sie kam Anfang Juli in Luthers Hände. Zunächst wollte er die Antwort einem der Wittenberger Freunde überlassen und gab Amsdorff bereits Hinweise dazu 6 • Emser galt ihm als ein böser, von einem Dämon besessener, schmähsüchtiger Geist, dem es nicht um die Sache ging; das mußte bei der Antwort beachtet werden. Möglicherweise aus diesem Grund übernahm sie Luther dann doch selbst. Im Nachwort zur Auslegung von Ps 36 hatte er bereits das Thema Schrift und Tradition nochmals aufgegriffen und wieder die Klarheit der Bibel und die Irrtumsfähigkeit der Kirchenväter hervorgehoben. Immerhin anerkannten die Väter, daß theologische Aussagen biblisch begründet sein mußten 7 • Die eigentliche Antwort an Emser legte es ihrerseits darauf an, diesen zu verwirren, indem sie im Titel ironisch als »Ein Widerspruch (Widerruf) D. Luthers seines Irrtums, erzwungen durch den allerhochgelehrtesten Priester Gottes, Herrn Hieronymus Emser, Vicar zu Meißen« ausgegeben wurde 8 . Luther akzeptierte jetzt Emsers Deutung, daß 1. Pt 2,9 nicht nur auf das allgemeine geistliche Priestertum aller Getauften, sondern auch auf das Amtspriestertum zu beziehen sei. Bisher hatte er

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den Dienst des Predigens und der priesterlichen Amtsausübung von der bischöflichen Weihe, Ordination und Berufung abhängig gemacht und vom allgemeinen Priestertum unterschieden. Nunmehr zog er die Konsequenz, daß alle Christen, selbst Frauen und Kinder, auch im amtlichen Sinn Priester und geweiht und damit ohne weitere Berufung zum Predigen und Ausüben priesterlicher Funktionen berechtigt seien. Das bedeutete, daß die bisherigen Amtspriester , wegen ihrer Tonsur als »Plattenträger« bezeichnet, überflüssig waren und fortgejagt werden konnten. Nach dem neutestamentlichen Zeugnis gab es nur das allgemeine Priestertum und kein anderes. Das hieß freilich nicht, daß es für Luther keine bestimmten Amtsträger mehr gegeben hätte. Die allgemeine priesterliche Gewalt sollte nur von dem, der vom »Haufen« oder dessen Repräsentanten berufen war, ausgeübt werden. Selbst hier ist also nicht unbedingt an ein allgemeines Recht der Pfarrwahl gedacht. Prinzipiell kam es Luther nur darauf an, die dem Feudalsystem entsprechende Priesterherrschaft und Tyrannei über den christlichen Haufen aufzuheben. Etwas später im Jahr führte er diese Gedanken fort. Nach Erscheinen einer Flugschrift des Dresdener Priesters Wolfgang Wulfe meinte Mitte November auch Emser selbst, noch einmal antworten zu müssen mit seiner »Bedingung (Vorbehalt) auf Luthers ersten Widerspruch«9. Er war der allerdings nicht ganz sicheren Auffassung, Luther habe tatsächlich widerrufen, sah sich aber dennoch genötigt, einiges zurechtzurücken, denn die radikalen Konsequenzen Luthers machte er verständlicherweise nicht mit. Für ihn war eine Kirche ohne Amtspriestertum undenkbar. Er hielt Luther bereits die Auflösungserscheinungen im Wittenberger Kloster vor und forderte dagegen das Eingreifen der Obrigkeit. Luther selbst sollte mit Hilfe der kaiserlichen Acht nach Böhmen verjagt und dadurch wieder Friede und Einigkeit in Deutschland hergestellt werden. Das war im Blick auf den kommenden Nürnberger Reichstag nicht ungefährlich, und möglicherweise wurde Melanchthon dadurch schockiert. Jedenfalls verhinderte er es, daß dem »unbedarften« Emser von Wittenberg aus erneut entgegnet wurde lO •

Die Maßregelung Albrechts von Mainz Um seinen Geldverlegenheiten abzuhelfen, veröffentlichte Kardinal Albrecht von Mainz Anfang September 1521 eine päpstliche Bulle, in der den Besuchern der Reliquiensammlung der Stiftskirche in Halle Ablaß für ihre Sünden gewährt wurde, und lud zu deren Besuch ein. Gegen die Bulle regte sich öffentlicher Widerspruch, als dessen Urheber man Luther vermutete. Um sein direktes Vorgehen gegen Albrecht zu verhindern, verhandelten dessen Rat Wolfgang Capito und sein Leibarzt Dr. Heinrich Stromer in Wittenberg und am kursächsischen Hof. Wie aus einem wohl nicht abgesandten Brief an Luther hervorgeht ll , wollte Capito in humanistisch-irenischem Geist mit frommen Argumenten den Streit und eine Bloßstellung des Kardinals verhindern, und Melanchthon sowie Jonas unterstützten ihn dabei. Auch der kursächsische Hof war an einem zusätzlichen Konflikt nicht interessiert. Aber Luther hielt nichts von der Friedfertigkeit des Erasmus und Capitos, die auf Kosten der Wahrheit darauf verzichtete, die Gegenseite zu kritisieren. Am 7. Okto21

ber ließ er Spalatin wissen, daß er den Mainzischen Götzen mit seinem» Bordell« in Halle sowohl privat als auch öffentlich angreifen werde 12. Am 1. November war die Schrift» Wider den Abgott zu Halle« fertig und ging mindestens zum Teil an Spalatin ab. Dieser mußte ihm mitteilen, daß der Kurfürst die Veröffentlichung nicht gestattete. Luther war darüber so zornig, daß er zunächst Spalatin gar nicht antworten wollte. Die Rücksicht auf den öffentlichen Frieden ließ er nicht gelten, eher wollte er Spalatin, den Kurfürsten und alle Kreatur verderben. Hatte er dem Papst widerstanden, warum sollte er dann dem Kardinal als dessen Kreatur weichen? Eine Erhaltung des öffentlichen auf Kosten des ewigen Friedens Gottes konnte nicht angehen. »Nicht so Spalatin, nicht so Fürst!« Dem schlimmen Wolf mußte um der Schafe Christi willen entgegengetreten werden. Luther weigerte sich, irgend etwas an der Schrift zu ändern, und warnte Spalatin davor, sie nicht an Melanchthon weiterzugeben!3. Hier bahnte sich der schwere Konflikt mit der von Spalatin zu vertretenden Politik des Hofes an, der in den folgenden Wochen fortdauerte. Zunächst wandte sich Luther, wie früher schon vorgesehen, am 1. Dezember brieflich an Albrecht von Mainz l4 . Das war nach den vergeblichen Briefen von 1517 und 1520 als eine dritte und letzte Mahnung gedacht und entsprach somit der Kirchenzucht der Evangelien (Mt 18, 17). Durch die Wiederaufrichtung des abgöttischen Ablasses erwies sich, daß Albrecht nachträglich seIbst für den dadurch entstandenen Konflikt verantwortlich war. Er mußte nun erfahren, daß Luther ohne Angst vor der Hölle oder vor Papst und Kardinälen immer noch auf dem Plan war und diese gewissenlose Geldmacherei nicht duldete. Er bat, das Volk nicht mit dem Betrug des Ablasses zu verführen, und verwies auf den Brand, der sich bereits aus dem Ablaßkonflikt entwickelt hatte. Gott konnte auch dem Kardinal von Mainz widerstehen. »Euer Kurfürstlich Gnaden denken nur nicht, daß Luther tot sei. Er wird auf den Gott, der den Papst gedemütigt hat, so frei und fröhlich pochen und ein Spiel mit dem Kardinal von Mainz anfangen, des sich nicht viele versehen.« Mit auffallender Vollmacht wird der Kardinal unter Druck gesetzt: Falls der abgöttische Ablaß nicht abgeschafft würde, müsse Luther um der göttlichen Lehre und christlichen Seligkeit willen gegen ihn öffentlich wie gegen den Papst vorgehen, ihn als Wolf entlarven und als ein Ärgernis aus dem Reich Gottes treiben. Ferner warnte er ihn vor der inzwischen angelaufenen tyrannischen Verfolgung der ersten verheirateten Priester. Bevor der Erzbischof fromme Ehegatten scheide, solle er seine eigenen Huren abschaffen. Luther versicherte, ihm läge nicht an Albrechts öffentlicher Schande und Unehre, aber notfalls wolle er nicht schweigen. Er setzte dem hochgestellten Kardinal eine Erklärungsfrist von 14 Tagen, danach wollte er das Büchlein »Wider den Abgott zu Halle« veröffentlichen. Bei seinem heimlichen Besuch Anfang Dezember in Wittenberg mußte Luther feststellen, daß Spalatin das Büchlein zusammen mit anderen Schriften zurückgehalten hatte, und forderte von ihm die Herausgabe, sonst würde er sie durch weit heftigere Äußerungen ersetzen l5 . Nach der Rückkehr auf die Wartburg stimmte er dann zu, daß die Veröffentlichung aufgeschoben wurde, bestand jedoch darauf, daß wenigstens der Brief Albrecht zuging. Gegenüber beruhigenden Nachrichten von einer Bekehrung Albrechts und der Entlassung der gefangenen Priester war er 22

skeptisch l6 . Ein äußeres Einverständnis mit Spalatin war damit wieder hergestellt, obwohl Luther das nicht vom Glauben, sondern von politischen Erwägungen geleitete Verhalten des Hofes nach wie vor beschwerte. Melanchthon hatte über Capito Luthers Brief an Albrecht von Mainz geschickt. Beide antworteten am 21. Dezember 17 . Albrechts Brief war eine völlige Unterwerfung. Der Ablaß war abgestellt, die gefangenen Priester freigelassen. Der Kardinal wollte sich mit Gottes Hilfe als frommer, geistlicher und christlicher Fürst erweisen und bekannte sich als sündiger und irrender Mensch bereit, brüderliche und christliche Strafe zu leiden. Capito wies darauf hin, wie er heimlich auf der Linie des Erasmus Luthers Sache dauernd unterstützt und in diesem Sinne Albrecht beeinflußt habe. Er hob dessen neuerliches Interesse an Bibel und Theologie hervor und gab eine allerdings sehr dürftige Erklärung für die Aufrichtung des Ablasses. Dabei ging es ihm erneut darum, daß Luther Albrecht nicht zu heftig angriff. Sein ganzer wortreicher Brief war auf Beschwichtigung aus und ließ das nötige Unterscheidungsvermögen vermissen. Luther hätte den Brief Albrechts akzeptiert, Capitos Äußerungen, die dem Problem nicht auf den Grund gingen, machten ihn jedoch mißtrauisch. Dennoch wollte er sich mäßigen. Das Büchlein »Wider den Abgott zu Halle« sollte Melanchthon aufbewahren, bis es als allgemeine Schelte, falls andere wahnsinnig wären, verwendet werden könnte. Tatsächlich ist es dann in die Schrift» Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe« von 1522 eingegangen l8 • Capito, den er gegenüber den Freunden als Bestie bezeichnete, erteilte er am 17.Januar 1522 in einem ausführlichen und im Ton sachlichen Brief, einem der großen Dokumente für Luthers eigenes Verhalten, eine klare Lektion über rechtes evangelisches Vorgehen 19. Er bestritt, daß es verschiedene Weisen der Unterstützung des Evangeliums gäbe. Dessen Nivellierung und Anpassung an die Fürsten sei kein Weg, sondern könne nur schaden. »Das Christentum ist eine offene und ganz einfache Sache.« Die Wahrheit Christi könne den Lastern und der Gottlosigkeit nicht schöntun. Sie strafe die ganze Welt und nähme keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Menge. Das vertrüge sich durchaus mit christlicher Liebe und Sanftmut. Es sei etwas anderes, das Laster zu loben und abzuschwächen, als es gütig und süß zu heilen. Fehlende duldsame Liebe zu den Schwachen konnte man Luther nicht vorwerfen. Das stellte er wenig später erneut unter Beweis. Wäre der demütige Brief des Kardinals ernst gemeint, hätte Luther ihm wie 1517 den Staub von den Füßen geküßt. Den Feinden des Worts konnte man um der Liebe willen nur mit allen Kräften und auf alle Weisen widerstehen. Die Beteuerungen des Kardinals, um eine christliche Amtsführung bemüht zu sein, waren unglaubwürdig. Capito solle ihm zunächst klarmachen, worin gesündigt werden könne und worin nicht, auf keinen Fall jedoch in der Wahrheitsfrage. Die Angelegenheit der verheirateten Priester sei mit ihrer Freilassung nicht erledigt, weil sie zuvor hatten versprechen müssen, ihre Frauen zu entlassen. Der Vorwurf der Unzucht gegen sie sei angesichts der Verhältnisse an den bischöflichen Kurien Albrechts schiere Heuchelei. Capito hätte deshalb einen weit schärferen Brief verdient. Sofern er es ernst meine, wolle Luther sein ganz gehorsames Werkzeug sein, andernfalls sein außerordentlicher

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Verächter. »Unsere Liebe ist bereit für euch zu sterben, wer aber den Glauben angreift, greift unseren Augapfel an.« Auf eine direkte Antwort an den Kardinal verzichtete Luther; Capito sollte Albrecht Luthers Auffassung übermitteln. Der Brief verfehlte seine Wirkung auf Capito nicht. Am 12. März, wenige Tage nach Luthers Rückkehr von der Wartburg, suchte er ihn in Wittenberg auf. Er dürfte ihm damals weithin recht gegeben haben. Möglicherweise erleichterte dessen Kritik an den Wittenberger Neuerungen die Verständigung. Damit bahnte sich der Rückzug Capitos aus seiner Stellung bei Albrecht von Mainz an. 1523 ging er als Propst des Thomasstifts nach Straßburg und wurde zu einem der Führer der dortigen Reformation. Seine fragwürdige Anpassungsfähigkeit an gegebene Situationen blieb jedoch lebenslang sein Problem. Aus welchem Grund Luthers kritischer Brief 1522 wohl zuerst in Erfurt gedruckt wurde, ist unbekannt. Vielleicht richtete sich das gegen den Erzbischof. Mit einem Nachdruck im folgenden Jahr wollte man offensichtlich Capito in Straßburg kompromittieren.

Die Kritik der neuesten päpstlichen Gründonnerstagsbulle Jeweils am Gründonnerstag machte der Papst die Exkommunikation der Ketzer sowie der äußeren Feinde des Papsttums bekannt. Dazu diente eine besondere päpstliche Bulle, die von den Bischöfen verkündigt werden mußte. 1521 wurde darin erstmals auch der Name des gebannten Luther und seiner Anhänger neben den Wyclifiten, Hussiten und Fraticelli aufgeführt. Luther muß diese Bulle Ende 1521 zugekommen sein. Er gab sie mit Randbemerkungen und Kommentar unter dem Titel »Bulla coenae domini, das ist, die Bulla vom Abendfressen des allerheiligsten Herrn, des Papstes« in deutscher Übersetzung heraus und fügte eine Auslegung des 10. Psalms, einer Klage über den Übermut der Feinde, als Glosse Davids über diese Bulle hinzu 20 • Bei Strafe des Bannes forderte er, daß sie nur mit großen Buchstaben gedruckt werden dürfe. Sein Spott galt der Tatsache, daß die von dieser Bulle Betroffenen nicht einmal der Ablaß, sondern nur der Papst selbst lösen konnte. Nach seiner Auffassung konnte das Dokument nur im Zustand der Trunkenheit »beim Abendfressen« entstanden sein. Es fiel ihm nicht schwer, den ungeistlichen, selbstsüchtigen, gotteslästerlichen Charakter der päpstlichen Verfluchungen anzuprangern. Das eigentliche Urteil darüber sah Luther bezeichnenderweise bereits in Ps 10 gesprochen. Die Tyrannei des Papstes und die darin sich zeigende Gottesferne gilt als Strafe für die Undankbarkeit des Gottesvolks. Als der Gottlose verbrennt der Papst die angeblichen Ketzer und verfährt selbstsicher und gottvergessen nach eigener Willkür. Dagegen wird nun, genau Luthers damaliger Auffassung entsprechend, nicht zum Aufstand aufgerufen, sondern zum Gebet, daß Gott als der einzige Herr der Kirche in Aktion tritt. Die Wende wird vom bald erwarteten Jüngsten Gericht erhofft.

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2. Die Wartburgpostille Der Streit mit der scholastischen Theologie und dem kirchlichen Herrschaftssystem war für Luther nicht die Hauptsache oder Selbstzweck. Es ging ihm vielmehr um die rechte Verkündigung und Vermittlung des Evangeliums, d. h. um den rechten Gottesdienst. Dieser die Lehre und die Praxis zugleich betreffenden Aufgabe widmete er sich vorrangig auch auf der Wartburg. Der verdammte Luther tat sich gegen den Papst mit dem verachteten Evangelium zusammen. Wie bei der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft galt es, gleichzeitig Jerusalem aufzubauen und es zu verteidigen!. Als eines der ersten Vorhaben auf der Wartburg plante er die Fortsetzung der ursprünglich lateinischen Postille, d. h. des Predigtbuches über die sonn- und festtäglichen Epistel- und Evangelientexte, dessen Adventsteil er Anfang des Jahres herausgebracht hatte 2 • Nunmehr entschloß er sich, die Postille in deutscher Sprache abzufassen. In diesen Zusammenhang gehört die Bemerkung: »Meinen Deutschen bin ich geboren.« Das Vorhaben beschäftigte ihn bis zur Rückkehr nach Wittenberg. Er wandte sich zunächst den Predigten der Weihnachtszeit zu und kündigte schon Mitte Juli die erste Manuskriptlieferung für den Druck an. Das Werk wuchs ihm unter der Hand. »Es wird ein großes Buch sein«, meldete er im August. Deshalb lag ihm sehr an einer sauberen Druckgestaltung. Es sollte nicht bei dem nachlässig arbeitenden Drucker Rhau-Grunenberg, sondern bei dem Drucker Lotther in Wittenberg in Folioformat sorgfältig gedruckt und des Preises wegen in mehrere Bände aufgeteilt werden 3 • Am 19.November unterzeichnete Luther die Widmung zur Postille. Allerdings fehlte noch eine deutsche Fassung der Adventspredigten. Von dem Gedanken einer bloßen Übersetzung der lateinischen Adventspostille kam Luther ab und schrieb in den letzten Monaten der Wartburgzeit auch die Adventspredigten neu. Weihnachts- und Adventspostille erschienen, wahrscheinlich wegen des großen Umfangs der Weihnachtspostille, dann doch zunächst getrennt, die eine wohl Anfang März, die andere im späten April 1522. Die Fortsetzung, die sog. Fastenpostille, die bis Ostern reichte, brachte Luther erst 1525 heraus. Der noch ausstehende Sommerteil wie auch die späteren Postillen wurden von Luther nicht eigens verfaßt, sondern von seinen Mitarbeitern aus Nachschriften zusammengestellt. Die Kirchenpostille wurde mehrfach nachgedruckt und ins Niederdeutsche sowie durch Martin Bucer ins Lateinische übertragen. Sie war noch im 17. Jahrhundert eines der bekanntesten Werke Luthers. In der Deutschen Messe von 1526 sah er vor, daß die Pfarrer, sofern sie es nicht besser könnten, aus seiner Postille vorlesen sollten, wodurch auch der Schwärmerei begegnet würde 4 . Ein Jahr später bezeichnete er sie als »mein allerbestes Buch, das ich je gemacht habe«, das sogar von den Papisten geschätzt würde 5 . Die Breite seiner Ausführungen (»das Geschwätz«) empfand er allerdings von Anfang an als Problem. In der Tat dürften die meisten Predigten der Wartburgpostille selbst den Zeitrahmen einer damaligen Predigt überschritten haben. Einen Extremfall bildet hierbei die Epiphaniaspredigt mit 173 Seiten. Luther hatte in sie besonders ausführlich die kritische Auseinandersetzung mit den damals bedrängenden Fragen von Beichte, Mönchtum und Messe hineingeschoben. Trotz 25

ihrer Überlängen und obwohl Luther normalerweise ohne wörtliches Manuskript predigte, sind die Predigten der Postille als echte Predigten konzipiert und sorgfältiger als sonst ausgearbeitet. Sie gehören sprachlich wie theologisch zu den Spitzenleistungen deutscher Predigtliteratur. Als Quelle für Luthers Theologie sind sie bei weitem nicht ausgeschöpft , obwohl sie als Schriftauslegungen einen Teil seiner damaligen theologischen Grundlagenarbeit darstellen, die alsbald weiter umgesetzt wurde. Der Weihnachtspostille stellte Luther als prinzipielle Einführung »Ein klein Unterricht , was man in den Evangeliis suchen und gewarten soll « voran6 . Sie enthält bereits wichtige Gedanken seiner späteren Vorrede zum Neuen Testament. Abgewehrt wird das herkömmliche Mißverständnis, die Evangelien seien neue Gesetzbücher. »Evangelium ist eine Rede von Christo , daß er Gottes Sohn sei und Mensch für uns worden , gestorben und auferstanden, ein Herr über alle Dinge gesetzt. « Aus Christus darf man darum keinen Mose machen. Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist Christus als das einem jeden von Gott übergebene Geschenk, das den Glaubenden geradezu mit jenem identifiziert. Diese frohmachende Mitteilung ist die rechte Predigt des christlichen Glaubens. Erst in zweiter Linie ist Christus danach Exempel und Vorbild für die Werke. Das Angebot, die Verheißung , geht vor. Die Predigt des Evangeliums läßt Christus zu uns kommen oder bringt uns zu ihm, so daß er an uns wirkt. Von diesem zentralen Vorgang her erschließt sich die ganze Bibel. Das Evangelium ist ihre Mitteilung in mündlicher Botschaft und das Gegenteil zu den päpstlichen Gesetzbüchern. Dieser »kleine Unterricht « ist mehr als eine übliche Vorrede . Die Mitteilung Christi im mündlichen Wort wird zum Zentralstück der Religion . Christus ist Geschenk und Gabe, die Werke sind dazu die Entsprechung und Folge . Immer wieder wird das in ganz einfachen , verständlichen Gliederungen in den folgenden Predigten z. B. hinsichtlich des Verhältnisses von Glauben und Liebe oder Glauben und Werken, Gesetz und Evangelium oder von der zentralen Stellung der Christologie her durchbuchstabiert, wobei der Reichtum und die Tiefe der Auffassung des Evangeliums es verhinderten, daß daraus ein doktrinäres, klapperndes Schema wurde. Die Theologie oder Lehre war Ausdrucksmittel des lebendigen Christusglaubens, der aus der gottesdienstlichen Form der Predigt erwuchs. Darin liegt die exemplarische Bedeutung der Postille. Ein fester Bestandteil der Predigten war die Abwehr falscher Verkündigung, Zeremonien und Werkerei, anfangs jeweils am Schluß in einem als »Harnisch « bezeichneten Teil zusammengefaßt. »Kein greulicher Plag, Jammer, Unglück auf Erden ist denn ein Prediger, der Gottes Wort nicht predigt, deren jetzt leider alle Welt voll ist.« Das Urteil über die Predigt steht der ganzen Gemeinde und nicht nur der Hierarchie zu. Grundsätzlich können auch die Laien predigen. Gerade in ihrer Konzentration auf das Evangelium sind die Predigten immer auch aktuell und erstaunlich gegenwartsbezogen. Die Politik bis hin zur Problematik des Aufstands kommt in den Blick. Die kirchlichen und gemeindlichen Verhältnisse müssen sich ständig am biblischen Zeugnis messen lassen. Dabei wird nicht nur gegen den Papst oder das Mönchtum polemisiert, sondern auch das brennende Verhältnis von Star-

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ken und Schwachen behandelt oder die Bedeutung der Vernunft, Naturwissenschaft, Philosophie und des Berufes erörtert. Sogar dem Problem, was die Entdekkung Amerikas für die Verkündigung des Evangeliums an die Welt bedeutet, stellt er sich. Ziemlich unbefangen wird noch die »geistliche Deutung«, d. h. die Allegorie angewendet. Gelegentlich merkt man, daß Luther nicht nur die Postille des Nikolaus von Lyra, sondern auch die Predigten Taulers zur Verfügung standen. Insgesamt meinte Luther in der Schlußbemerkung zur Kirchenpostille, es sei mit diesen zwölf Predigten »ein christlich Leben so reichlich vorgebildet, daß einem Christenmenschen übrig genug gesagt sei, was ihm zur Seligkeit not ist«7. Dann aber relativierte er das Unternehmen sofort: Sein »Geschwätz« und überhaupt alle Auslegung käme an das Gotteswort selbst nicht heran. »Es ist ein unendlich Wort und will mit stillem Geist gefaßt und betrachtet sein.« Die Auslegung kann nur ein Hilfsmittel zum Zugang zur Bibel selbst sein. Einmal wird die Bibel mit dem dürren Feigenbaum verglichen, der jetzt wieder Blätter treibe, und Luther hofft, daß der Sommer nicht ferne sei, in dem er auch Frucht bringe. In gewisser Hinsicht war die Postille das Vorspiel zu dem noch größeren Werk der Wartburgzeit, nämlich der Übersetzung des Neuen Testaments.

3. »Von der Beichte« Der rechte Gottesdienst und sein wesentlicher Inhalt waren nicht nur das Hauptthema der Postille, sondern der damaligen theologischen Arbeit Luthers überhaupt. Zu den ersten literarischen Plänen auf der Wartburg gehörte die Schrift »Von der Beicht, ob die der Papst Macht habe zu gebieten«!. Sie sollte eine Art Gegenstück zu der von Johannes in der Einsamkeit verfaßten Apokalypse sein. Luther knüpfte äußerlich an seinen »Unterricht der Beichtkinder« von Anfang des Jahres an, in dem er sich gegen Nachforschungen über den Besitz seiner Bücher durch die Beichtväter gewandt hatte 2 , behandelte das Thema aber jetzt tiefer und grundsätzlicher. Daß soeben Johannes Oekolampads lateinische Schrift »Daß die christliche Beichte nicht lästig sei« erschienen war, störte ihn nicht, zumal die Ausrichtung verschieden war. Oekolampad ging es um eine erneuerte Praxis der Beichte, Luther vor allem um ihre Begründung. Er widmete die Schrift am 1. Juni dem Ritter Franz von Sickingen als Dank für dessen Einsatz für ihn. Luther geht aus von dem täglich im Stundengebet gebrauchten großen Ps 119 mit seiner vielfachen Betonung von Gottes Gebot und Ablehnung der Menschenlehre. Ausführlich und grundsätzlich wird aus dem Alten und Neuen Testament belegt, daß zu Gottes Gebot keine Menschenlehre hinzugesetzt werden darf. Das wird gegen das päpstliche Kirchenrecht vorgebracht und bildet schon wenig später auch ein wichtiges Argument gegen die eigenen Offenbarungen der Schwärmer. Neben dem Evangelium ist kein neues Gesetz einzuführen. Die konzentrierte Formulierung der Norm lautet: »Was nicht Christus Wort und Lehre sei, das ist Betrug und zu meiden.« Konzilsentscheidungen, die mit der Bibel nicht übereinstimmen, sind Menschenlehre und gelten nichts. Im Unterschied zu den auf diese Welt beschränk-

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ten politischen Gesetzen erstrecken sich die des Papstes bis in den Himmel und in den Bereich des Gewissens. »Das kann Gott nicht leiden«, denn dort soll Freiheit sein von allen Menschengesetzen. Es wird dann zunächst überprüft, ob die vom Papst verordnete Ohrenbeichte göttliches Gebot ist. Ein Hauptbeleg der Gegenseite war die Weisung des Evangeliums an den Aussätzigen (Mt 8,4): »Gehe hin, zeige dich dem Priester ... « Die allegorische Übertragung dieser und anderer Stellen auf die Beichte ist nicht zulässig. Die neutestamentlichen Stellen von Sündenbekenntnis und -vergebung erwähnen nichts über die Ohrenbeichte vor dem Priester. Die Beichte ist frei wie die anderen Sakramente auch. Die vollständige Aufzählung der Sünden darf nicht zur Voraussetzung ihrer Vergebung gemacht werden. Es gibt durchaus auch ein gültiges Sündenbekenntnis allein gegenüber Gott. Die Geistesvollmacht zur Sündenvergebung ist nicht nur dem Amtspriestertum oder dem Papst, sondern der ganzen Kirche und allen ihren Gliedern gegeben. An sich schätzte Luther die Ohrenbeichte, wie übrigens zunächst auch noch das Zölibat, und war Gott dankbar dafür; nur zur Zwangsanstalt durfte sie nicht gemacht werden. Ein erzwungener Gottesdienst gefällt Gott nicht. Das zeigt sich ganz klar an der Ohrenbeichte. Sie ist ein »aufgetaner Gnadenschatz«, Angebot und Zusage von Gottes Barmherzigkeit. Durch den praktizierten kirchlichen Zwang wird sie pervertiert, indem Gottes Angebot nicht in Ehren gehalten wird. Durch Repression wird hier nichts erreicht. Die ganze Sakramentssitte sollte auf Freiwilligkeit abgestellt werden, denn dabei kam es auf das innere Verlangen an. Die überflüssigen menschlichen Auflagen machten entweder bei Nichtbefolgung ein falsches schlechtes Gewissen oder bei Befolgung ein falsches gutes Gewissen, und beides lenkte von Gottes Willen ab und führte zur Abgötterei einer Gesetzesfrömmigkeit. Luther riet darum den Gläubigen, die übliche Osterbeichte zu unterlassen und auf einen anderen Termin zu verschieben. Jedenfalls sollte man das päpstliche Gebot nicht höher achten als »den Kot vor dir auf der Gassen«. Als moralisches Zwangsmittel gegen die Sünden durfte die Beichte nicht gebraucht werden. Öffentliche Sünden sollten durch die Kirchenzucht in der Gemeinde gestraft werden, und Luther beklagte, daß die Bischöfe nicht gegen Völlerei, Unzucht, Fluchen, Bordelle, Wucher und Kleiderluxus einschritten, sondern eher ihre finanziellen Interessen verfolgten und sich so an der öffentlichen Sünde mitschuldig machten. Wer hingegen seine heimlichen Sünden nur Gott bekennen wollte, sollte deswegen nicht verketzert werden. Den Sinn der mündlichen Beichte gegenüber einem Menschen sah Luther einmal nach wie vor in der damit verbundenen Selbstdemütigung, die zur Ernsthaftigkeit des Gottesverhältnisses gehört. Das war freilich keine nachträgliche Rechtfertigung der päpstlichen Vorschriften. Wesentlich wichtiger an der Beichte ist jedoch ihr Angebotscharakter mit dem Zuspruch der Absolution, durch den der Glaubende der Vergebung ganz anders gewiß gemacht wird, als es im heimlichen Sünden bekenntnis gegenüber Gott geschehen kann. Auf diese Weise wird Gottes Gericht und damit Gott selbst als die für das Gewissen feindliche Instanz durch seine eigene barmherzige Zusage überwunden. »Gott mit Gott überwinden«, Luthers innerstes Ringen der vergangenen Jahre ist hier präsent und wird nunmehr umgesetzt in Wei-

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sungen für die Frömmigkeit. Die Beichte ist der Ort der Verheißung. Das angefochtene oder vom Tod bedrängte Gewissen wird unter seinem Leidensdruck davon Gebrauch machen und dafür dankbar sein; den andern nützt die Beichte nichts. Die diesbezüglichen Vorschriften des Papstes gehören auf die Latrine. Luther wußte, daß man die herrschende Beichtsitte nicht abrupt umstellen konnte und auf die Gruppe der Schwachen, die beim reformatorischen Vorgehen in der Folgezeit für ihn noch eine große Rolle spielten, Rücksicht nehmen mußte. Er riet ihnen, nicht krampfhaft alle Sünden beichten zu wollen. Es konnte durchaus auch ein Laie sein, dem man beichtete. Denn nach Christi Weisung »ist ein jeglicher Christ ein Beichtvater«. Ein jeder sollte dem anderen beichten, raten und helfen. Die päpstliche Tyrannei in diesem Bereich ist Gottes Strafe für die Undankbarkeit. Hier gilt es, die Schuld zu bekennen und umzukehren zur rechten evangelischen Praxis der Beichte. Luther selber hielt lebenslang an der persönlichen Beichte gegenüber einem Beichtvater, in späteren Jahren dem Wittenberger Pfarrer Johannes Bugenhagen, fest. Im Zusammenhang mit der Schrift» Von der Beichte« hatte Luther auch eine Auslegung des 118. (119.) Psalms verfaßt, »nützlich zu beten für das Wort Gottes zu erheben wider den großen Feind desselben, den Papst und Menschenlehre«, die jener nachträglich angehängt wurde. Als Herzog Johann, der Bruder des Kurfürsten, am 9. September vom Burghauptmann Hans von Berlepsch erfuhr, daß Luther auf der Wartburg weilte, ließ er ihn um eine Auslegung des Evangeliums von den zehn Aussätzigen (Lk 17, 11-19), der Perikope des 14. Sonntags nach Trin. (8. September), bitten. Dieser Text galt gleichfalls als eine der Hauptbelegstellen für die Ohrenbeichte und war dem Herzog von den Weimarer Franziskanern vorgehalten worden, nachdem durchgesickert war, daß sich die Schrift» Von der Beichte« im Druck befand. Binnen einer Woche erfüllte Luther die Bitte und schrieb im Vorgriff auf die spätere Sommerpostille die Predigt über dieses Evangelium, um es »meinen lieben Deutschen mitten aus dem Faß zu credentzen«3. Luther widmete sie dem sächsischen Adligen Haugold von Einsiedei, und Spalatin fügte noch die Namen des Marschalls Hans von Dolzig und des Rates Bernhard von Hirschfeld hinzu, beide gleichfalls Luther nahestehende Beamte. Luther war bewußt, daß er mit dem Angriff auf die Beichte wieder ein neues Feuer angezündet und den Papisten ein großes Loch in die Tasche gebissen hatte. Wegen des zu erwartenden Aufschreis der Gegner würde man geradezu die Fenster aus den Kirchen brechen müssen. Dennoch zwang Luther sein Gewissen zur Warnung vor schriftwidriger Menschenlehre . Dabei stellte er sofort klar, nicht die Beichte wurde von ihm verworfen, sondern der Zwang dazu. Den Gegnern warf er Heuchelei vor. Es ging ihnen persönlich gar nicht so sehr um die Beichte, die sie selbst nur ungern in Anspruch nahmen, sondern um die damit verbundenen Einkünfte des Beichtpfennigs. Das Evangelium spricht gar nicht von der Beichte, erst die allegorische Deutung hatte den Aussatz auf die Sünde und das Sich-dem-Priester-Zeigen auf die Beichte bezogen. Damit ging es schon wieder um die Prinzipien der Schriftauslegung. Luther berief sich auf den Grundsatz Augustins: Die allegorische Auslegung beweist nichts. Sie war in diesem Fall nicht einmal in sich selbst stimmig und schon gar nicht

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mit dem allgemeinen Priestertum des Neuen Testaments vereinbar. Tatsächlich geht es in dem Evangelium um den Glauben der Aussätzigen und die Liebe Christi. Hier bilden sich nun schon die Formulierungen heraus von der vermessenen Zuversicht und Kühnheit des Glaubens, der nicht zweifelt, sich aber auch nicht auf eigene Werke verläßt. An der erfahrenen Liebe und ihrem Vorbild orientiert sich das Handeln, das seinerseits ein Zeichen des rechten Glaubens ist. Die Liebe ist allerdings nicht die Voraussetzung des Glaubens, sondern seine Folge, und die Umkehrung dieses Verhältnisses würde beide zerstören; hier läßt sich Luther bereits in eine Auseinandersetzung mit dem Jakobusbrief ein. Die weitere Geschichte wird Luther zu einem Beispiel vom Durchhalten des Glaubens trotz äußerer Widrigkeiten. Der von ihm praktizierte rechte Gottesdienst ist Lob und Dank. Trotz seiner Kritik der herkömmlichen allegorischen Deutung der Geschichte bot Luther seinerseits am Schluß eine solche an, die er freilich nicht verbindlich machte. Im übertragenen Sinne ging es um die Überwindung des von Christus trennenden Unglaubens und der Werkheiligkeit. In der großen letzten Predigt der Kirchenpostille setzte sich Luther auch mit der Beichtpraxis der Bettelorden auseinander, die vor allem die Frauen unter Druck setzten und daraus ihren Gewinn zogen. »Wer dazu schweigt, ist kein rechter Christ und liebt seinen Nächsten nicht.« Luther würde sich mit seiner Kritik stärker mäßigen, könnte er nur die Seelen aus dem Höllenrachen dieser Beichtväter reißen 4 . Die Schrift» Von der Beichte« war alles andere als eine abstrakte theologische Abhandlung. Sie zielte auf eine veränderte, nämlich freigestellte Beichtsitte ab und war insofern ein Schritt zur Verwirklichung des reformatorischen Programms, dem alsbald weitere folgen sollten. In Wittenberg wurden Luthers Gedanken alsbald aufgenommen. Am 12. Juli wollte Karlstadt bei der Promotion des Jakob Propst zum Lizentiaten der Theologie u. a. auch über die Freiwilligkeit der Ohrenbeichte disputieren lassen 5 • Aber angeblich auf Anraten des päpstlichen Kammerherrn Kar! von Miltitz wurde die Erörterung dieser Thesengruppe verboten. Luther gefiel das nicht. Er riet den Wittenbergern, den Ratschlägen des Hofes zuvorzukommen, wie er es auch früher schon getan hatte, anders wäre nicht die Hälfte von dem geschehen, was tatsächlich ins Werk gesetzt wurde. Gerade an diesem Beispiel hätte man verdeutlichen können, daß die Wittenberger durch Luthers Abwesenheit keineswegs eingeschüchtert waren. Das Problem in der Folgezeit bestand darin, ob neben Luthers Kritik an der Ohrenbeichte auch seine echte Hochschätzung verstanden wurde oder ob es zu einem völligen Zusammenbruch der Beichtsitte kam. Das war ein Element in dem schwer zu steuernden Prozeß reformatorischer Neuordnung, der sich gerade in Wittenberg anbahnte.

4. Die geistlichen Gelübde Im Mai 1521 heirateten die ersten Priester, unter ihnen Luthers Schüler Bartholomäus Bernhardi, Propst in Kemberg bei Wittenberg, sowie Heinrich Fuchs, Pfarrer in Hersfeld, und Jakob Seidler, Pfarrer in Glashütte. Sie zogen damit die prakti-

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schen Konsequenzen aus Luthers Kritik am Zölibat, die er in der Schrift »An den Adel« geäußert hatte. Ihr Beispiel fand bei Priestern im meißnischen und mansfeldischen Gebiet Nachahmung und führte zu einem Dammbruch in der herrschenden kirchlichen Ordnung. Luther registrierte zunächst mit einigem Staunen den mutigen Schritt dieser Priester, die sich damit erheblichen Nachstellungen wie Prozessen, Amtsenthebung und Gefangennahme aussetzten!. In der Tat ließ Erzbischof Albrecht von Mainz Bernhardi vor das bischöfliche Gericht laden, und Seidler wurde von Herzog Georg gefangengenommen und dem Bischof von Meißen übergeben. In Wittenberg ging man an die theologische Verteidigung der verheirateten Priester. Karlstadt ließ über das Thema mehrfach disputieren und gab die Thesen mit Erklärung im Druck heraus. Melanchthon nahm das Problem in seine »Loci« auf. Erörtert wurde die Frage des Priesterzölibats an sich und die Gültigkeit der von den Priestern abgegebenen diesbezüglichen Versprechungen. Alsbald wurden auch die Gelübde der Ordensleute in die Diskussion einbezogen und damit das Problemfeld nochmals außerordentlich ausgeweitet. Anfang August schaltete sich Luther in die Diskussionen der Wittenberger ein 2 • Er hatte damals noch keine fertige und begründete Meinung über die gesamte Problematik, hielt aber die Argumentation der Wittenberger, besonders die tatsächlich schwachen exegetischen Beweise Karlstadts, für unzulänglich. Gerade darauf kam es aber in der Auseinandersetzung mit den Gegnern an, und deshalb äußerte Luther mehrfach seine Unzufriedenheit mit Karlstadt. Zwar konnte man beweisen, daß das Zölibat der Priester eine unchristliche Auflage war, fraglich war aber, ob das auch für die freiwillig abgelegten Gelübde der Ordensleute galt. Die Unhaltbarkeit des Keuschheitsgelübdes erlaubte nicht einfach dessen Bruch. Gelübde mußten erfüllt werden. Luther suchte nach besseren Begründungen für die Entscheidungen der Gewissen, und er war sich sicher, daß sie sich mit Christi Beistand finden ließen. Schmerzlich machte sich dabei die Unmöglichkeit des direkten Austauschs im Gespräch bemerkbar. Ohne Gegenüber meinte er in den Wind zu fabulieren. Die Frage trieb ihn so um, daß er an eine heimliche Zusammenkunft mit Melanchthon dachte. Zunächst war aber noch keine Lösung in Sicht. Daß das ganze Problem für Luther auch persönlich Konsequenzen haben könnte, wies er weit von sich: »Mir werden sie keine Gattin aufdrängen.« Noch im November wies er die Verdächtigung »0 wie druckt den Mönch die Kutte, wie gern hätte er ein Weib« zurück: »Ich hoff, ... daß ich von Gottes Gnaden bleiben werde, wie ich bin. «3 Nach mehrwöchiger Suche war Luther am 9. September klar, daß das Problem von dem paulinischen Gedanken der evangelischen Freiheit her angegangen werden mußte4 • Vermutlich sind in jener Zeit die Ausführungen über das Mönchtum in der Postillenpredigt über Ga13, 23-29 entstanden. Gelübde, die in der Absicht abgelegt worden waren, sich damit das Heil zu erwerben, waren gottwidrig und verflucht und mußten aufgelöst werden. Für die Gelübde der meisten Ordensangehörigen, nach Luthers Vermutung auch für sein eigenes, traf das zu. War das Gelübde hingegen nicht unter dieser Vorbedingung abgelegt worden, sollte es eingehalten werden. Ausführlicher hatte Luther diese Gedanken in einer »den Bischöfen und Diakonen der Wittenberger Kirche, die über das Gelübde der Ordensleute dispu-

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tieren«, gewidmeten Thesenreihe entfaltet, der er wenig später eine zweite anfügte 5 . Die erste argumentierte von dem Eingangssatz »Alles was nicht aus Glauben ist, ist Sünde« (Röm 14,23) her. Die Gelübde waren allenfalls eine freie Möglichkeit der bereits Gerechtfertigten, obwohl sie wesenhaft eher auf die Seite des Gesetzes gehörten. Von Melanchthon wird der Gedanke übernommen, daß die Klöster Schulen sein sollten, die auf Christus und die Freiheit des Glaubens hin erziehen. Über der zweiten Thesenreihe steht der großartige Satz: »Die evangelische Freiheit ist göttliches Recht und Gabe.« Kein irdisches Recht darf ihr entgegengestellt werden. Die Christen haben sich in der Taufe grundsätzlich mit dieser Freiheit verbunden. In diesem Sinne haben die Heiligen ihre Gelübde verstanden. Weil mit der Übernahme der Gelübde immer die Gefahr der Gesetzlichkeit droht, ist es am sichersten, aus den Klöstern auszutreten, obwohl an der Möglichkeit der »freien« Gelübde festgehalten wird. Die Thesen wurden alsbald gedruckt. Luther war sich bewußt, daß sie mit ihrer konsequenten Argumentation für die Gegner neu und schrecklich sein würden. Allerdings machten sie auch seine Uneinigkeit mit Karlstadt offenbar. In Wittenberg erkannte man sofort, welch gewaltigen Fortschritt gegenüber den eigenen Erörterungen sie mit dem konsequenten Ausgehen von der Rechtfertigungslehre darstellten. Der seit dem Frühjahr in Wittenberg Theologie lehrende Johannes Bugenhagen stellte nach der ersten Lektüre fest: »Diese Sache wird eine Änderung der öffentlichen Verhältnisse bewirken«, was die Lehre bis dahin nicht vermocht hatte. »Dies sind die Anfänge der Befreiung der Mönche ... «6. Eine Lawine geriet in Bewegung. Anfang November sprach Luther von einer »starken Verschwörung« zwischen ihm und Melanchthon gegen den Antichrist zur Aufhebung der Gelübde der Geistlichen7 . Etwa gleichzeitig kritisierte der Prediger im Augustinerkloster Gabriel Zwilling das Mönchtum heftig und forderte zum Austritt aus dem Kloster auf. Am 12. November hatten diesen Schritt schon 13 Augustinereremiten vollzogen, weshalb sich der Prior Helt hilflos an den Kurfürsten wandte 8 • Damals hatte Luther bereits die Abfassung des »Gutachtens über die Mönchsgelübde« beschlossen, um die Jünglinge aus der Hölle des unreinen und verdammten Zölibats zu befreien. Er hatte gerüchteweise davon gehört, daß einige Mitmönche die Kutte abgelegt hätten, und befürchtete, dies sei nicht mit hinreichend gutem Gewissen geschehen. Ihnen wollte er zu Hilfe kommen. Am 21. November schloß er sie mit der Widmung an seinen Vater ab. Da Spalatin auch diese brisante Schrift zunächst zurückgehalten hatte, konnte sie erst im Februar 1522 erscheinen9 • Der Widmungsbrief an den Vater war Luthers eigene exemplarische Vergangenheitsbewältigung, mit der dem einstigen Widerspruch des Vaters gegen den Eintritt ins Kloster recht gegeben wurde: Luther hätte das Gebot des Elterngehorsams respektieren müssen. Nunmehr sprach er als ein freier Mensch, dessen »unmittelbarer Bischof, Abt, Prior, Herr, Vater und Meister Christus war«, der ihn vom Mönchsgelübde gelöst hatte lO • Luther faßte sein Gutachten nicht als Streitschrift, sondern als biblisch fundierten Gewissensrat für die Klosterinsassen auf. Souverän fragte er nicht, ob Gelübde zu halten seien, sondern was wahre Gelübde sind, und lenkte den Blick dabei sofort auf das erste Gebot als die elementarste Forderung 32

Gottes. Aufgrund der früher erarbeiteten beiden Thesenreihen beherrschte Luther den Stoff und vermochte das Problem noch umfassender und in klarer Gliederung zu entfalten. Das erste Kapitel beschäftigte sich mit den Normen und behauptete: »Die Gelübde stützen sich nicht auf das Wort Gottes, sie sind ihm vielmehr entgegen.« Die bisherige Theologie hatte zwischen allgemeinverbindlichen Geboten und zusätzlichen Räten im Neuen Testament unterschieden, wobei das Mönchtum beanspruchte, über die Gebote hinaus auch die Räte zu befolgen. Luther ließ die Unterscheidung nicht gelten, denn zum einen durfte man aus dem Evangelium kein Gesetz machen, zum andern galten die neutestamentlichen Vorschriften allen Christen. Damit entfiel zugleich die Unterscheidung zwischen einer Elite der Vollkommenen, die die Mönche zu sein beanspruchten, und den Unvollkommenen, zu denen die übrigen Christen gerechnet wurden. Das allgemeine Taufgelübde kann nicht durch besondere Verpflichtungen überboten werden. Die beiden folgenden Kapitel griffen auf die früheren Thesenreihen zurück. »Die Gelübde stehen im Widerspruch zum Glauben«, weil sie anstatt auf Gottes Barmherzigkeit aufWerkgerechtigkeit ausgerichtet sind. »Die Gelübde stehen im Widerspruch zur evangelischen Freiheit«, weil alles, was nicht notwendig zum Heil ist, frei sein muß. Die evangelische Freiheit befreit vom Vertrauen auf die Werke. Menschengebote, die diese Freiheit antasten, sind gottwidrig, und das trifft das herrschende Kirchenrecht. Die Taufe ist ein Bund der Freiheit, der nicht durch Gelübde preisgegeben werden darf, und darum müssen diese widerrufbar sein. Sofern kein Gesetz aus ihnen gemacht wird, läßt sie Luther nach wie vor gelten. Luther war mit seinen Argumenten damit noch nicht am Ende. Er behauptete auch: »Die Gelübde stehen im Widerspruch zu den Geboten Gottes.« »Das erste Gebot fordert nämlich nichts als den Glauben allein.« Außerdem wird mit den Gelübden häufig die Nächstenliebe, z. B. der Gehorsam gegen die Eltern verletzt. Am Gebot des Zölibats versuchte Luther zu zeigen: »Das Mönchtum ist vernunftwidrig. «Der Aufweis, daß Armut, Gehorsam und Keuschheit in den Klöstern keineswegs konsequent durchgehalten wurden, fiel nicht schwer. Wie revolutionär Luthers Konzeption hinsichtlich der Gelübde insgesamt war, zeigt sich an einem kleinen Satz: »Gott gelobt sich uns« in der Taufe. Dieser evangelische Ansatz veränderte alles. Nur von daher und nicht von menschlichen Vorbildern oder einer eben aufgekommenen Meinung her ließ sich der Austritt aus dem Kloster vor dem Gewissen verantworten. Nicht von ungefähr hat das Gutachten von den Mönchsgelübden, das tatsächlich die Klöster öffnete und schon deswegen ein großes Dokument der Reformation ist, eine seelsorgerliche Ausrichtung. Zugleich ist es über seinen Anlaß hinaus eine von Luthers schönsten Anleitungen zur evangelischen Freiheit. Mit dem Austritt zahlreicher Mönche befand sich das Wittenberger Kloster der Augustinereremiten in einer schweren Krise. Der Vikar Wenzeslaus Linck berief deshalb ein außerordentliches Kapitel auf den 6. Januar 1522 nach Wittenberg ein. Luther, der die tumultartigen Austritte keineswegs billigte, machte Linck vorher klar, daß aus dem Gegensatz des Evangeliums zu den Gelübden Konsequenzen zu ziehen waren. Dem Evangelium durfte man sich nicht widersetzen, selbst wenn das zur Zerstörung aller Klöster führen würde. Der Austritt mußte also freigestellt wer-

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den, wobei Luther für sich selbst von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch machen wollte. Dementsprechend entschied das Kapitel, auf dem die Opposition fehlte, einmütig. Wer noch im Kloster blieb, sollte in Freiheit nach der Ordnung leben ll . Parallel zu den Klosteraustritten kam es zu weiteren Verehelichungen von Priestern. Im Januar 1522 heiratete auch Karlstadt, im Februar Jonas. Die verheirateten Priester waren zunächst mehr gefährdet als die ausgetretenen Mönche, weil die Bischöfe gegen jene vorgingen. Luther setzte sich gegenüber Capito energisch dafür ein, daß sie unbehelligt blieben!2. Für ihn war das Problem der geistlichen Gelübde zwar grundsätzlich ein für allemal geklärt, aber faktisch mußte er sich noch viele Jahre mit seiner Feder immer wieder für ausgetretene Ordensleute und verheiratete Priester einsetzen.

5. Die Umgestaltung der Messe und die Wittenberger Unruhen Die Bestreitung des Zwangs zur Ohrenbeichte und die Aufhebung der geistlichen Gelübde waren gewiß einschneidend. Den tiefsten Eingriff in das bestehende kirchliche System stellten jedoch die fälligen Änderungen des zentralen Meßgottesdienstes dar. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß gerade sie zu schweren Erschütterungen der Wittenberger Gemeinde führten. Aber auch Luther konnte es keineswegs gleichgültig sein, wie bei dieser wichtigen Frage, die ihm selbst schwer zu schaffen gemacht hatte, argumentiert und vorgegangen wurde. In diesem Zusammenhang erwies es sich später als folgenreich, wer an Luthers Stelle in Wittenberg predigte und damit einen wichtigen Einfluß auf die Gemeinde ausübte. In den ersten Briefen von der Wart burg hatte Luther mehrfach danach gefragt, aber in Wittenberg war keine Regelung getroffen worden!. Luther hätte am liebsten Melanchthon als Prediger gesehen, dem er die Fähigkeit zur Leitung der Gemeinde zutraute und den er bereits als »Evangelisten« oder »Lehrer« (Doctor) der Wittenberger Gemeinde anredete. Aber Melanchthon war kein geweihter Priester. Dennoch betrieb Luther im September die Erteilung eines Predigtauftrags für Melanchthon. Lukas Cranach und der Goldschmied Christian Düring sollten deswegen beim Wittenberger Rat vorstellig werden. Als Lehrer des Worts war Melanchthon trotz Verheiratung und fehlender Weihe zum Priester qualifiziert, nachdem man sich nicht mehr an die bisherigen Zwänge hielt. Einem von der Gemeinde erteilten Predigtauftrag konnte er sich schwerlich entziehen. Zugleich wäre auf diese Weise exemplarisch das allgemeine Priestertum praktiziert worden, wie es Luther eben in der Kirchenpostille entfaltete2 • Tatsächlich schlug der Wittenberger Rat dem zuständigen Allerheiligenstift Melanchthon als Prediger an der Stadtkirche vor, das jedoch den Laien trotz anerkannter theologischer Qualifikation ablehnte 3 . Ob Melanchthon in der folgenden schwierigen Zeit die Gemeinde auf geradem Kurs hätte halten können, ist fraglich. Weil jedoch die PredigtsteIle Luthers nicht besetzt wurde, gewannen andere bestimmenden Einfluß, zunächst Gabriel Zwilling als Prediger im Augustinerkloster , später Karlstadt auf der Kanzel der

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Stadtkirche. Im Hinblick darauf begründete Luther seine Rückkehr von der Wartburg vor allem damit, daß ihm der Satan in seine Hürde, d. h. in die ihm als Prediger anvertraute Gemeinde, eingebrochen sei 4 • Von der Kanzel aus machte er dann den Wittenberger Wirren in seinem Sinne ein Ende. Die Schlüsselposition des Wittenberger Predigtamtes hatte er von Anfang an richtig eingeschätzt. Karlstadt brachte die Diskussion über die Messe mit einer Reihe von Thesen am 19. Juli 1521 in Gang. In ihnen erklärte er den üblichen Empfang allein des Brotes in der Kommunion zur Sünde. Auch Luther hatte bereits vor, nach einer Rückkehr nach Wittenberg zur Kommunion unter beiderlei Gestalt überzugehen und der tyrannischen Vorenthaltung des Kelches für die Laien ein Ende zu machen. Außerdem war er fest entschlossen, keine Privatmesse ohne Gemeinde mehr zu zelebrieren. Die Tätigkeit des Meßpriesters auf der Wartburg bezeichnete er als Götzendienst. Hingegen widersprach er, als ihm Karlstadts Thesen am 1. August bekannt wurden, sofort erneut aus seelsorgerlieher Verantwortung der Auffassung, daß der Empfang allein des Brotes in der Messe Sünde sei, denn die Laien hatten das nicht zu verantworten, sondern waren die Opfers. Seit Ende September kam es in Wittenberg zu ersten Änderungen in der Meßpraxis und gleichzeitig zu einer verschärften Diskussion über sie. Melanchthon beteiligte sich seit dem 29. September mit den Studenten in seinem Haus an Privatmessen, in denen außer dem Brot auch der Kelch allen Anwesenden gereicht wurde. Der unruhige Gabriel Zwilling predigte am 6. Oktober im Augustinerkloster geradezu als ein »zweiter Luther« gegen das Hören und Feiern der gottwidrigen Privatrnessen und gegen die Anbetung des Altarsakraments. Möglicherweise neigte er damals sogar zu einer symbolischen Abendmahlsauffassung, die die reale Gegenwart von Leib und Blut Christi in Frage stellte. Davon ließ er sich später allerdings wieder abbringen. Im Augustinerkloster wurde die Messe als Gemeinschaftsfeier mit Austeilung von beiderlei Gestalt gefeiert. Als der Prior dies verbot, unterblieb die Messe im Kloster ganz. Ein Ausschuß von Universitätsprofessoren, dem u. a. Jonas, Karlstadt, Johann Dölsch, die Juristen Hieronymus Schurf und Christian Beyer und Melanchthon angehörten, verhandelte darauf mit·den Augustinern, um zu erreichen, daß sie zunächst keine aufsehenerregenden Neuerungen einführten. Gegen solche war selbstverständlich auch der besorgte Kurfürst, der deshalb den Ausschuß mit weiteren Verhandlungen beauftragte. Die kirchliche Atmosphäre in der Stadt war gespannt. Am 5. Oktober waren die Antonierboten von Lichtenburg an der EIbe, die wie üblich zum Predigen und Sammeln gekommen waren, von Studenten verspottet und belästigt worden. Das Stiftskapitel schlug dem Kurfürsten zwar die Begehung des Allerheiligenfestes mit der Reliquienausstellung in der Schloßkirche vor, dabei sollte aber auf die päpstlichen Fahnen und die Ablaßverkündigung verzichtet werden 6 . Karlstadt suchte die entstandenen Probleme am 17. Oktober mit einer weiteren großen, offenen Disputation zu klären. Er war damals gegen eine Abschaffung der Messe und forderte eine biblische Begründung und die Zustimmung der Obrigkeit zu diesem Schritt. Einig war man sich in der Notwendigkeit der Reichung von beiderlei Gestalt, wobei Melanchthon sich stärker als Karlstadt bereits für eine ent-

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sprechende Praxis einsetzte 7 • Am 20. Oktober informierte der Ausschuß den Kurfürsten sachlich über die Verhandlungen mit den Augustinern und bat ihn um eine baldige Abschaffung des Mißbrauchs der Messe. Das wäre die klarste Lösung gewesen. Bis dahin sollte es auch in ihrem Kloster bei der bisherigen Praxis bleiben; etwaigen Neuerungen wollte man allerdings auch nicht widersprechen. Wenig später forderte auch Jonas in der Schloßkirche die Meßfeier mit Reichung von beiderlei Gestalt. Der Kurfürst lehnte jedoch am 25. Oktober jede Änderung der Messe in Wittenberg allein ab. Die Konsequenzen einer Aufhebung der Messen für die finanziell wichtigen Meßstiftungen waren nicht zu übersehen. Aus inneren und äußeren Rücksichten war der Kurfürst wieder einmal für das einfache Abwarten. Der Ausschuß sollte weiter raten. Diesem fiel jedoch eine neue einmütige Stellungnahme schwer 8 . Da eine Lösung nicht erreicht worden war, verschärften sich im November die Gegensätze. Die katholischen Stiftsherren und der Augustinerprior Helt beschwerten sich beim Kurfürsten über die Neuerer, die Austritte aus dem Kloster und vor allem auch über Zwillings heftige Kritik an den Geistlichen. Besonders progressiv gaben sich die Mönche aus den Niederlanden. Viele Privatmessen unterblieben oder wurden nur noch gefeiert, wenn Kommunikanten daran teilnahmen, denen dann beiderlei Gestalt gereicht wurde 9 . Der Befehl des Kurfürsten, Änderungen zu unterlassen, wurde also nicht befolgt. Luther nahm zu den Wittenberger Auseinandersetzungen mit einer größeren lateinischen Schrift» Von der Abschaffung der Privatmesse« (De abroganda Missa privata sententia) Stellung, die er alsbald selbst unter dem Titel »Vom Mißbrauch der Messe« auch ins Deutsche übersetzte 10. Die lateinische Widmung an die Brüder im Augustinerkloster ist vom 1., die deutsche vom 25. November datiert. Einerseits freute er sich, daß man, veranlaßt durch das Wort Christi, mit der Abschaffung der Messe begonnen hatte. Andererseits befürchtete er wie bei der Aufgabe der Gelübde, daß manche es ohne zureichende Begründung taten und sich im Gewissen übernahmen, so daß sie in dem zu erwartenden Sturm nicht bestehen konnten. Ihnen wollte er zu Hilfe kommen. Luther wußte sehr wohl: Hier ging es nicht um eine Frage unter anderen, die Messe war vielmehr ein Grund- und Hauptproblem der kirchlichen Erneuerung. Das Herkommen und die menschlichen Autoritäten ließ er gerade hier nicht gelten; die Sakramentspraxis mußte wie die Glaubensartikel mit der Bibel begründet werden. Luther setzte beim Priestertum an. Ganz konsequent ging er davon aus, daß das Neue Testament nur das allgemeine Priestertum kennt und daß es einen besonderen Priesterstand, der das Meßopfer zu vollziehen hat, nicht gibt. Gegen die ganze bestehende Praxis war zu lehren, »daß das Meßpfaffentum vor Gott nichts ist«. Die Priester sollten auf der Stelle (!) die Messe entweder unterlassen oder sie recht gebrauchen. Die Berufung auf die bestehende Kirchenordnung verfing nicht. Sie war nicht Gottes Ordnung, und die Kirche durfte außerhalb des Gottesworts nichts festsetzen. »Die Kirche macht nicht das Wort, sondern sie wird von dem Wort.« Der Inhalt des neutestamentlichen allgemeinen Priestertums besteht nach Röm 12,1 im Opfer der eigenen Hingabe des Christen an Gott, ein anderes gibt es nicht und

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mithin auch kein Meßopfer, das nur Abgötterei sein kann. Luther kennt durchaus ein kirchliches Amt, nämlich das von Christus eingesetzte Predigtamt; dieses ist jedoch zunächst die gemeinsame Aufgabe aller Christen, denen entsprechend auch die Urteilsfähigkeit über die Lehre zuerkannt wird. Damit stieß Luther auf das heikle Problem der Gleichberechtigung der Frau in der Kirche, die sich selbst nach den patriarchalischen Vorstellungen in der Bibel dem Mann unterzuordnen hatte. Dabei kann geltend gemacht werden, daß die Frau z.B. stimmlich zum Predigen nicht gleich geschickt ist wie der Mann. Luther kann sich auch nicht ganz von der biblischen Unterordnung der Frau lösen. Prinzipiell bleibt er aber seinem Ansatz treu: »Wenn aber kein Mann prediget, so wär's von Nöten, daß die Weiber predigten.« Eine Hierarchie wie die bestehende kennt das Neue Testament nicht, sondern nur von den Gemeinden gewählte Aufseher. Später wird das päpstliche Priestertum mit seinen Riten und Bestimmungen als ein eigenes Rechtssystem dargestellt, das weder mit dem Evangelium noch dem Dekalog übereinstimmt und in dem die Kirche zur Synagoge pervertiert ist. Der zweite Teil will zeigen, daß die Messe kein Opfer ist. Sie ist nach dem Vorbild Christi zu halten, alle übrigen Zeremonien sind frei. Im Abendmahl wird die Verheißung Christi laut, die der Glaube aufnimmt. Das Abendmahl ist nicht Opfer, sondern Gabe, und ihr entspricht der Dank. Aus dem Wortlaut der Einsetzungsworte, die als Inbegriff des Evangeliums gelten können, wird der Charakter des Abendmahls entfaltet, das das Testament Christi ist und Vergebung anbietet, dem aber der Opfergedanke fremd ist. Damit erledigen sich die Messen für andere, das Fronleichnamsfest und der Kanon mit seiner Opfervorstellung als das zentrale Stück der Messe. Durch die Tradition oder die um die Messe sich rankenden frommen Legenden ließ sich Luther nicht beeindrucken. Nachdem der Irrtum des Meßopfers erkannt war, ziemte es sich nicht, »daß wir weiter irren«. Man sollte gegen die Messe argumentieren, aber die noch schwachen Gewissen nicht verachten. Luther hatte keine Einwendungen dagegen, daß die Messen und Stundengebete in Wittenberg unterblieben. Das Allerheiligenstift mit den reichen Meßstiftungen des sächsischen Fürstenhauses bezeichnete er ungeniert als »Bethaven«, d. h. eine Stätte des Götzendienstes, das zugunsten von Armenstiftungen aufgelöst werden sollte l1 . Aber das sollte noch Jahre dauern. Luther setzte darauf, daß der Kurfürst in seiner Rechtlichkeit und Wahrheitsliebe sich Neuerungen nicht versagen würde, und stellte ihn in einer wunderlichen Allegorie als den mythischen Kaiser dar -1519 soll angeblich zunächst Friedrich der Weise zum Kaiser erwählt worden sein -, der das heilige Grab, für Luther identisch mit der Bibel, befreien würde. Die von außen sich erhebende Kritik mußte in Kauf genommen werden. Praktisch wollte Luther noch nicht über die Agitation gegen den alten Gottesdienst und seine Unterlassung hinausgehen. Bei aller grundsätzlichen Einigkeit mit den Augustinern und Melanchthon dachte er noch nicht an die Feier einer evangelischen Messe. In die Wittenberger Auseinandersetzung konnte Luthers Schrift zunächst gar nicht hineinwirken, da Spalatin auch sie wegen ihrer Schärfe bis in den Dezember zurückhielt, so daß sie erst im Januar 1522 erschien. Ihr Ziel war weniger die Aufklärung der Gemeinde als vielmehr die grundsätzliche Bestreitung der herkömmli37

chen Messe und des Priestertums, weshalb sich in den folgenden Jahren Emser, der Franzose Jodocus Clichtoveus, Johannes Dietenberger und Johannes Mensing unmittelbar mit ihr auseinandersetzten, ohne jedoch den Argumenten Luthers gewachsen zu sein 12 • Obwohl Luther damals noch nicht zu neuen gottesdienstlichen Ordnungen übergehen wollte, gehÖrte er keineswegs zu den Leisetretern. Spalatin sollte sich nicht durch den schlechten Ruf der Wittenberger anfechten lassen, das war Christus und den Aposteln auch widerfahren. Die Belästigung der Antonierbotschaft durch die Studenten billigte er zwar nicht, aber man konnte nicht alle jederzeit und überall zügeln oder verlangen, daß kein Hund muckst. Luther lehnte eine Entschuldigung deswegen ab. Die Übergriffe gefährdeten das Evangelium nicht. Eine geringere Sünde ist es, einen gottlosen Prediger auszuzischen, als seine Lehre gläubig anzunehmen 13 • Aufgrund von Gerüchten, die wahrscheinlich auch die Meßpraxis und die Spannungen zwischen den Neuerern und Konservativen betrafen, entschloß sich Luther, ohne den Hof zu informieren, Anfang Dezember zu einem heimlichen Besuch in Wittenberg, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen 14 • Am 3. Dezember kehrte er in grauer Reiterkleidung mit einem roten Birett unter dem Hut, begleitet von einem Knecht, bei dem Gastwirt Johannes Wagner in Leipzig ein 15 und war spätestens am Tag darauf in Wittenberg, wo er bei Melanchthon wohnte. Er traf außerdem mit Amsdorff, dazu mit Lukas Cranach und Christian Düring zusammen. Der Austausch mit den Freunden war für ihn eine Wohltat. In einem Brief an Spalatin vom 5. Dezember beteuerte er, alles was er höre und sehe, gefalle ihm sehr. Er bat um Gottes Beistand für die Gutwilligen. Schon auf der Herreise hatte er, veranlaßt durch Gerüchte über ein aufrührerisches Verhalten einiger Leute in Wittenberg, sich vorgenommen, eine Ermahnung gegen sie zu veröffentlichen. Der eigentliche Anlaß für diesen Brief war der erwähnte Umstand, daß Spalatin bis dahin die Manuskripte von Luthers Schriften »Vom Mißbrauch der Messe«, »Über die Mönchsgelübde« und» Wider den Abgott zu Halle« zurückgehalten hatte. Infolgedessen war Luthers Beitrag zu den jüngsten Wittenberger Auseinandersetzungen und zum rechten Vorgehen gar nicht bei den Adressaten angekommen. Man versteht, daß er auf sofortiger Aushändigung bestand 16 • Die Gespräche mit den Freunden betrafen auch Luthers weitere Arbeit, nachdem von der Postille nur noch die Adventspredigten ausstanden. Damals nahm das Vorhaben der Übersetzung des Neuen Testaments konkretere Gestalt an. Um den 12. Dezember befand sich Luther wieder auf der Wartburg. Luthers positive Beurteilung der Wittenberger Situation ist erstaunlich und war vielleicht verharmlosend. Denn gerade am 3.Dezember war es zu den bisher schwersten Übergriffen gekommen. Studenten, angeblich mit bloßen Messern unter den Röcken, mit denen sich, wie früher in Erfurt, erstmals auch - später als »junge mutwillige und unverständige Martinianer« bezeichnete - Bürger verbanden, hatten die Messe in der Stadtkirche gestört, die Priester vom Altar getrieben und die Meßbücher weggenommen. Rasch wurde deutlich, daß die Störer einen erheblichen Rückhalt unter der Bevölkerung und Studentenschaft hatten. Rektor 38

und Rat wollten einen Aufruhr verhüten und die Verantwortlichen bestrafen. Der über die Vorgänge informierte Kurfürst ließ jetzt beim Ausschuß die erbetene neue Stellungnahme über die Messe anmahnen, um zu klaren Verhältnissen zu kommen. Die Lage beruhigte sich nicht. Am 4. Dezember verspotteten Studenten die Franziskaner und drohten an, ihr Kloster zu stürmen. Die Furcht des Wittenberger Rats vor einem Aufruhr war tatsächlich nicht aus der Luft gegriffen. Eine Gruppe von Bürgern, unter ihnen auch einige Viertelsmeister , die Vertreter der Gemeinde gegenüber dem Rat, verhinderte die Bestrafung der Gottesdienststörer, übergab dem Rat eine Reihe von Artikeln mit ihren Forderungen und verpflichtete ihn bei Leib und Leben auf deren Einhaltung. Die Artikel sind in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr erhalten. Gefordert wurde die Freigabe der Predigt für jedermann. Ob das nur für alle Geistlichen, z. B. Karlstadt, oder sogar auch für die Laien galt, ist unklar. Alle Messen, einschließlich der Seelenmessen, Jahrtage, Brautmessen usw. sollten abgeschafft werden, denn die Priester waren damit überfordert, und die Messe war kein gutes Werk, das anderen zugewendet werden konnte. Jedermann, der es verlangte, war das Abendmahl unter beiderlei Gestalt zu reichen. Die nächsten Forderungen gingen über das Meßproblem hinaus und betrafen eine Erneuerung der Sittlichkeit. Die Bier- und Schankhäuser sollten als Stätten ungebührlicher Sauferei geschlossen werden, ebenso die Hurenhäuser . Damit war nicht nur das Bordell gemeint, sondern auch die Häuser von Bürgern und Geistlichen, in denen es uneheliche Beziehungen gab. Der letzte Artikel forderte, daß die Gottesdienststörer straflos bleiben sollten. In der Stadt war also so etwas wie eine ihren Frieden bedrohende »Zwietracht« entstanden, bei der ein Ausschuß die Interessen der unzufriedenen Bürger gegenüber dem Rat vertrat. Das war zugleich Aufruhr gegenüber dem Landesherrn. Der Kurfürst ließ deshalb am 16. oder 17. Dezember Rat und Gemeinde auf das Schloß vorladen und der Gemeinde das konspirative, gewaltsame Eintreten zugunsten der Gottesdienststörer bei Strafe untersagen. Die Störer und die, die für sie eingetreten waren, wurden abgesondert und je getrennt verhört 17 • Wie sich zeigen sollte, war damit die Unruhe in der Gemeinde noch keineswegs überwunden. Uneinigkeit bestand nicht nur in der Gemeinde. Schnell wurde klar, daß sich die Professoren unter sich und die Universität mit dem Stiftskapitel nicht mehr über die Messe einigen konnten. Der etwas umbesetzte frühere Professorenausschuß mit Karlstadt, Amsdorffund Melanchthon setzte sich trotz aller Bedenken und Gefahren für eine Reform der Messe in Wittenberg ein. Der Professor und Stiftsherr Otto Beckmann war zwarfür freie Predigt, aber gegen eine Änderung der Messe oder ihre Unterdrückung. Der Theologe Johann Dölsch, ein ehemaliges Mitglied des Ausschusses, verteidigte die bestehende Praxis, ebenso sieben der Stiftsherren. Der Appell des Kurfürsten, sich zu verständigen, hatte keine Chance. Angesichts der Uneinigkeit der Experten und unter dem Druck der Kritik Herzog Georgs verbot der Kurfürst am 19. Dezember erneut jede Änderung 18 • Ob dies in der Gemeinde und bei den Theologen noch durchsetzbar war, mußte sich zeigen. Wie angekündigt, sandte Luther sofort nach seiner Rückkehr auf die Wartburg »Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung« an Spalatin, der sie so schnell wie möglich veröffentlichen sollte, damit man 39

den groben Martinianern entgegentreten konnte 19 • Die Schrift kam erst Anfang 1522 heraus. Wie aktuell ihr Thema war, zeigen die zahlreichen Nachdrucke. Luther rechnete zwar seit Worms mit der Möglichkeit eines Aufstandes, hatte aber bereits das Erfurter Pfaffenstürmen Anfang Mai klar abgelehnt und von eigenmächtigen Aktionen abgeraten, die die reformatorische Bewegung in Verruf bringen konnten. Diese Haltung war jedoch keineswegs nur durch taktische Überlegungen bestimmt. Er war vielmehr gewiß, daß Gott für die Gerechten in Aktion tritt. Bis dahin hatten diese still zu halten. Der Gott des Friedens erregt eben nicht eine schädliche blutige Empörung, sondern eine friedliche 2o • Wahrscheinlich aus politischen Rücksichten spielte Luther die Übergriffe, zu denen es in Wittenberg im Oktober und Anfang Dezember gekommen war, herunter. Einen zeitlichen Aufruhr hielt er für nicht so schlimm wie die Gefährdung der Seelen. Die Institution der Obrigkeit erkannte er als Christ ausdrücklich an, auch die kirchliche Neuordnung sollte im Einvernehmen mit ihr vorgenommen werden 21 • Der Eingang der» Treuen Vermahnung« strahlt eine gewisse Gelassenheit aus. Das Aufleuchten des Evangeliums drohte zu einem berechtigten Aufruhr des bedrückten gemeinen Mannes zu führen. Luther hatte an sich nichts dagegen, daß die Gegenseite sich fürchten mußte, und er vertraute fest darauf, daß Gott auch in dieser Situation über seinem Wort wacht. Er war sich allerdings völlig gewiß, daß der Aufruhr nicht das eigentliche Gericht über den Antichrist war. Dieses würde vielmehr von Gott ohne Aufruhr und Menschenhand vollzogen werden. Mithin konnte Aufruhr nicht das Mittel zur Durchsetzung der Reformation sein und mußte ein begrenztes Unternehmen bleiben. Aus diesen geschichtstheologischen Gründen kam für Luther eine Revolution gegen die alte Kirche nicht in Frage. So verblieb nur die Aufgabe, die Herzen entsprechend zu unterrichten. Eigentlich betrachtete er es als Aufgabe der Obrigkeit, in der Kirche ordnend einzugreifen, und das wäre kein Aufruhr. Es kam darum darauf an, den gemeinen Mann vom Aufruhr abzubringen. Dazu diente einmal das geschichtstheologische Argument, daß der Antichrist ohne Menschenhand überwunden werden muß. Ferner war von einem Aufruhr keine Besserung zu erwarten; er kam also zur Durchsetzung der Reform nicht in Frage. Das Strafamt stand der Obrigkeit zu, und ohne sie sollte nichts angegriffen werden. Außerdem ist Aufruhr von Gott untersagt. Empörung konnte darum nur vom Teufel eingegeben sein, um die Reformation zu diffamieren. Auf Luther selbst konnten sich seine Anhänger bei einem Aufruhr nicht berufen, und er lehnte die Verantwortung dafür ab. Er wußte freilich, daß sich unter ihnen auch unruhige, nicht vom Geist Gottes getriebene Elemente befanden, aber die Gegenseite sollte das nicht aufbauschen. Dies war keineswegs ein Grund, das Evangelium selbst zu lästern. Falls die Obrigkeit nicht eingreifen würde, mutete Luther seinen Anhängern nicht einfach duldendes Stillhalten zu, wiewohl er ihnen nur recht begrenzte Aktionsmöglichkeiten zubilligte: Sie sollten die bestehenden Mißstände als Gottes Strafe erkennen, gegen das päpstliche Regiment beten und schließlich dagegen argumentieren, jedoch keine Gewalt anwenden. Das war nicht ganz so wenig, wie es den Anschein haben mochte. Luther konnte immerhin darauf verweisen , daß er auf diese Weise den Stein ins Rollen gebracht habe. Er erwartete, daß durch ein

