Ausgewählte Werke: Band 4: Der »Prophet« Martin Luther
 9783666570391, 9783647570396, 9783525570395

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Nathan Söderblom

Ausgewählte Werke Band 4: Der „Prophet“ Martin Luther

Aus dem Schwedischen übersetzt und herausgegeben von Dietz Lange

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Auf dem Einband befindet sich das Wappen Nathan Söderbloms. Es zeigt im rechten oberen Feld die Dorfkirche von Trönö in Hälsingland, wo sein Vater Pfarrer war und er selbst seine Kindheit verbracht hat. Im linken unteren Feld sieht man St. Georg, den Schutzpatron des Doms von Uppsala. Söderblom wollte symbolisch auf das hinweisen, was er noch als Erzbischof seinem Vater verdankte. Das Wappen ist wohl erst mit der Verleihung des Serafimerordens an Söderblom durch Gustaf V. 1926 geschaffen worden. Dieser Orden ist unterhalb des Wappens abgebildet. Er ist der höchste Orden, den Schweden zu vergeben hat; Söderblom bekam ihn im Zusammenhang mit der ökumenischen Konferenz in Stockholm im Jahr zuvor, die er initiiert und geleitet hat.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-57039-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort Zum Abschluss dieser Auswahlausgabe von Werken Nathan Söderbloms möchte ich noch einmal allen herzlich danken, deren Hilfe dieses Projekt überhaupt erst möglich gemacht hat. Da ist zunächst Herr Pfarrer Heinz Jackelén in Uppsala zu nennen, der die sprachliche Kontrolle übernommen hat. Herr Dr. Staffan Runestam / Uppsala hat meine Söderblom-­Studien seit nunmehr elf Jahren mit Rat und Tat begleitet, angefangen vom Unterricht in Söderbloms Handschrift für die Briefausgabe über gründliche kritische Durchsicht meiner Söderblom-Biographie bis zur geduldigen Verifikation von Zitaten für diese Auswahlausgabe, soweit die betreffende Literatur in Deutschland nicht vorhanden war. Last but not least danke ich dem Verlag, insbesondere Herrn Lektor Jörg Persch und Herrn ­Christoph Spill sowie allen beteiligten Mitarbeitern für die sorgfältige Bearbeitung der Druckvorlage. Göttingen, im Herbst 2014

Dietz Lange

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Inhalt Einleitung des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Humor und Melancholie und andere Lutherstudien (1919) . . . 23 Martin Luthers universale Bedeutung (1923) . . . . . . . . . . 319 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

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Einleitung [Vorbemerkung: Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Originalausgaben. Söderblom zitiert Luthers Werke teilweise noch nach der Erlanger Ausgabe und die Briefe nach Enders. Hier wird stillschweigend auf die Weimarer Ausgabe umgestellt. Lateinische Luther-Texte werden ins Deutsche übersetzt, die deutschen in ihrer ursprünglichen Form belassen. Im Fall sprachlich gemischter Texte Luthers sind die ursprünglich lateinischen Partien hier an dem modernen Deutsch zu erkennen. Zusätze des Hg. stehen in eckigen Klammern.] Nathan Söderblom ist bekannt als einer der bedeutendsten Religionswissenschaftler des vorigen Jahrhunderts sowie als einer der Väter der ökumenischen Bewegung, der die erste große Konferenz in Stockholm 1925 organisiert und geleitet hat. Man weiß vielleicht auch noch, dass er stark von der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts beeinflusst war; Friedrich Schleiermacher, Albrecht Ritschl und Otto Pfleiderer, Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch und Auguste Sabatier waren wichtige Anreger. Dabei wird jedoch leicht übersehen, dass sein mit Abstand wichtigster Lehrer Martin Luther gewesen ist. Zwar war er kein historischer Lutherforscher im engeren Sinne, der sich wie Einar Billing in Schweden (seit 1901) oder Karl Holl in Deutschland (seit 1910) um die theologiegeschichtliche Einordnung von Luthers Denken verdient gemacht hätte. Doch besaß er eine breite Kenntnis von Luthers Schriften und war auch in der Theologiegeschichte außerordentlich bewandert. Nicht zuletzt hat er einen außerordentlich originellen Interpretationsansatz entwickelt, der auch heute noch von Interesse sein dürfte. In seinem Leben hat er nicht weniger als drei umfangreiche Monographien über Luther vorgelegt und sich darüber hinaus in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder auf ihn bezogen. Er gilt mit Recht als einer der Begründer der schwedischen Luther-Renaissance, die bereits vor der entsprechenden deutschen Bewegung begann und zu dieser eine nach wie vor bemerkenswerte Alternative darstellt.1 Man 1 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Eine andere Luther-Renaissance, in: Luthers Erben. FS J. Baur, Tübingen 2005, 245–274. Die Arbeit des schwedischen Theologen ­A nders Mogård, Förtröstans hermeneutik. Nathan Söderbloms lutheranvändning och traditionsbearbetningsproblematik, Skellefteå 2012, habe ich leider nicht einsehen können.

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kann geradezu die verschiedenen Stadien von Söderbloms geistiger Entwicklung durch ein jeweils verändertes Lutherverständnis markieren. Da ist zuerst die Jugendzeit Söderbloms zu bedenken. Sein Vater Jonas (1823–1901) war Pfarrer, welcher der Erweckungsbewegung des bedeutenden „neuevangelischen“ Laienpredigers Carl Olof Rosenius (1816–1868) anhing. Dieser vertrat ein stark angelsächsisch-methodistisch geprägtes Lutherverständnis, das durch die Vermittlung des Vaters auch auf Nathan Söderblom eingewirkt hat. Danach kommt alles auf die dem Menschen nach einem tief greifenden Bußkampf geschenkte Glaubensgewissheit an, dass ihm das im Sinne der anselmischen Satisfaktionslehre erworbene Verdienst Christi aus Gnaden angerechnet wird. Obwohl auch dann noch Zweifel den Menschen befallen können, dreht sich doch alles um die klare und eindeutige Lebenswende, im Unterschied zu Luthers täglichem Kampf gegen den „alten Adam“. Der Ton liegt ganz und gar auf dem frommen Leben des Einzelnen; Luthers Humor, sein Sinn für das Natürliche und seine Berufslehre treten demgegenüber in den Hintergrund. 2 Diese sehr gefühlsbetonte Gestalt des Christentums konnte Söderblom auf Dauer nicht befriedigen. Sie hatte ohnehin in dem kernigen, strengen, geradezu asketischen Charakter des Vaters von vornherein ein wirksames Gegengewicht. Nun wurde er im Studium rasch mit der deutschen liberalen Theologie bekannt, insbesondere mit Albrecht Ritschl. Dessen nüchterne Art dürfte ihm – zumindest auf den ersten Blick – gefallen haben. Auf jeden Fall verdankt er ihm und den großen Exegeten der Zeit, allen voran Julius Wellhausen, die Befreiung von dem schlichten Biblizismus der Erweckungsbewegung und die Einsicht, dass Gott sich nicht in der Mitteilung einer Lehre, sondern in der Person Jesu Christi offenbart. Darüber hinaus hat ihn Ritschl in neuer Weise auf Luther verwiesen, insbesondere auf dessen Berufslehre, die fortan einen wichtigen Bestandteil seiner theologischen Überzeugung ausmachen wird. Doch nun sah sich Söderblom nicht nur intellektuell genötigt, sich neu zu orientieren, sondern die moderne historische Bibelkritik stürzte ihn im Jahre 1889 auch in eine tiefe religiöse Krise. Hier bestand seine größte Anfechtung in der Befürchtung, kein ausreichendes Sündenbewusstsein zu haben. Dies erinnert natürlich an die Bußkampfvorstellung der Erweckungsbewegung, aber auch an den berühmten Satz Martin Luthers: „Keine Anfechtung [zu haben] ist die Anfechtung schlechthin.“ Ja, er geht

2 Vgl. Carl Olof Rosenius, Hwad fattas mig ännu?, in: ders., Samlade Skrifter I, Rock Island 1896, 540–548, bes. 541 f; ders., Christendomens Schibboleth, ebd., 513–522, bes. 515. 519; Ernst Lönnegren, Carl Olof Rosenius (Skrifter till 1800-talets kyrkohistoria 5), Stockholm 1913, 2–6.

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so weit, sogar seine Sehnsucht nach Erlösung als selbstisch zu empfinden. 3 Eine tiefere Verstrickung kann man sich nicht vorstellen. Was ihm da im Januar des folgenden Jahres heraus half, war ein damals berühmtes und bis 2011 immer wieder aufgelegtes Erbauungsbuch, das der schottische Arzt und spätere Pfarrer William Paton Mackay ­(1839–1885) geschrieben hatte, ein Presbyterianer, der aber starke methodistische Wurzeln hatte.4 Der Grundgedanke seines Buches ist: So notwendig das Bewusstsein der eigenen Sünde ist, so wenig führt es doch weiter, bei der ständigen Selbstreflexion zu verharren. Vielmehr müsse man den Blick von sich selbst weg auf Christus richten und sich für das göttliche Handeln durch ihn öffnen. Dieser Rat des erfahrenen Seelsorgers hat­ Söderblom überzeugt, wenngleich ihn manche ans Sektiererische grenzenden Züge in den späteren Partien des Buches auch abgestoßen haben dürften. ­Söderblom hat sich, so sehr er sich von der Enge der Erweckungsbewegung gelöst hat, doch nie von dem Typus ihrer Frömmigkeit verabschiedet, zumal auch der große liberale Philosoph und Historiker der schwedischen Klassik, Erik Gustaf Geijer, dem er viel verdankt, stets eine innige, wenn auch nicht pietistische, Herzensfrömmigkeit gepflegt hat. Deshalb hat er sich schon früh in einem langen Aufsatz sehr dezidiert gegen Ritschls pauschale Kritik an Mystik und Pietismus ausgesprochen. 5 Jede Frömmigkeit enthalte mystische Elemente im Sinne von frommer Innerlichkeit, heißt es da, und insbesondere Luthers Denken trage starke mystische Züge. Frömmigkeit habe ihren Quellort auch nicht, wie Ritschl behauptet, in der Gemeinde, sondern im Herzen des einzelnen Menschen. Auf dieser Grundlage kommt S­öderblom dann zu einer entschiedenen Ablehnung von Ritschls Bild des Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit als zweier Brennpunkte einer Ellipse: das sittliche Handeln gehe dort nicht aus dem Glauben hervor wie bei Luther, sondern werde von diesem getrennt und

3 Vgl. N. Söderblom, Dag- och anteckningsböcker 1887–1890, 15.2.1889, UB Uppsala; M. Luther, Dictata super Psalterium (1513–1516), WA 3, 424,11: „Nulla tentatio omnis tentatio.“ 4 Vgl. William Paton Mackay, Nåd och sanning. 12 betraktelser (Grace and Truth Under 12 Aspects, New York / Chicago 1872, ²1874). Ich habe die 6. schwedische, mit der 2. im Wesentlichen textidentische Aufl. von 1913 benutzt. 5 Vgl. dazu die sprechende Stelle in einem Brief an Nils Johan Göransson vom 4.3.1897: „Was mir bei ihm [Ritschl] fehlt, ist das Enthusiastische, Urchristliche, das rein individuell Religiöse in seinen spontanen, oft sonderbaren, aber doch ergreifenden Äußerungen. Alles ist geordnet. Vielleicht erlaubst du mir, was ich bei Ritschl vermisse, den wilden, ungezähmten, unreflektierten Religionstrieb zu nennen. Den gibt es im Pietismus“ (in: N. ­Söderblom, Brev – Lettres – Briefe –­ Letters, hg. v. D. Lange, Göttingen 2006, Nr. 15).

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damit der Verweltlichung ausgesetzt.6 Die gewisse Vergröberung, welche dieser Kritik anhaftet, lasse ich hier auf sich beruhen; in den wesentlichen Punkten dürfte sie das Rechte treffen. Deutlich ist jedenfalls, dass­ Söderblom nie im eigentlichen Sinne ein Schüler Ritschls gewesen ist.7 Dies ist die geistige Situation, in der ­Söderblom sich entschließt, eine erste Luther-Monographie in Angriff zu nehmen: Die Grundgedanken der lutherischen Reformation (Bd. 1: Die Entstehung der Reformation; Bd. 2: Luthers Religion).8 Das Werk spiegelt gleichermaßen den Einfluss Ritschls wie das Gefühl der inneren Befreiung nach der Überwindung der religiösen Krise. Dass sich ­Söderblom in der veränderten Lage zunächst an Luther orientieren will, wird durch die Tatsache nahe gelegt, dass in dem zentralen Interesse an dieser historischen Gestalt die – untereinander höchst divergenten – Einflüsse der lutherischen Erweckungsbewegung und Albrecht Ritschls zusammentreffen. Der beherrschende Akzent der genannten Arbeit liegt auf der christlichen Freiheit: Freiheit von jeglichem Lehrgesetz aus dem „mystischen“ Glauben heraus, der dem Wort Gottes korrespondiert, Freiheit der Schriftauslegung am Leitfaden „Was Christum treibet“ (II , 12.27.31.50. 54–59). Die Interpretation konzentriert sich vor allem auf den jungen Luther, und hier besonders auf die Freiheitsschrift. Man kann das einfach auf den Zeitgeschmack zurückführen. Das ist sicher nicht falsch. Aber man sollte daneben auch an S­ öderbloms gelöste Befindlichkeit zu dieser Zeit denken, die stimmungsmäßig noch dadurch verstärkt wurde, dass er die Freiheitsschrift 1890 mit großer Begeisterung in der Ungebundenheit einer 14-tägigen Seereise nach Amerika gelesen hat, wo er zu einer studentischen Konferenz eingeladen war.9 Er bemängelt freilich an dieser Schrift, ganz in Ritschlscher Manier, eine gewisse passive Tendenz und unzureichende Ausführungen über die „positive Arbeit für das Reich Gottes“, was Luther erst später mit der Lehre vom Beruf korrigiert habe (II , 86–99). Damit sind wir schon auf die mannigfachen Modernisierungen und zeitbedingten Missverständnisse Luthers hingewiesen, die ­Söderblom in diesem Buch unterlaufen sind. So behauptet er z. B., die klassischen ­Dogmen 6 Vgl. N. ­Söderblom, Kristendomen och den moderna tidsandan. En blick på den Ritschska teologien, in: Svensk tidskrift 2/1892 (105–111. 157–192), bes. 161 f. 167–172. 7 Vgl. dazu die briefliche Bemerkung, die den konservativen Vater beruhigen sollte, dass er kein Ritschlianer sei (Brief vom 1.3.1893, NSS familjebrev, UB Uppsala). Für eine differenzierte Darstellung vgl. meine Arbeit N. ­Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011, 83–87. 8 Vgl. N. ­Söderblom, Den lutherska reformationens grundtankar, Stockholm 1893 (Bd. 1: Den lutherska reformationens uppkomst, Bd. 2: Luthers religion). 9 Vgl. N. ­Söderblom, Första resan utomlands (1890), in: ders., Sommarminnen, hg. v. A. ­Söderblom, Stockholm 1941 (10–103), 39.

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der Zweinaturenlehre und der Trinitätslehre seien Luther fremd gewesen, er rekurriere vielmehr auf den historischen Jesus (II , 14. 17 f. 20). In der Abendmahlslehre des späteren Luther findet er scholastische und abergläubische Züge, ohne die dabei leitende theologische Intention hinreichend genau zu untersuchen (II , 11–15.50.56). Kurz: bei aller frischen und lebendigen Darstellungsweise ist ­Söderblom hier so stark wie später nie mehr von Ritschls Lutherdeutung abhängig. So ist es denn kein Wunder, dass dieses Buch ihm gerade von ihm nahe stehenden Menschen freundschaftliche, aber in der Sache recht harsche Kritik eintrug.10 Vergleicht man das Lutherbuch ­Söderbloms mit seiner selbstquälerischen Stimmung in der Krise, so ist man fast versucht, von einer Art theologischen Übermuts zu sprechen, wenn er mit Ritschl (und Schleiermacher) behauptet, dass die Rede vom Zorn und Gericht Gottes den Christen nichts angehe (II , 11). Diese Phase überwiegender Glaubensgewissheit und stimmungsmäßiger Heiterkeit wird nun am 11.3.1894 abrupt unterbrochen durch ein weiteres einschneidendes religiöses Erlebnis, das ihn nach dem Gottesdienst in Gegenwart seiner Braut traf. Es war so überwältigend, dass es ihn geradezu physisch von den Beinen riss. Im Tagebuch notiert er dazu nur einen einzigen Satz: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebr 10, 31).11 Sehr viel später wird er, versteckt in der dritten Person, inhaltlich etwas konkreter: „Er merkte plötzlich, dass Gott viel strenger ist, als wir denken. Es war niederschmetternd, auf den lebendigen Gott zu treffen.“12 Man sieht natürlich sofort, dass damit nicht nur sein eigener innerer Zustand, sondern auch die entscheidende Schwäche seines Luther-Verständnisses getroffen ist. Hans Åkerberg hat deswegen gemeint, dass jenes Erlebnis durch die Kritik an seinem Luther-Buch provoziert worden sei. Mir scheint diese Erklärung des gelehrten akademischen Religionspsychologen aber etwas lebensfremd zu sein. Das Erlebnis war viel zu elementar, als dass es durch ein Schreibtisch-Problem hätte zustande kommen können.13 Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Durchbruch von 1894 hat ­Söderbloms Verständnis von Gericht und Gnade bei Luther (und religionswissenschaftlich das Verständnis des Heiligen als sowohl 10 Vgl. die Briefe von Gottfrid Billing und Nils Johan Göransson, beide vom 14.12.1893, NS brevsamling, från svenskar, UB Uppsala. 11 N. ­Söderblom, NSS B Dag- och anteckningsböcker 1894, unpaginiert, UB Uppsala. 12 N. ­Söderblom, Från Upsala till Rock Island. En predikofärd i Nya världen, Stockholm 1924, 22. 13 Vgl. dazu ausführlicher meine Biographie N. ­Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011, 98–100.

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Furcht erregend als auch Vertrauen weckend) für alle Zukunft entscheidend vertieft. Der Deus absconditus gehört von nun an konstitutiv zum Gottesbegriff hinzu. Von hier aus erscheint das Werk von 1893 als Zeugnis eines theologischen Entwicklungsstadiums, das ­Söderblom rasch hinter sich gelassen hat. In den folgenden Jahren baut S­ öderblom seine Luther-Interpretation schrittweise weiter aus. So stellt er in seinem Buch über die Bergpredigt der radikalen Entweltlíchung bei Lew Tolstoj die Zwei-Reiche-Lehre Luthers gegenüber, deren Vorzug er in ihrer Fähigkeit sieht, durch Vermittlung des christlichen Liebesgebots religiösen Ernst mit Respekt für die weltliche Rechtsordnung zu verbinden. Freilich leide Luthers Konzeption an einer einseitig negativen Bestimmung des Staates als Instrument göttlichen Zorns. Man müsse doch, ohne das Gottesverhältnis des Menschen fälschlich mit seinem Verhältnis zur Welt zu vermengen, wie es die Schwärmer der Reformationszeit getan hatten, die positive Wirkung der Liebe als Sauerteig in der weltlichen Ordnung zur Geltung bringen.14 Damit ist der kritische Gedanke jetzt präziser gefasst als in dem Lutherbuch; er wird in dieser Form eine der wichtigsten Grundlagen für S­ öderbloms Arbeit in der ökumenischen Organisation Life und Work und die Stockholmer Konferenz von 1925 darstellen.15 Er richtet sich sowohl gegen die utopistischen Versuche des angelsächsischen Social Gospel, politische Weisungen unmittelbar aus der Bibel bzw. aus dem christlichen Glauben abzuleiten, als auch gegen die Tendenz des konservativen (besonders deutschen) Luthertums seiner Zeit, die beiden „Reiche“ so stark gegeneinander abzugrenzen, dass der politische Bereich ethisch ganz anderen Normen als das persönliche Leben des Christen, einer „Eigengesetzlichkeit“, unterworfen wird, mit der man dann im Prinzip auch den Machiavellismus rechtfertigen kann.16 Die erste literarisch greifbare Auswirkung seiner durch das zweite tiefe religiöse Erlebnis ausgelösten Einsicht in die Dialektik von Deus revelatus und Deus absconditus auf die Luther-Interpretation findet sich in­ Söderbloms Dissertation von 1901. Es handelt sich um eine Arbeit zum altpersischen Dualismus in der Religion des Zarathuschtra, die der Verfasser 14 Vgl. N. ­Söderblom, Jesu bergspredikan och vår tid, Stockholm 1898, hier zit. nach der kaum veränderten 2. Aufl. 1930, 88. 105 f. 119. 122 f. 15 Zu den entsprechenden Debatten in Stockholm vgl. meine Biographie, a. a. O. (Anm. 13), 368–375. 16 Hier ist ­Söderblom mit seinem Uppsalienser Kollegen Einar Billing, dem Begründer der schwedischen Luther-Renaissance, völlig einig, der in seinem Epoche machenden Werk Luthers lära om staten, 1901, 97. 105–107.112.138.144 (zit. nach der postumen 2. Aufl. Stockholm 1971) die Verknüpfung der beiden „Reiche“ im Gewissen und im Liebesgebot sowie Luthers Interesse an den Grenzen des Gehorsams gegen die Obrigkeit hervorgehoben hatte.

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dann zu seiner ersten großen religionsvergleichenden Studie ausgeweitet hat. Er stellt quasi monistischen Vorstellungen von einem ewigen Leben, das eine bloße Fortsetzung des irdischen ist, solche gegenüber, die auf Grund eines moralischen Dualismus Vorstellungen vom Endgericht und damit eine „echte“ Eschatologie entwickelt haben. Sie finden sich nach dem letzten Kapitel in solchen Religionen wie dem Christentum. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass es das ewige Leben bereits in der Gegenwart beginnen lässt. In diesem Zusammenhang findet sich auch ein kurzer Abschnitt über Luther. Dessen neue Einsicht bestehe darin, dass die Gemeinschaft mit Gott allein im Vertrauen auf dessen Vergebung beruhe. Diese Gewissheit sei der Sieg über die religiös als Verzweiflung erfahrene Macht des Teufels. Die Genialität Luthers bestehe darin, mit diesem religiösen Grundgedanken bruchlos das Gebot einer positiven Weltgestaltung im Beruf verbunden zu haben.17 Auf der Ebene der Lebenserfahrung hat der Erste Weltkrieg das Seine dazu getan, das Verständnis für Luthers Kreuzestheologie noch weiter zu vertiefen. Damit kommen wir zu dem großen Lutherbuch von 1919, das im vorliegenden Band erstmals auf Deutsch vorgelegt wird.18 Es ist zum größten Teil (Kap I –VI über Humor und Melancholie, sodann VII . VIII . X über Aspekte der Glaubensgewissheit als des religiösen Grundthemas Luthers) aus Vorträgen zum Reformationsjubiläum 1917 in der Stockholmer Engelbrektskirche und im Dom zu Uppsala hervorgegangen. Auch das ganz kurze letzte Kapitel (ursprünglich ein Zeitschriftenartikel) sowie ein Gemeindevortrag in Gävle über den Bauernkrieg (XI) gehören noch in diesen zeitlichen Rahmen. Eingeschoben ist ein Vortrag vom März des folgenden Jahres, der die Glaubensgewissheit selbst zum Thema erhebt (IX). Damit ergeben sich drei inhaltliche Komplexe: Humor und Melancholie, Glaubensgewissheit, Zwei-Reiche-Lehre. 1) Mit Humor und Melancholie gibt S­ öderblom zwei Momente an, die beide für Luther höchst charakteristisch sind. Darüber konnte man sich damals schon in der Biographie von Hausrath informieren.19 Neu ist aber bei ­Söderblom, beides zusammenzustellen und so in den Vordergrund zu rücken, wie es hier geschieht. Seine Absicht ist dabei nicht etwa, Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium psychologisch zu er17 Vgl. N. ­Söderblom, La vie future dans le Mazdéisme à la lumière des croyances parallèles dans les autres religions. Étude d’eschatologie comparée (AMG 9), Paris 1901, 435–438. 18 N. ­Söderblom, Humor och melankoli och andra lutherstudier (Sveriges kristliga studentrörelses skriftserie 100), Stockholm 1919. 19 Vgl. Adolf Hausrath, Luthers Leben, Berlin 1904, I 31–37; II 158–166.

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klären, und schon gar nicht, einseitig den Humor dem Evangelium und die Melancholie dem Gesetz zuzuordnen. Vielmehr handelt es sich um zwei seelische Grundeinstellungen, die beide sowohl das Gesetz und das Evangelium, das Gericht und die Gnade Gottes auf differenzierte Weise widerspiegeln. Damit ist ein grundlegendes Charakteristikum des ganzen Buches angesprochen. Es geht S­ öderblom als Religionshisto­ riker nämlich in erster Linie nicht um Luthers Lehre, sondern um seine Frömmigkeit und ihre Lebensäußerungen. Das ist durch die Titelbegriffe ebenso angezeigt wie durch die methodische Entscheidung, sich bevorzugt auf die Briefe und Tischreden zu stützen. Und das ist ein ausgesprochen innovativer Ansatz in der Luther-Interpretation. Luthers Humor repräsentiert nach S­ öderblom die innere Distanz des durch Gottes radikale Forderung getroffenen Menschen von sich selbst, auch die Ehrlichkeit gegenüber dem göttlichen Gesetz, zugleich aber die durch das Evangelium gewährte innere Freiheit und Glaubensgewissheit, eine Selbstsicherheit, die bis zur Grobheit gehen konnte, letztlich aber dennoch von Liebe getragen war. Diese Freiheit ist eine Gabe Gottes; Humor ist deshalb „ein gebrochener Strahl des Sonnenscheins, der von Luthers väterlichem Gott her leuchtet“ (49). Freilich ein gebrochener Strahl, denn am Heiligen selbst findet auch der Humor seine unerbittliche Grenze; das Gegenbild ist für Luther eine bestimmte Art von Witzen über das Heilige selbst, verbunden mit zynischem Augurenlächeln klerikaler Insider (28), für ­Söderblom offenbar eine noch schlimmere Verletzung des Heiligen als der offen blasphemische Spott eines Atheisten. Dennoch spielt Humor in der gelebten Religion eine unverzichtbare Rolle, insofern er aller zurechtgemachten Religion, aller bloß äußerlichen Religion widersteht und damit der gebührenden Hochschätzung des weltlichen Berufs gegenüber aller klösterlichen, sich künstlich der von Gott gebotenen Bewährung in der Welt entziehenden Sonderreligion 20 den Weg bereitet (60–63). Humor in diesem komplexen Sinn ist nach­ Söderblom Luthers besonderer Beitrag zur Religionsgeschichte (58–60). Auch die „Melancholie“ Luthers will ­Söderblom nicht psychologisch interpretieren. Zwar kann er als früherer Pfarrer an der psychiatrischen Klinik der Universität Uppsala sich der Frage nach einer psychopatho­ logischen Sicht nicht verschließen. Er entscheidet sie am Ende nicht, neigt aber mit guten Gründen zu einer negativen Antwort (123 f). Doch sei die Frage im Grunde irrelevant, weil selbst eine positive Antwort 20 Diese Antithese lutherischen Glaubensverständnisses und mönchischer Übungsreligion hat S­ öderblom in seiner Religionsgeschichtlichen Betrachtung der christlichen Frömmigkeitstypen in München 1923, in der ersten der drei Vorlesungen, durch die Gegenüberstellung von Luther und Ignatius von Loyola differenziert ausgearbeitet. Sie ist im 2. Band der vorliegenden Ausgabe, S. 211–254 abgedruckt.

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eine religiöse Interpretation nicht ausschließen würde (211). Melancholie, wiewohl damals terminus technicus für Depression, steht in diesem Zusammenhang für das, was Luther Anfechtung genannt hat. 21 Wie der Humor sich gegen die Äußerlichkeit in der Religion wendet, so die Anfechtung gegen die Überheblichkeit (126. 186). Sie entzündet sich sowohl an der Schuld als auch an der Erfahrung des natürlichen Übels, denn der Zorn Gottes reicht über das Gericht über die Sünde hinaus und äußert sich unbegreiflicherweise auch in der Verhängung unschuldigen Leidens (203. 210). Damit sind von vornherein die Einseitig­keiten sowohl Karl Holls, der Luthers Religion ausschließlich als Gewissensreligion sah, als auch Paul Tillichs, nach dessen Auffassung in der Neuzeit die Angst der Sinnlosigkeit die der Schuld abgelöst habe, ausgeschlossen. 22 Dabei muss auf eine Theodizee, den Versuch einer Rechtfertigung Gottes, als von vornherein aussichtslos verzichtet werden; der Gedanke wird hier nicht einmal erwähnt. An ihre Stelle tritt die vorsichtige Andeutung im Sinne Luthers, die Anfechtung könne, sozusagen sub contrario, auch als heimliches Zeichen der Erwählung begriffen werden (178 f). Sie trägt natürlich die Kraft zu ihrer Überwindung nicht in sich selbst. Doch gibt es bewährte Heilmittel wie den Humor oder die Musik, vor allem aber das Gebet und das Evangelium Gottes, das die Erlösung durch das stellvertretende Leiden Jesu Christi verkündet (149–157). Dazu gehört die Betrachtung der Anfechtung Christi selbst (128.174.177). In ihm ist auch das Leiden des gläubigen Christen aufgehoben. 2) Damit sind wir bei dem Thema der Glaubensgewissheit, das nach­ Söderblom das eigentliche Zentrum der Theologie Luthers ist. Es ist der Gegenstand des zweiten thematischen Blocks dieses Buches. Ausgangspunkt ist Luthers Auftreten auf dem Reichstag zu Worms 1521 (VII). Gewissheit stellt sich hier als die dialektische Verbindung von Demut und Mut, Freiheit und Glaubensgehorsam dar. Im folgenden Kapitel (VIII) wird sie der distanzierten Haltung des Erasmus gegenübergestellt, der sich als gepflegter, hoch gebildeter Privatier aus Konflikten tunlichst heraushielt und einem letztlich unverbindlichen Harmoniestreben huldigte. Luther dagegen war von der Radikalität seiner Gotteserfahrung zuinnerst ergriffen. Ein Ausweichen in die religiöse Oberflächlichkeit war ihm angesichts der Anfechtung durch den Deus absconditus unmöglich. Aber ­Söderblom erkennt genau an dieser Stelle bei Luther den 21 Vgl. dazu ausführlicher meine Biographie, a. a. O. (wie Anm. 13), 419. 22 Vgl. Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion? (1917), in: ders., GAufs zur Kirchengeschichte I: Luther [1921], Tübingen 61932 (1–110), bes. 20.35.47.58; Paul Tillich, Der Mut zum Sein (The Courage to Be), in: ders., GW XI, Stuttgart 1969 (13–139), 50–54.

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Umschlagspunkt in die Glaubensgewissheit: „Ich selbst wurde mehr als einmal bis in die abgründigste Tiefe der Verzweiflung angefochten, so dass ich wünschte, niemals als Mensch geschaffen worden zu sein, bis ich erkannte, wie heilsam und wie nahe der Gnade jene Verzweiflung ist.“23 Es ist diese Unausweichlichkeit des Heiligen selbst, die Luther genötigt hat, aus der so gewonnenen Freiheit heraus ständig in den Konflikten des täglichen Lebens Stellung zu beziehen. Die folgenden beiden Kapitel vertiefen die so gewonnene Einsicht weiter. ­Söderblom stellt Luthers Glaubensgewissheit zum einen der in der Religionsgeschichte verbreiteten Furcht vor der Hybris gegenüber, welche den Neid der Götter provoziere (IX). 24 Diese Furcht ist in den biblischen Religionen prinzipiell überwunden, kehrt aber in der römischkatholischen Kritik an ­Luthers Verkündigung der persönlichen Glaubensgewissheit ganz pointiert zurück, verbunden mit dem Verweis auf die wahre Kirche, also das römische Lehramt als allein legitimen Ort der Gewissheit (259). S­ öderblom versteht Luthers Position als den Sieg über jede solche institutionalistische Religion, wie sie sich in jener Kritik zu Wort meldet. Deswegen muss die Glaubensgewissheit nun auch gegen die beiden Stützen ins Spiel gebracht werden, welche die römische Frömmigkeit an Stelle der persönlichen Glaubensgewissheit anbietet: die Verdienste aus Gesetzeswerken (und sei es, dass diese als Verdienste aus Gnade bezeichnet werden) sowie die mystische Versenkung (X). Beide Frömmigkeitsformen sind Versuche, sich auf eigenen Wegen Gott zu nähern, und stehen damit im Gegensatz zu dem Glauben an die uns suchende Gnade Gottes als alleinigen Heilsgrund (323–328). Diese Einsicht in die persönliche Gewissheit als Grunderfahrung des Glaubens sei durch den Umbruch der Neuzeit nicht außer Kraft gesetzt, wie die Desavouierung des modernen Fortschrittsglaubens durch den Weltkrieg gezeigt habe (332–334). Die Christen können sich dennoch nicht auf sie als einen unverlierbaren Besitz berufen, sondern müssen sich, wie die erste von Luthers 95 Thesen hervorhebt, täglich neu der durch den Heiligen Geist bewirkten Umkehr zu Gott unterziehen (335). 3) Das XI . Kapitel über den Bauernkrieg ist interessant als deutliche Abgrenzung gegenüber der damals dominanten evangelischen LutherInterpretation in Deutschland. Entsprechend der oben bereits angedeuteten Fassung seiner Zwei-Reiche-Lehre lobt ­Söderblom Luther für 23 M. Luther, De servo arbitrio (1525), WA 18, 719,9–12; bei ­Söderblom 289. 24 ­Söderblom hat dieses Kapitel in der zweiten seiner Münchner Vorlesungen (wie Anm. 20) mit einigen Auslassungen und Hinzufügungen auf Deutsch reproduziert und durch etliche aus Rücksicht auf die überwiegend katholischen Hörer etwas abgemilderte Formulierungen modifiziert (vgl. a. a. O., 255–274). Ein Vergleich der beiden Fassungen ist reizvoll, kann aber hier nicht durchgeführt werden.

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seine anfängliche Zustimmung zu den sozialen Forderungen der Bauern und bescheinigt ihm, sich im Namen der Heiligkeit der Rechtsordnung mit beiden Parteien angelegt zu haben. Dann folgt jedoch eine scharfe Kritik der berüchtigten Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern: Zwar sei das Evangelium von politischen Parolen zu unterscheiden, dennoch müsse es politische Konsequenzen haben. Die Verdinglichung der Arbeitskraft im Interesse des Kapitals, wie ­Söderblom mit Anspielung auf Karl Marx sagt, sei christlich nicht vertretbar (355). Die Spitze gegen solche Lutheraner, die in der Härte Luthers geradezu seine Größe meinten erkennen zu können, ist offensichtlich. 25 Beigefügt ist ein Aufsatz über Martin Luthers universale Bedeutung. Ihm liegt ein Vortrag zugrunde, der zuerst 1921 zum Jubiläum des Wormser Reichstags von 1521 in Stuttgart gehalten wurde. 26 Der Titel knüpft an Gedanken an, die auch bei deutschen Autoren der Zeit zu finden sind. So sah Adolf von Harnack Luthers „universale Bedeutung“ darin, dass er die Neuzeit „für die Menschheit“ begründet habe, und Theodor Brieger gab seinem Buch über die Reformation den Untertitel „Ein Stück aus Deutschlands Weltgeschichte“. 27 Daran schloss sich Reinhard Moeller, der Vor­ sitzende des Kirchenausschusses, in seinem einleitenden Vortrag an, wenn er betonte, Luther gehöre der ganzen Welt. Doch verrät die eigentlich gar nicht hierher gehörige Bezugnahme auf den „grausamen Frieden von Versailles“ und die Ankündigung von ­Söderbloms Rede als „Brudergruß aus dem stamm- und glaubensverwandten Nordland“, dass die behauptete Universalität im Grunde als Steigerung des „deutschen Luther“ gedacht war. 28 Genau gegen solche nationalistische Vereinnahmung Luthers richtete sich ­Söderbloms Vortrag. Man darf freilich bezweifeln, ob diese entscheidende Differenz auf der Konferenz bemerkt worden ist. ­Söderblom hat den Vortrag noch ein paar Mal in erweiterter Form gehalten, so zuerst in Eisenach im August 1923 auf der Gründungskonferenz 25 Vgl. dazu Theodor Brieger, Die Reformation. Ein Stück aus Deutschlands Weltgeschichte, Berlin 1914, 210; Paul Althaus, Luthers Haltung im Bauernkrieg, LuJ 7/1925 (1–3), 64. 26 Vgl. N. ­Söderblom, Martin Luthers universale Bedeutung, in: Wormser Erinnerungsfeier Stuttgart 1921, im Anschluss an den Zweiten Deutschen Ev. Kirchentag veranstaltet vom Deutschen Ev. Kirchenausschuss, H. 2 Gedenkfeier in der Markuskirche, Freitag, den 16. Sept. 1921, Wittenberg 1921, 14–20. 27 Vgl. Adolf von Harnack, Die Reformation und ihre Voraussetzung, in: ders., Erforschtes und Erlebtes (Reden u. Aufsätze N. F. 4), Gießen 1923 (72–140), 111, und Th. Brieger, a. a. O. (wie Anm. 25). 28 Reinhard Moeller, Der Bund der Reformationskirchen. Ein Dank für Luthers Tat in Worms, a. a. O. (wie Anm. 26, 7–13), 11–13.

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des Lutherischen Weltkonventes, der Vorgängerorganisation des Luthe­ rischen Weltbundes. Dieser Text muss wohl als verschollen gelten, denn er ist auch in der neuesten, nahezu vollständigen Bibliographie nicht enthalten. 29 Er dürfte jedoch im Wesentlichen mit der hier in Übersetzung wiedergegebenen schwedischen Fassung, die er am 7. November 1923 vor der Theologischen Fakultät der Augustana Synod (schwedische Lutheraner) in Rock Island / Ill. vorgetragen hat, identisch sein. 30 Söderblom wendet sich hier zunächst gegen solche Interpretationen ­ Luthers, die ihn als Vertreter eines Mittelweges zwischen Rom und den Schwärmern oder auch zwischen Rom und dem von der Französischen Revolution repräsentierten Freidenkertum positionieren wollen. Luthers Radikalität, mit der er die Rechtfertigung allein aus Glauben vertrat, ist alles andere als eine via media in irgendeinem denkbaren Sinn. Der Schlüsselbegriff für S­ öderbloms Verständnis Luthers ist der des Propheten (105). Wie die alttestamentlichen Propheten habe Luther seine Sendung nicht als partikularistisch verstanden, so als gälte sie lediglich dem deutschen Volk oder als habe er eine neue kirchliche Organisation – eine Sekte – gründen wollen. Als Beleg führt S­ öderblom den Kleinen Katechismus an, in dem nicht einmal das Wort Kirche vorkommt, sondern lediglich von der „ganzen Christenheit auf Erden“ die Rede ist (98). Es sei ihm also stets um die eine, heilige, allgemeine („katholische“) Kirche gegangen. Insofern meint S­ öderblom, sich für sein Konzept einer „evangelischen Katholizität“ auf Luther berufen zu können: für ein Verständnis der Kirche, das die verschiedenen konfessionellen Traditionen als gleichberechtigt anerkennt, aber ihre innere Einheit im Glauben an Jesus Christus als das sie dennoch einigende Band hervorhebt, das eine Zusammenarbeit in praktischen Fragen erlaubt. 31 Dabei ist der springende Punkt, dass solcher Uni29 Vgl. Staffan Runestam, Katalog över Nathan ­Söderbloms efterlämnade papper i Uppsala universitetsbibliotek, 2010 (Internet, geöffnet 27.12.2012); außerdem Sven Ågren, Bibliografi, in: N. S­ öderblom in memoriam, hg. v. N. Karlström, Stockholm 1931, 391–458. 30 N. ­Söderblom, Martin Luthers universella betydelse, in: Från Upsala till Rock Island. En predikofärd i Nya världen, Stockholm, ²1924, 96–110. 31 Für ein genaueres Verständnis der Lehre ­Söderbloms von der Kirche und seines ökumenischen Wirkens vgl. den 2. Band dieser Ausgabe, bes. die Abschnitte IV und V. Übrigens hat er in der Version von 1923 den letzten Abschnitt der Wormser Fassung von 1921, in der von der Aufgabe einer lehrmäßigen Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken die Rede war, fortgelassen. Dies hat er sicher nicht nur unter dem Eindruck der mittlerweile eingetretenen Gewissheit getan, dass der Vatikan der Einladung zur Stockholmer Konferenz von 1925 nicht Folge leisten würde, sondern auch als Folge der inzwischen gewonnenen genaueren Klärung seiner ökumenischen Position. Vgl. M. Luthers universale Bedeutung (wie Anm. 26), 20.

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versalismus nicht das Resultat einer Nivellierung des religiösen Profils ist, sondern im Gegenteil gerade aus der intensiven Konzentration auf das religiös Wesentliche, die totale Hingabe an den richtenden und rettenden Gott, hervorgeht. ­Söderblom war sich als Historiker natürlich darüber klar, dass er mit dieser Konzeption über Luther hinausging. Das wird indirekt deutlich einmal durch die Eröffnung eines weiten Horizonts, der den Blick auf Luther folgende große Geister wie Calvin und Wesley, ja sogar auf fremde Gestaltungen wie die Bhakti-Religion in Indien lenkt, die für Luthers Glaubensverständnis empfänglich sein könnten. Zum anderen zeigt dies seine Mahnung an das Auditorium, das Erbe Luthers nicht bloß zu bewahren, sondern es für die in der Gegenwart anstehenden Aufgaben zu nutzen (109). Gleichwohl ist dieser Aspekt auch im Blick auf ­Söderbloms Verständnis des „historischen“ Luther interessant, nicht zuletzt im Vergleich mit der damaligen deutschen Forschung. Nur kurz sei noch die letzte Monographie erwähnt, die ­Söderblom über Luther geschrieben hat: ein Kommentar zum Kleinen Katechismus. 32 Es ist ein klares, solides Buch, für die Hand des Pfarrers und des Lehrers bestimmt, ohne Anspruch auf wissenschaftliche Neuentdeckungen, aber für seinen Zweck hervorragend geeignet. ­Söderblom ordnet zunächst den Katechismus in die Tradition dieser Gattung ein, stellt natürlich auch die Verbindung zur Religionsgeschichte her, um dann im Hauptteil Luthers Text zu kommentieren. Leitfaden ist der Begriff des Mysteriums der Religion, des Heiligen. Hauptpunkte sind die Darstellung des Glaubens als Vertrauen und in diesem Zusammenhang die Hervorhebung des Gebets, das die Praxis des Glaubens par excellence darstelle als Gewahren der Gegenwart Gottes. Sehr gründlich geht er auch auf das Abendmahl ein, das er als (wirksame) Symbolhandlung interpretiert, seinem reformierten Lehrer Auguste Sabatier in Paris folgend, freilich hierin Calvin näher als Luther. Kritisch beurteilt er u. a. Luthers Auslassung des Bilderverbots, doch überwiegt die Bewunderung für das geniale Konzept des Katechismus, den er mehr als Gebetbuch denn als Lehrbuch verstanden wissen will. Das ist sein Schlüssel zum Ganzen dieser Schrift.

32 N. ­Söderblom, Martin Luthers lilla katekes belyst, Stockholm 1929.

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Humor und Melancholie und andere Lutherstudien Sveriges kristliga studentrörelsens förlag Stockholm 1919

Für die Freunde Gustaf Ribbing und Ulrik Quensel1

1 Gustaf Ribbing (1859–1942) war Landgerichtsdirektor; Ulrik Quensel (­ 1863–1934) war Pathologe an der Universität Uppsala und S­ öderbloms Hausarzt.

[VII] Einleitung Sehen wir einmal von der dem Christentum eigenen Beziehung zu Christus selbst ab, so kenne ich kein weltgeschichtliches Werk, das enger mit einer Persönlichkeit verknüpft ist als die Reformation mit Martin Luther. Es ist deshalb von mehr als psychologischem Interesse, seine Person zu erforschen. In dieser Hinsicht wecken zwei seiner Eigenschaften Aufmerksamkeit vor anderen: sein Humor und seine Melancholie. Ich habe mich lange gefragt, ob sie eine Wirkung auf Luthers Religion ausgeübt haben und welchen Platz sie sonst in seinem geistlichen Leben und in seinen Anschauungen einnehmen. Die Antwort, die ich glaube gefunden zu haben, soll auf den folgenden Seiten mitgeteilt werden. Man hat sich oft vorgenommen, Luthers Leben zu schildern, insbesondere seine Entwicklung zum Reformator. Neue Funde und Ausgaben haben in den letzten Jahren den Stoff bereichert. Neue kritische Behandlung hat den Gesichtskreis erweitert. Immer noch gibt es eine Menge ungelöster Probleme, und noch zahlreicher sind die umstrittenen Fragen. Luthers Persönlichkeit gehört zu denen, die allezeit die Forschung beschäftigen und denjenigen aufs Neue fesseln werden, der ein Auge für die Welt der Religion und des höheren menschlichen Lebens hat. Keiner von den Großen der Menschheit hat ausführlicher und aufrichtiger Auskunft über sich selbst gegeben. [VIII] Noch häufiger hat man versucht, die Anschauung der Reforma­tion, unseren evangelischen Glauben, nachzuzeichnen und zusammenzufassen. Keines dieser Programme, weder Luthers Leben noch seine Lehre, passt auf die vorliegende Darstellung. Langjährige Lektüre Luthers und Betrachtung der Entwicklung der Religion, insonderheit des Christentums, hat mir Fragen gestellt, Zusammenhänge erschlossen und bestimmte Momente, Gedanken und Ereignisse in scharfes Licht gerückt. In diesen Vorlesungen schlagen wir unterschiedliche Wege ein, die sich auftun, wenn wir uns Luther und der Reformation nähern. Auf jedem dieser Wege gelangen wir zu dem Mittelpunkt, dem Kernpunkt, dem ewigen A und O Luthers und der Seele. Es erschien mir zulässig, einmal diese Methode zu wählen, statt chronologisch zu schildern oder zu systematisieren. Es ist eine Folge von Luthers Stellung als Kirchenlehrer, dass man ihn sich gerne auf eine Weise zurechtlegt, die ihn so allgemein zugänglich und so wenig anstößig wie möglich macht. Ein derartiger pädagogischer Ge– 25 –

sichtspunkt ist mir fremd gewesen. Vielleicht wird mancher Leser durch das eine oder andere verschreckt. Man ist nicht gewohnt, sich Luther so vorzustellen. Das Bild, das man sich in der Regel von ihm macht, verhält sich zu dem wirklichen Mann ungefähr so wie die gängigen Luthergemälde sich zu den Kupferstichen von Lukas Cranach dem Älteren aus dem Jahr 1521 und von Daniel Hopfer aus dem Jahr 1523 verhalten, beide im Lutherhaus in Wittenberg. Kapitel 10 gibt den Vortrag wieder, der am Reformationsjubiläum, dem 31. Oktober 1917, im Dom zu Uppsala gehalten wurde, nachdem ich an den unmittelbar vorangehenden Sonntagen [IX] wesentliche Teile dieser Lutherstudien in der Engelbrektskirche in Stockholm auf Einladung der Stiftung für Schweden und christlichen Glauben (Stiftelsen för Sverige och kristen tro) vorgelegt hatte. Von den Vorlesungen, die ich im März dieses Jahres auf Einladung der Universität Helsinki gehalten habe, fasste die eine das Hauptresultat des ersten Teiles des Buches zusammen, die andere findet sich im neunten Kapitel über die Gewissheit. Die Bedeutung von Luthers Humor und Melancholie bildete das Thema für einen Vortrag an der Åbo [Turku] Akademi. Schon im Herbst 1917 hatte ich die Ehre, dasselbe Thema in einem Kreis von Studenten und anderen Akademikern in Kopenhagen zu behandeln. Das Problem, das Luthers Melancholie für die Beurteilung seiner Religion darstellt, ging mir bei der Vorarbeit für eine Vorlesungsreihe in Sommerkursen in Mora 1907 auf. Uppsala, Ostern [20.4.] 1919 Nathan ­Söderblom

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[X] INHALT I

Luthers Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

II

Die Bedeutung des Humors für Luther . . . . . . . . . . 64

III

Luthers Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

IV

Die Erklärung der Angst bei Luther und anderen . . . . . 126

V

Heilmittel gegen die Schwermut . . . . . . . . . . . . . . 143

VI

Die Bedeutung der Melancholie für Luthers Werk Worin besteht die Not des menschlichen Lebens? . . . . . 181

VII Die Fahrt nach Worms. Der Glaubensheld . . . . . . . . 207 VIII Luther und Erasmus. Das einzig Notwendige . . . . . . . 229 IX Die Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 X

Gesetzesreligion – Mystik – Glaubenszuversicht . . . . . . 285

XI

Der Bauernkrieg. Soziale Not – Seelennot . . . . . . . . . 298

XII Der Abend vor Allerheiligen . . . . . . . . . . . . . . . . 312

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[3] I. Luthers Humor Martin Luthers frühester wirklicher Biograph, Johannes Mathesius, der während zweier Besuche in Wittenberg in den Jahren 1529–1530 und 1540 Gelegenheit hatte, aus der Nähe seine Beobachtungen anzustellen, schreibt, dass Luther „von Natur ein hurtiger und fröhlicher Geselle“ war, ein Eindruck, der durch andere Bekannte Luthers und durch seine eigenen Briefe und Schriften bestätigt wird.1 Derselbe Luther ist von einem Trübsinn und einer Angst geplagt worden, wie sie bei kaum irgendeinem anderen Großen in Literatur und Geschichte tiefere Spuren hinterlassen hat. Wie diese Schwermut ständig auf ihn lauerte, wie sie ihn zeitweise für Wochen und Monate in die Hölle der Seelenqualen versetzte, soll später untersucht werden. Uns sind Bilder von Luther überliefert, die beklemmend wirken. Düsterer Trübsinn und Grübeln sprechen aus ihnen. Doch abgesehen von einzelnen Situationen machte Luther auf seine Umgebung und auf die, welche mit ihm in flüchtige Berührung kamen, den Eindruck, alles andere als düster und melancholisch zu sein. Das Wort Humor hat man damals nicht benutzt. Aber in unserem Sprachgebrauch gibt es kein besseres Wort, um eine vorherrschende Klangfarbe in Luthers Seele zu kennzeichnen, in vielen Abstufungen, vom Salz des Witzes, der guten Laune oder Derbheit bis zu unnachahmlichem Ausdruck geistiger Überlegenheit. Der Humor erhielt ihm Gesundheit und Freiheit der Seele im [4] täglichen Leben, in zarten persönlichen Beziehungen und in den dramatischen Augenblicken seines Lebens. Die Kommilitonen an der Universität in Erfurt schätzten die frische und offene studentische Art des jungen Magisters. Auch harte innere Kämpfe vermochten später nicht, in seiner Seele den Quell des Humors zum Versiegen zu bringen. Wir gehen kaum fehl, wenn wir in diesem Humor ein in die Größenverhältnisse des Genies übersetztes väterliches Erbe wahrnehmen. Der Humor hat einen Blick für das Menschliche in seiner Kleinheit und in seiner Größe. Er findet Anlass zu Scherz und Spott, wo gewöhnliche Augen bloß uninteressantes Grau in Grau oder steife Feierlichkeit sehen. Doch auch wo das Lustige und Verschrobene auftritt, hat der Humor ein warmes Mitgefühl. Was der Humor unbarmherzig aufs Korn nimmt, das ist das Blendwerk. Lachen und Scherzen können gefährliche Wahrheits­ 1 Vgl. Adolf Hausrath, Luthers Leben, a. a. O. (S.  15, Anm. 19), Bd. 2, 160.

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verkünder sein. Eine aufgesetzte oder durch die Situation auf unangenehme Weise aufgedrückte Maske wird durch den Witz abgerissen. Sowohl der spielerische als auch der saftige Witz dient in erster Linie der Erquickung und sollte schon in dieser Eigenschaft zu den Vorzügen des Lebens gezählt werden. Doch ein unwiderstehliches Gelächter kann außerdem eine sittliche Bedeutung haben, insofern es in einer wirren Situation die Dinge an den rechten Ort rückt und eine in gelinder oder heuchlerischer Weise unwahre Stimmung aufbricht. Ein ernster, feierlicher, ja heiliger Augenblick verliert nichts von seinem Gewicht, wenn der Humor irgendwo in einer Ecke oder vielleicht auf offener Bühne eine Unstimmigkeit aufdeckt, die schließlich zu allem Menschlichen gehört und es zum Allzumenschlichen macht. Allein die Verstockung klagt den Humor wegen Majestätsbeleidigung an, weil er in einer wichtigen Situation, die den Menschen ganz und gar in Anspruch nimmt und noch etwas darüber hinaus, sich dennoch einen Bezirk für die selbstverständliche und spontane Freiheit des Gemüts vorbehält und um jeden Preis ein kleines Guckloch für einen spielerischen und sehenden Blick benutzt. Warum sollte es dem Humor nicht gestattet sein zu [5] spotten? Niemand kann den Humor der Herzlosigkeit zeihen, wenn er auch bei dem Geliebten und Geachteten Schwächen sieht und sich darüber lustig macht. Denn das Herz des echten Humors ist Liebe. Doch sensible Aufrichtigkeit macht ihn zum enfant terrible für jede Art von gestelzter Sentimentalität und Künstelei. Der Humor sieht das Kleine, Geringe, Lustige auch in dem Großen; Er erfasst etwas Wertvolles, vielleicht Großes, auch in dem Lächerlichen und Verachteten. Da mischt sich Ernst in den Scherz und Scherz in den Ernst. Harald Høffding hat in einem schönen Buch eine Untersuchung des Begriffs Humor seit seiner ersten Anwendung in der englischen Sprache und seiner früheren Bedeutung als lebhaftes Temperament, dann Scherz, bis zu dem heutzutage gepflegten Typus von Humor als Lebensform vorgelegt. 2 Man kann seinen Beispielen Luther und Holberg Dickens und Lie und viele andere hinzufügen. 3 Wenn Humor als Ideal der menschlichen Ent2 Vgl. Harald Høffding, Den store Humor. En psychologisk Studie, København und Kristiania ²1916 (Humor als Lebensgefühl. Eine psychologische Studie, dt. v. H. Goebel, Leipzig ²1930). 3 Emil Liedgren hat in der Mittsommernummer 1918 von Vår Lösen einen Artikel über Johan Henrik Thomander geschrieben mit dem Untertitel „Ein Kapitel aus der Kirchengeschichte des Humors“. Eine Persönlichkeit und ein Prediger vom Format Thomanders muss schon Schwede sein, um von der Nachwelt in seinem Lande so wenig beachtet zu werden wie er. Es ist bei ihm ebenso wie bei Luther der dämonische Zug, die Finsternis in der Seele, die der ganzen Verkündigung eine tiefere Klangfarbe und Innerlichkeit verleiht. Wie bei Luther breitet der Humor ein spielerisches Glitzern darüber aus.

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wicklung hingestellt wird, so mag hier immerhin gesagt werden, dass der Humor als allgemeine Lebensreaktion sicher nicht zu den Anschauungen und Tugenden gehört, die man erstreben und erwerben kann. Vielmehr findet er sich ungebeten ein, wenn anders er gesund und echt ist, zusammen mit bestimmten angeborenen Kräften des Lebens und tief empfundenen Erfahrungen anderer, höherer Ordnung. Wir wollen jetzt den Humor bei Luther in seinen wichtigsten Formen und Verbindungen untersuchen. Ich beginne mit Einzelzügen aus den dramatischsten Episoden in Luthers Leben, zugleich zweien der schwersten und verantwortungsvollsten Momente seines Lebens. Ich meine Leipzig 1519 und Worms 1521. Diese Einzelzüge zeigen, wie der Humor seiner Seele eine Atempause, eine befreiende Erleichterung verschaffte, während er zugleich die Widersacher unsagbar reizte, ohne dass Luther auch nur für einen Moment so etwas im Sinn hatte. Sie wollten ihn [6] uneingeschränkt respektvoll haben, beflissen, furchtsam, feierlich. Der Humor ist ein Sicherheitsventil, doppelt notwendig in einem Leben, das unter Hochdruck steht und das ohne das Ventil des Humors selbst eine Heldenseele sprengen würde. Luther hatte nicht stillschweigend mit ansehen können, wie der Ablasshandel den Seelen unbarmherzig zusetzte.4 Nach vorausgehenden besorgten und ärgerlichen Warnungen als Seelsorger, z. B. in der Predigt am zehnten Sonntag nach Trinitatis 1516, sah er sich durch Tetzels gewissenloses Geschäft mit der Sündenvergebung veranlasst, die 95 Thesen anzunageln.5 4 Es hat Streit gegeben über die Frage: War die Lehre vom Ablass, die Luther bekämpfte, lediglich ein gelegentlicher Missbrauch oder anerkannte kirchliche Sicht? Das sah wie ein unfruchtbarer Konflikt zwischen katholischer und evangelischer Wissenschaft aus, bis Theodor Brieger das Ei des Columbus fand. Er dachte: Es müssten doch wohl die Ablassbriefe selbst zu Wort kommen. Eine große Anzahl von ihnen, die er in Rom und anderwärts untersucht hat, schreibt dem Ablass eindeutig das von Luther bekämpfte Gewicht zu. [Vgl. Theodor Brieger, Das Wesen des Ablasses am Ausgange des Mittelalters, Leipzig 1897; ders., Art. Indulgenzen, RE³ 9, 1901, 76–94]. 5 WA 1, 65–69. Vgl. Hartmann Grisar SJ, Luther, Bd. 1, Freiburg i. Br. ²1911, 264. 260. – Dass man im Ablassstreit selbst in Rom Sympathien mit dem Mönch-Professor in Wittenberg hegen konnte, jedenfalls wenn man Klosterbruder aus dem Norden war, beweist die erste Nachricht über die Reformation, die Schweden erreichte. Sie wurde nämlich von Petrus Magni, damals Vorsteher des Birgitta-Hauses in Rom, später Bischof in Västerås, aus Rom an das Koster Vadstena geschrieben. Im September 1515 [soll wohl 1518 heißen und sich auf den Sermon von Ablass und Gnade beziehen, D. Hg.] schrieb er an das Kloster Vadstena: „In diesem Frühjahr schrieb ein Doktor des Augustinerordens unten in Deutschland in einem Studienort, der Wittenberg heißt, viele Konklusionen gegen den Ablass und verbreitete sie weit umher und hierher zum Papst; und hätte der Papst ihn, so würde er ihn verbrennen, aber er hat Gefolgsleute. Ein anderer Doktor hier in Rom schrieb auf Be-

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Der Ablasshandel wurde völlig geschäftsmäßig betrieben. Vertreter der Bank Fuggers begleiteten die Mönche, die im Auftrag des Papstes und des Erzbischofs von Mainz die Vergebung der Sünden verkauften. Man betrieb Wucher auf Kosten der innersten Gefühle. Wer wollte nicht jede beliebige Summe opfern, um einen lieben verstorbenen Angehörigen aus der Qual des Fegfeuers zu befreien? Luther versuchte auf akademische, keinerlei Aufsehen erregende Weise, eine Veränderung zu erreichen. Seine Worte, gedacht für eine gelehrte theologische Untersuchung, fanden Widerhall. Daraufhin wurde er wider Willen von einer Einsicht zur nächsten getrieben. Doch am Abend vor Allerheiligen 1517 ahnte er nichts von der Tragweite seiner Aktion. Erst die Disputation mit Eck in Leipzig, die den Ablassstreit in einen größeren, nationalen und kirchenpolitischen Zusammenhang zwang, öffnete ihm die Augen. Roms Ansprüche gaben gegenüber seiner kritischen Untersuchung ein klägliches Bild ab. War der Papst der Antichrist oder dessen Apostel? schrieb er noch im März 1519 fragend und [7] erschrocken an Spalatin.6 Aber er wich nicht zurück. Zu Mittsommer 1519 kam Luther, von Eck aufgefordert, in Begleitung Melanchthons und des ihn anmaßend verteidigenden Karlstadt zur Disputation nach Leipzig. Dieser vermochte in den langen Debatten auf der Pleißenburg nicht, sich gegen den redegewandten und tüchtigen Ingolstädter Professor durchzusetzen. Als Luther am 4. Juli an der Reihe war, wurde er von Eck zu gefährlichen Erkenntnissen gedrängt, die nach der haarsträubenden Kühnheit, in Leipzig dem Tschechen Hus eine Anerkennung auszusprechen, zu dem klaren und revolutionären Satz über die Autorität in der Kirche weitergingen: „Unfehlbar ist allein die Schrift. Auch Konzilien können irren und haben geirrt.“7 Luther hatte zuvor ebenso wie die Reformfreunde seit hundert Jahren für ein allgemeines Konzil geworben. Eck zog den unausweichlichen Schluss: Mit einer solchen Meinung seid Ihr für mich wie ein Heide und ein Zöllner. Petrus Schade Mosellanus, der auf

fehl des Papstes eine Antwort darauf, und als er den Verschluss zu öffnen meinte, schürzte er [stattdessen] einen Knoten; welche materia ich Euch mit diesem Brief zusende. Ich habe gelesen, wie der Ablass zuerst eingeführt wurde, und ist ein unsicherer Boden, aber poenitentia [die Beichte] ist der sicherste Weg, darauf will ich sterben.“ Vgl. Herman Råbergh, in: Reformationen och Finlands kyrka, Sordavala 1917, 39. 6 Vgl. Brief an Spalatin vom 13.3.1519, Nr. 161, WA.B 1 (359–361), 359,29 f: „nescio an papa sit Antichristus ipse vel Apostolus eius, adeo misere corrumpitur et crucifigitur Christus (id est veritas) ab eo in decretis“; ich weiß nicht, ob der Papst der Antichrist selber oder sein Apostel ist, so schlimm wird Christus (das ist die Wahrheit) in den Dekreten geschändet und gekreuzigt. 7 Vgl. Brief an Kurfürst Friedrich von Sachsen vom 18.8.1519, Nr. 192a, WA.B 1, 472,251–263 (kein wörtliches Zitat).

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der Pleißenburg die Disputation mit einer langen, schönen Rede eröffnet hatte, hat der Nachwelt ein Porträt Luthers in Leipzig hinterlassen, das den Eindruck bestätigt, den wir von seiner Person bereits gewonnen haben. „Martinus ist von mittlerer Leibeslänge, von hagerem, durch Sorgen und Studium erschöpftem Körper, so daß man fast die Knochen durch die Haut zählen könnte, von männlichem, frischem Alter und hoher, klarer Stimme. Er ist aber voller Gelehrsamkeit und vortrefflicher Kenntnis der Schrift, so daß er gleichsam alles an den Fingern herzählen kann. Griechisch und Hebräisch weiß er so viel, daß er die Interpretationen urteilen kann. Es fehlt ihm auch nicht an Stoff, und er hat einen großen Vorrat an Worten und Sachen. Im Leben und in seinem Betragen ist er sehr höflich und freundlich und hat nichts stoisch Strenges und Sauertöpfisches an sich, er kann sich in alle Zeiten schicken. In Gesellschaft ist er lustig, witzig, lebhaft und immer freudig, immer munteren und fröhlichen Gesichts, ob ihm auch die Widersacher noch so sehr [8] drohen, und man sieht es ihm an, daß Gottes Kraft bei seinem schweren Werke mit ihm ist.“8 Den kleinen erhellenden Zug habe ich noch nicht erwähnt. Gewiss war die Situation ernst, ja schicksalsträchtig. Luther trat vor die in gespannter Erwartung sitzende Versammlung, um seine dreiste These zu verteidigen, das Papsttum habe einen bloß menschlichen Ursprung. Weiß jemand, was der unverbesserliche Mönch da in der Hand hielt? Man hätte sich schon über Geringeres ärgern können. Luther nahm einen Blumenstrauß mit aufs Katheder. Er vergaß ihn nicht einmal in der hitzigen Disputation. Eck wetterte und donnerte. Luther schnupperte ab und zu an seinen Blumen. Keineswegs aus Lust an der Provokation. Es war ja eigentlich nichts Böses dabei, auch nichts Merkwürdiges. Aber es ging wie ein frischer Luftzug von Humor durch den stickigen Saal. Das künstliche Pathos, das der Gegner angesichts der Bedrohlichkeit der Stunde als des eigentlichen Beginns der Kirchenspaltung aufzublasen versuchte, das löste sich in Blumenduft auf. Am 17. und 18. April 1521 stand Luther in Worms vor Kaiser und Reich. Thomas Carlyle, im englischen Sprachbereich derjenige, der den Reformator am besten und kongenialsten verstanden hat, nannte das zweite Verhör, das am zweiten Tag gegen Abend bei flackerndem Fackelschein abgehalten wurde, „die großartigste Szene in der neueren Geschichte Europas, ja den Punkt, von dem die ganze folgende Kulturgeschichte ihren Ausgang nimmt“, den „größte[n] Augenblick der neueren Geschichte der Mensch-

8 Das Zitat ist am leichtesten zugänglich in: Das Buch der Reformation. Geschrieben von Mitlebenden, hg. v. Karl Kaulfuss-Diesch / Otto Clemen, Leipzig 1917, 168.

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heit.“9 Man denkt, mutatis mutandis, an Christus vor seinem Richter. Nachdem Luther die drei Gruppen seiner Schriften durchgegangen war, an letzter Stelle die Streitschriften, und ihre unchristliche und unnötige Heftigkeit zugegeben hatte, denn er war „kein Heiliger“ sagte er noch: „… weil ich ein mensch und nicht Gott bin, so mag ich meine buchlen durch keyn andere handthabung erhaltenn [verteidigen], dann mein herr Jhesus ­Christus sein selbst ler unterhaltenn hat, Welcher als er vor [dem Hohenpriester] [9] Annas von seiner ler gefragt und vom diener an eym backen geslagen war, sagt er: ‚Hab ich ubel geredt, so gib mir getzeugnuß von dem ubel.“10

An dem kritischsten Punkt der geistigen Auseinandersetzung dürfte es, nach einer merkwürdigen Wendung in Luthers bekannter Schlussantwort zu urteilen, in den tiefen dunklen Augen geblitzt haben. Mitten im größten Augenblick seines Lebens fiel ihm die groteske Verkleidung mit Hörnern und Hauern und Klauen beim Aufzug der Studenten in Erfurt ein. „Da Eure kaiserliche Majestät und kurfürstliche Gnaden eine einfache Antwort begehren, gebe ich sie ohne Hörner und Zähne auf folgende Weise …“11 Eck hatte laut seinen eigenen Aufzeichnungen Luther aufgefordert, „non cornute“ zu antworten.“12 Er hatte vermutlich eine Antwort „ohne gehörntes Ende“ gemeint, das heißt: nicht eine Beweisführung mit mehreren Möglichkeiten und deren Konsequenzen, sondern einen unzweideutigen Bescheid. Luthers spielerisches Ingenium wurde von dem Ausdruck cornute auf eine andere, weniger feierliche akademische Veranstaltung gelenkt, die so genannte Deposition, wo die neuen Studenten zum Zeichen ihrer tierischen Unwissenheit mit Hörnern, Eselsohren und [Wildschwein-] Hauern versehen wurden, die man ihnen dann unsanft abnahm, bevor sie zu akademischen Mitbürgern ernannt wurden. Er versprach eine Antwort „ohne Hörner und Zähne“, illud neque cornutum neque dentatum. Es liegt keine Respektlosigkeit in dieser Einleitung zu den schicksalsträchtigsten Worten in der Geschichte der neueren Zeit. Aber sie kommen aus einer Quelle frischen Humors und passen gut sowohl zu dem Ärger des päpstlichen Nuntius Aleander über das Lächeln des „Narren“, als d ­ ieser vor den 9 [Thomas Carlyle, Heroes and Hero Worship and the Heroic in History (1841), Reprint New York 1969, 134 f. ­Söderblom hat in dem ersten Zitat versehentlich das Wort „folgenden“ (für „subsequent“) ausgelassen.] 10 Verhandlungen mit D. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms 1521, WA 7 (814–887), 873,3–7. 11 [A. a. O., 838,1–3: „Quando ergo S. Maiestas vestra dominationesque vestrae simplex responsum petunt, dabo illud neque cornutum neque dentatum in hunc modum“. S­ öderblom schreibt: „eine einfache, einfältige, richtige Antwort“.] 12 [A. a. O., 838,22.] Vgl. dazu Herman Lundström[, Betydelsen af Luthers ord om ett svar „utan horn eller tänder“], in KHÅ 8/1907 (181–192), 188.

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Reichstag trat, als auch zu Luthers eigener Erinnerung wenige Tage vor seinem Tod: „… ich war vnerschrocken, ich furchte mich nicht. Gott kan einen wol so toll machen. Ich weis nicht, ob ich itzt so toll were.“13 Den besten Beweis für Luthers Humor entnehme ich dem [10] nach Worms wichtigsten Reichstag in der Ursprungszeit der evangelischen Kirchenverbesserung, in Augsburg im Jahre 1530. Das Wormser Edikt hatte über Luther die Reichsacht verhängt; es enthielt das Gebot, seine Anhänger und Gönner gefangen zu nehmen und ihr Eigentum zu konfiszieren, Luthers Schriften zu verbrennen usw. – ein vollständiger Sieg für Rom, wenn das Edikt befolgt worden wäre. Der Anschein eines Fortschritts für die Kirchenverbesserung auf dem Reichstag von Speyer 1526 verflog gründlich durch den zweiten Speyrer Reichstag im Jahre 1529. Dies war die Gelegenheit, bei der sich einige evangelische Stände durch ihren Protest gegen das geplante Inkrafttreten des Wormser Edikts den Namen Protestanten zuzogen. Im darauf folgenden Jahre 1530 versammelte sich in Augsburg der Reichstag, der den Bruch innerhalb des Reiches besiegeln und der evangelischen Christenheit ein einigendes Bekenntnis schenken sollte. Luther konnte seine Absicht nicht verwirklichen, seinen Kurfürsten zu begleiten. Er war gebannt, und niemand wagte, für seine Sicherheit in Augsburg zu bürgen. Er musste innerhalb der sächsischen Landesgrenzen bleiben. Briefwechsel und Verschicken von Botschaften ließen ihn von hoch oben auf der Feste Coburg in Thüringen aus dem Abstand verfolgen, in gewissem Maß auch beeinflussen, was beim Reichstag vor sich ging, wo seine Abwesenheit auf Schritt und Tritt zu bemerken war und einem schwächeren Geist den Platz überließ. Die Einsamkeit auf der Coburg – mit ein paar jungen Studenten – markiert von April bis Oktober 1530 einen Höhepunkt von Luthers weit gespanntem Briefwechsel. Sein Aufenthalt dort hat uns eine Reihe seiner schönsten Briefe an Freunde und Familie geschenkt. Die Bibelübersetzung nahm den größten Teil der Zeit in Anspruch, die Ohrensausen, Zahnschmerzen und andere Krankheiten samt Anfechtungen ihm für die Arbeit übrig ließen. Trotz solcher Hindernisse befand sich Luther auf der Coburg in bester Stimmung. Männliche Demut in Zuversicht für den Fortgang der großen Sache ohne die Macht der Gewalt, von Herzen kommende und verwegene Anweisungen zum Trost für andere – und für ihn selbst – da­runter die große Epistel [11] an Senfl über die Macht der Musik14, müde Sehnsucht nach Märtyrertum und Tod wechseln mit Fürsorge für alles 13 [WA.TR 5, 69,19–21 (Nr. 5342b). Die Erlanger Ausgabe, die S­ öderblom nach Hausrath zitiert, hat als vorletztes Wort „freudig“ statt „toll“.] Vgl. Adolf Hausrath, Luthers Leben, (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 1, 427. 431. 14 Vgl. Brief an Ludwig Senfl vom 4.10.1530, Nr. 1727, WA.B 5, 639.

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und alle, mit Witz und Humor. Im Ganzen stehen die Briefe von der Coburg auf einem höheren Niveau. Gottfried Reinhold gab sie im Jahre 1630 in seinem Buch Evangelische Frewdigkeit Vnd Lutherischer Wohlgemuth heraus. Was würden Prälaten und Fürsten dort in der Ferne auf dem Reichstag aushecken? Wie würden Luthers Freunde der Versuchung zum Nachgeben und zur Schwäche widerstehen können? Für Luthers Lebensarbeit stand viel, vielleicht alles auf dem Spiel. Aber wie dem auch sein mochte, konnte er die mächtige Reichsversammlung doch nicht bloß mit Unruhe und Verwünschungen verfolgen. Am Karfreitag, dem 15. April, kamen die Reisenden in die Stadt Coburg. Luther wusste, dass seine Anwesenheit in Augsburg als unmöglich angesehen wurde, schwebte aber noch in Unkenntnis über den Zufluchtsort, wo man ihn, wie früher auf der Wartburg, zu verstecken beabsichtigte. Am 18. schrieb Luther an seinen sehr vertrauten Freund Nikolaus Hausmann in Zwickau über die Ungewissheit, in der er wegen des morgigen Tages gehalten wurde.15 Am 23. April löste sich das Rätsel. Der Kurfürst und die Freunde reisten weiter des Weges nach Augsburg, und in der Stadt konnte man leicht glauben, dass Luther mit ihnen gefahren sei. In Wirklichkeit wurde er schon vor Tagesanbruch auf die Bergfeste Coburg hinauf geleitet. Ebendieser Tag wurde zu einem seiner fleißigen Brieftage. Der neue Blick über die Gegend im Frühlingsschmuck flößte ihm ein Freiheitsgefühl ein. Die Brust weitete sich. An Melanchthon schrieb er von „diesem Sinai“, den er „zu einem Zion machen und dort drei Hütten bauen [wollte], eine für den Psalter, eine für die Propheten, eine für Aesop“.16 Er musste sofort nach der Abfahrt der Freunde sein Herz ausschütten, obwohl der Brief sie erst etliche Tage später in Augsburg erreichen konnte. Für Justus Jonas deutete er, was er auf seiner einsamen Höhe [12] sah und dachte: „Hier sitzen wir endlich zwischen den Wolken, wirklich im Vogelreich, bester Jonas. Denn um von den übrigen Vögeln zu schweigen, von deren Liedern ein solches Gewirr herrscht, dass sie den Sturm übertönen, die Dohlen oder Raben besetzen den ganzen Hain direkt vor unseren Augen.“17 15 Vgl. Brief an Nikolaus Hausmann vom 18.4.1530, Nr. 1547, WA.B 5 (277 f), 277,18: „incerta fiunt omnia de die in diem.“ 16 [Brief an Melanchthon vom 24.4.1530, Nr. 1552, WA.B 5 (285 f), 285,4–6: „faciemus Sion ex ista Sinai, aedificabimusque ibi tria tabernacula, Psalterio unum, Prophetis unum, et Aesopo unum.“] 17 Raben, corvi. Hausrath [a. a. O. (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 2, 261] schreibt „Krähen“. Doch in der „Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle“, aus derselben Zeit [1529] steht deutlich „dolen vnd raben“ usw. [WA 30 II (522–588), 541,8, wo auch vom „gegecke“ die Rede ist].

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War das nicht ein veritabler Reichstag? „Ich meine, da sei ein Gekecker“18 (Anspielung auf Eck, der seine Anwesenheit beim Reichstag zu erkennen gegeben hatte), „von vier Uhr Morgens an unermüdlich und pausenlos den ganzen Tag über, vielleicht auch die ganze Nacht hindurch, so dass ich glaube, dass sich kaum irgendwo eine größere Menge von Vögeln versammelt hat. Da ist keiner von ihnen, der einen Moment schweigen würde, auf dass man sie nicht einzeln keckern hören müsse, da die Älteren mit den Jüngeren, die Mütter mit den Töchtern den Namen der Dohlen preisen. Vielleicht singen sie so lieblich, um uns in den Schlaf zu singen, was wir diese Nacht, so Gott will, erleben werden. Es ist eine sehr edle und (wie du weißt) für das Gemeinwesen besonders notwendige und nützliche Art von Vögeln. Ich deute sie als das ganze Heer von Sophisten und Cochlaeanern“

(Anspielung auf Cochlaeus, der mit Herzog Georg von Sachsen nach Augsburg gekommen war), „die sich aus der ganzen Welt mir gegenüber versammelt haben, damit ich ihre Weisheit und diesen lieblichen Gesang besser kennen lerne und ihr Amt und ihren Nutzen im fleischlichen wie im geistlichen Gemeinwesen mit Vergnügen betrachte. Bis jetzt hat niemand eine Nachtigall gehört, während ihr Vorsänger und Nachsänger, der Kuckuck, sich viel auf seine großartige, herrliche Stimme zugute hält, wie es sich für den siegreichen Mitbewerber der Nachtigall ziemt; ebenso loben auch andere Mitsänger wie Amseln, Grasmücken19, Lerchen eifrig den Herrn. Dies hat etwas von einem Wunderort. Du siehst, dass ich nichts zu schreiben habe, darum, damit ich nicht gar nichts schreibe, will ich lieber dummes Zeug schreiben, als zu schweigen, besonders da die Dohlen so laut krächzen und Himmel und Erde mit ihrem Gekecker erfüllen.“20

[13] Der Gedanke eines Dohlen-Reichstags war zu lustig. Gegen fünf Uhr Nachmittags setzte sich Luther hin und setzte seine Gleichnisse für Spala18 [Diese Worte auf Deutsch im Original. ­Söderblom schreibt „Geckeck“, was die vermutete Anspielung verdeutlichen würde.] 19 [Die Vogelnamen nach einer Anmerkung des Hg. S­öderblom hat statt „Grasmücken“: „lövsångare“ (Laubsänger) und schreibt dazu die folgende Fußnote:] Lövsångare ist Vermutung. Welchen Vogel Luther mit currucae gemeint hat, weiß ich nicht. Forcellini [Egidio Forcellini, Lexicon totius latinitatis, vol. 1, Padua 1864, s.v.] gibt an, das Wort bezeichne einen kleinen Vogel, von dem man sagt, er ziehe die Jungen anderer Vögel auf. Da der Laubsänger, wie mich eine sachkundige Person informiert, zu den Vögeln gehört, die am häufigsten die Jungen des Kuckucks aufzuziehen lernen, so darf dieser Name wohl ebenso gut wie irgendein anderer hier stehen. [Anm. des Hg.: Curruca ist der biologische Name für die Familie der Grasmücken. Eine von deren Arten sind die Laubsänger.] 20 Brief an Justus Jonas vom 24.4.1530, Nr. 1553, WA.B 5 (289 f), 289,1–24 (aus dem lateinischen Original).

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tin fort, obwohl er an diesem Tag nicht vorgehabt hatte, an ihn zu schreiben: Der vor kurzem erwähnte Brief an Melanchthon enthielt einen Gruß an Spalatin. 21 Jetzt ist es nicht mehr ein flüchtiger Einfall, sondern der Witz kommt einem ausgearbeiteten, gutmütigen satirischen Gedicht nahe. Wir bemerken dieselbe Stimmung, die Luther veranlasste, die satirischen Tierfabeln zu dichten. Der Esel macht sich durch das Kreuz auf seinem Rücken ohne große Mühe interessanter als der Löwe, denn das Volk glaubt, dass das Kreuz allerhand merkwürdige Dinge vollbringen kann, welche die Großtaten des Löwen in den Schatten stellen. Die Schwalbe – der schwarzweiße Dominikaner – wetteifert mit dem Spatzen – dem Franziskaner – um die Gunst des frommen Volks. Der Spatz warnt die Bauern vor der Schwalbe. denn „inwendig ist sie weiß, aber auf dem Rücken ist sie schwarz.“22 Eine Art von Tierfabel ist auch das, womit wir hier zu tun haben. Von der Coburg schreibt Luther jetzt am Nachmittag: „Es seid nicht nur Ihr, lieber Spalatin, der zum Reichstag reist. Denn auch wir sind, nachdem wir uns von euch getrennt haben, sogleich beim Reichstag an­ gelangt und euch somit weit zuvorgekommen. Offenkundig ist unsere Reise zum Reichstag nicht verhindert, sondern nur verändert worden. Ihr geht ja wohl nach Augsburg, unsicher, wann ihr euren Auftritt erleben werdet; wir [aber] befinden uns hier schon mitten auf dem Reichstag. Hier kannst du hochherzige Könige, Herzöge und andere Adlige des Reiches sehen, die sich um die Sachfragen und die Schriftstücke23 ernsthaft kümmern und mit unermüdlicher Stimmkraft ihre Beschlüsse und Anordnungen in die Luft schleudern. Sie halten sich schließlich nicht in den höfischen Höhlen und Grotten auf, die ihr Paläste nennt, doch ohne triftigen Grund (oder besser: sie lassen sich nicht darin einschließen): vielmehr unter Gottes freiem Himmel [sub Divo], so dass sie den Himmel selbst als Decke und die grünen Bäume als offensten und buntesten Fußboden haben, und dazu Mauern, welche die Enden der Erde sind. Sie verabscheuen vollends auch jenen törichten Luxus von Gold und Seide, sie haben vielmehr alle dasselbe Betragen, dieselbe Farbe, dieselbe [14] Kleidung und Mundart, sind unglaublich ähnlich und gleichmäßig gekleidet, alle sind 21 A. a. O., 286,26. 22 [Vgl. M. Luther, Ein newe fabel Esopi, Newlich verdeudscht gefunden, Vom Lawen und Esel (1529), WA 26, 545–550, sowie WA.TR 4, 663 (Nr. 5098 vom 19.6.1540);] dazu A. Hausrath, a. a. O. (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 2, 160. 23 [Im lateinischen Original: „rebus et natis“. Walch² hat dafür „die Angelegenheiten und die Angehörigen“ (Anm. 1 zum Text in der WA). Was damit gemeint sein soll, ist mir nicht klar geworden. ­Söderblom hat sicher Recht, wenn er hier einen Schreibfehler vermutet (S. 370 als Note zu S. 13, Z. 8 von unten im schwedischen Text). Er übersetzt „saker och ting“, d. h. „alles Mögliche“, streicht also einfach die Worte „et natis“. Das ist m. E. nicht einleuchtend. Ich konjiziere deshalb „­notis“ statt „natis“. Das wäre eine Erklärung für den Schreibfehler, und die Wendung „rebus et notis“ ergibt einen plausiblen Sinn. D. Hg.]

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gleichermaßen kohlschwarz, alle haben blaue Augen, alle machen dieselbe eintönige Musik, gleichwohl mit einem wohlgefälligen Unterschied in den Stimmen der Alten und der Jüngeren. Ihren Kaiser habe ich noch nicht gesehen oder gehört. Ich sehe, dass sie offensichtlich auch jedes vierfüßige Reiten verachten. Sie haben etwas Besseres, nämlich Flügel, mit denen sie auch den Zornesausbrüchen der Kanonen entkommen können. Soweit ich den Dolmetscher ihrer Beschlüsse verstehen konnte, haben sie einmütig beschlossen, dieses ganze Jahr hindurch gegen die Gerste Krieg zu führen.“

Im gleichen Stil geht es weiter. Der Scherz gilt Freunden wie Feinden gleichermaßen. Die ganze Gesellschaft, die sich in Augsburg versammelt hatte, um über das Schicksal Luthers und des Evangeliums zu entscheiden, soweit Menschen es vermochten, kam dem Humor unter die Augen. Hören wir den Schluss. „Damit genug des Scherzes, aber eines ernsten und notwendigen Scherzes, der die mich bedrängenden Gedanken vertreiben soll, wenn er sie denn vertreiben wird.“24 In der folgenden Woche, am Donnerstag, dem 28. April, stand dasselbe Bild Luther immer noch vor Augen. In einem Brief an die, welche an seinem Tisch in Wittenberg umsonst aßen, wird noch einmal der Lärm und das ständige Kommen und Gehen bei dem Reichstag geschildert, den die Dohlen in dem kleinen Wäldchen unter dem Fenster abhielten. „… da ist … ein solch Geschrei Tag und Nacht ohne Aufhören, als wären sie alle trunken, voll und toll.“ Er wiederholt fast wörtlich, was wir vor kurzem über Kleidung, Gesang, Hoheiten und Zwistigkeiten gelesen haben. „Also sitzen wir hier im Reichstag, hören und sehen zu mit großer Lust und Liebe, wie die Fürsten und Herrn sampt andern Ständen des Reichs so fröhlich singen und wohlleben.“ Wie Sophisten und Papisten sind sie nützliches Volk „alles zu verzehren, was auf Erden [ist]“.25

Die Dohlen spuken auch in der auf der Coburg geschriebenen Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle. 26 [15] Der zweite der kürzlich angeführten Briefe gehört zu denen, in denen ein Hauch Ernst zum Vorschein kommt – ein Tropfen drückender und schmerzender Schwermut, den zu verbergen der Scherz bestimmt war, während er zugleich einem eigenen, ursprünglichen Antrieb gehorcht, einer lebendigen Einbildung, Mitteilsamkeit und Humor.

24 [Brief an Spalatin vom 24.4.1530, Nr. 1554, WA.B 5 (290,1–291,48), 290,5– 291,24. 44–46.] 25 [Brief an die Wittenberger Tischgesellen vom 26. (?) 4.1530 (die Datierung ist un­ sicher, vgl. die Einleitung des Hg. von WA.B 5, 293 f), Nr.  1555, WA.B 5 (293–295), 294,8–10. 30–32. 36–40.] 26 [Vgl. S. 37, Anm. 20.]

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Von derselben Coburg gingen einige der für Luther typischsten Trostmotive in die Welt hinaus an besorgte oder heimgesuchte Freunde, zuallererst wohl bestimmt für die Unruhe des eigenen Herzens. So bekam der Lehrer seines Jungen, Hieronymus Weller in Wittenberg, die ausdrückliche Instruktion, den Teufel, das sind die dunklen Gedanken, durch Scherzen zu vertreiben. „Durch Scherz und Verachtung wird dieser Teufel besiegt, nicht durch Widerstand und Disputieren. Du sollst also mit meiner Frau und mit den anderen scherzen und lachen, wodurch du jene teuflischen Erwägungen vertreibst, tu es also frohen Mutes.“27

Später, im August, zeigte er in einem Brief an Kanzler Brück in Augsburg, wie die Natur selbst in ihrem schönen Ernst trösten kann. Er beschreibt die beiden Wunder, die er gesehen hatte: die Sterne und das ganze Himmelsgewölbe ohne Pfeiler, dennoch stürzte es nicht ein; dicke, schwere Wolken grüßten mit sauertöpfischem Gesicht und flogen ihres Weges. 28 Schwere Krankheit verlangt starke Arznei. Wir verstehen Luthers oft grobe, mehr als saftige Witze nicht, wenn wir vergessen, dass er nicht selten dazu gegriffen hat, um die schleichende Unruhe und Angst auf Abstand zu halten. Der Anflug von Satire, den wir in der Beschreibung des Dohlen-Reichstags gefunden haben, kann mehr oder minder gutmütig spöttisch sein, er kann aber auch in Hohn übergehen. Mit bitterer und drastischer Satire schilderte Luther schon ganz früh, in den Vorlesungen über den Römerbrief 1515–1516, wie es in den vorgeschriebenen kanonischen Gebets­ stunden zuging: „Es gibt solche, die … sagen: ‚Ich mache mir eine gute Absicht [zurecht] und aus der Notwendigkeit ein Wollen.‘ Indessen sagt hinten der [16] Teufel lachend: ‚Schmug dich [schmücke dich], libs ketzle, wir werden geßte habenn.‘29 Man steht auf, geht in den Chor und betet und spricht [zu sich selbst]: ‚Sih eulichen [kleine Eule], Wie schon bistu, hast du nu pfawen federnn?‘ Wenn ich nicht (aus der Fabel) wüsste, dass du ein Esel bist, würde ich glauben, dass du ein Löwe bist, so brüllst du; aber wenn du auch mit dem Fell eines Löwen bedeckt bist: an den Ohren wirst du erkannt. Dann beginnt die Langeweile. Man zählt die Seiten und Verse [des Breviers], (die noch übrig sind), ob das Ende des Gebets abzusehen sei, und man spricht zu sich selbst, zu seinem eigenen Tröster (gegen

27 Brief an Hieronymus Weller vom Juli (?) 1530, Nr. 1670, WA.B 5, (518–520), 519,20–23. 28 Vgl. Brief an Gregor Brück vom 5.8.1530, Nr. 1675, WA 5 (530–532), 531,19–44. 29 Hier macht das Lateinische einigen Worten der Muttersprache Platz. [­Söderblom übersetzt „Schmug dich“ fälschlich mit „skynda dig“, d. h. beeile dich.]

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seine Leichtfertigkeit) geworden: ‚Scotus stellt fest, dass die virtuelle Absicht ausreicht, die aktuelle ist nicht erforderlich. Darauf der Teufel: ‚Oh, gut, ganz richtig, sei dir nur sicher.‘“30

Ich wähle ein Beispiel für gutmütige Satire aus Luthers Alter. Am 4. Dezember 1539 schrieb er an den Propst Georg Buchholzer in Berlin über seinen Kurfürsten Joachim von Brandenburg, der nicht auf die kirchlichen Zeremonien und ihre Pracht verzichten wollte. Der Propst war ängstlich und besorgt darüber, dass er bei der Prozession Chorkappe und Chorrock tragen musste. Aber Luther antwortete im Namen der christlichen Freiheit, wenn nur das Evangelium klar und rein gepredigt werden könne und abergläubische Bräuche abgeschafft würden, „So gehet in Gottes Namen mit herumb vnd tragt ein silbern oder gülden Creutz vnnd Chorkappe oder Chorrock von Sammet, Seiden oder Leinwandt, vnd hat ewer Herr, der Churfürst, an einer Chorkappe oder Chorrock nicht genug, die jr anziehet, so ziehet der [deren] 3 an, Wie Aaron der Hohe Priester 3 Röcke vber einander anzog, die herrlich vnd schön waren …“ Und „haben auch jre Churfürstlich G[naden] nicht genug an einem Circuitu oder Procession, das jr umbher gehet, klingt und singet, so gehet sieben mal mit herumb, wie Josua mit den Kindern von Israel umb Hiericho giengen, machten ein Feldtgeschrey vnd bliesen [17] Posaunen. Vnd hat ewer Herr, der Marggraue [Markgraf], ja lust darzu, mögen jre Churfürstliche Gnad vorher springen vnnd tantzen mit Harpffen, Paucken, Zimbeln vnnd Schellen, wie David vor der Lade des HERREN that, da sie inn die Stadt Jerusalem gebracht ward, bin damit sehr wohl zufrieden, denn solch stück, wenn nur Abusus dauon bleibet, geben oder nemen dem Euangelio gar nichts, doch das nur nicht eine not zur Seligkeit, vnd das Gewissen damit zuverbinden, daraus gemacht werde …“31

Die Satire ist nicht immer so unschuldig. Sie wird leicht zu Hohn und groben Schimpftiraden. In Coburg sahen sich sowohl Freunde als auch Widersacher in der lärmenden Menge beim Reichstag des Bekenntnisses mit Dohlen verglichen. Weniger unschuldige Bilder und Ausdrücke gehören zur Regel, wenn es um den Papst und seine Helfer geht. Man kann nicht immer die Grenze ziehen zwischen einem wenn auch plumpen Witz und reiner Schimpfkanonade. Mit einer in der Literatur schwerlich übertroffenen Virtuosität verfügte Luther über die schlimmsten Schimpfworte der Sprache. Schon die erwähnte Schilderung der Disputation in Leipzig im Jahre 1519 von Peter 30 WA 56, 500,19–501,2. [Johannes Duns Scotus (1265/66–1308) war ein bedeutender franziskanischer scholastischer Theologe.] 31 Brief an Georg Buchholzer vom 4.12.1539, Nr. 3421, WA.B 8 (625 f), 625,20–626,2.

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Schade Mosellanus enthält einige Worte über Luthers Hitzigkeit in der Polemik. „Nur den einen Fehler tadeln alle an ihm, dass er im Schelten etwas zu heftig und beißend sei, mehr als es für einen, der in der Theologie neue Pfade finden will, sicher, und für einen Gottesgelehrten schicklich ist.“ Mosellanus fügt entschuldigend hinzu: „… Ein Fehler, den allerdings wohl alle, die in späten Jahren gelernt haben, an sich haben.“32 Von evangelischer Seite hat man Luthers hässliche Unart in der Polemik auch auf die Zeit geschoben. Aber das reicht nicht aus. Seine oft ungerechte Heftigkeit wirkte zu der Zeit, als er schrieb, auf viele Gemüter ebenso abstoßend wie auf uns. Dafür haben wir klare Beweise. Der Riese war der Menge auch in seiner unbeherrschten Streitlust überlegen. Sogar seine eigene liebe Käthe, die mit ihrer Meinung nie hinter dem [18] Berge hielt, fand ihren Herrn und Gemahl in der Polemik wohl manchmal ungehobelt: „Nein, das ist zu grob.“33 Viel ist über Luthers harte Art zu streiten geschrieben worden. Sie artete gelegentlich zu einer Raserei aus, die hässliche Flecken in seiner unermesslichen literarischen Produktion hinterließ. 34 Indessen macht man bei genauerer Untersuchung bestimmte Beobachtungen, die ich hier in Kürze mitteilen will. 1. In der Regel ist Luthers Polemik trotz Heftigkeit, ja Aufbrausen, nicht gehässig. Wir hörten in Worms, wie Luther selbst zugab, dass er gegen seine Widersacher etwas heftiger und schärfer gewesen sei, als es seiner Religion und seinem Stand angemessen war, „Dann ich mach mich nicht zu einem heiligen, Ich disputir auch nicht von meinem leben, sonder von der ler Christi“.35 Während der Krankheit im Jahre 1527 tat er Abbitte für „leicht32 [Vgl. Das Buch der Reformation, a. a. O. (wie S. 33, Anm. 8), 168.] 33 [Vgl. WA.TR 5, 300,9 (Nr. 5659): „Ei liber herr, es ist zu grob…“] 34 [Gustav] Kawerau hat in der Theol. Literaturzeitung im Lutherjahr 1917 (S. 268) in einer Rezension zu W. Walther, Luthers Charakter, betont, wie unrichtig es ist, Luthers manchmal verbohrte und grob ungerechte Kampfesweise zu bagatel­ lisieren. Auch Luther hat nicht immer der beim Urteil über Ketzer gängigen Versuchung widerstehen können, andere Meinungen, die der eigenen widersprechen, aus sittlichen Verirrungen zu erklären und in unschuldigen Äußerungen von Wider­sachern Arglist zu wittern. Niemand ist von Luther schlechter behandelt worden als Zwingli. Man stutzt, wenn Luther nach Zwinglis Tod erklärt, es sei besser und sicherer, ihn als verdammt anzusehen denn als selig. Denn auf diese Weise würden andere abgeschreckt. – Dozent Tor Andrae spricht von einem islamischen Apologeten, der Luthers Grobheiten in polemischer Absicht gegen das Christentum verwendet. Luthers Beschimpfungen des Papstes werden als abschreckendes Beispiel von Rohheit zitiert. Vgl. Rakhmetallah al-Hindi al Utmani Izkhar al Khaqq, Kairo 1294 (=1876–1877 n. Chr.), I, 7. 35 [Vgl. WA 7, 872,8–11. das Zitat Zeile 9–11.]

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fertige wort“, die er „oft gesprochen hatte, um die Traurigkeit aus seinem schwachen Fleisch zu vertreiben.“36 Das hinderte nicht, dass ­Luther danach seine Autorenehre mit einer Art blinder Bösartigkeit gegen Zwingli und andere besudelte, am schlimmsten vielleicht in dem letzten Buch gegen den Papst. Aber das gilt nicht für alle, nicht für die Mehrzahl seiner viel beredeten Grobheiten gegen die Widersacher. Wenn wir die moralische Entrüstung über Luthers Freigebigkeit mit Schweinen und Eseln und ähnlichen Anreden an seine „eingeteuffelt[en], durchteuffelt[en], uberteuffelt[en]“ Feinde und „Satans Kinder“37 teilen, so müssen wir, um nicht in beinahe ebenso unverzeihlicher Dummheit dazustehen, auch den­ Humor und die weitherzige Gutmütigkeit bemerken, die ein aufmerksamer Beobachter nicht selten unter den übel riechenden Schimpfworten des Bauern­sohnes entdeckt. Eine interessante Erklärung findet sich – nach der Aufzeichnung des jungen Mediziners Veit Dietrich, der Theologe wurde und mit Luther auf der Coburg weilte – aus Luthers eigenem Mund bei Tisch in Wittenberg Ende März 1532. Luther kannte sich selbst im Bösen wie im Guten. Hier nennt er mit gewohnt klarem Blick und Aufrichtigkeit die Versuchungen, [19], die er gehabt und nicht gehabt hatte. „Ich bin frei von Habgier, vor der Lüsternheit bewahrt mich das Alter und ein mitgenommener Leib, und ich habe nicht mit Hass oder Neid gegen irgend­ jemanden zu kämpfen. Allein der Zorn findet sich noch bei mir, der jedoch meistens gerecht und notwendig ist. Aber ich habe andere, größere Sünden.“38

Klarer kann man den Unterschied nicht machen. Hass und Neid finden sich nicht in seinen Zornesgewittern. Im Gegenteil. Er schrieb sich von solchen Gefühlen frei, wenn sie drohten sich einzustellen. Luther gehört zu denen, bei denen Aufbrausen und Widerwille nicht bestehen bleiben und sich als Hass festsetzen, sondern sich als Zorn entladen. Je gründlicher er sich gegen die Widersacher ereiferte, desto freier wurde seine Seele. Im Sommer des gleichen Jahres führt derselbe Gewährsmann eine Äußerung Luthers über die Kirchenväter an. Wir finden an vielen Stellen seine Vorliebe für Augustinus, dessen Bücher er „verschlungen, nicht gelesen“ hat, und den Widerwillen gegen Hieronymus, den er mit Duchesne und anderen teilt. Hier lässt er Augustin, dem „fromme[n] sunder“, entschieden den Vortritt vor sich selber. Er war „nit ßo zornig. S. Hieronymus wie wir all, ich, Doctor Jonas, Pommer [Bugenhagen], sind all zorniger.39“

36 [WA.TR 3, 81,7 f (Nr. 1573), bis auf die ersten beiden Worte im Original Lateinisch.] 37 Vgl. WA 54, 147,33. Dazu Hartmann Grisar, Luther, Bd. 3, Freiburg 1912, 257. 38 WA.TR 1, 87,23 f [im Original Lateinisch]. 39 WA.TR 1, 140,5. 11–13. [Das erste Zitat im Original Lateinisch.]

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Er wusste sehr wohl, dass „Doctor Luther ist ein grober gesell.“40 Luther ist sich der Beschaffenheit seines Zornes voll und ganz bewusst. Er ist grob und unbeherrscht, doch bleibt beim Widersacher keine Verletzung zurück. „Philippus sticht auch, aber nur mit pfrimen und naddeln, die stich sind vbel zu heylen vnd thun wehe. Ich aber steche mit schwein spiessen.“41 Locker führt er die Waffe, trotz seines massiven Gewichts, und dicht fallen die Hiebe. Der Streit war Luthers Element. Er setzte alle Kräfte seiner Seele in Bewegung. Nie arbeitete er leichter und mächtiger, als wenn heftiger Zorn Angst und Zweifel und alle hemmenden Gifte aus seinem Gemüt vertrieb [20] und es mit Tatkraft erfüllte. „… ira enim erfrischt mir mein gantz geblut, acuit ingenium, propellit tentationes.“42 Schon diese Erfahrung bezeugt die offene Ehrlichkeit ohne Falsch und das Fehlen eines gehässigen, bösartigen Willens. Es fiel Luther leicht, Nein zu sagen, und er redete in einer Sprache, die gehört und verstanden wurde, auch vom gemeinen Mann. Aber sie hinterließ keine Böswilligkeit. Die gute Laune oder zumindest das Lächeln des Humors im Untergrund kann man zwischen den Zeilen lesen. Es gibt manchmal deutliche Zurück­ weisungen, noch während der Enttäuschungen und Kränklichkeit der letzten Jahre, so als Philipp von Hessen im März 1545 eine abscheuliche Schmähschrift über Luthers Tod und Begräbnis auf Italienisch, Deutsch und Latein an ihn sandte. Luther schickte sie zurück samt einem Brief, in dem er den Verfasser „ein armer barmhertziger Scheispfaff“ nennt, „der da gerne wolte guet thun, und hat doch nichts ym bauche“, und gibt seine Absicht zu erkennen, als Antwort lediglich das Dokument drucken zu lassen. „Denn es sonst keiner antwort werd [wert].“ Er fügte dem Druck eine kurze Bestätigung bei, dass er sie gelesen habe. Die Bestätigung beginnt: „Vnd ich Martinus Luther D. bekenne vnd zeuge mit dieser Schrifft, das ich solchs zornig getichte von meinem tode empfangen habe am xxi. Marcij vnd fast [sehr] gerne und frölich gelesen, Ausgenomen die Gotteslesterung, da solche lügen der hohen göttlichen Maiestet wird zu geschrieben.“43

Die Erklärung für seine Art zu streiten hat Luther ein für allemal gegeben, als der Kurprinz Joachim von Brandenburg ihn in Wörlitz fragte, „weshalb er in so harter Form schreibe“. Luther antwortete: 40 [M. Luther, Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet (1545), WA 54 (206–299), 237,31.] 41 WA.TR 1, 140,29–31 (Nr. 348). ­Söderblom schreibt mit Berufung auf J. K. Seidemanns Konjektur (Anm. 14 zum Luthertext): „mit schweren Spießen“. 42 [WA.TR 2, 455,34 f (Nr.  2410a).] Vgl. dazu Heinrich Böhmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig / Berlin 41917, 156 f. 43 Der Brief vom 21.3.1545 steht als Nr. 4085 in WA.B 11, 58 (hier Z. 2–4), die Schmähschrift WA 54, 191–193, Luthers Zusatz WA 54, 193,30–33.

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„Vnser Herr Gott mus vor ein guten platz regen mit eim tonner lassen hergehn, darnach fein mehlich lassen regnen, so feucht es durch. Item ein weydens rutlin kan ich mit einem messer zerschneyden, zu einer harten eichen mus man parten [Axt] vnd [21] keyl haben, kan sie dennoch kaum spallten.“44

Luthers grobe Ausdrücke dienten nicht der Sache der Barbarei, sondern der Menschlichkeit. Sie entkleideten Dummheit und Überheblichkeit ihrer feierlichen Gewänder. Wie Zorn und Unmut auch donnern und blitzen, so bleibt doch keine böswillige und boshafte Giftigkeit und Bitterkeit zurück. Der Mann ist zu groß angelegt. Zu dieser Größe gehört der Humor. Die beiden unerfreulichen Dinge, die man vergeblich hinter Luthers starken, teils plumpen, teils treffsicheren Ausdrücken sucht, das sind die Missgunst, die seinen Mitstreiter Karlstadt von Bodenstein trotz großer unbestreitbarer Verdienste so klein macht, sowie in der Regel die Schärfe, die auf den Menschen persönlich zielt. Nach heftigen Auseinandersetzungen fällt ein versöhnlicher Schein auf das persönliche Verhältnis selbst. Ein Sonnenstrahl des Humors lugt aus dem Herzen hervor, wenn das Gewitter vorüber ist. Geraten Luthers Feinde oder solche, die ihm Kummer und Verdruss bereitet haben, in Not, so geht Barmherzigkeit in Strömen von ihm aus. Er kennt die gefährdete Lage des Menschen, wie leicht er fällt. Er kennt auch die Vergebung der Sünden. Ein Mönch, der im Jahre 1516 dem Kloster Schande bereitet hatte und geflohen war, wird mit folgenden Worten zurückgerufen: „Das ist mein verlorenes Schaf, es gehört mir, es ist meine Sache, das verirrte [Schaf) zurückzuführen, wenn es dem Herrn Jesus so gefällt … Ich werde ihn mit offenen Armen aufnehmen [sofern er denn kommt] … Ich weiß, ich weiß, dass Ärgernis kommen muss; es ist kein Wunder, dass der Mensch fällt, aber es ist ein Wunder, dass der Mensch wieder aufsteht …“45

Wenn es darauf ankommt, kann Luther selbst mit dem mitfühlen, der dem Evangelium großen Schaden zugefügt hat. In seinen 95 Thesen hatte Luther, von seinem Gewissen als Seelsorger getrieben, gegen den Ablasshandel Widerspruch eingelegt, ohne auch nur den Namen Tetzels, des Ablasskrämers, zu nennen. Trotz des Anstoßes, den Tetzel durch seinen zynischen Wucher mit dem Geschäft des Aberglaubens, für liebe Verstorbene und einen selbst die Strafe zu mindern, und mit seinem prahlerischen 44 WA.TR 1, 172,21–26 (Nr. 397). 45 An den Augustinerprior in Mainz, Johann Bercken, vom 1.5.1516, Nr. 13, WA.B 1, 39,9 f. 14 f. 17 f. [Im Original Lateinisch. ­Söderblom schreibt statt „Schaf“: „Kind“, und statt „des verirrten Schafes“: „es aus der Wildnis zurückführen“.]

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Auftreten erweckt hatte, wagte er einen herausfordernden und übermütigen Angriff auf [22] den Urheber der Thesen. Das nahm rasch ein böses Ende. Luthers Eingreifen tat seine Wirkung. Tetzel wurde zu einem verachteten Mann. Die Kirche gab ihn preis. Der päpstliche Kammerherr und Unterhändler Miltitz hat mehr als irgendjemand anderes zu dem schlechten Ruf Tetzels beigetragen. Erst die Forschung der letzten Jahre sowohl von Protestanten als auch von römischen Theologen hat Tetzel von entehrenden Meinungen über sein sittliches Leben rein gewaschen. Am Ende des Jahres 1518 zog er sich in sein Dominikanerkloster in Leipzig zurück und sah sich dort, der zuvor für sein Talent, durch Redegewandtheit für Rom und den Erzbischof Albrecht von Mainz Geld einzutreiben, so geschätzt war, vergessen und gebrochen, als Luther im Juli mit Eck auf der Pleißenburg disputierte. Lediglich die heftigen Vorwürfe Miltitz’ gegen Tetzel wegen unsittlichen Wandels hatten im selben Jahr an das Dasein des Ablasskrämers erinnert. Zur Zeit der Disputation war er bereits vom Tode gezeichnet, der am 11. August folgte. Wer hatte jetzt die Zeit und das Herz, ihm ein aufrichtig mitleidsvolles Gedenken zu widmen? Das war Luther. Er „tröstete ihn vor dem Tod mit freundlich geschriebenen Briefen und forderte ihn auf, guten Mutes zu sein“.46 Wenn jemand Zielscheibe für Luthers grobe Artillerie war, so war es der Papst. Auf die Phantasie des gemeinen Mannes machte nichts an­ Luthers Auftreten mehr Eindruck als die Entdeckung, die freilich andere vor ihm verkündet hatten, dass das Papsttum der Antichrist sei. Wir besitzen aus dem Jahre 1520, Luthers literarisch produktivstem Jahr, ein eigenartiges Dokument, das zeigt, wie sein Humor, wenn es um das Persönliche, nicht um die Sache ging, ein warmherziges Gefühl sogar hinter den Kraftausdrücken gegen das Papsttum verbarg. Man hat die Echtheit dieses Gefühls bezweifelt. Das ist eine klägliche Psychologie. Der Brief an Leo, als Vorwort zu Die Freiheit eines Christenmenschen verfasst, wurde nie abgeschickt. Der Brief ist falsch datiert. Miltitz verleitete Luther dazu. Das war nicht das einzige Mal, dass Luthers treuherziges Wesen ihm [23] einen Streich spielte.47 Doch diese Epistel an den „allerheyligsten in gott vatter Leoni dem czehenden, Bapst zu Rom“, mit dem diesem zugedachten Wunsch „alle selickeyt ynn Christo Jhesu unszerm hernn“ ist als psychologisches Dokument vielsagend. Luthers bissige Art zu schreiben, sagt er, richtete sich gegen die unchristliche Lehre seiner Widersacher, nicht gegen deren schlechte Lebensweise. Er kann nicht bereuen, sondern verweist auf die scharfen Schimpfworte, die Christus und Paulus benutzten. 46 M. Luther, aus der Vorrede zu Bd. I seiner lateinischen Schriften, 1545, WA 54, 194,34 f. 47 „… spielte ihm einen Streich“: Insbesondere geschah das in Bezug auf Kaiser Karl.

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„Darumb bitt ich, heyliger vatter Leo, wollist diße meyne entschuldigung dyr gefallen lassen, unnd mich gewiß fur den halten, der widder deyne person nie nichts boßis habe fur genummen, und der alßo gesynnet sey, der dyr wunsche und gahn [gönne] das aller beste … In allen dingen will ich yderman gerne weychen, das wort gottis wil ich und mag auch nicht vorlassen noch vorlaugnen.“ „Inn deß siczstu [sitzt du], heyliger vatter Leo, wie eyn schaff unter den wolffen, und gleych wie Daniel unter den lawen [Löwen], unnd mit Ezechiel unter den scorpion. Was kanstu eyniger widder ßo viel wilder wunder [Wundertiere, Monster], unnd ob dyr schon drey odder vier gelerte frum Cardinal zu vielen [fielen], was were das unter solchem hauffen? yhr mustet ehe durch gyfft untergahen. ehe yhr furnehmet der sachen zuhelffen.“ „O wolt gott, das du entledig von der ehre (wie sie es nennen, deyn aller schedlichsten feynd) ettwan von eyner pfrund oder deynem vetterlichenn erb dich halten [ernähren] mochtist!“ „Ists nit wahr, das unter dem weytten hymel ist nichts ergers, vorgifftigerß, hessigerß [Hassenswerteres], den der Romische hoff?“ „Sihe da, meyn H. vater, das ist die ursach und bewegung, warumb ich ßo hartt widder dißenn pestilentischenn stuel gestossenn habe, denn ßo gar hab ich myr nit furgenummenn widder deyne person tzu wutten, das ich auch gehoffet habe, ich wurd bey dyr gnad und danck vordienen, und fur deyn bestiß gehandelt erkant werden, ßo ich solchen deynen kerker, ja deyne helle nur frisch und scharff angriff …“

Dann folgt eine farbige Beschreibung, wie Kardinal Cajetanus, Kammerherr Karl von Miltitz und Professor [24] Johannes Eck ihre Aufträge gegen Luther ausgeführt hatten; besonders schlecht kommt der Letztgenannte weg. Er ist „deyn und des Romischen stuel feynd, von seynem eynigen exempel mag eynn ydermann lernen, das keynn schedlicher feynd sey, wenn eyn schmeychler.“ „Alßo kum ich nu, H. V. Leo, und zu deynen fuessen liegend bitte, ßo es muglich ist, wollist deyne hend dran legenn, den schmeychlernn, die des frids feynd seyn, und doch frid furgeben, eynen zawm eynlegenn. Das ich aber solt widderruffen meyne lere, da wirt nichts auß, darffs yhm auch niemant furnehmen, er wolt denn die sach noch yn eyn grosser gewyrre treybenn, da tzu mag ich nit leyden regel oder masse, die schrifft außzulegen, Die weyl das wort gottis, das alle freyheyt leret, nit soll noch muß gefangen seyn. Wo myr diße zwey stuck bleybenn, ßo soll myr sonst nichts auffgelegt werdenn, das ich nit mit allem willenn thun und leyden will.“ „Ich byn villeycht unvorschampt, das ich ein solche größe höhe zu leren werde angesehen, von wilcher doch yderman soll geleret werden, und wie ettlich dey-

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ner gyfftigen schmeychler dich auffwerffen, das alle künig und richter thron von dyr urteyl empfahen. Aber ich folge hyrynn S. Bernhard ynn seynem buch zu dem Bapst Eugenium48 , wilchs billich solten alle Bepst außwendig künden. Ich thue es yhe nit der meynung, dich zu leren, ßondernn auß lautter trewlicher sorge unnd pflicht, die yderman billich tzwingt, auch ynn den dingen fur unßer nehsten uns bekümmern, die doch sicher seyn, unnd leßsit uns nit acht haben auff wirde oder unwirde, ßo gar vleyßsig sie war nympt des nehsten far und ungefar [Gefahrlosigkeit, Wohlergehen].“

Mit solchen Worten wollte Luther sich an das Oberhaupt der Christenheit wenden. Und um nicht mit leeren Händen zu kommen, fügte er hinzu „eyn buchle“, das „kleyn“ ist, „ßo das papyr wirt angesehen, aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen, ßo der synn vorstandenn wirt.“49 Nur eine schlechte Psychologie sieht in dem Brief Verstellung. Die [25] schroffe Zurechtweisung ist ebenso aufrichtig wie der herzliche Ton gegenüber dem Papst persönlich. Dass beide zusammen in Luthers Seele Platz hatten, beruhte auf seinem Humor. 2. Darüber hinaus muss man bei der Beurteilung von Luthers harter Sprache in der geistigen Auseinandersetzung bedenken, dass das Wort seine einzige Waffe war. Er kämpfte mit dem Wort, nicht mit dem Schwert. Er hatte keinen Zugang zu Gefängnis, Henkersschwert und Scheiterhaufen wie seine Gegner. Entging Luther selbst dem Ketzertod, so war das nicht die Schuld des Papsttums und des katholischen Kaisers. Seine eigenen Anhänger bekamen von Rom eine schlimmere Kampfesmethode zu spüren als Luthers schlimmste Vokabeln. Am 1. Juli 1523 wurden zwei junge Ordensbrüder von ihm in Brüssel um des Evangeliums willen verbrannt. Es war übrigens deren Märtyrertod, der in Luthers Seele den Quell der Dichtung entspringen ließ. Sie blieben nicht die einzigen Blutzeugen der Reformation, sondern eröffneten eine Reihe, die niemand gezählt hat. Was Luther betrifft, so gehörte zu den Lehren, die in der päpstlichen Bannbulle des Jahres 1520 verurteilt wurden und die ihm damit das Recht zu leben verwirkt hatten, auch der von Luther verfochtene Satz, dass es gegen Gottes Geist sei, Ketzer zu verbrennen. Luther hat den Grundsatz

48 [Bernhard von Clairvaux hatte 1148 seine Schrift De consideratione Papst­ Eugen III. gewidmet. Er war dem Papst treu ergeben und konnte sich gerade deshalb scharfe Kritik am Papsttum, vor allem an dessen weltlichen Machtbestrebungen und an der Schmeichelei in der Kurie, erlauben.] 49 M. Luther, Ein Sendbrief an den Papst Leo X. (1520), WA 7, 3–11, in Auszügen zitiert. Vgl. auch die Einleitung des Hg. S. 1 – Das im letzten Zitat erwähnte Buch ist die Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen.

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nicht konsequent durchführen können, dass geistige Verirrungen allein mit geistigen Waffen bekämpft werden sollen. Richtiger: er hat in bestimmten Fällen der Obrigkeit ihr Recht zugestanden, das Schwert zu führen, wenn eine geistige Angelegenheit durch ihre Bedeutung für die weltliche Gemeinschaft unter die Gerichtsbarkeit der Obrigkeit fällt. Und der Zorn hat Luther überrumpelt und ihn dazu gebracht, gelegentlich Dinge zu verleugnen, die er sonst hoch hielt. Doch an dem Grundsatz hat er lebenslang festgehalten und ihn unzählige Male mit unbeirrtem Nachdruck zur Geltung gebracht. So schrieb er im Jahre 1520: „… ßo solt man die ketzer mit schrifften, nit mit fewr ubirwinden, wie die alten vetter than habenn. Wen es kunst were, mit fewr ketzer ubirwindenn, ßo weren die hencker die geleretisten doctores auff erdenn, [26] durfftenn [brauchten] wir auch nit mehr studierenn, ßondern wilcher den andern mit gewalt ubirwund, mocht yhn vorprennenn.“50

3. Luther ist weiterhin stark und schroff in seinen Ausdrücken. Er brauchte nicht Widersacher vor sich zu haben, um ein Register benutzen, das für unsere Ohren polternd ist, manchmal unerträglich. Nicht bloß in der Polemik ist er grob. Er nennt die Dinge bei ihrem rechten Namen, oder eher bei ihrem drastischsten Namen. Nichts wird aus Rücksicht oder um des guten Tones willen verschwiegen. Es gibt wenige ebenso würzige Autoren in der Weltliteratur. Es gibt keinen, der realistischer zu sehen und zu schildern vermag. Offen und wie die natürlichste Sache der Welt spricht Luther von Dingen, die man sonst verschweigt. 4. Es gehörte zu der Zeit, dass man aussprach, was alle wussten. Der Geschmack hat sich gewandelt. Die Zurückhaltung bezüglich der Nacktheit in manchen menschlichen Beziehungen, die in der Aufklärungszeit im 18. Jahrhundert aufkam, macht Luthers Schreibweise und Sprachgebrauch für einen heutigen Leser manches Mal anstößig. Ein Teil unserer alten

50 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6 (404–469), 455,21–25. – In der Schrift von 1523 Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei lesen wir: „… ketze­ rey kan man nymer mehr mitt gewallt weren. Es gehörtt eyn ander griff datzu, unnd ist hie eyn ander streytt unnd handel denn mit dem schwerd. Gottis wort soll hie streytten, wenns das nicht auß richt, ßo wirtts wol unaußgericht bleyben von welltlicher gewallt, ob sie gleych die wellt mit blutt füllet. Ketzerey ist ein geystlich ding, das kan man mitt keynem eyßen hawen, mitt keynem fewr verbrennen, mitt keynem wasser ertrencken. Es ist aber alleyn das Gottis wortt da, das thutts, wie Paulus sagt 2. Cor 10, 4–5.“ WA 11, 268,22–29.

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Kirchenmalereien würde in unserer heutigen Zeit vor der Sitten­polizei schlecht bestehen können. Aber auch wenn man Luther mit früheren und zeitgenössischen Autoren vergleicht, behält er seine spezielle, höchst unpassende, freimütige Würze. 5. Luthers Realismus gleicht dem Alten Testament und Shakespeare. 51 Es ist mit Luther wie mit diesen. Die Grobheit wird niemals abstoßend und widerlich. Sie ist niemals ein dummer Ausrutscher aus einem inneren Schlammpfuhl. Das macht den Unterschied so groß zwischen Luther und vielen seiner Widersacher, die bereits zu seinen Lebzeiten eine Menge Zeit und Mühe darauf verwendeten, das Bild von Luthers Persönlichkeit und Privatleben mit einer stinkenden Schicht von Schmutz und Unflat zu überziehen. Dass solche Legenden leider noch heute in der römischen Katechismusunterweisung offiziell eingebläut werden, ist sicherlich für aufgeklärte Katholiken [27] Anlass zur Klage. 52 Selbst ein so hoch verdienter Mann wie der Dominikaner Denifle hat den Skandalhunger mit seiner bewundernswerten Gelehrsamkeit zu befriedigen gesucht. Solche Legenden haben ihrem Gegenstand nicht schaden können, doch bezeugen sie zum Überfluss den in der Mönchsphantasie der frommen Eiferer versteck51 Schon Johannes Mathesius verglich Luthers grobe Sprache mit der Bibel in den Predigten, die er in Joachimsthal in Böhmen über den Reformator gehalten hat, gedruckt unter dem Titel Historien. Von des Ehrwirdigen thewren in Gott Seligen Manns Gottes, Doctoris Martini Luthers, anfang, lehr, leben vnd sterben, Nürnberg 1564. Vgl. J. M., Ausgewählte Werke, hg. v. G. Loesche, Bd. 3 Luthers Leben in Predigten (Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen 9), Prag 1898, 322: „Wer der Propheten bücher nicht gelesen, vnd kennet des heiligen Geystes sprache nicht, die er vom Son Gottes gehört, vnd durch sein Propheten hat auffschreiben vnnd auff uns behalten lassen, der ergert sich an den worten dises guten buchs.“ [Der Zusammenhang (S. 320) zeigt, dass Mathesius die Schrift Wider Hans Worst meint. S­ öderblom schreibt am Ende des Zitats: „der ärgert sich über Luthers Sprache“, und im Titel versehentlich statt „anfang“: „Aufzug“.] 52 So steht in Mgr. Gaumes von Gregor XVI. in Auftrag gegebenem Katechismus über Luther: „Nachdem er ein skandalöses Leben geführt hatte, starb er beim Verlassen einer Mahlzeit, bei der er sich nach seiner Gewohnheit mit Wein und Fleisch vollgestopft hatte.“ Der Protestantismus ist, so heißt es weiter, gegründet auf „vier große Libertinisten“ [nämlich nach Machiavelli als Vorläufer: Luther, Zwingli, Calvin, Heinrich VIII.], „seine Quelle ist das heidnische Prinzip der Insubordination, … er produziert unendlich viel Elend.“ [­Söderblom übersetzt zusammenfassend: „er ist die Quelle aller Revolutionen und aller Verbrechen“. Jean-Joseph Gaume, Catéchisme de persévérance, Paris 401878, 386–388.] Wie viel ansprechender ist die Opposition bei einem Grisar, einem Evers, einem Kiefl und anderen katholischen Forschern gegenüber der herkömmlichen Methode der römischen Polemik! Zu Kiefl vgl. CCW 27/1917, 382 f. In Luthers Kleinem Katechismus findet sich überhaupt keine Polemik gegen Rom oder den Papst, die im Gegenteil einbezogen sind in „die ganze Christenheit auf Erden“.