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verbales Eintreten für die Reformation bei gleichzeitiger Verweigerung der Teilnahme an den alten Frömmigkeitsformen wie Beichte, Messe und Mönchtum das alte System binnen zwei Jahren zusammenbrechen würde. Am Schluß der» Vermahnung« wandte sich Luther eindringlich an die, die sich als seine Anhänger ausgaben und als lutherisch bezeichneten, obwohl sie oft nur ein oder zwei Blätter von ihm gelesen oder eine Predigt gehört hatten, aber gleichwohl den andern absprachen, evangelisch zu sein. Er bat sie: »Man wolle meines Namens geschweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. So bin ich auch für niemand gekreuzigt ... Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, daß man die Kinder Christi sollte mit meinem heillosen Namen nennen.« Die Papisten mochten ihren Parteinamen tragen, Luther kannte mit der Gemeinde keinen anderen Meister als Christus 22 • Diese Stelle ist kennzeichnend für Luthers kirchliches Selbstverständnis. Er wollte kein Parteiführer sein. Auf diese Sätze haben sich alsbald seine Anhänger geschickt gegenüber den Altgläubigen berufen. Sie dienten aber im evangelischen Lager dann auch dazu, um sich von Luther abzugrenzen. Im Umgang mit den altgläubigen Mitmenschen wollte Luther unterschieden wissen zwischen Starken und Schwachen, Kategorien, die Röm 14 und 15 entnommen waren. Die Starken waren die verstockten Vertreter der herrschenden Kirche wie Bischöfe, Pfaffen und Mönche, denen gegenüber schärfste Kritik angebracht war. Die Schwachen hingegen hatten das Evangelium noch nicht begriffen und bedurften geduldiger Aufklärung. Die hergebrachten religiösen Formen, in denen sie lebten, durfte man ihnen nicht ohne weiteres nehmen oder zerschlagen. Hierbei handelte es sich um ein Grundproblem reformatorischen Vorgehens, auf das Luther schon früher gestoßen war, das sich ihm aber jetzt verschärft stellte. Bereits in der Mitte November abgeschlossenen Weihnachtspostille hatte Luther drei Weisen unterschieden, Menschenlehre zu meiden 23 : 1. Man meidet sie nicht mit der Tat, sondern mit dem Gewissen, indem man sich innerlich als frei betrachtet. Solchen Menschen schadet das Gesetz nicht. Zu einem solchen Verhalten sind freilich nur wenige in der Lage. 2. Man meidet die Menschenlehre mit dem Gewissen und der Tat. Luther hielt dies für die beste Weise um der schwachen Gewissen willen. Praktiziert wurde sie als ein gelegentliches Unterlassen kirchlicher Pflichten. 3. Man meidet sie mit der Tat ohne Gewissen. Dies war beim gemeinen Mann der Fall. Ein solches Verhalten war, weil nicht in innerer Überzeugung begründet, Sünde. Luther verurteilte diese Mitläufer jedoch nicht einfach, sondern bewies ein gewisses Verständnis. Sie bedurften der Unterrichtung. Ihre Schwachheit mußte eine Zeitlang ertragen werden. Schon ehe die eigentlichen Unruhen einsetzten, hatte Luther das seelsorgerliche Problem, das sich hier stellte, erkannt. Abgesehen vom persönlichen Protest durften Reformmaßnahmen erst dann erfolgen, wenn die Gemeinde dafür innerlich gewonnen war, sonst waren sie für die Gewissen gefährlich. Man kann Luther also nicht vorwerfen, er habe erst nachträglich, als er mit der Entwicklung nicht mehr einverstanden war, die seelsorgerlichen Argumente als Rationalisierung vorgebracht. Offenkundig dachte er auch hier anders als Karlstadt, für den der falsche Gottesdienst das Ärgernis war, das auf jeden Fall beseitigt werden mußte. 41

Über Luthers Beurteilung der seit Ende Dezember beschleunigt vorgenommenen reformatorischen Maßnahmen gibt es nur wenige gleichzeitige Quellen. Aus den damals entstandenen Predigten der Adventspostille geht jedoch hervor, daß er bis zur Rückkehr nach Wittenberg weiterhin zwischen »Starken« und »Schwachen« unterschieden wissen wollte. Einerseits mahnte er, von der kritischen und »stürmenden« Predigt nicht abzulassen, als ob sie unwirksam sei, andererseits bezichtigte er diejenigen des Aufruhrs, die nicht liebevoll mit den »schwachen« konservativen Mitbürgern umgingen. Aber auch die Schwachen sollten die Starken gewähren lassen und keiner den andern verurteilen. Als klar verboten galt das Meßopfer, während die Heiligenverehrung nicht völlig verurteilt wurde. Noch in der wohl im Februar entstandenen vorletzten Predigt blieb Luther dabei: Wenn der Papst etwas gebietet, soll man es mit Füßen treten, im übrigen es jedoch mit den Schwachen halten, solange die Zermonien nicht verbindlich gemacht werden. Das sollte auch hinsichtlich der sehr umstrittenen Gottesdienste im Allerheiligenstift gelten, über die sich Luther nunmehr etwas behutsamer als im November äußerte 24 . Während Luthers Auffassung über das reformatorische Vorgehen konstant blieb, überschlug sich die Entwicklung, und das mußte auf die Dauer nicht nur zu schweren Spannungen zwischen den Verantwortlichen und dem Kurfürsten, sondern auch zwischen ihnen und Luther führen. Es war Karlstadt, der nunmehr im Gegensatz zu seiner bisherigen behutsamen Haltung vorpreschte. Er hatte sich bis dahin bei den Messen, zu denen er verpflichtet war, von anderen Stiftsherren vertreten lassen, aber diese stellten sich nun nicht mehr zur Verfügung. Damit mußte er praktische Konsequenzen ziehen. In der im November verfaßten Schrift »Von beiden Gestalten der Messe« hatte er festgestellt, daß Christus für die Ordnung des Abendmahls die höhere Autorität als Papst, Bischof, Fürst, Bürgermeister oder Gemeinde ist. So kündigte er am 22. Dezember für Neujahr in der Schloßkirche eine schlichte evangelische Abendmahlsfeier an, bei der Brot und Kelch ausgeteilt werden sollten. Als die kurfürstlichen Räte dies zu unterbinden suchten, hielt Karlstadt die Feier bereits am Christfest ohne Ornat nach einer vorausgehenden erklärenden Predigt. Karlstadt sprach nur die Einsetzungsworte, die üblichen Kreuzeszeichen unterblieben. Die Teilnehmer, unter ihnen die Spitzen von Stadt und Universität, kommunizierten, ohne vorher gebeichtet oder gefastet zu haben, und nahmen den Kelch selbst in die Hände. Für herkömmliches Empfinden war dieser Umgang mit dem Sakrament ebenso anstößig wie der Umstand, daß eine Hostie zu Boden fiel. Für Neujahr kündigte Karlstadt die nächste Abendmahlsfeier in der Stadtkirche an, für die er an sich nicht zuständig war. Immerhin war der Pfarrer Simon Heins einverstanden. Karlstadts Vorgehen dürfte den Wittenberger Mob zusätzlich ermutigt haben. Schon in der Mette der Christnacht war es zuerst zu Störungen des Gottesdienstes in der Stadtkirche gekommen, wobei Lampen zu Bruch gingen und Gassenhauer gegrölt wurden. Anschließend zogen die Störer in die Schloßkirche und wünschten dort von der Empore allen Pfaffen »die Pestilenz und höllische Flamme«. Eine weitere gezielte Demonstration war Karlstadts Verlobung am 26. Dezember mit Anna von Mochau. Melanchthon und Jo-

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Andreas Bodenstein von Karlstadt und der Bildersturm Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert

nas nahmen daran teil, was darauf hinweist, daß sie Karlstadts Vorgehen billigten. Zur Hochzeit am 19. Januar 1522 lud er sogar den Kurfürsten ein 25 • Eine zusätzliche Komplikation brachte das Auftreten der »Zwickauer Propheten« in Wittenberg 26 • Zwickau, im Süden des Kurfürstentums gelegen, war mit seinem Handel und vor allem dem Tuchmachergewerbe, dazu mit seinen über 7000 Einwohnern eine »Perle« unter den sächsischen Städten. Die Stadt besaß acht Kirchen und eine bedeutende Schule. Die politische Macht lag in den Händen einer 43

reichen Oberschicht. Etwa die Hälfte der Bürger zahlte keine Steuern und galt als arm. Soziale Unruhe regte sich immer wieder unter den sog. Tuchknappen, den Tuchmachergesellen. Schon vor der Reformation machte sich, gefördert durch waldensische und taboritische Einflüsse, eine starke Kirchenkritik bemerkbar. Luther wurden in Zwickau schon sehr früh Sympathien entgegengebracht. Der Prediger an der Marienkirche, Johannes Wildenauer, nach seiner Geburtsstadt Eger Egranus genannt, galt als Parteigänger Luthers. Dem damaligen Stadtvogt Hermann Mühlpfort hatte Luther 1520 die deutsche Fassung des Traktats» Von der Freiheit eines Christenmenschen« gewidmet. Während eines Urlaubs von Egranus wurde der von Luther empfohlene Thomas Müntzer im Mai 1520 sein Stellvertreter. Dieser forcierte die Kirchenkritik vor allem gegenüber den ansässigen Franziskanern und wurde dabei vom Rat gedeckt. Nach der Rückkehr von Egranus fand Müntzer im Herbst eine neue Stelle als Prediger an der Katharinenkirche, zu der die kleinen Handwerker und Tuchknappen gehörten. Müntzer verschärfte einerseits seine kirchenkritische Predigt, andererseits legte er sich mit Egran wegen dessen moralisierender Predigten und weil ihm das Verständnis des Kreuzes fehle, an. Das führte zu einer gefährlichen Polarisierung in der Stadt. Im April 1521 wurde Müntzer deshalb vom Rat beurlaubt; auch ein Tumult der Tuchknappen konnte an seiner Entfernung nichts mehr ändern. Er wandte sich zunächst nach Böhmen. In Zwickau war Müntzer mit dem Tuchmachermeister Nikolaus Storch zusammengetroffen und von ihm tief beeindruckt worden. Storch verfügte über eine beachtliche Bibelkenntnis, legte aber auch auf besondere, unmittelbare Offenbarungen und Erleuchtungen Wert. Seine Ansichten ähnelten denen der böhmischen Nikolaiten, die einen besonderen geistlichen Stand ablehnten. Er verfolgte ganz überwiegend religiöse Ziele und war an sich kein sozialer oder politischer Revolutionär. Während Müntzers Zeit in Zwickau begann er mit der Abhaltung von Konventikeln, die auch nach dessen Weggang fortbestanden. Storch entwickelte aufgrund seines Geistbesitzes nunmehr ein starkes Sendungsbewußtsein und fühlte sich zum Reformator der Kirche berufen. Eine der Konsequenzen in seinem Kreis war die Ablehnung der Säuglingstaufe. Eines der schweren Probleme der Reformationszeit wurde damit zum ersten Mal berührt. Auch Bibel und Predigtamt galten nicht mehr als Mittel zur Erlangung des unmittelbaren Geistes. Der Rat konnte sich zunächst nicht zu einem energischen Vorgehen gegen die Anhänger Storchs aufraffen , obwohl Mühlpfort und auch der neue Pfarrer Nikolaus Hausmann die Gefahr erkannt hatten . Erst auf eine Anzeige Herzog Georgs hin veranlaßte Herzog Johann, der Bruder des Kurfürsten, Mitte Dezember Verhöre der Mitglieder des Konventikelkreises. Storch entzog sich dem, indem er die Stadt verließ. Mit ihm gingen der Tuchmacher Thomas Drechsel und der ehemalige Wittenberger Student Markus Thomae, Sohn eines Badstubenbesitzers in Elsterberg im Vogtland und deshalb auch Stübner genannt. Sie wandten sich nach Wittenberg. Auf Melanchthon machten sie mit ihrer Berufung auf göttliche Eingebungen und Zukunftsvisionen sofort einen überwältigenden Eindruck. Diese Leute schienen wieder über die Geistesgaben des Urchristentums zu verfügen. Melanchthon war dem nicht gewachsen. Er wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er vom Kurfür-

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sten die Rückberufung Luthers erbat, dem er allein das kompetente Urteil über die Zwickauer zutraute. Besonders Markus Thomae gewann mit seinen selbstsicher vorgebrachten Schriftauslegungen einen starken Einfluß auf Melanchthon. Auch Amsdorff war unsicher, ob es sich hier nicht um die endzeitliche Geistesausgießung handelte. Der Kurfürst ließ Melanchthon und Amsdorff auf Neujahr nach Prettin zu Verhandlungen mit Spalatin und dem Rat Haugold von EinsiedeI bestellen. Dort spielte Melanchthon bereits die Bedeutung der göttlichen Eingebungen herunter. Als schwierige Sachfrage blieb die Kritik an der Kindertaufe. Der Kurfürst reagierte besonnen und lehnte eine Befassung mit der Angelegenheit ab. Die Zwikkauer sollten aus der Bibel unterwiesen werden, eine Disputation mit ihnen sollte unterbleiben. In Wittenberg gab es ohnedies genug Probleme. Hinsichtlich der Frage der Kindertaufe erklärte sich der Kurfürst für inkompetent, bezweifelte aber, daß die Zwickauer davon mehr verstünden als der Kirchenvater Augustinus. Mit den potentiellen Aufrührern aus Zwickau sollten die Wittenberger in ihrer kritischen Situation nichts zu tun haben. Eine Rückberufung Luthers hielt der Kurfürst sowohl wegen der Reichspolitik als auch wegen dessen Sicherheit nicht für opportun. Melanchthon machte sich die Auffassung des Kurfürsten gefügig zu eigen 27 • Der Spuk war damit im wesentlichen zunächst vorüber. Stübner blieb noch in Wittenberg und gewann auch einzelne Anhänger, Storch dagegen verließ die Stadt bald wieder und verbreitete seine Auffassungen anderwärts. Offenkundig hatte Melanchthon als Führer der Wittenberger Reformation in dieser Situation menschlich und theologisch versagt und war infolgedessen verunsichert. Luther reagierte am 13. Januar in Briefen an Melanchthon und Amsdorff sehr gelassen 28 • Auf angebliche göttliche Eingebungen hatte man sich früher schon bei Mirakeln berufen, und dies war kritisch zu beurteilen. Melanchthons furchtsame Unsicherheit billigte er nicht. Er sollte die Geister prüfen. Die angeblichen Propheten mußten ihre Berufung nachweisen können. Zum direkten Umgang mit Gott gehörten die Anfechtungen, und die schienen Luther bei den Propheten zu fehlen. Das Problem der Kindertaufe hielt Luther nicht für schwierig, möglicherweise unterschätzte er es. Es konnte nicht bewiesen werden, daß die Kinder nicht glaubten. Außerdem berief sich Luther auf den stellvertretenden Glauben der Eltern und Paten, der die Kirche zur Kindertaufe berechtigte, ein nicht eben starkes Argument. Anders als sonst zog er auch das kirchliche Herkommen zum Beweis heran. Am gewichtigsten war der Hinweis, auch die Kinder seien der Verheißungen Christi teilhaftig und durch ihre Zugehörigkeit zur Gemeinde geheiligt. Luther hatte bereits damit gerechnet, daß dieser wunde Punkt vom Teufel angerührt werden würde, und mußte es nun erleben, daß das Problem im eigenen Lager aufbrach. Er täuschte sich allerdings in der Erwartung, daß man mit ihm rasch fertig werden würde. Von einem gewaltsamen Vorgehen gegen die Zwickauer riet er ausdrücklich ab. Nach seiner Rückkehr von der Wartburg mußte Luther erkennen, daß man mit den Zwickauer Geistern noch nicht fertig war 29 • Anfang April kam es zu einem Gespräch zwischen ihm und Markus Thomae, der dazu seinen Anhänger Martin Cellarius aus Stuttgart, der später den Täufern nahestand, mitbrachte. Thomae 45

entwickelte Luther seine mystische Stufenlehre und attestierte ihm, daß er sich erst auf der untersten Stufe befand. Luther bezeichnete seine Ansichten als absurd und nicht durch die Bibel begründet, worauf es zu einem heftigen Auftritt mit Cellarius kam. Thomae, der sich seine Lehre selbst von Gott nicht nehmen lassen wollte, bot Luther an, aus dem Geist dessen eigene Gedanken zu offenbaren, und sagte ihm auf den Kopf zu: »Du überlegst jetzt, daß meine Lehre wahr sei.« Das traf zu, aber Luther wollte es nicht zugeben und zitierte den Propheten Sacharja: »Der Herr schelte dich, du Satan.« Die anmaßende Rechthaberei der Propheten, die sich in nichts kritisieren ließen, war ihm zuwider. Seiner Meinung nach hatte der Teufel sie in ihrer Weisheit »beschissen«. Stübner und Cellarius verließen bald danach Wittenberg. Auch Drechsel kam bei Luther an und richtete ihm aufgrund zweier krauser Visionen aus, daß Gottes Zorn der Welt unmittelbar drohe. Auf Luthers trokkene Frage, ob er nicht mehr auszurichten hätte, ging er zornig davon. Anfang September besuchte schließlich Storch, damals wie ein Landsknecht gekleidet, Luther. Sein Begleiter war der von den Zwickauern gewonnene Dr. Gerhard Westerburg aus Köln. Das Gespräch drehte sich um die Kindertaufe. Storch lachte darüber, daß eine Handvoll Wasser den Menschen selig machen könne, und Luther war über solchen Leichtsinn entsetzt. Storch verbreitete seine Lehren dann zunächst in Thüringen, später hielt er sich in Straßburg und danach in Hof auf. Er starb wohl 1525 in München. Die Zwickauer waren nie eine ernste Gefahr gewesen, die Ideen aber, die sie zuerst vertreten hatten, sollten Luther und den Evangelischen auch künftig zu schaffen machen. In Wittenberg war die Neugestaltung des kirchlichen Lebens in vollem Gang. An Neujahr, dem folgenden Sonntag und an Epiphanias kommunizierten jeweils über tausend Menschen, was gegenüber der bisher üblichen Zurückhaltung von der Kommunion etwas völlig Neues war. Karlstadt predigte jeden Freitag zweimal. Anstelle der täglichen Meßgottesdienste wurde ein Psalm ausgelegt. Die neue Praxis breitete sich in der weiteren Umgebung aus, in Eilenburg, wo um Neujahr Gabriel Zwilling aggressiv agitiert hatte, in Lochau, wo der vorwärtsdrängende Franz Günther Pfarrer war, in Hirschfeld und Schmiedeberg. Die Leute rissen sich um das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Luthers Schriften hatten das Ihre dazu beigetragen. Karlstadt rühmte den großen Fleiß und die hitzige Begierde des Wittenberger Volkes und bezeichnete das allgemeine Priestertum als das Botenamt der Laien. In ihrem Heimatort Annaberg im Herzogtum Sachsen verlangten Studenten, die zuvor in Wittenberg studiert hatten, das Abendmahl gleichfalls unter beiderlei Gestalt und sollten deshalb bestraft werden. Die im Augustinerkloster verbliebenen Mönche gingen am 10. Januar unter der Führung Zwillings noch einen Schritt weiter. Sie verbrannten die Altäre und Heiligenbilder, dazu das Salböl, das bei der letzten Ölung gebraucht wurde 3o • Am 24. Januar wurde vom Wittenberger Rat eine Kirchenordnung beschlossen. Als ehemalige Mitglieder des Professorenausschusses hatten Karlstadt, Melanchthon, Jonas und Amsdorff an ihr beratend mitgewirkt. Das ist insofern erstaunlich, als Melanchthon der Auffassung war, daß die Obrigkeit den Mißbrauch der Messe abschaffen sollte. Der an sich keineswegs radikale Wittenberger Rat unter-

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lief damit das kurfürstliche Verbot jeglicher Neuerungen. Daß er angesichts der obrigkeitlichen Untätigkeit von sich aus aktiv wurde, dürfte damit zu erklären sein, daß er nach wie vor unter starkem Druck der Gemeinde stand, deren Forderungen vom Dezember die Ordnung in wesentlichen Punkten aufnahm. Karlstadt und Zwilling hatten mit sichtlicher Spitze gegen den Landesherrn die angebliche Souveränität der Stadtgemeinde betont. Wahrscheinlich versuchte die neue Ordnung bereits die radikalen Bestrebungen dieser beiden Agitatoren mit elastischen Regelungen z. B. hinsichtlich der Messe zu begrenzen. Die Ordnung vereinigte die Einnahmen der Kirchen, Bruderschaften und Pfründen in einem sog. gemeinen Kasten. Der Bettel wurde verboten, was auch für bettelnde und sammelnde Mönche sowie für Studenten galt. Aus dem gemeinen Kasten und zusätzlichen Opfern sollten arme Handwerker Darlehen erhalten, arme Waisen unterstützt und die bisherigen Meßpriester besoldet werden. Bilder und Altäre waren abzuschaffen, um Abgötterei zu vermeiden. Die Messe wurde in reduzierter Form gehalten, wobei dem Priester, sofern keine Kommunikanten da waren, die Konsekration freigestellt war. Ausdrücklich war vorgesehen, daß die Kommunikanten Brot und Kelch in ihre Hände nehmen durften. Unzüchtige Personen wurden nicht geduldet, und das bedeutete auch die Abschaffung des Frauenhauses. Hochzinsliche Darlehen sollten durch den gemeinen Kasten verbilligt und begabten armen Kindern Stipendien gewährt werden 31 . Auffallend ist die soziale Komponente der Ordnung, die damit allerdings Ansätze der Beutelordnung von 1520/1521 weiterentwickelte, wobei das Verbot des Bettels jetzt strikter gefaßt war. Ein neues Element stellte die geplante Abschaffung der Altäre und Heiligenbilder dar. Dahinter stand Karlstadt, der bereits für den 26. Januar eine Predigt» Von Abtuung der Bilder und daß keine Bettler unter den Christen sein sollen« angekündigt hatte32 • Auch diesmal kritisierte er die herrschende Bilderverehrung und die Sitte des Bettelns rigoristisch vor allem vom biblischen Gebot her. Nicht einmal Kruzifixe sollten mehr geduldet werden. Erneut machte sich dieselbe Differenz zu Luthers abwartender Haltung bemerkbar wie bei der Messe. Die Situation war nach wie vor kritisch. Anstelle einer geordneten Entfernung der Bilder und Altäre kam es infolge der ungeschickten frühzeitigen Ankündigung dieser Maßnahme zu einem gewaltsamen Bildersturm durch einige Bürger, der allerdings sein Ziel nicht voll erreichte, weil er gestoppt wurde. Studenten verließen die Universität, entweder weil sie aus dem unruhigen Wittenberg nach Hause gerufen wurden oder weil ihnen wegen des Bettelverbots die Mittel fehlten. Melanchthon, dem Karlstadt und Zwilling zu weit gingen, rückte von den Reformen nunmehr offensichtlich ab und trug sich mit dem Gedanken, von Wittenberg wegzugehen. Während früher auch er die Bilder kritisiert hatte, kam er jetzt in gequälten Überlegungen zu der seltsamen Auffassung, daß man aus evangelischer Freiheit Messe, Zeremonien und Bilder auch dulden und auf beiderlei Gestalt im Abendmahl verzichten könne 33 • Nach der Verunsicherung durch die Zwickauer Propheten geriet er nunmehr in eine zweite Krise, die langfristig eine Wende bei ihm einleitete. Stärker als bisher zeigte sich seine humanistische Vorliebe für Frieden, Ordnung und Sittlichkeit.

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Bildersturm, kontrastiert mit der anhaltenden Vergötzung des Mammons Holzschnitt, Erhard Schön zugeschrieben, um 1530

Gegen die Wittenberger Ordnung sowie Karlstadts und Zwillings Predigten schritt dann Anfang Februar die kurfürstliche Regierung ein. Die Gründe waren die Uneinigkeit in der Stadt, dem Stiftskapitel und der Universität, das Fehlen einer verantwortlichen Autorität, die zumindest ärgerliche unterschiedliche Praktizierung der Zeremonien, der Abzug vieler Studenten und der schlechte Ruf, in den die Stadt geraten war. Außerdem hatte das Reichsregiment, veranlaßt durch Herzog Georg, am 20. Januar ein Mandat gegen die Neuerungen erlassen und zur Predigt gegen sie aufgefordert. Kursachsen mußte auf dem kommenden Nürnberger Reichstag mit reichspolitischen Verwicklungen rechnen, auch wenn das Mandat aus Angst vor einem Aufruhr das Wormser Edikt nicht erwähnt hatte. Der Bischof von Meißen kündigte auf das Mandat hin eine Visitation in den Gemeinden an, in denen es zu Neuerungen gekommen war, eine Maßnahme, an der die kurfürstliche Regierung nicht interessiert sein konnte. Karlstadt und Zwilling, die überhaupt keinen Predigtauftrag hatten, wurde Anstiftung zum Aufruhr vorgeworfen und damit die eigentliche Verantwortung für das Vorgefallene zugeschoben. Sie sollten das weitere Predigen unterlassen. Die Vertreter der Universität und des Stiftskapitels wurden am 13. Februar durch kurfürstliche Räte wegen der Neuordnung befragt und diese fast ganz rückgängig gemacht. In der Messe durfte lediglich der Kanon ausgelassen, die Einsetzungsworte deutsch gesprochen und beiderlei Gestalt gereicht werden. Der Predigtauftrag an der Stadtkirche wurde Amsdorff erteilt 34 • Im Dezember 1521 hatte Luther vorgehabt, noch bis Ostern auf der Wartburg zu bleiben. Auch am 13. Januar 1522 hielt er noch an diesem Rückkehrtermin fest, obwohl er wegen des für die Bibelübersetzung notwendigen Kontaktes lieber in ein Versteck in Wittenberg selbst übergewechselt wäre. Mit einem zurückgezogenen Arbeiten in Wittenberg wäre wenigstens der Schein eines Rückzugs aus der Öffent1ichkeit weiter gewahrt geblieben und somit den politischen Rücksichten und An-

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feindungen Rechnung getragen worden. Am 17. Januar kamen ihm Gerüchte zu, die beunruhigender waren als jene, deretwegen er im Dezember heimlich Wittenberg besucht hatte. Neben Informationen über die Eilenburger Vorgänge dürfte es sich um Nachrichten über Wittenberg gehandelt haben. Er ließ Spalatin wissen, die Sache selbst erfordere in Kürze seine Rückkehr nach Wittenberg, wo er entweder bleiben oder sich anderswo hinwenden werde. Schon damals dürfte Luther schweren Anstoß am gewaltsamen und ungeistlichen Charakter und der Gesetzlichkeit der Vorgänge in Wittenberg genommen haben, und das führte zu der entscheidenden Revision seines positiven Urteils vom Dezember. Ein Problem warfreilich, wie Herzog Georg und das Reichsregiment auf Luthers Rückkehr reagieren würden. Luther suchte den Kurfürsten deswegen zu beruhigen. Er wünschte ihm die Festigkeit seines eigenen Glaubens und sich selbst die politischen Möglichkeiten des Landesherrn. Ausseinem biblischen Führungsglauben, der Luther gerade in dieser Zeit lenkte, war er sich sicher, daß es nicht zu Gewaltanwendung und Blutvergießen kommen würde. Herzog Georg würde mit seiner Feindschaft gegen ihn keinen Erfolg haben 35 . Am 24. Februar sandte Luther dem Kurfürsten unter ironischer Anspielung auf dessen fromme Sammlerleidenschaft einen eigenartigen Glückwunsch zum kostenlosen Erwerb einer neuen Reliquie, »eines ganzen Kreuzes mit Nägeln, Speeren und Geißeln«36. Daß das übertragen gemeint war, zeigte der Rat, der Kurfürst selbst sollte sich dankbar und willig an dieses Kreuz schlagen lassen. »Annas und Kaiphas« tobten nun einmal gegen die Anhänger des Worts, in deren eigenen Reihen es dazu den Verräter Judas und in Versuchung gefallene Apostel wie Petrus gab. Daß die Sache dennoch nicht verloren war, bewies das Ereignis von Ostern. Dem Kurfürsten gab er den freimütigen, von seiner Stellung her fast ungehörig klingenden Rat, in dieser Situation weise zu sein. Daß Luther den Aufruhr meinte, in den die Wittenberger Gemeinde geraten war, deutete er nur eben an. Verfolgung von außen, Verrat und Verleugnung in den eigenen Reihen, so sah Luther damals die Wittenberger Situation. Er hatte wohl unmittelbar zuvor alarmierende Nachrichten aus Wittenberg, verbunden mit der dringenden Aufforderung zur Rückkehr, erhalten. Dahinter stand Melanchthon, aber es muß sich um ein offizielles Schreiben der Wittenberger Gemeinde gehandelt haben, die den Prediger Luther als ihren Diener zurückforderte. Ihrer Bitte konnte sich Luther nicht verschließen, denn sein Gewissen erlaubte es nicht, die Gemeinde zugrunde gehen zu lassen. Die Rücksichten auf die eigene Sicherheit hatten dahinter zurückzustehen. Den Kampf mit dem Teufel, der in Luthers Wittenberger Gemeinde eingefallen war, konnte er nicht mehr brieflich, sondern nur persönlich führen. Wer die Repräsentanten der Wittenberger Gemeinde waren, läßt sich mit einiger Sicherheit erschließen: Für das am 9. Februar beginnende Amtsjahr war der Jurist Christian Beyer Bürgermeister. Im Rat saßen u. a. nunmehr Luthers Freunde Lukas Cranach und der Goldschmied Christian Düring 37 . Spätestens nachdem die kursächsische Regierung am 13.Februar fast alle Neuerungen rückgängig gemacht hatte, dürfte es der Wittenberger Rat angesichts der gespannten Verhältnisse für geboten gehalten haben, Luther zurückzuberufen. Der eigentliche Zweck des Briefes an den Kurfürsten war die beschwichtigende Ankündigung, daß Luther im Begriff war, zurückzukehren.

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Auf diese Nachricht hin wurde umgehend der Eisenacher Amtmann, Johann Oswald, zu Luther gesandt 38 • Der Kurfürst ließ in leiser Zurechtweisung erkennen, daß angesichts der verworrenen Situation nicht leicht zu entscheiden war, welches Verhalten weise war. Er hielt es für nicht gut, wenn Luther sich öffentlich sehen lassen würde. Papst und Kaiser würden dann aufgrund von Bann und Acht seine Auslieferung fordern, wodurch auch nach Ansicht des Kurfürsten Luther Unrecht geschehen würde, weil er noch nicht überwunden sei. Bisher hatte der Kurfürst diese Politik, Luther sei nicht überwunden und deshalb habe sich die kursächsische Obrigkeit mit ihm nicht zu befassen, durchhalten können. Die Ablehnung eines direkten Auslieferungsbegehrens barg jedoch für Kursachsen insgesamt hohe politische Risiken. Bei aller persönlichen Leidensbereitschaft war Friedrich der Weise aus seiner politischen Gesamtverantwortung eigentlich dafür, daß Luther seine Rückkehr bis nach dem kommenden Reichstag verschiebe. Ein definitives Verbot war der Bescheid freilich nicht. Gottes Willen und Werk wollte der Kurfürst damit nicht verhindern, und daß es in Wittenberg an einem führenden Kopf fehlte, wußte er auch. Der Amtmann verhandelte mit Luther am Abend des 28. Februar. Dieser ließ sich nicht halten und trat am folgenden Tag die Rückreise an. Eine eindrückliche Szene von ihr hat der als Student auf der Reise nach Wittenberg befindliche Johannes Kessler aus St. Gallen später in seiner »Sabbata«, seinen in der Freizeit gemachten Aufzeichnungen, überliefert 39 • Kessler und sein Begleiter trafen im Gasthof zum schwarzen Bären in Jena einen Reiter in Hosen und Wams mit roter Kopfbedeckung und mit dem Schwert an seiner Seite, auf das er die Hand stützte, der ein Büchlein vor sich hatte und sie zum Trinken einlud. Das Gespräch kam aufWittenberg, und die Studenten fragten, ob Luther sich dort aufhalte, worauf ihr Gesprächspartner ihnen dessen baldige Ankunft mitteilen konnte. Der Unbekannte empfahl den Studenten das zum Verstehen der Bibel notwendige Studium der griechischen und hebräischen Sprache, diese hofften ihrerseits als künftige Priester den Mann kennenzulernen, der den Meßgottesdienst umstoßen wollte. Als der Unbekannte sie über Basel und was man in der Schweiz von Luther hielt, ausfragte und einige lateinische Wörter gebrauchte, ging den Studenten auf, daß ihr Gegenüber kein gewöhnlicher Reiter sein konnte, zumal das Büchlein, in dem er nach seiner Gewohnheit gelesen hatte, ein hebräischer Handpsalter war. Dem Hinweis des Wirts, ihr Partner sei Luther selbst, wollte Kessler keinen Glauben schenken. Dieser übernahm die Zeche der Studenten. Im weiteren Gespräch äußerte er seine Befürchtung, daß die Fürsten auf dem Nürnberger Reichstag nichts für das Evangelium ausrichten würden. Schließlich trug er den Studenten noch Grüße auf an Hieronymus Schurf in Wittenberg von dem, »der da kommen soll«. Am 8. März gaben die Studenten ihre Empfehlungsbriefe bei ihrem St. Gallener Landsmann Hieronymus Schurf in Wittenberg ab und trafen dort außer dessen Bruder, dem Mediziner Augustin Schurf, Melanchthon, Jonas und Amsdorff auch Luther. Die Rückreise legte Luther ohne Begleitung, soweit es irgend ging, durch kursächsisches Gebiet zurück. Lediglich auf der letzten, auch durch Herzog Georgs Gebiet führenden Wegstrecke gaben ihm einige Reiter das Geleit. Am 5. März

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kehrte er bei dem adligen Geleitsmann (Beamten für Straßenzoll) Michael von der Straßen, einem Anhänger der Reformation, in Borna südlich von Leipzig ein. Erst dort antwortete er Friedrich dem Weisen in einem seiner berühmtesten Briefe auf dessen Vorstellungen, die Rückkehr nach Wittenberg noch zu verschieben 40. Luther erkannte die gute Absicht des Kurfürsten an, nahm dasselbe aber auch für sein Vorgehen in Anspruch. Er entschuldigte sich, er habe dem Kurfürsten keine »weisen« Vorschriften machen, sondern ihn in der schwierigen Situation trösten wollen. Luther selbst hielt die Wittenberger Vorgänge für eine Schmach des Evangeliums, deretwegen man verzagen könnte, würde es sich nicht eben um das Evangelium handeln. Um sie abzuwenden, hätte Luther sein Leben gegeben. Die Wittenberger Vorgänge waren weder vor Gott noch vor der Welt zu rechtfertigen, und Luther, vor allem aber das Evangelium, wurde dafür verantwortlich gemacht. Seine eigene Sache stellte er nunmehr folgendermaßen dar: Das Evangelium war ihm nicht von Menschen, sondern von Christus anvertraut. Der Teufel wollte Luthers Rückzug auf die Wartburg gegen das Evangelium ausnützen. Luther konnte es jedoch nicht verantworten, ihm auch nur eine Handbreit einzuräumen, außerdem hatte er, wie die Reise nach Worms bewies, keine Angst vor dem Widersacher. Der direkte Gegner, Herzog Georg, war aber noch lange nicht so gefährlich wie ein einziger Teufel. Gott hatte die Christen durchs Evangelium zu kühnen Herren selbst über alle Teufel und Tod gemacht. Deshalb war konkret auch auf die eigene Überlegenheit angesichts des Zorns von Herzog Georg zu hoffen. Auch »wenn's gleich neun Tage eitel Herzog Georgen regnete und ein jeglicher wäre neunfach wütender, denn dieser" ist«, würde Luther selbst nach Leipzig im herzoglich sächsischen Gebiet hineinreiten, bestünden dort dieselben Probleme wie jetzt in Wittenberg. Dabei ging es nicht um eine Verteufelung des Herzogs, Luther hatte oft für seine Erleuchtung und Rettung gebetet, hielt ihn aber bereits für einen fast hoffnungslosen Fall. Für Luthers realistischen Glauben bedeutete das, daß er im höheren Schutz Gottes und nicht in dem des Kurfürsten stand und deshalb sogar eher den Kurfürsten als dieser ihn zu schützen vermochte. Irdische Machtrnittel konnten in dieser Sache überhaupt nicht helfen. Der eigentlich Starke ist der Glaubende, und weil es dem Kurfürsten daran fehlte, war er nicht der Mann, Luther zu schützen. Dem Kurfürsten wird geraten, nichts zu unternehmen, sondern Gott die Sache zu überlassen, sonst würde ihm sein Unglaube nur quälende Sorgen bereiten. Ausdrücklich nahm Luther dem Kurfürsten die Verantwortung für sein Leben ab, falls das Reich gegen ihn vorgehen würde. Gegen die staatliche Obergewalt durfte man sich nicht auflehnen. Der Kurfürst sollte also ein Vorgehen des Reichs gegen Luther zulassen, mehr war ihm nicht zuzumuten, und damit war das politische Risiko für den Kurfürsten und sein Land auch begrenzt, denn Luther wollte als Christ jedermann tröstlich und nicht schädlich sein. Der Brief schließt mit einer neuen Aufforderung zum Glauben, in dem der Kurfürst Gottes Herrlichkeit sehen würde, die ihm in seinem Unglauben bis jetzt nicht erkennbar war. Selten hat Luther seinen Glauben so direkt in die ihm entsprechende politische Aktion übersetzt, und das macht den besonderen Rang dieses Briefes aus. Praktisch hatte er den Kurfürsten vor vollendete Tatsachen gestellt.

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Dieser konnte nur noch versuchen, die mit Luthers Rückkehr aufbrechenden reichspolitischen Probleme zu bewältigen. Durch Hieronymus Schurf ließ der Kurfürst ein beim Reichsregiment vorzeigbares Schreiben Luthers bestellen, in dem dieser die Gründe für seine gegen den Willen des Kurfürsten unternommene Rückkehr angab und versicherte, daß er niemand beschwerlich fallen wollte 41 • Luther erfüllte die Bitte alsbald 42 • Ausdrücklich erkannte er den Gehorsam gegen die Obrigkeit, vorweg den Kaiser, an. Außer den schon aufgeführten Gründen für seine Rückkehr machte er klar, daß er ohne Rücksicht auf die Gnade oder Ungnade des Kurfürsten und sein eigenes Leben seiner Gemeinde, »meinen Kindern in Christo«, zu Hilfe kommen mußte. Er sah außerdem jetzt den früher schon geahnten Augenblick gekommen, in dem er einen Aufstand des gemeinen Mannes, der das Evangelium falsch verstanden hatte, in Deutschland verhindern mußte. Dieser Aufstand wurde mit der Unterdrückung des Evangeliums durch die geistlichen Tyrannen provoziert. Luthers Aufgabe war, sich wie Hesekiel als die Mauer vor das Volk zu stellen. Den Politikern mochte die Aktion eines einzelnen Mannes lächerlich erscheinen, aber Luther war sich gewiß, im Himmel war es anders beschlossen, als man auf dem Reichstag in Nürnberg meinte. Daß es angesichts des notleidenden Evangeliums noch weitere Gründe gab, deutete Luther nur an. In der Frage der Rückkehr war für Luther nicht der Kurfürst als irdischer Herr, sondern Christus maßgebend gewesen, ohne daß er den Kurfürsten damit gefährden wollte. In einer Nachschrift erklärte sich Luther zu Änderungen des vorliegenden Briefes bereit. Zugleich deutete er seine Befürchtung an, ein etwaiger Aufruhr würde sich nicht allein auf die Kirche beschränken. Schurf leitete das Schreiben an den Kurfürsten weiter. Der Hof hatte noch einige Änderungswünsche. Die Tatsache, daß Luther zurückgerufen worden war, durfte nicht erwähnt werden. Die Bemerkung, daß die Beschlüsse des Reichstags denen Gottes untergeordnet seien, mußte entfallen, der Kaiser als Luthers »allergnädigster Herr« tituliert werden, obwohl er ihm doch ganz feindlich gesonnen war. Luther fügte sich in dieser Stilfrage nur mit Murren. Mit dem Brief konnte der kursächsische Gesandte in Nürnberg, Hans von der Planitz, erfolgreich operieren und sogar Herzog Georg überzeugen, daß der Kurfürst nichts mit Luthers Rückkehr zu tun hatte 43 • In seinem Begleitschreiben an Friedrich den Weisen 44 beschrieb Schurf auch seine eigene Sicht der Dinge, mit der er damals in den ersten Gesprächen vielleicht auch Luther beeinflußt hat. Er äußerte sich dabei zugleich als kurfürstlicher Rat und als armer sündiger Christenmensch. Bei aller echten Sympathie für Luther und seine Sache hatte er als Jurist eine starke Bindung an das geltende Recht, die ihm auch die Ablösung vom hergebrachten Kirchenrecht nicht leicht machte. Damit gehörte er zu den Konservativen, die Luther noch in späteren Jahren erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Bei dem vorliegenden Brief ist freilich nicht auszuschließen, daß Luther seinerseits die Darstellung Schurfs mitgeprägt hat. Die Verwandtschaft zwischen seinem Schreiben und der am gleichen Tag gehaltenen ersten Predigt Luthers ist jedenfalls auffallend. Die eigenmächtigen Predigten Zwillings und Karlstadts hatten es dahin gebracht, daß viele Studenten und Bürger meinten, rechtes Christsein bestehe darin, nicht zu beichten, Priester zu verfolgen, an Fastta-

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gen Fleisch zu essen und Heiligenbilder zu zerstören. Aus dem Empfang des an sich für geängstete Gewissen bestimmten Abendmahls war eine Protestdemonstration geworden, die dieses noch schlimmer verkehrte als der bisherige Mißbrauch. Wittenberg war damit in ganz Deutschland zum Ärgernis für die Christen geworden. Derartiges Ärgernis hatten Leute wie Schurf, die im Glauben noch kalt und schwach waren, auch in Wittenberg selbst genommen. Den fleischlichen, auf das Äußere gerichteten Predigern hatte trotz aller Schrifterkenntnis der Herzen und Willen erneuernde Geist gefehlt, und so hatte der große Haufen dann keine Rücksicht darauf genommen, daß die Mitmenschen geärgert wurden. Schurf argumentierte hierbei in der Hauptsache nicht politisch, sondern aus einem angefochtenen Gewissen. Er hoffte, Luther werde mit seinen Predigten durch Wirkung des Heiligen Geistes den ungeistlichen Ärgernissen abhelfen und sie aus den Herzen der Menschen nehmen. Den eingedrungenen Predigern sollte als falschen Propheten das Auftreten verboten werden. Dazu sollte auch die Obrigkeit beitragen. Die Christenmenschen waren allein auf das reine, lautere Wort Gottes als ihre Speise angewiesen. Solche die Gemeinde betreffenden geistlichen und nicht irgendwelche in sich ambivalente politische Beweggründe hatten Luther zur Rückkehr veranlaßt. Er kam nach Wittenberg nicht als der verlängerte Arm des Reichsregiments oder des Kurfürsten, der ihn gar nicht da haben wollte. Gleichzeitig war er jedoch wie seine Freunde Cranach, Düring und Schurf für den Gehorsam gegenüber dem Landesherrn und gegen den Aufruhr 45 • Es mußte sich zeigen, ob und wie er mit der schwierigen Situation zwischen begonnener Reformation, konservativem Verhalten und politisch motiviertem Zurückdrehen der Entwicklung fertig werden würde und zugleich der Sache des Evangeliums treu zu bleiben vermochte.

6. Die Übersetzung des Neuen und des Alten Testaments Die bedeutendste Leistung Luthers während der Wartburgzeit wurde seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche!. Die Aufgabe der Bibelübersetzung, die er damit übernommen hatte, sollte ihn bis an sein Lebensende nicht mehr loslassen. Schon die erste Phase dieser Arbeit, die hier darzustellen ist, reichte weit über den Aufenthalt auf der Wartburg hinaus bis in das Jahr 1524. Es gab bereits längst vor Luther eine gedruckte deutsche Bibel. Sie war zuerst 1466 von dem Straßburger Drucker Johannes Mentelin nach einer relativ antiquierten Übersetzung aus dem bayrischen Raum herausgebracht worden. Die Ausgabe des Augsburger Druckers Günther Zainer von 1475 war dann eine revidierte Fassung der Mentelin-Bibel. Bis 1518 waren insgesamt 14 hochdeutsche und 4 niederdeutsche Bibeln erschienen. Das Vorhaben einer neuen Bibelübersetzung lag sozusagen in der Luft. Ende 1520 erwähnte Karlstadt bereits, daß neue deutsche Bibeln gedruckt werden und alle Christen sie lesen oder sich vorlesen lassen sollten 2 . Auf Anregung frommer Leute übersetzte Luthers Erfurter Freund und Ordensbruder Johann Lang im Frühsommer 1521 das Matthäusevangelium sehr wörtlich aus dem Griechischen Neuen Te-

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stament des Erasmus von Rotterdam; eine bedeutende Übertragungsleistung war dabei freilich nicht herausgekommen 3 • Luther selbst wünschte am Ende der Weihnachtspostille im November 1521, daß alle Auslegungen untergingen und jeder Christ allein die Bibel sich vornähme, »daß wir das bloße lautere Gotteswort selbst fassen, schmecken und da bleiben; denn da wohnt Gott allein in Zion«. Die Bibel ist als der eigentliche Ort der erreichbaren Gegenwart Gottes verstanden, »darum hinein, hinein, lieben Christen ... !« Die wenig später entstandene Adventspostille forderte, daß alle Christen die Bibel täglich gebrauchen, denn sie allein gibt Geduld und Trost 4 • Im März 1522 berichtete Luther dem Ritter Hartmut von Cronberg, das Vorhaben der Bibelübersetzung sei für ihn selbst notwendig gewesen, sonst wäre er in dem Irrtum, in dem er gelehrt worden war, gestorben 5 . Allein die Bibel bot klare Orientierung. Ihre Übersetzung war ein wichtiger Schritt bei der Überwindung der hergebrachten Theologie. Der Plan reifte während Luthers Besuch Anfang Dezember 1521 in Wittenberg. Luther hatte, abgesehen von der Adventspostille, bis dahin seine konkreten Vorhaben zum Abschluß gebracht und dürfte nach neuer Beschäftigung ausgeschaut haben. Die Freunde, wahrscheinlich vor allem Melanchthon, dem andere dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein schienen, drängten ihn, sich an die Übersetzung des Neuen Testaments zu machen, wobei ein Hauptinteresse darin bestand, die verdunkelten Paulusbriefe ans Licht zu bringen. Melanchthon und Spalatin besorgten Luther dann auch die nötigen Hilfsmittel. Erstmals erwähnt Luther das Projekt nach der Rückkehr auf die Wartburg in einem Brief an Johann Lang. Es schien ihm im Blick auf dessen Übersetzungstätigkeit wünschenswert, daß jede Stadt ihren Übersetzer habe, damit die Bibel in jeden Mund, Hand, Augen, Ohren und Herzen komme 6. Nachdem Luther sich an die Aufgabe gemacht hatte, erkannte er alsbald, welche die Kräfte übersteigende Last er auf sich genommen hatte und warum die bisherigen Übersetzer, wie übrigens nachher zunächst auch er selbst, ihren Namen nicht genannt hatten. Aber zugleich richtete sich bereits Mitte Januar 1522 sein Blick über die Übersetzung des Neuen auf die des Alten Testaments. An sie konnte er freilich ohne die Mitarbeit der Freunde nicht herangehen, und deshalb sollten sie ihm ein Versteck in Wittenberg selbst beschaffen. Die Übersetzung galt ihm bereits als ein großes und würdiges Werk, das es gemeinsam zu schaffen galt, denn es würde öffentlich Beachtung finden und war ein Beitrag zu nichts weniger als dem öffentlichen WohC. Als Luther seinen Aufenthalt auf der Wartburg abbrach, hatte er binnen elf Wochen die Übersetzung des ganzen Neuen Testaments bewältigt. Noch im März begann er mit Melanchthon die Überarbeitung, zu der auch Spalatin passende und genaue Einzelbegriffe beitragen sollte. Diese durften jedoch nicht aus dem höfischen Milieu stammen, sondern mußten gemeinverständlich sein. Zum Beispiel mußte Spalatin zur Übersetzung des 21. Kapitels der Johannesoffenbarung die entsprechenden Edelsteine als Anschauungsmaterial aus der kurfürstlichen Schatzkammer besorgen. Aber auch seine Griechischkenntnisse waren gefragt. Melanchthon bemühte sich um die schwierige korrekte Umrechnung und Übertragung der Münzbezeichnungen und, leider ohne Erfolg, um eine Karte Palästinas als Bei-

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~ufttembag. Titelblatt des Septembertestaments von 1522

gabe 8. Den Druck besorgte Me1chior Lotther d. J. im Auftrag der als Verleger für das große Projekt fungierenden Lukas Cranach und Christian Düring. Anfang Juli wurde auf zwei Pressen gedruckt, Ende des Monats kam eine dritte für die wegen der Illustrationen schwierig zu setzende Johannesoffenbarung hinzu. Kurz vor dem 21. September war der Druck abgeschlossen 9 • Wie für alle seine Schriften beanspruchte und erhielt Luther auch für die Übersetzung kein Honorar. Das Geschäft mit der Bibelübersetzung machten die Drucker und Verleger. Zu seinem Ärger erhielt er nicht einmal genügend Freiexemplare. Luther hatte das Neue Testament nach der zweiten Ausgabe des griechischen Neuen Testaments des Erasmus von Rotterdam von 1519 übersetzt. Ihr waren eine lateinische Übertragung des Erasmus und Anmerkungen beigegeben, deren sich Luther vielfach bediente, auch wenn er sie in der Eile nicht ganz ausschöpfte. Daneben lag ihm selbstverständlich die herkömmliche lateinische Übertragung der Vulgata vor, mit der er ohnedies bestens vertraut war. Nicht erwiesen ist die Benützung 55

der älteren deutschen Übertragung der Zainerbibel. Allerdings stand auch Luther in den Konventionen einer im Gottesdienst, der Seelsorge und der Erbauungsliteratur gebrauchten Sprache, die dem Zweck der Vermittlung nur nützlich sein konnte 10. Das Geschäft des Übersetzens war für Luther nicht ganz neu. Für seine deutschen Psalmenauslegungen und die Postille hatte er bereits einzelne Texte ins Deutsche übertragen. Mit der Übersetzung des Neuen Testaments übertraf er das Bisherige jedoch bei weitem. Es kam damit tatsächlich »das würdige Werk« zustande, das er zu schaffen beabsichtigt hatte, und mehr als das. Man ist sich heute einig darüber, daß Luther die deutsche Hoch- und Schriftsprache mit seiner Bibelübersetzung nicht erst oder allein geschaffen hat, wohl aber eines ihrer bedeutendsten und verbreitetsten Dokumente, durch das er vollends zum »einflußreichsten Schriftsteller deutscher Zunge« wurde. Die Herausbildung der Hoch- und Schriftsprache hatte schon vor Luther begonnen und dauerte nach ihm fort. In diesem Prozeß spielte die meißnische Kanzleisprache der Wettiner eine bedeutende Rolle. Gerade im sächsischen Gebiet war es zu einem Ausgleich der Dialekte gekommen. In gewissem Sinne durchaus zutreffend berichtet Luther später: Er habe kein eigenes Deutsch, sondern gebrauche ein allgemeines, das man in Ober- und Niederdeutschland verstehen könne. »Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, die alle Fürsten Deutschlands nachahmen.«ll Damit gab es eine gemeinverständliche Basis, an der der Übersetzer höchstes Interesse haben mußte. Dieses Interesse teilte Luther auch mit den Buchdruckern, denen es wegen des Absatzes auf breite Verständlichkeit ankam. Die Orientierung an der Kanzleisprache galt allerdings nur hinsichtlich der guten Verständlichkeit, ausgesprochen höfische oder geschraubte Begriffe und Fremdwörter wurden ebenso vermieden wie die Alltagssprache. Das Volk sollte erreicht werden und verstehen können. Immerhin dürften Luthers Sprachformen zu 80 bis 90 Prozent, wesentlich mehr als in der früheren Übersetzung, sowohl in Ober- als auch in Niederdeutschland verstanden worden sein. Luthers Bibelübersetzung machte in ihren verschiedenen Ausgaben eine Entwicklung zu moderneren Formen durch. Das gilt für den Lautstand wie für den Konsonantengebrauch, die zunehmende Großschreibung und die Zusammenschreibung zusammengesetzter Wörter. Im Satzbau wurden neue Konjunktionen verwendet. Das Zeitwort, das zuerst vielfach noch in der Satzrnitte gestanden hatte, wurde bereits in der zweiten Auflage häufig, wenn auch längst nicht immer, an das Satzende versetzt, manchmal aber auch bewußt vorangestellt. Manche Ausdrücke aus dem sächsischen Bereich, wie z. B. »Krippe« oder »Hügel«, wurden durch Luther Gemeingut. Mit Luthers Einordnung in die Entwicklung der deutschen Hochsprache und der Bestimmung seines Beitrags zu ihr ist nur die sprachgeschichtliche Bedeutung der Bibelübersetzung angedeutet. Diese ist jedoch lediglich die Folge der sprachlichen und theologischen Meisterleistung, die die Übersetzung selbst darstellt. Luthers Beherrschung der deutschen Sprache hatte sich durch die Aufgaben der polemischen und erbaulichen Mitteilung in den vergangenen Jahren außerordentlich verfeinert, wozu nicht zuletzt das nuancierte Erfassen biblischer Aussagen beigetragen haben dürfte. Die Bibel sprach zu Luther klar und direkt in seine eigenen Situatio-

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nen, und er vermochte das wiederzugeben. Das Evangelium begriff er eher als mündliche Botschaft denn als literarischen Text, und von daher erhielt die Übersetzung ihren sprechsprachlichen, hörbezogenen Charakter. So kam er zum treffenden Wort, zur knappen Formulierung und zum einfachen eingängigen Satz. Ausdrücke wie »Sündenbock«, »Lockvogel«, »Lückenbüßer« oder »Dachrinne« sind seine Schöpfungen. Wo es nicht anders ging, stellte er den Sinn durch eine erläuternde Glosse am Rand sicher, auf jeden Fall suchte er Mißverständnissen und falschen Assoziationen vorzubeugen. Ein berühmtes Beispiel ist die Anrede des Engels an Maria Lk 1,28: »Gegrüßet seist du, Holdselige!« Unter Rückgriff auf einen Vorschlag des Erasmus kam Luther zu einer im Deutschen passenden Anrede und vermied damit gleichzeitig das zweideutige »voller Gnaden«, mit dem allzu leicht ein gefülltes Gefäß assoziiert werden konnte 12. Manche Bibelstellen erhielten erst durch Luther ihre sprichwörtliche Prägnanz, so z. B. Mt 12,34: »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über«, statt des wörtlichen: »Aus der Fülle des Herzens redet der Mund«. Die »Perlen vor die Säue werfen« (Mt 7,6) oder »den Staub von den Füßen schütteln« (Mt 10,14) wurden durch Luther zu Sprichwörtern. Eine feste Übersetzungstheorie besaß Luther nicht, obwohl er den alten, aus den Regeln der Rhetorik stammenden Grundsatz, daß sinngemäß anstatt wörtlich zu übersetzen sei, für wichtig hielt und sich manchmal auch erstaunliche Freiheiten leistete. Den schwerfälligen Substantiv-Stil des Hebräischen vereinfachte er durch stärkeren Einsatz von Verb und Adjektiv. Wo es ihm jedoch theologisch erforderlich schien, gab er dem exakteren Wortlaut gegenüber der besseren deutschen Formulierung den Vorzug. Bis heute ist es an zentralen Stellen wie Joh 3,16 oder 1. Tim 1,15f. hörbar, welch großen Wert Luther auf den gut sprechbaren Satz und seinen oft geradezu schwingenden Rhythmus legte. Das trug erheblich dazu bei, daß zentrale Bibelstellen leichter behalten werden konnten. Auch die Komponisten der späteren Motetten hatten es mit solchen Texten leicht. An vielen Stellen scheint Luther auf Anhieb die optimale Lösung gefunden zu haben, wobei nicht mehr festzustellen ist, inwieweit dies rein gefühlsmäßig oder bewußt erfolgte. Die späteren Revisionen lassen allerdings erkennen, wie bedacht er sogar auf die Verwendung nebentoniger Vokale und ihre Auswirkung auf die Satzmelodie achtete. Mt5,16 setzte er den Stabreim ein: »Also lasset euer Licht leuchten vor den Leuten ... « Den Beginn der Einsetzungsworte des Abendmahls (Mt26,26) stimmte er auf ein feierliches a: »Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach ... « Die Geschichte der Geburt Christi Lk2,7-11 ist weithin auf ein intimes i gestellt. Besonders kunstvoll sind Wortwahl und Satzbau beim sog. »Hohenlied der Liebe« 1. Kor 13. In Vers 8 hatte Luther ursprünglich wie Paulus mit den Verben abgewechselt, bis er sich 1546 für das viermalige »höret auf« entschied. Jede Übersetzung ist zugleich bereits Interpretation. Am deutlichsten wird das am Beispiel des auch für Luther zentralen Abschnitts des Römerbriefs (3, 19-30) 13. Fast in jedem Vers hat er hier den Sinn zugespitzt. V.19 heißt es statt »in« »unter dem Gesetz«. V.20 wird die Negation verschärft: »Kein Fleisch wird gerecht«. V.21 wird die Gerechtigkeit Gottes in Luthers Sinn als »die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt«, gefaßt. V. 23 spitzt das »alle sündigten« zu: »sie sind alle zumal Sünder«. 57

Am stärksten wurde später von Hieronymus Emser die Einfügung des provozierenden» allein« in V. 28 angefochten: »daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben«. Hier verteidigte sich Luther energisch mit dem Hinweis, daß eben dies gutem deutschem Stil entspreche, einer Negation das »allein« zur Verstärkung der Position gegenüberzustellen 14. Von der Eintragung paulinischer Vorstellungen in die Übersetzung des Alten Testaments wird später zu reden sein. Die Gestalt des Neuen Testaments prägte Luther zusätzlich durch eine gegenüber der Vulgata veränderte Anordnung und durch die Zugabe von Vorreden, Glossen sowie von Holzschnitten zur Johannesoffenbarung. Schon das Inhaltsverzeichnis setzte den Hebräer-, Jakobus- und Judasbrief, dazu die Johannesoffenbarung deutlich von den übrigen durchgezählten Schriften ab und verweigerte ihnen sogar eine eigene Ziffer, was als deutliches Anzeichen einer Minderschätzung zu werten ist, auf die noch zurückzukommen sein wird. Die Vorrede 15 zum Neuen Testament war notwendig als Auseinandersetzung mit den Vorreden zur Vulgata, die den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium verwischt und damit den »einfältigen Mann« irregeführt hatten. Unter Aufnahme von Gedanken aus dem »kleinen Unterricht« am Anfang der Weihnachtspostille wird das Neue Testament insgesamt und nicht etwa nur die vier Evangelien als Buch des Evangeliums, d. h. »der guten Botschaft, guten Mär, der guten neuen Zeitung, dem guten Geschrei« und seiner Geschichte charakterisiert. Luther meinte das so direkt wie eine politische Siegesmeldung: Inhalt des Evangeliums ist Kampf und Überwindung von Sünde, Tod und Teufel durch Christus, und das bedeutet Erlösung, Rechtfertigung, Lebendig- und Seligmachung der Glaubenden ohne ihr Verdienst. Testament heißt das Evangelium deshalb, weil eben darin das Vermächtnis des in den Tod gehenden Christus besteht. Dieses eine Evangelium als eine Predigt von Christus klingt bereits in den messianischen Verheißungen des Alten Testaments an und wird in den neutestamentlichen Schriften verschieden beschrieben. Daraus wieder ein Gesetzbuch zu machen, wäre grundfalsch. Dementsprechend sind die Gebote und Weisungen des Neuen Testaments etwas Sekundäres gegenüber dem Glauben an die Christusgeschichte. Aus diesem Gesamtverständnis des Neuen Testaments ergaben sich für Luther Kriterien, »welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind«. Bis 1534 bildeten diese Hinweise den Schluß der Vorrede, dann entfielen sie. In erster Linie nannte Luther das Johannesevangelium, die Paulusbriefe, vor allem den Römer- und den ersten Petrusbrief als »den rechten Kern und Mark unter allen Büchern«. Sie sollte man sich durch tägliches Lesen so aneignen wie das tägliche Brot. Die Predigt von Christus hat den Vorzug vor seinem Werk und Beispiel, und darum gilt das Johannesevangelium als das »ein(z)ige, zarte, rechte Haupt-Evangelium«, das den drei andern weit vorzuziehen ist. Weil der Jakobusbrief in diesem Sinne keine evangelische Art an sich hat, wird er an dieser Stelle als die »stroherne Epistel« bezeichnet. Die Vorrede zum Römerbrief nannte diesen »das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium«, des Auswendiglernens und des täglichen Umgangs wert. Sie nimmt damit sofort wieder die Gedanken der Gesamtvorrede auf. Ehe der Inhalt des Briefs durchgegangen wird, werden in einer Parallele

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zu Melanchthons »Loci« die Grundbegriffe Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch und Geist erklärt. In ihrer Abfolge bilden sie ein kurzes Kompendium von Luthers damaliger Rechtfertigungslehre. Das Gesetz kann außerhalb des Glaubens nicht erfüllt werden, sondern richtet den Menschen. Sünde ist die Grundbefindlichkeit des ungläubigen Menschen. Die Gnade wird auch hier als Gottes Huld bestimmt, die die Gaben des Geistes mit sich bringt. Der Glaube istentgegen der geläufigen Meinung nicht der »menschliche Wahn und Traum, sondern das erneuernde und verwandelnde göttliche Werk«, das »lebendig, schäftig, tätig, mächtig Ding«, aus dem die guten Werke geschehen, so daß man diese nicht gegen den Glauben ausspielen kann. Die Gerechtigkeit ist mit diesem Glauben identisch. Denn ihm wird um Christi willen, an den er glaubt, die Sünde nicht zugerechnet. Zugleich wird durch ihn das Gesetz erfüllt und die Liebe zum Nächsten gelebt. Die Römerbriefvorrede, die stärker als der spätere Luther noch das neue Handeln des Glaubens betont, ist über 1ahrhunderte hinweg eine der wirksamsten Darstellungen von Luthers Rechtfertigungslehre geworden, auf die man sich immer berufen und mit der man sich kritisch auseinandergesetzt hat. An ihr läßt sich am deutlichsten beweisen, wie die weitverbreitete Lutherbibel selbst zu einem der wichtigsten, wirksamsten und dauerhaftesten Vermittler auch von Luthers Theologie wurde 16 • Der Mißbrauch der evangelischen Freiheit infolge der Nichtbeachtung der zentralen Christusbotschaft im 1. Korintherbrief wurde für Luther zum Spiegel der eigenen Wittenberger Situation. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Vorreden zu jenen vier Schriften, die er an den Rand des Neuen Testaments gestellt hatte. Er zweifelte ihre apostolische Verfasserschaft an und verwies auf ihre umstrittene Kanonizität. Dabei störte ihn am Hebräerbrief die frühchristliche Aussage von der Unmöglichkeit der Buße nach der Taufe, die er mit seinen einer veränderten Situation entstammenden Erfahrungen nicht in Einklang zu bringen vermochte. Den 1akobusbrief mit seiner Wertschätzung der Werke konnte er nicht mit der paulinischen Rechtfertigungslehre in Einklang bringen. Überdies fehlte ihm das Christuszeugnis. In diesem Zusammenhang formulierte Luther sein inhaltliches Kriterium für die Beurteilung biblischer Schriften: »Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenn's gleich Petrus oder Paulus lehret.« Darum wollte Luther den 1akobusbrief nicht unter den Hauptbüchern seiner Bibel haben. Die Argumentation war kühn. Luther gab formal einen Teil der biblischen Basis preis, auf die er sich gegen Papst, Kirchenrecht und theologische Tradition gestützt hatte. Aber das beweist nur, wieviel ihm an der inhaltlichen Mitte des Christusglaubens lag. Auch der 1ohannesoffenbarung fehlte nach Luthers Ansicht die zureichende apostolische Bezeugung; dazu störte ihn wie am 1akobusbrief ihr Moralismus. Vor allem aber machten ihm zunächst ihre anders als in den sonstigen apostolischen Schriften nicht sicher zu deutenden Bilder und Gesichte Schwierigkeiten. Als Verstehenshilfe wurden der Übersetzung knappe Randglossen beigegeben. Sie erklärten fremde oder nicht eindeutige Wörter, Wendungen und Zusammenhänge, unterstrichen wichtige Stellen oder boten anfangs auch erbauliche allegorische Deutungen, auf die erst später teilweise verzichtet wurde. Die Glossen stellten vielfach eine kurze Interpretation der Bibel im Sinn von Luthers Theologie dar, die

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damit wie durch die Vorreden gerade auch in die weitverbreitete Bibelübersetzung einging. Immer wieder wird die Bedeutung des Wortes Gottes und als sein Gegenstück die Menschenlehre hervorgehoben. Ebenso wird die zentrale Rolle der Rechtfertigung allein aus dem Glauben betont. Von daher bekommen der Lohngedanke und die Werke ihren Platz zugewiesen. Auch die aktuelle Kritik an der Papstkirche begegnet in den Glossen. Ferner sind Luthers politische und gesellschaftliche Vorstellungen, seine Kritik wie seine Anerkennung der Verhältnisse, in sie eingegangen. Neben der Übertragung selbst dürften die Glossen das Verständnis der Bibel in Luthers Sinn nachhaltig geformt haben. Der Johannesoffenbarung waren 21 Holzschnitte Cranachs und seiner Werkstatt als Illustration beigegeben, die sich vielfach an Dürers Kupferstiche zur Apokalypse anlehnten 17 • Dabei fehlte es an aktuellen Anspielungen nicht. Als Vorlage für das einstürzende Babyion diente eine Ansicht der Stadt Rom. Das Tier aus dem Abgrund und das Weib auf dem Tier tragen die dreifache Papstkrone. Wohl auf Einspruch des Reichsregiments mußte sie in der zweiten Auflage durch einfache Kronen ersetzt werden, was jedoch später wieder rückgängig gemacht wurde. »Das Newe Testament Deutzsch« erschien kurz vor dem 25.September 1522 18 • Das Titelblatt nannte nur den Druckort Wittenberg, nicht aber den Übersetzer. Angeblich sollen von der ersten Auflage 3000 Exemplare gedruckt worden sein. Die Angaben über den Verkaufspreis schwanken zwischen einem halben, einem und eineinhalb Gulden, je nachdem wohl, ob das Buch ungebunden, gebunden oder gar mit besonderen Initialen ausgeschmückt war l9 . Die Übersetzung war ein buchhändlerischer Erfolg. Schon im Dezember brachte Adam Petri den ersten Nachdruck in Basel heraus. Gleichzeitig wurde bereits eine Wittenberger Neuauflage, das sog. Dezembertestament, notwendig. Mit ihm setzte der anhaltende Prozeß der Revision der Übersetzung ein, wobei Fehler und Versehen korrigiert und zugleich der Satzbau einer systematischen, wenn auch nicht konsequenten Durchsicht unterzogen wurden. Schon in seinen Flugschriften vom Herbst 1522 zitierte der damals in Wittenbergweilende Eberlin von Günzburg das Neue Testament nach Luthers Übersetzung. Der Nürnberger Augustinereremit Karl Rosen wartete im November gespannt darauf, daß er ein Exemplar erhielt 20 • Allerdings meldete sich bereits auch der Widerspruch. Der Luther an sich freundlich gesinnte Lauinger Augustinerprior Kaspar Amman war mit der Übersetzung und Erklärung des wichtigen Wortes an Petrus Mt16,18 nicht ganz einverstanden z1 . Trotz des päpstlichen und kaiserlichen Verbots von Luthers Schriften wurde unter anderem auch das Neue Testament im Herzogtum Sachsen vertrieben. Dagegen schritten Herzog Georg und sein Bruder Heinrich mit Mandaten vom 7. und 9.November ein, die den Verkauf und Kauf verboten. Bis Weihnachten sollten erworbene Exemplare bei den Ämtern abgeliefert werden, wobei der Kaufpreis erstaunlicherweise zurückerstattet wurde. Grund des Anstoßes waren vor allem die papstkritischen Glossen und Illustrationen. In Leipzig und Meißen wurden daraufhin vereinzelte Exemplare neben anderen Lutherschriften abgelieferez. Auf Luthers bedeutsame Reaktion gegenüber dieser obrigkeitlichen Maßnahme wird später einzugehen sein.