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ten Schmutz. Luther hat in den Augen der Forschung den Dreck von sich abgeschüttelt. Auch die recht Gesonnenen unter den Widersachern erkennen das. Er stellt im Übrigen sich selbst und seine persönlichsten Umstände in Briefen, Schriften und uns überlieferten Tischreden, ebenso wie zeitgenössische Schilderungen, mit einer brutalen Offenheit dar, die niemals absichtlich etwas verbirgt, um ihn weniger anstößig zu machen, als er war. Es liegt nahe, auch in dieser Hinsicht Luther und Erasmus nebenein­ ander zu stellen. Ein Vergleich mit dem neben Luther größten Mann der damaligen geistigen Welt fällt im Blick auf den sittlichen Geist in Witzen und Grobheiten zum Vorteil des Grobians, nicht des feinen Humanisten aus. Solche Frivolitäten, wie sie im Encomium moriae stehen, sucht man in ­Luthers gesamter Produktion, Briefe und Tischreden eingeschlossen, bei all ihrer rücksichtslosen Offenheit vergebens. Man versteht gut, dass eine Sichtweise aufkommen konnte, die Luther profan, brutal und abstoßend findet und sich im Namen sowohl der Religion als auch des guten Tons über ihn entrüstet. Doch nur bei oberflächlicher Bekanntschaft und mangelndem Überblick und Vergleich kann man bei einer solchen Ansicht bleiben. Für denjenigen, dessen Beruf die Religion ist, liegt die Gefahr nahe, dass das Heilige seine Weihe verliert. Es wird in allen kirchlichen Gemeinschaften vorkommen, dass Laien ohne besonderen Anspruch auf Frömmigkeit an der ungenierten Art und Weise Anstoß nehmen, in der manche Diener der Religion über religiöse Dinge reden und scherzen. Trotzdem können wir, die wir in der evangelischen Christenheit und in dieser unserer Zeit erzogen worden sind, uns keine Vorstellung [28] von den Äußerungen machen, zu denen solche Selbstherrlichkeit in Luthers Zeit sich herbeiließ. Fast will einem Luthers Sensibilität, wenn es um heilige Dinge ging, als beschränkt und halsstarrig erscheinen gegenüber der Freiheit, die man sich herausnahm. Konnte man sich auf Kosten der Religion, Gottes und der Heiligen lustig machen, so gönnte man sich das gerne. Hohn und grobe Witze über Zeremonien und Dogmen gehörten zum guten Ton. Hier geriet Luther hoffnungslos ins Hintertreffen. Der römische Freisinn entsetzte ihn. In Rom wurde der Ausdruck „bon Christian“ ironisch verwendet. Noch im Herbst 1542 erzählte ­Luther bei Tisch, dass man ihn in Rom schlicht verhöhnt hatte, weil er so fromm sein wollte, und dass man einen Christen für einen Narren hielt. 53 Die vier Wochen, die Luther um die Weihnachtszeit 1510/1511 in Rom zu-

53 [Vgl. WA.TR 5, 181,27–29 (Nr. 5485): „Man spott nur simpliciter vnser, das wir so from munch waren, vnd hilten einen christen nur fur einen narrn.“] Vgl. Otto Scheel, Martin Luther, Bd. 2, Tübingen 1917, 276 mit 424 Anm. 158, und 274.

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brachte, wurden für ihn zum Anstoß und Schmerz. Andacht und Freude erfüllten das Herz des Pilgers, als es die Umstände ihm erlaubten, ans Ziel seiner Träume zu kommen. Umso bitterer war die Enttäuschung und der Zorn, als er hörte, wie mit dem Heiligen Schabernack getrieben wurde, wie Priester am Tisch, von anderen groben Witzen ganz zu schweigen, lachten und sich damit brüsteten, dass einige in der Messe die Worte benutzten: „Brot bist du, Brot sollst du bleiben, Wein bist du, Wein sollst du bleiben.“54 Spott und Leichtfertigkeit in heiligen Dingen blieben für Luther lebenslang ein Gräuel. Nicht einmal die mörderische Satire in den Literae obscurorum virorum konnte er ertragen.55 6. Luthers Kraftausdrücke und Grobheiten wirken auch nicht bemüht. In der Regel kommen sie frisch und plötzlich. Man merkt, dass die ungehobelten Vokabeln weder auf dürftigen Wortschatz noch auf Effekthascherei beruhen, sondern dass sie von jemandem kommen, der über alle Nuancen der Sprache verfügt und frei die benutzt, die er für die besten hält, um sein Gefühl und die Sache zum Ausdruck zu bringen. Es mag von Interesse sein, Luther in dieser Hinsicht mit einem anderen von [29] den besten Schriftstellern der Zeit zu vergleichen, mit dem Humanisten unter den Rittern und dem Ritter unter den Humanisten, Ulrich von Hutten. Dann erscheinen die Grobheiten Luthers in einem anderen Licht. Bei Hutten wirken Witz und Schelte ein wenig trockener, eher gesucht und ausgefeilt. Luther ist nicht wählerisch, für unseren Geschmack nicht selten widerwärtig. Aber das kommt von allein. Die Ausdrücke bieten sich ihm von selbst an. Warum nicht mit starken Farben malen, damit man es sehen kann, und dick aufgetragen, damit es genug ist? Es kommt dem sächsischen Bauern­ sohn nicht in den Sinn, eine saftige Vokabel oder zwei zurückzuhalten. Es riecht nach versengter Haut und stinkt weithin nach Natur. Aber es ist „sauberer Schmutz“. Hausrath hat darauf hingewiesen, wie schnell ganz allgemein Scherz und Witze veralten. Satire und Einfälle, die frühere Zeitalter über die Maßen in Bewunderung versetzt und ergötzt haben, kommen uns altbacken und zopfig vor. Der Witz knüpfte an Verhältnisse und Ausdrucksweisen 54 [Vgl. M. Luther, Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe (1533), WA 38 ­(195–256), 211,34–212,3: „Da höret ich unter andern guten, groben grumpen (starken Stücken) uber tissche, Curtisanen lachen und rhümen, wie ettliche messe hielten, und uber dem brod und wein sprechen diese wort: Panis es, panis manebis, vinum es, vinum manebis, und also auff gehaben (zum Konsekrieren erhoben).“ Vgl. auch WA.TR 3, 313,3–6 (Nr. 3428).] 55 [Die Epistolae obscurorum virorum (Dunkelmännerbriefe) sind eine sehr einflussreiche, in Briefform 1515/16 publizierte Satire deutscher Humanisten (vor allem­ Ulrich von Huttens) auf die Scholastik.]

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an, die uns heute unbekannt sind. Die Frische ist damit entschwunden. Wir studieren solchen Humor im Herbarium. Verstehen wir, wie treffend er war, so geschieht das durch Studium und Reflexion, die uns bereits von der unmittelbaren Aufnahme, der Lebensluft des Witzes, entrückt haben. Dieses Schicksal ist über Hutten und in hohem Maße auch über Erasmus ergangen. Luther gehört zu den wenigen Meistern der Satire und des Humors, die noch heute ebenso verständlich und – zur Freude oder zum Ärger – ebenso quicklebendig sind wie damals, als sie ihre Zeitgenossen den Mund zum Lächeln verziehen ließen oder mit ihrem homerischen Gelächter reizten oder ansteckten. 7. Wir müssen auch mit Luthers Aufrichtigkeit rechnen, vielleicht seiner hervorstechendsten Eigenschaft. Der Wirklichkeitssinn brach durch alle herkömmlichen Unwahrheiten hindurch. Luthers ganze Reformation ist ein unabweisbarer Eingriff der Wahrhaftigkeit in Scheinwesen und Künstelei. Carlyle hat richtig gesehen, anders als viele spezialisierte Lutherforscher, wenn [30] er in der scharfsinnigen und rücksichtslosen Aufrichtigkeit Luthers vornehmstes reformatorisches Merkmal sah. 56 Hier ist ein Wort vonnöten über Luthers Stellung zum Zölibat und was damit zusammenhängt. Bei Luther fand sich, wie wir gesehen haben, keine Spur von konventionellen Rücksichten. Zu diesen gehörte zu seiner Zeit ebenso wie heute, jedenfalls in kirchlichen Kreisen – beim Volk und den Außenstehenden war die Unkeuschheit des heiligen Standes Tagesgespräch –, dass man nicht an das Elend rührte, das der Zwangszölibat mit sich brachte. Luther wagte es auch an diesem Punkt, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Die Folge in seiner Sichtweise war bekanntlich die gesunde, aber urtümlich krasse und offenherzige Reaktion der Natur. An Stelle herkömmlicher Heuchelei forderte Luther das Recht der Natur auf eine Weise ein, die zwar manchen sittlichen Forderungen des Zartgefühls nicht Rechnung trägt, aber für die Christenheit durch Aufdeckung der Heuchelei einen unschätzbaren Segen bedeutete. Dieser der Wahrheit geschuldete Akt schenkte der Kultur der evangelischen Länder die Pfarrhäuser. Menschen kirchlich zu trauen war für den Mönchsprofessor eine ungewohnte Tätigkeit und brachte sowohl lächerliche als auch lästige Verwicklungen mit sich. Man wird sich nicht darüber wundern, dass er, so lange wie möglich gutmütig und hilfsbereit, manchmal das Absonderliche seiner – im Übrigen seit alters, besonders in den romanischen Ländern, der Priesterschaft zukommenden – Nebenbeschäftigung als Heiratsbüro sehen musste. In solchem Licht versteht man ein paar Stellen in den Briefen, die eifrig ausgeschlachtet worden sind. 56 Vgl. Thomas Carlyle, Heroes … (wie S. 34, Anm. 9), 124–127.

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Man verheiratete ihn einmal mit der einen, einmal mit der anderen. Am 16. April 1525 schrieb er an Spalatin: „Das ist noch wunderlicher, dass ich, der ich so oft über die Ehe schreibe und auf diese Weise mit Frauen zu tun habe, nicht schon längst zur Frau geworden bin, ja, dass ich noch nicht einmal eine heimgeführt habe.“57 Manchmal riss ihm der Geduldsfaden. Eines Tages im Mai 1532, als­ Luther schon in sein Schlafzimmer gegangen war, kam ein Sendbote von der Witwe Pastor Balthasar Zeigers in Belgern und bat um einen Ehemann. Luther antwortete: „Date [Gebt ihr irgendeinen]! Sie ist vber sieben jar! Sie muß sehen, wen sie nehme; ich kan ir kein geben.“ Als der Brautwerber gegangen war, wandte Luther sich lächelnd an Johannes Schlaginhaufen, der die Episode aufgezeichnet hatte, und sagte: „Ego rogo propter Deum, Turbicida, scribite hoc [ich bitte Euch um Gottes Willen, Schlaginhaufen, schreibt dies auf]! Ists nicht ein plag? Sol ich erst den weibern auch mannen geben? Ich mein, sie halten mich vor ein huren wirt! Pfu dich, du welt! Lieber, schreibts vnd merkhts!“58

Luther war durch Barmherzigkeit motiviert. Er wusste, wie es in der Wirklichkeit aussah, und bedauerte „die armen Menschen“ in ihren jämmerlichen Verhältnissen.59 Der Notstand zwang ihn, sich mit einer Menge Sorgen von Mönchen und Nonnen und Priestern im Allgemeinen und mit Ehesorgen im Besonderen zu befassen. Fügt man hinzu, dass Ehesachen und Scheidungsfragen immerfort seiner Beurteilung zugeschoben wurden, so ist es leicht erklärlich, dass – außer dem Streit um die Lehre und dem Trost für das Gewissen – kaum ein Thema in der umfangreichen Briefsammlung öfter wiederkehrt als eheliche Verhältnisse in dem einen oder anderen Zusammenhang. Da entsteht leicht der Anschein, dass die Angelegenheit für die Entstehung der Reformation selbst eine wesentliche Rolle gespielt hätte. Von diesem Anschein hat man fleißig Gebrauch gemacht. Er ist nichtsdestoweniger falsch. Was Luther selbst betrifft, so ist die Sache klar. Er selbst wollte nicht heiraten, trotz der Versuche seiner Freunde, ihn dazu zu bringen. Es dauerte mehrere Jahre, bis er sich entschloss, die Ehe einzugehen, obwohl er das Bestreben anderer Geistlicher, eine Familie zu gründen, lebhaft guthieß und sie dazu ermunterte. Katharina von Bora, von Luther für einen anderen gedacht, überrumpelte ihn mit dem Wunsch, den Doktor selbst zu bekommen oder aber keinen. Es gereute ihn nie. Aber wir besitzen aus verschiedenen Zeiten seines Lebens Zeugnisse darüber, 57 Brief an Spalatin vom 16.4.1525, Nr. 857, WA.B 3, 475,14–16 (im Original lateinisch). 58 WA.TR 2, 123,7–12 (Nr. 1525). 59 Vgl. Brief an Melanchthon vom 1.8.1521, Nr. 424, WA.B 2 (370–372), 371,49.

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dass er dem ehelosen Stand im Dienst der Religion [32] großen Wert beimaß, so sehr er auch die Ehe als göttliches Werk pries.60 Als er Katharina von Bora zur Frau genommen hatte, gaben die Ehe und das Heim ein so liebenswertes und ansprechendes Bild von treuer Hingabe, Genügsamkeit, Hilfsbereitschaft, Arbeit, Gemüt und Humor ab, dass selbst solche, die sonst Luther gram sind und für sich selbst den Zwangszölibat gutheißen, sich davon angesprochen fühlen müssen.61 Doch das reichliche Vorkommen ehelicher Verhältnisse in Luthers Wort und Schrift hat leicht zu Fehlurteilen geführt, wenn es ernst wird; erst recht, wenn solche Dinge ebenso offenherzig wie burlesk in Luthers Scherzen auftauchen. Will man an Luthers persönliche Einstellung zu den gängigen unzüchtigen Gewohnheiten und Literaturerzeugnissen herankommen, so gibt es Beispiele im Überfluss selbst für den, der nicht in der Lage ist, die sittliche Atmosphäre in der Redeweise des einen oder anderen Schreibers wahrzunehmen. Wir sahen Luther auf der Coburg über die Fabeln Äsops schreiben. Wenn man bedenkt, wie sehr er mit dringenden Angelegenheiten von höchstem Gewicht beschäftigt war, muss man mit dem Jesuiten Hartmann Grisar beachten, wie sehr es ihm am Herzen lag, der Jugend gesunde Lektüre zum Vergnügen zu verschaffen. So geringfügig die Sache der gewöhnlichen damaligen Sicht auch erscheinen mochte, opferte Martin Luther dennoch Zeit und Mühe dafür. Es galt, der Ausgabe von Steinhöwel entgegen zu wirken, die, erweitert durch Zusätze aus Poggios Facetiae, damals im Schwange und von bedenklicher Unanständigkeit war.62 Man hatte „so schendliche, unzuechtige Bubenstueck darein gemischt, das kein zuechtig, from Mensch leiden, zuvor kein jung Mensch one schaden lesen oder hoeren kan …“63 Luthers Übersetzung des Äsop wurde nie fertig. Im Jahre 1538 las er das Vorwort einem Freund vor. Daraus geht 60 Vgl. Brief an den Rat zu Herford vom 31.1.1532, Nr. 1900, WA.B 6, 254 f. Vgl. auch H. Grisar, Luther, Bd. 2, Freiburg 1911, 515. 774. [Dort wird der Sermon Von den guten Werken (1520) zitiert: WA 6 (202–276), 268 f. (und dazu die Handschrift, WA 9, 293 f.).] 61 Man hat auf den Unterschied hingewiesen zwischen Zwinglis Ehe, die, von Anfang an geheim gehalten, eine wenig sympathische Episode im Leben des Schweizer Reformators blieb, und dem häuslichen Leben in dem früheren Augustiner­kloster in Wittenberg: vgl. G. Bossert, Rez. von Zwingliana 3/1916, in: ThLZ 42/1917 (133–135), 134. – Eine solche Hochschätzung von Luthers häuslichem Leben findet sich auf katholischer Seite bei Evers, Martin Luther, nach Grisar, a. a. O., Bd.  2, 608, und anderen. ­ oggio 62 [Vgl. Heinrich Steinhöwel, Esopus, Augsburg 1476. Gian Francesco P Bracciolini (1380–1459) war ein Florentiner Humanist; zu ihm vgl. BBKL 7, 778–781.] 63 [Etliche Fabeln aus Esopo, übersetzt von Martin Luther (1530), WA 50 ­(452–460), 454,18–20 (aus der Einleitung).]

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hervor, dass er ein Buch zum Vergnügen und zur Freude für Kinder und einfache Leute schaffen wollte, unter Ausschluss von anstößigen Partien. Er empfand auch auf diesem Gebiet die Notwendigkeit, die muffige Luft hinauszulassen. [33] 8. Wenn wir von Offenherzigkeit sprechen, so muss hinzugefügt werden, dass Luther auch gegen sich selbst aufrichtig war. Aufs Ganze gesehen ist Luther seine brutale Offenheit bei einem Teil der Beurteiler schlecht bekommen. Er lässt seine wahrheitsliebende Offenheit ebenso frei über sich selbst walten wie über andere. Er verbarg nichts. Unter dem Druck der Angst und des Schuldbewusstseins hat Luther sich selbst Sünden angedichtet, die er gar nicht begangen hatte; schon sein Beichtvater im Kloster warf ihm das vor. Er hat nachweislich sich selbst vielfach schlechter gemacht als er war, was jedoch Denifle nicht daran hindert, Luthers Selbstanklagen mehr Glauben zu schenken als Zeugnissen über Luthers Leben wie von Erasmus, Melanchthon und anderen. Die Forschung hat trotz allen Eifers keinen Schmutzfleck auf Luthers Leben finden können. Doch selbst unwahre oder übertriebene Äußerungen von Selbstvorwürfen zeugen von der Freiheit von Pose und Affektiertheit. Am fernsten steht Luther dem Pharisäismus. Er legt nie etwas zurecht, um es besser aussehen zu lassen. Im Allgemeinen verrät sein Selbstverständnis eine verblüffende Treffsicherheit; stets ist es subjektiv aufrichtig. In seiner Selbstbeurteilung suchen wir vergebens nach der genüsslichen Art, Abscheuliches auszubreiten und zu schockieren und sich selbst zu bedauern, wie wir sie bei solchen Selbstbeschauern wie Rousseau und Strindberg finden. Er hat nichts von der unbewussten Neigung eines Kierkegaard, sich selbst und seine geistige Haltung interessant und bemerkenswert zu machen. Dafür war Luthers seelische Not zu bedrängend und zu stark. Man kann sich fragen, ob es in der Literatur überhaupt jemanden gibt, der vermocht hätte, offenherziger von sich selbst zu sprechen als Luther, ohne den Anflug irgendwelcher Allüren, ohne etwas zu verheimlichen, ohne Angst davor, alles bloß zu legen. Er scheute die Öffentlichkeit nicht. Wir werden das besser verstehen, wenn wir im Kapitel über seine Seelenqual bemerken werden, dass sie so groß und überwältigend war, dass [34] im Vergleich damit alles andere geringfügig erschien. Hier ist die Frage: War da Humor in seiner Selbstbetrachtung? 9. Aufrichtig ist gewiss die Erkenntnis seiner eigenen Begabung und Bedeutung. Man kann auf die Hochschätzung seiner Berufung und seiner Gaben verweisen. Luther wusste sich von Gott gesandt um des Evangeliums willen. Er spricht von „meinem Evangelium“. „Es ist [mir] nicht erlaubt daran zu zweifeln, dass ich vom Herrn gerufen bin“, heißt es in einem Brief am Tag von St. Thomas, dem Märtyrer, voll ruhiger Bereit– 56 –

schaft, um des Evangeliums willen alles zu tun und zu leiden. „Gott hat mir durch seine Gnade diese Lehre offenbart.“64 In dem berühmten Brief aus Borna am 5. März 1522 erinnert er den Kurfürsten daran, „daß ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unsern Herrn Jesum Christum habe“ – Worte, die an die Gewissheit des Paulus erinnern. „Der heilige Geist spricht durch meine Zunge.“65 Er wird von seinem Freunden allgemein Elias genannt und macht sich das in einem Brief von 1535 zu Eigen. „Dieser Mann [scil. Caspar Cruciger] ist, wenn mich die Liebe nicht täuscht, ein solcher, der an Elisa erinnert, wenn ich Elias sein soll (um das Kleine mit dem Großen zu vergleichen) …“66 Er wusste, dass er treu gewesen war, auch wenn er nicht klug hatte sein können. Er ist ein zweiter Paulus, „einer von den Aposteln und Evangelisten in Deutschland“.67 Gott „zwingt und beruft ihn.“ „Wenn auch … St. Petrus, Paulus … oder ein Engel vom Himmel anders lehrte [als ich], so weiß ich doch ganz gewiss, dass ich nicht Menschliches vertrete, sondern Göttliches, das heißt, dass ich Gott alles zuschreibe, den Menschen nichts.“68 „Mit Paulus erklären wir in voller Sicherheit und Gewissheit jede Lehre für verdammt, die von der unseren abweicht.“69 Luthers Selbstbewusstsein ist ein interessantes Studium. Man findet schnell heraus, dass es zur Schärfe und Klarheit seiner Intelligenz gehört. Das hat er mit all den [35] ganz Großen gemeinsam, mit Jesaja und Sokrates, Beethoven und Goethe.70 Es hätte der leidenschaftlichen Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit in Luthers Wesen widersprochen, die Überlegenheit zu verleugnen, die er besaß und de64 [Der erste Satz steht in dem Brief an Spalatin vom 29.12.1520, Nr. 365, WA.B 2 (242 f), 242,10 f. Die Fortsetzung lautet dort: „… wenn der Kaiser ruft“; es geht um die Vorladung zum Wormser Reichstag. Der zweite Satz steht in der Vorlesung zum 1. Johannesbrief von 1527, in etwas anderer syntaktischer Fassung: WA 20 (559– 740), 674,22 f.] 65 Brief an Kurfürst Friedrich vom 5.3.1522, Nr. 455a, WA.B 2 (453–457), 455,40–42. [Der letzte Satz steht in der Promotionsdisputation für Hieronymus Weller und Nikolaus Medler, WA 39/I (59–62), 62,4.] 66 Brief an Nikolaus Gerbel in Straßburg vom 27.11.1535, Nr. 2275, WA.B 7, 329,17– 19 (im Original Lateinisch). Vgl. H. Grisar, Luther, Bd. 1, 461 und Bd. 2, 468. 67 [„… das wen ich mich rhümen wolte, mochte ich mich yn gott noch woll der Aposteln und Euangelisten ynn Deudschen lande einen rhuemen …“] Wider den Rathschlag der Mainzischen Pfafferei Unterricht und Warnung (1526), WA 19 (260–282), 261,24–26. 68 [In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius (1535), WA 40/I, 131,17–20.] 69 [Ebd., WA 40/I, 123,15–17.] 70 Vgl. meinen Aufsatz Bidrag till den kristna uppenbarelsetrons tolkning, S. 14 in UUÅ 2/1911.

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ren er bewusst war. Im Jahre 1533 schrieb er zur Verteidigung gegen die Anklage Herzog Georgs, er habe zum Aufruhr aufgerufen, die bekannten Worte: „… solchen rhum und ehre habe ich (von Gotts gnaden) davon, Es sey dem teufel und allen seinen schupen [Gefolge] lieb oder leid, das sint [seit] der Apostel zeit kein Doctor noch Scribent, kein Theologus noch Jurist, so herrlich und klerlich die gewissen der Weltlichen stende bestettigt, unterricht und getroestet hat, als ich gethan habe, durch sondere Gottes gnade, das weis ich fuer war. Denn auch Sanct Augustinus noch Sanct Ambrosius (die doch die besten sind jnn diesem stuecke) mir nicht gleich hierin sind, des rhueme ich mich, Gott zu lob und danck, dem Teuffel und allen meinen Tyrannen und feinden zu leid und verdries …“71

Denn „Gottes Gaben soll man sich rühmen.“72 In einer Predigt von 1544 stellt er sich selbst in eine Reihe mit Petrus, Paulus, Augustinus, Ambrosius, Hus.73 Es gibt eine Unmenge von Beispielen. Doch die Einsicht in die eigene Berufung schloss Überheblichkeit aus; sie beruht auf einer männlichen und unbedingten Demut, die sich in drei hauptsächlichen Beziehungen zeigt. A. Vor der Größe der Sache wird seine Person zu nichts, lediglich ein unvollkommenes Werkzeug. „Es steht nicht in unserer Macht“, schrieb er 1522 an Staupitz, „[Gott] tut es [scil. das Reich des Papstes vernichten] gewiss ohne uns, ohne eine Hand, allein durch das Wort.“74 Im selben Jahr heißt es gegen das Buch des englischen Königs Heinrich: „Hie stehe ich, hie trotz ich, hie stoltzire ich und sage: Gotis wort ist myr uber alles, gotlich maiestet steht bey myr, drumb geb ich nicht eyn har drauff, wenn tausent Augustinus, tausent heintzen kirchen dazu wider mich weren …“75

[36] Der Erfolg des Evangeliums war unabhängig von seiner und jedes Menschen Tauglichkeit. Was vermag der Mensch? Er ist ein Nichts. Würde 71 Verantwortung der aufgelegten Aufruhr von Herzog Georgen (1533), WA 38 (96–127), 103.4–12. 72 [WA.TR 5, 190,14 (1542, Nr. 5494) angesichts der tödlichen Krankheit seiner Tochter Magdalene.] 73 [Vgl. Die ander Predigt Von der Todten Aufferstehung, WA 49 (422–441), 435,35 f.] 74 [Brief an Staupitz vom 27.6.1522, Nr. 512, WA.B 2 (567 f), 567,14. 20 f (Alles im Original Lateinisch). S­ öderblom übersetzt „utan en hand av oss“, ohne eine Hand von uns. Er sieht also darin eine Fortsetzung des Gedankens „allein aus Gnade“. Im Text steht aber lediglich „sine manu“. Dann muss sich das auf die „Hand“ Gottes beziehen; der Gegensatz ist also jetzt: nicht durch Machtmittel, sondern allein durch das Wort.] 75 Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch (1522), WA 10/II (227–262), 256,29–32.

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Luthers Person etwas für die Sache des Evangeliums bedeuten, so wäre es schlecht darum bestellt. Denn selbst war er ein Wurm, ein Staub. Doch Gott wusste Rat. Kein Gedanke ist kennzeichnender für Luthers Selbstbeurteilung und Verständnis des Lebens als die Überzeugung vom Unvermögen des Menschen, insbesondere von seiner eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit, und von Gottes unbedingter Autorität. Diese Gewissheit schafft Geborgenheit. Es ist die Lehre, auf die es ankommt, nicht die Person: „… alßo mustu sagen: der Luther sey eyn bube odder heylig, da ligt myr nichts an, seyn lere aber ist nicht seyn, ßondern Christus selbs … die person laß faren, aber die lere mustu bekennen“ (1522).76 Deshalb lässt er nicht zu, dass man eine Abteilung der Christenheit nach seinem Namen nennt. Vertrauen auf Gott, nichts Eigenes, gibt ihm die Kraft. Der Brief aus Borna ist oft übersetzt worden, verdient aber seinen Platz auch hier. Der Unfug der Wiedertäufer in Wittenberg ließ ihm keine Ruhe. Er verließ die Sicherheit auf der Wartburg. Der Kurfürst sorgte sich auch und warnte Luther davor, zu kommen. In dieser Lage geschah es, dass der vogelfreie Mann auf der Reise am 5. März 1522 einen Brief aus Borna an den einzigen irdischen Machthaber schickte, der ihm Schutz bot. Weit entfernt davon, diesen Schutz in einer Situation in Anspruch zu nehmen, in der man denken würde, dass er seiner dringend bedürfte, wies er mit der Tollkühnheit des einsamen Glaubenshelden jeglichen menschlichen Beistand ab und legte mit einer entschuldigenden Zurückweisung der Schwachheit und des Kleinglaubens des Kurfürsten sein eigenes Wohl und das des Evangeliums ganz in Gottes Hände. Wir werden in der Vorlesung über Luthers Schwermut Gelegenheit haben, auf dieses Dokument zurückzukommen. B. Luthers Unzulänglichkeiten sorgen dafür, dass er die Demut nicht vergisst. Mehr als einmal betont er: „dass man sich der Gaben Gottes rühmen soll“, nicht seiner eigenen vermeíntlichen [37] Verdienste. Am 1. August 1537 schrieb er dem Liederdichter Eobanus Hesse in Marburg einen Dankesbrief für das Geschenk von dessen Psalterium universum. Am Ende des Briefes heißt es: „Ich bin nicht von solch törichter Demut, dass ich die mir verliehenen Gaben Gottes verleugnen wollte. In mir selbst habe ich fürwahr übergenug, was mich demütigt und mich lehrt, dass ich nichts sei. In Gott soll man auf jeden Fall übermütig sein, sich an seinen Gaben freuen, triumphieren und sich rühmen.“77 76 Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen (1522), WA 10/II (11–41), 40,10– 12. 17. [­Söderblom gibt versehentlich die Seitenzahl des vorigen Zitats an.] 77 Brief an Eobanus Hesse vom 1.8.1537, Nr. 567, WA.B 8 (107 f), 107,38–108,42. [Im Original lateinisch.]

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C. In diese Selbstbetrachtung spielt der Humor hinein. Luther scherzt über sich selbst, lädt andere gerne dazu ein, über seine Schwächen zu lachen, und versucht durch Gelächter die Sorgen anderer um ihn und die Widrigkeiten, die er zu ertragen hatte, zu vertreiben. Wenn Luther Witz und Hohn ausgießt, lässt er dies wirklich gern auch über sich selbst ergehen. Er gehörte nicht zu denen, die sich selbst wichtig nehmen. Der Witz schuf eine Atmosphäre von Frische und Wohlbehagen, Wahrhaftigkeit und Warmherzigkeit um seine Person. Aus unzähligen Belegen wähle ich einige aus Luthers letzten Tagen. Niemals findet dieser Humor selbstloseren Ausdruck als in den Briefen an Käthe von den letzten Reisen nach Eisleben, wo er zwischen den zerstrittenen Grafen von Mansfeld vermitteln wollte. Durch und durch krank und elend von allerlei Beschwerden eines alten und übermenschlich strapazierten Körpers trat er im Januar 1546 die Reise an. Die Überschwemmung der Saale setzte ihn einer Gefahr für sein Leben aus. Man versteht die Sorge der Daheimgebliebenen. Aber am 25. Januar aus Halle schrieb er an seine Frau. „G V F [Gnad vnd frid] ym hern! Liebe Ketha! Wir sind heute umb acht aus Halle gefaren, Aber sind nicht gen Eisleben komen [, sondern umb neune wieder gen Halle eingezogen]. Denn es begegnet uns eine grosse Wiederteufferin mit wasserwogen und grossen Eisschollen und drewet [droht] uns mit der Wiedertauffe [38] und hat das Land bedeckt … … haben wir uns nicht wollen yns wasser geben und Gott versuchen. Denn der Teufel ist uns gram und wonet ym wasser. Es ist besser verwaret [gesichert] alß beklaget, und ohn noth [unnötig 78] ist, daß wir eine narrenfreude dem Babst sampt seinen Schupen [Gefolge] machen solten. Ich hette nicht gemeinet, daß die Saal solch bad machen könte, daß sie über die steyne weg und alles so rumpeln solt. Iztt nicht mehr. Betet fur uns und seyd fromm. Ich halte, werestu hir, so hettestu uns auch gerathen, es so zu thun, damit du siehest, das wir auch einmahl deinem Rat folgen. Hiemitt Gott befohlen. Amen. An S. Paulus Bekehrungstag, da wir auch uns von der Saala gen Halla kereten. 1546.“79

Am 1. Februar schiebt er wiederum seine Mühsal beiseite in einem Brief an „meine alte, arme liebe frauen“ und scherzt über die schönen Frauen in Eisleben.80 Man spürt, wie schwer er es hatte. Aber er will von dem Liebeswerk in seiner Geburtsstadt nicht ablassen. Es gelang ihm die Grafen zu 78 [­Söderblom übersetzt: „det är ingen fara“, d. h. „es besteht keine Gefahr“. Er hat vielleicht an die Wendung „es hat keine Not“ gedacht. Doch das ist ein Irrtum. D. Hg.] 79 Brief an Katharina Luther vom 25.1.1546, Nr. 4191, WA.B 11 (269 f), 269,3–21. 80 Brief an Katharina Luther vom 1.2.1546, Nr. 4195, WA.B 11, 275 (Zitat Z. 3).

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versöhnen, und er äußert im letzten Brief [an seine Frau] vom 14. Februar eine fast kindliche Freude darüber.81 Am vierten Tag danach, am 18. Februar, entschlief der müde Kämpe. Etwas mehr als eine Woche zuvor heißt es in einem Brief an seine Frau, die ihm ihr Herz vor Angst um sein Leben und seine Gesundheit ausgeschüttet hatte: „Liese du, liebe Kethe, den Johannem vnd den kleinen Catechismum, Dauon du Zu dem mal [einmal] sagtest: Es ist doch alles ynn dem buch von mir gesagt. Denn du wilt sorgen fur [anstelle] deinen Gott grade als were er nicht allmechtig, der da kundte Zehen Doctor Martinus schaffen, wo der einige alte ersoffe ynn der Saal oder im offenloch [Kamin], oder auff Wolffes vogel herd. Las mich zu frieden mit deiner Sorge, Ich hab einen bessern sorger, denn du vnd alle Engel sind, der ligt ynn der krippen vnd henget an einer Jungfrawen Zitzen, Aber sitzet gleich wol Zur rechten hand Gottes des allmechtigen Vaters. Darumb sey zu frieden. Amen.“82

Da sah es mit der Vermittlung noch schlecht aus. Am zehnten wurde noch ein Trostbrief abgeschickt, der vorletzte, mit einem müden Rest [39] der alten Witzigkeit. „G vnd f [Gnad und Fried] in Christo! Allerheiligeste Fraw Doctorin! Wir ­dancken euch gantz freundlich fur ewer grosse sorge, dafur ir nicht schlaffen kund, Denn seit der Zeit ihr fur uns gesorget habt, wolt uns das feur verzeret haben in unser Herberge, hart fur meiner stubenthur, Vnd gestern, on Zweifel aus krafft ewer sorge, hette uns schier ein stein auff den kopff gefallen vnd zerquetzscht, wie in einer Mausfalle. … Ich sorge, wo du nicht auffhörest zu sorgen, es mocht uns zuletzt die erden verschlingen vnd alle Element verfolgen. Lerestu [lernst du] also den Catechísmum vnd glauben? Bete du vnd lasse Gott sorgen. … Es heißt: ‚Wirff dein anligen auff den HErrn, der sorget fur dich‘, ps 55, vnd viel mehr orten. Wir sind, Gott lob, frissch vnd gesund, on das uns die Sachen [Verhandlungen] vnlust machen, Vnd das Jonas wolt gern ein bosen Schenckel haben, das er sich an einem laden [einer Lade] on gefahr [zufällig] gestossen hat, so gar gross ist der neid in Leuten, das er mir nicht wil gonnen, allein ein bose Schenckel zu haben. Hiemit Gott befolhen. Wir wollen nu fort [hinfort] gern los [frei von Verpflichtungen] sein und heim faren, wens Gott wolt. Amen.“83 81 [Vgl. Brief an Katharina Luther vom 14.2.1546, Nr. 4207, WA.B 11, 300.] 82 Brief an Katharina Luther vom 7.2.1546, Nr. 4201, WA.B 11, 286. [„Wolffes vogel herd“ bezieht sich auf Luthers Kritik an der Vogelstellerei Wolfgang Sibergers, vgl. seinen Brief an diesen WA 38, 292 f (Hinweis des Hg. von WA.B 11).] 83 Brief an Katharina Luther vom 10.2.1546, Nr. 4203, WA.B 11, 291. Der erwähnte Stein hatte sich in der Toilette von der Decke gelöst. – Am Ende schreibt ­Söderblom dreimal Amen; es steht aber nur einmal im Text.

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Er gelangte niemals heim nach Wittenberg. Aber bald wurde das lebhafte Heimweh seines ganzen Lebens gestillt. Das Angeführte gibt zugleich ein Bild von Käthe, deren resolutes Wesen ihr den Titel „mein Herr“ im Maskulinum, „Kaiserin“ und andere ähnliche Epitheta verschaffte. Sie wurde aus einem von Wärme überquellenden, dankbaren Herzen mit witzigen Namen überhäuft. Käthe oder Ketha, wie Luther zu schreiben pflegt, hatte mehrere Tugenden einer Ehefrau. Sie war hingebungsvoll, treu, tüchtig, arbeitsam, aber zugleich hartnäckig und ein bisschen streitsüchtig. Ihre Angewohnheit, sich auch in heikle und wichtige Angelegenheiten einzumischen, die sie nichts angingen und von denen sie nichts verstand, [40] verursachte unangenehme Konflikte mit mehr als einem von Luthers Freunden. Doch ihr Mann nahm sie stets in gleicher Weise mit von Herzen kommendem Humor. Mit einer unerwarteten, lustigen Wendung nahm er allerhand Unannehmlichkeiten die Spitze und überwand damit schlechte Laune bei anderen wie bei sich selbst. Und sein unbeirrbares Gottvertrauen hielt den Mut aufrecht, wenn gutgläubige Großzügigkeit und Fürsorge Schwierigkeiten oder Knappheit zur Folge hatten.84 Um den gastlichen Tisch des früheren Augustinerklosters versammelte sich eine bunte und wechselnde Tischgemeinschaft. Mit Essen und Trinken war es sicher in der Regel recht kärglich bestellt. Nicht aber mit den geistigen Genüssen. Dazu gehörte der Witz. Was der Prophet in diesem zwanglosen Kreis an Erinnerungen, bedeutungsvollen Worten, Einfällen und Gedanken ausstreute, kam den Tischgenossen so bemerkenswert vor, dass jedenfalls ab 1530 oder 1531 der eine oder andere Papier und Feder nahm und schrieb. Uns sind Aufzeichnungen aus dieser Zeit überliefert, die auf verschiedene Schreiber zurückgehen. Es lag in der Natur der Sache, dass man hauptsächlich das aufzeichnete, was von Bedeutung für den Glauben und das Leben und für Luthers Person und Werk war. Die Tischreden bieten deshalb weniger für unsere Kenntnis von Luthers ­Humor, als man erwarten könnte, aber genug, um uns ahnen zu lassen, wie es in seinem täglichen Umgang ebenso wie in den Briefen nur so sprühte von witzigen Einfällen, manchmal gutmütig und komisch, manchmal saftig und derb. Er schien ein nie versiegendes Vermögen zu besitzen, lustige Kombinationen zu erblicken und unerwartete Vergleiche und Ausdrücke zu finden. Sein Erfindungs- und Erinnerungsreichtum versiegte nie. Bemerkenswert 84 Einen Beweis für Luthers Hochherzigkeit und Gleichmut gibt der Brief an Erasmus vom 18.4. (?) 1524, Nr. 729, WA.B 3, 270 f. [Luther schreibt an Erasmus, obwohl dieser einen erwarteten Brief nicht geschickt hat; er will ihm auch die Polemik nicht übel nehmen und fordert nur dazu auf, ihn nicht mehr zu behelligen.]

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ist, dass der Witz, ungeachtet der beständigen Rohheiten gegen Rom, bei so beredter Zunge und Feder selten abgedroschen wirkt. Nichts ist gesucht und aufgesetzt. Er verfällt nicht in Plattheiten. Selbst der böse Witz verzerrt nicht. Die gute Laune wirkt unwiderstehlich ansteckend, selbst [41] in schwieriger Lage und wenn im Untergrund Traurigkeit herrscht. Man braucht bloß einen anderen Autor heranzuziehen, der einen Schlafrock angezogen hat85, um über die Frische und die Funken in Luthers Witz zu staunen. Es sprudelte und sprühte aus unerschöpflichen Vorräten. Für Familie und Freunde ist sein Humor eine Erquickung gewesen, ein Teil seiner unvergleichlichen Vitalität, während er vielen Widersachern bei großen wie bei kleinen Gelegenheiten Anlass zu gründlicher und ohnmächtiger Verärgerung gab.

85 [­Söderblom denkt hier an August Strindberg. Dieser schrieb, vermutlich am 19. Juli 1884, an seinen Verleger Albert Bonnier: „Wie Sie sehen, werde ich von jetzt an meine gute alte Waffe, die Satire, wieder aufgreifen, die man mir abgeluchst hatte. Das kann, Teufel auch, sentimental sein und andere dazu bringen, vor sich hin zu grinsen. Und in einer Zeitung kann man sich jetzt jeden beliebigen Jux erlauben! Und ich liebe es, in Unterhosen und Schlafrock schreiben zu können. Man wird zwar nicht groß [dadurch], aber ich will auch nicht ‚groß‘ werden, ich will nützlich werden! Und vor allem frei sein und auch – warum nicht – etwas Spaß haben.“ August Strindbergs brev, hg. v. T. Eklund, Bd. 4, Stockholm 1954, 268 (Nr. 497). Diesen Hinweis verdanke ich Heinz Jackelén, Uppsala.]

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[43] II. Die Bedeutung des Humors für Luther [45] Am meisten bedeutete der Humor für Luther selbst. Hier ist jetzt der Ort, uns der Frage zu widmen, was der Humor in Luthers Leben gewesen ist und was nicht. Wir werden zunächst die geistliche Hilfe erfassen, die er von der göttlichen Gabe des Humors empfing, sodann darauf achten, in welchem Maße der Humor von seiner reformatorischen Anschauung beeinflusst war und seinerseits auf sie eingewirkt hat, und dabei aus dem Unterstand des Humors heraus einen Vergleich mit anderen Großen der Christenheit anstellen. Bis zuletzt heben wir uns auf, was am wichtigsten ist, nämlich die Grenzen des Humors in Luthers Seele anzugeben. I. Die geringere und größere Rolle des Humors für Luthers eigene Person kann man mit den leider heterogenen Bildern Ruhepunkt und Sicherheitsventil, daneben auch Trost gegen Angst erfassen. Ihm selbst boten Witz, verrückte Parallelen, auf die seine Phantasie ihn gratis brachte, das Lachhafte und Groteske, das ihm mitten in farbloser Langeweile, in einer hergebrachten Form oder in einer sorgenvollen Situation begegnete, innere Ruhe und Erquickung. Das gemeinsame Leben wurde sowohl für ihn selbst als auch für andere damit gewürzt. Humor ist eine künstlerische Gemütsart. Er vergönnte ihm, ebenso wie die Musik und die Natur, Momente ästhetischen Daseins, wo er leben konnte ohne zu handeln, wo er präsent sein und doch eine Pause und Freiheit mitten in der Arbeit und Mühsal genießen konnte. Der Humor hat auf einen steilen und gefährlichen Weg Blumen gestreut. Doch Humor und Spott haben für die geistige Gesundheit und das Schaffen Luthers mehr bedeutet als dies. Wir haben gesehen, wie selbst [46] deftiger Witz und grobe Schimpfwörter eine befreiende Wirkung auf ihn selbst hatten. Durch Wettern reinigte er die Luft in seiner Seele, der Zorn brach aus ihm heraus, um sich nicht festzusetzen und Wurzeln des Hasses und der Bosheit zu schlagen. Er redete sich frei von Galle. Der Humor war ihm auch ein Sicherheitsventil, wohltätig in jedem menschlichen Leben, aber nötiger als sonst in einem solchen, das unter Hochdruck geführt wird. Das galt für Luther in doppelter Weise. Die Leidenschaft und der expansive Drang seiner eigenen Seele waren vulkanisch. Es schäumte in ihm von Kräften zum Guten wie zum Schlechten. Grisar und andere Lutherdarsteller haben kein Verständnis dafür. Luthers bedeu– 64 –

tendster katholischer Biograph, Hartmann Grisar, wünscht und fordert „den ruhigsten Zustand der Besonnenheit“ und tadelt insbesondere das alle anderen übertreffende gigantische Jahr 1520, weil „solche beispiellos überhastete Tätigkeit […] ihn naturgemäß in die aufgeregteste Spannung zur nämlichen Zeit [versetzte], wo er Fragen von unendlich tiefer und folgenreicher Bedeutung zu wälzen hatte.“86 Das bedeutet, dass Paulus mit dem zweiten Korintherbrief hätte warten oder ihn am besten gar nicht schreiben sollen – kein Wunder, dass Luther eine innere Nähe zu diesem Brief empfand und sich in ruhelosen Stunden ihm zuwandte. Die Eile war bestimmt nicht zufällig. Sie entstand von innen heraus, nicht aus den Umständen. Im Gegensatz zu der brausenden und hämmernden Unruhe in Luthers Heldenseele empfiehlt Grisar die wohltätige Ruhe unter der erforderlichen kirchlichen Fürsorge. Das ist, wie wenn man den Sturm bitten würde aufzuhören oder das Gewitter zu schweigen. Dazu kam der Druck seines Auftrags, der anspruchsvollsten und verantwortungsvollsten Berufung, die auf einem Menschen lasten kann. Er empfand es manchmal so, als laste die ganze Welt auf seinen Schultern. Und er war einsam. Die anderen folgten bestenfalls nach. Er sah keinen abgesteckten Weg [vor sich], sondern wurde von Gottes Hand in blindem Vertrauen voran geführt. Doch [47] er konnte nicht stehen bleiben. Denn es ging um nichts Geringeres als um Gottes Evangelium, um Trost und Befreiung der Seelen. Unter diesem doppelten Hochdruck wäre die Spannung in Luthers Seele unerträglich geworden ohne den Humor, der sie abzuleiten erlaubte. Der Humor trägt zu der Getrostheit bei, die man im geistigen Umgang mit Luther erlebt, trotz seiner Seelenqualen, seines gewaltigen Trotzes und seiner Rastlosigkeit. Es geht heiß her in Hirn, Herz und Arbeit. Aber daraus wird dank des Ventils des Humors dennoch keine Überhitzung. Menschen, die von einer Leidenschaft erfüllt sind, ob es nun um Probleme des Lebens oder des Denkens geht, sind, wenn ihnen Humor und Selbstironie abgehen, leicht in einer heißen Atmosphäre ohne Luftzufuhr eingeschlossen. Die Aufmerksamkeit wird unter Schmerzen und zwanghaft unaufhörlich auf das Ich gelenkt. Das Bewusstsein, einen dringenden geistlichen Auftrag und eine besondere Begabung für diesen Auftrag zu haben, wird darum leicht überspannt und unzuträglich. Es kommt zur Selbstverzehrung. Die innere und vielleicht auch äußere Arbeit wird zu hoher Intensität hinaufgeschraubt. Aber es entsteht eine Art hastig aufgeladenes Treibhausklima. Mangel an Humor verkapselt solche Geister in einer inneren Tragik tiefer Verängstigung. Man hat den Eindruck, dass der Kessel jederzeit 86 H. Grisar, a. a. O. (wie S. 31, Anm. 5) Bd. 1, 372 [nicht, wie S­ öderblom schreibt, 377]; vgl. Bd. 3, 309.

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bersten kann. Und wie große Gaben solche Menschen auch ausgeteilt haben oder austeilen, so sind sie doch dazu verurteilt, sich selbst allzu wichtig zu nehmen. Ihrer moralischen und menschlichen Leidenschaft haftet etwas Angestrengtes an, das man bei Luther vergebens sucht, dank seinem Humor. Derjenige in der angelsächsischen Welt, der Luther am tiefsten und besten verstanden hat, war zweifelsohne der Schotte Thomas Carlyle. Aber ich hatte bei Carlyles grimmiger Satire und unbändiger prophetischer Leidenschaft nicht an Humor gedacht, bis ich bei Harald Høffding die Anekdote von der immer hitziger werdenden politischen Debatte las, die eines Tages mit einem Amerikaner am Teetisch in Carlyles Haus gelangte. Als Frau Carlyle die steigende Erregung ihres Mannes bemerkte, trat sie [48] dem Gast auf die Zehen mit der Folge, dass dieser ausrief: „Warum treten Sie nicht Ihrem Mann auf die Zehen, er ist schlimmer als ich!“ Allgemeines Gelächter. Carlyle selbst lachte am herzlichsten.87 Luther brauchte keine komische Situation, um sich selbst mit Humor zu nehmen. Wir haben bereits auf dieses wenig beachtete Moment aufmerksam gemacht, um seine hohe, ruhig feststellende Selbsteinschätzung be­ urteilen zu können. Da war nichts Übertriebenes oder Gestelztes an seiner Einsicht, dass er ein Offenbarer der Gnade Gottes und des christlichen Lebens sei und als solcher mit den Allerbedeutendsten von ihnen auf gleichem Niveau stehe. Zugleich amüsiert er seine Angehörigen und Freunde, am meisten aber sich selbst mit den großen und kleinen Schwächen des Doktor Martinus. Das Sicherheitsventil des Humors schützte ihn vor einer lächerlichen oder titanischen Aufgeblasenheit. Dieser Humor war ein gnädiges Geburtsgeschenk für den, der Hölle und Himmel in seiner armen menschlichen Seele versammeln sollte. Lebenserfahrung und Erziehung haben die Gabe und ihre Anwendung vervollkommnet. Soll ich einen Zusatz wagen? Wir ahnten bereits, dass in Luthers Humor mehr als ein natürliches Wohlwollen liegt, mehr als ein Gefühl für das Komische im Lebensschmerz und für die Größe des gering Geschätzten. Entlehnt nicht der Humor einen tieferen Gehalt von dem Hauptsatz von Luthers Religion, der Vergebung der Sünden durch Gottes souveräne Gnade? Gewahren wir nicht die Spur eines göttlichen Lächelns über die grotesken Sonderbarkeiten der Menschenkinder und ihre ehrgeizigen gesellschaftlichen Ziele? Wärmt der Humor bei Luther nicht mithilfe der Wärme der unverdienten Gnade? Die Freude über die Barmherzigkeit Gottes und die Großzügigkeit seiner Liebe erlaubten Groll und Bitterkeit nicht, sich in Luthers Seele festzusetzen. „… meyn mutt [Gemüt] ist zu frolich unnd zu groß datzu, das 87 Harald Høffding, a. a. O. (wie S. 30, Anm. 2), 167, Anm. 1.

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ich yemand mocht hertzlich feynd seynn.“88 Seine Seele bricht ein reines göttliches Licht in Farben, die ihn die Wirklichkeit in wechselndem Schein sehen lassen, einmal in der Beleuchtung [49] brennenden Eifers, einmal in der des Humors. Der Humor ist ein gebrochener Strahl von dem Sonnenschein, der von Luthers väterlicher Gottheit her leuchtet. II. Ist diese Beobachtung richtig, so bedeutet sie nicht weniger, als dass der Humor bei Luther von dem gefärbt ist, was den Kern seiner Religion ausmachte, dem Glauben an die Vergebung der Sünden. Hier würde dann in seiner Seele eine Einwirkung des Zentrums der Religion auf seinen Humor vorliegen. Sicher ist, dass der Humor nicht außerhalb der Lebensanschauung­ Luthers verblieb, sondern auf der einen Seite von dieser beeinflusst und befruchtet wurde, auf der anderen sie wiederum prägte. Da fand eine Wechselwirkung statt. Wir meinten, eine solche wahrzunehmen im Blick auf Luthers Glauben. Wir werden die Bedeutung des Humors deutlicher erkennen, wenn wir zu seinem neuen Lebensideal übergehen. Doch müssen wir dieses in einen größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang stellen, um zu verstehen, worum es geht. Fragen wir nach dem, was echte Religion im Gegensatz zu anderen Lebensäußerungen am besten charakterisiert, so zögere ich nicht mit der Antwort: Das ist das Heilige. Der Respekt vor dem Heiligen ist aller wahren Religion gemeinsam, der niederen wie der höheren. In einem höheren Stadium lernt der Mensch, dass das Heilige nicht dieser Welt angehört und sich nicht in das natürliche Dasein einordnen lässt. Der Begriff des Überweltlichen und des Übernatürlichen gehört einer späteren Entwicklungsstufe an. Aber in allen Stadien sondert die Heiligung den Menschen von dem Profanen, dem bloß Weltlichen ab. In allen Stadien gilt, dass fromm derjenige ist, der etwas als heilig erachtet – es gibt keinen Grund, von dieser Definition von Religion abzugehen. Wenn das Überweltliche in der Welt verwirklicht werden soll, schafft es sich Formen, die einen Wert haben, solange sie von Leben und Geist erfüllt sind, die jedoch, ihres Inhalts entleert, leicht zu Herden von Unwahrhaftigkeit und anderer Unreinheit werden, während sie gleichzeitig [50] den Anspruch beibehalten, eine höhere Lebensform darzustellen. Am ehesten wird die Heiligkeit auf äußerliche Weise gefasst, sie besteht in Taburegeln, Mysterien, Ausstaffierung, Zeremonien, Kasteiungen, ehe88 [M. Luther, Erbieten (Oblatio sive protestatio), 1520, WA 6 (476–478), 478,8.­ Söderblom zitiert auf Deutsch nach Wilhelm Herrmann, Die Religion unserer Erzieher, Leipzig 1918, 42. Für „mutt“ steht dort „Mut“, ­Söderblom modernisiert stillschweigend und schreibt „ Herz“.]

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losem Stand. Die Heiligkeit konzentriert und sammelt sich in einem bestimmten Beruf, der in der Religionsgeschichte wie ein liebes Kind viele Namen hat: Medizinmann, Schamane, Wunderdoktor, später Opferpriester, weiter Eremit, Mönch, Nonne. Im Mittelalter trugen allein die Klosterleute die Bezeichnung „religiöse Menschen“. Eine heiligmäßige Konditionierung menschlichen Lebens kann auch vollzogen werden, ohne dass man bestimmte Berufe und Lebensstellungen in besonderer Weise oder allein für heilig hält. Es gibt bestimmte Posen und Verhaltensweisen, die als fromm gelten und von denen man annimmt, dass sie die Kinder Gottes von den Kindern der Welt unterscheiden. Überweltlichkeit und Weltflucht ist durch eine mehr oder minder spröde, äußerliche Abgrenzung vom gewöhnlichen menschlichen Leben gekennzeichnet. Auch wo die Religion so aufrichtig und gut wie nur möglich ist, markiert sie gerne ihre Erhabenheit durch eine bestimmte augenfällige Art, eine Vorsicht und Achtsamkeit, die tatsächlich zum Ausdruck bringt oder wenigstens den Anschein erweckt, dass das Gemüt sich von der Welt ab­gewandt hat. Diese Ansicht beherrscht den unvergleichlich größten Bereich der Welt der Religion, auch der Welt der höheren Religion. Nach ihr unterscheiden sich die Männer und Frauen der Religion, wenn nicht durch ehelosen Stand, so doch durch ein asketisches, zurückhaltendes oder trübsinniges Auftreten auffällig von gewöhnlichen Menschen. Zur Frömmigkeit wird ein bestimmtes innerliches und äußerliches Training gezählt. Weltflucht und Zugehörigkeit zu Gott geben sich in einem besonderen Lebenstypus zu erkennen. Das gleiche Prinzip befasst eine sehr lange und weitläufige Entwicklungsphase unter sich, sei es, dass dieser heilige Mensch die asketische Virtuosität des Medizinmannes ausübt oder ob er Mönchskutte und Nonnenschleier oder die Insignien [51] des Priesters trägt, sei es dass er seine Überweltlichkeit durch ein mehr oder minder hervortretendes pietistisches Wesen zeigt – alles unter der Voraussetzung, dass man dabei aufrichtig ist. Die Religion begnügt sich nämlich nicht mit dem Äußeren. Man verlangt eine innere Beschaffenheit, die der äußeren Gestaltung und den Ausdrucksformen der Heiligkeit entspricht. Das äußere Gewand der Frömmigkeit soll bloß ein Ausdruck für die heilige Abgeschiedenheit des Herzens sein. Man kann noch einen Schritt weitergehen. Man verzichtet darauf, die äußere Lebensführung nach vorgegebenen Mustern zu gestalten. Man sieht von allem Äußerlichen ab. Aber die Seele soll nach bestimmten Metho­den geübt, geformt, exerziert, trainiert werden, um geheiligt zu werden. Die Mystik kennt zu allen Zeiten eine ganze Reihe von Gemütszuständen, in die der Fromme sich Schritt für Schritt zu versetzen hat. Heiligkeit bedeutet eine wohl erprobte und einfühlsam durchgeführte Konditionierung des seelischen Lebens. Exercitia spiritualia kommen zur Anwendung und tun ihre Wirkung. – 68 –

In der Geschichte der Religion hat niemand so radikal mit diesem aske­ tischen, „eingeübten“ Frömmigkeitstypus, ja mit jeder innerlichen wie äußerlichen Konditionierung des Menschen im Namen der Religion gebrochen wie Martin Luther. Die Prophetie hatte damit den Anfang gemacht. Für deren Verkehr mit Gott ist kein besonderer religiöser Beruf erforderlich. Die Gottesanbetung des Evangeliums im Geist und in der Wahrheit hat mit prinzipieller Klarheit die Unabhängigkeit der neuen Heiligkeit von allem äußeren Wesen, mehr noch, von jeglicher religiösen Methodik herausgestellt. Doch der klassische Heiligkeitstypus der Religion ließ sich nicht unterdrücken, sondern gewann die Oberhand über das freie Wachstum der geistigen Heiligkeit. Als Martin Luther dem alten Begriff der Heiligkeit ein Ende bereitete, bedeutete das eine neue Epoche in der Geschichte der Religion, so offenkundig es auch ist, dass er [lediglich] eine Konsequenz aus dem Evangelium zog.89 Man wundert sich nicht darüber, dass Döllinger, Imbart de la Tour und andere hoch verdiente [52] Forscher insbesondere im katholischen Lager der Ansicht sind, Luther habe eine neue Religion gestiftet. Heiligkeit besteht darin, dass das Herz ganz und ungeteilt Gott gehört. Von dieser Zuversicht werden Seele und Lebensführung durchdrungen und frei, individuell ausgeformt. Zwar schätzt Luther die Askese als nützliche Übung und Vorbereitung. Aber das religiöse Leben darf nach Luther nicht nach einer gröberen oder feineren Schablone geformt oder überhaupt von einem vorgegebenen Heiligkeitstypus reguliert werden. Er sah, wie leicht Künstelei, Unnatürlichkeit und Unwahrhaftigkeit sich einschleichen. Darum forderte er, das ganze Leben eines Christenmenschen solle aus sich selbst, das heißt, mit der ihm innewohnenden, organischen Notwendigkeit aus dem Glauben erwachsen. Es soll sich selbst aus dem Gottvertrauen gestalten. Untersuchen wir diesen Wandel, den Luther im Lebensideal bewirkt hat, so finden wir darin einerseits seine Reaktion auf ein unfreies Wesen, andererseits eine geniale Vereinfachung des Problems des Ursprungs der guten Werke, des Problems, das die Römischen nach Luthers Worten niemals haben lösen können, dem er aber durch seine Herleitung des ganzen christlichen Lebens aus dem Glauben eine neue Erklärung gab. Die Forderung eines innerlichen, einheitlichen Prinzips für die Frömmigkeit wird von ihm konsequent befolgt.90 89 Gustaf Aulén bietet in seiner Schrift Evangelisk kyrklighet, Uppsala 1916, 50 ff eine ausgezeichnete Darstellung von Luthers Lebensideal in dessen Bedeutung für die Eigenart der religiösen Gemeinschaft. 90 Paul [nicht, wie im Original: „O.“!] Wernle, Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren I (Luther), Tübingen 1918, hat ebenfalls die außerordentliche Bedeutung erkannt, die Luthers Glaubensbegriff für die Ethik hat.

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Dass der Mensch all sein Vertrauen auf Gott setzt, das verwandelt ihn von Grund auf. Äußere Aktionen und innere Grundsätze taugen nicht als Ersatz für die Zuversicht, die sich mit der ganzen Hingabe des Herzens an Gott hängt und ihn über alles andere stellt. Darum konnte Luther nicht mit einem Religionstypus zurechtkommen, der darin besteht sich vorzusehen, etwas bleiben zu lassen, selbst wenn er aufrichtig ist und nicht daran denkt, dass Leute zuschauen. Er wollte, dass der Mensch sich im Gottvertrauen mit kühner Sicherheit frei in Gottes Welt bewegen solle. Er soll wagen, sich als Gottes Kind zu fühlen und mit dem Recht des Kindes ungezwungen er selbst zu sein. Der Christ soll alles das tun, was aus einem echten Vertrauen [53] hervorgeht, ohne nach Modellen und Anweisungen zu fragen. Ist der Baum einmal durch die neu schaffende Wirkung des Glaubens gut geworden, dann werden auch die Früchte gut. Man soll sie frei wachsen lassen nach ihrer eigenen Weise. Ob der Baum gut ist oder nicht, es lohnt sich nicht, künstlich schöne Früchte aufzuhängen, um die Zweige des Baumes zu schmücken. Hier wie auch sonst ist das Beste leicht zum Feind des Guten geworden. Luther und das Luthertum haben sich auf strenge Idealität und Geistlichkeit des Prinzips versteift und oft die nützliche oder notwendige Erziehung der Seelen versäumt. Man hat sich mit einer Frömmigkeit begnügt, die des Kaisers neuen Kleidern glich. Was Glaube, Glaubensfreimut und evangelische Freiheit genannt wurde, war manchmal bloß auf gute Verdauung und natürliche Lebensfreude zurückzuführen. Gottesfürchtiges Verhalten muss geübt werden. Viele Menschen können Übung in der Andacht nicht entbehren. Das Gemüt gewinnt eine unschätzbare Veredelung, das Leben unschätzbare Hilfe gegen Versuchung und Weltlichkeit durch Gewohnheiten und Methoden, welche die geistliche Kraft stärken, aber zwangsläufig zugleich sowohl dem Auftreten als auch dem Seelenleben eine bestimmte eigentümliche Prägung verleihen. Auch hier muss die evangelische Freiheit insoweit angewandt werden, als nützliche Askese und Übung nicht zu verwerfen, sondern im Gegenteil zu achten sind, sofern sie nicht innere Unwahrhaftigkeit mit sich bringen. Bloß eine kleine Zahl tief veranlagter Seelen befindet sich in der religiösen Position, für die der Trost des Glaubens das Allbeherrschende im Leben ist. Luther wusste das. Der Rest der Menschheit hätte unter dem Papsttum verbleiben können. Man missbrauchte die Freiheit. Luther war eigentlich für die gepeinigten Seelen gekommen, die nach einem gnädigen Gott seufzten. Mit der Idealität in Luthers Auffassung vom Leben eines Christen ist es wie mit der Bergpredigt. Friedrich Naumann hat die Forderung des Evangeliums mit dem Sauerstoff verglichen. Niemand kann [54] reinen Sauer– 70 –

stoff atmen.91 Es ist noch anderes außerdem nötig. Aber wie könnte das Leben ohne Sauerstoff bestehen? Luthers strenge Idealität und reine Geistlichkeit in der Lehre vom Hervorquellen der Lebensführung aus dem Glauben ist unverzichtbar. Aber die Kirche muss auch Pädagogik auf die Menschenseelen anwenden. Die Misslichkeiten des Ideals auf unserer Erde dürfen uns jedoch nicht seinen reinen Glanz verdecken. Luther stellte einen höheren Grundsatz für das Leben auf. Fragen wir, wo er ihn gefunden hat, kann die Antwort nicht zweifelhaft sein. Der Grundsatz war vor ihm von Jesus ausgesprochen worden: „Ein guter Baum bringt gute Frucht“ [vgl. Mt 7, 17]. Damit die Frucht gut wird, muss der Baum gut sein. Wenn Griesgrämigkeit und Trübsinn und überhaupt jeglicher aufgesetzte Heiligkeitstypus von Luther verworfen wurde, beruhte das vor allem darauf, dass ein solcher gegen die Regel von dem guten Baum verstieß. Aber es liegt offen zutage, dass seine eigene Sinnesart in der Sache ein Wort mitzureden hatte. Die spontanen Äußerungen des Humors müssen am besten in einer solchen Auffassung vom Leben gedeihen, wie wir sie nach Luther skizziert haben. Sein Humor verweigerte es, sich auftakeln zu lassen. Wie gestaltete sich die edlere Frömmigkeit zu Luthers Zeit bei dem, der gleich ihm selbst die Sache zutiefst ernst nahm? Otto Scheel hat den zweiten Teil seiner Lutherbiographie einer gründlicheren Analyse der Klosterzeit in Luthers Leben gewidmet, als sie irgendein Forscher zuvor unternommen hatte. Zu den nützlichen oder weniger wohlbedachten Ratschlägen für das Zusammenleben im Kloster gehörte das Schweigen im gemeinsamen Arbeitssaal und in den einzelnen Zellen. Wie passte so etwas auf die Dauer zu Luthers Veranlagung? War diese deshalb unheilig? Lachen war verboten. Wer einen anderen zum Lachen reizte, lud nach den Ordensregeln einen wenn auch geringeren Grad von Schuld auf sich. Luthers Humor musste früher oder später ein derartiges Heiligkeitsideal durchbrechen. Wohin immer der Mönch ging, musste er [55] seinen Blick zu Boden senken. Gerade, aufrechte Haltung war bereits in der Regel des heiligen Benedikt verboten.92 Dieser Mönch aber war von Gott aufrecht geschaffen und sollte durchs Leben gehen, wie Gott ihn geschaffen hatte, und jeden, der ihm begegnete, mit seinen dunklen Augen in Brand setzen. 91 [Einen Beleg für diesen Ausspruch habe ich nicht gefunden. Möglicherweise ist es eine mündliche Äußerung, die S­ öderblom im November 1896 beim EvangelischSozialen Kongress in Erfurt gehört hat. Dorthin hatte er dank der Großzügigkeit eines „Sponsors“ aus seiner Pariser Kirchengemeinde reisen können. D. Hg.] 92 Vgl. Otto Scheel, Martin Luther, Bd. 2 [wie S. 51, Anm. 53], 4.

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Es ist offenkundig, dass die Impulsivität in Luthers Seele jeglicher Uniformierung trotzte. Schon mit seinem freien Witz und seinem breiten Lachen hat er ebenso anstößig wie unwiderstehlich die Atmosphäre der unevangelischen Heiligkeit verscheucht. Unfreies Wesen ist unvereinbar mit seiner Grundstimmung. Es gehört zu den Kennzeichen des Humors, die Unstimmigkeiten und das Lächerliche zu markieren und zu belächeln, auch wenn es um hohe und ernste Dinge geht. Die Aufrichtigkeit des Humors kennt keine Grenzen. Luthers Humor konnte sich nicht in irgendeine Form asketischen Trainings finden. Er nahm sich sein Recht und zwang Luther dadurch, das evangelische Gottvertrauen zur Seele des Lebens zu machen, ohne eine Art von äußerlichem Rezept oder eine Methode und Vorsicht. Was bei Luther wie Selbstherrlichkeit aussehen kann, trug deshalb dazu bei, eine Freiheit von Training und Regeln aufzuzeigen, die in Wirklichkeit höhere Forderungen an das christliche Leben stellt, als wenn dieses sich methodisch nach vorgegebenen Mustern zu formen hätte. Ein burschikoser oder obligatorisch munterer und forscher Typus von Christentum widerstreitet Luthers Grundsatz deshalb ebenso wie eine kopfhängerische oder zugeknöpfte Religiosität. Zu wagen, Gottes freies Kind zu sein, darin bestand Luthers Kühnheit. Gottes Kind sein zu dürfen trotz Angst und Schwäche, das erfüllte ihn mit einer so überschäumenden Freude, dass alle [falsche] Rücksichtnahme und Vorsicht verschwand. Der Humor ist nicht ohne Schuld an Luthers anstößiger Freiheit in Bezug auf die so genannten Adiaphora, Munterkeit, Vergnügen und ganz allgemein die guten Dinge des Lebens, soweit sie zugänglich sind und mit Anstand und gutem Gewissen benutzt werden. Was ein Christ mit [56] Gewissheit und Klarheit des Gefühls tun kann, ist ihm erlaubt. Dazu gehörten für Luther weiter das Lächeln, auch das dröhnende Gelächter und der drastische Witz. Alles, was das Leben erleichtern kann, das an sich schwer genug ist, und was die Seele aufmuntern kann, die an sich düster genug ist, ist nach Luther nicht bloß erlaubt, sondern eine gute Gabe, die der Glaube empfängt und benutzt. Sonst wäre er undankbar. Gott will fröhliche Kinder haben. Und Gott will nicht affektierte Kinder haben. In welchem Maß der Humor Bedeutung für Luthers Revolte gegen gängige Heiligkeitsbegriffe und für sein neues evangelisches Lebensideal hatte, wird klarer, wenn wir ihn mit solchen Jüngern des Herrn in der Geschichte vergleichen, die vor ihm oder nach ihm seine Gesinnungsgenossen in der religiösen Erkenntnis waren. Die Reformation ist nämlich einerseits ein Heilsweg oder eine religiöse Erneuerung, andererseits ein Lebensideal oder eine ethische Erneuerung, beides in innigster Verbindung miteinander. Glaube und Liebe können, wie wir gesehen haben, nach Luthers Auffassung nicht voneinander getrennt werden. In einem späteren Kapitel werden wir Luthers religiöses – 72 –

Grundprinzip, das Gottvertrauen in seinem Gegensatz gegen die Gesetzesreligion und die Religion der Versenkung, gesondert betrachten. Das A und O von Luthers Erfahrung und Verkündigung besteht in Gottes Gnade und Vergebung. Die Religion wurde für ihn ganz und gar zu einer göttlichen Gabe. Sie kann in gar keiner Weise durch den Menschen zustande gebracht werden. In der Kirche wurde der Verkehr mit Gott im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt Verdienst und Leistung ausgeübt und beurteilt; selbst Gottes Gnade wurde unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und angewendet. Luther praktizierte konsequent einen Gottesumgang entsprechend den Gesetzen des höheren persönlichen Lebens und entsprechend der überwältigenden Macht und Gnade Gottes. [57] In dieser Hinsicht, im Blick auf die evangelische Erkenntnis, hatte Luther sowohl Vorgänger als auch Nachfolger. Mit seinen großen Vorgängern Paulus und Augustin bildet er die Dreiheit des Vergebungsglaubens und der ethischen Erlösungsreligion in der Geschichte der Kirche. Bei Paulus hatte er das Geheimnis der Religion gefunden. Als er anfing Augustin zu lesen, geschah dies mit solcher Begeisterung, dass er „ihn mehr verschlang als las“.93 Aus den Jahren 1509–1511 gibt es Aufzeichnungen, die Luther bei der Lektüre von Augustins Werken Von der Dreieinigkeit und Vom Gottesstaat und einigen kleineren Schriften gemacht hat.94 Größeren Eindruck empfing er von der Schrift Vom Geist und Buchstaben, die er spätestens 1515 las, da sie im Kommentar zum Römerbrief zitiert wird. In Augustins gründlicher Verwerfung der Werkelehre des Pelagianismus erkannte Luther seinen geliebten Paulus wieder. Augustin hat Paulus verstanden und muss deshalb mehr zu Ehren kommen als bisher, schrieb Luther im Oktober 1516 an Spalatin.95 Luther vollendete den Kampf des Paulinismus und des Augustinismus gegen den Moralismus. In dieser Hinsicht bekam Luther seinen großen Systematiker in dem Franzosen Johannes Calvin. Doch auch innerhalb der römischen Kirche lebte die augustinische Überzeugung von der Souveränität der Gnade im Gegensatz gegen die anteilmäßige Wirksamkeit von Gott und Mensch, wie sie die gängige Frömmigkeit und Kirchenlehre vertrat, fort. Cornelius Jansenius, gest. 1638 als Bischof in Ypern, brachte den echten Augustin wieder zum Leben. Durch Antoine Arnauld (gest. 1694) und Blaise Pascal (gest. 1662) wurde der Jansenismus aus seiner durch Roms Verwerfung besiegelten theologischen Abgeschiedenheit herausgeführt. Es ist mit Recht gesagt worden, dass der Fröm93 [Vgl. WA.TR 1, 140,5.] 94 Vgl. André Jundt, Le développement de la pensée religieuse de Luther jusqu’en 1517 d’après des documents inédits, Paris 1905, 73. 95 Brief an Spalatin vom 19.10.1516, Nr. 27, WA.B 1 (70 f), 70,8–16. [­Söderblom adressiert den Brief irrtümlich an Staupitz.]

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migkeitstypus dieser Männer mehr an einen Calvin und andere Gestalten der Reformation erinnert als an römische Religiosität, so hingebungsvolle Söhne der Kirche sie auch waren. Sie mussten für ihren Glauben leiden. Aber sie bilden innerhalb der römischen Christenheit [58] zusammen mit ihren bekannten und unbekannten Glaubensgenossen eine goldene Kette, die zu zerbrechen oder gänzlich auszurotten den Jesuiten nicht gelang. Unter all diesen Auslegern der Gnade besteht eine weitreichende Übereinstimmung. Doch, wie schon erwähnt, besteht Luthers Bedeutung nicht allein in dem religiösen Prinzip. Ebenso wichtig, ebenso originell, vielmehr noch origineller ist das neue Lebensideal, das er aus dem Vertrauen des Herzens zu Gott herleitete. Wir haben gesehen, wie eng beides zusammengehört. Dann wird die Frage unausweichlich: Warum hat Augustin diese Konsequenz nicht gezogen oder auch nur erahnt? Warum schwebte die evangelische Freiheit der Lebensgestaltung niemals den Jansenisten vor, nicht einmal dem religiösen Genie unter ihnen, Pascal? Je besser wir die beginnende Revolution verstehen, die Luther mit seinem Lebensideal in die Geschichte der Religion einführte, desto mehr drängt sich die Verwunderung darüber auf, warum gerade Luther, nicht Augustin vor ihm oder Pascal nach ihm, auf die Konsequenzen aus der Botschaft des Evangeliums von der freien Gnade für die Lebensgestaltung gekommen ist. Zu Calvin besteht ein besonderes Verhältnis. Er nahm die Lehre von der Gleichwertigkeit der weltlichen Berufe auf und durchbrach auf diese Weise das sakrale System. In dieser Hinsicht ist Calvin der getreue Interpret Luthers. Er brach mit dem Mönchsideal und verkündete die Heiligkeit der Arbeit und des Berufs. Aber weiter hat Calvin Luthers kühnen Idealismus nicht verfolgt. Ich muss jetzt auf das verweisen, was wir oben ausgeführt haben. Auch wenn die Religion nicht vorrangig auf bestimmte religiöse Berufungen und Verrichtungen gründet, kleidet sie sich, unabhängig von Beruf und Stand, gern in eine bestimmte Uniform in Charakter und Auftreten. Der Christ muss ein besonderes Gepräge haben, manches meiden, was für andere Menschen keine Sünde ist, und würdiges, gemessenes Betragen an den Tag legen. Es gibt besondere Muster für das religiöse Leben. Was man heiligmäßiges [59] Wesen nennt, ist oft im Wesentlichen nichts anderes als eine solche Gestaltung von Charakter und Lebensführung. Selbst wenn man von jeder solchen äußeren Askese oder Uniformierung Abstand nimmt, bildet man durch methodisches Training einen inneren Habitus aus. Jede Religionsform hat, je nach ihrer Höhe und Art, solche durch Erfahrung gewonnenen Übungen für die Modellierung des Gemüts, alle Religionsformen außer der evangelischen Christenheit. Ist nicht geistliches Exerzitium notwendig für die Religion? Reicht das Evangelium aus? Luther war wagemutig genug, von jeglicher Art von religiösem Habitus – 74 –

und jeglichem Muster für die äußere oder innere Gestaltung der Persönlichkeit abzusehen. Darin liegt, wie wir gesehen haben, eine übermäßige Idealität, eine reine Geistigkeit, die in der Praxis nicht selten zu Weltlichkeit verflüchtigt wurde, die jedoch für Religion und Leben eine göttliche Frische bedeutet, einen Reichtum und eine Garantie für ungeheuchelte persönliche Wahrhaftigkeit. Niemand hat noch die subtilsten Äußerungen von Zwang und Künstlichkeit in der Religion radikaler ausgerottet als­ Luther. Denn niemand hat das ganze Leben eines Christenmenschen so folgerichtig aus einem einzigen in der Seele hinterlegten Prinzip, dem Gottvertrauen, hergeleitet. So weit hat nicht einmal ein Calvin vermocht ihm zu folgen. Stattdessen formte er einen Lebenstypus, der leicht bei Hugenotten und Puritanern zu erkennen ist, und der Großes für die Kultur der Welt geleistet hat. Warum hat Calvin zwar den Grundsatz der Reformation von der religiösen Gleichwertigkeit der weltlichen Berufe und der Heiligkeit der Arbeit aufgenommen und mit überzeugender Klarheit durchgeführt, aber die äußerste Idealität in Luthers Reaktion gegen jede Art frommer Uniform für Leib und Seele nicht verstanden? Es ist dieser Punkt, an dem ich nicht umhin kann, in Luthers Humor eine mitwirkende Ursache zu erkennen für die Andersartigkeit, sowohl für die größere Andersartigkeit des Lebensideals gegenüber Augustin und­ Pascal als auch für die weit geringere Andersartigkeit gegenüber Calvin. Wir [60] haben gesehen, wie sehr Luthers Humor daran beteiligt war, dass er mit kühnem Griff jegliche, auch die subtilste, Stereotypisierung des reli­ giösen Lebens beiseite geschoben hat. Sicherlich hätte Luther Calvin und Pascal ebenso tristes und austeros gefunden, wie er in einer Tischrede die Waldenser bezeichnet hat.96 Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass weder Luthers Vorgänger in der religiösen Erkenntnis, Paulus und Augustin, noch sein Schüler und bedeutendster Interpret sowohl hinsichtlich des Glaubens als auch des Lebensideals, Calvin, noch auch die Vorkämpfer des Augustinismus nach ihm in der römischen Kirche, ein Jansenius, Arnauld und Pascal, Humor besaßen. Ebenso wie den allermeisten der Großen in der Religion fehlte ihnen der Humor und damit einer der Anstöße, den asketischen, durchgeformten Frömmigkeitstypus zu durchbrechen und die Konsequenz aus dem evangelischen Ideal des Gottvertrauens und der Freiheit zu ziehen. Luther steht in der Geschichte der Religion für den Humor. 96 [WA.TR 2 (560 f), 560,43–561,1 (Nr. 2630a vom 31.8.1532): „Waldenses homines tristes sunt et austeri, tantum lege se macerent et promissiones non tractant sincere“ (Die Waldenser sind mürrische und strenge Leute, weil sie sich mit dem Gesetz abquälen und sich nicht offenherzig mit den Verheißungen befassen).]

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III. Die Revolution, die Luther im christlichen Lebensideal durchführte, bedeutete nicht nur, dass die Uniformierung der Heiligkeit beseitigt wurde, sondern brachte auch ein positives Resultat hervor, die Treue zum Beruf. Hat die impulsive Unbändigkeit seines Humors und sein empfindliches Gespür für das Echte und Wahrhaftige zu der Reaktion auf die methodische Konditionierung der Seele und der Lebensführung beigetragen, so ist die Lehre vom Beruf, soweit ich sehe, von einer anderen Seite von­ Luthers Humor beeinflusst worden. Zuletzt bleibt die Neuschöpfung in der Geschichte der Religion ein Geheimnis. Und eine Neuschöpfung liegt in der Tat vor in Luthers Berufslehre, wenngleich schöne Aussprüche sich schon früher in der Kirche finden, sowohl über die Arbeit in weltlichen Tätigkeiten als auch über die Ehe. Der sächsische Dominikaner Markus von Weida äußerte 1501 in einer Predigt in Leipzig, dass mancher arme Bauer, Ackermann oder Handwerker Gott wohlgefälliger sein und „mehr mit seiner Arbeit verdien[en kann] bei Gott“ als Mönche, die [61] „täglich zu Chor stehen, singen und beten.“97 Luther hatte trotzdem Recht, als er 1533 schrieb, „das kein Doctor noch Scribent, kein Theologus noch Jurist, so herrlich und klerlich die gewissen der Weltlichen stende bestettigt, unterricht und getroestet hat“ wie er es getan hat „durch sondere Gottes gnade.“98 Einzelne Farben und Blätter machen jedoch keine Blume. Eine An­ schauung kann sporadisch vorkommen. Das bedeutet noch nicht deren Durchbruch. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Dennoch sieht der Historiker, insbesondere wenn er einen Überblick anstellt und die Wirkungen be­urteilt, Neuschöpfungen in der Welt des Denkens und der Bildung, die von demjenigen vielleicht nicht entdeckt werden, der die Wörter und Sätze mit dem Mikroskop untersucht. Vieles hängt von dem Geist und Zusammenhang ab, in dem ein Satz ausgesprochen wird. Man braucht lediglich die einzelnen Äußerungen durchzulesen, die man von mittelalterlichen Theologen gesammelt hat, um den Unterschied bei Luther zu bemerken.99 Offensichtlich rührt das Wort Beruf selbst in dem Sinn, den 97 Vgl. H. Grisar, a. a. O. Bd.  2 (wie S. 55, Anm. 60), 478 f. [An der zweiten von­ Söderblom angegebenen Stelle, S. 485, kommt Weida zwar noch einmal vor, jedoch in ganz anderem Zusammenhang.]. 98 M. Luther, Verantwortung der aufgelegten Aufruhr … (wie S. 58, Anm. 71), WA 38, 103,6–9. 99 Vgl. H. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 569 f. (vgl. S. 43, Anm. 37). [Die zusätzliche Angabe Bd. 2, 571 ist falsch.] Grisar (S. 571) gibt selber zu, man habe „den Wert irdischer Berufe zu sehr zurücktreten lassen.“ [Zusatz des Hg.: dieses Eingeständnis gilt aber nur „in manchen Fällen“! – Es ist vielleicht nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass der berühmte Aufsatz von Karl Holl, Die Geschichte des Worts Beruf (GAufs zur Kirchengeschichte III, 189–219), erst 1924, also nach ­Söderbloms Buch, erschienen ist. D. Hg.]

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es an­genommen hat, von Luther her. Das Wort Ruf in der Bedeutung von Stand, Profession, war nach Luthers eigenen Worten in der Volkssprache vor ihm geläufig. Wir können die Bedeutung der reformatorischen Lehre vom Beruf nicht überschätzen. Wir legen zwar gerne mehr in sie hinein, als Luther es getan hat. Wir fügen eine positive Sicht der Arbeit selbst hinzu, welche die treuen Diener jeder Kultur zu Mitarbeitern Gottes macht. Eine derartige Betrachtung war Luther fremd. Ein Christ ist im Glauben über alles Weltliche erhaben. Es ist ein Zugeständnis an seine Stellung in diesem Jammertal, dass er sich mit den Dingen der Welt befassen muss. Doch nichts­destoweniger hat Luther den Begriff Gottesdienst über das Menschenleben in seinem ganzen Umfang ausgedehnt. Wir verstehen Luthers Lehre vom Beruf nicht, solange wir nicht unser Augenmerk darauf richten, wie sie von seinem Temperament gefärbt ist. Der religiöse Wert und die Heiligkeit der verschiedenen, auch der von den Hochheiligen [d. h. von denen, die besondere Heiligkeit beanspruchten] gering geachteten, weltlichen Berufe100 [62] war bei Luther mehr als eine klar konzipierte und konsequent durchgeführte Theorie. Es liegt eine persönliche Betonung auf seinen Worten über den weltlichen Beruf, eine Warmherzigkeit, die nicht ohne innere Nähe zu dem Humor seines Gemüts ist. Der Tonfall hat einen Klang, der von einem ursprünglichen Gefühl, nicht bloß von einer klaren Überzeugung herrührt. Die nicht angelernte Kunst des Humors besteht darin, die Schönheit im Geringen und Unbeachteten zu erkennen und eine menschliche und allzu menschliche Schwäche auch in solchem zu entdecken, was ein Monopol auf Ansehen besitzt. Luthers Humor nahm der Hochheiligkeit ihren Nimbus. Doch zugleich entdeckte er eine ungeahnte Poesie in dem, was die Frömmigkeit als niedrig und profan erachtete. Der Blick des Humors ruhte warmherzig auf der Arbeit, selbst auf den abstoßenden und geringen Tätigkeiten. Das Dienstmädchen, das den Fußboden ordentlich fegt, die Mutter, die das kleine Kind versorgt – welche nützliche Beschäftigung es auch sein mag: wenn sie in Gottvertrauen und Treue ausgeführt wird, steht sie in Gottes Augen ebenso hoch wie hohe und heilige Ämter. Solche Lutherworte sind allzu bekannt, als dass sie angeführt werden müssten. Luther hat über die Arbeit und die Tätigkeiten des Werktags eine P ­ oesie ausgegossen wie niemand vor ihm und kaum jemand nach ihm. In dem Gewöhnlichsten, das alle Menschen bis zum Überdruss gesehen und getan 100 [­Söderblom unterscheidet die beiden Arten von Heiligkeit durch zwei verschiedene Begriffe; die Heiligkeit des Berufs bezeichnet er mit dem im Schwedischen üblichen Ausdruck helgd, die spezielle Heiligkeit dagegen mit dem feierlicheren Wort helighet. Das lässt sich im Deutschen schwer nachahmen. D. Hg.]

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haben, Gottes Wunder zu entdecken – das war die Kunst Jesu. Luther besaß etwas von derselben Kunst. Niemand tut den Menschen einen größeren Dienst als der, welcher ihnen die Schönheit und den Wert dessen zeigt, was sie bereits besitzen. Die Religion kann sagen: Komm und tue etwas anderes, als was du tust! Das ist wichtig. Luther hat das zu den Sklaven der Sünde und des Gesetzes gesagt. Die Religion kann auch sagen: Siehst du, was du tust? Das ist auch wichtig. Es war Luthers Gabe, den Menschen zu zeigen, wie schön ihre verachteten Tätigkeiten waren. Das Gewöhnliche und Alltägliche bekam durch Luthers herzlichen Humor einen warmen Schein um sich herum, den einfach niemand geahnt hatte. [63] Der Hausvater kommt müde von der Mühe des Tages nach Hause. „Liebe tochter, halt dich alßo gegen deinen man, das er fro werde, wen er den spitz [Giebel] sihet an dem hauße, ßo er widerumb zu haus kompt.“101 Die mannigfaltige Hochheiligkeit, der die Menschen hinterher gelaufen waren, verlor ihren sonderbaren Wert. Stattdessen wurde sogar die Prosa in Poesie verwandelt. Die gleiche Hochschätzung des Gewöhnlichen kommt in der Schrift des Jahres 1520 an den christlichen Adel der Hausgemeinde und der gering geachteten Andacht in der Gemeindekirche zugute. „Drumb rad ich, man lasz sich die heyligen selbs erheben. Ja got allein solt sie erheben, und yeglicher bleybe in seyner pfarr, da er mehr findt, dan in allenn walkirchen [Wallfahrtskirchen], wen sie gleich alle ein [eine einzige] walkirchen weeren. Hie findt man tauff, sacrament, predigt und deinen nehsten, wilchs grosser ding sein den alle heyligen ym hymel, den sie alle sein durchs wort gottis unnd sacrament geheyliget worden.“ „[Szo rad ich], das ein yglich frum Christen mensch sein augen auffthu, unnd lasz sich mit den Romischen bullen, siegel und der gleysserey nit yrrhen, bleyb daheymen in seiner kirchen, und lasz yhm sein tauff, Evangeli, glaub, Christum unnd got, der an allen ortten gleich ist, das beste sein, und den Bapst bleyben einen blinden furer der blindenn. Es kan dyr widder Engel noch Bapst szoviel geben, als dyr got in deyner pfar gibt …“102

Da geschah eine Umwertung gängiger Werte. Der Humor war beteiligt und half mit. IV. Es bleibt noch übrig, die Grenzen der Bedeutung des Humors für Luther und seine Lebensanschauung anzugeben. 101 WA.TR 2, 513,1–3 (Nr. 2542a) [im Gegensatz zu der Ehefrau, welche die Rückkehr des Mannes fürchtet]. 102 [M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6 (404–469), 448,26–31; 450,1–7.]

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Fassen wir den Humor als die totale Reaktion eines Menschen auf das Dasein, dann gehört Luther nicht zu den Humoristen. Martensen schrieb, dass das evangelisch-lutherische Christentum weder Pessimismus noch Optimismus sei, sondern eine romantisch-humoristische Anschauung.103 Daran ist etwas Wahres. Aber [64] Luther war keineswegs durch und durch Humorist. Dafür war seine Seele zu leidenschaftlich, seine Einstellung zu ernst. Humor als Lebensform ist unvereinbar mit der Inbrunst der Religion. Durchgängig praktizierter Humor als Auffassung von Leben und Menschen setzt am ehesten einen Platz als Zuschauer oder jedenfalls als bloßer Statist voraus. Humor in diesem Sinne stellt ein Temperament dar, das nicht ohne weiteres mit Tatkraft und Zupacken vereinbar ist. Deshalb haben wir die großen Humoristen bei den Schilderern des Lebens zu suchen, deren größter Shakespeare ist. Humor kann eine Lebensanschauung sein auch bei Menschen der Tat, sofern diese ihre hauptsächlichen Bemühungen nicht auf solche Bereiche richten, wo für Wohl und Wehe des Menschen allzu viel auf dem Spiel steht. Als Søren Kierkegaard die Charakteristik des Sokrates aus Ironie in Humor änderte104, meinte er, dass Humor das Höchste sei, was das Heidentum erreichen könne, aber dass ein Christ kein Humorist sein könne. Dagegen wird man einwenden können, dass das, was wir Humor nennen, diese zugleich durchschauende und freundlich verträgliche Betrachtung der Menschen, sich nicht bei Sokrates, sondern erst innerhalb der Christenheit findet. Mit seiner Aussicht über das irdische Leben hinaus kann das Christentum sogar im Hinblick auf ein tragisches Geschick Humor bewahren, insofern man eine ver­söhnende Verklärung nach dem Tode anstrebt. Die christliche Sicht ist in hohem Maße mit Humor gut vereinbar. Humor als Lebensanschauung kann einem Seelsorger gute Dienste leisten. Ein solcher war Luthers bedeutendster geistlicher Wohltäter, der Generalvikar des Augustinerordens Johann von Staupitz, stiller Mystiker, liebenswerter Prälat, an den Höfen von Fürsten und Prälaten geschätzt wegen seiner angenehmen Umgangsformen, ein ebenso weltkundiger wie seelenkundiger Mann. Der Humor leuchtet aus dem gutmütigen, wohlgenährten, lächelnden Gesicht mit den munteren Augen, das in der Erzabtei [St. Peter] in Salzburg abgebildet ist, Staupitz’ Zufluchtsort, als der Sturm um Luther zu heftig wurde. [65] Er starb dort im Jahre 1524. Humor spricht aus seinem Wahlspruch: „In der Kirche andächtig, am Tisch 103 [Den Beleg habe ich nicht gefunden, vielleicht deswegen, weil das Sachregister zu Martensens Christlicher Ethik fehlerhaft ist. D. Hg.] 104 [Hier denkt ­Söderblom wohl an den Schluss von Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Samlede Værker 13 (1906) 392 f; in E. Hirschs deutscher Übersetzung: GS 31. Abt., 334 f.]

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fröhlich“.105 Einige von Luthers schönsten Briefen, unter ihnen der, welcher die dem Papst zugeeigneten Resolutiones zum Ablass am 30. Mai 1518 begleitete106, zeugen von der Zuneigung zu diesem väterlichen Freund, der bei einer Inspektion in Erfurt sogleich von dem jungen Mann mit den dunklen, brennenden Augen und den sonderbaren, selbstquälerischen Gedanken fasziniert gewesen zu sein scheint. Als Bruder Martin daran litt, dass er nicht einmal das halten konnte, was er am selben Morgen Gott gelobt hatte, sagte Staupitz: „Ich hab gott mehr denn tausendt mahl gelogen, das ich wolte from werden, und habs nie gethan, drumb will ich mirs nicht fursetzen, das ich from wolle sein, den ich sehe wohl, ich kans nicht halten.“107 Er ermahnte sich selbst und andere zu Geduld und Nachsicht gegen die Natur und die Schwächen des Lebens. Luther fand, dass alles in der Welt schief ging. Staupitz lächelte zur Antwort und meinte, das letzte Wort der Weisheit sei das Wissen, dass es in dieser Welt nie mit rechten Dingen zugeht. Mit warmen und einfühlsamen Worten wies er sein Beichtkind auf die Wunden Christi und auf Gottes Barmherzigkeit hin.108 „Christus schreckt nicht, sondern tröstet nur.“109 Als Luther in einem Brief klagte: „O meine Sünde, Sünde, Sünde!“, antwortete Staupitz im Gedanken an Luthers krankhafte Einbildung mit einer scherzhaften Zurecht­weisung: „Christus ist die Vergebung rechtschaffner Sünde [, als die A ­ eltern ermorden, offentlich lästern, Gott verachten, die Ehe brechen etc.], … nicht [von] solchem Humpelwerk und Puppensünden.“110 Die Gelassenheit111 der Mystik, das ist ihr unbekümmertes Ruhen in Gott, kann im Humor eine ihr entsprechende Betrachtung der Welt und der Menschen finden. Für den Humanismus war der Humor eine natürliche und befriedigende Gemütsstimmung. Aus seinen Kreisen ging nicht allein mörderische, überhebliche Satire hervor. Vielmehr finden wir dort auch Humor als gereifte Lebensansicht, am besten verwirklicht bei dem bedeutendsten Humanisten, Erasmus von Rotterdam, in Verbindung mit seiner aufrichtigen, warmen Frömmigkeit. Wie werden in einem [66] späteren Kapitel die beiden Großen des Zeitalters zuerst vereint, dann aus instinktiver Gegensätzlichkeit jeder dem ihm eigenen Typus von Christentum Nachdruck verleihen sehen. Humor kann einen Mystiker und einen Humanis105 [Zitiert nach A. Hausrath, a. a. O. (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 1, 37.] 106 [Vgl. Brief an Staupitz vom 1.9.1518, Nr. 89, WA.B 1, 193 f.] 107 [Wochenpredigten über Joh 6–8, WA 33, 431a,28–33. Gedacht ist an das Sakrament der Beichte.] Vgl. hierzu und zum Folgenden A. Hausrath, a. a. O. (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 1, 38. 108 [Vgl. WA.TR 2, 227 f (Nr.  1820); 582 f (Nr.  2654).] 109 [WA.TR 2, 417,23 (Nr. 2318).] 110 [WA.TR 6, 106,34–37; 107,1 f (Nr.  6669).] 111 [Deutsch im Original.]

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ten befrie­digen. Aber für einen Propheten oder einen Apostel kann er nicht die höchste Warte darstellen. Man muss auch sagen, dass das Christentum streng genommen Humor als letztes Urteil über das Leben und die Menschen ausschließt. Das echte Christentum enthält einen so starken Dualismus, dass der Humor die Ehrenloge verlassen und sich mit einem anspruchsloseren Platz begnügen muss. Der Glaubensheld, der den schwersten Kampf mit seiner eigenen verführerischen Schwermut auszufechten hatte, fand seinen Weg nicht durch den Humor allein. Der Humor nimmt in Luthers Leben einen breiten Raum ein, am Rande seiner ihn eigentlich bestimmenden Leidenschaft. Der Humor bewahrte Luther davor, von seinem Eifer zerrissen zu werden und sich selbst wichtig zu nehmen.112 Er half ihm gegen Verzweiflung und Selbstreflexion. Der Humor reinigte seine Seele von vielen Dünsten, die sie sonst vergiftet hätten. Doch der Platz des Humors in Luthers Leben ist durch und durch sekundär. Die Grenzen des Humors: starke Aktivität und tragisches Leiden, gehören beide zu Luthers Wesen. Er kann lachen, dass man glaubt, die Welt wackelt mit. Er kann jegliches sich einschleichende Gehabe durch Spott vertreiben. Er kann seine eigene traurige Seele aufmuntern und Freunde erquicken. Aber wenn es darauf ankommt, ist er kein Humorist. Seine geistige Welt wurde von dem Kampf zwischen Gott und Teufel beherrscht. Da war kein Platz für den Frieden des Humors, sondern nur für den Sieg des Glaubens. Als Luther am 28. Februar 1537 nachts in Gotha erkrankte, glaubte man nicht, dass er den Morgen noch erleben würde. Er diktierte Bugenhagen sein Testament. Da breitete sich nicht der versöhnliche Schimmer des Humors über die Mühen und Kämpfe des Lebens, sondern er diktierte Trotz und Gebet um Vergebung: „Ich weiß, Gott sei gelobt, daß ich [67] recht getan, daß ich das Papsttum gestormet habe mit Gotts wort. Denn es ist Gotts, Christi und des Euangelii Lästerung etc. Bitte in meinem Namen mein liebstes Philippchen“ – empfand Luther in diesem Augenblick, wie er unfreiwillig Melanchthons Seele Gewalt angetan hatte? – „Jonas und Cruciger, dass sie mir verzeihen mögen, was ich gegen sie gesündigt habe. Tröste meine Käthe.“ Er bat seine Freunde, für sie und die Kinder zu sorgen. Nachdem er die Diakone der Kirche und die Bürger in Wittenberg gegrüßt und den Kurfürsten und den Landgrafen hatte ermuntern lassen, die Sache des Evangeliums zu fördern, schloss er: „Ich bin jetzt bereit zu sterben, so Gott will. Ich würde freilich gern noch bis Pfingsten leben, um jene römische Bestie und ihre Herrschaft durch eine öffentliche Schrift

112 [Schwedisch: taga sig högtidligt, wörtlich: sich feierlich nehmen.]

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noch schärfer vor der Welt anzuklagen.“113 Der Humor hat nicht das letzte Wort, weder in Luthers äußerer Tätigkeit noch in der Welt seines Herzens. Der Humor war eine Oberfläche, die manchmal die harten Anforderungen des Berufs und die unbezwingbare Unruhe des Herzens kaum verbarg. Diese Unruhe ließ sich nicht durch die Weltanschauung des Humors stillen. Sie ließ sich überhaupt nicht stillen, sondern nur erlösen aus der Hölle der Verzweiflung, durch die Macht Christi und die Barmherzigkeit Gottes. Luthers Humor ist ein Sonnenglitzern über schwarzen Abgründen, in die wir im nächsten Kapitel hinabblicken werden. Aber heute und alle Tage sollen wir Gott danken für jede Aufhellung, die seine Gnade durch den Humor in der Seele über den Lebensweg schickt.

113 WA.B 8, 55 f, Nr.  3141b, undatierter und unadressierter Brief; die Zitate 55,1–6 und 56,29–31). [Im Original bis auf den ersten Satz lateinisch. Zum letzten Satz vermutet der Herausgeber, Luther habe da an seine Schrift Von Conciliis und Kirchen gedacht.]

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[69] III. Luthers Melancholie [71] Wir werden jetzt auf Luthers De profundis lauschen, eine düstere und einförmige Musik Im nächsten Kapitel werden wir versuchen es zu deuten. Danach kommen wir zu anderen Tonarten. „Ich kenne einen Menschen, der erklärt, er habe diese Qualen öfters erlitten, zwar nur eine ganz kurze Zeit lang, aber von so höllischer Art, wie sie keine Zunge aussprechen und keine Feder beschreiben und auch niemand, der sie nicht erfahren hat, glauben kann, so dass er, wenn sie noch gesteigert oder bis zu einer halben Stunde, ja auch nur bis zum zehnten Teil einer Stunde andauern würden, gänzlich zugrunde gehen und all seine Gebeine zu Asche verwandelt würden. Hier erweist sich Gott als grauenhaft zornig, und mit ihm die gesamte Schöpfung. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, keinen Trost, weder drinnen noch draußen, sondern nur Anklage von überall her. Da klagt er schluchzend mit diesem Vers: ‚Ich bin von deinen Augen verstoßen‘ (Ps 31, 23), und wagt nicht einmal zu sagen: ‚Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn‘ (Ps 6, 2). In diesem Augenblick kann die Seele (erstaunlich genug) nicht glauben, dass sie jemals erlöst werden könne, sondern sie nimmt nur wahr, dass die Strafe noch nicht vollendet ist. Sie ist vielmehr ewig; er kann sie nicht für zeitlich halten, es bleibt nur das bloße Lechzen nach Hilfe und ein gewaltiges Ächzen, aber er [72] weiß nicht, wo er um Hilfe bitten soll. Da ist die Seele [am Kreuz] ausgestreckt mit Christus, so dass man alle Knochen zählen kann, und es ist in ihr kein Winkel, der nicht voll bitterster Bitterkeit, Schrecken, Angst, Traurigkeit ist – und dies alles wie wenn es ewig dauert. Um ein Beispiel zu geben: Wenn eine Kugel auf einer geraden Linie rollt, so trägt jeder von ihr berührte Punkt der Linie die ganze Kugel, ohne doch die ganze Kugel zu umfassen. So empfindet die Seele an ihrem Punkt nichts anderes als ewige Strafe und saugt sie in sich auf, wenn sie von der vorüberrollenden Überschwemmung der Ewigkeit berührt wird. Aber diese dauert nicht an, sondern geht vorüber. Wenn also diese höllische Qual, das heißt diese unerträgliche und von keinem Trost zu behebende Angst, [schon] die Lebenden trifft, um wie viel mehr muss solche Strafe im Fegefeuer von solcher Art sein, nur mit dem Unterschied, dass sie von Dauer ist.“114

114 M. Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (1518), WA 1 (525–628), 557,33–558,14. [­Söderblom wechselt in der Übersetzung von lat.

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Dieses Selbstzeugnis ist den Untersuchungen (Resolutiones) über die Wirkung des Ablasses aus dem Jahre 1518 entnommen. Luther war also damals 34 Jahre alt. Für das Verständnis von Luthers Religion und Lebenswerk sind die folgenden Fragen wichtig: Wir hängt Luthers Melancholie, wie die damalige Zeit die Verfinsterung des Gemüts in weit gewichtigerem Sinn nannte, als ihn der heutige Sprachgebrauch bewahrt hat, mit dem sittlich-religiösen Schuldgefühl zusammen, das den schwarzen Hintergrund bildet für sein A und O im Christentum, die Gewissheit der Vergebung der Sünden und den frohen Mut des Gottvertrauens? Welche Bedeutung hatte die Schwermut dafür, Luther zu dem warmherzigen und mächtigen Tröster zu ­machen, der er ist? Ehe wir auf diese Fragen eingehen, müssen wir Luthers innere Leidensgeschichte in ihren Hauptzügen nachzeichnen. Da stellen sich drei Fragen. Man hat die düsteren Züge in Luthers Gefühlsleben mit der Strenge des Elternhauses in Verbindung gebracht und mit der Angst vor den Mächten der Finsternis, die nach dem gängigen Volksglauben in dem empfindsamen Gemüt des Kindes genährt wurde. Wie steht es [73] damit? Sodann treffen wir auf die Frage: Hatte eine melancholische Veranlagung Anteil an dem Eintritt ins Kloster am 17. Juli 1505? Des Weiteren sind die Erfahrungen des Klosterlebens und die Seelenangst oft miteinander verknüpft oder vermischt worden. Welches ist der Anteil des Klosters an Luthers Melancholie? Nach der längsten und schwersten Heimsuchung von Luthers Seele durch die Schwermut erwähnt er am Neujahrstag 1528 in einem Brief an den Vorsteher des Fraterhauses in Herford, Gerhard Wiskamp, dass ihm eine derartige Anfechtung seit seiner Jugend nicht unbekannt war.115 Nun ist es jedoch dahin gekommen, dass die Melancholie und einzelne Äußerungen Luthers über seine Kindheit das Verständnis seines Elternhauses und seiner Jugendzeit auf eine Weise gefärbt haben, die sich als unecht erweist. Luther würde, wenn er könnte, mit kräftigen und unpassenden Wörtern die sentimentale Stimmung vertreiben, die sich auf solche Weise um das Bild von seiner Jugend gebildet hat. Weder die Strenge des Elternhauses noch die Gespensterfurcht seiner Kindheit kann eine Erklärung für seine Schwermut abgeben.

poena zwischen „straff“ (Strafe) und „kval“ (Qual). Das ist sowohl sprachlich möglich als auch sinnvoll; ich bin ihm deshalb darin gefolgt. D. Hg.] 115 Vgl. Brief an Gerhard Wiskamp vom 1.1.1528, WA.B 4, (319 f), 319,6 (Nr. 1197). [Fraterhaus war ein Haus der Brüder vom gemeinsamen Leben. Der Empfänger wird oft, auch von Luther und deshalb auch von ­Söderblom, Wilskamp geschrieben. Nach Auskunft des Hg. von WA.B 4 (243 Anm. 1) hieß er aber Wiskamp.]

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Luthers unglückliche und freudlose Kindheit ist eine Legende. Vater und Mutter, anfangs eine arme Bauernfamilie, später wohlhabende Bergmannsleute, waren zwar streng. Zur Erziehung gehörte eine Härte, die dem empfindlichen, ja überempfindlichen Gemüt des Knaben zu schwer wurde. Er erzählt von ungerechtfertigen Schlägen. Der Vater, der ein aufbrausendes Temperament hatte, züchtigte ihn einmal so, dass Martin scheu und „ihm gram“ wurde, bis dieser „mich wieder zu ihm gewöhnete“.116 Aber derselbe Vater betete oft und innig am Bett des Sohnes und zeigte ihm auf dem Feld die Güte Gottes. Der Vater verleugnete sein „fröhliches und sanftes“ Wesen selbst dann nicht, wenn [74] er einmal zu viel getrunken hatte.117 Luther bewahrte von seiner Kindheit einen Eindruck, der die Dankbarkeit andere Gefühle bei weitem überwiegen ließ. Er sah, dass die Eltern es „hertzlich gut“ meinten118, und wie hart sie sich für die Zukunft ihrer Kinder abmühten. Besonders mit dem Vater verband ihn eine Verehrung und Liebe, die mit den Jahren wuchs. Vom Elternhaus nahm Luther das Empfinden für das vierte Gebot mit, das in seinen Auslegungen herausragt, und das der Vater bei einer denkwürdigen Gelegenheit seinem Sohn einschärfte. Der Vaterstolz auf den Sohn, der nach einer gelehrten Ausbildung als glänzender Magister an der Erfurter Universität jetzt von seinem Vater mit „Ihr“ tituliert wurde und nach dessen ehrgeizigen Plänen die juristische Laufbahn antrat, nahm ein Ende mit Schrecken, als Martin zum Ärger und Kummer der Freunde und Angehörigen am 17. Juli 1505 in das Augustinerkloster in Erfurt eintrat. In einem zornigen Schreiben, das wieder das väterliche „Du“ benutzte, verweigerte der Vater dem Sohn das Einverständnis und kündigte dem Sohn „allen gonst und veterlichen Willen“ auf. Doch die leicht zu rührende Empfindsamkeit des Vaterherzens nahm sich ihr Recht, als die strebsame Bergmannsfamilie in Mansfeld in diesem Jahr zwei Söhne verlor. Dieselbe Seuche hatte Erfurt heimgesucht und nach einem, freilich rasch widerlegten, Gerücht auch Martin getötet. Widerstrebend und traurig gab der Vater nach, „nicht gern, von freiem und fröhlichem Hertzen“.119 Ein paar Jahre später hatte er die Enttäuschung so weit verwunden, dass er sich zum 2. Mai 1507 in Erfurt einfand, wo Martin, vor kurzem zum Priester geweiht, sein erstes Messopfer vollziehen sollte und nach der Sitte Angehörige, Freunde 116 [Vgl. WA.TR 2, 134,15 f (Nr.  1559).] 117 [Vgl. WA.TR 4, 636,12–20 (Nr. 5050), wo Luther seinem Neffen, einem Alkoholiker, der jähzornig wurde, wenn er betrunken war, seinen Vater gegenüberstellt, der auch, wenn er angeheitert war, „laetus et suavis“ war, sang und scherzte.] 118 [Vgl. WA.TR 3, 416,2 (Nr. 3566 A).] 119 [Vgl. O. Scheel, a. a. O. (wie S. 51, Anm. 53), Bd. 1, ³1921, 259 f; nach Valentin Bavarius, Rhapsodiae et dicta quaedam ex ore D. Martini Lutheri, Bd. 2, 1549, 752.]

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und Gönner zu einem Festmahl eingeladen hatte. Doch als der junge Priester fragte, weshalb der Vater so zornig auf ihn war, und hervorhob, das Mönchswesen sei doch „eine feine und stille, göttliche Lebensweise“, kam der Schmerz wieder empor. Die verletzte – eher als harte – Antwort lautete: „Wisst Ihr nicht, gelehrte Herren, dass geschrieben steht: ‚Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“120 – Ausdruck [75] derselben gesunden Laienfrömmigkeit, von der Luther eines Tages Ende März 1532 bei Tisch vom Totenbett des Vaters berichtete. Als der Pfarrer den Alten fragte, ob er an die Tröstungen glaube, die der Sohn ihm geschrieben hatte, antwortete er: „Ey, wenn ich das nit glaubet, so thett ich als ein schalck [Bösewicht]“.121 Luthers Gefühle für sein Elternhaus spiegeln sich am besten in seinen Auslegungen jenes vierten Gebots, das damals einen solchen Eindruck auf ihn gemacht hatte, dass er nach eigenem Urteil in seinem ganzen Leben kaum von irgendeinem Menschen ein Wort gehört hatte, das ihn stärker berührt hätte. Luther schreibt stets konkret nach dem Leben und gibt sich nicht mit herkömmlichen allgemeinen Ausdrücken ab. Deshalb tun wir recht, wenn wir hinter seinen Ausführungen zum vierten Gebot, insbesondere aus früheren Jahren, bevor er einen eigenen Hausstand gegründet hatte, die Gesichtszüge des Großen Hans – wie sein Vater genannt wurde – und seiner Frau suchen. So, als Luther auf Spalatins Aufforderung während seines übermenschlichen Arbeitsjahres 1520 auch seinen Sermon von den guten Werken schrieb, ein Buch über die Zehn Gebote, und unter dem vierten Gebot seine Gefühle für die Eltern schilderte. „… die ehre ist hoher, dan schlechte [schlichte] liebe, und hat mit sich ein furcht, die sich mit lieb voreynigt, unnd macht den menschen, das er mehr furcht sie zubeleydigen, dan die straff. Gleich als wir heyligthum [Reliquien] ehren mit furcht, und doch nit flihen davor als vor einer straff, sondern mehr hyntzu dringen: ein solche furcht, mit lieb vormischt, ist die rechte ehre.“

Der nächste Absatz gibt eine nähere, für Luthers Kindheit und Jugend erhellende Erklärung.

120 Vgl. WA.TR 1, 294,8–12 (Nr. 623); vgl. WA.TR 1, 439,30–440,2. Für die von ihm gebotene ausführlichere Version verweist ­Söderblom auf die Predigt zum 2. S. nach Epiphanias 1544, WA 49 (316–324), 322,3 f. [Die Erwähnung des stillen Mönchslebens finden sich jedoch auch dort nicht. Die Anrede „Gelehrte Herren“ ist nach O. Scheel, a. a. O., Bd.  1, 55 („Ir gelarten“) zitiert und stammt aus V. Bavarius, a. a. O. (wie vorige Anm.), Bd. 2, 752. Vgl. auch O. Scheel, a. a. O., Bd. 1, 264 f.] 121 [WA.TR 1, 89,26–29 (Nr. 204); vgl. WA.TR 2, 81,8–12 (Nr. 1388).]

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„… wo die eldern recht frum sein, unnd yhre kind nicht nach fleischlicher weysz lieb habenn, sondern (wie sie sollenn) zu gottis dienst sie mit worten und wercken in den ersten dreyen gebotten weysen und [76] regiren, da wirt dem kind on unterlasz sein eygen wil geprochen, und musz thun, lassen, leyden, das sein natur gar gerne anders thet, da durch dann es ursach gewinnet, sein eldern zuvorachten, widder sie tzu murmeln, odder erger ding zuthun: da geht die lieb und furcht ausz, szo nicht gottis gnade da ist. Desselbenn gleichen, wo sie straffen unnd zuchtigenn, wie sichs geburt, tzu weylen auch mit unrecht, das doch nit schadet zur sele selickeit, szo nympts die bosze natur mit unwillen an.“122

Kann man umhin, Luthers eigene Erfahrungen und seine wohlwollende Deutung der Erziehungsweise der Zeit in den ernsten Elternhäusern wiederzufinden? Es dürfte indessen nicht angehen, die Angst durch freudlosen Zwang im Elternhaus verursacht sein zu lassen. Auch von der Ärmlichkeit des Elternhauses sind übertriebene Vorstellungen im Schwange. Zwar wurde dort ziemlich hart gearbeitet, doch erfolgreich. Nachrichten, die Otto Scheel kürzlich zusammengestellt hat, deuten auf wachsenden Wohlstand.123 Das darf man schon aus dem Studiengang erschließen, den Hans meinte, seinen ältesten Sohn einschlagen lassen zu können. Und als er unzufrieden, aber des Gewichts der Sache und der Familienbande voll bewusst, zu Magister Martins erster Messe in Erfurt gefahren kam, wollte er offensichtlich zeigen, was ein Ratsherr in Mansfeld sich leisten konnte. Zwanzig Pferde trugen majestätisch die Verwandtschaft. Zwanzig Gulden wurden dem jungen Mönchspriester und durch ihn dem Kloster als Ehrengabe übergeben. Des Weiteren hat man die Melancholie mit dem Aberglauben in Verbindung gebracht. Doch Luther teilte den Dämonenglauben mit Erasmus und anderen. Die lebhafte Phantasie des Knaben war seit seiner Kindheit von Gewimmel übernatürlicher Wesen bevölkert. Das konnten ganz unschuldige und freundliche Wesen sein wie Zwerge, Kobolde, Frau Hulda und ihresgleichen. Aber meistens [77] bestanden sie aus dem Bösen und seinem Anhang. Hexerei und Zauberwesen waren für Luther lebenslang völlig real. Der Böse und sein Gefolge peinigten ihn nicht nur mit Krankheit, Plagen, Angst und allerhand Widerstand gegen das Evangelium. Er hörte den Teufel rascheln und schlurfen124, gewahrte ihn einmal in der Dämmerung und sah ihn in manchen Fällen leibhaftig in der einen oder anderen Gestalt.

122 M. Luther, Von den guten Werken (1520), WA 6 (202–276), 251,5–10. 17–26. 123 Vgl. O. Scheel, a. a. O., Bd.  1 (wie S. 51, Anm. 53), 6–9. 124 [Im Schwedischen lautmalend: prassla och tassa.]

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Der üppige Reichtum des Volksglaubens verlieh der Angst Form und Stoff, wenn sie sich einstellte, brachte sie jedoch nicht hervor. Sie war vorher da. Über den erblichen Ursprung der Veranlagung zur Schwermut können wir aus Mangel an Quellen nichts wissen und tun klug daran, gewisse ebenso anspruchsvolle wie verwegene und missglückte Versuche beiseite zu lassen. Wir wollen jetzt, bevor wir die Äußerungen der Schwermut in Luthers schlimmstem Marterjahr betrachten, die Frage nach dem möglichen Anteil der Melancholie an Luthers Eintritt ins Kloster untersuchen. Schwermut war Luthers Erbteil seit seiner Jugend. Sie lauerte ständig unter der fröhlichen und freimütigen Stimmung. Melanchthon spricht von „plötzlichen Schreckensausbrüchen“ (subito tanti terrores [concutiebant]) beim Gedanken an Gottes Gericht.125 Er datiert deren ersten auf das Ereignis, das den Eintritt Luthers ins Kloster hervorrief. In manchen Augenblicken verschlimmerte sich das Übel zu hartnäckigen und verheerenden Seelenqualen, die Luther mit knapper Not irgendwie bemeistern konnte. Die erste dieser Perioden trat im Kloster ein, als die normale Belastung, die das Mönchsleben für ernste und empfindsame Gemüter bedeutet, sich zu der angeborenen Schwermut gesellte, und als die ständige Berührung mit heiligen Dingen und Handlungen und die Menge der Regeln reichlich Anlass bot. Selbstanklage und Angst konnten leicht entstehen in einer so verletzlichen und von allerhand Tabus umhegten Lebenslage. Wenn sie sich von allein einstellten, brauchte die Seele nicht lange nach Anlässen für Angst und Vorwürfe zu suchen. Welche Ausdrucksformen die Schwermut zuvor [78] gefunden hat, wissen wir nicht. Aber sowohl die Härte im Elternhaus wie die barbarische Prügelstrafe und die seelenlose Büffelei der damaligen Schule, wovon Luther später seine bekannten Beschreibungen gegeben hat, begünstigten Ängste und düstere Gedanken. Hatte der Schwarzalf126 in seiner Seele Anteil an seinem Eintritt ins Kloster? Es war keine besondere Angstperiode vorausgegangen. Noch bei dem Abschiedsfest, das er am Nachmittag des 16. Juli 1505 für seine bestürzten Kommilitonen veranstaltete, versuchten sie ihn von seinem Vorsatz abzubringen. Er war ja in ihrem Kreis stets fröhlich gewesen. An und für sich bedeutet dieses Zeugnis wenig. Die inneren Kämpfe eines Studenten müssen der Umgebung nicht zur Kenntnis gelangen, so hart sie auch sein mögen. Doch so viel ist gewiss, dass der Überdruss des gelehrten Magisters an der Hohlheit des Studiums und sein schmachtendes Wesen ein Mythos sind. Um Luthers überraschende Wende und deren Voraussetzungen zu verstehen, müssen wir ihn vor dem Hintergrund der Heilslehre der mittel­ 125 [Philipp Melanchthon, Epistolarum Liber X, Nr. 3478 (Vorwort zu Bd. 2 von Luthers Ges. Werken), CR 6 (155–170), 158.] 126 [Unterirdisches Wesen in der nordischen Mythologie.]

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alterlichen Kirche sehen. Es war die eigene Schuld der Klosterleute, dass sie von den arbeitenden Menschen gering geachtet wurden. Nichtsdestoweniger musste eine glühende junge Seele, die so wie Magister Martin das Leben und die Religion ernst nahm und für geistliche Ziele lebte, mehr als einmal vor die Frage gestellt werden: Genügt der eingefahrene Weg zum Himmel durch die gewöhnlichen Tätigkeiten des Lebens unter unermüdlicher Befolgung der kirchlichen Vorschriften, oder fordert Gott von mir etwas darüber hinaus, die höhere Vollkommenheit, nämlich den sichereren Weg des religiösen Lebens, das heißt des Mönchslebens? Traurigkeit und Sorge um die Seligkeit regten sich in Luthers Seele. Er lebte wie so viele tiefer Veranlagte mit einer heimlichen Unsicherheit im Gemüt: Tue ich recht daran, in der Welt zu bleiben? Sind die Mächte damit zufrieden? Wie ergeht es meiner Seele, wenn ich heimgerufen werde?127 Luther hat dann von zwei Ereignissen berichtet, die ihn im Laufe des Jahres 1505, des entscheidenden Jahres, [79] erschütterten. Hierher gehört nicht die bekannte Geschichte von einer Krankheit, angesichts derer der Vater eines Kommilitonen ihn auf seine Klage hin getröstet haben und ihm gesagt haben soll, dass er noch ein großer Mann werden könne.128 Aber am Dienstag nach Ostern passierte es ihm auf dem Heimweg, dass er sich mit dem Schwert ins Bein stach. Eine Arterie riss und das Blut strömte. Es dauerte eine Weile, bis sein einziger Begleiter einen Chirurgen aus Erfurt holen konnte. Währenddessen drückte Luther die Wunde zu und rief in Todesnot: „O Maria hilf!“ Auch in der Nacht, als die Wunde wieder aufging, rief er Maria an.129 Während der Genesungszeit lernte er Laute spielen. Der Tod eines Freundes traf ihn tief im selben Jahr. Aber wir wissen nichts Näheres über diese Episode. Der angebliche Name des Freundes scheint von dem Tag des Eintritts Luthers ins Klosters zu stammen: Alexius. Otto Scheel hat wahrscheinlich gemacht, dass erst eine spätere Kombination den Freund durch den Blitz bei dem ausschlaggebenden Gewitter getötet werden ließ.130 Luther spricht in den Tischreden niemals von diesem Punkt, wohl aber von den beiden zuvor erwähnten Episoden. Am 20. Juni 1505 begab sich Luther heim nach Mansfeld, ohne dass in verlässlichen Quellen etwas auf den schicksalhaften Beschluss hindeutet, den er kurz danach fasste. Auf dem Rückweg nach Erfurt am 2. Juli geriet er bei Stotternheim, nicht weit nördlich von Erfurt, in ein heftiges 127 Vgl. hierzu und zum Folgenden O. Scheel, a. a. O., Bd.  1 (wie S. 51, Anm. 53), 245–248. 128 Vgl. WA.TR 1, 95,23–27 (Nr. 223). 129 Vgl. WA.TR 1, 46,18–26 (Nr. 119). 130 [Vgl. O. Scheel, a. a. O., Bd.  1 (wie S. 51, Anm. 53), 246–249. Vgl. auch WA.TR 4,5–19 (Nr. 4707 vom 16.7.1539).

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Gewitter. In sechzehn Jahren können manche Veränderungen in einem Erinnerungsbild unterlaufen. Aber wenn es um ein äußeres Ereignis geht, das mehr als irgendein anderes den Gang von Luthers Leben bestimmte und von dem immer wieder die Rede war, haben wir allen Grund, dem Bericht über die Sache Vertrauen zu schenken, den Luther am 21. November 1521 im Vorwort zu der Schrift Von den Mönchsgelübden (De ­votis monasticis) aus der „Wüste“ oder „Einsamkeit“ (Wartburg) an seinen Vater schickte131, und dieser Schilderung mehr als anderen Authentizität zuzuschreiben. Luther war da auf andere Gedanken gekommen. [80] Er schreibt: „Es ist jetzt ungefähr das sechzehnte Jahr meines Mönchsstandes, in den ich gegen deinen Willen und ohne dein Wissen getreten bin. Mit väterlicher Fürsorge warst du um meine Schwachheit besorgt – [, ich war ja noch ein Jüngling], ich war in mein zweiundzwanzigstes Lebensjahr gekommen, d. h. ich befand mich (mit Augustin zu reden) in der leidenschaftlichen Jugend –, weil du anhand vieler Beispiele den Eindruck gewonnen hattest, dass diese Lebensweise manchem zum Unglück ausschlägt. Du warst entschlossen, mich durch eine ehrenwerte und vermögende Heirat zu binden. Jene Furcht beruhte auf deiner Fürsorge. Es war auch dein Unwille gegen mich eine Zeitlang unversöhnlich, und meine Freunde versuchten vergeblich dich zu überzeugen, dass du, wenn du Gott etwas opfern wolltest, das Liebste und Beste opfern solltest. Unterdessen ließ der Herr in deinen Gedanken jenes Wort des Psalms ertönen, wenngleich lautlos: ‚Der Herr kennt die Gedanken der Menschen, dass sie eitel sind‘.132 Schließlich gabst du nach und unterwarfst deinen Willen Gott, doch war deine Angst um mich keineswegs verschwunden. Ich erinnere mich nämlich allzu genau, wie du, bereits versöhnt, mit mir redetest und ich versicherte, dass ich durch das Grauen vom Himmel berufen und nicht freiwillig und gerne Mönch geworden sei, erst recht nicht um des Bauches willen, sondern weil ich plötzlich von Grauen und Angst vor einem plötzlichen Tod (agone mortis subitae) umringt war, legte ich ein erzwungenes und notwendiges Gelübde ab. Da sagtest du: ‚Wenn das nur nicht Illusion und Blendwerk ist!‘ Als ob Gott durch deinen Mund geredet hätte, drang diese Rede in mich ein und setzte sich in meinem Gemüt fest, ich aber wappnete mein Herz, so gut ich konnte, gegen dich und deine Rede.“133

Ein Blitz schlug ganz in Luthers Nähe ein und erschreckte ihn fast zu Tode. Andere berichten, vielleicht auf Grund einer Mitteilung Luthers, der Blitz habe ihn zu Boden geschleudert und er sei am Bein verletzt worden. In je131 [In dem angeführten Vorwort (WA 8, 573–576) stehen diese Begriffe nicht. Doch in den Briefen von der Wartburg finden sie sich öfters, vgl. z. B. den Brief an Melanchthon vom 13.7.1521, Nr. 418, WA.B 2 (356–359), 359,133 f: „orate pro me … in hac solitudine. Ex eremo mea“.] 132 [Ps 94, 11 nach der Vulgata.] 133 M. Luther, De votis monasticis iudicium (1521), WA 8 (573–669), 573,19–574,4.

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dem Fall kann die Nähe des Einschlags sehr wohl die Wirkung auf ihn gehabt haben, dass er nicht Herr seiner selbst war. Indessen geht aus den [81] angeführten Schilderungen von 1521 hervor, dass sein aufgewühlter Zustand außer von der Angst vor einem plötzlichen Tod im Grunde von einer Vision verursacht wurde. Das steckt in dem barschen Einwand des Vaters, der uns durch eine Äußerung Luthers bei Tisch Ende März 1537 in seinem ursprünglichen Wortlaut überliefert ist: „Wens nur nicht ein gespenst mit dir were!“134 Worin die Vision bestand, wissen wir nicht. Doch für Martin war sie, wie wir soeben hörten, eine Berufung vom Himmel. Gott hatte durch den Blitz zu ihm gesprochen, vielleicht durch einen seiner Heiligen. Wir lesen nichts von einer Stimme, aber Luther wird „ein zweiter Paulus“ genannt und nennt sich selbst so.135 Möglicherweise dachte er dabei, dass er selbst ein Damaskusgesicht gehabt habe. Was er bei dem Blitz hörte oder sah, wissen wir nicht. Aber er hatte jetzt keine Wahl. Er rief die heilige Anna an, die auch besonders bei Gewitter half, und gab ihr das schicksalhafte Gelübde: „Hilff du, S. Anna, ich wil ein monch werden!“136 Das Gelübde war nicht freiwillig, sondern erzwungen. Luther erzählt, dass er es bereute. Aber ohne Treulosigkeit und daraus folgende Gefahr für die Seele konnte nicht daran gerüttelt werden. Nach zwei Wochen des Auswählens und der Vorbereitungen gab er den Freunden seinen Beschluss bekannt und versammelte sie noch einmal: „Heute sehet ihr mich vnd nimermehr!“137 Am 17. Juli begleiteten sie ihn zum Augustinerkloster. Von seinen Autoren nahm er Plautus und Vergil mit; er verabschiedete sich also nicht vollständig von der Welt des Humanismus. Fassen wir unseren Eindruck zusammen, so können wir Luthers Eintritt ins Kloster nicht auf eine besondere Attacke seiner düsteren Gedanken zurückführen. Gott und die Ewigkeit waren in aufrüttelnder Weise in sein Leben getreten. Was würde geschehen, wenn er plötzlich vor seinen Richter gestellt würde? Da ertappte er sich selbst bei einem übereilten Gelübde in der Richtung, in die ihn die Unruhe der Seele zog. Gott hatte ihn berufen, und er gehorchte. Als einen Akt des Gehorsams hat Luther selbst [82] seine Lebenswende bezeichnet. „Als ich an der Universität Erfurt meine ersten Studien der artes abgeschlossen hatte und auf dem Gebiet der Philosophie mit dem Magistergrad geschmückt war, hätte ich nach dem Vorbild anderer die Jugend unterrichten oder zu höhe134 [WA.TR 3, 410,41 f, zwischen 12. und 28.3.1537 (Nr. 3556 A). S­ öderblom bietet einen etwas abweichenden Wortlaut: „Wie wens ein gespenst wer“.] 135 [So z. B. Crotus Rubianus, ein Studiengenosse, in einem Brief an Luther vom 16.10.1519; zit. nach O. Scheel, a. a. O., Bd.  1 (wie S. 51, Anm. 53), 244. 250.] 136 [WA.TR 4, 440,9 f (Nr.  4707 vom 16.7.1539).] 137 [WA.TR 4, 440,14 f (gleiche Nummer).]

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ren Studien fortschreiten können. Aber ich verließ meine Eltern und Angehörigen, und gegen ihrer aller Willen warf ich mich in die Kutte und ins Kloster, weil ich überzeugt war, dass ich durch diese Lebensweise und diese strengen Übungen Gott einen großen Dienst erwiese.“138

Was sich in dieser Zeit in seiner Seele regte, äußerte er in einer Predigt über die Taufe 1534: „… ich bin selbs funffzehen jar ein Moench gewest … und vleissig alle jre ­buecher gelesen und alles gethan, was ich kunde, noch [dennoch] hab ich mich nie koennen ein mal meiner Tauffe troesten, Sondern jmer gedacht: O wenn wiltu ein mal from werden und gnug thun, das du einen gnedigen Gott kriegest? und bin durch solche gedancken zur Moencherey getrieben und mich zu martert und zu plagt mit fasten, frieren und strengem leben …“139

Einen gnädigen Gott brauchte er um der Anklagen seiner Sünden und um der Angst willen. Im Kloster wurde beides schlimmer, das Schuldgefühl und die finsteren Gedanken. Man begegnete ihnen dort mit den Beruhigungsmitteln der Kirche. Traurigkeit und Selbstquälerei gehörten zu den normalen Auswirkungen des beginnenden Mönchslebens. Der Mönch hatte mit der Versuchung zur tristitia zu rechnen. Je ernster er seine neue Lebenssituation nahm, desto machtloser war er in der Regel dieser Anfechtung gegenüber. Es ist deshalb sehr verständlich, dass Luthers spätere Erinnerung eine traurige Stimmung über den ganzen Aufenthalt im Kloster ausbreitete. Beim Wort nehmen müssen wir ihn trotzdem kaum, wenn er im Sommer 1530 in einem Trostbrief erzählt, dass er nach dem Eintritt ins Kloster ständig traurig und betrübt gewesen sei. Otto Scheel weist darauf hin, dass uns eine Äußerung bei Tisch von 1537 überliefert ist, die dasselbe [83] über seine Magisterzeit sagt. Schwere Attacken und Anfechtungen suchten ihn im Kloster heim. Doch der entscheidende Beweis dafür, dass Luthers Angst ihre hauptsächlichen und schlimmsten Orgien nicht während des Klosterlebens in Erfurt feierte, findet Scheel in der Äußerung in der Vorlesung über den 77. Psalm im Jahr 1513, dass er die Verzweiflung, die aus dem Psalter und den Bekenntnissen Augustins spricht, nicht selbst erfahren habe. Luther sagte, dass derjenige, der nicht selbst diese Verzweiflung und diese Grübelei erfahren habe, nicht mit Worten über diesen Psalm belehrt werden könne. Es war deshalb selbst für ihn schwer, dieweil er sich außerhalb der 138 M. Luther, Vorlesungen über das 1. Buch Mose 1535–1545, WA 44, 782,10–15. [Die drei artes liberales: Grammatik, Rhetorik, Dialektik stellten das Grundstudium an der mittelalterlichen Universität dar.] 139 M. Luther, Von der heiligen Taufe Predigten, das ander Teil, WA 37 (644–662), 661,20–25.

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Verzweiflung befand und dennoch von Verzweiflung sprach. Da er nicht aus Erfahrung von Verzweiflung sprechen konnte, entschied er sich dafür, sie nach der Erfahrung und dem Urteil Augustins zu erklären.140 Dieser wichtige Text handelt nicht von der Angst und der Melancholie, sondern von der Verzweiflung. Doch wir verstehen wohl, dass Luther nach dem im Jahr 1518 veröffentlichen Selbstzeugnis, mit dem ich dieses Kapitel eröffnet habe, sich selbst nicht die seelische Not des Psalmisten und Augustins absprechen konnte, die ihm in späteren Jahren, wenn die Angst auftrat, zu Trost und Erleichterung diente. Die Datierung von Luthers Angst ist bei den meisten seiner Interpreten von dem Missverständnis beeinflusst worden, das ich hoffentlich habe zerstreuen können. Man hat die Angst ohne weiteres mit dem Schuldgefühl verbunden, weshalb sie hätte verschwunden sein müssen, nachdem die evangelische Einsicht seiner Seele aufgegangen war. Dadurch war man genötigt, die hauptsächliche Periode der Angst ins Kloster zu verlegen. Das widerstreitet unumstößlichen Zeugnissen. „Die Geschichte der Anfechtungen Luthers geht seiner Entwicklung vom Katholizismus zum reformatorischen Evangelium nicht parallel.“141 Luther selbst hat in späteren Jahren weder die Erkenntnis der Sünde noch seine schlimmsten Anfechtungen ins Kloster verlegt. In einem Brief an Amsdorf vom November 1538 schreibt er: „… als [84] wir uns unter dem Papsttum befanden, haben wir die Sünde nicht nur nicht wahrgenommen, sondern wir waren sicher und bildeten uns ein, dass sie die Gerechtigkeit sei. Jetzt, da die Sicherheit durch die Erkenntnis der Sünde beseitigt ist, fürchten wir uns mehr als nötig.“142

Die eigentliche teuflische Anfechtung datiert Luther nach einer bemerkenswerten Äußerung bei Tisch am 14. Dezember 1531 später als sein Leben im Kloster. Er spricht dort von der schlimmsten Versuchung des Teufels, die so lautet: „Gott hasst die Sünder; du aber bist ein Sünder, also hasst Gott auch dich.“ Luther führt sodann die verschiedenen Sünden an, die Satan den Menschen in dieser tentatio vorwirft. Der Fehler, den die Seele begeht, besteht darin, dass Gott in Wirklichkeit nicht den Sünder hasst. Luther will des Weiteren zeigen, dass solche tentationes höchst nützlich für uns sind, dass sie kein Verderben darstellen, sondern eine Erziehung, und dass „jeder Christ bedenken soll, dass er Christus nicht kennen lernen kann ohne Anfechtungen.“ Dann fährt er fort: 140 Vgl. O. Scheel, a. a. O. Bd.  2 (wie S. 51, Anm. 53), 125.133.376 f und WA 3, 549, 30–37. 141 O. Scheel, a. a. O., Bd.  2, 377. 142 Brief an Nikolaus von Amsdorf vom 25.11.1538, Nr. 3277, WA.B 8 (327–329), 328,21–24. [Im Original lateinisch.]

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„Vor ungefähr zehn Jahren habe ich zum ersten Mal diese Anfechtung der Verzweiflung und des göttlichen Zornes erfahren. Hab darnach rue gehabt, dass ich auch eine Frau heimgeführt habe, so gut tag hett ich, aber später kam [die Anfechtung] zurück.“143

Luthers Eheschließung fand am 23. Juni 1525 statt. Er bezieht sich also mit den später wiederkehrenden Anfechtungen wohl auf seine schlimmste Schwermut im Jahr 1527. „Vor ungefähr zehn Jahren“ würde uns in die Wartburgzeit führen.144 In Aurifabers Sammlung ist indessen eine Änderung von Luthers Zeitangabe [85] vorgenommen worden. „Vor zwanzig Jahren hab ich erst [= zuerst] diese Verzweifelung und Anfechtung göttliches Zorns gefühlet.“145 Wir werden hier zehn Jahre weiter zurückgeführt. Es ist nicht möglich zu entscheiden, was von beiden Luther gesagt hat, vor zehn Jahren oder vor zwanzig Jahren. Doch die Stelle ist nichtsdestoweniger bedeutsam, denn sie gibt deutlich einen terminus a quo für Luthers spezielle tentationes an. „Damals zuerst“ erfuhr er die Anfechtung. Luther selbst hat also die Klosterzeit nicht zu seinen hauptsächlichen Anfechtungen gezählt. Daraus sollte sich jedoch auch ergeben, dass der „Trost“ Staupitzens in die Zeit nach dem Klosteraufenthalt fällt. Denn unmittelbar auf das eben angeführte Zitat folgt: „Da ichs nu Doctor Staupitzen klagte, sagte er: ‚Er hätte solche Anfechtung niemals gefühlt noch erfahren; aber so viel ich verstehe und merke‘, sprach er, ‚so sind sie euch nöthiger denn Essen und Trinken‘“ [Z. 12–14]. Diese tröstlichen Worte Staupitzens hat Luther oft angeführt und angewandt. Sie werden in die Klosterzeit verlegt. Der Schreiber könnte sich sehr wohl einer Verwechslung schuldig gemacht haben. Es scheint indessen festzustehen, dass Luther die seelische Not im Kloster nicht zu Satans schwersten Heimsuchungen gezählt hat. Es finden sich

143 WA.TR 1, 61–64 (Nr. 141); die Zitate 61,20 f. 28–32. [Im Original lateinisch, bis auf die Worte „hab darnach rue gehabt“ und „so gut tag hett ich“.] 144 So werden die Worte auch von Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 280 gedeutet, nach Schlaginhaufens entsprechender Aufzeichnung vom 14. Dezember 1531 (nicht, wie Grisar schreibt, 1532): WA.TR 2, 13,22–24 (Nr. 1263). Dieselbe Äußerung, die Schlaginhaufen aufgezeichnet hat, ist von Grisar, a. a. O. 3, 276, also einige Seiten zuvor, richtig auf den 14. Dezember 1531 datiert, wird aber dort anders gedeutet, so dass die Ruhe, die Luther genoss, „die ersten zwanzig Jahre“ angedauert haben soll, was keinen Sinn ergibt. Offenbar hat Veit Dietrich (WA.TR 1, Nr. 141) hier den ursprünglichen Text, den Schlaginhaufen wohl abgeschrieben hat (vgl. WA.TR 2, 13, Anm. 6), außerstande wie er war, selbst irgendetwas ganz exakt aufzunehmen und aufzuzeichnen auf Grund des Anfalls von Verzweiflung, der ihn am selben Tag überfiel. 145 [WA.TR 1, 65,9 f.]

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bei Luther Berichte aus der Klosterzeit in Erfurt, die nicht auf Angst hinweisen. Er erfuhr an sich selbst wie später an anderen, schreibt er im Jahre 1521, dass der Mönch im ersten Jahr einigermaßen Frieden hat. „Nichts scheint angenehmer zu sein als die Keuschheit.“146 Trotz harter Kämpfe blieb er stets dabei, nach den Worten von 1531 im Kommentar zum Galaterbrief: „Solange ich papistischer Mönch war, … war ich äußerlich nicht wie andere Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, sondern hielt die Keuschheit ein, den Gehorsam und die Armut …“ Er verspürte hingegen „Anwandlungen von Hass, Neid, Streitlust und Hochmut.“147 Wenn Luther die Klosterzeit nicht zu den hauptsächlichen Angstjahren gezählt hat, so trugen doch drei Umstände [86] zu dem düsteren Bild bei, das wir durch seine späteren Aussagen bekommen. Am wichtigsten ist seine reformatorische Klarheit über das Heil. In deren Licht nahm das mönchische Leben eine abschreckende Gestalt an, die es für Luther nicht besaß, als er mit Leib und Seele darin versunken war. Doch bereits damals litt er mehr als andere weniger gefühlvolle und charakterfeste Mönche unter den gewöhnlichen Plagen und der Lustlosigkeit des Klosterblebens. Hinzu kam bei Luther ein tiefes und zartes Gefühl für alles, was zur Welt der Religion gehörte. Die außerordentliche Ehrfurcht vor Gott und dem Heiligen, die Luthers ganzes Leben auszeichnet, samt einer unerschrockenen Aufrichtigkeit hielt den Mönch in unerträglichen Skrupeln und Schrecken fest. Gegen die Anfechtungen des Mönchslebens und die finsteren Mächte suchte Luther Hilfe in einer maßlosen Selbstkasteiung. Er lag ohne Decke in der ungeheizten Zelle, wachte Nächte hindurch in heißen Gebeten, fastete manchmal mehrere Tage nacheinander. „Da war ich der elendest mensch auff erden, tag und nacht war da eitel heulen und verzweiveln, das mir niemand steuren kundte.“148 Die Folgen waren verminderte Widerstandskraft und Krankheiten, die ihn das ganze Leben lang plagten. Zugleich wuchs die Angst. Furchtbare und schreckliche Gedanken drängten sich ihm auf. Er empfand Furcht vor Gottes Gericht, so dass ihm „die har gen berge stunden“.149 146 M. Luther, De votis monasticis (1521), WA 8, 660,32 f. 147 [WA 40/I, 137,18–21; „papistisch“ im ersten Zitat ist Zusatz ­Söderbloms. Die zweite in Anführungsstriche gesetzte Passage steht hier nicht und ließ sich auch sonst nicht ausfindig machen. Luther spricht a. a. O., Z. 22–24 nicht von moralischer, sondern von religiöser Verfehlung: „Interim tamen sub ista sanctitate et fiducia mei alebam perpetuam diffidentiam, dubitationem, pavorem, odium et blasphemiam Dei.“] 148 [M. Luther, Die kleine Antwort auff H. Georgen nehestes buch, WA 38 (141– 170), 148,6–8.] 149 [Predigten 1532, Predigt über 1Kor 15, WA 36 (478–696), 554,22 f.]

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„Als ich [zum ersten Mal] die Messe las und mit dem Kanon begann, ergriff mich ein solcher Schrecken, dass ich geflohen wäre, wenn mich nicht der Prior ermahnt hätte; denn do ich die wort laß: ‚Dich, mildester Vater‘ usw., fühlte ich, dass ich mit Gott reden müsse ohne Mittler.“150

Auch Christus gab ihm keinen Trost. Denn in ihm sah er „einen [87] strengen, schrecklichen Richter“, der auf dem Regenbogen thronte.151 Scheel macht auf einen Christus auf dem Regenbogen zeigenden Holzschnitt aufmerksam, der eine damals in Magdeburg veröffentlichte Schrift über „Klage und Betrübnis der verdammten Seele“ schmückt.152 Luther erzählt später, „… das wir Christum als den Teuffel selbst flohen dan man lerete, das ein iglicher fur dem gerichtstuel Christi wurde gestellet werden mit seinen wercken und orden [Ordnung, Lebensweise].“153 „Ich bin offt fur dem namen Jhesu erschrocken, und wen ich ihnen [ihn] anblickte am Creutz, so dunckt mich, ehr wahr mir als ein blitz.“154 Das letzte Selbstzeugnis, das den Höhepunkt von Luthers aufgepeitschter Furcht vor dem Heiligen bezeichnet, ist von besonderem Interesse, da es die Gedanken auf die äußere Katastrophe lenkt, die ihm das Gelübde fast abzwang, ins Kloster zu gehen. „… das Hertz zitterte und zappeltte, wie gott mir gnedig wurde [werden könne].“155 In einer solchen Stimmung wurde er im Chor der Klosterkirche von der Attacke getroffen, die den Anlass für die falsche Vermutung einer Epilepsie bildete. Das Evangelium aus Markus 9, 17[–24] von dem Taubstummen wurde verlesen. Als man zu dem Wort des Vaters kam: „wo er [der böse Geist] ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr“, fiel Bruder Martin plötzlich um und rief: „Ich bin’s nicht, ich bin’s nicht“. Wir haben keinen Grund, die genüssliche Notiz des

150 [WA.TR 3, 410,42–45 (Nr. 3556 A) Im Original lateinisch, bis auf die Worte „denn do ich die wort laß“.] Scheel, a. a. O. Bd.  2 (wie S. 51, Anm. 53) bezweifelt diesen Schrecken, da Luther doch das Gebet begonnen habe „Dich, gütiger Vater, bitten wir durch deinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus“ usw. Doch undenkbar ist es nicht, dass Luther trotz dieser Berufung auf den Mittler in diesem Augenblick tatsächlich das Gefühl gehabt hat, ohne Mittler dazustehen. 151 [Vgl. WA.TR 6, 87,35 f (Nr.  6628). Die Adjektive sind von S­ öderblom hinzu­ gefügt.] 152 [Vgl. O. Scheel, a. a. O. Bd.  1 (wie S. 51, Anm. 53), 97.] 153 [Reihenpredigten über Joh 3–4, Predigten 1538, WA 47 (1–231), 109,41–110,2.­ Söderblom übersetzt „orden“ mit dem schwedischen Wort „ord“, das „Worte“ bedeutet – ein verständlicher Irrtum.] 154 [M. Luther, Predigten über Mt 18–24, Predigt vom 7.12.1539, WA 47 ­(232–627), 590,1–3.] 155 [WA 47, 590,7.]

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­ ochlaeus zu bezweifeln, dass man ihn im Kloster schon damals für beC sessen hielt.156 Er beschuldigte sich möglicher und unmöglicher Sünden. Alles konzentrierte sich darauf, Gottes Zorn besänftigen zu können und einen gnädigen Gott zu bekommen. Schon jetzt finden wir in Luthers Befinden die jammervolle Wechselwirkung von Angst und Schuld. Die Angst, Zeichen für Gottes Zorn, rief das Sündengefühl hervor und stachelte es an. Die Empfindsamkeit und die Anklagen des Gewissens steigerten das Angstgefühl und versahen es mit bestimmten Gegenständen. [88] Luther selbst scheint jedoch trotz dieser Erfahrungen aus dem Kloster in Erfurt seine hauptsächlichen und schlimmsten Anfechtungen auf eine spätere Zeit datiert zu haben. Wir wollen jetzt Luther nach seinen eigenen Aussagen in den Briefen auf seinem Marterweg folgen und auch sehen, welche Mittel er gegen die Anfechtung anwandte und empfahl. Erst danach können wir die Wirkung der Melancholie auf sein Lebenswerk und seine Religion untersuchen. Während des Jahres der Thesen dürfte die Schilderung entstanden sein, welche dieses Kapitel einleitet und die, 1518 veröffentlicht, für alle Zeiten als unübertroffene Beschreibung des Schmerzes der Mystik oder der Qual der Schwermut dasteht. Sie ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Sie ergreift durch ihre blutvolle Frische. Man fragt sich, wie jemand auch nur einen Augenblick lang zweifeln konnte, dass es Luther selbst ist, den er da schildert. Zugleich verrät dieselbe Schilderung Vertrautheit mit den Erfahrungen und der Ausdrucksweise der Mystik, auch wenn nicht gerade zuvor Johannes Tauler angeführt worden wäre als einer unter den vielen, welche die in der Schrift erwähnte Krankheit erlitten hatten und gewisser­maßen reicher an solider und wahrhaftiger Theologie waren als alle Scholastiker an den Universitäten, obgleich er in der Muttersprache geschrieben hatte. Wir werden später sehen, welche Bedeutung die Kreuzestheologie der Mystik, theologia crucis, für Luthers Urteil über seine innere Verlassenheit und Angst besaß. Wenn er das Gefühl der Seele beschreibt, wie der Erlöser am Kreuz ausgestreckt zu sein, erkennen wir darin ein Lieblingsbild der Bruderschaft des Leidens aus der mittelalterlichen Mystik wieder. Bloß die Wundmale fehlen. Sonst wäre die Ähnlichkeit noch vollständiger. Der reifen Gedankenwelt und Sprache des Reformators wurde eine solche Vorstellung später fremd. Das Kreuz Christi bekam für ihn ein viel zu großes Gewicht als das große tröstende Faktum in der Welt, [89] als dass es als Muster für seine eigene Qual hätte dienen können. Wenn er in 156 [Nach O. Scheel, a. a. O. Bd.  2, 116, der Johannes Cochlaeus’ Commentarius de actis et scriptis Martini Lutheri, Mainz 1549, 2 anführt.]

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späterer Zeit seine eigenen Anfechtungen und die anderer mit denen des Heilands verglich, so geschah das im Blick auf seine Versuchungen und seine Angst „am berge, so dass ein Engel ihn trösten musste“.157 Ein Unterschied zur Mystik findet sich bei Luther freilich schon im Jahr der Thesen. Dem, der hier die Qual seiner Seele beschreibt, kommt es sicherlich nicht mehr in den Sinn, sich durch geistliche Exerzitien willentlich solche Wahrnehmungen zu verschaffen. Doch im Übrigen zeigt das angeführte Selbstzeugnis, wie tief Luther in die mystische Frömmigkeit der mittelalterlichen und der alten Kirche eingedrungen ist. Die Worte lassen uns in dunkle Tiefen hinabblicken, die sich in den folgenden Leidensjahren noch geheimnisvoller und furchterregender auftun. Wie der Heiland selbst am Kreuz unfreiwillig zu dem Angstruf des Psalmisten griff, um die Qual des Leibes und der Seele hinauszuschreien, so benutzt Luther, und mit ihm andere Genossen der Bruderschaft der Seelennot zu verschiedenen Zeiten, die Ausdrücke, die sich vor ihm den Märtyrern des inneren Lebens durch das Leiden entrungen haben. Für die große Masse der aufrichtig Frommen blieben dergleichen Töne eine fremde Musik, die sie lediglich durch romantische Nachbildung zu ihrer eigenen zu machen suchten. Aber hier war eine Seele, die sich nicht nach einer älteren Methode oder auf die vollendete Weise zu üben brauchte, die ein Loyola später praktizierte und vorschrieb, sondern das düstere Geheimnis der Seele war ihm in seinem ganzen furchtbaren Ernst vertraut. Luther hat die Ausdrücke des Schmerzes der Mystik viel eher selbst durch das Maß seiner eigenen Seele ausgeweitet und gesteigert, als dass er es nötig gehabt hätte, Einbildung und Übung zu Hilfe zu nehmen, um sich in den klassischen Formulierungen wiederzufinden und sie zu füllen. Bedarf es noch eines Beweises dafür, dass Luther der echte Vollender der mystischen Frömmigkeitstradition der Kirche in ihrer am tiefsten grabenden Gestalt ist, so gehört das Selbstzeugnis am Anfang dieses Kapitels an diese Stelle. Die Thesen erregten, gewiss ohne dass Luther dies im Geringsten geahnt und beabsichtigt hätte, [90] einen Lärm in der Welt, der in unzähligen Herzen seinen Widerhall fand. So wurde das Jahr 1517 eines der herausragenden Jahre des menschlichen Geistes. Doch aus demselben Jahr der Thesen stammt die Seelenbeichte, die Martin Luther in eine Reihe mit den wenigen Auserwählten stellt, die ihre Autorität in der Welt des Geistes tief unten in der Hölle der Seelenqual erwerben mussten. Nach der Anspannung in Worms, die Luther mit kühner Selbstsicherheit bestanden hatte, trat auf der Wartburg zeitweilig eine Reaktion ein. Man 157 WA.TR 2, 4,1 (Nr. 1234) [die ersten beiden Worte Deutsch im Original]; vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 307.

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hat auf die Veränderung in Kost und Lebensweise hingewiesen. ­Luther scherzt an einem der ersten Tage, am 14. Mai 1521, in einem Brief an Spalatin: „Hier sitze ich tatenlos und den ganzen Tag im Rausch.“ Grisar bemerkt, dass, wenn das Wohlleben nach der Faulheit beurteilt werden soll, es damit nicht weit her war. Denn es geht im Brief gleich weiter: „Ich lese die Bibel auf Griechisch und Hebräisch. Ich werde eine Predigt in der Muttersprache über die Freiwilligkeit der Ohrenbeichte schreiben. Außerdem werde ich am Psalter und an der Postille weiterarbeiten, sobald ich aus Wittenberg bekommen habe, was ich brauche; darunter erwarte ich auch das begonnene Magnicifat.“158

Blicken wir auf das, was Luther in den Monaten auf der Wartburg von Mai 1521 bis Februar 1522 geschafft hat, so stimmt das besser überein mit einem späteren Brief an Spalatin vom 10. Juni 1521, wo er sich „sehr müßig und sehr beschäftigt“ nennt.159 Die äußere Ruhe verschaffte der schöpferischen Kraft – die hier mit dem am meisten geschätzten von­ Luthers Werken begann: der Bibelübersetzung – einen solchen Freiraum, dass es einem schwer fällt, sie mit der körperlichen Krankheit und der Anfechtung der Seele zusammenzubringen, die ihm dort widerfuhren. Die Dämonen fielen ihn in großer Zahl an. Der Teufel selbst raschelte und lärmte in seiner Nähe. Er hörte ihn Tag und Nacht. Mehr noch, er erschien ihm im Zimmer in Gestalt eines großen schwarzen Hundes.160 Es bedurfte des Gebets und der Wachsamkeit, um den Bösen loszuwerden. Luther hat also auch auf der Wartburg die Erfahrung der angustiae et­ terrores gemacht, die er bei den [91] Schwarmgeistern vermisste, als deren Raserei in Wittenberg ihn von dem Zufluchtsort wegrief, um das Evangelium der Freiheit vor der Bedrohung an der entgegengesetzten Front zu retten. Schon auf der Wartburg ergriff Luther in der Frage der Messe, die Wittenberg erregte, das Wort. Im Vorwort, das er an seine Augustinerbrüder richtet, bekennt er: „Wie oft hat mein Herz zitternd geklopft und mir das stärkste und einzige Argument von jenen [den Widersachern] vorgehalten: Bist du allein weise? Irren sich alle anderen? Verharrten so viele Jahrhunderte in Unwissenheit?

158 Brief an Spalatin vom 14.5.1521, Nr. 410a, WA.B 2, 337,32–36. [Dieser und die ganze Reihe der folgenden Briefe im Original lateinisch.] Vgl. H. Grisar, a. a. O. Bd. 1 (wie S. 31, Anm. 5), 400. 159 Brief an Spalatin vom 10.6.1521, Nr. 417, WA.B 2, 354,22 f. 160 Briefe an Spalatin am 1.11.1521, Nr. 436, WA.B 2, 399,9 f; an Nikolaus Gerbel am 1.11.1521, Nr. 435, WA.B 2, (396 f)  397,1–3. An der zweiten Stelle ist von einer Verkörperung des Bösen, aber nicht von einem Hund die Rede.

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Wie, wenn du dich irrst und so viele mit dir in den Irrtum hineinreißt zu ewiger Verdammnis?“161

Haben solche Gedanken ihn auf der Wartburg angetastet, so fügt er sogleich hinzu, Christus habe ihn mit seinen sicheren und glaubwürdigen Worten gewiss gemacht. In gleicher Weise zeugen die Briefe vom Sieg über die Mächte, welche die Gewissheit bedrohten. Er stärkt die Freunde und mahnt zu unerschrockener Stärke und Ausdauer. Ein Ohnmachtsanfall, der von Luthers Arzt Ratzeberger mitgeteilt wird, scheint sich im Jahre 1523 oder 1524 ereignet zu haben. Luther hatte sich eingeschlossen, wollte nicht essen und trinken. Man fand ihn auf dem Bauch liegend auf dem Fußboden. Er wurde hinunter geleitet in ein anderes Zimmer, wo er wieder zu sich kam, als man begann zu musizieren. „… und vorgieng Ihm sein schwermutt und Traurikeit …“ „… er befandt, sobald er Musicam hörete, das sich seine tentationes [Anfechtungen] und schwermut enderten.“162 Ohne dass die Briefe des Jahres 1525 besondere Angstausbrüche über das Maß an Licht und Schatten hinaus benennen, das stets auf Luthers Inneres fällt, bringt dieses Jahr Luthers tiefste religiöse Schrift „Vom unfreien Willen“, die uns in einem anderen Zusammenhang näher beschäftigen soll. Dort spricht er davon, dass er – bei dem Gedanken an die doppelte Vorherbestimmung – mehr als einmal dadurch angefochten wurde bis zu abgrundtiefer [92] Verzweiflung, so dass er wünschte, dass er niemals als Mensch geboren wäre, bis er wusste, wie heilsam diese Verzweiflung war und wie nahe sie an die Gnade grenzte.163 Am längsten blieb Luther in der Hölle der Seele und am tiefsten geriet er in sie hinein im Laufe des Jahres 1527. Vom Juli an stellen die Briefe aus dieser Zeit eine Leidensgeschichte dar, die niemand ohne tiefes Mitgefühl lesen kann. Niemals hat der aller Welt Trotzende so anhaltend und ergreifend De Profundis geklagt. Niemals hat der Tröster eine so harte Schule für einfühlsame und erfahrene Fürsorge für die Märtyrer des Seelenlebens durchlaufen. Vielleicht hat der alle anderen in den Schatten stellende Trotz- und Trostchoral „Ein feste Burg ist unser Gott“ in dieser Periode Gestalt gewonnen. Die Echtheit, die Unmittelbarkeit und die Frische 161 M. Luther, De abroganda missa privata (1521), WA 8 (411–476), 412,1–4 (Orig. lat.). Dieser Stelle und einigen anderen wird in der Darstellung Grisars [a. a. O. (wie S.  31, Anm. 5), Bd. 1, 400–404] mehr aufgebürdet, als sie zu tragen vermögen. 162 [Die handschriftliche Geschichte [Matthäus] Ratzeberger’s über Luther und seine Zeit, hg. v. Chr. G. Neudecker, Jena 1850, 58.] 163 [M. Luther, De servo arbitrio, WA 18 (600–787), 719,9–12.]

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Luthers machen alles, was er geschrieben hat, nicht zuletzt die vertraulichen Herzensergießungen an die Freunde, zu wahrhaftigen Dokumenten der menschlichen Seele. Im Januar 1527 war er nahe daran, bei einem Herzanfall das Bewusstsein zu verlieren, doch schrieb er Spalatin am 13. Januar von seiner raschen Genesung durch ein Heilwasser.164 Im Juli wurde Luther von einem schwereren Anfall getroffen. Wir folgen den Berichten, die Bugenhagen und Justus Jonas sofort aufgezeichnet haben.165 Am Morgen des 6. Juli wurde Luther von plötzlicher, starker Angst überfallen. Um acht Uhr rief er seinen Beichtvater Bugenhagen, beichtete ihm seine Sünden, bat ihn um Absolution und Trost aus Gottes Wort und befahl in großem Ernst sich selbst und die Seinen Gott an. Er hoffte, am kommenden Sonntag zum Abendmahl zu gehen und selbst zu predigen, fügte aber hinzu: „Will mich der Herr jetzt rufen, so geschehe sein Wille.“ Ein bei dieser Gelegenheit an Bugenhagen gerichtetes Wort gibt uns Einblick in das Verhältnis zwischen den beiden scheinbar widersprüchlichen, ja unvereinbaren Äußerungen seiner Seele, die wir hier untersuchen. „Viele [93] denken, weil ich mich unterweilen in meinem äußeren Wandel fröhlich stelle, ich gehe auf eitel Rosen, aber Gott weiß, wie es um mich stehet, meines Lebens halber …“ Hier folgt jetzt die Beichte des leidenschaftlich aufrichtigen und impulsiven Mannes über die anstößige Freiheit von äußeren Formen, die nicht selten in einen Mangel an erforderlicher Selbstzucht ausartete: „… ich habe mir oft vorgenommen, ich wollte der Welt zu Dienst mich etwas ernstlicher und heiliger – weiß nicht wie ich’s nennen soll – stellen, aber Gott hat mir solches zu tun nicht gegeben.“ Dann sprach er von dem Ärgernis der Welt an ihm, obwohl sie ihm nicht im Ernst etwas anlasten konnte. Vielleicht muss die Welt zum Narren werden und das Wort des Heils, das Gott ihr durch ihn, Gottes schwaches, geringes Gefäß, anbot, ihr selbst zur Verdammnis verwerfen. Er selbst rief Gott täglich um die Gnade an, dass er nicht durch seine Sünden irgendeinem Menschen wirkliche Ursache zum Anstoß geben möge. Bugenhagen nahm Luther danach mit zum Frühstück in einem kleinen Kreis, wo er wenig aß und trank, aber sich heiter zeigte. Um die Mittagszeit begab er sich zu Justus Jonas’ Garten und sprach ein paar Stunden mit ihm. Als sich Jonas dann gegen fünf Uhr zum Abendessen bei Luther einfand, hatte dieser zu Bett gelegen, wohin er sich [jetzt] wieder begab, über heftiges Ohren­sausen

164 Vgl. Brief an Spalatin vom 13.1.1527, Nr. 1073, WA.B 4, 160,17–21. 165 Vgl. zum Folgenden Julius Köstlin, Martin Luther, Elberfeld 1875 Bd. 2, 170 f [= Berlin 51903, 168–171].

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klagend. Auf der Schwelle fiel er in Ohnmacht. Jonas goss kaltes Wasser über ihm aus. Da begann Luther zu beten: „Mein Gott, wenn Du es also willst, wenn das die Stunde ist, die Du mir versehen hast, so geschehe dein Wille“, und fuhr mit dem Vaterunser fort und mit dem sechsten Psalm: „Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn“ zum Schluss. Unterdessen waren seine Frau und der Arzt angekommen. Als er zu Bett gebracht worden war, fuhr er mit Beten fort, meist auf Deutsch, aber auch auf Latein, und bat um die Fürbitte der anderen. Wie auch sonst oft, sprach er sehnsüchtig vom Märtyrertum. Er war nicht würdig gewesen, mit so vielen Brüdern um Christi willen sein Blut zu vergießen, tröstete sich aber damit, dass diese Ehre nicht [94] einmal dem heiligen Johannes zuteil geworden sei, der doch „ein viel ärger Buch“ gegen den Antichrist geschrieben habe als er selbst. Um Lügen nach seinem Tod vorzubeugen, rief er die Anwesenden als Zeugen an, dass er mit gutem Gewissen kundgetan habe, er habe aus dem Wort Gottes und im Auftrag Gottes, der ihn ohne seinen Willen in diese Sache hineingezogen habe, recht und heilsam über Gnade, Liebe, Kreuz, Sakramente und andere Artikel gelehrt. Mit seiner heftigen und harten Art zu streiten habe er doch niemals beabsichtigt, einem Menschen Schaden zuzufügen, vielmehr selbst den Feinden Seligkeit zu bringen. Als er geendet hatte, brach er in Weinen aus, so dass die Tränen ihm die Wangen herunter liefen. Nach weiteren Trostworten an seine Käthe fragte er nach dem kleinen Hans. Das Kind wurde herein getragen und lächelte ihn an. „O du armes Kindlein! Nun befehle ich meine allerliebste Käthe und dich allerliebstes Waislein meinem lieben, frommen, treuen Gott; Ihr habt nichts, aber Gott, der ein Vater der Waisen und Richter der Witwen ist, wird Euch wohl nähren und versorgen …“

Er gab an, dass sein Silberbecher seine einzige Hinterlassenschaft sei. „Du weißt, dass wir sonst nichts haben.“ Durch angemessene Behandlung legte sich das körperliche Leiden, so dass er schon zum Abendessen am folgenden Tage aufstehen konnte. Aber statt der Erlösung durch Tod oder Gesundheit erwartete ihn die Qual des Fegefeuers, die bis zum Ende des Jahres andauerte. Melanchthon gegenüber klagt Luther am 2. August: „Ich war … mehr als die ganze Woche lang in Tod und Hölle geworfen, so dass ich am ganzen Leib verwundet bin und immer noch an allen Gliedern zittere. Ich hatte Christus fast gänzlich verloren, und ich wurde von Strudeln und Stürmen der Verzweiflung und der Gotteslästerung hin und hergeschleudert. Aber Gott ließ sich durch die Gebete der Heiligen bewegen, begann sich meiner zu erbarmen und entriss meine Seele dem Abgrund der Hölle. Du sollst auch nicht aufhören für mich zu beten, wie auch ich für dich.“

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„Christus aber, der Sieger über den Tod, [95] der Sieger über die Hölle, der Sieger über die Sünde, die Welt, das Fleisch, sei durch seinen Geist kraftvoll in uns und in euch. Amen.“166 An einen anderen Freund schreibt er am 12. August, dass er nicht bloß körperlich, sondern am allermeisten im Geiste krank gewesen sei. „… so ermüdet mich der Satan samt seinen Engeln mit Zulassung Gottes, unseres Erlösers.“167 In der folgenden Woche bekam Johann Agricola in einem Brief die folgenden Ausführungen zu lesen: „Der Satan selbst wütet mit aller Macht gegen mich, und der Herr hat mich ihm wie einen zweiten Hiob zur Zielscheibe gemacht, und er versucht mich durch eine außerordentliche Schwachheit im Geist. Doch durch die Gebete der Heiligen bin ich seinen Händen nicht ausgeliefert, wenngleich die Wunden im Herzen, die ich empfangen habe, nur schwer heilen. Es ist meine Hoffnung, dass dieser mein Kampf vielen zugute kommt, obgleich es kein Übel gibt, das meine Sünden nicht verdient hätten. Das Leben aber besteht darin, dass ich weiß und mich dessen rühme, dass ich das Wort Christi rein und aufrichtig vielen zum Heil gelehrt habe. Das ist es, was den Satan brennt, und er würde mich [am liebsten] zusammen mit dem Wort stürzen und verderben. So kommt es, dass ich jedenfalls von den Tyrannen der Welt nichts zu leiden habe, während andere getötet und verbrannt werden und um Christi willen zugrunde gehen. Doch umso mehr erleide ich im Geiste von eben diesem Fürsten der Welt. In allem sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus gepriesen, der seinen heiligen und, o Gott, auf so verborgene Weise guten und wohlgefälligen Willen an mir vollenden möge. Amen.“168

Der Tod der Vielen enthält einen Hinweis auf die Pest, die zu dieser Zeit wütete und ihre Opfer forderte. Seinen sehr vertrauten Freund Nikolaus Hausmann bat Luther um Christi willen, ihm mit seinen Gebeten gegen Satan und seine Engel beizustehen, die jetzt über die Maßen feindselig gegen ihn waren, „dass Christus nicht mich im Stich lasse, den er bis hierher erwählt hat, sein Evangelium zu befördern.“169 Wieder und wieder werden die Freunde ermahnt, für ihn zu beten, der dies dringend benötige. [96] Die Pest verursachte in Wittenberg keinen so großen Verlust an Menschenleben – im Krankenhaus waren bis Anfang Oktober fünfzehn gestorben – wohl aber Angst vor Ansteckung, weshalb Luther anlässlich

166 Brief an Melanchthon vom 2.8.1527, Nr. 1226, WA.B 4 (226 f), 226,8–227,14; 227,21–23. 167 Brief an Justus Menius vom 12.8.1527, Nr. 1128, WA.B 4 (228 f), 228, 6 f. 168 Brief an Johann Agricola vom 21.8.1527, Nr. 1132, WA.B 4, 235,9–21. „Zielscheibe“: vgl. Hi 16, 12; in der Vulgata [die Luther hier benutzt] steht signum, Zeichen. 169 Brief an Nikolaus Hausmann vom 26.8.1527, Nr. 1135, WA.B 4, 238,7–9.

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einer Epidemie ein paar Jahre später, am 27. August 1529, die auch für unsere aufgeklärte Zeit besonders treffenden Worte schrieb: „… dass du mit mir zusammen das Volk ermahnst, dass sie nicht furchtsam sein und nicht mit ihren Gedanken die Krankheit herbeilocken sollen, die noch gar nicht angekommen ist.“170 Jetzt, im September 1527, schrieb er, dass die Pest selbst weit in den Schatten gestellt werde von den Gerüchten über sie, und er klagte über die Flucht und die unerhörte Angst. Die Menschen flohen Hals über Kopf und schufen damit Verwirrung und Elend. Einen Monat später hatte die Pest bereits nachgelassen. Im November schrieb Luther, dass es in Wittenberg keine Pest mehr gäbe, wenn nicht Gerüchte von ihr zu berichten wüssten. Im Dezember begannen die Flüchtlinge zurückzukehren.171 Luther war von Natur nicht ängstlich und gehörte zu denen, die sich durch die Todesgefahr zu tapferer Ruhe mahnen ließen. Aber gegenüber dieser Epidemie wurde er von einem anderen Gefühl beherrscht. Wie die Krankheit und die Angst vor Ansteckung auch um sich griffen, so litt er doch selbst schlimmere Qual. Die Briefe spiegeln die Wellenbewegungen der seelischen Krankheit wider. Gleichzeitig zeugen sie von seinem hartnäckigen Arbeitseifer, der trotz abgründigen Missmuts nicht leicht nachließ. „Fast drei Monate bin ich“, schreibt er am 8. Oktober, „kraftlos gewesen, nicht so sehr körperlich wie seelisch, so dass ich nichts oder nur wenig geschrieben habe; so hat mich Satan durchgeschüttelt.“172 Sein Zustand konnte von der Art sein, dass er ihn lähmte. Im Übrigen stellt gerade die Schwermut eine Erklärung für seine rasende Arbeitswut dar. Er musste die Gedanken mit Tätigkeit ausfüllen. Es ging aufwärts. Doch schrieb er am 19. Oktober: „Noch hat der Herr meine frühere Gesundheit nicht völlig wiederhergestellt, denn bisher erlaubt er nach dem Ratschluss seines guten Willens [97] dem ­Engel des Satans, mich zu schlagen und zu versuchen, doch fehlt mir unterdessen nicht Hilfe und Schutz des Herrn.“173

Das Böse schlug wieder zu. „Bete für mich elenden und verächtlichen Wurm“, heißt es in einem Brief an Melanchthon, „vom Geist der Trau170 Brief an Nikolaus Hausmann vom 27.8.1529, Nr. 1468, WABr 5 (238 f), 238,10–239,11. 171 Vgl. Briefe an Spalatin vom 13.9.1527, Nr. 1143, WA.B 4, 47,17; an Justus Jonas vom 19.10.1527, Nr. 1160, WA.B 4 (269 f), 269,32–35; an Wenzeslaus Link vom 22.11.1527, Nr. 1172, WA.B 4, 284,13; an J. Jonas vom 29.12.1527, Nr. 1188, WA.B 4, 307,3. 172 Brief an Michael Stifel vom 8.10.1527, Nr. 1156, WA.B 4, 263,9 f. Vgl. Lk 22, 31. 173 Brief an Justus Jonas vom 19.10.1527, Nr. 1160, WA.B 4 (268 f), 269,11–14. [­Söderblom datiert den Brief versehentlich auf den 17.10.]

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rigkeit heftig gequält, um das Wohlwollen des Vaters der Barmherzigkeit, dem Ehre sei auch in meinem Elend … Grüße alle Brüder und befiehl uns ihrer Fürbitte an! Christus, der uns gelehrt hat, sein Evangelium gegen den wütenden Satan zu predigen, der helfe uns durch seinen gewissen und gütigen Geist, dies zu glauben und standhaft zu bekennen mitten in diesem bösen und verderbten Geschlecht.“ Hier wird das Heilmittel genannt: festes Gottvertrauen und Gewissheit trotz allem. „… als Christi Kranker [bin ich] kaum noch am Leben, erst recht tue oder schreibe ich nichts. Lässt nicht Gott alle seine Fluten über mich hereinbrechen?“174 ­Luther vergleicht sich mit Hiob und Petrus. Am 7. November klagt er wiederum Hausmann: „Seit vielen Monaten werde ich vom Stürmen und der Mutlosigkeit des Geistes geängstigt; Christus will es so. Bete du, dass mir der Glaube nicht versiegt.“175 Er warnt andere vor Zwietracht; er hat ohnedies Kummer genug. An Justus Jonas in Nordhausen schrieb Luther im November eine für uns erhellende Zusammenstellung der Ursachen für seine Qual: „Ich trage den Zorn Gottes, weil ich wider ihn gesündigt habe. Papst und Kaiser, Fürsten, Bischöfe und die ganze Welt hassen mich und dringen auf mich ein. Aber dies ist nicht genug, sondern auch die Brüder plagen mich“ – er denkt vornehmlich an Erasmus und die Zwinglianer – „mehr noch, meine Sünden, der Tod, Satan samt seinen Engeln wüten ohne Ende.“ Auf der einen Seite besteht ein Grund für das Leiden in seinen eigenen Sünden. Doch auf der anderen Seite sind die Mächte des Bösen zugleich nicht als Strafe für Sünde am Werk, sondern um seines Wirkens willen. Beide Ursachen: Gottes Züchtigung und der Widerstand des Teufels, treten in der Fortsetzung noch deutlicher ans Licht. „Das mag [98] genug sein, damit ich nicht jammere und ungeduldig bin gegenüber der Rute Gottes, der schlägt und heilt, tötet und wieder lebendig macht, er sei in seinem heiligen, wohlgefälligen und vollkommenen Willen gepriesen. Es kann nicht anders sein, als dass der, den die Welt und ihr Fürst so hassen, Christus wohlgefällt.“176

In seiner Seele nimmt Luther nach einem Brief an Hausmann eine Schlacht wahr, die Teil des großen Weltenkampfes ist.

174 Brief an Melanchthon vom 27.10.1527, Nr. 1162, WA.B 4 (271 f), 272,27–29. 33–37.40 f. 175 Brief an Nikolaus Hausmann vom 7.11.1527, Nr. 1166, WA.B 4, 277,11 f. 176 Brief an Justus Jonas, ca. 10.11.1527, Nr. 1168, WA.B 4 (279 f), 279,7–10; 280,1– 4. ­Söderblom schreibt am Ende: „världen och dess furstar“, die Welt und ihre Fürsten. Doch im lat. Original steht „mundus et princeps eius“, Singular. Es ist also der Teufel gemeint und nicht die weltlichen Fürsten.

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„Ich Sünder danke meinem Gott, der bislang dem Satan nicht erlaubt hat, seinen Willen an mir zu vollstrecken, obwohl er das mit außerordentlich großer Kraft und List versucht hat. Bete du, dass Christus am Ende gegen seinen Angriff in mir triumphiert. Ich habe jedenfalls den Verdacht, dass nicht irgendein schlichter Geist, sondern der Fürst der Dämonen selbst sich gegen mich erhoben hat. So groß ist seine Macht und Klugheit, die aufs Beste mit der Schrift ausgerüstet ist, dass, wenn ich nicht dem Wort eines anderen anhängen würde, meine Kenntnis der Schrift nicht ausreichend wäre. Das sage ich, damit du umso mehr für mich betest und, sollte dir einmal etwas Derartiges begegnen, die Tiefen des Satans … erkennen kannst.“177

Das Infernalische der Prüfung spricht Luther hier und auch sonst vielfach an: Die Sprüche der Schrift erheben sich gegen ihn. Da wird die Hoffnungslosigkeit so ohnmächtig, dass die göttliche Objektivität der Schrift ihm aus dem Munde eines anderen begegnen muss; von sich aus bringt er es nicht fertig, an den Tröstungen festzuhalten. Wenn man solche Stellen gelesen hat, versteht man, was der tröstende Zuspruch von Brüdern als Gnadenmittel, das heißt, als eine Form des Evangeliums, für Luther bedeutete. Dieselben Gedanken kehren wieder. Die Gebete und der Glaube von Brüdern werden als Hilfe gebraucht.178 Satan würde sich wünschen, dass Luther fernerhin nichts mehr schriebe, sondern mit ihm zur Hölle führe. Luther glaubt tatsächlich, dass Satan wider ihn rast, weil er viel gegen ihn getan, geredet und geschrieben hat. „Aber es ist ein Trost, wenn ich tapfer glaube, eben dies gefalle dem Herrn [99] und seinem Christus. So werde ich zwischen diesen beiden gegen einander kämpfenden Fürsten hin und hergeschleudert, und ich werde jämmerlich zerquetscht.“179

Nun folgt der andere Gesichtspunkt zur Erklärung des Leidens. Die Sündenschuld wird deutlich von der spontanen Raserei der Bosheit unterschieden. „Doch bisher hoffe ich, dass ich meinem Christus gefalle, auch wenn ich vieles getan habe und tue, was des Satans ist, denn er ist doch barmherzig und verzeiht. Was ich aber gegen den Satan sündige, ist um Christi willen getan, und ich bereue es nicht und ich fordere auch nicht Vergebung von ihm, denn er ist ein Mörder und Vater der Lüge. Ich empfehle mich also deinem und der Brüder Gebet, und das umso mehr, je besser du verstehst, dass ich vom Satan, der mit unglaublichem Zorn und Wut gegen mich tobt, ernstlich angegriffen werde, was ich gezwungermaßen heftig zu spüren bekomme.“ 177 Brief an Nikolaus Hausmann vom 17.11.1527, Nr. 1170, WA.B 4, 282,2–10. 178 [Vgl. Brief an Friedrich Pistorius vom 21.11.1527, Nr. 1171, WA.B 4, 283,8 f.] 179 Brief an Eberhard Brisger vom 29.(?)11.1527, Nr. 1175, WA.B 4 (288 f), 288,8– 290,11 (das Zitat 288,9–289,11)

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Das Schlimmste ist, dass die Verzweiflung sich auf das Wort des Herrn beruft. „Es ist unfasslich, wie er sich in Christus selbst, ja in Gott selbst verwandelt (vom Engel des Lichts zu schweigen); er lässt all seine Kraft an mir aus, um mich zu verderben. Doch Christus hat mich bisher treu bewahrt …“ In demselben Brief wird ein Zweck der Prüfung genannt. „Ich weiß, dass ich die Anfechtung brauche, damit ich gedemütigt und Gott in mir verherrlicht werde. Möge ich nur nicht unterliegen.“180 Aus Torgau, von wo alle vor der Pest geflohen waren und ihn allein gelassen hatten, außer Bugenhagen, empfiehlt er sich, den elenden Sünder, am 28. November den Gebeten der Gemeinde Brenzens. „Denn Satan ist auf mich losgelassen und versucht mit seinen Machenschaften, mir insgeheim [privatim] Christus zu rauben, da er einsieht, dass er mir öffentlich von der Verkündigung des Wortes nichts rauben kann.“181

Noch am 14. Dezember ist er – nach einem Brief an Nikolaus Hausmann – nicht von der Anfechtung befreit und wünscht [100] auch nicht, es zu werden, „wenn es der Ehre Gottes dient, meines liebsten Heilands.“182 Die Sehnsucht nach dem Märtyrertod wird neu belebt durch den Bericht davon, wie Leonhard Kaiser in Bayern um seines Glaubens willen verbrannt wurde. „Ach Herr Gott, das ich so wirdig were gewesen odder noch sein möchte solchs bekendnis und tods.“183 Nach Weihnachten war er körperlich gesund, seelisch nur soweit Christus hilft, „der an einem dünnen Faden an mir hängt und ich an ihm. Satan aber hängt sich mit starken Trossen an mich und zieht mich in die Tiefe …“ Luther empfindet zu wenig von der Kraft Christi. „Der schwache Christus hat bisher durch eure Gebete die Oberhand oder kämpft zumindest tapfer. Fahrt also fort und macht den schwachen Christus stark durch eure Gebete, dass er mit seiner Ohnmacht die Macht, ja Wildheit des Satans brechen möge.“184 Wenn Wenzeslaus Link nicht aufhört, mit Luther in dessen Seelenkampf zu beten und zu streiten, wird der Herr sich über ihn erbarmen zu seiner Zeit.185 Die Anfechtung war etwas milder geworden, kam aber zuzeiten heftiger zurück. „Bete für mich, wie du auch tust, Mann in Christo, damit ich stark im Glauben bin gegen Satan und seine Diener.“ So schrieb er am 180 Aus demselben Brief, a. a. O., 289,11–21; 288,6–8. 181 Brief an Johannes Brenz vom 28.11.1527, Nr. 1173, WA.B 4 (285 f), 286,22–25. 182 Brief an Nikolaus Hausmann vom 14.12.1527, Nr. 1183, WA.B 4 (299 f), 298, 13–15. 183 [M. Luther, Von Herrn Lenhard Keiser in Baiern, um des Evangelii willen verbrannt (1527), WA 23 (452–476), 474,15 f.] 184 Brief an Justus Jonas vom 29.12.1527, Nr. 1188, WA.B 4, 306,14–20. 185 Vgl. Brief an Wenzeslaus Link vom 29.12.1527, Nr. 1189, WA.B 4, 310,7 f.

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Altjahrsabend an Hausmann.186 Am selben Tag heißt es in einem anderen Brief: „Wir sind alle wohl außer Luther selbst, der körperlich gesund ist, [aber] von außen unter der ganzen Welt, von innen unter dem Teufel und allen seinen Engeln leidet.“187 Am Neujahrstag 1528 dankt er Gerhard Wiskamp für tröstliche Briefe und gibt einen Überblick über die Passionsgeschichte seiner Seele. „Es ist wahr, dass diese Anfechtung sehr schwer und mir seit meiner Jugend nicht unbekannt ist. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie sich so verschärfen würde. Christus hat trotzdem bisher triumphiert, doch hält er mich an einem ganz dünnen Faden. Ich empfehle mich deinen Gebeten und denen der Brüder. Ich habe anderen geholfen, aber mir selbst kann ich nicht helfen [Mt 27, 42]. Gepriesen sei mein Christus, auch mitten [101] in Verzweiflung, Tod und Lästerung. Möge er uns einander wiedersehen lassen dort in seinem Reich.“

Hier wie so oft herrscht bei Luther eschatologische Stimmung. „… am bittersten ist [das Leiden] jetzt am Ende der Welt.“188 Am 25. Februar 1528 hofft er, da Satan so heftig wütet, dass der Tag für die Erlösung der Frommen nahe sei. Das bezieht sich jedoch nicht auf die Verhältnisse in Wittenberg. „Wir sind durch Gottes Gnade von der Pest befreit. Mein Satan ist durch euer Gebet etwas erträglicher geworden.“189 Unermüdlich war Luther auch während dieser Zeit mit seiner Bibel­ übersetzung, seinen Vorlesungen und anderem beschäftigt. Ungefähr zur gleichen Zeit wie seine Angstperiode war die Universität im August 1527 nach Jena umgezogen und blieb dort bis zum März 1528.190 Luther las während dieser Zeit über den 1. Johannesbrief, den Titus-, Philemon- und 1. Timotheusbrief. Die Aufzeichnungen zum 1. Johannesbrief beginnen am 19. August so: „Satan greift uns überall an, und uns hat Gott hingestellt (I Kor. 4, 9 [als ­Apostel]). Hier bekämpft uns die Welt, Satan, das Herz, der Tod, Schwermer, so dass wir keinen Frieden haben, nichts Gutes, dadurch wir sehen [könnten], dass Gott uns auf die Probe stellen will. Er hat uns das Wort gegeben, das er predigen lässt usw. Jetzt eben setzt [stellt] er uns hin, damit wir erfahren, wie mächtig sein heiliges Wort ist und mehr vermag als die Sünde, der Tod. ‚Mitten unter die Wölfe [sende ich euch]‘, sagt er [Jesus] (Mt 10, 16). Da wir also derart angegriffen werden vom Tod, der Sünde, den Häretikern, habe ich mir vorgenom-

186 Brief an Nikolaus Hausmann vom 31.12.1527, Nr. 1192, WA.B 4, (312 f), 313, 1 f. 187 Brief an Jakob Propst vom 31.12.1527, Nr. 1193, WA.B 4 (313 f), 313,10–12. 188 Brief an Gerhard Wiskamp vom 1.1.1528, Nr. 1197, WA.B 4, (319 f), 319,5–11; 320,2 f. [Zur Schreibung des Namens des Empfängers vgl. S. 84, Anm. 115.] 189 Brief an Wenzeslaus Link vom 25.2.1528, Nr. 1226, WA.B 4 (387 f), 387,7–9. 190 Vgl. WA 26, 1.

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men, diese Epistel zu lesen, damit wir uns gegenseitig trösten und beten contra leidigen teufel, der uns auf mehr als eine Weise anficht.“

Er lobt den Brief des Johannes, weil er so voll Trostes sei. Am 1. Oktober hatte er die wunderbare Stelle I Joh 3, 20: „Verzweiflung ist verboten, d. h. unser Gewissen schafft uns einen aufgebrachten, zornigen Gott und ein verzagtes Herz. Unser Gewissen ist um ein Vielfaches kleiner als unser Gott. Gegen das böse Gewissen sollst du sagen: du bist nur ein Tröpfchen, Gott aber ist ein unendliches Feuer, welches das Tröpfchen verdampfen lässt.“191

[102] Im Januar schildert Luther an dem Bischof des I. Timotheusbriefes seine eigenen Lebensbedingungen: „Jeder Lehrer ist der Gemeinde zum Bischof gesetzt, damit er die Gefährdungen aller erträgt. Er steht in der ersten Reihe, ihn bedrängen alle Streitfragen, Schwierigkeiten, aller Kummer und die Verwirrungen, Anfechtungen und Zweifel aller Gewissen …“

„Hätte er keine andere Anfechtung, so wäre es genug für ihn, mit Dämonen und Häretikern zu kämpfen …“ „Satan gerät mit ihm aneinander in einem Geisteskampf, nimmt ihm die guten Gedanken und verdreht die Sätze der Schrift.“192 Zuvor hatte er in seiner Predigt am Epiphaniastag sich selbst und die Zuhörer ermahnt, die Augen zu schließen und zu glauben.193 Ich habe Luther im Jahr der Gnade 1527 etwas ausführlicher zu Wort kommen lassen. Einen so lange andauernden inneren Druck hat er später nicht wieder erlebt. Doch kehren die Plagen schon im April 1529 zurück. „Wenn es eine apostolische Gabe ist, Kämpfe mit Dämonen auszufechten und oft in Todesnöten zu sein, dann bin ich gewiss in dieser Hinsicht Petrus oder Paulus, wiewohl meine übrigen Gaben nicht so sehr apostolisch sind als vielmehr die von Räubern, Zöllnern, Huren und Sündern. Ich habe wieder angefangen ein wenig zu husten und Laute von mir zu geben, aber sprechen tue ich noch nicht“,

schrieb er am 19. April. Er „litt an einem sehr schweren, fast tödlichen Katarrh“, laut Brief vom 14. April; noch am 6. Mai war er nicht geheilt.194 191 Vorlesung über den 1. Johannesbrief, WA 20, 599,2–9; 716,18–22. [Die kursiv gedruckten Wörter im Original Deutsch.] 192 Vorlesung über den 1. Timotheusbrief (1528), WA 26 [(1–120), 5,30–33; 6,6–9.­ Söderblom schreibt für „pugna spirituali“: „mäktig kamp“, mächtigem Kampf.]. 193 Predigt am Epiphaniastage (6.1.1528), WA 27 (13–16), bes, 16,2 f. ­Söderblom datiert die Predigt irrtümlich auf den Neujahrstag. 194 Brief an Justus Jonas vom 19.4.1529, Nr. 1410, WA.B 5, 55,4–8; Brief an Jonas vom 14.4.1529, Nr. 1408, WA.B 5 (52–54), 52,3 f; vgl. Brief vom 6. Mai an J. Jonas, Nr. 1417, WA.B 5, 64,24.

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In diesem Fall steht die Anfechtung also in einem klaren Zusammenhang mit einer bestimmten Erkrankung, vermutlich einer Bronchitis, während wir im Jahre 1527 Luther mehr als einmal versichern hörten, dass er körperlich gesund sei. Am 31. Juli klagt er dagegen, so wie im Jahre 1527, während einer fiebrigen Epidemie, dem so genannten Englischen Schweiß, der damals zuerst in Deutschland aufgetreten war, dass er selbst sich zwar körperlich wohl fühle, aber krank an der Seele sei, indem er wie Petrus im [103] Glauben bedrängt war. „… durch die Gebete der Brüder bin ich bisher davor bewahrt geblieben zu unterliegen.“195 Wir sind bereits mit Luther auf der Coburg gewesen, in einer neuen Einsiedlerzeit so wie die auf der Wartburg, nicht ungünstig für Luthers Produktion, aber ebenso gestört von innerem Unbehagen. Wir haben mit den lustigen Vergleichen Bekanntschaft gemacht, mit denen er versuchte die Unruhe seines Gemüts zu betäuben. Der Scherz, von dem die Korrespondenz von der Coburg aus besonders zu Anfang geradezu überquoll, verdeckte einen Bodensatz von Furcht und Angst. Auf den Bergfestungen wagte sich der Teufel näher heran als in der beruflichen und heimischen Umgebung. Überanstrengung trug das Ihre bei. So wie auf der Wartburg war Luther fest davon überzeugt, den Bösen gesehen zu haben, dieses Mal als „Flamme oder feurige Schlange, welche sich beim Fliegen unter mannigfachen Verdrehungen vom Dach des uns zunächst stehenden Turmes in den Hain stürzte.“ Veit Dietrich wurde herbeigerufen. Doch jetzt hatte der Teufel „seine Gestalt geändert und erschien als ziemlich großer, flammender Stern, der auf den Acker geschleudert wurde.“196 Eines Tages „hatte der Satan seine Gesandtschaft bei mir“, erzählt Luther. „Ich war allein, Veit und Cyriacus waren nicht da. Er hatte jedenfalls insofern Erfolg, als er mich aus dem Zimmer vertrieb und mich zwang, unter Menschen zu gehen.“197 Die Einsamkeit war nicht gut für die Melancholie. Luther litt in dieser Zeit oft an körperlichem Unwohlsein, so dass er sich wie das trockene und dürstende Land fühlte. In demselben Brief an Jonas nennt er sich „einen schwer erträglichen und unbequemen Tröster“.198 Später, Ende 195 Vgl. Brief an Johann Brießmann vom 31.7.1529, Nr. 1456, WA.B 5 (125 f), 125,33–36 (Zitat Z. 36). 196 Vgl. WA.TR 1, 153,26–28. Vgl. Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), I, 649; III, 623. [Die Zitate nach dem handschriftlichen Bericht Veit Dietrichs in dessen Brief an Johann Agricola vom 4.7.1530, wie er von Gustav Kawerau, Zwei kleine Beiträge zur Luther-Biographie, in: ZKWKL 1/1880 (59–52), 50 ediert wurde.] 197 Brief an Melanchthon vom 12.5.1530, Nr. 1566, WA.B 5 (316 f), 317,21–23. 198 Brief an Justus Jonas vom 19.5.1530, Nr. 1571, WA.B 5 (323 f), 323,2–6. Das Zitat Z. 2. [„Derselbe Brief“: Der vorangehende Satz ist eine Paraphrase der Zeilen 4–6 dieses Briefes.]

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Mai oder Anfang Juni, schrieb er ebenfalls an Jonas über die unmittelbare Bedeutung seiner Seelenqual für die klare evangelische Erkenntnis. „Ich habe bis zu diesem Tag durch viele und große innere Kämpfe erfahren, was für eine schwere und rein göttliche Sache es ist, dass die Erkenntnis im menschlichen Geiste wächst199, dass wir gerechtfertigt werden aus [104] Gnade und ohne Werke und dass allein der Glaube an Christus jene einzige Gerechtigkeit der Heiligen Gottes ausmacht.“200

Aus den Tagen vor Mittsommer auf der Coburg, vom 19. Juni 1530, stammt der herzliche Brief, in dem er den schwermütigen Lehrer seines kleinen Jungen, Hieronymus Weller in Wittenberg, tröstet. Er hatte erfahren, dass Hieronymus von Traurigkeit geplagt wurde, „welche Anfechtung der Jugend sehr schadet“. Da Luther hier sowohl aus eigener Erfahrung als auch zu sich selbst spricht, mag ein längerer Auszug folgen. Nachdem Jesus Sirach angeführt worden ist: „Ein fröhliches Herz ist des Menschen Leben, … und seine Freude verlängert sein Leben. [Mach dir keine Sorgen, sondern] ermuntere dich und tröste dein Herz, und vertreibe die Traurigkeit von dir. Denn Traurigkeit tötet viele Leute und führt doch zu nichts“201,

fährt der Briefschreiber fort: „Deshalb musst du vor allem daran festhalten, dass diese schlimmen und traurigen Gedanken nicht von Gott kommen, sondern vom Teufel, denn Gott ist nicht ein Gott der Traurigkeit, sondern ein Gott des Trostes und der Freude, wie Christus selbst sagt: ‚Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.‘ [Mt 22, 32]. Was aber ist Leben, wenn nicht sich im Herrn zu freuen? Darum sollst du dich hier daran gewöhnen, solche Gedanken gleich zu verjagen und zu sagen: Dich hat nicht der Herr geschickt. Eine solche Meinung kommt nicht von dem, der dich berufen hat. Solcher Kampf ist am Anfang schwer, wird aber durch Gewöhnung leichter. Denn du bist nicht der Einzige, der solche Gedanken unterhält, sondern es geht allen Heiligen so, aber sie haben gekämpft und gesiegt. Deshalb auch ‚du nicht weiche dem Unglück, sondern begegne ihm tapf’rer‘.202 Die höchste Kunst in diesem Kampf ist, solche Gedanken nicht zu betrachten und zu durchgrübeln oder nach dem zu suchen, was ihnen zugrunde liegt, sondern sie wie das Zischen der Gänse zu verachten und zu ignorieren. 199 [Lat. inolescere, wörtlich: in ihn hineinwächst wie ein aufgepfropftes Reis.] 200 [Undatierter Brief an Justus Jonas (nach dem 12. Juni 1530), Begleitbrief zu dessen lateinischer Übersetzung von Luthers Der Prophet Jona ausgelegt (1526), abgedruckt WA 19, 176–178, hier 177; vgl. dort die Einleitung des Hg. S. 170  f.­ Söderbloms Datierung, die Enders 7, 347 folgt, dürfte nicht richtig sein.] 201 [Sir. 30, 23–25. Die Worte in eckigen Klammern sind Zusatz S­ öderbloms.] 202 „Tu ne cede malis, sed contra audentior ito“, Vergil, Aeneis VI, 95.

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Wer das gelernt hat, [105] wird siegen, wer es nicht gelernt hat, wird besiegt werden. Denn jene düsteren Gedanken zu betrachten und mit ihnen zu disputieren, bis sie aufhören oder von alleine weichen, das heißt sie zu reizen und zu stärken.“

Nun folgt ein biblisches Vorbild, das für viele an sich selbst verzweifelte Seelen zum Trost und zur Erlösung geworden ist: „Nimm dir das Volk Israel zum Vorbild, das seine Schlangen nicht durch Betrachten und Kämpfen, sondern durch Abwendung des Blicks auf eine andere, nämlich eherne Schlange hin besiegt hat. 203 Das ist der wahre und gewisse Sieg in diesem Streit. Darum, lieber Hieronymus, sieh zu, dass du sie nicht in deinem Herzen verweilen lässt. So antwortete ein weiser Mann einem anderen, der auf diese Weise versucht wurde und gesagt hatte: ‚Wie fallen mir so bose Gedanken ein!‘204: ‚So laß sie wieder ausfallen.‘ Er hat einen guten Rat gegeben. Ein anderer antwortete auf eine ebensolche Frage: ‚Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel über deinem Kopf herumschwirren, wohl aber kannst du verhindern, dass sie ein Nest in deinem Haar bauen.‘205 Deshalb handelst du richtig, wenn du mit anderen Gedanken spielst oder anderes, Vergnügliches treibst und dir sodann keine Gewissensbisse machst, weil du gespielt hast. Denn Gott hat keinen Gefallen an jener nutzlosen Traurigkeit.“

Nach den seelenkundigen Anweisungen folgt jetzt ein Satz, der Luthers prinzipielles Verständnis der anklagenden Gedanken der Schwermut im Unterschied zu der notwendigen Erkenntnis der Sünde klar macht. „Denn die Traurigkeit auf Grund der Sünden ist kurz und zugleich erfreulich durch die Verheißung der Gnade und der Vergebung der Sünden. Jene aber kommt vom Teufel und ist ohne Verheißung; sie stellt bloß eine Besorgnis wegen unnützer und unnötiger Fragen in Bezug auf Gott dar.“206

Luther erwähnt in diesem Trostbrief nichts von dem „Unwetter im Kopf“, das ihn nach zwei Briefen vom selben Tag [106] fast einen Monat lang gequält hatte, sei es, dass der Wein die Ursache war oder dass der ­Satan ihm einen Streich gespielt hatte, und das weiter andauerte, so dass fast die Hälfte der Zeit auf der Coburg davon in Mitleidenschaft gezogen 203 Num 21, 9; Joh 3, 14 f. [Zu den „vielen verzweifelten Seelen“ gehörte einst auch­ Söderblom selbst, für den der Blick auf jene „eherne Schlange“ in der großen religiösen Krise während seiner Studienzeit die Befreiung von der quälenden Selbstreflexion bedeutete; vgl. dazu meine Biographie, a. a. O. (wie S. 13, Anm. 13), 73.] 204 [Im Original Deutsch; ebenso die folgende Antwort.] 205 [Dieser Vergleich findet sich öfters bei Luther. In WA 9, 157,32 f benennt er als Quelle Hieronymus.] 206 Brief an Hieronymus Weller vom 19.6.1530, Nr. 1593, WA.B 5 (374 f), 374,7. 13–375,3.

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wurde. 207 Missmut, Ärger und körperliche Beschwerden lösten einander ab. Der Böse ließ ihm nicht viel Ruhe. 208 Am 29. Juni bricht Luther mitten in einem langen Brief an Melanchthon, der wie immer auf Latein geschrieben war, auf Deutsch aus: „Er hat mir den Tod geschworn, das fühle ich wohl, hat auch kein Ruge, er habe mich denn gefressen.“ Hat der Briefschreiber halb unbewusst auf die altkirchliche Deutung des Todes Christi angespielt? Gott steckte die menschliche Natur Christi an den Angelhaken als Köder für den Bösen, der sich verführen ließ ihn zu verschlucken, was ihm dann schlecht bekam. Der Gedankengang des Briefes mündet in eine drastische Drohung. „Wohlan, frißt er mich, so soll er (ob Gott will), ein Purgation [Abführmittel] fressen, die ihm Bauch und Ars zu enge machen soll.“209 Noch will Luther lieber körperliche Schmerzen aushalten als die Marter des Geistes. Noch heißt es: „Sorge dich nicht um meine Gesundheit. Sie ist unsicher, aber da ich fühle, dass es nicht eine Krankheit der Natur ist, ertrage ich sie umso tapferer und verachte jene Hiebe des Satansengels auf mein Fleisch. Wenn ich nicht lesen und schreiben kann, so kann ich doch denken und beten und auch auf diese Weise gegen ihn wettern; ferner schlafen, müßig gehen, spielen und singen.“210

Scherz und Zerstreuung werden auch in einem weiteren Trostbrief an Hieronymus Weller mit absichtlicher Eigenwilligkeit im Ausdruck empfohlen. Zuerst wird die Regel wiederholt: „Achte darauf, dass du dich nicht auf eine Diskussion mit dem Teufel einlässt oder dich solchen todbringenden Gedanken hingibst. Denn das ist nichts anders als dem Teufel zu weichen und ihm zu unterliegen. Vielmehr bemühe dich, mit aller Kraft die Gedanken zu verachten, die dir der Teufel eingibt. Verachtung ist bei dieser Form von Anfechtung und Kampf die beste und einfachste Weise, den Teufel zu besiegen.“

Dann fährt er auf Grund seiner eigenen Erfahrung fort: „Meide auf jede Weise die Einsamkeit, denn er jagt und [107] belauert dich vor allem dann, wenn du einsam bist. Dieser Teufel wird am leichtesten durch 207 Vgl. Brief an Konrad Cordatus vom 19.6.1530, Nr. 1596, WA.B 5 (380 f), 381, 17 f; Brief an Gabriel Zwilling vom 19.6. (?) 1530, Nr. 1597, WA.B 5, 382,7–10. 208 Vgl. Briefe an Jonas vom 28.8.1530, Nr. 1706, WA.B 5, 586,18 f; an Melanchthon vom 15.9.1530, Nr. 1719, WA.B 5 (622 f), 623,32 f; an Konrad Cordatus vom 23.9.1530, Nr. 1724, WA.B 5 (632 f), 632,1 f; Brief an Melanchthon vom 31.7.1530, Nr. 1668, WA.B 5 (516 f), 516,14–517,18; an Jonas vom 3.8.1530, Nr. 1672, WA.B 5 (522 f), 522,10–13; an Melanchthon vom 20.8.1530, Nr. 1688, WA.B 5 (551 f), 551,23 f, (Zahnschmerzen). 209 Brief an Melanchthon vom 29.6.1530, Nr. 1609, WA.B 5 (405–407), 406,34–37. 210 Brief an Melanchthon vom 31.7.1530 (wie vorletzte Anm.).

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Spiel und Verachtung besiegt, nicht durch Widerstand und Disputieren. Darum sollst du zwischendurch mit meiner Frau und den anderen scherzen und spielen, um die teuflischen Gedanken zu hintergehen und guten Mutes zu sein, lieber Hieronymus.“

Hier folgt nun ein neuer Trostgrund, der nicht ohne Risiko ist. „Diese Anfechtung ist nötiger für dich als Essen und Trinken. Ich will dir erzählen, was mir einst widerfuhr, als ich ungefähr in deinem Alter war. Als ich ins Kloster eingetreten war, kam ich immer traurig und niedergeschlagen daher und konnte diese Schwermut nicht loswerden. Deshalb beriet ich mich mit Doktor Staupitz, den ich gerne erwähne, und beichtete ihm, was für entsetzliche und erschreckende Gedanken ich hatte. Da sprach er: ‚Weißt du nicht, Martin, wie nützlich und notwendig diese Anfechtung für dich ist? Denn nicht umsonst stellt Gott dich so auf die Probe. Du wirst sehen, dass er deinen Dienst für große Dinge in Anspruch nehmen wird. So geschah es denn auch. … So wird es ohne Zweifel auch dir ergehen: du wirst als großer Mann daraus hervorgehen. Sieh nur zu, dass du in der Zwischenzeit guten und starken Mut hast …“

Luther greift in diesem kühnen Trostbrief auf weniger geistliche Methoden zurück. „So oft der Teufel dich mit solchen Gedanken quält, suche das Gespräch mit den Leuten, oder trinke mehr, oder scherze, treibe Possen oder sonst etwas Lustiges. Manchmal muss man mehr trinken, spielen, Possen treiben und irgend­ eine Sünde begehen aus Hass und Verachtung des Teufels211, um ihm keinen Raum zu geben, uns wegen Kleinigkeiten ein Gewissen zu machen; andernfalls werden wir besiegt, wenn wir allzu ängstlich besorgt sind, dass wir in nichts sündigen. Wenn also der Teufel einmal zu dir sagt: ‚Trink nicht!‘, so antworte ihm: ‚Dass [108] ich trinke, geschieht gerade deswegen, weil du es verbietest, und ich werde deshalb ganz viel trinken. So soll man stets genau das tun, was der Satan verbietet. Was meinst du, ist sonst der Grund dafür, dass ich stärkeren Wein trinke, freimütiger rede, öfters schlemme, als dass ich mit dem Teufel spiele und ihn quäle, der sich darauf eingerichtet hatte, mit mir zu spielen und mich zu quälen? Wenn ich nur eine besondere Sünde aushecken könnte, bloß um den Teufel hereinzulegen, damit er einsieht, dass ich keine Sünde anerkenne und mir keiner Sünde bewusst bin! Ja, der ganze Dekalog muss uns aus den Augen und aus dem Sinn gerückt werden, uns, sage ich, die der Teufel so überfällt und quält. Wenn aber der Teufel uns einmal unsere Sünden vorhält und uns des Todes und der Hölle für schuldig erklärt, dann sollen wir so sagen: ‚Ich gebe zu, dass ich des Todes und der Hölle schuldig bin, na und? Soll ich deswegen in Ewigkeit verdammt sein? Keineswegs, denn ich kenne einen, der für mich

211 Vgl. dazu das viel diskutierte pecca fortiter.

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gelitten und genug getan hat, er wird Jesus Christus genannt, Gottes Sohn. Wo er das Feld behält, werde ich es auch behalten.“212

Unbegreifliche und für die Mehrzahl der Leser anstößige Worte. Ein Seelenverwandter von Luthers Skrupeln und Gewissensnot wird sie verstehen. Ein Kommentar leistet das nicht. Trotzdem war er es, trotz seiner Krankheit und seiner unzufriedenen Unruhe hinsichtlich der Sache in Augsburg, der Melanchthon und die anderen aufmuntern musste. Auch wenn er selbst über Angst klagte, fasste er neuen Mut, wenn es darum ging, andere zu trösten. „Ich bin sehr verärgert über Deine elenden Besorgnisse, die Dich, wie Du schreibst, völlig verzehren. Dass sie in Deinem Herzen derart beherrschend sind, liegt nicht an der Größe der Sache, sondern an der Größe unseres Unglaubens. … Warum grämst Du Dich ständig, ohne einmal durchzuatmen? Wenn die Sache falsch ist, wollen wir widerrufen; wenn sie aber wahr ist, warum machen wir dann den zum Lügner in seinen großen Verheißungen, der uns gebietet, in unserer Seele Ruhe und Gelassenheit walten zu lassen? … Ich ängstige mich auch des Öfteren, aber nicht stets und ständig. Es ist Deine [109] Philo­ sophie, die Dich plagt, nicht die Theologie … Als ob Ihr mit Eurer nutzlosen Sorge irgendetwas ausrichten könntet.“

Hier fällt Luther, wie es in den Briefen oft geschieht, in die deutsche Sprache: „Was kann denn der Teufel mehr tun, denn daß er uns töte?“ Dann wird das Lateinische wieder aufgenommen. „Was mehr? Ich beschwöre Dich, der Du sonst in jeder Hinsicht streitbar bist, kämpfe auch gegen Dich selbst, Deinen schlimmsten Feind, der Du dem Satan so viele Waffen an die Hand gibst.“ Luthers Zuversicht kam daher, dass es Gottes Sache war, und dass er in seiner Gewissheit über die Sache selbst, die für ihn alles war, um sein eigenes Geschick und das anderer unbekümmert blieb. Gott ist imstande, seine Sache aufzubauen, selbst wenn sie in Gefahr ist. „Sind wir ihrer nicht würdig, so möge es durch andere geschehen.“213 Wie es ein anderes Mal von der Coburg heißt: „Wenn nur Christus siegt, dann macht es nichts aus, ob Luther zugrunde geht, denn wenn Christus siegt, so wird auch er siegen.“214 Melanchthon klagte lautstark über Luthers Unzufriedenheit: Niemals hätten sie Luthers Trost besser gebrauchen können, ohne den es für sie an212 Brief an Hieronymus Weller vom Juli (?) 1530, WA.B 5 (518–520), 518,13–519,36; 519,42–520,68, Nr. 1670. 213 Brief an Melanchthon vom 27.6.1530, Nr. 1605, WA.B 5 (399 f), 399,6–400,31. 214 Brief an Melanchthon vom 24.8.1530, Nr. 1693, WA.B 5 (559 f), 560,22 f; vgl. Brief an denselben vom 20.8.1530, Nr. 1688, WA.B 5 (551 f), 551,11–22.

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gesichts der Widrigkeiten des Reichstags nichts Erfreuliches gab; ­Luthers Autorität war ihnen Gesetz. Luther lehnte eine solche Ehrerbietung zornig ab und schob die ganze Angelegenheit und ihren Ausgang auf ein Thema, das in Melanchthons „Rhetorik oder Philosophie“ gar nicht vorkam, nämlich den Glauben. „Hätte Mose versucht, den Ausgang zu begreifen, zu dem hin er dem Heer des Pharao entkommen sollte, dann wäre Israel vielleicht heute noch in Ägypten.“215 Am 30. Juni griff Luther dem ängstlichen Melanchthon gegenüber zu einem neuen Argument, seiner eigenen Melancholie. Der Brief geriet zu einem Vergleich mit dem Freund, zu einem Bekenntnis der Tiefe seines eigenen Seelenleidens und der Gnadenmittel der christlichen Freundschaft. Hier häufen sich die Heilmittel für die Schwermut. „Ich bin in größeren Ängsten gewesen, als Du jemals sein wirst. Ich hoffe und wünsche keinem Menschen, nicht einmal denen, die jetzt so gegen uns wüten, wie [110] verrucht und gottlos sie auch sein mögen, dass es ihnen ähnlich ergehe. Doch habe ich in solchen Leidenszeiten oftmals durch das Wort eines Bruders Linderung erfahren, manchmal von Bugenhagen, manchmal von Dir, manchmal von Jonas und anderen. Warum also hörst nun nicht umgekehrt auch Du auf uns, die wir doch gewiss nichts dem Fleisch oder der Welt gemäß reden, sondern Gott gemäß, ohne Zweifel durch den heiligen Geist? Lass uns verächtlich sein, damit nur ja nicht der, welcher durch uns redet, verächtlich sei.“

Jetzt wird der Briefschreiber so eifrig, dass er zur Muttersprache greift. „Soll’s denn erlogen sein, daß Gott seinen Sohn fur uns gegeben hat, so sei der Teufel an meiner Statt ein Mensch oder eine seiner Kreaturen. Ist’s aber wahr, was machen wir denn mit unserm leidigen Furchten, Zagen, Sorgen und Trauren?“

Und wieder auf Latein: „Als ob der, welcher seinen Sohn gab, in geringeren Dingen nicht mit uns sein wollte, oder als ob der Satan mächtiger wäre als er!“ „In den privaten Kämpfen bin ich schwächer als Du, Du aber stärker; im Gegensatz dazu bist Du in den öffentlichen Kämpfen so, wie ich in den privaten bin, und ich in den öffentlichen, wie Du in den privaten bist (wenn man das privat nennen kann, was sich zwischen mir und Satan abspielt). Denn Du verachtest Dein Leben, hast aber Angst vor der öffentlichen Sache; ich dagegen bin gro-

215 Vgl. Brief Melanchthons an Luther vom 26.6.1530, Nr. 1604, WA.B 5, 396 f; ders., Brief an Luther vom 27.6.1539, Nr. 1607, WA.B 5 (402 f), 402,4–403,14; Brief Luthers an Melanchthon vom 27.6. (?) 1530, Nr. 1609, WA.B 5 (405–407), 406,43–47. 55–62. 63–65 (hier das Zitat).

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ßen und ruhigen Mutes in der öffentlichen Sache, denn ich weiß gewiss, dass sie gerecht und wahr, ja Christi und Gottes ist, und dass sie nicht so vor Sündenschuld erbleicht, wie ich innerlich armer kleiner Heiliger (sanctulus) erbleichen und zittern muss.“ „‚Seid getrost, ich habe die Welt überwunden‘ [Joh 16, 33]. Es wird ja nicht falsch sein, das weiß ich furwahr, dass Christus Sieger über die Welt ist. Wieso also fürchten wir die besiegte Welt wie einen Sieger? Sollt einer doch einen solchen Spruch“

– wieder fällt Luther für ein paar Zeilen in die Muttersprache – „auf seinen Knien von Rom und [111] Jerusalem holen. Aber durch ihre Fülle, ihre ständige Wiederholung und ihre Vertrautheit werden sie [scil. die Sprüche aus dem Psalter und den Evangelien] wohlfeil für uns. Das ist aber nicht gut.“ „Aber ich schreibe dies vergeblich, weil Du nach Eurer Philosophie diese Dinge weiterhin mit der Vernunft regelst, das heißt, wie jener 216 sagt, mit der Vernunft wahnsinnig bist, und Dir selbst das Leben nimmst und nicht einsiehst, dass die Sache jenseits Deines Handlungsspielraums und Deiner Entscheidung liegt und auch jenseits Deiner Sorge betrieben werden will. Christus möge verhindern, dass sie nicht in Deine Entscheidung und Deinen Handlungsspielraum falle, wie du es beharrlich willst; dann würden wir öffentlich und großartig und jäh untergehen.“217

Die Briefe von der Coburg enthalten noch ein paar weitere Einsichten über die Angst und ihre Heilung. Die Natur gab ihren Trost. Wir haben bereits den Brief an den Kanzler Brück in Augsburg kennen gelernt, in dem Luther von den beiden Wundern erzählt, die er geschaut hatte. 218 Das Himmelsgewölbe mit den Sternen wird nicht von Pfeilern gehalten und ist doch nicht eingestürzt. Dicke Wolken sind nicht herunter gefallen, obwohl sie nicht in Gefäßen gesammelt waren. Der Aufenthalt auf der Coburg endet mit einem wehmütigen und doch zuversichtlichen Ton in dem Brief, den Luther am 4. Oktober an den Komponisten Ludwig Senfl abschickte. „Ich hoffe fürwahr, dass mein Ende nahe ist. Die Welt hasst mich und kann mich nicht leiden. Ich meinerseits ekle mich vor der Welt und verachte sie. Möge darum der gute und treue Hirte meine Seele holen.“ Luther fügt eine Melodie bei, die ihm von Jugend an lieb war, und schreibt: 216 Terenz, Eun. I 1,18. 217 Brief an Melanchthon vom 30.6.1530, Nr. 1611, WA.B 5 (411–413), 411,5– 412,25; 412,37–41; 412,51–413,1. 218 [S. o., 40.]

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„Ich habe schon begonnen sie zu singen und möchte sie gerne harmonisiert hören. Für den Fall, dass Du sie nicht hast oder nicht kennst, schicke ich sie Dir in Noten aufgeschrieben, damit Du sie etwa nach meinem Tod harmonisieren kannst, wenn Du willst. Der Herr Jesus sei mit Dir in Ewigkeit. Amen.“219

[112] Die Coburg hatte an den Kräften gezehrt. Zurück in Wittenberg, fühlte Luther sich stark gealtert und mitgenommen, ermüdet vom Engel des Satans. 220 Eines Tages in der Einsamkeit auf der Coburg hatte er zu Veit Dietrich gesagt: „Wen ich ytzund sturbe, vnd man mich auff schnide, so wurd man sehen, das mein hertz gantz und gar verschnurfft [eingeschrumpft] were prae maerore et tristitia animi mei [vor Trübsal und Traurigkeit meines Geistes].“221 Er hatte sich einen Platz in der Schlosskapelle auf der Coburg ausgesucht, wo er gerne ruhen wollte, wenn die Todesgedanken in Erfüllung gingen. Während der kommenden Jahre stieg die Angst Mal um Mal aus der schwarzen Tiefe wieder auf, um die Blicke an sich zu fesseln, die sich sonst auf Gottes Gnade richteten. „Ich bin schon tode“, äußerte er im Frühjahr 1532. „Wen ich nur begraben were!“222 „Wir können nicht allezeit fest und mutig sein, auch nicht ständig unsicher und schwach, sondern so, wie es dem gut dünkt, der bläst, wo er will [Joh 3, 8], um uns durch solchen Wechsel zu erziehen, damit wir nicht etwa, wenn wir stets sicher wären, hochmütig würden, oder, wenn wir stets unsicher wären, verzweifelten.“

Diese Worte sind einem Brief vom 30. Dezember 1534 entnommen. 223 In Schmalkalden erkrankte Luther 1537 zum zweiten Mal auf den Tod, zehn Jahre nach seiner schwersten Zeit; die unmittelbare Ursache waren Steinschmerzen. Auf dem Heimweg bekam er in Gotha einen Rückfall, der ihm die Gewissheit brachte, dass er sterben würde. Da hatten die Anfechtungen nachgelassen, so dass er nach seinen eigenen Worten „ohne alle Anfechtung in Christus entschlafen wäre.“224 Doch nach der Heimkunft am 14. März erwachten düstere Gedanken. Am 28. März sprach er 219 Brief an Ludwig Senfl vom 1. (4.?) 10.1530, Nr. 1727, WA.B 5, 639,30–34 [Zur Datierung vgl. die Einleitung des Hg. S. 637.] 220 Vgl. Brief an Nikolaus von Amsdorf vom 31.10.1530, Nr. 1741, WA.B 5 (664 f), 665,31–33; sowie H. Grisar, a. a. O. (S.  43, Anm. 37), Bd. 3, 293 f. 221 WA.TR 2, 128,1–3 (Nr. 1550, aus dem Jahr 1532). 222 WA.TR 2, 105,24 f (Nr.  1463). 223 Brief an Urbanus Rhegius vom 30.12.1534, Nr. 2167, WA.B 7 (147 f), 147,15– 148,18. [­Söderblom gibt irrtümlich das Jahr 1536 an.] 224 Vgl. WA.TR 3, 394–398 (Nr. 3544, 4.3.1537); 404 (Nr. 3554, 21.3.1537); WA.TR 4 (601–603), 602,1 (Nr. 4991, Mai / Juni 1540), hier das Zitat.

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von seiner geistlichen oder übernatürlichen Krankheit, denn vierzehn Tage lang aß er weder etwas noch trank er etwas und schlief auch nicht. „In dieser Zeit haderte ich öfters mit Gott [113] und hielt ihm in meiner Ungeduld seine Verheißungen vor. Da lernet mich Gott recht die heilige schrifft vorsthen; denn es ist sonst vnmuglich, das ein mensch die heilige schrifft ­vorsthe, wens im [ihm] nach allen seinen willen gehet.“

Da lernte er Hiob als ein vorzügliches Buch schätzen, das nicht allein über Hiob, sondern um vieler Leidender willen geschrieben ist. „Wen ich in meiner kranckheit hett predigen kunnen, wolt ich manche schone predig vnd lection gethan haben, denn da verstand ich den Psalter vnd sein trost ein wenig.“225 Oft war er traurig darüber, dass er seinen Kampf nicht in Gotha hatte beenden können. „Denn als meine Gesundheit wiederhergestellt war, sah ich Dinge, die ich nicht sehen würde, wäre ich in Gott oder in Gotha begraben gewesen. Doch der Sieger über alles, Christus, besiegt auch dieses winzige Übel. So wie mit uns, die wir glauben, mehr Engel sind, so wird uns, die wir sehen, auch viel mehr G ­ utes zuteil.“226

Die eschatologische Stimmung und die Todessehnsucht, die Luthers Welt lebenslang die Perspektive der Ewigkeit verleihen, treten in den späteren Jahren stärker hervor. „Komm, lieber Jüngster Tag!“ war sein tägliches Gebet. Er erwartete den Tag Christi bald. Damit tröstete er sich angesichts der trostlosen Aussichten, die seinem Lebenswerk bevorzustehen schienen. Zuweilen flammte der Zorn auf. Doch über viele seiner Aussprüche aus späteren Jahren breitet sich in Bezug auf die Welt, die Kirche und deren Zukunft ein düsterer Pessimismus aus. Selbst Luther musste sich im Ernst die Frage stellen: Ist das wirklich der Sinn, dass die Welt als Ganzes besser werden und die Wahrheit in diesem Leben Erfolg haben soll?227 Die Arbeit drängte mehr als je zuvor. Die Beschwerden trugen wohl auch das Ihre bei. Sie ließen den alternden Mann immer seltener in Ruhe. Vielmehr häuften sie sich in seinem überanstrengten und unsanft behandelten Kör225 Vgl. WA.TR 3, 411–413 (Nr. 3558); die Zitate 411,28–412,7 und 412,17–19 (Lat. und Deutsch). 226 Brief an Friedrich Myconius vom 27.7.1537, Nr. 3165, WA.B 8, 104,9–13. [­S ehen und glauben: Die Edition von Enders (XI, 251), nach der S­ öderblom zitiert, hat das ursprüngliche „qui credimus – qui videmus“ in „quam credimus – quam videmus“ (mehr als wir glauben bzw. sehen) geändert. Doch zeigt die (hier nicht reproduzierte) Fortsetzung des Textes, dass dies ein Fehlgriff ist, vgl. a. a. O. Anm. 6.] 227 Vgl. Brief an Justus Jonas vom 12.2.1538, Nr. 3216, WA.B 8 (197 f), 197,8 f; Brief an Nikolaus Hausmann vom 23.2.1538, Nr. 3217, WA.B 8, 200,10 f. 16 f; Brief an Justus Jonas vom 8.4.1538, Nr. 3223, WA.B 8, 209,10–16,.

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per. 228 Er fühlte sich „alt und ausgedient“, wollte am liebsten in Frieden gelassen werden und im Garten [die Schönheit der Natur] genießen. 229 Er nannte sich „einen alten Mann mit erschöpften Kräften“. 230 Wie [114] viel besser wäre es doch, wenn er dem in den Gemeinden herrschenden Elend entrückt wäre, wiewohl er ebenso wenig wie Paulus aus „Holz oder Stein“, ohne Gefühl für die Bitterkeit des Todes war. 231 Doch hier machen wir eine eigenartige Beobachtung. Die Trauer und der Gram, die bittere Erfahrungen mit den Weltereignissen, die Spaltung innerhalb des evangelischen Lagers und der Zustand in Wittenberg ihm einflößten, dürfen nicht mit seinem innerlichen Unbehagen vermengt werden. Zu gleicher Zeit, da es um ihn herum dunkler wurde und körperliche Leiden überhand nahmen, ließ die Angst im Herzen nach. Eine aufmerksame Lektüre von Briefen und Mitteilungen aus den späteren Jahren zeigt noch deutlicher als unsere vorstehende Schilderung, dass die Schwermut ihre eigene Krankheitsgeschichte hatte, deren Verlauf gegen Ende günstiger wird, trotz der äußeren Lasten und Enttäuschungen des Alters. Nicht ganz verließ ihn die innere Not. Gegenüber Hausmann klagt er am 28. Februar 1538: „Ich werde gerade von einigen Anfechtungen des Satans umgetrieben, so dass ich mehr nicht schreiben kann.“232 Noch im Oktober des Jahres 1538 spricht Luther über seine Seelen­ qualen: „Wir haben vns mit dem Teuffel zu plagen vnd zu nagen, der hat gar starcke knochen, eh wir sie zubeißen. Paulus vnd Christus haben genug mit dem Teuffel zuthun gehabt! Auch ich erfahre täglich meine inneren Kämpfe, doch jene armen Unerfahrenen rühmen sich im Voraus des Sieges, vermessen genug … Gott bewahre uns, denn ich bin ein sündiger Mensch; ich kan auch fallen.“233

Wie wir hören, ist der Ton jedoch nicht schwankend, sondern sicher. Vom selben Tag hat auch Anton Lauterbach eine Aussage aufgezeichnet, die auf einen noch höheren Ton gestimmt ist. „Der Teuffel ist mir feind, nicht ohne Grund, weil ich sein Reich zerfetzt habe. Was kein König oder Fürst zustande [115] gebracht hat, das hat Gott durch mich armen bettler ausgericht, eintzlichen munchen, eiermann [Geringen].“234 228 Brief an Nikolaus von Amsdorf vom 25.11.1538, Nr. 3277, WA.B 8 (327–329), 329,58–62; Brief an Hieronymus Weller vom 19.1.1539, Nr. 3292, WA.B 8, 357, 12 f; Brief an Philipp Glüenspies vom 1.9.1538, Nr. 3255, WA.B 8, 280,3–6. 229 Brief an Justus Jonas vom 8.4.1538, Nr. 3223, WA.B 8, 209,12–14. 230 Brief an Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 228), S. 329,57. 231 [Brief an Nikolaus von Amsdorf (wie Anm. 228), WA.B 8, 329,47 f.] 232 Brief an Nikolaus Hausmann vom 28.2.1538, Nr. 3217, WA.B 8, 200,11 f. 233 WA.TR 4, (97 f), 97,23–29 (Nr. 4043 vom 7.10.1538). 234 WA.TR 4, 96,9–11 (Nr. 4041 vom 7.10.1538).

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Die Traurigkeit und der Gram, die 1545 in den verzweifelten Entschluss mündeten, Wittenberg zu verlassen, hatten ihre Ursache in äußeren Heimsuchungen, nicht in der Schwermut. Der Heimgang der kleinen Magdalena 1542 entlockte dem Vater einige seiner innigsten und weichsten Worte und hinterließ eine Wunde, die nicht heilte. Im folgenden Jahr nahmen die Qualen zu. „Ich wünsche mir eine gute Stunde für das Hinscheiden zu Gott. Ich bin satt, ich bin matt, sonst nichts. Trotzdem sieh zu, dass du ernsthaft für mich betest, damit Gott meine Seele in Frieden aufnimmt.“ In diesem Brief sieht er das Reformationswerk in hoffnungsvollem Licht. „Ich hinterlasse unsere Gemeinden nicht in einem traurigen, sondern in einem blühenden Zustand durch reine und rechte Lehre, der Tag für Tag unter vielen hervorragenden und rechtschaffenen Pastoren zunimmt.“ Doch selbst „bin ich mehr tot als lebendig, ein Berg Arbeit liegt vor mir.“235 Im April 1544 heißt es: „Faul, matt, kalt bin ich fürwahr, das heißt, ein Greis und zu nichts nütze. Ich habe meinen Lauf vollendet; es bleibt nur noch, dass mich Gott zu meinen Vätern versammelt und dass der Fäulnis und den Würmern ihr Teil überlassen wird.“236 Todessehnsucht und Sorgen verdarben keineswegs den Humor in Luthers Seele. Niemals floss er reichlicher und wärmer als in den letzten Jahren, nicht selten vermischt mit der jetzt sich aufhellenden Melancholie, die wegzulachen eine seiner Hauptaufgaben gewesen war. Wenn die Düsternis ihn anfiel, verbrachte er gerne eine Zeitlang damit, dass er mit dem Knecht redete und nach Käthes Schweinen sah. 237 Hier kamen ihm seltsame Betrachtungen in den Sinn. Juden, Perser, Griechen und andere haben seit alters Gott dafür gedankt, dass sie als Menschen geboren wurden und [116] nicht als Tiere. Es war einem trübsinnigen Kämpfer gegen die Gewissensnot vorbehalten, sich zu wünschen, ein Tier zu sein. 238 Wer die Todesangst verspürt hat, könnte die Sau beneiden. Sie liegt ruhig da, „schnarcket sanfft, schlefft süsse, fürcht keinen König noch Herrn, keinen tod noch Helle, keinen Teufel noch Gottes zorn. Lebet so gar on sorge, das sie auch 235 Brief an Wenzeslaus Link vom 20.6.1543, Nr. 3887, WA.B 10, 335,12–16. [Der letzte Satz bezieht sich auf denselben Brief, S. 335, Z. 7–9, ist aber kein Zitat, sondern freie Wiedergabe. Wörtlich heißt es dort: „…ich ein Leichnam bin, dennoch überladen mit Briefen und Büchern, die ich schreiben soll, mit der theologischen Vorlesung [usw.]“ 236 Brief an Jakob Propst vom 17.4.1544, Nr. 3983, WA.B 10, 554,2–5. [Von­ Söderblom irrtümlich auf „gegen Ende 1544“ datiert.] 237 Vgl. A. Hausrath, Luthers Leben (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 2, 439. 238 Vgl. meinen Aufsatz De gamle om kvinnoödet, in meinem Buch: Ur religionens historia, Stockholm 1915, 25–30. [Vgl. auch M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen (1543), WA 53 (417–452), 420,3–16.]

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nicht dencket, wo Kleien sind.239 Und wenn der Türckische Keiser mit aller macht und zorn daher zöge, solt sie wol so stoltz sein, das sie nicht eine borste umb seinet willen regete.“

Sie fürchtet sich nicht und hat es eigentlich besser als der Mensch. 240 Im Jahre 1544 hatte Luther aufgebracht geäußert, dass er Wittenberg verlassen wolle. Es gelang damals den vereinten Bemühungen der Freunde, der Universität und der Stadt mit knapper Not, ihn zurückzuhalten. 1545 lebte der Plan in Zeitz wieder auf, wohin ihn eine Verpflichtung geführt hatte. Er kehrte mit dem Sohn und den anderen nicht zurück, sondern teilte seiner Frau am 28. Juli seine Absicht mit, wegzubleiben. „Mein Hertz ist erkaltet, Das ich nicht gern mehr da bin … So wolt ich m. g’ten [gnädigsten] herrn das grosse haus241 wider schencken, vnd were dein bestes, Das du dich gen Zulsdorff setzest, weil [solange] ich noch lebe, vnd kunde dir mit dem Solde wol helffen, das gutlin zu bessern. Denn ich hoffe, m. g’ter herr sol mir den sold folgen lassen zum wenigsten ein iar meins letzten lebens.“

Er hatte auf der Reise weitere Nachrichten vernommen, die Wittenberg zur Schande gereichten. Er will „nur weg vnd aus dieser Sodoma.“242 Bereits früher hatte er die Stadt ein Sodom genannt. „So war die Welt vor dem Sündenfall, so vor dem Untergang Sodoms, so vor der babylonischen Gefangenschaft. so vor der Zerstörung Jerusalems – so ist sie vor dem Sturze Deutschlands.“243 An Käthe schrieb er [weiter]: „[Ich] wil also vmb her schweiffen, vnd ehe das Bettelbrot essen, ehe ich mein arm, alte letzte tage mit dem [117] vnordigen wesen zu Wittemberg martern vnd verunrugigen wil, mit verlust meiner sauren, theuren erbeit … Denn ich kan des Zorns vnd vnlusts nicht lenger leiden.“244

239 [Anspielung auf eine Fabel Äsops, in welcher der Löwe die anderen Tiere zu einem opulenten Mahl einlädt, die Sau aber fragt, ob es auch Kleie gibt. Vgl. die Anm. des Hg. von WA 53, sowie WA.TR 3, 499,1–12 (Nr. 3663).] 240 [M. Luther, Von den Juden und ihren Lügen (wie Anm. 238), 542,32–543,16; das Zitat 542,36–543,4. Als Grund dafür, dass die Sau es besser habe als der Mensch, gibt Luther an, dass sie nicht am Sündenfall teilhabe.] Vgl. A. Hausrath, a. a. O. (S.  15, Anm. 19), Bd. 2, 439. 241 [Anm. des Hg. von WA 9: das Klostergebäude, vgl. WA 9, 576.] 242 Brief an Käthe Luther vom 28.7.1545, Nr. 4139, WA.B 11 (149 f), 149, 7 f; 150,21. Vgl. Hausrath, a. a. O., Bd.  2, 490. 243 Zitiert nach Hausrath, a. a. O., Bd.  2, 488. [Es handelt sich um ein Gespräch Luthers mit seinem Famulus. Die Quelle nennt Hausrath nicht; ich habe sie nicht ausfindig machen können. S­ öderblom lokalisiert den Satz irrtümlich in dem zuvor genannten Brief Luthers an seine Frau.] 244 Brief an Käthe Luther (wie Anm. 242), S. 150,27–33.

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Der Brief bewirkte Bestürzung. Der Kurfürst sandte seinen Leibarzt, die Universität Melanchthon und Bugenhagen, die Stadt ihren Bürgermeister zu dem ebenso verdrießlichen wie unentbehrlichen Elias, um bessere Ordnung in der Stadt zu versprechen und alle Maßnahmen, die er wünschte, wenn er nur zurückkehrte. Unterdessen hatte Luther in Merseburg zu besserer Laune gefunden. Der frühere Domherr Georg von Anhalt hatte ihn eingeladen und wurde auf seinen Wunsch am 2. August von Luther als Bischof eingesetzt – Luthers zweite Amtshandlung dieser Art; am 2. Januar 1542 hatte er im Dom zu Naumburg mit Handauflegung und Segnung den auf Wunsch des Kurfürsten gewählten Nikolaus von Amsdorf zum Bischof eingesetzt. Neben dem Kurfürsten waren andere Fürsten, Kirchenmänner, Ratsherren, Adel und eine zahlreiche Gemeinde Zeugen des Aktes gewesen, der nach feierlichen altkirchlichen Zeremonien vor sich ging. Die Abgesandten mussten sich an das Versprechen halten, dass der Magistrat über das Leben auf den Straßen und Lustbarkeiten sorgfältige Aufsicht üben sollte. Aber es war keine Schwierigkeit, Luther mit nach Hause zu bekommen. Er nahm seine rastlose Arbeit auf Katheder, Kanzel und mit der Feder wieder auf, aber auch den vertrauten Umgang mit seinem Freundeskreis. Über den drastischen Ton in seiner letzten Schrift „Wider die Esel in Paris und Löwen“ schrieb er zwar: „Ich bin … wütender auf diese Vierfüßler, als es einem so großen Theologen und einem alten Mann ziemt, doch es ist nötig, den Ungeheuern des Satans entgegenzutreten, selbst wenn man den letzten Atemzug gegen sie aushauchen muss.“245

Doch merkt man das Wohlbehagen an der alten Zorneskraft. Von einem heftigen Umschlag der Gemütsstimmung kann kaum mit Grisar die Rede sein. 246 Der verbitterte Entschluss in Zeitz war eine Episode. Was er in Merse­burg am [118] 25. März an den Leibarzt des Kurfürsten schrieb: „… ich glaube, dass wir jene letzte Posaune sind, welche der Ankunft Christi vorausgeht und sie vorbereitet“, bewahrheitete sich auf seine Weise. 247 Er hatte nicht mehr lange zu leben. Die letzte Vorlesung – über die Genesis – beschloss er vor Weihnachten mit den Worten: „Das ist nun der liber [das Buch] Genesis. Unser Herr Gott geb, das andere nach mir besser machen. Ich kan nit mehr, ich bin schwach, orate Deum pro me [bittet

245 [Brief an Jakob Propst vom 17.1.1546, Nr. 4188, WA.B 11 (263 f), 264,22–24. Die genannte Schrift Luthers ist das Fragment Contra asinos Parisienses Lovaniensesque (1545/1546), WA 54, 447–458.] 246 Vgl. H. Grisar, a. a. O. (S.  43, Anm. 37), Bd. 3, 822 f. 247 Brief an Matthäus Ratzeberger vom 25.3.1545 [­Söderblom datiert ihn fälschlich auf den 6.8.], Nr. 4086, WA.B 11, 59,5 f.

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Gott für mich], das er mir ein gutes, seliges stündlin verleihe.“248 Ein Brief einen Monat später, am 19. Januar 1546, zeigt deutlich den engen Zusammenhang zwischen der persönlichen Todessehnsucht und der eschatologischen Stimmung in Bezug auf die ganze Welt: „Wir erbitten und erwarten jenen Tag unserer Erlösung und des Untergangs der Welt mit ihrem Pomp und ihrer Bosheit. Es geschehe, es geschehe bald und schnell, Amen.“249 Es liegt keine Neigung zur Schwärmerei in dieser Sehnsucht. Es ist die fröhliche Freiheit von der Welt, die sich Ausdruck verschafft mitten in Plagen, Misserfolgen und ungebrochener menschlicher Herzensgemeinschaft. Der Scherz floss frisch, natürlich und liebenswürdiger als je zuvor, gleichzeitig mit zornigen Unverschämtheiten gegen Juristen, Politiker, den Papst, Kardinäle, „lausige … Mönch“ und „die höchste Hure, die der Teuffel hat“, die Vernunft. 250 Die für seine Verhältnisse großartige Hilfsbereitschaft für die Studenten und das innige Gottvertrauen in den Predigten und den Briefen an seine Frau und seine Freunde vertrugen sich gut mit bitterer Klage über die zunehmende Widerwärtigkeit der Welt und Sehnsucht nach einem baldigen Ende. Die Melancholie ließ gegen Ende nach. Die schlimmste Qual, schlimmer als Magenbeschwerden, Steinschmerzen – der Brief an Melanchthon vom 27. Februar 1537 bringt die Lustlosigkeit nach einem Anfall exakt zum Ausdruck 251 – Ohrenschmerzen, Ischias, Durchfall, ja, schlimmer als alles, was alle seine Feinde zusammen ihm antun konnten, ließ seine späteren Jahre in Ruhe; die Angst kehrte nicht zurück. Trotz Beschwerden und Enttäuschung stellten sich also [119] Luthers Worte vom Los eines Christenmenschen an seinem Ende hier auf Erden als wahr heraus, dass es zum Tode hin hell in der Seele wird, wenn er treu ausharrt. Beethoven hat das in seiner letzten Sonate geschildert. Die Auszüge, die ich mitgeteilt habe, sind einer mächtigen, klagenden Symphonie entnommen, die in wechselnder Stärke durch Luthers Leben hindurch ertönt. Umso deutlicher treten die Töne von Gewissheit,

248 M. Luther, Vorlesungen über 1. Mose von 1535–1545 Teil IV (31,1–50,26), WA 44, 825,10–12. [Im Text steht: „der liebe Genesis“. S­ öderblom konjiziert: „die liebe Genesis“. Mir ist ein Druckfehler wahrscheinlicher: „der liber Genesis“, vgl. Anm. des Hg.] 249 Brief an Nikolaus von Amsdorf vom 19.1.1546, Nr. 4189, WA.B 11 (265 f), 266,19–21. [­Söderblom übersetzt am Ende des ersten Satzes: „med dess pomp och ståt“, mit ihrem Pomp und Staat. Doch im Text steht „cum sua pompa et malitia“.] 250 [Vgl. M. Luther, Die Ander Predigt von der Bekerung S. Pauli wider die Mönchen &c., 26.1.1546, WA 51 (135–148), 139,20 f; ders., Predigt am 2. Sonntag n. Ep., 17.1.1546, WA 51 (123–134), 126,32.] 251 Vgl. Brief an Melanchthon vom 27.2.1537, Nr. 3139, WA.B 8, 49 f.

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Trotz und Freude hervor. Nach dem Psalmisten dichtete Luther sein De profundis: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen. Dein gnädig’ Ohren kehr zu mir und meiner Bitt sie öffne; denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor dir bleiben?252

252 [EG 299, 1, nach Ps 130. Schwedische Übersetzung im alten Wallinschen Gesangbuch Den svenska psalmboken, 1819 (Ausg. von 1922), Nr. 182: „Av djupsens nöd, o Gud, till dig / jag ropa må och klaga“.]

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[121] IV. Die Erklärung der Angst bei Luther und anderen [123] Unsere Wanderung durch Luthers Schwermut hat uns gezeigt, dass deren Zusammenhang sowohl mit Krankheit als auch mit anderen Widrigkeiten des Lebens in manchen Fällen deutlich, aber keineswegs wesentlich oder gar die Regel ist. Die Angst brauchte kein äußeres Unglück oder Leiden, um auszubrechen.253 Während der Marterzeit 1527 schrieb Luther mehr als einmal über seine leibliche Gesundheit. Freilich wurde diese Angst sehr wohl, wenn sie am schlimmsten war, auch von äußeren Symptomen begleitet wie Schweißausbruch, Ohnmacht. Wir überlassen es der medizinischen Forschung, Art und Verlauf seiner seelischen Krankheit zu bestimmen. Die Angst findet sich latent oder offen bei jedem Menschen. Aber in diesem Punkt wie auch sonst im Charakter eines Menschen unterscheiden sich die Anlagen bei verschiedenen Individuen voneinander. Die Angst lauert auf eine Gelegenheit, aus ihrem unterirdischen Versteck aufzusteigen und sich zur Geltung zu bringen. Äußere und innere Vorkommnisse können die Seele bloßstellen. Ist die Angst einmal hervorgerufen und zum Ausbruch gekommen, will sie gern ihre Macht behalten, auch nachdem der Anlass für den Ausbruch entfallen ist. Sie saugt sich dann fest an anderen Motiven, insbesondere, bei sittlich empfindsamen und ernsten Gemütern, am Schuldgefühl. Ist der wirkliche Anlass für eine akute Angst entdeckt und geklärt worden, kann der Sache damit irgendwie abgeholfen werden. Wären wir über Luthers Familiengeschichte und erhellende Details aus seiner Lebensweise besser unterrichtet, so könnte vielleicht das eine [124] oder andere in der Geschichte seiner Angst klarer erscheinen. So viel kann man sagen, dass Luthers Leiden hinsichtlich der kritischen Perioden seines Lebens nicht dem gewöhnlichen Verlauf der Präkordialangst [Herzangst] zu entsprechen scheint, sondern sich davon unterscheidet. Doch dürfte sein vornehmliches psychopathologisches Marterjahr 1527 in eine Zeit nicht fern von derjenigen der mit tiefem Schuldgefühl verbundenen melancholia simplex fallen, insofern diese im Alter von 45 bis 55 Jahren aufzutreten pflegt. 254 253 [Vgl. WA.TR 2, 128, 23 (Nr.1550; ­Söderblom schreibt Nr. 150.] 254 Dr. med. Jacob Billström hielt am 14. August 1918 auf dem christlichen Studententreffen in der Sigtuna-Stiftung einen Vortrag, in dem der Zusammenhang zwischen depressiver Ängstlichkeit und Angst mit dem Schuldgefühl sowie d ­ eren wechselseitiger Einfluss auf erhellende Weise behandelt wurde. Die physisch-

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Für Luther war all seine Krankheit ein Werk des Teufels. Er war der Meinung, dass „in allen schweren Krankheiten der Teufel als Urheber mitwirkt.“ Zu diesem Zweck benutzt der Teufel die Mittel der Natur. So wie Gott Mittel für die Erhaltung der Gesundheit benutzt wie Schlaf, Essen und Trinken, so richtet der Teufel durch geeignete Mittel Schaden an. Der Arzt ist daher „vnsers Herr Gots flicker“ für den Leib, „wie wir Theologen für den Geist.“ Die medizinische Kunst ist eine göttliche Offenbarung. Doch die Heilung hängt auch von dem Ausübenden ab. Ebenso bei der Theologie. „Philippus richtet mich mit einem Wort auf; spräche es Eck oder Zwingli, so würde es mich eher niederschmettern.“255 Seine entsetzliche Qual setzte Luther mit anderer Krankheit gleich. Aber sie ist ein geistiges Leiden, schlimmer als jede andere Pein und jede Mühe. „Ich möchte lieber die schlimmsten Krankheiten des Leibes ertragen als diese Ängste des Gewissens.“ „Mein gedanckhen haben mir weher gethan dann al mein arbeitt.“ Nichts hatte ihn dem Abgrund des Todes näher gebracht. Freude ist die Gesundheit der Seele, Gottes Gabe und Gebot, Trübsal die Krankheit der Seele. „Nichts ist schädlicher als Traurigkeit.“ Unaufhörlich begegnet uns bei Luther der Gedanke, dass Gott uns fröhlich haben will. „Vnser Herr Gott hats befolhen, man sol frolich sein.“256 pathologischen Ursachen wurden in dieser Darstellung von dem religiös-sittlichen Moment unterschieden. Die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib lässt sich natürlich nicht in jedem Einzelfall eruieren. Aber die Klarheit, die man durch die Erfahrungen des Arztes und Seelenkundigen gewinnen kann, ist außerordentlich dankenswert. Auf diesem Gebiet ist eine Zusammenarbeit von Ärzten und Seelsorgern zu wünschen. Und mancher kann sowohl um seiner selbst als auch um anderer willen Gewinn daraus ziehen, wenn er eine gewisse Aufklärung über die gewöhnlichen Ursachen der Angst und die Bedeutung von religiöser Zuversicht und Vergebungsglauben für die Erlangung und Erhaltung der Gesundheit der Seele bekommt. [­Söderblom hatte bereits während seiner einjährigen Tätigkeit als Pfarrer an der psychiatrischen Klinik von Ulleråker 1893/1894 einschlägige medizinische Kenntnisse erworben. Hinzu kamen eigene Erfahrungen: Er hatte nach seinem ersten Herzinfarkt 1922 öfters Anfälle von Angina pectoris. Für beides ist Angst ist ein hervorstechendes Symptom. Ob er sich in diesem Vortrag vom Oktober 1917 (vgl. Einleitung S. 15) schon auf eigene Erfahrung bezieht, weiß ich freilich nicht. – Melancholia simplex ist die einfache (d. h. nicht bipolare) Depression.] 255 WA.TR 1, 150 f (Nr.  360); die Zitate 150,27 f; 151,5. 13–15. 256 [Hier hat es offenbar einige Verwirrung in ­Söderbloms Zettelkasten gegeben. Das erste Zitat wird von ihm mit dem zweiten zusammengezogen. Es steht aber nicht dort, sondern WA.TR 2, 61,38 f (Nr.  1347), und überdies nicht als Äußerung Luthers, sondern Hieronymus Wellers. Dass es auch Luthers Auffassung entspricht, ist zwar gewiss, aber sie lässt sich als solche nicht in diesem Wortlaut nachweisen. Das zweite Zitat steht wie angegeben WA.TR 2, 128,23 (Nr. 1550). Für das dritte Zitat nennt er keinen Fundort; es steht WA.TR 5, 117,12 (Nr. 5380) Das vierte Zitat steht, wiederum wie angegeben, in WA.TR 1, 200,5 (Nr. 461). Die übrigen von ihm genannten Stellen WA.TR 1, Nr. 243 und 404 haben mit dem Thema nichts zu tun.]