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......

Das Tier aus dem Abgrund (Offb.ll) im September- und Dezembertestament. In der zweiten Fassung ist die Papstkrone in eine einfache Krone verändert. Holzschnitt von Lukas Cranach d.Ä., 1522

Wohl sofort nach Beendigung der Arbeit an der Übersetzung des Neuen Testaments hatte Luther die des Alten Testaments in Angriff genommen. Die Bibelübersetzung galt ihm offenbar als seine vordringlichste Aufgabe, auf die er sich möglichst zu konzentrieren suchte 23 • Luther wollte das Alte Testament mit Rücksicht auf einen erschwinglichen Preis in drei Teilen herausbringen. Die Arbeit schritt zunächst zügig voran. Am 3. November war er schon beim Buch Leviticus angelangt. Mitte Dezember war die erste Fassung der Pentateuchübersetzung abgeschlossen, und Luther beschäftigte sich bereits mit der Revision, wobei er von Melanchthon und wohl auch dem Hebraisten Matthäus Aurogallus unterstützt wurde. Auch Spalatin wurde um Rat vor allem für die Übertragung der Tiernamen gefragt. Sofort nach der Fertigstellung des Dezembertestaments begann der Druck, der etwa Mitte 1523 abgeschlossen war 24 • Noch 1523 erschienen zwei erheblich verbesserte Wittenberger Neuauflagen 25 • Bei der Übersetzung bemühte sich Luther mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Hilfsmitteln um die Erfassung des damals noch wenig erschlossenen hebräischen Urtextes. Er hielt seine Übertragung für klarer und genauer als die der Vulgata, der er dennoch nicht wenig verdankte. Konstruktive Kritik wollte er wie die Hilfe seiner Mitarbeiter gerne annehmen, gegenüber bloßer Besserwisserei gab er sich gelassen; er war sich der sprachlichen Qualität seiner Übertragung bewußt 26 • Das Druckmanuskript des zweiten Teils des Alten Testaments (J osua bis Esther) lag am 4. Dezember 1523 fertig vor; der Band erschien Anfang 1524 27 • Alsbald machte sich Luther an den noch ausstehenden dritten Teil. Die Übersetzung erwies sich jedoch als schwierig und kam deshalb nur langsam voran. Im Hiobbuch brachten Luther und seine Mitarbeiter wegen dessen eigentümlich dunklen, kraftvollen und prächtigen Stils manchmal in vier Tagen kaum drei Zeilen zustande. Luther fürchtete, daß Hiob wegen der Übersetzung über ihn ebenso ungehalten sein würde wie über seine Freunde, obwohl er mit seiner freien Übertragung wenigstens einen verstehbaren Text erstellt hatte. Weil sich dadurch auch der Druck des dritten Teils verzögerte, wurden im Herbst 1524 die poetischen Bücher (Hiob bis Hoheslied) gesondert herausgegeben 28. Danach trat eine lange Pause ein. Obwohl Luther schon 1524 in seinen Vorlesungen die Übertragung der Propheten vorbereitete, konnte sie erst 1532 erscheinen. Diese zweite Phase der Übersetzungstätigkeit wird später darzustellen sein. Der Übersetzung des Alten Testaments stellte Luther eine Vorrede voran, die auf den unauflösbaren Zusammenhang des Neuen mit dem Alten Testament hinwies und eine Anleitung zu seiner Lektüre bieten wollte 29 . »Hie wirst du die Windeln und die Krippen finden, da Christus innen liegt ... « Das Alte Testament ist im Gegensatz zum neutestamentlichen Evangelium in erster Linie ein Gesetzbuch mit Beispielen seiner Befolgung und Übertretung, enthält aber auch schon die auf Christus hinweisenden Verheißungen. Die zivilen, zeremonialen und auf Glaube und Liebe gerichteten Gesetze legen den an sich selbstmächtigen Menschen auf Gottes Willen fest. Entsprechend der paulinischen Vorstellung offenbaren sie dem Menschen sein Scheitern in der Sünde und veranlassen ihn so, Gottes Gnade in Christus zu suchen. Die herkömmliche allegorische Deutung des Alten Testaments wird

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nicht rundweg verworfen; am sichersten ist es, nach Hinweisen auf Christus zu suchen. Angefangen mit Hiob gab Luther auch den alttestamentlichen Büchern eigene Vorreden bei. In der Vorrede auf den Psalter30 rechtfertigte er die Umformulierung des gängigen Begriffspaares Barmherzigkeit und Wahrheit in Güte und Treue, weil damit besser zum Ausdruck kam, an welchen Verhaltensweisen Gottes der Glaube seinen Anhalt hat. Die häufigen Begriffe Gericht und Gerechtigkeit verteilte er nach Paulus auf die durch das Gesetz bewirkte Abtötung und die durch das Evangelium erfolgende Rechtfertigung.

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11. Der Prediger von Wittenberg (1522-1524)

Weil der Wolf in seine Hürde, die Wittenberger Gemeinde, eingebrochen war, war Luther von der Wartburg zurückgekehrt!. Als "Ecclesiast«, Prediger zu Wittenberg, bezeichnete er sich in den beiden kommenden Jahren gewöhnlich in Briefen und den Titeln seiner Schriften. Zwar hatte er die Predigerstelle an der Stadtkirche schon seit etwa 1514 inne, aber nunmehr galt sie ihm als sein eigentliches Amt. Die Tätigkeit als Professor übte er bis zum Sommer 1524 nicht aus, angeblich wegen der Bibelübersetzung, aber höchstwahrscheinlich spielten dabei auch politische Rücksichten eine Rolle: Der Geächtete vermied es, sein öffentliches Lehramt wahrzunehmen. Als Ecclesiast oder Evangelist von Gottes Gnaden trat er seinen kirchlichen Widersachern gegenüber und beanspruchte damit eine höhere, direkt von Christus abgeleitete Vollmacht als die der Bischöfe 2 . In der Auslegung des 2. Petrusbriefes Anfang 1523 führte Luther das aus: »So gewiß soll nun ein jeglicher Prediger sein und nicht daran zweifeln, daß er Gottes Wort habe und predige, daß er auch darauf sterbe, sintemal es uns das Leben gilt.« Als Zeuge Christi kam ihm dabei dieselbe Qualität zu wie den Propheten 3 . Hieronymus Emser bemühte sich vergeblich, Luther den wirkungsvollen Titel des Predigers streitig zu machen 4 • Der damalige Wittenberger Student Albert Burer schildert Luther auf der Kanzel: »Sein Gesichtsausdruck ist gütig, sanftmütig und heiter. Seine Stimme ist süß und klangvoll, und das so, daß ich die süße Beredsamkeit des Mannes bewundere. Ganz fromm ist, was er spricht, lehrt, handelt, auch wenn seine gottlosen Feinde das Gegenteil behaupten mögen. Wer ihn einmal gehört hat, verlangt ihn, wenn er nicht aus Stein ist, immer wieder zu hören, so sehr senkt er haftende Stachel dem Geist seiner Hörer ein. Kurzum, bei ihm fehlt nichts, was zur vollkommenen Frömmigkeit der christlichen Religion gehört ... «5 Zwischen 1522 und 1524 hat Lukas Cranach eines der eindrucksvollsten Porträts Luthers gemalt (Tafel IV)6. Es zeigt ihn noch in der Mönchskutte , aber ohne Tonsur, die eine Hand auf die Bibel, die andere aufs Herz gelegt. Der fest geschlossene Mund und die angedeutete steile Stirnfalte verraten eine intensive Gesammeltheit, die auffallend lebendigen Augen sind auf ein festes, vielleicht etwas entferntes Objekt gerichtet. Der, den der Maler hier festgehalten hat, ist kein fanatischer Eiferer, schon gar kein gewiefter Taktiker, aber ganz und gar durchdrungen von dem, was ihm aufgetragen ist. Die Lebensbeschreibung muß sich bemühen, ihrerseits davon etwas wiederzugeben. Wie ein Blick in frühere Biographien zeigt 7 , ist jedoch die Phase von 1522 bis 1524 nicht leicht zu erfassen. Vieles hat Luther damals beschäftigt: vorweg seine Wittenberger Gemeinde, die Ausbreitung der Reformation in Kursachsen und darüber hinaus deren erste Regungen und Schicksale in anderen Städten und Gebieten. Die

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Hauptaufgaben bestanden in der Einwurzelung der evangelischen Verkündigung und ersten wichtigen Maßnahmen zu einer kirchlichen Neuordnung. Außerdem verlangten konkrete Fragen der Lebensgestaltung Beantwortung in evangelis.chem Sinn. Der polemischen Auseinandersetzung mit den altgläubigen Gegnern konnte und wollte sich Luther nicht entziehen. Die Gegenseite sorgte auch dafür, daß der Geächtete, der es dennoch wagte, in der Öffentlichkeit aufzutreten, ständig politischer Maßnahmen gegen sich gewärtig sein mußte und darauf zu reagieren hatte. Alle diese Probleme waren vielfältig ineinander verwickelt, was das Beschreiben und Verstehen nicht eben erleichtert. Immerhin kann man das evangelische Predigtamt als die Mitte der von Luther damals erfaßten Aufgaben und Tätigkeit bezeichnen. Er predigte kontinuierlich in Wittenberg oder auf seinen Reisen. An den Sonn- und Festtagen legte er morgens das einschlägige Evangelium aus, in der Mittagspredigt um 12 Uhr hingegen beschäftigte er sich mit einzelnen biblischen Büchern, ab Mai 1522 zunächst mit dem 1. Petrusbrief, Anfang 1523 dann mit dem 2. Petrus- und dem Judasbrief und von Ende März 1523 bis Herbst 1524 mit dem 1. Buch Mose 8 . Daraus entstanden bedeutende und beachtete Schriftauslegungen. Der von Luther »als Ausbund einer schönen Epistel« hochgeschätzte 1. Petrusbrief enthielt mit seinem Zeugnis von dem auferstandenen Christus das rechte lautere Evangelium. Anhand des 2. Petrusbriefes ließ sich das rechte Verhältnis von Glauben und Werken vorführen. Den Judasbrief hielt er zwar nicht für apostolisch, schätzte ihn aber wegen seiner Eignung zur Polemik gegen die altgläubige Seite. Bei der Auslegung des ersten Mosebuches ging es Luther nicht zuletzt um die Einheit von Altem und Neuem Testament. Seine Beispiele von Glauben und Liebe sollten an die Stelle der bisher gepredigten Legenden treten 9 • Fast alle Predigten sind erhalten. Eine Vielzahl von ihnen wirkte alsbald weit über Wittenberg hinaus, indem sie oft unter griffigen Titeln in Einzel- oder Sammeldrucken mit und ohne Zustimmung Luthers veröffentlicht und dann wiederum nachgedruckt wurden. Luther selbst stand diesen Veröffentlichungen eher ablehnend gegenüber, zumal sie seine Äußerungen nicht immer korrekt wiedergaben. Ihm lag mehr daran, daß die Leute die Bibel lasen. Mindestens sollten jedoch nur von ihm autorisierte Texte seiner Predigten gedruckt werden. Aber angesichts der aus dem Hunger nach dem göttlichen Wort kommenden Nachfrage weigerte sich der Straßburger Drucker Johann Schott 1523 ausdrücklich, Luthers Mahnung Folge zu leisten, und bemühte sich lediglich um eine sorgfältige Wiedergabe 10. 1522 erschienen von Luther über 30, 1523 über 25 Einzelpredigten, die Nachdrucke nicht gerechnet ll . 1524 geht dieses Interesse an einzelnen Predigten Luthers dann deutlich zurück. Unabhängig davon setzte er Anfang 1524 seine Arbeit an der Postille nunmehr mit den Predigten für die Zeit zwischen Epiphanias und Ostern fort, die aber erst 1525 erscheinen konnte 12 • Ende 1522 beginnt die Nachschreibetätigkeit des Wittenberger Theologen Georg Rörer (1492-1557), 1523 die des späteren Zwickauer Stadtschreibers Stephan Roth, durch die viele ungedruckte Predigten erhalten geblieben sind. Das Predigtamt war jedoch noch mehr als eine Hauptbeschäftigung Luthers. Auch seine Vorstellungen über das reformatorische Vorgehen

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und die kirchliche Neuordnung orientierten sich mindestens zum Teil daran. Wie weit das reichte und wie Luther überhaupt sein gegen die hergebrachte Kirchenordnung und Frömmigkeit am Evangelium gewonnenes Programm weiter umsetzte, muß sich im folgenden zeigen.

1. Die 1nvokavitpredigten und die Bewältigung der Wittenberger Situation Luther nahm die von ihm für notwendig gehaltene Neuregelung in Wittenberg von der Kanzel aus in Angriff. Vom 9. März, dem Sonntag Invokavit, drei Tage nach seiner Rückkehr, bis zum Sonntag danach predigte er täglich, weshalb diese Predigten als die» Invokavitpredigten « bezeichnet werden 1. Solche thematischen Reihenpredigten waren gerade in der Fastenzeit nicht ganz ungewöhnlich; noch im März schloß Luther eine Folge von Katechismuspredigten an, und ebenso hielt er es im folgenden J ahr 2 • Aber diesmal handelte es sich um eine besondere Situation, auf die sich Luther gegen seine Gewohnheit sogar schriftlich vorbereitet hatte. Das Sonntagsevangelium streifte er nur knapp. Dann sprach er sogleich an, worauf es eigentlich ankam, nämlich wie jeder für sich mit dem Tod fertig werden kann. Für Luther war das alles andere als ein theoretisches Problem. Er selbst hielt sich für extrem gefährdet. Das klingt auch in den Predigten der Folgezeit immer an. Welche Konsequenzen den Wittenbergern drohten, war ungewiß. Auf jeden Fall mußten die Gemeindeglieder das Neue innerlich verkraften und verantworten können, sonst kamen sie mit ihrem Gewissen in Extremsituationen nicht zurecht. Zwar wußten sie von der Befreiung von Sünde und Gottes Zorn durch Christus. Daß dennoch etwas nicht stimmte, zeigte sich daran, daß sie die zum Glauben gehörende Liebe vermissen ließen. Der Maßstab des Handeins hätten die Bedürfnisse des schwachen Bruders sein müssen. Zu den Schwachen gehörten einmal die Wittenberger Konservativen wie der Jurist Hieronymus Schurf, aber Luther hatte auch die Einwohner des Herzogtums Sachsen im Blick, die an den Wittenberger Vorgängen Anstoß nahmen 3 . Die nötige Rücksicht war bei der eigenmächtigen, ohne die Mitwirkung der Obrigkeit und ohne Rückfrage bei Luther als dem ordentlichen Prediger erfolgten Abschaffung der Messe nicht beachtet worden, und deshalb war es quälend zweifelhaft, ob das ganze Beginnen aus Gott war. Es ging um die grundsätzliche Entscheidung zwischen dem, was notwendig, und dem, was frei ist. Notwendig ist der Glaube. Das Tun der Liebe dagegen darf keinen Zwang ausüben, sondern muß Geduld haben, sonst verkraftet man die Anfechtung nicht. Es durfte jetzt keinen Rückfall in die früheren religiösen Zwänge geben. Um das der Gemeinde einzuhämmern, war Luther zurückgekehrt. Damit war das Vorgehen vorgezeichnet. Daß die Messe in evangelischem Sinn umgeändert werden mußte, darüber war man sich einig. Aber Luther war es für konkrete Maßnahmen noch zu früh. Zuerst mußte die Predigt aufklären und die Herzen gewinnen, dadurch würde das Alte zerfallen, und dann konnte man an eine Neuordnung denken. Hierbei handelte es sich um mehr als eine taktische Frage.

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Eine Neuordnung aufgrund von Zwangsbestimmungen anstatt des verkündeten Wortes hätte für Luther einen prinzipiellen Widerspruch gegen sein ganzes bisheriges Verhalten einschließlich seines Auftretens in Worms bedeutet. Deshalb bremste er den Elan seiner Bewegung energisch ab. Ohne das entsprechende innere Überzeugtsein konnte es keine rechte neue Praxis geben. Hinter diese Erfahrung der Klosterzeit gab es kein Zurück. Der Glaube aber hatte die Rücksicht nehmende Liebe im Gefolge und nicht ohne weiteres die forsche Aktion. Luthers scheinbar inkonsequente Zurückhaltung an diesem Punkt war zutiefst reformatorisch begründet. Konkret hieß das zum Beispiel: Zum Austritt aus dem Kloster oder zur Heirat als Geistlicher mußte man selbst ein gutes Gewissen haben; man konnte sich dabei nicht auf Karlstadt oder Gabriel Zwilling, nicht einmal auf den Erzengel Michael berufen. Luther machte keinen Hehl aus seiner damaligen Ablehnung der Heiligenbilder: »Ich bin den Bildern nicht hold.« Wegen ihres Mißbrauchs wäre ihre Abschaffung ratsam. Aber zunächst muß die Predigt von ihrer Anbetung abbringen, ein Bildersturm hat hingegen zu unterbleiben. Durch die päpstlichen Fastenregeln darf man sich nicht zwingen lassen, gleichzeitig gilt aber die Rücksicht auf den Schwachen. Am heftigsten reagierte Luther auf eine zwangshafte Abendmahlspraxis, bei der die Hostie in die Hände genommen werden mußte. Zwar entsprach das derursprünglichen Stiftung, würde man aber daraus jetzt einen Zwang machen, wollte er aus Wittenberg fortgehen, denn das konnten viele Gewissen nicht verkraften. Das gleiche galt für den verbindlich gemachten Empfang von beiderlei Gestalt. Das mußte zunächst frei bleiben. Es war ihm damit äußerst ernst. Bei etwaigem Zwang im Zusammenhang mit der Abendmahlsgabe hätte ihn all sein Beginnen reuen müssen. Das Abendmahl war doch gerade für die Angefochtenen da. Darum sprach er sich jetzt zunächst auch für die Unterlassung der bisher befohlenen Osterkommunion aus. Die Liebe gegen den Schwachen erfährt ihre tiefste Begründung durch ihre Entsprechung zu Gott, der »der glühende Backofen voller Liebe« ist. Auch von der Beichte soll aller Zwang ferngehalten werden, so wünschenswert die Aufrichtung einer rechten Kirchenzucht sein mochte. Gleichwohl wird sie warm empfohlen. Wer mit dem Teufel zu tun hat, wird sie wie Luther dankbar gebrauchen, der ohne sie längst vom Teufel erwürgt worden wäre. Die Invokavitpredigten machten einen tiefen Eindruck. Nach dem späteren Urteil eines Augenzeugen, vielleicht Johann Agricolas, hatte Luther mit unüberbietbarer Beredsamkeit, Ernst und Eifer gesprochen und sich dabei selbst übertroffen. Ähnlich berichtet der damalige Wittenberger Student J oachim Camerarius. Die herbeigeströmte Wittenberger Gemeinde fügte sich sogleich wieder der Autorität Luthers 4 • Aufseufzend konnte Hieronymus Schurf feststellen, daß sie aus ihrer Verirrung wieder auf den rechten Weg gebracht wurde. Für ihn war es Gott, der Luther wieder nach Wittenberg zurückgeschickt hatte 5 • In einem Brief des Nürnberger Studenten Hieronymus Paumgartner spürt man, daß Luthers heftige Kritik samt der Rückgängigmachung der Neuerungen akzeptiert worden ist 6 . Am 30. März meldete Melanchthon knapp an Spalatin: »Hier sind alle Dinge gut wiederhergestellt durch Doktor Martinus.« Der Wittenberger Rat verehrte dem Zurückberufenen außer Bier und Wein auch Tuch für eine neue Kutte?

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Luther selbst fühlte sich keineswegs als der selbstverständliche Sieger, sondern in einen Tumult, ja in einen Kampf mit dem Satan versetzt. Daß er alsbald wieder alle Hände voll zu tun hatte, ja überbeschäftigt war, klingt fast in jedem seiner Briefe an, und das sollte sich so schnell auch nicht mehr ändern. Dem Pfarrer Nikolaus Hausmann in Zwickau teilte er in kurzen Zügen die Gedanken der Invokavitpredigten mit, damit er in seiner Verkündigung sich seinerseits daran orientiere 8 • In der Gefährdung seiner persönlichen Sicherheit konnte er sich nur dem Schutz Gottes 9 anvertrauen, und das machte ihn dann doch beherzt und selbstbewußt. Charakteristisch ist ein Brief an Johann Lang in Erfurt vom 28. März lO : Er erkennt zwar dessen Gründe für den Austritt aus dem Kloster an, hätte es aber doch lieber gesehen, wenn er um des Ärgernisses willen darauf verzichtet hätte. Luther konnte die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß viele aus sehr vordergründigen Motiven die Klöster verließen. Ebenso machte es ihm zu schaffen, daß von der verwandelnden Kraft des Wortes bei den Hörern so wenig zu spüren war, eine Anfechtung, mit der noch mancher reformatorische Prediger fertig werden mußte. Nicht ganz unnötig war die etwas spätere Mahnung an die Erfurter, die Wittenberger Unruhen nicht mitzumachen. Bald nach seiner Rückkehr waren Luther zwei pathetisch für seine Sache sich einsetzende Flugschriften des Ritters Hartrnut von Cronberg in die Hände gekommen, die ihm in seiner bedrängten Situation offensichtlich wohl taten. Er richtete darauf noch im März ein Sendschreiben an ihn, das all denen galt, »so von wegen des Wortes Gottes Verfolgung leiden«ll. Sein Gegenüber brachte Luther dazu, offener und ausführlicher als sonst über seine Befürchtungen und Hoffnungen zu sprechen: Gerade die, die es treibt, das Wort auszubreiten, ziehen sich Verfolgung und Kreuz zu. Aber sie sind gewiß, daß auf den Tod die Auferstehung folgt, und darin besteht ihre Überlegenheit über ihre Gegner und deren »strohener und papierener Tyrannei«. Ohne Namensnennung meinte Luther damit u. a. Herzog Georg, die» Wasserblase«, der dem Evangelium abgesagt habe. Weil Cronberg in einem späteren Druck den Namen einsetzte, hatte das noch Folgen. Schlimmer als die Angriffe der Gegner hatten Luther die Vorgänge in Wittenberg getroffen. Er überlegte, ob sie nicht eine Strafe waren für den Unglauben seiner Gönner- Cronberg nannte hier später ausdrücklich den sächsischen Kurfürsten - und dafür, daß Luther selbst aus Rücksicht auf seine Freunde nicht noch mutiger vor den Tyrannen bekannt hatte. Man spürt, in welchen Anfechtungen über sein ganzes Verhalten Luther sich befand. Aber er blieb darin nicht stecken. So wenig man sich auf die guten Werke verlassen soll, so wenig soll man wegen der Sünde verzagen. Der lebendige, auferweckte Christus ist ein Herr über Sünde und Unschuld und hält die Treue. Darum braucht man sich vor keiner Macht und schon gar nicht vor dem Papst zu fürchten, dessen Mittel mit einer mit klappernden Erbsen gefüllten Schweinsblase, also einem harmlosen Narrenspielzeug, verglichen werden. Mit der Verschmähung des Evangeliums hatte in Worms die Gegenseite die eigentliche Sünde auf die deutsche Nation geladen. Luther befürchtete, daß ihr deshalb die Verstockung drohte, und das wäre schlimmer als alle Sünde. Sein Trost war, daß es dennoch die wahren Glaubenden gab, die sich nicht nur an ihm, sondern an Christus selbst orientierten.

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Sein Gebet galt diesem Glauben, dem mutigen Bekenntnis und der Abwendung der Schuld von der deutschen Nation, die sie mit der Verfolgung der Zeugen Gottes seit Huß auf sich geladen hatte. Wie man sieht, waren es mehr als die unmittelbaren Tagesprobleme, die Luther bedrängten und mit denen er glaubend fertig werden mußte. Durch den Druck des Sendschreibens wurde auch der Öffentlichkeit bekannt, was Luther für die Schicksalsfrage der Nation hielt. Die Invokavitpredigten hatte Luther nicht selbst zum Druck gegeben. Sie wurden erst 1523 in Speyer nach einer Nachschrift veröffentlicht. Wohl auf eine Anfrage des Kurprinzen Johann Friedrich hin faßte Luther seine damaligen Vorstellungen noch im März in der Flugschrift» Von beiderlei Gestalt des Sacraments zu nehmen und anderer Neuerung« zusammen, die dann im April erschien 12. Das Vorwort geht erneut auf die Anfechtungen durch den Papst, die eigenen Anhänger und schließlich die weltliche Gewalt in Gestalt Herzog Georgs von Sachsen ein. Das alles wird als Hinweis gedeutet, daß die eigene Sache eigentlich die Sache Gottes ist. Während Luther seine Wittenberger wegen der Neuerungen hart kritisiert hatte, argumentierte er nach außen zunächst von der christlichen Freiheit her. Normativ beim Abendmahl ist die Einsetzung Christi und nicht die Menschenlehre des Papstes. Der Christ ist ein Herr auch des Sabbats, wieviel mehr über die Menschengebote. Allerdings handelt es sich dabei um eine geistliche Freiheit, die im Gewissen besteht. Ihre Grenze findet sie in der Liebe. Konkret heißt das: Aus dem Anfassen von Hostie und Kelch soll man sich kein Gewissen machen. Die Menschengebote sind nicht verbindlich, auch wenn Luther bereit ist, sie zu respektieren. Die Hände, die die Hostie anfassen, sind auch nicht unheiliger als der Mund, der sie empfängt. Der Christ ist geheiligt durch dasselbe Wort, das auch das um des Christen willen gestiftete Sakrament heiligt. Dabei gibt es im Umgang mit dem Sakrament keinen Unterschied zwischen Laien und Pfaffen. Die Austeilung von beiderlei Gestalt entspricht der Einsetzung Christi, und dafür braucht man keine neuen Konzilsbeschlüsse abzuwarten, wie es das Mandat des Reichsregiments vom Januar 1522 so naiv gefordert hatte, daß man dem Hofnarren die Antwort hätte übertragen können. Wie am Anfang der Invokavitpredigten wies Luther aus tiefster Erfahrung darauf hin, daß sich der Glaube - zumal in der Stunde des Todes - auf Gottes Wort und nicht auf Menschengebote gründet. Wer die christliche Freiheit leugnet, leugnet Christus. Christi Schüler muß man letztlich sein, nicht der Luthers. Dieser erste Teil kam einem Plädoyer für die Berechtigung der Neuerungen ziemlich nahe. Daß Luther sich dann doch gegen sie aussprach, lag daran: »Es fehlet an Leuten, die dazu tauglich sind.« Das war ein Argument, das er auch später mehrfach vorbrachte, wenn es um Neuerungen ging. Das spezielle Problem, daß die Neuerungen in Wittenberg nicht ordnungsgemäß eingeführt worden waren, wollte er bewußt nicht ausbreiten, sondern nur begründen, warum die Änderungen noch nicht vorgenommen werden konnten. Die in die päpstlichen Gesetze verstrickten Gewissen waren einfach noch nicht so weit. Luther selbst hatte sich darum drei Jahre lang intensiv theologisch bemühen müssen. Die ganze Erörterung über einerlei oder beiderlei Gestalt im Abendmahl konnte zunächst zur gefährlichen Anfechtung für die schwachen Gewissen werden. »Böttcher müssen wir zuerst werden und neue

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Faß machen, ehe die Weinernte angeht.« Das lief einstweilen auf eine Enthaltung vom Abendmahl hinaus, während derer darüber informiert wurde; erst dann konnte man an neue Ordnungen denken. Dazu bedurfte es zuerst der geeigneten Prediger. Mit den für die Zwänge verantwortlichen Tyrannen mußte man streiten, mit den schwachen Gewissen hingegen liebevoll verfahren. In der Praxis, wie sie Luther nun vorsah, blieb nichts anderes übrig, als die Messe zunächst weiterhin bestehen zu lassen und über sie zu predigen. Die Priester sollten freilich stillschweigend und ohne die Laien zu informieren den Kanon und alle weiteren Anspielungen auf das Meßopfer auslassen, denn dabei handelte es sich nicht um eine beliebige Verkehrung. Hauptsächlich kam es auf die Predigt über die Einsetzungsworte an. Wo nur das Brot in der Kommunion gereicht wurde, sollte man das akzeptieren, wiewohl notfalls zu bekennen war, daß zum Abendmahl beiderlei Gestalt gehört. Luther belehrte die Gewissen ausdrücklich, wie sie mit diesem nicht von ihnen zu verantwortenden Notstand unter den gegebenen Umständen fertig werden konnten. Den Empfang von beiderlei Gestalt wollte er damit nicht verboten haben, nur sollte dies nicht in den normalen Meßgottesdiensten geschehen, bei denen auch die Schwachen zugegen waren. Man wird von daher schließen dürfen, daß es in Wittenberg nur gelegentlich Meßgottesdienste gab, bei denen beiderlei Gestalt gereicht wurde. Messen sollten nur noch gefeiert werden, wenn Kommunikanten da waren, am besten an bestimmten Tagen in der Woche oder im Monat. Aber selbst dies erzwang Luther zunächst mit Rücksicht auf die Irrenden nicht, nur die Zusammenlegung mancher Messen regte er an. Die Neuordnung des Gottesdienstes vom Januar war damit so gut wie rückgängig gemacht. Was Beichte, Bilder, Zölibat und Fasten anbetraf, blieb Luther auf der Linie der Invokavitpredigten. Der Bildersturm wurde trotz der mißbräuchlichen Bilder- und Heiligenverehrung scharf verworfen 13 • Die Priesterehe und der Austritt aus den Klöstern wurden freigegeben, obwohl dabei auch Mißbrauch der evangelischen Freiheit unterlaufen konnte. Viel lag daran, daß die, die aus den alten Bindungen heraustraten, das auch in ihrem Gewissen verantworten konnten. Die überaus konservative Zurückhaltung gegenüber den Neuerungen war tief begründet: An den Äußerlichkeiten lag nichts, sondern alles am innerlichen Erfassen des Evangeliums, das heißt der rechten Erkenntnis Christi, aus der der lautere Glaube und die wahrhaftige Liebe kommen. »Man muß je zuvor die Leute haben, die solche Freiheit haben sollen ... « Das eigentliche Medium der Reformation war zunächst das gepredigte Wort, nicht die Aktion. Konkret sprach sich Luther für eine Enthaltung von der alten Sakramentspraxis aus. Nur wer aus hungriger Seele, bedrücktem Gewissen und vertrauendem Glauben nach dem Sakrament verlangte, sollte kommunizieren. Eine weitere Voraussetzung war die Liebe gegen den Nächsten. Sie aber mußte erkennen, daß man kaum aus Babyion aufgebrochen und noch längst nicht daheim war. Das bedeutete, daß die Zeit für eine neue Ordnung des Gottesdienstes einfach noch nicht da war. Ausdrücklich stellte Luther am Gründonnerstag (17. April) der Gemeinde noch einmal die Osterkommunion frei 14. Angesichts der drohenden Verfolgung seiner Anhänger sah er sich noch zu einer abschließenden Bemerkung veranlaßt. Die offenbar vorkommende Ausrede, man halte es nicht mit Luther, son-

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dern mit dem heiligen Evangelium und der heiligen Kirche, hielt er für unstatthaft. Zwar war er nach wie vor gegen die Bezeichnungen lutherisch oder päpstlich, aber das durfte nicht auf eine Verleugnung des Evangeliums hinauslaufen. Dabei ging es nicht um Scharfmacherei. Ausdrücklich forderte er zur Fürbitte für die verstockten, blinden Feinde des Evangeliums auf, die sich gegen Gott setzten und damit die ganze deutsche Nation gefährdeten. Wie erwähnt, hatte Luther die Rücknahme der Neuerungen sogleich und fast völlig durchsetzen können. Selbst Gabriel Zwilling gab zu, über das Ziel hinausgeschossen zu sein, und änderte seine Einstellung. Lediglich Karlstadt gab sich nicht zufrieden und beharrte auf einer Durchsetzung der schriftgemäßen Reformen ohne Rücksicht auf die Anhänger des Alten. Aber er war weitgehend isoliert, und das Predigen, für das er eigentlich keinen Auftrag hatte, wurde ihm untersagt l5 • Er plante daraufhin eine literarische Auseinandersetzung mit Luther, von der ihn dieser privat abzubringen versuchte, weil er sich sonst seinerseits mit ihm anlegen müßte. Karlstadt scheint auch entsprechende Zusagen gemacht zu haben. Offensichtlich wollte er Luther nicht direkt angreifen, sondern seine Auffassung in einer gegen den Leipziger Professor Hieronymus Dungersheim gerichteten Schrift verteidigen, die sich im April bereits im Druck befand. Da verbot der Senat der Universität in Wahrnehmung seines Zensurrechts und ganz im Einklang mit dem Kurfürsten die Veröffentlichung 16. Karlstadt war auf diese Weise eine Auseinandersetzung unmöglich gemacht. Der Vorgang muß sich weithin hinter den Kulissen abgespielt haben, so daß man selbst in Wittenberg kaum etwas davon bemerkte 17 • Karlstadt übte weiter seine Lehrtätigkeit aus und war seit dem Sommer 1522 Dekan der theologischen Fakultät. Wie seine gelegentliche Erwähnung in den Korrespondenzen zeigt, war er keineswegs einfach kaltgestellt. Sofern er sich ruhig verhielt, war man bereit, ihn zu ertragen. Anfang 1523 äußerte sich Luther einmal ausgesprochen anerkennend über Karlstadts Vorlesungen. Daß die sachlichen Differenzen fortbestanden, war Luther bewußt l8 • Aber ernsthafte Probleme ergaben sich daraus zunächst nicht. Seit 1523 entfremdete sich Karlstadt freilich immer mehr der Universität und seinen Aufgaben an ihr. Der Konflikt zwischen ihm und Luther war eben nicht gelöst, sondern seine Austragung nur aufgeschoben. In Wittenberg insgesamt schienen die Verhältnisse wieder heil zu sein. Der Fall des Valentin Bader, der Luther samt dem Bürgermeister Christian Beyer beschimpft und aus der Stadt fortgewünscht hatte, wird eine Ausnahme gewesen sein l9 . »Hier ist nicht mehr denn Lieb und Freundschaft«, konnte Luther Spalatin am 10. Mai melden 2o • Aber solche uneingeschränkt positiven Urteile sind selten. Zwar grünte der Feigenbaum, aber von Früchten war zunächst wenig zu sehen 21 , obwohl Luther in seinen Predigten neben dem Glauben weiter die Liebe einschärfte 22 • Er konnte dabei sehr konkret werden und sprach nicht selten am Schluß aktuelle Mißstände und Probleme in der Stadt an. Die Christen sollten die Schande des Nächsten bedecken, z. B. eine Jungfrau der Hure ihren Kranz aufsetzen 23 • 1524 mahnte er die Zünfte, auch unehelich Geborene aufzunehmen. Diese könnten nichts für ihren Makel und gehörten zur christlichen Bruderschaft. Die Berufung auf alten Brauch und wirtschaftliche Interessen ließ er nicht gelten 24 . Anfang Au71

gust 1522 äußerte er die Erwartung, daß die Wittenberger nunmehr im Evangelium wohlgegründet seien und darüber Bescheid wüßten 25 . Verdruß und Frustrationen blieben freilich nicht aus. Bei der Durchsetzung der Sittenzucht vermißte Luther die nötige Unterstützung 26 . Am Palmsonntag 1523 klagte er, wie wenig die Liebe der Christen der im Abendmahl sich ausdrückenden Hingabe Christi entsprach 27 . Das Evangelium brachte nur bei wenigen Frucht, die anderen besserten sich nicht. Die tägliche Predigt bewirkte nichts. »Ungnad ist bei euch, je länger ich euch predige, je ärger wird es mit Fressen, Saufen und allen Sünden.« Luther mußte darauf hinweisen, daß die Schwachheit kein Dauerzustand bleiben durfte. Und doch hatte man es zu akzeptieren, daß Christi Reich ein Spital mit lauter Grindigen, Schäbigen, Gebrechlichen und Kranken ist, die auf Hilfe angewiesen sind 28 . Luther durfte es sich nicht verdrießen lassen, die ausbleibende Nächstenliebe beharrlich anzumahnen 29 . Obwohl die befreiende Predigt des Evangeliums nicht selten Laxheit im Gefolge hatte, durfte man nicht in die frühere Gesetzlichkeit zurückfallen; sie auszuüben, war Sache der Obrigkeit 30 . Ein permanentes Dilemma der evangelischen Kirche kam bereits hier in den Blick. Hinter der Rücksicht auf die Schwachen konnte sich auch die Ablehnung der evangelischen Freiheit verbergen, was ebenso problematisch war wie deren rücksichtslose Praktizierung. An sich sollte das Sakrament im Glauben frei und zugleich in der Liebe gegenüber dem Nächsten dienstbar machen3!. Nichtsdestoweniger bezeugt Luther, daß er der Gemeinde gern mit dem Predigen dienen will. Das kritische Richteramt sollte nach der gemeinsamen Gewissensüberzeugung ausgeübt werden 32 . Eine durch die Reise nach Magdeburg bedingte Unterbrechung seiner Predigttätigkeit in der zweiten Junihälfte 1524 begründete Luther damit, »daß je mehr ich predige, desto größer wird die Gottlosigkeit«. Rechtes Predigen, das die Gewissen befreite, Leib und Fleisch hingegen strafte, war eine große Kunst 33 . Schon in den ersten Jahren mußte der Reformator selbst es erfahren, daß der Aufbau evangelischer Gemeinden mittels der Predigt nicht leicht werden würde. Er stellte sich dieser Aufgabe insgesamt mit beharrlicher Geduld. Im Mai 1523 schrieb der Wittenberger Student Wolfgang Schiver an Beatus Rhenanus: »Mit wieviel Geist Luther das Evangelium Christi predigt, können nur ganz geistreiche Menschen ermessen, die gegenüber der Weisheit Christi die menschliche für Torheit halten.«34 Wie genau man es mit der Predigtaufgabe auch im Umkreis Luthers nahm, davon zeugen die zahlreichen Anfragen des im Frühjahr zusätzlich zum Hofprediger und Hofkaplan des Kurfürsten ernannten Spalatin wegen der Auslegung bestimmter Bibelstellen. Man hat bisher nicht erkannt, daß es sich dabei meist um die Predigttexte eines der folgenden Sonntage handelte und sich Spalatin mithin häufig des Rates Luthers bei seiner Predigtvorbereitung bediente. Gesundheitlich hat Luther die Jahre nach der Rückkehr trotz der ständig bemerkbaren Überlastung erstaunlich gut durchgestanden. Lediglich Ende April 1523 erwähnt er ein Leiden, das er sich im Bad zugezogen habe, und verbindet das mit der Sehnsucht nach Erlösung. Einen Monat später war er wieder gesund, fühlte sich aber durch die vielen Aufgaben ausgelaugt 35 .

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2. Die Bemühungen um die Wahl evangelischer Prediger und Pfarrer Luthers Beziehungen gingen über sein Amt als Wittenberger Prediger selbstverständlich hinaus. So beriet er seine Freunde Nikolaus Hausmann in Zwickau und Johann Lang in Erfurt über das rechte reformatorische Vorgehen. Eine Einladung nach Erfurt lehnte er wegen der Gefahr für seine Person Ende März allerdings ab!. Mitte April 1522 erreichte Luther eine doppelte Bitte vom Rat der Stadt Altenburg. Dieser hatte entsprechend seinen Rechten dem durch das Augustinerchorherrenstift auf dem Berge bestellten katholischen Prediger gekündigt und bat Luther um einen geeigneten Kandidaten. Außerdem sollte er selbst möglichst bald in Altenburg predigen, um den Leuten den Argwohn gegen die evangelische Verkündigung zu nehmen 2 • Aus Borna scheint er eine ähnliche Einladung bekommen zu haben 3 • So unternahm Luther etwa vom 25. April bis 6. Mai eine größere Predigtreise in die Städte Borna, Altenburg, Zwickau und Torgau, die neben Wittenberg wichtige Zentren der frühen Reformation in Kursachsen waren. Weil er dabei auch das Gebiet Herzog Georgs durchqueren mußte, was nicht ungefährlich war, reiste Luther in weltlicher Kleidung 4 • Möglicherweise geschah dies in einer gewissen Analogie zu den Visitationen, die der Bischof von Meißen Anfang April in Herzberg, Torgau, Schmiede berg , Lochau, Colditz und Leisnig vorgenommen hatte, um derreformatorischen Bewegung zu begegnen 5• Aber nur in Torgau überschnitt sich Luthers Reiseroute mit der des Bischofs. Nichtsdestoweniger nahm Luther damit eine eigenartige, über Wittenberg hinausgehende Aufgabe zur Stabilisierung der Reformation wahr. Die meisten Predigten dieser Reise sind erhalten 6 . Sie behandelten wie häufig bei diesen Gelegenheiten die Grundfragen des evangelischen Glaubens und der Rechtfertigung aus ihm: das richtende Gesetz und das tröstende Evangelium sowie die guten Werke, die dem Nächsten zu erweisen sind, womit dem gängigen Vorwurf entgegengetreten wurde, Luther verbiete die guten Werke. Ausdrücklich bejahte Luther immer wieder das allgemeine Priestertum, das freilich abgesehen von der brüderlichen Tröstung nicht eigenmächtig praktiziert werden durfte. In Zwickau behandelte er darüber hinaus die Themen Ehe, die dort in Frage gestellte Kindertaufe und das Gebet für die Verstorbenen. Der Andrang der Zuhörer, die u. a. auch aus Schneeberg und Annaberg kamen, war so groß, daß Luther einmal von einem Fenster des Rathauses aus der Menge auf dem Markt predigen mußte. Der Rat honorierte die Unterstützung gegen die Zwickauer Schwärmer mit zehn Gulden. Ein aufwendiges Gastmahl zu Luthers Ehren war diesem geradezu lästig 7 • Auf der Rückreise gab der Tag der Kreuzerfindung (3.Mai) Anlaß, in Borna über Bilder, Reliquien und das Leiden als das rechte Kreuz der Christen zu predigen. Das Evangelium vom guten Hirten am Sonntag Misericordias Domini bot Gelegenheit, die eigentliche Aufgabe der Bischöfe und ihrer Offiziale, die sich am Evangelium zu orientieren hatten, anzusprechen. Von der Predigt in Torgau wohl am 6. Mai ist nur bekannt, daß zu ihr auch die Einwohner der umliegenden Dörfer durch kurfürstliche Boten eingeladen wurden 8 • 73

Schon am 11. und 12. Mai war Luther erneut unterwegs, diesmal in Eilenburg 9 , wo Zwilling Anfang des Jahres mit seinen Predigten erhebliches Aufsehen erregt hatte. Der dortige Rat zögerte nunmehr mit der Berufung eines von einem Teil der Gemeinde gewünschten evangelischen Predigers. Der Kurfürst sollte mit einer entsprechenden Aufforderung nachhelfen. Das wurde interessant begründet: Es ist Sache des Fürsten als eines christlichen Bruders, den Wölfen entgegenzutreten und für das Heil seines Volkes besorgt zu sein. Das Patronat der Pfarrei hatte der Propst auf dem Petersberg bei Halle inne, von dem ein Entgegenkommen nicht zu erwarten war. Deshalb bedurfte es in diesem Fall der Rückendeckung des Kurfürsten, die bereits mit ähnlichen Formulierungen erbeten wurde wie später die Übernahme des landesherrlichen Kirchenregiments. Tatsächlich konnte alsbald der aus Magdeburg wegen seiner Heirat vertriebene Andreas Kauxdorff in Eilenburg als Prediger Fuß fassen 10. Normalerweise sollte die Einsetzung evangelischer Prediger und Pfarrer nach Luthers Vorstellungen durch die Wahl der Gemeinden erfolgen. Es kann darum keine Rede davon sein, daß er ein Gegner einer von den Gemeinden ausgehenden Reformation gewesen sei, was ihm wegen der Sistierung von Karlstadts Reformen immer wieder unterstellt wird. Das wird zunächst am Beispiel Altenburgs deutlich. Luther hatte dorthin schon am 17. April Gabriel Zwilling empfohlen. Er wußte, daß das ein riskanter Vorschlag war. Zwilling war ein ausgetretener Mönch, der zudem durch seinen Anteil an den Wittenberger Unruhen belastet war. Immerhin hatte er sein Fehlverhalten eingestanden. Luther schärfte ihm jetzt maßvolles Verhalten und geziemende priesterliche Kleidung um der Schwachen willen ein 11. In dem Streit um die Besetzung der Altenburger PredigersteIle zwischen der Gemeinde und dem Stift hatte eine kurfürstliche Schiedskommission die Entscheidung zu treffen. Für die Verhandlungen mit ihr entwarf Luther bei seinem Aufenthalt in Altenburg am 28. April eine Instruktion l2 : Die Gemeinde wolle die falschen Propheten und den alten Sauerteig - gemeint war der altgläubige Prediger - nicht mehr dulden. Sie nehme dabei das an sich einem jeden Christen zustehende Recht für sich in Anspruch, über die Verkündigung zu urteilen, nachdem das Stift die PredigersteIle nicht mit einem rechten Prediger besetzt hatte. Zwilling predigte bereits vor seiner Anstellung am 4. Mai in Altenburg zur Zufriedenheit der Gemeinde. Dann aber erhob der Kurfürst gegen ihn wegen seiner Beteiligung an den Wittenberger Unruhen Einwände, und die Altenburger mußten Luther bitten, diese zu zerstreuen. Luther drang jedoch beim Kurfürsten nicht durch 13. Er ließ ihn daraufhin wissen, daß er Zwilling für ordentlich berufen halte und die Befürchtungen des Kurfürsten nicht teile. Die weitere Entscheidung lag beim Hof l4 . Damit war es zu einer der damals gar nicht seltenen Meinungsverschiedenheiten zwischen Luther und dem Hof gekommen, mit denen beide Seiten leben mußten. Spalatin konnte Ende Juni Wenzeslaus Linck, den bisherigen Vikar der Augustinereremiten, als Prediger für Altenburg gewinnen, was gewiß keine schlechte Lösung war. Luther war dennoch gegen die Entfernung Zwillings aus Altenburg, zumal er befürchtete, Linck werde dort nicht lange bleiben 15. Am 26. Juli 1522 schrieb Luther an Spalatin: Überall dürstet man nach dem Evangelium. Von allen Seiten erbittet man von uns Evangelisten 16. Die Frage der Beset-

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zung der Predigerstellen war für Luther damals mehr als ein beiläufiges administratives Problem. Sie hing wesentlich mit seinen Vorstellungen vom allgemeinen Priesterturn, verstanden auch als ein allgemeines Predigtamt, zusammen, die in seinen Predigten immer wieder anklangen. Unter extremen Umständen konnte sich Luther sogar eine Predigttätigkeit der Frau vorstellen. Eine eigenmächtige Usurpierung des Amtes lehnte er freilich ebenso wie zuvor im Falle Karlstadts ab 17 • Für die Beurteilung der kirchlichen Lehre war jeder Christ zuständig 18 . Nicht zuletzt die damaligen Predigten über den 1. Petrusbrief gaben Luther Gelegenheit, sich über das allgemeine Priestertum und das Wahlrecht der Gemeinde zu äußern 19. Geradezu zu einem Musterfall ist die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in der zwischen Leipzig und Dresden gelegenen Stadt Leisnig geworden. Luther reiste aufgrund mehrfacher Einladung am 25. September 1522 dorthin 20. Der Anlaß der Reise läßt sich nur aus dem weiteren Fortgang erschließen: Am 25. Januar 1523 sandte die Leisniger Gemeindeversammlung zwei Vertreter, unter ihnen den Adligen Sebastian von Kötteritzsch, zu Luther, die ihm das Vorhaben der Aufrichtung eines gemeinen Kastens, der schriftgemäßen Berufung eines Pfarrers und der Einführung einer Gottesdienstordnung vorgetragen und von ihm, »dem Vater und Wiederbringer göttlicher evangelischer Wahrheit«, darüber einen schriftlichen Ratschlag einholen sollten 21 . Die Anfrage entspricht bereits derart den Vorstellungen Luthers, daß sie vermutlich aufgrund der Erörterungen bei seinem Besuch in Leisnig formuliert wurde. Das Patronatsrecht in Leisnig besaß das Zisterzienserkloster Buch, das die Pfarrei mit einem seiner Mönche besetzt hatte. Luther erfüllte die Bitte der Gemeinde mit drei Schriften. Spätestens im Mai 1523 erschien »Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift«22. Das Kennzeichen einer christlichen Gemeinde ist die lautere Predigt des Evangeliums, die nicht ohne Frucht bleiben kann und Christen gewinnt. Hingegen gehören Bischöfe, Stifte und Klöster nicht unbedingt zur christlichen Gemeinde, weil sie möglicherweise dem Evangelium nicht den ihm zukommenden Platz einräumen. Die Rechtsordnung der Gemeinde richtet sich nicht nach menschlichen Gesetzen, mithin auch nicht nach dem Kirchenrecht, sondern nach Gottes Wort. Sorgfältig wird begründet, daß die Schafe Christi das Recht und die Pflicht haben, über die Lehre, einschließlich falscher Prophetie, zu urteilen, und das bedeutet die Ablehnung der Weisungen der katholischen Bischöfe oder Äbte. Die Gemeinde bedarf der Prediger, die ihr das Wort Gottes verkündigen. Weil die Bischöfe das nicht tun, ist die Gemeinde berechtigt, geeignete, erleuchtete und begabte Personen selbst zu berufen und einzusetzen; dazu qualifiziert sie das allgemeine Priestertum. Ausdrücklich wird aber festgehalten, daß es zur Ausübung des Amtes der Berufung durch die Gemeinde bedarf. Dabei ist ein Zusammenwirken von Bischof und Gemeinde grundsätzlich nicht ausgeschlossen, sondern nur derzeit nicht realisierbar. An sich läßt sich Luthers Gemeindeprinzip so wenig gegen das Leitungsamt ausspielen wie das allgemeine Priestertum gegen das Predigtamt. Das Predigtamt selbst ist für Luther das höchste Amt in der Christenheit, das auch über dem der Sakramentsspendung steht. Tatsächlich wählte die Leis-

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niger Gemeinde kurz vor oder nach der Abfassung von Luthers Schrift, die diesen Schritt möglicherweise erst bestätigen sollte, den Pfarrer und Prediger, wobei das Pfarramt offensichtlich erneut dem bisherigen Amtsinhaber und ehemaligen Zisterzienser Heinrich Kind übertragen wurde. Den Protesten des Abtes von Buch gab die kurfürstliche Regierung nicht statt 23 • Die Schrift» Daß ein christliche Versammlung ... « erfuhr noch im Jahr 1523 eine weite Verbreitung. Das Verlangen nach der freien Wahl des Pfarrers durch die Gemeinde, die die Verkündigung des Evangeliums sicherstellen sollte, wurde in vielen Orten aufgenommen und begegnet dann 1525 auch in den Forderungen der Bauern nicht selten an erster Stelle. Mit dem Vorschlag der freien Pfarrwahl hat Luther in breiten Kreisen der Gemeinden rasch starke Resonanz gefunden, so daß sich daran geradezu die Stärke der Reformationsbewegung von unten ablesen läßt. Daß die Verwirklichung dieser Idee später weithin scheiterte, gehört zu den unglücklichen Entwicklungen der Reformationsgeschichte. Die »Ordnung eines gemeinen Kastens« war von der Gemeinde Leisnig selbst entworfen und Luther vorgelegt worden, der sie spätestens im Juni 1523 mit einem eigenen Vorwort herausgab 24 • Sie erwähnte gleichfalls das Recht der Pfarrwahl für die Gemeinde und verpflichtete die Familien zum Hören von Gottes Wort und zur Einhaltung seiner Gebote. Ihr eigentlicher Inhalt war die Aufrichtung des gemeinen Kastens, in dem die Einnahmen der Pfarrei, der Kirche, der Meßstiftungen, Bruderschaften, Almosen und Testamente vereinigt werden sollten. Die Verwaltung sollte durch zwei Erbarmannen (Adlige), zwei Ratsmitglieder , drei Bürger und drei Bauern erfolgen. Über die Geschäftsführung wurden genaue Bestimmungen getroffen. Wie schon in den früheren Wittenberger Ordnungen wurden Ausgaben für fremde Bettler abgelehnt. Der Kasten hatte aufzukommen für Pfarrer, Prediger und Kaplan, Küster, Schulmeister, gebrechliche und alte Arme, arme Waisen und gelegentlich auch für Fremde, ferner für die Unterhaltung der kirchlichen Gebäude und die Vorratshaltung von Lebensmitteln. Luther war mit der Ordnung einverstanden und rühmte sie als beispielhaft. Eine sachgemäße Neuordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Kirche, bei der die Verschleuderung ihres Besitzes vermieden wurde, hielt er für unumgänglich. Er ging darauf jedoch nicht konkret ein, sondern machte sich hauptsächlich Gedanken über die Verwendung des Klosterguts. Die Klöster sollte man eingehen lassen, ohne jedoch Zwang auf die Insassen auszuüben. Die Verwaltung der Klöster sollte die Obrigkeit übernehmen, die die Insassen unterhalten, die Austretenden ausstatten und die restlichen Einkünfte dem gemeinen Kasten zukommen lassen sollte, sofern nicht die einstigen Stifter berechtigte Ansprüche erheben konnten. Luther war klar, daß eine gerechte Regelung nicht leicht sein würde und nur in christlicher Liebe getroffen werden konnte. Besonders verfahren mußte man mit den gegen eine Grundrente verliehenen Gütern, da sich hier die Kirche möglicherweise am verbotenen Wucher beteiligt hatte. Die Bettelklöster in den Städten sollte man zu Schulen machen, den übrigen klösterlichen Besitz zu städtischen Häusern. Es wird hier sichtbar, wie das Aufgreifen einzelner konkreter Reformaufgaben alsbald vor die Aufgabe einer umfassenden Neuordnung stellte.

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Die Vorschläge der gleichfalls für Leisnig verfaßten Schrift» Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeine«25 sind später im Zusammenhang mit der Gottesdienstreform zu behandeln. Zunächst ist nur festzuhalten, daß es dabei in erster Linie um die Wiederherstellung der Predigt des Wortes Gottes ging. In Leisnig kam es zwar alsbald zur Abschaffung der Messe, aber die Durchführung der Kastenordnung stieß auf Schwierigkeiten 26 . Merkwürdigerweise lehnte der Rat, der doch bei der Erstellung der Kastenordnung beteiligt gewesen sein muß, die Abtretung seines bisherigen Verfügungsrechts über Stiftungen, Testamente und Gottesgaben an den gemeinen Kasten ab. Vielleicht bestanden hierbei Spannungen zwischen den Adligen in der Gemeinde und dem Rat. Dieser Fall, daß der bürgerliche Magistrat seine kirchlichen Kompetenzen nicht an ein selbständiges Gremium abtreten wollte, sollte sich später häufig wiederholen. So mußte der Kurfürst entscheiden. Auch Luther wurde erneut eingeschaltet und reiste deswegen im August 1523 wieder nach Leisnig. Er fand den Rat völlig abgeneigt, die Änderungen vorzunehmen, wodurch der Kasten mit seinen Zahlungsverpflichtungen vor allem hinsichtlich der Besoldung des Predigers in Schwierigkeiten kam. Luther beschwor deshalb den Kurfürsten in zwei Briefen, die Kastenordnung in Kraft zu setzen 27 . Aber dieser verschob auch in diesem Fall die Entscheidung. Im November 1524 monierte Luther bei Spalatin, daß der Prediger Tilemann Schnabel sich deshalb in großer Not befand. Ähnliche Schwierigkeiten gab es mit dem gemeinen Kasten in Kemberg bei Wittenberg 28 • Faktisch gewann dann auch in Leisnig der Rat den entscheidenden Einfluß auf die Verwaltung des Kastens. Daß Luther bei der Besetzung der Pfarr- und Predigerstellen ursprünglich vom Wahlrecht der Gemeinde ausging, beweist schließlich das Beispiel Wittenbergs 29 . Im Sommer war der bisherige Pfarrer an der Stadtkirche, Simon Heins, gestorben. Die Besetzung der Pfarrstelle stand dem Allerheiligenstift zu. Die in der Mehrzahl altgläubigen Stiftsherren boten sie zunächst befristet auf ein Jahr dem Theologieprofessor Nikolaus von Amsdorff an, wohl um mit einer Zwischenlösung Zeit zu gewinnen. Alsbald gab es auch Meinungsunterschiede zwischen dem Stadtrat und dem Stift über die künftige Besoldung des Pfarrers. Vermutlich auf Betreiben Luthers zog Amsdorff seine ursprüngliche Zusage zurück. Luther und der Rat setzten dem Stift nunmehr eine kurz bemessene Frist für die Besetzung der Pfarrstelle, andernfalls würden sie diese wie auch die Besoldungsfrage in eigene Hände nehmen. Das Stiftskapitel brachte darauf Luther selbst ins Gespräch, und als dieser wegen Arbeitsüberlastung ablehnte, schlugen sie ihm gegenüber den kurz zuvor nach Altenburg berufenen Wenzeslaus Linck vor, der aber dort eine besser besoldete Stelle innehatte. Der Rat wählte »nach der evangelischen Lehr Sancti Pauli« ohne Einvernehmen mit dem Stift, aber sichtlich im Einverständnis mit Luther Johannes Bugenhagen, der kurz zuvor sich in einem Schreiben an die Universität sehr kritisch über den altgläubigen Gottesdienst im Allerheiligenstift geäußert hatte 3o • Bugenhagen erbat sich zunächst Bedenkzeit. Danach stellte ihn Luther ohne weitere Rückfrage beim Rat in der zweiten Oktoberhälfte der Gemeinde als Pfarrer vor und bestätigte ihn in seinem Amt.

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Diese Besetzung sollte sich als ein Glücksfall erweisen, Bugenhagen, 1485 in Wollin in Pommern geboren und deshalb häufig Pomeranus genannt, war 1504 Rektor an der Stadtschule in Treptow geworden und stand zunächst dem frommen Humanismus nahe (Tafel V). Ende 1520 dürfte er sich, beeindruckt durch Luthers Schriften, der Reformation zugewandt haben, und im April 1521 ließ er sich an der Wittenberger Universität immatrikulieren 31. Noch im selben Jahr begann er mit seinen geschätzten exegetischen Vorlesungen und wurde bald neben Melanchthon zu einem der wichtigsten theologischen Lehrer. Zunächst gab es allerdings für ihn keine Mensa. Luther bemühte sich bei Spalatin um eine Stelle für ihn, da er ihn in Wittenberg halten wollte. Der Zustand, daß Bugenhagen für seine Vorlesungen gegen den sonstigen Wittenberger Brauch Honorar verlangen mußte, war nicht lange haltbar 32 • Seine Berufung zum Wittenberger Pfarrer war freilich keineswegs eine Verlegenheitslösung. In seinem Vorwort zu Bugenhagens Psalmenauslegung von Anfang 1524, die Luther der Vollendung seiner steckengebliebenen ))üperationes in Psalmos« enthob, präsentierte dieser den Freund als Bischof der Wittenberger Kirche 33 • Wie Bugenhagen seine Aufgabe als Pfarrer und damit auch als Seelsorger Luthers sowie als Universitätslehrer und darüber hinaus als Kirchenorganisator ausfüllte, wird später zu zeigen sein. Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, daß Luther gegebenenfalls auch andere Wege bei der Besetzung von Pfarrstellen einschlagen konnte. Er war nicht unbedingt auf die Wahl der Gemeinde fixiert, wie schon die gelegentliche Einschaltung des Kurfürsten zeigt. Ende 1522 wünschte der Graf Johann Heinrich von Schwarzburg als Patron die Pfarrei Leutenberg, die sein Vater den dortigen Dominikanern übergeben hatte, mit einem Anhänger der Reformation zu besetzen. Luther hielt einen solchen Schritt erst dann für berechtigt, wenn die Dominikaner die evangelische Verkündigung verweigerten. In diesem Fall durfte der Patron den Wolf aus dem Schafstall jagen 34 .

3. Luther und die Böhmen Die Ausstrahlung Luthers war zu keinem Zeitpunkt nur auf Kursachsen beschränkt. Vom sachlichen Zusammenhang her empfiehlt es sich, zunächst auf seine Beziehungen zu den Böhmen einzugehen. Im Widerspruch gegen die Verurteilung der Ekklesiologie von Johann Huß durch das Konstanzer Konzil und in der Forderung von beiderlei Gestalt im Abendmahl bestanden Gemeinsamkeiten zwischen Luther und den böhmischen Hussiten, die zu direkten Kontakten führten 1. Die Hussiten ware,n damals keine Einheit. Luther hatte sowohl Beziehungen zur utraquistischen Kirche wie zu den sog. böhmischen Brüdern 2 • Mit Bedacht widmete er die lateinische Fassung seiner Schrift gegen Heinrich VIII. von England am 15. Juli 1522 dem in Westböhmen begüterten, gegenüber der Reformation aufgeschlossenen Grafen Sebastian Schlick 3. Geschickt bezog er sich auf das frühere Gerücht, er sei von Worms nach Böhmen zu den dortigen Ketzern geflüchtet, das auch Heinrich VIII. aufgegriffen hatte. Luther teilte die Verurteilung der Böhmen durch den

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Papst nicht, obwohl er auch nicht alles bei ihnen billigte und von den vorhandenen Spaltungen wußte. Mit seiner Schrift wollte er den angeblichen »Besuch« bei den Böhmen nachholen. Die Widmung dürfte nicht ohne Hintergedanken gewesen sein. Im Juni 1522 hielt König Ludwig von Böhmen einen Landtag in Prag ab, der sich um die kirchliche Wiedervereinigung mit Rom bemühen sollte. Deshalb richtete Luther ebenfalls am 15. Juli ein Schreiben an die Böhmischen Landstände 4. Er ließ sie wissen, daß er, entgegen seiner früheren Auffassung, inzwischen den Ungehorsam der Böhmen gegenüber Rom billige und eine Vereinigung der Böhmen und Deutschen in evangelischem Sinn trotz noch bestehender Differenzen erhoffe. Die Böhmen konnten ihre eigenen Spaltungen nicht durch eine Vereinigung mit der papistischen Sekte des Verderbens überwinden, sondern nur durch die Predigt des reinen Evangeliums, für die die Stände sorgen sollten. Würde die Vereinigung mit Rom nicht aufzuhalten sein, so sollte wenigstens weiter erlaubt sein, daß das Abendmahl in beiderlei Gestalt gereicht wurde und die Verdammung der Lehrsätze von Huß und Hieronymus von Prag unterblieb. Ein Nachgeben käme hier der Verleugnung Christi gleich, und das wäre schlimmer als alle derzeit bei ihnen bestehenden Schäden. Im Sommer 1523 kam der utraquistische Geistliche Gallus Cahera nach einem Streit mit seiner Gemeinde Leitmeritz nach Wittenberg und hielt sich dort mehrere Monate auf. Er veranlaßte Luther, zu einem der schwierigsten Probleme der Utraquisten Stellung zu nehmen. Diese hielten an der Priesterweihe fest, hatten jedoch keine Bischöfe, die sie vollziehen konnten, sondern nur Administratoren an der Spitze ihres Prager Consistoriums. Priesterkandidaten mußten sich also außerhalb Böhmens, meist in Italien, gegen entsprechende Geldleistungen weihen lassen, wobei sie oft eidlich auf die Spendung von nur einer Gestalt in der Messe festgelegt wurden, was zur üblen Folge hatte, daß sie dieses Versprechen dann zu Hause widerrufen mußten. So mußte sich Luther auch gegenüber den Böhmen» Über die Einsetzung der Kirchendiener« (De instituendis ministris)5 äußern. Er riet zum Verzicht auf die papistische Priesterweihe. Sie war nur auf die Weihe von Meßpriestern und Beichtigern ausgerichtet, nicht auf das Amt des Worts, das die göttlichen Geheimnisse auszuteilen hatte. Dazu bedurfte es der Berufung durch die Gemeinde oder auch die Obrigkeit, nicht eines angeblichen Sakraments der Weihe, das den Priester qualifizierte und damit die Taufe geringachtete. Das Meßopfer als Aufgabe dieser Priester war angesichts des einmaligen Opfers Christi eine Perversion. Das sollte gerade in Böhmen begriffen werden. Positiv ging Luther von der Unterscheidung aus zwischen allgemeinem Priestertum aufgrund der Taufe und kirchlichem Amt, zu dem man berufen wird. Die Aufgaben des Priesters, d. h. aller Getauften, bestehen im Lehren und Verkündigen, Taufen, Weihen (Vollzug der Eucharistie), Binden und Lösen, Fürbitten, Opfern und im Urteilen über Lehre und Geister. Lutherführtfür die erstaunliche Aussage, daß potentiell allen Getauften dies zukommt, einen ausführlichen Beweis. So gilt in der Eucharistie das Gedächtnis Christi als gemeinchristliche Aufgabe. Unter dem Opfer wird das Selbstopfer der Christen verstanden. Das Urteil über die Lehre steht gleichfalls allen zu. Die Ausübung des öffentli-

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chen Amtes darf freilich nicht eigenmächtig usurpiert werden, sondern wird von der Gesamtheit übertragen und notfalls auch widerrufen. Verweigern sich die päpstlichen Bischöfe dabei, kann die Kirche von sich aus Bischöfe und Kirchendiener einsetzen. Im Blick auf die spezifischen böhmischen Verhältnisse sprach sich Luther nicht nur für die Wahl von Pfarrern und Predigern durch die Gemeinden aus, sondern für die Einsetzung kirchenleitender Bischöfe. Wo das unter Gebet vollzogen wurde, stellte es keine Neuerung gegenüber dem Neuen Testament dar. Sollten die Böhmen so weit nicht gehen wollen, hielt Luther es auch für möglich, daß bereits geweihte Priester wie Gallus Cahera die bischöflichen Funktionen bei der Einsetzung der Pfarrer wahrnahmen. Die Böhmen brauchten nicht daran zu zweifeln, daß sie Gottes Kirche seien, denn wo das Wort Gottes ist, da ist Kirche. Es müsse freilich damit gerechnet werden, daß eine solche Neuerung Kreuz und Leiden mit sich bringe, wie es das Schicksal der Kirche in der Welt sei, aber darüber brauche man nicht zu verzagen. Neben der für Altenburg, Leisnig und Wittenberg gesuchten Lösung des Amtsproblems auf der Ebene der Gemeinde hatte Luther aus derselben theologischen Konzeption von Kirche für die Böhmen ein zweites Modell entwickelt, das einen gewählten kirchenleitenden Bischof vorsah. Dieses Nebeneinander bedeutete keinen Widerspruch. Die Formen der Kirchenordnung konnten je nach den Bedürfnissen variieren, sofern das Wort Gottes die Norm blieb. Faktisch hatte Luthers Vorschlag keinen Erfolg. Das lag nicht zuletzt an dem Mittelsmann Cahera. Zwar wurde er nach seiner Rückkehr nach Prag zum alleinigen Administrator der Utraquistenkirche gewählt. Er bemühte sich auch um die Aufhebung des Priesterzölibats, stieß damit jedoch auf energische Ablehnung. Offensichtlich war die Utraquistenkirche noch stark in einem herkömmlichen Amtsverständnis verhaftet. Cahera selbst wechselte darauf seine Position und suchte eine Verständigung mit Rom. Die Utraquisten hielten an der Priesterweihe als einem Sakrament fest 6 • Die Anhänger Luthers unter ihnen wurden schon 1524 verfolge. Seine ernsten Mahnungen an Cahera umzukehren, blieben erfolglos 8 . Auch zu der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Abgrenzung gegen die an Rom sich annähernden Utraquisten entstandenen Gemeinschaft der Böhmischen Brüder 9 hatte Luther Verbindungen. Im Mai und erneut im Juni 1522 führten Johannes Horn (tschechisch: Roh) und Michael Weiße mit Luther Gespräche über den Glauben der Brüder und legten ihm dazu auch eine» Apologie« vor. Außerdem erhielt Luther gleichzeitig durch den Prediger Paul Speratus in Iglau in Mähren Informationen über die Brüder. Das wichtigste Thema in diesen Beziehungen war die reale Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl und damit zusammenhängend die Anbetung Christi im Sakrament. In seinen Gesprächen war Luther zu der Meinung gekommen, daß die Realpräsenz, wenngleich in eigenwilliger Terminologie, auch von den Brüdern bejaht wurde 10. Das Problem hielt er zunächst für weit weniger wichtig als Glauben und Liebe, das zentrale Thema seiner damaligen Verkündigung. Die Anbetung Christi im Sakrament war dem Glauben freigestellt. Das betonte er auf entsprechende Anfragen immer wieder. Ausdrücklich hielt Luther fest, daß der Vollzug des Sakraments vom Glauben oder Unglauben

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Tafel II: Philipp Melanchthon - dargestellt bei der Taufe eines Kindes, obwohl er Laie war. Ausschnitt aus dem Altarbild der Stadtkirche in Wittenberg von Lukas Cranach d.Ä., 1547

Tafel III: Justus Jonas Ausschnitt aus dem Abendmahlsbild des Dessauer Reformatorenaltars in der Kirche in Dessau-Mildensee von Lukas Cranach d.J., 1565

Tafel IV: Luther in Mänchskutte, aber ohne Tonsur Lukas Cranach d.Ä. (Werkstatt), 1522-1524

Tafel V: Johannes Bugenhagen, dargestellt bei der Ausübung des Schlüsselamtes (Gewährung oder Verweigerung der Absolution) Altarflügel der Stadtkirche in Wittenberg von Lukas Cranach d. Ä., 1547

Tafel VI: Herzog Albrecht von Preußen Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., 1528

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Tafel VII: Nikolaus von Amsdorff Kupferstich aus dem 16. Jahrhundert

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Tafel VIII: Martin Luther Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., 1526

Tafel IX: Katharina von Bora Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., 1526

Tafel X: Martin Luther Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., 1529

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Tafel XII: Huldrych Zwingli Gemälde von Hans Asper, 1531

Tafel X/V: Veste Coburg Ausschnitt aus dem Epitaph des Bürgermeisters Michael Meienburg in Nordhausen von Lukas Cranach d.J., /558

Tafel XV: Gregor Brück (1486-1557), kursächsischer Kanzler Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., 1533

Tafel XVI: Nikolaus Hausmann, Pfarrer in Zwickau Gemälde von Lukas Cranach d. Ä.

des zelebrierenden Priesters unabhängig war l1 . Als problematisch empfand er es, daß die Brüder weder einen Glauben der Kinder in der Taufe noch eine Frucht der Taufe annahmen und außerdem an den sieben Sakramenten festhielten 12 • Er hat darum wohl um eine offizielle Äußerung der Brüder gebeten, die von ihrem Senior Lukas von Prag verfaßt und im Dezember 1522 durch eine Gesandtschaft in Wittenberg übergeben wurde. Luther behandelte das Thema »Vom Anbeten des Sakraments« am 4. Januar 1523 in einer Predigt, aus der dann die gleichnamige Schrift erwuchs 13 . Einen zusätzlichen Anstoß bildeten Informationen durch Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach aus Prag, daß dort Luthers Ansichten vergröbert und mißverständlich kolportiert wurden 14 • Aus der Stellungnahme des Lukas von Prag war Luther nicht deutlich geworden, ob zwischen ihm und den Böhmischen Brüdern Einmütigkeit über die reale Gegenwart im Abendmahl bestand. Das kam nicht von ungefähr: Die Brüder teilten das bereits im Spätmittelalter weit verbreitete spiritualisierende Verständnis des Abendmahls. Darum entfaltete er nun erstmals diesen Aspekt seiner Abendmahlslehre ausführlicher. Deswegen besteht die Bedeutung dieser Schrift darin, daß Luther hier schon vor dem Ausbruch des Abendmahlsstreits zu seiner Position fand. Er ging aus von der 1520 gewonnenen Hochschätzung der Einsetzungsworte, die mit ihrer Verheißung für ihn die Summe des Evangeliums waren. Von daher bestimmte sich die rechte Verehrung des Sakraments. Es galt für den einzelnen Menschen vor allem, die Worte von der Hingabe Christi glaubend ins Herz zu fassen. Man erfährt in diesem Zusammenhang, daß Luther damals bereits die symbolische Erklärung der Einsetzungsworte durch den niederländischen Humanisten Cornelisz Hendricxz Hoen (gest. 1524), vielleicht vermittelt durch den ehemaligen Utrechter Rektor Hinne Rode, bekannt geworden war, die später Zwingli so stark beeindruckte. Hoen erklärte »das ist mein Leib« als »das bedeutet meinen Leib«. Luther hielt eine solche Umdeutung der Worte Christi schlechterdings für unzulässig und wies diese Auslegung vom ersten Augenblick an rundweg ab. Abgesehen davon, daß ihm die reale Gegenwart von Leib und Blut Christi, also die geistliche Realität der Abendmahlsgaben, wohl nie ernsthaft in Frage gestanden hatte, hätte ein solches symbolisierendes Auslegungsverfahren den Wortlaut der Schrift überhaupt unsicher gemacht. Im Abendmahl ging es nicht um Teilhabe an dem mit der Kirche identischen Leib Christi, sondern um den direkten Empfang des für uns dahingegebenen Leibes und Blutes Christi. Daß das Abendmahl auch die Gemeinschaft mit Christus entsprechend den Körnern im Brot und den Beeren im Wein bedeuten konnte, war erst die Folge davon. Nebenbei lehnte Luther die katholische Transsubstantiationslehre, nach der Brot und Wein in Leib und Blut verwandelt werden, wiederum ebenso ab wie die Lehre vom Meßopfer. Wie am Eingang der Invokavitpredigten wies er auch hier darauf hin, daß es für den einzelnen auf den rechten Glauben in bezug auf das Abendmahl und seine Verheißung entscheidend ankam. Erst der zweite Teil der Schrift greift das Problem der Anbetung des Sakraments auf. Dabei liegt alles an der innerlichen und geistlichen Verehrung, die im vertrau81

enden Glauben besteht, nicht an den äußeren Riten. Der im Abendmahl gegenwärtige Christus will dort eigentlich nicht angebetet sein, sondern uns helfen und dienen. Das heißt, daß die Anbetung frei ist. Es kommt nicht auf unsere Werke, sondern auf Gottes Wort und Werk und deren Empfang an. Spezialfragen über die Christologie und Sakramentslehre, die sich aus den Äußerungen der Böhmen ergaben, ließ Luther beiseite. In den Hauptstücken des christlichen Glaubens (Trinitätslehre ) wie auch in den Abgrenzungen gegenüber der katholischen Kirche erklärte er sich mit den Brüdern einig. Seine Kritik verband er mit dem Angebot, sich umgekehrt korrigieren zu lassen, wobei er sofort zugab, daß man in Wittenberg mit der Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt noch nicht so weit war wie bei den Böhmen. »Es ist noch grüne mit uns und geht langsam von statten.« Die auf den zukünftigen Glauben der Kinder hin geübte Kindertaufe hielt Luther für unmöglich. Wenn die Kinder entgegen seiner Auffassung nicht zu glauben vermochten, müßte man die Kindertaufe unterlassen. Auch mit der Verhältnisbestimmung von Glauben und Werken war er nicht ganz einverstanden, weil diese nicht klar als Folge des Glaubens begriffen waren. Die Wahl der Kirchendiener bei den Brüdern konnte Luther nur begrüßen, dagegen war das Festhalten am Priesterzölibat nicht in seinem Sinn. Schließlich monierte er noch die Geringschätzung der alten Sprachen. »Denn ich erfahre, wie die Sprachen über die Maß helfen zum lauteren Verstand göttlicher Schrift.« Man hat hier eine der Schriften Luthers vor sich, durch die er einen andersdenkenden Partner freimütig, aber zugleich großzügig und behutsam zu gewinnen versuchte. Das wurde von den Senioren der Brüder im Juni 1523 auch anerkannt, und sie bemühten sich durch eine neue Gesandtschaft um weitere Klärung und Ausräumung von Mißverständnissen, die Luther mindestens zum Teil zufriedengestellt haben dürften. Die Differenz in der Abendmahlsauffassung nahm er zunächst hin, weil die Brüder letztlich doch einen Empfang von Leib und Blut Christi bejahten 15 • Dabei entwickelte sich seine Theologie weiter und klärte vor allem hinsichtlich des Abendmahls bereits Probleme ab, mit denen er alsbald erneut konfrontiert wurde. Dennoch brachen die geknüpften Kontakte zwischen Luther und den Böhmischen Brüdern 1524 zunächst ab. Lukas von Prag wollte wohl seinen eigenen Weg gehen. Zu einer wirklichen Annäherung kam es vorläufig so wenig wie bei den Utraquisten.

4. Beziehungen zur reformatorischen Bewegung außerhalb Kursachsens Gelegentlich registriert Luther die Ausbreitung wie auch die Schwierigkeiten der Reformation. Anläßlich des Besuchs von Jost Ludwig Dietz, dem Sekretär des polnischen Königs, Ende Juli 1522 äußert er seine Freude darüber, daß Christus bis jetzt an so vielen Orten regiert 1. Im Dezember 1522 berichtet er von dem Verlangen nach dem Wort Gottes in Bremen, Hamburg und Friesland 2• Im Mai 1524 erwähnt er in einem Brief Bremen, Mecklenburg, Braunschweig und Breslau 3 . Ein Erreignis

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wie die erste Zürcher Disputation im Januar 1523 wird kommentarlos notiert, stärker ist dagegen das Interesse an der gleichzeitigen Unterdrückung seiner Anhänger in Freiburg i. Br. 4. Die Beziehungen Luthers nach auswärts waren mit Sicherheit vielfältiger, als heute bekannt ist. Leider legte er auf die Aufbewahrung seiner Korrespondenz keinen besonderen Wert. Daß sein Hund während der Abwesenheit seines Herrn einen Brief anfraß, dürfte allerdings ein Ausnahmefall gewesen sein 5 • - Eine gezielte Ausbreitung der Reformation wurde von Luther nicht betrieben und entsprach auch nicht seiner Auffassung vom Lauf des Wortes Gottes. Er verhielt sich eher reagierend. Die Anforderungen nach Predigern kamen auf ihn zu z.B. aus Zerbst, Sternberg in Mecklenburg, von Graf Georg von Wertheim oder Herzog Magnus von Lauenburg, und er versuchte sie zu erfüllen 6 • Bestimmte Städte oder Territorien zogen Luthers Interesse stärker auf sich. Dazu gehörte verständlicherweise Erfurt, von wo Johann Lang schon Ende März 1522 einen Besuch Luthers und eine Ermunterung für die Gemeinde erbeten hatte? Ende Mai stand für ihn das Thema fest, das er in der »Epistel« an die Erfurter behandeln wollte: Es sollte ein »Unterricht von den Heiligen« sein, ein Problem, über das auch in Erfurt gestritten wurde, weswegen er allenthalben angegangen wurde und das er zum »Einschlafen« bringen wollte, weil es zu jenen nicht notwendigen Gegenständen gehörte, die von Glauben und Liebe als den Hauptsachen ablenkten. Dabei sollte man jedoch um der Schwachen willen die Heiligen nicht total verwerfen 8. Das entsprach genau den Grundlinien seiner damaligen Vorgehensweise. Aus Zeitmangel fiel die am 10. Juli 1522 verfaßte »Epistel« relativ knapp aus. In der überhitzten Erfurter Atmosphäre war die Mahnung, keinen Aufruhr zu erregen, besonders angebracht 9 • Am 3D. Juni war der evangelische Prediger Georg Forchheim, der sich eben noch mit dem altgläubigen Bartholomäus Arnoldi von Usingen, Luthers ehemaligem Freund und Lehrer, Kanzelschlachten geliefert hatte, plötzlich gestorben, was zu Gerüchten Anlaß gab. Auf Luthers Rat sollte vorläufig Wolfgang Stein, der Hofprediger Herzog Johanns in Weimar, zum Nachfolger Forchheims gewählt (!) werden lO • Sichtlich ungern und ohne eigentlichen konkreten Anlaß ließ sich Luther in der zweiten Oktoberhälfte zusammen mit Melanchthon, Johann Agricola und Jakob Propst zu einer Reise nach Erfurt bewegen, die dann mit einem Besuch in Weimar am Hof Herzog J ohanns verbunden wurde. Aus Sicherheitsgründen getraute er sich nicht, im Augustinerkloster zu wohnen 11. Obwohl er nicht wollte, mußte er in Erfurt mehrfach predigen 12. Gegenüber den altgläubigen Repräsentanten seiner alten Universität berief er sich auf Christus als die höhere Autorität. Die wahre Klugheit besteht im Glauben an ihn. Er ist das Haupt und der Bräutigam der Kirche. Die guten Werke dürfen nicht wie bei den Mönchen zur Konkurrenz des Glaubens werden. Mit einiger Erleichterung kehrte die Reisegruppe am 23. Oktober nach Weimar auf heimischen Boden zurück und blieb dort noch eine Woche. Auf die wichtigen dort gehaltenen Predigten wird später einzugehen sein. Luther wohnte im Haus des Kammerschreibers Sebastian Schade. Wie für sein leibliches Wohl gesorgt war, hat die fürstliche Hof- und Küchenrechnung festgehalten: »Klein Fisch, Semmel, Obst, Ingwer, Hühner, Essig, Dickmilch, Eier, Wein und Bier, dazu verbrauchte 83

Lichter« 13. Im April 1524 empfahl Luther den als Pfarrer in Kronach (Oberfranken) wegen seiner Verheiratung vertriebenen J ohann Grau als Prediger an die Weimarer Stadtkirche l4 . Die wichtigste Beziehung Luthers zu einem Territorium außerhalb Kursachsens, die sich in jenen Jahren entwickelte, war zweifellos die zum Ordensstaat Preußen. Hier eröffnete sich erstmals die Aussicht, daß ein größeres Territorium mit seiner politischen Führung zur Reformation übertrat l5 . Der Hochmeister Albrecht von Brandenburg (1490-1568) plante schon 1521 eine Reform des an sich geistlichen, aber in vieler Hinsicht längst verweltlichten Fürstentums (Tafel VI). 1522 kam er in Nürnberg durch Lazarus Spengler und Andreas Osiander mit der Reformation in Berührung. Im Juni 1523 sandte er seinen Rat Johann Oeden zu höchst geheimen Verhandlungen mit Luther, die die Verfassung des Ordensstaates betrafen, von denen jedoch leider keine Einzelheiten bekannt sind l6 . Im September 1523 vermittelte Luther den ehemaligen Wittenberger Franziskaner Johann Brießmann nach Ostpreußen. Am 1. Advent kam der Hochmeister selbst nach Wittenberg. U. a. gewann er damals den aus Iglau in Mähren vertriebenen Paul Speratus für eine Tätigkeit in Preußen. Luthers Antwort auf die Fragen, die ihm der Hochmeister vorlegte, ist erhalten 17. Die Kirche ist auf Christus und nicht aufPetrus und die Päpste gegründet. Papst und Bischöfe können darum nichts als Diener der Geheimnisse Gottes sein, d. h. sie haben Christus zu predigen. Darüber hinausgehende Gesetze des Papstes und der Konzilien sind unnütz und freigestellt. Wo sie verbindlich gemacht werden, sind sie nicht zu beachten. Die Gebote Christi zu verändern, steht dem Papst nicht zu. Das gilt beispielsweise für die Ehegesetzgebung. In ihrer Substanz relativierten die Auskünfte Luthers eine über das Evangelium hinausgehende Jurisdiktion des Papstes und der Kirche und liefen auf eine Aufgabe der Ordensregel hinaus. - Am 12. Mai 1524 hielt sich Albrecht erneut in Wittenberg auf. Im Zusammenhang mit dem ersten Besuch Albrechts steht die »Ermahnung an die Herren deutschs Ordens, daß sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen«18, die an die Grundlagen des geistlichen Ordensstaates rührte. Luther war bewußt, daß eine Aufgabe des Zölibats bei den Deutschrittern Signalwirkung haben mußte. Ihm kam es aber weniger auf die äußeren Gründe an, die für einen solchen Schritt sprachen, als auf eine biblische Begründung der Ehe, die durch etwaige Konzilsbeschlüsse nicht außer Kraft gesetzt worden war. Auch Geistliche hatten das Recht zur Verheiratung, zum al Gott den Ehestand mit hoher Würde begabt hat. Luther machte den Deutschrittern Mut, sich entsprechend zu verhalten. Luther suchte auch künftig die Reformation in Preußen zu unterstützen. Durch Brießmann ließ er sich dem der neuen Bewegung freundlich gesinnten Bischof vom Samland, Georg von Polenz, empfehlen, dem er Anfang 1525 seine Auslegung des Deuteronomiums widmete. Außerdem vermittelte er weitere Prediger nach Preußen 19. Es war für ihn selbst ein Wunder, daß dort im Gegensatz zu Deutschland das Evangelium in vollem Lauf und mit vollen Segeln vorankam. Am 28. Januar 1524 hatte Georg von Polenz eine Bulle erlassen, die den Gebrauch der deutschen Sprache bei der Taufe gebot und den Geistlichen die Lektüre von Luthers Schriften 84

empfahl. Hingegen hatte wenige Tage zuvor der benachbarte Bischof Moritz Ferber vom Ermland eine Bulle gegen die lutherische Partei und ihre »Irrlehren« veröffentlicht. Luther gab die beiden gegensätzlichen Dokumente, mit eigenen Anmerkungen versehen, etwa im April 1524 in den Druck 2o • Am 26. Mai 1525 konnte er dem nunmehrigen Herzog Albrecht von Preußen zur Säkularisation des Ordensstaates gratulieren 21 • Im August 1522 suchte der Stadtschreiber von Riga, Johannes Lohmüller, Kontakt mit Luther 22 • Er konnte ihm melden, daß es auch in Livland Anhänger der Reformation gab, wobei er besonders den durch Melanchthons Schriften geprägten Rigaer Prediger Andreas Knopken nannte. Der eigentliche Zweck des Briefes war die Bitte um die Widmung einer Schrift an die Evangelischen in Livland oder wenigstens um einen Gruß. Luther erwähnte im Januar 1523 das Schreiben mit Staunen über die Ausbreitung des Evangeliums, erfüllte aber die Bitte zu Lohmüllers Enttäuschung erst etwa im August mit einer seiner knappen Zusammenfassungen über die Rechtfertigung allein aus dem Glauben, den Sinn der Werke und die Liebe. Davon sollten die Livländer sich nicht abbringen lassen, was Bürgermeister und Rat von Riga zu seiner Freude auch versprachen 23 • In ihrer ersten Phase waren die Beziehungen Luthers zu Livland rein geistlich und zielten weder auf kirchliche noch gar auf politische Maßnahmen ab. Ähnlich verhielt es sich mit dem Brief an die Christen zu Worms vom August 1523, den Luther den beiden Wormser Geistlichen Nikolaus Maurer und Friedrich Baur, die seit März in Wittenberg studiert hatten, bei ihrer Rückkehr mitgab 24 • Die Wormser sollten des Evangeliums nicht überdrüssig werden, sondern an ihm gegen die Mehrheit, Menschenworte und Traditionen festhalten. Dem wegen seines Eintretens für die Reformation aus Regensburg vertriebenen Blaufärber Hans gab Luther bei seiner Rückkehr im August 1523 einen Brief an Bürgermeister und Rat mit, in dem er nicht nur die Anstellung eines evangelischen Predigers forderte, sondern vor allem vor der wenige Jahre zuvor aufgekommenen, für die Stadt einträglichen Verehrung der »schönen Maria« warnte, deren angebliche Wunder nur Teufelswerk sein konnten 25 • Der aus Esslingen stammende und von dort als Parteigänger Luthers vertriebene ehemalige Augustiner Michael Stifel veranlaßte Luther im Oktober 1523 zu einem Sendbrief an diese Stade6 • Der dortige altgläubige Pfarrer Dr. Balthasar Sattler hatte den Bürgern, die sich von Luthers Lehre abkehrten, die Absolution angeboten und dabei die herkömmlichen Vorschriften über das Fasten und Beichten eingeschärft, wobei er sich sogar auf Luthers Hochschätzung der Beichte berief. Wer die Vorschriften nicht befolgte, sollte auch nicht absolviert werden. Luther griff die von ihm schon vielmals behandelten Themen nur ungern auf und verwies auf seine früheren Schriften oder besser noch die paulinischen Briefe. Er hatte auch hier nichts anderes zu sagen, als daß wir nicht durch unsere Werke, sondern durch den Glauben gerechtfertigt werden, und von daher erledigten sich Sattlers Vorschriften. Selbstverständlich betonte Luther in diesem Zusammenhang die Freiheit der Beichte. Während gegenüber dem einzelnen Schwachen mit dem Fasten Rücksicht zu nehmen war, galt das nicht hinsichtlich der Vorschriften des Pfarrers.

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Eine besondere Sparte bilden Luthers »Trostbriefe«, die er an wegen des Evangeliums Verfolgte richtete. 1523 hatte einer der ehemaligen Augsburger Priester öffentlich Hochzeit gefeiert. Der Rat bestrafte darauf die Bürger, die daran teilgenommen hatten. Das veranlaßte Luther im Dezember 1523 zu seinem »Trostbrief an die Christen zu Augsburg«27 als Zeichen der Teilnahme an dem Leiden anderer Christen. Er ließ keinen Zweifel daran, daß das Kreuz zum christlichen Leben gehört. Der Schatz des Evangeliums wird verborgen unter dem Leiden bewahrt. Dieses gilt geradezu als der Ausweis, daß es um die Augsburger gut steht. Besonders eindrücklich ist »Ein christlicher Trostbrief an die Miltenberger, wie sie sich an ihren Feinden rächen sollen aus dem 119. Psalm« vom Februar 1524 28 • Seit 1522 war der im Jahr zuvor aus seiner Chorherrenstelle am Severistift in Erfurt wegen seiner Sympathien für Luther vertriebene Johann Drach (Draconites) aus Karlstadt 29 durch Vermittlung seines Verwandten, des später noch im Bauernkrieg bekannt-gewordenen Amtmannes Friedrich Weygand, Pfarrer im kurmainzischen Miltenberg am Main. Er hatte sich dort alsbald mit der altgläubigen Geistlichkeit angelegt. Deshalb wurde er im September 1523 gebannt und mußte Miltenberg kurze Zeit später verlassen, worauf er sich erneut nach Wittenberg wandte. An der Gemeinde wurde ein Strafgericht vollzogen. Die führenden Anhänger Drachs, unter ihnen Weygand, wurden gefangengenommen, einige von ihnen starben. Die Gemeinde mußte schwören, beim alten Glauben zu bleiben. Drach veranlaßte Luther zu dem Trostbrief. Ehe dieser ihn herausgab, wandte er sich am 14. Februar in einem überaus ironischen Schreiben an Erzbischof Albrecht von Mainz 30 : Er hätte das Verbot, diesen Fall gegenüber dem Erzbischof oder den Miltenbergern aufzugreifen, gerne beachtet, wenn nur das Gewissen dies zuließe. Er bedauerte Albrecht, daß sich das Evangelium in Halle, Halberstadt und Miltenberg regte und daß seine fragwürdigen Beamten dagegen vorgehen mußten. Unmißverständlich wird klargestellt, daß die Miltenberger nicht wegen Aufruhrs, sondern wegen des Evangeliums und des Predigers verfolgt wurden. Um dem Erzbischof nicht Unlust zu bereiten, unterließ Luther die Fürbitte für die unschuldigen Leute; eine Trostschrift, mit der er die Gefangenen besuchte, ließ er sich jedoch nicht verbieten. Er schonte Albrecht in der Hoffnung, daß eigentlich die »Löwen und Wölfe« unter den Beamten Albrechts verantwortlich waren und dieser ihrem Mutwillen Einhalt gebieten würde. Ein sichtbarer Erfolg war diesen Vorstellungen nicht beschieden. Die Miltenberger wollte Luther bewußt geistlich mit der unsichtbaren Hoffnung trösten. Weltlicher Trost mit Schelten oder Gewalt gegen die Feinde hätte ihnen nicht geholfen. Die Miltenberger litten um Gottes und seines Wortes willen, nicht wegen Ketzerei, und das war mehrwert als das Kaisertum der ganzen Welt. Deshalb sollten sie nicht auf Rache sinnen. Das drohende Gericht Gottes und das böse Gewissen setzten den Gegnern ohnedies zu. Hingegen durften sich die Miltenberger mit ihrem guten Gewissen geradezu ihrer Verfolgung freuen und gewiß sein, daß Gott die Feinde ohne Schwert und Faust überwindet. An das Verbot, von Gottes Wort zu reden, mochten sich die Starken nicht halten, die Schwachen sollten heimlichfröhlich sein. Luthers Geschenk bestand in einer Auslegung des 119. ( 120. ) Psalms mit seiner Klage über die Verfolger. Er lehrt, vor ihnen zu Gott zu flüchten. Die Hilfe Gottes

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besteht darin, Prediger seines Worts zu senden. Die Vollmacht ihrer Kritik an den großen Hansen und die Glaubwürdigkeit ihres Lebens erweisen sich jedoch oft als begrenzt. Wo sie auftreten, ziehen sie sich Verfolgung und falsche Anklage zu. Der Psalm bot eine Beschreibung der Situation, aber letztlich wenig Trost. Rache und Gegenwehr waren durch Christus verboten. Die »mainzischen Hurenknechte und Mastbäuche« waren beklagenswerte Getriebene des Teufels. Den Verfolgten aber blieb weiterhin nur das Gebet um die vollmächtigen Prediger, die die Feinde zu überwinden vermochten. Daß Gottes Wort von den Gegnern mit der Parteibezeichnung lutherisch belegt wurde, war Luther nicht recht. Aber er war gewiß, daß seine Lehre bestehen und die der Feinde untergehen würde. »Sie sollen uns nicht los werden, sie seien denn hinunten und geben sich willig zu uns ... ; denn wir wissen , wes das Wort ist, das wir predigen ... « Kurz zuvor hatte Luther schon seinen Freund Johann Heß in Breslau daran erinnert, daß bei Christus im Schiff mit Sturm und Angst zu rechnen war 31 • Der weithin unpolitische oder zumindest nicht auf praktische Maßnahmen, sondern auf die Hauptsache des Evangeliums konzentrierte Charakter der Sendschreiben tritt im Trostbrief an die Miltenberger besonders in Erscheinung. Diese Argumentation geschah nicht aus Schwäche und verstand sich auch nicht als billige Vertröstung - im Gegenteil. Es wird von daher begreiflich, daß Luther ein Jahr später den bewaffneten Kampf für das Evangelium keineswegs gutheißen konnte. Leider ist über die Beziehungen Luthers zu den Anfängen der Reformation in Magdeburg nur wenig bekannt 32 • Obwohl Albrecht von Mainz der Stadtherr war, ließ sich die reformatorische Bewegung auch dort nicht unterdrücken. Eines ihrer Zentren war das Augustinerkloster unter dem Prior Melchior Mirisch. Schon im Mai 1522 hatte sich der Bürger Heinrich Oldenburg wegen der Verteidigung eines Gesellen, der lutherische Schriften vertrieben hatte, an Luther gewandt. Dieser erklärte eine Entschuldigung, die einer Verleugnung der evangelischen Wahrheit gleichkam, für nicht statthaft33 • Im Mai 1524 erreichte die Bewegung ein kritisches Stadium. Ein Ausschuß von Bürgern wurde gebildet, der mit den evangelischen Predigern über reformatorische Maßnahmen beraten sollte. Das weist darauf hin, daß dem Rat, der keine Neuerungen einführen wollte, das Stadtregiment zu entgleiten drohte. Dieser Ausschuß war es, der Luther nach Magdeburg einlud. Er traf am 24. Juni ein und blieb einige Tage, wobei er in mehreren Kirchen unter großem Zulauf predigte. Im Augustinerkloster , wo er wohnte, fanden die Verhandlungen mit den Evangelischen statt. Vermutlich wurde, abgesehen von einer Abmachung über die Ausstattung austretender Augustinermönche, die Berufung evangelischer Prediger durch die Pfarrgemeinden beschlossen, von der Luther am 1. September berichtet 34 • Mit dem Ruf an die St. Ulrichskirche wurde Luthers Kollege Nikolaus von Amsdorff (Tafel VII) der führende Theologe der Magdeburger Reformation. Im Sommer 1523 studierten einige Franzosen, unter ihnen der Ritter Anemond de Coct, in Wittenberg. Luther muß damals Nachrichten über den frommen Eifer Herzog Karls 111. von Savoyen gehabt haben, und so entstand der Plan, daß de Coct bei seiner Rückkehr nach Frankreich im September einen Brief Luthers über einige Kapitel seiner Lehre an den Herzog mitnehmen sollte 35 • Wie kaum anders zu erwarten, setzte er ein mit dem gottgeschenkten Glauben an Christus, der Sünde und Tod

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überwindet. Daraus folgt die Ablehnung der Verdienstlichkeit der menschlichen Werke einschließlich des Mönchtums. Die Werke der Liebe fließen aus dem Glauben. Die Verbindlichkeit der kirchenrechtlichen Bestimmungen bis hin zum Zwangsmittel des Bannes wird bestritten. In der Kirche gibt es nur das Dienstamt des Wortes, mit dem die Christen zu regieren sind, die Zwangsgewalt des Schwerts übt dagegen die weltliche Obrigkeit aus. Unter die aufzuhebenden Gesetze des Antichrists zählen die Vorenthaltung von beiderlei Gestalt im Abendmahl und das Meßopfer. Der Herzog sollte aber nichts mit Gewalt vornehmen, sondern nur für die Berufung und den Schutz evangelischer Prediger sorgen. So könne er dazu beitragen, daß Frankreich mit Recht ein »allerchristlichstes Reich« genannt werde. Selten findet sich Luthers theologisches und praktisches Konzept in jener Zeit so knapp zusammengefaßt wie in diesem Brief. So vielfältig die Beziehungen Luthers zur allenthalben aufkommenden reformatorischen Bewegung auch waren, als ihr umfassender Planer und Organisator trat er kaum in Erscheinung. Nur gelegentlich griff er direkt ein. Wo es verlangt wurde, war er mit Trost und Rat zur Stelle. Aber eigentlich war die Ausbreitung des Evangeliums nicht sein Werk, sondern das Gottes, das er staunend wahrnahm. In Wittenberg wurden keine großen Strategien entwickelt, sondern die Kraft des Wortes Gottes geglaubt.

5. Auseinandersetzungen mit den altgläubigen Gegnern Anlaß zur Auseinandersetzung mit den altgläubigen Gegnern gaben nach wie vor deren Schriften, wobei sich Luther allerdings keineswegs auf jeden Streit einließ, sondern vieles schweigend überging. Außerdem konnte in den Predigten auf die kritische Polemik nicht verzichtet werden. Schon auf der Wartburg hatte Luther ein Büchlein geplant, das Ende Mai 1522 unter dem Titel »Von Menschenlehre zu meiden« erschien und etwas später um die »Antwort auf Sprüche, so man führet, Menschenlehre zu stärken« erweitert wurde l . Die Verwandtschaft mit den Invokavitpredigten und »Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen« ist unverkennbar. Die Schrift war den armen Gewissen in den Klöstern zugedacht, nicht den »frechen unzüchtigen Köpfen«, die die neue Freiheit rücksichtslos auslebten. Luther führte zehn Bibelstellen an, die die Hinzufügung von Menschenlehren zu Gottes Wort verboten. Das galt auch hinsichtlich der Fastenvorschriften und Ordensregeln. Eine echte Ergänzung bildete die Abwehr einiger Zitate, mit denen die über die Bibel hinausgehenden kirchlichen Vorschriften begründet wurden. Mit dem Augustinzitat »Ich glaubte dem Evangelium nicht, wenn ich nicht der Kirche glaubte«, war Luther u. a. durch die Verteidigung der sieben Sakramente Heinrichs VIII. konfrontiert worden. Wer ihm die beiden anderen Stellen »Wer euch hört, der hört mich« (Lk 10,18) - sie begegnet auch in der Himmelfahrtspredigt 1522 2 - und »Alles nun was sie euch sagen, das haltet. .. « (Mt23,3) entgegengehalten hatte, ist nicht mehr bekannt. Die Diener Christi sind auf die Predigt des Evangeliums und Gottes Gebot festgelegt, dem sie nichts hinzufügen dürfen, wollen sie nicht ihren Auftrag 88

verraten. Mit dem Augustinzitat hatte Luther gewisse Schwierigkeiten, weil nach seiner Meinung dem Wort Gottes allein und unmittelbar zu glauben war. Auf jeden Fall stand für ihn fest, daß Augustin damit der Kirche nicht eine beliebige Jurisdiktion zugestanden hatte. Am Schluß wird der Gegensatz scharf herausgearbeitet: Die Schrift macht die Gewissen frei, Menschenlehre bindet sie, darum sind beide unvereinbar, und eine davon muß lügen. Im Januar 1522 hatte Luther zugestimmt, daß die Veröffentlichung der gegen Albrecht von Mainz gerichteten Schrift »Wider den Abgott zu Halle« zurückgestellt wurde, bis sie anderweitig Verwendung finden würde 3 . Sie ging dann ein in das im Juli verfaßte scharfe Büchlein» Wider den falsch genannten Stand des Papsts und der Bischöfe«4, in der der Gebannte den Bischöfen selbstbewußt als Ecc1esiast von Gottes Gnaden entgegentrat. Ein unmittelbarer Anlaß ist nicht erkennbar. Auch in den Predigten des Sommers 1522 beschäftigte Luther immer wieder das Problem der rechten Leitung der Kirche 5 • Dem kurz zuvor von dem Magdeburger Bürgermeister Claus Storm erhobenen Vorwurfi, er errege Aufruhr, und die Kritik an den Prälaten sei nicht erlaubt, hielt er Christus und Paulus als Beispiel entgegen. Einen etwaigen Aufruhr hatten die Bischöfe ihrem verstockten Ungehorsam und ihrem seelenverderbenden Verhalten zuzuschreiben, das mit dem Neuen Testament nicht in Einklang zu bringen war. Sie ließen sich wie Bileam von Balak und seinem unzüchtigen Abgott Baal Peor in Dienst nehmen und gaben sich der Geldsucht und Unkeuschheit hin, zu der sie mit dem Zölibat auch andere verführten. Die Bischöfe, die Luther als Wölfe und Seelenmörder angriff, verdienten ihren alten, heiligen, ehrlichen Namen nicht mehr. Ihre angebliche Tugend bestand darin, daß sie die Bullen und den Ablaß des Papstes anstatt Gottes Wort predigen ließen und sich unrecht bereicherten. Der Papst versprach verführerisch die Vergebung aufgrund von Erwerb des Ablasses und der Beichte. Das war alles wider Gottes Wort und somit vom Teufel, ein System, das die Christen eigentlich zerstören oder mindestens fliehen mußten. Daraus ergab sich Luthers eigene Reformationsbulle: Die, die dazu beitrugen, Bistümer und bischöfliches Regiment zu zerstören, »das sind liebe Gotteskinder und rechte Christen«. Luther mußte an dieser Stelle sofort sicherstellen, daß nur verbaler Widerstand und keine Gewalt gemeint war. Der Vorwurf, nach dem Papst verwerfe er jetzt auch den Stand der Bischöfe, ließ sich mit dem Hinweis auf die verkehrte Ordnung leicht erledigen. Daß hochgestellte und gelehrte Personen davon betroffen waren, beeindruckte Luther nicht. Der Bischof, wie er ihn sich nach dem Neuen Testament vorstellte, predigte und reichte die Sakramente. Darum konnte Luther gelegentlich seine Freunde wie Hausmann in Zwickau oder Bugenhagen als Bischöfe bezeichnen. Die widergöttliche Praxis der Gelübde und, damit zusammenhängend, der päpstlichen Dispensationen war für Luther gegenstandslos. Die Anschuldigungen seiner Gegner, daß er Pfaffen, Mönche und Nonnen befreie und Klöster und Stifte verderbe, rührten ihn nicht. Die Verantwortung, die die Bischöfe aber mit dem erzwungenen Zölibat der Priester auf sich luden, wog schwer. Die erheblichen Einnahmen aus den Strafgebühren für Verstöße gegen das Zölibat waren so unehrlich wie die eines Hurenwirts. Luther ließ es nicht bei der bloßen Kritik bewenden: Wenn die Bischöfe schon nicht predi-

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gen konnten, sollten sie wenigstens für die Anstellung rechter Prediger sorgen. Auf den fürstlichen Stand der Bischöfe vermochte er freilich keine Rücksicht zu nehmen. Die Bistümer taugten auch nicht zur Versorgung adliger Kinder, denn diese konnten darin nur innerlich verderben. Den Ausweg sah Luther in dem kühnen Vorschlag, daß adlige Söhne und Töchter bürgerlich heirateten. Ein Bischof, dem der Papst die Predigt des Evangeliums verwehrte, sollte sein Amt aufgeben. Arrangiert durch den Primas von England, Kardinal Wolsey, der sich damit Rom gefällig erweisen wollte, war es am 12. Mai 1521 zur Verbrennung von Luthers Büchern vor der St. Pauls-Kathedrale in London gekommen. Schon im April hatte König Heinrich VIII. persönlich eine Widerlegung der auch in England Aufsehen erregenden Schrift Luthers »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« begonnen, die im Juli unter dem Titel »Assertio septem Sacramentorum« (Verteidigung der sieben Sakramente) erschien 7 . Heinrich ließ sie dem Papst feierlich überreichen und erhielt dafür den schon länger von ihm angestrebten Titel eines »Verteidigers des Glaubens« (defensor fidei), der seine europäische Reputation erhöhen sollte. Mit seiner durchgängigen Ablehnung von Luthers Theologie war es dem König dabei durchaus ernst. Für ihn gab es keinen Anlaß, an der Kirche und ihrer Tradition zu rütteln, und er berief sich dafür sowohl auf die Bibel als auch auf die Kirchenväter. Von den eigentlichen Absichten Luthers nahm er nichts wahr. Immerhin überragte Heinrich viele der sonstigen Gegner Luthers darin, daß er sich um eine christologische Begründung des Meßopfers wenigstens bemüht hat 8 • Luther erfuhr von Heinrichs Schrift wohl erstmals Ende Juni 1522, kurz bevor ihre von Herzog Georg betriebene Übersetzung Emsers erschien 9 • Alsbald schrieb er in einer deutschen und lateinischen Fassung seine» Antwort auf König Heinrichs von England Buch«lO, nicht zuletzt, um der Agitation im Herzogtum Sachsen entgegenzutreten. Ende Juli ließ er Spalatin wissen, daß er dem englischen König so wenig wie den Bischöfen schmeicheln werde. Demut, Nachgeben und friedliche Behandlung der Dinge hatten sich als vergeblich erwiesen. Darum wollte er gegen die, die Hörner gegen ihn erhoben, härter vorgehen und die eigenen Hörner gebrauchen und den Satan reizen, bis er erschöpft zusammenbrach. Spalatin sollte sich deswegen nicht fürchten noch auf Schonung der Gegner hoffen. Einen etwaigen Aufstand hatten diese ihrer eigenen Tyrannei, nicht Luther zuzuschreiben ll . Wie demnach zu erwarten war, sprang Luther mit dem König alles andere als freundlich um. Sein Respekt vor hochgestellten Häuptern fand da seine Grenze, wo sie seine Theologie angriffen. Er konnte nur darüber spotten, daß der Papst für die Lektüre von Heinrichs Buch einen Ablaß bewilligt hatte. In einer Kirche, deren Verteidiger der König war, wollte er nicht sein. Wer sollte sie schützen, wenn der König schlief? An die Autorschaft Heinrichs mochte er nicht glauben, machte ihn aber gleichwohl für das Buch verantwortlich. Unterstellungen, er habe seine Lehre über den Glauben geändert und die guten Werke für unnötig erklärt, wies er empört als Lüge zurück, gestand aber zu, daß sich seine Kritik an den päpstlichen Irrlehren und Mißständen entwickelt hatte, weshalb er jetzt seine frühere Zurückhaltung und auch sein Entgegenkommen in den Verhandlungen mit dem ständischen Ausschuß in Worms ausdrücklich widerrief. Die Qualifizierung seiner Polemik als gehässig

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und bissig lehnte er mit der etwas ablenkenden Begründung ab, auf die am Hof übliche Schmeichelei verstünde er sich nun einmal nicht. Auf jeden Fall habe er nicht so schändlich und öffentlich gelogen wie der »Lügenkönig von England«. Besonders schlecht kam Heinrich mit seiner durchgehenden Berufung auf die kirchliche Tradition bei Luther an. Das betraf z. B. die Vorenthaltung des Kelchs für die Laien, die sich biblisch nicht begründen ließ. Der »Harnzwang (mit Verlaub gesagt)« konnte einen dabei ankommen, und Luther setzte sich mit dem »Narrenbuch« nur wegen der Einfältigen auseinander. Dabei ließen sich seine und Heinrichs unterschiedliche Argumentationsebenen überhaupt nicht miteinander in Einklang bringen. Angesichts der scharfen Kritik mußte sich Luther allerdings gegen die »Schwärmer« im eigenen Lager abgrenzen. Er hatte nichts gegen die kirchlichen Bräuche, nur durfte man aus Menschenlehren keine Glaubensartikel machen. Die Transsubstantiationslehre, nach der die Elemente im Abendmahl in Leib und Blut Christi verwandelt werden, war Luther nicht sonderlich wichtig, ihre exegetische Verteidigung durch Heinrich lehnte er hingegen scharf ab. Daß dieser die Bedeutung der Messen für die Einkünfte der Priester unterstrichen hatte, empörte Luther natürlich. Ein entscheidender Streitpunkt zwischen bei den war die Frage, ob die Messe ein Opfer und Werk der Menschen oder ein gnädiges Wort und Zeichen Gottes sei. Wie nicht selten in seinen Gegenschriften verzichtete Luther auch diesmal auf eine komplette Widerlegung und ging auf die übrigen Sakramente kaum mehr ein, da Heinrich eigentlich nicht von der Bibel, sondern von Menschensprüchen her argumentierte. Am Schluß finden sich einige hochpolitische Äußerungen. Luther unterstellte, Heinrich habe aus schlechtem Gewissen wegen der Unrechtmäßigkeit seiner Thronfolge sich mit dem Papst gegen Luther zusammengetan. Daran war soviel richtig, daß ein Zusammenhang zwischen Heinrichs Schrift und seiner europäischen Politik bestand. Ausfälliger war bis dahin kaum einmal ein König angegriffen worden, und bis heute stößt Luthers scharfer Ton auf Unverständnis. Er hatte selbst das Gefühl, daß seine Polemik überzogen wirken könnte. Er machte dafür seinen Gegner verantwortlich, dessen Schelten bitterer, giftiger und andauernder sei als das einer zornigen öffentlichen Hure und alles andere als einem König angemessen. Er hatte nichts gegen offene Polemik bei sich und bei anderen. Unerträglich war jedoch, daß Heinrich die Bibel und Christus der Lüge geziehen hatte. Damit standen das Fundament und der Inhalt von Luthers Glauben auf dem Spiel. Ob es nicht auch andere, der Sache angemessenere Reaktionen gegeben hätte, darüber machte er sich keine Gedanken. Auch Luthers Bekannte, nicht zuletzt der Kurfürst, empfanden die Schärfe und stellten Rückfragen. Luther berief sich auf die Polemik der neutestamentlichen Gottesmänner. Mit den »feinen Büchlein ohne alle Schärfe« habe er bei den Gegnern nichts erreicht, im Gegenteil. Sie schalten ihn einen Ketzer. Wer Luther nur an seiner Härte maß und nicht das Gute bei ihm erfaßte, mußte sich eben ärgern. Es würde sich schon erweisen, daß seine Kritik aus gutem Herzen kam und daß es dabei ums Grundsätzliche ging: »Mein Handel ist nicht ein MittelhandeI, der etwas weichen oder nachgeben soll ... «12 Es gab keinen Verhandlungsspielraum. In der Auseinandersetzung mit der altgläubigen Seite war darum auch in Zukunft nicht 91

mit Behutsamkeit bei Luther zu rechnen. In der Sache war er sich völlig sicher: »Es soll diesem Evangelio, das ich, Martin Luther gepredigt habe, weichen und unterliegen Papst, Bischof, Pfaffen, Mönch, Könige, Fürsten, Teufel, Tod, Sünd und alles, was nicht Christus und in Christo ist, dafür soll sie nichts helfen.«J3 Im Dezember 1522 hatte Johann Cochlaeus, damals in Frankfurt, im Vorwort seines Buches »De gratia sacramentorum adversus assertionem Martini Lutheri« erstmals eine Darstellung seines Gesprächs mit Luther in Worms 14 veröffentlicht. Er wollte Luther damals zu Tränen bewegt und ihm außerdem eine Disputation angeboten haben, die Luther aber verweigert habe. Luther mußte in diesem Fall entgegnen. Er tat es in einem im Februar 1523 abgefaßten lateinischen Schreiben an den Humanisten Wilhelm Nesen, seinen Frankfurter Gewährsmann, mit dem ironischen Titel »Gegen den bewaffneten Mann Cochlaeus« (Adversus armatum virum Cokleum)15, der sich wahnhaft seiner Überlegenheit über Luther gerühmt hatte, obwohl alle papistischen Gegner bisher schmählich unterlegen waren. Den Eingang bildet eine gekonnte Persiflage des Anfangs von Vergils Aeneis, eines der wenigen lateinischen Gedichte Luthers. Auch die »arme Schneck« (lat. cochlea) oder der »Kochlöffel« (lat. coclear) konnte nichts als Lügen vorbringen. In der Sache verteidigte sich Luther gegen einen haarspalterischen Angriff auf seine Auffassung, daß der Glaube allein und nicht die Werke rechtfertigen. In dieser Formulierung war die Rechtfertigungslehre eine scharfe Kritik des Mönchtums und der Scholastik. Das war einer der Gründe, warum Luther auch den Glauben der Kinder in der Kindertaufe voraussetzte, weil nicht schon das Sakrament an sich rechtfertige. Auch die Gnade ließ sich in der Rechtfertigung nicht gegen den Glauben ausspielen, denn aus der als Gunst Gottes verstandenen Gnade wird der Glaube umsonst geschenkt. Dieser hat die guten Werke bei sich, die ihn bezeugen, aber nicht ihrerseits rechtfertigen. Dafür berief sich Luther auf eine im August 1522 gehaltene Predigt 16 . Eine Umdeutung der paulinischen Rechtfertigungslehre wies er kategorisch zurück. Cochlaeus erwiderte alsbald mit der Schrift »Adversus cucullatum Minotaurum Vuittenbergensem« (Gegen das mit der Kutte bekleidete Wittenberger menschenfressende Ungeheuer), die dem als Kalb titulierten Gegner in der Polemik nichts schuldig blieb, in der Sache aber nicht weiterführte. Luther nahm von ihr keine Notiz. Vom Nürnberger Reichstag aus versandte der Legat Chieregati Anfang 1523 zahlreiche päpstliche Breven, die die Unterdrückung und Verbrennung lutherischer Schriften forderten. Das an die Stadt Bamberg gerichtete geriet in Luthers Hände und wurde, wie üblich, von ihm mit Randbemerkungen und einem Nachwort versehen in deutscher Sprache herausgebracht 17 • Er nahm im Nachwort eine Wendung des Breve auf, die das Urteil über die Verwerflichkeit den Adressaten anheimstellte, und verwies auf die fehlende biblische Begründung der päpstlichen Vorwürfe, die sich nur auf den alten Brauch der Kirche beriefen. Dabei tat es ihm freilich leid, daß er das »Küchenlatein« des Breve in so gutes Deutsch übertragen hatte. Etwa gleichzeitig mit dieser Veröffentlichung ließ Luther dem beliebten Prediger Johann Schwanhausen am Stift St. Gangolf in Bamberg, dem die Verfolgung durch das Domkapitel drohte, einen Trostbrief zukommen 18 . Die Verfol-

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gung war das Los der Boten Christi und brauchte sie nicht zu entmutigen. Schwanhausen konnte sich noch bis November 1524 in Bamberg halten. 1523 ging die Universität Ingolstadt gegen den jungen Magister Arsacius Seehofer aus München vor. Dieser hatte 1521 bei Melanchthon in Wittenberg studiert und hielt aufgrund seiner Wittenberger Nachschriften Vorlesungen über die paulinischen Briefe. Er wurde deswegen denunziert und zur Haft im Kloster Ettal verurteilt. Vorher mußte er am 7. September 1523 17 für ketzerisch erklärte Artikel evangelischen Inhalts feierlich widerrufen. Die Universität hatte es jedoch vermieden, einen eigentlichen Ketzerprozeß gegen Seehofer anzustrengen. Die Verwerfung der Artikel war zunächst in einer Veröffentlichung ausführlich begründet worden, von der man sich allerdings später in Ingolstadt wieder distanzierte. Gegen die Verurteilung Seehofers wandte sich die bayerische Adlige Argula von Grumbach, geb. von Stauf, eine der profilierten frühen Anhängerinnen der Reformation, in mehreren Schriften, die auch von Luther rühmend erwähnt werden 19 • Er selbst gab etwa im März eine Schrift »Wider das blind und toll Verdammnis (Verdammung) der siebzehn Artikel von der elenden schändlichen Universität zu Ingolstadt ausgangen« heraus 2o • Auch in diesem Fall handelte es sich um eine kommentierte und mit Vor- sowie Nachwort versehene Veröffentlichung der gegnerischen Äußerungen. Damit sollte die Wirkung von Seehofers Widerruf aufgefangen werden. Die Rechtfertigung aus dem Glauben wurde von den Ingolstädtern zwar grundsätzlich anerkannt, sollte aber den Einfältigen nicht vorgetragen werden, weil sie zur moralischen Laxheit verführen konnte. Überhaupt waren die Zusammenstellungen und Widerlegungen der Artikel über Glauben und Werke vielfach ausgesprochen schwach und unsicher, so daß Luther leichtes Spiel hatte. Ähnlich verhielt es sich mit den Artikeln über die Autorität des Wortes und das kirchliche Amt. Gewagte Aussagen Seehofers über den Eid oder das Evangelium konnte Luther unschwer überspielen. Mit ihrem angeblichen Machwerk hatten sich auch die Theologen von Ingolstadt neben denen von Paris, Löwen und Köln als große Esel erwiesen. Ihnen wurden sofort auch die von Wien zugesellt, weil sie 1522 die Wiener Predigt des ehemaligen Würzburger Dompredigers Paul Speratus verurteilt hatten. Am 31. Mai 1523 wurde in Rom Benno, 1066-1106 Bischof von Meißen, heiliggesprochen. Damit war nach langen Bemühungen, an denen auch Hieronymus Emser beteiligt war, ein alter Wunsch des Bischofs von Meißen und Herzog Georgs in Erfüllung gegangen. Mit dem Parteigänger des Papstes im Investiturstreit hatte Sachsen seinen regionalen Heiligen. Die feierliche Exhumierung und Umbettung mit silbernen und goldenen Schaufeln sollte am 16. Juni, dem Todestag des neuen Heiligen, 1524 feierlich erfolgen. Dazu sollte auch in Kursachsen mit Plakaten eingeladen werden. Nicht ohne Grund bat Herzog Georg seinen kurfürstlichen Vetter, diese Plakate vor Verhöhnung zu schützen. Luther hielt das für eine unerfüllbare Bitte und kündigte Spalatin Anfang April an, daß er sich nicht abhalten lassen werde, einen kleinen Sermon mit einer Mahnung gegen solche Anfechtungen des Satans herauszugeben. Eine Verhöhnung der Plakate konnte schwerlich verhindert werden 21 . 93

In der Pfingstpredigt (15. Mai) erwähnte Luther dann das kirchenverderbende Anschlagen des Plakats 22 • Wie angekündigt, dürfte er sich damals an die Schrift »Wider den neuen Abgott und alten Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden«23 gemacht haben. Sie lag Emser etwa am 8. Juni vor, so daß er sich zu seinem Ärger erst nach dem Fest publizistisch gegen sie wenden konnte. Es ging Luther nicht um die Person des toten Benno. Falls dieser ein wahrhaftiger Heiliger war, konnte ihm die Erhebung nicht recht sein. Luther schrieb gegen den lebendigen Satan, der angesichts des wieder aufgegangenen Evangeliums Gott mit einem solchen Gaukelspiel verhöhnte. Derselbe Papst Hadrian VI., der Benno heiliggesprochen hatte, hatte in Brüssel durch Verbrennung zwei Ordensbrüder Luthers zu Märtyrern gemacht. Die Päpste bringen die rechten Heiligen um und erheben die falschen, verdammen Gottes Wort und stellen ihre eigene Menschenlehre auf. Die Perversion ist offensichtlich. Die heiligen Taten Bennos bestanden in seiner Gegnerschaft gegen den deutschen Kaiser, die schwerlich mit dem Evangelium zu begründen war. Manche Taten und Wunder, die man Benno zuschrieb, waren nichts anderes als eine massive Vertretung kirchlicher Interessen gegen die weltliche Gewalt. Andere Legenden konnten ebenso gut Gespenstergeschichten sein. Benno war möglicherweise ein Kind der Hölle, man hätte ihn lieber ruhen lassen sollen. Selbst die päpstliche Heiligsprechungsbulle schien sich nicht ganz sicher über die Heiligen zu sein. Für Luther galt die rechte Erhebung der Heiligen den Lebenden und ihrer Notdurft, nicht den Toten. Wo man sich eines bedürftigen Christen erbarmt, da wendet sich Gott mit allen Engeln hin und kehrt Meißen den Rücken zu. Selbst wenn Benno wirklich Wunder getan hätte, wüßte niemand, ob er selig gestorben ist - das war dem Richtspruch Gottes vorbehalten, auch wenn man es von manchen Heiligen annehmen mochte. Ausdrücklich lehnte Luther eine Anrufung Bennos und aller Heiligen ab, denn damit wurden sie zur abgöttischen Konkurrenz für Gott selbst. Von einer fürbittenden Funktion der Heiligen weiß die Bibel nichts. Irgendwelche Geldspenden für Benno waren mindestens unnötig. Rechte Heiligenverehrung bestand in dem Vertrauen, daß Gott uns wie ihnen beistehen wird. Seine vor und nach dem 16. Juni geschriebenen Briefe datierte Luther anzüglich nach dem Tag des neuen Heiligen. Am 16. Juni selbst bezeichnete er in einer Predigt die Erhebung als schmachvolle Strafe für das sichere Leben und das unterlassene Gebet im eigenen Lager und wandte sich gegen die Wittenberger Bilderverehrer. Es galt, mit Gebet dem Teufel zu widerstehen 24 . Luthers Polemik, an der es auch in seinen Predigten und sonstigen Schriften nicht fehlte, hatte gewiß ihre problematischen Seiten, und nicht immer tat er sich selbst mit seiner Schärfe einen guten Dienst. Gegenüber Heinrich VIII. wäre eine gemäßigtere Reaktion bestimmt sinnvoller gewesen, aber in diesem Fall ließ sich Luther durch das völlige Unverständnis, die Unterstellungen und die unzureichende Argumentation des Königs provozieren, und das wirkte sich bis in die Tonart aus. Man darf nicht vergessen, daß Luther seinerseits zur Zielscheibe von viel altgläubiger Kritik geworden war, auf die er gar nicht reagierte, wohl weil sie ihn nicht sonderlich interessierte. Ihrem Charakter nach waren fast alle seine Streitschriften von 1522 bis 1524 gegen die altgläubige Seite notwendige Verteidigung des eigenen Standpunkts. Die theologischen oder persönlichen Vorwürfe von Heinrich VIII.

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oder Cochlaeus durften in der Öffentlichkeit nicht unwidersprochen bleiben, dem alten Kirchenregiment mußte Widerstand geboten werden, und zu Vorgängen wie dem Verfahren gegen Seehofer oder der provozierenden Heiligenerhebung Bennos konnte er keinesfalls schweigen.

6. Ehe und Ehesachen In Luthers Auseinandersetzung mit der bisherigen Kirche bilden die Themen Ehe und Mönchtum eigene Komplexe. Sie waren naturgemäß nicht auf das Literarische beschränkt, sondern betrafen immer wieder ganz konkrete Schicksale, weil die reformatorische Theologie auf beiden Feldern alsbald zu praktischen Konsequenzen geführt hatte. Das bedeutete, daß Luther ständig mit konkreten Fällen und Problemen konfrontiert wurde. Im Frühjahr 1524 schrieb er an Martin Bucer: »Ich kann kaum alle Briefe bestreiten (beantworten), so viel Sachen und Fälle liegen mir auf dem Halse, sonderlich der Ehe und des Priestertums.«! Im Sommer 1522 bemühte sich der Bischof von Meißen, in Zwickau die kirchliche Sitte wieder einzuschärfen. Das betraf nicht nur die Firmung, sondern auch die Vorschriften über ehehindernde Verwandtschaftsgrade. Veranlaßt durch Nikolaus Hausmann veröffentlichte Luther darum Anfang August einen Zettel 2 , der die verbotenen Grade von Verwandtschaft und Schwagerschaft erheblich reduzierte auf das dritte statt wie bisher auf das vierte Glied und die sog. geistliche Verwandtschaft zwischen Paten und Patenkindern überhaupt nicht mehr anerkannte. Das führte unmittelbar danach zur Abfassung der schönen Schrift »Vom ehelichen Leben «3, die wohl auf eine Predigt zurückgeht. Luther griff das Thema nur ungern auf. Er wußte von den durch die päpstlichen Gesetze und die Rechtsprechung verursachten Wirrnissen auf diesem Gebiet, die ihm viel zu schaffen machen würden. Nichtweniger als eine neue Rechtsordnung mußte hier etabliert werden. Aber die Notstände ließen ihm keine Wahl, er mußte die verwirrten Gewissen unterrichten. Vorab wird die Ehe rundum bejaht. Mann und Frau sind Gottes gute Schöpfung. Das Wachsen und Mehren ist sein Werk und dem Menschen eingepflanzte Natur, »nötiger denn Essen und Trinken, Fegen (Stuhlgang haben) und Auswerfen, Schlafen und Wachen«. Das läßt sich durch kein Gelübde aufsagen. Ehelosigkeit kann man nicht einfach haben »wie Kleider und Schuh«. Das Problem der Impotenz wird kurz gestreift. Luther versuchte nochmals seine gewagte Äußerung aus» Von der babylonischen Gefangenschaft«, daß die Frau eines Impotenten sich einen anderen Partner suchen dürfe, zu erklären. Jetzt bezeichnete er den Eheschluß eines Impotenten als strafwürdigen Betrug. Die 18 Ehehindernisse des päpstlichen Eherechts werden hier ausführlicher erörtert und, abgesehen von einigen pragmatisch zu lösenden Sonderfällen, bis auf zwei verworfen. Die Ehescheidung wird, außer bei Impotenz, aufgrund von Mt 19 auch bei Ehebruch dem unschuldigen Teil zugestanden, muß aber von der weltlichen Gewalt ausgesprochen werden. Den Ehebrecher möchte Luther eigentlich mit dem Tod bestraft wissen. Er weiß aber, daß die Rechtsprechung damit zurückhaltend ist, deshalb soll der Ehebrecher des Landes verwiesen

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werden. Auch die Verweigerung der ehelichen Pflicht ist ein Scheidungsgrund, ebenso Unverträglichkeit. In diesem Fall haben die Partner jedoch danach ehelos zu bleiben. Hingegen ist die Krankheit des Partners als eine von Gott aufgelegte Last zu tragen. Schließlich handelt Luther vom ehelichen Leben selbst, wobei jedoch die sexuellen Beziehungen der Partner für ihn kein Thema sind. Er wendet sich gegen die Abwertung der Ehe und der Frau in der antiken Literatur, eben weil Mann und Frau Gottes Geschöpfe sind und ihre Gemeinschaft gut und gottgefällig ist. Während die eigensüchtige Vernunft über die Mühen des ehelichen Lebens wie Kinder wiegen, Windeln waschen, Gestank riechen, die Familie ernähren usw. die Nase rümpft, bejaht sie der Glaube, weil er darin Gottes Wohlgefallen erkennt. Das gilt nicht zuletzt auch von dem lebensbedrohenden Risiko der Geburt für die Frau. Der Spott über den Mann, der sich an der Säuglingspflege beteiligt, als einen »Frauenmann«, heute würde man »Hausmann« sagen, ist völlig unangebracht, denn von Gott wird das mit allen Engeln und Kreaturen lachend bejaht. Selbst die Betreuung eines Hurenkinds steht darum über dem ehelosen Klosterleben. Allerdings fehlt es meist auch bei den Eheleuten an dem aus Gottes Wort kommenden, nur dem Glauben bekannten Wissen von der Bejahung der Mühen des Ehestands, in dem Gott uns »wie eine Mutter in aller Güte« pflegt. Eben aus Gottes Wort ist Luther selbst Experte auch in Ehefragen. Mit der Ehe wird der Hurerei und Unkeuschheit gewehrt und Gottes Strafe an der Gesellschaft deswegen vermieden. Luther war für die Frühehe und hielt von einem Sich-Austoben vor der Ehe nichts. Das Beste an der Ehe sind die Kinder, die Seelen, an denen die Eltern als Apostel, Bischof und Pfarrer das allgemeine Priestertum üben, indem sie sie das Evangelium lehren. Mit der Ehe erhebt sich freilich die Sorge des Unterhalts. Ihr sollte man mit Gottvertrauen und Arbeit begegnen. Damit ließen sich nach Luthers Einsicht die Probleme bewältigen, die sich mit der Empfehlung der Frühehe einstellen mußten. Daß das möglicherweise auf Kosten des sozialen Status ging, war in Kauf zu nehmen. Vor allem der dritte Teil dieser Schrift ist ein großes Plädoyer für die Ehe. Luther hatte darüber nicht aus den Augen verloren, daß es auch in ihr die Sünde gab, ja es findet sich bei ihm weiter die biblische Anschauung von der Sündhaftigkeit ehelicher Beziehungen. Aber weil der Stand der Ehe Gottes Werk ist, übersieht er die Sünde gnädig. Die Gesandten Herzog Georgs von Sachsen in Nürnberg urteilten über dieses Buch: » ... wäre nicht gut für uns arme Ehemänner, daß böse Weiber darin lesen sollen«4. Wie von Luther vermutet, ließen ihn die Ehesachen in der Folgezeit nicht mehr los. Er mußte sich für Pfarrer, die geheiratet hatten, wie z.B. Johann Grau in Kronach, einsetzen, dem der Bamberger Bischof wenigstens seine dortigen Einkünfte aus Gütern belassen sollte 5 • Die verheirateten Pfarrer Johannes Stumpf aus Schönbach und Franz Klotzsch aus Großbuch beriet Luther bei dem Verfahren, das der Bischof von Merseburg gegen sie eingeleitet hatte 6 • Selbst in Kursachsen war die Priesterehe noch nicht selbstverständlich anerkannt. Friedrich der Weise wollte mit verheirateten Priestern offiziell nichts zu tun haben. Deshalb mußte das vom Hof für Bugenhagens Hochzeit zur Verfügung gestellte Wildbret als Geschenk Spalatins

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ausgegeben werden 7 • Für den Pfarrer in Jessen mußte Luther intervenieren, weil der altgläubige kursächsische Kanzler Hieronymus Rudlauf von jenem die Trennung von seiner Frau forderte 8 . Die Verteidigungsschrift des Würzburger Kanonikers Johann Apel für seine Ehe versah Luther im Sommer 1523 mit einem Vorwort 9 • Als es darum ging, daß wegen einer die Ehe hindernden geistlichen Verwandtschaft um teures Geld ein päpstlicher Dispens eingeholt werden sollte, riet Luther dringend davon ab. Der Papst konnte nicht verbieten, was Gott freigelassen hatte. Die Eheschließung sollte unbekümmert stattfinden. Der Brief wurde sofort gedruckt lO • In Predigten schärfte Luther ein, daß es zur Verlobung der Zustimmung der Eltern bedurftelI. Allerdings durften die Eltern ihrerseits die Kinder nicht zu einer Ehe zwingen 12. Im April 1524 veröffentlichte Luther darüber eigens eine Stellungnahme »Daß Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen noch hindern, und die Kinder ohne der Eltern Willen sich nicht verloben sollen« 13. Auch darin findet sich der Seufzer über die lästigen Ehesachen. Elterliche Gewalt hat dem Kind hilfreich zu sein, sonst überschreitet sie ihre Kompetenz. Von dem betroffenen Kind fordert Luther auch in diesem Fall eigentlich den leidenden christlichen Gehorsam, gesteht ihm aber dann doch wegen seiner Schwachheit die Einschaltung der Obrigkeit zur Vermittlung zu. Das Gebot des Elterngehorsams findet bei Verlobungen da seine Grenze, wo Eltern dem Kind nicht zur Ehe helfen. Sie können nicht die Ehelosigkeit des Kindes erzwingen. Wenn die eheliche Gemeinschaft schon vollzogen ist, ist es weiser, daß die Eltern nachträglich zustimmen. Nach menschlichem Recht muß der gebotene Gehorsam gegen die Eltern befolgt werden, sofern er nicht mißbraucht wird, christlich hingegen ist es, ein Einvernehmen zu suchen und notfalls sogar eine Übertretung des Elterngehorsams hinzunehmen. Als der Torgauer Barbier Blasius ein gegebenes Eheversprechen ableugnen wollte, setzte sich Luther bei Spalatin energisch für das Mädchen als die schwächere Partei ein l4 • Am schwierigsten dürfte das Problem der Ehescheidung gewesen sein, weil es hier noch kaum rechtliche Formen gab. Dem Breslauer Pfarrer Johann Heß empfahl Luther im März 1524, eine Ehe wegen» Impotenz« der Frau zu scheiden 15. Von einer Doppelehe in einem angeblichen Fall böswilligen Verlassens, wie sie offenbar Karlstadt empfohlen hatte, riet Luther Anfang 1524 ab. Er habe diese Möglichkeit in der Schrift» Vom ehelichen Leben« nicht eröffnen wollen 16. Im Mai 1524 wurde Luther selbst, wenn auch höchst ungern, in den komplizierten Scheidungsfall des Schneiders Michael Hanck verwickelt 17 • Wegen der Untätigkeit und Tyrannei der weltlichen und kirchlichen Gewalt brauchte man dafür eigentlich Christus selbst als Richter und Ratgeber. Aber die elende Not zwang Luther, sich der Sache anzunehmen. So hatte er das Ehepaar in Gegenwart des Pfarrers Bugenhagen und eines weltlichen Richters verhört und auch acht Zeugen zugezogen. Dabei hatte sich ergeben, daß Hanck seine Frau seit Jahren lebensgefährlich bedrohte. Die gemeinsame Entscheidung lautete auf Trennung der Eheleute. Die Frau war aber bereit, nach einem Viertel- oder halben Jahr zu ihrem Mann zurückzukehren, sofern er sich gebessert habe. Der Wittenberger Magistrat erkannte wohl auf Rat der Juristen diese Entscheidung nicht an, vermutlich weil er fürchtete, daß sie ähnliche Fälle

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nach sich ziehen würde. Luther bat deshalb Spalatin, daß der Kurfürst die Sache einem unabhängigen Gremium übertragen sollte, das sich der Not der Frau, die für ihn der wesentliche Gesichtspunkt war, annahm. Der Rat bestritt jedoch Luthers Darstellung des Falls gegenüber dem Kurfürsten, ließ sich dann aber in Gegenwart kurfürstlicher Beamter von deren Richtigkeit überzeugen und versprach, Luthers Entscheidung stattzugeben. Luther wollte das Fehlverhalten und die Falschinformation des Rates aber nicht hochspielen, sondern brachte Verständnis für diese menschliche Schwäche auf. Eben diesen Konflikt zwischen ihm und dem Rat, der noch einige weitere Fälle betraf, hat er am 8. Mai in einer Predigt über die Ehescheidung erörtert 18. Bei Verweigerung der ehelichen Pflicht, Anwendung von Zauberei und Impotenz war Luther an sich für Scheidung. Bei der vorliegenden, durch Zeugen bestätigten Bedrohung der Frau durch den Mann mußte man der Frau helfen und folglich scheiden, wenn keine Versöhnung erreichbar war. Luther hat sich mit seiner Autorität in diesem Fall als Eherichter gegenüber dem Rat durchgesetzt. Dabei scheint die Frage der Zuständigkeit zwischen dem Theologen und dem Rat, die später oft eine Rolle spielte, weniger das Problem gewesen zu sein als der konkrete Sachverhalt, ob Unverträglichkeit ein Scheidungsgrund war. Luther war es um eine Entscheidung gegangen, die der menschlichen Not und nicht bloß dem Buchstaben des Gesetzes Rechnung trug. Im August 1522 war in Rom eine ausführliche lateinische Schrift des damaligen Konstanzer Generalvikars Johann Fabri »Gegen gewisse neue und der christlichen Religion durchaus entgegengesetzte Dogmen Martin Luthers« erschienen, die Luther wohl durch den Leipziger Nachdruck im April 1523 bekannt wurde 19. Sie richtete sich gegen Luthers Abhandlung von der Macht des Papstes von 1519 und handelte von den Vorrechten des Papstes sowie der Überordnung der Priester über die Laien. Luther überließ die Entgegnung Justus Jonas und steuerte zu ihr lediglich einen Empfehlungsbrief bei 2o . Der verheiratete Jonas sollte sich vor allem Abschnitte über das Priesterzölibat vornehmen 21 • Er selbst hatte keine Lust, einmal mehr das Problem der Autorität der Kirchenväter, des Papstes und der Konzilien abzuhandeln und schon gar nicht gegen den mit seiner Bücherweisheit prunkenden, die Bibel jedoch übergehenden Fabri: »Auch mein Hund sieht täglich viele Bücher.« Der Satan präsentierte sich in seinen Werkzeugen recht unbedarft. Luther verzichtete auf eine Polemik und überging sie mit Verachtung. Mochte Fabri seine Kämpfe mit Huldrych Zwingli in Zürich ausfechten, wo er sich Anfang des Jahres auf der ersten Zürcher Disputation eine Abfuhr geholt hatte. Es war das erste Mal, daß Luther Zwingli nicht ganz beiläufig erwähnte. Ganz verzichtete Luther auf eine Erwiderung dennoch nicht. Im August veröffentlichte er »Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern «22, das ihm erlaubte, die Zölibatsfrage auf biblischer Grundlage zu behandeln. Er widmete die Auslegung dem damals noch unverheirateten sächsischen Erbmarschall Hans von Löser. Der weltklugen Kritik an der Ehe, wie sie auch von dem »Erznarren« und »Hurentreiber« Fabri geteilt wird, wird das biblische Lob der Ehe gegenübergestellt. Ehelosigkeit kann nur geloben, wem es von Gott gegeben ist; wer das nicht vermag, soll ehelich werden. Die Verfassung des Ehestandes, und zwar gerade auch hinsichtlich

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der gegenseitigen Hingabe, ist das Gesetz der Liebe, in dem ein Partner dem andern dient. Das ist zugleich die Maxime von Luthers Ethik überhaupt. Mehr braucht über die ehelichen Beziehungen gar nicht gesagt zu werden. Befristete Enthaltsamkeit als geistliche Übung wird nicht ausgeschlossen, aber auch nicht reglementiert. Ehelosigkeit und Ehe gelten vor Gott gleich. Die Nonnen haben den Ehefrauen nichts voraus. Der Ehestand ist mit seinem täglichen glaubenden Angewiesensein auf Gottes Hilfe eigentlich ein geistlicher Stand. Die Ehelosigkeit der Priester läßt sich aus dem Neuen Testament nicht belegen, und die Ehe ist mit dem Priestertum vereinbar. Normalerweise gilt der Satz: »Not heißt dich ehelichen«. Gemeint sind damit die sexuellen Bedürfnisse der menschlichen Natur. Der Zwang zum Zölibat ist darum unmenschlich und verführt zur Sünde. Anhand des Textes konnte Luther auch hier seine Vorstellungen von der Ehescheidung ausführen. Ein eheloses Leben wird nicht überhaupt für unmöglich erklärt. Die Entscheidung dafür muß aber frei sein und bleiben. Daß solche Schriftauslegung alles andere als bloße Theorie war, zeigt die bereits behandelte» Ermahnung an die Herren des Deutschen Ordens« aus dem gleichen Jahr. Die Wirkung von Luthers Schriften zur Ehe sollte man nicht unterschätzen, denn von ihnen ging eine gesellschaftliche Veränderung aus. Sie bestand in erster Linie in der Höherschätzung der Ehe und der Frau. Dazu gehörten ferner die Vereinfachung des Eherechts samt der neuen Zuständigkeit des Staates, die Frühehe, die in bestimmten Fällen mögliche Ehescheidung und das verstärkte Mitspracherecht der Eltern bei der Eheschließung. Nicht zuletzt hatte auch die Aufhebung des Zölibats soziale und kulturelle Bedeutung.