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„Was den [denn] syt [seid?] ir also sitzent? Seit frölich!“257 „Auch die Traurigkeit des Herzens vor Gott behagt ihm nicht, wenngleich er die Traurigkeit gegenüber der Welt zulässt. Doch er will nicht, das ich gegen yhm betrubt sol sein, [125] so wie er sagt: ‚Ich will nicht den Tod des Sünders‘ [vgl. Ez 33, 11].“258 „Gott will, dass wir fröhlich sind, und er hasst die Traurigkeit. Wenn er nämlich wollte, dass wir traurig sind, würde er uns nicht die Sonne, den Mond und die Früchte der Erde schenken, was er alles um der Freude willen schenkt. Dann würde er es dunkel machen. Er würde nicht mehr die Sonne aufgehen und die sommerliche Wärme zurückkehren lassen.“259

Nun weiß der Teufel nur zu gut, wie er uns die Freude rauben kann. Einen Verbündeten hat der Teufel in unserer eigenen Natur. „Wir haben mer vrsach zu freuden den zu traurigkeit, weil wir auf Gott hoffen, der sagt: ‚Ich lebe, und ihr sollt auch leben‘ [Joh 14, 19]. Aber traurigkeit ist vns angeborn; so kompt der Geist der Traurigkeit, junckher Teufl, auch mit zu, der Herr aber, vnser Gott, helt vns.“260

„… das wir … vns der harten spruch annehmen vnd der schrecklichen exempel, so doch vns allein die promissiones [Verheißungen] gehoren.“261 „… wir lassen Trost gar nicht zu, so verderbt ist unsere Natur.“262 Das sicherste Mittel ist, uns den Glauben einzugeben, dass Gott uns gram sei. Einen Haupttext hat Veit Dietrich am 14. Dezember 1531 aufgezeichnet. Er erwähnt sowohl die Form der Anfechtung als auch Hilfsmittel gegen sie und ihren Nutzen. Wir haben bereits Bruchstücke davon gehört. Ich führe ihn hier im Zusammenhang an. „Dies ist die größte Versuchung Satans, dass er sagt: Gott hasst die Sünder; du aber bist ein Sünder, also hasst Gott auch dich. Diese Versuchung erfahren verschiedene Menschen unterschiedlich. Mir wirft er nicht meine Fehltritte vor, dass ich das Messopfer dargebracht habe, dass ich als junger Mann dies oder das getan habe. Anderen dagegen wirft er das Leben vor, das sie geführt haben. In dieser Schlussfolgerung muss man bloß den Obersatz bestreiten: Es ist falsch, dass Gott die Sünder hasst. Wenn [der Satan] Sodom und andere Beispiele für den [göttlichen] Zorn dagegenhält, so halte du ihm Christus, den Sohn vor, der 257 WA.TR 2, 114,4 f (Nr.  1492). 258 WA.TR 1, 48,6–8 (Nr. 122) [Im Original Deutsch und Latein gemischt]. 259 WA.TR 1, 52,29–32 (Nr. 124). 260 WA.TR 2, 22,37–23,2 (Nr. 1279) [Im Original Deutsch und Latein gemischt]. 261 WA.TR 2, 14,17–19 (Nr. 1263). 262 [­Söderblom zitiert nach Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 264. Dieser zitiert seinerseits sehr frei. Der (lateinische) Satz Luthers steht WA.TR 3, 257,22 f (Nr. 3298a), danach die obige Übersetzung.]

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ins Fleisch gesandt worden ist. Wenn Gott die Sünder gehasst hätte, so hätte er gewiss nicht [126] seinen Sohn für sie geschickt. … Solche Anfechtungen sind uns sehr nützlich und nicht, wie es scheint, das Verderben, sondern eine Lehre, und jeder Christ soll bedenken, dass er Christus nicht kennen lernen kann ohne Anfechtungen.“ „Vor ungefähr zehn Jahren 263 habe ich zum ersten Mal diese Anfechtung der Verzweiflung und des göttlichen Zornes erfahren. Hab darnach rue gehabt, dass ich auch eine Frau heimgeführt habe, so gut tag hett ich, aber später kam [die Anfechtung] zurück.“ „Als ich nun Staupitz fragte, sagte er, dass er jedenfalls diese [Anfechtungen] niemals erfahren habe. ‚Aber‘, fügte er hinzu, ‚soweit ich es verstehe, sind sie für Euch notwendiger als Essen und Trinken.‘ ‚Wer sie nun so erfährt wie Ihr‘“,

fuhr Luther fort, indem er sich an Schlaginhaufen wandte, der zu der Zeit von schweren Angstanfällen heimgesucht wurde, „‚muss sich daran gewöhnen, sie zu ertragen. Yhr solts lernen tragen, quia [denn] das ist der recht christianismus. Wenn der Satan mich nicht so auf die Probe gestellt hätte, so het ich ym nit konnen so feind sein, hett yhm auch nit konnen so schaden thun. Ebenso angesichts eines solchen Überflusses an Gottes Gaben (die ich bekennen vnd sagen mus, das es Gaben Gottes sein, weil sie nicht meine sind) wer [wäre] ich in abgrund der hell durch Hochmut gefallen, wären da nicht die Anfechtungen gewesen. Vnser Herr Gott leret mich also, das sie nit mein sein, sonder sein, denn wenn tentatio [Anfechtung] kompt, so kan ich nit [einmal] eine einzige lässliche Sünde vber winden. So bewahrt also die Anfechtung vor Hochmut und vermehrt zugleich die Erkenntnis Christi und die Gaben [Gottes], denn seit der Zeit, in der ich so angefochten war, hat mir Gott jenen herrlichen Sieg verliehen, dass ich das Mönchswesen, die Gelübde, die Messen und all diese Gräuel überwunden habe. Vnd zwar wie sol es vnser Herr Got anderst machen? Weyl bapst vnd keyser mich nit konnen dempfen, so mus ein Teuffel sein, auf dass nicht die Kraft [127] mangels eines Gegners erschlaffe. Petrus hatt ein fein spruch am Ende [I Petr 5, 9]: ‚Ebendieselben Leiden [gehen über eure Brüder in der Welt]‘, das wirs nit allein sein, sondern viele, die wir gar nicht kennen, leiden überall in der Welt dasselbe.“

„Trotzdem sind wir nicht ohne Trost, sondern unser Sieg bleibt uns und wir werden siegen, denn wir haben die Vergebung der Sünden.“ „Wenn wir daher unsere Sünden fühlen, haben wir keinen Grund uns zu fürchten, doch wer sie nicht fühlt, der hat einen Grund. Es ligt gar daran [kommt darauf an], an der rechten Austeilung [des Wortes der Wahrheit], wie Paulus sagt [II Tim 2, 15], das wir, die wir zuvor in Schrecken versetzt waren, vns der 263 Eine andere Aufzeichnung hat, wie wir schon gesehen haben [s. o., 94]: „vor zwanzig Jahren“.

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harrten spruch annhemen vnd der schrecklichen exempel, so doch vns allein die promissiones [Verheißungen] gehoren. Vnd da sehen wir, wie ein notiger articulus das ist de iustificatione [von der Rechtfertigung], allein um die zu trösten, die angefochten sind. Darumb, lieber Magister, leydts [leidet’s] vnserm Herr Got zu ehren vnd thut im das sacrificium [Opfer]. Solt auch nit weyter bitten um Befreiung, es sei denn nach seinem Wohlgefallen.“ „Es ist uns nützlich, die Künste des Teufels zu kennen. Er nimbt die geringsten Sünden, die kan er so exaggerirn [aufbauschen], das einer nit ways, wo er dafur sol bleyben. Er hatt mich ein mal mit dem Paulo ad Timotheum [den Worten des Paulus an Timotheus] geplagt vnd schir erwurgt, das mir das hertz im leyb zu schmeltzen woldt: ‚Du warst die Ursache dafür, dass so viele Mönche und Nonnen das Kloster verlassen haben.‘ Er nam mir locum iustificationis [die Rechtfertigungslehre] fein aus den augen, das ich nit dran dacht, vnd hielt mir den text fur I Tim 5, 11 über die jungen Witwen, kam mit mir aus der Gnade in eine Disputation über das Gesetz; da hatt er mich blos[gestellt].“ „Pomeranus264 war damals zugegen, dem hielt ichs fur, gieng mit yhm auff den gang. Da begann auch er zu zweifeln, dann er wust nit, das mir so hefftig war angelegen. Da erschrack ich aller erst sehr, must dennoch die nacht [128] mit schwerem hertzen verbeyssen. Am nächsten Tag kam Pomeranus wieder zu mir: ‚Ich bin recht zornig‘, spricht er, ‚ich hab den text allerst recht angesehen.‘ Und es stimmt: Das ist ein lächerliches Argument. Ja, wenn einer bey yhm selb [bei Sinnen] ist, sonst nit ehe [gewiss nicht]. Ein solcher Gesell ist der Teufel. Er lauret allenthalben auf uns. Aber dennoch haben wir Christum, der gekommen ist, nicht um uns zu verderben, sondern um uns zu erlösen. Wenn man auff den sihet, so ist kein ander Gott in himel noch auff erden als Gott der Rechtfertiger und Retter. Wiederum wenn man den aus den augen lest [lässt], so ist auch nirgends kein hulff noch trost noch ruge [Ruhe]. Allein wenn der locus kompt: Gott sandte seinen Sohn, so hat das hertz ruge.“ „Deshalb müssen alle, die angefochten sind, sich Christus als Beispiel vor Augen halten, der auch angefochten wurde; aber es ist yhm seurer worden als Euch und mir. Hatt mich aber offt gewundert, wie es muglich gewest ist, weyl er gewust hatt, das er rein ist. Aber das hatt in [ihn] demutigt, das der Teuffel zu yhm gesagt hatt: ‚Horest du? Du bist der schelk [Bösewichter] gesell. Du bist vnter den buben und bist Menschensohn, solltest du der Ausbund [das Musterbeispiel] sein? Also bist du aller Sünden der ganzen Welt teilhaftig. Du gehörst zu diesem ganzen Fleisch, mit dem du bekleidet bist.‘ – ‚Ja, [aber] ich habe nichts getan.‘ – ‚Schadt nit! Ich finde dich gleich wol hie.‘ Also ist es nichts mit vnser tentatio. Ich hab kein grossere gehabt vnd kein schwerere denn de praedicatione [über die Predigt], das ich dacht hab: Das wesen [Unruhe] richtest du allein zu; ist es nu vnrecht, so bist du schuldig an souil [so vielen] selen, die in infernum faren. In der tentatio bin ich offt dahin gangen in infernum hinein, bis mich Gott zurück264 Johann Bugenhagen, Pfarrer in Wittenberg 1523–1558.

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rief und in der Überzeugung bestärkte, dass es Gottes Wort ist und die wahre Lehre. Aber es kost vil, bis einer zu der consolatio [Trost] kompt.“ „Mit andern kompt er mit der iustitia [Gerechtigkeit]. Der [129] Teuffel wil nur activam iustitiam in vns haben, eine solche Gerechtigkeit, die wir selbs thun; so [doch] haben wir allein passivam, eine … Gerechtigkeit, die uns geschenkt wird, vnd sollen auch kein activam haben. Passivam nu wil er vns nit lassen; so hab ich in der activa verlorn, denn da kan keiner inn [be]stehn. Aber wenn man in [ihn] abweyset vnd sagt: ‚Hier ist der, welcher für die Sünder gekreuzigt ist; kennest du den auch? In seiner Gerechtigkeit lebe ich, nicht in meiner eigenen. Wenn ich gesündigt habe, so anttwort er dafur.‘ Dies ist der beste Weg, den Satan zu überwinden: in und durch das Wort. Der andere Weg ist, dass wir ihn durch Verachtung überwinden, das wir die gedancken ausschlagen, wollen nit dran denken, richten den Sinn auf andere Gedanken 265 , als daß man Kurzweile treibe mit spazieren gehen, essen, trinken, zun Leuten gehe, mit ihnen rede und fröhlich sei, daß man der schweren Gedanken los werde. Das ist auch gut. Davon hat Gerson geschrieben. Es mus also sein. Vnser Herrgot greifft vns redlich an, aber lest vns dennoch nit [im Stich].“ „Wir müssen auch das Unsere tun und unseren Leib pflegen. Für Angefochtene ist Fasten hundertmal schlechter als Essen und Trinken. Würde ich mich [in der Anfechtung] nach meinem Appetit richten, so würde ich drei Tage lang nichts essen. Das ist dann doppeltes Fasten, das ich iss, trinck, vnd dennoch one lust. Wenn die welt das sihet, so sihet sie es an als Trunkenheit, aber Gott wird beurteilen, ob es Trunkenheit ist oder Fasten. Sie werden kriegen die fassten, aber nit wie ich fasste. Darum halt deinen Bauch und Kopf wohl, das hilft auch dem Schlaf. Denn es ist mir so: wenn ich auffwache, so kompt der Teuffel bald vnd disputirt mit mir, so lang bis ich sage: ‚Leck mich in gem A.; Gott zürnt nicht, wie du sagst.‘ Denn mit der quaestio [Frage] vexirt er vns am meysten. Dafur haben wir den thesaurum verbi [Schatz des Wortes], Gott hab lob!“266

[130] Dieser lange Text aus den Tischreden ist nicht stenographisch aufgezeichnet worden. Aber im Großen und Ganzen haben wir es durchaus mit Luthers eigenen Worten zu tun. Das merkt man leicht. Spätere Versionen haben die anstößigsten Wendungen entschärft. Charakteristisch ist, dass die Melancholie ständig mit der Furcht vor Gottes Zorn in Verbindung gebracht und als Werk des Teufels angesehen wird. Einmal, im [vor]letzten Absatz, taucht eine andere Erklärung auf: 265 In Veit Dietrichs Text steht nach „andere Gedanken“ nur: „an Tanz oder ein hübsches Mädchen“. 266 WA.TR 1, 61–67 (Nr. 141). [­Söderblom folgt in erster Linie der Fassung Veit Dietrichs (S. 61–64), greift aber gelegentlich zu der danach abgedruckten, größtenteils von diesem abhängigen Version Schlaginhaufens, ohne freilich dessen Irrtümer zu reproduzieren. Vgl. dazu oben, Anm. 144. Ich richte mich selbstverständlich nach­ Söderbloms Entscheidung, verzichte jedoch auf Einzelnachweise. D. Hg.]

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Gott setzt uns zu. Sonst wird an der Vorstellung von der Hinterlist des Teufels festgehalten, mit der er die arme Seele auf Abwege führt und ihr den Trost des Werkes Christi raubt, und das Werk Christi wird sehr massiv formuliert, um wirklich Eindruck zu machen, wenn die Seele in Not ist. Es spiegelt sich [darin] eine Unruhe, die dem Reformator vorbehalten war und an seine gefährlichen Neuerungen in der Kirche anknüpfte. Die Anfechtung heftete sich an einen so dankbaren Stoff, und die Bibeldeutung des Teufels kam ihr dabei zu Hilfe. Gegen die Drohung des Gesetzes und die Anklagen des Gewissens gibt es ja den Trost des Evangeliums. Doch die List des Bösen besteht darin, Gesetz und Evangelium zu vertauschen. „Des Teufels hoheste Kunst ist, daß er aus dem Evangelio kann lauter Gesetz machen. Wenn ich den Unterscheid beider Lehre wol könnte fassen, so wollt ich alle Stunde zum Teufel sagen, er sollt mich (mit Züchten [Verlaub] zu reden), etc. lecken. Denn wenn er mir gleich aufrückete meine Sünde, so spreche ich zu ihm: Wie denn, soll man darüm das Evangelium verleugnen? Noch lange nicht! Aber disputire ich mit dem Teufel davon, was ich gethan und gelassen hab, so bin ich schon dahin und verloren. Aber antworte ich dem Teufel aus der Lehre des Evangelii und halte ihm für die Vergebung der Sünde, so läßt er mich zu Frieden und gehet uber hin, und ich behalte das Feld. Wenn der Teufel aber einen auf das Thun und Lassen bringet, so hat er gewonnen; es sei denn, daß Gott einem sonderlich helfe und einer sage: ‚Ei, wenn ichs gleich gethan hätte, so muß ich dennoch [131] durch die Vergebung der Sünde selig werden, denn ich bin getauft und hab das Abendmahl empfangen und bin von den Sünden absolviret.‘ … Wenn man alleine bei dem Gesetz bleibt, so ist man bald dahin, denn der Teufel schläget einem das Verbum auf den Kopf; aber diese Distinction die thuts alleine, daß man sage: ‚Gottes Wort ist zweierlei; eins, das schrecket, und das ander, das da tröstet.‘ Da spricht denn der Teufel: ‚Gott spricht, daß du verdammet sollt sein, denn du hast das Gesetz nicht gehalten. ‚ Darauf sollt du wieder antworten, daß Gott auch gesagt hab: ‚Er wolle nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe‘ [Ez 33, 11]. Item: ‚daß seine Gnad uberschwenglich reicher sei denn die Sünde‘ [Röm 5, 20]. … Aber wer kann in praesenti tentatione [wenn die Anfechtung gegenwärtig ist] dahin kommen? Es wird dem Herrn Christo selbst sauer und schwer im Garten am Oelberge … Nu, Gott hat uns durch Sanct Paulum eine tröstliche Verheißung gegeben … Er läßts aber gleichwol oft mit einem also sehr auf die Hefen und Neige [zum Äußersten] kommen, daß einer nicht mehr kann.“267

Es sind „des Teufels List und behende, tückische Griffe …, daß er uns … das Gesetze pflegt einzublasen … und … eine rechte Hölle [zu] mache[n]“, „daß mir die [ganze weite] welt zu enge wird …“ Der Teufel weckt in der 267 WA.TR 1, 278,16–26; 278,49–279,4. 8–13 (Nr. 590).

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Seele mittels des Gesetzes die Einbildung, dass „Christus ihr zürne …“ Auch in den Evangelien und in Christi Mund findet sich nämlich Gesetz. Der Teufel „ergreift etwa einen Spruch aus der heiligen Schrift oder ein Dräuwort Christi …“ Damit versetzt er „unserm Herzen flugs in einem Hui und ehe wirs gewahr werden, so einen harten Stoß …“, dass wir wohl tausend heilige Eide darauf schwören könnten, „er sei selbes der rechte Christus, der uns solche Gedanken eingibt, und ist doch der leidige Teufel.“ Auf diese Weise „[b]eschmeißt und vergiftet [der Teufel] also das reine und gewisse Erkenntniß Christi mit seinem Gift …“268 Das Gesetz ist gut für gesunde Seelen. Aber „wenn jemand sich in Anfechtung oder bei Angefochtenen befindet, so schlag er nur Mosen tod und werffe alle stein auff in [ihn], [die er ergreiffen kan] …“269 Man braucht bloß diese Auslassungen zu lesen, um zu verstehen, was es für Luther bedeutete, zwischen Gesetz und Evangelium [132] unterscheiden zu können. Nichts achtet er höher in der Theologie. Ein guter Theologe ist nur, wer versteht, was mit Gesetz und Evangelium gemeint ist. Doch meinte Luther damit nicht eine theologische Meisterprüfung, sondern die Kunst einer gepeinigten Seele, sich gegen die Verzweiflung zu wappnen. Es ging für Luther um kein noch so dringendes theoretisches Interesse, sondern um Sein oder Nichtsein für seine eigene Seele. Einzig im Zusammenhang mit der Melancholie wird Luthers Rede von Gesetz und Evangelium verständlich. 270 „Wer es gut versteht, das Evangelium vom Gesetz zu unterscheiden, der soll Gott danken und wissen, dass er ein Theologe ist. Ich jedenfalls habe es in der Anfechtung gewiss noch nicht so erkannt, wie ich gesollt hätte. Beides ist so zu unterscheiden, dass du das Evangelium in den Himmel und das Gesetz auf die Erde setzest“,

268 [Von S­ öderblom zit. als: Erklärung des Spruches St. Pauli Galat. 2, 4.5 (Predigt 1538), E. A.² 20/I (145–171), 161. In WA dagegen stehen die zit. Sätze in den Tischreden, nach denen ich mich hier richte: WA.TR 6, 88,35–39; ­89,4–8.11 f (Nr.  6629) und 207,18 f (Nr.  6811); „dass mir die Welt zu enge wird“ steht WA.TR 5, 406,12 f (Nr.  5945); die Wendung „dass Christus ihr zürne“ habe ich so nicht gefunden. Wer die zitierten Sätze aus Aurifabers Tischredensammlung zu der in EA² überlieferten angeblichen Predigt mit der merkwürdigen Überschrift kompiliert hat, ist mir nicht bekannt. D. Hg.] 269 [WA.TR 1, 501,19–21 (Nr. 990 von 1530).] Vgl. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 273. [Dieser weist in einer Anmerkung auf den Zusatz Schlaginhaufens WA.TR 2, 75,27 f (Nr.  1371) hin: „wenn er aber wider gesundt wirt, so soll man im legem predigen.“] 270 Vgl. WA.TR 1, 513,30–34 (Nr. 1018b)

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so wie Gott das Licht von der Finsternis, den Tag von der Nacht geschieden hat. 271 Man versteht Luthers ständige Predigt vom Evangelium gegen das Gesetz, von der Rechtfertigung allein aus Glauben gegen die Werke nicht, wenn man keinen Einblick in seine innere Welt bekommen hat – oder in eine ähnliche Gemütslage. Die Angst suchte ihn am empfindlichsten Punkt heim. Weshalb solche Unruhe, oft zur Angst gesteigert? Antwort: Gottes Missfallen. Aber die Verheißungen der Schrift? Antwort: Lies sie, sie verdammen dich, denn du hast ihre Forderungen nicht erfüllt. Der Teufel entwindet der armen kämpfenden Seele die Waffen aus der Hand und richtet sie gegen sie. Er verdreht die Aussagen der Schrift, so dass sie zur Richterin wird. Wer kann da standhalten? „Es gibt keinen Menschen in der Welt, der zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden könnte. Wir lassens vns wol geduncken, wen wir horen predigen, wir verstehens; aber es felet weit. Allein der Heilige Geist versteht sich auf diese Sache. … Ich hett gemeint, ich kundt es, weill ich so lang vnd uill [viel] daruon geschriben, aber wenn es an das treffen gett [wenn es darauf ankommt], so sich [sehe] ich wol, das es mir weitt, weitt felet“ (Dezember 1531).272 Der böse Geist ist ein Vergrößerer unserer Sünden. Er macht einen Splitter zum Balken. 273 Dem [133] empfindsamen Gewissen wird vor allem angst und bange, sogar vor Gottes liebevollstem Erbarmen. Das Wort schreckt und verdammt, es wird „Gesetz“

statt Evangelium. „Ich halt, Paulus sei im selb [selbst Paulus sei ihm, Gott bzw. seinem Wort] feind gewesen, das er nicht hat konnen gleuben, wie er gern hett gewolt. Wenn ich denckh an die Größe der Majestät und Barmherzigkeit Gottes, so erschreckh ich selbst daruor [davor], das sich Gott so hoch hett herab lassen.“274

Wir hörten in Veit Dietrichs langer, auch von Schlaginhaufen angeführter Niederschrift vom 14. Dezember 1531, wie ein Bibeltext Luther erschrecken konnte. Es handelte sich um I Tim 5, 11–12, nach welcher Stelle Witwen dem Gericht anheim fallen, wenn sie ihr Treuegelöbnis zu Christus brechen. Hatte diese Stelle einen Bezug zu den Nonnen, die das Kloster verlassen hatten? Luther berichtet: „Er nam mir [die Rechtfertigungslehre] fein aus den augen, das ich nit dran dacht, vnd hielt mir den [erwähnten] text fur …, kam mit mir aus der Gnade in eine Disputation über das Gesetz“ [s. o., S. 130). Da war Luther hilflos. Erst am folgenden Tag sprach Bugenhagen das entscheidende Wort. 271 In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius [1531] 1535, WA 40/I, 207,17– 23 (das Zitat Z. 17–20). 272 WA.TR 2, 3,20–23; 4,2–4 (Nr. 1234). 273 [Vgl. Mt 7, 3.] 274 WA.TR 2, 5,3–6 (Nr. 1237).

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Es war kein Zufall, dass Johannes Schlaginhaufen, der in den Jahren 1531 und 1532 an Luthers Tisch aß, der Nachwelt besonders kraftvolle und zu Herzen gehende Lutherworte über den Kampf gegen Kleinglauben und Verzweiflung bewahrt hat. Denn er litt selbst unter dergleichen Anfechtungen. Am Silvesterabend 1531 bekam er einen Ohnmachtsanfall. Luther sagte: „Der Herr schelte dich, Satan!“ Den Kranken ermahnte er, sich an derlei Anfechtungen zu gewöhnen und sich nicht zu fürchten, da auch David und Luther selbst oft das Gleiche erfahren hatten. Schlaginhaufen klagte: „O, meine sunde!“ Luther hielt ihm vier Zeichen vor, an die er sich halten sollte275: Taufe, Absolution, Abendmahl, tägliches Gebet und Anrufung, und fügte hinzu: „Ob vns aber die tentationes ein wenig wehe thun, schadet es [doch] nichts.“ „Selbst wenn du die Sünden … aller Gottlosen hättest, so überwindet der Glaube an Christus sie doch alle. Ach, es mangelt vns allein am glauben. [134] Ihr müsst mit dem Satan nicht über das Gesetz disputieren, sondern über die Gnade, denn der boswicht kan euch aus einer laus ein kamel machen. Satan sucht die Frommen mit den trivialsten Anfechtungen heim. Die schweren Anklagen der Verachtung und Lästerung des Namens Gottes, der Schwäche des Glaubens und der erkalteten Liebe erhebt er nicht gegen uns, sondern er belästigt uns mit kleinen und erdichteten Sünden. Er wirft vns nur mit schrepeln [Steinchen], und trotzdem fürchten wir ihn so sehr, als [ob] er vns mit werckstucken [Quadersteinen] vnd heusern wurff. … er vexirt vns nur mit peslein [kleinen Bissen? kleinen Bosheiten?]. Gott wil im die ehr nicht geben, dass er uns mit wirklichen Sünden mürbe machen sollte.“

In diesem Moment dachte Luther an Gewissensskrupel. Doch bei anderen Gelegenheiten spürte er, wie wir gehört haben und weiterhin bedenken sollten, die Versuchung zu schwersten Leugnungen und Lästerungen. Schlaginhaufen hatte sich indessen nicht beruhigt. „Ach lieber Herr Gott, der geringste Teufl ist stercker den die gantze welt!“ Luther entgegnete: „Tröste dich damit, dass viele Engel mit uns sind, deren geringster stärker ist als alle Teufel. Der Satan ist schrecklich wütend auf uns. Wenn wir den Papst anbeteten, wären wir ihm die liebsten Kinder, lebten in Frieden, würden zu Kardinälen ernannt. Du bist nicht der Einzige, der auf diese Weise angefochten wird. Ich bin ir [d. h. der Anfechtungen] gewont, und Petrus und Paulus haben sie verspürt. …Die Kirche leidet in unterschiedlicher Weise entsprechend der Verschiedenheit ihrer Glieder. Schwache erleiden Geringes, wir erleiden Tödliches. Man muß sich fur dem boswicht nicht furchten.“ 275 Ich ergänze diese nach einer ähnlichen Ansprache an Weller WA.TR 2, 28, Anm. 4. Vgl. S. 30, Z. 20 ff und WA.TR 1, 555 (Nr. 1113).

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Der Einzelne soll sich nicht eigenen hohen Spekulationen hingeben, sondern sich mit der Gemeinde vereinigen und aus dem Gebet Trost schöpfen. Im Übrigen „sollt ihr ganz fest glauben, was ich [Luther] oder ein ander diener redet, solt ir gewislich glauben, das es Gott selber zu euch gesagt hatt. Denn ich habe die Vollmacht und den Auftrag Gottes, zu trösten und zu euch zu sprechen. Darum glaubt fest meinen Worten. O, wie ein fein ding ists um die beicht vnd absolutio!“

Nach diesen Worten ging Schlaginhaufen beruhigt nach Hause. 276 [135] Der gleiche Gedankengang kehrt immer wieder. „Der Teufel hat von Anfang der Welt diesen Artikel angefochten“, welcher der einzige „Artikel und Regel in Theologia“ ist, „nehmlich rechter Glaube und Vertrauen auf Christum.“277 Satan wird „die besten [Werke] anklagen. Da mus einer gewis sein.“278 „Vor allem muss man darauf dringen, dass die Gewissen in allen Dingen gewiss und sicher sind. Denn wenn auch nur ein einziger Zweifel bleibt, steht auch alles andere nicht mehr fest.“279 Wenn es sich so verhält, kann niemand es vermeiden, zu schwanken. „… ob woll ein christ auch dabei [d. i. beim Glauben an Christus] bleibet bis inn todt, doch strauchelt er offt vnd beginnet zu zweiffeln …“280 Die unberührte Sicherheit ist das Kennzeichen der Schwärmer. Doch unaufhörlich schärft Luther sich selbst und anderen die Pflicht ein, dem Satan nicht nachzugeben. Er selbst musste, wie wir gehört haben, den Teufel mehr als einmal anschnauzen, wenn dieser ihn bis ins Schlafzimmer hinein verfolgte und ihn des Nachts am Schlafen hinderte. 281 Die List des Teufels spielt Gott selbst gegen die innere Ruhe des Menschen aus. Das geschieht auf zweierlei Weise. Wir haben bereits gesehen, wie die Worte der Schrift zur Anfechtung dienen. „Wenn er [der Teufel] einwendet, ‚Aber das Gesetz ist auch Gottes Wort‘, so antworte du: ‚Gottes Wort ist nur die göttliche Verheißung‘, denn es spricht: Lasset mich euren Got sein. Neben dem gibt er auch legem, aber zu anderem Zweck.“ „Das Trachten des Teufels geht vor allem darauf, uns den Artikel von der Vergebung der Sünden auszutreiben …“282 Luthers Formulierungen steigern sich manchmal bis dahin, dass der Angefochtene mit Gott selbst

276 Dieser und der vorige Absatz nach WA.TR 2, 28–30 (Nr. 1289). 277 WA.TR 2, 141,1 f. 5–8 (Nr. 1583). 278 [WA.TR 1, 461,25–462,1 (Nr. 912).] 279 Brief an Nikolaus Hausmann vom 17.12.1533 (Nr. 2074), WA.B 6, 562,14–16. 280 [WA.TR 5, 248,43 f (Nr.  5568).] 281 Vgl. WA.TR 1, 217,38–42 (Nr. 491). 282 WA.TR 1, 289,10–13 (Nr. 612); WA.TR 1, 461,21 f (Nr.  912).

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in Streit liegt. Ein Christ muss seiner Sache völlig sicher sein, so dass er „stehen könne in aller Anfechtung und dem Teufel und allen seinen Engeln, ja Gott selber ohn alles Wanken antworten.“283 Hier geraten wir in das Grenzgebiet zwischen Anfechtung und Schuldgefühl, das wir später näher betrachten werden. Doch der Teufel vermag die Sache noch weiter zu treiben. Gibt [136] es Gott? Ist Gott gut? Ist Gott Gott? Solche entsetzlichen Zweifel waren­ Luther nicht fremd, insbesondere in den Zeiten der Schwermut. Der Teufel „hat mich auch in verzweifelung bracht, das ich nicht wuste, ob ein Gott were …“284 Es gab Gedanken und Anfechtungen, aus denen er herausgekommen war, andernfalls wäre er „darinn ersoffen vndt langst in der hellen.“ Solche „Teufflische gedancken machen zuletzt … vorzweifeldte leuthe“ oder „Gottes verechter [vndt feinde].“285 Der Teufel „gibt dem Herzen des Menschen böse Gedanken ein und hält das Denken gefangen.“ „… ein gewaltiger Geist ist er … vnd scheust scheutzliche gedancken ins hertz: Hass gegen Gott, Lästerung und Verzweiflung.“ Zwar gibt es Heilung für die Versuchungen des Fleisches, die im Papsttum die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schlimmer steht es [jedoch] mit der Versuchung betreffs der Lästerung und des Gerichts Gottes, wo wir „weder unsere Sünde erkennen noch Heilmittel kennen“, ein spätes Wort aus dem Jahr 1540.286 Luther vergaß „Alles, was Christus und Gott ist“, wenn er in solche Gedanken geriet: „so halt ich Gott für einen Bösewicht und Stockmeister.“287 Während des Aufenthaltes auf der Coburg hatte Luther den Eindruck von einer „geradezu göttlichen Majestät“ des Teufels. 288 Am schlimmsten war es, „do man nicht weiß, ob Gott Teuffel oder der Teuffel Gott ist.“289 Des Nachts waren derartige Angstanfälle schlimmer als am Tage. Doch auch am Tage konnte es so weit kommen, dass sich Selbstmordgedanken einstellten, wenn er ein Messer in der Hand hielt. Später, im Jahr 1532, klagt Luther darüber, dass so viele vom Teufel mit Anfechtung und Verzweiflung geritten und gequält werden, so dass sie wegen der großen Angst sich erhängen oder sich auf andere Weise das Leben nehmen.

283 [WA.TR 6, 156,26 f. 36–38 (Nr. 6734).] 284 [WA.TR 1, 535,3 f (Nr.  1059).] Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 270. 285 Brief an Graf Albrecht von Mansfeld vom 23.2.1542, Nr. 3716, WA.B 9 ­(626–629), 627,24–28. 286 WA.TR 4, 660,22 f. 28–30; 661,11 f (Nr.  5097). 287 WA.TR 2 (227 f), 228,9 f (Nr.  1820 von 1532). 288 Brief an Melanchthon vom 12.5.1530, Nr. 1536, WA.B 5 (316 f), 317,24 f. 289 WA.TR 5, 600,11 f (Nr.  6317).

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Eine solche Gemütsverfassung war in Luthers Kreis nicht unbekannt. Grisar stellt Aussagen über Melanchthon, Spalatin, Justus Jonas und andere zusammen. 290 Wir haben die Schwermut bei Hieronymus Weller, Nikolaus Hausmann [137] und Johannes Schlaginhaufen kennen gelernt. In dieser Frage muss man eine Unterscheidung treffen, die wir bereits in Luthers eigener Seelengeschichte durchzuführen versucht haben. So litt Melanchthon an Verzagtheit, Zaudern, Misserfolgen oder an der Gewalt, die Luther unbewusst auf seinen geliebten und bewunderten Helfer ausübte, wenn er den Humanisten gegen seine Natur zwang, ein Werkzeug der Religionserneuerung zu werden – wir fragten uns, ob es aus einem gewissen Gefühl für diese Gewaltausübung war, dass Luther ihm in seinem Testament in Gotha eine Bitte um Vergebung sandte. 291 Soweit man es nach zugänglichen Quellen beurteilen kann, hat Melanchthon bei dem Heros der Religion sowohl terrores conscientiae als auch andere Anfechtungen beobachtet und intellektuell begriffen, sie aber niemals selbst erlitten – ebenso wenig wie Erasmus. Dagegen treten z. B. bei Weller und Schlaginhaufen typische Fälle von Melancholie auf. Grisars Vermengung beruht auf der Erklärung, die er, freilich in viel umsichtigerer und besser begründeter Form als die meisten seiner katholischen Vorgänger, für Luthers Anfechtungen gibt. Die Anlage zur Schwermut bei Luther bleibt ihm keineswegs verborgen. Und die vulgär­ katholische Meinung, dass Luther selbst sein Lebenswerk verurteilt habe, wird von Grisar auf Grund der überwältigenden Bezeugung des Gegenteils abgewiesen. 292 Doch die Pointe von Luthers Seelennot wird von Grisar in sein Gewissen gesetzt, das nicht anders gekonnt habe, als für die Zerstörung, die er in Gottes Weinberg angerichtet habe, Reue zu empfinden, wenngleich es habe vermeiden können, dies vor sich selbst und anderen offen zuzugeben. Wäre Luther bei der reformatorischen Sendung geblieben, die er mit den edleren Geistern der Kirche aller Zeiten teilte, für die ihn Gott jedoch mit besonderen Gaben des Verstandes und des Herzens ausgestattet habe, wäre er also gegen den Verfall der Kirche in Leben und Predigt eingeschritten, hätte sich jedoch nicht an der Lehre der Kirche und ihren [138] heiligen Institutionen vergriffen, so hätte sein Gewissen ihn in Ruhe gelassen. Er hätte dann gelernt, die „beunruhigenden Mahnungen des Gewissens“, die zum Guten führen, „von den Einsprechungen des bösen Geistes“ zu unterscheiden. 293 Doch Luther sei in seiner Vermessenheit so weit gegangen, dass er Anspruch auf Heilsgewissheit erhob – ein 290 Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 55, Anm. 60), Bd. 2, 555–563. 291 S. o., S.  66 f [des schwedischen Originals]. 292 Vgl. H. Grisar, a. a. O. (S.  43, Anm. 37), Bd. 3, 312–314. 293 Vgl. H. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 300.

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für die Kirchenlehre neuer und anstößiger Grundsatz. Er habe in unbelehrbarem Zorn gegen das Papsttum gewütet. Die Stimme des Gewissens habe er dadurch zum Schweigen gebracht, dass er alle innere Unruhe auf den Teufel geschoben und darin eine besondere Erziehung zur Demut und eine Besiegelung seiner Berufung gesehen habe. Damit wird sein krampfhaftes Pochen auf Glauben und Gewissheit auch gegen Zaudern und Zweifel erklärt. Man müsse nach Luther trotz allem, was passiert, glauben, dass man wirklich den Glauben hat, obwohl man meint, dass er einem fehlt, und darüber verzweifelt. Auf diese Weise habe Luther sich verhärtet. Mit den Jahren sei es ihm tatsächlich gelungen, wie die Erfahrung auch in anderen Fällen zeige, sein Gewissen im Großen und Ganzen einzuschläfern. Aber Luthers „‚Agonismen‘ und die ‚Nachtkriege‘ sind und bleiben erschütternde Worte, die Luther zur Bezeichnung der Kämpfe mit seinem Gewissen hinterlassen hat.“294 Diese Auffassung sollte auf einfache Weise das Problem erklären, das uns beschäftigt. Doch sie ist wissenschaftlich unhaltbar. Zwar kommt bei Luther, wie wir gesehen haben, neben einem zuversichtlichen Vertrauen in den großen Momenten eine brennende Sorge um dessentwillen vor, was er, ein geringer Mensch, sich zu tun erkühnt hat. Neben Trotz steigen Zaudern und Zweifel auf. Hatte er Recht? Am 14. Dezember 1531 berichtete er bei Tisch über seine Anfechtung auf Grund seiner Verkündigung, durch die er gegen seinen Willen so viel Auftrieb verursacht, vielleicht all diese Seelen ins Verderben geführt hatte. Insbesondere in Luthers späteren Jahren ist kein Mangel an wehmütigen oder düsteren Aussprüchen über Verwilderung und Unordnung, die das Werk des Evangeliums in Gefahr brachten. Ist nicht die Welt hoffnungslos verloren? „… das … die reine lere [139] allenthalben untergehet.“295 Welchen schöpferischen Neuerern und Bahnbrechern ist Derartiges erspart geblieben? Doch diese Gemütsschwankungen stehen in der Regel nicht in Zusammenhang mit seinen Anfechtungen. Insbesondere klagte Luther lautstark über die verheerenden Wirkungen des entfesselten Sturmes im Bauernkrieg, ohne dass dadurch ein Anfall von Angst verursacht wurde. Als die Angst kam, suchte sie sich eine Erklärung und meinte sie vielleicht manchmal in dem Unrecht, das gegen das Bestehende begangen wurde, zu finden. Aber eine solche Motivierung der Schwermut gehört auf jeden Fall zu den Ausnahmen. Die Verdüsterung der Seele wurde von Luther, soweit wir sehen können, in der Regel unmittelbar auf seinen Gnadenstand bezogen, nicht auf sein Auftreten. Seine Traurigkeit über den Zustand bei den Evangelischen und sein Pessimismus fielen hauptsächlich in eine Zeit, in der die Anfechtungen ihre 294 H. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 316. 295 M. Luther, Wochenpredigten über Matth 5–7, WA 32, 474,31.

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Heftigkeit eingebüßt hatten; früher quälten ihn „Nachtkrieg“ und „tentationes“ auch ohne jeglichen erkennbaren Zusammenhang mit seiner Opposition gegen die Kirche. Nichts ist offensichtlicher in Luthers Lebensführung, als dass seine Glaubensgewissheit, d. h. das vom katholischen Standpunkt aus bedenkliche Neue, die vornehmliche Hilfe gegen die Seelennot bei ihm selbst und anderen, die Trost brauchten, gewesen ist. Schon eine gerechtere Einschätzung der Mystiker und ein Vergleich mit den Seelenkämpfen der Heiligen verbessern die Möglichkeit, Luther zu verstehen. Grisar hat kein Verständnis für „das stete unruhvolle Ringen Luthers nach dem Glauben“. Was sollen wir sagen? Hartmann Grisar schreibt: „Man kannte kein Hangen und Bangen, da man von Jugend auf an der Hand der Kirche geführt war, die für die unzureichenden Kräfte der menschlichen Erkenntnis infolge ihrer eigenen göttlichen Beauftragung und des Mitgiftes ihrer Untrüglichkeit einen kostbaren Ersatz darbot. Man suchte nicht sein Heil in einer unerreichbaren Zuversicht auf Zurechnung der Gerechtigkeit Christi. Welchen Kontrast bildete hiermit das stete unruhvolle Ringen Luthers nach dem Glauben!“296 Man fragt sich angesichts dieser Darstellung [140] der Normalfrömmigkeit, deren Fehlen bei Luther Grisar mit der Gewissensunruhe wegen des neuen (alten) Evangeliums erklärt: Wie hatten Paulus und Augustinus in der Kirche Platz finden können? Jenes kirchliche Durchschnittsidyll passt wahrlich schlecht zu dem Meer in Luthers Seele. [Dort] konnte es stürmen und donnern. Aber es zeigt dem Betrachter auch eine Tiefe, eine Ruhe, eine Kraft, die mit dem Maß nicht zu erfassen sind, das Grisar anlegt. Wer nicht ein gewisses Verständnis für die innere Not der Heiligen hat, der kann ja auch Luther nicht verstehen. Der Heiland selbst gerät hoffnungslos ins Hintertreffen. Wie konnte er am Kreuz schreien: ‚Eli, Eli, lama sabachthani?‘ nachdem er in der Bergpredigt die Seinen ermahnt hatte, alle Sorgen auf Gott zu werfen? Luther verbarg nie seine Schwäche im Glauben – ebenso wenig wie dessen heldenhafte Kraft. Die Aufrichtigkeit wurde in dieser Frage wie auch sonst übel aufgenommen von denen, die kein Verständnis für ursprüngliche Religion aufbringen. Man braucht nicht Luthers vertrauliche Mitteilungen zu lesen, um zu verstehen, dass eine so waghalsige und durchgreifende prophetische Wirksamkeit wie die seine mit ihren Auseinandersetzungen und Risiken in einem überempfindlichen Herzen Unruhe und Rückschläge hervorrufen musste. Es ist nicht ratsam, ohne weiteres von Krankheit zu sprechen. Wir wissen wenig über die inneren Lebensbedingungen bei einem solchen Menschen wie Luther. Mehr als einmal spricht Luther davon, wie der Teufel ihn mit Zweifeln an seiner Sendung und seinem Werk plagte. Doch die 296 H. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 309.

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Angst saß, wie wir gefunden haben, tiefer in seiner Natur. Und fragen wir nach deren religiöser Motivierung, so dürfte die beste Antwort in dem kurzen Brief stehen, den Luther im Jahre 1540 „an den fieberkranken und angefochtenen“ Pastor Jonas schrieb. Er handelt von der Anfechtung, die in dem Gefühl der Unwürdigkeit besteht, und lautet: „… wie man dem Teufel antworten sollte wider die Anfechtung unsrer Unwürdigkeit, nehmlich also: [141] Ich bin unwürdig, aber war würdig, von Gott, meinem Schöpfer geschaffen zu werden. Ich war würdig, vom Sohn Gottes und dem Heiligen Geist belehrt zu werden. Ich war würdig, dass mir der Dienst des Wortes anvertraut wurde. Ich war würdig, dass ich in so großem Unglück wandle. Ich war würdig, dass mir geboten wurde, solches zu glauben. Ich war würdig, dass mir bei Strafe ewigen Zornesgerichts untersagt wurde, in irgendeiner Weise daran zu zweifeln.“297

Hinsichtlich der Tatsache selbst, des überwiegenden Vorkommens der Anfechtung im evangelischen Lager, können die Polemiker, die darin einen Beweis für Verirrung sehen, sich auf Luther berufen. Schon er hat ja mehr als einmal die Anfechtungen als besondere Kennzeichen der evangelischen Christen gedeutet. Aber er sah darin einen Trostgrund, einen Beweis für die Wahrheit der neuen Richtung und die geistliche Vollmacht von deren Vertretern. Wir werden dieses Urteil besser verstehen, wenn wir Luthers Maßnahmen gegen die Anfechtungen untersuchen. Man braucht sich kaum darüber zu wundern, wenn der Bruch mit dem Hergebrachten empfindsame Seelen aus dem Gleichgewicht brachte. Aber es gibt Grund zu der Vermutung, dass Angst und Schwermut zur allgemeinen Stimmungslage der Zeit gehörten, unabhängig von der Konfession. Wie es sich damit auch verhalten mag, so sticht die seelische Not bei Luther doch als etwas für ihn Eigentümliches hervor. Dessen war er selbst sich bewusst. Doch durch die geistige Autorität, die seine Persönlichkeit 297 [­Söderblom zitiert nach Enders, 13, 153, der den Text (152–154) als Brief an Jonas vom 5.8.1540 deklariert. Es ist jedoch nicht sicher, ob wir es tatsächlich mit einem Brief zu tun haben, weshalb der Text auch nicht in die Briefsammlung der WA aufgenommen wurde. Die Hg. von WA 51 (a. a. O.) und WA.TR 4 (544, Anm. 12 u. 13) haben es wahrscheinlich gemacht, dass es sich ursprünglich um eine Eintragung in Luthers Handpsalter handelt. Von dort aus ist sie in Lauterbachs Sammlung der Tischreden geraten, nach denen sie hier zitiert wird: WA.TR 4, 545,16 f (die Einleitung, auf Deutsch) und 545,17–24 (der eigentliche Text, ursprünglich Lateinisch), wie es S­ öderbloms schwedischer Übersetzung entspricht. Dabei ist zu beachten, dass ­Söderblom die bei Luther durchgängige Wendung „Ich bin unwürdig“ nur beim ersten Mal wiedergibt.]

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gewann, entstand ein unbewusstes Streben, ihn nachzubilden. Es wurde für die evangelische Frömmigkeit zu einer heiklen Frage zu wissen, in welchem Maß Luthers Anfechtungen auch für seine Nachfolger notwendig waren. Ich zweifle nicht daran, dass die Melancholie in seinem Kreis in mehr als einem Fall eine unter begünstigenden Voraussetzungen eintretende Auswirkung seiner eigenen Erfahrungen gewesen ist. In seiner Aufrichtigkeit sprach Luther alles aus, da er vor allem [142] Heuchelei, Künstelei und Unwahrhaftigkeit selbst in ihren subtilsten Formen fürchtete. Daher hat er sich selbst ohne Vorbehalt gegeben – wenn man so will: preisgegeben. Doch es gibt eine Grenze, nicht für die Aufrichtigkeit, aber für die Möglichkeit auszusprechen. Eines sucht man bei Luther vergebens. Was rührte sich in seiner Seele in den schwärzesten Augenblicken? Andeutungen lassen uns die Verlassenheit und die quälenden Gedanken der Seele ahnen. Aber sie sind so beschaffen, dass er nirgends daran gedacht hat, sie anders als in Andeutungen auszusprechen.

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[143] V. Heilmittel gegen die Schwermut [145] Wo Hilfe suchen gegen die Schwermut? Vornehmlich bei Gott im Gebet und im Wort und in der Überzeugung vom satanischen Ursprung der Anfechtungen. Man soll auch an die Brüder im Leiden denken. Sie sind in der Schrift zu finden: die Psalmisten, Propheten, Hiob, Jesus,­ Petrus, Paulus. Sie sind unter den heiligen Männern der Kirche zu finden, ein ­Tauler, Gerson und andere. Das helfende Wort begegnet der Seele nicht nur in Bibel und Sakramenten, in anderen guten Büchern und in der kirchlichen Verkündigung, sondern auch sonst in dem Zuspruch der Menschen im Namen Gottes, in erquickender Geselligkeit und im Scherz. Für sich selbst fand Luther Trost, indem er andere tröstete. Da vergaß er seine eigene Not. Eine Regel ist, sich nicht in die Anfechtung zu vertiefen, dann bekommt der Satan Macht. Deshalb soll Einsamkeit vermieden, Gesellschaft und Zerstreuung gesucht werden. Einen besonderen Platz nimmt die Musik ein, die nach Luther nächst der Theologie der vorrangige Trost gegen die Schwermut ist. Arbeit, insbesondere gedankliche Arbeit, übte eine gute Wirkung aus. Es wird zu starken Gemütsregungen gegriffen, auch zu Sinnesreizen oder sogar einer gewissen körperlichen Betäubung. Essen und Trinken über das Gewohnte hinaus werden in bestimmten Fällen empfohlen. Man soll den Teufel reizen, indem man sich amüsiert. Andere brauchen stattdessen Fasten. Die Mittel variieren vom rein Geistlichen bis zum Materiellen. So groß war die Not und so schwer zu heilen. [146] Wir führen zunächst drei der wichtigsten Texte über die Hilfe gegen die Schwermut an, um sodann jedes der Hilfsmittel für sich in Augenschein zu nehmen, die Luther anwandte und empfahl. Wenzel Link in Nürnberg erhielt die folgende Anweisung in einem Brief vom 14. Juli 1528: „Diejenigen, die in Glauben und Hoffnung angefochten sind, würde ich auf folgende Weise trösten. Erstens, dass sie die Einsamkeit meiden, stets Umgang mit anderen haben und mit ihnen über Psalmen und Schriftworte Gespräche führen sollen. Sodann ist es das wirksamste Heilmittel, obgleich es sehr schwer ist, wenn sie sich davon überzeugen können, dass jene Gedanken gewiss nicht ihre eigenen, sondern die des Satans sind. Deshalb muss alles Bemühen darauf gerichtet sein, die Aufmerksamkeit auf anderes zu lenken und jene Gedanken ihm [dem Satan] zu überlassen. Denn bei ihnen zu verweilen oder mit ihnen zu

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kämpfen und sie überwinden zu wollen oder auf ihr Versiegen zu warten, heißt sie reizen und zu stärken bis zum rettungslosen Untergang. Das beste ist: Fallen sie ein, so laß sie wider ausfallen, vnd nicht lange nachdencken oder disputiren! Wer das nicht thut, dem ist nicht zcu rathen. 298 Doch wirst du bemerken, wie schwer dies tatsächlich ist, denn da es bei diesen Gedanken um Gott und das ewige Heil geht, wehrt sich unsere Natur heftig dagegen, sie aufzugeben oder zu verachten, ehe sie [die Angefochtenen] Gewissheit gewonnen haben, nicht ahnend, dass solche Gewissheit, solcher Sieg unmöglich ist, nämlich wenn man bei diesen Gedanken verweilt und mit ihnen disputiert … Damit sie sich leichter daran gewöhnen, die Aufmerksamkeit [von ihnen] abzulenken, sollen sie sich davon überzeugen, in dem Ausspruch eines guten Mannes gewissermaßen die Stimme Gottes zu hören. So hat mich öfters das eine Wort neu belebt, das Bugenhagen einmal zu mir gesprochen hat: ‚Du sollst meinen Trost nicht verachten‘, weil ich überzeugt war, dass es die Stimme Gottes vom Himmel sei. Da versteht man die Stelle: [147] ‚Dein Wort erquickt mich‘ [Ps 119, 50]. Diese Anfechtung hat Christus erlitten, als er zum Satan sprach: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen‘ (Mt 4, 7]. Durch dieses Wort überwand er selbst den Teufel und überließ es uns, ihn [ebenso] zu überwinden. Denn solche Gedanken [des Satans] sind wahrlich nichts anderes als Versuchungen Gottes, wenngleich wir das nicht glauben, wenn sie gegenwärtig sind, sondern sie als ganz gewiss und höchst notwendig für das Heil erachten. Denn sie wenden sich an Gott, den man nicht verachten darf. Und das Herz wagt es nicht, ihm [dem Satan] zu sagen: ‚Du bist nicht Gott‘, und ‚Ich will dich nicht als Gott‘. Trotzdem ist es notwendig, so zu reden, um dich [von ihm] abzuwenden und anders als auf solche Weise über Gott zu denken. Dies geschieht, wenn du dem Wort dessen, der dich tröstet und heimführt, glaubst und dich ihm ganz hingibst. … Schließlich sollen sie im Gebet Hilfe suchen und glauben, dass ihnen geholfen wird; so wird ihnen tatsächlich geholfen, wenn sie glauben. Sie kämpfen oder leiden nicht allein; wir alle stehen ihnen mit unseren Gebeten bei und tragen gegenseitig unsere Last.“

Es bedarf „der Ausdauer und der Geduld.“ Aber „das Ende ist heilvoll und selig. Amen.“299 In den Tischreden kam die Schwermut oft zur Sprache. Wir haben bereits mit verschiedenen Äußerungen Bekanntschaft gemacht. Im April 1532 wurde Schlaginhaufen von seiner Melancholie gepeinigt. Luther sagte zu ihm: „Was denckt ir also sitzend? Seid frolich in Domino!“ „Ich antwortete“, berichtet Schlaginhaufen, 298 [Die letzten beiden Sätze Deutsch im Original.] 299 [Es handelt sich um einen späteren Einschub in den genannten Brief, vgl. die Einleitung des Hg. von WA.B 4 zu Nr. 1294, S. 495 f. Der ursprüngliche Ort dieser Ausführungen ist WA.TR 2, 388–390 (Nr. 2268b). Das „Amen“ am Ende fehlt in der Tischrede.]

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„‚Ah, lieber Herr Doctor, das würde ich gerne, aber ich kann nicht, mich hindern vielerlei schwere Anfechtungen.‘ Da sprach er [Luther]: ‚Was sein es dann fur tentationes?‘ Ich antwortete: ‚Ah, ich kans leider nicht klagen, wie ich sie fule.‘ Darauf der Doktor: ‚Eure Anfechtungen und die aller Menschen, auch die meinen, betreffen das Glaubensbekenntnis. Entweder werdet Ihr im ersten Artikel angefochten: Ich glaube an Gott den Vater. Glaubt Ihr [vielleicht] nicht, dass der Vater Euer Schöpfer ist? Oder glaubt Ihr [vielleicht] zweitens nicht, dass er Euer Vater ist? Oder glaubt Ihr drittens [148] nicht, dass er uns gnädig ist? Wenn er Schöpfer ist, dann hat er Geschöpfe. Wenn er Vater ist, dann hat er Kinder. Ist er allmächtig, dann kann er mir gnädig sein. Der zweite Artikel: Ich glaube an Jesus Christus usw., gelitten; wenn ich glaube, dass J­ esus der Sohn Gottes ist, für mich dahingegeben, gelitten und auferstanden, was fehlt mir dann? Der dritte Artikel: Ich glaube an den Heiligen Geist usw., die heilige katholische [allgemeine] Kirche, Vergebung der Sünden, da felet es mir am meisten vnd bin mir auch feind. In welchem Artikel liegt nun Eure Anfechtung?‘ …“ „Ich sprach wiederum: ‚So oft ich an Gott und Christus denke, kommt es mir in den Sinn: Du bist ein Sünder, darum zürnt dir Gott, darum wird dein Gebet nichts ausrichten.‘ Der Doktor antwortete: ‚Darf ich den nicht pitten, bis [bevor] ich frumb werde, wenn [wann] will ich denn pitten? Wenn also der Satan dir einflüstert: Du bist ein Sünder, Gott hört die Sünder nicht, so drehe kühn den Spieß um und sage: Eben deshalb, weil ich ein Sünder bin, bete ich, und ich weiß, dass die Gebete der Angefochtenen vor Gott wirksam sind. Aber wir wollen gerne Gemütsruhe haben nicht aus Gnade, sondern aus uns selbst. Warumb wolt vns den Gott gnädig sein, wenn wir die Sünde nicht spüren und zugeben würden? Wen aber die rechten knotten da sein, spricht Gott, da kann ich helfen.‘“ „‚Darum, lieber Schlaginhaufen, seit getrost! Halt am wortt Gottes, last vns petten [beten], Gott anruffen, das wir verharren in dem vnd bei dem lieben Jesu Christo, so wollen wir vns frölich sehen balde am jungsten tage. Amen.‘“300

In diesem Passus wird der Hauptton auf das Gebet gelegt, wenn es darum geht, den Anfechtungen entgegenzuwirken. Wir wollen ebenfalls mit dem innigsten der von Luther empfohlenen seelischen Heilmittel beginnen, nämlich dem Gebet. „Ruffen mustu lernen … Vnd nicht da sitzen bey dir selbs odder liggen auff der banck, den kopff hengen vnd schutteln, vnd mit deinen gedancken dich beissen vnd fressen, sorgen vnd suchen, wie du los werdest, Vnd nicht anders ansehen, denn wie vbel dirs gehe, wie wehe dir sey, wie ein elender mensch du seyest,

300 WA.TR 2, 114,4–115,10; 116,5–7 (Nr. 1492). [Die ersten beiden Sätze mit­ Söderblom nach der in Anm. 1 gebotenen Version Rörers].

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Sondern, Wolauff du fauler schelm, auff die knie gefallen, die hende vnd augen gen himel gehaben, Ein psalm odder Vater vnser furgenomen, Vnd deine not mit weinen fur Gott dargelegt, geklagt vnd angeruffen …“301

In jedem Brief, der von der Unruhe des Herzens spricht, befiehlt sich­ Luther den Gebeten anderer an und versichert den Angefochtenen seiner eigenen Gebete. Wir haben den Eifer bemerkt, mit dem er ums Gebet und noch einmal ums Gebet bittet. Die Linderung der Angst beruht auf den Gebeten der Freunde. Durch eifriges Gebet wird Christus gestärkt, wenn er unfähig erscheint, Trost zu bringen. Das Gebet ist eine Waffe. „Wir wollen uns jetzt mit dem Gebet wappnen“, heißt es. 302 Wir hörten kürzlich, wie Schlaginhaufen im Frühjahr 1532 eine sehr wichtige Wegweisung erhielt: „… weil ich ein Sünder bin, bete ich, und ich weiß, dass die Gebete der Angefochtenen vor Gott wirksam sind.“ „… das betten“, heißt es in einer etwas früheren Aufzeichnung, „hilfft vns sehr vnd macht einem ein frolich hertz, nicht wegen der Würdigkeit des Werkes, sondern das wir mit vnserm Herr Got geredt vnd yhm als haben heim gestellt.“ „Es ist nicht gnug, daß einer, so vom Teufel angefochten wird, ihm fürhalte Gottes Wort, denn der arge, listige Geist ist so geschickt, daß er einem die Wehre nimmt und ihm unversehens ein solch Schrecken einjagt, daß er nicht weiß, wo aus; wie er mir oft thut. Er weiß und fühlets, daß mein Herz ohn Unterlaß betet; noch pflegt der Bösewicht mir oft fürzuwerfen und mich zu plagen, ich bete nicht. In Summa, er ist ein geschwinder [schlagfertiger] Geist, der eim nach dem Schwert greift und auch zu Weilen aus der Hand reißet, wenn unser Herr Gott hinter das Thürlin tritt und sich ein wenig verbirget. Darum muß [150] es immer gebetet sein: Ah, lieber himmlischer Vater, hilf um Christus Willen!“303

Am 6. Februar 1540 schrieb Luther an Georg Scarabäus, einen angefoch­ tenen Freund in Hannover, der ihm in einem Brief geklagt hatte. Zeitknappheit zwang Luther, in drei Punkten kurz zusammenzufassen, was man gegen Melancholie tun kann. In erster und zweiter Linie schärft er das Gebet ein. „Erstens, wenn du deutlich merkst, dass es der Satan ist, der dich auf die Probe stellt, so ermahnt dich der Herr, dass du mit dem Geist und dem Gebet gegen ihn kämpfst, denn wenn du untätig bleiben und jene Einflüsterungen des 301 M. Luther, Scholien zum 118. Psalm. Das schöne Confitemini (1529), WA 31/I (49–182), 95,36–96,7. 302 [WA.TR 3, 151,18 f (Nr.  3038b)] 303 WA.TR 1, 49,24–26 (Nr. 122); WA.TR 1, 279,24–32 (Nr. 590).

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Satans anhören willst, so wird es ihm ein Leichtes sein, dich zu beunruhigen. Erhebe dich also, falle nieder auf die Knie, strecke die Hände aus und sprich wenigstens mit Mund und Stimme: ‚Dieser Gedanke, Herr Gott, steht gegen dich und ist vom Teufel eingegeben. Befreie mich, Herr, und verteidige mich durch den Herrn Christus.‘ Ich habe viele gesehen, die untätig den Satan erduldeten, ohne Widerstand zu leisten, als ob er ablassen müsste, bevor sie beteten oder kämpften. Das ist unmöglich. Überwinde dich also, rüste dich zum Kampf in dem Herrn. Und wenn du sagst, du könnest nicht beten oder dich vom Gebet berühren lassen, so widerstehe dem und sage: Ob ich’s nun kann oder nicht, ob ich würdig bin oder nicht, so muss doch gebetet werden, weil Gott gebietet: ‚Betet, bittet, klopfet an, suchet’, ‚widersteht ihm fest im Glauben [Mt 7, 7; I Petr 5, 9]. Zweitens, sorge dafür, dass die Gemeinde und die Brüder für dich beten, damit du in deiner Unsicherheit durch ihre Hilfe gestärkt werdest. Drittens sollst du mit allem Ernst auch äußere Regeln beachten, nämlich dass du niemals einsam bist.“304

Wichtigstes Mittel gegen die Anfechtung ist das Wort. „Ich mus da bey bleyben“, nämlich bei Christus und dem Evangelium, um mich gegen [151] den Bösen zu behaupten, der „sein lebtag nie so zornig gewesen als izundt“ gegen Luther.305 Man besiegt den Teufel durch das Wort. Wehe dem, der die Waffe fahren lässt. „Wenn der Satan mich untätig und ohne Studium des Wortes findet, treibt er mir in mein gewissen, dass ich mit falscher Lehre die öffentliche Ordnung gestört und Aufruhr verursacht habe. Dohin bringt er mich offt. Wenn ich aber wieder zum Wort greife, siege ich.“306

Wie wir bereits gesehen haben, bedeutet die Waffe des Wortes bei L ­ uther Gottes Verheißung (Evangelium) in Wort und Sakrament, in ihrem Gegensatz zum Gesetz. „Wenn du mit dem Teufel über das Gesetz disputierst, hast du verloren; wenn über das Evangelium, hast du gewonnen.“ Der Teufel kann „die rhetoricam so meysterlich, einen spliter auffblasen vnd ein palken machen. Andererseits versteht er auch das Hilfreiche an der Lehre außerordentlich zu schmälern.“ Luther denkt in diesem Zusammenhang besonders an die Einwände gegen seine eigene Verkündigung. Er weiß, dass er eine gerechte Sache verteidigt. „… ist tauff, euangelion, sacramentum vnrecht, so bin ich auch vnrecht, desgleichen, wenn Christus nicht im Himmel ist und regiert, so bin ich auch vnrecht.“ Der Teufel lässt ihm trotzdem keine Ruhe, „er schlefft vil mer bey mir denn meine Ketha.“ Aber das Evangelium macht alle Argumente des Teufels gegenstandslos. 304 Brief an Georg Scarabaeus vom 6.2.1540, WA.B 9 (44 f), 44,3–45,19 (Nr. 3441). 305 WA.TR 1, 289,6; 288,24 (Nr. 612 von 1533). 306 WA.TR 3, 161,16–19 (Nr. 3062a).

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„Wenn er einwendet: ‚Aber das Gesetz ist auch Gottes Wort‘. so antworte du: ‚Das Wort Gottes ist allein die göttliche Verheißung.‘“307 In seinem Bemühen, empfindsamen Gewissen zu helfen, zögert Luther nicht, das Gesetz auf den Teufel zurückzuführen. So in dem Gespräch, das Schlaginhaufen vom April 1532 wiedergibt: „‚Mein Herr Doktor, antwortete ich, ich kann nicht glauben, wie alle Trübsal vom Teufel kommen soll. Gewiss macht das Gesetz das Gewissen traurig, doch das Gesetz Gottes ist gut. Wenn das Gesetz von Gott kommt, das Traurigkeit und Angst verursacht, dann kommt die Traurigkeit nicht [152] vom Satan.‘ Da antwortete mir der Doktor: ‚Darzu ist mir Paulus recht: Das Gesetz ist um der Übertretungen willen gegeben. Die leutt wollen nicht fromb werden; spricht Gott: ‚So muß ich den Teufel an sie schickhen, der sie plagt mit dem gesetze.‘ Gleich [Kaiser] Carolus hatt das schwert in seiner handt oder gewald, gibt aber dem henger in die hand vnd lest immer die kopf abhauen, so lang es im gefelt die bosen zustrafen. vnd nimbt ims auch wider aus der hand, wen er wil. So macht es Gott mit dem Gesetz.‘“308

Das Gesetz gewinnt einen gefährlichen Bundesgenossen in dem empfindsamen Gewissen. Ebenso resolut wie gegen das Gesetz muss der An­ gefochtene das Evangelium gegen das Gewissen anwenden. „Fort mit der Traurigkeit des Teufels. Das Gewissen steht in dem grausamen Dienst des Teufels; man muss Trost finden auch gegen das Gewissen“, schrieb Luther 1544 an Spalatin.309 Das Evangelium oder Gottes Gnadenverheißungen sollen also dem Menschen gegen die Drohung des Gesetzes und gegen die Anklagen des Gewissens helfen. Das geschieht, wie wir gesehen haben, ganz radikal, indem diese beiden zusammenwirkenden Ursachen der Angst, das Gesetz und die Empfindsamkeit des Gewissens, auf das Werk des Seelenfeindes zurückgeführt werden. Das ist nach dem Brief vom 14. Juli 1528, den wir oben S. 146 angeführt haben, äußerst schwierig, aber ein vorzügliches Heilmittel, wenn man sich davon überzeugen kann, dass solche Gedanken nicht die eigenen, sondern die des Satans sind. „Die meisten Men307 WA.TR 1, 288 f (Nr.  612). 308 WA.TR 2, 115,11–116,2 (Nr. 1492). 309 [Es handelt sich offenbar um eine Kompilation aus verschiedenen Texten, die­ Söderblom vermutlich bei Enders vorgefunden hat. Der erste Satz steht in der Tat in einem Brief an Spalatin: vom 21.8.1544, Nr. 4021, WA.B 10, 640,68. Der andere Satz geht zurück auf Luthers Vorrede zu Georg Spalatin, Magnifica consolatoria exempla et sententiae ex vitis et passionibus sanctorum collectae, 1544, in WA 54 (113–115), 114,20–22, ist aber umformuliert worden. Bei Luther heißt es: „Sogar Augustin hat sich selbst … getröstet gegen das Gewissen (das den höchst grausamen Dienst des Todes darstellt)“.]

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schen betrügen sich selbst, weil sie nicht glauben, dass solche Gedanken Anfechtungen des Satans sind. Deshalb ist fast niemand, der sie verachtet oder darum kämpft, sie zu verachten …“ „Denn man kann nicht an Christus denken, wenn jene Gedanken herrschen.“310 Auf diese Weise soll man dem Teufel mit Hilfe der Verheißungen Gottes trotzen und glauben, wenn auch Gewissen und Gesetz sich gegen einen verschwören. Dann braucht man nicht gegen böse Gedanken zu kämpfen. Man weist sie ab. Wie nutzlos es ist, sich auf Räsonnements und Widerlegung einzulassen, hat ­Luther gründlich erfahren. Anstrengungen [153] sind vergebens. Das Einzige, das hilft, ist der Glaube, der für alle Angst erregenden Gedanken taube Ohren hat. „Man muss es überhaupt darauf anlegen, dass die Gewissen gewiss und sicher sind.“311 Um solche Aussprüche Luthers recht würdigen zu können, müssen wir bedenken, dass jeder wirkliche Prediger in erster Linie für sich selbst predigt. Muss man darauf hinweisen, dass Luther mit Gesetz und Evangelium nicht bestimmte biblische Bücher, sondern Forderungen und Verheißungen bezeichnet? Ebenso wenig bezeichnet „Wort“ bei ihm die Schrift als Buchstaben, sondern die Heil bringende und tröstende Botschaft von Gottes Gnade. „So halte ich mir die Vergebung der Sünden und Christus vor …“ „Weyl [dieweil, solange] wir die Lehre haben, sol er vns nit schaden; fellt aber die Lehre, so ists mit vns aus. Aber Got hab lob, der vns das wort geben hat vnd dazu seinen eigen Son fur vns hatt lassen sterben. … Hatt er den schecher am creutz so angenomen vnd Paulum nach so vielen Lästerungen und Verfolgungen, so haben wir kein vrsach zu zweiueln …“312

Dasselbe „Wort“ findet sich im Glaubensbekenntnis. „… wenn wir nur die ersten drey wort am Symbolo hetten; Ich glaub inn Gott Vatter, so sein sie doch weyt vber vnser verstandt vnd vernunfft. In summa, es ist nicht unserem Herzen eingefallen, dass Gott Vater ist. Es kondt [jedoch] sonst ein mensch nit ein augenblick leben. Also muss der Glaube in diesem Fleisch schwach sein, sonst wenn wir es vollig kondten glauben, so wer der ­himel schon da.“313

Eine Äußerung bei Tisch verdient es, noch einmal angeführt zu werden.

310 Brief an Kaspar Aquila vom 21.10.1528, Nr. 1340, WA.B 4 (589 f), 590,46–48. 53 f. 311 Brief an Nikolaus Hausmann vom 17.12.1533, Nr. 2074, WA.B 6, 562,14 f. 312 WA.TR 1, 48,17 f; 49,2–8 (Nr. 122). [Im Original deutsch-lateinischer Mischtext]. 313 WA.TR 1, 49,13–18 (Nr. 122).

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„‚Eure Anfechtungen und die aller Menschen, auch die meinen, betreffen das Glaubensbekenntnis. Entweder werdet Ihr im ersten Artikel angefochten: Ich glaube an Gott den Vater. Glaubt Ihr [vielleicht] nicht, dass der Vater Euer Schöpfer ist? Oder glaubt Ihr [vielleicht] zweitens nicht, dass er Euer Vater ist? Oder glaubt Ihr drittens nicht, dass er uns gnädig ist? Wenn er Schöpfer ist, dann hat er Geschöpfe. Wenn er Vater ist, dann hat er Kinder. Ist er [154] allmächtig, dann kann er mir gnädig sein. Der zweite Artikel: Ich glaube an Jesus Christus usw., gelitten; wenn ich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes ist, für mich dahingegeben, gelitten und auferstanden, was fehlt mir dann? Der dritte Artikel: Ich glaube an den Heiligen Geist usw., die heilige katholische [all­ gemeine] Kirche, Vergebung der Sünden, da felet es mir am meisten …“314

Nicht allein das Glaubensbekenntnis, sondern der ganze Katechismus ist ein tröstendes Gotteswort. „… bleybt der catechysmus herr, und da ist niemand, der ihn versteht. Ich bin daher genötigt, ihn jeden Tag zu beten, sogar laut, und wenn ich einmal durch Dienstgeschäfte daran gehindert bin, so dass ich die Stunde des Gebets versäume, so ist mir den ganzen tag darnach vbel.“315

Im Glaubensbekenntnis, im Katechismus und anderen guten Schriften ebenso wie in der Schrift selbst war es die objektive Macht des Wortes, Gottes gnädiger Wille, der dem Kleinglauben und den Anfechtungen des Herzens gegenübergestellt wurde. Doch Luther hatte zur Genüge erfahren, dass das geschriebene, ge­lesene oder im Gebet wiederholte Wort nicht ausreichend objektiv erschien, das heißt: mächtig und wahr außerhalb der angefochtenen Seele und unabhängig von ihr. Vielmehr musste der Trost des Wortes aus dem Mund eines anderen kommen, von jemandem, der in Gottes Namen spricht. Auf diese Weise bekommt das Wort einen persönlichen Nachdruck. Luther beruft sich gegenüber sorgenvollen Seelen ausdrücklich auf seine Autorität und seinen Auftrag zu trösten. „Ihr sollt auf uns hören, Brüder, denn Gott spricht durch uns.“316 Auch gegenüber ihm selbst machten kluge Seelsorger solche Autorität geltend. „Du sollst meinen Trost nicht verachten“, hatte Bugenhagen einmal zu ihm gesagt, wie Luther an Wenzeslaus Link schrieb.317 Im Kloster hatte man zu ihm gesagt, dass er an die Vergebung der Sünden glauben müsse. Ein glücklich gefundenes Wort kann die Aufmerksamkeit der angefochtenen Seele gewinnen.

314 WA.TR 2, 114,9–18 (Nr. 1492). 315 WA.TR 1, 49,21–24 (Nr. 122). 316 WA.TR 1, 47,7 f (Nr.  120). 317 [Kein Briefzitat, sondern WA.TR 2, 389,15 (Nr. 2268b).]

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„Einmal sagte mein Beichtvater zu mir, als ich ihm wiederholt törichte [155] Sünden vortrug: ‚Du bist töricht, nicht Gott ist wütend auf dich, sondern du bist wütend auf Gott. Nicht Gott zürnt mit dir, sondern du zürnst Gott.‘ Ein großartiges Wort, das jener doch vor dem Licht des Evangeliums sprach.“

Mehr als einmal berichtete Luther von Bugenhagens Klugheit. „Einmal tröstete mich Bugenhagen hier am Tisch …, als ich betrübt war: ‚Zweifellos denkt Gott so: Was soll ich mit diesem Menschen noch anfangen? Ich habe ihm so hervorragende Gaben verliehen, er aber verzweifelt an meiner Gnade? Das war mir ein großer Trost und blieb mir im Herzen haften, so als ob es die Stimme eines Engels gewesen wäre …“318

Eine scherzhafte Wendung verfehlte nicht ihre Wirkung. Luther hat selber reichlich den Humor als Tröstung gebraucht. Derselbe Beichtvater Bugenhagen hatte ein anderes Mal wie „die Stimme Gottes vom Himmel“ gesprochen. Es hat seinen tiefen Sinn, sich an das zu halten, was gelehrte und bedeutende Männer äußern, das kann wie ein Orakel sein.319 Wir verstehen jetzt Luthers Hochschätzung der Privatbeichte. Er hatte besonderen Anlass ihr Ausdruck zu geben, als er „von seinem Patmos“, der Wartburg, nach Wittenberg zurückkam, um die aufgewühlte Stimmung und die gefährlichen Anschläge der Reformeiferer auf die Freiheit des Evangeliums einzudämmen. Am 16. März 1522, an Reminiscere, predigte er über die Privatbeichte. Er spricht von verschiedenen Arten der Beichte: der öffentlichen, die in Matth. 18 behandelt wird, die aber aus der Übung gekommen ist, von der zweiten, da wir in der Einsamkeit Gott unser Herz ausschütten, und von der dritten, wo einer dem anderen ­beichtet, um ein Wort des Trostes zu hören. Der Papst schreibt diese vor. Luther hatte schon damals gegen den Zwang gepredigt und geschrieben. Aber, so sagt er, „dannocht wil ich mir die heymliche beicht niemants lassen nemen und wolt sie nit umb der gantzen welt schatz geben. Dann ich weyß was trost und stercke sie mir gegeben hat: es weiß niemants was sie vermag denn [156] wer mit dem teüffel oft und vil gefochten hat. Ja ich were langst vom teüffel erwürgt, wenn mich nit die beichte erhalten hett. Dann es sind vil zweyfeliche sachen, die der mensch nit erreychen kan noch sich darjnn erkünden, so nympt er seinen bruder auff ein ort und helt jm für sein anligende not.“

318 WA.TR 1, 47,21–29 (Nr. 122). 319 WA.TR 2, 389,16 (Nr. 2268b); Brief an Hieronymus Weller vom Juli (?) 1530, Nr. 1670, WA.B 5 (518–520), 519,17.

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„Wir müssen auch vil absolution haben, damit wir unser blöde [furchtsame] gewissen und verzagts hertze gegen dem teüffel und got mügen stercken. Darumb sol niemant die beicht verbieten, auch niemants darvon halten oder zyehen.“ „Wer aber eynen starcken festen glaüben hett, sein sünd sein jm vergeben, der mag diese beicht lassen ansteen und allein got beichten. Ja wie vil haben solichen starcken glaüben? Derhalben wird ich mir diese heimliche beichte, wie ich gesagt habe, nit lassen nemen.“

Sodann wird geschildert, wie reichlich Gott uns Absolution und Trost schenkt, nämlich im Evangelium, im Vaterunser, in der Taufe, in der privaten Beichte und im Sakrament. Die Beichte ist also nicht zu verachten, sondern sie ist eine trostreiche Einrichtung. Da wir viel Absolution und Trost brauchen, wenn wir gegen Teufel, Tod, Hölle und Sünde kämpfen müssen, dürfen wir uns nicht irgendeiner Waffe berauben lassen, sondern müssen Harnisch und Rüstung, die Gott uns gegen unsere Feinde gegeben hat, unvermindert gebrauchsfertig halten. „Dann jr wist noch nitt was es mühe kostet, mit dem teüffel zu streytten und uberwinden. Ich weyß es aber wol, wenn ich wol ein stück saltzes oder zwey mit jm gessen hab …“320 Aber dieses Beichtsakrament ist bei Luther jeglichen besonderen Appa­ rates und jeder sakralen Absonderlichkeit entkleidet worden. Darin besteht überhaupt Martin Luthers Bedeutung in der Religionsgeschichte. Seine Aufrichtigkeit und die Stärke seiner Seelennot beseitigten alles Unnatürliche in der Religion. Es kommt auf die Sache an: den Frieden der Seele. Wird der Trost in einer kirchlichen Zeremonie angeboten, so rühre nicht daran, sondern behalte sie und bewahre sie dankbar um ihres Gehaltes willen. Doch liegt ganz dieselbe Weihe [157] und Heiligkeit auf der Sache – eine gequälte Seele aufzurichten und zu erquicken –, wenn es zwei Freunde sind, die unter vier Augen miteinander sprechen oder unterwegs oder am Mittagstisch.321 In unseren Bekenntnisschriften, in den Schmalkaldischen Artikeln, Teil III Artikel VIII , ist zu lesen:

320 Ein kurtzer begriff des Sermons D. M. L. geprediget am Sontag Reminiscere, von der heymlichen beicht; Das letzte stück dieser Predigten D. Mart. Luthers, da er aus seiner Pathmos wiederumb kam, WA 10/III, 58–64. [Das Datum ist der 16.3.1522, nicht wie ­Söderblom schreibt, der 15.]. Vgl. außerdem den Sermon von der Beicht und vom Sacrament aus dem Jahr 1524 (WA 15, 481–506). 321 Man findet bei Luther den Gedanken, dass ein armer geängsteter Mensch, wenn er sich scheut, mit einem Diener der Kirche über die Sache zu sprechen, „einem anderen Christen und gottesfürchtigen Menschen gegenüber, dessen Glauben er kennen gelernt hat, sein Herz ausschütten soll, wer auch immer das sei“, Enarrationes in Genesin (1535–1545), WA 44, 221,25 f (zu Gen 36, 20–30).

– 152 –

„Weil die Absolutio oder Kraft des Schlussels auch ein Hulfe und Trost ist wider die Sunde und bose Gewissen, im Evangelio durch Christum gestift, so soll man die Beicht oder Absolutio beileib nicht lassen abkommen in der Kirchen, sonderlich umb der bloden Gewissen willen …“

Wir fügen die in der Religionsgeschichte bemerkenswerte Stelle in Teil III , Artikel IV hinzu: „Vom Evangelium“, das auf mehrerlei Weise hilft, nämlich „erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolationem fratrum [durch das Zwiegespräch und den Trost der Brüder] …“322

Dieser Gedanke ist bei Luther ebenso alt wie seine reformatorische Einsicht. Im Jahr 1520 schrieb er: „… hab ich nit gewalt als einn Bapst, szo hab ich doch gewalt als einn Christen, meynem nehsten zuhelffen und radten von seinen sunden und ferlickeiten [Gefährdungen]“. „… klage sie [deine Sünden] deinem bruder odder schwester, dem odder do du wilt, lasz dich absolvirnn und trosten, ganck [geh] unnd thu drauff was du wilt unnd solt, gleub nur fest, das du seyst absolvirt, szo hat es nit nodt.“323

Luther erfuhr und praktizierte die Freundschaft wie ein Sakrament, ohne für einen Augenblick in Sentimentalität oder unnatürliche Feierlichkeit zu verfallen. Das Herz sprach. Er konnte von heftiger Sehnsucht danach befallen werden, einen lieben Freund zu treffen, wenn Angst und Sorge sich bemerkbar machten. So schrieb er am 12. März 1525 an Amsdorf in Magdeburg: „Dass ich Dir jetzt schreibe, hat den Grund, dass wir uns stark nach Deiner Gegenwart sehnen. Das ist nicht [158] nur mein und der Meinen Wunsch, sondern auch unser Stadthauptmann Hans Metzsch verlangt sehr lebhaft danach. Dieser Wunsch ist der Grund, Dich recht kühn zu bitten, uns so bald wie möglich zu besuchen, um uns Deines Trostes und Deiner alten Freundschaft zu wür­ digen, denn wir sind ziemlich betrübt und angefochten. … Erzeige Dich uns also als der aufrichtige, gerade und treue Amsdorf. Gib uns den Tag an, damit wir getröstet werden, indem wir uns sehen und miteinander sprechen.“324 322 BSLK 453, 2–6 und 449, 5–13. 323 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6 (404–469), 442,26–28; 444,10–13. 324 Brief an Nikolaus von Amsdorf vom 12.3.1525, Nr. 842, WA.B 3, 455,3–12.

– 153 –

Die Einsamkeit ist dem Versucher günstig. Jesus verließ die Wüste – das heilige Übungsfeld der Eremiten. Luther wiederholt auf Grund eigener Erfahrung häufig den Rat: Fliehe die Einsamkeit, suche die Gesellschaft von Freunden. „Der Teufel versuchte Christus in der Einsamkeit. David fiel in Ehebruch und Mord, als er einsam und untätig war.“ „Die Menschen begehen mehr und schwerere Sünden in Einsamkeit als in Gesellschaft von Menschen.“325 „Diejenigen, die von Traurigkeit im Geist gepeinigt werden, … müssen sich sehr in Acht nehmen, nicht allein zu sein, denn Gott hat die Gemeinschaft der Kirche geschafft und Bruderschaft gebotten …“326 Manchmal wird ausdrücklich gesagt, dass solche Gemeinschaft die gegenseitige Ermunterung durch Worte der Schrift und durch Psalmen zum Zweck hat. Wie die Briefe von eindringlichen Bitten um geistliche Gemeinschaft und gegenseitige Hilfe durch Anrufung und Fürbitte über­fließen, auch wenn die Freunde durch die äußeren Umstände getrennt sind, so sehnt sich Luther in den dunklen Zeiten nach vertraulichem Umgang, Gesang und Zwiesprache über geistliche Dinge. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich niemals häufiger in Sünden falle, als wenn ich einsam bin. Gott hat den Menschen zur Gemeinschaft geschaffen, nicht zur Einsamkeit. Der Mensch ist aber so geschaffen, dass sie zugleich zwei sein sollten, ein Mann und eine Frau, aus deren ehelicher Gemeinschaft Gott sich eine ewige Kirche gesammelt hat. Und der allmächtige Gott hat in der Kirche nicht um [159] der Einsamkeit, sondern um der Versammlungen der Menschen willen Sakramente und heilige Predigten eingerichtet, aus welchen dauerhafter Trost zu gewinnen ist.“

Einsamkeit erzeugt elende Schwermut, da wir „alles Übel genauer betrachten, das uns in den Sinn kommt.“ „Und wenn uns etwas Widriges in un­ serem Dasein zustößt, … so bläuen wir es uns ein und blähen es auf.“ „Und als ob niemand unglücklicher wäre als wir, bilden wir uns den schlimmsten Ausgang der Dinge ein.“ Alles wird zum Schlimmsten gedeutet, und wir bilden uns nicht ohne Bitterkeit ein, dass andere es besser haben. „In der Einsamkeit wird dem Teufel Platz und Gelegenheit gewährt.“ Diese Worte sind einem Brief an einen Ungenannten über die Einsamkeit aus dem Jahr 1534 entnommen.327 In dem oben S. 150 zitierten Brief an Scarabaeus wird neben Gebet und Fürbitte als Drittes und Letztes empfohlen:

325 M. Luther, Bedenken an einen Ungenannten über die Einsamkeit, von­ Söderblom nach Enders 10, 116 f zitiert, nicht in WA.B, dafür aber WA.TR 4, 555 f (Nr.  4857p), hier Zeilen 9 f und 1 f. 326 WA.TR 1 (47–52), 48,3–5 (Nr. 122; deutsch-lateinischer Mischtext). 327 Vgl. Anm. 325. Hier: WA.TR 4, 555,10–12, dann Anm. 26 nach Enders bis „in den Sinn kommt“; weiter: 555,16–556,2 und schließlich 555,4 f (Nr.  4857p).

– 154 –

„Drittens sollst du mit allem Ernst auch äußere Regeln beachten, nämlich dass du niemals einsam bist. Denn diese Anfechtung erträgt die Einsamkeit nicht, will aber dennoch in der Einsamkeit sein. Vielmehr verbinde dich mit anderen, sprich, lies das Evangelium und die Psalmen mit ihnen.“

Dann folgen einige Worte über die Hilfe, die Beschäftigung überhaupt geben kann. „Wenn du den Teufel besiegen willst, musst du arbeiten; er selbst weicht nicht vor denen, die untätig sind und der Mühsal aus dem Wege gehen.“328 Geselligkeit und Beschäftigung werden zusammengestellt. Geselligkeit mit Freunden kann auch gesucht werden, um ganz einfach das Gemüt zu erheitern. „Wenn dir [traurige] Gedanken kommen, so vertreybs, wo mit du kanst, wenn nicht auf andere Weise, so wenigstens durch Gespräche mit denen, an denen du Freude hast.“ „Durch Erfahrung belehrt kann ich dir sagen, wie du dich in Anfechtungen seelisch einstellen sollst. Wenn du durch Trübsal oder Verzweiflung oder einen anderen Gewissensschmerz angefochten bist, so iss, trink, suche Gespräche, kannst du dich durch den Gedanken an ein Mädchen erholen, so tu es.“329

Es gilt, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln die düsteren Gedanken aus dem Sinn zu schlagen und das Gemüt in eine frohe Stimmung zu zwingen. Wir haben in den Briefen gehört, wie Luther ungezwungenes Zusammensein und Heiterkeit empfiehlt. [160] Essen, Trinken und Schlaf haben hier ihre bestimmte Aufgabe, die Widerstandskraft zu stärken und die Unruhe der durch Trübsal gelähmten Seele zu betäuben. Kommen schwere Gedanken, so kann ein tüchtiger Seidel Bier gut tun.330 Gern verwendet Luther in solchen Zusammen­hängen kräftige Ausdrücke, die auch selbst dazu dienen sollen, eine trübselige Stimmung zu vertreiben. So schrieb er im Jahr 1540 aus Weimar an seine Käthe, um ihre nicht unberechtigte Unruhe zu vertreiben: „Ich fresse wie ein beheme [Böhme] vnd sauffe wie ein deudscher, das sey Gott gedanckt. Amen.“331 Sonst haben die Deutschen wohl kaum durch jemand anderen so viel Ärger wegen ihrer Sauferei bekommen. Aber solche Worte sind nicht selten auf eine Weise ausgelegt worden, die allen Nachrichten von den arbeitsreichen, karg bemessenen Lebensgewohnheiten des Reformators widerspricht. Gerade um der großen Arbeitslast willen meinte er manchmal ein größeres Quantum Bier zu brauchen, auch um sich die nö328 Brief an Georg Scarabaeus vom 6.2.1540, Nr. 3441, WA.B 9 (44 f), 45,19–22. 329 WA.TR 1, 215,23 f (Nr.  491); WA.TR 1, 49,27–50,1 (Nr. 122). 330 Vgl. dazu H. Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 2, 254–257. 331 Brief an Katharina Luther vom 2.7.1540, Nr. 3509, WA.B 9, 168,5 f.

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tige Ruhe für das Gehirn und das Denken zu verschaffen. Das hängt mit dem ge­ legentlich genannten Zweck zusammen, die Schlaflosigkeit loszuwerden, in der die Nacht alle Stimmungsbilder schwarz malt und vor den Blicken der ohnmächtigen Seele die Anklagen und Sorgen der Gespensterstunde verlängert. Doch auch am Tage gab es das Bedürfnis, bedrückende Wahrnehmungen so gut es ging zu verjagen. Er kam von einem geselligen Beisammensein nach Hause und reichte einem Gast einen guten Freudentrunk. „Heute muss ich munter sein, denn ich habe schlechte Nachrichten bekommen; gegen so etwas hilft nichts besser als ein starkes Vaterunser und ein guter Mut. Das verdrießt den melancholischen Teufel, dass man trotzdem fröhlich sein will.“332

Die eigentliche Not, für die sogar Essen und Trinken zur Vertreibung aufgeboten werden, ist die Finsternis des Gemüts. „Für Angefochtene ist Fasten hundertmal schlechter als Essen und Trinken.“ Der Schwermütige hat keine Lust dazu. Im Gegenteil. Wir haben bereits die Worte aus dem Jahr 1531 angeführt: „Würde ich mich [in der Anfechtung] nach meinem Appetit richten, so würde ich drei Tage lang nichts essen. Das ist dann doppeltes Fasten, das ich iss, [161] trinck, vnd dennoch one lust. Wenn die welt das sihet, so sihet sie es an als Trunkenheit, aber Gott wird beurteilen, ob es Trunkenheit ist oder Fasten. Sie werden kriegen die fassten, aber nit wie ich fasste. Darum halt deinen Bauch und Kopf wohl, das hilft auch dem Schlaf.“333

So war es mit Luthers Gefräßigkeit bestellt. Der Menschensohn kam, aß und trank. Man nannte ihn einen Fresser und Weinsäufer [Mt 11, 19]. Nein, der Vergleich zwischen der reinen Freude Jesu an den kleinen und großen Freuden des Lebens und Luthers manchmal ziemlich groben Mitteln, auf irgendeine Weise das Dunkel der Schwermut zu vertreiben, ist unpassend. Die Vergleichbarkeit liegt in der sittlichen Freiheit, die sich nicht um das Urteil der frommen Welt schert. Aber die düstere Seele stand unter einem inneren Zwang, welcher der lichten Seele fremd ist. Luther wusste, dass sein Rezept in dieser Sache nicht für alle Schwermütigen geeignet ist.

332 [­Söderblom nennt die Quelle nicht. Eine partielle Entsprechung ist: „Ich bin frölich vnd guter ding, den ich hab heutt vill böser zeittung gehörtt … Weil aber der Teuffell vnß also zusetzt, so stets recht vmb vnß“, WA.TR 5, 44,6–9 (Nr. 5284). Sollte ­Söderblom hier nach dem Gedächtnis zitiert haben? Weiter unten (s. bei Anm. 339) benutzt er eine Variante eben dieses Zitats in korrekter Form. D. Hg.] 333 WA.TR 1, 64,10–15 (Nr. 141).

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„Man muss wissen, dass für verschiedene Menschen verschiedene Heilmittel geeignet sind. Mir hilft es nach dieser Regel, reichlich zu trinken, aber einem jungen Mann würde ich dazu nicht raten, weil so die Begierde Nahrung bekommt. Manchen hilft das Fasten, anderen ein Trunk.“334

Was für den Leib gilt, das gilt auch für die Krankheiten der Seele. Man soll den Teufel reizen und ihm trotzen. Dieser hat einen Bundesgenossen in der Empfindsamkeit und den Skrupeln des Gewissens. Er versteht die Kunst, aus der Maus einen Elefanten zu machen und der armen Seele Weh und maßlose Angst zu bereiten, indem er ihre Empfindsamkeit ausnutzt. Dann zweifelt die Seele an Gottes Wohlgefallen und flieht Gott voller Furcht, statt ihre Zuflucht zu ihm zu nehmen. Sei gewiss, dass der Teufel die Gelegenheit wahrnehmen wird, das Gemüt mit jeder Freiheit zu peinigen, die man sich in Wort oder Tat genommen hat. Aber statt vorsichtig davonzuschleichen und durch methodische Präzision schmerz­haften Selbstprüfungen zu entgehen, empfiehlt Luther die entgegengesetzte Methode. Man soll vor Selbstvorwürfen und anderen Waffen, die der Teufel benutzt, nicht zurückweichen. Rücke ihm stattdessen verwegen auf den Leib. Er wartet auf deine unbewachten Augenblicke [162], um dir Verdruss zu bereiten und dir noch aus dem Unschuldigsten ein Gewissen zu machen. Bist du denn nicht Gottes freies Kind? Statt der Defensive sollst du die Offensive ergreifen. Versuch es mit etwas richtig Anstößigem, sei es ein bisschen über das allernötigste Maß an Essen und Trinken hinaus oder ein grober Scherz oder ein saftiges Wort, und stelle dich dann der skrupulösen Reaktion dreist entgegen, so dass der Teufel sein Unvermögen spürt. Lass das Ritual außer Acht, so dass der Teufel Platz machen muss. Gib ihm eine glänzende Gelegenheit, aber halte dich tapfer. Dann bist du auf deiner Hut und kannst nicht wie gewöhnlich unversehens von nagender Unruhe überrumpelt werden. In diesem Stil bewegen sich die Äußerungen von Luther, der zumindest bei Menschen Anstoß erregt hat – er hatte es mehr auf den Teufel abgesehen. Aber das berühmte pecca fortiter, „sündige tapfer [oder: stark]“, die gängigste Münze römischer Polemik, hat einen leidenschaftlicheren Ursprung. Es wurde geschrieben von der Wartburg an Melanchthon am Tag des Apostels Petrus, dem 1. August 1521 in einem teilweise erhaltenen Brief, der überwiegend von der Priesterehe handelt. Luther sieht darin keine Sünde, da die Schrift es nicht zur Sünde macht. Ebenso wenig ist es eine Sünde, wenn ein Missgeschick bei der Austeilung des Abendmahls passiert. Nach der Bitte um ein reicheres Maß an Gottes Geist und nach einer Auslassung über die Anklagen und die Verstockung der Widersacher, 334 WA.TR 1, 50,7–10 (Nr. 122).

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die mit den Worten endet: „Es geschehe, geschehe der Wille des Herrn. Amen“ wird am Ende hinzugefügt: „Wenn du Prediger der Gnade bist, dann predige nicht eine erdichtete Gnade, sondern predige die wahre; wenn die Gnade wahr ist, dann trage nicht eine eingebildete Sünde [mit dir herum]. Gott macht nicht erdichtete Sünder selig. Sei [wirklich] ein Sünder und sündige stark, aber glaube noch stärker und freue dich in Christo, der Sieger ist über die Sünde, den Tod und die Welt. Es muss gesündigt werden, solange wir hienieden sind; dieses Leben ist kein Wohnsitz der Gerechtigkeit, sondern wir erwarten, sagt Petrus [II Petr 3, 13], einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo Gerechtigkeit wohnt. Es genügt, dass wir durch den Reichtum der Gnade [Luther: der Herrlichkeit] das [163] Lamm Gottes erkannt haben, das die Sünden der Welt trägt. Von ihm wird uns die Sünde nicht losreißen, auch wenn wir an einem Tag tausendmal tausendmal huren und morden. Glaubst du denn, dass der Preis, der durch ein so herrliches Lamm um der Erlösung willen für unsere Sünden gezahlt wurde, so unbedeutend ist? Bete stark, denn du bist der stärkste Sünder.“335

Der Brief war ebenso wenig eine Geheimsache wie als Lehrsatz gedacht. Luther war der Meinung, dass Melanchthon diese Dinge zu schwach anfasste. Doch ihre eigentliche Erklärung bekommen diese Worte durch die aufgeputschten Selbstvorwürfe des Melancholikers, die durch eine Sturzsee von Vergebungsglauben überschwemmt werden. Das erinnert uns an Paul Gerhardts Überfülle von Trost für die verzweifelnde Seele: Wären tausend Welt zu finden, Von dem Höchsten zugericht’t, Und du hättest alle Sünden, Die darinnen sind, verricht’t, Wär es viel; doch lange nicht So viel, dass das volle Licht Seiner Gnaden hier auf Erden Dadurch könnt erlöschet werden. 336 335 Brief an Melanchthon vom 1.8.1521, Nr. 424, WA.B 2 (370–372), 372,81–93. [Im vorletzten Satz liest S­ öderblom „pretium et redemptionem … factam“ statt mit WA „pretium redemptionis … factum“, muss aber dann „für unsere Sünden“ an „Erlösung“ anschließen, was sprachlich problematisch ist; im letzten Satz entscheidet er sich für die Lesart „es enim fortissimus peccator“ statt mit WA „etiam fortissimus peccator.“ In diesem Fall ist das tatsächlich die einleuchtendere Form.] 336 Vers 8 des Liedes: „Weg, mein Herz, mit den Gedanken, als ob du verstoßen wärst“, in: Paul Gerhardt, Dichtungen und Schriften, hg. v. E. v. Cranach-­ Sichart, München 1957 (150 f), 151. [Das Lied ist bis heute im schwedischen Gesangbuch vertreten, wenn auch seit 1986 (Svenska psalmboken, Nr. 241) verkürzt und ohne die oben zitierten Strophe. Aus deutschen Gesangbüchern ist es schon lange verschwunden. Deshalb wird die Strophe hier ganz zitiert; ­Söderblom konnte sich mit der ersten Zeile begnügen.]

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Bei Luther gehört die Briefstelle zu denen, die zeigen, wie abwegig es ist, seine Aussagen allein aus dem Gegensatz von Sünde und Gnade zu erklären. Die Melancholie muß entschieden mit einbezogen werden. Frühere Lutherinterpreten hatten mehr Recht, als sie wussten, als sie den Anfechtungen einen besonderen Platz in Luthers Frömmigkeit einräumten. Es ist natürlich, dass die spätere Theologie die gesamte Religion des Reformators unter dem entscheidenden Gegensatz Sünde und Gnade zusammengefasst hat. Aber eingehendere Lektüre Luthers lässt den Anteil erkennen, welcher der Schwermut in Luthers Theologie neben den allgemeinen Regeln für das Schuldgefühl zukommt. Schlaffe Naturen unter seinen Nachfolgern haben es indessen nicht schwer gehabt, in solchen Ausdrücken wie den hier angeführten aus dem Brief an Melanchthon Entschuldigungen für ihre Entgleisungen zu finden. Zum Verdruss des Teufels, das heißt um die Düsternis im Gemüt zu vertreiben, benutzte – und empfahl – Luther auch Scherzen und Schelten. Sowohl der derbe Spott als auch die Grobheit der Schimpfwörter erscheinen in einem anderen Licht und werden begreiflich, wenn wir sie vor dem Hintergrund der Melancholie sehen. Luther nennt sich „einen harten Sachsen und einen Bauern“. 337 Das merkt man schon von ferne. Aber [164] das dröhnende Lachen und der gewagte Scherz sind nicht immer so absichtslos. Es sprudelt und sprüht von guter Laune, spielerischer, herzhafter Heiterkeit und lustigen Wendungen in Luthers Reden und Schriften. Kein Wunder, dass er zu denselben Mitteln griff, wenn der Missmut kam. Der Humor nahm dann leicht Schärfe an und wurde zu Hohn. Aber es kommt auch vor, dass man nichts von der Unruhe bemerkt, die der Scherz verbergen und vertreiben soll, bis unversehens ein trauriges Wort auftaucht, wie in dem Brief von der Coburg, den wir früher338 angeführt haben, wo Luther nach der lustigen Beschreibung des Reichstags der Dohlen schließt: „Damit genug des Scherzes, aber eines ernsten und notwendigen Scherzes, der die mich bedrängenden Gedanken vertreiben soll, wenn er sie denn vertreiben wird“, oder als am Sonntag nach Michaelis 1541 seine Freunde, die sich von seiner Heiterkeit und seinen Scherzen hatten anstecken lassen, eine Entschuldigung für den Scherz zu hören bekamen: „Habt mirs nicht vor Uebel, ich bin fröhlich und guter Ding, denn ich hab heut viel böser Zeitung gehört vnd jtzt auch einen bösen Brief gelesen.“339 Die Verdrießlichkeit will den Menschen in brütenden, grübelnden Gedanken festhalten. Doch kann sie nicht die Oberhand gewinnen, solange es 337 [WA.TR 4, 655,10 (Nr. 5096): „sum rusticus et durus Saxo“.] 338 S. 13 f [des Originals]. 339 [WA.TR 5, 44,21–23 (Nr. 5284). Dort folgt noch der Satz: „Nun stehets recht, wenn uns der Teufel also zusetzet!“]

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dem Scherz gelingt, das Gemüt und die Dinge in Bewegung zu halten. Es bedurfte manchmal starker Mittel, um die nötige Heiterkeit hervorzurufen und die Stimmung hochzuhalten. Luther schreckte vor den zynischsten Grobheiten nicht zurück. Der Teufel und sein vermeintlicher oder wirklicher Anhang waren die Leidtragenden, ebenso aber der Ton von Luthers Hohn. Eine andere Gemütsregung, die noch grimmigere Anfälle von Schwermut abzuwehren vermochte, war der Zorn. „Man muss sich dennoch auf alle Weise bemühen, dass [die Gedanken des Teufels] durch einen noch heftigeren Affekt vertrieben werden.“340 Wir kennen sehr wohl Luthers ungehemmte Übellaunigkeit in der Polemik und in der Art, von [165] seinen Widersachern zu reden. Seltener jedoch hat man bemerkt, dass er weder einer überbordenden Zornesaufwallung nachzugeben noch bloß zum Spaß zu wettern pflegte, sondern die Zornesausbrüche benutzte und die Ausdrucksweise aufbauschte als Hilfe gegen die Melancholie. Er empfand das Befreiende in einem „tapferen Zorn“.341 Eines Tages im Dezember 1531 versuchte Luther zu zeigen, wie unsinnig es sei zu behaupten, „man sol den bapst nit schellten. Nur flugs darauff geschollten, vnd sonderlich, wenn dich der Teuffel mit der iustificatio anfichtet.“342 Wenig wählerisch griff Luther, wenn die Schwermut ihm zusetzte, zu der Gemütsregung, die er gerade hervorrufen konnte. Auch die Arbeit war eine Hilfe. Die rasende Arbeitswut bei Luther wurde von dem Antrieb des Genies und von den maßlosen Aufgaben erzwungen. Aber auch die Schwermut hatte daran ihren Anteil. Luthers unermessliche Arbeit findet ihre Erklärung zum Teil in dem Bedürfnis, die Unruhe des Gemüts zu betäuben. Der Teufel weicht nicht vor dem, der untätig ist und die Mühsal scheut.343 Besonders wirksam ist gedankliche Arbeit. „Man muss unterscheiden: Gedanken des Verstandes machen nit traurig, sondern die Gedanken des Willens, die thun es, das ein ein ding verdreusst oder gefellt yhm. Das sind die melancholischen und traurigen Gedanken, da man seuffzet vnd klagt. Der Verstand aber ist nicht traurig. So war ich nicht traurig, als ich gegen den Papst stritt, weil da die Gedanken des Verstandes an der Arbeit waren. Da hab ich mit freuden geschriben, so dass der Lehrer in Lichtenberg bei Tisch zu mir sagte: ‚Mich wundert, das yhr kondt ßo frolich sein; wenn der handel mein wer, ich must drub sterben.‘“344

340 [WA.TR 3, 257,23 f, Nr. 3298a (unmittelbare Fortsetzung des Zitats bei Anm. 295).] 341 [Vgl. WA.TR 1, 406,21 (Nr. 833).] 342 [WA.TR 1, 48,21–23 (Nr. 122).] 343 Vgl. Brief an Georg Scarabaeus vom 6.2.1540, Nr. 3441, WA.B 9, 45,21 f. 344 WA.TR 1, 215,26–216,1 (Nr. 491) [Der Lichtenberger Lehrer war lt. Anm. 17 in WA Wolfgang Weißenbusch, Präzeptor der Antonierherren.].

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Den Ehrenplatz vor allen diesen Hilfsmitteln – nächst der Theologie – nahm die Musik ein. Auch auf dieses Gebiet erstreckte sich Luthers Genialität. Er wurde zu einem der Schöpfer zeitloser Melodien. Er verfügte über kontrapunktische Bildung nach dem Standard [166] seiner Zeit. „Gott hat das Evangelium auch durch die Musik gepredigt, wie man an Josquin sieht …“ In Luthers Haus sang man oft die Melodien dieses berühmten französischen Meisters, „des alles composition frolich, willig, milde herausfleust, ist nitt zwungen vnd gnedigt [genötigt] per regulas, so wie des fincken gesang“, schrieb Luther im Jahr 1531.345 „Meine Lieder thun dem Teuffel sehr wee, wie er umgekehrt über unsere Ungeduld und unser awe [o weh] lacht.“346 Vor der Musik flieht der Teufel. „… daß die Musica ein herrlich und göttlich Geschenk und Gabe wäre, welcher ganz feind sei der Teufel, und man könne viel tentationes und cogitationes damit vertreiben, denn der Teufel erharret der Musica nicht gerne.“347 „Musica ist das beste Labsal einem betrübten Menschen, dadurch das Herze wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird; wie der sagt [es heißt] beym ­Virgilio …“ „Die Musica ist eine schöne, herrliche Gabe Gottes, und nahe der Theologie.“348

Der schöne Brief an den Komponisten Ludwig Senfl in München wurde am 4. Oktober 1530 auf der Festung Coburg geschrieben. „Es besteht kein Zweifel, dass sich viele Samen guter Tugenden in den Seelen finden, die durch die Musik berührt werden. Die aber nicht davon berührt werden, gleichen nach meiner Meinung sehr Klötzen und Steinen. Denn wir wissen, dass die Musik auch den Dämonen widerwärtig und unerträglich ist. Ich urteile ganz offen und scheue mich nicht zu behaupten, dass es nächst der Theologie keine Kunst gibt, die mit der Musik vergleichbar wäre, denn sie allein bringt nächst der Theologie zuwege, was sonst nur die Theologie zuwege bringt, nämlich ein ruhiges und frohes Gemüt. Ein klarer Beweis besteht darin, dass der Teufel, der Urheber trüber Sorgen und ruhelosen Tumultes, vor den Tönen der Musik beinahe ebenso flieht wie vor dem Wort der Theologie. Daher kommt es, dass die Propheten keine Kunst so ausgeübt haben wie die Musik. Denn sie 345 WA.TR 2, 11,26–12,2 (Nr. 1258). [Josquin Desprez, ca. 1440–1521, franzö­ sischer Komponist, Wegbereiter des Barock, schrieb Messen und Motetten; vgl. Anm.1 in WA.] 346 [WA.TR 4, 25,22–24 (Nr. 3945). S­ öderblom folgt für den ersten Satz der Version B: „Unsere Lieder sind dem Teufel sehr beschwerlich und lästig“, formt sie aber um zu „ärgern den Teufel“. Den zweiten Satz gibt er sehr frei wieder: Aber er freut sich und lacht, wenn wir uns Schmerzen zufügen und rufen: ‚O weh, o weh!‘“.] 347 WA.TR 1, 86,19–21. 348 WA.TR 1, 490,19 f. 41 (Nr. 968).

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haben ihre Theologie nicht in Geometrie, nicht in Arithmetik, nicht in Astronomie, sondern in Musik ausgelegt, um Theologie und Musik [167] ganz eng mitein­ander zu verbinden, indem sie die Wahrheit in Psalmen und Liedern ausdrückten. Doch wie komme ich dazu, die Musik jetzt so zu preisen, indem ich eine so bedeutende Sache auf einem so kleinen Zettel zu schildern oder vielmehr zu verunstalten versuche? Aber so überschäumend ist meine Begeisterung für sie. Sie hat mich so oft erfrischt und von großen Unannehmlichkeiten befreit.“349

Wenn Luther Musik hörte, verging seine Schwermut und Düsterkeit. Hätte er nicht einmal, als er heftig angefochten war, im Garten beim Lavendel ein Lied gesungen: „Christum wir sollen loben schon [schön]“, so wäre er zugrunde gegangen.350 Die gleichen Gedanken und Erfahrungen kehren häufig wieder. Aus der breiten Schilderung der Musik, die Luther als Vorwort zu den 1538 bei Georg Rhau in Wittenberg veröffentlichten vierstimmigen Motetten geschrieben hat, mögen ein paar Auszüge angeführt werden. Das Vorwort ist den Musikstudenten zugeeignet. „Jene göttliche und herrliche Gabe, die Musik, möchte ich von Herzen gelobt und allen empfohlen haben. Aber ich bin so überwältigt von der Größe und Menge ihrer Vorzüge und ihres Wertes, dass ich weder Anfang noch Ende der Rede finden kann und genötigt bin, angesichts des gewaltigen Überflusses ein dürftiger und armseliger Lobredner zu sein.“

Dann wird ausgeführt, wie nichts ohne einen Laut ist. Doch die Musik entsteht vor allem bei den lebendigen Wesen, besonders bei den Vögeln, die jedoch im Vergleich mit der menschlichen Stimme ebenso unmusi­ kalisch sind wie alles andere. Staunend steht man vor einer so unendlichen Vielfalt und Klarheit der Töne, über welche die menschliche Stimme verfügt. In Bezug auf den Gebrauch und die Wirkung der Musik, welche „die redegewandteste Redegewandtheit der Redegewandtesten weit übertrifft“, beschränkt sich Luther darauf, seine eigene Erfahrung anzuführen, „dass die Musik die einzige ist, die nächst Gottes Wort zu [168] Recht als Beherrscherin und Lenkerin der menschlichen Affekte zu preisen ist (von den Tieren ist hier zu schweigen), von denen die Menschen selbst doch oft, gleichsam unter ihrer Herrschaft stehend, fortgerissen werden. Ein höheres Lob der Musik

349 Brief an Ludwig Senfl vom 1. (4.?) 10. 1530, Nr 1727, WA.B 5, 639,9–23. [Zur Datierung vgl. Anm. 219] Der Schluss dieses Briefes steht oben auf S. 111 [des schwedischen Originals]. 350 Vgl. WA.TR 1, 243,23–25 (Nr. 522).

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als dieses kann man sich (jedenfalls nach meiner Auffassung) nicht vorstellen. Willst du nämlich Traurige aufrichten oder Fröhliche erschrecken, Verzweifelte ermuntern, Hochmütige beugen, Liebende beruhigen, Hassende besänftigen – und wer will all die Herren über das menschliche Herz aufzählen, das heißt die Affekte und Antriebe des Geistes, die Anstifter aller Tugenden und Laster – was kannst du da Wirksameres finden als eben die Musik?“351

Zum rein religiösen Trost gehörte, dass die Männer der Bibel und andere Heilige ähnliche Widrigkeiten erlitten haben. Es gibt in der Bibel kein so allgemeinmenschliches Buch wie den Psalter. Da fand Luther sich wieder in der Not und Klage der Elenden. Er fand eine Antwort auf seine bange Frage: „Bin ich der Einzige, der vom Geist der Traurigkeit geplagt wird?“ In der Schrift über die Mönchsgelübde von 1521 berichtete er seinem Vater, der jetzt Recht bekommen hatte gegen den unbotmäßigen Beschluss des Sohnes, ins Kloster zu gehen: „Satan scheint seit meiner Kindheit etwas von dem in mir vorausgesehen zu haben, was er jetzt leidet. Darum wütete er mit unglaublichen Machenschaften in mir, um mich zu verderben und zu behindern, so dass ich mich oft wunderte, ob unter den Sterblichen ich allein es sei, den er angriff.“352

Es war ein Trost, auf diese Frage ein Nein zur Antwort zu bekommen. „Ich bin so müde vom Seufzen, ich schwemme mein Bett die ganze Nacht und netze mit meinen Tränen mein Lager“. Der dies schrieb in Psalm 6,7, war Luthers Seelenverwandter. 353 In der gewichtigsten Schilderung religiöser Melancholie, die wir von Luther besitzen, führt er 1518 mehr als einmal den Psalter an.354 Pfarrer Bugenhagen in Wittenberg, als solcher­ Luthers Beichtvater, verglich dessen schlimmste [169] Verfinsterungen der Seele 1527 mit „den geistlichen Höllenqualen, die oft im Psalter beschrieben werden“.355 Als Schlaginhaufen am Altjahrsabend 1531 in Luthers Haus in Ohnmacht fiel, wurde er damit getröstet, dass David ähnliche Anfechtungen erlitten habe, so wie auch Luther selbst oft davon heimgesucht wurde.356 Im Frühjahr 1532 äußerte Luther eines Tages: „Ich bin mir 351 Vorrede von der Himlischen Kunst Musica (1539), WA 50, 368–374; die Zitate 368,3–8; 370,13–371,9. 352 De votis monasticis iudicium (1521), WA 8 (573–669), 574,22–25. 353 Vgl. WA.TR 2, 112,4 f (Nr.  1490; dort verkürzt). 354 [Sermo de poenitentia, WA 1, 319–324.] 355 [Vgl. Johannes Bugenhagen, Briefwechsel, hg. v. O. Vogt, Stettin 1888/89 u. Gotha 1910, Nachdruck Hildesheim 1966, Brief an Justus Jonas vom Juli 1527 (64–73), 65; statt „Höllenqualen“ steht da nur: „eine schwere geistliche Anfechtung“.] 356 WA.TR 2, 28,12 f (Nr.  1289)

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selbst feind, weil ich nicht von Herzen an den Artikel von der Vergebung der Sünden glauben kann. Aber David und andere haben auch uil [viel]­ hertzen leidt gehabt mit der vnd andern Anfechtungen.“357 Die während einiger Wochen 1537 nachlassende Schwermut lehrte Luther, „den Psalter ein wenig zu verstehen“. 358 Der Psalmenkommentar und die Predigten sind voll von Belegen dafür, dass das jüdische Psalmenbuch keinen dankbareren Leser und Ausleger hatte als Martin Luther. Er, ebenso wie andere, legte in die Klage der Psalmisten – sei es, dass sie sich auf einen Einzelnen oder, manchmal, auf das Volk oder den Fürsten bezogen – seinen eigenen Schmerz hinein. Luther las bei ihnen Beschreibungen der Angst der Melancholie, während der Jammer der Psalmisten in der Regel auf Krankheit, Not und Unglück beruht, vereinzelt auf spontanem Schuldgefühl. Doch trotz dieses wichtigen Unterschiedes ist Luthers Vorliebe für den Psalter auf eine Weise berechtigt, die man [bisher] nicht erkannt hat. Luthers zweite Vorlesung über die Psalmen wurde in den Jahren 1519 bis 1521 veröffentlicht. 359 Er hatte schon damals Erfahrung mit der Finsternis der Schwermut. Wenn er die Anfechtungen in den Psalmen wie bei den anderen Männern der Bibel wiederfindet, so spricht er sich selbst Trost zu, wenngleich er die Aussagen nicht so dezidiert wie später, insbesondere nach 1527, auf sich selbst bezieht. Eine wichtige Stelle ist der sechste Psalm. „Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ Die Worte werden von Luther auf das Schuldgefühl gedeutet, und er schreibt selbst dem Heiland im Garten Gethsemane „dieses Erschrecken und Erbeben des Gewissens im Angesicht des Gerichtes Gottes“ zu. „Hier sieht [170] sich nämlich die Seele, jeglichen Gottvertrauens beraubt, bloß als entsetzlich schuldig und ganz allein vor den Richterstuhl des ewigen und zornigen Gottes gestellt.“ Das Gewissen sieht nichts anderes vor sich als die ewige Verdammnis. Luther traut sich noch nicht zu, trotz des seelischen Leidens, das sich in dem Bekenntnis von 1518 spiegelt, die ganze Anfechtungsnot des Psalmisten und Heiligen auf seine eigene geringe Person zu beziehen. „Es gibt niemanden, der dieses starke Gefühl … versteht, der es nicht selbst verspürt hat, deshalb können wir es nicht angemessen behandeln.“ Doch die Männer der Schrift wissen davon. „Mehr als andere hat Hiob darunter gelitten, und das häufig. Sodann David und der König Hiskia (nach Jes 38) und ein paar andere. Schließlich gedenkt jener deutsche Theologe Johannes Tauler seiner nicht selten in seinen 357 WA.TR 2, 111,30–112,1 (Nr. 1490). 358 Vgl. WA.TR 3, 412,19 (Nr. 3558A). 359 Vgl. zum dem ganzen nächsten Stück: Operationes in Psalmos (1519–1521), WA 5, 203–205. Die Zitate stehen 203,1–6. 12–30; 204,8–11. 21–27; 205,1.

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Predigten.“ Hierauf folgt ein interessanter Beleg für eine mittelalterliche Auslegungsweise, welche die Seelennot der Mystik auch in etwas wiedererkannte, was einen ganz anderen Ursprung hat. „Dies scheint mir auch die Anfechtung zu sein, die Christus Lk 21[, 26] vorhergesagt hat, wo er unter den Wehen der Endzeit auch die Schrecken vom Himmel aufzählt, die dazu führen, dass die Menschen vergehen vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den ganzen Weltkreis hereinbrechen, so dass in der gefährlichsten und schlimmsten Zeit auch die gefährlichste Drangsal herrscht. Aber wir sehen auch, dass viele, die solches erlitten haben und sich keinen Rat wussten, in Wahnsinn verfallen oder immer weiter dahingeschwunden, in Traurigkeit versunken und verzehrt worden sind.“

Über diesen Seelenzustand der Angst fügt Luther nun hinzu, dass der Unterschied zwischen knechtischer Furcht und Liebe hier nicht gemacht werden kann. Es geht um „die Finsternis über dem Abgrund … Die sklavischste Furcht und Angst vor Strafe und die glühendste Liebe gehen hier zusammen, wie Christus im 142. Psalm [V. 5) sagt: ‚Ich kann nicht entfliehen, niemand nimmt sich meiner an.‘ Die Liebe ist in unbegreiflicher Tiefe verborgen, und die sklavische Furcht erscheint mit [171] unerträglicher Kraft. Der Geist schwebt über den Wassern, und es bleibt nur ein unaussprechlicher Seufzer.“

Luther beschreibt sodann, wie dieser sechste Psalm im Psalter und andere Bibelstellen unmissverständlich ein Gefühl für Gottes Zorn und Ver­ nichtungsmacht bezeugen. Doch auch die Barmherzigkeit ist da. Somit hat Gott eine doppelte Rute: die Rute des Zorns und die Rute der Barmherzigkeit. Aus unserer Psalmstelle, dem Anfang des sechsten Psalms, geht hervor: „dass wenn jemand sich in dieser schlimmen Drangsal befunden hat, er nur zu eben diesem zornigen Herrn fliehen kann. Doch ist dies sehr hart und mühevoll, und man kann wirklich nur gegen alle Hoffnung hoffen und sich gegen das offenkundig Unverrückbare stemmen“,

wie Hiskia und Hiob von sich selbst bezeugen. „Wie sollen diejenigen, die nicht gelernt haben, in leichteren Anfechtungen ihre Zuflucht zu dem zu nehmen, der sie durchbohrt, das heißt, zu Gott, wie bei den Propheten breit beschrieben, dass man es tun soll, weil er selbst all das bewirkt, wie sollen die in dieser äußersten Bedrängnis zu ihm fliehen …?“ „Alle anderen Anfechtungen sind gegenüber dieser vollendeten wie erste Anfänge und Vorspiele, in denen wir daran gewöhnt werden sollen, zu Gott gegen Gott [ad deum contra deum] zu fliehen.“

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Gegen solche Verzweiflung hilft kein Ablass, sondern einzig die Fürbitte der Gemeinde. Wer solches erleidet, muss sich streng an die Anweisung unseres Psalms halten, sich an Gott zu wenden, nicht an Menschen.­ Luther spricht hier von den „Eingeweihten“, mystae; die Anfechtung ist ein Geheimnis. Wie die klassische Tradition der Mystik und so mancher seelisch sensible Mensch vor ihm und nach ihm sah Luther somit in der Schrift, am allermeisten im Psalter, Schilderungen des Zustandes, der ihn selbst quälte. Alles, was in der Bibel über Not und Beklemmung gesagt ist, wird bei­ Luther zum typischen Ausdruck für das dunkle Geheimnis, mit dem er schon zu dieser Zeit anfing vertraut zu werden. Auch so handfeste Dinge wie der Tod und das Reich des Todes werden [172] von Luther hier noch in das psychologische Schema eingeordnet. Der sechste Vers des sechsten Psalms: „Im Tode gedenkt man deiner nicht; wer wird dir bei den Toten danken?“ wird damit erklärt, dass der Psalmsänger Tod und Todesreich erfahren habe. „Denn er spricht dies nicht in der Art der Sophisten, die sich erdreisten, über eine ihnen unbekannte Sache irgendetwas zu erfinden, sondern er gibt seine eigene Erfahrung wieder und schildert diesen Seelenzustand klar und deutlich.“ „Was bedeutet also ‚im Tode und im Reich des Todes‘? Zuerst Gottvergessenheit, dann ewige Lästerung … Er sucht einen Fluchtweg, findet ihn aber nicht, und verwickelt sich dann bald in heftigen Hass auf Gott; zuerst wünscht er sich einen anderen Gott, dann, selbst nicht zu existieren, und so lästert er die höchste Majestät, von der er sich wie gesagt aufs Dringlichste wünscht, dass sie nicht sei, und wenn er könnte, würde er das auch zuwege bringen.“360

Wie wir gesehen haben, nimmt das Schuldgefühl einen wesentlichen Platz in der Angst der Seele ein. Aber es geht nicht allein um das Problem von Schuld und Vergebung, sondern um ein geheimnisvolles Leiden, das es zu bekämpfen gilt. Der Psalter handelt zumeist von äußeren Bedrängnissen und Widrigkeiten, die den Psalmisten ihre Klagelieder abpressen. Luther spricht von rein geistlichen Affekten. Aber die folgende Übereinstimmung ist es wert, beachtet zu werden. Da der Psalmsänger nicht bei einem äußeren Anlass für seine Not, nämlich der Bosheit der Widersacher, stehen bleiben und Gottes gegen sie anrufen kann, ist der Gedankengang in den Psalmen – wie in manchen babylonischen Klagepsalmen und anderen religiösen Reden unter Bedrängnis – oft dieser: ich leide, ich bin unglücklich, durch den Übermut der Menschen, durch körperliche Qualen, Enttäuschungen, Unglück, also muss Gott zornig auf mich sein, also muss ich gesündigt haben. Gegenüber 360 A. a. O., 209,25–27; 209,36–210,2.