7. Mönche und Nonnen Luther selbst lebte weiterhin im Augustinerkloster. Vom dortigen Zusammenleben ist noch bekannt, daß Luther an Sonn- und Festtagen den verbliebenen Mönchen vor der Morgenpredigt eine kleine Ansprache hielt 1• Nach wie vor trug er in der Öffentlichkeit die Kutte, zu Hause war er gelegentlich auch schon in weltlicher Tracht anzutreffen. Seine Kutte war nach und nach anstößig abgeschabt und geflickt. Hieronymus Schurf bot ihm deshalb Geld für eine neue an, und der Kurfürst sandte schwarzen Samt für eine neue Kutte oder ein sonstiges Kleidungsstück. Luther ließ sich daraus dann einen Rock machen. Am 9. Oktober 1524 erschien er erstmals in weltlicher Kleidung in der Öffentlichkeit. Eine Woche später legte er die Kutte endgültig ab. Er hatte bisher mit dem Tragen der Ordenskleidung wie mit der Einhaltung des Fastens Rücksicht auf die Schwachen genommen, mußte es aber erleben, daß dieses Verhalten auch Mißdeutungen ausgesetzt war. Die Altgläubigen legten es als Unsicherheit über seine eigene Lehre aus, und auch Freunde wie der ehemalige Augustiner Jakob Propst fragten, warum er den Worten nicht die Tat folgen ließ 2 . Der Bericht des Gesandten des polnischen Königs am Kaiserhof Johannes Dantiscus über seinen Besuch bei Luther im Frühjahr 15233 bietet einen Einblick in das 99

damalige Augustinerkloster. Noch hielten sich dort außer Luther einige weitere Mönche auf. Bei der abendlichen Unterhaltung wurde Wein und Bier getrunken den Wein verschmähte Luther auch sonst nicht 4 - die Atmosphäre war gelöst. Gegenüber dem Diplomaten ließ es Luther nicht an offener Polemik gegen Papst, Kaiser und einige Fürsten fehlen. Zu einem vertieften Gespräch kam es nicht. Wie anderen Besuchern sind auch Dantiscus Luthers Augen aufgefallen: »Luthers Gesicht ist wie seine Bücher; seine Augen sind durchdringend und beinahe unheimlich funkelnd, wie man es bisweilen bei Besessenen sieht.« Luthers Lebensunterhalt wurde wie der der Mitmönche weiter aus den Einkünften des Augustinerklosters bestritten. Damit stand es im Mai 1522 freilich nicht gut, weil die Schuldner des Klosters ihre Zinsen nicht zahlten, so daß der Prior beim Wittenberger Schosser (dem fürstlichen Verwalter) für das wohl zum Bierbrauen benötigte Malz Schulden machen mußte, für die sich Luther verbürgte. Wegen des Zahlungsaufschubs mußte Spalatin angegangen werden 5 . Im Februar 1523 erwähnte Luther beiläufig, daß Günther von Staupitz, einer der Schuldner des Klosters, nicht zahle. Von der Stadt bekam das Kloster, abgesehen von dem geringen Entgelt für Luthers Predigttätigkeit, keinen Pfennig 6 • 1523 konnte die Malzschuld wieder nicht bezahlt werden. Auch Luther konnte nicht aushelfen, da er sich für ausgetretene Mönche und Nonnen verausgabt hatte 7 • Im Oktober hatte sich die Situation weiter zugespitzt. Günther von Staupitz zahlte nach wie vor nicht. Christoph von Bressen in Motterwitz war mit seinen Zinszahlungen von 90 Gulden schon ein Jahr im Verzug. Wegen seiner Heirat war ihm mehrfach Zahlungsaufschub gewährt worden, und wenn das Kloster Überfluß gehabt hätte, hätte man ihm nach Luthers Meinung sogar die Schulden erlassen. Aber so waren die Verhältnisse nicht. Das Kloster wurde selbst wegen fälliger Zinsen von jährlich 20 Gulden von Christoph Blanck, einem der Kanoniker des Allerheiligenstifts, sehr bedrängt. Der Kurfürst sollte also einen Zahlungsbefehl an von Bressen ergehen lassen 8 • Luther dachte jedoch bereits an eine weitergehende Lösung. Da er neben dem Prior Eberhard Brisger schließlich der letzte Insasse des Augustinerklosters war und dieses an den Kurfürsten zurückfallen würde, sollte Friedrich der Weise die Einkünfte des Klosters an sich ziehen und die Versorgung Luthers sicherstellen. Um den Krieg gegen den Papst zu führen, bedurfte es eben einer Existenzgrundlage. Entweder mußte der Kurfürst das dem Kloster in seiner Not vorgestreckte Getreide, auf dessen Bezahlung der Schosser grob bestand, schenken oder von Bressen zum Zahlen bringen 9 • Als abzusehen war, daß Brisger sich verheiraten wollte, meinte auch Luther, nicht mehr im Kloster bleiben zu können, und bat den Kurfürsten um die Zuweisung eines kleinen Hauses zwischen dem Kloster und dem HeiligGeist-Spital lO • Friedrich der Weise scheint, wie es seine Art war, so gut wie nichts getan zu haben. Im Februar und auch noch im April 1524 bestanden sämtliche Finanzprobleme weiterhin. Luther mußte darüber nachdenken, auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu finden. Im Sommer zahlte von Bressen wenigstens 120 Gulden. Bei der Beitreibung des restlichen Pachtzinses war der Buchdrucker Hans Lufft behilflich 11. Das Wittenberger Beispiel zeigt, wie schwierig inzwischen der Lebensunterhalt für Klosterinsassen geworden war. Die Verantwortung dafür trug

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letztlich Friedrich der Weise, der sich nicht einmal im Fall Luthers zu einer großzügigen Lösung aufraffen konnte. Seine zuwartende Haltung hatte auch ihre Schattenseiten. Der Kontakt zwischen Luther und Staupitz ist nie ganz abgebrochen. Am 27. Juni 1522 12 ließ er diesen wissen, daß er es nicht für Gottes Willen hielt, daß Staupitz Abt des Benediktinerklosters St. Peter in Salzburg werden sollte, respektierte aber dessen Entscheidung. Es lag ihm daran, daß Staupitz nicht allen Verdächtigungen glaubte. Daß es Ärgernisse und Mißbrauch der neuen Freiheit gab, war nicht zu vermeiden. Auch Staupitz gegenüber betonte er, daß gegen die bestehenden Mißstände allein mit dem Wort vorgegangen werden sollte. Einem Brief von Staupitz an Linck entnahm Luther befremdet, daß jener die Übernahme seines neuen Amtes bereute und sich verändert hatte 13. Am 17. September 1523 klagte Luther über das lange Schweigen von Staupitz, das auch nicht dadurch zu rechtfertigen war, daß ihre Wege sie auseinandergeführt hatten. Er hoffte immer noch auf seine Rückkehr, zumal er sich nicht vorstellen konnte, daß der Staupitz, den er kannte, unter dem altgläubigen Kardinal Lang zu bleiben vermochte. Luther konnte freilich die Möglichkeit nicht ganz ausschließen, daß Staupitz ein anderer geworden war. Ihm selbst war bewußt, daß sein Brief darum zwiespältig wirkte 14 . Staupitz ließ ihn darauf am 1. April 1524 15 wissen, daß sein Glaube an Christus und das Evangelium gleich und seine, Frauenliebe übersteigende, Liebe zu Luther (vgI.2. Sam1,26) ungebrochen sei, auch wenn er dessen Weg nicht verstand. Seinen eigenen Status und das Ordensleben hielt er trotz vorkommender Mißstände mit dem Glauben für vereinbar. Luther sollte auf die furchtsamen Gewissen Rücksicht nehmen. Er erkannte aber an, daß die Rückführung von den Trebern der Säue zur Weide des Lebens Luther zu verdanken war, auch wenn das Evangelium von vielen libertinistisch mißbraucht wurde. Der alte Mann wünschte sich, eine Stunde im vertrauten Gepräch mit Luther zuzubringen. Von der Wittenberger Universität, der er einen Studenten zusandte, erwartete er auch weiter gute Frucht. Am Schluß bezeichnete er sich als den, der einst als Vorläufer der heiligen evangelischen Lehre hervorgetreten sei und bis heute die babylonische Gefangenschaft hasse. Luthers Antwort ist nicht erhalten; so bleibt dieses Dokument der Gemeinsamkeit über die Geschiedenheit hinweg der Schlußpunkt einer der wichtigsten Beziehungen im Leben Luthers. Den Tod von Staupitz im Dezember 1524 erwähnt er nur mit einem Satz, der auf die Kürze von dessen Abbatiat abhebt 16 . In seinen Predigten illustrierte Luther mit dem Mönchtum fort und fort die ungläubige, hochmütige, sich auf Werke verlassende, gesetzliche und eigensüchtige Existenz. »Ich muß immer durch Mönche, Nonnen, Pfaffen exemplifizieren, da ich keine geeigneteren Beispiele habe.«17 Das war der Hintergrund, den er nur zu gut kannte. Selbstverständlich dauerte auch die literarische Auseinandersetzung mit dem Ordenswesen an. 1522 hatte der Franziskaner Kaspar Schatzgeyer sein »Scrutinium divinae scripturae pro conciliatione dissidentium dogmatum« (Durchforschung der Heiligen Schrift zum Ausgleich der sich widersprechenden Dogmen) erscheinen lassen, das sich vor allem gegen Luthers Schrift von den Mönchsgelübden richtete. Schatzgeyers Ausführungen trat Anfang 1523 auf Bitte des anderwei-

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tig beschäftigten Luther der Wittenberger Franziskaner Johann Brießmann entgegen, und Luther steuerte dazu einen Empfehlungsbrief bei, der einige Winke zur Widerlegung enthielt 18 • Man spürt auch hier seinen Überdruß bei der Lektüre gegnerischer Schriften. Anders als Schatzgeyer hielt Luther den monastischen Sonderweg für unvereinbar mit der Schrift. Sie allein reguliert das Verhalten des Menschen gegenüber Gott und nicht eine zusätzliche Mönchsregel, für die auch nicht der gleiche Gehorsam gefordert werden durfte. Auch zu den »evangelischen Kommentaren zur Minoritenregel« des damals in Wittenberg weilenden ehemaligen französischen Franziskaners Lambert von Avignon, die wohl Ende Juli 1523 erschienen, steuerte Luther einen kurzen Empfehlungsbrief bei 19. Mit dem Evangelium mußte gerade gegen die vielfältige Pest der Franziskaner vorgegangen werden, und Luther war froh, daß er im Kampf gegen die babylonische Hure nicht allein stand. Dem Weimarer Hofprediger Wolfgang Stein riet Luther allerdings im Dezember 1522 von der Veröffentlichung einer Streitschrift gegen die dortigen Franziskaner ab, weil sie nach seiner eigenen Erfahrung den in dieser Stadt sich schon über ein Jahr hinziehenden Streit nicht beenden würde 2o • Das Auftreten von Ungeheuern oder Mißgeburten hielt die damalige Zeit für ein Vorzeichen kommenden Unglücks und göttlichen Zorns. In diesem Sinn notierte Luther am 13. Juni 1522 das Stranden eines großen Wals bei Haarlem 21 • In Waltersdorf bei Freiberg im Herzogtum Sachsen wurde im Dezember 1522 ein mißgebildetes Kalb geboren. Der Hofastronom in Prag deutete es alsbald auf Luther und ließ darüber auch einige Verse drucken. Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach, der sich in Prag aufhielt, sorgte jedoch für die Unterdrückung des Flugblatts und entschuldigte sich zugleich bei Luther 22 • Dieser hatte wohl schon anderweitig von dem Ereignis erfahren und seinerseits eine Deutung des Mißgebildes beschlossen. Kurz zuvor hatte sich Melanchthon mit einem angeblichen Monstrum mit Eselskopf, Frauenleib, Schuppenhaut, verschiedenen Füßen usw. befaßt, das schon 1496 der Tiber bei Rom ausgeworfen hatte. Nunmehr kam es im Januar 1523 zu einer von Lukas Cranach illustrierten gemeinsamen Veröffentlichung: »Deutung der zwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Munchskalbs zu Freyberg in Meyßen gefunden«. Luther hoffte, daß das Mönchskalb wie das Aufleuchten des Evangeliums ein Vorzeichen des Jüngsten Tages sein möge. Er verzichtete jedoch auf eine prophetisch-eschatologische Ausdeutung und bezog die Mißgeburt einfach auf das Mönchtum. Das Fell glich offenbar einer Kutte. Aber darunter steckte ein Kalb, das Symbol des Götzendienstes im Alten Testament. Das Kalb frißt Gras, so ist auch das Mönchtum auf das Irdische gerichtet. Die Löcher im Fell wiesen auf die Uneinigkeit unter den Orden hin. In die Erklärung von Einzelheiten packte Luther seine ganze Kritik am Mönchtum. Es war ihm selbst bewußt, daß sich die Deutung nicht in allem reimte. Immerhin nahm er eine allgemeine Bedeutung der Mißgeburt an. Die Richtigkeit seiner inhaltlichen Kritik jedoch ließ sich aus der Bibel belegen. So schließt die Schrift mit einem ernsten Bußruf an Mönche und Nonnen, Christen zu werden. An den Adel aber erging der Aufruf, sich seiner Kinderin den Klöstern anzunehmen, die nicht alle willige und keusche Jungfrauen sein konnten. Hiermit wurde ein Problem berührt, das Luther noch im selben Jahr sehr beschäftigen sollte.

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Illustrationen zu Luthers und Melanchthons Schrift »Deutung der zwei greulichen Figuren, Papsteseis zu Rom und Mönchskalbs zu Freiberg in Meißen gefunden«, Wittenberg 1523 Holzschnitte von Lukas Cranach d. Ä. oder seiner Werkstatt

Die durch Luther ausgelösten Austritte aus den Klöstern brachten viele praktische Probleme mit sich, die er schwerlich vorausgesehen hatte. Im Juni 1523 bemerkt er einmal: »Die ausgetretenen Nonnen und Mönche stehlen mir viele Stunden.« Luther wurde es lästig, daß sie sich so zahlreich an ihn wandten. Und dann heirateten sie alsbald und hatten doch gar keine Welterfahrung 24 • Der oben erwähnte Johann Brießmann hatte Wittenberg verlassen und sich zu den Franziskanern seiner Heimatstadt Cottbus begeben müssen, nachdem Anfang 1522 den Wittenberger Mönchen das Betteln verboten und der Erwerb des Lebensunterhalts durch ein Handwerk befohlen worden war. Luther verwandte sich im April 1522 für ihn, daß er zurückkehren konnte. Auch in seinen Predigten trat er dafür ein, daß die Franziskaner keine Not leiden durften, nachdem ihnen das Betteln untersagt war 25 • Einen anderen Mönch empfahl er an Hausmann in Zwickau, damit er dort ein Handwerk lernen konnte 26 • Die aus dem Herzberger Kloster austretenden Augustiner beriet er wegen des Verkaufs der Kleinodien, auf die jedoch auch der Kurfürst Anspruch erhob. Luther wollte den Erlös zur Ausstattung der Austretenden verwendet wissen, hatte damit aber wohl keinen Erfolg 27 • Auch sonst mußte er sich dafür einsetzen, daß Austretenden wenigstens ein Teil des eingebrachten Vermö103

gens zurückgegeben wurde, auch wenn das gegen die bestehende Rechtslage war 28 . Erschwerend kam dabei hinzu, daß der vorsichtige Friedrich der Weise sich eigentlich mit ausgetretenen Mönchen überhaupt nicht befassen wollte. Luther mußte Spalatin darauf hinweisen, daß es sich dabei um ein ganz frommes Werk handle, Menschen aus der Gefangenschaft des Teufels zu helfen 29 • Am 8. April 1523 teilte Luther Linck fast beiläufig mit: »Ich habe gestern aus dem Kloster Nimbschen neun Nonnen aus der Gefangenschaft empfangen.«3o Es ist überhaupt das erste Mal, daß man von ausgetretenen Nonnen hört. Für sie war der Schritt aus dem Kloster offensichtlich wesentlich schwieriger als für die Mönche. Luther selbst scheint darum eine geradezu spektakuläre Initiative ergriffen zu haben, über die er dann alsbald in der mehrfach nachgedruckten Schrift» Urs ach und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen« berichtete und Rechenschaft ablegte 31 . Er hatte den Torgauer Bürger Leonhard Koppe am 4. April, in der Nacht zum Ostersonntag, dazu veranlaßt, mit seinem Planwagen zwölf Nonnen aus dem Zisterzienserinnenkloster Marienthron in Nimbschen bei Grimma im Herzogtum Sachsen, dessen Lieferant Koppe war, herauszuholen. Nach einer späteren Torgauer Chronik war das Unternehmen als Transport von Heringstonnen getarnt. Daraus entstand dann die Geschichte, die Flüchtlinge seien in solchen Tonnen versteckt gewesen. Koppe wurde bei der Befreiungsaktion von seinem Vetter und Wolf von Dommitzsch unterstützt. Drei Nonnen kamen bei ihren Verwandten unter, die restlichen neun brachte Koppe zu Luther nach Wittenberg. Dieser pries Koppe in hohen Tönen als Werkzeug einer göttlichen Befreiungstat, die freilich auch Widerspruch finden würde. Gewiß, Koppe war ein Räuber, aber ein »seliger Räuber« wie Christus, als er in die Hölle einbrach. Nicht an Geheimhaltung, im Gegenteil, an Publizität lag Luther in diesem Fall, um ein Beispiel zu geben und zugleich um aller üblen Nachrede einen Riegel vorzuschieben. Die adligen und bürgerlichen Angehörigen von Nonnen sollten das Beispiel nachahmen. Dann begründete er die Berechtigung des Unternehmens: Die Eltern und Verwandten der Nonnen hatten sich versagt. Den in die Klöster gesteckten Kindern, besonders den Mädchen, werde mit der Ehelosigkeit ein meistens unerträgliches Los zugemutet. Dabei gehe man in den Klöstern meist nicht mit Gottes Wort um, was schon ein Grund zum Austritt war. Zu einem Werk für Gott darf man nicht gezwungen werden, sonst ist es vergebens; die Gelübde aber waren häufig erzwungen. Die eigentliche Bestimmung der Frau sei es, Kinder zu haben. Die Einhaltung unmöglicher, gottwidriger Gelübde sei auch nicht mit Beten zu erreichen. Rücksicht auf die Schwachen könne gegen den Bruch solcher Gelübde nicht geltend gemacht werden: »Not bricht Eisen und hat kein Ärgernis.« Die neun Nonnen führte Luther namentlich auf. Unter ihnen befanden sich Magdalena, eine Schwester Johanns von Staupitz, und Katharina von Bora. Daß sie einmal seine Frau werden würde, ahnte Luther noch nicht. Er wollte die Ausgetretenen bei ihren Verwandten oder notfalls auch anderweitig unterbringen. Er hatte dafür einige Zusagen. Wenn möglich, wollte er einige verheiraten. Im Lauf der Zeit fand sich tatsächlich für alle eine Versorgung. Zunächst benötigte er jedoch Mittel für ihren Unterhalt. Spalatin sollte deswegen eine Sammlung am Hof veranstalten, denn die gar nicht armen 104

Wittenberger verhielten sich hinsichtlich der Liebestätigkeit gegenüber Luther so undankbar wie die Einwohner von Kapernaum gegen Jesus. Erst vor kurzem hatte er für einen armen Bürger keine zehn Gulden auftreiben können 32 . In seiner Predigt vom 12. April sprach er deshalb die Wittenberger auf die ausbleibenden Früchte des Evangeliums deutlich an 33 . Wie dringend Luther auf das Geld angewiesen war, erkennt man daran, daß er bereits am 22. April Spalatin an die Sammlung erinnerte 34 . Auch der Kurfürst sollte angegangen werden. Mit Rücksicht auf dessen bekannte Zurückhaltung wollte Luther eine etwaige Spende von ihm geheimhalten. Die demonstrative Aktion hatte die gewünschte Signalwirkung. Im Juni traten 16 Nonnen aus dem Kloster Widerstedt in der Grafschaft Mansfeld aus 35 . Im Dezember 1523 wurde Luther wohl von der ehemaligen Nonne Hanna von Spiegel in einen jener Fälle eingeschaltet, wie sie damals immer wieder vorkamen 36 . Sie hatte sich mit einem Bürgerlichen verlobt, worauf ihre Verwandten mit juristischer Unterstützung die nicht standesgemäße Ehe zu verhindern suchten. Luther konnte sich derartige Heiraten durchaus vorstellen: »Ein Mensch ist des andern wert, wo sie nur Lust und Liebe zusammen haben.« Anfang 1524 flüchtete die Nonne Florentina von Oberweimar aus dem Kloster Neu-Helfta bei Eisleben nach Wittenberg. Dort schrieb sie einen Bericht über ihr Schicksal, den Luther wohl im März herausgab als »Ein Geschicht, wie Gott einer Ehrbarn Klosterjungfrauen ausgeholfen hat. Mit einem Sendbrief Martin Luthers an die Grafen von Mansfeld«37. Florentina war mit sechs Jahren ins Kloster gegeben worden, stellte aber später ihre Abneigung gegen das Ordensleben fest, kam jedoch nicht mehr los. In ihrer Not wandte sie sich an Luther, weshalb die Äbtissin Klosterhaft und schwere Bußstrafen bis zu Schlägen über sie verhängte, besonders als weitere Kontaktversuche mit der Außenwelt entdeckt wurden. Luther bezeichnete deswegen die Äbtissin als Isebel. Schließlich ergab sich für Florentina doch eine Gelegenheit zur Flucht. Luther nahm den Bericht zum Anlaß, sich an die fünf Grafen von Mansfeld, seine eigentlichen Landesherrn, zu wenden, die, außer AIbrecht, noch dem alten Glauben anhingen. Er deutete die Flucht der Florentina als Gottes Tat, mochten auch andere hier den Teufel am Werk sehen. Beweis war für ihn die Tatsache, daß Gott keinen erzwungenen Dienst haben will, wie er Florentina abgefordert worden war. Die Grafen sollten daher den Austritt aus den Klöstern freigeben, und niemand sollte seine Kinder in diese zwingen. Zwang und Unterdrückung der Sexualität durch das Zölibat waren für Luther zureichende Gründe zum Austritt aus dem Kloster, wie er im August 1524 drei Klosterjungfrauen wissen ließ 38 . Für vorbildlich hielt er die kurz zuvor vom Berner Rat dem Nonnenkloster Königsfelden zugestandene Freigabe des Klosterlebens. Die Bemühung um die Befreiung von Nonnen aus den Klöstern und die Fürsorge für sie, unter ihnen keine geringere als Ursula von Münsterberg, die Base Herzog Georgs, setzte sich auch in den folgenden Jahren fort. Nicht ohne Grund galten Luthers besondere Sorgen seinen Ordensbrüdern in den Niederlanden, die den antireformatorischen Maßnahmen der habsburgischen Regierung ausgesetzt waren 39 . Im Februar 1522 hatte Jakob Propst, der 1521 als Prior nach Antwerpen gegangen war, vor der Inquisition in Brüssel einer Reihe

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angeblich häretischer Sätze abgeschworen, ebenso Melchior Mirisch, der Prior von Gent, der sogar in Verdacht geriet, bei der weiteren Verfolgung der Augustiner behilflich gewesen zu sein. Die Gegenseite schlachtete den Widerruf publizistisch aus. Verständlicherweise war Luther über den Abfall beider bekümmert. Den schlauen Entschuldigungen des inzwischen nach Deutschland zurückgekehrten Mirisch traute er nicht. Er hielt ihn für den Büttel des Kaisers. Erst Anfang 1523 akzeptierte er seine Rechtfertigung, und Mirisch bewährte sich dann alsbald in Magdeburg. Es ging darum, maßvoll zu predigen, aber dann auch für die Sache einzustehen, die Leben und Blut forderte 40 . Die Verfolgung in den Niederlanden hielt an. Propst war nach seinem Widerruf nach Ypern versetzt worden und predigte dort erneut evangelisch, weshalb er im Sommer 1522 wieder gefangengesetzt wurde. Dem wegen Rückfalls drohenden Ketzertod konnte er sich durch die Flucht entziehen. Im August traf er in Wittenberg ein. 1523 wurde er der Führer der Reformation in Bremen 41 . Luther fürchtete damals, daß ihm ein ähnliches Schicksal wie seinen Anhängern in den Niederlanden drohe. Trotz Abfalls und Niederlagen ließ sich die evangelische Bewegung in den Niederlanden zunächst nicht unterdrücken. Ein Dokument der damaligen Beziehungen Luthers zu den Niederlanden ist sein Vorwort vom August 1522 zu den in Zwolle veröffentlichten Briefen Wessei Gansforts (gest. 1489) und zu den dort etwas später erschienenen »Fragmenta« des Johann Pupper von Goch (gest. 1475), denen u. a. auch Abschnitte aus Luthers Schrift gegen Latomus beigegeben waren 42. Wessei mit seiner Lehre von den Sakramenten und vom Ablaß und Pupper mit seiner Gnadenlehre bewiesen neben Tauler und der »Deutsch Theologia«, daß es auch vor Luther Zeugen der Wahrheit gegen die Scholastik gegeben hatte. In Antwerpen war der aus Wittenberg zurückgekehrte Heinrich von Zütphen der Nachfolger von Propst geworden. Wegen einer Predigt in der Münze an Michaelis (29. September 1522) wurde er verhaftet, aber Frauen befreiten ihn, und er konnte nach Bremen entkommen, wo er alsbald erneut predigte. Das Augustinerkloster in Antwerpen wurde geschlossen 43 . Am 1. Juli 1523 waren in Brüssel die beiden Antwerpener Augustiner Johann van Esch und Heinrich Voes verbrannt worden. Durch Flugschriften wurde das Ereignis rasch bekannt. Als Luther die Nachricht erhielt, »hat er angefangen innerlich zu weinen und gesagt: Ich vermeint, ich sollte ja der erste sein, der um dieses heiligen Evangeliums willen sollte gemartet werden; aber ich bin dessen nicht würdig gewesen.«44 Aber erstaunlich und bezeichnend zugleich dankte er alsbald Christus, der endlich begann, »eine Frucht unseres, nein seines Wortes zu zeigen und neue Märtyrer zu schaffen«. Es handelte sich darum für ihn um eine »gute Nachricht«45. Auf diesen Ton ist auch sein ungefähr Anfang August verfaßter »Brief an die Christen im Niederland« gestimmt 46 . Nun war nicht nur das Licht des Evangeliums aufgegangen, sondern hatte auch seine ersten Blutzeugen. Sie, die Verachteten, werden bei Gott geehrt und mit Christus zum Gericht über ihre Richter kommen. Gott wird gelobt, daß er die gegenwärtige Zeit solche rechten Heiligen und wahrhaftigen Märtyrer erleben läßt. Auch hier findet sich, ähnlich wie in dem späteren Brief an Lambert Thorn, die Bemerkung, daß man in Deutschland dessen bisher nicht würdig gewesen sei. In die Getrostheit und Freude schleicht sich kein Ton von Trauer und

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Angst ein. Die Martyrien sind der Beweis, daß das Reich Gottes nicht in Worten, sondern in Kraft steht. Die Trübsal hat Verheißung. Angesichts der Schmach, die z. B. in der Bezeichnung lutherisch lag, galt es gemeinsam an Christus als dem Haupt festzuhalten. Dem Brief beigefügt war ein Bericht über das Verhör und die tapfere Haltung der Angeklagten gegenüber den Ketzermeistern. Aus diesem Anlaß entstand wohl gleichzeitig mit dem »Brief« als Anfang von Luthers Liederdichtung »Ein hübsch Lied von den zweien Marterern Christi, zu Brussel von den Sophisten zu Löwen verbrannt«47. Es handelt sich um eine ergreifende Ballade, die zweifellos auch dem Zweck der Propaganda dienen sollte. Die Hinrichtung war keine Niederlage, sondern eine Bestätigung für die gute Sache des Evangeliums. Zum Teil stürmten die Wörter über alle Gesetze des Versmaßes hinweg: Die Aschen will nicht lassen ab, sie stäubt in allen Landen. Die hilft kein Bach, Loch, Grub noch Grab, sie macht dein Feind zu schanden. Abgesehen von denselben Grundgedanken wie im »Brief« schildert das Lied anschaulich die Standhaftigkeit der beiden »jungen Knaben« gegenüber den Löwener Theologen. Geschickt wird die Entkleidung des Ordensgewandes und die Degradierung als Priester kontrastiert mit dem zum allgemeinen Priestertum gehörenden Selbstopfer und dem Ablegen der Möncherei. Der Anklage entsprechend wird der »Irrtum« der Verurteilten angegeben, daß man allein Gott und nicht den Menschen glauben soll. Eine nachträgliche, sich nicht ganz glatt einfügende Erweiterung ist die Doppelstrophe vom vergeblichen Versuch der Feinde, das Ereignis zu verschweigen, denn die Toten erwiesen sich als lebendige Zeugen. Dafür sorgte nicht zuletzt Luthers Lied. Die Lüge, daß die Hingerichteten vor ihrem Ende doch noch widerrufen haben, wird als falsches Gerücht entlarvt. Der Schluß ist erneut der Dank und die dichterisch schöne, auf Hoheslied 2,12 zurückgehende Ansage der begonnenen Heilszeit: Der Sommer ist hart vor der Tür, der Winter ist vergangen, die zarten Blumen gehn herfür, der das hat angefangen, der wird es wohl vollenden. Das Brüsseler Martyrium hat Luther zweifellos zutiefst bewegt und damit eine neue Saite bei ihm zum Klingen gebracht, die nicht mehr verstummen sollte. In den Brüsseler Prozeß war noch ein dritter Augustiner, Lambert Thorn, verwickelt gewesen, der jedoch nicht, wie zunächst angenommen, verbrannt, sondern eingekerkert wurde. Luther richtete am 19. Januar 1524 an ihn einen Brief48 • Christus litt in Lambert, und er stärkte ihn auch. In der Christusgemeinschaft waren 107

auch die Wittenberger mit ihm. In diesem Trostbrief klingen die tiefsten Gedanken von Luthers Kirchenverständnis an. Die Überwindung der klösterlichen Lebensform war für Luther damals keineswegs bloß ein Nachhutgefecht seiner Vergangenheitsbewältigung, sondern eine exemplarische Auseinandersetzung über das dem Evangelium entsprechende christliche Leben in der Welt. Wie an der Befreiung der Nonnen sichtbar wird, führte das auch zu Eingriffen in das bestehende soziale Gefüge. Nicht von ungefähr wurden Luthers niederländische Ordensbrüder wegen ihrer Bestreitung der kirchlichen Rechtsordnung die ersten Märtyrer der Reformation. Luther selbst stand der eigentliche öffentliche Schritt aus dem Klosterleben heraus noch bevor.

8. Die Universität Die Universität beschäftigte Luther in den ersten beiden Jahren nach seiner Rückkehr relativ wenig. Seine öffentlichen Vorlesungen nahm er wegen der Bibelübersetzung, aber wohl auch aus politischen Rücksichten, erst im Sommersemester 1524 wieder auf. Genaugenommen hat er jedoch nicht so lange pausiert. Bereits am 24.Februar 1523 begann er in einem »vertrauten Kreis« (familiare colloquium) nachmittags das Deuteronomium auszulegen, woraus der 1525 gedruckte Kommentar entstand 1. Dabei handelt es sich schwerlich nur um eine besondere Veranstaltung für Luthers Mitmönche, sondern eher um eine Privatvorlesung, an der z. B. auch Bugenhagen teilnahm. Eine gewisse Entsprechung bestand vielleicht ursprünglich zwischen dieser Veranstaltung und der von Luther in seiner Predigt am 11. März 1523 vorgeschlagenen Auslegung des Neuen Testaments am Morgen und des Alten Testaments am Nachmittag für die Geistlichen in der Stadtkirche. Aber dieser Klerikergottesdienst, in dem sich Luther nicht selbst engagierte, hatte dann seine eigene Entwicklung 2 • Über das Verhältnis Luthers zu Melanchthon und die Zusammenarbeit beider , die schon wegen der Bibelübersetzung intensiv gewesen sein muß, erfährt man wenig, wahrscheinlich weil sie selbstverständlich gut waren. Es gibt allerdings auch gewisse Hinweise, daß beide in mancher Hinsicht nur nebeneinanderher lebten. Wie Melanchthons Korrespondenz vielfach zeigt, trat er mindestens so sehr wie Luther für ein behutsames Vorgehen bei der Reformation ein. Nach wie vor schätzte dieser Melanchthon als Schriftausleger . Im Sommer 1522 ließ Luther ohne Einwilligung Melanchthons dessen Vorlesungen zum Römerbrief und den bei den Korintherbriefen in Straßburg drucken, weil niemand Paulus besser ausgelegt habe 3 . Melanchthon war darüber keineswegs glücklich, vermutlich weil er über sie bereits hinausgewachsen war. Luther kümmerte das nicht. Ein Jahr später machte er es mit Melanchthons Vorlesung über das Johannesevangelium ebenso. Auf Auslegungen von solcher Qualität konnte man einfach nicht verzichten 4 • Luther wollte Melanchthon ganz für die theologische Lehrtätigkeit gewinnen. Grammatik konnten auch andere lehren 5 • Me1anchthon dachte an diesem Punkt ganz anders. Er wollte lieber die Theologie aufgeben und sich ganz dem Unterricht

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des Griechischen und der Ausbildung der Anfänger widmen. Seiner Ansicht nach gab es genug Theologen. Die Hilfswissenschaften waren für die Bibelauslegung unentbehrlich 6 • Infolge der durch die Wittenberger Unruhen von 1521/22 bewirkten Verunsicherung zog er sich bewußt auf die humanistische Bildungsarbeit zurück. Luther wollte das nicht wahrhaben. Als sich Melanchthon 1524 weigerte, theologische Vorlesungen zu halten, und sich dafür auf seinen eigentlichen Lehrauftrag für die griechische Sprache berief, wandte sich Luther an den Kurfürsten. Alle verlangten, daß Melanchthon biblische Vorlesungen halte, worin er selbst Luther überragte. Dafür sollte sein Gehalt aufgebessert werden. Melanchthon erhielt dann eine entsprechende Anweisung 7 • Auf derselben Linie lagen die Bemühungen um eine ordentliche Besoldung Bugenhagens, der neben Melanchthon der fähigste Exeget war 8 •

9. Obrigkeit und Politik Seit 1518 hatte Friedrich der Weise Luther den Schutz der kursächsischen Politik gewährt. Das geschah offiziell so, daß der Kurfürst in der »Luthersache« nicht Partei ergriff und sie gerade auf diese Weise offen hielt. Faktisch hatte sich Friedrich freilich längst intensiv für Luther engagiert, am deutlichsten durch die Gewährung des schützenden Verstecks auf der Wartburg. Mit seiner Rückkehr nach Wittenberg hatte Luther dem Kurfürsten die »neutrale« Haltung fast unmöglich gemacht, dennoch wurde an ihr offiziell festgehalten mit der Version, daß Luther sich auf eigene Verantwortung in Wittenberg aufhielt. Dabei handelte es sich nicht um eine bloße Fiktion. Wie schon gezeigt wurde, vermied Friedrich der Weise ein allzu deutliches Eintreten für Luthers Anhänger oder für reformatorische Maßnahmen und wartete ab. Im allgemeinen war Luther mit dieser Haltung seines Landesherrn auch einverstanden oder respektierte sie mindestens. Mit dem Verzicht auf den Schutz des Kurfürsten bei der Rückkehr nach Wittenberg war es ihm ernst gewesen, obwohl das für ihn eine extreme Gefährdung bedeutete. Im Oktober 1523 konnte er dann erstaunt feststellen, daß er persönlich überlebt und die Belastung der kursächsischen Politik durch seine Sache sogar abgenommen hatte 1. Das Verhältnis zwischen Luther und seinem Landesherrn konnte dabei nur komplex sein. Es gab Gemeinsamkeiten und daneben ebenso Differenzen, die über das taktische Vorgehen hinaus gelegentlich sogar das Grundsätzliche berührten. So bestand auf beiden Seiten auch Unabhängigkeit und Distanz. Der Landesherr ließ sich nicht ohne weiteres durch den Reformator bestimmen, und dieser war seinerseits keineswegs einfach ein willfähriger Befehlsempfänger der kursächsischen Politik. Die Vermittlung und der Ausgleich zwischen beiden war häufig Sache des kurfürstlichen Geheimsekretärs Spalatin 2 . Gelegentlich sorgte Luther dafür, daß ein Problem, z. B. eine Testamentsangelegenheit, nicht dem Kurfürsten vorgelegt, sondern auf der niederen Ebene des Zwickauer Stadtrats erledigt wurde. »Ich kenne den Sinn des Menschen, der es ertragen kann, daß von andern geschehen mag, was geschieht, selbst aber nicht befehlen oder raten will.«3

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Der beharrliche Fürbitter Das eigenartige Verhältnis zwischen Luther und dem Landesherrn wird auch in einigen Fällen erkennbar, in denen Luther als Fürbitter auftrat. Offensichtlich setzten seine Klienten auf seinen Einfluß beim Hof gewisse Erwartungen. Luther nannte sich deshalb einmal einen »unfreiwilligen Höfling außerhalb des Hofes«4. So machte er sich z.B. die lauten Klagen über die unbefestigte Straße von Wittenberg nach Kemberg zu eigens. Auch eines Waldaufsehers nahm er sich an, der bei der Jagd durch einen Eber verletzt und dienstunfähig geworden war. Er erkannte an, daß die Untertanen den Fürsten die mit einem Risiko verbundenen Dienstleistungen bei der Jagd schuldeten, was von diesen freilich häufig übermäßig in Anspruch genommen wurde. Zugleich hatten die Fürsten aber ihrerseits ihren Untertanen zu nützen. Darum hielt Luther in diesem Fall nicht nur eine Liebesgabe, sondern einen Rechtsanspruch auf eine Entschädigung für gegeben 6 • Als ein Fischer, der in den kurfürstlichen Gewässern gefischt hatte, zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde, legte sich Luther gleichfalls ins Mittel. Strafe sollte wegen der Abschreckung und der Autorität der Regierung sein, aber sie durfte nicht die Existenzgrundlage antasten, sondern mußte Besserung anstatt Verderbung intendieren. Der arme Fischer sollte etliche Tage in den Kerker gesperrt werden oder »Wasser und Brot fressen« müssen, reiche Leute hingegen sollte man am Beutel rupfen 7. Dies war nicht der einzige Fall, in dem sich Luther für eine Strafmilderung einsetzte 8 . Einmal erhielt er unter dem Beichtsiegel 30 unterschlagene Goldstücke, damit er sie dem Kurfürsten zurückgebe 9 • In der nicht näher bekannten Angelegenheit des Christian Pfaffenbeck hatte sich Luther schon von der Wartburg aus an den Kurfürsten gewandt, obwohl er ungern vor ihm als Fürbitter erschien; aber Not und Liebe zwangen dazu lO • Luther ließ offen, auf welcher Seite in diesem Fall das Unrecht lag; auch ein Fürst mußte sich bewußt sein, daß er bei seiner Regierung Unrecht nicht immer verhindern konnte. Das ließ sich nur durch Barmherzigkeit ausgleichen, und der Kurfürst hatte immerhin die Mittel dazu. In diesem Fall übte Luther Druck auf den Kurfürsten aus. Notfalls wollte er selbst für seinen Klienten betteln oder den Landesherrn sogar berauben und bestehlen, wobei er wohl den Reliquienschatz in der Schloßkirche im Auge hatte. Gegenüber Spalatin sprach er der Regierung in diesem Fall das Recht zur Rache strikt ab 11. Die energische Fürbitte scheint jedoch Pfaffenbeck eher geschadet zu haben. Wenn der Kurfürst sich jedoch nicht zum Guten bewegen ließ, so mußte er das letztlich vor Gott verantworten. Als Luther erneut von Pfaffenbeck angegangen wurde, erwartete er von seinem Eintreten für ihn nichts 12 • Da aber Pfaffenbeck seinerseits ihn weiter bedrängte, trug er die Angelegenheit im Januar 1523 Spalatin erneut vor, um schließlich im Mai endgültig zu resignieren 13. Offensichtlich beurteilte der Hof diesen Fall völlig anders als Luther und ließ sich durch diesen auch nicht zu einer kulanten Lösung bewegen. Ähnlich verhielt es sich in der Sache der Brüder Leimbach, die eine alte Schuldforderung ihres Vaters gegen den Kurfürsten über Luther 1523 wieder in Erinnerung brachten. Obwohl dieser die Angelegenheit nicht voll durchschaute, hielt er 110

die Forderung für berechtigt und fühlte sich darum auch gerade gegenüber dem Kurfürsten verpflichtet, sie zu vertreten, weil auch den Fürsten gelegentlich Unrecht unterlief. Friedrich der Weise hatte an sich nichts gegen Luthers Vermittlung, wollte ihn jedoch aus reichspolitischen Rücksichten, nach denen er mit Luther nichts zu tun hatte, ausschalten. Immerhin liefen die Verhandlungen weiterhin über ihn. Er mußte allerdings erkennen, daß er damit in einen harten finanziellen Interessenkonflikt geraten war, aus dem er sich eigentlich persönlich heraushalten wollte. Das gelang ihm jedoch nicht. Noch im Juni 1524 mußte er Spalatin daran erinnern, daß bis dahin die vertraglichen Abmachungen vom Kurfürsten keineswegs erfüllt, sondern unter Ausübung von Druck unterblieben waren. Der Kurfürst scheint danach zu einer endgültigen Regelung bereit gewesen zu sein. Nach einer letzten Mahnung Luthers im September 1524, die auf die Not der Schuldner hinwies, hört man nichts mehr von dieser Angelegenheit 14 •

Im Getriebe der Reichspolitik Nach Luthers Rückkehr von der Wartburg war es nahezu unvermeidlich, daß er mehr denn je zum Thema der Reichspolitik wurde. Dafür sorgte vor allem und unermüdlich Herzog Georg von Sachsen als sein bedeutendster politischer Gegner. Das war, abgesehen von dessen persönlicher Abneigung gegen Luther, durchaus verständlich. Keinem altgläubigen Landesherrn machte die reformatorische Bewegung so sehr zu schaffen wie ihm. Luther befürchtete im März 1522, daß ihre von Georg geforderte reichsweite Unterdrückung zu einem blutigen Aufstand führen würde. Die Interessen des Volkes ließen sich nicht mehr gewaltsam verdrängen. Wenzeslaus Linck sollte deshalb auf den Nürnberger Rat dahingehend einwirken, daß das dortige Reichsregiment auf Gewaltmaßnahmen verzichtete. Eben Luther, den man zu verderben suchte, bemühte sich darum, daß die politischen Verhältnisse stabil blieben. Konnte das auf Reichsebene nicht erreicht werden, ging es Luther wenigstens darum, daß »unser Josia«, gemeint war Friedrich der Weise, und Kursachsen im Frieden schlafen konnten. Luther hatte damit eine prophetische Sicht der Dinge (in spiritu), nicht eine realpolitische Analyse entwikkelt, der aber gleichwohl der Wirklichkeitsgehalt nicht abging. In seinem Gottvertrauen hatte er für die törichten Drohungen Herzog Georgs nur Verachtung übrig und war sich gewiß, daß er die Oberhand behalten würde 15 • Bezeichnenderweise finden sich bei Luther in der Folgezeit zunächst auch keine derartigen reichspolitischen Reflexionen mehr. Herzog Georg freilich gab keine Ruhe, und dementsprechend wurde auch die kursächsische Politik durch die Luthersache in Atem gehalten, was sich vor allem an der Korrespondenz des kursächsischen Vertreters beim Reichsregiment in Nürnberg, Hans von der Planitz, ablesen läßt. Luther selbst scheinen die seine Person betreffenden politischen Aktivitäten nur zum Teil bekannt geworden zu sein. Zunächst gelang es der kursächsischen Politik, dem Reichsregiment und selbst Herzog Georg klarzumachen, daß der Kurfürst nichts mit Luthers Rückkehr nach Wittenberg zu tun hatte 16 . Aber schon am 30. April 1522 machte Herzog Georg in Nürn-

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berg auf Luthers kritische Äußerungen über das Reichsregiment in der kurz zuvor erschienenen Schrift» Von beiderlei Gestalt des Sakraments zu nehmen« aufmerksam. Das Reichsregiment raffte sich zu keiner Aktion auf. Pfalzgraf Friedrich sah die Zeit noch nicht gekommen, Luther »in die Wolle zu greifen«, worüber Herzog Georg verwundert war und sich eigene Aktionen vorbehielt. Hans von der Planitz aber forderte, daß Luthernichts ohne Wissen des Kurfürsten veröffentlichen sollte 17. Den nächsten Wirbel löste im August Luthers Schrift gegen Heinrich VIII. aus, die erneut Herzog Georg dem Reichsregiment zugehen ließ und derentwegen er Luther peinlich bestraft wissen wollte. Aber am 20. Oktober meldeten ihm seine Vertreter, in der Luthersache werde nichts getan. Georg ließ jedoch nicht locker und wies vor allem auf Luthers kritische Äußerungen über den Wormser Reichstag hin. Faktisch erfolgte auch diesmal nichts 18. Immerhin war am 5. November auf Betreiben Erzherzog Ferdinands der Verkauf von Luthers Büchern in Nürnberg verboten worden. Zwei Tage später erließ Herzog Georg ein Mandat, das den Kauf und Verkauf von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments untersagte. Bereits erworbene Exemplare waren abzuliefern, wobei der Kaufpreis erstattet wurde, ein Zeichen dafür, wie wichtig dem Herzog die Unterdrückung des Neuen Testaments war. Besonderen Anstoß hatten manche Randbemerkungen und die papstkritischen Illustrationen erregt. Die Leipzigertheologische Fakultät bestätigte in einem Gutachten das Mandat des Herzogs 19. DieseMaßnahme bildete den unmittelbaren Anlaß zu Luthers Schrift» Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei«. Im Dezember 1522 erhielt Georg von Sachsen einen Nachdruck von Luthers »Missive an Hartrnut von Kronberg« zugesandt, in dem er namentlich als» Wasserblase, die dem Himmel mit ihrem hohen Bauch trotzt, dem Evangelium entsagt hat, die Christen wie ein Wolf die Mücken frißt« usw. bezeichnet wurde. Der Herzog fragte umgehend bei Luther an, ob er für diese Beschimpfung verantwortlich sei 2o • Dieser nahm in seiner Antwort an den »ungnädigen Fürsten und Herrn« - der ganze Brief bediente sich dieser konventionellen Anrede - nichts zurück. Herzog Georg hatte sich als Verfolger der christlichen Wahrheit erwiesen, und Luther hatte sich folglich nicht der üblen Nachrede schuldig gemacht. Er wollte immerhin weiterhin für die Erleuchtung des Fürsten beten und sich im übrigen vor keiner Wasserblase fürchten. Gegenüber dem kursächsischen Gesandten beim Nürnberger Reichstag Hans von der Planitz stellte Luther am 4. Februar 1523 zunächst klar, daß der Kurfürst seine »harte Schreiben« immer mit Mißfallen abgelehnt habe und somit nicht für sie verantwortlich sei. Aber Luther meinte, Herzog Georg lange nicht so scharf angegriffen zu haben wie den Papst oder Heinrich VIII., was er als tobender Tyrann eigentlich verdient hätte. Seine Polemik sei zunächst immer als scharf empfunden, dann aber doch als berechtigt anerkannt worden. Die Zeiten hatten sich insofern geändert, »daß man die großen Häupter antastet«. Mögliche menschliche Schwächen seiner Polemik bestritt Luther nicht, aber er habe immer die Wahrheit gesagt, wenn auch bisweilen vielleicht zu scharf. Wenn die hohen Herren die Polemik störte, sollten sie ihn eben unbehelligt lassen. Weil Gott auch der Herr seiner politischen Feinde war, hatte er vor ihnen keine Angst 21 • 112

Georg seinerseits hatte im Januar mehrere Möglichkeiten eines Vorgehens gegen Luther erwogen. Das war schwierig, denn Luther hatte »keinen Richter«. Man konnte ihn nur »anrüchig machen«. Das Projekt eines Anschlags auf ihn wurde nicht weiter verfolgt. Statt dessen beklagte Georg sich mehrfach bei Friedrich dem Weisen, der aber nur ausweichend antwortete. So beschwerte sich Georg beim Reichsregiment, das zwar sein Mißfallen teilte, ihn jedoch wieder an den sächsischen Kurfürsten zurückverwies, bei dem nichts zu erreichen war 22 • Eine gewisse Entspannung des Konflikts kam durch Graf Albrecht von Mansfeld zustande. Luther hatte den Briefwechsel mit Herzog Georg veröffentlichen wollen. Davon brachte ihn der von Hartrnut von Cronberg begleitete Graf Albrecht bei seinem Besuch am 23. Februar 1523 in Wittenberg ab. Graf Albrecht erklärte Herzog Georg, daß Luther ihn im Missive nicht namentlich genannt habe, und erläuterte ihm die geistlichen Motive von Luthers Polemik. Dieser habe den Herzog nicht als Fürsten angreifen wollen. Georg fand in dieser Erklärung »wenig Besserung«, wollte sich dann aber mit einem Eingeständnis Luthers, daß er den Herzog verleumdet habe, zufriedengeben 23 • Das war von Luther natürlich nicht zu erhalten, da es für ihn feststand, daß der Herzog sich gegen Gottes Willen stellte, vielmehr gab bereits im März Luthers Schrift» Von weltlicher Obrigkeit« Anlaß zu neuen Beschwerden. Zunächst ist auf die Verhandlungen des zweiten Nürnberger Reichstages 1522/23 über die Luthersache einzugehen 24 • Der Nuntius Chieregati trug am 3. Januar 1523 das berühmte Eingeständnis Papst Hadrians VI. einer Mitschuld der Kirche an den bestehenden Mißständen vor und forderte von den Reichsständen die Durchführung des Wormser Edikts. Hans von der Planitz hatte dem Nuntius schon am 7. Dezember einmal mehr dargelegt, daß Friedrich der Weise mit der Luthersache nichts zu tun habe und ein Vorgehen gegen Luther einen Aufruhr auslösen würde. Eine Vertreibung Luthers sei inopportun, da dieser nach seiner Rückkehr von der Wartburg die Radikalisierung der Reformation gestoppt habe. Die kursächsische Politik War auf dem Reichstag in einer schwierigen Situation. Luthers scharfe Äußerungen gegen die Bischöfe und Heinrich VIII., dazu angebliche neue Ketzereien, waren eine erhebliche Belastung. Kurfürst Joachim von Brandenburg deutete im Januar 1523 an, daß Kursachsen die Kurwürde verlieren könnte, spielte diese brisanten Äußerungen allerdings später herunter. Immerhin konnte dem kursächsischen Staat schwerste Gefahr drohen. In dieser Situation forderte Spalatin von den Wittenberger Theologen Gutachten über ein Widerstandsrecht des Kurfürsten an. Melanchthon sprach sich dagegen, Bugenhagen und Amsdorff dafür aus. Luther hielt einen Widerstand gegen den Kaiser solange für ausgeschlossen, als der Kurfürst nicht seine offiziell neutrale Haltung gegenüber Luther aufgab und sich zu seiner Sache bekannte 25 • Ein bewaffnetes Eintreten für Luther konnte auch nicht allein mit landesherrlicher Schutzverpflichtung für einen Untertanen begründet werden, dazu bedurfte es außerdem besonderen Geistes und Glaubens. Luther war schwerlich der Meinung, daß Friedrich der Weise das für sich in Anspruch nehmen würde. Einen Verteidigungskrieg gegen Herzog Georg oder Markgraf Joachim von Brandenburg hielt Luther hinge113

gen ohne weiteres für erlaubt. Luthers Auskunft war noch stark situations bezogen auf die damalige Haltung des Kurfürsten und nicht prinzipiell durchgeklärt. Einen Widerstand gegen den Kaiser in der Religionsfrage konnte er sich damals vorstellen, allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, die momentan nicht gegeben waren. Insofern ist die Differenz zur kurz zuvor abgefaßten Obrigkeitsschrift, die den Krieg gegen den Kaiser verbot, nicht allzu groß. Das Widerstandsproblem sollte Luther später noch mehrfach und unterschiedlich beschäftigen. Insgesamt war aber die kursächsische Politik insofern dann doch erfolgreich, als sie einen neuen Entscheid in der Luthersache entgegen den Plänen des kaiserlichen Statthalters Erzherzog Ferdinand nicht dem Reichsregiment überließ, das im Sinne des Nuntius beschlossen hätte, sondern die Sache zur Angelegenheit des Reichstags machte. Das außerordentliche Engagement Hans' von der Planitz zahlte sich hier aus. Angesichts der bestehenden kirchlichen Mißstände und Luthers Kritik daran erklärte der Reichstag die Durchführung von Acht und Bann gegen ihn und seine Anhänger für nicht möglich. Als Mittel zur Abstellung der Mißstände wurde ein freies christliches Konzil in Deutschland gefordert. Bis dahin sollten Luther und seine Anhänger nichts Neues veröffentlichen; darauf wurde in einem besonderen Schreiben des Reichsregiments an den sächsischen Kurfürsten gedrungen. Überhaupt wurde die strenge Handhabung der Bücherzensur vorgeschrieben. Das Evangelium sollte nur nach den von der Kirche approbierten Schriftstellern in den Predigten ausgelegt werden. Irrige Prediger waren von den Bischöfen zu maßregeln, und ausgetretene Ordensleute sowie verheiratete Geistliche ihnen zur Strafe zu übergeben 26. Insofern das Wormser Edikt außer Kraft gesetzt war, erwies sich dieser Reichstagsbeschluß als ein großer Erfolg der sächsischen Politik. Luther bezeichnete die Entscheidung als »wunderlich frei und gefällig«27. Dennoch protestierte der kursächsische Vertreter dagegen, weil die Einzelbestimmungen über Zensur, Predigt, ausgetretene Ordensleute und verheiratete Priester für die lutherische Seite unannehmbar seien 28 . Nachdem Friedrich der Weise das Schreiben des Reichsregiments im Mai erhalten hatte, beauftragte er Hieronymus Schurf, darüber mit Luther zu verhandeln. Dieser versicherte dem Kurfürsten darauf, daß er weder jemanden habe schmähen, noch Aufruhr habe anstiften wollen, im Gegenteil. Mit all seinem Schreiben und Predigen sei es ihm nur um Gottes Wort und Ehre, den heiligen, wahrhaftigen Glauben, die Nächstenliebe und das Heil der Christenheit gegangen. Mit seinen beschwerlichen, harten Schreiben, die ihm der Kurfürst mehrfach untersagt hatte, hatte Luther ebenso wie mit seiner eigenmächtigen Rückkehr nach Wittenberg nur die Fürsorge für das kleine Häuflein und die ganze christliche Gemeinschaft wahrgenommen. Aber seine Gegner wie Johann Fabri und Hieronymus Emser schmähten nicht nur Luthers Person, sondern auch das Evangelium, und da fiel es ihm schwer, zu schweigen und sich einem einseitigen Veröffentlichungsverbot zu unterwerfen. Luther sprach auch die Befürchtung aus, daß die vorgeschriebene Auslegung des Evangeliums gemäß den Kirchenlehrern auf eine Unterdrückung der evangelischen Wahrheit hinauslaufen könne. Einer solchen Anweisung konnte er sich nicht fügen. »Denn Gott Lob ich meiner Handlung keine Scheu habe und mich

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der Sachen und Gottes Worts nicht weiß zu schämen.«29 Immerhin versah er die wohl im Juli entstandene, gegen Johann Fabri gerichtete Auslegung von 1. Korinther 7 mit dem Vermerk, daß sie der kaiserlichen Anweisung entsprechend die Wittenberger Universitätszensur durchlaufen habe 3o . Mehrfach finden sich in jener Zeit skeptische Äußerungen über das geplante Konzil. Luther erwartete nichts Gutes von ihm 3!. In einer Predigt im Juni kritisierte er das aus dem Reichstagsbeschluß hervorgegangene Mandat zur Religionsfrage Punkt für Punkt: »Nun der Wolf die Gäns gefressen hat, habens den Stall zugemacht«32. Ungefähr Anfang Juli wandte er sich dann direkt an das Reichsregiment mit der Schrift» Wider die Verkehrer und Fälscher kaiserlichs Mandats«33. Er behauptete, das Mandat» mit hohem Dank untertäniglich angenommen und dem Volk mit Fleiß verkündigt zu haben«, was jedoch, wie erwähnt, recht kritisch geschehen war. Dagegen beschwerte er sich, daß das Mandat in manchen Herrschaften falsch interpretiert und befolgt würde. Man mache dort die Verkündigung im Sinne der scholastischen Theologie und der römischen Kirche verbindlich - was das Mandat ja tatsächlich intendierte. Luther hingegen versuchte, es zunächst auf die Kirchenväter, aber eigentlich auf eine unmittelbare Verkündigung des Evangeliums zu beziehen. Scharfsinnig wies er darauf hin, daß mit einer Festlegung auf die Scholastiker und die römische Kirche alles vorweg entschieden sei und es des vorgesehenen Konzils gar nicht mehr bedürfe. Also mußte auf die Scholastik zugunsten des Evangeliums verzichtet werden - was freilich die Dinge auf den Kopf stellte und doch so plausibel war. Mit der Aufsicht der Bischöfe über die reine evangelische Predigt war Luther grundsätzlich ganz einverstanden. Nur waren die Bischöfe dazu nicht in der Lage, ja, es drohte sogar die Unterdrückung des Evangeliums durch sie, zumal sie bisher nicht mit freundlichen Anweisungen, sondern mit dem Bann gegen Irrende vorgegangen waren. Der Zensurartikel wurde von Luther bejaht und von der Wittenberger Universität praktiziert. Darunter durfte jedoch auf keinen Fall Luthers Bibelübersetzung fallen, denn das »lautere Wort Gottes, das muß und soll ungebunden sein«. Daß die Bibelübersetzung eine unverkennbar lutherische Prägung hatte, wurde dabei nicht berücksichtigt. Den Artikel gegen die ausgetretenen Ordensleute und die verheirateten Geistlichen hielt Luther eigentlich für unvereinbar mit dem im Mandat vorausgesetzten Evangelium. Dabei fand er einmal mehr kräftige Worte über die Unmöglichkeit der geistlichen Gelübde. Wüßten seine bittersten Feinde von all der Not, die Luther kund wurde, »sie hülfen mir morgen Klöster stürmen«. Daß aber die Übertreter der Gelübde wie Kriminelle verfolgt wurden, war doch alles andere als die im Mandat vorgesehene geistliche Strafe. Am Schluß versäumte Luther nicht, nebenbei darauf hinzuweisen, daß er dem Mandat zufolge eigentlich außer Bann und Acht sei bis zum künftigen Konzil. Wichtiger war ihm die Beteuerung, daß drei der Artikel von ihm und seinen Anhängern eingehalten würden, weshalb er um Nachsicht für die ausgetretenen Ordensleute und verheirateten Geistlichen bat. Waren im Nürnberger Reichstagsabschied an die Stelle des Wormser Edikts einige lästige Maßnahmen des Mandats gegen Luther und seine Anhänger getreten, so wurde in der folgenden geistigen Auseinandersetzung das Mandat selbst der Gegenseite entwunden. Das war insgesamt ein erstaunlicher Erfolg für

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die Sache Luthers. Daß Hans von der Planitz wegen dieser eigenwilligen Interpretation des Mandats durch Luther in Nürnberg wieder Ärger bekam, war zu erwarten, wog aber weiter nicht schwer34 •

Exkurs: »Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei.« Anfang Januar 1523 wurden von katholischer Seite in Nürnberg üble Gerüchte über Luther verbreitet: Er leugne die Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl und behaupte, Maria habe Jesus von Josef empfangen, sei nicht Jungfrau geblieben und habe später noch viele Söhne gehabt. Auch Luther erfuhr davon. Er hielt das Geschwätz wohl mit Recht zunächst für lächerlich, denn solche Behauptungen hatte er gewiß nicht aufgestellt 35 • Dennoch kam er um eine Stellungnahme nicht herum. Darum nützte er den Anlaß, um sich zu dem Problem zu äußern, »Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei«36. Ein gewisses Interesse an der Bekehrung der Juden zu Christus läßt sich gelegentlich in jener Zeit bei Luther erkennen 37 • Nach der gemeinsamen Auffassung aller christlichen Theologen gab es auch für die Juden keinen anderen Weg zum Heil. Mit der Darlegung der Gründe für seinen Glauben, »daß Christus ein Jude sei von einer Jungfrau geboren«, hoffte er etliche Juden zum Glauben an Christus zu reizen. Das geschah in erklärter Distanzierung zur bisherigen Behandlung der Juden durch die Christen. Man habe sie wie Hunde behandelt und nichts als gescholten. Selbst nach der Taufe wurde ihnen nicht das Evangelium verkündigt, sondern ein neues Gesetz, mit dem sie im Grunde Juden blieben. Luther hoffte, die Juden mit einer freundlichen, brüderlichen und unpolemischen Unterweisung für den Glauben an Christus zu gewinnen, den er schon bei den Propheten und Patriarchen voraussetzte. Dabei stellte er die ursprünglichen Vorzüge der Juden gegenüber den Heiden in der Heilsgeschichte heraus. In einem ersten Argumentationsgang wird dann aus dem Alten Testament bewiesen, daß der, der der Schlange, d.h. dem Teufel, den Kopf zertritt, eines Weibes Same sein mußte (1. Mose 3,15), aber wegen der notwendigen Überlegenheit über den Teufel nicht von einem menschlichen Vater stammen konnte. Aus der Hoffnung auf diesen Befreier lebten die Patriarchen des Alten Testaments. Nach den Verheißungen an Abraham und David mußte er aus deren Nachkommenschaft stammen. Die Jungfrauschaft Mariens war nicht deren besondere Qualität, sondern ihre Indienstnahme durch Gott bei dem Werk der Rettung. Eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Seite erfolgt zunächst über die messianische Weissagung Jes7,14, wo von einer jungen Frau und nicht von einer Jungfrau, die einen Sohn gebären soll, die Rede ist. Für Luther ist das kein Gegenbeweis gegen die Jungfrauschaft Mariens. In einem weiteren Teil wird den Juden bewiesen, daß sich die dunklen messianischen Weissagungen 1. Mose49,10 und Dan9,24-27 nur auf Christus beziehen können. Beide Beweisgänge waren übrigens nicht neu, sondern finden sich so schon in der scholastischen Exegese. Mit dem anstößigen Glaubensartikel von der Gottessohnschaft Jesu wollte Luther die Juden zunächst nicht bedrängen, sofern sie nur in Jesus den Messias sahen.

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Man mußte Geduld haben und von den üblen alten Vorwürfen gegen die Juden ablassen. Dazu gehörte auch, daß man sie anders als bisher gleichberechtigt in Gesellschaft und Wirtschaft aufnahm. Nicht nach dem päpstlichen Gesetz, sondern nach dem Gesetz christlicher Liebe sollte man mit ihnen umgehen. Luther war bewußt, daß sich aUtcue~ licbm (1)Ii/fm sm~/"nb la/f.\1n, frOhe!) (plinSmJ j!:).t~ nllrgctro/hnb aII in 4in I mit lu/hnb hebe frng enl \"O",e (n flcrbcn bcy nnr bLlTbl ~ur I)cUcn m6fi iC9 finden. "ba j4mCft.gOff in tft'Iigtaitl tnd.Er tam 3(, mir 4ufferben/

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Zentrierung kennzeichnet viele Lieder Luthers 6o . Genau besehen ist diese Dichtung aber noch mehr als persönliches Selbstzeugnis. Eigentlich alle seine Aussagen einschließlich der persönlichen sind präzise biblisch fundiert, was längst nicht zureichend erkannt ist. Das geschah aber in einer solchen Beherrschung der Materie und mit einer derartigen Fähigkeit der Umsetzung, daß etwas Eigenes daraus wurde. Die Verbindung von biblischem Wort, anspruchsvollster dogmatischer Aussage und persönlichem Zeugnis im Gewand einfacher und verständlicher Sprache und eingängiger Verse und Strophen machen in diesem Fall die bewundernswürdige poetische Leistung aus. Anfang 1524 brachte der Nürnberger Drucker Jobst Gutknecht als erstes evangelisches Singbüchlein »Etlich christlich Liedern, Lobgesang und Psalmen dem reinen Wort Gottes gemäß aus der heiligen Schrift« heraus, das sog. »Achtliederbuch«, das 4 Lieder Luthers enthielt. Zwei Erfurter Enchiridien oder Handbüchlein aus demselben Jahr enthielten bereits 16 Lutherlieder. In den folgenden Jahren erschienen weitere Liedsammlungen oder Gesangbücher z. B. in Zwickau, Straßburg und Augsburg. Die erfolgreiche Ausbreitung der Lutherlieder hatte begonnen 61 . Die bedeutendste frühe Sammlung mit insgesamt 24 Liedern Luthers bot das ebenfalls 1524 in Wittenberg veröffentlichte »Geistliche Gesangbüchlein«62. In den späteren Jahren entstanden nur noch 12 weitere geistliche Lieder Luthers, was zeigt, wie intensiv und planmäßig er sich 1523/1524 dieser Aufgabe angenommen hat. Außer ihm hatten zu diesem ersten Wittenberger Gesangbuch einige andere Autoren insgesamt sieben weitere Lieder beigesteuert, darunter Paul Speratus: »Es ist das Heil uns kommen her«, Lazarus Spengler: »Durch Adams Fall ist ganz verderbt« und Elisabeth Cruciger, die Ehefrau des Wittenberger Theologen Kaspar Cruciger: »Herr Christ, der einig Gotts Sohn«. Das »Geistliche Gesangbüchlein« war ein Chorgesangbuch und wurde nach der damaligen Praxis in einzelnen Stimmen herausgegeben, wobei die Melodiestimme im Tenor lag. Für seine Gestaltung war Johann Walther (1496-1570), damals Mitglied der sächsischen Hofkapelle und Komponist, verantwortlich, mit dem Luther auch später noch in musikalischen Fragen zusammenarbeitete. Die Melodien konnten da übernommen werden, wo man auf vorhandene Hymnen zurückgriff. Zum Teil entlehnte man auch vorhandene Melodien oder bearbeitete sie. Manche wurden auch völlig neu geschaffen. Nur für die Melodie des später entstandenen »Ein feste Burg« steht Luthers Urheberschaft fest. An sich war er in Musik ausgebildet worden und brachte aus dem Kloster einige Erfahrung in liturgischer Musik mit, für die er auch ein feines Gespür hatte. Man hat aus der damals üblichen Einheit von Dichter und Komponist auf einen erheblichen Anteil Luthers auch an den Melodien seiner Lieder geschlossen. In der Tat fällt an manchen Stellen die gelungene Zuordnung von Wort und Melodie auf, die oft den Sinn eindrücklich hervorhebt oder gelegentlich auch über die Härten der Dichtung hinweghilft. Vermutlich hat es mindestens eine Zusammenarbeit zwischen Luther und Walther beim »Geistlichen Gesangbüchlein« gegeben 63 . Die Vorrede stammt von Luther 64 • Gottes Gefallen an geistlichen Liedern läßt sich aus dem Alten und Neuen Testament belegen. Sie dienen dem Zweck, »daß dadurch Gottes Wort und christliche Lehre auf allerlei Weise getrieben und geübt

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werde«. Beim Zusammentragen der Lieder hatte Luther und seine Mitarbeiter dieselbe Absicht geleitet wie bei der Verkündigung, nämlich das wieder aufgegangene Evangelium »zu treiben und in Schwang zu bringen«. Im kühnen Rückgriff auf 2. Mose 15,2 heißt es: »Daß Christus(!) unser Lob und Gesang sei.« Nichts als ihn, den Heiland, sollte das »Singen und Sagen« wissen. Der Verkündigungszweck konnte dem Dichten in seiner Qualität gefährlich werden, aber die Verkündigung kam ihrerseits aus einem vollen Herzen. Mit der vierstimmigen Ausgabe des »Geistlichen Gesangbüchleins« wurde noch ein pädagogisches Ziel verfolgt, von dem bisher nicht die Rede war: Aus dem Musikunterricht für die Jugend sollten die» Buhllieder und fleischlichen Gesänge« verdrängt werden, und der geistliche Gesang sollte seinen Platz in der Schule bekommen. Das ordnet sich in das damalige Bemühen Luthers um die Einrichtung von Schulen ein und ist gegen die aufgekommene Bildungsverachtung der Radikalen gerichtet. Das Evangelium schlägt die Künste, gemeint sind die weltlichen Gegenstände des Schulunterrichts, nicht zu Boden, vielmehr soll gerade die Musik in den Dienst für Gott, »der sie gegeben und geschaffen hat«, einbezogen werden. Von einer Konkurrenz der Lieder Müntzers ist hier wiederum nichts zu spüren. In Front gegen die Radikalen wurde auch die geistliche Musik als Bildungsgegenstand reklamiert. Erst in den folgenden Wittenberger Gesangbüchern seit 1528 findet sich neben dem Bemühen um treue Wiedergabe der Lieder auch die Tendenz zur Ausschließung ungeeigneten fremden Liedguts, weshalb die Texte nunmehr mit den Namen der Verfasser gekennzeichnet wurden 65 . Das »geistliche Gesangbüchlein« enthielt sechs Psalmlieder. Ihr Thema ist vor allem das Gebet um Gottes Beistand für den einzelnen und die Kirche. Sie lassen zunächst Luthers Bemühung um eine präzise Wiedergabe des Sinnes in eigenständiger Formulierung erkennen. Gelegentlich werden dabei gezielt neutestamentliche Sachverhalte eingetragen. Am besten ist das bei »Aus tiefer Not ... « (Ps 130) zu erkennen. Die ursprünglich vierstrophige Fassung erweiterte Luther um eine Strophe, in die er die paulinische Rechtfertigungslehre Röm3,23f. hineinschrieb 66. »Mit Fried und Freud ich fahr dahin« ist die Übertragung des Lobgesangs des Simeon (Lk2,29-32). An Luthers Liedern zu den Festen des Kirchenjahrs läßt sich schön zeigen, wie er ganz oder teilweise auf altkirchliche oder mittelalterliche, lateinische oder deutsche geistliche Dichtungen der Kirche zurückgriff oder sich an sie anlehnte. Das Adventslied »Nun komm der Heiden Heiland« ist eine recht direkte und darum sprachlich manchmal schwere Übertragung des von Ambrosius stammenden Hymnus »Veni redemptor gentium «, an dem sich auch Müntzer versucht hatte. Von dem Weihnachtslied »Gelobet seist du Jesu Christ« fand Luther die erste Strophe bereits vor und fügte ihr weitere sieben hinzu, die sämtlich ihre Spannung aus der wunderbaren Tatsache empfangen, daß Gott Mensch geworden ist: »Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein«. Das Osterlied »Christ lag in Todesbanden« will eine »Besserung« des herkömmlichen »Christ ist erstanden« sein. Sein drastisches Thema ist der »wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen«, »wie ein Tod den andern fraß«, das Herzstück von Luthers Auferstehungstheologie. Von den Pfingstliedern geht »Komm Gott Schöpfer Heiliger Geist« ganz auf eine 136

mittelalterliche lateinische Vorlage zurück, während von »Nun bitten wir den Heiligen Geist« und »Komm Heiliger Geist« je die erste Strophe vorhanden war. In den Pfingstliedern geht es vorrangig um das Beharren im rechten Christusglauben. Aus einem ursprünglichen Heiligenlied »Sancta Maria steh uns bei« gestaltete Lutherin auffallender Umformung das Trinitätslied »Gott der Vater wohn uns bei« mit seiner starken Betonung des Glaubens an Gott allein. Gottesdienstliche und katechetische Funktion hatten die beiden Lieder über die Zehn Gebote und die Umdichtung des nicaenischen Glaubensbekenntnisses, ebenso die beiden Abendmahlslieder, die mit den mittelalterlichen Vorlagen eigentlich nur noch Anklänge gemeinsam haben. Das eindrückliche »Mitten wir im Leben sind« ist in der ersten Strophe eine Übertragung der altkirchlichen Antiphon »Media vita in morte sumus«, von der es bereits mittelalterliche Übersetzungen gab, die Luther erheblich übertraf. Darüber hinaus steigerte er die Todesangst zur Höllen- und Sündenanfechtung, der allein Christus begegnen kann. Ob das Lied ursprünglich eine Gelegenheitsdichtung anläßlich des Ertrinkens des Gelehrten Wilhelm Nesen im Sommer 1524 in der Eibe war, ist fraglich. Solche Gelegenheitsdichtungen sind von Luther sonst nicht bekannt, auch der Gedankengang des Liedes spricht nicht dafür. Mustert man Luthers frühe Lieder durch, so stellt sich heraus, daß sie fast alle einen stärkeren oder schwächeren Anhalt an biblischen, altkirchlichen oder mittelalterlichen Vorlagen haben. Eine der auffälligen Ausnahmen bildet »Nun freut euch lieben Christen gmein«. Die Aneignung geschah freilich sehr selbständig und ging nicht selten in eine eigene neue Entfaltung über. Dieses Verfahren, bei der Bibel und auch beim bewährten Überkommenen anzuknüpfen, entsprach ganz Luthers sonstiger Reformationspraxis. Die verwendeten metrischen Formen sind nicht immer eindeutig erkennbar. Wort betonung und Metrum stimmen oft auch nicht überein. Vor allem bei den Übertragungen der Hymnen ergaben sich hier Schwierigkeiten, die teilweise durch die Melodie glücklich überspielt werden. Merkwürdigerweise finden sich metrisch einigermaßen sauber durchgeführte Gedichte neben ausgesprochen holprigen. Bei den Reimen werden unterschiedliche Schemata verwendet. Sie sind keineswegs immer sauber. Der männliche Reim überwiegt. Manchmal begegnen reimlose Verszeilen zum Zweck der Hervorhebung. Der Umfang der Strophen variiert zwischen vier und zwölf Zeilen. Nicht zuletzt durch Luther hat der Siebenzeiler stark fortgewirkt. Keine der Dichtungen von Luther ist eigentlich glatt. Oft sind sie sogar geradezu rauh, was in der damaligen Dichtersprache nicht unüblich war. Sie erwiesen sich damit jedoch als ausgesprochen robust und bis heute »unzersingbar«67. Mit der Schaffung der geistlichen Lieder ist Luther gegen seine eigene Einschätzung zum bedeutendsten kirchlichen Dichter der Reformationszeit geworden. Er hat dabei keine neuen poetischen Formen geschaffen und gelegentlich mit der Form auch seine Probleme gehabt. Das Dichten stand bei ihm nahezu ganz im Dienst des Verkündigungsauftrags. Deshalb finden sich keine eigentlich lyrischen Töne. Daß das Predigtinteresse die Dichtungen kaum einmal pedantisch verformte und schädigte, lag an Luthers außerordentlicher Sprachgewalt und Beherrschung der Inhalte, die er aussagen wollte, denen bereits seine Prosa ihre literarische Qualität

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verdankte. Unbestreitbar fand er dabei zumeist den rechten Ton. Durch Luther kam es zu der bis dahin nicht dagewesenen Blüte des Gemeindeliedes in der Kirche 68 . Wenigstens anhangsweise sei bemerkt, daß es von Luther auch einige wenige, jedoch nach Form und Inhalt beachtliche lateinische Gedichte gibt 69 • In der Widmung zu seiner Auslegung der Apostelgeschichte verglich Justus Jonas Luther, den von soviel Weisen, Mächtigen, dem Papst, dem Teufel und der Hölle bekämpften Verkünder des Evangeliums, mit Paulus und das Zeitalter mit seinen Wundern mit dem der Urchristenheieo. Seit seiner Rückkehr hatte Luther in den vergangenen beiden Jahren versucht, die reformatorische Bewegung in den durch die Verkündigung des Evangeliums vorgegebenen Bahnen zu halten. Sieht man näher zu, so ist unverkennbar, daß, abgesehen von den altgläubigen Gegnern, nach wie vor Kräfte am Werk waren, die die Reformation radikalisieren wollten. Das führte schließlich zum Bauernkrieg und zum Abendmahlsstreit.

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IH. Propheten, Schwärmer, Bilderstürmer, Rottengeister und der Bauernkrieg

Die Enttäuschung, daß sich das Evangelium nicht alsbald erfolgreich durchsetzte, führte in der Phase nach dem Wormser Reichstag 1521 zu einer Krise der Reformation. Luther selbst registrierte erbittert den politischen Widerstand der altgläubigen Fürsten. Stärker als er selbst nahmen manche seiner Anhänger daran Anstoß, daß die Neuordnung der Kirche auch in evangelischen Gebieten nur schleppend vorankam. Sie vermißten überdies die Früchte des neuen Glaubens im Verhalten der Gemeinden. Außerdem hatte die reformatorische Freiheitspredigt auch Erwartungen auf Reformen und eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse geweckt, die sich nun nicht erfüllten 1. Nach Luthers Rückkehr von der Wartburg war der Streit mit Karlstadt und denen, die wie er sofort die reformatorische Neuordnung durchsetzen wollten, nicht ausgetragen, sondern unterdrückt worden. Die fällige Auseinandersetzung war damit freilich nur aufgeschoben und kam in den Jahren 1524 und 1525 auf breiter Front zum vehementen Ausbruch, der die Reformation schwer gefährdete. Luther gebrauchte für die Gegner aus dem eigenen Lager die verschiedensten Bezeichnungen. Sofern sie sich wie die Zwickauer Propheten auf direkte himmlische Eingebungen beriefen, identifizierte er sie nicht unzutreffend mit diesen und nannte sie Propheten. Schon 1523 bezeichnete er die, die das Evangelium nicht als Trost des Gewissens, sondern fleischlich verstanden und mit ihm Aufruhr verursachten, vage als »Schwärmer«2. Der Ausdruck aus dem Verhalten der Bienen ist schon in der Alten Kirche gelegentlich auf verworrene Geister angewandt worden, die sich von der Wirklichkeit ablösten. Z.B. hatte der Prediger Bartholomäus Krause in Ölsnitz im September 1523 Beichte und Messe völlig verworfen. Luther ließ ihm befehlen, »säuberlich« vorzugehen, d. h. zuerst Christus recht zu predigen und von seinem »Schwärmen« abzulassen. Als Krause die Gemeinde sogar zu gewaltsamem Vorgehen aufforderte, verlangte Luther vom dortigen Rat und vom Kurfürsten dessen Entfernung, notfalls sogar seine Verhaftung 3 . Wie der Fall Krause zeigt, war das Schwärmerturn ein verbreitetes und vielgesichtiges Problem, das sich keineswegs nur auf Karlstadt und seine wenigen Anhänger beschränkte. Für diejenigen, die die Bilder in den Kirchen zerstörten, führte Luther den Begriff »Bilderstürmer« ein. Die Sektierer, die sich abgesondert zusammenschlossen, nannte er» Rottengeister«. In beiden Bezeichnungen klingt ein illegales, gewalttätiges Verhalten mit an. Luthers polemische und teilweise unscharfe Terminologie durch moderne Ausdrücke wie z. B. das eigentlich unangemessene Wort »Radikale« oder das anachronistische »linker Flügel« zu ersetzen, würde mindestens ebensoviel verwirren wie erklären. Vielen seiner Gegner ging es nicht nur um die

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Durchsetzung der Reformation im kirchlichen Bereich oder ihre theologische Ausrichtung, sondern in unterschiedlichem Ausmaß um die Konsequenzen der biblischen Botschaft in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, und das führte zu einer der schwersten und tiefsten Krisen der Reformationsgeschichte. Luthers Reaktion darauf beschränkte sich nicht auf eine energische Verteidigung, sondern offerierte auch zukunftsweisende konstruktive Lösungen.

1. Die Schule Man hätte Luthers Bemühungen um das Schulwesen auch im Zusammenhang mit seinen ersten kirchlichen Ordnungen am Ende des vorigen Kapitels darstellen können. Sie wurden jedoch ausgelöst durch die Bildungsverachtung seiner auf die direkte Eingebung des Geistes setzenden Gegner. Leider ist über die Wittenberger Schulverhältnisse in den Jahren 1522 und 1523 wenig bekannt. Nach einem späten Bericht war die Knabenschule während der Wittenberger Wirren geschlossen worden, da Karlstadt von wissenschaftlicher Gelehrsamkeit nichts mehr hielt, sondern den Laien die theologische Kompetenz zusprach. Der Schulmeister Georg Mohr soll geradezu dazu aufgerufen haben, die Kinder aus der Schule zu nehmen. Das Gebäude wurde tatsächlich zeitweilig zu einer Brotbank, einem Bäckerladen, umfunktioniert. Erst unter dem Pfarrer Bugenhagen wurde die Schule im Spätjahr 1523 wieder eingerichtet 1. Eine damals verbreitete Wissenschaftsfeindlichkeit läßt sich auch am Rückgang der Studentenzahlen an den Universitäten, unter ihnen auch Wittenberg, ablesen. Das Bündnis von Reformation und humanistischer Bildung, wie es seit 1518 von Luther und Melanchthon in Wittenberg konzipiert worden war, schien der Auflösung nahe 2 • Das Problem bestand nicht nur in Wittenberg. In Erfurt wurde der Dichter und Professor für lateinische Sprache Eoban Hessus von den evangelischen Predigern wegen seiner angeblichen Unentschiedenheit angegriffen. Er klagte seine Not in einer als »Brief der angefochtenen Kirche an Luther« betitelten lateinischen Elegie 3• Luther versicherte ihm am 29. März 1523 in einem bald darauf veröffentlichten Brief, daß seine Theologie keineswegs den Untergang der Wissenschaften intendiere, vielmehr sei sie auf dieselben unbedingt angewiesen. Poetik und Rhetorik konnten zum Begreifen und Auslegen der Bibel beitragen. Die Gabe der Sprachen war nicht zu verachteil. Er gestand in diesem Zusammenhang, daß er selbst gerne Poeten und Rhetoren ins Deutsche übertragen würde, doch fehle ihm leider die Zeit. In ähnlicher Weise wurde Hessus von Melanchthon bestärkt 4 • Etwa gleichzeitig wandte sich Luther auch gegen eine Verachtung der zum Verstehen der Bibel unentbehrlichen alten Sprachen bei den BöhmenS. Schon Anfang 1523 hatte Luther in der Vorrede zur Leisniger Kastenordnung seinen Vorschlag aus der Adelsschrift wiederholt, die Bettelordensklöster in den Städten zu Schulen umzuwandeln 6 • Ein Jahr später erschien der bedeutende Appell »An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«, der alsbald in zahlreichen Drucken verbreitet wurde und 140

einen Meilenstein in der Geschichte des deutschen Schulwesens darstelle. Er, der seit Jahren Gebannte und Geächtete, wandte sich dringlich an eine breite Öffentlichkeit in Deutschland in der Überzeugung, daß, wer nicht auf ihn höre, zugleich Christus verachte. Das Problem war der unübersehbare Niedergang der Schulen, Universitäten und kirchlichen Bildungseinrichtungen. Wegen der Aufhebung der Klöster und zahlreicher kirchlicher Pfründen erschien das Erlernen eines Brotberufs sinnvoller als die bisherige Schulbildung. Das aber war ein vom Teufel gewirktes kurzschlüssiges Mißverständnis; die Gesellschaft konnte auf eine gediegene Bildung der Jugend nicht verzichten. An die Stelle der bisherigen sinnlosen Aufwendungen für die Kirche sollten solche für die Erziehung treten, zumal der Humanismus im Bund mit der Reformation nunmehr ein weit effizienteres pädagogisches System samt qualifizierten Lehrern anbot. Die Schulen bedurften allerdings einer Reform. Die gegenwärtige Chance mußte ergriffen werden. Luther formulierte das in berühmten Sätzen eindringlich: »Lieben Deutschen, kauft, dieweil der Markt vor der Tür ist, sammelt ein, dieweil es scheint und gut Wetter ist, braucht Gottes Gnaden und Wort, dieweil es da ist. Denn das sollt ihr wissen, Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. «8 Vor allem schärft Gottes Gebot die Pflicht zur Unterrichtung der Jugend ein. Zu diesem hohen Zweck ist die ältere Generation da. Daß Luther sich wegen der Erziehungsaufgabe an die Obrigkeiten anstatt an die Eltern wandte, lag daran, daß diese dazu weder fähig noch in der Lage waren. Erziehung galt ihm als eine Gemeinschaftsaufgabe, die selbst gegenüber Vorratshaltung und Verteidigung den Vorrang hatte und ohne die ein Gemeinwesen auf die Dauer nicht bestehen konnte. Die Städte brauchten fähige und gebildete Leute, und diese wuchsen nicht von selbst heran. Wie selbstverständlich wird die Verantwortung für die Einrichtung christlicher Schulen, die den Nachwuchs für Kirche, Staat und Gesellschaft ausbilden, der christlichen Obrigkeit, nicht der Kirche, zugewiesen. Dabei dürfte er vorausgesetzt haben, daß die Finanzierung aus ehemaligem Kirchenbesitz erfolgte. In gewissem Sinn war die Schulreform ein Vorspiel zur Neuordnung der reformatorischen Kirchen durch die Obrigkeiten. Einer besonderen Begründung bedurfte es für den Unterricht in den alten Sprachen. Ihre gegenwärtige Geringschätzung brachte Luther in Zusammenhang mit der den »deutschen Bestien« von den Italienern nachgesagten Unbildung, während gleichzeitig unnötige importierte Luxusgüter konsumiert wurden. Die alten Sprachen jedoch dienten sowohl dem Verstehen der Bibel als auch zur Führung des weltlichen Regiments. Eben deshalb suchte der Teufel sie niederzuhalten. Zwar kommt das Evangelium durch den Heiligen Geist, aber die Sprachen sind sein Mittel. Insofern war der aufkommende Humanismus eine providentielle Voraussetzung für die Reformation, der ihrerseits alles an der Pflege der alten Sprachen liegen mußte, sollte das Evangelium erhalten bleiben. »Die Sprachen sind die Scheide, darin dies Messer des Geistes steckt. « Zum Beweis wird auf den Niedergang der geistlichen Schulen hingewiesen, infolgedessen man weder recht deutsch noch lateinisch reden oder schreiben konnte. Nur über die Sprachen erschloß sich der Zugang zum unverstellten Verstehen des Evangeliums. Manche Irrtümer der 141

Kirchenväter resultieren aus mangelnder Sprachkenntnis. Auch wenn man zur Not ohne Kenntnis der Sprachen predigen konnte, eine verantwortliche und kontrollierte Schriftauslegung, die in eins gesetzt wird mit dem urchristlichen Prophetenamt von 1. Kor14, war ohne sie unmöglich. Darum widersprach Luther der damals vorkommenden Berufung allein auf den Geist und der Bildungsfeindlichkeit der hussitischen Kirche. Ohne die Möglichkeiten der philologischen Exegese hätte er den Streit mit Papst und Scholastik nicht aufnehmen können. Aber diese Vorstellungen kamen nicht nur der Theologenausbildung, die sie tief geprägt haben, sondern auch dem weltlichen Regiment und seinem Nachwuchs, ja selbst den Frauen bei der Haushaltung und Kindererziehung zugute. Denn damit erschloß sich ihnen die ganze politische und ökonomische Weisheit der Antike, dazu Musik und Mathematik, die das Elternhaus von sich aus nicht vermitteln konnte. Mit einem Konflikt zwischen Staat und Kirche über die christlich-humanistisch bestimmten Lehrinhalte rechnete Luther nicht. Aufgrund der effizienten Pädagogik des Humanismus ließ sich der Schulbesuch von Knaben und Mädchen mit der vom Elternhaus beanspruchten Mitarbeit der Kinder verbinden. Die besonders Begabten aber sollten zu Lehrern und Predigern ausgebildet werden. Etwaige Versäumnisse auf diesem Gebiet würden sich bitter rächen. Luther appellierte an die Vernunft und Dankbarkeit der Obrigkeiten, die bestehende Chance und Aufgabe wahrzunehmen. Die aufzurichtenden Schulen bedurften guter Bibliotheken, denn die bisherigen Klosterbibliotheken galten mit ihren juristischen und scholastischen Wälzern in dieser Hinsicht als unzulänglich und ungeeignet. Luther forderte biblische Textausgaben, dazu die besten Ausleger und als Mittel zum Sprachunterricht die antiken Poeten und Redner, von denen er selbst zu seinem Leidwesen nicht genug gelesen hatte. Dazu kamen die Lehrbücher für die freien Künste sowie juristische und medizinische Werke. Nicht zuletzt sollten alle erreichbaren Chroniken und Historien zur Verfügung stehen, weil sie zur Erkenntnis des Weltlaufs sowie der Wunder Gottes und mithin zum Regieren nützten. Abschließend machte Luther den Verantwortlichen nochmals klar, daß es galt, eine reiche Ernte einzubringen. Von seiner Person mochten sie absehen, bei der Wahrnehmung der Bildungsaufgabe ging es um Glück und Heil ganz Deutschlands. Die Ratsherrenschrift forderte dringlich Schulen, die den Bedürfnissen der lutherischen Reformation wie der Gesellschaft Rechnung tragen sollten. Dabei waren wesentliche Impulse des Humanismus aufgenommen, wobei jedoch dessen eigenes Bildungsideal zugunsten des reformatorischen Menschenbildes und Bildungszieles zurücktreten mußte. In seiner Vorrede zur lateinischen Übersetzung dieser Schrift vom Sommer 1524 unterstützte Melanchthon Luther in dieser Hinsicht 9• Die Ratsherrenschrift war alles andere als eine unverbindliche Äußerung. Schon am 25. April 1524 bat Luther Jakob Strauß, in Eisenach auf die Einrichtung einer Schule zu dringen. Dies sei höchst notwendig, sonst drohe dem Evangelium durch Vernachlässigung der Jugend größtes Verderben lO • Wie sehr ihm die Aufgabe auf den Nägeln brannte, erkennt man aus dem noch 1524 erschienenen Sendschreiben 142

an die Stadt Riga, das bereits über die Nachlässigkeit klagte, mit der sein Aufruf aufgenommen worden sei. Die Gemeinden wollten die gegenüber den früheren Ausgaben für die Kirche wesentlich geringeren Aufwendungen für Schulen und Prediger nicht aufbringen. Gottes Strafe dafür konnte nicht ausbleiben, und möglicherweise bestand sie in einem neuen und ärgeren Papsttum. Im Bauernkrieg gab Luther die Schuld für die Unkenntnis von Gottes Gebot dem Niedergang der Schulen 11. Die Errichtung christlicher Schulen in Luthers Sinn mußte für die Reformation auf die Dauer so wichtig sein wie die Wittenberger Universitätsreform von 1518 und deren Bewahrung. Faktisch ist der Appell keineswegs so wirkungslos verhallt, wie Luther meinte. Noch 1524 erfolgten Schulreformationen in Magdeburg, Nordhausen, Halberstadt und Gotha l2 . Am 16. April 1525 reiste Luther mit Melanchthon und Agricola auf Bitten Graf Albrechts von Mansfeld nach Eisleben zur Errichtung einer christlichen Lateinschule. Angesichts der Vernachlässigung der Wittenberger Schule hielt er der kursächsischen Regierung deshalb den Grafen Albrecht, aber auch Städte wie Magdeburg, Danzig und Nürnberg als Beispiel vor. Ein Jahr später sandte er einen deutschen Schulmeister nach Eisleben 13. In einem vom Rat zu Zerbst erbetenen Gutachten über die Klostergüter forderte Luther im Mai 1525 einmal mehr deren Verwendung für eine Knaben- und Mädchenschule, um Menschen zu erziehen, die Land und Leute regieren könnten. »Denn an der Erziehung der Jugend liegt die allergrößte Macht.« Einen ähnlichen Rat gab er 1529 Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach 14. 1526 kam es zur Errichtung der bedeutenden Nürnberger Gelehrtenschule durch Melanchthon l5 . 1527 forderte Luther die ehemalige Nimbschener Nonne Else von Kanitz auf, die Wittenberger Mädchenschule zu übernehmen, um »durch Euch solch Werk andern zum Exempel anzufangen« 16. Zunehmend mußten er und Melanchthon Schulmeister für die Städte vermitteln. Insgesamt erwies sich die Bemühung um die Schulen als eine keineswegs erfolglose, aber - entgegen den ursprünglichen Vorstellungen Luthers - doch längerfristige Aufgabe. Der Aufbau eines Schulwesens in den evangelischen Territorien wurde meist in Verbindung mit der Neuordnung der Kirche in Gang gebracht, und diese bekamen damit einen gebildeten Nachwuchs. Das trug nicht zuletzt auch zur Konsolidierung gegenüber dem Schwärmerturn bei. Langfristig erwiesen sich die evangelischen Schulen als einer der Träger einer protestantischen Kultur.

2. »Von Kaufshandlung und Wucher« Das Problem des rechten Wirtschaftsgebarens beschäftigte die Reformatoren anhaltend. Auch für Luther war es mit seinem großen »Sermon vom Wucher« von 1520 nicht ein für allemal gelöst 1. In den Dekalogpredigten vom März 1523 ging er ausführlich auf die Frage der angemessenen Gewinnspanne von Handwerkern und Kaufleuten ein. Beim »Zinskauf«, den Kapitalgeschäften, forderte er erneut wenigstens die Teilung des Risikos zwischen Gläubiger und Schuldner und einen maß143

vollen Zinssatz. Niemandem sollte die materielle Existenzgrundlage wegen Verschuldung genommen werden. Wenig später äußerte er die Hoffnung, daß nach Überwindung der mit dem Glauben und der Schrift unvereinbaren Auffassungen auch diese ökonomischen Mißstände aufhören würden 2 • Manche Anhänger Luthers gingen in ihrer Kritik an den wirtschaftlichen Mißständen erheblich weiter. Der wichtigste unter ihnen war zunächst der aus Basel stammende ehemalige Dominikaner Dr. Jakob Strauß, der, wegen seiner reformatorischen Predigt aus Hall in Tirol verdrängt, im Frühsommer 1522 nach Wittenberg gekommen war. Luther hatte ihn im Herbst dem Grafen Georg von Wertheim empfohlen, der ihn jedoch wegen seines aggressiven Vorgehens, das auch Luther ablehnte, bald wieder entlassen hatte 3 . Durch Vermittlung des Weimarer Hofpredigers Wolfgang Stein bei Herzog Johann Friedrich wurde Strauß Anfang 1523 als Prediger in Eisenach angestellt. Seine Verkündigung und seine Schriften waren durch Luther geprägt, von dem er sich freilich gelegentlich auch charakteristisch unterschied. Stärker als Luther tendierte er zur kirchlichen Veränderung, was ihn mit der zahlreichen altgläubigen Geistlichkeit in Eisenach in Konflikt bringen mußte und später mehrfach in die Nähe der Radikalen brachte. Zu einem besonderen Streitpunkt wurde der Zinskauf, aus dem gerade auch die Eisenacher kirchlichen Einrichtungen erhebliche, für die Bürger belastende Einnahmen bezogen. Strauß hielt in seinem »Hauptstück und Artikel christlicher Lehre wider den unchristlichen Wucher ... «4 jeden Gewinn aus Kapitalgeschäften für gottwidrig und bezeichnete selbst die Bezahlung entsprechender Forderungen als Sünde. Aufgrund dieser radikalen Auffassung wurden in Eisenach die Zinszahlungen zum Teil eingestellt. Schon wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Vorgangs mußte sich der für Eisenach verantwortliche Herzog Johann einschalten. Auf eine Anfrage des Kanzlers Gregor Brück äußerte sich auch Luther im Oktober 1523 zu den Artikeln von Strauß. Auch er war an sich für die Abschaffung des unchristlichen Zinskaufs, meinte aber, daß Strauß die wirtschaftliche Problematik nicht richtig erfaßt habe und zu schnell auf praktische Veränderungen ausgegangen sei. Unhaltbar war die Auffassung, daß das Zahlen von Zinsen Sünde sei. Das mußte Strauß öffentlich zurücknehmen, sonst war das Verhalten des »Pöbels« nicht mehr kalkulierbar . Auf Unrecht durfte nicht mit Gewalt reagiert werden. Luther sah sich damals jedoch nicht in der Lage, sofort eine Lösung des komplizierten Zinskaufproblems vorzuschlagen. Der Mißstand mußte darum zunächst noch eine Weile ertragen werden 5 . Strauß korrigierte sich dann dahingehend, daß die Schuldner die Zinsen nicht von sich aus entrichten und damit ihrerseits zum Unrecht des Zinskaufs beitragen, aber ihren Einzug hinnehmen sollten. Für Luther war dies eine belanglose Art von passivem Widerstand gegen das Böse; man hatte eben den bestehenden Gesetzen zu gehorchen, zumal sonst der Widersetzlichkeit des Volkes Tür und Tor geöffnet wurde 6 . Strauß legte seinen Standpunkt in der etwa Anfang Juni 1524 veröffentlichten Schrift» Daß Wucher zu nehmen und zu geben unserem christlichen Glauben entgegen ist« maßvoller als vorher, aber nicht ohne Spitzen gegen die Wittenberger dar 7 . Auf eine von Herzog Johann Friedrich vorgeschlagene Aussprache mit Luther

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und Melanchthon in Wittenberg ließ er sich nicht ein. Er war wie Thomas Müntzer für ein allgemeines, öffentliches Religionsgepräch. Darauf ließ der Herzog bei Luther anfragen, ob ein Fürst den wucherischen Zinskauf zulassen dürfe. Dieser sprach sich für die Abgabe des gleichfalls umstrittenen Zehnten von allen Gütern an die Obrigkeit aus und forderte hinsichtlich des Zinskaufs dringend eine Neuregelung. Zinsverweigerer sollte der Fürst jedoch nicht schützen, immerhin handelt es sich beim Zins kauf um eine allgemeine Konvention; die Schuldner hatten darum einstweilen zu zahlen. Ein Zinssatz höher als fünf Prozent sollte normalerweise allerdings nicht zugelassen werden. Die realistische Antwort entsprach den Vorstellungen Herzog Johann Friedrichs, gleichwohl war der maßvolle Zinsfuß bei den Schuldnern und auch bei Predigern wie Strauß nicht leicht durchzusetzen 8 • Luther erkannte zwar an, daß sich Strauß in seiner zweiten Wucherschrift gemäßigt hatte, war aber mit dessen pauschaler Verwerfung des Zinskaufs nicht einverstanden und meinte, daß es eine auch theologisch zulässige rechtliche Regelung des Problems geben könnte 9 , womit er nicht zuletzt Realitätssinn bewies. Die sozialreformerischen Tendenzen von Strauß blieben Luther freilich verdächtig, und er sah sich darin auch durch dessen vermittelndes Verhalten im Bauernkrieg, das ihn sogar ins Gefängnis brachte, bestätigt 10. Zweifellos mitveranlaßt durch Strauß gab Luther zwischen Juli und September 1524 seinen großen »Sermon von dem Wucher« wesentlich erweitert unter dem Titel »Von Kaufshandlung und Wucher« neu heraus 11. In dem an den kaum veränderten Sermon angehängten Schluß, wie übrigens auch in der Auslegung des Deuteronomiums aus demselben Jahr 12 , sprach er sich wieder für den im mosaischen Gesetz vorgesehenen Zehnten als einzige Abgabe auf Grundbesitz aus, ohne dieses damit zur gültigen Norm zu erheben. Der Vorzug gegenüberfesten Zinsleistungen bestand dabei in der Ertragsabhängigkeit. Auf Zins »gekaufte«, d. h. verpachtete Häuser könnten nach einer bestimmten Frist an den Bewohner fallen. Das hätte zu erheblichen Veränderungen der Eigentumsverhältnisse geführt. Entsprechende Regelungen zu erlassen, war eine weit dringlichere Aufgabe für die Reichstage als sich der gegenreformatorischen päpstlichen Politik willfährig zu erweisen. Eine aus 5. Mose 15 ,3 herauszulesende Erlaubnis zu Wuchergeschäften für die Juden erkannte Luther übrigens nicht an. Sie hatten den Gesetzen ihrer Gastvölker zu gehorchen 13. Vermutlich hatten Anfragen von Kaufleuten Luther veranlaßt, dem Sermon vom Wucher den Abschnitt» Von Kaufshandlung« voranzustellen, obwohl er sich davon nur wenig Erfolg versprach. Er setzte sich dabei vor allem mit der Problematik auseinander, die das mehr und mehr aufkommende Handelsunternehmertum mit sich brachte. Grundsätzlich wird die Notwendigkeit des Handels bejaht; er kann auch von Christen ausgeübt werden. Davon ausgenommen wird der Fernhandel vor allem mit Luxusgütern. Luther teilt die damalige Anschauung, daß das Geld im Land bleiben sollte. Das Kaufmannsprinzip des höchsten erzielbaren Preises gilt ihm als mit der christlichen Liebe unvereinbar. Das hemmungslose Ausnützen von Marktsituationen wird der Verpflichtung gegenüber dem Käufer nicht gerecht. Die Geschäfte sind vielmehr nach dem Prinzip von Recht und Billigkeit abzuwickeln. Genaue Regelungen lassen sich wegen der schwankenden Marktbedingungen nicht 145

angeben. Unkosten, Arbeit und Risiko sollten ein Entgelt finden. Am besten wären Preisregulierungen durch die Obrigkeit, die jedoch nicht erreichbar sind. Darum muß man sich nach dem landesüblichen Preisniveau richten und im übrigen nach dem eigenen Gewissen handeln. Wegen geringfügiger Schwankungen der Gewinnspanne braucht sich der Kaufmann keine Vorwürfe zu machen, sie gehören zur Fehlsamkeit menschlichen Tuns. Der in Anschlag zu bringende Lohn soll sich an dem des Taglöhners orientieren. Die Übernahme von Bürgschaften wird mit dem Prediger Salomo abgelehnt, weil kein Mensch sich letztlich auf den anderen verlassen kann. Luther selbst hat sich in seiner Gutmütigkeit übrigens nicht immer an diese Regel gehalten und ist gelegentlich deswegen auch in Schwierigkeiten gekommen. Ein Hauptproblem des Handels war das Gewähren von Kapitalkrediten. Luther unterschied davon zunächst die drei in der Bergpredigt vorgeschriebenen Verhaltensweisen des Glaubens: daß man dem andern widerstandslos sein Gut überläßt, dem Bedürftigen umsonst gibt und ohne Hoffnung auf Rückerstattung leiht. Sie kommen als Regeln für welthaftes Handeln nicht in Frage, hier hat vielmehr die Obrigkeit auch für den Schutz des Eigentums zu sorgen. Selbst der Christ ist nur verpflichtet, von seinem Überfluß, den er nicht für die Erhaltung der eigenen Familie braucht, zu geben oder zu leihen l4 . Kaufgeschäfte aber sollen bar bezahlt und nicht über Bürgschaften abgewickelt werden. Geldverleih soll allenfalls in dem Umfang stattfinden, daß der Verlust noch verschmerzt werden kann. Durch eine derartig solide Praxis wäre bereits den meisten Schäden in der Kaufmannschaft abgeholfen. Offensichtlich hatte sich Luther hinsichtlich der Praktiken des Handeins in beachtlicher Weise kundig gemacht und die Materie durchdrungen. Von daher rührt das anerkannte wirtschaftstheoretische Format seiner Schrift. Konkret werden spekulative Termingeschäfte, Ausnützen der Marktsituation und monopolistische Marktbeherrschung, von der allerdings staatliche Vorrats haltung ausgenommen wird, verworfen. Das gleiche gilt für das Ausnützen von Preisvorteilen und Notlagen, aber auch von unseriösen Zahlungspraktiken, ganz zu schweigen von Manipulation mit der Ware, Maß oder Gewicht. Ähnliche Vorwürfe werden auch gegen Handwerker und Bauern erhoben 15. Für Luther waren die Kaufleute darum auch nicht heiliger als die Raubritter, die sie ausplünderten, weshalb die Obrigkeit auch auf sie ihr Augenmerk zu richten hatte. Als die Hechte im Fischteich des Handels galten ihm die Handelsgesellschaften, die sich mit ihrem Geld bereits auch erheblichen politischen Einfluß verschafft hatten. Von einer Beteiligung an ihnen konnte Luther nur abraten, sie war mit Recht und Redlichkeit nicht vereinbar. Luther zeigte für die mehr und mehr aufkommenden großen Kapitalgeschäfte wenig Verständnis. Das lag einerseits an seiner situationsgebundenen Einsicht in das Wirtschaftsgeschehen, kam aber zugleich aus einer nüchternen und kritischen Beurteilung der Verhältnisse. Daß er auch mit dieser Schrift anecken und wohl nur wenig Erfolg haben würde, war ihm bewußt. Nichtsdestoweniger hielt er es für seine Pflicht, den Gewissen der Betroffenen zu raten. Auch in der Folgezeit kam Luther immer wieder in ähnlicher Weise auf wirtschaftliche Probleme zu sprechen. In der Fastenpostille von 1525 verwies er aus-

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drücklich auf» Von Kaufshandlung« 16. Er kritisierte die hohen Preise angesichts der guten Ernte von 1524 als Undankbarkeit gegen Gott und als Diebstahl. 1525 forderte er ein Einschreiten des Wittenberger Magistrats gegen das Preisgebaren 17. In der damaligen Auslegung von Ps 127 wies er auf die Notwendigkeit der Arbeit hin, die aber doch immer von Gottes Segen abhängig bleibt. »Denn wenn du gleich hundert Jahre pflügtest und aller Welt Arbeit tätest, so möchtest du doch nicht einen Halm aus der Erde bringen.«18 Im Mai 1525 erläuterte er gegenüber dem Danziger Rat erneut das Zinsproblem. Es konnte entgegen den Vorstellungen mancher seiner Anhänger nicht nach dem mosaischen Recht und als weltliches Geschäft auch nicht nach dem Evangelium reguliert werden, wohl aber mußte nach der Billigkeit verfahren werden. Den sehr sozial klingenden Vorschlag, bezahlte Zinsen vom geliehenen Kapital abzusetzen, verwarf er als illusionär, denn das war kein lohnendes Geschäft mehr. Fünf Prozent Zins waren normalerweise erlaubt, mußten aber in schlechten Jahren notfalls herabgesetzt werden. Bei langfristig verliehenem Kapital war eine Minderung der Schuld denkbar, nicht jedoch, wenn der Gläubiger au( die Einnahmen angewiesen war 19 . Luthet persönlich hatte wohl immer ein distanziertes Verhältnis zu Gelderwerb und Besitz. DIe ernsten Warnungen vor Geiz und Mammonsdienst als gottwidriger pseudoreligih'~er Existenzbegründung kehren bei ihm regelmäßig wieder 2o • Dazu gab nicht nur der jährlich wiederkehrende Predigttext Mt6,24ff., sondern auch das Verhalten seiner Gemeindeglieder Anlaß. Er paßte sich daher keineswegs den Besitzinteressen des Bürgertums ohne weiteres an, aber er lehnte die bestehenden Verhältnisse auch nicht einfach ab. In der den beiden Regimenten entsprechenden unterschiedlichen Weise sollten die Probleme von Erwerb und Besitz durch die Christen und die Obrigkeit nach den Prinzipien der Liebe und der Billigkeit beherrscht und reguliert werden. Auch das Eigentum durfte immer nur anvertrautes Gut zum Dienst am Mitmenschen sein, und darum durfte nicht beliebig mit ihm verfahren werden. Eine Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft konnte es somit nicht geben; ihr Gebaren war durch das Predigtamt und die Obrigkeit zu kontrollieren. In der seit 1523 aufgebrochenen Diskussion um Zins und Wucher meldete sich bereits bestehende wirtschaftliche Unzufriedenheit in Verbindung mit reformatorischem Biblizismus. Insofern war sie ein Wetterleuchten des heraufziehenden großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konflikts. Luther teilte die Kritik an den Auswüchsen des Wirtschaftsgebarens, lehnte jedoch dessen biblizistisch-gesetzliche Reglementierung aus theologischen Gründen ab. Statt dessen bemühte er sich um maßvolle »billige« mittlere Lösungen mit einem gerechten Ausgleich der Interessen, die mit Hilfe der Obrigkeit durchgesetzt werden sollten. Abgesehen von dieser Bezugnahme auf die Obrigkeit als ordnende Instanz auch der Wirtschaft läßt sich an Luthers Urteil eine bewußte Abhängigkeit von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen oder Schichten nicht feststellen. Der vermögenslose Professor im Augustinerkloster war in erster Linie Theologe.

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Thomas Müntzer Holzschnitt aus: Die Weissagungen Johann Lichtenbergers, Wittenberg 1527

3. Thomas Müntzer Die beiden bedeutendsten Gegner Luthers im eigenen Lager waren zunächst Karlstadt und Thomas Müntzer. Der Gegensatz war in beiden Fällen ursprünglich theologischer Natur, reichte aber bis in den Bereich der Kirchenordnung hinein und erstreckte sich schließlich auf die sich damit verbindenden sozialen und politischen Konflikte. Obwohl Luther nach der Rückkehr von der Wartburg zunächst unmittelbarer mit Karlstadt konfrontiert war, empfiehlt es sich vom Gesamtablauf her, mit seinem Verhältnis zu Müntzer einzusetzen. Der um 1490 in Stolberg am Harz geborene Müntzer begegnet als aggressiver Parteigänger Luthers erstmals 1519 in Jüterbog. Seit Mai 1520 wirkte er auf Empfehlung Luthers als Prediger in Zwickau. Dort legte er sich sowohl mit den Altgläu148

bigen als auch mit den konservativ eingestellten Anhängern der Reformation um den eher mit dem Humanismus als mit Luther sympathisierenden Prediger Egranus an, weshalb er im April 1521 vom Rat entlassen wurde. Zu den ihm nahestehenden Kreisen unter den Tuchknappen hatten auch Nikolaus Storch, Thomas Drechsel und Markus Thomae, die sog. Zwickauer Propheten, gehört, die Ende 1521 ihre unmittelbaren Offenbarungen und ihre Ablehnung der Säuglingstaufe in Wittenberg propagiert hatten 1. Mit dem ungebrochenen Sendungs bewußtsein eines Kämpfers für die Wahrheit und eines »Auserwählten Gottes« versuchte Müntzer bei mehreren Besuchen 1521 in Böhmen seine im sog. »Prager Manifest« faßbare Botschaft zu verbreiten, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Während des Jahres 1522 gelang es ihm nirgends, eine dauerhafte kirchliche Anstellung zu finden. In Nordhausen geriet er bald in Konflikt mit dem Pfarrer Lorenz Süße, einem Anhänger Luthers. Auch in Halle und ebenso wohl zuvor in Stolberg konnte er nicht dauerhaft Fuß fassen. Vermutlich im Februar 1522 hatte er einmal in Wittenberg eine Unterredung mit Melanchthon und Bugenhagen. Wahrscheinlich war er auch in Erfurt. Im Spätherbst tauchte er in Weimar bei der Disputation mit den dortigen Franziskanern auf, bei der er u. a. auch Jakob Strauß begegnete 2 • Kurz vor Ostern 1523 wurde er vom Rat des Ackerstädtchens Allstedt unter Übergehung des Patronatsrechts des Kurfürsten an die dortige Neustadtkirche berufen und konnte dort die nächsten 15 Monate einigermaßen kontinuierlich wirken. Er gewann eine ihm ergebene Anhängerschaft aus allen Schichten der Gemeinde. Schon am Lebensgang Müntzers zwischen Zwickau und Allstedt läßt sich ablesen, daß zwischen ihm und der lutherischen Seite erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten waren. Auf die Frage nach dem theologischen Verhältnis zwischen Luther und Müntzer hat die Forschung recht unterschiedliche Antworten gegeben, die bis heute nicht ganz in Einklang gebracht sind 3• Den einen gilt er als radikalisierter Schüler Luthers, den anderen als ganz in der spätmittelalterlichen deutschen Mystik verhaftet, die dritten betonen vor allem sein apokalyptisches Gerichtsdenken, das vielleicht böhmisch-taboritisches Gedankengut aufgenommen hatte; dazu kommt noch das marxistische Verständnis Müntzers als Volksreformator. In der Tat müssen bei einer Deutung Müntzers das mystische Erbe, der Einfluß Luthers, die Eschatologie und die gesellschaftlich-politische Aktion in ein stimmiges Verhältnis gebracht werden, was nicht ganz einfach ist. Dennoch erscheint eine plausible Erklärung von Müntzers Theologie, wie sie seit dem Prager Manifest in den Quellen greifbar ist, möglich. Seine erste Verteidigungsschrift gegen die lutherische Seite, die »Protestation von dem gedichteten Glauben«, begann Müntzer mit folgenden Sätzen: »Der christen Glaube ist eine Sicherung (Versicherung oder Gewißheit), aufs Wort und Zusage Christi sich zu verlassen. Soll nun jemand dies Wort fassen mit rechtschaffenem und ungedichtetem (ungeheucheltem) Herzen, so muß sein Ohr zu hören gefegt sein vom Getön der Sorgen und Lüste. «4 Wie bei Luther ist der Glaube auf die Verheißung Christi bezogen. Diese kann aber nur unter der in der deutschen Mystik begegnenden Voraussetzung vernommen werden, daß das Herz von allem Weltlichen entleert ist, ein

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Prozeß, den Müntzer auch als die »Ordnung Gottes« bezeichnen konnte. 1517 oder 1518 war Müntzer Luther zum ersten Mal in Wittenberg persönlich begegnet 5 • Dieser betonte damals stark den Zusammenhang zwischen seiner der deutschen Mystik nahestehenden Demutstheologie und dem eben sich durchsetzenden Verständnis der Rechtfertigung aus dem Glauben an das Wort Christi. Von daher begründete er seine scharfe Kritik an der Scholastik und an der Kirche. Es hat den Anschein, als ob Müntzer eben diese Konzeption Luthers übernommen habe, wobei er die strengen Voraussetzungen der Mystik zum Heilsempfang und die Kirchenkritik stärker betonte als Luther. Müntzer dürfte demnach einer jener Theologen sein, die von einem Frühstadium von Luthers Theologie entscheidend geprägt wurden, aber dessen weitere Entwicklung nicht ohne weiteres mitmachten, sondern bei den frühen Ansätzen stehen blieben bzw. sie selbständig weiter entwickelten. Von Müntzers gesetzlicher und durch »die Furcht Gottes« gefärbter Glaubenstheologie her stellte sich die Aufgabe des Kampfes gegen alle Gottlosigkeit und des Vollzugs des Gerichts über sie. Auf diese Weise erscheinen mystische Grundstimmung und apokalyptisches Programm eigentlich schon im Prager Manifest verbunden. Damit waren die Voraussetzungen für ein revolutionäres Programm gegeben. In einem Brief an Melanchthon vom 27. März 1522, also kurz nach Luthers Rückkehr von der Wartburg, übte Müntzer erstmals Kritik an den Wittenbergern 6 • Er hielt die pauschale Freigabe der Priesterehe für problematisch, weil diese oft fleischlich motiviert war und somit der Aspekt der Heiligung, eine Voraussetzung für den Geistempfang, nicht beachtet wurde. Ferner war er mit Luthers Rücksicht auf die Schwachen oder gar auf die Fürsten nicht einverstanden. Der Kampf mit den Verworfenen mußte ausgetragen werden. Wahrscheinlich hatte Luther bei seinen Auseinandersetzungen mit den Zwickauer Propheten über den Geistbesitz und die Kindertaufe im April und September 1522 auch Müntzer mit im Blick, der sich möglicherweise bei seinem Wittenberger Besuch im Februar entsprechend geäußert hatte? Weitere Spannungen machen sich erst 1523 bemerkbar. Luthers Kritik in der Osterpredigt von 1523 an den schwärmerischen Propheten, die im Bewußtsein ihres Geistbesitzes ohne Furcht mit Gottes Majestät »als mit einem Schusterknecht« redeten, richtete sich wohl eher gegen die Zwickauer Propheten als gegen Müntzer in Allstedt 8 • Am 9. Juli 1523 richtete Müntzer an Luther einen rechtfertigenden Brief, dessen Anlaß nicht ganz klar ist 9 • Möglicherweise war eine Anfrage Luthers über Müntzers Verhältnis zu den Zwickauer Propheten vorausgegangen. Müntzer ging es zunächst um Vergangenheitsbewältigung. Er begründete die Notwendigkeit seines Konflikts mit Egranus in Zwickau, in dem Luther hatte ausgleichen wollen. Ferner bewies er seine Unschuld an dem durch seine Entlassung ausgelösten Auflauf der Zwickauer Tuchknappen. Dann legte er sein umstrittenes Verständnis der Offenbarungen dar. Die notwendige Erkenntnis des göttlichen Willens hat die Konformität mit dem gekreuzigten Christus zur Voraussetzung, führt aber dann auch zum Empfang der unmittelbaren Offenbarung; das ließ sich aus den biblischen Zeugnissen belegen. Mit den Zwickauer Propheten identifizierte Müntzer sich nicht. Luthers Vorbehalte gegen mystische Begriffe suchte er zu zerstreuen. Dieser 150

reagierte darauf jedoch ablehnend. Als ihn wenig später der Allstedter Schosser (kurfürstlicher Verwaltungsbeamter) Hans Zeis aufsuchte, riet er ihm, sich von »dem Geist des Propheten« fernzuhalten. Müntzer war ihm unerträglich. Trotz seines Lobes wollte dieser etwas anderes als er. Seine ungewohnte, unbiblische Ausdrucksweise qualifizierte Luther als verrückt. Er hielt eine Aussprache mit Müntzer für dringend notwendig, wußte aber nicht, ob dieser sich stellen würde lO • Mit der erfolgreichen Tätigkeit Müntzers in Allstedt, seinen neuen Gottesdienstordnungen und Predigten, die den Grafen Ernst von Mansfeld veranlaßten, seinen Untertanen den Besuch des dortigen Gottesdienstes zu verbieten - wodurch er Müntzers heftigen Protest auslöste -, war Luther nicht unmittelbar befaßt. Hingegen stellte Spalatin Müntzer eine Reihe von Fragen über sein Verständnis des Glaubens. Dieser antwortete darauf etwa Ende November mit der Schrift» Von dem gedichteten Glauben«, in der er die Wittenberger angriff ll . Anfechtung und Kreuz, die den Menschen in seinem Unglauben abtöten, sind die Voraussetzung für den Empfang des Glaubens. Die Aufgabe des Predigers besteht zunächst in der Gerichtspredigt, die den nur vorgegebenen Glauben auszurotten hat. Luther wird vorgeworfen, daß er einen Glauben ohne Abtötung und unter Übergehung des bitteren Christus einen süßen Christus verkündigt. Nur die Zerknirschten und »Armgewordenen« können Christus erkennen und empfangen. Unmittelbar zuvor hatte Müntzer bereits seine» Protestation oder Erbietung ... von dem rechten Christenglauben und der Taufe« verfaßt 12, die seine öffentliche Reaktion auf Luthers Aufforderung zu einer internen Lehrauseinandersetzung darstellte. Sein Vorwurf an die Wittenberger richtete sich dahin, daß sie die endzeitliche Aufgabe, das Unkraut unter dem Weizen auszureißen, nicht geleistet hätten. Schuld daran war nicht zuletzt die Praxis der Kindertaufe. Die Taufe mußte aber mit der bewußten Abtötung des alten Menschen verbunden werden und konnte darum nur Erwachsenentaufe sein. Ohne solches Gericht half auch alle Kenntnis der Bibel und alle Betonung des Glaubens allein nichts, denn so war dieser keinen Pfifferling wert. Ohne das Gericht war das Evangelium billig. Es galt, den engen Weg einzuschlagen und den Lüsten abzusagen, mehr noch, in der Anfechtung durch Gott zunichte zu werden. Nach Müntzers Ansicht schob der zu den Mastsäuen der falschen Propheten zu rechnende Luther dies alles beiseite oder verharmloste es. Daß Müntzer seinerseits wieder in der Gefahr stand, eine verkrampfte Gesetzlichkeit zur Vorbedingung des Glaubens zu machen, war diesem in seinem Eifer offensichtlich überhaupt nicht bewußt. In der Vorrede zu seiner wohl im Spätsommer 1524 herausgegebenen »Deutsch Evangelischen Messe«, die den »Greuel aller Abgötterei« aufdecken wollte, wandte sich Müntzer offensichtlich auch gegen Luthers lateinische »Formula Missae« und deren Tendenz, die Schwachen zu schonen. Den Schwachen konnte nicht besser als durch eine volkssprachliche Meßliturgie geholfen werden; hingegen waren ihre Bedürfnisse nicht durch neue, nicht bewährte und erprobte Lieder, wie sie Luther gefordert hatte, zu stillen 13. Eine Folge der scharfen Predigten Müntzers und seines Kollegen Simon Haferitz war die Niederbrennung der bei Allstedt gelegenen, dem benachbarten Zisterzienserinnenkloster Naundorf gehörenden Mallerbacher Marienkapelle am Gründonnerstag (14.März) 1524. Die Forderung der 151

kursächsischen Regierung, die Täter zu fassen, wurde von der Gemeinde mit Erfolg verschleppt. Wahrscheinlich schon im Sommer 1523 hatte Müntzer einen ersten Geheimbund mit 30 Mitgliedern gegründet, dessen Ziel es war, »bei dem Evangelio zu stehen, Mönchen und Nonnen keinen Zins mehr zu geben und dieselben helfen verstören und vertreiben«. Die partielle Gemeinsamkeit mit den Forderungen von Strauß fällt auf. Luther war zweifellos über die Vorgänge informiert und dürfte ein energisches Einschreiten der Regierung gewünscht haben 14. Am 6. Mai berichtete er vom Aufkommen einer Sekte im eigenen Lager, die sich des Geistbesitzes rühme. Damit könnte Müntzer gemeint sein. Der Vorgang verunsicherte Luther nicht. Es war geradezu ein Ausweis für die eigene Sache, daß das Wort Gottes nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch neue Häresien vom Teufel geplagt wurde 15 . Daß in diesem Zusammenhang immer wieder der Teufel namhaft gemacht wurde, war neutestamentlich wohl begründet und keineswegs nur zeitgebundener Aberglaube. Mitte Juni erbat der Kurprinz Johann Friedrich Luthers Rat nicht nurwegen der umstrittenen Gültigkeit des mosaischen Gesetzes und des durch Strauß aufgeworfenen Problems des Wuchers, sondern auch wegen Müntzer. Luther sah die Zeit für eine öffentliche Auseinandersetzung noch nicht für gekommen, wünschte jedoch nach wie vor ein Verhör Müntzers in Wittenberg. Es ärgerte ihn, daß Müntzer unter dem Schutz des reformationsfreundlichen Kursachsen sein Wesen trieb, anstatt sich z. B. im Gebiet Herzog Georgs zu bewähren. In seiner Antwort klagte Johann Friedrich über die allzuvielen »Schwärmer« in Thüringen und unterbreitete Luther erstmals das Projekt einer Visitation, auf der dieser die Prediger in den Städten prüfen und notfalls mit Hilfe der Obrigkeit absetzen sollte 16. Am 4. Juli ließ Luther Johann Brießmann in Königsberg wissen, daß der Teufel neue Propheten und Sekten erweckt habe, die schließlich darauf ausgehen würden, ihre Sache mit Waffengewalt durchzusetzen. Das bedeutete, daß Luther die Auseinandersetzung aufnehmen mußte 17 • Ende Juli erschien der dem Kurfürsten und seinem Bruder gewidmete »Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist«18. Er setzt ein mit einer Erläuterung über das Schicksal des Wortes Gottes. Wo seine Saat aufgeht, ist alsbald auch der Teufel als Widersacher auf dem Plan und sucht es zunächst mit Gewalt und dann, weil Gott sie verlacht, durch Irrlehrer zu unterdrücken. Von Anfang an geht es nach Luther hier letztlich um eine harte Auseinandersetzung mit dem Satan. Das historische Deutungsmodell bot mit dem Neuen Testament (1. Kor 11, 19) eine Erklärung für das Auftreten der Sekten in der Reformationskirche: »Sekten müssen sein.« Nicht etwa im Gebiet Herzog Georgs, sondern im kursächsischen Allstedt hatte sich der Teufel ein neues Nest gemacht. Scharf werden die Unterschiede markiert: Gegenüber der unmittelbaren Offenbarung und dem Erleiden des Werkes Gottes gilt die Wittenberger Predigt von Glauben, Liebe und Kreuz Christi ebensowenig etwas wie die Hochschätzung der Bibel. Eine Infragestellung beantworten die Sektierer mit der Androhung von Gericht und Gewalt. Luther ging es in seinem Brief nicht um eine theologische Auseinandersetzung, die er bereits in seiner Abfertigung der mit Müntzer gleichgesetzten Zwickauer Propheten geleistet zu haben meinte. Er unterstellte vielmehr, daß Müntzer und 152

seine Anhänger im Begriff waren, zur gewaltsamen Aktion und zum Aufruhr überzugehen. Müntzer hatte das so zwar noch nicht direkt geäußert, aber in seiner Konzeption des von den Frommen vorzunehmenden apokalyptischen Gerichts war es angelegt, und entsprechende Andeutungen gab es bei seinen Anhängern. Dazu bot die Zerstörung der Mallerbacher Kapelle ein Indiz. Das war Grund genug, die Obrigkeit zu mahnen, gegen den Unfug einzuschreiten und ihre von Gott auferlegte Verantwortung für den öffentlichen Frieden wahrzunehmen. Eine Legitimation der Gewalttätigkeit mit der Weisung des Heiligen Geistes wollte Luther nicht gelten lassen, abgesehen davon, daß er solche Aktionen in den katholischen Zentren Dresden, Berlin oder Ingolstadt für überzeugender gehalten hätte. Es galt die Geister zu prüfen. Eben dem entzog sich Müntzer, indem er einem Verhör in Wittenberg auswich, wo freilich die Bedingungen für ihn nicht sehr günstig gewesen wären. Luther führte dagegen sein eigenes Beispiel an. Er hatte sich jeweils in feindlichem Gebiet in Augsburg, Leipzig und Worms mutig der Auseinandersetzung gestellt. Mit seinem Verhalten erwies sich Müntzer als »lügenhaftiger Teufel«, freilich noch längst nicht der gefährlichste. Die Fürsten sollten ihn darum ohne Scheu von der Gewalttätigkeit abhalten. Sollten Müntzer und seine Anhänger Luther als inkompetenten Richter über ihren Geist ablehnen, so war das kein Argument, denn Christus, die Apostel und auch Luther selbst waren sich nie zu gut, Rechenschaft von ihrem Glauben abzulegen. Müntzer selbst hatte zuvor mit seinen beiden Schriften gegen die Wittenberger die Auseinandersetzung provoziert. Luther wußte sich für seine Kritik durchaus qualifiziert: Obwohl die Wittenberger arme Sünder sind, haben sie die Erstlinge des Geistes, wenn auch nicht dessen ganze Fülle. Sie wissen, was Glaube, Liebe und Kreuz ist, und das ist das Höchste. Von daher läßt sich urteilen. Luther unterstellt Müntzer die vermessene Aufhebung von Schrift, Predigt und Sakramenten, an deren Stelle eine unmittelbare Geistbegabung trete, sofern der Mensch aus seinen Kräften die Voraussetzungen dazu schafft. Das war nicht ganz präzise, traf aber erhebliche Teile von Müntzers Konzeption. Ironisch fragte Luther weiter nach den höheren Früchten des Geistes bei den Allstedtern im Vergleich mit den Wittenbergern, nachdem Müntzer die Ineffektivität von Luthers Predigt kritisiert hatte. Luther konnte bei den Allstedtern nur die mit dem Heiligen Geist nicht zu vereinbarende Gewalttätigkeit feststellen. Verglichen damit konnte notfalls auch er mit seiner geringen und sündigen Person noch mithalten. Im Grunde war die Frage nach dem Leben für Luther jedoch ein sekundäres Problem, eigentlich entscheidend war die Lehre. Als konkrete Anweisung für die Fürsten ergab sich: Die Predigt der Allstedter sollte nicht unterdrückt werden. Die Sekten sind eine Begleiterscheinung des Wortes Gottes. »Man lasse die Geister aufeinanderplatzen und treffen.« Die Wahrheit wird sich durchsetzen. Daß einige verführt werden, ist in Kauf zu nehmen. Die Obrigkeit wird dabei nicht eingeschaltet. Die entscheidende Grenzziehung von Luthers politischer Theologie blieb gewahrt. Dadurch wurde der Fürstenbrief zu einem bleibenden Dokument dafür, daß abweichende religiöse Auffassungen grundsätzlich zu ertragen waren. Wo allerdings der Übergang zur Gewalttätigkeit erfolgte, hatten die Fürsten mit Landesverweisung einzugreifen. Der Kampf konnte

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nicht anders als geistlich ausgetragen werden. Von daher rechtfertigte Luther nochmals sein eigenes reformatorisches Vorgehen. Die Herzen mußten gewonnen werden, dann fielen Kirchen und Klöster von selbst dahin, mit äußerer Gewalt hingegen war nicht zum Ziel zu kommen. Den Verweis auf alttestamentliche Beispiele von Götzenzerstörung ließ Luther nicht gelten. Denn das liefe letztlich auf die Tötung der Gottlosen hinaus. Luther hatte an diesem Punkt die harte Konsequenz von Müntzers Gerichtstheologie scharfsichtig erkannt. Die Überwindung von Ärgernis konnte jedoch nur durch Gottes Wort geschehen, eine darüber hinausgehende Gewalttätigkeit, die das Volk zu Aufruhr verleitete, hatten die Fürsten zu unterbinden. Mit dem Heiligen Geist begabte Christen gebrauchen nicht die Fäuste, sondern sind bereit zu leiden. Für Luther stand damit einmal der teuflische Charakter von Müntzers Häresie und ferner ihre politische Illegalität und Gefährlichkeit fest. Aus dem zweiten Grund mußte die Obrigkeit gegen Müntzer einschreiten. Luther begriff den aufbrechenden Konflikt nicht als einen sozialen, sondern ganz und gar als einen religiösen, der durch die Gewalt freilich in den politischen Bereich ausuferte und dort auf das unruhige Volk überzugreifen drohte. Diese Einschätzung des Zusammenhangs von Religion und Politik sollte noch folgenreich werden. Noch ehe Luthers Brief erschienen war, hatte Müntzer am 13. Juli 1524 seinerseits Gelegenheit bekommen, vor den durchreisenden Herzögen Johann und Johann Friedrich auf dem Allstedter Schloß zu predigen und seine Konzeption anhand der Vision von den fünf Weltreichen (Dan2) darzulegen 19 • Der »unverdrossene Gottesknecht« bezeichnete es als seine Aufgabe, mit seiner Predigt dem Verfall der Christenheit, bewirkt durch die falschen Propheten und die Verwerfung Christi, abzuhelfen. Begabt mit Gottes Geist, hatte er das Strafamt auszuüben. Erkennen konnte den verworfenen Christus nur, wer der unmittelbaren Offenbarung Gottes gewärtig war und in der Furcht Gottes stand. Damit wurde Luther mit seiner Ablehnung der neuen Propheten und ihrer Visionen als geistlos disqualifiziert. Er hatte das mystische Zunichtewerden und die Abtötung nicht durchgemacht und deshalb auch die Offenbarung nicht empfangen. Darum nützte ihm auch die ganze Bibel nichts, er erwies sich als »Bruder Mastschwein und Bruder Sanftleben«. Die Geistbegabten aber waren die Träger des eschatologischen Prozesses. Im Grunde ging es ständig um Müntzers eigene Sendung. Wie bereits die Bauern und Laien sollten die Fürsten ihm und nicht den heuchlerischen Pfaffen glauben und sich auf den Eckstein stellen, der die bestehenden Reiche zertrümmerte. Als neuer Daniel wollte Müntzer den Fürsten ihre Offenbarungen auslegen und die Bewegung anführen. Eine Unterscheidung der beiden Reiche lehnte er ausdrücklich ab. Es galt jetzt gegen die Feinde des Evangeliums einzuschreiten und das Gericht an ihnen zu vollstrecken. Die Aufgabe der Fürsten bestand darin, den Auftrag Christi zur Ausübung des Gerichts wahrzunehmen, so war es nach Müntzer Röm 13,4 vorgeschrieben. Die sächsischen Fürsten sollten trotz aller Anfechtung den Heiligen Krieg für das Evangelium wagen. Gewaltsame Aktionen wie der Bildersturm waren selbstverständlich gerechtfertigt. Die Gottlosigkeit durfte nicht geduldet werden. Im Gegensatz zu Luthers Auffassung durfte auf das Schwert nicht verzichtet wer154

den, es war vielmehr gerade das Instrument der Kraft Gottes. Falls die frommen Fürsten diese Aufgabe nicht wahrnehmen sollten, würde Gott ihre Absetzung und Erwürgung bewirken. Toleranz war nicht am Platze. Das Unkraut unter dem Weizen mußte von den ernsten Knechten Gottes ausgerissen werden. Die gottlosen Regenten und besonders die Pfaffen und Mönche als Gegner des Evangeliums waren zu töten. »Die Gottlosen haben kein Recht zu leben.« Die Regenten sollten ihre Aufgabe keck in Angriff nehmen. Die Fürstenpredigt war Müntzers theologisches Programm samt seinen erheblichen politischen Konsequenzen. Soziale Probleme spielten in ihr allenfalls ganz am Rande eine Rolle, insofern nach Müntzers Ansicht gegebenenfalls das ihn unterstützende Volk anstelle der gottlosen Fürsten die Macht übernehmen sollte. Über dieses Konzept waren schwerlich Verhandlungen möglich. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß die kursächsischen Fürsten auf Aktionen gegen die Anhänger der Reformation verzichteten und daß Herzog Johann unter dem Einfluß seines Hofpredigers Wolfgang Stein hinsichtlich des Weges der Reformation unsicher war, bleibt es verwunderlich, daß von einer energischen Reaktion der Fürsten gegen Müntzers Predigt nichts bekannt ist. Am frühesten wurde dem jungen Herzog Johann Friedrich bewußt, daß gegen den »Satan von Allstedt« nicht mit Sanftmut und Briefen, sondern mit dem Schwert vorgegangen werden mußte 20 • Luther bezeichnete die ihm von Spalatin zugesandte Fürstenpredigt als Raserei und hielt sie in bitterer Ironie für wert, Müntzer deswegen mit einer Pfründe zu belohnen anstatt ihn bloß im Land zu dulden. Man habe bisher nicht vermocht, das zu erkennen und zu besorgen, was Gottes sei, vielmehr die Interessen des Teufels betrieben und seine Leute gehegt, anstatt sie zu vertreiben 21 • Müntzers Situation in Allstedt war in der zweiten Julihälfte zunehmend schwieriger geworden. Angesichts der drohenden Auslieferung der Flüchtlinge aus den benachbarten altgläubigen Gebieten hatte er vom Recht zum Widerstand gepredigt und den Bund der ernsthaften Anhänger Gottes, die sich an der Durchführung des kommenden apokalyptischen Gerichts beteiligen sollten, erheblich erweitert. Am 31. Juli wurden der Schosser Zeis, der Schultheiß und zwei Ratsmitglieder von Allstedt, am Tag darauf Müntzer selbst am Weimarer Hof verhört, wobei der Vorwurf der Agitation zum Aufruhr an ihm haften blieb. Erst nach der Rückkehr erfuhr er von den Auflagen, denen er sich fügen sollte, nämlich der Schließung seiner Allstedter Druckerei, der Unterlassung aufrührerischer Predigt und der Auflösung des Bundes. Er reagierte spontan mit Drohungen gegen die sächsischen Fürsten, was ihn jedoch nur zusätzlich belastete. Noch einmal wandte er sich an den Kurfürsten mit schweren Vorwürfen gegen Luthers »Schandbrief«. Er forderte das Recht, weiter predigen und publizieren zu dürfen, sonst würde sich der Konflikt in der Christenheit gefährlich zuspitzen. Erneut verlangte er das öffentliche Religionsgespräch, auf dem er dokumentieren wollte, daß zwischen ihm und Luther keine Übereinstimmung über den Christenglauben mehr bestand. In den Tagen danach muß ihm klar geworden sein, daß er sich in Allstedt nicht mehr halten konnte. In der Nacht vom 7. zum 8. August verließ er heimlich die Stadt und wandte sich nach Mühlhausen 22 .