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dieser für den antiken Vergeltungsglauben wie für die natürliche religiöse Psychologie selbstverständlichen Schlussfolgerung lassen die Frommen des Alten Testaments zwei einander entgegengesetzte Einstellungen erkennen. Hiob und manche [173] Psalmisten beteuern ihre Unschuld, sie sind sich keines Bösen bewusst; befangen in dem engen Moralismus des Vergeltungslaubens, stehen sie vor einem schweren Problem, das einige von ihnen durch eine höhere, innigere Erfahrung von Gottes Macht oder durch eine neue Deutung des Leidens durchbrochen haben. Doch diese Fälle sind Ausnahmen. In der Regel bleibt es bei der Schlussfolgerung: Ich muss den Herrn besänftigen und die Ursache seines Missfallens sowie meines dadurch bedingten Unglücks beseitigen. Vergib mir meine verborgenen Fehler. Dagegen entsteht das Gefühl von Gottes Zorn nur selten, so wie im 51. Psalm, aus einer unmittelbaren Gewissensnot, das heißt, aus dem Schmerz über eigene Fehlbarkeit und Sünde. Bei Luther finden wir einen ähnlichen Verlauf, wenngleich auf dem Gebiet des inneren Lebens. Er hat täglich Fehlbarkeit und Sünde erkannt und anerkannt und Vergebung empfangen. Aber daneben gab ihm die Melancholie Zweifel und ein Gefühl des Zornes Gottes ein, das er mit seiner Wahrheitsliebe beim Durchdenken und Prüfen nicht auf eigene Schuld zurückführen konnte. Während die Qual vor sich ging, brachte sie ihn an den Rand der Verzweiflung; er selbst spricht von Lästerung. Doch dahinter steht als unwandelbare Ruhe in der Tiefe unter dem stürmischen Wogenschwall die Gewissheit von Gottes Gnade. Die Anfechtungen bewegten ihn nicht zu der Bitte: Vergib mir doch die mir unbekannten Verfehlungen, die durch diese Qual bestraft werden. Dafür war er zu klarsichtig und aufrichtig. Vielmehr hatte er von Paulus und der Mystik, wie wir gleich sehen werden, eine neue Deutung des Leidens gelernt, selbst in dessen höllischer Form der Schwermut. Doch zuerst und zuletzt kam ihm die dualistische, dem Psalter noch unbekannte Welterklärung zu Hilfe: Es ist der Feind schlechthin, der Teufel, der meine Qual und mein Gefühl der Verlassenheit verursacht. Diese Verlassenheit konnte von der Art sein, dass Luther den Fluch Hiobs zu dem seinen machte. Heftige Gliederschmerzen im Arm nötigten ihm am 1. August 1538 das Gebet ab: [174] „Ah, lieber Hergott, hab ich nicht genug gelebt? Was zeihest du mich? Doch lass mich beten mit dem Propheten Jona: Und jetzt, Herr, nimm bitte mein Leben von mir …“ Aber am Tage danach, nach einer unter Qualen durchwachten Nacht, sprach Luther: „Gelobt sei der Name des Herrn! Das kan man noch sprechen, den es ist noch leidlich, den pfennig, rock, die hautt hinein zu schicken. Wenn jedoch die geistlichen Anfechtungen kommen, das das ‚Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde‘ [Hi 3,1 ff] drauff folget, da hats muhe.“361 361 WA.TR 4, 17,1–4 (Nr. 3929); 19,14–18 (Nr. 3933).

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Luther musste sich sowohl in Jammer und Verzweiflung als auch in Erwartung der Hilfe mit Hiob vergleichen. Einmal nennt er in der Auslegung des kürzlich angeführten sechsten Psalms im Jahr 1519 „vor anderen“ Hiob und danach David, Hiskia und ein paar andere. 362 Das Neue Testament bietet größere Vorbilder in der Anfechtung. „Deshalb müssen alle, die angefochten sind, sich Christus als Beispiel vor Augen halten, der auch angefochten wurde; aber es ist yhm seurer worden als Euch und mir.“363 Christus selbst wankte auf dem Ölberg. Er musste denken: „Ich weiß nicht, wie ich mit Gott dran bin, ob ich damit recht handle oder nicht.“ Auch Christus und Paulus hatten genug mit dem Teufel zu tun, so wie Luther täglich seine Agonismen erlebte.364 Ein anderes Mal, am 16. August 1538, machte Luther einen Unterschied zwischen Jesus und dem Apostel und sich selbst bezüglich der Anfechtungen, die doch von den Zeitgenossen kein anderer als Luther hatte ertragen können, und bezüglich der Verschiedenheit der Anfechtungen auf Grund der Verschiedenheit der Menschen. „So hätte ich die Faustschläge des Satansengels nicht365 aushalten können, wie auch Paulus die schwersten Anfechtungen Christi nicht hätte ertragen können.“366 Doch er stellt sich sogar neben den Heiland. Die Widersacher zwingen ihn, mit Christus zu klagen. 367 Es versteht sich von selbst, dass Luthers wichtigster Lehrmeister, [175] Paulus, ihm auch durch seinen Pfahl im Fleisch vertraut sein sollte. „Die Anfechtung des Glaubens ist Pauli skóloy, ein grosser bratspis vnd pfal, der Geist und Fleisch durchdringt.“368 Luther konnte nicht umhin, das besondere Leiden des Paulus entsprechend seiner eigenen qualvollen Erfahrung zu deuten, so wie es, ebenso willkürlich, die Mystiker auf ihre methodischen seelischen Martern und Thomas von Aquin auf die Versuchungen des Fleisches gedeutet haben. Der Kern der Anfechtung des Paulus waren nach Luther Zweifel am Glauben, über die er ebenso wenig wie Luther vor vielen sprechen konnte. Mit anderen Worten, die geistliche Not des Paulus beruhte auf dem Unvermögen, zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. „Paulus vnd ich habens noch nie dahin konnen bringen.“369 Daraus geht, obwohl die Systematiker es nicht immer bemerken, so klar 362 WA 5, 203,14 f. 363 [WA.TR 1, 63,15 f (Nr.  141). S­ öderblom zitiert nach H. Grisar, a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 307.] 364 Vgl. WA.TR 4, 97,24–26 (Nr. 4043). 365 Grisar, a. a. O., Bd.  3, 269 fügt hinzu: „ohne besondere Hilfe“. 366 Vgl. WA.TR 4, 37,12–15 (Nr. 3962). 367 Vgl. Brief an Justus Jonas ca. vom 10.11.1527, Nr. 1168, WA.B 4 (279 f), 279,3–6. 368 [WA.TR 3, 520,32 f (Nr.  3678). ­Söderblom zitiert nach H. Grisar, a. a. O., Bd.  3, 306, der am Ende die Worte „Leib und Seele“ hinzufügt.] 369 WA.TR 2, 131,19 f (Nr.  1557).

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hervor, wie man nur wünschen kann, dass die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium für Luther zumeist nicht eine theoretische Klarheit bedeutete – die besaß er durchaus –, sondern die Kraft des Glaubens, wenn es darauf ankommt, sich fest an Gottes Verheißung zu halten gegen die sensible Empfänglichkeit des Gewissens für Selbstbezichtigung und Melancholie. St. Paulus verstand etwas von der Sache, wenn er die Schläge des Teufels verspürte. Schon Staupitz hatte Luther während der Klosterzeit zum Trost auf die Anfechtungen des Paulus hingewiesen. Luther lernte auch Petrus verstehen, insofern er die gleichen Leiden durchlief, die den Brüdern in der Welt widerfahren, die jedoch jetzt gegen Ende der Welt schlimmer waren. „Wenn es eine apostolische Gabe ist, Kämpfe mit Dämonen auszufechten und oft in Todesnöten zu sein, dann bin ich gewiss in dieser Hinsicht Petrus oder Paulus, wiewohl meine übrigen Gaben nicht so sehr apostolisch sind …“370 Es war ein Trost zu sagen: „Du bist nicht der Einzige, der so angefochten ist. Ich bin ir gewont, auch Petrus und Paulus haben diese [Anfechtungen] gespürt.“371 Hieronymus, Augustinus und Ambrosius hatten „fleischliche und kindische Anfechtungen“, die ein Nichts waren im [176] Vergleich mit Satans Schlägen, da man an den Galgen gehängt wurde. Da verschwinden für den Angefochtenen sowohl die Versuchungen des Hieronymus und andere. 372 Leiden muss allen Heiligen widerfahren, auch uns kann es nicht besser ergehen.373 Aber was die Anfechtung angeht, so äußerte Luther im Frühjahr 1532, dass Gerson (gest. 1429) der Erste gewesen sei, der diese Frage in die Theologie einführte. „Er hatte Erfahrung in vielerlei Anfechtungen.“374 Die Vertreter innerlicher Frömmigkeit vor Luther hatten ähnliche Seelenqual erfahren. Diese Entdeckung machte ihn vertraut nicht bloß mit Paulus, Augustinus und Bernhard, sondern auch mit Tauler und dem mystischen Traktat, der unter dem Namen Deutsche Theologie geht. Er las darüber, wie auch diese in der geheimnisvollen Tiefe gewesen waren. Es entstand eine Freimaurerei zwischen ihnen. Luther blieb in seiner Umgebung unverstanden, wiewohl wärmstens getröstet mit den Beruhigungsmitteln der Kirche und später oft selbst als Tröster für trübsinnige Seelen gesucht. Jetzt fand er, dass andere auf ähnlichen Wegen geführt worden waren. Er war nicht allein. 370 Brief an Justus Jonas vom 19.4.1529, Nr. 1410, WA.B 5, 55,4–6. [­Söderblom hatte die Stelle bereits oben zitiert, vgl. bei Anm. 194. Er wandelt hier, vermutlich aus dem Gedächtnis zitierend, den Wortlaut ein wenig ab, ohne jedoch den Sinn zu modifizieren. Ich habe deshalb den lat. Text wie oben übersetzt. D. Hg.] 371 WA.TR 2, 29,16–18 (Nr. 1289). 372 [WA.TR 4, 490,19–24 (Nr. 4777).] 373 Vgl. Brief an Martin Baumgartner vom 11.9.1528, Nr. 1323, WA.B 4, 530 f. 374 WA.TR 2, 114,1–3 (Nr. 1492).

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Wir kommen jetzt zu Luthers positiver Einschätzung von Zweifel und Herzensangst, die wir ihn bisher als Werk des Teufels haben abweisen hören. Er fand ja eine besondere Hilfe darin, sich die Herkunft solcher Gedanken von dem Bösen klar zu machen. Das hindert jedoch nicht, dass sie ihren Nutzen haben. Haben die Heiligen sie erfahren, dann hat das einen Sinn gehabt. Sie gehören zu den Wehen der Endzeit und bringen denen vielfältigen Gewinn, die mit einem solchen Züchtigungsmittel begnadet werden. Hier kommt die Kreuzestheologie der Mystik, theologia crucis, Luther sehr gelegen. Den Widrigkeiten des Lebens fügten die Mystiker asketische Übungen hinzu, insbesondere die Demütigung und Ängstigung des Geistes. Staupitz hatte bei Tisch zu Luther gesagt: „Ah, Ihr wisset nicht, daß Euch solche Tentatio gut und noth [177] ist; sonst würde nichts Guts aus Euch.“375 Soweit Staupitz verstand, sind die Anfechtungen „für uns nötiger als Essen und Trinken. Darum die sie fühlen, sollen sich daran gewöhnen, sie zu tragen.“ Der Gewinn, den die Anfechtung der Seele bezweckt, ist im Wesentlichen zwiefältig, negativ und positiv. Das Leiden wirkt dem Hochmut entgegen. Zugleich werden dadurch die Gewissheit und die Reinheit der Lehre befördert. Luther fügt hinzu, wie wir bereits gehört haben: „Ir solts lernen tragen, quia [denn] das ist der recht christianismus. Wenn der Satan mich nicht so auf die Probe gestellt hätte, so hett ich im nit kondt so feind sein, hett im auch nit konnen so schaden thun. Ebenso angesichts eines solchen Überflusses an Gottes Gaben, die ich bekennen vnd sagen mus, das es Gaben Gottes sein, weil sie nicht meine sind, wer [wäre] ich in abgrundt der hell durch Hochmut gefallen, wären da nicht die Anfechtungen gewesen. Vnser Herr Gott leret mich also, das sie nitt mein sein, sonder sein, denn wenn tentatio [Anfechtung] kompt, so kan ich nicht [einmal] eine einzige lässliche Sünde uberwinden. So bewahrt also die Anfechtung vor Hochmut und vermehrt zugleich die Erkenntnis Christi und die Gaben [Gottes], denn seit der Zeit, in der ich so angefochten war, hat mir Gott jenen herrlichen Sieg verliehen, dass ich meine Möncherei, die Gelübde, die Messen und all diese Gräuel überwunden habe.“376 „Wenn wir nicht schwach weren, so wurden wir zu stoltz werden.“377 „Ich hab mein theologiam nit auff ein mal gelernt, sonder hab ymmer tieffer vnd tieffer grubeln mussen, da haben nich meine tentationes hin bracht, denn ohne Anwendung kann man nicht lernen. Das feylet den schwermern …“

Da helfen die körperlichen Leiden nichts; sie vermögen nicht den Menschen zu demütigen; „… kommen nicht geistliche Anfechtungen, so wird 375 [WA.TR 1, 50,33 f. (Nr.  122).] 376 WA.TR 2, 13,26–14,8 (Nr. 1263). 377 WA.TR 2, 19,7 f (Nr.  1270).

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der Mensch nicht besser werden.“ Diese „sind uns sehr nützlich und nicht, wie es scheint, das Verderben, sondern eine Lehre, und jeder Christ soll bedenken, dass er Christus nicht kennen lernen kann ohne Anfechtungen.“378 „Hätte uns der Teufel diese Jahr her, beide, mit Gewalt und List [178] so heftig nicht angriffen, wir wären zu der Gewißheit in der Lehre niemals kommen“, schrieb Luther im Jahr 1539.379 Somit hatte Luther nach wiederholten Selbstzeugnissen seiner Seelennot Gewissheit und Gewinn in seinem Glauben zu verdanken. Die Geschichte der Religion bestätigt dies, wie wir sehen werden, auf eine Weise, die Luther sich kaum vorgestellt hat: Die Schwermut hat wesentlichen Anteil an der Neuschöpfung der Religion durch Luther. An dieser Stelle sollten wir den Trost notieren, den er in der Überzeugung vom Wert der Anfechtung findet und gibt. In seiner gewaltigen Schrift gegen Erasmus bekennt Luther, dass er bis an den Rand des Abgrunds geraten sei. Doch er „hatte bemerkt, wie heilsam diese Verzweiflung war und wie nahe der Gnade“. 380 Einmal traf er in einem Tischgespräch im Jahr 1531 eine klare Unterscheidung zwischen den Anteilen Gottes und des Teufels an den Anfechtungen. „Gott liebet und hasset die Anfechtungen. Er liebt sie, wenn die Anfechtungen uns zum Gebet herausfordern, er hasst sie, wenn wir durch sie verzweifeln wollen.“381 Wir hörten, dass die tentatio geradezu ein Privilegium genannt wurde. Dieses Vorrecht wird sowohl gegen Rechts als auch gegen Links geltend gemacht, gegen die Päpstlichen und gegen die Schwarmgeister. Die hohen Anfechtungen hat kein Papist verstanden. „Diese dummen Esel kannten keine andere Anfechtung als die durch die Wollust …“ Ein anderes Mal sagte er: „… wir habn die grosn Teuffel, die sind theologiae doctores; die Türken aber und die Papisten haben die unbedeutenden Teufel [,nicht Theologen, sondern Juristen].“382 Es gibt bei Luther eine Reihe von Äußerungen, in denen er Hilfe gegen die Melancholie bei dem Gedanken sucht, den Staupitz und andere ihm eingegeben hatten, dass die widersinnigen und für sie unbegreiflichen Anfechtungen, unter denen er litt, Zeichen einer besonderen Erwählung 378 WA.TR 1, 146,12–14 (Nr. 352); WA.TR 2, 131,8–10 (Nr. 1557); WA.TR 2, 13,20–22 (Nr. 1263). 379 Erste Epistel St. Petri ausgelegt, 2. Bearbeitung von 1539, E. A. 52, 24 [Die WA enthält nur die erste Fassung von 1523: Bd. 12, 259–399.]. 380 De servo arbitrio (1525), WA 18 (600–787), 719,9–12, 381 WA.TR 2, 19,11 f (Nr.  1270). 382 WA.TR 4, 661,1 f (Nr.  5097); WA.TR 2, 442,7–9 (Nr. 2387b). [­Söderblom zitiert beide Stellen nach H. Grisar (a. a. O. (wie S. 43, Anm. 37), Bd. 3, 275 und 298). Im ersten Zitat macht er die theologiae doctores zum Subjekt: „Wir, die Doktoren der Theologie“; doch Luthers Formulierung spricht dagegen. – Er führt noch eine weitere Stelle bei Grisar zum Vergleich an: Bd. 2, 651.]

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sein müssten. Wir haben kürzlich gehört, dass Luther der Meinung war, ohne das seelische Leiden hätte er dem Teufel, das heißt dem unchristlichen Treiben in der Kirche, nicht solchen Abbruch tun können, wie er es getan hatte. Dieser Trost war [179] sittlich nicht unbedenklich. Dass Luther der Gefahr entgangen ist, beruht darauf, dass die Melancholie bei ihm so wirklich und fürchterlich war, dass er nicht einen Augenblick auf den Gedanken kommen konnte, sich mit den Anfechtungen zu brüsten, geschweige denn sich solche Erfahrungen zu wünschen um der göttlichen Anerkennung willen, die sie bedeuteten. Der Weg nach Worms bedeutet für Luthers Anschauung und Werk eine immer sicherer und kühner gezogene Grenzlinie zwischen der persönlichen Gewissheitsreligion und dem römischen System. Von der Wartburg aus musste Luther nicht ohne Sorge Gefahren an einer entgegengesetzten Front heraufziehen sehen – die jedoch mit Rom vereint war durch das gemeinsame Unvermögen, die evangelische Freiheit zu begreifen. Karlstadt, Luthers zunächst schützender, dann rivalisierender Kollege und Gesinnungsgenosse, und das bunte Völkchen von Wirrköpfen, Zeloten, Patentfrommen, Winkelpredigern und grübelnden Mystikern, die in der Reformation neue Möglichkeiten für sich selbst, ihre Lieblingsmeinungen und ihre Freiheitsschwärmerei sahen, begannen auf ihre Weise die Konsequenzen aus Luthers Grundsatz zu ziehen. Am Weihnachtstag 1521 und an den folgenden Feiertagen drängte sich die Gemeinde zu Karlstadts hussitisch verändertem Abendmahl. Der Altar wurde beseitigt, Bilder wurden verbrannt, auf Messgewändern wurde herumgetrampelt, Priester wurden aus der Kirche vertrieben, als sie die Messe lesen sollten. Luther hielt diesen Reformeifer in doppeltem Sinn für verwerflich. Er wollte niemals schwache Gewissen unnötig stören. Und seine Stellung zu heiliger Tradition und Kunst war durch und durch pietätvoll und konservativ, solange das Evangelium nicht Schaden nahm. Hinter diesen Bedenken stand sein Anliegen der geistlichen Freiheit des Evangeliums; Luthers Blick war zu klar, als dass er sie einer neuen – radikalen – Form von Gesetzesreligion geopfert hätte. Die Gefahr bestand darin, dass die Aufmerksamkeit vom Innerlichen, dem Glauben und der Gnade, auf äußerliche Veränderungen gelenkt wurde.383 Die Unordnung verschlimmerte sich, als eine Anzahl [180] Propheten, Abgesandte Gottes, wie sie sich nannten, sich in Wittenberg einfand. Sie betörten Gelehrte und Ungelehrte mit ihrer Spiritualität und ihrer klaren Linie. Jetzt sollte die Welt entschlossen von Götzendienst 383 Vgl. Brief an die Prediger zu Lübeck vom 12.1.1530, Nr. 1520, WA.B 5, 220 f; gegen die Bilderstürmer auch den Brief an Wilhelm Pravest vom 14.3.1528, Nr. 1239, WA.B 4, 411 f, und den Brief an Johann Sutel vom 11.1.1531, Nr. 1768, WA.B 6, 12; sowie Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen (1522), WA 10/ II (11–41), 33,15–34,19.

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und Unterdrückung gereinigt werden und das Reich Gottes kommen. Luthers Halbheit wurde ein mitreißendes geistliches und weltliches Drängen auf Freiheit entgegengesetzt. Beide Ziele sind in Karlstadts Verteidigungsschrift Von Abtuung der Bilder und daß keine Bettler unter den Christen sein sollen verbunden, das Letzere eine von Luther konsequent vertretene Meinung. Dass Luther sich keinen Augenblick von Erkenntnissen fortreißen ließ, die neben verschwommenen Zusätzen ein beträchtliches und ihm sympathisches Maß an ehrlichem Mitgefühl für die Not des Volkes und an religiöser Idealität enthielten, kostete ihn seine Popularität, ihn, der kurz zuvor die Unversöhnlichkeit der Machthaber in Kirche und Reich auf sich gezogen hatte. Jetzt begann er mit voller Absicht, eine Begeisterung des Volkes zu verwirken, die keinen germanischen Mann vor oder nach ihm in gleichem Maß umfangen hatte. Der Bildersturm in Wittenberg war ein Sturm im Wasserglas im Vergleich mit dem Bauernaufstand 1525. In beiden begegnet Luther etwas von der Versuchung: „Sie wollten ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen“, Joh 6, 15. Das Wunder hatte er getan, die Seelen gespeist. Gegenüber der geringeren wie der größeren Versuchung setzte er seinen geraden, von Gott vorgeschriebenen Weg fort. Der Religionshistoriker muss ihn bewundern; im Nachhinein sehen wir den Unterschied zwischen einer schwärmerischen Revolution und der Religion der geistigen Freiheit. Aber niemand kann sich die Schwierigkeit vorstellen, mitten zwischen den verwirrenden Stimmen der Anhänger und der Widersacher die Stimme Gottes zu hören und den rechten Kurs zu halten. Wie würde Luther seine geistige Autorität zu Geltung bringen können? Karlstadt und die anderen machten ja mit ihm gemeinsame Sache gegen die Magie der Kirche und ihre Tyrannei über die Seelen. Sie stützen sich wie er auf die Schrift und ehrten den Glauben und die Freiheit des Evangeliums. Der Webermeister Nikolaus [181] Storch, ein anderer Weber und Markus Stübner, früher Student in Wittenberg, waren durch Gottes klare Stimme unmittelbar zum Predigen berufen. Vertraulich sprachen sie mit Gott. Sie kannten die verborgene Zukunft und waren Gottes besondere Propheten und Apostel. Diese Männer imponierten bei ihrer Ankunft in Wittenberg sogar Melanchthon nicht wenig mit ihrer Bibelfestigkeit, ihrem gottesfürchtigen, demütigen, heiligen und andächtigen Wesen und ihren außerordentlichen Offenbarungen. Melanchthon, der von Luther auf den charakteristischen, tückischen Boden der Religion gestellt worden war, besaß bei all seiner aufgeklärten Frömmigkeit und seinen gelehrten Studien nicht die geniale Intuition oder den sicheren Instinkt, der hier vonnöten war. Hier war etwas Hochheiliges im Gange. Schon am selben Tag zur Weihnachtszeit 1521, als die Männer sich bei ihm eingefunden hatten, erstattete Melanchthon offensichtlich bewegt dem Kurfürsten Bericht. Er hatte gute Gründe, sie nicht zu verachten; die Sache ergriff ihn stärker, als – 173 –

er sagen konnte. Gewiss hatten die Männer den Geist in sich. Doch in rührendem Bewusstsein seines und der anderen Unvermögens und Abhängigkeitsverhältnisses in religiösen Fragen fügte er hinzu, dass wohl niemand außer Luther imstande sei, bei ihnen die Geister zu prüfen. Stübner blieb als Gast bei Melanchthon, der bald ob der Naivität ihrer Traumgesichte ein wenig in Zweifel geriet. „Die himmlischen Propheten“ wir Luther sie später taufte, setzten ihre Verkündigung in Wittenberg und Umgebung fort. Sie erfreuten sich der unmittelbaren Erleuchtung des Geistes, im Gegensatz zu denen, die auf den Buchstaben der Bibel verwiesen wurden. Nach Luther sollte ein Größerer kommen, vermutlich war auf Grund der Mitteilung des Engels Gabriel Storch gemeint. Wie stets, war diese schwärmerische Geistesbewegtheit für die Menge ansprechender als der schmale Weg des Evangeliums. Wir wissen, wie Luther zurückkehrte, unterwegs gewarnt vom Kurfürsten, der als Antwort den berühmten Brief aus Borna vom Aschermittwoch, dem 5. März 1522 bekam, eines der schönsten [182] Zeugnisse des Glaubensmutes Luthers und seines Widerwillens gegen weltliche Einmischung in geistliche Dinge, selbst wenn es sich um seinen eigenen Beschützer und Wohltäter handelte. „… ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höhern Schutz denn des Kurfürsten … Ja ich halt, ich wolle E[ure) K[ur]F[ürstliche] G[naden] mehr schützen denn sie mich schützen könnte … Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten oder helfen. Gott muß hie allein schaffen, ohn alles menschlich Sorgen und Zutun. Darumb: wer am meisten gläubt, der wird hie am meisten schützen. Dieweil ich denn nun spür, daß E. K. F. G. noch schwach ist im Glauben, kann ich keinerlei wege E. K. F. G. für den Mann ansehen, der mich schützen oder retten könnte.“384

Nach Wittenberg kehrte Luther in geraderer Haltung und gefestigterer Gesundheit als zuvor zurück. Die oft von Freund und Feind beobachteten „tiefen, schwarzen Augen funkelten und glänzten wie ein Stern, so dass man sie nicht anschauen konnte“. 385 Mit seiner gewaltigen Predigtwoche von Invocavit brachte Luther – gemäß seinem Grundsatz von der geistlichen Macht des Wortes als einziger zulässiger Waffe in geistlichen Dingen – die Unordnung in Denken und Praxis wieder ins Lot. Das erreichte sein persönlicher Einfluss. Doch wie ein Kriterium angeben für sein Recht gegenüber Karlstadt und den schwärmerischen Propheten? Bereits in dem Brief an Melanchthon vom 13. Januar gibt Luther diesem Anweisung, wie er sich verhal384 Brief an Kurfürst Friedrich vom 5.3.1522, Nr. 455a, WA.B 2 (453–457), 455,76–456,85. 385 [Die Quelle dieses Zitats habe ich nicht gefunden. D. Hg.]

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ten solle, um die Geister zu unterscheiden und zu prüfen, nachdem er unter Verweis auf Melanchthons Überlegenheit in Geist und Gelehrsamkeit nach der ordentlichen Beauftragung und Berufung der Propheten in der Kirche gefragt habe. (Wir erinnern uns an das Gegenargument, das Luther selbst gegen eigene Zweifel in seiner Doktorwürde fand und ins Spiel brachte.) Die oft angeführte Stelle hat grundsätzliche Bedeutung für das Verständnis von Luthers Beurteilung der Melancholie. „Um den Geist jedes Einzelnen von ihnen zu erforschen, sollst du fragen, ob sie [183] jene geistlichen Ängste und göttlichen Geburtswehen, Tod und Hölle erfahren haben. Wenn du lauter liebenswürdige, ruhige, devote (wie sie es nennen) und religiöse Dinge zu hören bekommst, sollst du sie nicht anerkennen, selbst wenn sie sagen, sie seien in den dritten Himmel entrückt worden. Denn dann fehlt das Kennzeichen des Menschensohns, básanov, der einzige Prüfstein der Christen und sichere Unterscheider der Geister. Willst du Ort, Zeit und Art göttlicher Gespräche kennen, so höre: ‚Er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe‘ [Jes 38,13], und: ‚Ich bin von deinen Augen verstoßen‘ [Ps 31,23], und: ‚Meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode‘ [Ps 88,4]. Nicht unmittelbar spricht die Majestät (wie sie es nennen), so dass der Mensch sie sehen kann, vielmehr: ‚Kein Mensch wird leben, der mich sieht‘ [Ex 33,20]. Nicht einmal einen kleinen Funken seiner Rede kann die mensch­ liche Natur ertragen. Darum redet er durch [bestimmte] Menschen, weil wir alle seine eigene Rede nicht ertragen können. Denn selbst die Jungfrau hat der Engel in Schrecken versetzt [Lk 1,29], ebenso Daniel [Dan 8,17], und so klagt auch Jeremia: ‚Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen‘ [Jer 10,24], und: ‚Sei du mir nur nicht schrecklich‘ [17,17]. Mehr noch: als ob die göttliche Majestät mit dem alten Menschen vertraulich reden könnte, ohne ihn zuvor zu töten und auszudörren, damit nicht seine grässlichen Gerüche stinken, denn er ist ein verzehrendes Feuer [Dtn 4,24]. Auch die Träume und Gesichte der Heiligen sind schrecklich, jedenfalls wenn man sie versteht. Prüfe also, und du wirst nicht einmal von Jesu Verherrlichung hören, bevor du ihn gekreuzigt gesehen hast.“386

Nachdem Luther selbst die Propheten geprüft hatte, schrieb er am 12. April 1522 an Spalatin über deren Hochmut und Unverschämtheit. 387 Dieser starke Text aus einer dunklen, aber glühenden Seele trägt [184] in jeder Zeile das Gepräge der Wirklichkeit – wir brauchen nicht nach seiner Wahrheit zu fragen, nachdem wir Luther über das schwarze Geheimnis seiner Seele klagen gehört haben. Indessen ist die Sache mit Luthers Erklärung nicht entschieden. Denn Luthers Ausdrucksweise ist der Mystik entlehnt. In seiner zweiten Psal386 Brief an Melanchthon vom 13.1.1522, Nr. 450, WA.B 2 (424–427), 425,21–40; vgl. 424,14–21. 387 [Vgl. Brief an Spalatin vom 12.4.1522, Nr. 472, WA.B 2 (492 f), 493,15–30.]

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menvorlesung erwähnt Luther, wie wir gesehen haben, „David, Hiskia und ein paar andere“, und fügt hinzu, dass „schließlich jener deutsche Theologe Johannes Tauler nicht selten in seinen Predigten gedenkt“ des „Erschreckens und Erbebens des Gewissens im Angesicht des Gerichtes Gottes“. Der von Luther hoch geschätzte Tauler war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Mystik hatte eine Kreuzestheologie ausgebildet, in der Widrigkeiten jeglicher Art, auch innere Anfechtungen, einen wichtigen Platz einnahmen. Die christliche Vollkommenheit wurde nach dem Kreuz beurteilt. Wir haben in unserem Gesangbuch noch einen, freilich abgeschwächten und abgemilderten, Widerhall dieser Art von Frömmigkeit in der Nr. 235, Benjamin Schmolcks „Je grösser Creutz, je besser Christe“, das ein gesunder evangelischer Instinkt aus den meisten deutschen Gesangbüchern ferngehalten hat. 388 Das Leben soll nach dieser Mystik durch das Kreuz, das jeder Christ tragen muss, eine trübsinnige Stimmung bekommen. Wenn äußere Widrigkeiten sich nicht einstellen, muss die Seele sich dennoch schmerzlich entblößt und verarmt fühlen. Auf ihrem Weg von der Schöpfung zur Vereinigung mit dem Ungeschaffenen muss sie schon hier in der Zeit die Schrecken und die Qual des Todes passieren. Die Gefahr einer solchen Methode ist, dass sich eine Art Verdienstlehre einschleicht. Der Mensch wird versucht, sich auf die Erfahrungen zu verlassen, die er gehabt oder sich verschafft hat, und auf den Zustand und die Leiden, zu denen er gelangt ist, statt auf Gott zu vertrauen. Auch der Bedeutendste der Schwarmgeister, Thomas Müntzer, war ein Schüler der Mystik, so wie es auch Luther selbst in einer Phase seiner Entwicklung war. Für das Auserwähltsein wird verlangt, dass man die Höllenqual der Verzweiflung durchlitten hat und den Schwall heftiger [185] Wasserströme über sich verspürt. „Solche traurige Menschen sein die allerbesten“, schrieb Müntzer. 389 Die Situation gestaltete sich in mehr als einer Hinsicht verwirrend und bemerkenswert. Luther, der sich im Jahr zuvor am Knotenpunkt des Dramas in Worms auf objektive Stützen berüfen hatte: das Zeugnis der Schrift und vernünftige Gründe – doch nicht als äußere Fakten, sondern als durch das ans Gotteswort gebundene Gewissen innerlich angeeignete –, griff nun mit seiner weltlich gesehen leichteren, aber für das befreite religiöse Urteil faktisch schwereren Abgrenzung gegenüber Mystik und Subjektivismus 388 Schwedisch: „Ju större kors, ju bättre kristen“, im alten Wallinschen Gesangbuch von 1822 Nr. 235, in der Ausgabe von 1937 Nr. 364. In die Auflage von 1986 wurde das Lied nicht übernommen. [Deutsch: Benjamin Schmolck, Beginn der 2. Strophe von „Je grösser Creutz, je näher Himmel“, in: ders., Trost- und Geistreiche Schrifften …, Teil 1, Tübingen 1740 (415–417), 415; auch in: Geistliches neu-vermehrtes Gothaisches Gesang-Buch, Gotha 1729, Nr. 427 (S. 1196).] 389 Vgl. A. Hausrath, a. a. O. (S.  15, Anm. 19), Bd. 1, 520.

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zu einem rein subjektiven Maßstab: den inneren Anfechtungen. Gegen die hohen Offenbarungen der Schwarmgeister, die Laien wie Gelehrten imponierten, setzte er seine Seelenqual – ein Zeugnis unter vielen, dass die höchste Instanz in der Religion die von Gott durchdrungene Seele selbst ist. Diese Unterscheidung war umso schwieriger, als die inneren Anfechtungen zu der auch von Thomas Müntzer übernommenen Methode der Mystik gehörten. Es war also ein gefährliches Kriterium. Als Luther sich in richtiger Intuition von diesen Bewegungen abgrenzte, die einem modernen Bewusstsein in vielen Stücken ansprechend erscheinen, denen jedoch das Verständnis für den besonderen, in der Reformation verwirklichten Charakter der evangelischen Offenbarungsreligion fehlte, so geschah das selbstverständlich nicht deswegen, weil die frommen Subjektivisten und Eiferer seiner Seelenqual entgingen, sondern auf Grund eines tieferen Unterschieds im ethisch bedingten Verkehr mit Gott. Dieser Unterschied hing mit der Angst des Gewissens zusammen. Als Luther den unschlüssigen, nahezu umgestimmten Melanchthon anwies, nach der inneren Not zu fragen, lag dem ein religiös motiviertes Selbstgefühl zugrunde, wie wir versuchen müssen zu verstehen. Die Ähnlichkeit zwischen dem geistlichen Kreuzesweg der Mystik und Luthers Erfahrungen ist so groß, dass Wilhelm Braun annimmt, „Luthers Anfechtungen im Kloster waren mystische Exerzitien. Er [186] hat es nacherlebt, was Tauler und Theologia deutsch von dem verzehrenden inneren Fegfeuer berichten.“390 Die Sache ist mehr als zweifelhaft. Lassen wir indessen Luthers Erfahrungen im Kloster dahingestellt sein. Luther hat die Mystik benutzt, um seine Schwermut zu beurteilen. Die Angst gehörte zu den tentationes, die für einen Christen notwendig sind. Luther steckte eine Zeitlang tief in der Mystik und bewahrte auch später etliches vom Sprachgebrauch der Mystik, ehe er in seinem eigenen evangelischen Gottvertrauen gänzlich zu Hause war und, mit Paulus und der Schrift als wichtigsten Helfern, eine klare und reiche Ausdruckswelt dafür ausgebildet hatte. Es ist nicht völlig unmöglich, dass er früher im Kloster, von seiner Anlage unterstützt, bis zu einem gewissen Grad tatsächlich versucht hat, sein Seelenleben nach den Anweisungen der Mystik zu gestalten. Aber niemand kann bezweifeln, dass seine Seelenangst eine brutale Wirklichkeit war, für die er alles hätte geben und tun mögen, um ihr zu entkommen. Wo hören wir bei dem gereiften Luther etwas von methodischer Übung in innerlichem Leiden? Ein Thomas Müntzer übersetzte die Stadien der Mystik von der mortificatio zur compunctio ins Deutsche mit: „Entgröbung, Studierung, Verwunderung, gelassene Gelassenheit, Stehen in der Langen390 Wilhelm Braun, Die Bedeutung der Concupiscenz in Luthers Leben und Lehre, Berlin 1908, 295.

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weile“.391 Für Luther gab es nur Gesetz und Evangelium. Und es war nicht gesagt, dass er in der inneren Not stets am Evangelium festhalten konnte, so dass es nicht mit dem „Gesetz“ zu reiner Verdammnis zusammenfloss. Wo finden wir bei ihm Wegzeichen, die es für den geistlichen Sportsmann zu passieren gilt? Luther fragte nicht danach, wie weit er selbst oder andere auf dem genau abgesteckten Himmelsweg gekommen waren, Die Anfechtungen werden bei Luther niemals in einem solchen Zusammenhang genannt. Dennoch sah Luther in seinen tentationes einen Beweis für eine unter Schmerzen gewonnene geistliche Vollmacht. Die Anfechtungen stellten keine Fortschritte in den geistlichen Übungen der Mystik dar, sondern waren ein [187] tiefer und entsetzlicher Notzustand, den man kennen muss, um mitreden zu können in der Frage von Gottes Gnade und dem Evangelium Jesu Christi. Diejenigen, die nicht in der Angst der Gewissensnot, in der Hölle der Melancholie und des Verworfenseins versunken waren, wissen nicht, was notwendig ist, um daraus gerettet zu werden. Sie befassen sich neugierig und vorwitzig mit allerhand Dingen in der Religion. Aber es fehlt ihnen der Blick für das eine Notwendige. Insofern hatte Luther Recht damit, dass die Schwermut und ihre Qual eine be­ sondere Auserwählung bedeuteten. Und er konnte aus dieser Gewissheit Trost schöpfen. Nachdem Melanchthon sich ebenso wie Luther auf den Gegensatz gegen die Wiedertäufer und Schwarmgeister, fanatici spiritus, festgelegt hatte, stellt sich eine gewisse Differenz in ihrer Motivation heraus – insofern als es nicht ausreichte, sich auf die Schrift zu berufen –, die den Unterschied zwischen Luthers prophetischer Unmittelbarkeit in der Religion und Melanchthons vermittelter und stärker reflektierter Frömmigkeit deutlich macht. Melanchthon musste sich gegenüber den Schwarmgeistern auf die Tradition der Kirche stützen, während Luther, nachdem er vom ersten Moment an mit instinktiver Sicherheit die fehlende Geistesverwandtschaft bemerkt hatte, in seiner persönlichen Gewissheit und geistlichen Vollmacht Halt fand, die seine Anfechtungen ihm verliehen. 392 Wir haben auch gefunden, wie Luther selbst sah, dass seine Melancholie ebenso wie andere Eigenschaften charakteristisch für ihn war. „Hätte jemand anderes die Anfechtungen ertragen müssen, die ich ertragen musste, wäre er längst tot.“393 391 [Vgl. A. Hausrath, a. a. O. (S.  15, Anm. 19), Bd. 1, 520.] 392 Vgl. Otto Ritschl, Dogmengeschichte des Protestantismus. Grundlagen und Grundzüge der theologischen Gedanken- und Lehrbildung in den protestan­ tischen Kirchen, Bd. 1, Berlin 1908, 278. 393 WA.TR 4, 37,13 f (Nr.  3962); vgl. WA.TR 1, 50,30–38 (Nr. 122).

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Es ist deshalb eine ungebührliche Gewaltsamkeit, ein Missverständnis und eine Fiktion, wenn man Luthers Anfechtungen zur Norm eines christlichen Lebens gemacht hat. Luther ist derjenige, der zuerst die Auffassung von der Nachfolge Christi als einer Übereinstimmung mit dem Heiland im Geist und in der Wahrheit durchgeführt hat, an Stelle einer möglichst getreuen Nachbildung der äußeren Umstände im Leben des Heilands. Aber Luther selbst ist bei seinen [188] Nachfolgern dasselbe Schicksal widerfahren. Derselbe Fehler, den Luther aus der Lehre von der Nachfolge Christi ausgemerzt hat, ist auf ihn selbst angewendet worden. Es gibt viele Berufe. Christi Berufung war einmalig in der Menschheit. Niemand hat eine solche Berufung, niemand bekommt eine solche Berufung wie Jesus. Eben deshalb kann die Nachfolge nicht so aussehen, dass man seine Lebensführung nach den Ereignissen und Verhältnissen des Lebens Jesu gestaltet. Luther besaß eine Berufung, die in der Christenheit sehr wenige Entsprechungen gehabt hat. Deshalb können gewöhnliche Christen nicht ohne weiteres nach den besonderen Bedingungen geformt werden, die mit Luthers Berufung verbunden waren. Man hat sein Seelenleben auch in dem nachahmen wollen, was zu seinen eigentümlichen Gaben und Leiden gehörte. Die Folge ist Unwahrhaftigkeit gewesen und ein solches unfreies geistliches Übungswesen, das Luther in der Geschichte der Religion [gerade] überwunden hatte. Alle sollen ihre Sünde und Schuld empfinden und zum Glauben an Vergebung gelangen. Aber nicht alle müssen Luthers Schwermut und Anfechtungen durchleben. Um Luthers Seelenqual richtig zu beurteilen, muss man bedenken, dass er Hindernisse auch für die zu durchbrechen hatte, die nach ihm kamen. Für sie, für uns ist durch Luther etwas aus dem Weg geräumt worden. Er eröffnete den Heilsweg, der verstellt war. In Luthers Gewissensnot findet sich daneben etwas, das jeder Christenmensch durchmachen muss. Bis zu einem gewissen Grad kommt Luthers Berufung auf die Not der Seele allgemeine Geltung zu. Niemand kennt die Gnade, der nicht die Not kennt. Dies gilt für alle wahrhaftige Religion. Es ist jedoch nicht gesagt, dass jegliche Art von Not, welche die Seele näher zu Gott treibt, von jedem Christenmenschen erfahren wird. Es könnte erhellend sein, an eine analoge Forderung auf einem minder wichtigen Gebiet zu erinnern. Luthers Standpunkt lässt sich auch auf die Krise beziehen, durch die das Schriftverständnis in unserer, der Älteren, Generation hindurchgegangen ist. Gehört jemand [189] zu denen, die unter der Frage gelitten haben: Wird, wie es die alte Dogmatik sieht, der Untergang des älteren Bibelverständnisses das Christentum und den Glauben seiner Gewissheit berauben? Hat jemand sich in Gebet, Betrachtung des Wortes und gedanklicher Arbeit durch diese seelische Not zu Klarheit und Frieden hindurchkämpfen müssen? Dann kann er schwerlich auf das Recht ver– 179 –

zichten, in dieser Frage mitzureden gegenüber jemandem, dem das Schriftproblem niemals irgendeine wirkliche Schwierigkeit bereitet hat. Genauso mit Luther gegenüber den Schwarmgeistern. Sie hatten niemals die Not verspürt, aus der Luther Erlösung zuteil geworden war. Deshalb fehlte ihnen Luthers geistliche Vollmacht in der Sache. Wir sind Luthers Hilfsmittel gegen die Schwermut durchgegangen, vom Gebet und der durch das Wort gewonnenen Gewissheit, dass Zweifel und Anfechtung das Werk des Teufels seien, den ganzen Kreis hindurch und wieder zurück bis zu der Gewissheit, dass sie in ihrem ganzen Ernst eine höhere, im Grunde für ganz wenige und für Luther eigentümliche göttliche Berufung bedeuteten. Es ist noch eine Methode gegen die Anfechtung übrig, deren Luther sich kaum bewusst ist, die er erst recht nicht empfiehlt, die er aber häufig angewendet hat, vielleicht [sogar] mit dem größten Erfolg: andere zu trösten. Er bezeichnet sich in einem Brief von der Coburg im Mai 1530 als einen molestus et importunus consolator, „einen beschwerlichen und unbequemen Tröster“394 Aber das war er nicht. Kam ihm ein Mensch über den Weg, der Unterstützung und Trost brauchte, so vergaß er seine eigene Qual. Es gibt in Luthers Briefwechsel kein bewegenderes Kapitel als das, welches man aus den Stellen zusammenfügen könnte, wo er, selber von den Leiden der Seele und des Leibes und der Arbeit bedrängt, mit Scherz und Ernst seine Freunde beruhigte. Ein Bruder in Seelennot konnte ihm die Erleichterung verschaffen, die Christus ihm im Wort gab, nämlich für eine Weile sich selbst zu vergessen. Das Geheimnis liegt in den Worten: „Wir [aber] hätten den Seelenfrieden gern nicht aus Gnade, sondern aus uns.“395

394 Brief an Justus Jonas vom 19.5.1530, Nr. 1571, WA.B 5 (323 f), 323,2. 395 WA.TR 2, 115,7 f (Nr.  1492). – Luthers Mitgefühl mit der Gewissensnot, wo es sie gab und wo er meinte, sie vorzufinden, hatte erheblichen Anteil an seiner unglückseligen Behandlung der Doppelehe Philipps von Hessen. Vgl. Theodor Brieger, Die Reformation, Berlin 1914, 321–330; Heinrich Böhmer, Luther im Lichte der neueren Forschung, Leipzig / Berlin 41917, 182 ff. – Trost nahm auch den ersten Platz in der evangelisch-lutherischen Pfarrerausbildung ein. In Philipp Melanchthons Examen eorum qui audiuntur ante ritum publicae ordinationis, qua commendatur eis ministerium evangelii, Wittenberg 1554, Auflage von 1559 [CR 23, 1–102], wird zum Nutzen derer, die in den Gemeinden Dienst tun sollen, und für ihr Examen eine Anzahl von Trostgründen angeführt, loci consolationum [S. 78–81]. Die wichtigsten philosophischen Trostquellen sind sieben: Cicero, Aristides, Camillus, Sokrates, Aischines und andere. Als theologische loci für Trost werden zehn an der Zahl genannt. Drei von diesen sind rein und ausschließlich evangelisch: remissio peccatorum, agnitio praesentiae Dei in aerumnis accepta remissione, spes ultimae liberationis et aeternae salutis (Vergebung der Sünden, Anerkenntnis der Gegenwart Gottes in Drangsal nach Empfang der Vergebung, Hoffnung auf schließliche Erlösung und ewige Seligkeit).

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[191] VI. Die Bedeutung der Melancholie für Luthers Werk Worin besteht die Not des menschlichen Lebens? [193] War die Schwermut ein böser Zufall in Luthers Leben oder war sie von wesentlicher Bedeutung für sein Lebenswerk? Luther verstand die Kunst des Tröstens. Auf dem Weg von Worms wurde Luther am vierten Mai 1521 in der Nähe von Eisenach mit sanfter Gewalt von einigen Rittern in Obhut genommen, die ihn auf die Wartburg in sicheren Gewahrsam hinaufgeleiteten. Das geschah aus Fürsorge des Kurfürsten für seine Person. Aber es ging das Gerücht, dass der Gebannte, der unter der Reichsacht stand, trotz freien Geleits aus dem Weg geräumt worden sei. Unter denen, die tief trauerten, war der größte Künstler der Zeit, einer der größten aller Zeiten: Albrecht Dürer. Er klagt Gott in seinem Tagebuch. „… wenn wir diesen Mann, der da klarer geschrieben hat als irgend einer, der seit 140 Jahren gelebt hat, und dem du solch’ einen evangelischen Geist gegeben hast, verloren haben sollen, so bitten wir dich, o himmlischer Vater! dass du deinen heiligen Geist wiederum Einem gäbest, der da deine heilige christliche Kirche allenthalben wieder versammle, auf dass wir wieder einig und christlich zusammenleben …“ „Sieht doch ein Jeglicher, der da Doctor Martin Luther’s Bücher liest, wie seine Lehre so klar und durchsichtig ist, wo er das heilige Evangelium vorträgt.“ „O Gott! Ist Luther todt, wer wird uns hinfort das heilige Evangelium so klar vortragen?“

Im Jahr zuvor hatte Dürer an Spalatin geschrieben: „… hilft mir Gott, dass ich [194] zu Doctor Martinus Luther komme, so will ich ihn mit Fleiss abkonterfeien und in Kupfer stechen zu einem dauernden Andenken des christlichen Mannes, der mir aus grossen Aengsten geholfen hat.“396 396 [Albrecht Dürer, Briefe, Tagebücher und Reime nebst einem Anhang von Zuschriften an und für Dürer, hg. v. M. Thausing, Wien 1871, 121 f; der Brief an Spalatin von Anfang 1520 (42–44), 42.]

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Dieser Wunsch ging niemals in Erfüllung. Doch der Trost, den Dürer erfahren hat, wird von vielen bestätigt. Antonius Musa, Pfarrer in Rochlitz, erzählte Luthers Schüler Mathesius, der seiner Gemeinde in Joachimsthal seit 1562 in Predigten Luthers Leben geschildert hatte „er habe dem Doctor einmal herzlich geklagt, er könne selbst nicht glauben, was er Andern predige. ‚Gott sei Lob und Dank‘, habe D. Luther geantwortet, ‚daß es andern Leuten auch so gehet; ich meinte, mir wäre allein also.‘ Dieses Trostes konnte Musa sein Lebtag nicht vergessen.“397

In der Aufzeichnung Johannes Schlaginhaufens über seine Ängste am Altjahrsabend 1531398 und in einer Menge anderer Tischreden sind uns lebendige und frische Zeugnisse von Luthers unvergleichlicher Fähigkeit überliefert, mit Einfühlsamkeit oder Strenge, mit Scherz oder Pathos, doch stets mit der gleichen unverstellten Herzlichkeit eine bekümmerte Seele zu trösten. Wenn Luther nach seinem Tod als divus et sanctus, „göttlich und heilig“, als „der Heilige des Herrn“, Prophet, Apostel bezeichnet wurde, dem Gott und kein menschlicher Scharfsinn die Lehre von der Vergebung der Sünden und vom Vertrauen zu Gottes Sohn offenbart hatte (Melanchthon), als Evangelist für die Gegenwart, als Engel aus dem vierzehnten Kapitel des Offenbarungsbuches mit dem ewigen Evangelium, als ein Gottesmann, wie „seit S. Pauli Zeit seines Gleichen nicht auff Erden kommen“ (Amsdorf), so lassen sich solche starken Ausdrücke mit dem überwältigenden Eindruck erklären, den Luthers Person nah und fern ausübte; doch ganz besonders war die religiöse Wertschätzung durch seine Gabe veranlasst, zum Trost der Seelen zu reden, zu schreiben und zu leben. 399 [195] Kein Moralist hat treffender und konkreter die Sünden der Zeit und der Menschen gegeißelt, keiner hat es verstanden, auf lebendigere und anziehendere Weise seinen Zuhörern die Taten der Liebe, die sittlichen Aufgaben der verschiedenen Lebensberufe und die Größe selbst der geringen und gering geachteten Tätigkeiten des Alltags auszumalen. Mit seiner Fähigkeit, das sittliche Verständnis für die Schönheit des Gewöhnlichen und Übersehenen zu öffnen und konventionelle, fromme Heuchelei aufzudecken, gehört Luther zu den wenigen, die dem Evangelium nahe kommen. 397 [Johann Mathesius, D. Martin Luthers Leben in siebenzehn Predigten dargestellt, hg. v. Ev. Bücherverein, Berlin ³1883, 236.] 398 WA.TR 1289, 28–31 (Nr. 1289). 399 [Vgl. Philipp Melanchthon, Ansprache an seine Studenten am 19.2.1546, in: CR 6 (58 f), 59; Nikolaus von Amsdorf, Vorrede zu der von ihm besorgten Jenaer Ausgabe von Luthers Werken, Bd. 1, 1555, von S­öderblom zit. nach H. Grisar, Luther, Bd. 3, 1912, 860.]

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In der Geschichte der Moral macht Luther Epoche auf Grund dreier Erkenntnisse. Er hat wie kein anderer das Leben und die Arbeit zu einem Gottesdienst gemacht. Das neue sittliche Prinzip der Reformation ist für die abendländische Kultur ebenso wichtig wie ihre religiöse Befreiung zu persönlicher Gewissheit. Das evangelische Lebensideal ist der eine von den Brennpunkten der Ellipse der Kirchenerneuerung. Des Weiteren hat Luther die Furcht ihrer Funktion als sittliches Motiv, die sie in der scholastischen Theologie innehatte, enthoben. Die Furcht wurde dort als zumindest vorbereitende Methode in der kirchlichen Erziehung der Seelen verwendet. An ihrer Stelle ließ Luther allein positive sittliche Beweggründe zu. Das Heilmittel ist vergeblich, das aus der Furcht, nicht aus der Liebe zum Guten erwächst.400 Hiermit hängt drittens die Leistung Luthers eng zusammen, den Dualis­ mus von Glauben und Werken zu beseitigen. Für römisches Verständnis war der Glaube eines und die Werke ein anderes. Man musste in der Religion sowohl Glauben als auch Werke sowie allerhand anderes haben. Luther schloss alles in das Gottvertrauen ein. Ist wahres Vertrauen zu Gott da, so ist das ganze christliche Leben da. Fehlt der Glaube, so helfen keine Werke. Dann sind sie Lappen auf einem alten Gewand. Auch die römische Abteilung der Kirche ist Schülerin der Reformation geworden, wenn auch eine widerstrebende Schülerin. Aber bis zum heutigen [196] Tage hat sie nicht gelernt zu sehen und aufzuzeigen, wie das Gottvertrauen, wenn es rechter Art ist, gute Werke hervorbringen muss. Seit das Licht des Evangeliums Luther aufgegangen war, konnte er den Widersachern den Vorwurf nicht ersparen, dass sie nicht in der Lage seien, die Entstehung des christlichen Lebens aus dem Glauben zu erklären. Diese Andeutungen sollten genügen, um Luthers tiefgehende Bedeutung in der Geschichte der Moral zu erweisen. Sie wird oft übersehen. Man hat gelernt, dass er sich allein für den Glauben einsetzt. Doch findet sich kaum eine Predigt des Reformators, in der er nicht die Lebensführung eindringlich zurechtweist, inspiriert und anleitet. Ein solches Missverständnis ist begreiflich. Denn sowohl für Luther als auch für seine Zeit waren solche Bemühungen um die Verbesserung der Lebensführung sekundär gegenüber der dringendsten Bemühung, zum Trost der Seelen Christus und das Evangelium zu treiben. Die Überschrift zu Sätzen für eine Disputation in Wittenberg im Jahr 1518 ist bezeichnend. Luther schrieb, dass diese Sätze ausgegeben wurden „Für die Erforschung der Wahrheit und für die Tröstung der geängsteten Gewissen“.401 400 Vgl. August Wilhelm Hunzinger, Luther-Studien 2/I, Das Furchtproblem in der katholischen Lehre von Augustin bis Luther, Leipzig 1906. 401 [Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis, WA 1, 630–633.]

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Es liegt etwas sehr Gefährliches und Anstößiges in Luthers Art, den Trost des Evangeliums mit vollen Händen auszuteilen, ohne nach Geburtsurkunde402 und Zulassungsbescheinigung des Empfängers zu fragen. Für die Welt ist das unfassbar. Die Frömmigkeit hat solchen Leichtsinn zu allen Zeiten streng verurteilt. Sie fordert Eintrittskarten zum Allerheiligsten. Das hat dazu geführt, dass man die Kirche denen vorbehalten will, die nach bestimmten konventionellen Gesichtspunkten korrekt und anerkannt sind. Luther öffnete die Kirchentüren sperrangelweit für alle, alle. Dieselbe Torheit zeichnet den aus, welcher „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ [Mt 5, 45]. Die Sache war die, dass Luther andere nach sich selbst beurteilte. Er sah in allen Menschen Hungernde und Dürstende, die sich ebenso wie er danach sehnten, von der Gnade gesättigt zu werden. Als er selbst den Brunnen des Wortes entdeckt hatte, [197] musste er ihn anderen zeigen und seine Schließung verhindern. Umso bitterer war dann die Enttäuschung über die Unzugänglichkeit und Widerspenstigkeit der Menschen. „Hätte ich in der Erste gewußt, da ich anfing zu schreiben, das ich itzt erfahren und gesehen hab (nehmlich, daß die Leute Gottes Wort so feind wären und setzten sich so heftig dawider), so hätte ich fürwahr stille geschwiegen …“403 „… ich wollt lieber todt sein, denn daß ich die Verachtung Gottes Worts und seiner treuen Diener sehen soll.“404

In solchen Momenten des Missmuts konnte Luther eine Arbeitsteilung zwischen sich selbst und der Papstkirche aufmachen. Sie zeigt, worin er sein eigentliches Amt sah. „Den großen rohen Haufen wollt ich unters Papsts Regiment lassen bleiben, sie bessern sich doch des Evangelii nichts, sondern mißbrauchen nur seiner Freiheit. Aber den geängstigten und gedemüthigten, verzagten und blöden [schwachen] Gewissen wollt ich sonderlich das Evangelium und Trost predigen.“405

Mehr als einmal schrieb er: „Nicht alle fassen das Evangelium.“406 „Der Pöbel missbraucht das Evangelium, wird nicht durch das Evangelium regiert. Deshalb sind sie mit Gesetzen zu entlassen [, damit sie dienen …].“407

402 [Schwedisch prästbetyg, wörtlich: pfarramtliche Bescheinigung: derlei Urkunden wurden in Schweden damals noch von den Pfarrämtern ausgegeben.] 403 WA.TR 1, 176,10–12 (Nr. 406, Dezember 1532). 404 WA.TR 1, 97,25 f (Nr.  229, April 1532). 405 WA.TR 2, 178,16–19 (Nr. 1682, Juni / Juli 1532). 406 Brief an Nikolaus Hausmann vom 26.3.1522, Nr. 465, WA.B 2, 483,28. 407 Brief an Jakob Strauß vom 25.4.1524, Nr. 733, WA.B 3, 278,14 f.

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„… die zwentzig jar, weil [während] ich bin im Kloster gewesen, sind dahin und verloren, ich bin komen im Kloster umb der Seelen heil und Seligkeit und umb des leibes gesundheit …“408

Für Luther konzentriert sich also sein Auftrag auf die Erteilung von Trost. Es ist bezeichnend, dass die Schlüsselgewalt der Kirche zu binden und zu lösen, nach dem Wort Jesu in Mt 16, 19, für Luther Trost bedeutet. „Christus hat die Schlüssel der Kirche zum Trösten übergeben und vertraut die Schlüssel seinen Dienern bzw. den Christen an.“409 Die Worte Mt 18, 20 „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, das bin ich mitten unter ihnen“ deutet Luther auf den Trost, indem er Jesus sagen lässt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da werde ich der Dritte sein, und ihr werdet getröstet.“410 Eines Tages in den dreißiger Jahren wurde Luther gefragt, welche Gabe die größere sei: gegen die Widersacher zu kämpfen oder die Kleinmütigen zu trösten [198[ und zu ermuntern. Da antwortete er, „beide seien notwendig, doch der Trost habe den Vorrang, denn dadurch, dass die Widersacher besiegt werden, würden die Angefochtenen getröstet.“411 Evangelium bedeutet für Luther zuerst und zuletzt Trost. Während des am meisten von Kampf und Schriftstellerei angefüllten Jahres 1520 fand Luther dennoch die Zeit, das schönste Trostbuch, das aus seiner Feder geflossen ist, Tesseradekas, „Die Vierzehn“, herauszubringen. Die Krankheit des Kurfürsten hatte Luther die Feder in die Hand gedrückt. Von August bis Dezember 1519 kam die Schrift zustande. Spalatin bewerkstelligte eine deutsche Übersetzung für den Kurfürsten. Den Titel „Die Vierzehn“ nahm Luther von den vierzehn Nothelfern, die man in allerlei Not anzurufen pflegte. An deren Stelle bot Luther vierzehn evangelische Trostgründe, der Schrift nach den Worten des Paulus im 15. Kapitel des Römerbriefs entnommen: „‚Alles, was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben,‘ [Röm 15, 4]“ Luther lädt den Kurfürsten, sich selbst und andere Leser ein, vierzehn Bilder zu betrachten, verteilt auf zwei Tafeln mit je sieben Bildern. Die erste Tafel enthält sieben Bilder von Unheil, deren Betrachtung den Eindruck gegenwärtiger Widrigkeiten mildert, nämlich vom Unheil und vor allem dem Bösen, das sich inwendig im Menschen befindet. Könnte der Mensch dieses bis ins Letzte spüren, würde er 408 Wochenpredigten über Johannes 6–8 (1530–1532), WA 33, 561,14–18. 409 WA.TR 1, 283,27 f (Nr.  600, 1533). 410 WA.TR 2, 30,1 f (Nr.  1289, 1.1.1532). 411 WA.TR 1, 491,13–17 (Nr. 970).

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eine Hölle in sich selbst spüren. Doch Gott in seiner Barmherzigkeit verbirgt vieles davon. Deshalb soll man sagen: „‚O Mensch, du spürst noch nicht dein Unheil, sei froh und dankbar, dass du nicht gezwungen wirst, es zu spüren.‘ Da wird das kleine Unheil durch den Vergleich mit dem größten leicht. Deshalb sagen manche: ‚Ich habe weit Schlimmeres verdient, nämlich die Hölle‘“ – „leicht gesagt, aber unerträglich für das Gefühl“,

fügt Luther aus eigener Erfahrung hinzu. Das zweite [199] Bild stellt zukünftiges Leiden vor, das dritte vergangenes Leiden. Weshalb sich ängstigen, da Gott uns bereits aus so vieler Not geholfen hat? Für das vierte müssen unsere Blicke von dem, worüber wir jetzt klagen, zu dem hinge­ zogen werden, das unter uns lauert: Tod und Hölle. Dann verstehen wir, wie viel Lobpreis und Liebe wir unserem guten Gott schuldig sind, was auch immer uns im Leben zustößt. Denn das ist trotz allem kaum ein Tropfen von dem, was zu leiden wir verdient haben und was von Hiob (6, 3) mit dem Meer und dem Sand am Meer verglichen wird. Luther geht sodann zu dem Leiden über, das außerhalb unserer liegt, das wir aber sehen können, einerseits zur Linken, bei unseren Feinden und bei bösen Menschen, andererseits zur Rechten, bei unseren Freunden. Die Ersteren würden uns, wenn Gott es zuließe, weit mehr Böses zufügen, als wir in Wirklichkeit von ihnen zu erleiden haben. Auch das eigene Leiden der Feinde sollen wir betrachten, nicht um uns daran zu ergötzen, sondern um mit ihnen zu leiden. Ein Christ soll über das Leiden anderer an Leib und Seele solchen Schmerz empfinden, dass er eigene Widerwärtigkeiten völlig darüber vergisst. Christus hat nach dem zweiten Kapitel des Philipperbriefes dazu das Vorbild abgegeben. Mit dem tiefsten Mitgefühl nahm er unsere Gestalt an und empfand unsere Leiden als seine eigenen. Hier verwendet Luther ein altes römisches Wort auf originelle Weise. „Nihil humani alienum a se [nichts Menschliches ist ihm fremd]“ wird auf Christus bezogen: „… er wurde vollständig als ein Mensch erfunden, der nichts Menschliches als ihm fremd ansah, sondern allein mit unserem Leiden befasst war.“ Auf der rechten Seite befinden sich unsere Freunde. Wir sollen nach dem fünften Kapitel des ersten Petrusbriefes [V. 9] wissen, dass dieselben Leiden unseren Brüdern hier auf Erden widerfahren. Damit wir durch das Vorbild der Heiligen ermuntert werden, ihnen nachzufolgen, singt die Kirche: „Alle Heiligen haben so große Leiden erduldet, damit sie sicher zur Palme des Martyriums gelangen.“ „Durch solche Worte und Lieder begreifen wir, dass die Feste, Gedenktage, Tempel, Altäre, [200] Namen, Bilder der Heiligen so gefeiert und vermehrt werden, damit wir durch ihr Beispiel animiert werden, die gleichen Leiden zu erdulden, die sie getragen haben …“

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Werden sie aus einem anderen Grund verehrt, so stellt sich Aberglaube ein. Das siebte Bild erhebt unsere Augen zu dem Leiden, das über uns ist, zu dem gekreuzigten Heiland, „dem Haupt aller Heiligen, dem Vornehmsten aller Leidenden“. Die herkömmliche Deutung des Hohenliedes durch die [Braut]mystik verstärkt die Farben. Kann das Bild des Gekreuzigten in unsere Herzen eindringen und sich im Innersten der Seele festsetzen, so überwinden wir mit Leichtigkeit alle Not. Denn diese ist ein Nichts gegen das Leiden Jesu. Die zweite Tafel enthält sieben Bilder entsprechender Anlässe zur Freude, die wir uns vor Augen stellen sollen, um uns in anhaltender Betrübnis trösten zu lassen. Wir haben für mancherlei leibliches und geistiges Gut zu danken. Des Weiteren sollen wir das Gute bedenken, das uns bevorsteht, insbesondere den Tod, der nicht nur unseren Leiden, sondern auch unseren Sünden, die viel schlimmer sind, ein Ende bereitet, und der für den Christen der Anfang des wahren Lebens und der wahren Gerechtigkeit ist. Blicken wir auf unser Leben zurück, so müssen wir fragen, wer es denn ist, der von Mutterleib an für uns gesorgt und uns alle Wohltaten erwiesen hat. Gemäß dem Plan werden sodann die Anlässe der Freude über das, was unter uns ist, vorgestellt, auf der linken und auf der rechten Seite. Und die von biblischer Sprache durchsetzte Darstellung schließt mit dem siebten Bild der zweiten Tafel: Jesus Christus, König der Ehre, auferstanden von den Toten, so wie das siebte Bild der ersten Tafel und den leidenden und toten Heiland gezeigt hatte.412 Wie innig Luther in dieser Trostschrift aus dem Bedürfnis seines eigenen Herzens heraus spricht, beweist die Dringlichkeit, mit der er das Origi­nal so schnell wie möglich von dem Übersetzer Spalatin zurückhaben wollte, „denn ich gedenke auch mich selbst mit diesen Bagatellen zu trösten“.413 Im Februar 1520 kamen sowohl der lateinische Text als auch [201] die deutsche Übersetzung im Druck heraus. Luthers Befürchtung, dass die Schrift den Weisen der Zeit nicht gefallen würde, weil sie so stark nach Christus schmeckte, bewahrheitete sich nicht. Unter denen, die sich von Tesseradekas angesprochen fühlten, war kein Geringerer als Erasmus. Er empfahl sie 1523 dem Bischof von Basel mit dem Urteil, dass das kleine Buch „hoch geschätzt wird, sogar von denen, die seine Lehre in jeder Hinsicht bekämpfen.“414 Berquin, der adlige und gelehrte Humanist aus der

412 [Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis (1520), WA 6, 104–134; die Zitate: 106,22 f; 108,3–7; 114,13–15; 115,24–28; 117,29 f.] 413 [Brief an Spalatin vom 22.9.1519, Nr. 198, WA.B 1 (508 f), 509,20.] 414 Brief an Christoph von Utenheim, Bischof von Basel, von Anfang Januar 1523, in: Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, Bd. 5, hg. v. P. S. Allen, Oxford 1924, Nr. 1332 (161–163), 163,56–58.

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Picardie, hatte den guten Instinkt, es bereits im selben Jahr 1523 ins Französische zu übersetzen. In der Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg, Anno 1530 stellt Luther fest, dass die Welt ohne Evangelium war, obwohl sie das Evangelium hatte. Denn in der päpstlichen Zeit „man … dis Euangelion nicht anders wuste zu p[re]digen, denn das man draus lernen solte, exempel vnd gute werck, Vnd hat vnser nie keiner, ein Euangelion gehert, das zu trost dem gewissen, zum glauben vnd trawen auff Christum gezogen were, wie es doch billich sein solte, vnd wie es itzt Gott lob widder gep[re]digt wird.“

Dasselbe Dokument schließt mit der Beteuerung, er und seine Freunde hätten „nichts anders gesucht noch begert, denn den einigen trost, vnser seelen, das freye, reine Euangelion …“415 Wir haben bereits eine Vorstellung davon gewonnen, in welchem Ausmaß Luthers Briefe Trostbriefe sind. Die Liste kann leicht erweitert werden. Luther verstand die Kunst des Trösters, den Geängstigten von dem eigenen Ich und den grüblerischen Gedanken wegzuziehen. Christus spricht (zu Petrus): „Folge du mir; folge mir, mir, mir, nicht deinen Fragen und Gedanken.“416 In seinem Gutachten für den Kurfürsten von Sachsen vor dem Reichstag zu Augsburg hob Luther die Aufgabe rechtschaffener und gelehrter Bischöfe und Prediger zu trösten hervor: „besuchung vnnd Trostung der pfarkinder, aller kranncken, aller klaynmuttigen, angefochtenen, betrubter vnnd bestortzter gewissen“.417 [202] Wer sich vornimmt, Belege für Luthers Fähigkeit des Tröstens zu sammeln, bekommt es mit einer großen Menge, dem bedeutendsten Teil seiner Predigten, seiner Bibelauslegung und seines ganzen schriftstellerischen Werkes zu tun. „… ist alles yn der Christenheit dazu geordnet, daß man da teglich eitel vergebung der sunden durch wort und zeichen hole, unser gewissen zutrösten und auffrichten, so lang wir hie leben. Also machet der heilig geist, das ob wir gleich sunde haben, doch sie uns nicht schaden kan, weil wir ynn der Christenheit

415 [Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg, Anno 1530, WA 30/II (268–356), 291,10–15; 355,16 f.] 416 Brief an Kaspar Aquila vom 21.10.1528, Nr. 1340, WA.B 4 (589 f), 590,61 f. 417 [Die Bezeichnung des Schriftstücks als Bedenken (Gutachten) für den Kurfürsten durch Enders 7, 254, der ­Söderblom folgt, ist überholt. Es gilt jetzt als Vorarbeit zu der Vermahnung an die Geistlichen (wie Anm. 415): WA 30/II (250–255), hier 250. Zur Echtheit und zum Verhältnis dieses Textes zur Vermahnung vgl. den „Exkurs“ in WA 30/II, 246–249.]

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sind, da eitel vergebung der sund ist, beide das uns Gott vergibt und wir unternander vergeben, tragen und auffhelfen.“418

Der Kleine Katechismus ist ebenfalls ein Trostbuch. Ich denke an die Bekenntnisse zu Vater, Sohn und Geist, an die Einleitung zum Vaterunser und andere Stücke. Der Kleine Katechismus versetzt den Einzelnen in eine Christenheit, in welcher Gott „mir und allen gleubigen teglich alle sünde reichlich vergibt …“419 William James, Religionspsychologe in Harvard, hat sich irgendwo die Frage gestellt, ob in der Literatur jemand zu finden sei, der Luthers Fähigkeit, kranke Seelen zu trösten, besessen habe.420 Ist man darauf aufmerksam gemacht worden, so tritt einem ein merkwürdiges Zusammenspiel vor Augen. Diese robuste Kraftnatur kann zärtlich sein wie eine Mutter. Die mannhafteste Gestalt der Religionsgeschichte ist zuerst und zuletzt der Tröster. Fragen wir nach der Ursache für Luthers unvergleichliche Fähigkeit, Mut und Zuversicht einzuflößen, so bekommen wir mit Hieronymus Weller von Luther die Antwort, dass dies auf seinen eigenen Anfechtungen beruhte. Der Melancholie kommt somit eine wesentliche Bedeutung für­ Luthers religiöse Berufung zu. Sie hat ihn gelehrt, Trost zu erteilen. Doch beschränkt sich diese Bedeutung nicht auf die Gabe, tröstliche Worte zu sprechen. Luthers seelische Veranlagung zur Schwermut [203] und die daraus sich ergebenden Qualen der Angst hatten eine doppelte Wirkung auf die Religion selbst. Einerseits gab die Melancholie Luthers religiösen Bedürfnissen einen breiteren, nämlich doppelten Hintergrund. Andererseits eröffnete die Melancholie eine größere und schrecklichere Tiefe, aus welcher Rettung gesucht und gefunden wurde. Wir brauchen nicht Luther in Tischreden und anderswo über den Teufel der Melancholie oder den melancholischen Teufel sprechen zu hören, um zu verstehen, dass wir sehr oft Teufel, den Herrn der Höllenqualen und des Bösen, in seinem

418 Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus) (1529), WA 30/I (123–238), 190,26–32 (3. Artikel). 419 Der kleine Catechismus für die gemeine Pfarrherr und Prediger (1529), WA 30/I (239–345), 298,2–4 (3. Artikel). 420 [Gemeint ist wohl die Stelle: „Nothing in Catholic theology, I imagine, has ever spoken to sick souls as straight as this message from Luther’s personal experience“ (bezogen auf einen Auszug aus der Vorlesung zum Galaterbrief von 1531): William James, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature, New York ²1902 (hier nach dem Neudruck 1963), 245 f. (Nichts in der katholischen Theologie hat, denke ich, jemals so unmittelbar zu kranken Seelen gesprochen wie diese Botschaft aus Luthers persönlicher Erfahrung.).]

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Mund mit Gewissensnot oder mit Melancholie oder mit beidem übersetzen können.421 Das Heilmittel gegen die seelische Not ist für Luther im Grunde stets dasselbe: die Gewissheit um Gottes Barmherzigkeit und die Vergebung der Sünden, so wie das Unheil seinen Stachel in dem Gefühl von Gottes Missbilligung hat. Doch wenn Luther im Kleinen Katechismus kurz zu schildern versucht, was Vergebung der Sünden bedeutet, spricht er unbewusst das doppelte Unheil an, gegen das seine gepeinigte Seele bei Gott Hilfe suchte und auch fand, für sich selbst und für viele. „… wo vergebung der sunde ist, da ist auch leben und selickeit.“422 Da ist Seligkeit gegenüber der Unseligkeit von Schuldgefühl und Sünde. Aber da ist auch Leben gegenüber dem Zustand von Not und Tod, in den Luther durch seine Melancholie versank. Die schwedische ebenso wie die französische Sprache fasst beides, nämlich einerseits die Sünde, die Übertretung, das Unrechte, andererseits das Leiden, die Not, das Unglück. in einem Wort zusammen: det onda [le mal]. Die deutsche Sprache besitzt je ein besonderes Wort, um das moralisch Schlechte und das physisch Schlechte zu bezeichnen: das Böse und das Übel. Luthers geistliche Not hat diesen doppelten Anlass. Der allgemeingültige, für die Geschichte der Religion eigentlich bedeutsame Anlass liegt im Schuldgefühl, in der Angst des Gewissens unter Gesetz und Gericht. In dieser Hinsicht ist Luther ein zweiter Paulus. Auch Augustin hatte von einer entsprechenden Erfahrung zu berichten gewusst, wiewohl diese in der Kirche [204] unklar gefasst oder halb vergessen wurde. Jedoch gleicht Luther mehr Paulus als Augustin, den er an Tiefe und Konsequenz seiner Leidenschaft überboten hat. Selbst Paulus würde es schwerfallen, sich überall in Luthes seelischer Finsternis wiederzuerkennen. Aber im Wesentlichen stimmen sie überein und stehen da neben Augustin als die klassischen Verkünder des Hauptgegensatzes der geistigen und ethischen Erlösungsreligion: Sünde und Gnade. Zwischen diesen beiden Polen entzündet sich der Funke. Doch wir haben herausgefunden, dass Luthers Not – die ihn in die Tiefen des Geheimnisses des Christentums führte – daneben auch noch einen anderen Ursprung hatte. Die angeborene Schwermut war nicht eine krankhafte, möglicherweise hinderliche Zufälligkeit in der Geschichte Luthers und damit der Christenheit. Sondern sie stellte seinen reichlich zugemessenen Anteil an der Not des menschlichen Lebens dar. Luther blieb keine Mühsal erspart. Schweres und Bitteres, Krankheit und Schmerz suchten 421 Vgl. John Landquist, Luther. En psykologisk skiss, in: ders., Det levande förflutna. Betraktelser över samtida frågor, Stockholm 1919, 162. 422 Der Kleine Katechismus, a. a. O. (wie Anm. 419), 316,19 f (Das Sakrament des Altars).

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ihn in reichem Maße heim. Aber der Jammer des Daseins gewann bei ihm Gestalt und konzentrierte sich in der Herzensangst. Früh verband sie sich in Luthers Bewusstsein mit dem Schuldgefühl. Das Angstgefühl stachelte die Selbstanklage an. Der Zusammenhang zwischen beidem war von Paulus ausgesprochen worden: Die Frucht der Sünde ist der Tod. Hinter dem einen wie dem anderen nahm Luther den Teufel wahr, der nach seiner Vorstellung Krankheit und Plage sandte, und das Schimmste von allem, Verzweiflung an Gottes Gnade. Luther hat, wie wir im vorigen Kapitel hörten, die Krankheiten des Leibes und das Leiden der Seele nebeneinander gestellt. Wir haben bereits die Frage aufgeworfen, inwieweit Krankheit die richtige Bezeichnung für Luthers Melancholie ist. Das ist in erster Linie ein medizinisches Problem, dessen Lösung dadurch erschwert wird, dass Luthers seelische Qualen in seinen verschiedenen Lebensphasen nicht den gleichen Verlauf nahmen, den die Angst des Melancholikers aufzuweisen pflegt. Die Rede von Krankheit kann hier leicht in die Irre führen. Meint man mit Krankheit etwas, das man sich ohne wesentliche Verminderung [205] und Beschädigung von Luthers Genius und Werk auch wegdenken könnte, so gilt das für die Steinschmerzen, die Ohrenschmerzen und andere Leiden, aber nicht für die Melancholie. Wenn es um die Seele geht, muss man sich etwas zurückhalten, bevor man bei einem ungewöhnlichen Menschen in ungewöhnlichen Umständen Krankheit konstatiert. Eine Heldenseele wie diejenige Luthers verfügt über einen Empfindungsreichtum und Möglichkeiten des Leidens, die uns anderen abgehen. Das innere Leben war bei ihm weit empfänglicher für die Regungen der Seele und für die Heiligkeit Gottes als bei anderen. In jeder Not war die Abhilfe dieselbe. Seinen Freimut gewann Luther dadurch, dass er sich nicht auf das eigene vermeintliche Vermögen verließ, sondern auf das Verdienst Christi. Mit solchem Gottvertrauen trotzte er sowohl der Drohung des Gesetzes als auch der Finsternis des Herzens. Wenn er sich wie ein Wurm in Angst windet und der kalte Schweiß ausbricht, obwohl er sich im Übrigen in angenehmer Ruhe und Behaglichkeit befindet, so geht es dabei ebenso um die Heilsgewissheit, wie wenn das Gewissen ihn anklagt. Die beiden Zustände, Melancholie und Verdammung durch das Gesetz, fallen für Luther zusammen. Doch ehe wir die Sache genauer untersuchen, müssen wir sehen, dass Luther Hilfe suchte und fand sowohl gegen das Übel, den bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Gestalt annehmenden, bei ihm zur Melancholie zugespitzten Schmerz des Lebens, als auch gegen das Böse, die Sünde, die Schuld, die Gewissensnot, die allem Unheil und allem Leiden seine eigentümliche Bitterkeit verleiht.423 423 [„Das Übel“ und „das Böse“ auch im Original auf Deutsch.]

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Zu verschiedenen Zeiten bin ich ein fleißiger Leser Luthers gewesen. Seitdem ich vor ungefähr zehn Jahren vor der Frage nach Luthers Schwermut stand, veranlasst insbesondere durch Hausraths Darstellung, habe ich begriffen, dass die übliche Auffassung Unrecht hat, wenn sie in jeder seelischen Not Luthers das Schuldgefühl finden will, das Vergebung für begangene Verfehlungen braucht. Wie verhält sich dann Luthers eigentümliches – wenngleich auch bei anderen in verschiedenen Formen wahrnehmbares – seelisches Leiden zu der Frage des Evangeliums von Sünde und Gnade? [206] Die Sache wird klar, wenn man Luther und seine Zeitgenossen genauer studiert. Sie verbuchten nicht seine ganze Seelennot und die Sehnsucht nach einem gnädigen Gott auf das ethische Konto, die Anklagen des Gewissens, sondern sie unterschieden deutlich zwischen der sittlichen Schuld und den Anfechtungen. Beide Formen von Unheil haben dies gemeinsam, dass sie den Frieden stören und den Menschen peinigen. Beide haben das gleiche Heilmittel, die Gewissheit, dass Gott sein armes ge­ plagtes Menschenkind liebt. Wenn es darum geht, den Ursprung seines Leidens zu benennen, ist­ Luther nicht konsequent. Wir können mindestens drei verschiedene Beurteilungen unterscheiden, die jedoch nicht immer klar auseinandergehalten werden, sondern ineinander übergehen. Luther kann sowohl die Angst als auch das Schuldgefühl von dem Bösen [Teufel] herleiten, welcher der Seele keinen Frieden gönnt. An anderen Stellen kann er deutlich unterscheiden zwischen den Anfechtungen, die Gott schätzt und schickt, dieweil sie den Menschen tiefer in Besserung und Glauben hineinzwingen, und solchen Anfechtungen, die Gott hasst, weil sie die Seele der Freude und Dankbarkeit berauben, die Gott in ihr zu finden liebt. Luther kann auch sich selbst und andere damit trösten, dass auch das Werk des Teufels, das heißt die grundlose Ängstlichkeit und Angst der Seele, durch Gottes Gnade zur Hilfe für die Seele führt, indem der Hochmut unterdrückt wird und der Mensch lernt, die Gnade besser zu ver­ stehen. Solche Anfechtungen verwirklichen somit Gottes Absicht. Es heißt daher oft bei Luther, dass Gott dem Teufel erlaubt, die Seele so zu quälen, oder dass er den Bösen sogar dazu aussendet – eine Auffassung von der Rolle des Bösen, die manchmal an das Hiobbuch erinnert, im Unterschied zu dem scharfen Dualismus des späteren jüdischen und christlichen Teufelsglaubens. Dennoch gewahren wir durch die verschiedenen Ausdrucksformen hindurch, welche die jeweilige Situation Luther eingibt, den durchgän­ gigen Unterschied zwischen dem Schmerz über die Sünde und der Not der Anfechtung. – 192 –

[207] Der Teufel schickt sowohl Leiden als auch Versuchung, er verursacht sowohl physische als auch geistige Not. Doch das eigentlich Teuflische liegt weder im Schmerz der Angst noch in der Sünde als solchen, sondern darin, dass der Schmerz der Angst oder der Gedanke an begangene Sünden den Menschen dazu bringt, an der Gnade Gottes zu zweifeln. Das Teuflische besteht darin, dass es dem Teufel gelungen ist, jemanden dazu zu bringen, dass er Gott Böses zutraut und sich deshalb vor ­Eschrecken oder aus Ungewissheit von Gott entfernt. Solange das Böse – das Leiden oder die Gewissensnot – Luther zwar peinigt, es aber noch nicht erreicht hat, ihn von Gott fortzutreiben, kann es als eine von Gott gesandte Prüfung und Erziehung für die besondere Berufung betrachtet werden. Erst wenn die Verzweiflung die Oberhand gewonnen hat, so dass es finster wird in der Seele und Gottes Liebe ihr entschwindet, begreift man, das der Böse die Ursache ist. Das Dasein spaltet sich für Luther in einander widerstreitende Gegensätze. Tritt der Teufel einmal als Gottes Handlanger auf, mit anderen Worten: stehen Angst und Schuldgefühl im Dienst der Absichten Gottes, so hindert das nicht, dass sie an und für sich, ohne die barmherzige Wendung, die Gott der Sache gibt, zur Hölle des Bösen gehören. Ein kraftvoller Dualismus zieht sich unerbittlich durch Luthers Leben hindurch. Mit klassischer Klarheit hat er die beiden Reiche in seinem Bekenntnis zu Christus im Kleinen Katechismus gezeichnet. Unter der Gewalt aller Sünden, des Todes und des Teufels war er verloren und verdammt. Unter der Herrschaft Christi, als Christus zueigen, lebt er in ewiger Gerechtigkeit, Freiheit von Schuld, und Seligkeit. In Luthers innerer Geschichte schafft dieser Dualismus eine Zweiteilung sowohl quer [in unmittelbarer Konfrontation] als auch durch seine ganze Lebenszeit hindurch. Es gibt ein entscheidendes Datum in seinem Glaubensleben, nämlich die Gewissheit des Heils. Wir können es nicht mit Sicherheit auf einen Zeitpunkt festlegen. Aber es ist wichtiger für die Geschichte [208] der Religion als irgendetwas anderes, was Luther erlebt oder geleistet hat. Andere Perioden in Luthers innerer Entwicklung können wir bestimmen und manche von ihnen sicherer datieren, als es in Bezug auf dieses abgrenzende Ereignis möglich ist. Doch diese haben nicht das gleiche Gewicht. Die Wegmarkierung zwischen der alten und der neuen Frömmigkeit bei Luther wird durch die Gewissheit des Heils angegeben. Bereits zuvor hatte er Christus angehört und die Grundlagen der Seligkeit und des Glaubens kennen gelernt. Doch fehlten ihm die innere Ruhe und die Freiheit, wie sie das Verlangen und die drängende Unruhe seiner Seele begehrten, bis ihm aufging, dass ein Christ persönliche Gewissheit seiner Erlösung besitzen darf und soll. Erst da wurde Luther vom Schuldgefühl erlöst und selig im ewigen Reich Christi. – 193 –

Danach stellten sich innere und äußere Hindernisse für die Seligkeit ein, Sünden, Angstgefühl, Anfechtungen, Zweifel, Verzweiflung bis zur Gotteslästerung, die Verdammung des Gewissens. Aber nachdem die Gewissheit einmal gewonnen war, galt es sie trotz allem festzuhalten, gegen das Urteil der Welt, des Gesetzes und des Gewissens, wenn es sein musste gegen Gott selbst, sofern die Verzweiflung sich auf Gott berief. Wir kommen auf diese Epoche machende Gewissheit bei Luther zurück. Daneben haben wir Grund für eine andere Einteilung von Luthers Verkehr mit Gott. Diese kann nicht auf Lebensphasen bezogen werden, sondern zieht sich als Auf und Ab einer völlig krummen Grenzlinie durch sein ganzes Leben hindurch und schlägt an einem Tag, in einem Jahr oder in einem Augenblick einen größeren oder kleineren Teil seines Geistes entweder dem Bereich des Glaubens oder dem des Kleinglaubens zu. Das ist eine höchst unregelmäßige Kurve, die in wesentlichen Zügen mit der Kurve seiner tentationes zusammenfällt. Was oberhalb der krummen Grenzlinie liegt, befindet sich im Licht, was unterhalb dieser Grenzlinie liegt, gehört zur Welt der Finsternis. Luther zog niemals aus dem Reich Christi aus. Aber ihm widerfuhren Wirkungen der Macht des Bösen; das heißt des Unfriedens. [209] Der Kampf zwischen Christus und dem Teufel um seine Seele ging weiter. Und die wirksamste Waffe des Teufels waren die Anklagen des Gewissens, das Angstgefühl unter dem eingebildeten Missfallen Gottes. Doch es ist deutlich, dass man prinzipiell unterscheiden muss zwischen der Erkenntnis der Sünde und der Gewissensqual, die den Menschen zu Gott treibt, auf der einen Seite, und dem Schuldgefühl, das ihn von Gott trennen will, auf der anderen. Lassen Sie uns nun untersuchen, was diese doppelte Not für Luthers religiöses Werk bedeutete, und damit zugleich, was es für uns und unsere Zeit bedeuten kann. Auch ohne Luthers Schwermut kann ein Mensch, wenn ihm die Augen für seine geistliche und sittliche Not aufgehen, in eine Beklemmung ge­ raten, die ihn mit Verzweiflung bedroht, ehe er das Kreuz und die Vergebung in den Blick bekommt. Eine heftige Krise muss manche Seele durchlaufen. Da bewahrheiten sich für sie Luthers Worte über die Not der Seele. Doch niemand kann diese Geburtswehen des Glaubens als Werk des Teufels betrachten. Der Kampf des Glaubens bleibt keinem Menschen erspart, der sich im Ernst der sittlichen Forderung stellt und deshalb durch die enge Pforte hindurch muss. Fassung und Ruhe kann niemand behalten, wenn er in diese Not hinein muss. Da wird die Seele nackt, verhüllt lediglich durch Scham, arm, reich lediglich an Anklagen. Nichts in der Welt kann ihre Unruhe stillen – geschieht dies, so ist sie erst einmal uneingeschränkt verdammt zu Erniedrigung und Verbannung fern von Gottes Angesicht. Gott allein kann ihr helfen. Wenn eine Seele zum ersten Mal die Zerknirschung des Gewissens und Gottes Gnade erlebt, wird dies – 194 –

zum eigentlichen Augen­blick der Geburt in ihrem Dasein, wenngleich der Glaube ihn in die Taufe zurückverlegt. Das Erschrecken vor Gott ist damit nicht für alle Zeit vorüber. Gott offenbart sich, wenn der Mensch es am wenigsten ahnt, als weit strenger, fordernder, als man es sich eingeredet hat. [210] Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer. Doch fern von ihm verdorrt das wahre Leben der Seele.424 Wer in eine solche Not hineingerät, dem kann durch nichts anderes geholfen werden als durch ganze und volle Vergebung. Doch das Evangelium mit seinem Geheimnis wird im Grunde niemandem anvertraut außer dem, der die Gewissensnot erfahren hat. In der Vorrede zum Römerbrief wird im Blick auf Kapitel neun bis elf dieses Briefes gesagt, dass man sich nicht ohne Schaden und heimlichen Widerwillen gegen Gott mit der tröstlichen Lehre von Gottes Vorsehung befassen kann, ehe man unter das Kreuz, in Leiden und Todesnot geraten ist.425 Es gibt bei Luther natürlich unmissverständliche Klarheit darüber, dass die Sünde, das eigene Verschulden des Menschen, Gewissensqualen mit sich führt – wenngleich aus dem Zusammenhang gerissene Stellen den Anschein erwecken können, dass jede Gewissensnot von Luther auf die Macht des Bösen außerhalb des Menschen zurückgeführt wird. „… wier taeglich vil sündigen vnd wol eytel straff verdienen.“426 Dieses gesunde Empfinden der Schuld und die Aufrichtigkeit im Gebet um Vergebung sind das Wesentliche und Wichtige – das Echte sowohl bei Paulus als auch bei Luther. Aber das ist nicht alles. Neben dieser sittlichen Not litt Luther unter einem manchmal krankhaft gesteigerten Angstgefühl, das somit nicht zu dem Dilemma Schuld­ gefühl / Vergebung im eigentlichen Sinn gehörte. Es muss stattdessen auf die mancherlei Widrigkeiten des Lebens bezogen werden. Es ist deshalb unrichtig, das religiöse Problem bei Luther auf das Sündenbewusstsein zu beschränken. Man sagt: Luther wurde von Schuld geplagt, aber die geistige Not des neuzeitlichen Menschen liegt im Wesentlichen an anderer Stelle, in der Kompliziertheit des Lebens oder in dessen Leere und Öde. Der neuzeitliche Mensch leidet mehr unter dem Schmerz des Daseins als unter seiner Gewissensschuld. Das mag an einer Schwäche des modernen Menschen liegen. Aber es ist ein Faktum, mit dem wir rechnen [211] müssen. Und halten wir uns an Jesus, werden wir noch mehr dazu genötigt, als wenn wir 424 [Die vorstehende Schilderung erinnert an die religiöse Krise, die S­öderblom selbst als Student und junger Pastor durchlebt hat, einschließlich der angedeuteten Zweistufigkeit. Vgl. dazu meine Arbeit N. ­Söderblom und seine Zeit, a. a. O. (S. 13, Anm. 13), 66–75. 98–100.] 425 Vgl. WA.DB 7, 524,5–7. 426 [Der Kleine Katechismus, WA 30/I, 254,2 f.]

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uns allein an Paulus halten. Luther verlangte nach einem gnädigen Gott, der neuzeitliche Mensch verlangt nach einem Gott, der Hilfe bietet. So einfach ist der Unterschied [indessen] nicht. Wir sehen die Sache heute anders. Das religiöse Problem entstand auch für Luther nicht allein aus der Gewissensnot, sondern ebenso aus der Not des Lebens, aus einem Unheil, für das er nicht sittlich verantwortlich gemacht werden konnte. Sein Lebensgang war reich an Heimsuchungen und Mühsal. Aber wir haben viele Male gehört, dass nichts, keine körperliche Plage, keine Verfolgung, keine Anstrengung für ihn vergleichbar war mit der verzehrenden Unruhe des Gemüts, wenn sie sich einstellte. Die Melancholie bedeutete für Luther Last und Weh des menschlichen Daseins in so spürbarer Zuspitzung wie nur möglich. Luther hat somit eine Botschaft sowohl für den, der ruhelos und unglücklich ist ohne eigenes Verschulden, als auch für den, dem bewusst geworden ist, dass er für die von ihm selbst begangenen Verfehlungen leidet. Es war der Mangel der Beurteilung von Luthers persönlicher religiöser Situation, dass man dies übersehen und seine ganze Religion unter dem Gesichtspunkt Schuld / Gnade zentriert hat, welcher der wichtigste ist. Das ist leicht zu erklären, denn Luther selbst benutzt für die Melancholie Worte, die an wirkliche Gewissensnot denken lassen: terrores conscientiae, angustiae, tentationes. Wir haben jedoch eine Menge Stellen angeführt, an denen diese Anfechtungen unter Krankheit, Unglück und andere Beschwernis einzuordnen sind und auf den Hass des Bösen auf die Diener Gottes zurückgeführt werden. Die Hilfe ist immer die gleiche: ein gnädiger Gott. Der Glaube an die Vergebung, das Gottvertrauen des Herzens, die Wärme aus der Gnade Gottes machen den Himmel aus, aus dem das Leiden ebenso wie die Anklagen des Gewissens den Christen verjagen will. Die Schwermut war eine Heimsuchung, ob man sie nun Krankheit nennt oder nicht. Doch ist damit die religiöse Deutung nicht ausgeschlossen, weil die Religion in aller Qual Trost und [212] Kraft bringen will.427 Luther steht dem Schlusswort des 73. Psalms: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“, das in unserem Gesangbuch umgesetzt ist: „und wenn in Qual mein Leib und Seel verschmachtete“428 (wenngleich das Wort „Gott“ des biblischen Originals mit „Jesus“ vertauscht ist) – ebenso nahe wie dem 427 Vgl. zu dieser ganzen Passage Luthers Brief an Wenzeslaus Link vom 26.10.1539, Nr. 3398, WA.B 8 (579 f), 579,15–580,20; sowie den Brief an Konrad Cordatus vom 22.11.1539, Nr. 3409, WA.B 8, 604 f. 428 [„om än i kval min kropp och själ försmäktade“, im Wallinschen Gesangbuch (1821) Nr. 221,1 (1986 = Nr. 239,1: „och lider jag till själ och kropp“); Bearbeitung des Chorals von Martin Schalling „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“, wo die betreffende Zeile heißt: „Und wenn mir gleich das Herz zerbricht“ (EG 397,1).]

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Wort des Paulus „ich, Mensch der Sünde“429. Ebenso wie Paulus in Röm 8,38 findet Luther Heilung für jede Art von Not in der Gewissheit von Gottes Liebe. Die Melancholie war bösartig und wachsam, manchmal auch gefährlicher. Wir geben die Situation wieder, indem wir – für unsere Zwecke – drei Momente unterscheiden, die für Luther in eins zusammenfielen, nämlich erstens das wirkliche, auf wirkliche Vergehen gegründete Schuldgefühl, das Vergebung suchte und fand, zweitens die Angst, die Luther das Missfallen Gottes vortäuschte und ihm fälschlich Sünden andichtete oder seine heilige Pflicht, das Reformationswerk, zu Sünde entstellte, drittens beides zusammen, wenn die Melancholie die begründeten Anklagen des Gewissens aufgriff, um Luther im Widerspruch zu Glauben und Gottes Verheißung von der Vergebung zu verscheuchen. Wären wir Herzenskündiger, so würden wir bei Luther unterscheiden zwischen reinen, unverschuldeten Angstgefühlen, die bei dem durch und durch religiös geprägten Mann unvermeidlich die Gestalt seelischer Qualen annahmen und aus Gottes eingebildetem Zorn erklärt wurden, einerseits, und solchen begründeten Gewissensvorwürfen andererseits, die durch die Schwermut eine Verschärfung erfuhren, so dass sie zum Hindernis für Gottes Gnade wurden. Will man bei der Untersuchung, in welchem Maß Luthers religiöse Situation sich auf andere beziehen lässt, gründlich sein, so muss man, so weit ich es verstehe, diese Dreiteilung seiner seelischen Not vornehmen. Für Luther gingen die drei in eins zusammen, weil sie ihn alle mit derselben Verdammnis und Verzweiflung bedrohten. Jetzt verstehen wir den Katechismus. Der Moralismus kann mit Luthers himmelstürmendem Hunger nach Seligkeit nicht zurechtkommen. Das Rechtsgefühl gerät in moralische Entrüstung ob Luthers Erklärung [213] der siebten Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Welche Versuchung? „… wir bitten ynn diesem gebet, das uns Gott wolt behüten und erhalten, auff das uns der teuffel, die welt und unser fleisch nicht betriege unnd verfüre ynn missglauben, verzweiffeln und ander grosse schande und laster …“430

Die Versuchung, in die uns der Teufel, die Welt und unser eigenes Fleisch hineinführt, was ist das für eine Versuchung? Natürlich die Sinnlichkeit, antwortet man. Luther sagt auch häufig, dass man sich im Papsttum, das heißt in der gängigen kirchlichen Praxis, allein mit den sinnlichen R ­ eizen 429 [Vgl. 2Thess 2, 3, wo ältere Übersetzungen (Lutherbibel bis 1956) für ἄνθρωπος ἀνομίας (Mensch der Gesetzlosigkeit) „Mensch der Sünde“ haben, freilich ohne „ich“. S­ öderblom, der nach dem Gedächtnis zitiert, hat diese Wendung wohl mit ταλαίπωρος ἐγὼ ἄνθρωπος („ich elender Mensch“, Röm 7, 24) vermengt.] 430 Der Kleine Katechismus, WA 30/I, 306,15–20.

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befasst hat. Luther selbst aber antwortet, als ob das selbstverständlich wäre: Aberglaube, Verzweiflung und andere große Schande und Laster. Kann man eine solche Zusammenstellung angemessen nennen? Aberglaube ein Laster, Verzweiflung eine schwere Sünde?431 Wo bleibt da das sittliche Urteil? Man kann das nicht auf die Übersetzung schieben. Das deutsche Original hat … noch brutalere Ausdrücke. Und die lateinische Übersetzung präzisiert: „in superstitionem, diffidentiam, desperationem atque alia gravia scelera et flagitia“. Für Luther ist alles religiös bestimmt. Das Wesen der Sünde besteht im Mangel an Gottvertrauen, somit in der Entfernung von Gott. „Mangel an Glauben ist Wurzel, Saft und Kraft aller Sünde“.432 Der Aberglaube hegt falsche, Furcht erregende Gedanken über Gott, die Verzweiflung treibt den Menschen von Gott weg und weist ihm die gröbste denkbare Schändung nach, die man sich denken kann, nämlich an seinem Wort, seinem Werk, seiner Gesinnung zu zweifeln. Etwas Schlimmeres können keinerlei Sünden, Verbrechen oder Laster zuwege bringen oder beinhalten, als die Seele von Gott zu entfernen und sie in die Finsternis hinauszutreiben. So stringent ist die Einheitlichkeit des geistlichen Lebens bei Luther, dass das Wesen aller Sünde im Fehlen des Glaubens besteht, und dass Glaube notwendig gute Werke hervorbringt. Wir unsererseits wollen in dieser originellen Auslegung der Bitte des Meisters gegen die Versuchung sittlich Unrechtes, Sünde und Laster, von Leiden, [214] Verzweiflung unterscheiden. Luther führt sie in eins zusammen. Doch müssen wir, um ihn recht zu verstehen, die beiden Bestandteile seiner eigenen Verzweiflung an Gottes Barmherzigkeit bedenken: nämlich einerseits das Urteil des Gewissens, andererseits die Melancholie. Somit bedeutet das Vorkommen der Schwermut bei Luther, dass die Zuversicht zu Gott bewährte Hilfe ist nicht bloß gegen die Anklagen des Gewissens, sondern auch gegen die sonstigen Plagen und Nöte des Lebens. Noch eine dritte wesentliche Bedeutung müssen wir Luthers Angst zuschreiben, wenn es gilt, seine Religion und sein Werk zu begreifen. Es war die Schwermut, die Luther zwang, so weit zu gehen, wie er es tat. Sie vertrieb ihn gründlicher als irgendeinen von den großen Geistern der Religion nach Paulus aus dem Bereich der Lehre von Verdienst und Werken. Eine weniger leidenschaftliche und gepeinigte Seele hätte sich beruhigen lassen. Sie wäre bei den gängigen Tröstungen des kirchlichen Systems verblieben. Martin Luther wurde unerbittlich in die Weite hinausgeführt. Er konnte vielerlei, bloß nicht die Unruhe seiner Seele befrieden. 431 [Die schwedische Fassung des Katechismus hat statt „Schande“ synd, „Sünde“.] 432 [Freie Wiedergabe der Stelle aus der Vorrede zum Römerbrief (1546), WA.DB 7, 8,6 f: „… vnglawb, als die wurtzel, safft vnd heubt krafft aller sunde“.]

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Dieser Mann vermochte in der Tat viel. Ohne solche Absicht gelang es ihm, kraft seiner seelischen Not und der prophetischen Botschaft, die sie heilte, die Geschichte des Abendlandes tiefer und nachhaltiger zu beeinflussen als sonst irgendjemandem nach Christus. Der größte Kirchenhistoriker der römischen Christenheit in neuerer Zeit, Döllinger (ebenso wie andere ihrer bedeutendsten Intellektuellen dazu verurteilt, um des römischen Systems willen geopfert zu werden) hat ein Wort dazu. „Wenn man den mit Recht einen großen Mann nennt, der mit gewaltigen Kräften und Gaben ausgerüstet Großes vollbringt, der als ein kühner Gesetzgeber im Reiche der Geister Millionen sich und seinem Systeme dienstbar macht – dann muß der Sohn des Bauern von Möhra den großen, ja den größten Männern beigezählt werden.“433

Der neueste gründliche Lutherforscher in der römischen Kirche, der Jesuit Grisar, spricht von Luthers „furchtbar [215] mächtiger Stimme, der das Element des Sturms in seinen Dienst stellte und es verstand, mit einem Riesentrotz, wie er in der Welt­geschichte nie gesehen ward, unerhörten Erfolg an seine Fahnen zu heften.“434

Der Geist, der sich machtlos im Griff der Schwermut wand, war ansonsten nicht machtlos. Wir konzentrieren uns hier auf die willentliche und bewusste Seite von Luthers Begabungen, auf das, was er durch Vorsatz und Arbeit geleistet hat. Keine von seinen Begabungen ist so unumstritten wie die des Schriftstellers. Nicht bloß zu religiösen und sittlichen, sondern auch zu ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen, pädagogischen, volkspsychologischen, historischen und anderen Fragen findet sich in seinen Schriften eine Fülle scharfsinniger Beobachtungen und treffsicherer Äußerungen. Jedem Urteilsfähigen imponiert der Sprachkünstler und die Kraft der Darstellung, „von dem persönlich Kraftvollen, zugleich zutiefst Wirklichkeitsgesättigten und ideell Erhebenden seines Stils“.435

433 [Ignaz Döllinger, Luther. Eine Skizze, Freiburg 1851, 51.] 434 [Kein Zitat, sondern eine Kompilation. Vgl. H. Grisar, Luther, Bd. 3, 1912, 866: „Eine Erscheinung wie diesen Riesentrotz Luthers hatte der Weltgang niemals gesehen“; ebd.: „Eine furchtbare Größe“; 869: „Luther mit seiner Sturmnatur“. Auf den Abschnitt über Luthers Trotz (864–869) folgt bei Grisar einer über Luthers Erfolge (869–873), die er allerdings durch Verweis auf Begleitumstände wie Fürstenmacht und politische Verwicklungen relativiert. Die These, dass es sich um eine Kompilation handelt, wird dadurch gestützt, dass das Döllinger-Zitat, das ­Söderblom zuvor gebracht hatte, auch bei Grisar steht (867).] 435 [­Söderblom gibt für dieses Zitat keine Quelle an. In dem gleich im Folgenden herangezogenen Buch steht es jedenfalls nicht. Ich habe seine Herkunft nicht feststellen können. D. Hg.]

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Es könnte für jeden geringeren Schreiberling von Interesse sein zu hören, was Luther über die Feder schreibt. „Leicht ist die schreibfedder, das ist war, ist auch kein handzeug vnter allen hand wercken bas [besser] zu erzeugen denn der schreiberey, denn sie bedarff allein der gense fittich, der man vmbsonst allenthalben gnug findet Aber es mus gleich wol das beste stucke (als der kopff) vnd das edleste gelied (als die zunge) vnd das hohest werck (als die rede) so am menschlichem leibe sind, hie her halten vnd am meisten erbeiten, da sonst bey andern entweder, die fausst, fuß, ­rucken, odder der gleichen glied allein erbeiten vnd konnen da neben frolich singen vnd frey schertzen, das ein schreiber wol lassen mus, Drey finger thuns (sagt man von schreibern) Aber gantz leib vnd seel erbeiten dran.“436

Luther wurde bald ein Meister der Feder. Er lernte seine eigene Muttersprache zu behandeln wie keiner vor ihm, kaum einer nach ihm. „… es hat nie einen Deutschen gegeben, der sein Volk so intuitiv verstanden hätte und wiederum von der Nation so ganz erfasst, ich möchte sagen eingesogen [216] worden wäre, wie dieser Augustinermönch zu Wittenberg. Sinn und Geist der Deutschen waren in seiner Hand wie die Leier in der Hand des Künstlers.“437

Es ist noch einmal Döllinger, also ein Gegner des Luthertums, der hier zu Wort gekommen ist. Luthers Instrument war nicht nur das deutsche Volk, sondern die menschliche Seele selbst. Von solcher Art ist seine Sprache, dass es in seiner riesenhaften Produktion wenige Seiten gibt, die nicht zum Klingen kommen und notwendig Widerhall finden in einer Seele, die der Resonanz fähig ist. Man mag es nicht glauben, dass eine solche Begabung von selbst entstand. Keine von Luthers Arbeiten genießt so allgemeines Ansehen wie seine Bibelübersetzung. Schon zu seiner Zeit konnte Luther äußern, dass seine Widersacher sie noch mehr lasen als seine Anhänger. Unverhohlene Bewunderung wird noch heutzutage jedem seiner Widersacher abgenötigt, der sich in die deutsche Bibel vertieft. Denn die Bibel war seit Luther nicht mehr eine hebräische und griechische Büchersammlung, überhaupt nicht eine antike Schrift, aus fremder Sprache übernommen, sondern sie entsprang so echt in der gesamten Ausdrucksweise, so unnachahmlich lebendig der Werkstatt seines Geistes, dass sie zu einem ganz neuen Original­ 436 [Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (1530), WA 30/II ­(517–588), 573,15–574,6. ­Söderblom benutzt die leicht modernisierte Textfassung bei Franz Etzin, Martin Luther. Sein Leben und sein Werk, Gotha 1917, 150 f.] 437 [Ignaz Döllinger, Über die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen. Sieben Vorträge, gehalten zu München 1872, Nördlingen 1888, 53.]

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werk in germanischem Sprachgewand wurde. Wir können uns kaum vorstellen, was für eine zielstrebige Anstrengung diese literarische Schöpfung bedeutete. Es ist leicht zu verstehen, dass Luther die Beherrschung der Grundsprachen der Bibel erlernen und deren Nuancen von den Gelehrten erkunden musste – keine geringe Mühe. Luthers Geist ertrug keine Unklarheit. Hinter dem Wort musste er die Sache erkennen. Nirgendwo begnügte er sich damit, an einem Schild, bei einem Wort stehen zu bleiben. Er wollte über alles Bescheid wissen, wovon die Schrift redet, Pflanzen, Tiere, Gegenstände, Volksstämme. Er ließ kein Fragezeichen in seinem Lexikon stehen. Ein Volksbuch musste klare Auskunft geben, selbst wenn die Wissenschaft über keine sichere Antwort verfügte. Er schrieb an Spalatin und bat ihn, Namen, Arteneinteilung und Beschreibung von Tieren und Vögeln zu beschaffen, um die Verwirrung im biblischen Text zu klären.438 [217] Aber das Großartigste in dieser Übersetzung lernte Luther aus dem Volksmund, nämlich die saftigen Wörter, die treffenden Ausdrücke, die kernige Natürlichkeit der Sprache. Die Bauern auf dem Markt wurden seine Lehrmeister. Man höre von seiner Methode im Gegensatz zu geschraubten und wortwörtlichen Übersetzungen: „… man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den[n] …“439

Luther wollte eine deutsche Bibel, und sie kam zustande. Die evangelische Gottesverehrung brauchte Lieder. Luther, voller Bewunderung für die Begabung des Dichtens, von der er nicht wusste, dass er sie besaß, ermahnte Freunde und Liederdichter, ihre Gabe zur Verfügung zu stellen und für den Gottesdienst Choräle in der Muttersprache zu schreiben. Daraus wurde nun gar nichts. Da wusste man sich keinen Rat. Im Alter von vierzig Jahren setzte Luther sich selber hin, um Kirchenlieder zu dichten. Die Märtyrer in Löwen440 entlockten ihm die erste Melodie, die wir von ihm kennen. Im gleichen Jahr schrieb er: „Ich habe 438 Vgl. Brief an Spalatin vom 12.12.1522, Nr. 556, WA.B 2 (630 f), 630,4–631,45. – Luther kannte die Macht seiner Feder selbst gut: „… bin ich … durch die schreib fedder so fern komen, das ich itzt nicht wolt mit dem Turckisschen keiser beüten [tauschen], das ich sein gut solt haben vnd meiner kunst emperen, Ja ich wolt der wellt gut, viel mal geheufft, nicht dafur nemen …“ Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (wie Anm. 436), 576,16–577,1. [­Söderblom liest am Ende des Satzes statt „viel mal“ versehentlich „vier mal“, schwed.: fyra gånger om.] 439 [Sendbrief vom Dolmetschen (1530), WA 30/II (632–646), 637,19–22.] 440 [Die beiden ersten evangelischen Märtyrer, Johannes von Essen und Heinrich Voes, wurden am 1.7.1523 in Brüssel verbrannt, nicht in Löwen. Vgl. Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Stuttgart 1986, 106.]

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beschlossen …, Choräle in der Muttersprache für das Volk zu machen.“ Er wollte. „Ich bin gewillt.“441 Die Entscheidung, Dichter zu werden, brachte „Aus tiefer Not“ hervor, „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“, „Ein feste Burg ist unser Gott“, von anderen Chorälen zu schweigen.442 Es wäre an dieser Stelle angebracht, einen Moment bei Luthers Begabung443 zu verweilen. Bloß eines vermochte er nicht: die Angst in seiner Seele zu beschwichtigen. Unerbittlich und gründlich musste Luther lernen, dass er mit all seiner von Gott verliehenen Heldenkraft doch nichts, rein gar nichts vermochte für den Frieden und die Seligkeit seiner Seele. Die Schwermut zog wie ein Magnet jedes Körnchen Selbstgerechtigkeit und Selbstvertrauen an sich. Jeder Gedanke an eigenes Verdienst blieb im Fluch der Schwermut hängen. Hilfe musste von woanders kommen. Die innere Ruhe der Seele muss ganz und [218] gar als Gabe von Gott entgegengenommen werden. Und da Gottes Werke und Gaben nicht gleich den Werken der Menschen Kinder des Augenblicks sind, sondern an Gottes ewigem Wesen teilhaben, wurde Luther gleich Paulus und anderen Heroen der höheren Religion zum Glauben an eine Erwählung von Ewigkeit her geführt. Das Gute der Seele besteht im Werk Gottes, der Mensch vermag nichts. Gottes Werk ist von Ewigkeit. Darum hat der Friede der Seele, sofern er denn überhaupt einem armen geplagten Menschen verliehen wird, seinen Grund in einem ewigen Ratschluss. Die Probleme des Denkens und der Theodizee konnten Luther nicht abschrecken, denn es ging um das Heil. Ein späteres Kapitel soll auf Luthers Auseinandersetzung mit der Frömmigkeit des Erasmus in dieser Angelegenheit zu sprechen kommen. In der Vorrede zum Römerbrief erklärt Luther, wie wir bereits gehört haben, dass die für den Anfänger anstößige Lehre von der Erwählung einzig von Seelen geschätzt werden kann, die sich in ähnlichen Bedingungen wie die seine befinden. Somit wurde Luther durch die Melancholie tiefer in das Geheimnis der Religion hineingetrieben. Ich kann es nicht anders sehen, als dass die Melancholie dazu beigetragen hat, Luther von den Herbergen abzudrängen, wo die Kirche die Seelen erquickte. Er musste hindurch, hin zur Gewissheit des Heils. Er begehrte kühne Gewissheit, nicht vorsichtige, hin441 [Brief an Spalatin von Ende 1523, Nr. 698, WA.B 3, 220,1. Die Wendung „Ich bin gewillt“, die ­Söderblom auf Deutsch geschrieben hat, ist seine eigene Übersetzung von Luthers lateinischem „consilium est“.] 442 [EG 299, 341, 362; Svenska psalmboken 1921: Ur djupsens nöd, Nr.182, 1986: 537 (neu bearbeitet); Var man må nu väl glädja sig, 46, 1986: 37 (umgedichtet); Vår Gud är oss en väldig borg 124, 1986: 237.] 443 [Schwedisch: förmåga, das etymologisch dem deutschen „Vermögen“ entspricht. Mit dem folgenden Verbum förmå, „vermögen“, bildet es ein Wortspiel, das sich an dieser Stelle im Deutschen schlecht nachbilden lässt.]

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haltende, sich auf die Kirche stützende Ungewissheit, er brauchte eigene Gewissheit, unabhängig von Institutionen und Menschen, er begehrte Gewissheit, die allen Mächten der Finsternis und des Zweifels trotzte. Luther war selbst der Meinung, dass er seine Gewissheit den Anfechtungen zu verdanken hatte. Vielleicht ist es in einem anderen Sinn wahr, als er es ausgedrückt hat: Die Anfechtungen gaben ihm keine Ruhe, bis er sich zu der Gewissheit des Heils vorwagte. Wenn es galt, den evangelischen Glauben zu beurteilen, konnte Luther deshalb demjenigen keine Vollmacht und volles Mitspracherecht zuerkennen, der nicht die Seelenqualen erfahren hatte, wenngleich sie Luther nun in besonders reichem Maß beschert waren. [219] Man kann sich fragen, ob nicht die drückende Verstimmung, die aus allen Skrupeln Berge machte, die anklagte und zu Fall brachte, selbst wo es nichts zu tadeln oder zu bereuen gab, und die unaussprechlicher Seligkeit Platz machte, als die innere Ruhe des Gewissens an ihre Stelle trat, dazu beigetragen hat, dass die Vergebung der Sünden für Luther das A und O in der Religion geworden ist und mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit rein und lauter gehalten wurde. Die Melancholie dürfte auch daran beteiligt sein, dass Luthers Frömmigkeit trotzdem – oder besser: infolgedessen – völlig frei war von der halb zufriedenen Arme-Sünder-Stimmung. In deren Atmosphäre vorsichtiger Demut und Resignation konnte der Melancholiker nicht gedeihen. Für ihn gab es keine Wahl, auch keinen Zwischenzustand jenseits des Gegensatzes von Qual unter Anfechtungen sowie Gewissensnot und Geborgenheit in der vollständigen Vergebung durch Gottes Gnade, die er selbst dann voraussetzte, wenn es ihm nicht gelang, sie zu empfinden. In der sechzehnten seiner fünfundneunzig Thesen griff Luther Meister Eckharts Beschreibung von Hölle, Fegfeuer und Himmel als Verzweiflung, halbe Verzweiflung und Zuversicht auf. Doch war diese Tonleiter für Luther von einem machtvolleren und schrecklicheren Gehalt erfüllt. Sein ganzes inneres Leben verlief in Hölle, Fegfeuer oder Himmel – oder richtiger: in Himmel und Hölle. Denn ebenso wenig wie die Scharen der Ablasskäufer irgendeinen wirklichen Unterschied zwischen Fegfeuer und Hölle machten, konnte Luther die Verzweiflung abstufen. Es liegt nahe, aus einer solchen Seelenstimmung den Schluss zu ziehen, dass für ein Leben in der Welt mit seinen vielfältigen Interessen kein Platz übrig geblieben sei. Ist das nicht ein Paradox? Wer von den Männern der Religion hat sich breitbeiniger auf den Boden gestellt? Wer hat brutaler das Recht der Natur eingefordert? Wer hat sich ausführlicher über alle möglichen Lebensverhältnisse ausgelassen? Wer ist weniger ätherisch, massiver irdisch gewesen? Luther selbst erklärte ja, [220] dass niemand nach den Aposteln die geistlichen Erfordernisse der weltlichen Stände so deutlich gemacht habe. Ja, hier ist die eine Seite von Luthers Anstößigkeit: Er ist den – 203 –

Frommen allzu robust und unheilig. Doch all dies hatte für Luther einen einzigen Zweck: den Frieden des Gewisssens. Er konnte nicht die geistlichen Zustände und Interessen in ihren Abstufungen und ihrer relativen Berechtigung in Ruhe untersuchen, sondern das ganze Dasein hatte für ihn nur einen einzigen Sinn: Befindet sich die Seele im Himmel der Vergebung oder in der Hölle der Melancholie und der Gewissensnot? Eben dieser melancholische Charakterzug, der Luther dazu zwang, alles auf die eine Karte Vergebung der Sünden zu setzen, und der ihn dazu brachte, sich in all seinen Vorstellungen und Gedanken absolutistisch, ohne viele Nuancen, Übergänge und komplexe Verhältnisse und Probleme innerhalb des Gegensatzes von Himmel und Hölle zu bewegen, hat auch mächtig zu der Einseitigkeit beigetragen, die seinen religiösen Genius kennzeichnet, und zu der ungeheuren Starrköpfigkeit, mit der er auf Personen und Ideen reagierte, die nicht von der alles beherrschenden Herzensnot des Melancholikers durchdrungen waren. Eine derartige Ausrichtung auf einen einzigen Gesichtspunkt unter Ausschluss aller anderen hat viele Freunde der evangelischen Kirchenverbesserung und Mitarbeiter an ihr von Luther abgestoßen. Man ärgert sich noch heute über ihn. Man findet Luther halsstarrig, verstockt, borniert und barbarisch ungerecht gegenüber solchen, die die geistlichen Interessen und Standpunkte im Leben mit anderen Augen ansahen als er. Aber­ Luther konnte nichts dafür. Die Angst lauerte. Wer kann in solchem Krieg der Seele auf Leben und Tod an anderes denken als das Leben zu retten? Religiöse Engstirnigkeit war bei Luther eine Folge seiner inneren Not. Die Kraftausbrüche der Seele zielten in eine einzige Richtung, auf die Vergebung. Die Einseitigkeit machte zugleich Luthers Stärke aus. Die Angst der Seele erzwang Konzentration. [221] Ist diese Beobachtung richtig, so bedeutet sie nicht weniger, als dass Luthers Melancholie wesentliche Bedeutung für das religiöse Prinzip der Reformation selbst hatte, das völlige Unvermögen des Menschen, wenn es um das Heil geht, um das alleinige Recht des Glaubens und der Gnade. Hatte der Humor bei Luther jegliche Künstelei, jegliche äußere und innere Affektiertheit der Frömmigkeit ausgemerzt und einen Beitrag geleistet zu dem sittlichen Prinzip der Reformation, so dürfte die Freiheit des Gottvertrauens von Verdienstlehre und Moralismus in einer gewissen Beziehung zur Melancholie stehen – doch sowohl Humor als auch Melancholie lediglich als eigentümliche, verstärkende Beigaben zu den ewigen und allgemeingültigen Bedürfnissen des Herzens. Die Unruhe des Herzens vertrieb Luther aus der liebevollen, doch für bestimmte Gemüter quälenden Umhegung durch die Vormundschaft der Kirche, hinaus in die Einsamkeit zur Begegnung mit dem Teufel und mit Gott. – 204 –

Jetzt verstehen wir Luthers zweiten Artikel. Sein Bekenntnis zu Christus im Kleinen Katechismus verliert etwas von seinem unvergleichlichen Pathos, wenn es von der Geschichte von Luthers eigener Seele abgelöst wird. Es ist für alle echte und reife christliche Religion verwendbar. Doch die Gegensätze werden leicht abgeschwächt und die Worte herabgestimmt, wenn das Bekenntnis einem anderen in den Mund gelegt wird, nicht zu reden von der Unwahrheit und Unnatur, welche die unausweichliche Folge sind, wenn ein Kind oder sonst ein religiös unentwickelter Mensch dieses Heldengedicht übernehmen soll, ohne es auf Luthers Erfahrung zurückzuführen. Unter der Gewalt von Sünde, Tod und Teufel fühlte er sich verloren und verdammt. Aber ein anderer Herr als diese Herren ist in der Welt des menschlichen Lebens aufgetreten. Im Guten, durch Kauf, konnte die Sache nicht geregelt werden. Es musste zum Kampf kommen. Der Herr, der im Kampf um die Seelen sein Leben aufs Spiel setzte, hat gesiegt. In seinem Reich – das sich ebenso gewiss in der Zeit erstreckt, wie er selbst lebt und regiert in Ewigkeit – leben die Seinen und [222] dienen ihm in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Der Teufel, das Regiment des Bösen, wirkt Sünde und Tod. Durch den Wechsel unter der Herrschaft Christi werden sie in Leben und Seligkeit verwandelt. Niemand, der Luther näher kennt, kann umhin, in diesen kurzen Worten die Angst seines Herzens und dessen hemmungslosen Jubel zu hören, nachdem die Anfechtung überwunden ist. Die Hölle, in der die beiden Herren ihn gefangen gehalten hatten, bestand in der Unseligkeit des Schuldgefühls. Doch dieses beherbergte in sich den Tod, das ist: alles Weh, das einen Menschen heimsucht. Die Melancholie bei Luther hat dazu beigetragen, dass das Abendland seinen zweiten großen Frömmigkeitstypus voll ausbildete, neben der schönsten und charakteristischsten Ausprägung, die das Evangelium südlich der Alpen gefunden hatte, beim heiligen Franz. Bei Luther ist das Christentum ganz erwachsen geworden, abgehärtet in der Auseinandersetzung mit den schweren Heimsuchungen der Seele und behauptet in tätigem Leben mitten im Weltgeschehen.444 Bei all seiner Askese und Entsagung besitzt der heilige Franz im Vergleich damit eine ausgeprägte, rührende und zauberhafte Kindlichkeit. Ich denke, dass Jesus sich in beiden wiederfinden würde, in der Vollendung des Paulinismus ebenso wie in dem Nachglanz des galiläischen Sonnenscheins auf dem Boden Italiens. Doch stellen wir Luthers Wanderung durch Hölle und Himmel neben das sorgenfreie Bettlerevangelium des umbrischen Adligen, so müssen wir er-

444 [Hinter den Verben „abgehärtet“ und „behauptet“ steht im Schwedischen ein Wortspiel: härdad, hävdad.]

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kennen, dass Humor und Melancholie den Unterschied markieren. Beides fehlt in der ansteckenden, sanguinischen Liebenswürdigkeit, die uns im Speculum perfectionis 445 entgegentritt. Doch still. Ich höre schon eine schmetternde Fanfare. Das ist der H ­ erold des Reiches, der Luther nach Worms holen soll. Nächstes Mal werden wir ihm dorthin folgen.

445 [Speculum perfectionis minus und maius, entstanden 1289–1318 und um 1330, Erbauungsschrift, die für den Orden in der Nachfolge des Franciscus (gest. 1226) charakteristisch ist. Vgl. RGG, 4. Aufl., Bd.3, 252.]

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[223] VII. Die Fahrt nach Worms Der Glaubensheld [225] In Rom hatte man bald eingesehen, was bei Luthers Auftreten auf dem Spiel stand. Es wurden Versuche unternommen, Luther zum Widerruf zu bewegen, und als diese missglückten, wurde er nach Rom zitiert. Ein Haftbefehl wurde versandt. Es ist ein Wunder, dass Luther nicht schon im Jahre 1518 in Gewahrsam genommen und umgebracht wurde. Derjenige, der zuerst klar erkannte, was die Sache zu bedeuten hatte, war Kardinal Cajetanus, Luthers bedeutendster Widersacher, selbst ein ernsthafter Reformfreund, der den Verdruss Luthers und der Reformbewegung über den Verfall in der Kirche teilte. Veranlasst durch die Thesen und eine Reihe vielleicht noch bedeutsamerer Sätze Luthers vom September 1517 gegen die Werkheiligkeit446, fasste Cajetanus die gefährlichen Sätze genau in dem zusammen, was für Luther bereits die Hauptsache ausmachte: 1. Der Glaube an Christus macht den Menschen selig ohne irgendwelche Vermittler und kirchliche Anstalten, und 2. das Bibelwort muss gegenüber der Scholastik zu seinem Recht kommen. Beide Sätze bedrohten die höchste Macht des Papstes in der Religion und die Verfügungsgewalt der Kirche über die sakramentale Gnade. Cajetan begriff, dass, wenn der Glaube an Christus genügt und wenn jeder sich an die Schrift wendet, ohne die Scholastik um Rat fragen zu müssen, die Kirche ihre Macht über die Seelen und der Papst seine Macht in der Kirche verliert. Schon zu Anfang des Jahres 1518 drohten die Dominikaner Luther offen mit dem Scheiterhaufen und seinem Schutzherrn mit dem Kirchenbann. In Rom wurde er der Ketzerei angeklagt und aufgefordert, sich vor Anfang Oktober dort einzufinden. Unterdessen wurde [226] Luther jedoch am 21. September in Rom vom Papst zum notorischen Ketzer erklärt „wegen seiner gegen den Papst und den heiligen Stuhl geschleuderten Beschimpfungen und irrigen Lehren“.447 Der Generalvikar des Augustiner446 [Gemeint ist die Disputatio contra scholasticam theologiam, WA 1, 224–227.] 447 [Zitiert nach Paul Kalkoff, Luther und die Entscheidungsjahre der Reformation, München / Leipzig 1917, 66, angeblich aus dem Breve Postquam ad aures des Papstes vom 23.8.1521. Dieses ist den Acta Augustana, WA 2, 23 f, inkorporiert. Es enthält jedoch das Zitat nicht. Vielmehr handelt es sich um eine freie Wieder-

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ordens bekam den Befehl, den Ketzer verhaften zu lassen und Orte und Personen, die das verhinderten, mit Bann und Interdikt zu belegen. Doch die Sache nahm eine andere Wendung. Der Reichstag war 1518 in Augsburg versammelt. Dort hielt sich Kardinal Cajetanus als Legat des Papstes auf. Das verlockte den geistig bedeutenden Kirchenfürsten, kurzerhand selber die Händel des immer lästiger werdenden Mönch-Professors mit Rom in Ordnung zu bringen. Am 23. August gab der Papst dem Kardinal den Auftrag, Luther zu verhören und, falls er nicht widerriefe, ihn zu verhaften und nach Rom zu bringen. Kaiser Maximilian versprach, sofern Rom ihn veurteilte, den Ketzer und im Notfall auch seinen Beschützer in die Reichsacht zu tun. An Luthers Kurfürsten erging die Aufforderung, ihn auszuliefern. Der Provinzial des Augustinerordens in Sachsen bekam den Befehl, bei strenger Strafe den verblendeten Ketzer in Hand- und Fußfesseln zu legen. Luther kam. In der Vorrede zum ersten Teil seiner lateinishen Schriften berichtete er viel später, im Jahre 1545: „Ich kam zu Fuß und arm in Augsburg an, versehen mit Verpflegung und Empfehlungsbriefen des Kurfürsten Friedrich an den Rat und einige gute Männer. Drei Tage war ich dort, bevor ich zum Kardinal vordrang. Denn jene guten Männer hielten mich zurück und rieten mir mit aller Macht ab, ohne sicheres Geleit des Kaisers zum Kardinal zu gehen, obwohl dieser mich jeden Tag durch einen Abgesandten zu sich rief.“ Am dritten Tag wurde der Sendbote des Kardinals ausfallend, als Luther angab, warum ihm abgeraten worden sei. „‚Was? Glaubst du, dass Kurfürst Friedrich deinetwegen zu den Waffen greifen wird?‘ Ich sprach: ‚Das würde ich auf keinen Fall wollen.‘ ‚Und wo meinst du, wirst du dann bleiben?‘ Ich antwortete: ‚Unter dem Himmel.‘“448 [227] In Augsburg stand Luther vor dem bedeutendsten katholischen Widersacher, dem er je im Leben begegnet ist. Cajetanus war der überragende Thomist der Zeit und in seiner Lebensführung eine Zierde der Kirche. Doch hier hatte er seine Fähigkeiten überschätzt. Trotz der sicheren Aussicht, den Märtyrertod zu erleiden – eher davon angezogen als abgeschreckt – weigerte sich Luther zu widerrufen. Über den Papst stellte er ein allgemeines Konzil, für das er jetzt wie schon zuvor warb, so wie es die Reformfreunde seit einem Jahrhundert getan hatten. Doch gegen den Papst gab er auch einem einzelnen Gläubigen Recht, sofern dieser sich auf gabe. Das Breve wirft Luther vor, seine Lehren ohne Konsultation der Kirche verbreitet, das Wohlwollen des Papstes missbraucht und auf seinen häretischen Ansichten beharrt zu haben.] 448 [Vorrede zum 1. Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545), Söderblom benutzt die deutsche Übersetzung WA 54 (179–187), 181,13–27. ­ in: Vom Anfang des lutherischen Lärmens, in: Lutherhefte 35, Zwickau 1913, 9. 8. Hier wird dagegen nach dem lateinischen Original übersetzt.]

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den wahren Sinn der Bibel und auf vernünftige Gründe berufen kann – dieselben beiden Grundlagen, auf die sich Luther später in Worms bezog. Er schöpfte Kraft aus dem Wort, das er gegen den Kardinal ins Feld führte: „Der Gerechte wird durch seinen Glauben leben“ [Hab 2, 4]. Drei Umstände hinderten Rom, den Ketzer nach Wunsch und Beschlusslage zu behandeln. Zuerst Luthers persönliches Ansehen. Die Zahl seiner Anhänger wuchs. Man begann, sich von allen Seiten im Zeichen der religiösen Reformen, der Bildung und der vaterländischen Interessen um ihn zu sammeln. Es erwies sich innerhalb des deutschen Reiches in Leipzig, Köln und anderwärts als weniger ratsam, Luthers Schriften zu verbrennen, als in den Erblanden des Kaisers. Sodann hatten Deutschlands Fürsten, Stände und der Kaiser Interessen gegen das Ausbeutungssystem und die Übergriffe Roms zu schützen. Luther berichtete viel später: „… Weil alle Deutschen der Ausplünderungen, des Schacherns und der unzähligen Betrügereien der römischen Windbeutel müde waren, warteten sie gespannt auf den Ausgang dieser großen Sache, an die zuvor kein Bischof noch Theologe zu rühren gewagt hatte. Und mir kam jedenfalls mein Ruf beim Volk zugute, weil all diese Tricks und Römereien ihnen bereits verhasst waren, mit denen sie die ganze Welt erfüllt und ermüdet hatten.“449

[228] Unmittelbare Unterstützung hatte Luther durch den Kurfürsten. Friedrich hatte von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land einen Schatz von Reliquien in seiner Kirche in Wittenberg gesammelt, der sein Augapfel war. Das Ablassrecht hatte er aus diesem Grund bekommen. Dieses erwies sich auch als nützliche Konkurrenz zu dem Ablasshandel des Papstes und Albrechts von Mainz. Luther konnte es sich nicht versagen, einmal scherzhaft, einmal ernsthaft über den Reliquienschatz des Kurfürsten zu lästern. Umso mehr ehrt es Friedrichs Großmut, dass er trotz beträchtlichen Risikos seinen Professor niemals im Stich ließ. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die mehr halten, als sie versprechen. Der Schutz des Kurfürsten beruhte auf der Fürsorge für die Blüte seiner Universität, vor allem aber auf seiner wachsenden Überzeugung, dass Luther nicht widerlegt worden war, sondern Recht hatte. Von Rom aus versuchte man es jetzt mit Ehrenbezeigungen. Schmeicheleien und Vorspiegelungen. Leo sandte ihm die goldene Rose und stellte den beiden Söhnen des unverheirateten Kurfürsten eine kirchliche Karriere in Aussicht.

449 [Vorrede zum 1. Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften, a. a. O., 181,7–12.]

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Was Luther betraf, so winkte man für den Fall, dass er widerriefe, zuerst mit dem Bischofsstab, dann mit dem Kardinalshut. Lieber zog er sich den Bannfluch zu. Während er ihn erwartete, schweiften seine Gedanken auch einmal zur Pariser Universität. Doch der Kurfürst ersparte ihm die Qual der Wahl und bat ihn in aller Ruhe, in Wittenberg zu bleiben. Wegen des Todes Kaiser Maximilians war der Kurie angesichts der politischen Gefahr, den Spanier Karl als Kaiser zu bekommen, noch mehr daran gelegen, der Gewogenheit des Kurfürsten versichert zu sein. Unterdessen wurde Luther durch Studien und Widersacher immer weiter vorangeführt. Das Papsttum wurde für ihn zum Antichrist. Gegenüber Eck im Juli 1519 in Leipzig wurde ihm klar, dass auch Konzilien irren können. Eck bewirkte in Rom die Bannbulle vom 15. Juni 1520, die 41 Sätze aus Luthers Schriften verdammte und ihm eine Frist von sechzig Tagen für den Widerruf setzte. [229] Des Weiteren wurde Eck mit der Verkündung der Bulle im südlichen und östlichen Deutschland betraut. Für den nördlichen Teil und die Niederlande wurde ein bemerkenswerterer Mann angeheuert, Aleander, mit dem wir sogleich Bekanntschaft machen werden. Die Instruktion bestimmte unter anderem, Martin und seine Anhänger gefangen zu nehmen und ihnen die höchste Strafe aufzuerlegen, samt der Aufforderung an den Kaiser und alle Fürsten, ihn innerhalb festgesetzter Zeit zum Vollzug der Strafe gefangen nach Rom zu führen. Die Bannbulle verbrannte Luther am 10. Dezember 1520 außerhalb Wittenbergs. Denn sie schloss ihn aus der Kirche aus. Und Luther lebte und handelte jetzt und sein Leben lang in der Gewissheit, dass er zur Kirche gehörte und ihre gerechte und gewichtige Sache vertrat. Angesichts der Drohung der Dominikaner mit dem Bannfluch hatte er im Mai 1518 in einer Predigt erklärt, dass ein Christ durch den Fluch der Kirche nicht von Christus und der ewigen Seligkeit getrennt werden könne.450 Der Auftrag, den Luther innerhalb der Kirche durch den Doktorgrad erhalten und behalten hatte, gab ihm Halt und Zuversicht.451 Da die Universität in Wittenberg akademische Grade kraft päpstlicher Autorisierung verlieh, erklärte Luther, dass er durch den ihm mit apostolischer Autorität übertragenen Grad eines Doktors der Theologie befugt sei, über die höchsten Fragen seiner Wissenschaft öffentlich zu disputieren. – Von unserer Seite kann Luthers Zugehörigkeit zur Kirche aus tieferen Gründen bewiesen werden. Wir müssen da an den geistlichen Besitz der Kirche denken. Unter Voraus450 [Vgl. M. Luther, Sermo de virtute excommunicationis, WA 1, 638–643. – Zu „Fluch“: Schwedisch heißt das förbannelse. Das bildet mit bannlysning (Bann) im vorigen Satz ein Wortspiel. D. Hg.] 451 Vgl. Paul Kalkoff, Luther und die Entscheidungsjahre der Reformation, München / Leipzig 1917, 41.

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setzung redlichen Gottvertrauens, christlicher Ideale der Lebensführung, kirchlicher Observanz und Theologie stoßen wir in der damaligen Frömmigkeit auf drei Phänomene, die den tatsächlichen Kern lebendiger Religion ausmachten: die Mystik, der Augustinismus, die Bibel. Fragt man nach der wichtigsten Strömung in der Aktivität der Kirche, dürfte sich wohl keine vierte Lebensäußerung mit diesen dreien messen können. Für alle drei gab es zu jener Zeit keinen authentischeren Vertreter der besten Traditionen der Kirche als Luther. Bei gründlicher [230] Analyse des geistlichen Wesens der Kirche wird man nicht übersehen können, dass die Kirche mitten in diesem Zerbrechen, dieser Sonderung den Fortbestand ihres Lebens in seiner Tiefe in Luther gefunden hat. Jedoch hatte Luther auf Anforderung des Kurfürsten im August 1520 erneut um unparteiische Prüfung nachgesucht. Das Aktenstück ist cha­ rakteristisch. Es war in Köln angeschlagen, wo Hutten es las, und anderswo. Luther spricht von der Ungnade, dem Zorn und der Verfolgung, die er seit drei Jahren um der göttlichen und evangelischen Wahrheit willen erlitten hat. „… das ich doch yhe ungern und widder meyn willenn mich an tag geben hab, und nicht anders, dan durch der andern zumüssigung, gewalt und betrieg­lichen nach trachten gedrungen, geschryben hab, alles das ich geschrieben hab, und nye nichts serer und merer begert und gewunscht, dann das ich als ein begebener [der Welt begebener = ins Kloster eingetretener] man in eynem winckell heymlich unnd unbekant bleyben mocht.“

Mehrmals hatte er sich als gehorsamer Sohn der Kirche erboten, zu schweigen und sich aus der heiligen Schrift besser belehren zu lassen. Doch vergebens. Seine Widersacher stempeln ihn zum Ketzer, was er von Herzen vergibt. Nun stellt er noch einmal das Ersuchen um Prüfung. „Und ob ich bißher zuweyln yhres bedunckens zu ernstlich odder schimpflich geschrieben hett, odder aber auch hynfur schreyben wurdt, mir das freuntlich zuvortzeyhen, yn ansehung das es alles allein der Christlichen warheyt und nit meynem lob oder genyeß zu gutt gescheen ist …“452

Als die Bulle mit dem Bann in Wittenberg bekannt wurde, erneuerte Luther im November 1520 seine Bitte in einem feierlichen Appell an ein Konzil, ebenso wie er es zwei Jahre zuvor getan hatte. 452 Doctor Martinus Luther Augustiners Erbieten (1520), WA 6 (480 f), die Zitate 480,12–17; 481,17–21. [Die Einleitung des Hg. nennt Sickingen, nicht Hutten als Leser des Schriftstücks, und spricht auch nicht von einem Anschlag, sondern allgemein von einer Veröffentlichung im Druck, S. 474.]

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Indessen hatte sich die Situation verändert. Karl war trotz des Widerstands des Papstes zum Kaiser gewählt worden und sollte, zwanzigjährig, seinen ersten Reichstag in Worms abhalten. Im Juni landete er, aus Spanien kommend, in Vlissingen. Im September begegnete ihm der Mann, der in der schwierigen Situation die Interessen Roms [231] beim Kaiser wahrzunehmen hatte, Hieronymus Aleander, ein hochgebildeter, unterhaltsamer Mann, geschickter Diplomat, in sittlicher Hinsicht nicht sonderlich gewissenhaft, in der Religion kundig und zynisch profan.453 Er hatte sich früher als Student und als Rektor in Paris aufgehalten, war päpstlicher Bibliothekar. Es gelang Aleander, bei dem bigotten jungen Kaiser die Verbrennung von Luthers Büchern zu erwirken. Der Weg den Rhein hinauf wurde von den Feuern erleuchtet, die nach der von den Dominikanern meisterlich gehandhabten Methode auf des Ketzers eigenes Geschick vorausdeuten sollten. In Köln war Luthers Kurfürst zugegen und wurde von Erasmus ermutigt. Luthers Sünde bestand nach Erasmus darin, dass er an die Krone des Papstes und die Mägen der Mönche gerührt hatte. Aber Erasmus bat Spalatin, ihm seine 22 Sätze zur Verteidigung Luthers zurückzugeben. Dieser hatte eine Abschrift angefertigt, die in Leipzig gedruckt worden war. Die beiden alten Studienkameraden von Paris, Erasmus und Aleander, intrigierten mit raffinierter List gegeneinander. Aleander konnte nicht verhindern, dass der Kaiser, auf das Ersuchen des Kurfürsten um freie Prüfung der Lehren Luthers hin, am 28. November in Oppenheim in Abwesenheit Aleanders Friedrich schriftlich aufforderte, Luther mit nach Worms zu bringen, damit er „von gelehrten und hochverstendigen Personen“ verhört werde.454 Dass der Kaiser unter Umgehung Roms den bereits feierlich verurteilten Ketzer vor einen von ihm einberufenen Gerichtshof beim Reichstag zitierte, bedeutete für die päpstliche Macht eine Demütigung, die es um jeden Preis zu verhindern galt. Die Ritter, insbesondere Franz von Sickingen auf seiner Burg Ebernburg, wo Hutten zu Gast war, einige 50 km455 von Worms entfernt, machten den Nuntius noch besorgter. Doch als Hutten bewaffnete Hilfe versprach, antwortete Luther laut Brief an Spalatin vom 16. Januar 1521:

453 Die folgende Darstellung stützt sich im Wesentlichen auf Adolf Hausrath,­ Aleander und Luther auf dem Reichstage zu Worms, Berlin 1897. Vgl. auch Theodor Brieger, Aleander und Luther 1521 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Reformation 1), Gotha 1884. 454 [Brief Kaiser Karl V. an den Kurfürsten Friedrich vom 28.11.1520, in: Walch² Bd.  15 (1697 f), 1698, nach Ernst Salomon Cyprian, Nützliche Uhrkunden Zur Erläuterung Der ersten Reformationsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1718, 482.] 455 [Schwedisch: några mil = „einige Meilen“; eine schwedische Meile = 10 km.]

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„Ich will nicht mit Gewalt und Töten für das Evangelium streiten. In diesem Sinn habe ich an den Mann geschrieben. Durch das Wort ist die Welt überwunden worden, ist die Kirche erhalten worden, durch das Wort wird sie auch wiederhergestellt werden. Doch auch der Antichrist [232] wird, wie er ohne [menschliches] Handanlegen angefangen hat, auch ohne Handanlegen durch das Wort ausgetilgt werden.“456

Luther war trotz der Gefahr bereit zu kommen. „Wenn ich gerufen werde, dann werde ich, so viel an mir ist, auch als Kranker kommen, wenn ich nicht als Gesunder kommen kann. Denn man darf nicht daran zweifeln, dass ich von Gott gerufen werde, wenn der Kaiser ruft. … hier ist nicht die Frage, ob irgendeine Gefahr besteht, ob es irgendeine Rettung gibt … Der barmherzige Christus möge verhindern, dass wir feige sind und jene triumphieren.“

Eine einzige Bitte an Gott hat er nach demselben Brief an Spalatin vom 29.12.1520, „dass Karl nicht um der Rettung der Gottlosigkeit willen seine Herrschaft durch seine ersten Regierungsmaßnahmen mit meinem Blut oder dem eines anderen besudelt …“ Er erinnert an die ­M issgeschicke, die Kaiser Sigismund nach Hus’ Märtyrertod widerfuhren. „Lieber möchte ich allein durch die Hände der Romanisten sterben.“457 Dasselbe Wohlwollen für den jungen Kaiser begegnet mehrmals bei Luther. Es wurde von vielen geteilt, wurde aber zunichte gemacht. Karl lernte weder die Sprachen noch die Menschen seines Kaiserreichs verstehen. In Worms war der Reichstag versammelt. Dessen Begleiterscheinungen waren draußen in der Stadt Mord, Diebstahl, Frauen und Gesindel, Spiel und Saufgelage. Die Prälaten standen niemandem nach. Dass Luther kommen sollte, versetzte Aleander in Wut. Wir können das in einem Brief an Eck nachlesen, wo er auch von der Ablehnung spricht, die ihm entgegenschlug. Aber, so schrieb er: „Mit eiserner Rute und mit Feuer müssen die Ketzer gestraft werden … sie müssen der Vernichtung des Fleisches ausgeliefert werden, damit der Geist gerettet werde.“458 Glapion, der Beichtvater des Kaisers, fand einen Weg, Sickingens Eitelkeit und Patriotismus 456 [Brief an Spalatin vom 16.1.1521, Nr. 368, WA.B 2, 289,12–15. ­Söderblom gibt mit dem 9.12.1520 ein falsches Datum an. Der in dem Schreiben an Spalatin genannte Brief an Hutten ist offenbar verloren gegangen, vgl. Anm. 10 des Hg. von WA.B 2] 457 [Brief an Spalatin vom 29.12.1520, Nr. 365, WA.B 2 (242 f), 242,9–21. 31–33. Auch für diesen Brief nennt S­ öderblom mit dem 21.12. ein falsches Datum.] 458 [Schreiben Aleanders an Johann Eck vom 16.2.1521, in: P. Balan (Hg.), Monumenta Reformationis Lutheranae ex tabulariis Sanctae Sedis 1521–1525, Regensburg 1884, Nr. 23 (57–60), 59.]

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zu schmeicheln. Man bot ihm und Hutten vorteilhaften Dienst beim Kaiser an, sofern Luther zur Ebernburg gerufen und seine Anwesenheit beim Reichstag damit verhindert würde. Die Diplomaten des päpstlichen Stuhls und kleinerer Mächte schrieben, liefen umher und legten sich ins Zeug um des Mönchs willen. Pläne [233] wurden geschmiedet. Berechnungen wurden angestellt. Aleander hielt vor dem Reichstag eine große Rede gegen den Ketzer. Bis der unberechenbare Faktor Luther selbst in Worms wie ein heller Sonnenstrahl durch Ränke und Orgien, Verschlagenheit und Macht hindurchstieß. Er hatte sich in Wittenberg aufgehalten, bis zum letzten Augeblick von seinen Schriften, Tätigkeiten und Briefen in Anspruch genommen. Am 26. März 1521, dem Dienstag der Karwoche, kam der Reichsherold Kaspar Sturm mit dem Einberufungsbrief und Geleitbrief des Kaisers. Bei Luther ging eine Liste mit Sätzen aus seinen letzten Schriften ein, die er widerrufen sollte. Er schrieb: „Du musst nicht daran zweifeln, dass ich nichts widerrufen werde. Denn ich sehe, dass sie sich auf kein anderes Argument stützen, als dass ich gegen Riten und Bräuche der Kirche … geschrieben hätte. Ich werde daher Kaiser Karl antworten, dass ich nicht um des bloßen Widerrufs willen kommen werde, sintemal dies dasselbe wäre, wie wenn ich schon dorthin gekommen und [gleich] wieder hierher zurückgekehrt wäre459. Ich könnte ja auch hier widerrufen, wenn es lediglich um einen Widerruf ginge. Im Übrigen, will er mich sodann rufen, um mich töten zu lassen, und mich auf Grund meiner Antwort als Feind des Reiches behandeln, dann werde ich mich bereit erklären zu kommen. Denn mit Christi Hilfe werde ich nicht fliehen oder das Wort im Kampf preisgeben.“460

Eine Reise auf unserer Erde ist ewig denkwürdig, die letzte Wanderung des Heilands von Galiläa nach Jerusalem. Er ging voraus, die Jünger hinterher, gespannt. Wir vollziehen diese Reise jedes Jahr an den Gedenktagen der Kirche nach. Die Religionsgeschichte des Abendlandes kennt viele Pilgerzüge und Wanderungen, die mit heißem Herzen vollzogen wurden. Einige solcher Reisen sind mit Waffenlärm verbunden, aber dennoch nehmen sie einen segensreichen Platz in der Geschichte der Religion ein. Die kleine Jungfrau von Orléans, Jeanne d’Arc, führte 1429 ihren König im Triumph zur Krönung nach Reims; ein anderer Zug ging nach Lützen.461 [234] Dazwischen fällt Martin Luthers Reise nach Worms. 459 [­Söderblom gibt diesen Satzteil frei wieder: „denn das hieße ja ganz umsonst zu reisen“.] 460 Brief an Spalatin vom 19.3.1521, Nr. 389, WA.B 2, 289,6–13. 461 [Hier fiel 1632 Gustaf II. Adolf.]

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Es ist nicht verwunderlich, dass Legenden die Berichte von diesen Reisen schmücken. Denn die Zeitgenossen nahmen in ihnen übernatürliche Kräfte wahr. Das Unglaubliche und Wunderbare wurde wirklich. Ist es wahr, dass das Wunder das Lieblingskind der Religion ist, so wird es in solchen Augenblicken geboren, da Himmel und Erde sich miteinander vermählen. Der Unterschied zwischen Natürlichem und Übernatürlichem wird aufgehoben. Die Sinne sind gespannt in Erwartung des Außerordentlichen. Das kam bei diesen Reisen daher, dass da eine Seele in unerschütterlicher Ruhe voranschritt, wo Menschen keinen Weg vor sich sahen. In Wittenberg führt eine lange, breite Straße vom Augustinerkloster zum Schloss. Entlang dieser Straße „hat sich der Strom der Menschheitsgeschichte ergossen. Es geschah in dem Kloster, in dem Luther gelehrt hat; es geschah an den Pforten der Schlosskirche, dass er seine Thesen angeschlagen hat; hier im Gotteshaus ruht er neben Melanchthon …“462

Am 2. April 1521 nahm die Weltgeschichte mit Luther ihren Weg von dieser kleinen Stadt nach Worms. Es war Osterdienstag, als er abfuhr, begleitet von seinem hitzköpfigen jungen Freund und Amtsbruder Nikolaus von Amsdorf, Kanonikus in Wittenberg. Dieser fuhr mit, ohne selbst freies Geleit zu haben, ein Freundschaftsdienst, den Luther nie vergessen konnte. Die beiden anderen Begleiter waren ein Ordensbruder, Petzensteiner aus Nürnberg, ein Spaßvogel, voller lustiger Einfälle, aber rasch das Hasenpanier ergreifend, als auf dem Weg von Worms die fremden Ritter aus dem Wald kamen, und ein junger pommerscher Adliger, der Student ­Peter­ Swaven, der aus Begeisterung für den Wittenberger Professor darum gebeten hatte, mitzukommen. Sowohl er als auch Amsdorf sollen bereit gewesen sein, treu an Luthers Seite zu bleiben, auch wenn es zur Ketzerverbrennung kommen sollte. Wittenbergs Magistrat stellte seinem geschätzten Prediger dreißig Gulden Reisegeld und einen bedeckten Wagen mit drei [235] Pferden zur Verfügung. Der Kutscher hieß Christian Goldschmidt. Daneben oder vorneweg ritten der Herold mit dem Reichsadler auf dem Ärmel und seine Diener. Der Frühling war zeitig gewesen, jetzt wurde es wieder kalt. Aber die Lerchen sangen, und die ersten Spitzen der Getreidesaat lugten hervor, wo die Straße elbaufwärts führte. In Leipzig spendierte der Rat einen Ehrentrunk Weins. Desgleichen in Naumburg. Ein Priester hatte den sonderbaren Geschmack, den tapferen Mönch mit einem Bild von Savonarola auf462 Pierre Imbart de la Tour, Les origines de la Réforme (1521–1538), Bd. 3 L’évangélisme, Paris 1914, 4.

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zumuntern, der, als er am 23. Mai 1498 als Ketzer verbrannt wurde, ein unübertroffenes Vorbild christlicher Standhaftigkeit abgegeben hatte. In Weimar oder in Erfurt scheint Luther zum ersten Mal das Edikt des Kaisers gegen seine Lehre und seine Bücher zu Gesicht bekommen zu haben. Das Edikt bedeutete einen Sieg für Aleanders diplomatisches Geschick. Es war ihm tatsächlich gelungen, den Kaiser dazu zu bewegen, am 17. Dezember dem Kurfürsten einen neuen Brief zu schreiben. Nach diesem Schreiben sollte Luther nicht nach Worms kommen, sondern z. B. nach Frankfurt. Außerdem sollte Luther ausschließlich zum Zweck des Widerrufs kommen. Weigerte er sich, so sollte er so behandelt werden, wie es der Glaube und der christliche, ja der päpstliche Brauch erforderte.­ Luther musste jetzt zu seiner Bestürzung lesen, dass alle seine Bücher der Obrigkeit ausgeliefert werden sollten. Der Herold fragte: „Herr Doctor, wollt ihr fortziehen [weiterziehen]?“ Luther „erschrak und zitterte“, erzählt er [Luther] dann, doch er antwortete dem Herold: „Ja, unangesehen, daß man mich hätte in Bann gethan und das in allen Städten publiciert, will ich doch fortziehen und mich des kaiserlichen Geleits halten.“ Tatsächlich bestand keine Gefahr für das Leben, solange die Sache in Worms verhandelt wurde, doch man ahnte, was Luther hernach zu erwarten hatte. Es war ermutigend, in Weimar Herzog Johann von Kursachsen zu treffen, der seiner Reisekasse einen sehr nötigen [236] Zuschuss gab. Luthers Predigt in der Stadt blieb nicht ohne Frucht. Von dem Eindruck, den die Person des Reformators machte, erzählt der Pastor Myconius aus Weimar: „Wo Luther in eine Stadt einzog, lief das Volk entgegen für [vor] die Stadt, und wollt den Wundermann sehen, der so kühn wäre, und sich wider den Papst und alle Welt, die ihn [den Papst] wider Christum einen Gott gehalten, legen dürffte.“463

Wohlmeinende Stimmen gaben ihm zu bedenken, dass man ihn, da sich auf dem Reichstag in Worms viele Kardinäle und Bischöfe befanden, sogleich zu Asche verbrennen würde, so wie es mit Hus in Konstanz geschehen war. Doch Luther antwortete ihnen: Wenn sie auch einen Scheiterhaufen errichten würden, der zwischen Wittenberg und Worms bis zum Himmel reichte, so wollte er doch, wenn er dazu aufgefordert würde,

463 [Zu diesem und den vorangehenden drei Absätzen einschließlich der Zitate vgl. A. Hausrath, Aleander und Luther …, a. a. O. (Anm. 453), 227 f. Eine etwas abweichende Version des ersten Zitats findet sich WA.TR 3, 287,44–288,2 (Nr. 3357b).]

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im Namen des Herrn kommen und Christus bekennen und ihn walten lassen.464 Hier befand sich Luther auf bekannten Wegen, die ihn nach Erfurt führten, wo der Student sich an gelehrten und literarischen Studien, an seinen Erfolgen und an dem Freundeskreis von guten Köpfen erfreut hatte. Einer von den früheren Studenten war jetzt Rektor, Crotus Rubianus, Verfasser der Literae obscurorum virorum. Dort lag die Stadt, in der Luther eine glänzende Studienlaufbahn und die Freiheitsluft der erwachenden neuen Zeit verlassen hatte, um in das Augustinerkloster zu fliehen. In eben diesem Kloster wollte er nun auf der Durchreise wohnen. Aber das ließ sich nicht unbemerkt machen. Mit Glanz und Gloria wurde der frühere Sohn der Universität empfangen. Vierzig Ritter mit dem Rektor selbst an der Spitze und Mitgliedern von Bürgerschaft und Rat standen einige Kilometer außerhalb der Stadt zum Empfang bereit. Da ging es langsam voran durch das Volksgedränge. Von „Türmen und Dächern und Mauern und Straßen“ blickten Augen und jubelten Stimmen.465 Luther verschwand durch die Klosterpforte, die ihn sechzehn Jahre zuvor, wie er gehofft hatte, für alle Zeit von Mühsal und Kampf des Lebens und [237] zugleich von der Unruhe des Herzens scheiden sollte. Trotz des päpstlichen Banns durfte Luther in der Klosterkirche predigen und trotz des Predigtverbots während des Geleits tat er es, denn kein Mensch hat das Recht, das Wort zu hindern. Das war am Sonntag nach Ostern, mit dem Text aus Joh 20, 19–31 über die Jünger und Thomas. Luther sprach Klartext. Man soll fasten, beten, Butter essen; hält jemand das Gebot des Papstes, so wird er selig, hält man es nicht, so ist man des Teufels: Mit solchen Lehren wird das Volk verstört. „Ich sag aber, das alle heiligen, sie seind gewesen also heilig sy wolen, So haben sy dy selickeit nicht erlanget mit iren wercken. Auch die heilige mutter gottes mit irer iungfrawschafft ader mutterkeit nit from ader selig worden ist, sunder durch den willen des glaubens und durch die werck gottis …“

Dann wird beschrieben, wie ein Mensch zum Glauben kommt. Früher verursachte der Teufel große Anfechtung, die zur Folge hatte, dass man seine Zuflucht zum Glauben nahm und sich zum Haupt Christus hielt, so dass der Böse seine Macht verlor. Jetzt ist er daher auf etwas anderes gekom464 [Vgl. A. Hausrath, Aleander und Luther …, a. a. O. (Anm. 453), 228, wie das vorige Stück nach Friedrich Myconius, Geschichte der Reformation, hg. v. O. Clemen (Voigtländers Quellenbücher 68), Leipzig o. J. (1914), 34 f.] 465 [Vgl. A. Hausrath, Aleander und Luther …, a.a.O, 230. „einige Kilometer“: Hausrath zitiert „zwu meilen wegs“. Daraus leitet ­Söderblom ab „ein paar Meilen“, wobei er jedoch übersieht, dass eine schwedische Meile = 10 km und somit erheblich länger ist als eine deutsche.]

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men, dass die Hauptsache das Gesetz sei und die äußere Frömmigkeit, die daraus entsteht. Doch wie sieht es inwendig im Menschen aus? „… du bettest den psalter, du bettest rosenkrentz, du hast mancherley ander gebet und machst vil wort, du wilst meß halten, kniest vor dem altar, sprichst die beicht, so geth es den mur, mur, mur, und meinest du seiest frey von sunden, und hast doch so grossen neid in deinem hertzen. So du deynen nehesten erwürgen mit glimpff [Anstand] möchtest, du thetest es und hieltest also meß, Es were nicht wunder, das dich der donner in die erden schlüg. So du aber drey zucker körner gessen hettesth oder ander wurtz, brecht man dich nicht mit glüenden zangen zum altar. Also machstu dir ein gewissenn, das heist denn mit dem teuffel zu himel gefarn. Ich weyß wol, das manß nicht gern hört. Noch [dennoch] so wil ich sagen die warheit unnd muß es thun, solt mir es zwenzig helß [Hälse] kosten … komet dan der bapst und vorbant uns, so seyen wir in goth [Gott] vorknüpfft …“ „… das wir uns nicht [238] helffen können, sunder got …“ „Es hat mit mir keyn noth …“

Lasst uns nur getreulich unser Werk verrichten, so gibt Gott uns Frieden.466 Während der Predigt knackte es in einer Empore wegen der Menge der Menschen. Alle glaubten, die Empore werde einstürzen. Einige schlugen die Fenster aus und wären auf den Kirchhof hinausgesprungen, hätte Luther sie nicht getröstet. Luther dämpfte die Aufregung: „Seid­ ruhig, ihr Lieben, der Teufel treibt sein Unwesen, seid ruhig, es ist keine Gefahr.“467 Die Mächte des Bösen waren ihm untertänig. Es mischte sich oft ein Anklang an die Evangelien in die Schilderungen dieser Reise. Ein Bericht lautet: „Er bedreuete den Teufel … und es ward gar stille.“ Ein anderer, der dabei war, fügt hinzu: „Dieses ist das erste Zeichen, so Luther that, und seine Jünger traten zu ihm und dienten ihm.“468 Die Begeisterung des Volkes war riesig. Der Wundermann Gottes schritt freimütig voran, ein einsamer Mönch gegen die Macht der ganzen Welt. Die Luft war geladen mit Erwartungen. Wäre Luther weniger klar und ehrlich in seiner Demut gewesen, und hätten die Evangelischen es mit der Wahrheit weniger genau genommen, so hätte die Volksphantasie ihr goldenes Netz spinnen können, und die Kirche hätte ihrem Kalender eine weitere Legende von Zeichen und Wundern hinzufügen können, mindestens ebenso farbig und volkstümlich wie irgendeine ältere Heiligenlegende. Während dieser Monate und Jahre ruhte auf Luther eine übermenschliche Kraft. Doch sie 466 Ein Sermon auf dem Hinwege gen Worms zu Erfurt gehalten (1521), WA 7, 808– 813 (die Zitate: 809,8–12; 812,9–19; 813,1.10.17.] 467 [Freie Wiedergabe des Textes aus der Einleitung des Hg., a. a. O., 803.] 468 [Vgl. A. Hausrath, Aleander und Luther …, a. a. O. (Anm. 453), 232 f.]

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war nie überspannt. Keinen Augenblick verließ ihn die einfache Natürlichkeit. Denken wir an das uneingeschränkte Vertrauen, das er Tausenden redlicher Herzen und Nationen im Großen einflößte, denken wir an die Begeisterung, die ihm in dieser Zeit entgegenströmte, und an die männliche Klarheit seines Charakters, die nicht zuließ, dass irgendeine Vergöttlichung seine Selbsteinschätzung verdunkelte, dann liegt es nahe, Luther neben einen anderen Namen aus der germanischen Geschichte zu stellen, den Mann, [239] der hundertzehn Jahre später unter Jubel durch dieselben Gegenden gezogen ist.469 Man hat die zwei die beiden Heiligen der evangelisch-lutherischen Christenheit genannt – in jedem Fall sehr menschliche Heilige. Als Luther von Erfurt abgereist war, brachen die Unruhen aus. Die Priester wollten Rache. Da zerschlugen die Studenten ihnen die Fenster und anderes. Schlimmer war, dass Luther die ungewohnte Gastlichkeit der beiden Tage nicht vertragen hatte. Der Weg führte dann über Gotha, von wo auch Zeichen und Wunder berichtet werden. „Da ein trefflich Volk da war, riß der Teufel nach der Predigt vom Kirchengiebel, der gegen die Stadtmauer geht, etliche Steine herab, hatten über 200 Jahre da fest gelegen“ – nach Myconius – „ und sind bis auf den heutigen Tag nicht wieder gebaut.“470

Zwei Tage später erkrankte Luther in Eisenach heftig. Man fürchtete um sein Leben. Aber er wurde zur Ader gelassen, er trank Heilwasser und war am Tage danach wieder unterwegs, doch während der ganzen Reise kränklich. Die Staßen waren miserabel. Der Wagen brach auseinander. Daraufhin erklärte Luther die Worte aus dem 68. Psalm [V. 4]: „­Machet Bahn dem Herrn, der in die Wüste fährt“ damit, dass man Kies, Reisig und Stein verwenden solle, um eine schlechte, sumpfige und grundlose Straße in Ordnung zu bringen. In Frankfurt erhielt Luther von einer freundlichen Frau zwei Maß guten Wein, Malvasier, der noch in Worms sein Labsal war. Niemand hat es für nötig gehalten, dieses Faktum zu verbergen, so wie es die Legende mit dem Leibgericht gemacht hat, das der heilige Franz rührend und menschlich genug auf dem Totenbett begehrte. Doch dieser Wein ist Luther hier und da teuer zu stehen gekommen. Zur Rechten – von Aleander – und zur Linken, von Thomas Müntzer, ist viel Wesens von diesem Geschenk gemacht worden. Der Letztere gab Luther den Spottnamen Malvasier. Der Abstinenz469 [Gemeint ist Gustaf II. Adolf.] 470 [A. Hausrath, Aleander und Luther, a. a. O. (Anm.  453), 235, nach Myconius, a. a. O. (Anm.  464), 34.]

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fanatismus ist nicht völlig neu. Cochlaeus nahm es auch [240] übel, dass Luther lautstark die Laute spielte und sang; er nannte ihn einen Orpheus. In Frankfurt sah sich Luther der zögernden Anheimstellung des Kurfürsten gegenüber, ob er weiter reisen solle. Luthers Freunde waren sich des kaiserlichen Geleits nicht sicher. Der bigotte Jüngling wusste ja, dass man nicht verpflichtet sei, Ketzern Wort zu halten. Und Luther war zitiert, lediglich um zu widerrufen. Was sollte er dort? Spalatin fand es am sichersten, wenn er nicht käme. Luther ließ sich in seiner ruhigen Überzeugung nicht erschüttern. „Dass wir nicht etwa den Satan übermütig machen, den vielmehr zu erschrecken und zu verachten wir uns vorgenommen haben.“471 Auch auf der anderen Seite herrschte eine gewisse Verwunderung und Unruhe. Luther war in der Umgebung des Kaisers und unter den Prälaten keineswegs sehnsüchtig erwartet. Die Römischen hatten bis zuletzt gehofft, er werde fortbleiben. Er war ein schwieriger Mann. Er hatte einen erstaunlichen Anklang beim Volk und bei nicht wenigen unter den Fürsten und Adligen. Rom stand in schlechtem Ruf. Das Ganze konnte schief gehen. Luther fehlte es nicht an Gründen für seine Vermutung. „Sie musten mich mehr furchten den ich sie.“ Als die Kaiserlichen die endgültige Nachricht von seiner Ankunft bekamen, „waren sie wie vom Blitz getroffen.“472 In Oppenheim wurde Luther von Bucer und Sickingens Rittern erwartet, die ihn zur Ebernburg geleiten sollten. Dahinter stand politisches Kalkül. Glapion, der Beichtvater des Kaisers, hatte, wie wir gehört haben, den Vorschlag gemacht, dass der Streit dort im Guten geschlichtet werden solle, so dass alle Freunde der Kirchenreform einig sein könnten. Für­ Luthers Freunde musste dieser Ausweg ansprechend sein. Er schloss geringeres Risiko in sich. Sickingen lockte die Rolle, die ihm angetragen wurde. Aber Luther meinte, dass Glapion ebenso gut in Worms mit ihm verhandeln könne. Als er gerade weiterreisen wollte, bekam er Spalatins eindringliche Mahnung. Der Kurfürst wollte Luther lieber auf der Ebernburg haben als in Worms. Dort [in Oppenheim], [241] schrieb Luther, dass er nach Worms wolle, auch wenn sich dort so viele Teufel fänden wie Ziegel auf dem Dach. Er bat Spalatin, für Herberge zu sorgen. Die Menge der Warnungen von Freunden und Feinden musste ihn sonderbar anmuten. Er sprach noch kurz vor seinem Tod über seine Stimmung: „… ich war vnerschrocken, ich furchte mich nicht. Gott kan einen wol so toll machen. Ich weis nicht, ob ich itzt so toll were.“473 471 [Brief an Spalatin vom 14.4.1521, Nr. 396, WA.B 2, 298,11 f.] 472 [Der erste Satz steht WA.TR 3, 282,16. Den zweiten habe ich nicht ausfindig machen können. D. Hg.] 473 [WA.TR 5, 69,19–21; s. o., S. 35, Anm. 13. Der Satz über die Ziegel auf dem Dach findet sich nicht, wie S­ öderblom auf Grund von Spalatins Erinnerung annimmt (vgl. E. S. Cyprian (Hg.), Georgii Spalatini Annales Reformationis Oder Jahr-

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Die Erfurter Freunde, die vorausgefahren waren, unter ihnen vor allem Justus Jonas, durchquerten am Morgen des 16. April das Mainzer Tor, um ihn zu empfangen. Die Menge wurde auf bis zu zweitausend Menschen zu Pferd und zu Fuß geschätzt, und sie erstreckte sich erheblich länger als eine halbe deutsche Meile, berichtet der Sekretär Vogel. Der Turmwächter blies. Die Wormser stürzten an die Fenster, als sie den Hufschlag hörten. Es war gegen zehn Uhr, man hatte gerade gegessen. Eine ansehnliche Schar folgte Luther zur Herberge, wo es bereits einen Strom von Besuchern gab. Ein Wunder, dass er in diesen Tagen überhaupt Zeit und inneres Gleichgewicht für seine einsame und schwere Tätigkeit gefunden hat. Aleander berichtet empört, nach Auskunft eines ausgesandten Kundschafters: „Als Luther vom Wagen herabstieg, schloss ihn ein Priester in die Arme, berührte dann dreimal seine Kleider und rühmte sich beim Weggehen, er habe eine Reliquie des größten Heiligen der Welt berührt. Ich fürchte, bald wird man von ihm sagen, dass er Wunder tut.“ „Als Luther vom Wagen herabstieg, blickte er mit seinen dämonischen Augen umher und sagte: ‚Gott wird mit mir sein.‘ Dann ging er in ein Zimmer, und viele Herren suchten ihn auf, und er aß mit vielleicht zehn oder eher zwölf von ihnen, und nach dem Essen kam alle Welt, um ihn zu sehen.“474

Mehrmals spricht der Nuntius von diesen Augen Luthers, die frei umher blickten, sogar auf dem Reichstag in Gegenwart des Kaisers. Weder böser Wille noch Wohlwollen hatten also Luthers Ankunft verhindern können. Veit Worbeck berichtet: [242] „Haben die Romanisten kein gefallen darin empfangen, daß er kommen, und des nicht klein erschrocken.“475 Doch alle frohlockten, die sahen, „dass Gottes Wahrheit … befördert“ werde, sagt eine andere Schrift.476 Ergrimmt darüber, dass der Ketzer sich trotz allem in Worms befand, setzte Aleander doch durch, eine Disputation vor dem Reichstag und eine formelle Verhandlung zu verhindern. Luther sollte lediglich zu einigen zwanzig von seinen Arbeiten befragt werden, die ihm vorgelegt wurden. Bücher von der Reformation Lutheri, Leipzig 1718, 38) in dem Brief, den Luther am 14.4.1521 an diesen geschrieben hat (Nr. 396, WA.B 2, 289), sondern in der zitierten Tischrede, unmittelbar vor dem letzten Zitat (Z. 17–19). Diese stammt aus dem Jahr 1540.] 474 [Brief Aleanders an den Vizekanzler vom 16.4.1521, in: P. Balan (Hg.), Monumenta reformationis Lutheranae …, a. a. O. (Anm. 458), Nr. 64 (170 f), 170.] 475 Aus der Quellensammlung von Johannes Kühn (Hg.), Luther und der Wormser Reichstag 1521, Aktenstücke und Briefe, in: Voigtländers Quellenbücher 73, Leipzig (1914), 62. 476 Vgl. Heinrich Böhmer, a. a. O. (Anm.  395), 108 (dort ohne Quellenangabe).

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Dies geschah am 17. April in einem kleineren Saal. Wir besitzen eine vorzügliche Schilderung des Verlaufs.477 Wegen der Menge wurde er durch die Hintertür hereingeführt. Doch bemerkte man ihn und kletterte auf die Dächer, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Als er eintrat, blickte er hierhin und dorthin, zum Verdruss der Feinde. Auf Karl hat er wohl keinen großen Eindruck gemacht, wenn es denn wahr ist, dass er gesagt hat: „Dieser Mann wird mich niemals zum Ketzer machen.“ Luther wurde gefragt, ob die Bücher von ihm seien und ob er widerrufen wolle. Ein Schweizer, Schurf, unterbrach: „Man nenne die Titel der Bücher!“ [828,7 f] Darauf antwortete Luther, dass er keines der Bücher verleugne. „Aber wenn dann verlangt wird, dass ich entweder alles gleichermaßen bekräftige oder widerrufe, was ohne Bezeugung durch die heilige Schrift gesagt worden sein soll, so antworte ich, weil es hier um den Glauben und das Heil der Seele geht und weil es das Wort Gottes betrifft, welches das Höchste im Himmel und auf Erden ist, das zu verehren uns allen geziemt, so wäre es leichtsinnig und auch gefährlich, etwas Unüberlegtes vorzubringen“ [829,7–12].

Er bat um Bedenkzeit – ein Strich durch die Rechnung der Päpstlichen. Denn das wurde bewilligt, und die Sache nahm eine Wendung zum Seriöseren. Am Tag darauf, am 18. April 6 Uhr Nachmittags, wurde Luther in den großen Saal des Palastes geführt. Während er draußen im Gedränge wartete, trat Doktor Peutinger vor. Luther fragte freundlich nach seiner Frau und den Kindern. In seiner Rede bat Luther um Entschuldigung, wenn er in seiner Unerfahrenheit jemanden nicht beim richtigen Titel anredete oder gegen die [243] Etikette bei Hofe verstieße, da er nicht am Hofe, sondern in Klosterwinkeln gelebt habe. Seine Bücher teilte er in drei Gruppen ein. „In einigen habe ich die Frömmigkeit in Glauben und Sitte so schlicht und evangelisch behandelt, dass sogar meine Gegner bekennen müssen, dass sie nützlich, unschädlich und der Lektüre von Christen wert sind“ [833,1–3]. Diese könne er ja nicht widerrufen. Die zweite Gruppe „wendet sich gegen das Papsttum und die Angelegenheiten der Papisten, welche die Christenheit mit ihren üblen Lehren und und üblem Vorbild geistlich und leiblich verwüstet haben“ [833,8–10]. Luther berief sich auf die allgemeine Klage über die Gewissensnot, welche die päpstlichen Vorschriften verursachten, und wie sie das ruhmreiche deutsche Volk mit unglaublicher Tyrannei peinigten. Sowohl die Kirchenreform als auch das National­gefühl klingt 477 [Acta et res gestae D. Martini Lutheri Augustiniani in comitiis principum Vuormaciae, WA 7, 825–857. Die Fundstellen der Zitate im Folgenden mit Seiten- und Zeilenzahl im Text.]

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hier an. „Wenn ich also auch diese Schriften widerrufen sollte, würde ich nichts anderes zustande bringen, als die Tyrannei zu stärken und solcher Gottlosigkeit nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen öffnen …“[833,17–19]. Zur dritten Gruppe zählte er die Streitschriften gegen Einzelne. „Zu diesen bekenne ich, dass ich schärfer gewesen bin, als es der Frömmigkeit und meinem Berufsstand ansteht. Ich will mich ja nicht zu einem Heiligen machen, und ich setze mich nicht für mein Leben, sondern für die Lehre Christi ein“ [834,5–7].

Dennoch könne er diese Schriften nicht widerrufen, weil Tyrannei und Gottlosigkeit dann noch schlimmer wüten würden. „Aber da ich ein Mensch bin und nicht Gott, so kann ich meine Bücher nicht anders schützen, als wie … Christus seine Lehre geschützt hat …: ‚Habe ich übel geredet, so beweise, dass es böse ist‘“ [Joh 18, 23]. Deshalb bat er sämtliche Anwesenden: „Man liefere Beweise, überführe mich des Irrtums, überwinde mich mit prophetischen und evangelischen Schriften“ [834,11–21]. Er hoffe, die Regierung des „jungen, herrlichen Fürsten“, „auf den wir nächst Gott große Hoffnung setzen“, werde nicht damit beginnen, dass Gottes Wort verdammt würde [835,7–9]. [244] „Ich sage dies nicht, weil so hohe Herren meiner Belehrung oder Ermahnung bedürften, sondern weil ich mich dem meinem Deutschland geschuldeten Dienst nicht entziehen darf“ [835,14–16]. Es war heiß, und er schwitzte, wiederholte jedoch das Ganze auf Latein. Die Antwort des kaiserlichen Sprechers war lang und schroff. Luther habe die Frage nicht beantwortet. Da kam Luthers Schlussreplik: „Weil Eure Heilige Majestät und Eure Hochwohlgeboren eine schlichte Antwort fordern, werde ich sie ohne Umschweife und Hintertüren auf folgende Weise geben: Wenn ich nicht durch das Zeugnis der Schrift und einleuchtender Vernunftgründe überzeugt werde (denn ich kann weder dem Papst noch den Konzilien allein glauben, weil feststeht, dass sie auch häufig geirrt und sich selbst widersprochen haben), so bin ich von der Schrift überwunden, die ich herangezogen habe, und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Worten, und weder kann noch will ich etwas widerrufen, denn gegen das Gewissen zu handeln ist weder sicher noch redlich.“

Wahscheinlich, aber ungewiss ist, ob er gesagt hat: „Ich kan nicht anderst, hie stehe ich.“ Mit Sicherheit schloss er: „Got helff mir, Amen“ (838,2–9). Es war dunkel im Saal. Man ging heim. Die Spanier schleuderten dem Mönch Flüche hinterher. Doch Luther und seine Begleiter reckten die Arme in die Höhe, als sie herauskamen, wie die Deutschen zu tun pflegen, wenn sie im Lanzenbrechen gesiegt haben. – 223 –

Luther hatte lauter gesprochen als am Tage zuvor, nicht schreiend oder heftig, sondern diszipliniert und bescheiden, aber mit großem christlichem Freimut, so dass die Widersacher sich wünschten, er hätte verzagter und kleinmütiger gesprochen. Spalatin gegenüber äußerte der Kurfüst sich zufrieden, aber er fügte hinzu: „Er ist mir vil zu kune [kuehn].“478 Dies war vermutlich das einzige Mal, dass Luther den ersten seiner drei Kurfürsten gesehen hat. Friedrich der Weise starb vier Jahre später am 5. Mai 1525. Luther wurde ans Totenbett gerufen, [245] aber er befand sich weit weg im Harz, um die Bauern zu beruhigen. Die beiden Männer haben nie ein Wort gewechselt. Die Hauptpersonen der Wormser Episode, Luther und Karl, waren beide Männer der Religion, soweit auch der Kaiser von aufrichtiger Frömmigkeit beseelt war. Doch im Übrigen hatten die Geschichte und der verborgene Zusammenhang, der menschliche Wesenszüge und Neigungen bestimmt, sich das Vergnügen geleistet, in Worms zwei charakteristische Gegensätze einander gegenüberzustellen. Der handfeste Bauerntyp aus Wittenberg mit den groben, abgezehrten Zügen und dem Feuer, das aus dem Inneren in den klaren, kühnen Augen brannte, sah eine feine, vornehme Gestalt vor sich. Das schmale rassige Gesicht der Habsburger wurde durch die vorstehende Unterlippe verunstaltet. Den Jahren nach war Karl ein Jüngling, gerade einundzwanzig Jahre alt geworden. Doch eine freudlose Kindheit, seine finstere Erziehung und die von Intrigen durchzogene Atmosphäre, in der sein Leben zu führen er verurteilt war, hatten angeborene Anlagen vorzeitig in pedantischem Ernst erstarren lassen. Sein beherrschtes Wesen machte den Eindruck eines alten Mannes. Caraffa, später Papst unter dem Namen Paul IV., lästerte über ihn, dass er wie ein Toter unter den Lebenden wandle. Das Misstrauen, mit dem der Kaiser sich gegen alles und alle wappnete, musste den Ketzer schon im Voraus treffen. Und Karl hat sicherlich niemals etwas vernommen von der unausrottbaren Loyalität, die von Luthers treuherzigem Wesen den Herrschern und Hoffnungsträgern des deutschen Reiches entgegenschlug. Niemand konnte darüber im Zweifel sein, welcher von den beiden dem Mönchsideal entsprach, der Mönch oder der Kaiser. Wir haben in einem früheren Kapitel über religiöse Heiligung gesprochen im Sinne eines gemessenen und durchgestalteten Wesens. Der bleiche Jüngling war so reserviert und schweigsam, dass Luther später [1532] einmal bei

478 [Georg Spalatin, Annales Reformationis oder Jahrbücher von der Reformation Lutheri, hg. v. E. S. Cyprian, Leipzig 1718, 50.] Vgl. P. Kalkoff, a. a. O. (wie Anm. 447), 11; Theodor Kolde, Art. Friedrich der Weise, in: RE³ Bd. 6 (279–283), 283.

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Tisch äußerte: „Ich halt, er rede in einem jar nicht so uil [viel] als ich in einem tag.“479 Karls Gerechtigkeit wurde gerühmt. Aber er konnte ein wirkliches [246] oder vermeintliches Unrecht nie vergessen oder verzeihen. Der Mönch, der da eine Zeitlang in Worms vor ihm stand, war verschwenderisch nicht bloß mit Worten, sondern auch mit edlem Sinn und Großmut. Nichts konnte ihm fremder sein als das zugeknöpfte Wesen des Kaisers, dem seine loyale Gesinnung dennoch lebenslang so viel Sympathie bewahrte. In einem Stück konnte Luther sich mit dem mächtigsten Kaiser der Welt messen, nämlich in der Macht, wenn die auch nicht ererbt oder in Ländern und Gesetzen zu messen war. Es war in gewisser Weise ein Beleg dafür, wenn die Hohe Pforte später den Ausdruck verwendete, dass „der Kaiser seinen Frieden mit Luther noch nicht gemacht hatte“.480 Souverän war auch der Letztgenannte, jedenfalls in der Welt des Geistes. Es galt nun für beide, ihre Macht zu erweisen. Schon am Tage nach dem Verhör war der Kaiser mit seiner Erklärung fertig. Weder früher noch später öffnete er sein Herz so sehr wie in diesem Dokument. Dieses war so erzkatholisch, dass der Nuntius des Papstes selbst dann Anlass gehabt hätte, sich zu beglückwünschen, wenn es weniger Eifer ausgestrahlt hätte. Luther war nach Karls Schreiben gegenüber der ganzen Christenheit im Unrecht. Für den Glauben und gegen die Ketzerei wollte der Kaiser sein Leben und Blut und alles einsetzen. Er bereute die Verschleppung der Angelegenheit. Zwar konnte Luther unter Geleit abreisen. Aber die Angelegenheit sollte mit Nachdruck betrieben werden. In der Nacht wurde es unruhig, Anschläge wurden verübt, zum Teil bedrohlich für Luthers Feinde. Die Stände gelobten, dem Kaiser bei seinen Vorhaben beizustehen. Auf den Rat des Erzbischofs von Mainz wurden geheime Verhandlungen mit Luther eingeleitet. Man appellierte an seinen Sinn für die Einheit der Kirche. Cochlaeus besuchte den Ketzer auf eigene Faust in der Herberge. Da fasste Petzensteiner Mut und wollte disputieren. Luther fertigte ihn [247] mit einem Scherz ab. Ein wahres Wort wurde von dem Widersacher in diesem freundlichen Gespräch geäußert, das freilich damit endete, dass man sich gegenseitig Streitschriften androhte: „Bist du denn so hart, die prächtigen jungen Männer hier und die vielen, die nicht hier sind, ja sogar Philipp und Jonas, aus ihren sorglosen und blühenden Studien in diesen Sturm

479 [WA.TR 2, 182,3 f (Nr.  1687)]; vgl. A. Hausrath, Aleander und Luther (wie Anm. 453), 19 –22. 480 Theodor Brieger, Die Reformation (wie S. 19, Anm. 25), 246.

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hineinzujagen?“481 Was Melanchthon angeht, so lag tragische Wahrheit in diesen Worten. Das Edikt wurde ohne die geringste Überprüfung ausgefertigt. Es geriet zu einer Verdammung des „zehnfältigen Ketzers“ in schärfster Form.482 Er selbst und seine Anhänger wurden in die Reichsacht getan und waren kraft dessen rechtlos. Ihr Eigentum konnte ihnen genommen werden. Luther sollte gefangen genommen und bestraft werden. Hätte das Edikt durchgeführt werden können, so wäre die Ballade der Reformation zu Ende gewesen. Doch Luther verließ sich auf die Macht, die das Wort ohne Schwert besaß. Für diese Macht Luthers gibt es keinen klareren Beweis als die Wirkung seines scharfen Briefes von der Wartburg an Kardinal Albrecht von Mainz mit der Aufforderung, den „Abgott“, das ist die Ablassbude, in Halle innerhalb von vierzehn Tagen zu beseitigen.483 Der Erzbischof hatte wohl wegen seines Privatlebens ein schlechtes Gewissen. Wunderlich ist es trotzdem, Deutschlands mächtigsten Prälaten an den vogelfreien Mönch wie an einen Vorgesetzten schreiben zu sehen. Der Anlass für Luthers Brief war, so sagt er in seiner Antwort, schon längst beseitigt. Albrecht wollte sich aufführen „als einem frommen geistlichen christlichen Fürsten zusteht, als [so] weit mir Gott Gnade, Stärke und Vernunft verleihet“.484 Aleanders übellaunige Vermutung, dass man bald Wunder von Luther erzählen würde, war, wie wir gesehen haben, bereits in Erfüllung gegangen. Doch worin besteht in Worms und auf dem Wege dorthin und von dort aus das eigentliche Wunder? Harnack hat Luther den ersten freien Menschen genannt. „Luther hat zuerst die innere Freiheit, auf die es ankommt, wirklich [248] gebracht; er hat sie für sich gewonnen, und es ist zunächst ganz gleichgültig, auf welchem Wege. Er war wieder der erste 481 [In genau dieser Form habe ich das Zitat nicht gefunden. Zugrunde liegt ein Bericht in lateinischer Sprache in: Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Bd. 2, Göttingen ²1962, 625, Cochlaeus habe zu Luther gesagt (hier in Übersetzung): „Wenn du so fortfährst, Luther, wirst du uns jenen vorzüglichen Kopf, Philipp Melanchthon, und andere ausgezeichnete junge Männer zusammen mit dir ins Verderben reißen, die zu so großen Hoffnungen guter wissenschaftlicher Studien berechtigen.“ Und auf S. 628 heißt es auf Deutsch: Luther solle an die denken, die er mit sich ins Verderben ziehe, „namentlich an so edle Jünglinge wie Philipp und Jonas.“ D. Hg.] 482 [„decies haereticum“: Wormser Edikt 1521, in: CCath 42, Münster 1991 (498– 545), 521.] 483 [Vgl. Brief vom 1.12.1521, Nr. 442, WA.B 2, 406–408, bes. 406,25 und 407, 66–72.] 484 [Brief vom 21.12.1521, Nr. 448, WA.B 2, 421, das Zitat Z. 5–7. ­Söderblom schreibt statt „christlichen“: „geistlichen und weltlichen“ und lässt das Wort „Vernunft“ aus.]

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wahrhaft freie Mensch, und ferner, er hat die Freiheit zugleich für seine Brüder im weitesten Sinn gewonnen. Indem er täglich bereit war, für die Freiheit zu sterben, Jahre hindurch der Tod über ihm schwebte und er vor allem auf dem Tage zu Worms öffentlich das todesbereite Zeugnis für die Freiheit abgelegt hat, wirkte dieses Zeugnis wie sonst nur der Tod des Helden selbst. Damit erhielt in der Konstellation der geschichtlichen Dinge sein Verhalten jenen Wert der Tat, der die Wirkung ins Große zum Lohn wird. Entnommen allen Partikularitäten und spekulativen oder sonstigen Voraussetzungen, wirkte sie so, wie alles Bedeutende in der Geschichte wirkt: es zwingt dazu, sich dem Helden anzuschließen. Damit fällt die aristokratische Beschränkung, die sonst den Freiheitsbegriffen anhaftet, fort: durch Anschluß an den Helden ist ein königlicher und zugleich allen zugänglicher Weg eröffnet. Nicht anders war es im 2. Jahrhundert, als das jugendliche Christentum die Freiheit und Herrschaft über die Welt allen Menschen verkündete. Luther hatte gegenüber der Zaghaftigkeit, dem Kleinmut und der Freiheitsberaubung durch die Kirche die Freiheit wieder in die Welt gebracht und damit den Mut, frei sein zu wollen. Wenn später andere dies auf ganz anderem Wege versucht haben, so ändert das nichts an der Tatsache, daß er auch für sie der Bahnbrecher gewesen ist.“485 Die Reise nach Worms gehört zu denen, welche die Menschheit weder vergessen kann noch darf. Die Phantasie des Volkes stattete sie mit Zeichen und Wundern aus. In naiver Unbeholfenheit ging die Erzählung von Mund zu Mund. Durch die Aussagen, die unserer Zeit überliefert sind, spüren wir immer noch eine flimmernde und berauschende Frühlingsluft von Erwartung und Erfüllung. Kein Akt von Luthers Lebensdrama hat die Begeisterung des Volkes und die Erinnerung einer ganzen Zivilisation so in ihren Bann gezogen wie Worms und die Ereignisse vor und nach Worms. An irgendeinen Heiligenschein als Einrahmung dieses kantigen Gesichts dachte niemand. Aber es ergab sich ganz natürlich, dass die Erzählung ihre Gestalt nach Wendungen aus dem [249] Evangelium ge485 Adolf von Harnack, Die Reformation und ihre Voraussetzung (wie S. 19, Anm. 27), 138 (ursprünglich IMW 11/1917, Sp. 1360). Dieser Essay, der zweckmäßig durch den Aufsatz über Die Bedeutung der Reformation in der allgemeinen Religionsgeschichte in Reden und Aufsätze 2, Gießen ²1906, 159–187 zu ergänzen ist, gehört durch seine großartige Orientierung und die geniale Kraft der Darstellung in seiner Art zum Herausragendsten, was das Jubiläumsjahr hervorgebracht hat. Es möge mir gestattet sein, hier zwei ausgezeichnete schwedische Originalwerke über die Reformation zu empfehlen, die später das Licht des Tages erblickt haben: K. B. Westman, Reformationens genombrott i Sverige, Stockholm 1918; E. Linderholm, Reformation och världsutveckling, Stockholm 1918. Zu­ Luthers Leben und der Reformation weise ich im Übrigen auf Hjalmar Holmquists bekannte Bücher und andere leicht zugängliche Arbeiten hin.

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wann. Was bedeutet das? Kaum eine legendenhungrige Überheblichkeit, sondern ein richtiges Empfinden dafür, dass etwas Außerordentliches im Gange war. Über eines war man sich gewiss und einig: dass ein Wunder geschehen sei. Der Himmel besuchte aufs Neue die Erde. Übermenschliche Kräfte waren am Werk. Ein neuer Schöpfungstag für die Christenheit war angebrochen. Damit hatte man Recht. Wie nicht selten in der Geschichte bekamen die Herzen, die sich zum Glauben an das Unglaubliche begeistern ließen, sowohl gegen die Widersacher als auch gegen die kritisch Abwartenden Recht. In Worms wird dem, der sehen kann, klar, dass der neue Religionstypus zur Reife gelangt ist. Das zeigte sich daran, dass, was einen scheinbaren Gegensatz darstellte, in dieser Gestalt eine notwendige innere Zusammengehörigkeit aufscheinen ließ, nämlich Demut und Mut, Freiheit und unverbrüchlicher Gehorsam gegen Gott und das Gewissen. Was eine solche Verschmelzung zustande zu bringen vermochte, war das evange­lische Gottvertrauen.

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[251] VIII Luther und Erasmus. Das einzig Notwendige [253] Das Problem ist folgendes. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Reform das Losungswort der Zeit. Die Kirche sollte von Sittenverfall und Aberglauben gereinigt werden. Roms Unterdrückung war unerträglich geworden. Ernsthafte und wache Geister in verschiedenen Ländern vereinten sich in Gebet und Arbeit für eine Verbesserung gemäß der Schrift. In Frankreich waren „die Bibelfreunde“, les bibliens, und die Fürsprecher der evangelischen Kirchenreform unter Priestern und Laien, Mönchen und Handwerkern, Bischöfen und Adligen vermutlich am zahlreichsten. Doch den vornehmsten Platz unter den Reformeiferern nahm der Holländer Erasmus ein. Auch Luther gehörte zu ihrem Kreis. Als sein vornehmliches Reformprogramm, die Adelsschrift, 1520 herauskam, übertönte es wie eine Fanfare alle anderen Rufe nach Verbesserung. Man erkannte einen neuen Führer mit geistlicher Vollmacht und Autorität. „Lutheraner“ wurde zum Ehrennamen oder Spottnamen für die Männer der evangelischen Be­ wegung. Luther stand hier an einer sehr breiten Front. Er heimste den Beifall aller denkenden und ernsthaften Reformfreunde und Vaterlandsfreunde ein. Aber für ihn waren die Reformen im Geist des Evangeliums nicht das Wesentliche. Ein Ziel verdrängte bei ihm alle anderen: Frieden und Zuversicht für seine arme Seele zu finden. Die biblische Verbesserung der Kirche, für die anderen die Hauptsache, kam für Luther erst an zweiter Stelle. [254] Dennoch kam es allein im Umkreis des Reformators dazu, dass die angestrebte Reinigung und Verbesserung [tatsächlich] eintrat, nicht in der evangelischen Reformbewegung, die römisch blieb. Als an Luther die Aufforderung erging, seine gesammelten Schriften herausgeben zu lassen, gab er sich zu Anfang entschieden abweisend. In einem Brief an Wolfgang Capito in Straßburg vom 9. Juli 1537 heißt es: „Was die Veröffentlichung meiner Bücher angeht, so bin ich da eher kühl und zögernd, ja, so sehr, dass ich von saturninischem Hunger gepackt sie alle lieber verschlungen hätte. Denn ich erkenne keines davon als wirklich meines an außer vielleicht De servo arbitrio und den Katechismus.“486 486 [Brief an Wolfgang Capito vom 9.7.1537, Nr. 3162, WA.B 8, 99,5–8.]

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Das Buch gegen die Freiheit des Willens, das Luther so hoch einschätzte, markiert eine unüberwindliche Kluft zwischen ihm und dem bedeutendsten Mann der Reformbewegung, Erasmus. Der Fall Erasmus gehört zu denen, in welchen Luther sich aus dem Gefühl geistiger Fremdheit heraus taub stellte und sich damit die Möglichkeit verschloss, von solchen zu lernen, die nicht gänzlich seine eigene religiöse Leidenschaft teilten. In Wirklichkeit war Luther der geistigen Erneuerung und gesunderen, freieren Lebensauffassung, die man Humanismus nennt, zu tiefem Dank verpflichtet. Von ihm empfing er lebenslang Lust zum Studium und eine Vertrautheit mit der Literatur der Antike, die viele Zitate in seinen Briefen und Schriften hinterließ. Plautus und Vergil folgten ihm bis in die Klostermauern hinein, nachdem er die übrigen Bücher dem Buchhändler überlassen hatte. Der Humanismus hatte das Entzücken darüber, einem Autor von Bedeutung in dessen eigener Sprache ohne mehr oder minder ver­fälschende Vermittlung zu begegnen, wie eine Offenbarung erfahren. Eben dieser Grundsatz leitete durch Reuchlin und Erasmus für die hebräische Bibel und das Neue Testament eine neue Epoche ein. Doch im Grunde blieb es Luther und den Reformatoren vorbehalten, im Blick auf die Kirche mit der Sache Ernst zu machen. Dies führte wiederum zu der in den Augen [255] vieler unsinnigen Forderung, welche die evangelisch-luthe­ rischen Kirchen stellen, für die allgemeine Pfarrerausbildung Kenntnis der biblischen Grundspachen zu verlangen. Ganz allgemein hatte Luther vom Humanismus die Kunst gelernt, Bücher so zu lesen, dass deren Inhalt lebendig und wirksam wurde. „… daß Luther die Psalmen, den Apostel Paulus und den Augustin zu lesen vermochte und daß er sie so gelesen hat, wie er sie las, nämlich ihre Erkenntnisse und ihr Leben empfindungsvoll fortsetzend und steigernd – das verdankt er nicht nur seinem Genius, sondern auch seinem Zeitalter, nämlich dem Humanismus.“487

Erasmus schenkte Luther etwas, das für sein Lebenswerk und für die Reformation der Kirche noch unentbehrlicher und bedeutsamer war, nämlich das griechische Neue Testament, nach dessen zweiter Auflage Luther seine Übersetzung anfertigte. Erasmus war vor Luther der Hauptvertreter der biblischen Reform­ bewegung. Erasmus hatte Grund für seinen bekannten Witz: „Ich brütete ein Taubenei. Luther ließ daraus eine Schlange schlüpfen.“ Im Munde anderer bekam das Wort eine für Erasmus weniger angenehme Wendung: „Erasmus legte das Ei. Luther brütete es aus.“488 487 A. v. Harnack, Die Reformation … (wie Anm. 485) [,99]. 488 [Dieses berühmte Zitat ist in vielen verschiedenen Formen überliefert. Die Version mit dem Taubenei und der Schlange habe ich nicht gefunden. Der Gedanke

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Geboren in Rotterdam, außerehelich, wahrscheinlich im Jahre 1466, wollte Erasmus nach seiner Schulzeit in Deventer, die in ihm bereits die Begeisterung für das Studium der Antike entfachte, die Universität beziehen. Aber die Vormünder nötigten ihn mehr oder weniger, in ein Augustinerkloster in der Nähe von Gouda einzutreten – nach dem, was er später schrieb, das größte Unglück seines Lebens, aus dem er befreit wurde, als der Bischof von Cambrai, der führende Prälat am Hof in Brüssel, ihn in seine Umgebung aufnahm. Als Luther trotz eindringlichen Abratens zum Zorn seines Vaters und zur traurigen Überraschung seiner Freunde ins Augustinerkloster eintrat, geschah das um des Heils seiner Seele willen. Darin liegt viel [256] von der Verschiedenheit der beiden großen Männer. Nach einem gelehrten und fleißigen Wanderleben in Paris, England, den Niederlanden, Italien, Deutschland, der Schweiz ließ sich Erasmus 1521 endgültig in Basel nieder, wo er mit einem Abstecher von einigen Jahren nach Freiburg bis zu seinem Tod im Jahre 1536 wohnhaft blieb. Eine feste Anstellung schlug er konsequent aus, nahm aber gern Geschenke entgegen. Man vergleicht das Gefallen des Erasmus am Dasein des wohlsituierten Privatmannes unausweichlich mit Luthers Berufung auf seinen öffentlichen Auftrag als Doktor und Lehrer gegenüber seinem eigenen unruhigen Geist und den Einwürfen seiner Widersacher. Luther empfand einen Widerwillen gegen Selbstdarsteller der Frömmigkeit und gegen das Reden aus selbst erteilter Befugnis in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten. Das Genie und die Unermüdlichkeit des Erasmus verschafften ihm unbestrittenen Vortritt bei Europas geistiger Aristokratie vor jedem anderen Zeitgenossen. Seine scharfe Kritik hinderte die Mächtigen in Kirche und Staat nicht daran, ihn mit Gunsterweisen zu überhäufen; keine Ehre war größer, als eine Arbeit des Erasmus gewidmet zu bekommen. Dadurch, dass Erasmus dazu gebracht wurde, ins Kloster einzutreten, wurde er auf eine Weise auf die Angelegenheiten der Kirche gelenkt, wie es sonst kaum in Frage gekommen wäre. Die Reform der Kirche war ein altes Programm. Schon im vierzehnten Jahrhundert hatten die Radikalen der Kirchenreform, die franziskanischen Spiritualen, lange vor Luther das Papsttum als Antichrist bezeichnet. Im selben Jahrhundert wollte Wyclif in England die Kirche nach der Bibel und dem Evangelium reformieren. Durch die Reformkonzilien und nationalen Bewegungen des fünfzehnten geht auf Erasmus selbst zurück, der in einem Brief an Johann Caesarius vom 16.12.1524 schreibt: „Ego peperi ouum, Lutherus exclusit“ (Ich legte ein Ei, ­Luther brütete es aus). Wenig später heißt es im selben Brief: „Ego posui ouum gallinaceum, Lutherus exclusit pullum longe dissimillimum“ (Ich legte ein Hühnerei, Luther brütete ein gänzlich anderes Küken aus). Dieser Satz wird der Anlass zu weiterer phantasievoller Abwandlung gewesen sein. Vgl. Desiderius Erasmus Roterodamus, Opus epistolarum, Bd. 5, Oxford 1924, Nr. 1528 (608–610), 609.]

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Jahrhunderts hatte die Reformforderung an Klarheit der Gestalt und an allgemeiner Geschlossenheit gewonnen. Man nahm nicht bloß an den Verbrechen und Lastern einzelner Päpste Anstoß. Vielmehr tadelte man, dass das ganze System gründlich verweltlicht war. Die Kirche war eine politische, vor allem ökonomische Einrichtung geworden, wo die Kurie nach Kräften die Prälaten ausbeutete, während diese sich an den Priestern [257] schadlos hielten. Die Laien wiederum wurden für den Krieg gegen die Ungläubigen und für die Peterskirche ökonomisch ausgebeutet, weit über das hinaus, was derartige Unternehmungen eigentlich erforderten. Als begehrte Handelsware wurden immer reichlicher Dispense und Ablässe benutzt. Roms Erpressung wurde am stärksten in den nördlichen Ländern empfunden, besonders in Deutschland, dem das Gegengewicht einer halbwegs gebündelten Staatsmacht fehlte. Albrecht Dürer schrieb: „O Gott, nun hast du ja mit Menschengesetzen nie ein Volk so grässlich beschwert, wie uns Arme unter dem römischen Stuhle …“489 Die Sittenlosigkeit und Faulheit der Geistlichen und der Ordensleute war Tagesgespräch. Ihre Unwissenheit war nur schlecht versteckt unter einer scholastischen Schein­ gelehrsamkeit, ebenso oberflächlich und lächerlich wie aufgeblasen. Wäre Erasmus niemals Klosterkanoniker und Priester gewesen, so wäre seine Kritik vermutlich von außen gekommen, ebenso wie der Sarkasmus und das Gelächter mancher anderer Humanisten. Jetzt aber hatte er Anlass zu eingehender Beschäftigung mit der Literatur der Kirche selbst, mit den Kirchenvätern, die er dann mit Hilfe von Schülern herausgab, und vor allem mit der Schrift, mit der er in seinen religiösen Werken gründliche Vertrautheit zeigt. Sie gab ihm den Impuls und die Substanz für eine Reform im Geist des Evangeliums. Man hat Erasmmus die erste literarische Persönlichkeit nach der Antike genannt. Er wurde zugleich der anerkannte Sprecher für das vom Evangelium erleuchtete Ideal der Frömmigkeit. Das Verlangen der Druckerpresse und des vornehmen Publikums nach immer mehr entsprach, wie er selbst bekennt, seinem eigenen Antrieb zum Schreiben. Die Produktion schwoll an, nicht ohne Eitelkeit in Inhalt und Form. In dieser Schriftstellerei nehmen Bibelauslegung, Betrachtungen und religiöse Abhandlungen vielleicht einen breiteren Raum ein, als seine Vorlieben rechtfertigten. Aber aufrichtige Frömmigkeit hat eine Reihe von Arbeiten inspiriert, angefangen von seinem „Handbuch für den Kriegsdienst des Christen“ (Enchiridion militis Christiani), publiziert 1502, „um den Verirrungen derer entgegenzuwirken, welche die Frömmigkeit in Zeremonien [258] setzen, Äußerliches vollziehen und damit ihr wahres Wesen verfehlen“, bis hin zu den langen Gebeten, die im Jahr vor seinem Tod veröffentlicht wurden. Selbst die klassischen Studien dienten seiner Meinung 489 [A. Dürer, a. a. O. (wie Anm. 396), 120.]

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nach der Kirche. Von seinem über die Maßen bewunderten Cicero hat er, selbst ein größerer Geist, die schönen Worte geschrieben: „Vielleicht ergießt sich der Geist Christi weiter, als wir ihn auslegen, und es gibt viele in der Schar der Heiligen, die in unserem Katalog fehlen.“490 Zwischen den Philosophen der Alten und der recht verstandenen Bibel sieht Erasmus keinen wesentlichen Unterschied. Doch ebenso wie für Luther war auch für Erasmus das Neue Testament das Buch, das ihn am meisten beschäftigte. Dies nicht nur wegen der philologischen Aufgabe, die er mit unnötigem Mangel an Gründlichkeit in der Textedition löste, sondern auch zu unschätzbarem Segen für die christliche Bildung der Zeit. In einem Detail konnte dabei der literarische Geschmack des Holländers so nahe mit der religiösen Wertung des Sachsen zusammentreffen, dass der Jakobusbrief, für Luther eine stroherne Epistel, nach Erasmus keine „majestatem et gravitatem apostolicam“ habe.491 Gegen den Verfall der Kirche und die Unwissenheit ihrer Diener empfahl Erasmus vor allem anderen die Schrift und in der Schrift Christus. Da allein der Glaube die Tür zu Christus ist, muss die erste Regel sein, dass „du von ihm [Christus] selbst und den durch seinen Geist überlieferten Schriften die bestmögliche Meinung hast.“ Man müsse wissen, „dass in ihnen nicht einmal ein Jota enthalten ist, das nicht große Bedeutung für dein Heil hat.“492 Um absurde und unwürdige Stellen beiseite zu schaffen und um die Bücher der Schrift über die profane Literatur zu erheben, so dass nicht das Richterbuch und Livius auf derselben Stufe stehen, nutzte Erasmus nach alter Regel die Allegorie und ging damit in ganz anderem Ausmaß weiter als Luther, der von seinem gesunden Realismus eine andere Auslegungsmethode gelernt hatte. „Ohne Allegorie ist die Schrift“ für Erasmus „unfruchtbar.“493 Die Schrift soll somit mehr als [259] alles andere studiert werden, die Predigt soll, mit größtmöglicher Einschränkung der Heiligentexte, am meisten den Evangelien und Episteln gewidmet werden. Das schärfte Erasmus noch im Jahr vor seinem Tod, 1535, in einer Abhandlung über die Art zu predigen ein.494 Ein paar Jahre zuvor führte er eine altkirchliche Bestimmung an, dass in den Kirchen allein kanonische 490 [Die beiden vorstehenden Zitate stehen nach S­ öderblom im Enchiridion in Band 5 der Baseler Ausgabe von 1540, 19. 25. Diese Ausgabe ist mir nicht zugänglich. Ich habe die ganze Schrift in neueren Ausgaben durchgesehen, ebenso den Brief an Paul Volz vom 14.8.1518, der ursprünglich als Vorwort zur neuen Ausgabe des Enchiridion diente, aber keines der beiden Zitate verifizieren können.] 491 [­Söderblom gibt die Quelle nicht an. Im Enchiridion steht der Satz nicht. D. Hg.] 492 [Enchiridion militis Christiani, in: Opera omnia, Bd. 5, Nachdruck der Ausgabe Leiden 1704, Hildesheim 1962, 21.] 493 [A. a. O., 29.] 494 [Im Original Druckfehler: 1525 statt 1535.]

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Texte verlesen werden und Bilder allein aus der Schrift vorkommen sollten; doch, heißt es an anderer Stelle bei ihm, unkeusche Bilder nicht einmal aus der Schrift. Was Erasmus um sich herum sah, wich himmelweit von der „himmlischen Philosophie“495 der Schrift ab. Die scharfe Kritik an Mönchen und Religiosen findet sich bei Erasmus schon 1500 in dem großen, später erweiterten Werk über Sprichwörter, Adagia; am freiesten ertönen Hohn und Gelächter in Lob der Torheit, das 1509 im Hause des Thomas Morus in England abgeschlossen wurde, und sie sind auch in der meistgelesenen Arbeit des Erasmus, Vertraute Gespräche, zuerst 1518 veröffentlicht, zu finden. Am schlimmsten ergeht es der aufgeblasenen oder streitsüchtigen Ignoranz, sodann dem Zwangszölibat samt der ihr zur Seite gehenden Heuchelei und Sittenlosigkeit, ferner der Faulheit, der Herrschsucht und der Habgier bei den Männern der Kirche. „Es gilt ihnen als höchste Frömmigkeit, wenn sie bislang in der Wissenschaft so wenig erreicht haben, dass sie nicht einmal lesen können. Wenn sie dann ihre Psalmen, die sie zwar nummeriert, aber nicht verstanden haben, mit ihren Eselsstimmen in den Kirchen herausbrüllen, glauben sie, den Ohren der Heiligen mit einem großartigen Schmaus zu schmeicheln.“496

Umso eifriger sind die Geistlichen mit ihren unendlichen Syllogismen, Wortschlingen und allerlei leerem Gezänk. Selbstzufrieden geben sie un­ ablässig ihr Geschwätz zum Besten und lullen sich Tag und Nacht darin ein, so dass ihnen „nicht [260] einmal ein Augenblick der Muße bleibt, um auch nur einmal das Evangelium oder die paulinischen Briefe aufzuschlagen.“497 „Mit diesen und Tausenden anderer Quisquilien sind ihre Köpfe so prall vollgestopft, dass ich glaube, nicht einmal Jupiters Gehirn war so geschwollen und schwanger, als er die Pallas gebären sollte und den Vulkan mit seiner Axt um Hilfe anrief.“498

495 [Vgl. den Brief an Paul Volz, in: Des. Erasmus, Opus epistolarum Bd. 3, Oxford 1913, 367: „coelestem Christi philosophiam“; vgl. auch 371.] 496 Desiderius Erasmus, Μωρίας ἐγκώμιον sive laus stultitiae. Das Lob der Torheit, zweisprachige Ausgabe in: ders., Ausgewählte Werke Bd. 2, hg. u. übers. v. W. Schmidt-Dengler, Darmstadt 1975, 144. [Die Übersetzung dort erscheint mir freier als nötig. – S­ öderblom schmückt aus: „… dass sie nicht einmal ein Buch oder auch nur den kleinsten Buchstaben lesen können“. Im Text folgt ein Satz über die saftige Sprache in diesem Zitat, für die S. sich auf die Übersetzung S. Lundberg bezieht.] 497 Vgl. a. a. O., 130–140; das Zitat 140. 498 A. a. O., 142. [­Söderblom fügt am Schluss hinzu: „um eine Öffnung seines Schädels zu bekommen“.]

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Ihre Streitsucht ist von der Art, dass man an Stelle der Kriegsknechte, die bislang mit so unsicherem Ausgang Krieg geführt haben, „einmal die schreihalsigen Scotisten, die hartnäckigen Occamisten und die unüberwindlichen Albertisten samt der ganzen Bande von Sophisten gegen die Türken und Sarazenen an die Front … schicken“ sollte.499 Um ihrer absonderlichen Satzungen willen stellen sie das Gebot Christi zurück. Wenn Christus sie dereinst nach den Werken der Liebe fragt, wird wohl der eine vergeblich seinen Schmerbauch vorzeigen, voll von Fischgerichten, indem er damit prahlt, sich von Fleischkost zu enthalten, ein anderer zieht seine Kapuze hervor, so starrend vor Schmutz, dass kein Bootsmann es wagen würde, sie aufzusetzen.500 In einer späteren Schrift heißt es, dass alle Welt sich ärgert, wenn ein Priester ohne ausrasierte Tonsur am Hinterkopf kommt, aber niemand ärgert sich, wenn er ihn betrunken und in eine Schlägerei verwickelt im Bordell antrifft. Die Bettelmönche fallen mit ihrer Ungepflegtheit und plumpen Aufdringlichkeit in allen Herbergen und auf allen Straßen zur Last. Die Bezeichnungen Religiose (religiosi) und Mönche sind falsch, „denn ein gut Teil von ihnen ist so weit entfernt von jeglichem Gewissen, von aller Religion und Gottesverehrung, dass sie sich um nichts weniger kümmern, geschweige denn es ausüben“. 501 Deshalb sind sie übel gelitten. Alle Menschen sind böse auf sie und von ihnen abgestoßen. Besonders die Mönche konnten Erasmus niemals verzeihen. Doch schonte er, zumindest in früheren Schriften, auch die Prälaten und ihr üppiges Leben nicht. „[… sie weiden sich selbst und] überlassen die Sorge um die Schafe entweder Christo oder bürden sie einem Bruder, wie sie die Mönche nennen“, oder anderen auf. „Jetzt wird, was Mühe macht, in der Regel [261] dem Petrus und Paulus überlassen – die haben ja Muße übergenug. Was aber Glanz und Vergnügen verspricht, das nehmen sie sich selbst.“502 Je höher hinauf, desto schlimmere Wirkungen. Kein Feind richtet mehr Schaden an als gottlose Päpste, die durch Schweigen Christus schwächen oder ihn durch schändliches Leben erwürgen. Lebhaft werden sie, wenn es Erwerb gilt. Die Päpste haben stets emsige und raffende Hände, wenn die Erntezeit zum Einsammeln von Geld herannaht und bevorsteht, aber die schweren apostolischen Mühen wälzen sie gern von sich ab und legen sie den Bischöfen auf, die Bischöfe den Hirten, die Hirten den Koadjutoren, die Koadjutoren den Bettelmönchen. Und diese schieben es wieder auf die, welche den Schafen die Wolle scheren. 503 499 A. a. O., 138. 500 Vgl. a. a. O. 146. 501 [Freie Wiedergabe der Stelle a. a. O. 142, wo es heißt: „denn ein gut Teil von ihnen ist so weit entfernt von aller Religion …“ Alles Übrige ist Zutat ­Söderbloms.] 502 A. a. O., 166. 503 [Vgl. a. a. O., 172.]

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Es verwundert nicht, dass man von den Kanzeln in Deutschland, den Niederlanden und anderwärts gegen Erasmus donnerte und ihn den Antichrist nannte, sofern er nicht, wie in einer Predigt vor dem französischen König, neben Lefèvre und Reuchlin als einer der vier Vorläufer des Antichrist zu gelten hatte. 504 In diesem Kampf gegen Weltlichkeit, Aberglauben, übertriebenen Heiligenkult, Zeremonienwesen und die Unreinheit des Mönchslebens bekam Erasmus in Luther einen Bundesgenossen, desgleichen in der Anweisung des Heilmittels: Änderung von Leben und Lehre nach der heiligen Schrift. Ton und Leidenschaft werden bei Luther heftiger. Das ist, wie wenn man von einem leise rinnenden Wasser zu einem brausenden Strom kommt. Doch erkennen wir ähnliche, wenngleich gründlichere, auch stärker national und volkstümlich gefärbte Einsprüche gegen das „schendlich, teuffellisch regiment“ der Römer, gegen Markt und Handel in Rom, gegen die Unkeuschheit des Zwangszölibats und allerhand Einrichtungen zum Nachteil der Nächstenliebe und gegen den Ablass in dem Appell an ein neues Reformkonzil wieder, den Luther 1520 ausgehen ließ: An den christlichen Adel deutscher Nation [262] von des christlichen Standes Besserung.505 Derartige Töne hatte keiner der Reformfreunde hervorzubringen vermocht. Viele horchten auf und merkten, dass sie einen Mann bekommen hatten, um den sie sich sammeln konnten. Es hatte den Anschein, als ob alle lebendigen Kräfte in Kirche und Kultur sich vereinen würden. „Das Papsttum ist für den römischen Bischof ein ergiebiger Jagdgrund“, setzte Luther im selben Jahr in der Schrift über die babylonische Gefangenschaft der Kirche gegen den Aberglauben der Sakramentslehre und deren tyrannische Anwendung hinzu. 506 Lebenslang spielt sich ein ansehnlicher Teil von Luthers Opposition, für sich betrachtet, auf derselben Ebene ab wie die alten, von Erasmus mit neuer literarischer und gelehrter Autorität weitergeführten Forderungen nach Reinigung der Kirche. Beide wollen Missbräuche abschaffen und ein reineres Christentum nach der Bibel und den Kirchenvätern wiederherstellen. Wir müssen das wichtige Kapitel beachten, das davon handelt, dass der Kampf Luthers und Erasmus’ und der übrigen Bibelfreunde Neuerungen galt. Alle höhere Religionsgeschichte kennt den Verfallsprozess; er ist bei den Erben Jadjnavalkyas und Buddhas, Laotses und Platons, ebenso wie bei denen Moses und Jesajas, Christi und des Franciscus zu bemerken. 504 Vgl. Pierre Imbart de la Tour, a. a. O. (wie Anm. 462), Bd. 3, 213. 505 [WA 6 (404–469); das Zitat 415,15.] 506 [M. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium, WA 6 (497–573), 498,9.]

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Die hohe Idealität des Stifters oder der ursprünglichen Lehre kann nicht an der Macht gehalten werden. Eine edle Pflanzung kam zustande. Aber rundherum und selbst in den Herzen der Jünger gedeihen primitive Tendenzen und allerlei Irrglaube, die sich hervordrängen, sobald sich eine Gelegenheit bietet. Das Heidentum erhebt sich wieder. Es war nie wirklich tot. Es nahm christliche Namen und Formen an. Doch sein Geist hatte mit dem Evangelium nichts zu tun. Es war nicht alles von außen gekommen, nach dem Gesetz des stärkeren Druckes. Die Kirche hatte sich selbst willig von unten her belehren lassen. Man hatte in gleicher Weise wie das Heidentum die Machtsphäre der Religion ausweiten und stärken wollen, [263] indem man allerhand neue Mächte und Bräuche aufnahm und verehrte. Ist die evangelische Abteilung der Kirche solchem grobem Aberglauben unzugänglich, der in der römischen weiterhin gepflegt und dankbar mit neuen Kulten angereichert wird, so kennen doch auch wir einen Reformeifer, der dadurch Anklang gewinnen möchte, dass er sich nach dem Geschmack einer niederen Religiosität richtet. Es gibt zu allen Zeiten und in allen Lebensbereichen die Versuchung, durch Nachgeben gegenüber niederen Neigungen Erfolg zu suchen. Man will der Kirche und der Religion nützlich sein durch allerhand Kunstgriffe, die den Menschen die beschwerlichen Forderungen des Evangeliums ersparen. Luther reagierte ebenso wie Erasmus und viele kleinere Geister im Namen der höheren Religion, der Moral und der Vernunft. Und er sah, historisch völlig richtig und schärfer als Erasmus oder irgendein anderer Zeitgenosse, wenn er die unüberschaubare Menge abergläubischer Bräuche und die Einrichtungen des alten Adam in der Kirche als Neuerungen bezeichnete. Aus dem Jahre 1530 gibt es dazu zwei bemerkenswerte Dokumente von Luthers Hand, beide für den Reichstag zu Augsburg bestimmt. Das eine entstand in Wittenberg, ein Gutachten für den Kurfürsten Johann von Sachsen über die strittigen Artikel. 507 Hier wird zuerst aufgezählt, was in der Kirche Christi erforderlich ist: ein rechtes Predigtamt, welches das Evangelium, Trost und Freiheit verkündigt, für die Aufrechterhaltung der Lehre Schulen für Knaben und Mädchen und höhere Studien im Lateinischen und den Grundsprachen der Schrift, rechtschaffene, gelehrte Bischöfe und Prediger, Fürsorge für die Armen, geordnete, würdige Riten für den Gottesdienst und noch mehr dergleichen. Ich kenne keine so gute und treffende Zusammenfassung der evangelischen positiven Reformforderungen. Dem wird sodann eine Liste über das hinzugefügt, was man „in der kirchen des Bapsts findet“: eine unschätzbare Urkunde für die Kenntnis 507 [Das „Gutachten“ ist in Wirklichkeit eine Vorarbeit Luthers zu der Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg, Anno 1530, WA 30/II, 268–356; vgl. dazu oben, Anm. 417.]

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der damaligen Zeremonien und das Frömmigkeitsleben der Kirche. 508 Die [beiden] Liste[n] nehm[en zusammen] fast sechs Druckseiten ein. Man bekommt einen Querschnitt, in dem kleine und größere Dinge, schöne Bräuche, Unsitten und volkstümlicher Aberglaube nebeneinander [264] stehen. Worauf ich hinweisen wollte, ist, dass Luther nach der Aufzählung schreibt: „Wider solche Neuerung, so wider alle schriefft vnnd wort gottes ist, hat kain bischoff gewacht, sonnder liesen die armenn gewissen verfhuren. Nun solle das ware Evangelium vnd die alte Rechte Lere, so Christus Selbs, [und] die Aposteln gepredigt vnnd geschrieben, ein Newigkait vnnd ketzerei sein?“509

In der gleichen legitimen Haltung von Konservatismus und Rechtgläubigkeit gegenüber den offiziellen oder gern geduldeten Ketzereien und heidni­ schen Bräuchen der Kirche wird dasselbe Thema ausführlicher aufgenommen auf der Feste Coburg in Luthers Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg510, einer der frischesten und erhellendsten unter den Schriften des Reformators. Er beruft sich auf die Umwälzung, die in der Kirche durch die Predigt des Evangeliums bereits eingetreten ist, und erinnert an Missbräuche, deren Blockierung zu den Wünschen aller ernsthaften Kirchenmänner gehörte, aber erst durch Luther zustandekommen ist. „… habt yhr auch vergessen wie zum ersten [anfangs] meine lere fast bey euch allen so ein kostlich ding war, da alle Bisschoff gar gerne sahen, das dem Bapst (der die stifft zü hart antastet) seiner tyranney ein wenig gesteuret würde, … Da war der Lüther ein feiner lerer, der das ablas so redlich angreiff, Denn da zumal musten die Bisschoffe vnd pfarherr leiden, das ein munch odder ein frembder boser bube mit den ablas briefen, ynn seinem stifft vnd pfarr durch vnd durch, eine schendliche schinderey treib, vnd thürste [wagte] nicht dawidder mücken, Hie war kein doctor ynn allen hohen schülen odder klostern, der solchem vnflat hette wissen noch thüren begegenen, vnd war Luther das liebe kind vnd fegete die stifft vnd pfarhen von solchem treüdel markt, vnd hielt den bisschofen den steigreiff [Steigbügel] das sie widder auffsessen, vnd warff dem Bapst einen bloch [Block, im Sinne von Fußfessel] ynn weg.“ „Vnd hernach da ich das kloster leben angreiff vnd der monche nü weniger worden sind, hab ich noch keinen [265] Bisschoff odder Pfarher horen druber weinen Vnd weis, das den Bischofen vnd pfarher nie kein grosser [größerer] dienst ist geschehen …“

508 [A. a. O., 249–255; vgl. 345,10–346,30 in der Vermahnung selbst.] 509 [A. a. O., 243 f.] 510 [Zu diesem Satz vgl. Anm. 507.]

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„… die Bisschofe werdens nicht leiden, das solche wantzken [Wanzen] vnd leuse widderumb solten ynn yhren peltz gesetzt werden.“ „Nu habe ich doch die Munche nicht mit auffrur zersteret [zerstört], sondern mit meiner lere …“511

Die augenfälligste Wirkung von Luthers Auftreten war das Aufhören des Ablasshandels. „Wenn vnser Euangelion sonst nichts gethan hette denn dis stuck, das es die gewissen von dem schendlichen grewel vnd abgot des Ablas, erloset hat, so sollt man doch dran kennen, das es Gottes wort vnd krafft were …“512 Auch in Bezug auf Beichte, Buße, Messe, Sakrament, Ehe, Hausstand, Pfarramt und andere Dinge zeigt Luther lange angestrebte, jetzt durch „sein Evangelium“ durchgeführte Verbesserungen auf. Hier musste Luther nun ein Wort mit denen reden, die schreien, dass man keine Neuheit zulassen dürfe. „Sagt mir, ist die kaüff messe nicht eine schendliche newigkeit?“ „Was ist ewr kirchen stand fur vnserm E ­ uangelio gewesen, denn eitel tegliche newigkeit[?]“ „Da hat einer S. Annan auffgericht, der S. Christoffel, der S.Georgen, der S. Barber, der S. Bastian, der S. Katherin, der wol xiiij [14] nothelffer …“ „Sind dis nicht newigkeit?“ „…weiter, Einer richtet den rosenkrantz, der ander, die krone Marie, ­ihener, den Psalter Marie, … dieser S. Brigitten gebet“ usw., lauter Neuheiten.513 Ständig tauchen neue Wallfahrtsorte auf, wohin „lieffen die leute, als weren sie toll, aus dem dienst vnd gehorsam …“ „Vnd war das nicht ein sonderlicher meisterlicher beschiss, mit vnsers herrn rock zu Trier …?“ Ständig neue Ablässe, neue Bruderschaften, neue Arten von Messen, von denen die Väter nichts wussten. „Ich wil hie schweigen des heiligthumbs [der Reliquíen], Hilff Gott, wie gieng da newes vber newes“, darunter grobe, offenkundige Lügen über das heilige Kreuz, über mehrere ganze Leichen eines und desselben Heiligen, bis man sogar die Unterhosen des heiligen [266] Franz514 und S. Katharinas Haar verehrte. Lauter lächerliche Neuheiten. Die Mönche predigten neue Visionen, Träume, Wunder. Doch in diesen Modebüchern für die Predigt stand nichts von Christus und vom Glauben. Die Doktoren in den hohen Schulen hatten nichts ande-

511 [WA 30/II, 278,12–280,7.] 512 [A. a. O., 281,8–10.] 513 [A. a. O., 295,5–296,3. Die „Krone“ ist eine Rosenkranzandacht, die sich aus 33 Vaterunser zum Gedenken an Jesu 33 Lebensjahre sowie fünf Ave Maria zusammensetzt, die an die fünf Wunden Jesu am Kreuz erinnern sollen. Marienpsalter wird eigentlich der vollständige bzw. Dominikanerrosenkranz genannt; hier jedoch geht es wohl um eine Umdichtung der 150 Psalmen in 150 Mariengebete. Vgl. Anm. 1 und 2 des WA-Hg., a. a. O. 296.] 514 In Wittenberg.

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res zu tun, als neue Meinungen auszudenken, während die Bibel von ihnen gering geachtet wurde wie ein Ketzerbuch. „Occam, mein lieber Meister, schreibt, das man aüs der schrifft nicht beweisen muge, Das einem menschen zum guten werck, Gottes gnade, not sey …“ Die Mönchsheiligkeit wird von Thomas von Aquin ebenso hoch geschätzt wie die Taufe. „Noch [dennoch] schwigen alle bisschoue still vnd sahen nichts newes, die doch itzt eine newe mucken ynn der sonnen sehen konnen …“ Am schlimmsten war die seltsame neue Meinung, dass niemand mehr wissen könne, was gewiss und was ungewiss sei, was mit einem Christen und einem Unchristen gemeint sei. „Da lag die alte lere vom glauben Christi, von der liebe, vom gebet, vom Creutz, vom trost ynn trubsaln gar darnider.“ „Wie allt ist der Rosen Crantz, die Marien krone? Wie allt sind die Barfussen Pater noster steine, an den thuren vnd thoren vnd ynn allen winckeln Wie allt ist die walfart gen Grimtal, Regenspurg, der Rock zu Trier, vnd der gleichen viel mehr, waren sie nicht new fur x, xx, xxxx [10, 20, 40] jaren?“

Dagegen scheint die bedenkliche Neuheit des neuen Evangeliums eigentlich bloß darin zu bestehen, dass es nach den Domherren zu Magdeburg Schaden im Geldbeutel und in der Küche anrichtet. Aber die Messe, „vnsern einigen hohesten schatz, habt yhr … mit vnzeligen abgottereien vnd grewelen zu schanden gemacht …“ Dass die Messe zu einem Opfer für Lebende und Tote und der Priester zum Opferpriester gemacht wurde, „Ist das nicht eine schreckliche newigkeit?“ Genug, dass uns die Erde nicht verschlungen hat, als der Priester mir solche Macht übertrug. 515 Luthers Vermahnung an die Geistlichen auf dem Reichstag, der solche Bedeutung für die Christenheit des Abendlandes bekommen sollte, mündet in drei Kataloge, stärker zusammengedrängt als [267] in der Vorarbeit516, einer über „Die stuck, so nottig sind ynn der rechten Christlichen kirchen zu handeln, da wir mit umb gehen“ der zweite über „Die stücke, so in der gleissenden kirchen ynn ubung vnd brauch sind gewest“, der dritte eine spezielle Liste über die Sitten beim Fasten. Da die erste dieser Aufzählungen ein klares Bild von dem vermittelt, was Luther als das Wichtigste im Dienst der Kirche ansah, wird sie hier mitgeteilt: Die Stücke, die zu behandeln in der rechten christlichen Kirche notwendig ist und die wir haben wollen517: 515 [Die lange Reihe der vorstehenden Zitate findet sich a. a. O., 295,4–307,16.] 516 [A. a. O., 345,10–347,8. S­ öderblom schreibt: „als in dem Gutachten für den Kurfürsten“. S. jedoch Anm. 507.] 517 [Dieser einleitende Satz ist von S­ öderblom frei umformuliert und deshalb hier nicht als Zitat gekennzeichnet. D. Hg.]

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„Was gesetz sey, Was Euangelion Was sunde Was gnade Was geists gabe was die rechte busse Wie man recht beichtet Was der glaube Was vergebung der sunden Was die Christliche freyheit Was der freye wille Was die liebe Was das Creutz Was die hoffnung Was die tauffe Was die Messe Was die kirche Was die Schlussel Was ein Bisschoff, Was ein Diaconus Was das predigampt Der recht Catechismus Zehen gebot als Vater unser Glauben [268] Das recht gebet Die Litania Lesen vnd auslegung der schrifft Was gute werck sind vnterricht des Ehestands kinder der Knecht Megde die oberkeit ehren kinder schulen krancken besuchen Armen und hospital versorgen Die sterbenden berichten [versehen: mit Trost und Sakrament]“

Noch vieles mehr, „wo wir zeit vnd raum nemen wolten“. Von Zeremonien und Bräuchen, die bisher im Schwange waren, schreibt Luther, dass unter denen, die er aufgezählt hat, „ettliche sind, die nicht zu verwerffen sind.“ Und viele von diesen sind außer Gebrauch gekommen, – 241 –

„die ich nicht wolt das sie gefallen weren, können aber wol leichtlich widder auffkomen, Vnd ist darinn das aller best, das feine Latinsche gesang de t­ empore da sind blieben, wie wol sie dennoch von den newen heiligen gesengen fast vberteubet, vnd auch schier nichts gelten Doch behalten wir sie fest vnd gefallen vns von hertzen wol.“518

Die letzten Worte erinnern uns an die Bedeutung Luthers und der Reformation für den edleren Kirchengesang und die Kirchenmusik. 519 Es schadet nichts, dass wir an das Gerümpel von abergläubischen Bräuchen erinnert werden, welche die Reformation beseitigt hat. Es ist noch vorhanden in Europa, es vermehrt sich Jahr für Jahr in der römischen Kirche durch Modekulte und Nachgiebigkeit gegenüber einer primitiven­ Religiosität, und immer noch will man uns mit einer solchen Praxis glücklich machen, sofern der Zugang gewährt wird. Doch darf man dabei nicht vergessen, dass eine ähnliche Versuchung, und sei es in geistigeren und weniger [269] abergläubischen Formen, ständig in unserer eigenen evangelischen Christenheit lauert. Es ist so naheliegend, auf leichte Weise zu Resultaten gelangen zu wollen, indem man Lehren und Methoden aufgreift oder beibehält, die mit dem Evangelium unvereinbar sind. Man kann versucht sein, Training und rührige Menschenfischerei an die Stelle von Glauben, Hoffnung und Liebe treten zu lassen. Diejenigen evangelischen Reformen, von denen wir gesehen haben, dass Luther sie billigt und durchführt, sind stark von seiner eigenen Glaubenserfahrung gefärbt und daher bei ihm von einer Einheitlichkeit in Geist und innerem Zusammenhang, die anderswo fehlt. Doch im Großen und Ganzen gehörte Luther in dieser Hinsicht zu der kirchlichen Bewegung, die Verunreinigung der Lehre, Verfall der Sitten, eingedrungene abergläubische Neuerungen und Missbräuche, Weltlichkeit und Tyrannei innerhalb der Kirche durch Rückgang auf Lehre und Leben des Evangeliums abschaffen wollte. Hier stoßen wir nun auf das Faktum, das als widersprüchlich und ungereimt erscheinen kann. Wo ist die Bibel in jedermanns Hand und das wichtigste Volksbuch? Wo lernt jeder Lesen und Schreiben? Wo wird von den Dienern der Kirche akademische Bildung verlangt? Wo ist die päpstliche und kirchliche Tyrannei über Eigentum und Gewissen gebrochen worden? Wo ist die populäre Vielgötterei und das gefährliche Gewächs des Aber518 [A. a. O., 352,4–11.] 519 Zu Luthers Bedeutung für die Kirchenmusik vgl. Johannes Rautenstrauch, Luther und die Pflege der kirchlichen Musik in Sachsen (14.–19. Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Brüderschaften, der vor- und nachreformatorischen Kurrenden, Schulchöre und Kantoreien Sachsens, Leipzig 1907.

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glaubens in der Kirche beseitigt worden? Wo ist der Zwangszölibat mit der aus ihm folgenden heuchlerischen Unsittlichkeit aufgehoben worden? Wo wurde der Schwarm von berufsfrommen Faulenzern eingeschränkt, eine den evangelischen Kirchen unbekannte Klasse von Drohnen der Gesellschaft? – Es gibt noch mehr. Wo wurde im Ernst die Forderung aufgegriffen, das Bettlertum abzuschaffen? Derartige Reformforderungen wurden innerhalb der ganzen Richtung des „Evangelismus“ erhoben.520 Um uns bloß an Frankreich zu halten, [270] so wurden von Theologen, Humanisten, Bischöfen, Priestern und Mönchen Schriftlektüre, gründliche Reformen und Vereinfachung der Religion gefordert. Die Bewegung breitete sich allmählich über alle Provinzen aus, ausgenommen ein paar, Bretagne und Auvergne. Die Reformation wirkte ihrerseits auf Rom zurück, auf die Reformpäpste und das Tridentinum. Mit dem Jesuitenorden jedoch kam ein neues, positives religiöses Ideal auf, das nicht mit dem Geist des Evangelismus übereinstimmte. Die Gegenreformation zeigt, was Schwert und Scheiterhaufen gegen eine geistliche Bewegung auszurichten vermögen. Dagegen haben sowohl der Jansenismus mit Pascals Lettres provinciales als auch der Modernismus in unserer Zeit das alte Reformstreben innerhalb der katholischen Kirche weitergeführt. Einzig in dem Teil des Evangelismus, der von Imbart de la Tour, dem ausgezeichneten Forscher und begeisterten Katholiken, verständlicherweise als abtrünnig bezeichnet wird, wurden die Reformen durchgeführt, die Erasmus ebenso wie viele vor ihm gefordert hatte, nur in größerem Umfang, als er ahnen konnte. 520 Weil die Reformbewegung zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts sich um die Forderung nach Verbesserung der Kirche gemäß dem Evangelium sammelte, hat Pierre Imbart de la Tour ihre noch ungebrochene Einheit mit dem Namen „Evangelismus“ belegt. Die Arbeit dieses Forschers über Les origines de la­ Réforme [s. Anm. 462] zieht unbekannte Äußerungen und Zusammenhänge bei der neu erwachten religiösen Bewegung ans Licht und hat das unvergängliche Verdienst, Luthers Werk in den geistigen Zusammenhang einzuordnen, der als ganzer von einem neuen Eifer für das Evangelium beseelt war. Es ist eine ebenso wissenschaftliche wie allgemein kirchliche Aufgabe, die Reformation aus der herkömmlichen, fälschlich isolierenden Betrachtung herauszuholen und auf diese Weise die Kontinuität in der abendländischen Christenheit des sechzehnten Jahrhunderts wahrzunehmen. In einem richtigen Gefühl dafür beschloss der deutsche Reichstag auf Vorschlag von Traub 1917, für die Erforschung der Reformation eine Kommission aus sowohl katholischen als auch evangelischen Mitgliedern einzurichten. [Anm. d. Hg.: Es handelt sich um einen Beschluss des Preußischen Abgeordnetenhauses, nicht des Reichstages. – Gottfried Traub (1869–1956), liberaler Pfarrer, gehörte zu den Freunden der Christlichen Welt und wurde 1912 wegen „Irrlehre“ im Zusammenhang mit dem Apostolicumsstreit seines Amtes enthoben. 1913–1918 war er Mitglied jenes Parlaments (vgl. Gangolf Hübinger, Art. Traub, G., in: RGG, 4. Aufl., Bd. 8, 554 f).]

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Nach Luther sah es anfangs finster aus. Die Sitten schienen zu verwildern. Unter den Gegnern klagte man die Reformation an, auflösend und zerrüttend auf die Lebensweise zu wirken. Diese Anklage wird bis heute erhoben. Was die Reformationszeit betrifft, so ist es schwer, ihre Richtigkeit genau zu prüfen. Aber heute brauchen wir nicht mehr über das zu streiten, was gewesen ist. Heute können wir eine längere Geschichtsperiode überblicken. Heute ist es nicht mehr möglich, bei Anklagen oder Vermutungen stehen zu bleiben. Denn jetzt hat die Geschichte selbst gesprochen, so dass sogar [271] der Taube hören muss. Die Früchte der Reformation liegen so offen wie nur möglich zu Tage. Und will man sie in der Volksbildung, in persönlicher Selbstständigkeit, Kultur und Freiheit richtig scharf erfassen, so muss man mit Émile de Laveleye in die Schweiz oder in die Niederlande gehen, wo ein und dasselbe Volk mit derselben Sprache in den Kantonen, Gegenden und Staaten zeigt, was aus römischer und aus evangelischer Religion wird. 521 In unserer schwedischen Reformationsgeschichte kann man nach den vorhandenen Urkunden innerhalb des begrenzten Zeitraums von wenigen Jahrzehnten eine durchgreifende Reinigung feststellen. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele, auf die K. B. Westman mich aufmerksam gemacht hat. Es war die Kirche, die in Schweden die neu erfundene Kunst, Bücher zu drucken, einführte. Die Druckerpresse diente der Religion. Fragt man, welche von ihren ersten Erzeugnissen in Schweden am deutlichsten die modernen Frömmigkeitsbewegungen der Zeit spiegeln, so sind dies weder die stattlichen liturgischen Werke, welche die Bischöfe mit Jakob Ulvsson an der Spitze hervorbrachten, noch die Lebensbeschreibungen des Klosters Vadstena von Birgitta und Katharina und andere Arbeiten üblichen Inhalts, sondern vor allem die Bücher, welche die beliebtesten Neuheiten der Marienverehrung nach Schweden vermittelten. So wurde in Mariefred 1498 das umfangreiche Buch des bretonischen Dominikaners Alanus über den „Nutzen des Marienpsalters“ auf Latein gedruckt, im Jahre 1506 veranstaltete Svante Sture eine neue Auflage, die in Lübeck gedruckt wurde. Paul Grijs in Uppsala druckte im Jahre 1515 zwei Traktate auf Schwedisch, 521 Émile de Laveleye zeigt, dass nicht die Rasse, sondern die Religion der Grund dafür ist, dass England in der Zivilisation höher steht als Irland, die evangelischen lateinischen Kantone Neuchâtel, Waadt und Genève (vor der Einwanderung der Katholiken) höher als die germanischen, aber römischen Kantone Luzern, oberes Wallis und die Waldkantone, Holland vor Belgien usw. Vgl. Émile de Laveleye, Le protestantisme et le catholicisme dans leur rapports avec la liberté et la prospérité des peuples. Étude d’économie sociale, Paris 1876 [dt. v. J. C. Bluntschli, Protestantismus und Katholizismus in ihren Beziehungen zu Freiheit und Wohlfahrt der Völker, 1875].