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Noch in Allstedt war als Antwort auf Luthers Brief an die Fürsten eine Auslegung von Lk 1, die Vorstufe der »Ausgedrückten Entblößung (Bloßstellung) des falschen Glaubens« entstanden, die im Herbst 1524 in Nürnberg gedruckt wurde 23 • Müntzer bezeichnete sich auf dem Titelblatt als der »Prophet mit dem Hammer« des die Felsen zerschmetternden Wortes Gottes. Einmal mehr führte er sein von der Mystik ausgehendes Glaubensverständnis im Kontrast zu Luther vor. Beklagt wird, daß die Armen wegen ihrer Sorge um die Nahrung nicht in der Lage sind, lesen zu lernen, und damit von den Schriftgelehrten abhängig bleiben. Die Obrigkeit mit ihrer Unterdrückung befindet sich im Widerspruch zu Gott, sie muß vom Stuhl gestoßen werden. Das Gericht an den Gottlosen ist zu vollziehen. Das arme Volk muß sich nach dem Geist sehnen, dessen Zeuge als neuer Johannes oder gnadenreicher Knecht Gottes Müntzer selbst ist. Die revolutionäre Kritik an den Herrschenden und den bestehenden sozialen Verhältnissen trat jetzt punktuell deutlicher hervor, aber Müntzer ging es nach wie vor eigentlich um die Hinführung zum wahren Glauben und in Verbindung damit um das Gericht an den Gottlosen. Vermutlich erst in Mühlhausen verfaßte Müntzer die »Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg, welches mit verkehrter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbärmliche Christenheit also ganz jämmerlich besudelt hat«. Im Dezember wurde sie gleichfalls in Nürnberg gedruckt 24 • Sie stellte den Höhepunkt seiner bitteren Polemik gegen Luther dar. Dessen Vorwurf des Aufruhrs ließ er nicht auf sich sitzen. Die Schwertgewalt wie die Schriftauslegung liegt an sich bei der Gemeinde, die die Obrigkeit kontrolliert. Die eigentlichen Unterdrücker sind die von Luther anerkannten Herrschenden; sie sind am Aufruhr schuld. Gegen ihre Tyrannei ist vorzugehen. Auch Christus hat sich den Vorwurf des Aufruhrs zugezogen. Luthers Differenzierung von frei zu lassender Predigt und zu unterdrückender gewaltsamer Aktion war für Müntzer schiere Heuchelei, die der inhaltlichen Auseinandersetzung auswich und die fälligen Aktionen dem Wort Gottes überließ, statt dessen jedoch die Verfolgung Müntzers schürte. Zum Zweifel an Müntzers Offenbarungen fehlte Luther als einem Leugner des rechten Worts die Kompetenz. Er hatte die Christenheit mit einem falschen Glauben verwirrt und befand sich in der bösen Koalition mit den Fürsten. Ein wirkliches Risiko hatte er für seinen Glauben auch in Augsburg, Leipzig oder Worms nie auf sich genommen. Mit dieser Behauptung tastete Müntzer gezielt Luthers Image in der Öffentlichkeit an. Hätte man Müntzer predigen lassen oder vor dem Volk theologisch überwunden, wäre es zu dieser harten Auseinandersetzung nicht gekommen. Nachdem sich jedoch selbst die Verantwortlichen in Allstedt auf die Seite der Regierenden geschlagen hatten, konnte Müntzer nur noch als der David den Kampf mit dem Goliath aufnehmen. Seiner Sache war er sich sicher. Es ist unübersehbar, daß Müntzer sich in der Schutzrede weiter radikalisiert hatte und den gewaltsamen politisch-sozialen Konflikt um seine Theologie für unausweichlich hielt. Dabei überlagerten sich die gesellschaftlichen und religiösen Spannungen in folgenschwerer Weise. Seit Anfang 1523 predigten zwei ehemalige Mönche, Matthäus Hisolidus und Heinrich Pfeiffer, in Mühlhausen im reformatorischen Sinn, verbunden mit schar156

fer Kirchenkritik. Pfeiffer scheint in mancher Hinsicht Karlstadt nahegestanden zu haben. Als der Rat gegen Pfeiffer vorgehen wollte, kam es in verschiedenen Etappen zu einem Aufruhr, in dem zugleich eine innerstädtische Opposition zur Beteiligung an der Macht drängte. Im August wurden die beiden Prediger dann aber doch aus der Stadt verwiesen, Pfeiffer konnte allerdings auf Empfehlung von Herzog Johann im Dezember zurückkehren. Die Übergriffe gegen die alte Kirche hielten an 25 . Luther warnte bereits während seiner Reise nach Thüringen am 21. August von Weimar aus Mühlhausen vor der Aufnahme Müntzers und beschrieb ihn als falschen, auf Mord und Aufruhr ausgehenden Propheten. Er wollte die Stadt vor Schaden bewahren. Nicht zuletzt die Tatsache, daß Müntzer ohne ordentliche Berufung in Mühlhausen wirkte, machte ihn verdächtig 26 • Daraufhin erkundigte sich der Rat von Mühlhausen am Weimarer Hof über Müntzer, was jedoch keine Konsequenzen hatte. In den durch einen rechtlichen Übergriff des Bürgermeisters Rodemann am 19. September ausgelösten Aufruhr schalteten sich auch Pfeiffer und Müntzer ein. Wegen der Mißbräuche der gottlosen Obrigkeit sollte der Rat zurücktreten. Die Bauern der Mühlhauser Dörfer verhinderten jedoch den Umsturz. Nachdem der Rat wieder fest im Sattel saß, wurden Müntzer und Pfeiffer ausgewiesen. Sie wandten sich nach Nürnberg. Im Februar 1525 konstatierte Luther besorgt, daß Müntzer dort Anhänger gefunden hatte 27 • In seiner Predigt vom 14. September 1524 über das Prüfen der Geister wandte sich Luther nicht zuletzt gegen Müntzers die Rechtfertigungslehre tangierende Vorstellungen. Auch in der Folgezeit berührte er dieses Thema auf der Kanzel immer wieder 28 • Die Stelle 5. Mose 18, 19-21 über die falschen Propheten, die Luther in seinen Anmerkungen zum Deuteronomium wohl im Spätjahr 1524 auslegte, ver anlaßte ihn hauptsächlich zu einer Auseinandersetzung mit der von Müntzer als Voraussetzung für die Rechtfertigung geforderten Abtötung. Eine Folge der verkehrten Vorstellung von der selbst herzustellenden Gerechtigkeit war für Luther die völlig abwegige Auffassung Müntzers von der Schwertgewalt, die dieser dem gemeinen Volk gegen die legitime Obrigkeit zur Tötung der Gottlosen übertrug. Die müntzerische Sekte war deshalb als offenbare Raserei und Wahnsinn zu verdammen. Im Gegensatz dazu wollte Luther bei dem im Geist durchs Wort geschenkten Glauben bleiben, der die Unvollkommenheiten in Liebe trug und die Abtötung des alten Menschen als lebenslange Aufgabe verstand. Als Zeichen der falschen Prophetie galt ihm auch die Berufung auf die eigenen Offenbarungen. Sie müßten durch neue Wunder ausgewiesen sein, die die Propheten nicht vorweisen konnten 29 • Dagegen begriff Luther Anfang 1525 das Martyrium Heinrichs von Zütphen als Bestätigung der wahren Lehre gegen die falschen Propheten 30 • Die Predigten von Anfang 1525 warnten mehrfach vor den Häresien, die die Kirche immer neben sich hat, und den »Rottengeistern«; gemeint waren damit die gewalttätigen Sektierer 3!. Müntzer war seit 1523 zum radikalen Gegner Luthers im eigenen Lager geworden. Die bei den waren in der Rechtfertigungslehre, im Christusverständnis, in der Auffassung von der Bibel, den Sakramenten und vom Amt der Obrigkeit so völlig geschieden, daß Müntzer in Luther nur den angepaßten Heuchler und dieser in Müntzer nur den falschen Propheten und Repräsentanten der vom Teufel erweck157

ten Häresie neben der Kirche zu erkennen vermochte. Indem dieser Gegensatz auch Luthers Einschätzung des beginnenden großen sozialen Konflikts mit den Bauern entscheidend prägte, gewann er eine historische Dimension weit über das Verhältnis zwischen Wittenberg und Allstedt hinaus. In den Forderungen und Aktionen der Unterdrückten sah Luther alsbald nur noch den müntzerischen Ungeist am Werk, den er für sehr gefährlich hielt. Luthers Sichtweise war dadurch von vornherein auf eine Konstellation fixiert, die allenfalls für Thüringen zutraf. Durch den Weggang Müntzers aus Thüringen war der unmittelbare Konflikt einstweilen bis zu seiner Rückkehr nach Mühlhausen im Frühjahr 1525 sistiert. Ehe auf den Bauernkrieg und Müntzers Anteil an ihm eingegangen werden kann, ist zunächst die dem Streit mit Müntzer parallel gehende Auseinandersetzung Luthers mit Karlstadt darzustellen, durch die die Konfrontation mit den Radikalen noch komplexer wurde.

4. Andreas (Bodenstein von) Kar/stadt Nachdem die Universität mittels der Zensur Karlstadt die literarische Auseinandersetzung mit Luther im April 1522 unmöglich gemacht hatte, verhielt er sich zunächst ziemlich unauffällig, so daß wenig von ihm bekannt ist 1. Im Dezember 1522 suchte er eine Aussprache mit dem verfolgten Müntzer. Damals besaß er bereits ein Anwesen in Wörlitz, 15 km westlich von Wittenberg, auf das er sich gelegentlich zurückzog, um als »Laie« zu arbeiten, da er in seinem theologischen Beruf verunsichert war 2 • Gewiß nicht ohne Grund befürchtete Melanchthon, daß Karlstadt den Streit wieder anfachen würde. Während der unter Karlstadts Vorsitz stattfindenden Doktorpromotion der ehemaligen Augustiner Johannes Westermann und Gottschalk Grop am 3. Februar 1523 kam es zu einem Eklat, als Karlstadt solche Graduierungen für ein gottloses Unterfangen erklärte, weil Christus seinen Jüngern verboten habe, sich Meister zu nennen. Luther war drauf und dran, deswegen die Feier zu verlassen 3 • Das war der Anfang einer tiefergehenden Verstimmung. Der Vorgang läßt etwas von Karlstadts Abwendung von der Theologie der Gelehrten und seiner Hochschätzung der geistlichen Einsicht der Laien erkennen. Offensichtlich empfand er seine Stellung in Wittenberg mehr und mehr als unerträglich. Abgesehen von den theologischen Differenzen widerstrebte es ihm auch, sich weiter an den altgläubigen Gottesdiensten des Allerheiligenstifts zu beteiligen, wovon jedoch ein Teil seiner Einkünfte abhing. Den wichtigsten Teil seiner Besoldung bezog er als Archidiakon aus der dem Stift inkorporierten Pfarrei Orlamünde. Die pastoralen Aufgaben in Orlamünde wurden durch einen Vikar wahrgenommen. Zusammen mit der Gemeinde bemühte sich Karlstadt im Mai 1523, die Pfarrei selbst zu übernehmen, u. U. auch in der geringer besoldeten Stellung des Vikars. Herzog Johann und der Kurfürst standen dem Wechsel Karlstadts nach Orlamünde nicht ganz ablehnend gegenüber, hielten jedoch eine Klärung der Rechtsverhältnisse für notwendig. Jedenfalls mußten die Haupteinkünfte der Pfarrei dem Stift und damit der Universität zufließen. Den an sich konsequenten Verzicht auf das Wittenberger 158

Archidiakonat und die Professur erklärte Karlstadt allerdings nicht, obwohl er seinen Verpflichtungen in Wittenberg nicht mehr nachkam. Infolgedessen war sein Status in Orlamünde zunächst ungeklärt, und daraus ergab sich sowohl für ihn als auch für die Universität eine unbefriedigende Situation 4 • Wie eine Reihe von Traktaten ausweist, wandte sich Karlstadt theologisch mehr und mehr wieder der deutschen Mystik zu, die ihn wie Müntzer offensichtlich seit 1516/1517 tief beeindruckt hatte. Dabei konnten sich mystische Strenge und die bei Karlstadt immer wieder begegnende biblizistische Gesetzlichkeit verbinden. Von Karlstadts Aktivitäten in Orlamünde nahm Luther nach Ausweis des Briefwechsels erst Anfang 1524 Notiz. Karlstadt hatte einem Mann, den seine Frau verlassen hatte, unter Berufung auf das mosaische Gesetz eine zweite Ehe erlaubt. Luther sprach sich nicht rundweg dagegen aus, hatte aber doch erhebliche Bedenken. Außerdem wies er den Kanzler Gregor Brück warnend darauf hin, daß Karlstadt seit Ende 1523 in Jena bei dem Drucker Michel Buchfürer unzensiert eine Reihe von Traktaten veröffentlicht hatte, was ein Verstoß gegen den Nürnberger Reichstagsabschied von 1523 war und darum das Einschreiten des Landesherrn erforderte. Er argumentierte also vor allem mit politischen und nur am Rande mit theologischen Gründen gegen Karlstadts Veröffentlichungen. In diesem Zusammenhang deutete Luther auch an, daß Karlstadt ohne ordentliche Berufung in Orlamünde wirkte, während er gleichzeitig seinen Wittenberger Lehrauftrag vernachlässigtes. Mitte März erhielt Luther durch Spalatin konkretere Informationen über Karlstadts Aktivitäten. Ob es sich dabei um dessen sich wieder stärker der Mystik zuwendende Traktate oder um die gottesdienstlichen Änderungen wie z. B. Entfernung der Bilder, Verzicht auf Meßgewänder und Unterlassung der Kindertaufe handelte, ist nicht klar, Luther spricht nur von» Ungeheuerlichkeiten«. Er spürte den Geist der Zwickauer Propheten am Werk, möglicherweise verbunden mit dem Rückgriff auf das an sich aufgehobene mosaische Gesetz. Karlstadt erwies sich damit als Feind und Verräter Christi, der aus Ehrsucht zugleich sein eigenes Verderben heraufbeschwor. Luther selbst befürchtete, daß er gezwungen sein würde, sich mit der Kraft seines Gebetes gegen Karlstadt zu wenden. Der Gegensatz erscheint bereits hier aufs äußerste zugespitzt. Zunächst einmal sollte Karlstadt aus der ihm nicht ordentlich übertragenen Orlamünder Tätigkeit zur Wahrnehmung seines Lehramts nach Wittenberg gerufen werden; im Falle einer Weigerung wollte ihn die Universität beim Kurfürsten verklagen. Luther dachte auch daran, sich selbst brieflich an Karlstadt zu wenden 6 • Am 4. April fanden Karlstadts Verhandlungen mit der Universität in Wittenberg statt. Luther will Karlstadt damals auch theologisch kritisiert haben, was dieser aber später abstritt. Ganz kontrovers können die Verhandlungen jedenfalls nicht verlaufen sein, denn Karlstadt versprach, seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, und Melanchthon hoffte, daß er sein Wort halten würde 7. Karlstadt machte aber dann doch geltend, allenfalls nach bestimmten finanziellen Abklärungen nach Wittenberg zurückkehren zu können. Außerdem setzte sich die Gemeinde von Orlamünde für sein Bleiben ein und wählte ihn damals förmlich zum Pfarrer, wobei man sich auf das von Luther gutgeheißene Wahlrecht der Gemeinde berief. Das aber verstieß 159

gegen das bestehende Recht des Wittenberger Allerheiligenstifts, den Orlamünder Pfarrer zu benennen, und davon wollte auch der Kurfürst nicht abgehen. Karlstadt erklärte deshalb am 8. Juni seinen Verzicht sowohl auf die Pfarrei Orlamünde als auch auf das Wittenberger Archidiakonat. Eine Neubesetzung der Pfarrei wurde in die Wege geleitet. Am 18. Juni war Luther bereits der Meinung, daß Karlstadt die Pfarrstelle abgegeben habe. Wenig später forderte Herzog Johann Friedrich Luther zu der Visitationsreise nach Thüringen auf, bei der die schwärmerischen Prediger abgesetzt werden sollten 8 . Im Juli bemühte sich Müntzer um die aktive politische Unterstützung Karlstadts, parallel wandte sich Allstedt in gleicher Absicht an Orlamünde. Karlstadt und seine Gemeinde versagten sich einem gewaltsamen Vorgehen jedoch eindeutig, da sie Aufruhr durch die Bibel für verboten hielten 9 . In dieser Frage unterschieden sich die bei den Gegenspieler Luthers deutlich. Dieser hatte jedoch bereits Anfang Juli und versteckt auch im »Brief an die Fürsten zu Sachsen« Karlstadt Begünstigung der Gewalttätigkeit Müntzers unterstellt. Die beiden gemeinsame mystisch-spiritualistische Grundhaltung mit der Betonung der Christusnachfolge und der Abwertung von Bildern, Kindertaufe und Abendmahl ließ Luther vorhandene und ihm bekannte Unterschiede übersehen, was für Karlstadt Folgen haben sollte 10. Er wurde zum Komplizen Müntzers abgestempelt. Gegenüber dem Kurfürsten wurde Karlstadt von Wittenberg aus als Aufrührer hingestellt, der sich wie ein Bauer kleidete; ferner warf man ihm die Unterlassung der Kindertaufe und des Abendmahls vor. Als Karlstadt Anfang August in Wittenberg war, um sein Archidiakonat niederzulegen, mußte er erkennen, wie unhaltbar seine Situation geworden war. Um der Landesverweisung wegen Aufruhrs zuvorzukommen, erbot er sich gegenüber Herzog Johann, sich in einem Verhör oder einer Disputation zu verantworten l1 . Aber dazu war es bereits zu spät. Am 21. August traf Luther zu der geplanten Visitationsreise in Begleitung des Priors Brisger und des Weimarer Hofpredigers Stein in Jena ein. Über die weiteren Vorgänge unterrichtet vor allem ein Bericht des Jenaer Predigers Martin Reinhart, der ein Anhänger Karlstadts war 12 • Luther predigte am folgenden Tag morgens um 7 Uhr anderthalb Stunden in der Michaeliskirche. Unter den Zuhörern war auch Karlstadt, der sich mit einem Filzhut unkenntlich zu machen suchte. Die Predigt richtete sich gegen die Lehre der »Geister« und ihre Früchte, gemeint waren Müntzers Aufruhr in Allstedt und Zwickau, der Bildersturm und die Aufhebung der Kindertaufe sowie des Abendmahls. Auch in Jena suchte Luther das Auftreten der Sekten verständlich zu machen und sie zugleich als teuflische Geister zu entlarven. Darauf bat Karlstadt Luther brieflich um eine Aussprache in dessen Herberge, dem Schwarzen Bären. Es ging ihm dringend darum, die Gleichsetzung seines Wollens mit dem Müntzers trotz der Gemeinsamkeiten in der Auffassung von den Sakramenten zu bestreiten. Luther zog sich zunächst darauf zurück, daß er Karlstadt seinerseits nicht genannt habe, wenn dieser sich aber getroffen fühle, spreche das für sich selbst. Immerhin erkannte er schließlich doch an, daß Karlstadt den Aufruhr ablehnte. Gegen Veröffentlichungen oder eine Disputation, durch die Karlstadt Luthers Sakramentslehre widerlegen wollte, hatte Luther keine Einwände.

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Das war insofern erstaunlich, als er 1522 die von Karlstadt gewünschte öffentliche Auseinandersetzung verhindert hatte. Die beiden Behauptungen Luthers, Karlstadt habe ihn in seinen Traktaten angegriffen und er seinerseits habe Karlstadt im privaten Gespräch auf seine Irrtümer hingewiesen, bestritt Karlstadt entschieden. In den bitteren Vorwürfen und Gegenvorwürfen des von keiner Seite großherzig geführten Gespräches machten sich immer wieder unbewältigte Vorgänge aus der Vergangenheit belastend bemerkbar. Ein Fortschritt wurde eigentlich nicht erreicht. Luther blieb dabei, Karlstadt stehe »bei den neuen Propheten«. Er wollte die Auseinandersetzung. Karlstadt sollte gegen ihn schreiben. Als Unterpfand für seine Meinung gab er dem überraschten Kontrahenten einen Gulden, was wohl ein Versprechen sein sollte, daß Luther einen literarischen Angriff Karlstadts nicht verhindern würde. Dieser schien damit wieder theologischen Spielraum gewonnen zu haben und mochte die Abmachung als Erfolg betrachten. Aber Luther hatte ihm zugleich den Krieg erklärt. Auf der Weiterreise nach Orlamünde predigte Luther am 23. August in Kahla, wo ein Anhänger Karlstadts Pfarrer war. Um auf die Kanzel zu gelangen, mußte er über die Teile eines zerschlagenen Kruzifixes hinwegsteigen. Obwohl er davon sehr betroffen war, ging er in seiner Predigt, die von der Duldung der Bilder handelte, mit Schweigen darüber hinweg 13 • Diese Erfahrung dürfte die Verhandlung mit der Gemeinde Orlamünde am folgenden Tag zusätzlich belastet haben, nachdem er von dort bereits in Jena einen nach Form und Inhalt provozierenden Brief erhalten hatte 14. Die Gemeinde redete ihn als» Bruder« an und warf ihm vor, sie ohne vorherige Prüfung in Wittenberger Predigten und dem» Brief an die Fürsten« als Ketzer, Irrige und Schwärmer bezeichnet zu haben. Luthers Duldung der Bilder und deren angeblich schriftwidrige Begründung wurde verworfen und ihm selbst deswegen die Gliedschaft am Leib Christi bestritten. Für den aggressiven Ton berief man sich auf Christi Polemik gegen die Pharisäer. Die Gemeinde erklärte sich zur Verantwortung bereit und bat Luther zu einem gütlichen Gespräch nach Orlamünde. Die Chancen dafür waren denkbar schlecht. Zwar wurde Luther bei seiner Ankunft mit allen ihm zukommenden Titeln begrüßt, aber nunmehr hielt er sich nicht an die Konventionen, sondern behielt sein Barett auf. Das Ansinnen, zu predigen und dabei die strittigen Themen zu behandeln, lehnte er ab und verzichtete somit auf sein stärkstes Kommunikationsmittel. Er wollte lediglich über den Brief der Gemeinde verhandeln. Sein Verdacht, Karlstadt habe den Brief abgefaßt, erwies sich als unzutreffend. Luther stellte so dann die Wahl Karlstadts zum Pfarrer in Frage. Die Gemeinde wähnte sich hier im Recht und berief sich auf das auch von Luther zugestandene Recht der freien Pfarrwahl. Die Interessen des Stifts und der Universität in Wittenberg wurden übergangen. Nach Beginn der Versammlung fand sich auch Karlstadt ein und bot an, Luther bei sich zu empfangen. Luther lehnte das schroff ab: Entsprechend der Abmachungen von Jena sei Karlstadt sein Feind. Als Karlstadt dann wenigstens an der Versammlung teilnehmen wollte, drohte Luther mit der Abreise, falls jener sich nicht entferne. Die Behauptung, er habe Orlamünde in seinen Predigten oder Schriften namentlich genannt, bestritt Luther; daß er die Gemeinde mit im Blick gehabt hatte, war offensichtlich l5 • So161

dann griff er die von ihm als feindselig empfundene Form des Briefes auf. Die Gemeinde verstand ihren schroffen Brief als ein brüderliches Schreiben, was für Luther ein neues Indiz von Schwärmerei war. Erst jetzt kam das Gespräch auf die Bilderfrage. Die Gemeinde berief sich auf das Bilderverbot des Dekalogs. Luthers feine, aber exegetisch nicht ohne weiteres plausible Unterscheidung, daß nur das Anbeten der Bilder, nicht jedoch diese selbst verhoten seien, wurde ihm nicht abgenommen. Die Orlamünder Laien begründeten das ungeschickt u. a. mit dem mystischen Gedanken, den sie von Karlstadt übernommen hatten, daß die Seele nackt, also ohne Vermittlung, zur Vereinigung mit Christus kommen müsse. Luther sah darin noch später einen Beweis für die unsachgemäße Bibelauslegung der Anhänger Karlstadts 16 . Schließlich brachte er das Gespräch darauf, daß die Orlamünder ihn verdammt hätten. Das wurde nicht zurückgenommen: Wer gegen die göttliche Wahrheit redet oder liest, ist verdammt. An dieser Stelle brach Luther das Gespräch ab. Auf die Frage des Abendmahls und der Kindertaufe ließ er sich nicht mehr ein. Den Abfahrenden wünschten die Orlamünder zum Teufel und warfen ihm Steine nach. Am selben oder folgenden Tag predigte Karlstadt gegen Luther als den untreuen Knecht Gottes und Verkehrer der Schrift 17 • Wahrscheinlich waren die Aussichten für eine Verständigung mit der Gemeinde damals von vornherein minimal gewesen, nachdem man in Orlamünde Luthers Polemik gegen die Schwärmer auf sich bezogen und mit dem groben Brief beantwortet hatte. Bei Luther dürfte sich durch diesen Brief vollends ein Feindbild verfestigt haben, weshalb er sich nur noch auf Konfrontation einstellte. Er nahm die höfliche Begrüßung nicht mehr wahr und lehnte die Einladung zur Predigt ab. Von seinen großen Möglichkeiten als ernster und gewinnender Seelsorger war hier nichts zu spüren, er kehrte nur noch seine Härte hervor, weil er offenbar keine andere Möglichkeit sah. Wenig später sprach er von seinem Besuch als der »OrlamünderTragödie«. Die Gemeinde fühlte sich völlig mißverstanden und ließ Herzog Johann wissen, daß sie die Abschaffung der Bilder weder als Aufruhr noch als Schwärmerei verstand, eine Auffassung, die ihr der Herzog allerdings nicht abnahm. Nach den späteren gehässigen Informationen von Karlstadts Nachfolger Kaspar Glatz wollte man in Orlamünde vom Obrigkeitsgehorsam nichts hören 18. Für Luther befand sich Karlstadt, getrieben von seinem Ehrgeiz, auf verkehrtem Weg, so daß eine Umkehr nicht zu erhoffen war. Seine feindselige Einstellung übertraf die aller anderen Gegner Luthers, weshalb dieser ihn von mehr als einem Teufel besessen wähnte l9 . Dieses Urteil war theologisch und moralisch bedingt, in seiner Härte macht es betroffen. Am 26. August hatte Luther von Weimar die Rückreise nach Wittenberg angetreten. Am 10. September erkundigte er sich bei dem Hofprediger Stein nach dem Stand von Karlstadts Angelegenheit 2o • Darauf erfuhr er, daß Karlstadt sich am 11. September bei Herzog J ohann heftig über Luthers Vorwürfe beklagt und erneut zu einem Verhör oder einer Disputation erboten hatte. Bis dahin wollte er auch mit einer Veröffentlichung gegen Luther zuwarten. Nach Luthers Meinung sollte es aber bei der Jenaer Abmachung bleiben, daß Karlstadt gegen ihn schrieb. Mündlichen Auseinandersetzungen war Karlstadt ja in Wittenberg aus dem Weg gegangen. 162

Für Luther war Karlstadts Zögern ein Beweis für seine Unsicherheit 21 • Am 18. September wiesen die kursächsischen Räte in Weimar Karlstadt an, die Pfarrei Orlamünde, in die er sich unrechtmäßig eingedrängt habe, zu räumen und das Kurfürstentum zu verlassen. Luther hatte mit dieser Aktion unmittelbar nichts zu tun. Erst am 22. September beantragte er bei Herzog Johann Friedrich die Entfernung Karlstadts aus Orlamünde, damit der als sein Nachfolger vorgesehene Dr. Kaspar Glatz sein Amt antreten könne. Dieser Brief ist auf Drängen von Glatz geschrieben worden, und Luther war möglicherweise nicht ganz wohl dabei. Trotz Karlstadts Einspruch in Jena erhob Luther wieder den gefährlichen Vorwurf, daß jener sich von dem müntzerischen »Mördergeist« nicht losgesagt habe. Die Erfahrungen bei der Abfahrt in Orlamünde hatten ihn in seiner ursprünglichen Voreingenommenheit bestätigt. Die Landesverweisung forderte Luther nicht direkt 22 • Anfang Oktober erhielt Luther den Bericht von Karlstadts Freund Reinhart über das Jenaer Gespräch und den Besuch in Orlamünde, in dem er selbst keine gute Figur machte. Er wollte auf diese seinen Ruf schädigende Mischung aus Wahrheit und Lüge nicht antworten, sondern wie geplant Karlstadts Gegenschrift abwarten, um dann zur Sache zu schreiben. Wenig später wußte Luther von Karlstadts vielfältigen Bemühungen, außerhalb Kursachsens ein Unterkommen zu finden, und qualifizierte sie als Bauchsorge 23 . Bitter mußte er registrieren, daß Karlstadt sich als unverhört und unüberwunden vertrieben durch Luther ausgab. Der verfolgte Luther war es nun, der Märtyrer schuf. Auch Karlstadts Anhänger wurden mit Ausweisung bedroht. Der Pfarrer von Kahla lenkte darauf ein, während Martin Reinhart mit etwas Zehrgeld und milden Gaben versehen Jena verlassen mußte. Luther billigte diese Beispiele äußeren Drucks als heilsam für alle Prediger 24 • Der Konflikt machte ihm persönlich auch weiterhin zu schaffen. Ein Unwohlsein Luthers Ende Oktober führte Melanchthon auf die bestehenden Konflikte zurück 25 . Mitte November wußte Luther, daß Zwingli und Leo Jud in Zürich Karlstadts Auffassung über das Abendmahl nahestanden. Die weite Ausbreitung dieses »Gifts« bedrückte ihn 26 • Noch alarmierender waren die Nachrichten aus Straßburg, wo Karlstadt sich etwa Mitte Oktober vier Tage heimlich aufgehalten hatte und mit seinen sieben in Basel gedruckten Traktaten großen Anklang fand 27 • Nicht zuletzt wegen seiner angeblichen Vertreibung durch seinen ehemaligen Kollegen Luther zog Karlstadt Sympathien auf sich. Die gleichzeitig durch Zwingli beeinflußten Straßburger Prediger zeigten sich durch Karlstadts Zweifel an der realen Gegenwart von Leib und Blut Christi beeindruckt, wenn sie auch nicht allen seinen Gedankengängen folgten. Aus den Auseinandersetzungen mit Müntzer und Karlstadt entwickelte sich damit nunmehr offen der verselbständigte Streit über das Abendmahl im evangelischen Lager. Ebenso waren die Straßburger durch Karlstadts Einwände gegen die Kindertaufe verunsichert. Auch die Uneinheitlichkeit der verschiedenen reformatorischen gottesdienstlichen Ordnungen empfanden sie als Problem. Die innerevangelischen Differenzen hielten sie für gefährlicher als alle Angriffe von außen. Deshalb erbaten sie Luthers.Stellungnahme zu all diesen Fragen. Den beiliegenden fünf Traktaten des »Satans« Karlstadt 163

konnte Luther entnehmen, daß er selbst als doppelter Papist und Vetter des Antichrists bezeichnet wurde. Er machte sich nichts vor: Ein neuer Brand war ausgebrochen 28 . Nachdem Luther schon seit Mai einen Brief an die Straßburger versprochen hatte, wegen Überlastung jedoch nicht dazu gekommen war, sandte er jetzt Mitte Dezember noch vor der geplanten großen Streitschrift gegen Karlstadt spontan einen als apostolisches Schreiben stilisierten, gedruckten »Brief an die Christen zu Straßburg wider den Schwärmergeist«29. Voran steht der Dank für die Erkenntnis von Gottes Wort und die Erlösung der Straßburger aus der Finsternis des Antichrists. Das wird mit der Mahnung zur Beständigkeit und Einheit verbunden. Denn die Begleiter des rechten Evangeliums sind die Sektierer wie Karlstadt mit seinen Schwärmereien von Abendmahl, Taufe und Bildern. Luther warf sich nicht zur Autorität der Straßburger auf, sondern verwies nur auf die für einen Christen notwendigen Hauptstücke in seinen Schriften: Evangelium, Gnade, Gesetz, Glaube, Liebe, Kreuz, dazu die Kritik an Menschengesetzen, Papsttum, Mönchtum und Messe. Im Gegensatz dazu fiel das Urteil über Karlstadt hart aus: Er habe eben diese Stücke nie (!) recht behandelt und konzentriere sich auf äußerliche Dinge wie Bildersturm und Sakramentskritik, die auch ein Bube zu leisten vermag und die keine Christen machen. »Darum ist das ein grober Teufel, der mich wenig anficht.« Einmal mehr verstand es Luther, alles auf das eine Kriterium zu konzentrieren: Was macht einen zum Christen? Hinsichtlich der konkreten Streitfragen gestand er, daß ihm 1519, als er an die Kritik der Messe ging, die Annahme, im Abendmahl sei nur Brot und Wein, sehr hilfreich gewesen wäre. Die gewichtigen Argumente der Niederländer Cornelisz Hendricxz Hoen und Hinne Rode für eine symbolische Deutung des Abendmahls, die ihm 1523 begegnet waren, hatte er auch nicht vergessen, obwohl er ihnen aus wesentlichen exegetischen Gründen nicht folgen konnte. »Aber ich bin gefangen, kann nicht heraus, der Text ist zu gewaltig da und will sich mit Worten nicht lassen aus dem Sinn reißen.« Vollends hatte ihn Karlstadts in der Tat lächerliche Beweisführung von der Unhaltbarkeit von dessen Auffassung überzeugt. Der Bildersturm war an sich nicht von gleichem Gewicht, problematisch wurde er dadurch, daß damit die christliche Freiheit durch neue Werke und Gesetze gefährdet wurde. Den Vorwurf, er habe Karlstadt aus Kursachsen vertrieben, wies er mit Bestimmtheit zurück, obwohl er froh war, ihn los zu sein. Karlstadt war als Aufrührer zu Recht von den sächsischen Fürsten des Landes verwiesen worden. Daß der ausgebrochene Streit irritieren mußte, wußte Luther wohl. Deshalb wies er noch einmal auf die Hauptsache hin, der gegenüber auch Bildersturm und Sakramentsenthaltung belanglos waren. Prinzipiell kam es nicht darauf an, Christus als Vorbild nachzuahmen, sondern ihn als Geschenk, als Gottes Weisheit, Gerechtigkeit, Erlösung und Heiligung zu empfangen. Nicht von ungefähr begegnet hier das Zitat von 1. Korl,30, eine der Schlüsselstellen für Luthers Rechtfertigungserfahrung. Das hatten Müntzer und Karlstadt mit ihrem mystischen Rigorismus und seinen Eingebungen nicht verstanden. Der Sendbrief schließt mit dem Aufruf zum Gebet um Beständigkeit. Den »Propheten« hingegen wird wieder in gewagtem Urteil unterstellt, daß sie nicht beten, sondern in ihrer Vermessenheit und Ehrsucht

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nur auf ihre Aktion setzen. Insgesamt hat Luther die gewählte Form des geistlichen Briefs zu füllen vermocht. Die harschen Urteile fehlten zwar nicht, aber die Konzentration galt der Hauptsache. Die konkreten Streitfragen wurden knapp und klar aufgegriffen. In seinem Begleitbrief an Nikolaus Gerbel 30 ließ Luther keinen Zweifel, daß der eigentliche Gegner in diesem Fall der »Fürst dieser Welt« und Karlstadt nur sein Agent war. Damit war auch alles über die Gefahr und die drohenden Verluste gesagt. Dennoch war Luther getrost und in seinem Gebet gewiß. Die Traurigkeit wollte er dem Sorgengeist Karlstadts überlassen. Es war ja nicht seine, sondern Gottes Sache, Sorge, Werk, Kampf und Sieg, und Luther war sein Agent. War die Sache gerecht, würde sie Gott ans Licht führen. Am Anfang des bevorstehenden schweren Streits war Luther von einer starken Gewißheit erfüllt. Umgehend machte sich Luther nun an die ausführliche Widerlegung Karlstadts. Wie die Predigten vom Herbst 1524 zeigen, war er sich über deren Grundgedanken bereits im klaren. Manches hatte er schon im Brief an die Straßburger angedeutet. Das Werk wuchs ihm unter den Händen so, daß es in zwei Teilen veröffentlicht wurde, von denen der erste noch Ende 1524, der zweite einen Monat später erschien. Der Titel» Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament etc.« zählt die wichtigsten der behandelten Themen aue l . Luther nahm den Streit äußerst ernst, es handelte sich um ein neues Gewitter nach dem Konflikt mit dem Papst. Der ärgste Feind war nunmehr der abgefallene Karlstadt. Nicht nur das Abendmahl, die ganze Lehre des Evangeliums stand auf dem Spiel. Undankbarkeit und falsche Sicherheit im eigenen Lager waren der Grund, daß die falschen Propheten seit ihrem ersten Auftreten in Gestalt der Zwickauer Ende 1521 hochkommen konnten. Solange es ihm möglich war, wollte Luther sich ihnen entgegenstellen. Zu allererst rief er zum Gebet auf, denn Menschen konnten das Wort Gottes gegen den Teufel nicht erhalten. Sodann mahnte er zur Wachsamkeit vor den falschen Propheten, denen es nicht um Glauben und gutes Gewissen vor Gott als der Hauptsache ging, sondern um anscheinend ansehnliche und vernünftige Äußerlichkeiten und Werke. Zwischen bei dem galt es zu unterscheiden. Mit den Werken der neuen Propheten wie Bildersturm, Kirchenzerstörung, Sakramentskritik und mystischer Abtötung wurden weder der Glaube gelehrt noch die Gewissen aufgerichtet, worauf es doch eigentlich ankam. Solche Werke führten nur zu einem neuen »Mönchsschein«. Auch gegen die neuen Gegner ging der Streit wie zuvor um Luthers wichtigste Errungenschaft, die Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Eben sie aber war von Müntzer und Karlstadt als zu billig verdächtigt worden. Luther lenkte den Blick von den Gegnern weg auf die Hauptpunkte, nämlich die Predigt des Gesetzes zur Offenbarung der Sünde, danach auf den Trost des Evangeliums mit der Vergebung für die zerschlagenen Gewissen. Erst daran schließen sich die Abtötung des alten Menschen und die Werke der Nächstenliebe an. Die Obrigkeit hat die Aufgabe, mit Gesetz und Schwert die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dabei war jedoch darauf zu achten, daß man den Christen nicht wieder neue Gesetze und Werke aufs Gewissen lud und damit ihre Freiheit 165

tangierte. In diesem Zusammenhang wird Karlstadts Bilderverbot genannt und erwiesen, daß damit eine an sich belanglose Frage fälschlich zur Hauptsache gemacht wird, schon das ein Beweis für Karlstadts Verkehrtheit. Zuerst griff Luther die Bilderfrage auf32 • Wie schon in den Invokavitpredigten lag ihm daran, die Bilderverehrung aus den Herzen zu nehmen, dann war das Problem im Grunde erledigt. Den Vorwurf, er schütze die Bilder, wies er empört zurück. Er hatte nichts gegen eine ordentliche Entfernung der Bilder z. B. an den Wallfahrtsorten, war aber gegen den Bildersturm. In gewisser Spannung mit dem Wortlaut des Dekalogs kam es ihm eigentlich darauf an, die Verehrung der Bilder zu unterbinden, ihr Vorhandensein war an sich ungefährlich. Hier fühlte sich Luther nicht an das mosaische Gesetz gebunden. Der Bildersturm dagegen, den Karlstadt als frommes Werk ausgab, war für ihn mit dem Aufruhr verwandt, und manche Vorgänge z.B. in Orlamünde bestätigten das auch. Aus diesem Grund blieb er bei seiner Bezeichnung Karlstadts als Mordprophet. Daß sich Karlstadt als Laie ausgab, sich mit einem grauen Rock wie die Bauern kleidete und einfältige Laien in seinen Schriften auftreten ließ, verstärkte Luthers Verdacht der »Rotterei«, zumal Karlstadt damit Eindruck machte. Die reformatorischen Aktionen waren Sache der Obrigkeit. Die Entfernung der Bilder zu einer Gewissensfrage zu machen, war derselbe gesetzliche Greuel wie im Papsttum. So kommt es zu der griffigen Gegenüberstellung: »Ich will die Gewissen und Seelen los und frei haben von Sünden, welches ist ein recht geistlich evangelisch Predigtamt, Karlstadt will sie mit Gesetzen fangen und mit Sünden beladen.« Deshalb gilt er als mosaischer Lehrer. Gegen allen damaligen gesetzlichen Biblizismus wird gesagt: Mose ist allein den Juden gegeben und geht die Christen nichts an, sie sind frei vom Gesetz. Mose ist »der Juden Sachsenspiegel«, d. h. ihr Volksrecht. Das gilt selbst vom Bilder- und Sabbatgebot des Dekalogs. Nur insofern dieser mit dem allen Menschen ins Herz gegebenen Naturgesetz, z. B. dem Tötungsverbot übereinkommt, ist er für Nicht juden verbindlich. Allerdings vermag Luther das mosaische Gesetz als eine der besten Formulierungen des Naturgesetzes zu schätzen. Ausdrücklich rechtfertigte er die Illustrationen der Lutherbibel und wünschte sich aus denselben pädagogischen Überlegungen auch die Ausmalung der Kirchen mit biblischen Motiven. Damit hatte Luther die Bilderfrage auf die Gesetzlichkeit und den politisch gefährlichen Aktionismus als die beiden Hauptprobleme konzentriert 33 • Dann ging er auf Karlstadts Klage über seine Verweisung aus Sachsen ein 34 • Mit dem Kurfürsten selbst hatte Luther darüber nicht direkt verhandelt, sondern nur mit Spalatin. Seine Bitten um Entfernung Müntzers aus Allstedt hatten jedoch keinen Erfolg gehabt. Dagegen hatte er Herzog Johann Friedrich auf die Gefährlichkeit Karlstadts hingewiesen und damit seine Ausweisung betrieben. Er bekannte sich dazu, daß gegen Prediger, die zu Gewalt und Aufruhr aufriefen, auf diese Weise vorgegangen werden mußte, sonst landete man bei Müntzers Programm der Tötung der Gottlosen. Mit dem Bildersturm bewegte sich Karlstadt trotz anderslautender Beteuerungen in der gleichen Richtung, das bewies sein Verhalten Anfang 1522 in Wittenberg und später in Orlamünde. Nur wenn er sich davon lossagte, war eine Verständigung mit Luther möglich. Karlstadts Vorwurf, er sei unverhört ver-

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trieben worden, war gegenstandslos, da er sich in Wittenberg der Auseinandersetzung entzogen hatte. Zusätzlich hatte er sich durch seine Kontakte mit Nikolaus Storch, einem der Zwickauer Propheten, in Orlamünde verdächtig gemacht. Erneut wurde ihm vorgeworfen, daß er ohne ordentliches Verfahren die Pfarrei Orlamünde übernommen und seine Professur verlassen hatte. Die Pfarrwahl in Orlamünde war nicht rechtens, denn die Gemeinde war mit einem evangelischen Pfarrer versorgt. Sich mit einigen Predigten in eine Pfarrei einzudrängen, war nicht erlaubt 35 • So war auch dieser Vorgang ein Indiz für ungesetzliches Verhalten. Luthers Widerlegung von Karlstadts Klage wirkt geschlossen. Es war ein Bündel von Gründen, warum er Karlstadt wie Müntzer für Aufrührer hielt. Bei etwas mehr gegenseitigem Vertrauen hätten sich die Dinge freilich auch anders ansehen lassen. Als nächstes nahm sich Luther Karlstadts Traktat »Wider die alte und neue papistische Messe« vor 36 • Er begann mit einem nicht unberechtigten Seufzer über Karlstadts schwerfälligen Stil, ganz anders als der Heilige Geist, der »fein, helle, ordentlich und deutlich reden« kann. Karlstadt hatte sich daran gestoßen, daß in Wittenberg die Bezeichnung Messe, die nach einer (unzutreffenden) Herleitung aus dem Hebräischen das Meßopfer bedeutete, weiter gebraucht wurde, und forderte deren Eliminierung. Die damit verbundene Unterstellung, Luther habe noch etwas mit dem Meßopfer im Sinn, war gewiß unberechtigt. Das Wort wurde unbefangen gebraucht, und die rigorose Sprachregelung war darum wieder eine Art Zwang, auf den Luther mit typisch trotziger Beibehaltung zu reagieren geneigt war. Hier sollte erneut etwas zur Sünde gemacht werden, was keine war. Es war das alte Lied: »Der Papst tut's durch Gebot, D. Karlstadt durch Verbot«; beide banden die Gewissen. In dieser Hinsicht waren sie Vettern. Dagegen wollte Luther auf dem Mittelweg bleiben und die Zeremonien frei lassen. Weil Karlstadt hier verbindliche Vorschriften machte, erwies er sich als ein Geist, »der Christus und dem Evangelium, dem Glauben und dem ganzen Reich Gottes feind ist«. Er war in seiner Unbeständigkeit vom Glauben wieder auf die Werke zurückgefallen. Ihm zum Trotz wollte Luther nunmehr die umstrittene Aufhebung von Brot und Wein im Abendmahl beibehalten. Lieber wollte er wieder ein strenger Mönch werden als sich von Karlstadt seine Freiheit nehmen lassen. Auch einen Zwang zum Gebrauch der deutschen Sprache im Gottesdienst wollte er nicht gelten lassen, so wünschenswert sie auch sein mochte. Selbst Christi Vorbild durfte nicht zum neuen Gesetz werden, wo nicht ein klares Wort vorlag, sonst gingen Glaube und Liebe mit dem ganzen Evangelium unter. Auch in diesem Fall machte Karlstadt tatsächlich unerhebliche Äußerlichkeiten zur Hauptsache und erwies sich als »im äußerlichen Schein ersoffen«, ein neuer Beweis seines Schiffbruchs im Glauben. Man wird Luther zugestehen müssen, daß er an der an sich zweitrangigen Problematik der evangelischen Messe das gesetzliche Grundmuster von Karlstadts Denken scharf herausgearbeitet hat. Er konnte ihm nur eine deutliche Absage erteilen, denn hier stand die neu gewonnene Freiheit auf dem Spiel. An dieser Stelle war der Streit mit Karlstadt eine direkte Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Papstkirche 37 • Der ganze große zweite Teil der Schrift ist vor allem gegen Karlstadts »Dialogus oder ein Gesprächbüchlein von dem greulichen und abgöttischen Mißbrauch des

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hochwürdigsten Sakraments Jesu Christi« gerichtet 38 . Hier greift die Thematik bereits auf den später zu behandelnden Abendmahlsstreit über. Damit die Komplexität des Konflikts mit den »Schwärmern« sichtbar bleibt, muß dennoch schon hier darauf eingegangen werden, zumal das Problem sich für Luther gegenüber den Böhmen bereits 1523 gemeldet hatte. Es wird dabei zugleich sofort deutlich, wie belastend und verhängnisvoll es für den weiteren Abendmahlsstreit werden mußte, daß er mit den früheren Auseinandersetzungen um Karlstadt verquickt war. Die Papisten wurden eingangs vorfalscher Freude an dem ausgebrochenenärgerlichen Zwist gewarnt. Wenn die Sache aus Gott war, würde dieser sie trotz aller Schwächen dennoch erhalten. Wer Zweifel hinsichtlich des Abendmahls hatte, sollte sich enthalten, bis er Gewißheit fand. Wieder bemühte sich Luthermit Erfolgdarum, die Probleme in klaren Komplexen zusammenzuordnen. Er setzte ein mit den beiden Weisen des Handeins Gottes. Äußerlich handelt er durch Wort und Sakramente, innerlich durch Geist und Glauben, wobei das innerliche mit dem äußerlichen Handeln verbunden ist. Mit dieser Ordnung war der unmittelbare Umgang zwischen Gott und Mensch im Geist, bewerkstelligt durch mystische Techniken, abgelehnt und der Mensch an die äußeren Gnadenmittel verwiesen. Die »Geister« kehrten diese Ordnung um, indem sie die äußeren Mittel ablehnten und aus den innerlichen Gaben mystische Praktiken und Werke machten 39. Damit waren die differierenden Grundmuster der Frömmigkeit wiederum klar sichtbar gemacht und bewertet. Wie den Begriff der Messe hatte Karlstadt auch den des Sakraments als unbiblisch problematisiert. Luther weigerte sich erneut, sich einem derartigen Zwang zu unterwerfen, und beharrte im Namen evangelischer Freiheit trotzig auf dem Ausdruck. Der heikelste Punkt war verständlich erweise die Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Die Schwierigkeiten, sie sich vorzustellen, waren verbreitet, und deshalb hatten Karlstadt wie auch Zwingli Resonanz gefunden. Für Luther war jedoch hinsichtlich der Artikel des Glaubens die Vernunft nicht das Kriterium. Karlstadt hatte seine Auffassung auch nur mittels einer höchst fragwürdigen, unhaltbaren Auslegung der Einsetzungsworte vertreten können, die die Gabe des Leibes Christi im Abendmahl negierte und allein auf das Gedächtnis des am Kreuz dahingegebenen Christus abhob. Eine solche Antastung des Bibeltextes aber war nach Luther nicht zulässig, solange nicht ein Glaubensartikel dazu zwang. Exegetisch hatte Luther so mit Karlstadt ein leichtes Spiel. Ebenso verhielt es sich mit dessen aus einer kurzschlüssigen Interpretation des griechischen Textes gewonnener Annahme, Christus habe bei den Einsetzungsworten nicht auf das Brot, sondern auf sich selbst gedeutet. Luther hatte für diese vermessenen Sprachkünste nur Spott übrig. Solche Schriftverdrehung galt ihm als Teufelswerk. Der Wortlaut der Einsetzungsworte und die übrigen neutestamentlichen Zeugnisse bezeugten dagegen klar die Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Die ständigen Versuche einer Spiritualisierung und Allegorisierung dieser Texte waren hier nicht zulässig. Karlstadt hatte für seine Auffassung kein biblisches Fundament. Für Luther aber gab es keine Alternative, als beim Evangelium zu bleiben. Nach den exegetischen zerpflückte Luther in einem besonderen Abschnitt »Von Frau Hulda der klugen Vernunft« die rationalistischen Argumente Karlstadts 40 • Die

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Vernunft durfte sich nicht über Gottes Wort erheben, so schwierig auch das Ineinander von Brot und Leib Christi im Abendmahl oder von Gottheit und Menschheit in Christus zu denken sein mochte. Luther operierte dabei auch selbst mit Bildern und rhetorischen Modellen und dies übrigens nicht immer gleich angemessen, aber sie hatten der vorgegebenen Sache zu dienen. Der böse Vorwurf, Luther halte es mit den Papisten, traf in Wirklichkeit das rettende Evangelium. Die beliebte Berufung aller Spiritualisten auf Joh6,63 »Fleisch ist kein nütze« gegen ein reales Abendmahlsverständnis und für eine unmittelbare Geistbeziehung zwischen Mensch und Gott ließ Luther nicht gelten. Dazu bedurfte es der Fähigkeit zur mystischen Versenkung, deren man nie gewiß sein konnte, und das konnte darum nur in die frühere mönchische Frömmigkeit samt ihren Anfechtungen zurückführen. Im Abendmahl hingegen empfing der Glaubende Leib und Blut Christi, mit denen seine Sünden weggenommen waren, und bekam dadurch ein fröhliches, freies und sicheres Gewissen. Abgesehen von der Schriftauslegung lag hier der wesentliche Differenzpunkt. Karlstadt kam über eine aktivistische Nachfolgetheologie nicht hinaus. »Er weiß aber und lehret Christum nicht, wie er unser Schatz und Gottes Geschenk ist, daraus der Glaube folgt, welches das höchste Stück ist.« Er hatte vor allem das Gedächtnis des Todes Christi, verstanden als mystische Versenkung in das Kreuzesgeschehen, betont. Für Luther war das Gedächtnis hingegen die Verkündigung des Todes Christi, die ihrerseits nicht rechtfertigte, sondern den Glauben schon voraussetzte. Das Abendmahl aber war mehr als Gedächtnis, nämlich Austeilung der Vergebung der Sünden: »Denn Christus hat die Kraft und Macht seines Leidens ins Sakrament gelegt, das man daselbst soll holen und finden nach laut der Wort >Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird zur Vergebung der Sündenurd)

~ocleus.

Titelblatt der Flugschrift »Sieben Köpfe Martini Luthers « von Johann Cochlaeus Holzschnitt, Hans Brosamer zugeschrieben, Leipzig (Valentin Schumann) 1529

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diger, Schwärmer, Visitator und aufrührerischen Barrabas vor. Fabri und er registrierten sensibel die im» Unterricht der Visitatoren« intendierte Verfestigung der Reformation und deuteten sie als allerdings unglaubwürdige Rückwendung zum Katholizismus, nachdem zuvor vom selben Luther die bewährte alte Ordnung zerschlagen worden war. Das war nicht ganz unrichtig, traf aber doch nicht die wesentlichen Intentionen von Luthers Neuordnung. Dieser würdigte auch diesmal Cochlaeus keiner Erwiderung. An der Titelkarikatur störte ihn nur, daß man den sieben Köpfen keinen Hals gegeben hatte 40 • Im Juli 1528 brachte der Kurfürst die Visitation wieder in Gang. Das Land wurde in vier Bezirke unterteilt, die von verschiedenen Kommissionen gleichzeitig visitiert werden sollten. Luther war als einer der Visitatoren des Kurkreises um Wittenberg und einiger dazugeschlagener meißnischer Ämter vorgesehen. Zunächst sollte aber noch die Visitationsinstruktion vom Vorjahr durchgesehen und ein besonderes Gutachten für die Behandlung der Ehefälle vorgelegt werden 41 . Am 22. Oktober begannen Luther, der Wittenberger Stadthauptmann Hans Metzsch, der Wittenberger Bürgermeister Benedikt Pauli und der Landrentmeister Hans von Taubenheim mit der Visitation des Amtes Wittenberg. Wenig später schrieb Luther an Amsdorft: »Wir sind Visitatoren, d. h. Bischöfe, und finden überall Armut und Mangel. Der Herr sende Arbeiter in seine Ernte, Amen.« Die Visitatoren-Bischöfe wußten sich in ihrer kläglichen Lage ganz auf Christus als ihren besten und treuesten Bischof, d. h. Aufseher angewiesen. Zwar bestand Eintracht zwischen den Pfarrern und den Bauern, aber gegenüber Wort und Sakrament war das Volk träge und verachtete sie 42 . Ende November wollte der Kurfürst Hans von Taubenheim aus der Visitation abziehen, aber damals war man noch nicht einmal mit dem Amt Wittenberg fertig. Wegen der undurchsichtigen finanziellen Verhältnisse war der Landrentmeister für die Visitation unentbehrlich 43 • Wo die Pfarreien arm waren, verlangten die Visitatoren eine bescheidene Beisteuer der Gemeinde und ein Opfergeld von den einzelnen Gemeindegliedern. Die kirchlichen Zustände erwiesen sich als schlimm. Die Bauern lernten nichts, wußten nichts, beteten nicht, taten nichts, außer daß sie die religiöse Freiheit mißbrauchten, sie beichteten und kommunizierten nicht. Die Schuld an dieser Verachtung gab Luther der Amtsausübung der katholischen Bischöfe 44 • Die Visitation stellte nicht zuletzt auch eine große Belastung für die Verwaltung dar. Die führenden Beamten wurden anderweitig benötigt. Im Januar 1529 mußte die Wittenberger Kommission erneut den Kurfürsten bitten, ihr Taubenheim und Metzsch zu belassen. Die Neuordnung des Gottesdienstes und die Armut der Seelsorger litt keinen Aufschub. Als das beste Werk, das der Kurfürst vornehmen konnte, mußte die Visitation Priorität haben 45 • In der ersten Zusammensetzung konnte die Visitationskommission dann doch nicht bestehen bleiben. Luther war als Professor in Wittenberg unentbehrlich, da wegen seiner und Melanchthons Abwesenheit Anfang 1529 die Studenten von der Universität abzogen, und Metzsch wurde bei der Leitung des Wittenberger Festungsbaus benötigt. Der Pfarrer von Colditz, Wolfgang Fues, und der Amtmann von Bitterfeld, Sebastian von Kötteritzsch, traten im März an ihre Stelle. Luther bedauerte diese Änderung und die 265

dadurch bedingte Verzögerung der Visitation. Er erklärte sich auch später wieder zur Beteiligung an der Visitation bereit. Mindestens zeitweilig wirkte er bei der Ende April begonnenen Visitation in Torgau und ebenso im Januar 1530 bei der in Belzig wieder mit. Viel später als geplant kam die Visitation des Kurkreises dann erst 1531 zum Abschluß 46 • Luthers Urteile über die kirchlichen Zustände in den Gemeinden lassen sich anhand der Visitationsberichte 47 überprüfen. In ihrer Mehrzahl galten die Pfarrer als tauglich. Es fehlte jedoch nicht an solchen, die schwach und ungebildet waren oder sich auf die neuen Anforderungen nicht mehr umstellen konnten. Ihnen mußte dann ein tauglicherer Amtsträger zur Seite gestellt werden, mit dem sie die Besoldung zu teilen hatten. Unklar ist, wieviele altgläubige Pfarrer entlassen wurden. Dagegen stellten sich die sittlichen Verhältnisse bei den Gemeindegliedern nicht so düster dar, wie sie Melanchthon erfahren hatte. Möglicherweise war dabei der Einblick, den die Visitatoren erhielten, begrenzt. Fast überall nahmen eine mehr oder weniger große Zahl von Leuten nicht am Abendmahl teil. Das lag auch daran, daß sie von früher her an eine regelmäßige häufigere Kommunion nicht gewöhnt waren. Eine strukturelle Schwierigkeit bildete die dünne Besiedelung. Die ländlichen Pfarreien umfaßten fast immer mehrere kleine Dörfer, denn anders war die Besoldung des Pfarrers nicht aufzubringen. Infolgedessen konnte die pastorale Betreuung nicht allzu intensiv sein. Unter den gegebenen Verhältnissen war die erste Visitation nur ein Anfang für die Konsolidierung der Reformation. Später sah Luther ihre Hauptleistung in der Sicherstellung der Kirchengüter für kirchliche Zwecke, während man sich infolge der raschen Abwicklung um Verkündigung und Pfarrer nicht ( oder richtiger kaum) gekümmert habe 48. Aber gerade um die Versorgung der Pfarrer war es Luther bei der Visitation ursprünglich gegangen. Eine besondere Aufgabe bestand für Luther seit Jahren in der Vermittlung oder Prüfung geeigneter Kandidaten auf vakante Pfarr- und PredigersteIlen, die der Kurfürst, Adlige oder Städte zu vergeben hatten. Gelegentlich hatte er auch bei der komplizierten Ersetzung eines altgläubigen Pfarrers durch einen evangelischen mitzuwirken. Es mußte dafür gesorgt werden, daß die Gemeinden ihre Pfarrer auch ordentlich bezahlten. Teilweise handelte es sich um Regelungen, für die seit 1528 an sich die Visitation zuständig war; dennoch wurde auch Luther entweder von seiten der Bewerber oder der besetzenden Instanz immer wieder damit befaßt, obwohl er eine entsprechende kirchenamtliche Stellung gar nicht besaß 49 . Evangelische Pfarrer waren rar, und so wandten sich die Visitatoren oder auch eine Stadt wie Zerbst deswegen mehrfach an Luther, der die nötige Personalkenntnis hatte. Aber auch er konnte nicht immer helfen. Im Herbst 1529 schob er derartige Personalangelegenheiten an den Visitator Jonas ab 5o • Mit all seinen Bemühungen trieb Luther zwar keine umfassende oder gezielte Personalpolitik in der kursächsischen Kirche, suchte aber, wo es von ihm verlangt wurde, möglichst den richtigen Mann an den richtigen Platz zu bringen, zumal wenn es sich um wichtigere Stellen handelte. Auf die Dauer lag auch darin ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur reformatorischen Gestaltung.

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3. Die Katechismen Die christliche Unterweisung der Jugend und der Laien überhaupt war immer eine Aufgabe, mit der sich die Kirche nicht ganz leicht tat. Den Vertretern der jungen reformatorischen Bewegung war bewußt, daß ihr Erfolg nicht zuletzt davon abhing, ob sie über oberflächliche und bruchstückhafte Informationen hinaus den Gemeinden und vor allem der Jugend eine zusammenhängende Kenntnis des evangelischen Glaubens mitzuteilen vermochten. Deshalb nahmen sie sich in neuer Weise und weit energischer als bisher der Religionspädagogik an. Neben der Auslegung des biblischen Worts hatte sich Luther selbst schon früh um die Vermittlung eines christlichen Grundwissens an die Gemeinde bemüht. Die Laien sollten die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser kennen und verstehen, dazu über die Sakramente Bescheid wissen. Seit 1516 hatte er wie üblich vor allem in der Fastenzeit immer wieder über diese Gegenstände gepredigt. Begonnen wurde jeweils mit dem Dekalog; die Sakramente wurden abschließend meist in der Karwoche behandelt. Nachdem Bugenhagen Ende 1523 Pfarrer geworden war, scheint er hauptsächlich diese Aufgabe übernommen zu haben l . Diese Unterweisung stand in einem näheren Zusammenhang mit Beichte und Kommunion. Die Zehn Gebote fungierten dabei als Beichtspiegel. Für die sinnvolle Beteiligung an der Kommunion mußte man über den Glauben, das Gebet und das Abendmahl Bescheid wissen. Seit 1524 scheint das Glaubenswissen vor der Kommunion im Zusammenhang mit der Beichte in Wittenberg auch überprüft worden zu sein 2 • Für die private Vorbereitung und Information hatte Luther schon 1518 "Eine kurze Auslegung der Zehn Gebote« drucken lassen. 1519 behandelte er in ähnlicher Weise das Vaterunser. Das wuchs dann 1520 zusammen zu "Ein kurze Form der zehn Gebote, ... des Glaubens, .... des Vaterunsers«, die er 1522 an den Anfang des "Betbüchleins« stellte 3 • Vermutlich gab wiederum Nikolaus Hausmann Anfang 1525 die Anregung, ein besonderes Unterrichtsbuch für die Kinder zu schaffen, das nach einer altkirchlichen Tradition als ), Katechismus«, als Behandlung der wichtigsten Stoffe des christlichen Glaubens, bezeichnet wird. Luther delegierte diese Aufgabe an Justus Jonas und Johann Agricola 4 • Das Bedürfnis nach einem derartigen Unterrichtsmittel wurde in der Reformationskirche während der zwanziger Jahre auch sonst empfunden, und so erschienen an verschiedenen Orten eine ganze Reihe von »Katechismusversuchen«. Tatsächlich legte Agricola, der inzwischen Schulmeister in Eisleben geworden war, 1525 eine Art Musterkatechese vor, der er 1527 eine "Christliche Kinderzucht in Gottes Wort und Lehre« und 1528 ,,130 gemeine Fragstücke« folgen ließ s. Bereits im September 1525 plante Luther jedoch selbst die Abfassung eines Katechismus, den er nunmehr neben der Deutschen Messe und der Visitation für einen integralen Bestandteil einer kirchlichen Neuordnung hielt. Einstweilen war er allerdings anderweitig beschäftigt 6 • Immerhin entwickelte er wenig später in der Vorrede zur Deutschen Messe dazu einige Überlegungen? Er knüpfte beim altkirchlichen Taufunterricht an, in dem der Dekalog, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser eingeprägt worden waren. Die Vermittlung sollte sowohl durch die gottesdienstliche Predigt als auch pri267

vat in den Häusern geschehen. Mit dem bloßen Auswendiglernen war es nicht getan. Die Form von Fragen und Antworten, für die Luther auch schon Beispiele anbot, sollte sicherstellen, daß das Gelernte auch verstanden wurde. Dazu diente die Unterscheidung des Stoffs in Glauben und Liebe, die ihrerseits wieder unter den Aspekten Verlorenheit und Erlösung bzw. Wohltun und Dulden unterteilt wurden. Diesen Kategorien ließ sich das biblische Spruchgut zuordnen. Für Luther war das alles andere als geringzuschätzendes pädagogisches »Kinderspiel«. Auf diese Weise sollte die Verkündigung »in die Herzen getrieben« werden und ein großer Schatz christlicher Leute, reich »in der Schrift und Erkenntnis Gottes« entstehen. Über die Behandlung der Sakramente äußerte sich Luther damals noch nicht, doch war wohl auch sie schon vorgesehen. In der Vorrede zur Auslegung des Propheten Sacharja klagte Luther darüber, wie wenige Prediger zu einem guten Katechismusunterricht fähig waren. Die das konnten, stellte er höher als die subtilsten Theologen: Als »die besten und nützlichsten Lehrer aber und den Ausbund (Muster) halte man die, so den Catechismus wohl treiben können ... ; das sind seltsame Vögel. Denn es ist nicht groß Ruhm noch Schein bei solchen, aber doch großer Nutz und ist auch die nötigste Predigt, weil drinnen kurz begriffen ist die ganze Schrift.«8 Luther war bereits bewußt, wie schwer jegliche elementare christliche Unterweisung war. Eben sie hielt er jedoch für eine der vornehmsten Aufgaben der Theologie. In der Vorrede zur Deutschen Messe hatte Luther regelmäßige Predigten über den Katechismus am Montag und Dienstag vorgeschlagen. Auch der »Unterricht der Visitatoren« sah ständig Katechismuspredigten vor 9 . In Wittenberg scheint Bugenhagen als Pfarrer viermal im Jahr den Katechismus behandelt zu haben. Als er 1528 in Braunschweig war, vertrat ihn Luther auch in dieser Aufgabe und predigte vom 18. bis 30. Mai, vom 14. bis 25. September und vom 30. November bis 19. Dezember jeweils an vier Nachmittagen in der Woche über den gesamten Katechismusstoff lO • Für die letzte Reihe hat sich die eindringliche Aufforderung zur Teilnahme an die ganzen Familien erhalten ll . Arbeit galt nicht als Entschuldigungsgrund, da ja die vielen Heiligentage entfallen waren und viel Zeit z. B. mit Trinken zugebracht wurde. Die eine Stunde konnte zur Vervollkommnung in der Erkenntnis Christi wohl aufgewandt werden. Dienstboten, die nicht teilnehmen wollten, sollten entlassen werden. Das Argument ihrer Herren, man dürfe sie nicht zwingen, ließ Luther nicht gelten. Der Hausherr war ihr Bischof und Pfarrer, der für ihre äußere und innerliche Erziehung verantwortlich war. Luther wollte an Stelle des Pfarrers Bugenhagen das Seine mit der Predigt tun »und mehr denn wir verpflicht sein«. Ein ähnlicher Appell findet sich in einer im Juli 1529 in Kemberg gehaltenen Predigt 12 . Schon im September 1528 hatte sich Luther sehr positiv über den evangelischen Katechismusunterricht ausgelassen. Ein Knabe oder Mädchen von 15 Jahren wußte jetzt mehr über das Wort Gottes »denn zuvor alle hohen Schulen und Doctores«, weil der rechte Katechismus wieder gelehrt wurde, nämlich »das Vaterunser, der Glaube, die Zehn Gebote, was die Buße, Taufe, Gebet, Kreuz, Leben, Sterben und das Sakrament des Altars sei, und über das, was die Ehe, die weltliche Obrigkeit, was Vater und Mutter, Weib und Kind, Mann und Sohn, Knecht und 268

Magd. Und in Summa alle Stände der Welt habe ich zu gutem Gewissen und Ordnung gebracht, daß ein jeglicher weiß, wie er lebt und wie er in seinem Stande Gott dienen solle, und ist nicht geringe Frucht, Friede und Tugend erfolgt bei denen, die es angenommen.« Die katholische Seite hatte nichts Vergleichbares aufzuweisen 13. Aus den Katechismuspredigten von 1528 und unter Verwendung ihrer Nachschriften entstanden in den ersten Monaten des Jahres 1529 nebeneinander die beiden Katechismen Luthers. Es läßt sich beobachten, wie einzelne griffige Formulierungen und Vorstellungen sich nach und nach in Luthers Predigttätigkeit herausgebildet haben. Aus seiner großartig einfachen und verständlichen Verkündigung ist das faßliche Glaubenswissen für die Laien entwickelt worden. Als Melanchthon von Luthers Beginnen erfuhr, ließ er die schon begonnene Drucklegung seiner lateinischen Katechismuspredigten abbrechen 14. »Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarrherr und Prediger«15 wurde ursprünglich zum Zweck des Unterrichts als einseitiger Tafeldruck veröffentlicht und erschien erst etwas später in Buchform. Er bot den eigentlichen Lernstoff, den die Pfarrer und Prediger ihren Zuhörern einprägen sollten. Die Adressierung war allerdings nicht vollständig, denn immer war auch an einen Gebrauch des Katechismus in den Familien gedacht. Zu der schlichten Kurzform mit ihrer klassischen Knappheit hatten, wie Luther in der Vorrede angibt, die Erfahrungen bei der Visitation Anlaß gegeben. Vor allem auf den Dörfern fehlte auch das Elementarwissen, und die Pfarrer waren nicht in der Lage, es zu vermitteln. Die Leute lebten wie »das liebe Vieh und unvernünftige Säue« und hatten nur die evangelische Freiheit meisterlich mißbrauchen gelernt. Die große Schuld der einstigen Bischöfe kam hier erneut zum Vorschein. Luther bat darum die Pfarrer flehentlich, sich dieser Aufgabe anzunehmen, den Katechismus unter die Leute, besonders unter die Jugend zu bringen. Wer es nicht besser konnte, sollte dazu Luthers Tafeln benützen. Somit gehörte auch der Katechismus zu den dringlichen Notmaßnahmen zum Aufbau der evangelischen Kirche. Luther machte einige sehr einfache Vorschläge: Der Wortlaut des Lernstoffs mußte fest fixiert sein, denn anders ließ er sich nicht erlernen. Wer nicht lernwillig war, sollte weder zum Abendmahl noch als Pate zugelassen werden. Vater und Mutter sollten ihm Essen und Trinken verweigern, ja er sollte sogar des Landes verwiesen werden. Zwar konnte man niemand zum Glauben zwingen, wohl aber mußte gewußt werden, was im evangelischen Kursachsen recht und unrecht ist. Auf das Auswendiglernen hatte die verständliche und ebenfalls gleichbleib ende Erklärung, eingeteilt in faßliche Abschnitte, zu folgen. Besonders auszuführen waren die Gebote, bei deren Befolgung es am meisten fehlte, z.B. das Diebstahlsverbot bei den Bauern und Handwerkern oder das Gehorsamsgebot bei den Kindern und dem gemeinen Mann. Die Eltern mußten dringend angehalten werden, ihre Kinder zur Schule zu schicken, andernfalls drohte die Verwüstung von Gottes und der Welt Reich, weil der benötigte Nachwuchs fehlte. Wenn auch ohne Zwang, sollten die Leute ein- bis viermal im Jahr zur Teilnahme an der Kommunion veranlaßt werden. Geringschätzung des Abendmahls war ein sicheres Anzeichen von Unglauben, der nicht erkannt hatte, worauf er eigentlich angewiesen war.

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Der eigentliche Katechismus zitierte zuerst jeweils den biblischen Text oder den Glaubensartikel und erklärte ihn nach der eingeschobenen Frage »Was ist das?«. Vor allem bei den Sakramenten verwendete Luther dann auch ausführlichere Fragen. An erster Stelle des Katechismus stand der Dekalog. Die Erklärung des ersten Gebotes »Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen« ist verkürzt in die Einleitung aller anderen Gebotserklärungen aufgenommen, womit geschickt dessen umfassende Bedeutung bewußt gemacht wird. Der Dekalog ist formal weithin eine Liste von Verboten. Luther nahm das jeweils im ersten Teil seiner Erklärungen auf, fügte aber dann immer eine positive Anweisung hinzu. Entsprechend wird in der Zusammenfassung zunächst die Drohung mit Gottes Zorn bei der Übertretung, aber danach auch die Verheißung bei der Erfüllung der Gebote hervorgehoben. Daß das Gesetz nach Luther eigentlich Erkenntnis der Sünde bewirkt, wird wohl aus pädagogischen Gründen im Kleinen Katechismus nicht ausdrücklich betont. Die Erklärung der drei Glaubensartikel stellt faktisch eine schon sprachlich beachtlich komponierte Neuformulierung des Glaubensbekenntnisses dar. Die objektiven Aussagen des Apostolikums werden dabei in geglückter Verbindung auf die Existenz des Christen bezogen, der sich damit von den Heilsveranstaltungen Gottes direkt angesprochen weiß. Das gilt für das eigene Geschaffensein und dessen Erhaltung, für die Errettung aus der Verdammnis und für die Angewiesenheit auf die Gabe des Heiligen Geistes. Ähnlich persönlich sind die Erklärungen des Vaterunsers mit ihrer Bitte um Verwirklichung und Durchsetzung Gottes auch beim Betenden. Nicht von ungefähr gehen sie ihrerseits immer wieder ins Gebet über. Die Sakramentsartikel sehen von aller Polemik und Erörterung schwieriger Sachverhalte ab, obwohl sie positiv auf die Konflikte mit den Täufern und den Gegnern im Abendmahlsstreit reagieren. Sehr schlicht und verständlich werden die Verbindung von Element und Wort, der Glaube und die Vergebung als Gabe der Sakramente in ihrem Zusammenhang vorgeführt. Luther gab dem Kleinen Katechismus als Anleitung zu einer neuen Frömmigkeitssitte noch einen Morgen- und einen Abendsegen sowie Gebete vor und nach dem Essen bei. Den Morgensegen übernahm er weithin aus einem von ihm geschätzten Gebet des Johannes Mauburnus, das er wohl schon als Mönch beim Aufstehen gebraucht hatte. Auch die Tischgebete stammten aus der Tradition 16 • Nach dem Morgensegen heißt es: »Und alsdann mit Freuden an dein Werk gegangen ... «. Dem Abendsegen folgt die Anweisung: »Und alsdann flugs und fröhlich geschlafen.« Die Zuversichtlichkeit gehörte auch zu Luthers Beten. Eine weitere Beigabe war die sog. »Haustafel etlicher Sprüche für allerlei heilige Orden und Stände«. Ursprünglich war mit Haustafel wohl technisch eine der mehreren Katechismustafeln gemeint. Ihr Inhalt bezog sich keineswegs nur auf den ökonomischen Bereich, sondern enthielt neutestamentliche Weisungen für die Bischöfe, Pfarrer und Prediger, über die Obrigkeit, für die Ehegatten, Eltern und Kinder, Dienstboten, Hausherr und Hausfrau, die Jugend und die Witwen. Sie schloß mit der Weisung: Ein jeder lern sein Lection, so wird es wohl im Hause ston.

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Der Einfluß der patriarchalischen Haustafel auf das soziale Rollenverhalten kann schwerlich überschätzt werden. Außer dem Taufbüchlein und später dem Traubüchlein wurde dem Kleinen Katechismus schon 1529 noch »Eine kurze Weise zu beichten für die Einfältigen« mit zwei Sündenbekenntnissen angefügt. In den Wittenberger Buchausgaben wurde auch gezielt der illustrierende Holzschnitt mit biblischen Motiven aufgenommen und so dem religiösen Bild jetzt ausdrücklich eine pädagogische Funktion zugewiesen. Unter den Katechismen der Reformationszeit fand Luthers Kleiner Katechismus mit Abstand die weiteste Verbreitung. Er verdankte das nicht nur dem Ansehen seines Verfassers. Luther war, was Sprache, Verständlichkeit und knappe Form anbetraf, eine religionspädagogische Meisterleistung geglückt, an die zu seiner Zeit und auch später kein anderer herankam. Es ist zwar nicht zu übersehen, daß die, Einwurzelung des evangelischen Glaubens schwierig blieb, wo sie aber gelang und sich eine neue Frömmigkeit ausbildete, wie es tatsächlich in nicht zu unterschätzendem Ausmaß der Fall war, hatte der Kleine Katechismus daran wesentlichen Anteil. Nicht von ungefähr konnte er sich neben den Liedern Luthers und seiner Bibelübersetzung bis heute behaupten. Dem Kleinen Katechismus stellte Luther einen» Deudsch Catechismus« für die Unterrichtung der Pfarrer und Prediger zur Seite, der von ihm selbst schon einmal als der »große Catechismus« bezeichnet wurde 17 • Er wollte damit der Unbildung unter den Geistlichen begegnen, die sich teils aus intellektueller Überheblichkeit, teils beansprucht durch ihre »Bauchsarge« nicht um den Katechismus kümmerten. Dabei sollte die tägliche Beschäftigung mit ihm eine neue Form des geistlichen Lebens und der pastoralen Meditation sein. Luther beschreibt das von ihm selbst praktizierte tägliche »Beten« des Katechismus: »Noch tue ich wie ein Kind, das man den Catechismon lehret, und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens und wenn ich Zeit habe das Vater unser, Zehn Gebote, Glaube, Psalmen etc. Und muß noch täglich dazu lesen und studieren, und kann dennoch nicht bestehen, wie ich gerne wollte, und muß ein Kind und Schüler des Catechismus bleiben und bleib's auch gerne.« Der Heilige Geist ist bei der Beschäftigung mit dem Katechismus gegenwärtig, und das hilft gegen Teufel, Welt, Fleisch und alle bösen Gedanken. Der Pfarrer, der sich damit nicht befassen wollte, dem sollte man »nicht allein nicht zu fressen geben, sondern auch mit Hunden aushetzen ... «. Den Katechismus konnte man nicht auslernen, denn Gott lehrte ihn ständig, war er doch nichts anderes als ein Auszug der Heiligen Schrift. Wer die Zehn Gebote wirklich verstand, der beherrschte die ganze Schrift und vermochte kompetent über alles zu urteilen. Luther selbst betete den Katechismus täglich wörtlich. Wurde er davon abgehalten, befand er sich nicht wohl. Er war in der Einfalt seines Glaubens auf diese schlichte Vergewisserung angewiesen. Der Anfang des Vaterunser brachte ihn in Gemeinschaft mit dem allmächtigen Gott, machte Christus zu seinem Bruder und die Erzengel zu seinen Dienstboten 18. Im ersten Gebot konzentrierte Luther die schlechterdings prinzipielle und zugleich existentielle Frage: »Was heißt einen Gott haben oder was ist Gott?« Er gab darauf die berühmte Antwort: »Ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll

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Der Große Katechismus . Wittenberg (Georg Rhau) 1529

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alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß einen Gott haben nichts anders ist denn ihm von Herzen trauen und glauben ... «. Alles ist derart auf die Beziehung zwischen Gott und Glauben gestellt, daß es fast den Anschein hat, als mache erst der Glaube Gott. Doch der Schein trügt. Der Glaube macht sich ganz und gar abhängig von dem unverfügbaren Gott. Abgötterei hingegen ist falsches Vertrauen z. B. auf den Mammon, die Heiligen oder die eigene Leistung. All dies raubt Gott die Ehre und ruft seinen Zorn hervor. Wer sich dagegen an Gott hält, dem gilt der Trost aller seiner barmherzigen Verheißungen. Vom Gottesverhältnis her wird dann auch die liebende Beziehung zum Mitmenschen geregelt. Bei aller Konzentration vermochte Luther dennoch die einzelnen Gebote sehr konkret auf die bestehenden Zustände zu beziehen und dazu Weisung zu geben. Nicht von ungefähr beansprucht die Behandlung des Dekalogs etwa die Hälfte des Großen Katechismus. Die Konzentration auf Gott bestimmt auch die weiteren Teile und kommt z.B. bei der Auslegung des Vaterunser ganz stark zum Vorschein. Im Abschnitt über die Taufe wird auch auf die Berechtigung der Kindertaufe eingegangen, während sonst die Abgrenzung gegen die altgläubige Seite vorherrscht. Die Buße wird wie früher als Aktualisierung der Taufe gedeutet. Als Anhang ist »Eine kurze Vermahnung zu der Beicht« angefügt. Das Abendmahl wird ohne weitere Polemik eher unter seelsorgerlichem Aspekt behandelt. Insgesamt könnte man den Großen Katechismus als eine theologische Handreichung für die Verkündigungspraxis der damaligen Pfarrer bezeichnen. Dabei ist die konkrete Situation jedoch derart prinzipiell erfaßt, daß die theologischen Aussagen auch auf die Dauer kaum an Aktualität und Eindringlichkeit einbüßten. Mit Recht bezeichnete Luther 1537 den Großen Katechismus neben De servo arbitrio als eines seiner besten Bücher 19 •

4. »Von Ehesachen« Mit Fragen der Ehe und des Eherechts wurde Luther nach wie vor befaßt. Die allgemeine Belehrung darüber hatte immer wieder in den Predigten zu erfolgen 1. Neben der Mahnung zur gegenseitigen Liebe der Ehegatten, womit z.B. ein »Wüten« der Männer gegen ihre Frauen verboten war z, mußte gegen die katholische Auffassung immer noch die Ehe als von Gott geschaffener und bejahter Stand herausgestellt werden. Die gemeinen Frauenhäuser (Bordelle) wollte Luther abgeschafft wissen. Anders als das geltende Recht wollte er sie auch als notwendiges Übel nicht dulden. Die jungen Leute sollten lieber heiraten 3 . Auch in den Druckschriften wurde das Thema gelegentlich berührt. Die 1524 entstandene Auslegung von Ps 127 betont, daß Gott das Haus für den Hausstand bauen muß; insofern gehört zum Wagnis der Ehe der Glaube 4 • Einen verhältnismäßig großen Raum nahmen die im evangelischen Bereich noch ungeklärten eherechtlichen Fragen in Luthers Korrespondenz ein. Häufig mußte er Pfarrer in schwierigen Fällen beraten. Gelegentlich holte auch der Kurfürst das Urteil Luthers und seiner Kollegen ein. Dem Rat von Zerbst teilte er 1524 auf Anfrage mit, wie in Wittenberg mit Ehebrechern verfahren wurde. Zu seinem Be273

dauern wurde nicht die reichsrechtlich vorgesehene Todesstrafe angewandt, sondern man stäupte sie zur Stadt hinaus 5 • In manchen Fällen entschied Luther gemeinsam mit seinen Kollegen, z. B. Jonas, Bugenhagen, Melanchthon und dem JuristenBenedikt Pauli, die damit als eine Art geistliches Gericht fungierten. So wurde einer Frau »aus Vollmacht des Gewissens« erlaubt, ihren impotenten Ehemann zu verlassen und ihren Liebhaber zu heiraten 6 • Gemeinsam mit Bugenhagen erlaubte Luther der Fährmeisterin in Wittenberg die Trennung von ihrem Mann, der sie schlecht behandelte. Beide sollten jedoch in ihrem weiteren Leben unverheiratet bleiben. Die Behauptung des Mannes, er wolle mit seiner Frau wieder zusammenleben, hielt Luther für einen Vorwand, mit dem die Erlaubnis zu einer neuen Heirat erreicht werden sollte. Der Wittenberger Bürgermeister Anton von Niemeck scheint den Mann dabei jedoch unterstützt zu haben, worüber Luther sehr ungehalten war. Die Sache mußte durch den Kurfürsten entschieden werden 7 • Es war nicht das einzige Mal, daß die Geistlichen und der Magistratin Wittenbergzu unterschiedlichen Urteilen kamen und sich aneinander rieben. Gegen das dabei aufkommende Gerede wehrte sich Luther auch auf der Kanzel. Differenzen mit den Juristen kamen auch sonst vor. Noch fehlte es an sicheren Normen und abgegrenzten Kompetenzen 8 • Einem Prediger, den seine Frau verlassen hatte, gestattete Luther, wie in ähnlichen Fällen auch, die Wiederverheiratung 9 • Die umstrittene Ehe des Magdeburger Predigers Marquard Schuldorp mit seiner Nichte hielt Luther in bewußtem Gegensatz zum kanonischen Recht für zulässig. Dagegen lehnte er einmal eine Ehe mit der Frau des Oheims unter Berufung auf 1. Kor 5 ab, obwohl aus dieser Verbindung bereits Kinder vorhanden waren lO • Der Allstedter Pfarrer Jobst Kern hatte eine Nonne geheiratet, die jedoch nicht in voller ehelicher Gemeinschaft mit ihm leben wollte und ihn verließ. Falls es nicht gelang, die Frau umzustimmen, wollte Luther Kern eine neue Heirat gestatten. Der Kurfürst erlaubte diese Wiederverheiratung eines Geistlichen jedoch nicht. Kern muß dennoch wieder geheiratet haben und wurde deshalb später wegen Bigamie angeklagt 11. Bereits 1526 erkundigte sich Philipp von Hessen bei Luther, ob ein Christ mehrere Ehefrauen haben dürfe. Dieser hielt das nur im äußersten Notfall, z. B. bei Aussatz für erlaubt und entschied auch mehrfach dementsprechend 12 • Anfang 1527 stöhnte Luther über die Belastung mit den vielen Ehesachen und wollte sie als weltliche Angelegenheit den weltlichen Richtern überlassen. Dazu veranlaßte ihn nicht allein die Menge der Fälle. Er wollte die Leute mit dem Evangelium beraten und christliche, einvernehmliche Lösungen erreichen. Die Leute aber pochten mißbräuchlich auf das Recht, z. B. auf die notwendige elterliche Zustimmung zur Verheiratung ihrer Kinder. Aber das Recht mußte jeweils mit Billigkeit gehandhabt werden 13 • Ganz schwierig waren Fälle wie der, in denen ein Partner zwei Eheversprechen abgegeben hatte und aus der zweiten Beziehung sogar ein Kind hervorgegangen war. Um der Stabilität der Absprachen willen trat Luther dennoch für die Gültigkeit des ersten Versprechens ein l4 . Ähnlich urteilte er im Fall der Else Moser, deren Mann in türkische Gefangenschaft geraten war und sich später in Siebenbürgen befand, wohin die Frau nachkommen sollte. Sie hatte sich inzwischen jedoch mit einem Pfarrer wieder verheiratet. Dennoch bestand nach Luther die erste Ehe noch 15. Eine Ehe zwischen zwei 274

Blinden ließ er trotz schwerer Bedenken wegen ihrer Versorgung und etwaiger Kinder zu, weil er ihre sexuellen Bedürfnisse anerkannte. Luthers Entscheidungen verraten Menschenkenntnis und Augenmaß. Er war an festen Regelungen interessiert, band sich jedoch nicht an das alttestamentliche Gesetz und schon gar nicht an das kanonische Recht. Auf jeden Fall war das Recht nicht schematisch, sondern mit Billigkeit zu handhaben. Darum urteilte er häufig freier und anders als die Juristen l6 . Selbstverständlich gab es auch in Luthers Bekanntenkreis Eheprobleme. Die aus Wittenberg stammende Frau des Stephan Roth weigerte sich 1528 angeblich aus gesundheitlichen Gründen hartnäckig, nach Zwickau zu ziehen, wo ihr Mann Stadtschreiber geworden war. Auch Luther und Bugenhagen vermochten sie nicht umzustimmen. Luther machte deswegen auch Roth den Vorwurf, daß er aus falscher christlicher Nachgiebigkeit - er stand sichtlich unter dem Pantoffel - seine Frau nicht besser zum Gehorsam angehalten hatte 17 • 1528 starb die wesentlich ältere Frau Johann Langs in Erfurt. Luther teilte ihm unverblümt mit, er sei unsicher, ob er gratulieren oder kondolieren sollte 18 • Wenig später heiratete Lang dann ein außerordentlich junges Mädchen. Ob das in Luthers Sinn war, ist unbekannt. Die Erfahrungen Luthers auf diesem Gebiet gingen zum Teil in die im Januar 1530 veröffentlichte Schrift» Von Ehesachen« ein 19. Sie wurde auf Bitten eines ungenannten Pfarrers verfaßt, dürfte aber einem breiteren Bedürfnis nach festen Richtlinien gerade unter den Pfarrern entsprochen haben. Allerdings handelte es sich bei der Schrift bewußt nicht um eine offizielle Ordnung. An sich wollte Luther das Eherecht als »äußerlich weltlich Ding« der Obrigkeit überlassen. Unter Christen ließen sich solche Dinge leicht regeln. Für die »Unchristen« Gesetze zu machen, war nicht seines Amtes, schon das Beispiel des päpstlichen Rechts schreckte ihn davon ab. Die evangelische Kirche sollte sich nicht wieder in Rechtshändel verwickeln. Hier galt es, die mühsam errungene Scheidung von weltlichem und geistlichem Amt durchzuhalten. Und doch verlangten die Pfarrer und auch die Obrigkeiten, vor allem im Blick auf die Geltung des kanonischen Rechts, Luthers Rat. Den konnte er nicht versagen; er trat dabei aber nicht als Rechtsprecher oder Regent auf. Wer von seinem Rat Gebrauch machen wollte, mußte es auf eigene Verantwortung tun. Luther konzentrierte sich zunächst auf das Problem der Verlöbnisse. Wie schon früher, lehnte er heimliche Verlöbnisse ohne Wissen der Eltern klar ab. Hier bestand eine Rechtsunsicherheit, denn das kanonische Recht hatte unter bestimmten Umständen die heimlichen Verlöbnisse anerkannt, und das hatte viel Wirrnis verursacht, zumal die Juristen sich immer noch daran orientierten. Eine von Gottzusammengefügte Ehe setzte für Luther normalerweise die Einwilligung der Eltern voraus. Er mußte allerdings klarstellen, daß die früheren, durch heimliche Verlöbnisse zustande gekommenen Ehen darum nicht ungültig waren. Das öffentliche Verlöbnis sollte durch ein vorheriges heimliches nicht angefochten werden können. Freilich wurde die Rechtslage nicht selten dadurch kompliziert, daß es mit dem heimlichen Verlöbnis auch schon zum Beischlaf gekommen war. Luther suchte beharrlich, angesichts der möglichen Verwicklungen und Ausflüchte verantwortbare christli275

che Lösungen zu finden. Daß man dabei mit Prinzipien nicht immer durchkam, sondern den Tatsachen Rechnung tragen mußte, wußte er nur zu gut. Von zwei öffentlichen Verlöbnissen war das zweite ungültig, denn das erste konstituierte die rechte Ehe, selbst wenn aus der zweiten Verbindung bereits Kinder vorhanden waren. Ein zweites Verlöbnis wollte Luther deshalb als Ehebruch gewertet wissen. Ganz scharf wandte er sich gegen böse Gerüchte über die Unbescholtenheit einer Braut, die zur Anfechtung des Verlöbnisses führen konnte. Ähnliche Probleme ergaben sich, wenn ein Partner den andern über einen schweren Mangel, z. B. eine Krankheit, täuschte. Erzwungene Verlöbnisse waren ungültig. Umgekehrt mußte die Obrigkeit eingreifen, wenn Eltern grundsätzlich den Kindern die Eheschließung verweigerten. Bei Ehebruch sollte zunächst eine Aussöhnung angestrebt werden. Notfalls war dem unschuldigen Partner jedoch die Scheidung und anderweitige Verheiratung zu gestatten. Auch bei böswilligem und langandauerndem Verlassen konnte geschieden werden, denn es widersprach dem Wesen der Ehe. Hinsichtlich der erlaubten Verwandtschaftsgrade hatte das großzügigere römische Recht zu gelten, notfalls waren auch Konzessionen darüber hinaus denkbar 2o • Luther widersprach also der von der Regierung wegen der Rechtsgleichheit gewünschten Anpassung an das kanonische Recht. Am Schluß wird den Pfarrern nochmals empfohlen, sich der Ehesachen nicht anzunehmen, es sei denn, man begehre ihren Rat für die Gewissen. Dabei war es denkbar, daß den Gewissen nur geholfen werden konnte, indem man sich über Gesetz und Recht hinwegsetzte. In diesem Fall hatte das Gewissen Vorrang vor der irdischen Rechtsordnung. Es durfte durch die Gesetze nicht verwirrt werden. Besonders galt das für Vergangenes, das nicht mehr geändert werden konnte. Mit dieser Auffassung, daß gerade das Eherecht für die Menschen da zu sein hatte, mußte Luther immer wieder mit den Juristen in Konflikt kommen, und wie sich später noch zeigen sollte, barg sie möglicherweise auch Risiken. Aber er hatte die Erfahrung auf seiner Seite, wenn er für eine elastische Anwendung des Eherechts eintrat. In den verästelten Anweisungen der Schrift» Von Ehesachen« haben sich zahlreiche konkrete Vorgänge und Schicksale niedergeschlagen. Luther wollte sie entschlossen mit »der Liebe Recht« als Seelsorger und nicht als Jurist bewältigen und beanspruchte dafür auch die entsprechende Freiheit. Darum ist »Von Ehesachen« eine sehr humane Schrift.

5. Die pastorale Tätigkeit in Wittenberg und ihre Krise Für die Umsetzung der reformatorischen Neuordnung und ihre Probleme ist die Stadt Wittenberg ein anschauliches und wichtiges Beispiel, das wohl nicht immer gebührend gewürdigt worden ist. Hauptsächlich hier war Luther selbst mit der kirchlichen Wirklichkeit konfrontiert. Hier wurde er gewahr, welchen Erfolg die evangelische Predigt hatte, wie es mit Frömmigkeit, Liebestätigkeit und Sittenzucht stand, und er war gezwungen, auf die Mißstände zu reagieren. Glücklicherweise ermöglichen die Quellen einen besonders intensiven Einblick in diese Verhältnisse.

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Für die beiden Wittenberger Kirchen und die in ihnen anfallende Menge der pastoralen Aufgaben hielt Luther Ende 1524 an sich sechs Pfarrer für wünschenswert!. Das wäre für die etwas mehr als 2000 Wittenberger Einwohner ein Optimum gewesen. Tatsächlich waren es außer ihm, dem Prediger, nur drei. Die Pfarrei an der Stadtkirche hatte seit Herbst 1523 Johannes Bugenhagen inne. Von Mai 1528 bis Juni 1529 war Bugenhagen allerdings von Wittenberg abwesend zur Einführung der Reformation in Braunschweig und danach in Hamburg. Während dieser Zeit vertrat ihn Luther als Pfarrer und nahm damit ein großes Maß zusätzlicher Arbeit auf sich, weil die Ausbreitung des Wortes Gottes dies eben erforderte 2 • Dem Bemühen Hamburgs, Bugenhagen ganz zu behalten, widersetzte sich Luther und verlangte im Frühjahr 1529 seine Rückkehr 3 • Im sonntäglichen Kirchengebet gedachte er gelegentlich auch Bugenhagens und seiner Tätigkeit 4 • Der Wittenberger Pfarrer wurde durch zwei Diakone unterstützt. Der eine war Georg Rörer, der im Mai 1525 berufen und ordiniert wurde 5 • Er war u. a. der treue und unermüdliche Nachschreiber von Luthers Predigten und Vorlesungen, deren Überlieferung zu einem beträchtlichen Teil ihm zu danken ist. Der andere Diakon war der ehemalige Mönch Johann Mantel. Das kollegiale Verhältnis der Wittenberger Geistlichen untereinander war offensichtlich gut. Angesichts des unregulierten Eindringens der Schwärmer in die Gemeinden war Luther schon im Herbst 1524 klargeworden, daß es einer Ordination zum kirchlichen Amt bedurfte. Für ihn selbst hatte nach wie vor seine Priesterweihe diese Bedeutung. Er mußte jedoch der Gemeinde klarmachen, daß die Ordination nicht ein Sakrament war, das den Amtsträger vom allgemeinen Priestertum unterschied, sondern menschliche Wahl und Beauftragung zum kirchlichen Dienst. Darauf war nicht nur die Gemeinde, sondern auch der Amtsträger zur Wahrnehmung seiner großen Aufgabe, die ihn verzagt machen konnte, angewiesen 6 • Solche Anfechtung gehörte für Luther zur pastoralen Existenz. Als Spalatin 1528 aus dem Gefühl des eigenen Ungenügens sein Altenburger Pfarramt aufgeben wollte, deutete Luther dieses Angefochtensein als Ausweis göttlicher Berufung; der sichere Amtsträger war ihm hingegen verdächtig 7 •

Der Prediger Luthers Hauptaufgabe in der Gemeinde war nach wie vor die Predigt. Während der Abwesenheit Bugenhagens mußte er auch dessen Kanzelauftrag übernehmen, so daß er z. B. 1529 nicht weniger als 121mal predigte, davon an 40Tagen sogar zweimal. Üblicherweise predigte er in der Messe als dem sonntäglichen Hauptgottesdienst über die jeweilige Evangelienperikope. Im Gottesdienst des Sonntagnachmittags hatte er 1523 mit der Auslegung des ersten Mosebuches begonnnen. 1527 wurde sie nach Nachschriften in einer lateinischen und einer deutschen Fassung von Stephan Roth bzw. Kaspar Cruciger veröffentlicht, nachdem sie von dem zögernden Luther die Zustimmung und sogar jeweils ein Vorwort erlangt hatten 8 • Als Motiv für die Behandlung des 1. Mosebuches gibt die lateinische Vorrede an, Luther habe mit den Beispielen der Patriarchen die Heiligenlegenden verdrängen wol277

len, während nach der deutschen Vorrede irrtümlich bereits die Kritik an Müntzers falscher Verwendung des Alten Testaments als Anlaß genannt wird. Bis 1529 blieb Luther dann in den Nachmittagspredigten bei den Mosebüchern. Hinsichtlich des theologischen Gehalts besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen den Reihenpredigten und den Vorlesungen. Von Oktober 1524 bis Februar 1527 dauerte die Auslegung des 2. Mosebuches. 1526 wurde daraus die prinzipielle, den Kapiteln 19 und 20 vorangestellte »Unterrichtung wie sich die Christen in Mose sollen schikken« veröffentlicht 9 • Das Gesetz und das Evangelium waren die beiden einzigen direkten Offenbarungen Gottes. Beide galt es jedoch zu unterscheiden. Gegen die Schwärmer wie Karlstadt und Müntzer bestritt Luther die unbedingte Verbindlichkeit des Mosegesetzes, obwohl es ganz sinnvoll sein konnte, sich auswahlweise daran zu orientieren. Aber eigentlich war es »der Juden Sachsenspiegel«, d. h. das jüdische Volksgesetz. Das galt grundsätzlich auch hinsichtlich der Zehn Gebote. Allerdings nahm Luther an, daß diese großenteils zum natürlichen Gesetz gehörten, das allen Menschen ins Herz geschrieben und somit doch allgemein verbindlich war. Für die Christen waren außerdem die in den Mosebüchern sich findenden messianischen Weissagungen und die Beispiele von Glauben, Liebe und Kreuz bei den Vätern wichtig. Dagegen war z. B. die Gewaltanwendung geschichtlich überholt und durfte nicht wie bei Müntzer zur Weisung für die Christen gemacht werden. Hier galt es in der Tat sauber zu unterscheiden. Außer der Unterrichtung wurde 1528 auch die ausführliche und trotzdem beachtlich dichte Auslegung der Kapitel 19 und 20 mit der Erklärung der Zehn Gebote gedruckt lO • Anders als später in den Katechismen begriff Luther 1525 die Gebote vor allem als Sündenspiegel. Das 3. und 4. Mosebuch behandelte Luther von April 1527 bis Dezember 1528 in Auswahl, denn der Stoff eignete sich nur zum Teil für Gemeindepredigten 11. Mit der Auslegung des 5. Mosebuches begann er erst im Februar 1529 und brach sie im Dezember bei Kap. 9 ab 12 • Er wollte dabei neben den Katechismuspredigten eine ausführliche Erklärung der Zehn Gebote bieten und verstand die ersten Kapitel des 5. Mosebuches als eine Vorrede zu ihnen, während der Text ab Kap. 6 als ihre Auslegung begriffen wurde. Mit der Konzentration auf das erste Gebot wirken die Predigten wie ein Kommentar zu den Katechismen, mit denen sie die positivere Deutung der Zehn Gebote gemeinsam haben. Während Bugenhagens Abwesenheit 1528/1529 predigte Luther an seiner Stelle der Wittenberger Ordnung entsprechend mittwochs über das Matthäusevangelium (Kap. 11-15) und samstags über das Johannesevangelium (Kap. 16-20). Die Nachschriften der Predigten über das Matthäusevangelium sind bis auf Bruchstücke verloren l3 . Aus den Johannespredigten veröffentlichte Kaspar Cruciger auf Luthers Bitte hin 1530 die Auslegung des 17. Kapitels 14. Im Zusammenhang mit Luthers Predigttätigkeit muß erneut das Unternehmen der Postille, eines Predigtbuches über die sonntäglichen Evangelien- und Epistelperikopen, erwähnt werden, von dem auf der Wartburg der Advents- und Weihnachtsteil fertiggestellt worden war 1S • Luther hatte die wichtige Aufgabe dieser Sammlung von Musterpredigten nicht aus dem Auge verloren. Nicht von ungefähr wurden die des Predigens selbst nicht fähigen Pfarrer später in der Visitation ange278

wiesen, sich an Luthers Postille zu halten. Die »Fastenpostille«, die die Predigten vom 1. Sonntag nach Epiphanias bis zur Passionszeit enthalten sollte, wurde vermutlich etwa Anfang 1524 begonnen. Die Fertigstellung verzögerte sich jedoch. Im Februar 1525 war Luther erneut mit ihr beschäftigt 16 • Dann kam es zu einem der bezeichnenden Zwischenfälle, die Luthers Büchern manchmal widerfuhren. Vor Abschluß der Arbeit wurde ein Teil seines Manuskripts aus der Druckerei gestohlen und in Regensburg mit dem fingierten Druckort Wittenberg veröffentlicht. Luther hatte zu Unrecht den Nürnberger Drucker Hans Hergot im Verdacht und wandte sich deshalb im September 1525 empört an den Nürnberger Rat, zumal die Nürnberger auch sonst den Wittenbergern mit Nachdrucken von Lutherschriften unangenehme Konkurrenz machten. Angeblich aus diesem Grund zögerte Luther mit der Fortsetzung der Bibelübersetzung, bei der jetzt die Propheten anstanden. Wenigstens sieben bis acht Wochen sollten die Nürnberger mit ihren Nachdrucken zuwarten. Ab 1526 wurden dann Luthers Schriften wenigstens im kursächsischen Bereich durch ein landesherrliches Privileg vor dem Nachdruck geschützt 17. Aber auch unter den Wittenberger Druckern herrschte eine scharfe Konkurrenz um die Veröffentlichung von Luthers Schriften. So hatten die Verleger Cranach und Düring 1524 mit nicht gerade zimperlichen Mitteln versucht, die Druckerei des aus Leipzig stammenden Melchior Lotther d. J. wieder aus Wittenberg zu verdrängen. Luther setzte sich beim Kurfürsten damals für den verdienten Lotther ein l8 . Für die Fastenpostille blieb nichts anderes übrig, als den geraubten Text in korrigierter Fassung zur Vorlage zu nehmen. Die noch ausstehenden Predigten lieferte Luther nunmehr zügig, so daß das Werk noch im Herbst 1525 herauskam. In seiner »Vorrede und Vermahnung an die Drucker«19 prangerte Luther erneut den Diebstahl des Manuskripts an. Außerdem beschwerte er sich über die häufig schlampige Druckgestaltung seiner Schriften aus lauter Profitmacherei. Den illegalen Druck erkannte er nicht an, »denn im Corrigieren muß ich oft selbst ändern, was ich in meiner Handschrift habe übersehen und unrecht gemacht, daß auf meiner Handschrift Exemplar nicht zu trauen ist«. Man erhält hier einen Einblick in die Entstehung von Luthers Druckschriften überhaupt. Anders als in der Wartburgpostille wollte Luther nicht ständig von Glauben, Liebe, Kreuz, Leiden und Hoffnung, also den Elementen christlichen Lebens, handeln, sondern anzeigen, »wie alle göttliche Lehre nichts denn Jesus Christus innehält«. Von dieser christologischen Konzentration ist auch in einer Predigt des Jahres 1526 programmatisch die Rede 2o • Es ist jedoch nicht zu erkennen, daß sich Luthers Predigtweise grundsätzlich geändert hat. Für eine vollständige Postille fehlte noch der ganze Sommerteil von Ostern bis zum Ende des Kirchenjahres. Es war nicht abzusehen, ob und wann Luther dazu kommen würde. Die Lücke zu schließen, unternahm 1526 Stephan Roth, der ehemalige Rektor und spätere Stadtschreiber in Zwickau, der sich bis 1527 in Wittenberg aufhiele1 . Er konnte dabei auf die zahlreichen einzelnen oder in Gruppen gedruckten Predigten Luthers aus den vergangenen Jahren und notfalls auch auf eigene Nachschriften oder solche Georg Rörers zurückgreifen. In seinem Vorwort gab Luther zu erkennen, daß er selbst die Fortsetzung der Postille nicht mehr für so

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dringend hielt wie zuvor, da inzwischen das Evangelium reichlich ans Licht gekommen war, aber den Wunsch anderer nach einer weiteren Sammlung seiner Predigten respektierte. Die gute Aufnahme der Sommerpostille veranlaßte Roth, 1527 eine Festpostille mit Predigten über die Fest- und Heiligentage herauszubringen 22 • Wo ihm keine Predigten Luthers vorlagen, behalf er sich mit anderen Texten, darunter auch solchen von Melanchthon, oder er druckte nur den Bibeltext mit den Summarien Bugenhagens ab. Luther ließ sich das Unternehmen mit gewisser Zurückhaltung gefallen, zumal durch die Evangelienpredigten an den Heiligentagen die Legenden verdrängt werden konnten. Daß Roth mit den Texten sehr frei umgegangen war, wußte er offensichtlich nicht. Dieser hatte weitere Pläne, denn offensichtlich war mit der Herausgabe der Postillen etwas zu verdienen, und Roth scheute sich nicht einmal, dasselbe Werk zwei Druckern gleichzeitig anzubieten. 1528 brachte er eine weitere Winterpostille heraus 23 , obwohl dafür Luthers dreiteilige eigene Ausgabe vorhanden war. Luther ließ sich noch einmal zu einem, wenn auch ziemlich gleichgültigen Vorwort bewegen, hatte aber nunmehr erhebliche Vorbehalte. In Wittenberg wurde die mangelnde Sorgfalt Roths kritisiert. Georg Rörer riet ihm dringend von weiteren Ausgaben unkritisch zusammengeraffter Lutherschriften ab. Das Predigen fiel Luther durchaus nicht immer leicht und war auch nicht ohne weiteres erfolgreich. Die Wittenberger nahmen den Regen des von Gott reichlich ausgeschütteten Evangeliums keineswegs so bereitwillig auf, wie es angemessen gewesen wäre 24 • Während des Bauernkriegs mußte sich Luther klarmachen, daß es dem Prediger nicht um das Lob von den Zuhörern gehen durfte, sondern daß er Gottes Wort auszurichten hatte 25 • Bei unbequemen Entscheidungen, z.B. in einer Ehesache, waren Prediger und Pfarrer schmähender Kritik ausgesetzt und hatten das zu tragen. Ehrsucht hingegen war neben dem Geiz das übelste Laster eines Amtsträgers. Er hatte darauf zu achten, daß sein Lebenswandel untadelig und seine Lehre einwandfrei waren 26 • Die Wirkung der Verkündigung war unverfügbar. Trotz der vielen Predigten »von dem großen hellen Licht« war die Klage allgemein, »daß niemand darnach tut, sondern die Leute so roh, kalt und faul werden, daß es Schand ist, und viel weniger tun denn zuvor ... «. Gott mußte es geben, daß das Wort nicht allein »im Schwätzen« blieb, sondern in die Herzen drang 27 • Wenn von dem Glauben allein auf Gottes Barmherzigkeit gepredigt wurde, konnte sich immer noch der altgläubige Widerspruch regen: »Meinst du, daß unsere Väter Narren sein gewest. «28 Umgekehrt führte die evangelische Predigt zu einer sittlichen Lockerung selbst unter den Beamten 29 • Bezeichnende Schwierigkeiten gab es mit der Feiertagsheiligung. Nachdem der Gottesdienstbesuch nicht mehr verdienstlich war, sondern in evangelischer Freiheit dem Hören des Wortes Gottes dienen sollte, gingen die Teilnehmerzahlen zurück. Immer wieder war die Umsetzung des Christseins ins Leben das Problem 3o • Anfang 1527 berichtete Luther, der Kurfürst lasse Wittenberg durch neue Befestigungen uneinnehmbar machen, aber in ihrem Verhältnis zum Evangelium sei die Stadt kühl und nahezu satt 31 • Bei diesen Äußerungen handelte es sich auf die Dauer um mehr als die übliche Frustration, die sich einem Pfarrer aufdrängen kann. Der eigensüchtige Mißbrauch 280

der christlichen Freiheit rief bei Luther eine echte Enttäuschung hervor. »Ich mag solcher Säue nicht ein Hirt sein«, ließ er am 28. Februar 1529 seine Wittenberger wissen. Er wollte sie wie früher wieder an den Bischof von Brandenburg und seinen Offizial weisen 32 • Im November hatte er dann wirklich genug. Trotz endloser Ermahnungen und Belehrungen ließ sich das Volk von seiner Gottlosigkeit nicht abbringen und zur Buße bewegen, sondern sündigte immer mehr, gleichsam Luther »zum Trotz«. »Es verdrießt mich euch mehr zu predigen.« Er wollte die Gemeinde ihrer verdienten Strafe für ihre Sünden überlassen, und die war mit den Türken, dem zornigen Kaiser, drohender Krankheit und Hungersnot vor der Tür 33 • Am 1. Januar 1530 teilte er seinen Zuhörern mit, er wolle wegen ihrer Undankbarkeit und ihres Ungehorsams mit dem Predigen aussetzen. Nur am 23. und 30. Januar sprang er für den bei der Visitation abwesenden Bugenhagen ein 34 • Dann pausierte er bis zum 20. März und predigte vor der Abreise auf die Coburg schließlich noch einmal am 3. April. Auf das Gerücht hin, Luther habe mit dem Predigen aufgehört, hatte ihn der Kurfürst bereits am 18. Januar eindringlich aufgefordert, wenigstens die Sonntagspredigt wieder zu übernehmen. Er bot seine landesherrliche Unterstützung zur Abhilfe des »ungeschickten Wesens« in Wittenberg an. Luther war als Prediger unersetzbar, sein Predigtstreik konnte nur die Feinde freuen und zu unbeabsichtigten Weiterungen führen 35 • Von Ausnahmen abgesehen, willfahrte Luther jedoch einstweilen auch dem Landesherrn nicht. Vielmehr erklärte er am 20. März 1530 erneut, er sei durch die Gottlosigkeit der Wittenberger erschöpft. Wegen der Wirkungslosigkeit seiner Verkündigung wollte er nicht mehr predigen. Noch Monate später beharrte Luther öffentlich auf dieser Absicht 36 • Immerhin hoffte Melanchthon Ende Februar, Luther werde das Predigtamt nicht ganz aufgeben 37 • Die in ihrer Art außerordentliche Predigtverweigerung signalisierte unübersehbar, daß Luther selbst in Wittenberg in einem über Jahre sich hinziehenden Prozeß mit seiner evangelischen Verkündigung an einen kritischen Punkt gekommen war. Seine monatelange Abwesenheit auf der Coburg bedeutete in dieser Situation zunächst ein Moratorium.

Die Schwierigkeiten in Wittenberg Es waren verschiedene, immer wiederkehrende Probleme, an denen es sich zeigte, daß kein Fortschritt im christlichen Leben, eher oft das Gegenteil, in Wittenberg stattfand. Am meisten erfährt man darüber aus einer Nürnberger Nachschrift der Predigten von 1528 bis 1530, die anders als Rörer auch die abschließenden Ermahnungen und Gebetsaufrufe festgehalten hat. Das läßt übrigens darauf schließen, daß unsere Kenntnisse von Luthers Umgang mit seiner Gemeinde nur bruchstückhaft sind. Die bittere Klage über den mangelnden Unterhalt der Prediger durch die Gemeinden brachte Luther auch auf der Kanzel vor. Wo die guten Prediger nicht ernährt wurden, war das ein Zeichen, daß an einem solchen Ort auch keine Christen waren 38 • Luther wollte nicht einsehen, daß man auch in Wittenberg die üblichen vier Pfennige im Jahr für den Unterhalt der Geistlichen nicht geben wollte, nach281

dem früher die sinnlosen Aufwendungen für die Kirche viel höher gewesen waren. »Ich weiß nicht eine Stadt, die ich christlich will schelten, d. h. die Pfarrer und Prediger ernähre.« Faktisch wurden die Pfarrer nämlich aus den früheren Stiftungen bezahlt. Die evangelische Gemeinde trug dazu kaum etwas bei. Die Alternative Gott oder der Mammon stellte sich hier recht drastisch 39 • Ein Abschnitt aus einer Predigt vom November 1528 spricht für sich 40 : »Man wird diese Woche das Opfergeld erfordern. Ich höre, daß man den Fordernden nichts geben will und weist sie ab. Gott sei gedankt, ihr Undankbaren, die ihr wegen eines solchen Geldbetrags so geizig seid und nichts gebt, sondern mit bösen Worten den Kirchendienern zusetzt. Ich wollte, daß ihr das gute Jahr hättet! Ich bin's erschrocken und weiß nicht, ob ich mehr predigen will, ihr groben Rülze (Bengel).« Luther warf den Wittenbergern vor, bei ihnen gebe es keine guten Werke. Dann machte er ihnen erneut die Bestimmung des Opfers klar. Es diente für die Pfarrer, die sich für die Gemeinde einsetzten, für die Schulmeister, die die Kinder erzogen, und für die Armen, zu deren Ernährung man verpflichtet war. Die Gemeinde identifizierte sich jedoch nicht mit diesen Aufgaben. Luther bat nicht für sich: »Ich bin meines gnädigen Herrn (des Kurfürsten) Bettler, besitze keinen Fußbreit Boden und hinterlasse meiner Frau und meinen Kindern keinen sicheren Pfennig; trotzdem genieße ich das Notwendige mit größerer Freude als ihr Reichen und Wohlhabenden. Euch zu Schanden will ich bei meiner Parteken (Almosen) besser leben denn ihr reichen Händler und Handwerker. Ich habe nämlich mehr als ihr. Wiewohl ihr mir schier die Bissen in den Hals zählet, dazu ihr mir doch nichts gebet ... Ihr ganz undankbaren Bestien, unwürdig des Evangeliums, wenn ihr nicht Buße tut, werde ich aufhören euch zu predigen ... « Die Frommen hingegen, die es also auch gab, wurden aufgefordert, freigebig zu spenden. Der Erfolg dieser drastischen Mahnung scheint begrenzt gewesen zu sein. Im nächsten Quartal mußte Luther wegen der Verweigerung des Opfergeldes bereits wieder mahnen 41 • Die gleichen Schwierigkeiten gab es mit der Liebestätigkeit. »Überall stellen sie sich besser an als hier«, heißt es schon 1524 42 • Im März 1525 vermerkte Rörer: »Sehr mahnte er den Armen zu geben.« Der reichen Erkenntnis des Evangeliums mußte die Tat entsprechen 43 • Gottes Barmherzigkeit konnte nicht erfahren werden, wenn sie nicht zu entsprechendem Verhalten bewegte. Nur zu bereitwillig galt die Liebestätigkeit als Angelegenheit des Gemeinen Kastens. Dieser war aber nicht so reich wie behauptet wurde, sondern auf die Spenden der Gemeinde angewiesen 44 • Schon 1526 hatte sich Luther mit dem Rat und dem Pfarrer Bugenhagen beim Kurfürsten für den Umbau des Franziskanerklosters in ein Spital eingesetzt. Besser konnte man das Kloster mit der kurfürstlichen Grablege nicht verwenden als für die Armen, in denen man Christus selbst diente 45 . Die Liebestätigkeit sollte sich nach wie vor auf die städtischen Armen konzentrieren. 1528 veröffentlichte Luther darum unter dem Titel »Von der falschen Bettler Büberei« ein sozialgeschichtlich recht interessantes Büchlein, das über die unterschiedlichen Landfahrer , ihre betrügerischen Praktiken und ihre Sprache informierte 46 • Probleme gab es schließlich mit der Durchsetzung der kirchlichen Sitte und der Sittlichkeit. Auch Luther war klar, daß die Gemeinde ohne Sittenzucht nicht aus282

kam, sonst wurde sie schon nach außen unglaubwürdig. Daß manche in Sünde fielen, mußte man tragen, wenn nur »der Haufe« recht tat und gegen die Sünde einschritt. Dann galt, »eine gestrafte Sünde ist wie keine Sünde«47. 1526 gab es in Wittenberg noch keine institutionalisierte Sittenzucht; sie war zunächst Sache der Geistlichen, während sie nach der Visitation durch die Amtleute wahrgenommen werden sollte 48. Immer wieder mußten die Hausväter mit ihren Familien zum Abendmahlsbesuch und zur vorherigen Beichte am Samstagnachmittag angehalten werden. Es gab Leute, die bis zu 7 Jahren nicht zur Beichte gegangen waren. Das war eine Praktizierung der neuen Freiheit, die diese Menschen um den Trost des Evangeliums brachte. Während der Festzeiten mußte darauf gesehen werden, daß sich die Teilnahme an der Kommunion auf mehrere Gottesdienste verteilte 49 • Die Ehen sollten im Glauben und mit Gottes Wort begonnen werden. Das war der Sinn der Trauung. Die Hochzeitsgäste hatten sich rechtzeitig am Morgen in der Kirche einzustellen, sonst wollte Luther sie nicht trauen. Es bedurfte der besonderen Erinnerung, daß dem bei der Trauung mitwirkenden Schulmeister etwas von der Hochzeitssuppe abgegeben wurde. Luther bejahte das Feiern, sofern Essen und Trinken nicht »säuisch« und die Tänze nicht unzüchtig wurden. Er hatte auch nichts gegen Schmuck und Brautkleid, nur sollte es nicht geschlitzt sein. Die Frauenmode sollte züchtig sein. Für die Kirche waren andere Kleider angemessen als zum Tanz. Auch sollten die Frauen nicht täglich wie an Ostern daherkommen 50. Die öffentliche Unzucht war in Wittenberg verboten worden. Aber Luther mußte die Obrigkeit darauf aufmerksam machen, daß sie wieder einzureißen drohte 5!. Soviel sich erkennen läßt, handelte es sich dabei um kein besonders virulentes Problem. Allerdings wäre den Predigern ihre Aufgabe erleichtert worden, wenn die Obrigkeit die Sittenzucht konsequenter ausgeübt hätte 52 . Gotteslästerer , zu denen auch die Vertreter abweichender Glaubensauffassungen gerechnet werden konnten, wurden in Wittenberg verhört. Konnten sie ihre Anschauungen nicht beweisen, wurde ihnen von der Obrigkeit Schweigen auferlegt 53 . Luther teilte die Vorstellung seiner Zeit über Zauberei und Hexen. Frauen schienen ihm wie Eva für den Aberglauben anfälliger zu sein als Männer. Zauberinnen sollten wegen des Schadens, den sie anrichteten, hingerichtet werden. Sie stahlen Milch und Butter, besprachen die Kühe, verhexten Kinder, erregten mit ihren Gifttränken Haß und Liebe, verwüsteten Haus und Äcker, machten Leute krank und hatten einen teuflischen Blick. Davon war allerdings die Naturheilkunde zu unterscheiden, sofern sie nicht mit Zaubersprüchen kombiniert war 54 . 1529 warnte er vor den vielen Wettermacherinnen, die die Milch stahlen und die Leute verletzten. Wenn sie nicht davon abließen, sollten sie den Folterknechten übergeben werden. Zugleich wollte Luther ihnen mit dem Gebet entgegentreten. Er hatte sich schon gegen schwerere Angriffe des Teufels zur Wehr gesetzt. Dessen Macht war begrenzt. Man sollte freilich nicht jedes Unglück den Zauberern zuschreiben, es konnte auch Schickung Gottes sein. Zauberei war im Spiel, wenn aus den Wunden Kohlen, Haare, Waffen usw. kamen, wie Luther es selbst bei der Gräfin von Mansfeld gesehen haben will. Da die zwei Zauberinnen, um die es sich damals handelte,

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nicht Buße taten, wandte Luther gegen sie erstmals in Wittenberg wieder den Bann an. Ob ihnen danach der Prozeß gemacht und sie hingerichtet wurden, läßt sich aus den Quellen nicht mehr belegen 55 • Die Warnung vor kaltem Baden, vor allem in der EIbe, wobei jedes Jahr einige ertranken, begründete Luther damit, daß der Teufel in Wald, Hain, Wasser und überall den Menschen nachstelle. Keinesfalls sollte allein gebadet werden. Man konnte sich auch zu Hause waschen 56 • Die Schamlosigkeit, daß jemand in aller Öffentlichkeit auf die Gasse schiß und den vorbeikommenden Luther, der ihm das verwies, auch noch schalt, wurde auf der Kanzel angeprangert. Ebenso wandte sich Luther gegen das verbotene Tragen von Waffen und die damit verbundene Selbstjustiz 57 • Manchmal waren von der Kanzel auch kurfürstliche Anordnungen zu verkünden, z. B. eine neue Münzordnung, die wegen der Wertverschlechterung des Geldes gar nicht beliebt gewesen zu sein scheint. Ein anderes Mandat gebot das Gebet angesichts der Türkengefahr 58 • An die Predigt schloß sich das allgemeine Fürbittengebet an. Die Fürbitte galt immer wieder den Pfarrern und Predigern und richtete sich gegen die Führer der Sekten und die Tyrannen, die gegen das Evangelium wüteten. » Wir müssen ihnen mit einem Vater unser einen guten Puff geben, daß sie fallen, dahin sie gehören.« Gott solle der Verblendung der Papisten ein Ende machen und die Türkengefahr abwenden. Selbstverständlich wurden der Magistrat, der wegen des Evangeliums bedrängte Kurfürst und der auf gute Ratgeber angewiesene Kaiser in das Gebet eingeschlossen. Der Heilige Geist solle die Beförderung der Einheit des Evangeliums auf dem Speyrer Reichstag 1529 bewirken. Die Gemeinde kam dem Kurfürsten mit ihrem Gebet zu Hilfe. Auch der Familien und Kranken wurde gedacht und ihre Last mitgetragen. Wichtig war außerdem die Beständigkeit im Glauben. Das Gebet war die Waffe der Gemeinde gegen alle Feinde und Widrigkeiten, hinter denen zuletzt immer der Teufel stand, und sie war zu ihrer Anwendung verpflichtet 59 • Ein Beweis für die Wirksamkeit des Gebets war die glückliche Rückkehr Bugenhagens im Juni 1529 nach erfolgreicher Bemühung um die Förderung des Evangeliums in Hamburg 60 • In den Gebetsaufrufen wurde die Gefährdung der Reformation, aber ebenso ihre innere Zuversicht eindrücklich artikuliert. Die Schaffung einer neuen Gebetssitte über den Gottesdienst hinaus scheint nicht ganz einfach gewesen zu sein. Mehrfach findet sich in den Predigten des Sonntags Rogate die Klage über den Rückgang des Gebets, nachdem die alten Formen nicht mehr zur Verfügung standen 61 . An Luthers Wirksamkeit als Prediger in Wittenberg und in seinem Verhältnis zu dieser Gemeinde wurde im Laufe der Jahre allgemein ein großes Problem der Reformation sichtbar, das nicht nur in Wittenberg bestand. Ähnliche Schwierigkeiten machten sich seit 1527 in Zwickau bemerkbar 62 • Die evangelische Predigt zeitigte nicht die erwarteten Früchte. Das hatte schon sehr früh auf seine Weise Müntzer empfunden und darum die Ausrottung der Gottlosigkeit zu seinem Programm gemacht. Andere, wie der schlesische Edelmann Kaspar von Schwenckfeld, flüchteten sich wenig später in den Konventikel der wahren Christen oder resignierten wie der aus Donauwörth stammende Sebastian Franck aufgrund seiner Erfahrungen in

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Brandenburg-Ansbach in einer individualistischen Frömmigkeit. Die Täufer suchten die wahre christliche Gemeinde in der Freikirche zu verwirklichen. Die offenkundigen Schwierigkeiten, die Luther mit seiner Botschaft in den Gemeinden begegneten, fordern' zu grundsätzlichen Überlegungen heraus. An der Qualität der Verkündigung kann es nicht gelegen haben. Inhaltlich und formal beeindruckt sie bis heute und ist kaum einmal überboten worden. Ihre Weisungen waren auch damals zweifellos konkret und verständlich. Strittig scheint für Luther weniger die übliche Sittlichkeit im allgemeinen Sinne gewesen zu sein. Fluchen, übermäßiges Trinken, Eigentumsdelikte und sexuelle Vergehen gab es zwar auch in Wittenberg, aber Luther nahm mehr an dem ausbleibenden Engagement für den Unterhalt der Prediger und für die Liebestätigkeit Anstoß. Dabei fällt auf, daß eine für das Evangelium sich entschieden einsetzende Gruppe in der Gemeinde nicht greifbar wird. Die evangelischen Geistlichen, die untereinander offensichtlich ein gutes Verhältnis hatten, scheinen mit ihrer Tätigkeit in einer gewissen Distanz gegenüber der passiv rezipierenden Gemeinde verblieben zu sein. Den Kreis derer, die »mit Ernst Christen sein wollten«, gab es in der Tat nicht. Eine Intensivierung der belehrenden Gesetzespredigt, wie sie unter Luthers Zustimmung Melanchthon mit der Visitation intendierte, konnte an dieser Konstellation nichts ändern. Luther selbst setzte seine Hoffnung auf die Gewinnung der Jugend, aber es war nicht abzusehen, wie sich daraus neue Formen eines gemeindlichen Lebens entwickeln sollten. Die Möglichkeiten der evangelischen Verkündigung allein waren offensichtlich begrenzt. Die Gemeinde oder Teile von ihr hätten vom Gedanken des allgemeinen Priestertums her über die Familie oder die obrigkeitlichen Institutionen hinaus noch in anderer Weise an der christlichen Verantwortung beteiligt werden müssen, doch gab es dies selbst in Ansätzen nicht. Insofern als Luthers Neuordnung hier keine neuen Möglichkeiten eröffnete, waren die auftretenden Schwierigkeiten von ihr mitverursacht und konnten von ihr auch nicht überwunden werden.

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VIII. Der Streit um das Abendmahl und die Taufe (1525-1529)

Die Auseinandersetzungen um die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl im evangelischen Lager waren für Luther an sich nichts Neues. Die Kindertaufe war seit 1522 von den Zwickauer Propheten und dann auch von Karlstadt in Frage gestellt worden 1. 1524/1525 hatte sich das Täuferturn zunächst in Zürich als eigene Bewegung herausgebildet. Etwa seit 1527 war dann auch Luther in stärkerem Maße mit den Täufern konfrontiert. Insgesamt handelte es sich dabei jedoch um einen begrenzten Konflikt, da die Täufer zu jeder Zeit nur eine kleine Minderheit waren. Der Streit um das Abendmahl hingegen blieb nicht auf die bisherige Auseinandersetzung mit Karlstadt beschränkt 2 , sondern ergriff weite Teile der reformatorischen Bewegung. Vor allem einige oberdeutsche Städte wurden zu Zentren des Konflikts und drohten sich von der lutherischen Reformation abzuwenden. Sofern man von der Auseinandersetzung mit den Altgläubigen absieht, zog sich schon die erste, bis etwa 1529 dauernde Phase des Streites länger hin als jeder andere Konflikt, den Luther zu bestehen hatte. Faktisch blieb er bis an sein Lebensende damit befaßt. Die Einheit des Protestantismus zerbrach über diesem Problem und ließ sich nicht wiederherstellen.

1. Neue Herausforderungen (1525) Nachdem Luther Anfang 1525 im zweiten Teil der Schrift »Wider die himmlischen Propheten« seine Auffassung vom Abendmahl fixiert hatte, verhielt er sich in den folgenden bei den Jahren eher reagierend. Der Abendmahlsstreit wurde vorerst nicht von ihm, sondern durch die Agitation der Gegenseite forciert. In den Predigten von 1525 berührte er gelegentlich das Thema und wandte sich gegen die »neuen Propheten« und ihre Verachtung des äußeren Zeichens 1. Wie er früher Karlstadt im Bunde mit Müntzer gesehen hatte, so rückte er schon mit dieser Bezeichnung die weiteren Gegner im Abendmahlsstreit eng an Karlstadt heran, und das mußte die Auseinandersetzung zusätzlich belasten. Schon im August 1524 war Luther von Franz Kolb in Wertheim darüber informiert worden, daß auch Huldrych Zwingli in Zürich die Einsetzungsworte symbolisch deutete. Das karlstadtische Übel griff also um sich 2 • In dieser Sicht der Dinge wurde Luther Ende März 1525 durch seinen Straßburger Gewährsmann Nikolaus Gerbel bestärkt 3 • Dort hatte man Luthers Abrechnung mit Karlstadt sehr ungehalten aufgenommen. Zwingli und Johannes Oekolampad in Basel teilten Karlstadts Ansicht. Gerbelließ Luther auch Zwinglis Brief an den Reutlinger Prediger Mat-

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thäus Alber vom November 1524 zukommen, der dann im März 1525 gedruckt erschien 4• In diesem Brief hatte Zwingli erstmals seine neue Auffassung vom Abendmahl dargelegt. Damit waren bereits die wichtigsten der zukünftigen Kontrahenten in Luthers Gesichtskreis getreten. Unter ihnen war Zwingli auf die Dauer zweifellos die Hauptfigur 5 . Zwingli wurde in Wildhaus im schweizerischen Toggenburg am 1. J anuar 1484 geboren und war somit fast so alt wie Luther (Tafel XII). Seit etwa 1516 war er vom erasmischen Bibelhumanismus erfaßt worden. 1519 wurde er auf die Leutpriesterstelle am Großmünster in Zürich berufen. Seine Entwicklung zum Reformator verlief kompliziert und blieb in ihrer Deutung bis heute umstritten 6 . Der überzeugte Anhänger des Erasmus wurde von Ende 1518 an bis 1520 mit fast allen Veröffentlichungen Luthers bekannt. Besonders beeindruckten ihn die Dokumente zur Leipziger Disputation von 1518. Sie dürften ihn tiefer geprägt haben als ihm selbst bewußt wurde. Luther bestärkte Zwingli nicht nur in seiner kritischen Haltung gegenüber dem Papsttum und den kirchlichen Mißständen, sondern beeinflußte wohl auch die 1519/1520 erfolgte Existenzwende, die ihn über das erasmische Nachfolgechristentum hinaus zum Rechtfertigungsglauben führte, ohne daß er sofort die Konsequenzen erkannte. Nicht von ungefähr machte jedoch auch Zwingli den 1522 einsetzenden Bruch der Reformatoren mit Erasmus mit. Zwingli begann mit den ersten reformatorischen Maßnahmen, die dann zum Konflikt mit dem Bischof von Konstanz führten, im Frühjahr 1522, also zu dem Zeitpunkt, als Luther nach seiner Rückkehr von der Wartburg die Wittenberger Neuerungen stoppte. Von da an verliefen die Zürcher und die Wittenberger Reformation disparat. Auf einer großen, von der Zürcher Obrigkeit ausgeschriebenen Disputation, die in manchem an das Leipziger Vorbild erinnert, erreichte Zwingli im Januar 1523 die Anerkennung der schriftgemäßen Predigt. 1523 hatte Zwingli noch seine Übereinstimmung mit Luthers Abendmahlslehre betont, obwohl er wie viele Humanisten mit dem Sakrament als äußerem Gnadenmittel wenig anfangen konnte, da für ihn die Gottesbeziehung nur geistlicher Art sein konnte. Während Luther 1523 die symbolische Deutung der Einsetzungsworte des Niederländers Hoen klar abgelehnt hatte, wurde sie für Zwingli 1524 zur wesentlichen Verstehenshilfe, die ihm ermöglichte, seine Auffassung vom Abendmahl als Dank- und Bekenntnisakt zu artikulieren 7 . Der teilweisen Gemeinsamkeiten mit Karlstadt und damit zugleich der Differenz zu Luther war sich Zwingli alsbald bewußt, auch wenn er sie zunächst weder im Brief an Alber noch in dem im März 1525 erschienenen »Commentarius de vera et falsa religione« direkt aussprach. Der aus Weinsberg bei Heilbronn stammende Johannes Oekolampad (1482-1531) übertraf Zwingli als gelehrter Theologe, der vor allem mit den Kirchenvätern vertraut war. Der Zürcher verdankte ihm wohl auch einige Anregungen in der Abendmahlslehre. 1519 hatte sich Oekolampad nach der Leipziger Disputation als einer der ersten öffentlich zu Luther bekannt. Nach einigen Umwegen wurde er 1523 Theologieprofessor und Prediger an der Kirche St. Martin in Basel. 1524 suchte Karlstadt auch ihn auf. Wie Zwingli alsbald gegenüber Alber und anderen gezielt für seine Abendmahlslehre warb, so verband auch Oekolampad im Som287

IOANNES OECOLAMPADIVS Bafilicnfis Ecclefiz Patlor.

!2.!!em ,olu;t BafiJearaerorum elar~ milJiflrum: sim UMPAS Domin;,quod vocor,opto,DOM.YS. M.D.XXXI.

Johannes Oekolampad (1482-1531) Holzschnitt von Tobias Stimmer

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mer 1525 seine Auseinandersetzung mit den Altgläubigen in Basel mit dem Versuch, seine ehemaligen Heidelberger Schüler und Freunde, die als Pfarrer und Prediger zwischen Heilbronn und Schwäbisch Hall wirkten, für sich zu gewinnen 8 • Damit wurde vor allem die südwestdeutsche Reformation zum Kampffeld zwischen Wittenberg und Zürich. Seit 1523 waren Martin Bucer (1491-1551) und Wolfgang Capito (1478-1541) die führenden Straßburger Theologen. Von den beiden war Bucer die stärkere Persönlichkeit. Beide waren zunächst durch den Humanismus geprägt worden, hatten jedoch bereits 1518 Anschluß an Luther gefunden. Während Capitos Tätigkeit als Rat Erzbischof Albrechts von Mainz hatte es im Verhältnis zu Luther einige Komplikationen gegeben 9 . Im Herbst 1524 hatte sowohl Zwinglis neue Abendmahlslehre als auch Karlstadts Auftreten die Straßburger beeindruckt und verunsichert. Obwohl sie zunächst eher zu Zwingli hinneigten, hatten sie bezeichnenderweise im Dezember 1524 auch eine Stellungnahme Luthers erbeten lO • Dieses Bedürfnis nach Vermittlung meldete sich auch in der Folgezeit immer wieder und bildete schließlich den eigentümlichen Beitrag Straßburgs zum Abendmahlsstreit. Die Gemeinsamkeit von Zwingli, Oekolampad, Bucer und Capito bestand - bei durchaus vorhandener unterschiedlicher Tönung - in ihrem humanistischen Hintergrund, von dem aus sie zur Reformation gekommen waren. Der humanistische Spiritualismus hatte schon ihre Kritik an der katholischen Kirche begünstigt. Von denselben Voraussetzungen aus konnte sich auch eine Umdeutung der bisher als Gnadenmittel geltenden Sakramente nahelegen, sofern der Glaube der Humanisten sich nicht so dringend wie Luther auf sie angewiesen empfand. Im Juli 1525 erfuhr man vermutlich durch eine Anfrage Kaspars von Schwenckfeld in Wittenberg, daß in Schlesien neben Karlstadt auch Zwingli mit seiner Abendmahlsauffassung Resonanz fand. Luther warnte deshalb Johann Heß in Breslau und wenig später auch Johann Brießmann in Königsberg, denn zwischen Schlesien und Ostpreußen bestanden Verbindungen 11. Gleichzeitig verfaßte Bugenhagen einen »Sendbrief wider den neuen Irrtum bei dem Sacrament des Leibes und Blutes unseres Herrn Jesu Christi«, der kurz darauf als erste Wittenberger Veröffentlichung gegen Zwingli gedruckt wurde 12. Bugenhagen lehnte die Interpretation des »ist« der Einsetzungsworte als »bedeutet« ebenso ab wie die spiritualisierende Erklärung des Abendmahls aufgrund von Joh 6. Aus 1. Kor 10 und 11 ging für ihn eindeutig hervor, daß im Abendmahl Leib und Blut Christi ausgeteilt wurden. Auch Luther hielt im September in der Fastenpostille die symbolische Deutung für unzulässig. An der Gegenwart von Leib und Blut Christi gab es nichts zu deuteln, wiewohl das Abendmahl eine geistliche Speise ist l3 . Mit seinem direkten und fröhlichen Christusglauben hatte Zwingli auch Gottschalk Cruse in Celle beeindruckt. Luther wies ihn scharfsichtig darauf hin, daß Zwingli die tiefere Erfahrung abgehe, denn er wisse nichts vom schwachen und angefochtenen Glauben. Im übrigen wunderte sich Luther, daß die Schweizer sich zwar von Karlstadt distanzierten, aber dennoch zu demselben falschen Resultat kamen. Einstweilen nahm er jedoch ihre Angriffe nicht allzu schwer. Er wollte die Auseinandersetzung anderen überlassen oder lieber noch mit stillschweigender Verachtung reagieren 14. 289

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