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von denen der eine die heilige Anna, die Mutter Marias, behandelte, in dieser Zeit häufig angerufen und als „Selbdritt“ abgebildet mit Maria auf dem Schoß, die wiederum das Jesuskind auf dem Schoß hat, eine beliebte und außerdem gleich nach der üblichen mittelalterlichen Trias von Vater, Mutter, Sohn hoch gepriesene Dreiheit. Selbst Luther rief die heilige Anna an in seiner Not. Der andere Traktat [272] ist der neuen Andachtsform des Alanus, alias Alain de la Roche, gewidmet, dem Rosenkranz, die Luther 1530 zu den bedenklichen Neuheiten zählte (vgl. oben, S. 239). Wenn man das ganze Jahr hindurch zur Ehre Marias an dem Wochentag fastet, auf den der Tag Mariae Verkündigung fällt, wenn man da eine Messe hört, ein Almosen gibt oder einen Rosenkranz betet, so bekommt man sieben besondere Gnadengaben, man wird unter anderem vor der Hölle und vor plötzlichem Tod bewahrt, der Beichte und Sakrament unmöglich machen würde. Maria wird beim Tode die Seele holen, und im Himmel bekommt man Belohnung vor denen, die das mit dem Rosenkranzgebet verbundene Fasten nicht eingehalten haben. Alanus hatte, bevor er 1475 starb, großen Erfolg mit seinem Rosenkranz, der bedeutete, dass man in einem Zuge 150 Ave Maria betete, mit 15 hier und da eingeschobenen Pater noster. Maria hatte, nach dem, was Alanus zu berichten wusste, den Dominikus diese Andachtsübung gelehrt, damit er die Ketzer überwinden könne. Alanus selbst „war mit der heiligen Jungfrau verlobt gewesen und schildert in starken Farben die Gunstbeweise, die sie ihm zuteil werden ließ.“522 Es wurden Bruderschaften gestiftet mit der Aufgabe, die Rosenkranzgebete zu sprechen. Die Päpste förderten diesen neumodischen, äußerst gefragten Marienkult, der auch in das Arsenal der Gegenreformation eingehen sollte. Im Jahre 1570 wurde ein besonderer Rosenkranztag zur Ehre Marias am ersten Sonntag im Oktober eingerichtet. In unserer Zeit haben die Päpste den Rosenkranz weiterhin gefördert, der unter anderem dem ganzen Oktober seinen Namen gab, „Rosenkranzmonat“, in dem der Rosenkranz in allen Gemeindekirchen gebetet werden soll. Diese spätmittelalterliche, typische Entartung der Marienverehrung zu stark sinnlichem und mechanisch überlastetem Andachtsbrauch war das, was auch schwedische Druckerpressen in Gang hielt, als Olaus Petri Phase sich darauf vorbereitete, nach Wittenberg zu reisen. 523 Wenig mehr als ein Jahrzehnt danach wurden in Stockholm andere Schriften im Dienst der Religion gedruckt. Auf den „Abend des St. Sigfridstages“, den 14. Februar 1526, ist En nyttig [273] undervisning [Eine 522 Die Rosenkranzandacht war eine besondere Andachtsform, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts durch Alain de la Roches (Alanus’) Buch De utilitate Psal­ terii Mariae in Mode kam. Vgl. Knut Bernhard Westman, Reformationens genombråttsår i Sverige, Stockholm 1918, 106 f. 523 [Olaus Petri (Phase), 1493–1552, schwedischer Reformator.]

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nützliche Unterweisung] datiert. Im gleichen Jahr kam am 15. August das Neue Testament auf Schwedisch mit der Einleitung des Reformators heraus. Auch En skön nyttig undervisning sah 1526 das Licht der Welt. Die Seelenspeise, die jetzt der Christenheit in Schweden geboten wurde, unterscheidet sich so gründlich vom Rosenkranz und ähnlichen Frömmigkeitsübungen, dass man sich fragt, ob wir uns in derselben Weltgegend und im selben Jahrhundert befinden. Wir werden aus dicken Weihrauchschwaden in die frische Luft des Evangeliums versetzt. Olaus Petri leitete En nyttig undervisning, nach dem Inhaltsverzeichnis, mit den folgenden Worten ein: „Da alle Christenmenschen Jesus Christus als ihren Heiland und Erlöser bekennen, ist es für sie alle nützlich, sich darauf zu besinnen, wovon sie geheilt und erlöst sind, so dass sie daraufhin ihrem Heiland Dank, Preis und Ehre um ihrer Seligkeit willen erweisen mögen. Deshalb ist diese Unterweisung gemacht und aus der heiligen Schrift ausgezogen worden um derer willen, die noch keine Gelegenheit hatten, selbst die Schriften zu studieren, wo dieses und anderes auf­ gesucht werden muss.“524

Tritt in diesem Beispiel der Verlust ans Licht, den der kirchliche Aberglaube erlitt, so werden wir den Unterschied zwischen einem Knecht des Papstes in Rom und einem Bischof in der Kirche Christi erkennen, wenn wir einen mittelalterlichen Bischofseid mit dem ersten Bischofseid vom Reichstag zu Västerås vergleichen. 525 Bischof Matthias in Strängnäs legte bei seiner Weihe im Jahre 1501 nach Vorschrift des Papstes Alexander VI . den folgenden Eid auf den Papst ab: „Ich, Matthias, gewählter Bischof in Strängnäs, werde von dieser Stunde an wie schon zuvor dem Seligen Petrus, dem heiligen apostolischen römischen Stuhl und unserem Herrn, dem Herrn Papst Alexander VI. und seinen kanonisch antretenden Nachfolgern treu und gehorsam sein: Ich werde mich nicht beratend, billigend oder handelnd daran beteiligen, dass sie das Leben oder Gliedmaßen verlieren oder dass auf irgendeine Weise gewaltsam Hand an sie gelegt oder ihnen unter irgendeinem Vorwand Schaden zugefügt wird. [274] Ratschlägen zu ihrem Schaden, die sie mir vielleicht in eigener Person oder durch ihre Nuntien anvertrauen werden, werde ich wissentlich niemandem offenbaren. Ich werde dazu beitragen, dass das römische Papsttum und die Regalien St. Petri gegen jedermann gewahrt und verteidigt werden. Den Legaten des apostolischen Stuhls werde ich sowohl bei seiner Abreise als auch bei seiner Rückkehr ehrenhaft behandeln und ihm in seinen Bedürfnissen behilflich sein. Ich werde 524 Olaus Petri, Een nytthwgh wnderwijsning, in: ders., Samlade skrifter Bd. 1, Stockholm 1914 (1–120), 4. Die andere o.g. Schrift, Een skön nytthugh vnder­ wisningh, steht im selben Band 141–147. 525 [Auf dem Reichstag von Västerås wurde 1527 die Reformation in Schweden eingeführt.]

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mich be­fleißigen, die Rechte, Ehrentitel, Privilegien und die Autorität der römischen Kirche, unseres Herrn des Papstes und seiner vorgenannten Nachfolger zu erweitern, zu verteidigen, zu stärken und zu befördern, und ich werde mich nicht an Beratungen, Aktivitäten oder Verhandlungen beteiligen, mit denen gegen selbigen unseren Herrn oder selbige römische Kirche in böser Absicht und zum Nachteil ihres höchsten Rechtes, ihrer Ehre, ihres Standes und ihrer Macht Pläne geschmiedet werden. Und wenn ich zu wissen bekomme, dass etwas Derartiges von wem auch immer vorbereitet und verhandelt wird, werde ich dies nach Vermögen verhindern und es, so rasch ich kann, selbigem unserem Herrn zur Kenntnis geben oder jemandem anderen, durch den es zu seiner Kenntnis gelangen kann. Die Regeln der heiligen Väter, apostolischen Dekrete, Verordnungen, Urteile, Verfügungen, Reservationen, Provisionen und apostolischen Mandate werde ich mit allen Kräften befolgen und auch andere dazu bringen, sie zu befolgen. Ketzer, Schismatiker und Aufrührer gegen unseren Herrn und seine vorgenannten Nachfolger werde ich nach Vermögen verfolgen und bekämpfen. Ich werde zur Synode kommen, wenn ich dazu gerufen werde, sofern ich nicht nach kanonisch gültigen Hinderungsgründen verhindert bin. Die Schwelle der Apostel werde ich besuchen, jedes Jahr, da die Kurie sich auf dieser Seite der Berge befindet, jedes zweite Jahr, wenn sie sich auf der anderen Seite befindet, in eigener Person oder durch meinen Nuntius, wenn ich nicht durch apostolische Erlaubnis davon befreit bin. Besitzungen, die zu meinem Bistum gehören, werde ich nicht verkaufen oder verschenken oder verpfänden oder wiederum anderwärts zu Lehen geben oder sonst auf irgendeine Weise weggeben, [275] auch wenn das Kapitel meiner Kirche das billigen sollte, ohne den römischen Bischof zu fragen. So helfe mir Gott und diese heiligen Evan­ gelien Gottes.“526

Die erste Bischofsweihe nach dem Reichstag zu Västerås fand am 5. Januar 1528 in Strängnäs statt. Es ist von Interesse, den Eid, den die Electi Magnus Sommar in Strängnäs, Magnus Haraldson i Skara und Martin Skytte in Åbo dort ablegten, mit dem zu vergleichen, den wir eben gehört haben. Es war diese Bischofsweihe, welche die ununterbrochene Kontinuität in der Reihe der Bischöfe in Schweden bewahrte, die man als aposto­lische Sukzession zu bezeichnen pflegt. Der Sekretär des Königs, Laurentius Andreae, teilte in einem Schreiben vom letzten Dezember 1527 den Wortlaut 526 Der [lateinische] Eid des Matthias ist abgedruckt in A. Örnhjälm, Historia Sveonum Gothorumque Ecclesiastica, 1689, 516 f, und in Haquin Spegel, Skriftelige Bewis Hörande til Swenska Kyrckio-Historien Eller Biskops-Chrönikan, Uppsala 1716, 94 f. [danach hier übersetzt]. Ein Gehorsamseid auf den Erzbischof, abgelegt von Bischof Olavus Andreae in Västerås am 25. März 1488, ist abgedruckt bei Carl Gustaf Styffe, Bidrag till den katolske hierarkiens historia i Sverige, in: Historiska handlingar VIII/1, 1879, 49. Ältere Bischofseide werden von Yngve Brilioth, De svenska medeltidsbiskoparnes visitationes liminum ss. apostolorum, in KHÅ 14/1913, 205–219 angeführt.

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des Eides samt der Vorschrift mit, dass dieses Versprechen schriftlich abgegeben und vor der Weihe öffentlich verlesen wird; die Weihe sollte im Namen Gottes vollzogen werden. Das Versprechen oder der Eid ist jetzt einfach und kurz geworden: „Ich, Magnus Sommar, gewählter Bischof in Strängnäs und jetzt nach Gottes Willen im Begriff stehend, dazu geweiht zu werden, gelobe Gott, nach meinem Vermögen und nach der Gnade, die der Herr mir verleiht, sein heiliges Evangelium zu verkündigen und zu befördern; mich mit den Ausgaben und Einkommen, die für die Ausübung dieses Amtes nötig sind, zu begnügen; meinem Herrn, dem König, die Treue zu halten; zu tun, wovon ich sonst noch nach Gott und meinem Gewissen erkenne, dass es einem christlichen Bischof ansteht; So sei mir Gott gnädig.“527

Diese Belege für die Verbesserung, die innerhalb eines kurzen Zeitraums durch die Reformation bewirkt worden ist, werden von mir nicht angeführt, um die Selbstgerechtigkeit des Protestantismus zu steigern. Die ist ohnehin groß genug. Es gibt manches, was wir an der katholischen [276] Frömmigkeit und Organisation zu bewundern und dem wir nachzueifern haben. Ich führe es vielmehr dazu an, festzustellen, dass die ganze Reihe von Reformen trotz allem für Luther bloß sekundäre Bedeutung hatte. Die Reformen standen nicht wie für die übrigen Männer des Evangelismus an oberster Stelle. Luther könnte von allen Reformen gesagt haben, was er 1530 von der Coburg sogar über das Papsttum schrieb, welches sich ja sonst für ihn als der Antichrist, „Christi Widersacher“, darstellte: „Will der Papst Herr oder Oberster sein, das lassen wir wohl geschehen, … wir … begehren [nur], daß er uns das Evangelion frei lasse.“528 Über die Klöster, die Erasmus abschaffen wollte, schrieb Luther etwas früher, im Jahre 1528, an den Abt Heino Gottschalk, dass er, Luther, „länger, ja bis heute, im Kloster gelebt hätte, wenn die Brüder und die Bedingungen im Kloster es zugelassen hätten.“529 Für Luther gab es nämlich nur eines, das wichtig ist, den Frieden und das Gottvertrauen der Seele; alles andere kommt erst danach. Richtiger, die Reformen bedeuteten für Luther allein in dem Maße etwas, als die Missbräuche den Weg zu Gottes freier Gnade versperrten. Die Reformfreunde, allen voran Erasmus, hatten eine Reihe von Verbesserungen in ihrem Programm. Diese konnten zwar unter

527 Der erste evangelische Bischofseid in Schweden ist abgedruckt bei Herman Lundström, Undersökningar och aktstycken. Bidrag till svenska kyrkans historia, Uppsala 1898, 12. 528 Brief an Nikolaus Hausmann vom 22.3.1521, Nr. 390, WA.B 2 (290 f), 291,17 f; Brief an Ungenannt vom 30.6.(?) 1530, Nr. 1618, WA.B 5 (430–433), 432,88–90. 529 Brief vom 28.2.1528, Nr. 1228, WA.B 4 (390 f), 390,32–34.

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der Bezeichnung evangelisch und biblisch zusammengefasst werden. Aber für Luther bedeutete Evangelium nicht irgendein Buch oder irgendwelche Grundsätze und Regeln, sondern ganz einfach Gottes unverdiente Gnade in Christus, die den sündigen Menschen in dessen völliger Ohnmacht aufnimmt und selig macht. Aus diesem A und O der Religion leitet sich alles andere Gute her, nach ihm wird alles beurteilt. Luther hatte sonach kein Reformprogramm im eigentlichen Sinne, bzw. allenfalls in zweiter Linie. Für die übrigen Vertreter der Kirchenreform bedeuteten die einzelnen Verbesserungen als solche mehr als für ihn. Trotzdem sind sie allein im Umkreis Luthers und seiner Schüler verwirklicht worden. Wir werden da vor ein Rätsel gestellt, dessen Lösung die Religionsgeschichte an verschiedenen Stellen präsentiert, [aber] nirgends deutlicher als hier. [277] Die Frömmigkeit hat zwei Hauptformen, die beide ein Bürgerrecht in der Kirche haben. Man hat diese beiden Frömmigkeitstypen die Einmalgeborenen und die Zweimalgeborenen genannt, oder die gesunden und díe kranken Seelen. 530 Die „Zweimalgeborenen“ sind durch eine innere Krise gegangen. Die Religion hat bei ihnen eine dramatische Geschichte. Sie ist durch eine Explosion zum vollen Bewusstsein gekommen. Sie ist auf stürmische Weise ausgebrochen, auch wenn der Glaube im Nachhinein die Kontinuität mit dem Vorhergehenden erkennt. Das Religiöse erobert sich in einem solchen Leben ein markanteres eigenes Gebiet (dem ein Wert jedoch nur in dem Maße zukommt, wie es auf das übrige Leben einwirkt). Was ich meine, lässt sich besser mit den Begriffen ­Euckens wiedergeben: allgemeine oder universale Religion und charakteristische Religion.531 Man könnte versucht sein, den Unterschied mit einem Zirkel zu verdeutlichen, wo die charakteristische Frömmigkeit dem Mittelpunkt am nächsten steht. So möchte sie selbst sich die Sache gerne vorstellen. Aber das Bild ist falsch. Denn beide stehen gewiss dem Herzen Gottes gleich nah; die Frage nach der Nähe zu ihm ist jedenfalls eine andere. Deshalb greife ich lieber zu dem Bild von zwei Landschaften innerhalb desselben himmlischen Vaterlandes, die eine eher gleichmäßig und eben, die andere scharf durchbrochen durch Gipfel und Steilhänge. Es ist unverständig, wenn das Flachland sie einebnen will oder sie für überflüssig und prätentiös hält. Diese Tiefen und Höhen von Sündenangst und Versöhnung, Buße und Vergebung haben nicht nur für sich selbst Bedeutung. Sie ver530 [Vgl. William James, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature (1902), Neudruck New York 1963, 166–258.] 531 [Die beiden Begriffe bestimmen die Gliederung von Rudolf Euckens Buch Der Wahrheitsgehalt der Religion, Leipzig 1901 (vgl. Teile II und IV) und haben auch in der späteren Arbeit Können wir noch Christen sein? eine zentrale Funktion (vgl. dort Teil B II).]

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mitteln Ausblicke über die Welt der Religion, über welche die Bekenner des allgemeinen Gottesglaubens nicht verfügen, auch wenn diese durch sittlichen Ernst und Heiligung den Erlösungserfahrenen heilsame Demut einflößen. Auch für die Sitten und die Kultur kann eine tiefgehende religiöse Erfahrung mit ihren gefährlichen unmittelbaren Folgen und ihrer irrationalen Einseitigkeit mehr bedeuten als Reformbestrebungen. Für Luthers verbohrte Leidenschaft, für seine Seelennot und sein alles verschlingendes Verlangen nach Gewissheit über Vergebung und Kindschaft hatten Erasmus [278] und seine Gesinnungsgenossen wenig Verständnis. Für die Frömmigkeit der Mehrzahl ist ein so stürmischer Umgang mit Gott stets ziemlich fremd. Nach vollzogenem Bruch mit Luther schrieb Erasmus 1529, dass Paulus, wenn er zurückkäme, den Zustand der Kirche (statum ecclesiae) nicht missbilligen würde, sehr wohl aber die Laster der Menschen.532 Doch Reformen reichten nicht aus. Eine Reformation war erforderlich, eine Neuschöpfung aus den verborgenen Tiefen des Seelenlebens. Kein Reformeifer kam zum Ziel – nicht einmal der des Erasmus. Luther wurde zum Reiniger der Sitten, des Kultes, der Bildung. Nicht sofort. Im Gegenteil, die Umwälzung verursachte zu Anfang, trotz Luthers Konservatismus, der ihm ebenso wütende Feinde verschaffte wie seine Reformation, Wirrwarr und Barbarei. Erasmus sagte, er „verabscheue die Evangelischen, weil durch sie die Literatur überall in Verfall gerät.“533 Luthers Klagen über die Selbstherrlichkeit sind laut. Doch auf die Dauer wurden die Früchte sichtbar. Sie brauchten ihre Zeit. Luther hat sie nicht mehr erlebt. Doch im Glauben wurde er nie müde, den Satz Jesu zu wiederholen, dass der Baum selbst gut werden müsse, ehe er gute Früchte tragen könne. Nun ist kein Auge so blind, dass es nicht sehen müsste, wo die vom Evangelismus und Erasmus ausformulierten Anliegen der mittelalterlichen Reformfreunde ad notam genommen wurden. Das ist allein im evangelischen Teil der Kirche der Fall. Doch geschah dies nicht durch ein Reformprogramm für biblische Verbesserungen, sondern durch die neue, frische Erfahrung einer Seele von Gottes unergründlicher Gnade. Man vergisst leicht, dass das Unkraut in der Kirche am besten ausgerottet wurde – wenngleich noch viel davon übrig ist – nicht von denjenigen, die jäteten und ausreuteten, sondern von jemandem, der trotz der Proteste der Anhänger des Gewohnten den Pflug für spätere Ernten durch den Acker des 532 [Des. Erasmus, Gerardo Nomismago, Epistola contra quosdam, qui se falso jactant evangelicos, Opera omnia, Bd.10, Nachdruck Hildesheim 1962 (1574– 1590, 1587), Leiden 1718.] 533 [Von ­Söderblom nach dem Art. Erasmus in der Encyclopaedia Britannica, Bd. 8, 9 1879 (515–518), 515 zitiert („I abhor the evangelics, because it is through them that literature is everywhere declining, and upon the point of perishing“), auch dort ohne Quellenangabe.]

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Herzens gehen ließ. Wenn die höhere religiöse Bildung nicht eine bequeme esoterische Haltung einnimmt, indem sie die volkstümlichen abergläubischen Riten toleriert und spiritualisiert, sondern sie bekämpft, so geschieht dies gemeinhin durch verstandesmäßige Kritik oder [279] sittliche Kritik. Das Originelle bei Luther ist, dass seine Opposition gegen die Neuerungen der Kirche weder von den theoretischen Einwendungen des Rationalisten noch von den Bedenken des Moralisten ausging, sondern von der Sorge um den Trost der Seele. Biblische Reformen waren ein verbreitetes Losungswort in verschiedenen Ländern der Kirche. Doch Wirklichkeit wurden sie allein durch einen Mann, dessen erstes und letztes Interesse nicht Reform, sondern Heil war. Sie gingen nicht aus einem Reformprogramm hervor, sondern aus der prophetischen Begegnung einer einsamen Seele mit Gott. Auch hier bewahrheitete sich das Wort: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zu­ fallen“ [Mt 6, 33]. Die beiden Männer mussten auf die Dauer mit Naturnotwendigkeit einander abstoßen. Mit sicherem Instinkt hegte Luther schon 1516 Misstrauen an dem Punkt, der sie dann für alle Zeit voneinander scheiden sollte. Erasmus verstand Rechtfertigung bei Paulus als Rechtfertigung durch Werke oder durch das Gesetz. Spalatin wurde von Luther aufgefordert, ihn auf Augustin hinzuweisen; im Blick auf den Einfluss, den Erasmus nach Luthers Hoffnung und Wunsch gewinnen würde. 534 Schon im März 1517 war Luthers Hochachtung für ihn Tag für Tag zurückgegangen. Zwar tat Erasmus nach Luther recht daran, hartnäckig und kundig die tief verwurzelte und faule Unwissenheit der Priester und Mönche anzuprangern. Aber er arbeitete Christus und die Gnade nicht genügend heraus. „Das Menschliche hat bei ihm den Vorrang vor dem Göttlichen.“535 Auch die Kritik wurde Luther später zu leichtfertig. Erasmus gab die Fehler und das Elend der Kirche der Lächerlichkeit preis, während doch das ganze Volk Gottes darüber seufzen und trauern sollte. 536 Im Januar 1518 pries Luther gegenüber Spalatin die philologische Gelehrsamkeit und Tüchtigkeit des Erasmus in höchsten Tönen als völlig vergleichbar mit der des berühmten Hieronymus. Und Luther wollte nicht, dass sich jemand für seine Abneigung gegen den Gefürchteten auf ihn beriefe. Aber an Erkenntnis [280] Christi fehlte Erasmus viel, so gewiss Erasmus Hieronymus dem Augustin vorzog, dessen Traktat Vom Geist und Buchstaben gegen die Werkgerechtigkeit des Pelagius Luther seinem Freund 534 Vgl. Brief an Spalatin vom 19.10.1516, Nr. 27, WA.B 1 (69–71), 70,4–40. 535 Brief an Johann Lang vom 1.3.1517, Nr. 35, WA.B 1 (89 f), 90,15–26; das Zitat Zeile 19. 536 Brief an Spalatin von Anfang November 1517, Nr. 50, WA.B 1, 118,3–8.

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Spalatin empfahl. 537 Auf die Aufforderung Capitos hin entschloss sich Luther 1519, in einem Brief mit Erasmus persönlich Kontakt aufzunehmen, voll aufrichtiger Bewunderung, aber durchweg würdevoll. Als Antwort bekam er eine freundliche, ein wenig reservierte Ermunterung und die Ermahnung zu weniger Heftigkeit im Streit mit dem Papst, nicht zuletzt um nicht die Wohlmeinenden zu verschrecken. 538 Gegenüber dem Erzbischof von Mainz hielt Erasmus es gegen Ende des Jahres für nötig, sich angesichts dieses Briefs gegen die Anschuldigung zu verteidigen, dass er Luther begünstige. 539 Diese Anschuldigung hatte sicher damals noch eine gewisse Berechtigung. Im folgenden Jahr ließ Erasmus gegenüber Kurfürst Friedrich von Sachsen das bekannte Wort fallen, Luthers eigentliche Sünde bestehe darin, dass „er die Krone des Papstes und die Bäuche der Mönche angetastet“ habe.540 Doch öffentlich für Luther Partei zu nehmen, widerstrebte dem Geschmack des feinen Humanisten. Als die Bannbulle gegen den Ketzer bekannt wurde, beeilte sich Erasmus, vor dem Papst und den Löwener Theologen seine Hände zu waschen. Erasmus dachte an eine stille Verbesserung [der Kirche]. Luther seinerseits fand, dass Erasmus in seinen Schriften mehr dem Frieden als dem Kreuz nacheiferte und dass er eine Schwäche für Ehrungen hatte. 541 Noch 1523 konnte Erasmus gegenüber Zwingli bekunden, er habe selbst fast alles das gelehrt, was Luther lehrte, nur nicht so grob und paradoxal. 542 Aber er hielt es bald für am vorteilhaftesten, ein für allemal seine Position zu beziehen. Luthers aufrichtiger, männlicher, halb entschuldigender, halb anklagender Brief vom April 1524 half nichts.543 Eher muss es die Eitelkeit des Erasmus irritiert haben, etwas über seinen fehlenden Mut zu lesen. Gott hatte, so schrieb Luther, dem Erasmus nicht genügend Tapferkeit verliehen, um mit Luther ohne Furcht gegen das Ungeheuer anzurennen. Deshalb hatte Luther seine 537 Brief an Spalatin vom 18.1.1518, Nr. 57b (Nachtrag), WA.B  1 (133 f), 133, 10–134,58. 538 Vgl. Brief Luthers an Erasmus vom 28.3.1519, Nr. 163, WA.B 1, 361–363; Brief des Erasmus an Luther von 30.5.1519, Nr. 183, WA.B 1 (412–414), 413,35–48. 539 [Brief an Albrecht von Mainz (= Albrecht von Brandenburg, aber nicht, wie der Herausgeber der Briefsammlung schreibt: „Albert“) vom 19.10.1519, Nr. 1033, in: Desiderius Erasmus, Opus epistolarum, Bd. 4, Oxford 1922, 96–107. Der Brief ist ohne Wissen des Erasmus veröffentlicht worden, was dieser Albrecht gegenüber beklagt: Brief Nr. 1152 vom 8.10.1520, a. a. O., 361.] 540 Vgl. G. B. Lechler / Rudolf Stähelin, Art. Erasmus, Desiderius, in: RE³ Bd. 5 (434–444), 442. 541 [Vgl. Erasmus, Brief an die Löwener Theologen vom Juni (?) 1521, Nr. 1217, in: ders., Opus epistolarum, Bd. 4, Oxford 1922, 536–540; Luther Brief an Spalatin vom 9.9.1521, Nr. 429, WA.B 2 (387–389), 387,4–14.] 542 Vgl. Erasmus, Brief an Zwingli vom 31.8.1523, Nr. 1384, in: ders., Opus epistolarum, Bd. 5, Oxford 1924 (326–330), 330,90 f. 543 Vgl. Brief an Erasmus vom 18.4.1524, Nr. 729, WA.B 3, 270 f.

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Schwachheit geduldet. Erasmus sollte seiner eigenen herrlichen Begabung treu bleiben. [281] Die Sache war Erasmus schon längst über den Kopf gewachsen. Luther hatte ihn sich nie in seinem Lager gewünscht. Doch er fand die Ausfälle des Erasmus unnötig. Jetzt bedauerte er den Ärger, den der ritterliche Hutten in einem scharfen Pamphlet über Erasmus ausgegossen hatte, als dieser in Huttens Bedrängnis ihre alte Freundschaft verleugnet hatte. Noch mehr aber bedauerte Luther die Antwort des Erasmus, eine giftige Schmähschrift, die Luther Anlass zu der Bemerkung gab: „… wenn ich nicht irre, bemerkst Du selbst, wie leicht es ist, von Selbstbeherrschung zu schreiben und seine unbeherrschte Art zu schreiben zu kritisieren, wie außerordentlich schwer, ja unmöglich es jedoch ist, sie auch zu verwirk­ lichen ohne eine besondere Gabe des Geistes.“544

Wenngleich Erasmus über wichtige Glaubensfragen anders denke, wünschte der Briefschreiber, fortan in Ruhe gelassen zu werden. „Es ist etwas völlig anderes, von Erasmus einmal gebissen zu werden, als von allen Papisten zugleich zermalmt zu werden. Dies möchte ich gesagt haben, mein bester Erasmus, um Dir meine ehrliche Gesinnung Dir gegenüber zu beweisen, der ich Dir wünsche, dass der Herr Dir einen Geist verleihen möge, der Deines Namens würdig ist. Unterdessen bitte ich Dich, dass Du … unserem Trauerspiel lediglich als Zuschauer beiwohnst, dass Du Dich lediglich nicht daran gewöhnst, mit den gegnerischen Kräften gemeinsame Sache zu machen, insbesondere nicht Bücher gegen mich veröffentlichst, so wie ich auch keine gegen Dich veröffentliche.“545

Die ruhige und echte Souveränitat in diesem Brief berührte Erasmus nicht ausschließlich angenehm. In seiner Antwort konnte er mit vollem Recht ebenso großen Eifer für das Evangelium, das er auf jede Weise zu verbreiten gesucht habe, für sich in Anspruch nehmen wie Luther. Was Luther Schwachheit nannte, beruhe teils auf Gewissenhaftigkeit, teils auf Klugheit. Bei der Lektüre Luthers fürchte er manchmal, dass der Satan dessen Seele betrüge. Das Evangelium könne mehr dadurch gewinnen, dass Erasmus gegen Luther schreibe, als dass etliche Narren zu seinen Guns-

544 [A. a. O., 270,23–25. „Seine … Art zu schreiben“ bezieht sich auf Hutten. In dem Brief steht aber: „in Luthero immodestiam arguere“ (an Luther einen Mangel an Selbstbeherrschung zu tadeln). So auch schon die Ausgabe von Enders (4, 319), die S­ öderblom benutzt hat. Das Versehen ist aus dem Zusammenhang leicht zu erklären.] 545 A. a. O., 271,56–62. Den Satzteil „… Dich … nicht daran gewöhnst … gemeinsame Sache zu machen“ lässt S­ öderblom aus und schreibt stattdessen nach „gegen mich veröffentlichst“ die Worte: „den Widersachern zu Diensten“.

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ten schrieben. 546 Man merkt an der Antwort des Erasmus, dass die Überredungskunst mächtiger Gönner auf die uneingestandene Neigung stieß, einen srörrischen Rivalen um [282] den Ruhm bei Zeitgenossen und Nachwelt abzufertigen. „Der Würfel ist gefallen“, schrieb Erasmus an die Priester und hohen Prälaten, denen er bereits im selben Jahr seine Diatribe gegen Luther über die Freiheit des Willens schicken konnte. 547 Das Buch brachte ihm reiche Geschenke, aber wenig Ehre ein. Er hatte ja die Kirche und alle gesunde Vernunft für sich gegen die wahnwitzige, für Moral und Denken gleichermaßen schädliche Leugnung der Willensfreiheit. Zu allen Zeiten hat die Lehre vom Unvermögen des Menschen Anstoß erregt, der die tieferen Geister in der Geschichte der Frömmigkeit gehuldigt haben. Erasmus hatte wenig Geschmack und Neigung für Theologie und Metaphysik. Die Schrift gehört zu seinen schwächeren. Und sie forderte das innerste Lebensinteresse eines Mannes heraus, für den niemand frei war außer Gott allein, Gott und der Sklave der Sünde und des Todes, den Gott in seiner Gnade zu befreien geruhte. Der ihm zugedachte Todesstoß von Erasmus traf Luther wie stets überhäuft mit Arbeit. Die Schrift des Erasmus kam im September 1524 in Basel heraus. Luther erkannte sofort, dass hier eine gründliche Antwort erforderlich war. Doch zuvor musste er seine Schrift Wider die himmlischen Propheten abschließen – also eine Aktion an einer ganz entgegengesetzten Front – und den Kommentar über das fünfte Buch Mose. Dann kam der Bauernkrieg. Erst im September 1525 spricht ein Brief davon, dass er vollkommen von der Widerlegung des Erasmus in Anspruch genommen sei. 548 Sieht man den Umfang des Buches an, ein paar hundert Seiten in gewöhnlichem Format, so muss man darüber staunen, dass Luther bereits Mitte November fertig war, „so gut er es in der Kürze und Eile vermochte“. 549 Der Druck hatte da bereits begonnen. Um die Quadratur des Zirkels auszuführen, die es für das Denken bedeutet, das Problem der Freiheit zu klären, brachte Luther kaum die Voraussetzungen mit. Sein Bedürfnis war es nicht, die Sache [283] für das Denken zu klären, sondern nach allen Seiten hin dafür zu sorgen, 546 Vgl. Brief an Luther vom 8.5.1924, Nr. 740, WA.B 3, 285 f. 547 [„iacta est alea“; vgl. R. Stähelin, a. a. O. (Anm.  540), 442.] Desiderius Erasmus, De libero arbitrio diatribe sive collatio, in: ders., Ausgewählte Werke (zweisprachig), hg. v. W. Lesowsky, Bd. 4, Darmstadt 1969, 1–195. Frühere Ausgaben u. a. von J. v. Walter (QGP 8), Leipzig 1910. Bis dahin hatten nach Erasmus (bei Walter S. 13) einzig Mani und Wyclif die Freiheit des Willens völlig geleugnet. Er selbst huldigt der „wahrhaft evangelischen Freiheit“ (91). 548 [Brief an Nikolaus Hausmann vom 26.9.(?) 1525, Nr. 926, WA.B 3, 582,4.] 549 [„ut in brevi et festinantia potuit fieri“: Brief an Michael Stifel vom 31.12.1525, Nr. 957, WA.B 3, 653,1 f. Zum Datum der Fertigstellung vgl. die Einleitung des Hg. von WA 18, 583.]

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dass nichts seine religiöse Stellung beeinträchtigen konnte, die Geborgenheit seiner Seele in Gott. Das Problem von Freiheit und Notwendigkeit selbst konnte er nicht leugnen. Doch zwischen Gott und dem Menschen etwas von der Spannung der Freiheit bestehen zu lassen, würde eine Verteilung bedeuten, die für das Handeln und die Entscheidung550 des Menschen etwas übrig ließ, und damit für die Ungewissheit. Zwischen Gott und Mensch gibt es für Luther keine Möglichkeit für etwas anderes als vollkommene Abhängigkeit, entweder eine unselige Abhängigkeit, da der Mensch dem Gericht Gottes anheimfällt, oder eine selige Abhängigkeit, da der Mensch sich ganz und gar auf Gottes Gnade verlässt. Wenn ein noch so kleiner Anteil der menschlichen Freiheit zugerechnet wird, so entsteht die Religion nicht gänzlich aus Gottes Werk und Gnade. Der menschlichen Freiheit auch nur den kleinsten Raum zu öffnen hieß für Luther, dem Zweifel, der Selbstherrlichkeit und der Qual der Ungewissheit die Tür zu öffnen. Luther bezog seine Position und verlegte den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit in das Wesen Gottes selbst – eine desperate Abschiebung des gedanklichen Problems. Luthers Schrift befasst sich mit scholastischer Metaphysik und mit Gedankengängen, die sie für einen neuzeitlichen Leser ungenießbar machen. Sie ist weniger zugänglich als der Großteil der Produktion seiner Feder. Nichtsdestoweniger besitzt De servo arbitrio für denjenigen, der sich die Mühe macht, in ihren Geist einzudringen, einen unvergänglichen Wert auf Grund ihrer religiösen Kraft und Konsequenz. Uneingeschränktes Gottvertrauen legt hier seine Erfahrung aus, dass Gott in der Religion alles und der Mensch nichts ist. Es ging für Luther um den Kern seines Glaubens. „Die Liebe duldet alles, aber der Glaube ist wie das Auge, duldet kein Staubkorn.“551 Man versteht im Voraus, dass Erasmus in dieser Schrift hart angegangen, zum Teil karikiert wurde. In Grobheiten steht das Buch dem Durchschnitt von Luthers Produktion nicht nach. Es könnte so scheinen, sagt Luther, dass es überflüssig sei [284] zu antworten, da Erasmus in der Behauptung der menschlichen Freiheit weiter gegangen sei als die Sophisten, und da die großartigste Widerlegung in Melanchthons Loci bereits vorliege, einem Buch, das nicht nur der Unsterblichkeit würdig sei, sondern auch kanonischen Ansehens in der Kirche. Aber Luther empfindet es auch abgesehen von der Mahnung der Freunde als seine Pflicht, zu antworten. Vielleicht geruht Gott, Erasmus 550 [Schwedisch ein Wortspiel: «åt människans åtgörande och avgörande“.] 551 [Vermutlich handelt es sich um die Stelle aus Luthers Reihenpredigten über 1. Mose (1523/24), gedr. 1527, WA 24, 207,29–32: „‚Die liebe duldet alles‘ …, Sondern der glaube treget nichts, spricht also: Das die leute unvolkomen leben, da mag man gedult haben, Aber mit unrechter lere habe ich keine gedult …“ Das schöne Bild vom Staubkorn geht dann auf ­Söderbloms Rechnung.]

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durch sein geringes Werkzeug zu besuchen, so dass Luther seinem hochgeachteten Mitbruder zunutze sein kann. 552 In seinem Vorwort hatte Erasmus Luther wie schon früher getadelt wegen seines starrsinnigen Eifers zu behaupten, zu bejahen und zu versichern. Es gehört ja nicht zum Charakter eines Christen, keine Freude am Jawort und der Gewissheit zu haben; er soll im Gegenteil das „Ja“ lieben, sonst ist er kein Christ. Die kritische Haltung des Erasmus und sein Bedürfnis, die Frage offen zu halten, war für Luther sträfliche Skepsis. Denn zur Sache der Seligkeit gehörte für Luther vor allem Gewissheit. „Bei den Christen ist nichts bekannter und gefeierter als die gewisse Behauptung [assertio]. Hebe die gewissen Behauptungen auf, und du hast das Christentum aufgehoben. Denn der heilige Geist ist ihnen dazu vom Himmel gegeben, dass er Christus verherrliche und bis zum Tode bekenne, wenn anders dies eine Gewissheitsbehauptung ist, für das Bekenntnis und die gewisse Behauptung zu sterben.“553 „Welcher Christ würde sagen, Gewissheitsbehauptungen seien zu verachten? Das wäre nichts anderes, als die gesamte Religion und Frömmigkeit zu leugnen oder zu behaupten [asseruisse], die Religion oder die Frömmigkeit oder jegliches Dogma seien nichtig.“554 „Welcher Christ würde so [scil. wie ein Skeptiker] reden? Wenn du so etwas über unnütze oder unwesentliche Lehrsätze sagst, was bringst du dann Neues? Wer würde sich hier nicht das Recht skeptischer Aussage wünschen? Ja, welcher Christ macht nicht faktisch freien Gebrauch von diesem [285] Recht und verurteilt diejenigen, die in irgendeinem Satz gefangen und gebunden sind? Du ­[Erasmus] hältst doch wohl nicht alle Christen für solche, … die unnütze555 Lehrsätze haben, über die sie törichte Streitigkeiten ausfechten und mit Gewissheitsbehauptungen [assertiones] in den Kampf ziehen. Doch wenn du von notwendigen Sätzen sprichst, was könnte da jemand Gottloseres erklären ­(asserere), als sich das Recht zu wünschen, über solche Dinge nichts Gewisses zu behaupten (asserendi)? Der Christ wird vielmehr sagen: Ich bin über die Meinung des Skeptikers so wenig erfreut, dass ich, soweit es bei der Schwachheit des Fleisches irgend möglich ist, nicht nur der heiligen Schrift fest und in allen Teilen anhängen und ihrer gewiss sein will [assererem], sondern ich möchte auch der Dinge so gewiss wie möglich sein, die nicht notwendig sind und außerhalb der Schrift liegen. Denn was ist elender als Ungewissheit?“556 552 Vgl. De servo arbitrio (1525), WA 18 (600–787), 601 f. 553 WA 18, 603,28–31. [­Söderblom schreibt: „dass sie Christus verherrlichen und … bekennen“. Das gibt natürlich den Sinn wieder, steht aber so nicht im Text.] 554 A. a. O., 604,2–4. Söderblom Druckfehler: oriktiga (unrichtige) statt oviktiga 555 [Im Original bei ­ (unwichtige).] 556 A. a. O., 604,22–33.

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„… es hat für dich keinerlei Bedeutung, was irgendjemand hier oder da glaubt, wenn nur der Frieden der Welt gewahrt bleibt. Und wenn es um das Leben, den guten Ruf, Besitz oder Gunst geht, dann sei es erlaubt, es dem nachzutun, der sagte: ‚Man sagt Ja, so sage ich Ja; man sagt Nein, so sage ich Nein‘, und die christlichen Glaubenssätze um nichts höher zu achten als die Meinungen der Philosophen und der Menschen, um die sich zu zanken, zu streiten, gewisse Behauptungen aufzustellen [asserere] höchst töricht ist, da doch daraus nur Un­ einigkeit und Störung des äußeren Friedens resultiert.“

Erasmus habe damit gezeigt, dass er im Herzen dem Lukian oder einem anderen Schweinchen aus der Herde des Epikur huldige. 557 „Der heilige Geist ist kein Skeptiker, und er hat uns keine Zweifel oder Meinungen ins Herz geschrieben, sondern Überzeugungen (assertiones), die gewisser und fester sind als das Leben und alle Erfahrung.“558 „Kurz gesagt, wenn du die Streitfrage so behandelst, als ginge es zwischen dir und mir [bloß] um die Ersetzung einer Geldsumme oder eine andere leichtgewichtige Sache, deren Verlust um so viel weniger wert ist als jener äußere Frieden und deshalb niemanden so sehr aufregen dürfe, dass [286] er je nachdem zuschlägt, handelt, leidet, damit es nicht nötig ist, die Welt so in Unruhe zu versetzen. Damit zeigst du deutlich, dass dieser Frieden und die Ruhe des Fleisches dir weit wichtiger erscheinen als der Glaube, als das Gewissen, als das Heil, als das Wort Gottes, als die Ehre Christi, als Gott selbst. Darum sage ich dir und bitte dich, es dir zutiefst einzuprägen: Es geht mir in dieser Angelegenheit um eine ernste und notwendige und ewige Sache, die so geartet und so gewichtig ist, dass es nötig ist, sie sogar durch den Tod zu behaupten (assertam) und zu verteidigen, selbst wenn die ganze Welt nicht nur in Konflikt und Unruhe gerät, sondern sogar in ein einziges Chaos und völliges Nichts verwandelt wird. Wenn du dies nicht begreifst oder davon nicht berührt wirst, dann … lass es diejenigen begreifen und davon berührt werden, denen es Gott gegeben hat.“559

Sieht Erasmus die Sache nicht als notwendig für die Christen an, so möge er das Feld räumen. Dann haben sie nichts gemeinsam. „Wenn es, wie du sagst, irreligiös, indiskret und überflüssig zu wissen ist, … ob unser Wille etwas bewirke in dem, was zur ewigen Seligkeit gehört …, was ist dann nützlich zu wissen?“ Hier wird Luther so erregt, dass ein paar Worte in der Muttersprache mitten in dem in dieser Schrift mehr als gewöhnlich gepflegten Latein auftauchen: „Das ist zu viel.“560 Das übersteigt unsere 557 A. a. O., 605,15–29, das Zitat bis Zeile 20. [Das „Schweinchen“ (porcum) hat­ Söderblom leider ausgelassen.] 558 A. a. O., 605,32–34. 559 A. a. O., 625,6–18. 560 A. a. O., 609,22–610,5.

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Kraft – meint Erasmus. Doch wenn es um eine große Sache geht, fragt man nicht nach, sondern greift zu. Hier ist der Kern der Sache. „Es ist also nötig, eine scharfe Unterscheidung zu treffen zwischen der Kraft Gottes und der unseren, zwischen dem Werk Gottes und dem unseren, wenn wir ein frommes Leben führen wollen.“ „… alles, was wir tun, alles, was geschieht, auch wenn es uns veränderlich und kontingent zu geschehen scheint, geschieht in Wahrheit dennoch mit Notwendigkeit und unabänderlich, wenn du auf den Willen Gottes siehst.“ Auf dieser Notwendigkeit beruhen der rechte Glaube und Gottes Verheißung. „Denn das ist der einzige und höchste Trost der Christen in allen Widrigkeiten, zu wissen, dass Gott nicht lügt, sondern [287] unabänderlich alles wirkt …“561 Wer kann abwägen und das Urteil in Ruhe aufschieben, wenn es um so viel geht? Wer würde nicht die Ruhe vorziehen? Luther ist nicht von Stein. Nicht zum Vergnügen setzt er sich der Raserei der Menschen und der Teufel aus. Aber „diese Unruhe stillen zu wollen ist nichts anderes als das Wort Gottes aufzuheben und [an seiner Wirkung] zu hindern. Denn jedes Mal, wenn das Wort Gottes kommt, so kommt es, um die Welt zu verändern und zu erneuern.“562 Diese harte Lehre von der Notwendigkeit scheint auch für die Moral schädlich zu sein. Wer kümmert sich darum, sein Leben zu bessern, wenn alles vorherbestimmt ist? Luther trägt die Konsequenzen. Eine Besserung ohne den Geist ist Heuchelei, die Gott verwirft. Die Erwählten werden durch den Geist gebessert. Ebenso rücksichtslos wie Augustin zieht Luther die Linien zur doppelten Prädestination aus. Das ist nützlich, meint er, um unseren Hochmut zu demütigen, und für die Erkenntnis der Gnade Gottes. „Zutiefst demütig kann der Mensch nicht werden, bevor er weiß, dass sein Heil gänzlich außerhalb seiner Kräfte, Beschlüsse, Bemühungen, seines Willens, seiner Werke liegt, vielmehr völlig von dem Ermessen, Beschluss, Willen, Werk eines anderen, nämlich Gottes allein abhängt.“

In geringeren Fragen kann man vielleicht von der Freiheit des Menschen sprechen. Aber Gott gegenüber, in „den Dingen, die zur Seligkeit oder Verdammung gehören, hat er keinen freien Willen, sondern ist gefangen, unterworfen und Sklave, entweder unter dem Willen Gottes oder des­ Satans.“563 Das ist die Hauptsache. Luther geht sodann zum Text der Schrift des Erasmus selbst über, obgleich er im Grunde meint, dass bereits in der Vorrede alles gesagt sei. Es 561 A. a. O., 614,15 f; 615,31–33; 619,19 f. 562 A. a. O., 626,25–27. 563 A. a. O., 632. 683, die Zitate 632,30–32 und 638,9–11.

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besteht für uns kaum ein Grund, seine Behauptungen und Beweise zu verfolgen, abgesehen von bestimmten Hauptpunkten. Wenn es Klarheit zu gewinnen gilt, beruft man sich mit Recht auf das innere Sensorium des Glaubenden selbst, durch das jeder, der [288] vom Geist erleuchtet ist, alles mit Sicherheit beurteilt, nach dem Wort des Apostels, dass der geistliche Mensch alles beurteilt und von niemandem be­ urteilt wird [I Kor 2, 15]. Ein solches Urteil muss bei jedem Christen zu finden sein, kann aber niemandem sonst nützlich sein. Vielmehr müssen wir uns dem äußeren Urteil aussetzen, das vom Predigtamt durch das Wort ausgeübt wird.564 Der größere Teil der Abhandlung besteht dann aus einem reichlich kommentierten Schriftbeweis für die Verderbnis des Menschen, die Unfreiheit des Willens und die Schrankenlosigkeit von Recht und Macht Gottes. Der Widerspruch liegt am Tage. Wie kann Gott zum Beispiel sagen, er wolle nicht den Tod des Sünders, wenn er doch selbst diesen Tod bewirkt? Hier nimmt Luther seine Zuflucht zu der problematischen Unterscheidung innerhalb des Wesens Gottes selbst, zwischen einer Gottheit des Fatalismus und dem Gott der Offenbarung. Man muss auf die eine Weise von Gott oder Gottes Willen reden, der verkündigt wird, auf die andere Weise von dem nicht verkündigten und offenbarten Gott. Sofern Gott sich verbirgt und uns unbekannt sein will, geht uns das nichts an. „Man muss also Gott in seiner Majestät und seinem Wesen belassen, insofern haben wir nichts mit ihm zu tun, und er will auch nicht, dass wir insofern mit ihm zu tun haben. Aber insofern er in sein Wort gekleidet sich uns mitgeteilt hat, durch das er sich uns hingegeben hat, haben wir mit ihm zu tun …“

Es ist der verkündigte Gott, der den Tod beklagt, den er bei seinem Volk vorfindet und den er zu beseitigen sucht, indem er sein Wort zur Hilfe sendet. Doch insofern Gott in seiner Majestät fern ist, beklagt er weder den Tod des Sünders noch beseitigt er ihn, sondern bewirkt Leben und Tod und alles in allen.565 Luther greift hier zu einer Unterscheidung, auf die das religiöse Denken in verschiedenen Formen sich verwiesen gesehen hat. Aber er kann nicht so, wie es frühere und spätere Grübler über den Lauf der Welt und das Werk Gottes getan haben, das Unergründliche zu einer [289] dunklen Natur machen, gegen die Gottes Kampf um die Herrschaft und den Verkehr des Menschen mit ihm sich abhebt. Vielmehr bleibt der verborgene Gott bei Luther die höchste Instanz, vor welcher der Glaube sich in Zittern und Unterwerfung beugt. 564 Vgl. a. a. O., 653,13–27. 565 Vgl. a. a. O., 685,3–24; das Zitat Zeile 14–17.

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„… [die Majestät der göttlichen Macht und des göttlichen Willens,] gegen die wir kein Recht haben, sie aber hat gegen uns jegliches Recht, zu tun, was sie will. Und es geschieht uns kein Unrecht, weil sie uns nichts schuldet, nichts von uns angenommen, nichts verheißen hat, als was sie will und was ihr gefällt.“ „Hier ist also der Ort, … [die wahre Majestät] in der Furcht … ihrer unbegreiflichen Urteile [anzubeten und] zu sagen: Dein Wille geschehe. … Es erscheint ungerecht, grausam, unerträglich, so über Gott zu denken … Wer würde da nicht angefochten? Ich selbst war mehr als einmal angefochten bis hin in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung, so dass ich wünschte, niemals als Mensch geschaffen worden zu sein, ehe ich begriff, wie heilsam und wie nahe der Gnade jene Verzweiflung war.“566

Alles wird letztlich von dieser göttlichen Notwendigkeit gelenkt. Aber wir können den Ausgang nicht wissen. „Die Notwendigkeit jagt uns die Furcht Gottes ein, damit wir nicht anmaßend und sicher werden. Die Ungewissheit jedoch gebiert das Gottvertrauen, damit wir nicht verzweifeln.“567 Mit Paulus im elften Kapitel des Römerbriefs versinkt Luther in Bewunderung und Anbetung vor der Unergründlichkeit der Wege Gottes. Es wäre töricht von dem kleinen menschlichen Verstand, sie bemeistern zu wollen. In der Herrlichkeit werden wir einsehen, dass Gott gerecht war. Denn es gibt drei Lichter: das Licht der Natur, das Licht der Gnade und das Licht der Herrlichkeit. Im Licht der Natur ist es ein unlösbares Rätsel, dass der Gute leiden muss und der Böse es gut hat. Im Licht der Gnade ist es unerklärlich, wie Gott den verdammen kann, der aus eigener Kraft nichts anderes tun kann als [290] zu sündigen und schuldig zu werden. Das Licht der Herrlichkeit zeigt etwas anderes. Zu einem billigeren Preis als dem der doppelten Prädestination konnte Luther seine zwiefältige Überzeugung nicht erkaufen, dass der Mensch von sich aus nichts vermag und dass er seines Heils gewiss sein kann und soll. Daran, wie Luther sich mit dem Räsonnement über Vorauswissen und Vorausbestimmung Gottes herumschlägt, merkt man, dass es ihm nicht um eine [intellektuelle] Klärung geht, sondern um eine leidenschaftliche Verteidigung dessen, was er für eine unentbehrliche religiöse Gewissheit hielt. Der Gesichtspunkt ist weder ethisch noch theoretisch, sondern durch und durch religiös. Die Schwierigkeit besteht für ihn daher nicht darin, dass der Mensch seiner Wahlfreiheit, seiner Verantwortung und seines Selbstbestimmungsrechts beraubt wird, sondern darin, dass Gottes Gnade und 566 A. a. O., 717,35–39; 718,1–3; 719,7–12 [Die Worte in eckigen Klammern sind gegen­über ­Söderblom aus dem Text Luthers ergänzt.]. 567 A. a. O., 747,5–7.

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Allmacht miteinander in Konflikt geraten. Deshalb verlegt er das Problem in das Wesen Gottes selbst. Wir haben es mit Gottes Gnade zu tun und sollen uns an sie halten. Was Gott in seinem verborgenen Wesen verrichtet, darüber sollen wir in dieser Zeitlichkeit nicht grübeln. Die Frage von Notwendigkeit und Freiheit interessiert Luther wie alle anderen Großen der Religion nur insofern, als er die reale Freiheit besitzen und behaupten will, die menschlicher Wahl oder Willkür keinen Raum lässt – wenngleich der Mensch in weltlichen Angelegenheiten frei ist, zu tun und zu lassen, was er für richtig hält –, vielmehr den Menschen zu seiner Seligkeit ohne jeglichen Vorbehalt an Gott bindet. Nichts vermag einen Menschen frei zu machen als die vollkommene Abhängigkeit von Gott. 568 Glaube er, dass er sein eigen sei, so ist der er der verlorene und verdammte Sklave von Sünde, Tod und Teufel. Jedes Zaudern und jede Wahlfreiheit ist eine versteckte Niederlage vor der Macht des Bösen. Allein der ist von der Sklaverei erlöst und frei, der sich im Vertauen auf die Gnade Gottes von seiner ewigen Erwählung umschlossen weiß. Denn bei Gott ist nichts zufällig, und keinen Wechsel gibt es bei ihm. Der Glaube muss seiner Gewissheit deshalb einen [291] unendlichen, des Wesens Gottes würdigen Hintergrund in einer ewigen Vorausbestimmung geben. Man lasse diese unfruchtbare und Schwindel erregende, neuzeitlichem Denken fremde Diskussion über Gottes Vorauswissen und Gottes Vorherbestimmung beiseite als menschliche Vorstellungen, die auf naive Weise auf das Wesen des Unendlichen übertragen worden sind, so wird Luthers Schrift zu einem mächtigen, durch die Männer der biblischen Offenbarung bestätigten Bekenntnis der Kraft und Gewissheit des armen, schuldbelasteten und machtlosen Menschen, wenn Gott durch Christus alles für ihn ist. In Wahrheit hält Luthers Abhandlung also die Sache der wirklichen Freiheit hoch, das heißt die souveräne Geltung der uneingeschränkten Gottesherrschaft. Wer war der freie Mensch: war es der, welcher in Worms einsam einer Welt gegenübergestanden hatte, in seinem Gewissen an Gottes Wort gebunden, durch seine Berufung genötigt ohne die Möglichkeit, zurückzugehen, ohne Wahl vom Willen Gottes ergriffen, oder der feine Humanist, der sich vor allem nicht an eine Lebensstellung oder an eine kühne Position binden, sondern mehrere Optionen offen haben wollte? Oder gehen wir einige Jahre weiter, von den durch Luther erzwungenen Streitschriften des Erasmus zu den klassischen Verteidigern der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, gegen Paulus und Augustin und Pascal, nämlich den Jesuiten. Wer hat den Grund gelegt für die Freiheit der

568 Vgl. Arvid Runestam, Den kristliga friheten hos Luther och Melanchton, Stockholm 1917.

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modernen Zeit und die Selbstständigkeit des Gewissensmenschen und damit für einen neuen Menschentypus von innerer Kraft und Klarheit, die Jesuiten, Apologeten der Wahlfreiheit und Kasuistiker der Moral, oder Martin Luther und der größte seiner Schüler, der Franzose Calvin, geistlicher Vater der Selbstbestimmung der Hugenotten, der Puritaner, der Niederländer und Nordamerikaner? In seinem Schlussappell zeigt Luther mit rührender Offenheit den Unterschied der beiden Männer auf. Für Luther ging es um den Kernpunkt. „… ich lobe und preise nachdrücklich an dir, dass du allein vor allen anderen dieses Thema in Angriff genommen hast, das heißt den Hauptpunkt der Streitfrage, und mich nicht mit jenen gleichgültigen Fragen des Papsttums, des Fegefeuers, der Ablässe und ähnlichen eher Quisquilien als Sachfragen ermüdest, mit [292] denen mich bísher alle vergeblich gehetzt haben. Du hast als einziger den Kernpunkt der Dinge erkannt …“569

Luther, der in unfreiwilliger Ungerechtigkeit andere nach sich selbst beurteilte, bittet zuletzt darum, dass Erasmus seinem Versprechen gemäß sich überzeugen lassen möge, wenn er besser unterrichtet wird. „Ich gestehe, du bist groß und von Gott mit vielen hervorragenden Gaben ausgestattet – um von anderem zu schweigen: mit Genie, Gelehrsamkeit, Sprachgewandtheit, die an ein Wunder grenzt. Ich dagegen habe und bin nichts, außer dass ich mich beinahe rühme, ein Christ zu sein.“ „… kannst du die Frage nicht anders behandeln, als du sie in dieser Diatribe behandelt hast, so wünsche ich sehr, dass du, zufrieden mit deinen Gaben, das Studium der Literatur und der Sprachen, wie du es bisher sehr erfolgreich und ruhmvoll getan hast, pflegst, zierst, förderst, wodurch du auch mir nicht wenig geholfen hast, wie ich denn gestehe, dir viel Dank zu schulden. In dieser Hinsicht verehre und bewundere ich dich aufrichtig. Aber Gott hat dir noch nicht verleihen wollen, unserer Sache gewachsen zu sein. Ich bitte dich, in dieser Aussage keine Anmaßung sehen zu wollen.“570

Wer wie Erasmus schreibt, dass er in dieser Angelegenheit keine gewisse Behauptung aufstellt, sondern lediglich eine [Material] zusammenträgt, sieht der Sache nicht auf den Grund und versteht sie nicht recht. „Ich dagegen habe mit meinem Buch nicht zusammengetragen, sondern [mit Gewissheit] behauptet und behaupte weiterhin, und ich will niemandes Urteil haben, sondern fordere jedermann auf, Gehorsam zu leisten“ und sich zu unterwerfen.571 569 A. a. O., 786,26–30. 570 A. a. O., 786,23–26; 786,35–41. 571 Vgl. a. a. O., 787,10–14, Zitat ab Zeile 11. Hervorhebung von Luther.

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So fremd war Luther die nachdenkliche und kritische Sinnesart des Erasmus. Stieß sich Erasmus an Luthers ungezügeltem Aufbrausen, so konnte Luther nichts anfangen mit der Ausgeglichenheit des anderen. Auf der einen Seite Sarkasmus und Harmonie, bei Luther Humor und Melancholie. [293] Der Kontrast zwischen den beiden war äußerlich so schlagend wie möglich. Erasmus zart und zerbrechlich572 , extrem sensibel für alle Veränderungen, pedantisch mit der Ernährung. An Wein vertrug er lediglich Burgunder; in einem Brief an Budé – bevor dieser Franzose einen Pik auf den Holländer und Germanen hatte – sagt Erasmus scherzend, dass diese Vorliebe für Burgunder für ihn im Grunde dasjenige war, was es ihm so schwer machte, die Einladung des französischen Königs abzulehnen. 573 Luther robust, urkräftig. Erasmus literarisch, Luther heilshungrig. Es fiel Erasmus leichter als­ Luther, die innere Ruhe zu bewahren. Doch Gift verspritzte er öffentlich und privat über Luther. Mit seiner Unfähigkeit, abzuwägen und auszugleichen, wurde Luther noch ungerechter gegen Erasmus als umgekehrt. Im Jahr 1529 musste Erasmus sich in einem Brief Luthers an Wenzeslaus Link in Nürnberg, wahrscheinlich wegen seiner Schrift „Wider einige, die sich fälschlich rühmen, Evangelische zu sein“ einen Atheisten, Lukian und Epikur nennen lassen.574 Sein Bestreben, es allen recht zu machen, würde keinen Erfolg haben, meint Luther, sondern ihn zwischen zwei Stühle platzieren. Erasmus ist leichtfertig, belächelt alle Religionen, schreibt nichts mit Ernst. Bei Tisch fielen scharfe Worte über den „verschlagenen“ und „bubenhaften“ (= gaunerischen] Erasmus. Früher „hat er das Papsttum gereizt und widerlegt, nu zeucht ers heupt aus der schlingen.“575 Es macht einen peinlichen Eindruck, wenn Luther meinte, in einem Brief an seinen zehn­ jährigen Sohn Hans, der damals im Lateinunterricht bestimmte Schriften des Erasmus für die Jugend benutzte, Erasmus als einen „Feind aller Religionen und Widersacher Christi“ bezeichnen zu müssen. 576 In einem ver572 [Im Original Alliteration: späd och spröd.] 573 [Ich habe diesen Brief in der mir zur Verfügung stehenden Ausgabe nicht gefunden. D. Hg.] 574 [Vgl. Brief an Wenzeslaus Link vom 17.3.1529, Nr. 1388, WA.B 5, 28,11. Zu dem nach de Wette vermuteten Bezug auf die o. g. Schrift des Erasmus schreibt der Hg. des Briefbandes: „Unmöglich!“ Denn das Vorwort des Erasmus zu Contra quosdam qui se falso iactant Evangelicos, epistola ist auf den 3.12.1529 datiert.] 575 [WA.TR 2, 459,7 f. Die ersten Worte lat.: „irritavit et confutavit papatum“. In Zeile 2 bescheinigt er dem Erasmus „calliditatem“, Verschlagenheit, und WA.TR 2, 145,25 f (Nr.  1597) nennt er ihn „ein bub in der hautt“.] 576 [Hier irrt ­Söderblom. Er hat der Datierung durch den Hg. der von ihm benutzten Briefauswahl, E. L. Enders, vertraut, der dieses Stück in Bd. 9, 386 (Nr. 2139) als

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öffentlichten Brief an Amsdorf ließ Luther im Jahre 1534 seinem Unwillen in höchst unverblümten Anklagen und Schimpfworten freien Lauf. 577 Man wundert sich nicht darüber, dass Melanchthon seine Traurigkeit über die Streitereien der beiden alternden Großen zum Ausdruck brachte. Es fiel Erasmus nicht schwer, die offensichtlichen Unrichtigkeiten in Luthers Schmähbrief aufzuweisen, die er [294] zu Recht „nicht nüchtern“ nennt.578 Luthers spätere Urteile sind Zeugnisse einer ärger gewordenen Verstockung gegen jeglichen Versuch, den Größten unter seinen Zeitgenossen zu verstehen. Man kann nur traurig feststellen, dass der Reformator sich über den tatsächlichen Tod des Erzhumanisten nicht viel anders äußerte, als es die Dominikaner viele Jahre zuvor anlässlich eines falschen Gerüchts über seinen eigenen Tod getan hatten, dass er gestorben sei „ohne Erleuchtung, ohne Kreuz, ohne Gott.“579 Wie sehr die Zeit mit einem Reformwirken des Erasmus in der Kirche gerechnet hatte, zeigt am besten die Aufforderung Albrecht Dürers, als er 1521, nach Worms, glaubte, dass Luthers Sache am Ende sei. „O, Erasmus von Rotterdam, wo willst du bleiben? Sieh, was vermag die ungerechte Tyrannei der weltlichen Gewalt, der Macht der Finsternis? Höre, du Ritter Christi! reite hervor nebst dem Herrn, beschütze die Wahrheit, erlange der Märtyrer Krone! Du bist doch ohnedies ein altes Männchen. Ich habe von dir gehört, dass du dir selbst nur noch zwei Jahre zugegeben habest, die du noch taugest, etwas zu thun. Lege dieselben wohl an, dem Evangelium und dem wahren christlichen Glauben zu Gute, und lass dich denn hören! Dann werden, wie Christus sagt, der Hölle Pforten – der römische Stuhl – nichts wider dich vermögen.“580 „Niederschrift für seinen Sohn Johannes“ mit der Jahreszahl 1533 (da war Hans Luther 7, nicht 10 Jahre alt) präsentiert. Der Hg. von WA.B 6 (1935, also nach­ Söderbloms Tod) zeigt auf S. 535 (Nachbericht zu einem Brief Luthers an Amsdorf aus dem Jahr 1533, Nr. 2076), dass Enders zu Unrecht der Argumentation de Wettes gegen diese Datierung nicht gefolgt ist: „So von aller Pädagogik verlassen war Luther nicht!“ Er weist dafür auf die Titelrückseite der Terenz-Ausgabe des Erasmus von 1543 (!) hin, die Luther seinem Sohn mit den Worten über Erasmus gewidmet hat: „Hostes omnium religionum … inimicus singularis Christi“ (Feind aller Religionen und besonderer Gegner Christi). Hans Luther war zu dieser Zeit 17 Jahre alt.] 577 [Vgl. Brief an Amsdorf ca. 11.3.1534, Nr. 2093, WA.B 7, 28–39.] 578 [Vgl. Desiderius Erasmus, Purgatio ad epistolam non sobriam M. Lutheri, in: ders., Opera omnia IX/1, Amsterdam / Oxford 1982, 443–483.] 579 [„sine lux, sine crux, sine Deus“: Vgl. Des. Erasmus, Brief an Johannes Schlechta vom 23.4.1519, Nr. 950, in: ders., Opus epistolarum, Bd. 3, Oxford 1913 ­(551–553), 552,26–29.] 580 Dürers Briefe, Tagebücher und Reime, hg. v. M. Thausing, 1872 (hier: Niederländische Reise), 119–122. [Von ­Söderblom teilweise etwas freier, aber in der Sache zutreffend wiedergegeben.]

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Solche Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Dem Humanismus fehlte eine schöpferische religiöse Erfahrung. Er vermochte es nicht, die Offenbarung weiterzuführen. Seine Frömmigkeit trägt durchgängig das Gepräge des Mittelalters, auch insofern, als sie nicht geistliche Freiheit gegen die Observanz setzte, sondern [nur] ein gewisses Maß an Negation. 581 Luther übertrieb erheblich, wenn er sagte: „Ohne die Reformation wäre alle Religion untergegangen, und die Christen wären zu Epikuräern geworden.“582 Aber so viel ist wahr, dass der italienische Humanismus bedenkliche Symptome zeigte. So hat man nicht ohne Grund einen erheblichen Teil der Humanisten eines Mangels an Mut geziehen, sowohl physisch als auch sittlich. Nikolaus V. zog während der Pest fort. Platina und Pomponius verrieten ihre Überzeugung im Gefängnis. Valla war bereit zu verehren, was er verhöhnt hatte. 583 [295] Nördlich der Alpen herrschte ein strengerer und ernsthafterer Geist. Erasmus waren die Charakterlosigkeit der italienischen Humanisten und ihr Kokettieren mit dem Heidentum der Antike fremd. Aber Erasmus hat eine unglückliche Stellung, insofern er zum Vergleich mit einem der Heroen des sittlichen Mutes in der Geschichte einlädt. Die Lossagungen des Erasmus halfen nichts. Mönche und andere Obskuranten fuhren mit der gewöhnlichen, aus allen Zeiten und aus jeglicher Art von Orthodoxie in Religion, Philosophie und Politik bekannten Methode fort, auf missliebige Widersacher in offener Unwissenheit oder mit Berechnung ohne weiteres die gängigsten und gefürchtetsten Ketzernamen der Zeit anzuwenden, in diesem Fall Lutheraner. Er galt fortan als „Bannerträger und Anführer der Lutheraner“. An seiner Brust hatte Luther sein Gift gesogen – was nicht ganz unberechtigt war. Er hatte das Ei gelegt, das Luther ausbrütete. Was viele unter den Zeitgenossen und in der Nachwelt als Abfall von früheren Lehren und Richtungen deuteten, hieß für Erasmus in Wirklichkeit lediglich, dass er seine eigene Bahn verfolgte. Zwar hatte er an verschiedenen Punkten seine Meinung geändert. So wurde die Priesterehe, die er früher als Heilmittel gegen Unkeuschheit und Heuchelei empfohlen 581 Vgl. Heinrich Hermelink, Die religiösen Reformbestrebungen des deutschen Humanismus, Tübingen 1907, 43–46. 582 [Freie Wiedergabe. Wörtlich: „… wo des Luthers lere nicht drein komen were, … [were] on zweifel die gantze religion gefallen vnd lauter Epicurer worden aus den Christen.“ Luther und Melanchthon, Bedenken auf den Tag zu Nürnberg, Dez. 1529, Nr. 4235 (=1512a), WA.B 12 (107–109), 107,16 f. 23 f.] Vgl. Hans Preuss, Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik, Leipzig 1906, 75. 583 Vgl. Casimir von Chledowski, Rom. Die Menschen der Renaissance, aus dem Polnischen v. R. Schapire, München 1912, 91–114.

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hatte, später von ihm verhöhnt. Gleichzeitig schrieb er ansprechend über die geistige Vereinigung im Ehestand, der jedoch am heiligsten sei, wenn er jungfräulich sei.584 Doch Erasmus blieb im Wesentlichen sein Leben lang sich selbst und den biblischen Reformen treu. Im selben Jahr 1525, in dem Luthers De sevo arbitrio herauskam, veröffentlichte er seinen Traktat über die Beichte, eine scharfe Abrechnung mit ihrem Elend. Es liege eine Gefahr darin, dass junge Priester in der Beichte hässliche Dinge hören, die sie zu den gleichen Lüsten aufstacheln. Diese Pest breite sich dadurch aus, dass die Beichtväter anderen erzählen, was sie in der Beichte gehört haben. Unter den neun Ärgernissen der Beichte wird die Unzucht mit Nonnen erwähnt. Man soll, wenn man eine Verfehlung [296] begangen hat, nicht sogleich zum Priester laufen, sondern sich an Gott wenden. In Übereinstimmung mit Luther lehnte Erasmus die Angst vor Strafe als Motiv zur Besserung ab und erkannte allein die Liebe zum Guten [als Motiv] an.585 Noch im Jahre 1529 verteidigte Erasmus, wenngleich sehr vorsichtig, den Satz, dass man Ketzer nicht töten solle, doch eigentlich ergriff er das Wort, um sich gegen die Anklage zu verteidigen, einen so bedenklichen Satz zu verfechten.586 Man denkt an Luthers evangelischen Radikalismus, dass geistliche Dinge allein mit dem Wort behandelt und bekämpft werden sollen. Man wird daran erinnert, dass sich unter den Sätzen, für die L ­ uther 1520 als Ketzer verurteilt wurde, dieser befand: „Ketzer zu verbrennen ist gegen den [Willen des] heiligen Geist[es].“587 Indessen sah Erasmus in der Ketzerei einen besonderen Anlass für die Reform der Kirche. Gott zürnt den Hirten, weil sie seine Herde vernachlässigen. Deshalb schickt er Wölfe, die Ketzer. Gott zürnt über die Faulheit, den Prunk, den Hochmut, die Lasterhaftigkeit der Priester. Dasselbe gilt für die Mönche und alle Kleriker. Wer hat aus der Heimsuchung Besserung gelernt? „Wer hat seine Konkubine fortgeschickt? Wer verwandelt Wohlleben in Fasten? … Wer … holt all seinen Trost aus den heiligen Schriften? Wer verwirft die Heuchelei der Mönche und ergreift von ganzem Herzen die wahre Frömmigkeit?“ 584 [Vgl. Erasmus, Encomium matrimonii (1518), in: ders., Opera omnia I/5, Amsterdam / Oxford 1975, 385–416; ders., Christiani matrimonii institutio (1526), in: Opera omnia, Bd. 5, Nachdruck Hildesheim 1962, 614–724, bes. 634–636.] 585 Vgl. Des. Erasmus, Exomologesis sive modus confitendi, in: ders., Opera omnia, Bd. 5, Nachdruck Hildesheim 1962, 145–170. Die neun „mala“ der Beichte: 153–160. 586 [Des. Erasmus, Epistola contra quosdam … a. a. O. (wie Anm. 532), 1575–1577. Dort heißt es: „Wenn Paulus heute lebte“.] 587 [M. Luther, Assertio omnium articulorum per Bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520), WA 7 (94–151), 139,14 (Art. 33): „Haereticos comburi est contra voluntatem spiritus.“]

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„Wenn wir doch alle unsere Sünden bekennten und bußfertig unsere Zuflucht bei der Barmherzigkeit des Herrn fänden! Er ist nicht taub, glaube mir, oder Bitten unzugänglich.“588

Ebenso wie Luther sprach Erasmus vom Verfall des Kirchengesangs und ereiferte sich gegen das Übermaß von geschmacklosen Bildern, wollte jedoch ebenso wenig wie Luther die Bilder ausrotten. Ebenso wenig wie­ Luther duldete er den Aberglauben mit der Menge unterschiedlicher Arten der Messe, die angeblich besondere Wunderkraft besaßen, wie die Messe für die Dornenkrone, für die drei Nägel, für die Vorhaut Christi usw. Den Heiligenkult wollte er nach wie vor als abergläubisch einschränken. Es nimmt sich aus wie ein Anklang [297] an das allgemeine Priestertum, wenn er schreibt: „Diejenigen, welche die Mönche religiosi nennen, tun das nach menschlicher Weise, indem sie ihnen zuschreiben, was sie selbst sein sollten und vielleicht auch sind.“589 Religiös ist dasselbe wie fromm und heilig. Die Laien sind ebenso religiös wie Mönche und Nonnen. Über die Freiheit des Willens gibt es in Erasmus’ Auslegung des 84. Psalms einen Passus über die Eintracht der Kirche, der Luther entwaffnet hätte, wenn er von Gottes persönlicher Barmherzigkeit gehandelt hätte und nicht von der Sakramentsgnade. „Es ist eher spitzfindig als fruchtbar, über die Freiheit des Willens zu dispu­ tieren. Es genügt uns, darüber einig zu sein, dass der Mensch nichts aus eigener Kraft vermag, und wenn er in irgendeiner Sache etwas vermag, so hat er der Gnade dafür zu danken, durch deren Gabe wir sind, was immer wir sind, so dass wir in allem unsere eigene Schwachheit erkennen und die Barmherzigkeit des Herrn preisen.“590

Doch Erasmus wandte sich mit seinem reformierten Bibelglauben an ein gelehrtes und aristokratisches Publikum. Luther sprach und schrieb so, dass es von allen Gesellschaftsschichten verstanden werden konnte, entsprechend dem bekannten selbstbewussten Ausspruch in seinem Testament vom Jahr 1542, dass „D. Martinus Luther[s] … GottesNotarius vnd zeüge ist ynn seinem Eüangelio“, keinen Juristen oder Notar brauche,

588 [Des. Erasmus, Epistola contra quosdam, a. a. O. (wie Anm. 532), 1584 f.] 589 [Dieses Zitat habe ich nicht gefunden. Vgl. jedoch die Stelle aus den Colloquia familaria, wo es heißt, dass der Name religiosi allen denen zustehe, welche die Gebote Christi befolgen: Opera omnia, Bd. 1, Leiden 1703, 630–890, Hildesheim 1961, 700.] 590 [Diese Worte finden sich so nicht in Concionalis interpretatio de Psalmo LXXXV [84], Opera omnia V/3, 1986, 330–427. Sie geben aber der Sache nach den Inhalt der Seiten 338–348 wieder.]

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weil er „beide ym himel, aüff erden, auch ynn der Helle bekand …“ sei. 591 Heute, nach vierhundert Jahren, findet man auch unter den Liebhabern der Literatur und anderen Aristokraten mindestens ebenso viel Verständnis für Luther wie für Erasmus. Beide leben durch die Jahrhunderte hindurch fort. Die Kirche hat Raum sowohl für erasmischen als auch für lutherischen Geist, sowohl für humanistische als auch für paulinische Frömmigkeit. Doch die Geschichte zeigt, dass Luther, nicht Erasmus zum Schöpfer der neuen Zeit geworden ist. Über den Humanismus und Luther sagt ein Denker und Kulturkritiker der Gegenwart: „Selbst seine angebliche Enge bringen [298] wir jetzt in Zusammenhang mit der ihm eigenen charakterlichen Tiefe und Zielstebigkeit; für beide pflegt ja kraftvolle Konzentation kennzeichnend zu sein. Nur ein fehlgeleiteter, kurzlebiger Ästhetizismus konnte noch in den 1870er Jahren die behauptete Enge Luthers als bedauerliche menschliche Beschränktheit deuten. Heute urteilen wir auch vom ästhetischen Standpunkt ganz anders, sagen in aller Ruhe, allein im Blick auf Luthers Stil: für das persönlich Kraftvolle, dabei zugleich tief Wirklichkeitsgesättigte imd ideell Erhebende dieses Stils geben wir leichten Herzens all die glatte Eloquenz und pseudoklassische Verskunst preis, die nach dem Vorurteil der alten Humanisten lange Zeit als Triumph des Ingeniums und höchstes Zeichen der Bildung galt.“592

591 Vgl. Luthers Testament, 6.1.1542, WA.B 9 (572–574), 574,71 f; 573,56–62. 592 So Waldemar Ruin [nicht zu verwechseln mit W. Rudin, bei dem S­ öderblom einst studierte] in seiner tiefsinnigen Rede beim Reformationsfest in Helsinki am 31. Oktober 1917. [Die Rede steht in einer finnischen Zeitschrift S. 19–24, das Zitat S. 20; um welche Zeitschrift es sich handelt, hat Staffan Runestam, der freundlicherweise ausgedehnte Nachforschungen angestellt hat, nicht feststellen können.]

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[299] IX Die Gewissheit [301] Erkenne dich selbst, γνῶθι σεαυτὀν! Wir haben die Worte von Sokrates gehört, aber gebrauchen sie in anderem Sinne als er. Sie bedeuten für uns eine Mahnung, in uns selbst Einkehr zu halten und uns selbst zu prüfen. Solche Aufmerksamkeit auf die Seele im Allgemeinen und die eigene Seele im Besonderen, solches Nach-innenGerichtetsein, solcher Subjektivismus traten in die Kultur des Abendlandes teils durch den Hellenismus, teils und vor allem durch das Christentum samt seinen Voraussetzungen bei Propheten und Psalmisten ein. Sokrates meinte mit der Mahnung „Erkenne dich selbst!“ eine kluge Untersuchung darüber, wozu der eine und der andere Mensch taugt oder nicht taugt. Aber in dem Tempel in Delphi, wo Sokrates die Worte gelesen hatte, hatten sie eine andere, noch ältere Bedeutung. Erkenne dich selbst, wisse, dass du nur ein Mensch bist, überschreite nicht menschliches Maß, hüte dich vor Übermut, vor der Hybris! Die klassische griechische Frömmigkeit kannte keine schlimmere Sünde als die Hybris. Übermut, Anmaßung, Sicherheit sind für diese Auffassung die eigentliche Sünde des Menschen. Hybris besteht darin, dass der Mensch mehr sein will oder tatsächlich mehr ist, als er seiner Bestimmung nach sein darf. Hybris ist schlimmer als alle anderen Verfehlungen und Verbrechen. Denn in diesen vergeht sich der Mensch nur gegen Menschen, gegen einzelne Mitmenschen oder gegen [302] die menschliche Gesellschaft, aber die Hybris sündigt gegen die Götter. Diese hellenischen Götter wachten eifersüchtig darüber, dass kein Sterblicher die engen Grenzen des armen menschlichen Daseins überschreiten könne. Keiner darf zu glücklich, zu sehr gepriesen, zu mächtig, zu strahlend froh und zuversichtlich, zu böse – ja zu gut werden, keiner darf allzu vollkommen werden. Der Neid der Götter lauert und steckt unerbittlich demjenigen Menschenleben ein Ziel, das den Bereich des Menschlichen zu überschreiten und in die Sphäre des Göttlichen zu geraten droht. Ein Mensch trotzte allen Schranken und wurde geradezu als Gottheit verehrt, Alexander. Deshalb wurde er jäh in der Blüte seiner Jahre dahingerafft. Wir wissen, welche Bedeutung dieser Neid der Götter im antiken Drama und in der griechischen Lebensauffassung hat. – 269 –

Aber die Furcht vor den Mächten und deren Missgunst ist keineswegs auf das alte Hellas beschränkt. Sie findet sich bei allen primitiven Stämmen. Die Geister sind launisch und auf ihre Macht bedacht. Da heißt es vorsichtig sein. Jeden Augenblick muss man sich in Acht nehmen. Ein großer Teil der kultischen Bräuche dient dem Zweck, die Mächte einigermaßen zufrieden zu halten. Hat ein Mann einen guten Fang gemacht oder sonst Erfolg gehabt, so ist es doppelt wichtig, sich mit den Mächten gut zu stellen. Sonst benutzen sie die Gelegenheit, wenn man es am wenigsten ahnt, einem einen bösen Streich zu spielen. Dasselbe primitive Gefühl finden wir auf den Höhen der Kultur bei feinsinnig angelegten, ja wunderbar ausgestatteten Köpfen wieder. Man nehme den Russen Dostojewskij oder den Schweden August Strindberg. Wie litt doch der Letztere unter der Angst vor dem wachsamen Neid der Mächte. Oder man denke an Carl von Linnés Altersaufzeichnungen über die Nemesis divina. Levertin hat sie mit der Auffassung der Antike ver­ glichen.593 Das ist, wie wir sehen, durchaus berechtigt. Aber wir haben es hier nicht mit irgendeiner historischen und psychologischen Kuriosität zu tun, sondern mit einer Geistesverfassung, die man vielleicht universal nennen kann. In Linnés klarer, zuversichtlicher [303] Seele erhebt sie ihr Haupt in seinen handschriftlichen Beobachtungen über die lauernde Vergeltung, aber auch in seiner Besorgnis, etwas über eine wichtige botanische Sendung durchsickern zu lassen, die unterwegs war. Sie könnte der Gegenstand gefährlicher Aufmerksamkeit und des Neides werden. Wir glauben wunderliche Gespenster zu sehen, sie tauchen auf aus einer Unterwelt, die niemand bei einem so hellen und harmonischen Geist ahnen kann. Der Mensch ist wunderlich zusammengesetzt. Das Irrationale fordert sein Recht auf verschiedene Weise. Eine heimliche oder eingestandene Furcht vor gewissen unberechenbaren Rückschlägen und Missgeschicken, die auf einer Art unerklärlicher Missgunst gegen den Erfolg eines Menschen beruhen, kann auftreten, wo man ihn am wenigsten erahnt, und ihn zu gewissen eigentümlichen, wir können ruhig sagen, abergläubischen Maßnahmen veranlassen, obgleich seine Anschauungen im übrigen gänz593 [Linnés Aufzeichnungen über Nemesis divina waren eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Der Text kam zuerst auszugsweise durch Elias Fries’ Dissertation Carl von Linnés Nemesis divina 1848 ans Licht; die erste vollständige Edition erfolgte 1968 (dt. Fassung v. R. Volz 1983). Trotzdem ist diese Seite des berühmten Biologen bis heute wenig bekannt. Die oben genannten Ausführungen von Oscar von Levertin finden sich in dessen Arbeit Carl von Linné, in: ders. Samlade skrifter, Bd. 12, ³1907 (65–106), 94–106. Vgl. auch Wolf­ Lepenies, Linnaeus’ Nemesis Divina and the Concept of Divine Retaliation, in: Isis 73/1982, 11–27.]

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lich rationalistisch sind. Voltaire war nicht der einzige Abergläubische unter den Heroen des Kulturradikalismus. Es sind vor allem tiefe und gefühlvolle Seelen, die neben klarer, inniger Frömmigkeit Raum für solche Angst haben. In jedem beliebigen Herzen können solche lichtscheuen Blüten sprießen, wenn es schlaff wird. Wage ich es, mich völlig glücklich zu fühlen? Nein, dann wird der Neid geweckt, eine Art kosmischer Bosheit, die mir mein Glück nicht gönnt. Sei vorsichtig, gestehe wenigstens dein Glück dir selbst und anderen nicht ein. „Unberufen, unberufen“594, klopfe wenigstens auf den Tisch. Gib dich nicht zu sicher. Hochmut kommt vor dem Fall. Die Originalität der hellenischen Frömmigkeit lag nicht in ihrer Hybrisfurcht. Die findet sich in allen Zeiten und Kulturen. Sondern in dem positiven Ideal, das durch sie geschaffen wurde. Die Griechen begnügten sich nicht damit, zu warnen: γνῶθι σεαυτὀν, erkenne dich selbst, bedenke dein menschliches Maß, werde nicht zu mächtig, zu glücklich, zu sicher; halte dich innerhalb des engen Kreises, den die Götter dir gönnen. Vielmehr stellte man in männlicher Resignation ein Ideal [304] des Gleichmaßes und der Harmonie für dieses eng umschriebene Menschenleben auf, das die hohe Aufgabe der Lebenskunst bildete. Hand in Hand mit der Hybrisfurcht geht die Reaktion gegen sie. Auf zweierlei Weise sucht die höhere Religion sich von der Hybrisfurcht zu befreien. Die Mystik überbietet sie. Das Gottesvertrauen überwindet sie. Am deutlichsten ist der Gegensatz zwischen der Hybrisfurcht und der Mystik im alten Griechenland. Unter den Namen von Orpheus, Dionysos u. a. brach eine Mystik hervor, die keine Grenzen achtete, sondern der Religion das Ziel setzte, im Göttlichen aufzugehen, in formlosen, wilden, geheimnisvollen göttlichen Wesen, so ungleich wie möglich der wohlgeordneten Schar der vergöttlichten plastischen Menschengestalten des Olymp. Die Regel der klassischen olympischen Frömmigkeit lautete: Werde nicht den Göttern gleich. Jetzt hieß es: Werde selbst Gott. Die Mystik überbietet die Hybrisfurcht, aber sie stürzt leicht von ihrer schwindelnden Höhe herab. Einer Religion, der biblischen samt ihrem Ableger, dem Islam, ist die Furcht vor dem Neid der Mächte fremd. Denn der Jahwe des Mose und der Propheten duldete keine anderen Mächte neben sich. Den Menschen gegenüber ist seine Überlegenheit so selbstverständlich, dass keinerlei Missgunst in Frage kommen kann. Der Fromme selbst wird in seinem Empfinden ihm gegenüber so klein, so voll Zitterns, dass er nicht daran erinnert zu werden braucht, sein Maß nicht zu überschreiten. Dass Anmaßung und Frechheit bestraft werden, ist etwas anderes. Aber der Fromme hat unbe594 [Schwedisch: „peppar, peppar“ (Pfeffer, Pfeffer).]

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dingt das Recht und die Pflicht, sich in Gottes Hut völlig glücklich und geborgen zu fühlen. Anklänge an den Hybrisgedanken finden sich in den Worten der Schlange zu der Frau: „Ihr werdet sein wie Gott“, ferner im Buch Hiob 35, 15; 36, 9, im Psalter und, in anderem, hellenischem Ton, beim Prediger, sowie bei dem nicht kanonischen Jesus Sirach. Aber der Mosaismus und Prophetismus kennt die Hybrisfurcht nicht. Er zittert vor [305] Gottes Majestät und Eifer. Die getroste kühne Gewissheit jedoch findet die stärksten Ausdrücke, welche die Religionsliteratur (abgesehen vom Neuen Testament) kennt. Die Zuversicht hat vor Jesus kein Wort gefunden, das an das Ende des dreiundsiebzigsten Psalms herankommt: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“595 Die getroste Gewissheit des Psalmisten hat bei Paulus ein Echo gefunden in dem Lobgesang, der das achte Kapitel des Römerbriefes beschließt. Dort wird der Gegensatz gegen die Furcht vor den Mächten deutlich ausgesprochen. „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“596

Diese archai und dynameis erinnern uns an die stoischen stoicheia tou kosmou des Galaterbriefes 4, 3: „So auch wir: Als wir unmündig waren, waren wir in der Knechtschaft der Mächte der Welt.“ Paulus fürchtete sich nicht vor irgendwelchen Mächten. 597 Darin stimmte er mit dem Evangelium überein. Jesus schärfte vorbehaltloses Vertrauen auf Gott ein. Er ließ dem Neid der Mächte keinen Raum. Wer in Gottes Hut steht, braucht nichts zu fürchten. Wir können uns nicht wundern, dass diese persönliche Gewissheit in der Kirche entstellt wurde. Diese bekam eine pädagogische Aufgabe und erweiterte sie dahingehend, alle Seelen unter ihrer Vormundschaft zu halten. Die am wenigsten angewandten Motive in der Verwaltung von Altem und Neuem durch die Kirche waren solche, die auf geistige Selbstständigkeit gerichtet waren. Eine Gewissheit seines Heils sollte der Mensch besitzen. Aber sie wurde von der Kirche gehandhabt. Sie übernahm die Buchführung der Einzelnen bei Gott. Die Kirche trug die Verantwortung für 595 [Ps 73, 25 f.] 596 [Röm 8, 38 f.] 597 Anders legt Otto Lagerkrantz Gal 4, 3 aus: Elementum. eine lexikologische Studie, in: SHVU XI, Uppsala 1911.

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das Heil des Einzelnen, unter der Bedingung, dass er seinerseits das erfüllte, was von ihm gefordert wurde, um in den Genuss der Gnade zu kommen. Dass der Einzelne selber [306] und aus eigenem Antrieb der Gnade gewiss sein solle, wurde als Anmaßung und Ungereimtheit abgestempelt. Hier bewirkte nun Luther die Revolution, die mehr als irgendetwas anderes Anstoß in der römischen Kirche erregt und mehr als einen veranlasst hat, ihn den Stifter einer neuen – irrigen – Religion zu nennen. Ich meine Luthers Lehre, dass der Meinsch seines Heils gewiss sein soll. Der Christ soll seiner Erlösung gewiss sein. Das war etwas für römisches Verständnis Unerhörtes. Noch heute wird die Heilsgewissheit von römischer Seite als Vermessenheit, superbia, also als Hybris bezeichnet, unvereinbar mit der christlichen Demut. In Wirklichkeit hat Luther mit seiner Lehre von der Heilsgewissheit die persönliche Zuversicht des Evangeliums vollendet und die Furcht vor den Mächten am konsequentesten in der Geschichte der Religion aufgehoben, im Einklang mit dem Gottesglauben der Offenbarung. Die rechte, fromme Einstellung ist also nicht vorsichtige Ungewissheit, sondern klare Gewissheit, feste persönliche Zuversicht. Suchen wir nach tieferen Unterschieden zwischen evangelischem und katholischem Christentum, so gibt es keinen, der für die Geschichte der Religion bedeutungsvoller ist als dieser. Auf römischer Seite jammert man immer wieder über die Vermessenheit, die in dem Anspruch Luthers und des evangelischen Christen liegt, persönliche Gewissheit seines Heils zu haben. Hier, so meint man, wird der eigentliche Gipfel von Luthers titanischer Anmaßung, der Endpunkt seines gefährlichen neuen Weges sichtbar. Der gelehrte Jesuit Grisar schreibt, dass die Lehre von der absoluten, persönlichen Heilsgewissheit durch den Fiduzialglauben, d. h. durch das Vertrauen auf Gottes Gnade, ein neues und abschließendes Element darstellte, das die Entwicklung der neuen Lehre vollendete. 598 Grisars Worte über die absolute Heilsgewissheit können leicht missverstanden werden. Luther hat nämlich nie gelehrt, wie Calvinisten, seine Schüler nach ihm, dass man die Gnade nicht verscherzen könne. Für einen evangelischen Christen besteht nach Luther stets die Möglichkeit, aus der Gnade herauszufallen. Deshalb muss er ständig wachen und [307] beten und mit Furcht und Zittern an seiner Erlösung arbeiten. Aber ansonsten ist die Sache richtig aufgefasst. Weder die damaligen Kirchenmänner im Allgemeinen noch römische Theologen in späterer Zeit haben diesen Ausdruck evangelischer Mündigkeit bei den Christen verstehen und Luther verzeihen können, dass er sich nicht an den mannigfachen Trostgründen genügen ließ, welche die Kirche in ihrer gut ausgestatteten Apotheke für die Seelen bereit hält und je nach deren verschiedenen Bedürfnissen mit seelenkundiger Fürsorge an 598 Vgl. Hartmann Grisar, a. a. O. (wie S. 31, Anm. 5), Bd. 1, 50.

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sie austeilt. Eine dämonische Ungenügsamkeit und ein immer radikaleres Misstrauen gegen das eigene Vermögen, an seinem Teil die Bedingungen für die Seligkeit zu erfüllen, trieben Luther immer weiter auf seiner Pilgerfahrt, bis er am Kreuz Gewissheit, volle persönliche Gewissheit von Gottes väterlicher Gesinnung erlangte. Reinhold Seeberg hat den geistigen Konflikt klar formuliert, der Luther zwang, sich eine persönliche Religion außerhalb der gängigen Rezepte der Kirchenlehre zu suchen.599 Es ging um das Bußsakrament. Da wurde contritio, Zerknirschung, gefordert. Aber il y a des accommodations avec le ciel600: Die Kirche ließ einen leichteren Weg zu, attritio, Bedauern. Luther war so veranlagt, dass er den sichereren und schwereren Weg wählte. Aber der Versuch scheiterte an seinem Unvermögen, Zerknirschung in sich zu wecken. Die kam nicht. War er also verworfen? Verzweiflung drohte. In seiner Ratlosigkeit entdeckte er, dass der Mensch völlig außerstande ist, die psychologischen, ethischen, religiösen Voraussetzungen der Erlösung in sich zu wecken. Stattdessen soll der Gerechte aus Glauben, ausschließlich aus der Zuversicht auf die göttliche Gnade leben. Die Gerechtigkeit des Menschen ist nicht seine eigene Beschaffenheit, sondern die barmherzige Art des Allmächtigen, ihn zu betrachten und zu behandeln. Das vollkommene Unvermögen des Menschen ist das leere Gefäß, das der Füllung bedarf. Diese Füllung geschieht durch die Gnade Gottes. Aber das klare Bewusstsein davon, dass dem Mangel abgeholfen [308] und die Leere im Menschen ausgefüllt ist, entsteht erst durch die Gewissheit des Heils. Wann Luther dies aufging, darüber sind die Meinungen geteilt. Er selbst erinnert sich an eine ganz bestimmte Situation. Augustin und andere tiefe Geister, die das Unvermögen der Seele und die souveräne Rolle Gottes im christlichen Gottesumgang erfuhren, haben dennoch nicht die Lehre aufgestellt, dass ein Christ persönliche Gewissheit seines Heils besitzen solle. Sola fides, der Glaube allein, als Ausdruck für die religiöse Stellung des Menschen bedeutet nicht mit Notwendigkeit Heilsgewissheit. Wir haben es hier bei Luther mit einer darüber hinaus599 Vgl. Reinhold Seeberg, Lehrburch der Dogmengeschichte IV, Die Lehre Luthers, Leipzig ²+³1917, 48. Vgl. dazu M. Luther, Enarratio Psalmi LI (1532), WA 40/II (315–470), 452,4–14, sowie die Vorrede des Hg. von Luthers Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts (1526), WA 19, 48. 600 [Von S­ öderblom nach dem Gedächtnis zitiert; die Originalfassung findet sich bei Jean-Baptiste Poquelin dit Molière, Le Tartuffe. Comédie, in: J. Caput (Hg.), Nouveaux classiques Larousse, Paris o. J., 4. Akt, 5. Szene, Vers 1487 f: „Le ciel défend, de vrai, certains contentements. Mais on trouve avec lui des accommodements.“ (Der Himmel verbietet in der Tat bestimmte Freuden. Aber man kann sich mit ihm arrangieren.) Freundlicher Hinweis von Hans-Martin Gauger.]

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gehenden Einsicht zu tun, die eine schärfere Ausprägung des Paulinismus und Augustinismus darstellt, aber noch mit etwas mehr. Der Lutheraner Seeberg und der Jesuit Grisar begehen zusammen mit anderen den Fehlgriff, die [theologische] Klarheit über die Gerechtigkeit des Glaubens, des Vertrauens, mit der Heilsgewissheit zu vermengen. Sowohl zeitlich als auch begrifflich muss man beides in Luthers innerer Geschichte unterscheiden, wie eng sie auch zusammengehören. Beide haben in der Tat ihren Grund in radikaler und halsstarriger Ungenügsamkeit. Luther begnügte sich in der Religion mit nichts Geringerem als Allem. Keine Spur von Genügsamkeit ist bei ihm zu entdecken, wenn es um das Heil der Seele geht. Die Wahl ist nur: Alles oder nichts. Er begnügt sich allein mit Gott selbst. Dieselbe Ungenügsamkeit zeichnet die Mystik aus. Ihre Kühnheit kennt keine Grenzen. Sie will selbst das Göttliche schmecken, sie schwingt sich zur Gottheit auf, vereinigt sich mit ihr, kleidet sich in das Übermenschliche. Sie kennt den Schwindel auf hohen Himmelfahrten, sie kennt Kreuz, Entsagung, Niedrigkeit, Demütigung. Aber eins fehlt ihr: die Gewissheit. Die Mystik ist eine heimliche Flucht, eine Zuflucht für die Seele, die sich nicht mit Kult und Gesetzesreligion begnügt, aber doch unter der Vormundschaft der Kirche verbleibt. [309] Im Unterschied zur Kult- und Gesetzesreligion, mit der unendlichen Weite der Mystik im Rücken, kam bei Luther das Evangelium der Zuversicht und der Freiheit ans Licht, nach dem ein Christ „eine person für sich selbst [ist], er gleubt für sich selbst und sonst für niemand.“601 Wir haben es hier mit einem anderen christlichen Religionstypus als dem römischen zu tun. Aber wir können diesen nicht als eine neue Religion anerkennen, wie deutlich auch die Heilsgewissheit eine neue Epoche markiert. Imbart de la Tour gehört zu denen, die das gesehen haben. In seiner Schilderung der Entstehung des Protestantismus wird Luther dem Evangelismus, der breiten Reformbewegung der Kirche, zugerechnet, bis ihn die Heilsgewissheit absonderte und auf einen eigenen Weg führte. Nachdem es Luther einmal aufgegangen war, dass ein Christ seiner Erlösung sicher sein darf und soll, erklingt diese Gewissheit in trotzigen oder zarten Tönen, auch angesichts der schneidenden Misstönen der Anfechtungen, sein ganzes Leben lang. Niemals wird der Reformator müde einzuschärfen: Seines Heils soll ein Mensch gewisser sein als seines Lebens. Dem Unvermögen und der Heilsgewissheit des Menschen galt die gewaltigste seiner Schriften, De servo arbitrio aus dem Jahr 1525, die näher zu 601 [M. Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526), WA 19 (623–662), 648,19 f.]

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betrachten wir in einem anderen Kapitel Gelegenheit hatten. Dass Luther Erasmus einen Skeptiker und Epikuräer nannte, war eine offenbare Ungerechtigkeit. Aber in der Frage der Gewissheit zog Luther hier mit intuitiver Sicherheit die Grenzlinie zwischen römischer und evangelischer Frömmigkeit. Die Heilsgewissheit bedeutet eine Wegscheide, man könnte sagen die Wegscheide in Luthers religiöser Entwicklung. Ich habe diesen Grundsatz in einen viel größeren religionsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Als die persönliche Heilsgewissheit proklamiert wurde, verlor die Hybrisfurcht in der Religionsgeschichte den letzten Rest an Berechtigung. Die Zuversicht hob die ganze Stimmung auf, die von der Hybrisfurcht [310] erzeugt wird. Wir haben es hier also mit einem entscheidenden religionsgeschichtlichen Datum zu tun. Man möchte gern wissen, wie und wann Luther zu einem Satz gelangte, der als Wegscheide in der Entwicklung der Religion zu betrachten ist. Eine Reihe von Forschern, evangelische und römische, hat mit Recht ihr Augenmerk auf diesen Punkt gerichtet. Ich erwähnte schon Seeberg und Grisar. In der Datierung gehen sie auseinander. Nahezu zehn Jahre trennen den Zeitpunkt, den Seeberg annimmt, das Jahr 1508 oder 1509, von Grisars Ergebnis. Hier nenne ich nur noch Einar Billings scharfsinnige Untersuchung in dem Einladungsschreiben, das der Rektor der Universität Uppsala zum Reformationsjubiläum 1917 ausgehen ließ.602 Es liegt nahe, in Luthers Leben drei wichtige Daten herauszuarbeiten: den Eintritt ins Kloster, die Bekanntschaft mit der Mystik sowie den Gegensatz zur Kirche, dessen Luther sich noch nicht bewusst war, als er die Thesen herausgab, der ihm aber während der folgenden Jahre aufgezwungen wurde. Schon 1518 sah er sich genötigt, die höchste Autorität des Papstes in religiösen Dingen zu verneinen, und im Jahr darauf in Leipzig die Unfehlbarkeit der Konzilien. Er war auf eigene Verantwortung unter Schrift und Vernunft gestellt. Luthers Stellung zur Autorität der Kirche musste notwendig mit der Heilsgewissheit in Zusammenhang stehen. Denn diese Überzeugung bedeutete eine Mündigkeitserklärung für die Zuversicht des Christen gegenüber der Vormundschaft über die Seelen, welche die römische Kirche zur Bedingung für ihren eigenen Bestand und für das Heil der Seelen macht. Tatsächlich scheint auch die Heilsgewissheit etwa gleichzeitig in Luther geboren worden zu sein. Aber sie hatte tiefere innere Voraussetzungen als die Ereignisse und Einsichten, die den Bruch mit Rom herbeiführten. 602 Einar Billing, 1517–1521. Ett bidrag till frågan om Luthers religiösa och teo­ logiska utveckling I (mehr nicht erschienen), in: Inbjudning till Upsala universitets reformationsfest den 31 oktober 1917 = UUÅ 1917 Program 3.

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Welches waren diese Voraussetzungen? Sobald der Glaube Luther zum Zentrum der Religion geworden war, [311] so wie bei Paulus, sobald des Weiteren dieser Glaube nicht bloß als assensus, Zustimmung zu den Sätzen der kirchlichen Lehre, gefasst wurde, als Gehorsamspflicht gegenüber der Kirche und als verdienstvolle Leistung neben asketischen Werken, Frömmigkeitsübungen und der rechten Beschaffenheit des Gemüts. sondern als Zuversicht des Herzens, als somit fiducia, Vertrauen, nicht mehr [bloß] ein wichtiges Zubehör vornehmlich der Hoffnung auf die zukünftige Seligkeit war, sondern den Kern des Glaubens selbst, des Grundverhältnisses zu Gottes Gnade selbst ausmachte, somit das ganze Werk Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasste – da war ja die Heilsgewissheit gegeben. Uns erscheint sie so selbstverständlich wie das Ei des Columbus. Aber es bedurfte sowohl Findigkeit als auch Mut, einen solchen Satz aufzustellen. Früher war Luther ganz anderer Meinung. Ebenso wie anderen Frommen verbot ihm seine Demut, eine so dreiste Überzeugung zu hegen. In den Vorlesungen über den Römerbrief in den Jahren 1515–1516 liest man: „Wir können niemals wissen, ob wir gerechtfertigt sind, ob wir glauben.“603 Denn das beruht auf Gottes uns verborgenem Ratschlag. Die übliche Werkheiligkeit wiegt, nach Luthers Darstellung, in Sicherheit. Mit der Mystik verkündet der Professor stattdessen Zerknirschung und nützliches Erzittern. Um jedes Bauen auf eigene Gerechtigkeit zu vernichten, will er die Vermessenheit durch heilsame Verzweiflung zerstören. Es liegt von vornherein nahe anzunehmen, dass eine Seele wie die Luthers, bevor ihr das helle Licht aufgegangen war, die Angst der Ungewissheit eher übertreiben als mildern würde.604 Bemerkenswert ist, dass Luther noch bei der Disputation in Heidelberg April 1518 beim Provinzkapitel der Augustinermönche es als allgemein eingestandene Ungereimtheit zurückwies, der Gnade gewiss zu sein.605 Nach den eben erwähnten Vorlesungen über den Römerbrief hatte Luther im Wintersemester 1516 begonnen über [312] den Galaterbrief zu lesen. Aber erst während des Winters 1518/1519 konnte der Druck beginnen. Nach weiterer Umarbeitung kam das Buch im Herbst 1519 heraus. Hier ist der neue Standpunkt gewonnen. In dem Kommentar wird mehrfach betont, dass wir gewiss sein müssten.606 Wahrscheinlich ist die Heilsgewissheit dem Reformator also im Herbst 1518 aufgegangen. 603 [WA 56, 252,20 f: „nunquam scire possumus, an Iustificati simus, an credamus.“] 604 Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 31, Anm. 5), Bd. 1, 76. 175. 605 [Vgl. Disputatio Heidelbergae habita (1518), WA 1 (353–374), 373,29.] 606 [Vgl. In epistolam Pauli ad Galatas Commentarius (1519), WA 2 (443–618), z. B. 458,30–32.] Vgl. H. Grisar, Luther, Bd. 1, 250.

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Zu dieser Überzeugung, dass der Christ persönliche Gewissheit haben darf und soll, war Luther schon im Jahre 1518 in Augsburg vor Kardinal Cajetan gekommen. Es heißt nämlich in den Sätzen, die er vorlegte, dass niemand gerechtfertigt werden kann, es sei denn durch den Glauben, „… so nämlich, dass es notwendig ist, mit Gewissheit zu glauben, dass man gerechtfertigt ist, und keineswegs zu zweifeln, dass man die Gnade erlangt hat. Wenn man nämlich zweifelt und ungewiss ist, so wird man nicht gerechtfertigt, sondern speit die Gnade aus.“607

Diese Theologie wird neu und falsch genannt, aber Luther hält an ihr fest.608 Im Sommer 1519 befand sich Luther mit Karlstadt in Leipzig, um mit Eck zu disputieren. Auf den 29. Juni, ganz zu Anfang der Disputation, fiel der Tag der Apostel St. Petrus und Paulus. Luther predigte in der Schlosskapelle über den Text Mt 16,13–19 von Petri Bekenntnis und Jesu Wort an den Jünger. Im selben und im folgenden Jahre wurde diese Leipziger Predigt nicht weniger als dreimal gedruckt, nämlich in Nürnberg, Augsburg und Basel – ein Beispiel dafür, wie begehrt auch weniger Aufsehen er­ regende Erzeugnisse Luthers waren. Hier sprach der Prediger: „So ligt nun dran, das mann wisse, ob man gottis gnaden erlanget hab. dann mann mus wissen, wie man mit got dran sey, soll anders das gewissen frolich sein und besteen: wan so jemand daran zweyfelt und nit fest darfur helt, er hab einen gnedigen got, der hat yn [ihn] auch nit. wie er glaubt, so hat er, darumb so mag nymant wissen, das er in gnaden sey …, dan durch [313] den glauben: glaubt er es, so ist er selig, glaubt er es nit, so ist er verdampt. dan ein solche zuvorsicht und gut gewissen ist der rechte grund guter glaub, der gottis gnade in uns wirckt.“609

Zu diesem Zeitpunkt war also die Heilsgewissheit für Luther ein unveräußerlicher Bestandteil evangelischen Christentums. Jetzt war der Glaube für Luther nicht mehr, wie nach der Auffassung der römischen Kirche, in Grisars Worten, „die Unterwerfung des Verstandes unter alle geoffenbarten Wahrheiten“, sondern das Vertrauen auf Gottes Verheißungen, das Zutrauen zu Gottes gnädigem Willen.610 Diese Gewissheit fand ihren ge607 Acta Augustanae D. Martini Luther Augustiniani apud D. Legatum Aposto­ licum Augustae. Pro Lectore, WA 2 (6–26), 13,7–9. Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 31, Anm. 5), Bd. 1, 313. 608 Vgl. Brief an Kurfürst Friedrich vom 21. (?) 11.1518, Nr. 110, WA.B 1 ­(236–246), 238,71–77. [Es handelt sich um das Rechtfertigungsschreiben, das der Kurfürst nach dem Verhör mit Cajetan auf dessen Bericht vom 25.10. hin angefordert hatte; vgl. die Einleitung des Hg. dieses Briefbandes, S. 232.] 609 [Ein Sermon von sanct Peters und Pauli fest (1519), WA 2 (246–249), 249,3–11.] 610 [Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 55, Anm. 60), Bd. 2, 1911, 738.]

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waltigen Ausdruck in den so genannten reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520, vor allem in De libertate Christiana. Glaube oder Gottvertrauen [oder Zuversicht] ist nun für Luther das allumfassende Hauptwort der Religion, oder wenn man so will, die Seele aller religiösen Lebensäußerungen. Es ist interessant, sich die Entstehung dieser berühmten Schrift zu vergegenwärtigen. Sie ist auf die Antithese gebaut: „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan.“611 Das Erstere, die Freiheit, die Herrschaft über alle Dinge, kommt aus dem Glauben, das Letztere, die Dienstbarkeit, kommt aus der Liebe. Luther bezieht sich auf I Kor 9[, 19]: „Obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht“, sowie auf Röm 13[, 8] und Gal 4[, 4] über die Selbstunterwerfung der Liebe. Zwangsläufig denken wir auch an andere Stellen, insbesondere an das Freiheitswort Joh 8, 32: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Ein noch näherliegendes Vorbild hatte Luther in einer Äußerung Augustins, ob er die nun gekannt hat oder nicht. Sie ist nachzulesen in der Auslegung des 99. Psalms und lautet: „Servum te caritas faciat, quia liberum te veritas fecit“, „Die Liebe soll dich zum Diener machen, weil die Wahrheit dich frei gemacht hat.“612 Luther setzt Glaube, Vertrauen an die Stelle von Wahrheit. Das ändert nichts in der Sache, weil der Glaube ja die erlösende [314] Wahrheit ergreift, aber es zeigt, dass die Gewissheit des Glaubens jetzt für ihn der Mittelpunkt im Gottesverhältnis des Menschen und der feste Grund der Freiheit geworden ist. Auf den ersten Blick meint man, dass die Kette [im Gewebe] des Traktates der Mystik entnommen ist, nämlich der Gegensatz von Geist und Leib. Der Geist lebt in unantastbarer Freiheit, während der Leib, solange der Mensch sich hienieden befindet, genötigt ist, sich mit irdischen Dingen zu befassen. Doch bei genauerer Untersuchung finden wir, dass diese mystische Lehre überdeckt und verwandelt worden ist durch einen Schuss [im Gewebe], der mit dem Wort Gottvertrauen [oder Zuversicht] ausgedrückt werden kann. Das Bild wird im 11. Abschnitt von dem Vertrauen hergeleitet, das ein Mensch einem anderen entgegenbringt, indem er ihn für einen wahrhaftigen und frommen Menschen hält, „wilchs die größte ehre ist, die ein mensch dem andern thun kan, als ­widderumb die größte schmach ist, ßo er yhn fur eynen loßen, lugenhafftigen, leychtfertigen man achtet. Alßo auch wenn die seele gottis wort festiglich glaubt, ßo helt 611 [M. Luther, Tractatus de libertate Christiana, WA 7, 49–73; hier nach der deutschen Fassung zitiert: Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7 (20–38), 21,1–4.] 612 Aurelius Augustinus, Enarrationes in Psalmos LI-C, in: CCL 39, 1397,14 f.

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sie yhn fur warhafftig. frum und gerecht, da mit sie ihm thut die aller größsiste ehre, die sie yhm thun kann, denn da gibt sie yhm recht, da lessit sie yhm recht, da ehret sie seynen namen …“613

Wiederum kann man Gott keine größere Unehre erweisen, als wenn man sich nicht auf ihn verlässt. Beide, Luther, gefolgt von der evangelischen Theologie, und deren Widersacher, haben Recht, wenn sie auf die Heilsgewissheit verweisen und sagen: „Hier ist die Wegscheide, geh auf diesem Weg weiter, oder hüte dich beizeiten, biege ab, nimm einen anderen, vorsichtigeren Weg.“ Nirgends ist der Unterschied handgreiflicher als gegenüber der Frage: Darf ich des Heils gewiss sein? Aber soll der Unterschied in seiner prinzipiellen Klarheit hervortreten, so ist es von Gewicht, dass sich keine Verfälschung einschleicht. Wenn man die Lehre von der Gewissheit unerhört findet, so macht [315] man sich auf katholischer und anderer Seite oft zweier Missverständnisse schuldig. Man meint, dass die Zuversicht von Luther bloß als ein Kraftakt der Seele, als Selbstsuggestion angesehen wird, die den Menschen umso seliger und getroster macht, je stärker sie ist, also als eine bloß subjektive Beschaffenheit der Seele.614 Eine solche Gewaltsamkeit könnte in manchen Äußerungen Luthers zu liegen scheinen. „Das Herz muss daran festhalten, dass es sich in der Gnade befindet und den Heiligen Geist hat.“ „Wenn der Christ Zweifel empfindet, so soll er den Glauben üben und gegen den Zweifel kämpfen und nach Gewissheit streben, damit er sagen kann: ‚Ich weiß, ich bin [von Gott] angenommen, ich habe den Heiligen Geist, nicht um meiner Würde oder meiner Tugenden, sondern um Christi willen, der sich unseretwegen dem Gesetz unterworfen und die Sünden der Welt hinweggenommen hat.‘“615 613 [A. a. O. 25,5–12.] 614 Grisar führt a. a. O. (wie S. 55, Anm. 60), Bd. 2, 745 ff eine Menge von Beispielen an. 615 [In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius (1531) 1535, WA 40/I. Der erste Satz, 578,25 f, lautet im Original: „…unusquisque assuefaciat se, quod certo­ statuat se esse in gratia et personam suam placere cum operibus.“ Den zweiten Teil des Satzes: „und dass seine Person samt ihren Werken Gefallen findet“, hat­ Söderblom durch den Verweis auf den heiligen Geist ersetzt – vermutlich eine versehentliche Dittographie, vgl. das folgende Zitat. Es folgt die unmittelbare Fortsetzung, 578,26–30. Hier schreibt ­Söderblom: „dass ich Gott angenehm bin“, was dem Satz eine etwas andere Nuance gibt, die schon Grisar, von dem er die deutsche Übersetzung entlehnt hat, nicht bemerkt hat. Des Weiteren sagt er, ebenfalls nach Grisar, statt „Tugenden“: Verdienste. Das ist zwar im Sinne Luthers, steht aber so nicht im Text. Vgl. H. Grisar, a. a. O. (wie S. 55, Anm. 60), Bd. 2, 1911, 745.]

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Größeres Recht für eine rein psychologische Deutung scheint man der Auslegung des ersten Gebotes im Großen Katechismus entnehmen zu können, wo Luther sich auf das bezieht, was er „offt gesagt habe, das alleine das trawen und gleuben des hertzens machet beide Gott und abeGott. Ist der glaube und vertrawen recht, so ist auch dein Gott recht, und widerümb wo das vertrawen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwey gehören zuhauffe, glaube und Gott.“616 Nicht selten kehrt ein Gedankengang wieder, der am kürzesten mit den Worten auszudrücken ist: Wie dein Glaube ist, so ist es. Glaube, dass du ohne Sünde bist, und du bist ohne Sünde. „Die größte Kunst liegt darin, dass wir, obwohl wir Sünde tun, doch dem Gesetze sagen: Nein, ich habe keine Sünde.“617 „Gleubstu nun an Christum, so hastu es alles hinweg …“ „… als viel ichs fasse undt gleube, so viel hab ichs …“ „… do sol man den sagen: Ich gleube an Christum, der ist mein undt so weit ich ihnen habe undt an ihnen gleube, so weitt bin ich from …“618 „Sollt du selig werden, so mußt du [314] des Worts Gottes also gewiß sein, daß wenn gleich alle Menschen anders sagten, ja alle Engel Nein dazu sprächen, du dennoch könntest allein darauf stehen und sagen: Noch [dennoch] weiß ich, daß dies Wort recht ist.“619 Einmal steigert sich die Wertschätzung des Glaubens in dem paradoxen Ausspruch: „Fides est creatrix divinitatis“, der Glaube schafft die Gottheit.620 Ein Missverständnis ist erklärlich, wenn solche Aus­ sprüche aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Man braucht nur eine einzige Seite oder einen einzigen Absatz bei L ­ uther zu lesen, um von diesem Irrtum geheilt zu werden. Nichts ist deutlicher, als dass Luther mit dem Glauben keineswegs einen bloßen seelischen Affekt meint, sondern dass er die Gewissheit des Glaubens auf dessen Inhalt gründet, welcher Gott und Christus ist. Weil ein Christ weiß, was Gott für ihn getan hat, soll er nach Luthers paradoxer Forderung den Glau616 [Deudsch Catechismus (1529), WA 30/I (123–238), 133,3–7.] 617 [Das Zitat ist Grisar, a. a. O., Bd.  2, 745 entnommen. Dieser verweist dafür auf Anton Lauterbach (Hg.), Tagebuch auf das Jahr 1538, die Hauptquelle der Tischreden Luthers, hg. v. J. K. Seidemann, 1872, 201. Dort steht es aber nicht. Den richtigen Fundort habe ich nicht ausmachen können. D. Hg.] 618 [Von Grisar, Luther, Bd. 2, 1911, 745, als Zitate übernommen. Das erste wird von ihm und daher auch von S­öderblom etwas anders formuliert, nämlich: Glaube, dass du Christus hast, und du hast ihn. Aber nach Grisars (ungenauer) Stellenangabe muss es sich um die Stelle aus den Wochenpredigten über Joh 6–8 in WA 33, 162, 13 f handeln. Das zweite Zitat steht a. a. O., 164,6 f und das dritte a. a. O., 163, 30–33.] 619 [WA.TR 1 (53–55), 55,24–26 (Nr. 130).] 620 In epistolam Pauli ad Galatas, WA 40/I, 360,5 [mit dem Zusatz (Z. 6) „non in persona, sed in nobis“; entsprechend heißt es ebd. Z. 24 f, der Glaube „ut ita­ dicam, creatrix est divinitatis, non in substantia Dei, sed in nobis“.

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ben selbst dann festhalten, wenn er vom Zweifel heimgesucht wird. „Die­ Sache mit der Rechtfertigung ist in der Schwebe – zwar keinesfalls an sich, denn an sich ist sie vollkommen sicher und gewiss – aber im Blick auf uns; das ist das, was ich selbst oft erfahre.“621 Der Glaube beruht nicht auf dem Menschen, sondern gründet sich auf Gott in Gottes Wort in Christus außerhalb des Menschen. Niemand hat kraftvoller als Luther die Religion von jeglichem Subjektivismus befreit. Nicht in uns selbst, sondern außerhalb unser selbst liegt der Grund unserer Seligkeit. Aber der Glaube zieht Christus und Gottes Gnade in den Menschen hinein. Er begnügt sich nicht damit, dass die Kirche sie besitzt, sondern er will sie selbst besitzen.622 Nehmen wir z. B. die berühmten Worte aus dem Großen Katechismus, so wird dort immer wieder das Objektive hervorgehoben. Luther ist vom Subjektiven ganz entfernt. „Worauff du nu … dein hertz hengest und verlessest, das ist eygentlich dein Gott. Darümb ist nu die meinung dieses gepots, das es foddert rechten glauben und zuversicht des hertzens, welche den rechten einigen Gott treffe und an yhm alleine hange.“623

Wir dürfen nie vergessen, dass die starken Worte vom „Glauben allein“ bei Luther den Zweck haben, die eigene Seele [317] und andere in ihrer Angst und in ihrem Dunkel zu trösten und zu stärken und allen Staub zu ent­ fernen, der das Auge der Zuversicht hindern könnte, die göttliche Gnade klar zu erkennen. Die andere Fehldeutung besteht darin, dass man die Heilsgewissheit als Verhärtung, als fleischliche Sicherheit auffasst. Man braucht Luther nicht so gut zu kennen, wie wir ihn jetzt kennen, um zu wissen, dass seine Zuversicht kein ruhiger Besitz war, so wie die Kenntnisse, die man von natürlichen Dingen hat; vielmehr muss das Vertrauen immer wieder aufs neue erobert werden. Grisar zitiert Luthers Wort von der Schwachheit des Glaubens bei den Frommen. „Könnten wir mit Gewissheit behaupten: Wir sind in der Gnade, unsere Sünden sind uns vergeben, wir haben den Geist Christi, wir sind Kinder Gottes, dann wären wir bestimmt froh und Gott dankbar für diese unaussprech­liche 621 [In epistolam … (wie vorige Anm.), 128,34–129,13. ­Söderblom setzt mit Grisar den letzten Teil des Satzes in den Plural: „solches müssen wir oft erfahren.“ Hier wie auch sonst des Öfteren ist Grisar beim Zitieren nicht sehr genau.] 622 Gegen die subjektivistische Deutung vgl. auch Alfred Sveistrup Poulsen, Hvad er Evangelisk-Luthersk? Et Lejlighedsskrift i Anledning af Reformationens 400-Aars Jubilæum, København 1917. 623 [Deudsch Catechismus (1529), WA 30/I (123–238), 133,7–11.]

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Gabe. Doch weil wir gegenteilige Empfindungen verspüren, Angst, Zweifel, Traurigkeit und dergleichen mehr, wagen wir nicht, das mit Gewissheit zu behaupten.“624

Hieraus zieht nun Grisar den Schluss, dass ein Christ auf die Heilsgewissheit verzichten müsse.625 Aber hören wir Luther: „Wir müssen uns von Tag zu Tag aus der Ungewissheit zur Gewissheit durchringen …“626 Für den Katholiken ist die Ungewissheit das Normale; er begnügt sich mit weniger und überlässt die Frage der Seligkeit der Kirche, die ihm dann auch die nötige Geborgenheit aus ihrer eigenen Autorität gibt. Der evangelische Christ vermag nicht immer gegen innere und äußere Hindernisse die Gewissheit aufrechtzuerhalten: Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.627 Aber die Lebenskraft des Evangeliums ist die Zuversicht. Nach diesem Ideal richtet der evangelische Christ sein Leben ein, dankbar für alle Hilfe, die ihn in seiner Schwachheit unterstützen kann. Nach demselben Ideal richtet die evangelische Kirche ihre Arbeit ein. Sie ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern sie soll die Seelen zur Selbstständigkeit erziehen. Ich hoffe, es ist mir gelungen zu zeigen, dass der Satz von der Heilsgewissheit auf dem Gebiet der Lehre nichts Geringeres [318] bedeutet als die volle Mündigkeitserklärung des Christentums als persönlicher Religion. Die Linie beginnt schon bei den Propheten im Alten Testament, deutlich tritt sie bei Jeremia hervor, der von einem tragischen Geschick zu persönlichem, nicht bloß sozialem und nationalem Gottvertrauen getrieben wurde. Ihren Höhepunkt erreichte diese Linie in Jesu Sohnesbewusstsein und messianischer Berufung, gefolgt von dem Vertrauen der Jünger und Pauli jubelnder Gewissheit. Die Linie setzte sich in einer Kette bekannter und unbekannter Seelen fort, die innerhalb der Kirche persönlichen Gottesumgang hatten. Schließlich führte sie wiederum auf einen Gipfel. Aber erst musste sie in einen Abgrund hinab, der hieß: Luther findet keinen gnädigen Gott. Hierauf erfolgte der Höhenflug. Eine neue Formulierung wurde gewonnen in bewusster Unterscheidung, ja im Widerspruch gegen die landläufige christliche Selbstbeurteilung. Der Satz von der Heilsgewissheit bedeutet nichts Geringeres als den vollen Durchbruch des persönlichen Lebens und die Religion der geistigen Freiheit. Kein Lehrpunkt ist von dem Reformator und seinen echten Nachfolgern konsequenter vertreten worden. Keiner drückt auf gleiche Weise die Idee des evangelischen Gottesumgangs aus. Seine Gewissheit besitzt 624 [In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius (1535), WA 40/I, 578,18–21.] 625 Vgl. H. Grisar, Luther, Bd. 2, 1911, 476–478.] 626 [A. a. O. (wie Anm.  620), WA 40/I, 579,17 f.] 627 [Mk 9, 24.]

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der einzelne Christ innerhalb der Gemeinde oder der Christenheit, aber als sein persönliches Eigentum. Religion tritt einerseits als Institution, andererseits als persönlicher Gottesumgang auf. Beide setzen einander voraus. Die Religionseinrichtung setzt eine geistliche Erfahrung voraus, die sie hervorgerufen hat. Ein System religiöser Riten und Einrichtungen ist vielleicht zu toter Form erstarrt. Aber der Organismus hat eine Seele gehabt, die ihm Leben und Dasein verlieh. Halten wir uns an die Innenseite der Religion, so kann ein noch so lebenskräftiger religiöser Geist nicht bestehen und wirken, ohne sich Ausdruck und Formen zu schaffen. Wie Leib und Seele gehören [319] beide zusammen: die Religionseinrichtung und die persönliche Frömmigkeit, mögen sie einander auch manchmal gering schätzen. Aber je nachdem das Hauptgewicht auf das eine oder andere gelegt wird, auf Institution, Amt, Riten und Hierarchie, oder auf das persönliche geistige Leben, je nachdem das Erstere oder das Letztere, das System oder der Mensch, den ersten Platz einnimmt, entstehen zwei prinzipiell unterschiedene Religionstypen: institutioneller und persönlicher Gottesumgang. Erhielt der persönliche Gottesumgang in der Kirche seine genuin christliche Ausprägung in dem Satz von der Heilsgewissheit, so hat die institutionelle Religion, die Kirche als Heilsanstalt betrachtet, in späterer Zeit eine ebenso charakteristische Vollendung gefunden. Die römische Christenheit hat ihr System vorläufig mit einem Lehrsatz abgeschlossen, der in dem römischen Teil der Christenheit ganz und gar der Lehre von der Heilsgewissheit im evangelischen Teil der Kirche entspricht, ich meine das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Zu Luthers Zeit war es noch nicht aufgestellt. Da war der Gedanke an die Konzilien als höchste Autorität noch zu stark – ein für das Voranschreiten der Kirche kaum günstigeres Dogma. Aber der Anspruch bestand, und Luther musste seinen Einspruch gegen diese beiden damals noch miteinander konkurrierenden Lehren von der entscheidenden Autorität der Konzilien und des Papstes teuer bezahlen. Es war dem Vatikanischen Konzil von 1870 vorbehalten, das Unfehlbarkeitsdogma zu beschließen und damit das römische System zu krönen, das sich mit großartiger Konsequenz entwickelt hat. Da stehen sie nun nebeneinander: Die Unfehlbarkeit des Papstes als höchster religiöser Autorität in der Religion und die persönliche Gewissheit des Christenmenschen von seinem Heil in Gottes Gemeinde. Auf der einen Seite heißt es: Die Kirche besorgt die Sache für dich. Auf der anderen Seite heißt es: Du sollst deines Heils [320] selber gewiss werden. So deutlich hat die Religionsgeschichte des Abendlandes die beiden Typen ausgebildet und vollendet, die im Mittelalter noch miteinander vermischt waren und die natürlich auch heute nicht in Reinkultur existieren, sondern auf mannigfache Weise in den Seelen und in den Kirchengemeinschaften nuanciert sind. – 284 –

[321] X Gesetzesreligion – Mystik – Glaubenszuversicht [323] Der alttestamentliche Prophet Habakuk sah das Vordringen der Gewalt und den kriegerischen Übermut der damaligen Weltmacht, die nach seinen Worten „ihren Rachen aufsperrt wie das Reich des Todes und ist wie der Tod, der nicht zu sättigen ist: … er [der Tyrann] sammelt zu sich alle Völker“ [2, 5]. Aber der Gottesfürchtige sollte, trotz trostloser Aussichten, in seiner Glaubenszuversicht geborgen sein. „Der Gerechte wird durch seinen Glauben leben“ [2, 4]. Die Aussage des Propheten fand mehr als ein halbes Jahrtausend später ein Echo bei einem jüdischen Zeltmacher. Paulus führt sie im ersten Kapitel des Römerbriefs als Urkunde seiner Religion an. Was ihn ängstigte, war nicht der Lärm der Weltgeschichte, sondern der innere Krieg in seiner Seele. Die Forderung des Gesetzes raubte ihm den Frieden. Denn das Gesetz, das ist: das sittliche Ideal, verurteilte den Sünder mit Recht zu Ohnmacht und Gefangenschaft, bis Paulus von einer höheren Macht als der des Gesetzes in ihre Hut genommen wurde, nämlich von Gottes unverdienter Gnade, die Christus offenbart hatte. Der Glaube an diesen Christus verschaffte Paulus einen dem Gesetzesdiener unbekannten Freimut und innere Freiheit. „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ [1, 17]. Eineinhalb Jahrtausende später erschreckten die angeführten Worte des Apostels einen sächsischen Mönch und Professor, Martin Luther. „Der Gerechte wird leben.“ War er gerecht? Der Seelenkampf des Paulus wiederholte und verschärfte sich in einem noch empfindsameren Gewissen und nach Gewissheit dürstenden Gemüt. [324] Luther hat später oft beschrieben, am ausführlichsten 1545, im Jahr vor seinem Tod, wie die unmittelbar vorausgehenden Worte des Paulus: „Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbart“, ihn erzürnten und ängstigten. „… als ob es noch nicht genug wäre“, schrieb er, „[dass die armen Sünder … durch das Gesetz des Dekalogs] mit aller Art von Unheil [bedrängt werden, auch ohne] dass Gott durch das Evangelium Schmerz auf Schmerz häuft …“628 628 M. Luther, Vorrede zum 1. Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545), WA 54 (179–187), 185,25–27. [Von S­ öderblom etwas verkürzt wiedergegeben, wodurch der Gegensatz von Gesetz und Evangelium nicht recht herauskommt. Deshalb die Vervollständigung in eckigen Klammern. D. Hg.]

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Es gibt in der Geschichte der Religion im Wesentlichen drei Auswege. Der erste: Der Gerechte oder Gottesfürchtige, der Fromme, der Religiöse wird von seiner Gerechtigkeit oder Frömmigkeit leben. Der zweite: Der Gerechte, der Fromme wird von seiner Gotteserfahrung leben. Der dritte: Der Fromme wird von Gottvertrauen oder Glauben leben. [1.] Sei es, dass die Gewissensfrage von Recht und Unrecht sich um Taburegeln und Riten samt sittlichen Forderungen dreht oder ob sie auf höheren Stufen allein Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit im Herzen und im Wandel betrifft, so scheint der Grundatz selbstverständlich zu sein: Der Gerechte wird in seinem religiösen Verhältnis aus seiner Gerechtigkeit leben. Es ist wahr: Ein gutes Gewissen ist ein tägliches Gastmahl.629 Ein gesunder Moralismus, der ein gutes Gewissen hat, aber nicht in Selbstgerechtigkeit verfällt, behält in seinem Rahmen sein Recht. Er steht höher als ein Sündenbekenntnis, das nicht durch Verzweiflung erzwungen wird, sondern sich als Tugend versteht und somit einen auf die Heilsreligion aufgepfropften Moralismus darstellt. Noch im Buch Hiob und im Psalter berufen sich fromme Seelen vor Gott auf ihre Gerechtigkeit. Doch der Moralismus befriedigt ein tieferes religöses Verlangen nicht. Er erträgt nicht die Zuspitzung des Ideals und einen höheren Gottesgedanken, sondern wird zwischen beiden eingequetscht; der Moralismus wird zwischen der Gerechtigkeit der Bergpredigt und dem Glauben an den himmlischen Vater Jesu Christi erdrückt. Die Innerlichkeit der sittlichen Forderung von unten, die Hoheit des Gottesglaubens und die Innerlichkeit [325] des Verkehrs mit Gott von oben wurden der Sicherheit des Moralismus gefährlich. Schon für den auf sein Recht pochenden Hiob steigerte sich die Unergründlichket Gottes, so dass er sagen musste: „Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich ge­sehen, Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“ [Hi 42, 5 f]. Doch noch überwältigender als die Wunder der Schöpfung und der Geschichte, die schweigende Unendlichkeit des Alls und das Rauschen des Lebensstromes ist die Heiligkeit Gottes. Gott ist weit strenger und drängen­ der, als wir es uns selbst in unseren besten Augenblicken erträumten. Hat jemand das verzehrende Feuer Gottes verspürt, vergisst er es nie, wie tief er auch im Staub versinkt, wie hoch er auch in Seligkeit erhöht wird. Die Kirche war auch zuerst und zuletzt eine Gnadenanstalt. Aber die Gnade Gottes wurde nicht wie von Paulus und Augustin nach der höchsten Analogie des sittlichen Gemeinschaftslebens als Gottes freie Ver629 [Es gibt im Schwedischen auch die Entsprechung zum guten Gewissen als „sanftem Ruhekissen“: „Ett gott samvete är den bästa huvudkudden.“ ­Söderblom hat aus gutem Grund hier eine andere Redewendung gewählt.]

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gebung und persönliche Barmherzigkeit gegenüber der Seele verstanden, sondern sie wurde von der Kirche bereitgestellt. Da gab es reiche Vorräte. In Sakramenten und allerhand Kulten und Frömmigkeitsbräuchen erhielt der Einzelne für seine Seligkeitsbedürfnisse je nach Verdienst Anteil an diesen Vorräten der Kirche, reichlich oder knapp, in magischer oder geistigerer Form. In ihrer krassen Handhabung wurde die Ablassgnade bar bezahlt, und von ihrer Geltung lediglich für die Befreiung von den Strafmaßnahmen der Kirche wurde sie auch auf die Strafen Gottes hier und im Jenseits ausgeweitet. In England und Frankreich, wo die Reinigung der Kirche und ihre Befreiung von der Tyrannei Roms über Seelen und Geld am besten vorbereitet zu sein schien, in Böhmen, Deutschland und anderswo wurden immer allgemeiner eine biblische und evangelische Reform gefordert. Luthers gewaltige Stimme verlieh den mannigfaltigen Reformforderungen neue Kraft. Doch das eigentliche Hindernis für den Frieden seiner Seele lag in dem leitenden Gesichtspunkt der Werkgerechtigkeit, dem Verdienst. Einen solchen Verkehr mit Gott konnte er nicht ertragen. Bald nach [326] dem Jahr der Thesen schrieb er: „Ich wollte, der Ausdruck ‚Verdienst‘ wäre nicht in die heilige Schrift hineingeraten, wegen seiner missbräuchlichen Verwendung und der falschen Überzeugung der Menschen, sie hätten Verdienste.“630 [2.] Es gab Seelen, die sich Gott genaht haben unter Vermeidung eines offenen oder versteckten Moralismus. Sie lebten nicht aus ihrer Gerechtigkeit oder aus erworbenem oder geschenktem Verdienst, sondern daraus, dass sie das Göttliche schmeckten. Die Mystik hat die Gesetzesreligion gemieden und ist in das innere Heiligtum des Lebens vorgedrungen. Dort hatten innige Seelen sich einen geistlichen Winkel bewahrt, weit entfernt von der Weltlichkeit der Kirche. Dort fühlte Luther sich heimisch. Wir erinnern uns der Freude des Wiedererkennens, als er Tauler las und als er den anonymen Traktat fand, der unter dem Namen Eine deutsche Theologie das Erste war, was er der Druckerpresse anvertraute. Er nannte ihn „Eyn geystlich edles Buchleynn“; „es ist auß dem grund des Jordans von einem warhafftigen Israeliten erleßen, wilchs namen gott weyß …“631 Auch L ­ uther war von der ewigen Melodie der Versenkung entzückt und 630 [Sermone aus den Jahren ca. 1514–1520, WA 4 (587–717], 631,2–4. Der Satz ist die verkürzte Fassung eines Abschnitts, der mit Meritum überschrieben ist.­ Söderblom ordnet diesen offenbar der vorangehenden Predigt über Johannes den Täufer zu, die vom Hg. mit „24. Juni 1518?“ datiert wird. Doch ist zu ihr keine inhaltliche Verbindung erkennbar, und der Hg. hat ihn auch drucktechnisch gegen sie abgesetzt. Man wird also auf eine Datierung verzichten müssen. D. Hg.] 631 [Das zweite Zitat steht in der Vorrede zur unvollständigen Ausgabe der „deutschen Theologie“, Dez. 1516, WA 1, 153, das erste in Luthers Titelformulierung, ebd.]

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setzte wie viele vor ihm einen christlichen Text dazu. Jahre, nachdem er die neuen wunderbaren Töne gefunden hatte, die noch nach Jahrhunderten aus seiner eigenen klangreichen Seele über der Christenheit erklingen, finden wir bei ihm den einen oder anderen leisen, brüchigen Ton aus der Kreuzestheologie der Mystik. Im Jahre 1515 fand er im Römerbrief eher Demut und Selbstvernichtung als Gottvertrauen. Das Wort für die Lebenskunst der Mystik, Gelassenheit, die unberührte Ruhe, dient noch 1517/18 in der kurzen Auslegung der Gebote, des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers der Deutung der Bitte: Dein Wille geschehe. „Gib uns gantz blosz, lauther in allen dingen gelassen stehen, sie sein bosz oder gut.“632 Doch etliche Jahre später schrieb er in unserer Kinderlehre: „Wir sollen Gott uber alle ding Fürchten, Lieben und Vertrawen.“633 Mancher empfindet Andacht vor dem Unendlichen, Ehrfurcht vor dem Heiligen, hat einen Sinn für religiöse Stimmung, auch für [327] selbstlosen Eifer, kann jedoch den kühnen Glauben des evangelischen Christentums nicht begreifen. Es ist leichter, abseits der Aktivität des Lebens Frieden zu suchen, als zu glauben, dass der Grund des Lebens selbst gut ist. Wäre Luther bei der Versenkung der Mystik stehen geblieben, so würde er viele ansprechen, die jetzt Anstoß an ihm nehmen, aber er hätte nicht eine neue Epoche in der Geschichte der Religion eingeleitet. Ein Bruch geschah nicht. Aber die Mystik gab Luther nicht genug. Seine Seele war zu lebensvoll und leidenschaftlich. Die Gewissensfrage von Schuld und Vergebung samt der brutalen Not des Lebens, bei Luther in einer schwer lastenden Melancholie konzentriert, machte einen methodischen Gottesgenuss unmöglich. Luthers Freiheitstrieb und Aufrichtigkeit konnten sich nicht mit der Schematisierung des Menschen und des Seelenlebens durch die Mystik abfinden. „Es ist viel davon geschrieben, wie der mensch soll vergottet werden, da haben sie leytern gemacht, daran man gen hymel steyge und viel solchs dings, Es ist aber eytel partecken werck, hie ist aber der rechte und nehiste weg hynan zu ­komen angezeygt, das du voll voll Gottes werdest, das dirs an keynem stuck feyle, sondern alles auff eynen hauffen habist, das alles, was du redist, denckist, gehist, summa: deyn gantzes leben gar Gottisch sey.“634 632 Eine kurze Erklärung der zehn Gebote (1518), WA 1 (250–256), 254,17 f. [Die Worte „gib uns“ stehen dort nicht. Das Zitat ist der zweite Teil eines Satzes, der unter der Überschrift: „Die Erfüllung des ersten Gebots“ steht. Ihm gehen die Worte voraus: „Gottes forcht unnd lieb ym rechten glauben und fest vertrawen“. Der Ausdruck „gelassen“ interpretiert also hier Glauben und Vertrauen. Vom Gebet ist erst im Zusammenhang der Erfüllung des zweiten und dritten Gebots die Rede.] 633 Der Kleine Katechismus (1529), WA 30/I (264–345), 284,2 f. 634 [Predigt am 1.10.1525 über Eph 3, 14–21, WA 17/I (428–438), 438,22–28.­ „Partecken werck“ heißt so viel wie armseliges Zeug. Parteken waren Almosen für bedürftige Studenten.]

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[3.] So viel fand Luther im Gottvertrauen. Dort erfuhr er eine reinere Seligkeit als Schauder und Rausch635 der Mystik. Er nahte sich dem Himmel nicht auf der schwindelnden Leiter der Mystik, sondern der Glaube sah den Himmel offen über sich. Vergebung strömte herab – eine Himmelsgabe, so verschwenderisch reich und unverdient wie die Wärme der Sonne. Da, wo Luther seiner Tätigkeit nachging, da war seine Zuversicht im Himmel. Nach Tagen und Nächten des Grübelns ging ihm das Wort des Römerbriefs von der Gerechtigkeit Gottes auf. Dort stand ja: Der Gerechte wird aus Glauben leben, also aus der Gabe Gottes. In seiner Barmherzigkeit macht Gott uns gerecht durch den Glauben [328] – eine Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit, die sonst in unserer Sprache nicht vorkommt, die jedoch am ehesten, wenn auch nicht ganz, dem Wort Sündenvergebung entspricht. Dieser Augenblick brannte sich trotz einer wenig feierlichen Um­gebung in Luthers Gedächtnis ein. „Da fühlte ich mich geradezu neugeboren und meinte, durch geöffnete Türen ins Paradies eingetreten zu sein.“ „So sehr ich das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ zuvor gehasst hatte, mit so großer Liebe pries ich jetzt dieses mir teuerste Wort; so ist mir diese Stelle bei Paulus wahrlich zur Pforte des Paradieses geworden.“636 Jetzt befand sich Luther innerhalb Allerheiligsten der Kirche und des Christentums. Hier schien Gottes klare Sonne hinein, keine von Menschen gemachten Lichter. Irgendeine Rollenverteilung zwischen Gott und Mensch kam nicht in Frage. Dafür war Gott zu reich, der Mensch zu arm. Luther ging also nicht aus der Kirche hinaus, um eine Sekte zu bilden oder eine neue Kirche zu bauen. Er ging stattdessen tiefer hinein in die eine, heilige, katholische Kirche, um dort das höchsteigene Leben des Christentums weiterzuführen und zu entwickeln. Er drängte in das Aller­ heiligste hinein, das halb in Vergessenheit geraten war. Paulus, Augustin und viele andere waren vor ihm dort. Doch außer Paulus hat niemand so den Trost und die Kraft geschildert, die im Glauben an göttliche Vergebung beschlossen sind. „Wo vergebung der sunde ist, da ist auch leben und selickeit.“637 Die Religion war damals wie zu allen Zeiten vielerlei, Sakramente, Hierarchie, Mönchsleben, Wallfahrten, Kultbräuche, Rosenkränze, Hoffnung, Liebe, unter diesen auch Glaube, das heißt Bekenntnis zu den Sätzen der Glaubensartikel. Für Luther war die Religion ein Einziges, nämlich die Gewissheit des Glaubens von Gottes Gnade in Jesus Christus. Die Religion öffnete für Luther die Schleusen der Sprache und ergoss sich in einer un635 [Schwedisch ein Wortspiel: „rysning och berusning“.] 636 [Vorrede zu Bd. 1 … (wie Anm. 46), WA 54, 186,8 f. 14–16.] 637 [Der Kleine Catechismus, WA 30/I, 316,19 f.]

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geahnten Fülle von Worten und Gedanken. Aber die ganze Religion war in einem einzigen Wort beschlossen: Gottvertrauen. „Was heist ein Gott haben oder was ist Gott? … ein Gott [329] haben nichts anders ist denn yhm von hertzen trawen und gleuben, … alleine das trawen und gleuben des hertzens machet beide Gott und abeGott. Ist der glaube und vertrawen recht, so ist auch dein Gott recht, und widerümb wo das vertrawen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwey gehören zuhauffe, glaube und Gott. Worauff du nu … dein hertz hengest und verlessest, das ist eygentlich dein Gott.“ „…ein Gott haben heisset etwas haben, darauff das hertz gentzlich trawet.“638 „Der Glaube schafft die Gottheit.“639

Ebenso wie Jesus scheute auch Luther nicht die paradoxen Ausdrücke. „Allein aus Glauben“, Luthers anstößige Verschärfung der Lehre des Paulus vom Glauben, bringt in zugespitzter Form seine prophetische und evangelische Religion in ihrer Unterschiedenheit von Moralismus und Mystik zum Ausdruck.640 Denn sola fides spiegelt den Gott wider, der sich als allzu lebendig, heilig und andringend erwies, als dass Luther, sei es mit irgendeinem Verdienst oder einer Werklehre, sei es mit einer Versenkung und einer Vereinigung mit der Gottheit, hätte zurechtkommen können. Gott war für Luther „nit … ein still rugende [ruhende] macht, … Szondern ein wirckende macht und stettige tettickeit, die on unterlasz geht ym schwanck [in Bewegung ist] und wirckt. Denn got ruget nit, wirckt on unterlasz …“641 Einzig die Glaubenszuversicht ist einem solchen Gott angemessen. Verlässt sich jemand auf Gott, so hat er in seinem Glauben alles. Er hat das Vergangene. Denn der Glaube liest im Text der Geschichte – in der Geschichte des Menschengeschlechts und in der eigenen kleinen Geschichte – von Gottes Liebe. Der Glaube vermag jeden Verlust in Gewinn zu verwandeln. Die grausamste Tragödie bringt einen geistlichen Wert hervor, der nicht hätte gewonnen werden können ohne die Sünde und das Unrecht, die vorausgegangen sind. Aus Bösem wird Gutes geschaffen. Durch die 638 [Deudsch Catechismus (1529), WA 30/I (123–238), 132,34–133,8; 134, 5 f.] 639 [WA 40/I, 360,5, vgl. Anm. 620.] 640 [Vgl. Friedrich Heiler, Luthers religionsgeschichtliche Bedeutung, München 1918, 16: „Luthers Lehre von der ‚sola fides‘ ist … nur die schärfste und konsequenteste Ausdrucksform für das Grundgefühl der biblischen Religiosität, der alttestamentlichen wie der neutestamentlichen.“ ­Söderblom gibt als Bezugsort die S. 305 an. Das kann nicht stimmen, denn dort findet sich kein Anknüpfungspunkt für das Zitat. Vielleicht hat er die Seitenzahlen des Manuskripts und des Buches verwechselt. Jedenfalls gehört das Zitat an diese Stelle.] 641 [Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt (1521), WA 7 (544–604), 574,27–31.]

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Liebe wird das Leiden zu einer Versöhnung. Christus litt ein für allemal. Sein Golgatha und alle Golgathas der Menschheit, auch das Golgatha, zu dem die Menschheit jetzt hinaufgeführt worden ist642 , werden vom Glauben in Sieg verwandelt. So „wird ein Christ“ nach Luthers Worten „der [330] gewaltigste Künstler und ein wunderbarer Schöpfer, der aus Trauer Freude, aus Schrecken Trost, aus Sünde Gerechtigkeit, aus Tod Leben“ machen kann.643 Der Glaube besitzt das Zukünftige. Er ist eine unwiderstehliche Triebkraft für das Leben. Glaubenszuversicht ist ein guter Baum, der gute Früchte bringen muss. Wahre Zuversicht „ist ein goettlich werck in vns, das vns wandelt vnd new gebirt aus Gott.“ Der Glaube „fraget … nicht, ob gute werck zu thun sind, sondern ehe man fraget, hat er sie gethan, und ist jmer im thun.“644 Der Glaube verzweifelt nicht über das Zukünftige. „Und ob es währt bis in die Nacht Und wieder an den Morgen, Doch soll mein Herz an Gottes Macht Verzweifeln nicht noch sorgen.“645

Doch zuerst und zuletzt besitzt die Glaubenszuversicht das Gegenwärtige, ein ewiges Jetzt, nämlich Gottes Wohlgefallen, das die Gewissensnot beseitigt und von der Knechtschaft unter dem Gesetz befreit, insbesondere von der Last besonderer Frömmigkeitsleistungen, die sogar mit den sittlichen Pflichten in Streit geraten können. Freiheit durch Glaubenszuversicht ist bei Luther die Signatur der Religion. Luthers vornehmstes Amt war es, durch das Evangelium zu trösten und von der Gewissensnot zu befreien. Er schrieb an den BekenntnisReichstag zu Augsburg 1530, dass er nichts anderes gesucht habe als den einzigen Trost der Seelen, das freie, reine Evangelium. Zugleich geschah eine andere Befreiung. Die Furcht vor der Eifersucht der Mächte hat einen Humusboden in jedem Menschenherzen. Aus solcher Furcht entstehen abergläubische Bräuche und Kulte, welche die Kir642 [Gemeint ist der Erste Weltkrieg.] 643 [In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius (1535), WA 40/II, 93,29–31.] 644 [Vorrede auff die Epistel S. Pauli an die Römer (1546), WA.DB 7, 6–12. Statt „das uns wandelt vnd neu gebirt aus Gott“ hat S­ öderblom: „der uns neu schafft“.] 645 [Vers 4 aus Luthers Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (EG 299). Die schwedische Fassung steht in Svenska psalmboken (1986) unter der Nummer 537 (Ur djupen ropar jag till dig). Doch ist der oben zitierte Vers, den bereits 1536 der schwedische Reformator Olaus Petri umgedichtet hatte (vgl. Ausgabe von 1922, 182), von Anders Frostenson 1977 noch einmal umgestaltet und gefälliger gemacht worden. Offenbar hat S­ öderblom ihn selbst neu übersetzt, dieses Mal sehr nah am Original: „Om nöden varar dagen lång / och ser ny morgon börja / skall dock min själ ej någon gång / förtvivla eller sörja.“.]

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che duldete oder geradezu anordnete. Sie machte es der abergläubischen Furcht leicht, statt sie aufzuheben. [331] Dies vermag auch die Aufklärung nicht, sondern nur das religiöse Gottvertrauen. Die Furcht vor den Mächten ist in der Religionsgeschichte durch die Mystik überboten worden, überwunden jedoch allein durch die Glaubenszuversicht, die in Luthers Heilsgewissheit vollendet wird. Die meisten Seelen befinden sich im Schlaf. Erwachen sie, so werden sie leicht entweder furchtsam oder übermütig. Luther erlangte den Mut und die Demut der Glaubenszuversicht. Die Gesetzesreligion kennt allenfalls Büßer, die Mystik allenfalls Gottesgenießer, die, selig in ihrem abgeschiedenen Frieden, als gleichgültige Fremdlinge in der Mühsal des Lebens, in seiner Freude und Traurigkeit leben. Das Evangelium der Glaubenszuversicht kennt Gottes freie Kinder. Die Konzentration der ganzen Lebensproblematik auf das Religiöse und der Religion auf die Glaubenszuversicht machte Luthers Stärke aus. Der Mensch muss zuerst das Wesentliche in Ordnung bekommen. Ist der inneren Not abgeholfen, so bleiben für Luther keinerlei Schwierigkeiten mehr übrig. Sein ganzes Leben hatte sich in einem einzigen Ruf gesammelt. War der beantwortet, so regelte sich alles andere. Die Glaubenszuversicht brachte alles auf die Reihe. Wir hörten: Da wird alles beim Menschen göttlich. Aber die Sache ist nicht so einfach. Nicht alle Menschen werden von Luthers religiöser und sittlicher Leidenschaft getrieben. Nicht alle sittlichen Probleme werden durch die Vergebung gelöst. Luthers Konzentration hat sogar Schwierigkeiten mit sich gebracht. Seine reine, unnachgiebige Idealität hat Hilfsmotive vernachlässigt, die für die Erziehung der vielen Menschenkinder erforderlich sind. Auch Zwischentöne in der Seele müssen angesprochen werden. Luthers Empfindlichkeit gegen jegliches Eindringen des Gesetzes in die christliche Freiheit ist von anderen als Vorwand für sittliche und geistliche Faulheit benutzt worden. Luther musste bittere Enttäuschungen erleben. Aber wir brauchen ihn. Es gibt viele Anpasser und Pädagogen, aber wenige Helden des Glaubens und der Liebe. Die Religion war zu Luthers Zeit von unverständlichen oder verlogenen Phrasen und Formeln überwuchert. Statt das eine [332] Notwendige zu bedenken, befasste man sich mit Bagatellen, leeren Worten und Gedankenspielen. Der Hunger von Luthers Seele holte den Inhalt hervor und überließ die verschlissenen Hüllen sich selbst. Luther beschreibt, was geschehen war. „… das haben wir gethan, Da wir solches alles gefunden durch den Bapst mit seiner menschen lere vertunckelt, ja mit dickem staube und spinneweben und allerley unzifers geschmeis behengt, dazu jnn kot geworffen und vertretten, haben wir es durch Gottes gnade wider erfuer gezogen, von solchem geschmeis gereiniget, den staub abgewischet, gefeget und ans liecht bracht, das es wider

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rein glentzet, und jederman sehen kan, was das Euangelium, Tauffe, Sacrament, Schluessel, Gebet und alles sey, was uns Christus gegeben hat, und wie man des seliglich brauchen sol.“646

Wir nehmen dank dem Werk, zu dessen Durchführung der Reformator berufen war, eine unvergleichlich günstigere religiöse Position ein als er. Doch auch in unserer Zeit ist die Religion für viele von unverständlicher Scholastik, von sonderbaren Worten, Worten, Worten überwuchert. Was ist gemeint? Ist [überhaupt] etwas gemeint? Luther ist selbst daran beteiligt. Ein französischer Zeitgenosse schrieb: „Wo Luther gut gesprochen hat, da hat kein Mensch besser gesprochen.“647 Aber Luther war an seine Zeit und an seine Grenzen gebunden. Ungenießbare Gedankengänge kommen vor. Und ebenso wie andere Propheten hat Luther die Schmach erlitten, dass Nachredner am Buchstaben klebten, ohne in der Lage zu sein oder Lust zu haben, sich vom Geist befreien zu lassen. Einer von den wenigen Gewaltigen in der Welt des Geistes einer, der berufen war, Himmel und Hölle in seiner Seele zu beherbergen, wird in zahme Schulgelehrsamkeit gekleidet. Dieses Gewand wirft er ab. Ernster ist, dass das Weltbild sich verändert hat. Die Kirche tut gerne so, als ob diese Revolution nicht geschehen sei. Mit dem Universum hat die Gottesvorstellung, wenn ich unverständig reden darf, an Umfang zugenommen, ebenso sicher wie dass ihr Inhalt nicht über das Evangelium hinaus überboten werden kann. Menschen leben nebeneinander in verschiedenen Zeitaltern. Doch denjenigen, denen das [333] alte Weltbild gesprengt worden ist, erscheint manches in der gängigen Lehrweise als Mythologie und Scholastik, dazu angetan, Gottes Willen und Verheißungen zu verdecken, nicht sie zum Ausdruck zu bringen. Nur wenige besitzen die Fähigkeit, das Wesentliche im Vergänglichen zu erkennen. Es ist nicht gemeint, dass man Theologie und Geschichte studieren und sich mit einer Art heiliger Mundart vertraut machen müsse, um Gottes Rede an die Seele zu hören. Wie Luther in seiner Zeit, so müssen wir in unserer Zeit darüber klagen. dass das Evangelium nicht auf dem Leuchter steht, sondern von mancher ernsten Seele unter dem Scheffel hervorgeholt werden muss. Ich empfehle als Leuchter nicht irgendeine modernere Scholastik. Aber es bedarf vieler seelischer Arbeit, die gute Botschaft Christi und der Reformation suchenden Seelen in unserer Zeit leichter zugänglich zu machen, so dass sie von der Verkündigung der Kirche sagen können, was Albrecht 646 [Reihenpredigten über Joh 16 (1538), WA 46 (1–111), 62,32–63,2. ­Söderblom gibt als Bezugstext die S. 308 an, die aber nicht zu diesem Kapitel gehört. Zur Erklärung s. o., Anm. 640.] 647 [Ohne Belegstelle. Vermutlich meint ­Söderblom seinen Zeitgenossen Pierre Imbart de la Tour, aber auch das lässt sich nicht beweisen. D. Hg.]

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Dürer über Luther schrieb, dass seine Lehre klar und durchsichtig war, wenn er über das Evangelium unterrichtete. Ist nicht das Losungswort in dieser Sache Glaubenszuversicht? Es drückt mit unvergleichlicher Schärfe das geistliche Wesen des Christentums aus und unterscheidet es zugleich von bloßer Mystik. Denn das Vertrauen des Evangeliums gründet sich nicht auf eine Stimmung oder Beschaffenheit oder Übung der Seele, sondern auf Christus, auf das, was Gott unabhängig von dem Glaubenden vollbracht hat. Luther schreibt: „Eine Sache und nur die ist für christliches Leben, Gerechtigkeit und Freiheit vonnöten. Diese Sache ist das hochheilige Wort Gottes, das Evangelium Christi …“648 Damit konnte Luther den Glauben als eine Gewissheit trotz allem behaupten, unabhängig von Einwürfen des Herzens und äußeren Hindernissen. „Christen“, schreibt Luther, „haben die Vergebung der Sünden und Freude des Herzens allein im Glauben [zugleich] mit einer widerstreitenden Wahrnehmung.“649 Dieses Vertrauen auf Gott ist von der Veränderung des Weltbildes nicht betroffen. Der Mensch ist sich in verschiedenen Zeitaltern erstaunlich gleich. Die Weltkatastrophe650 zeigt, wie locker der Lack der Kultur auf den urtümlichen Antrieben zum Guten und zum Bösen sitzt. Und die wirklichen Höhepunkte des menschlichen Daseins [334] sind nicht durch den Fortschritt der Kultur bestimmt. Sie liegen nicht auf einer gleichmäßig ansteigenden Linie. Man muss sie dort suchen, wo sie sich befinden. Einen anderen Christus dürfte die Welt vergebens erwarten. Es ist unverständig, nach irgendeinem erträumten Glauben zu greifen, solange die religiöse Neuschöpfung der Reformation noch keineswegs vollendet ist. Wir verstehen Luther und sein Werk heute besser als vor hundert Jahren. Jugendlicher Eifer lehnt das Große, das Klassische, das Bleibende vielleicht schon deshalb ab, weil es anerkannt ist. Der Unfreie empfindet vielleicht das Erbe der Vergangenheit als Last statt als Hilfe. Ich rede nicht von der Freude der Unwissenheit daran, etwas niederzutrampeln, dessen Wert sie nicht zu fassen vermag. Doch die Weisheit bekommt von ihren Kindern Recht. Diejenigen, die der Welt den größten geistigen Gewinn verschafft und die Geschichte am tiefsten beeinflusst haben, waren keine Neuerungssüchtigen, sondern sie bezogen neue Werte aus alter Schatzkammer. Hunger sucht die Welt heim. Die Vorräte werden knapp. Die Verteilung muss noch genauer werden. Guter Wille muss das ersetzen, was keine Organisation vermag. Aber die geistige Unterernährung, unter der die Kinder des Zeitalters lange gelitten haben, beruht nicht auf Knappheit. Man 648 [Tractatus de libertate Christiana (1520), WA 7 (49–73), 50,33–35.] 649 [Vorlesungen über Jesaja (1527–29), WA 25 (89–401), 307,39 f.] 650 [D. h. der Erste Weltkrieg.]

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stopft sich ständig voll mit magerer, gehaltloser oder ungesunder geistiger Kost. Und doch ist das Wertvollste allen zugänglich. Es wird dadurch, dass es vielen zuteil wird, nicht vermindert, sondern vermehrt. Findet sich hier im Dom jemand, der mitten im Überfluss geistig so unterernährt ist, dass er nicht die Bibel liest, so entdecke er anlässlich des Reformationsjubiläums, dass auch die Bibel zur Literatur gehört. Es lohnt sich ebenso sehr, Luther zu lesen. Da gibt es keine leeren Worte, sondern wie viele Regale seine Bücher auch füllen, so sprudelt es doch überall von Leben und Aufrichtigkeit. Der unbestechliche Wahrheitszeuge würde zornige Worte und grobe, unpassende Vokabeln für Scheinheiligkeit, Ungerechtigkeit und [335] Lieblosigkeit in unserer Zeit haben, innerhalb wie außerhalb der Kirche, im gesellschaftlichen wie im privaten Leben. Wenn wir heute das Jubiläum der Reformation feiern, erinnern wir uns der allerersten der Thesen, die vor vierhundert Jahren ungefähr um diese Tageszeit am Abend vor Allerheiligen angeschlagen wurden. „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße‘, da wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“651 Meinen wir, dass wir fertig seien, dann sind wir nicht Kinder der Reformation. Das gilt zuerst für unsere eigene Person. Aber es gilt auch für die Kirche. Die Reformation muss eine fortlaufende Besserung sein, eine ständige Bewegung. Sie erreicht ihr Ziel weder für die Kirche noch für den Einzelnen in dieser Welt. Aber es muss redlich und unverdrossen verfolgt werden. Gerät die Bewegung der Reformation in der Kirche ins Stocken, so tritt Siechtum und Tod ein. Glaube ist nicht ein unbeweglicher Besitz, sondern, wie der Heiland in dem zweiten, für die Vesper dieses Tages reservierten Text (Joh 6, 28 f) sagt, das eigentliche Werk des Geistes. Wir leben mitten unter den Wohltaten der Reformation. Aber gerade deshalb ist da mancher, der sie nicht sieht, sondern für selbstverständlich hält, was mit äußerster Anstrengung gewonnen wurde, und was lauernde Feinde des Lichtes und der Freiheit des Evangeliums uns gerne wegnehmen möchten. „Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“ [Apk 3, 11] Möge keine Schwäche, keine kurzschlüssige gute Absicht vor der Verantwortung versagen, die Schweden nach menschlichem Ermessen von Gott selbst auferlegt ist, evangelischer Glaubenszuversicht und Freiheit in der Welt Heimstatt und Wehr zu sein. Hier gilt das Gesetz des stärkeren Drucks. Das Glaubensleben muss unter uns gestärkt und in der Liebe wirksamer werden, wenn wir dem uns von Gott aus Gnade verliehenen Reichtum und Auftrag gerecht werden sollen. 651 Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (1517), WA 1 (233–238), 233,10 f.

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Dieser Auftrag gilt nicht bloß unserer Abteilung der Kirche652 , sondern der ganzen Christenheit, nicht bloß der Kirche, sondern dem ganzen Menschenleben. Denn die Reformation hat weit über die Grenzen der evangelischen Christenheit hinaus gewirkt und tut das auch weiterhin. Und [336] der Segnungen der Reformation erfreut man sich weit über die Grenzen des eigentlichen kirchlichen Lebens hinaus. Jeder, der Sinn für die Tiefen und Höhen der Seele hat, jeder Freund charaktervoller Selbstständigkeit, Aufrichtigkeit und des kühnen Glaubens, der das Beste von allem bietet, Gottes vorbehaltlose Gnade in Christus für jeden Menschen ohne Unterschied, jeder, der nichts von irgendeiner Masse, einer Menge von Menschennummern wissen will, sondern allein von Menschenseelen, der aber zugleich will, dass geistige Freiheit nicht das Monopol einer kleinen Zahl von Geistesaristokraten, sondern durch die Glaubenszuversicht jeder Seele zugänglich sei, der muss sich, wenn er nicht verblendet ist, dem echten Luther und dem Geist der Reformation verwandt fühlen. Es muss hier nicht geschildert werden, wie neues Licht und neue Klarheit auf Natur und Kultur fielen, wie die unterschiedlichen Interessen, Aufgaben und Tätigkeiten des menschlichen Lebens zu Ehren kamen, wie die Arbeit zum Gottesdienst wurde, wie das Gewöhnliche und gering Geschätzte mit Heiligkeit und Schönheit übergossen wurde, wie sowohl Geistliches als auch Weltliches zu ihrem Recht kamen wie nie zuvor. Man sehe sich nur die Volksbildung in den Ländern der Reformation an. Sehr wohl muss freilich gesagt werden, dass dies alles Dinge sind, die hinzugekommen sind, während Luther nur das Eine suchte, die Befreiung und den Frieden der Seele. Wir brauchen die Glaubenszuversicht für vieles. Wir brauchen Glauben, um durch die Finsternis zu kommen, die sich jetzt über die Welt gesenkt hat. Einzig überweltlicher Glaube vermag wirklich über die Grenzen hinweg zu einigen. Sollen wir auf den Kleinglauben hören? Oder sollen wir es wagen, an eine heilige, allgemeine Kirche zu glauben und danach zu handeln? Das evangelische Bekenntnis birgt mehr als jedes andere die Möglichkeit zur Einigung, weil sein Freiheitsprinzip die Einheit der Christgläubigen unabhängig macht von historisch gewachsenen Verschiedenheiten in Brauchtum und Organisation, die andere Bekenntnisse zu unabänderlichen Gesetzesvorschriften machen. Wir müssen von Glaubenszuversicht leben, um Freimut und Klarheit, Liebe und Treue für unsere Berufe und Sorgen im Reich und in der Kirche, in Heim und [337] Betrieb zu gewinnen. Im Grunde jedoch brauchen wir Glaubenszuversicht für uns ganz persönlich. Der Reformator selbst war von Angst zerfressen, ein armes zit-

652 [­Söderbloms Ausdruck für eine christliche Konfession. D. Hg.]

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terndes Menschenkind. Doch als er gelernt hatte, aus Glauben zu leben, gelang es ihm, die Welt zurechtzurücken wie niemand seit Christus. „Und ist er selbst ein Staub, ein Zwerg, so kann sein Hammer doch, aus Stahl geformt, zerschmettern Berg’, Aus Gottes klarem Wort.“653

Es war seine besondere Tätigkeit, Berge zu zerschmettern. Aber Luther schrieb über jeden Christen: „Wer glaubt, dass er Gott zum Versöhner und Vater hat, … sollte der sich nicht freuen und jubeln, ja sogar eiserne Berge und jede Art von Widrigkeiten furchtlosen und unbesiegbaren Geistes durchdringen, sollte er nicht meinen, dass alles von Honig, Milch und Wein überfließt, … schon nicht mehr sterblich, sondern das ewige Leben lebend?“654 Ein jeder kann durch Glaubenszuversicht frei und stark werden. Freiheit und Stärke kommen nicht aus uns selbst, nicht aus der Form des Glaubens, sondern aus seinem Gehalt, Gott in Christus. Wir sollen leben, nicht von eigenen Mitteln oder denen der Welt, sondern von Gottes Gnade, die der Glaube ergreift.

653 [Zweiter Teil des Gedichts Luthers hammare (Luthers Hammer) von Erik Axel Karlfeldt. Es war Bestandteil der Kantate, die von der Universität Uppsala bestellt worden war und am Reformationsjubiläum 1917 aufgeführt wurde, vgl. Reformatio­ nens fjärde jubileum i Uppsala den 31 oktober 1917, Stockholm 1917, 59–61. Dort (S. 14–27) erschien auch der hier vorliegende Vortrag, der am gleichen Tag im Dom von Uppsala gehalten wurde. Dieser war zuerst am 1. November in Stockholms Tidningen gedruckt worden; für die genannte Festschrift hat S­öderblom dann jenen Vers Karlfeldts eingefügt. Mitteilung von Staffan Runestam.] 654 [Vorlesungen über 1. Mose (1535–1545), WA 44, 766,39–767,3.]

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[339] XI Der Bauernkrieg. Soziale Not – Seelennot [341] „Ein neues Zeitalter verlangt sicherlich neue Gesetze und neue Sitten. Wenn diejenigen, denen die Pflicht dafür zukommt, diese nicht mit Fleiß ausbilden, dann werden diejenigen, denen die Pflicht dafür nicht zukommt, sie mit Gewalt einführen.“655

Diese Worte Martin Luthers in einem Brief an Spalatin vom 23. März 1525 sind vielfältig anwendbar und sollten zu allen Zeiten von den Machthabern beherzigt werden. Man kann hinzufügen: Eine solche erzwungene, nicht rechtzeitig ergriffene Maßnahme kann in Gewalt ausarten. Sie gelingt nicht immer, und wenn sie gelingt, bringt sie eine Menge Blut, Unrecht und Tränen mit sich. Lange vorbereitet, brach die soziale Revolution in den Jahren 1524 und 1525 im südlichen und mittleren Deutschland aus. Luther befand sich da auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Er wurde von seinem Volk verehrt wie niemand vor oder nach ihm. Die Lage der Bauern in Europa hatte sich gegen Ende des Mittelalters auf Grund einer Reihe von sozialen und ökonomischen Veränderungen verschlechtert. Der Anschluss an eine Ritterburg oder an einen Feudalherren, weltlich oder geistlich, hatte zu seiner Zeit Sicherheit und Zusammenhalt bedeutet, wurde aber allmählich zur Leibeigenschaft. Lediglich unsere Bauern hier im Norden sowie die Landbevölkerung der Alpentäler waren niemals Leibeigene, obgleich auch sie es unter dem Druck der Herren zeitweise schwer hatten. Unsere Bauern sind ebenso die einzigen, die zu allen Zeiten Sitz [342] und Stimme im Reichstag hatten, mit dem Schutz vor den schlimmsten Formen der Willkür, den das bot. Im Jahr 1484 besagte ein offizieller Bericht aus Frankreich, dass die Bauern aus Mangel an Zugtieren „zum Pflügen das Joch auf ihre eigenen Schultern legten“ und aus Angst vor Besteuerung nachts arbeiteten. Konnten die Bauern sich einige Maß Roggen beschaffen, so versammelten sie sich wie Eulen zu dritt oder viert des Nachts, spannten sich vor den Pflug und säten ihr bisschen Saat ein, als ob sie Missetäter wären. Waffen durften sie nicht tragen. Sie hatten kaum genug zu essen. François I., der Zeitgenosse Luthers, sagte eines Tages, der spanische König sei ein König über Menschen, der französische König ein König über Tiere. 655 Brief an Spalatin vom 23.3.1525, Nr. 844, WA.B 3, 457,11–13.

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Der englische Botschafter wunderte sich. In England gab es noch einen Bauern­stand, der erst später verschwand und wie bekannt bis heute nicht existiert. In Deutschland war die alte Freiheit der Bauern ebenfalls allmählich untergegangen. Von der Arbeit des Bauern musste ein Heer von Müßiggängern leben. Die Unterwürfigkeit war hier nicht so ausgebildet wie in Frankreich, wo die Geduld der Bauern zu jener Zeit in Europa sprichwörtlich war. Im deutschen Reich verbesserte sich die Lage zum 16. Jahrhundert hin ein wenig. Doch Auflagen und Abgaben bestanden in unverhältnismäßiger Höhe fort. Wie es nicht selten vorkommt, waren es nicht die im tiefsten Elend Versunkenen, die sich rührten, sondern die, welche auf einen Lichtblick hin bereits zum Glauben an Verbesserung gekommen waren. Kleinere Bewegungen traten in Süddeutschland auf, Johannes von Niklashausen 1476, Bundschuh 1513, Der arme Konrad 1514, bevor im Jahre 1524/25 eine gewaltige Erhebung zustande kam. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob sie dauerhaften Erfolg haben würde. Die Städte von Straßburg bis Nürnberg leiteten Verhandlungen ein. Man sprach von Bündnissen zwischen Rittern, Bürgern und Bauern. Gutwillige Zugeständnisse wurden gemacht – noch mehr wurden erzwungen. Mit dem Erfolg wuchsen Anarchie und Grausamkeit. Doch wurde die Letztere noch übertroffen, als es den vereinigten Truppen des Adels und der Fürsten gelang, [343] der Bewegung Herr zu werden. Der Bauernkrieg erstickte in Blut. Die Rache war fürchterlich, die Bauern wurden massenhaft gefoltert und getötet. Aufs Ganze gesehen erging es ihnen jetzt weit schlechter als zuvor, wo nicht evangelische Stände und evangelische Volksbildung die Lage verbesserten. Der Aufruhr verzögerte die Erleichterung für die schamlos unterdrückten Bauern, die sie anfangsweise in manchen Gegenden schon im Guten bekommen hatten. Luther und Zwingli hatten unabsichtlich ihren Anteil an dem Ausbruch der alten sozialen Unruhen. Die Gemüter fassten neue Hoffnung, als sie vom Evangelium, vom allgemeinen Priestertum und der Freiheit eines Christen hörten. Die Bauern in Deutschland wussten viel besser in der Bibel Bescheid als zuvor die Hussiten in Böhmen. Und die Bibel ist ein gefährliches Buch. Sie führten das Evangelium und das Gesetz des Mose gegen die Unterdrückung ins Feld. Die Anführer waren nicht selten Anhänger ­Luthers und der Reformation. Das sieht man an ihren Dokumenten, die sich auf die göttliche Gerechtigkeit berufen. Wo die Religion der Bewegung Inhalt und Kraft verlieh, ergriff sie die Gemüter am tiefsten. Karlstadt war selbst eine Zeitlang Bauer. Doch die Extremisten und Demagogen der Reformation wurden Luthers bald überdrüssig und gingen dazu über, ihn anzuschwärzen, außerstande, sein religiöses Prinzip zu verstehen. Zu Beginn waren die Bauern einem friedlichen Ausgleich zugeneigt. Ihre Artikel wollten nicht aufrührerisch sein, sondern forderten lediglich, – 299 –

dass die Dinge dem Evangelium gemäß geregelt werden sollten. Sie verlangten eine Änderung solcher Verhältnisse, die mit Gottes Wort nicht übereinstimmten. Sie wollten also der Leibeigenschaft entkommen, die in der Bibel nicht geboten ist.656 Obgleich eine solche Verwendung der Bibel als Gesetzbuch Luthers Prinzipien widersprach, kann man sich nicht darüber wundern, dass die Widersacher die Bewegung als lutherisch bezeichneten. Nach allgemeinem Urteil beruhte sie auf Luthers falscher Lehre. Die Lutheraner wurden bestraft. Luther wurde „der große Mörder [344] zu Wittenberg“ genannt. Wie steht es mit dieser Verbindung von Luther und der Revolution? Luther hatte lebenslang ein Herz für die Bauern. Niemand hat sich in dieser Zeit warmherziger ihrer Sache angenommen. Im Frühjahr 1525 forderte er die Fürsten und Herren zum Frieden auf der Grundlage der zwölf Artikel der schwäbischen Bauern auf. Er schrieb: „… der arme gemeine man nicht kan noch mag [den Zustand der Dinge] lenger ertragen“. Die Herren hatten sich den Zorn Gottes zugezogen. „… das sollt yhr wyssen, lieben herrn, Gott schaffts also, das man nicht kan, noch will, noch solle ewr wueterey die lenge dulden. Yhr müst anders werden und Gotts wort weichen, Thut yhrs nicht durch freundliche willige weyße, so müst yhrs thün durch gewelltige und verderbliche vnweise. Thüns diße bawrn nicht, so mussens andere thun, Und ob yhr sie alle schlugt, so sind sie noch vngeschlagen … Es sind nicht bawren, lieben herrn, die sich widder euch setzen, Gott ists selber, der setzt sich widder euch, heymzusuchen ewr wueterey.“

So war der Ton in der Ermahnung zum Frieden. Am Anfang der Schrift heißt es: „Es hat die Bawrschafft, so sich itzt ynn Schwaben land zu samen geworffen, zwelff artickel von yhren untreglichen beschwerungen gegen die obirkeyt gestellet und mit etlichen sprüchen der schrifft furgenomen zugründen und durch den druck lassen ausgehen. Ynn wilchen mir das auffs best gefallen hat, das sie ym zwelfften artickel sich erbieten, besser unterricht, wo es mangelt und von nöten were, gerne und williglich anzunehmen und sich wöllen weysen lassen, soferne dasselbige durch helle, offentliche, unleugbare sprüche der schrifft geschehe …“657

Doch als die Bauern begannen zu brandschatzen und zu wüten, zu plündern und zu morden, und die Kunde davon Luther zu Ohren kam, da wurden andere Töne angeschlagen. 656 Die Dokumente zum Bauernkrieg sind bequem zugänglich bei H. Barge (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg in zeitgenössischen Quellenzeugnissen, Bd. 2 (Voigtländers Quellenbücher 81), Leipzig (1914). 657 Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben (1525), WA 18 (291–334), 293,33 f; 294,36–295,24; 291,15–21.

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Leider gelangte Luthers Ermahnung zum Frieden nicht einmal zum Druck, ehe er sich veranlasst sah, das kurze aber schreckliche Sendschreiben Wider die räuberischen [345] und mörderischen Rotten der Bauern nachzuschieben. Die Ermahnung war in den letzten Apriltagen abgefasst worden. Wahrscheinlich am 4. Mai kam die neue Schrift zustande. Das Unglück wollte es, dass beide gleichzeitig erschienen, was der Ermahnung zum Frieden die Wirkung nahm. „Im vorigen buchlin thurste [wagte] ich die bauren nicht [ver]urteylen, weyl sie sich zu recht und besser unterricht erbotten, Wie denn Christus gepeut, man solle nicht urteylen, Matt.7. Aber ehe denn ich mich umbsihe, faren sie furt und greyffen mit der faust dreyn, mit vergessen yhrs erbietens, rauben und toben und thun wie die rasenden hunde, Dabey man nu wol sihet, was sie ynn yhrem falschen synn gehabt haben, und das eyttel erlogen ding sey gewesen, was sie unter dem namen des Euangeli ynn den zwelff artickeln haben fur­gewendet …“658

Die Aktion der Bauern brachte nach Luthers Überzeugung weit größere Sünde und Elend mit sich als die Ungerechtigkeiten, die sie anklagen und beseitigen wollten. Jetzt, nachdem der Aufstand ausgebrochen war, ging es allein um eins, nämlich mit aller Macht die Rechtsordnung wiederherzustellen. Und mit der ganzen Heftigkeit, deren Luther fähig war, hetzte er in diesem kurzen Brief die Obrigkeit dazu auf, den Aufstand erbarmungslos niederzuschlagen. „Dreyerley grewliche sunden widder Gott und menschen laden dise bawrn auff sich, dar an sie den todt verdienet haben an leybe und seele manichfeltiglich.“ Erstens, dass sie der Obrigkeit die Treue gebrochen haben. Zweitens, dass sie zum Aufruhr angestiftet haben, Klöster und Schlösser ausrauben und plündern. Drittens, dass sie solche schrecklichen und widerwärtigen Sünden mit dem Evangelium bemänteln und sich christliche Bauern nennen. „Das sind myr feyne Christen, Ich meyn, das keyn teuffel mehr ynn der helle sey, sondern allzumal ynn die bawrn sind gefaren…“ „Darumb ist hie nicht zu schlaffen [schlafen]. Es gillt auch nicht hie gedult odder barmhertzickeyt. Es ist des schwerds und zorns zeyt hie und nicht der gnaden zeyt. So soll nu die oberkeit hie getrost fort dringen und mit gutem gewissen dreyn schlahen, weyl [dieweil] sie eine ader [Muskel] regen kan …“659 [346] Wenn auf der Seite der Obrigkeit jemand fällt, so ist er vor Gott ein rechter Märtyrer, sofern er mit solchem Gewissen kämpft, wie hier gesagt ist. Es ist eine heilige Pflicht, die Aufrührer niederzuschlagen und Recht und Ordnung wiederherzustellen.

658 Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525), WA 18 (357–361), 357,3–12. 659 A. a. O., 357,21 f; 359,11 f; 360,9–11.

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Hier gilt, „ym dienst der liebe, deynen nehisten zurretten aus der hellen und teuffels banden. So bitte ich nu, flihe von den bawren, wer da kan, alls vom teuffel selbs. Die aber nicht flihen, bitte ich, Gott wöllte sie erleuchten und bekeren.“ „Dunckt das yemand zu hart, der [be]dencke, das untreglich ist auffruhr, und alle stünde der wellt zerstörung zu warten sey.“660 Es gibt vieles in Luthers weitläufiger und stürmischer literarischer Produktion, das man sich anders wünschen würde. Doch könnte ich wählen, so würde ich es für am wichtigsten ansehen, dass bestimmte ungezügelte Ausdrücke in dieser kleinen Schrift verschwunden oder anders gefallen wären. Man kann sich nicht darüber wundern, dass Luthers Schrift schmerzlichstes Aufsehen weckte. Die Wirkung seiner Friedenswerbung war verspielt. Und der recht ausführliche Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, der im folgenden Juli herauskam, konnte die Enttäuschung und Verärgerung kaum mildern, die seine rasende Bannbulle gegen die Bauern in weiten Kreisen verursacht hatte. Vermutlich hatte der Rat von Freunden seinen Anteil an der Entstehung der Erklärung, als sie sich kurz nach Mittsommer zu Luthers Hochzeit versammelten. Aber es war zu spät. Die Stimmung im Volk war bereits zum Nachteil Luthers umgeschlagen. Mitte Juni schrieb er einigen Freunden von seiner auf den 13. Juni angesetzten Eheschließung, die am 27. Juni mit einer „kleine[n] Freude und Heimfahrt“ begangen werden sollte. Hier ist die Rede von dem Geschrei, das die Schrift gegen die Bauern bewirkt hatte. „Welch ein Zetergeschrei, lieben Herren, hab ich angericht mit dem Büchlin wider die Bauren! Da ist alles vergessen, was Gott der Welt durch mich getan hat. Nun sind Herrn, Pfaffen, Bauren, alles wider mich, und dräuen mir den Tod.“661 [347] Der Mann, der acht Jahre lang der Held der Nation gewesen war, wurde jetzt „der unpopulärste Mann in ganz Deutschland“.662 Von allen Seiten hatte das Volk zu ihm als zu Deutschlands Propheten und Retter aufgeblickt. Jetzt wurde Luther von seinem Sockel gestoßen. Er verlor die Verehrung des Volkes. Die Stimmung bei den Bauern war derart, dass der Vater noch Jahre später nicht wollte, dass er zu Besuch käme, weil er an das Ungemach dachte, das dadurch entstehen würde. Luther selbst hatte ein Gefühl gehabt für das, was kommen würde, als er die Bauern in seiner Ermahnung zum Frieden davor warnte, nicht zu schnell zu schreien:

660 A. a. O., 361,27–35. 661 [Brief an Johann Rühel, Johann Thür und Kaspar Müller vom 15.6.1525, Nr. 890, WA.B 3, 531,17; 531,4–6.] 662 Adolf Hausrath, Luthers Leben (wie S. 15, Anm. 19), Bd. 2, 58.

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„Der Luther heuchlet den fursten, Er redt widder das Euangelion, Leßet zuuor vnd sehet meynen grund aus der schrifft, denn es gillt euch, Ich byn endschuldiget fur gott vnd der wellt, Ich kenne die falschen propheten vnter euch wol, Gehorchet yhnen nicht, Sie verfuren euch warlich …“663

Der Bedeutendste unter den Förderern und Führern des Aufstandes, Thomas Müntzer, nahm ein Ende mit Schrecken. Es gab noch andere, weniger fanatische Schwarmgeister, die eilig auf Luthers Rücken zu Gunst und Ansehen beim Volk emporkletterten. Unter den Evangelischen fanden sich auch solche, die aus ganzem Herzen die ungestüme Sprache des Reformators bedauerten. Wir sehen an Luthers erklärendem Sendbrief, wie sehr es ihm zu Herzen ging, das schonungslose Vorgehen der Fürsten und Herren zu beobachten, als sie über die armen irregleiteten Bauernscharen die Oberhand gewonnen hatten. Es gab niemanden, der Luthers Popularität erben konnte. Es dauerte lange, bis die deutsche Volksmeinung ihren Frieden damit machen konnte, dass die Berufung des Volkshelden und Gewissensbefreiers, als der Ersehnte endlich gekommen war, sich so sehr von den landläufigen Erwartungen unterschied. Zu allen Zeiten hat Luther seinerseits die Schmach ertragen müssen, ein gehorsamer Fürstendiener genannt zu werden. Daneben muss nun das genau entgegengesetzte [348] Urteil gestellt werden, das wir oben angedeutet haben und das bereits in den ältesten auf unsere Zeit überkommenen Berichten von dem Bauernaufstand hervortrat. Besonders bemerkenswert ist die Schilderung des jämmerlichen Untergangs der elsässischen Bauern bei Zabern und Lupstein. Sie erschien 1526 in Paris und beschreibt den „triumphalen und ehrenvollen Sieg“ des Herzogs von Lothringen „über die irregeleiteten und betrogenen Lutheraner, Ketzer im Elsass“. Hier werden die aufrührerischen Bauern durchgehend Lutheraner genannt. Sie waren „Bekenner der falschen und verabscheuenswürdigen Lehre Luthers“. „… man [führte] Lutheraner und Bauern zusammengebunden in Trupps und Rotten“ herbei. „Die Lutheraner“ unternahmen „unaufhörlich [Vorstöße] gegen das Volk Gottes.“ Als es zur Verhandlung kam, wurde den Bauern in Zabern die Zusage gegeben, sie könnten heimgehen, unter der Bedingung, dass „sie nur niemals mehr Martin Luther und seinen Genossen die geringste Achtung erweisen wollten.“ Die Zusage an die Bauern wurde nicht eingehalten. Und es ist die Frage, inwiefern dies wirklich darauf beruhte, dass die Bauern, ungeachtet dass sie „versprochen hatten, als gute Christen leben zu wollen“, in trotziger Verstockung den Ruf ausstießen: „Es lebe der treffliche Luther“. „Die­ 663 Ermahnung …, a. a. O. (wie Anm. 657), 328,12–16.

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Lutheraner“ wurden von Landsknechten gezwungen, zurück in die Stadt zu fliehen, und bis zu achtzehntausend von ihnen wurden dort niedergemacht. Es heißt, dass „die Lutheraner und aufrührerischen Bauern unbarmherzig behandelt [wurden], wie sie es um ihrer Falschheit und ihrer Irrlehren willen verdient hatten.“664 Auch Valerius Anshelm in Bern berichtet in seiner Chronik: „… wie die purschaft [Bauernschaft] und ir anhang hat furgenomen, durch ufruor das evangelium und sich selbs zufrîen [zu befreien], also ist ir fürnemen durch ufruor umgestürzt worden, also dass die evangelische ler und predî, unders Luthers und Zwinglis und der töuferen namen als „evanhellisch“ und ufrüerisch gescholten, verhasst und geschücht [vertrieben] … worden.“665 [349] Die Zusammenstellung von Luthertum und Aufuhr ist bestimmend geblieben für die ganze katholische Auffassung von Luther und der Reformation. Er gilt sowohl offiziell als auch in der volkstümlichen Vorstellung als der Aufrührer schlechthin, der gefallene Engel, Ursache aller Spaltungen, Revolutionen und Auflösungen in der abendländischen Welt. Wie reimen sich zwei so entgegengesetzte Urteile zusammen? Die Herdenmenschen sind allezeit in der Majorität. Unfähig den freien Mann und seinen Weg zu verstehen, beurteilen sie ihn auf parteiische Weise und zeigen mit dem Finger auf ihn, sofern sie nicht, verärgert über das, was über ihren Verstand geht, von der Gegenseite her seinen Gang zu behindern versuchen. Zur Beurteilung der Haltung Luthers im Bauernkrieg wird noch heute die bequeme Formel verwendet, er habe sich mit beiden Seiten gut stellen wollen, so sei ihm das wohlverdiente Los zuteil geworden, zwischen zwei Stühlen sitzen. Sieht man sich Luthers eigene Mitteilungen an, so ergibt sich größeres Recht für die Behauptung, dass er sich mit beiden Seiten anlegen wollte. So hartnäckig und eindringlich beschimpfte er jede von beiden. Gegenüber den einander klar widerstreitenden Beurteilungen ist es notwendig zu unterscheiden, was Luther im Frühjahr und Frühsommer 1525 über die Revolution schrieb. Wir werden dann sehen, dass Sprache und Ton sich je nach den wechselnden Ereignissen veränderten. Der Zorn richtet sich jedes Mal gegen die, welche gerade die am meisten Schuldigen und offene oder unfreiwillige Feinde der Sache des Evangeliums und sozialer

664 [Bericht des Nicolaus Volleyr de Séronville in: Lhistoire et Recueil de la Triomphante et glorieuse victoire obtenue contre les seduyctz et abusez­ Lutheriens mescreans du pays Daulsays usw., von S­ öderblom nach der deutschen Übers. von H. Barge (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg … (wie Anm. 656, dort S. 121–145), 124.127.132.139.143.145 zitiert.] 665 Valerius Anshelm, Die Berner-Chronik, hg. v. Hist. Verein des Kantons Bern, Bd. 5, Bern 1896, 103 f.

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Verbesserung zu sein scheinen. Aber die Grundanschauung ist durchweg einheitlich und folgerichtig. Die Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauerschaft in Schwaben enthält keine bedingungslose Billigung der Punkte der Bauern. Zwar unterstützt Luther unter bestimmten Bedingungen den Wunsch des ersten Artikels nach dem Recht jeder Gemeinde, ihren Pfarrer zu wählen. Aber der zweite Artikel von der Verwendung des Zehnten [350] bekommt das Urteil, öffentlicher Diebstahl zu sein, und die Forderung des dritten Artikels nach Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutet nach Luther, die christliche Freiheit zu etwas Fleischlichem zu machen. Die übrigen Artikel über die Freigabe des Wildbrets, Holzrechte, Dienst usw. stellt er den Rechtskundigen anheim. Er selbst als Evangelist kann das nicht beurteilen. Seine Aufgabe ist es, die Gewissen über göttliche und christliche Fragen zu unterrichten. Die Ermahnung wendet sich zuerst, wie wir gesehen haben, mit scharfen Worten gegen die Fürsten und Herren. Hier wird der Vorwand abgewiesen, der dem Evangelium die Schuld gab und im Auftreten der Bauern eine Frucht von Luthers Lehre sah. „So nü Gott eüch zu straffen gedenckt, vnd lesst den teuffel dürch seyne falsche propheten, den tollen poffel (Pöbel) wider euch, erregen, vnd will villeicht, das ich nicht mehr weren solle noch kunde, Was kan ich odder meyn Euan­gelion dazu …? „ „… wenn ich lust hette, mich an euch zu rechen, So möcht ich itzt ynn die faust lachen vnd den bawren zusehen odder mich auch zu yhnen schlahen, vnd die sachen helffen erger machen. Aber da soll mich meyn Gott fur behueten, wie bisher.“666

In solchen Worten liegt mehr als leere Rhetorik. Luther wäre kein Mensch oder deutscher Patriot oder Sohn des Volkes gewesen, wenn er nicht in diesen Zeiten in seinem Herzen wirklich die Verlockung verspürt hätte, den Weg zu gehen, den man [von ihm] erwartete und erhoffte. Er ermahnt die Herren, endlich ihre halsstarrige Tyrannei fahren zu lassen und die ­Bauern mit Vernunft zu behandeln. „… fahet nicht streyt mit yhnen an, denn yhr wisset nicht wo das ende bleyben wird, süchts züüor guttlich, weyl yhr nicht wisset, was got thun will …“667 Und in diesen an die Fürsten gerichteten Worten wird nicht bloß der erste Artikel vom Evangelium und vom Volk gewählten Priestern empfohlen; sondern auch die übrigen Artikel, über die wir gerade Luthers Verwerfungsurteil gehört haben, wo es 666 Ermahnung … (wie Anm. 657), 296,6–15. 667 A. a. O., 297,11–13.

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um Leibeigenschaft und anderes geht, werden hier den Fürsten gegenüber [351] als billig und gerecht bezeichnet. „Denn oberkeyt nicht drumb eyngesetzt ist, das sie yhren nutz vnd mut willen an den vnterthanen suche, sondern nutz vnd das beste verschaffe bey den unterthenigen, Nu ists ia nicht die lenge treglich, so zu schetzen vnd schinden [zu besteuern und auszuplündern] …“668

Luther wendet sich in seiner Schrift sodann an die Bauern mit seiner „freund­ liche[n] bruderliche[n] bitte“ und ermahnt seine „lieben herrn vnd bruder“ vor allem, nicht den Namen Gottes zu missbrauchen und den christlichen Glauben für weltliche Angelegenheiten in Anspruch zu nehmen. Insbesondere warnt er vor Aufruhr, der sie zu „viel grosser reuber denn sie [die oberkeyt]“ machen würde. Es „geburt (gebührt) keynem Christen zu rechten noch zu fechten, sondern vnrecht zu leyden und das vbel zu dulden.“669 „Nicht das ich damit die oberkeyt ynn yhrem vntreglichem vnrecht, so yhr leydet, rechtfertigen odder verteydigen wolle, Sie sind vnd thun grewlich vnrecht, das bekenne ich, Sondern … obs zum streyt keme, das Gott gnediglich wende [verhüte], das die oberkeyt wisse, wie sie nicht widder Christen streytte, sondern widder heyden. … Denn Christen, die streytten nicht fur sich selbs mit dem schwerd noch mit buchsen, sondern mit dem Creütz vnd leyden, Gleich wie ­yhrer hertzog Christus nicht das schwerd furet, sondern am creutze hanget.“670

Darum sollen die Bauern sich an Gebet und Geduld halten und nicht mit dem Evangelium Verstöße gegen Gottes Gebot verbrämen. Schließlich wendet sich Luther an Obrigkeit und Bauern gemeinsam. Die Herren haben die Schrift und die Geschichte gegen sich, die beweisen, wie Tyrannen bestraft werden. Die Bauern haben die Schrift und die Erfahrung gegen sich, die beweisen, dass kein Aufruhr ein gutes Ende genommen hat. Luther möchte gern beiden Seiten mit seinem „leben vnd sterben abkeuüfen“, dass „zween vnvberwindliche schaden“ eintreten. Denn keine von ihnen könnte mit gutem Gewissen kämpfen. Und Deutschland würde verwüstet werden. „Darumb were meyn trewer rad, das man aus dem adel etliche graffen vnd herrn, aus den stedten ettliche radsherrn erwelete, vnd [352] die sachen liessen freundlicher weyße handeln vnd stillen … Werdet yhr solchem rad nicht folgen, … habs [ich] euch gesagt, das yhr zu beyden teylen vnrecht habt, vnd vmb vnrecht fechtet. Ihr herren fechtet nicht widder Christen, Denn Christen thun 668 A. a. O., 299,4–7. 669 A. a. O., 300,17–301,1; 301,14–302,2; 305,32; 314,1–3. 670 A. a. O., 315,1–14.

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euch nichts, sondern leyden alles yhr fechtet aber widder offentliche reuber vnd schender Christlichs namens …Widderümb, yhr bawren fechtet auch nicht ­widder Christen, sondern widder tyrannen vnd verfolger Gottes vnd der menschen, vnd widder morder der heyligen Christi.“671

Das wilde, gleichzeitig veröffentlichte Pamphlet gegen die Mörderhaufen der Bauern sagt im Grunde dasselbe. Es bekräftigt mit allem Nachdruck die Heiligkeit der Rechtsordnung. Im Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern folgt sodann eine Erklärung über die beiden Reiche, das geistliche und das weltliche. „Gotts reich ist eyn reich der gnaden und barmhertzickeyt und nicht ein reich des zorns odder straffe, denn daselbs ist eytel vergeben, schonen, lieben, dienen, wolthun, frid und freude haben etc. Aber das welltlich reich ist eyn reich des zorns und ernsts, denn da selbst ist eytel straffen, weren, richten und urteylen, zu zwingen die bösen und zu schützen die fromen, darumb hat es auch und furet das schwerd, und eyn furst odder herr heyst Gotts zorn odder Gottis rute …“ „Wer nu dise zwey reich ynn eynander wöllt mengen, wie unser falschen rotten geyster thun, der wurde zorn ynn Gotts reich setzen und barmhertzickeyt ynn der wellt reich, das wer eben, den teuffel ynn den hymel und Gott ynn die helle setzen …“672

Wie hoch Luther nach seiner christlichen Überzeugung die Obrigkeit und die Gesellschaftsordnung schätzt, bringt er auf folgende Weise stark zum Ausdruck: „Ich byn eyn geystlicher man genand und fure des worts ampt, aber doch, wenn ich gleich eyns turckischen herrn knecht were und sehe meynen herrn ynn der fahr, ich wöllt meyns geystlichen ampts vergessen und frisch zustechen und hawen, weyl [solange] ich eyne ader [Muskel] regen kund, wurd ich druber er­ stochen, wöllt ich ynn dem werck von mund673 auff gen hymel faren, denn auff­ rur ist keyns [353] gerichts, keyner gnade werd, sie sey unter heyden. Juden, Turcken, Christen, odder wo sie wölle …“674

Man vergisst leicht zu schätzen, was man hat. „Die baurn wusten nicht, wie köstlich ding es sey umb fride und sicherheyt, das eyner mag seynen

671 A. a. O., 331,5–7; 332,18–333,17. 672 Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern, WA 18 (384–401), 389,19–25; 390,6–9. 673 [Nach der volkstümlichen Vorstellung, nach der die Seele aus dem Mund in den Himmel fährt.] 674 A. a. O., 398,29–35.

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bissen und trunck frölich und sicher geniessen …“675 Die Herren mussten auch lernen, recht zu regieren. Zum Schluss zieht Luther die Fürsten für ihr Vorgehen zur Rechenschaft. „… die wütigen, rasenden und unsynnigen tyrannen, die auch nach der schlacht nicht mügen bluts sat werden und ynn yhrem gantzem leben nicht viel fragen nach Christo, hab ich myr nicht fürgenomen zu unterrichten, denn solchen bluthunden gillt es gleich viel, sie würgen schuldig odder unschuldig, es gefalle Gott odder dem teuffel …“ Hier wird die Grausamkeit gegen Müntzers arme Frau angeführt: „O, eyn ritterliche, adeliche that, an eynem elenden, verlassenen schwangern weyblin begangen …“ „Die schrifft nennt solch leute bestien, das sind wilde thier …“ „wurden die bauren herren, so wurde der teuffel apt (Abt) werden, wurden aber solche tyrannen herrn, so wurde seyne mutter epptissthyn werden …“676 Die Schrift endet mit der Versicherung, was Luther lehrt und schreibt, das müsse doch Recht bleiben, wenn auch die ganze Welt zerbräche. Seine Fürsorglichkeit für das Recht der Schwachen hat Luther niemals ruhen lassen. Nach den Worten des Großen Katechismus passen die Bezeichnungen Räuber und Diebe nicht so gut auf die, welche heimlich anderen etwas wegnehmen, sondern [eher] auf die, welche auf dem Stuhl [Thron] sitzen und große Junker und ehrbare, fromme Bürger heißen und unter dem Schein des Guten rauben und stehlen. „Ja hie were noch zuschweigen von geringen eintzelnen dieben, wenn man die grossen gewaltigen Ertzdiebe solt angreiffen (mit welchen herrn und Fursten geselschafft machen), die nicht eine stad odder zwo sondern gantz deudschland teglich ausstelen.“677

Doch der Gedanke an Selbsthilfe innerhalb der Grenzen des Rechts war Luther fremd. Der mittelalterliche [354] Dualismus von Geistlichem und Weltlichem beherrschte seinen Standpunkt. Für den Christen, der dem geistlichen Reich angehört, bleibt nichts anderes übrig als der passive Ausweg, Unrecht geduldig zu erleiden in der Erwartung dessen, was das Wort auszurichten vermag. In dem ersten Auftreten der Bauern, solange sie nicht die Grenzen des Gesetzes verletzt hatten, sah Luther einen Anlass für Verhandlungen und dadurch hervorgerufene Verbesserungen. Aber die Gewalt vernichtete die Aussichten. Was uns in Luthers Betrachtung fehlt, ist der enge Zusammenhang zwischen dem sozialen Zustand und dem Evangelium, nämlich einerseits was das Evangelium von der sozialen Lage für seine Wirksamkeit fordert und 675 A. a. O., 394,1–3. 676 A. a. O., 400,24–28. 33 f. 36; 401,3–5. 677 Deudsch Catechismus, WA 30/I (127–238), 165,11–18, das Zitat 15–18.

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voraussetzt, andererseits was das Evangelium bei seiner Verwirklichung mit sich führen muss, wenn es vollends zu seinem Recht kommen soll. Ein geistliches Leben, wie es das Evangelium gibt und verlangt, setzt bei den Menschen ein gewisses Maß an Kultur voraus. Es kann sehr verschiedene Meinungen darüber geben, was ein menschliches Dasein ausmacht. Für den einen bedeutet es, reichlich Geld zu haben und nicht mehr arbeiten zu müssen als unbedingt nötig, und das Resultat ist eine untermenschliche Existenz. Der andere verwirklicht in Seele und Charakter eine hohe und vorbildliche Menschlichkeit unter äußerst knappen äußeren Bedingungen und schwerer, strebsamer Arbeit. Wir können hier nicht auf die Frage nach dem Minimum sozialer Wohlfahrt eingehen: Wohnung, Hausfrieden, Gesundheit der Arbeit, Arbeitsschutz, Ernährung, Arbeitsruhe, Freiheit usw., die notwendige Voraussetzungen dafür sind, dass eine christliche Predigt und die Forderungen des Evangeliums von jeglicher Spur von Hohn und Unwahrhaftigheit befreit werden. Doch sicher ist, dass es ein solches Minimum gibt, und dass es sich je nach den unterschiedlichen Verhältnissen ändert. Darüber hinaus hat das Evangelium mit seiner vollen Anerkennung der Menschenwürde unentrinnbare Konsequenzen. Jesus hätte nicht so oft und so streng gegen den Mammon gepredigt, [355] er wäre nicht so entschieden als Freund der Armen und Geringen aufgetreten, wenn er nicht in der empörenden Ungleichheit und den Gegensätzen der menschlichen Gesellschaft ein Hindernis für die Gottesherrschaft gesehen hätte. Niemand kann von der Sicht des Evangeliums vom Menschen durchdrungen werden, sei es in Bezug auf uns selbst, sei es in Bezug auf unseren Nächsten, ohne alle gröberen und feineren Formen der Unterdrückung und der gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung innerlich zu verdammen, welche die lebendige Arbeitskraft des Menschen zum Mittel des Kapitals macht, statt dass das Eigentum dienstbar und der Mensch, in welcher Lage er sich auch befinden mag, im Sinne von Verantwortung, Bedürfnis und Vermögen der Verwalter und Herr des Eigentums ist. Es ist nicht gesagt, dass die Verwirklichung der Menschenwürde im Umgang miteinander und die ökonomische Fürsorge der Gesellschaft für jeden Einzelnen, der die sittliche Pflicht erfüllt, arbeiten zu wollen, Hand in Hand gehen. Beides kann im Gegenteil sehr ungleichmäßig auftreten. Das Evangelium ist kein Gesetz und darf nicht zum Schaden der Seele und des Heils in eine, und sei es noch so ideale, Form von Gesetzesreligion verwandelt werden. Aber der Stachel und die Unzufriedenheit, die es dem Gewissen versetzt, sind unentrinnbar, und das geweckte soziale Gewissen kann nicht mit dem unvermittelten Dualismus zufriedengestellt werden, den Luther errichtete. Wir müssen jedoch sehen, dass Luther im Bauernkrieg durch drei Motive bestimmt war, die allezeit Gültigkeit besitzen und die er ohne unheil– 309 –

baren Schaden für die Entwicklung des Christentums nicht beiseite schieben konnte. Das Erste, das ihn bestimmte, war die altchristliche Überzeugung vom unermesslichen sittlichen Wert der Obrigkeit, das heißt, der mühsam aufgebauten Rechtsordnung, als notdürftiger Schutz der Sicherheit und der Freiheit. Das ist eine zeitgemäße Predigt. Die Umwälzungen unserer Tage verkündigen die Heiligkeit der Rechtsordnung mit furchtbarem und gewaltigem Nachdruck. Wir sehen das Unkraut von Verbrechen und sittlicher Erschlaffung, [356] das rasch aus den Ritzen aufschießt, wenn die Rechtsordnung erschüttert und verrückt worden ist. Erst wenn es zu spät ist, wenn auf den Freiheitsjubel Willkür und blutige Unterdrückung gefolgt sind, wird man gewahr, was die Gesellschaftsordnung trotz ihrer Brüchigkeit und der Ungerechtigkeiten, die nach Verbesserung schrieen, für das Wohl des Einzelnen und des Ganzen war und ist. Das sah Luther klarer als viele zu seiner Zeit. Des Weiteren war es für Luther eine heilige Angelegenheit, das Evangelium rein und unvermengt mit weltlichen Machtmitteln zu halten. Sei es, dass Fürsten, sei es dass Untertanen dem Evangelium mit äußerer Gewalt dienen wollten, so war das für Luther ein Gräuel. Er setzte sein Vertrauen allein auf das Wort und sah in dem Unterfangen der Bauern eine unglückliche Vermischung von Weltlichem und Geistlichem. Was Melanchthon in seiner Leichenrede auf Luther ansprach, dass er niemals mit kirchlichen Angelegenheiten irgendwelche Kunstgriffe verband, um seine Macht und die der Seinen zu vergrößern, das gilt ganz besonders für alles, was äußere Gewalt heißt. Das Evangelium muss rein gehalten werden, koste es was es wolle. Natürliches Mitgefühl und lodernder Zorn durften trotz allem das Evangelium, den ewigen Trost und das Heil der Seele, nicht in ein Gebotswort verwandeln, und sei dieses im Moment auch noch so wirksam und begeistert aufgenommen. Das Allerwichtigste in Luthers Einstellung zu der sozialen Revolution besteht darin, dass er soziale Not und seelische Not streng unterschied. Wie vorhin gesagt, können wir diesen Unterschied nicht auf dieselbe Weise wie Luther durchführen. Soziales und Religiöses greifen enger und dringlicher ineinander, als er meinte. Doch vielleicht war seine unerbittliche Sichtweise nötig, um das Prinzip selbst klar zu fassen: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Es ist nicht bloß eine gesellschaftliche, sondern auch eine christliche Aufgabe, in der sozialen und ökonomischen Einrichtung der Gemeinschaft so gut wie möglich [357] die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe zu erfüllen, wenngleich in dem klaren Bewusstsein, das keine Anordnungen, nicht einmal die edelsten, das Wirken des Geistes und den Sinneswandel der einzelnen Menschen ersetzen können. Doch geht – 310 –

die Religion in sozialem Streben auf, so hat sie sich selbst verfehlt und die menschliche Seele mit ihrer eigentlichen Not, der kein Wohlstand abhelfen kann, im Stich gelassen. Luthers Heftigkeit ist unentschuldbar. Aber selbst sie stand unter dem Vorzeichen seines Auftrags, zuerst und zuletzt Helfer in der Seelennot zu sein. Held der Nation, auserwählter Führer des Volkes, sozialer Reformer war eine schöne und hohe Berufung, doch sie war nicht die Luthers. Auch niemand anderes zu dieser Zeit vermochte sie aufzugreifen. Überblicken wir jetzt einen größeren Zusammenhang, so dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass Luthers Berufung für die Menschheit im Großen weit bedeutungsvoller war, und dass wir ihm dafür dankbar sein müssen, dass er gegenüber den Wünschen des Volkes und eines natürlichen Empfindens doch sich selbst treu geblieben ist und sich vor der Begeisterung des Volkes auf sein einsames geistliches Werk zurückgezogen hat.

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[359] XII Der Abend vor Allerheiligen [361] Der Abend vor Allerheiligen. Die Worte haben im Lauf der Zeit einen Inhalt und einen Kreis von Assoziationen auf sich gezogen, die am ehesten dem Namen eines der großen Heiligen der Christenheit gleichen. Für schwedische Ohren hat außer den Festen des Kirchenjahres lediglich der sechste November678 einen vergleichbaren Klang. Beide Tage haben für die evangelische Christenheit Bürgerrecht im heiligen Jahr der Kirche und der Menschheit bekommen. Der Mann, der die Thesen annagelte, ist nicht wie so viele von den freiwillig oder unfreiwillig Lärmenden und sich breit Machenden durch spätere Gestalten in der Geschichte überstimmt oder in den Schatten gestellt worden. Im Gegenteil – er ist ihnen allen über den Kopf gewachsen und mit den Zeitläuften nur größer geworden. Freund und Feind haben darin gewetteifert, ihn klein zu machen. Die Freunde haben ihn zum Schulmeister der reinen Lehre oder zu einem der Herolde der Gedankenfreiheit gemacht, beides Gespenster, die von der Bildfläche verschwunden sind, aber nicht imstande waren, die Auferstehung des somit ehrenvoll Begrabenen zu verhindern. Die Feinde begannen frühzeitig damit, Luther in die Schar der Ketzer und Sektenhäupter einzureihen, sofern man nicht ganz einfach Liederlichkeit als bequeme Erklärung für einen der wenigen Heroen der Weltgeschichte benutzte. Aus dem Gefühl für die Bedeutung des Mannes heraus hat man Luther auf römischer Seite gelegentlich mit dämonischen Zügen ausgestattet – in [362] jedem Fall eine nützliche Korrektur der frommen Fügsamkeit in den offiziellen Lutherbildern des späteren Luthertums. Seine beiden letzten katholischen Biographen haben – ohne das zu wollen – die Lutherforschung auf eine breitere Grundlage gestellt. Man verzeiht dem Dominikanermönch Denifle um seiner unglaublichen Gelehrsamkeit willen die Schmutzigkeit seiner Phantasie. Das Riesenwerk des Jesuiten Grisar ist für einen kundigen und kritischen Leser (der auch bemerkt, wie unkritisch der Verfasser in manchen Fällen die Quellen verwendet) eine von den erhellendsten Lutherschilderungen, die ich kenne. Man macht rasch eine interessante Beobachtung. Bei aller unbedingten Bewunderung für den unvergleichlichen Schriftsteller und die Leiden678 [Gedenken an den Tod Gustafs II. Adolf in der Schlacht bei Lützen am 6.11.1632.]

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schaft seiner Seele und dem unverkennbarem Bemühen, Luther gerecht zu werden, fertigt Grisar ihn doch ab als einen vom Teufel und der Welt und seinem eigenen Fleisch irregeleiteten Wirrkopf. Aber die drei mächtigen Bände sind gespickt mit Lutherzitaten, die zur Sicherheit nicht selten wiederholt werden und die interessante Äußerungen enthalten. Man hat ein sonderbares Gefühl falscher Proportionen, bis man der Sache auf die Spur kommt. Für den unermüdlichen Jesuiten ist es selbstverständlich, Luther mit den normativen Lehrern der Kirche aller Zeiten zu vergleichen. Ein anderer Maßstab kommt ihm niemals in den Sinn. Da wird Luther ebenso unbegreiflich, wie der Größte der Propheten des Alten Testaments dem gängigen priesterlichen Verständnis in Israel erschienen sein muss. Es gibt Worte und Geister in der Bibel, welche die Religionslehre bis heute vergebens dahingehend zu zähmen versucht, dass sie brav ins System passen. Luther selbst war sich, insbesondere in seinen späteren Jahren, seiner Gefährlichkeit durchaus bewusst. „Den großen rohen Haufen wollt ich unters Papsts Regiment lassen bleiben, sie bessern sich doch des Evangelii nichts, sondern mißbrauchen nur seiner Freiheit. Aber den geängstigten und gedemüthigten, verzagten und blöden [schwachen] Gewissen wollt ich sonderlich das Evangelium und Trost predigen.“679

Mit den Größten der Geschichte hatte Luther eine klare und demütige Einschätzung [363] seiner geistigen Fähigkeiten gemeinsam. „Ich bin nicht von solch törichter Demut, dass ich die mir verliehenen Gaben Gottes verleugnen wollte. In mir selbst habe ich fürwahr übergenug, was mich demütigt und mich lehrt, dass ich nichts sei. In Gott soll man auf jeden Fall übermütig sein, sich an seinen Gaben freuen, triumphieren und sich rühmen.“680

Grisar misst und misst und schüttelt sein Haupt, wenn es [ihm] nicht passt. Doch wenn Luther selbst zu Wort kommt, sprengt er das Maß. Das Missverhältnis verschwindet, sobald man erkannt hat, dass Luther nicht in die Reihe der gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Verkünder der Kirchenlehre gehört, sondern einer der schöpferischen Geister der Religion ist. Die Geschichte weist, aufs Ganze gesehen, eine Arbeitsteilung auf, welche nicht Menschen eingerichtet haben. In der Welt der Religion unterscheiden wir zwei hohe Berufungen – neben anderen. Das geistige Erbe muss erforscht, sortiert, angewandt werden. Es gilt, das Gottesverhältnis für das Leben und das Denken zu ordnen und zu klären. Der Glaube muss geweckt, die Liebe und die Hoffnung gestärkt, das 679 WA.TR 2, 178,16–19 (Nr. 1683, Juni / Juli 1532). 680 Brief an Eobanus Hesse vom 1.8.1537, Nr. 567, WA.B 8 (107 f), 107,38–108,42. [Im Original lateinisch.]

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Denken erhellt, das Leben gereinigt werden. Hier haben die Lehrer und Diener der Kirche größere oder kleinere Aufgaben. Wir sind ihnen allen Dank schuldig. Doch es gibt einen noch höheren Auftrag, den niemand für sich selbst in Anspruch nehmen oder wählen kann. Etwas Ursprüngliches aus dem göttlichen Leben selbst wird mitgeteilt. Die Sache erregt sowohl im Denken als auch in der Gesellschaft leicht Anstoß. Denn es kommt zutage, wie inkommensurabel das Wesen der Religion mit anderen Erwerbungen des Geistes ist. Man kann es irrational oder überrational nennen. Für unsere begrenzten Begriffe nimmt die Wahrheit deshalb leicht die Gestalt der Antinomie, des Widerspruchs an. Unentbehrliche Werte machen sich mit elementarer Kraft geltend. Sie erscheinen so unvergleichbar mit allem, was der Mensch besitzt und was das Denken bislang zur Einheit hat zusammenfassen können, dass die Versuchung aufkommen kann, geradezu [364] im Trotz gegen das Begreifen zu schwelgen und dem Verstand ein credo quia absurdum ins Gesicht zu schleudern. Doch wenn auch das Denken nicht imstande ist, die religiöse Offenbarung zumindest sogleich oder jedenfalls irgendwann vollkommen in seinen Zusammenhang einzuordnen, so ahnt es doch den Strom einer höheren Vernunft und bemerkt ihn bei den schöpferischen Geistern. Die religiösen Bedürfnisse des Menschen und die Kraft Gottes treten bei ihnen mit einer Stärke und einer zwingenden Notwendigkeit hervor, die sich empfänglichen Gemütern aufnötigen. Solche Persönlichkeiten können der Kirche ebenso unheimlich vorkommen wie dem Denken. Es ist nicht gesagt, dass sie sich ohne weiteres in das äußere und innere System der Religion einordnen lassen. Sie haben im Gegenteil etwas Revolutionäres und Gefährliches an sich. Es lässt sich leicht der Beweis führen, dass ihr Auftreten die bedenklichsten Folgen haben müsse. Die Bibel ist das revolutionärste Buch des Menschengeschlechts. Die Propheten kamen mit Forderungen und Aussagen, die ungereimt erschienen und für das Bestehende, für bedeutende irdische Angelegenheiten, äußerst gefährlich waren. Dieselbe Gefährlichkeit belastet die Gottesoffenbarer aller Zeiten. Doch wir können diese Offenbarer nicht entbehren. Luther gehört in ihre Reihe. Hieronymus Weller, den wir im Vorhergehenden kennen gelernt haben, stellt Luther „an Geiste, Krafft, Weißheit, Geschickligkeit und Erfarenheit den fürnehmsten Propheten und Aposteln“ gleich.681 Die gigantische Kraft lenkte die Gedanken vieler auf den Propheten Elias. Mathesius äußerte in seiner zwölften Predigt über Luther: „Der Mann war voller gnade vnnd heyliges Geystes / Drumb alle so bey jm / als bey einem 681 Hieronymus Weller, Teutsche Schrifften …, Leipzig 1702, Teil 2 [nicht 3, wie im Original irrtümlich angegeben], 215.

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Propheten Gottes / vmb rath ansuchten / die funden was sie begerten“, und er wird nicht müde Gott zu danken, der seiner Gemeinde am Ende „disen [grossen] Wundermann“, „dise[n] grossen Deutschen Propheten“, dieses „ausserwelte werckzeug“, diesen „Mann Gottes“ gesandt habe.682 Es ist nicht gesagt, dass das Neue bei einem Heros der Religion genau formuliert werden kann. Vielleicht ist das Wesentliche [365] seiner Botschaft bereits früher erklungen. Aber von ihm wird es mit einer Frische und Klarheit aufgefasst und wiedergegeben, die es neu macht. Auch wenn der religiöse Gehalt auf irgendeine Weise deutlich in Worten ausgedrückt werden kann, steht er in seinem innersten Kern in unauflöslichem Zusammenhang mit der Seele, die ihn hervorgebracht hat. Das Kunstwerk hat sein Leben unabhängig von dem, der einst der Meister gewesen ist. Ebenso gut, wenn es anonym ist. Nicht so bei der Religion und ihren originellen Schöpfungen. Darin liegt ein Unterschied zwischen den Lehrern, von denen vor kurzem die Rede war, und den prophetischen Geistern. Diese selber, ihre eigene innere Geschichte, und nicht bloß die Ausdrucksformen, die ihre Zunge und Feder gefunden haben, gehören zu dem fortlaufenden Leben der Religion, geben Einblick in ihr Geheimnis und stärken die Gewissheit von dem lebendigen Gott. Es lässt sich leicht zeigen, wie viel glatter und ruhiger und unwidersprechlicher die Theologen sich ausgedrückt haben als die Propheten, unter diesen Martin Luther. Er erregte und erregt Anstoß. Aber er gehört unzweideutig zu den Schöpferischen. Die tieferen religiösen Bedürfnisse finden bei ihm eine Antwort, welche die meisten anderen nicht imstande sind zu geben. Deshalb kann seine Persönlichkeit und seine Geschichte niemals aufhören, die menschliche Seele in dieser heiligen Sache etwas anzugehen. Zwar ermahnte er streng, man müsse „frey Christum bekennen, es hab yhn Luther, Claus odder Jorg predigt, die person laß faren …“683 „… du narr, hore unnd lasz dyr sagen. Tzum ersten bitt ich, man wolt meynes namen geschweygen und sich nit lutherisch, sondern Christen heyssen. Was ist Luther? ist doch die lere nitt meyn. Szo byn ich auch fur niemant gecreutzigt. S. Paulus i. Corint.iij [I Kor 3, 4 f] wolt nit leyden, das die Christen sich solten heyssen Paulisch oder Petersch, sondernn Christen. Wie keme denn ich armer stinckender madensack datzu, das man die kynder Christi solt mit meynem heyloszen namen nennen? Nitt alszo, lieben freund, last uns tilgenn die parteysche namen unnd Christen heyssen, dess lere [366] wir haben. Die Papisten habenn billich eynen parteyschen namen, die weyl sie nit benuget [sich begnügt] an Christus lere unnd namen, wollenn auch Bepstisch seyn, szo last sie 682 Johannes Mathesius, Historien (wie Anm. 51), 289, 3.4.13 f. 63 u. ö. 683 [Von beider Gestalt des Sakraments zu nehmen (1522), WA 10/II (11–41), 40,16 f.]

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­ epstisch seynn, der yhr meyster ist. Ich byn unnd wyll keynisz meyster seyn. B Ich habe mitt der gemeyne die eynige gemeyne lere Christi, der alleyn unszer meyster ist.“684

Wenn es jedoch darauf ankommt, kann er der Tatsache nicht entgehen, dass Gott ihn dazu erwählt hat, eine besondere Gewissheit zu empfangen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sein Widersacher Cochlaeus sich richtig erinnerte, als er von seinem Gespräch mit Luther in Worms 1521 berichtete. Cochlaeus verwies Luther auf die Autorität und Schriftauslegung der Kirche. Da ging das Wort Pauli I Kor 14, 30 Luther durch den Kopf: „Wenn aber einem andern, der dabeisitzt, eine Offenbarung zuteil wird, so schweige der Erste.“ Er sträubte sich gegen den Anspruch, von einer göttlichen Offenbarung getroffen worden zu sein. Der Unterschied zwischen den Ekstatikern der korinthischen Gemeinde und dem Wittenberger Professor ist ja auch ganz offensichtlich. Aber Cochlaeus ließ nicht locker, sondern stellte ihm die direkte Frage: „Hast du denn eine Offenbarung empfangen?“ Luther sah ihn an, zögerte einen Augenblick und sagte: „Ja, es ist mir offenbart worden.“ Est mihi revelatum.685 Was bedarf es weiterer Zeugen? Viele sagen: Er lästert. Man hat zum Beweis eine Anzahl von Stellen gesammelt, wo Luther ohne Umschweife von Gottes Offenbarung an ihn spricht, so wie es die Propheten und Paulus getan hatten. Wie sehr er sich auch gegen den Gedanken einer Sonderstellung im Verhältnis zu all den vielen heilsbedürftigen Seelen gesträubt hatte, besitzt er doch eine solche in der Geschichte der Religion, die man weder übertreiben noch verkennen darf. Wir sehen dies umso deutlicher, je besser wir die Entwicklung des Christentums überblicken können. Und ebenso gewiss wie die letzte Instanz in der Religion die Begegnung der Seele mit [367] Gott sein muss, ebenso gewiss hat eine Persönlichkeit wie die Martin Luthers bei all ihren Grobheiten und zufälligen oder verwerflichen Zügen eine religiöse Bedeutung, die der Abstand nur umso deutlicher macht. Dasselbe gilt von den religiösen Ideen, die in der Reformation wieder zum Leben erweckt, neu geboren oder angedeutet worden sind. Ihr wesenhafter Wert wächst mit dem Lauf der Zeit. Ihnen kommen für das innere und äußere Leben des Einzelnen und für die Geschichte ein Sinn und eine Reichweite zu, die wir besser erkennen und wahrnehmen als vorangegangene Geschlechter. Das Erbe Luthers ist auf Grund seines Reichtums und auf Grund der Unvollkommenheiten bei ihm selbst und seinem Werk in 684 [Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522), WA 8 (676–687), 685,4–15.] 685 [Die Überlieferung ist nicht ganz sicher; vgl. Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, 2009, 478.]

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sich vieldeutig, und es wird dies in noch höherem Maß, wenn man Geist gegen Buchstaben und Buchstaben gegen Geist setzt. Aber die ihn leitenden Erfahrungen und Grundsätze von Heil und Freiheit gehören zu dem Unvergänglichen, das der Welt, menschlich gesprochen, immer noch nicht seine ganze Fülle offenbart hat. Sie üben in der Kirche einen tiefgehenden Einfluss aus weit über den Bereich der evengelischen Christenheit hinaus, und in der Menschheit weit über den Bereich des kirchlichen Lebens im engeren Sinne hinaus.686 Vergebens will der Eifer bei dem, was tot ist oder was lediglich als langsam sterbendes Überleben existiert, ein Scheinleben erwecken. Doch viele von uns erkennen, dass die Gedanken der Reformation etwas enthalten, das ihre Verwirklichung und Entwicklung zu einer nicht zu übersehenden Aufgabe und einer Zukunftshoffnung für diejenigen macht, die trotz allem Hoffnung und Gottvertrauen zu bewahren vermögen. Wir legen dergleichen gerne in Luthers eschatologische Aussage über den Mangel im Diesseits und die Herrlichkeit im Jenseits hinein. „… ditz [dieses] leben nit ist … ein gesuntheit, szondernn eyn gesunt werden, nit eyn weszen [ein Sein], sunderen ein werden, nit ein ruge [Ruhe], szondernn eyn ubunge, wyr seyns noch nit, wyr werdens aber. Es ist noch nit gethan unnd geschehenn, es ist aber ym gang unnd schwanck. Es ist nit das end, es ist aber der weg …“687

Die Reformationszeit gleicht einer Stadt, die [368] monumentale Gebäude auf dem flachen Land der Geschichte sich erheben lässt. Sie imponieren durchaus aus der Nähe. Aber erst wenn man ein wenig auf Abstand gegangen ist, zeigen sie ihre ganze Majestät. Mit jedem Stück Weges, das man zurückgelegt hat, wachsen sie, solange man sie in Sichtweite hat. Das ist ein Wald von Spitzen und Türmen. Eine Gestalt erhebt sich hoch über alle anderen. Aber Luther war keine isolierte Erscheinung, sondern der mächtigste Geist in einer großen Erneuerung. Gott besuchte die Erde. Eine Verwandlung trat ein. Wir bemerken im geistigen Leben auf ganzer Linie eine Ausrichtung auf Ideal und Ernst. Barden und Künstler, Denker und Männer der Religion unter Evangelischen und Römischen waren von einer Leidenschaft erfüllt, die sich gegen die Flachheit der unmittelbar vorausgehenden Zeit abhebt. Bislang hat man von Jahrhundert zu Jahrhundert die Bedeutung der Reformationsepoche besser überblickt und insbesondere gelernt, Martin Luther und sein Werk immer höher zu schätzen. 686 Vgl. Gustaf Aulén, Reformatoriska motiv inom den senare lutherska protestantismen (AUL N. F. I Bd. 13 Nr. 5), Lund / Leipzig 1917. 687 [Grund und Ursach aller Artikel, so durch römische Bulle unrechtlich verdammt sind (1521), WA 7 (309–457), 337,30–35.]

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Was er eines Tages im Jahre 1536 bei Tisch äußerte, hat sich bewahrheitet: „Und unser nachkomen (wo unser zeit geschicht an sie komen ­wuerde [durch buecher oder sonst]), viel hoeher achten werden, was wir jtzt thun [und leiden] denn wir selbs, die wir dabey sind und zum teil selbs das spiel spielen.“688

688 [Das Zitat stammt zwar aus dem Jahr 1536, steht aber nicht in den Tischreden, sondern in Luthers Vorrede zu Ambrosius Moibanus, Der 29. Psalm von der Gewalt der Stimme Gottes in den Lüften, WA 50 (42–44), 43,25–28. ­Söderblom hat den Wortlaut etwas abgewandelt. Die hier in eckige Klammern gesetzten Worte lässt er aus, und statt „und leiden“ schreibt er: „und viel lauter verkündigen“. – Im Übrigen ist der Zusammenhang bei Luther komplexer, als es der hier gebotene Satz für sich genommen vermuten lässt. Luther klagt dort mit Moibanus, dass die Menschen aus den Machttaten Gottes in der Natur keine Lehren ziehen. (Moibanus hatte von einem schweren Unwetter geschrieben.) Allenfalls preisen sie die großen Wunder der biblischen Zeiten, bleiben aber für die der Gegenwart blind. Darauf folgt dann das obige Zitat. Doch dann heißt es, man werde auch das wieder vergessen. Erst das Ende der Überlegung bringt verhaltenen Optimismus: Gott werde in seiner Barmherzigkeit nicht müde, dennoch weiter Wunder zu tun, um den Glauben der Menschen zu wecken.]

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Martin Luthers universale Bedeutung Aus: Från Uppsala till Rock Island En predikofärd i Nya Världen Stockholm ²1924, 96–110

[96] Martin Luthers universale Bedeutung Vorlesung in der neu eingeweihten Kapelle der Theologischen Fakultät in Rock Island am 7. November [1923] Die verschiedenen Abteilungen, in welche die christliche Kirche aufgespalten ist, bezeichnen sich selbst mit verschiedenen Namen und werden von anderen so bezeichnet, manchmal in tadelndem Sinn. Ein solcher tadelnder Titel ist der Name Protestant. Er besagt zu Recht, dass wir protestieren gegen Irrlehre, Aberglaube und geistliche Unterdrückung. Das Wort Protestant ist also negativ, es sagt nicht, was wir sind, sondern was wir nicht sind. Unser eigentlicher Name in der großen Familie der Christenheit drückt positiv das aus, was wir sind und sein wollen. Ich meine das Wort evangelisch, das eine von den drei großen Abteilungen der Christenheit bezeichnet, alle drei nach unserem gemeinsamen Glaubensbekenntnis der Einen Heiligen Katholischen (Allgemeinen, Universalen, Ökumenischen) und Apostolischen Kirche zugehörig. Diese drei sind, wenn wir die Ehrennamen benutzen, mit denen jede von ihnen sich selbst am liebsten benennt, der Orthodoxe, der Römische und der Evangelische Teil der Katholischen Kirche. Innerhalb der römischen Christenheit werden deren verschiedene Richtungen gemeinhin nach dem Namen eines Ordensstifters benannt, Benediktiner, Franziskaner, Dominikaner, aber auch auf andere Weise, wie Jesuiten, Redemptoristen, Ultramontane und andere. Innerhalb der evangelischen Christenheit haben diese im Lauf der Zeit manchmal ganz gegensätzlich gewordenen [97] Richtungen und Gesellschaften in der römischen Papstkirche ihre Entsprechung in einer Reihe voneinander unabhängigen Denominationen und Gemeinschaften, deren scheinbares Gewirr sich doch für das Auge des Dogmenhistorikers und Symbolikers zu einer Einheit in Vielfalt ordnet. Die Namen sind in mehreren Fällen aus der Organisation der Gemeinschaften abgeleitet. So wie „päpstlich“ die Alleinherrschaft innerhalb der römischen Kirche benennt, so bezeichnen episkopal, presbyterianisch und kongregationalistisch verschiedene Leitungsformen und Abteilungen innerhalb der evangelischen Christenheit. Die Namen Methodist und Baptist rühren von anderen Gesichtspunkten her. Das Originelle bei unserer Abteilung der evangelischen – 321 –

Christenheit ist, dass sie nach dem Namen des größten Propheten benannt wird, den Gott seiner Kirche seit den Tagen der Apostel gesandt hat, nämlich Martin Luther. Zwar verbot Luther selbst in zornigen Worten die Verwendung seines Namens als Titel eines Teils der Kirche. Christ war für ihn der einzige und zureichende Name, und er fand es unwürdig, die Jünger Christi nach einem armen sündigen Menschen zu benennen, wie er selbst es war. Aber der Name ist mittlerweile historisch geworden. Und soll unser Teil der Christenheit gekennzeichnet werden, so kann dies nicht auf reichere und wahrere Weise geschehen. Denn keine Form oder Formel vermag das Christentum so warm und reich auszudrücken wie eine lebendige Seele, durchdrungen vom Geist Gottes. I. Ich brauche mich hier nicht bei dem historischen Faktum aufzuhalten, dass Luther niemals irgendeine Sekte bilden, das heißt aus der Kirche austreten und mit seinen Anhängern eine neue Gemeinschaft gründen wollte. Dazu wurde er genötigt und gezwungen. Die Teilung der Kirche hatte ihren Grund in zwei Bannsprüchen, durch die Rom zuerst den griechischorientalischen Teil der Kirche ausstieß, und dann durch die Bannbulle gegen Luther, den leidenschaftlich anhänglichen Sohn der Kirche, den evangelischen, gereinigten und erneuerten Teil der abendländischen Christenheit. Luthers Kleiner Katechismus ist mitten im bittersten Streit mit Rom entstanden. Trotzdem kenne ich unter den Katechismen der Christenheit keinen, [98] der so sehr denselben Universalismus atmet wie unsere Kinderlehre, die mit Recht Laienbibel genannt wird. In diesem ganzen Kleinen Katechismus findet sich keine auch nur angedeutete Polemik gegen Rom oder gegen andere Teile der Christenheit. Luther polemisierte gegen die Sünde und den Unglauben, innerhalb und außerhalb der Kirche, eine schwerere Aufgabe als die Polemik, von der sektiererische Personen zu allen Zeiten leben, nämlich die Polemik gegen die Kirche selbst. Man nehme gerade das Bekenntnis vom Geist und der Kirche: Der Geist „berufft, samlet, erleucht, heiliget die gantze Christenheit auff erden und erhelt [sie] bey Jhesu Christo ym rechten einigen glauben.“ „Ynn welcher Christenheit Er mir und allen gleubigen teglich alle sünde reichlich vergibt.“1 Luther verwendet nicht einmal das Wort Kirche. Fragen wir nach dem Grund, so finden wir die Antwort in seinem Großen Katechismus, wo er sagt, dass einfältige Leser sonst glauben würden, er rede von Kirchengebäuden und dergleichen. 2 Sorgfältig vermeidet Luther somit jedes partikulare oder sektiererische Verständnis und befasst sich mit allen Gläubigen unter einem 1 M. Luther, Der Kleine Katechismus (1529), WA 30/I (243–345), 296,31–298,4. [Im ersten Zitat ist die Wortstellung gegenüber Luther verändert.] 2 Deudsch Catechismus (1529), WA 30/I (125–238), 189,11–22.

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Namen, der nicht missverstanden werden kann, der „ganzen Christenheit auf Erden“. II. Ich will hier in Kürze versuchen anzudeuten, wie diese Katholizität oder dieser Universalismus im Kirchenbegriff Luthers religiösem Grundprinzip entspricht und seine Bestätigung in der Geschichte der Christenheit findet. Luthers universale Bedeutung besteht zuerst und zuletzt darin, dass er nicht bei irgendwelchen Äußerlichkeiten oder noch so wichtigen und notwendigen Geschehnissen und Werten zweiter oder dritter Ordnung stehen geblieben ist, sondern in dem Kernpunkt, in dem einen Notwendigen am Kreuz des Heilands Posto fasst. Unsere Zeit sollte die harte Lektion der Weltnot und des Leidens gelernt haben. Keine Entwicklung macht den Menschen und die Menschheit mit einer Art Naturnotwendigkeit besser oder lässt uns das Böse vergessen, so wie man aus einem Albtraum erwacht. Vielmehr erweist die altmodische, oft gering geschätzte und verleugnete Botschaft der Kirche vom [99] stellvertretenden Leiden, von erlösender Liebe und dem Geheimnis des Opfers gegenüber der furchtbaren Wirklichkeit des Bösen aufs Neue ihre Wahrheit und zwingt unsere stolze Kultur, sich demütig auf das eine Notwendige zu besinnen. Martin Luther wurde von seinem eigenen Drang nach Frieden genötigt, durch die bittere Schale zum Kern des christlichen Glaubens hindurchzudringen. Alles andere hatte zweitrangiges Gewicht für ihn. Seine wesentliche und universale Bedeutung besteht zuerst und zuletzt darin, dass er zum Mittelpunkt der christlichen Religion gelangte und sich nicht an dessen Peripherie bewegte. Als Luther sich in bitterer Enttäuschung eher Schweigen oder Tod wünschte als die Verachtung der Menge für Gottes Wort zu sehen, nahm er eine Art von Arbeitsteilung zwischen sich selbst und dem Papsttum vor. Gerne wollte er „den großen rohen Haufen … unters Papsts Regiment lassen bleiben, sie bessern sich doch des Evangelii nichts, sondern mißbrauchen nur seiner Freiheit. Aber den geängstigten und gedemüthigten, verzagten und blöden [schwachen] Gewissen“ wollte er „das Evangelium und Trost predigen.“3

Darin sah er seine eigentliche Aufgabe. Er wollte niemand anderem predigen als den empfindlichen Gewissen, die „eyn unlust widder sich selbs haben“ und „nicht verstockt synd ym hertzen“.4 Somit wollte er gerne den überfließenden Trost in der guten Botschaft gegen den Missbrauch des 3 [WA.TR 2, 178,16–19 (Nr. 1683, Juni / Juli 1532).] 4 [Sermon auf den andern Ostertag, Predigten des Jahres 1523, WA 12 (494–505), 498,16–18.]

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natürlichen und gewöhnlichen Menschen schützen, um damit den geängstigten Kindern der Menschheitsfamilie umso reichere Seelenhilfe schenken zu können. Erkennen wir nicht solche Worte wieder? Sind sie nicht schon früher von einem noch größeren Mann gesprochen worden? Sind sie nicht ein Widerhall von dem, der gekommen ist nicht zu den Gerechten, sondern zu den Sündern, nicht zu den Gesunden, sondern zu den Kranken? [Vgl. Lk 5, 31 f.] Vor Luther waren Zeugen, Lehrer und Propheten zur Christenheit gesandt worden, solche wie der Römer Augustin, der Franzose Bernhard, der Italiener Franciscus, der Deutsche Meister Eckhart, die schwedische Seherin Birgitta, der Engländer Wyclif, der Böhme Hus, aber bei M ­ artin­ Luther wirkte der Geist [100] gewaltiger. Nach dem Heiland hat niemand so tief, so weithin und so dauerhaft die Geschichte des Abendlandes be­ einflusst wie der Wittenberger Mönch und Professor. Das lag an seiner eigenen dramatischen inneren Geschichte, wo ein lebenslanger Weltkrieg wütete zwischen den Mächten des Abgrundes, „allen sünden, dem tode und der gewallt des teuffels“ und seinem barmherzigen Herrn, der ihn, „verlornen und verdampten menschen erlöset hat, erworben, gewonnen“, damit er „sein eigen sey“ und bleibe „und ynn seinem reich unter yhme lebe“.5 In dem Kampf in Luthers Seele stand Glaubenszuversicht gegen Verzweiflung. Die üblichen Beruhigungsmittel der Kirche konnten ihm keine Ruhe verschaffen. Er musste hinaus in die Wüste, um dem Teufel und Gott zu begegnen. Kein Wunder, dass man sich erregt hat über den Gegensatz Luthers zu dem kirchlichen Ideal, das Ruhe und gehorsame Unterwerfung unter gängige Regeln und Gewohnheiten heißt. Es sind nicht nur Luthers römische Biographen, die an seiner leidenschaftlichen Seele Anstoß genommen haben. Zu allen Zeiten und in allen Lagern gibt es Leute, die sich mit solchen Gefühlsausbrüchen nicht ab­finden können. Warum nicht die Sache ruhiger angehen? Könnte man nicht sagen, dass Martin Luther auf seine Weise, nicht bloß durch seine offensichtlichen Fehler und Mängel, sondern auch durch den Kern seiner Gottessehnsucht selbst etwas von dem Anstoß an sich hat, den Gottes Offenbarung bei dem natürlichen Menschen erregt? Er wusste das selbst. In Worms erklärte er: „… ich mach mich nicht zu einem heiligen, Ich disputir auch nicht von meinem leben, sonder von der ler Christi.“6 Während des Jahres 1527, als er sich wie ein Wurm unter dem Griff der finsteren Angst wand, tat er Abbitte für die leichtfertigen Worte, die er oft gespro5 [Der Kleine Katechismus (1529), WA 30/I (243–345), 295,33–297,8. Im Original heißt es: „der mich … erlöset hat … von allen sünden …“] 6 [Luthers Rede vor dem Kaiser, WA 7 (867–877), 872,9–11.]

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chen hatte, um die Traurigkeit aus seinem Herzen zu vertreiben. Am 6. Juli 1527 wurde er von Schreck und Schwäche überfallen und erwartete demütig den Tod. Da beichtete er seinem Pfarrer und Seelsorger Johannes Bugenhagen seine Sünden und fügte hinzu: „Viele denken, weil ich mich unterweilen in meinem äußeren Wandel fröhlich stelle, ich gehe auf eitel Rosen, aber Gott weiß, wie es um mich stehet, meines Lebens halber … ich habe mir oft vorgenommen, ich wollte der Welt zu Dienst mich etwas ernstlicher und [101] heiliger – weiß nicht wie ich’s nennen soll – stellen, aber Gott hat mir solches zu tun nicht gegeben.“7

Martin Luthers Freunde haben zu allen Zeiten versucht, dieses dämonische und himmlische Genie zu zähmen, um den Anstoß zu beseitigen. Man hat ihm eine vermittelnde Stellung zwischen den Extremen zu geben versucht. Eine wohlwollende allgemeine Meinung hat Luther in die goldene Mitte gestellt, d. h. auf eine Art via media, die ansonsten dem von Luthers großem Zeitgenossen Erasmus am meisten beeinflussten Teil der Kirche, nämlich der anglikanischen Christenheit, vorschwebt. Auf zwei Weisen hat man Martin Luther als eine goldene Mitte zwischen den Extremen einnehmend gedeutet. Er ist von seinen Nachfolgern zwischen Rom und den radikalen Protestantismus gestellt worden. Die allgemeine Meinung hat ihn zwischen Rom und das Freidenkertum gestellt. 1. Die lutherische Theologie hat mit Vorliebe Luther und sich selbst als klugen Mittelweg zwischen Rom und weitergehende protestantische Reformforderungen bezeichnet. In Wirklichkeit jedoch steht Luther in radikalem Gegensatz zu beiden. Denn er hält die Freiheit und den geistigen Heilsweg gegen jede Art von Gesetzesreligion, gegen Bilderstürmer ebenso wie gegen Bildverehrer hoch. In sekundären Angelegenheiten hielt Luther weder Gebote „Du sollst“ noch Verbote „Du sollst nicht“ für heilsnotwendig. Ebenso wenig wie Paulus konnte Luther irgendeine äußere Regel als Gesetz anerkennen, sondern mit der unpädagogischen Idealität des Heilands forderte und wusste er, dass der Baum selbst, das heißt das Herz, gut sein muss, um gute Früchte zu bringen [vgl. Mt 7, 17]. Der eine sagt: Du sollst. Der andere sagt: Du sollst nicht. Unser schwedischer Kirchenvater, Laurentius Petri, dessen Kirchenordnung von 1571 durch Beschluss der Synode von Uppsala von 1593 eine gewisse kanonische Autorität für die Kirche in Schweden bekam, hat Luthers evangelischen Grundsatz klarer als die meisten Kirchenmänner gedeutet. Erzbischof Lars wollte [102] sich nicht unter das Knechtsjoch derer zwingen lassen, die Gebote oder 7 Vgl. meine Arbeit Humor und Melancholie bei Luther und andere Lutherstudien, Stockholm 1919, 92 f [in diesem Band 101 f].

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Verbote aus den Stücken machen wollen, deren Gebrauch von Gott völlig frei belassen wurde. Zuvor, unter dem Papst, wurde eine ganze Menge von Zeremonien und Regeln als heilsnotwendig angesehen. Dann kam, in Erzbischof Lars’ Sicht, derselbe Feind von der entgegengesetzten Seite und wollte um der Seligkeit willen alte schöne Bräuche verbieten und Bilder und Ausstattungen des Gottesdienstes zerstören, welche die Liebe der Väter geheiligt hat und die dem Evangelium nicht widerstreiten. Plastischer kann Luthers prinzipieller Gegensatz gegen die Gesetzesreligion nach Rechts und nach Links nicht anschaulich gemacht werden. Der eine sagt, bestimmte Zermeonien und Institutionen seien für die wahre Religion notwendig. Der andere sagt, es sei für die wahre Religion notwendig, ebendiese Zeremonien und Institutionen abzuschaffen. Luther widersetzt sich beiden Lehren. Er blickt nämlich auf Grund seiner Erfahrung mit den Hindernissen für den Frieden der Seele scharf und tief genug, um zu sehen, dass diese beiden scheinbar gegensätzlichen Lager doch einen gemeinsamen und prinzipiellen Unterschied zu seiner radikalen Absage an jede Werklehre darstellen. Luther verkündet gegenüber der negativen Gesetzlichkeit ebenso wohl wie gegen die positive seine geistige Religion und die christliche Freiheit. Er steht damit, geistlich gesprochen, keineswegs auf irgendeinem klugen Mittelweg zwischen den Extremen, sondern er ist radikal geschieden von jeglichem Formalismus und Nomismus. In seinem Buch Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Jahr 1520 schreibt Luther: „Sihe das ist die rechte, geystliche, Christliche freyheyt, die das hertz frey macht von allen sundenn, gesetzen und gepotten, wilch alle andere freyheyt ubirtrifft, wie der hymell die erdenn …“8 2. Eine andere Zwischenstellung ist Luther von Freunden und Feinden und, unter seinen Feinden, von Widersachern sowohl zur Rechten als auch zur Linken, allgemein zugeschrieben worden. Sie meinen, er stehe in der Mitte zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Rom und dem Freidenkertum, zwischen einem bejahenden und einem verneinenden Dogmatismus. Man sagt: „Bei Luther befreiten sich die Vernunft und der Wille des Menschen von der Unterdrückung durch die Kirche.“ Luther glaubt, sagt [103] man, aber nicht blind, sondern in seinen Glauben mischt sich eine Prise Vernunft. Oberflächliche Kenntnis stützt diese Meinung auf die Worte, die Luther in Worms über die Schrift und über klare Gründe gesprochen hatte. Auf römischer Seite heißt es, dass der Aufruhr, den Luther begonnen hatte, durch die Huldigung der Französischen Revolution für die Vernunft vollendet wurde. Das Freidenkertum sieht in Luther bis zu einem gewissen 8 [Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520). WA 7 (20–38), 38,12–14.]

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Grad einen Bundesgenossen; man beklagt, dass er auf halbem Wege stehen geblieben sei. Wenn ich ein berüchtigtes Wort eines bedeutenden antiklerikalen Politikers unserer Tage benutzen darf, so hat es Luther zwar nicht vermocht, die Sterne des Himmels auszulöschen, wie der antiklerikale Herr es gewünscht hätte, aber jedenfalls hat er deren für manche Augen störenden Glanz ein wenig gemildert. Nach dieser wohlmeinenden Auffassung hat Luther Christentum und Kirche weniger unvernünftig gemacht. Nichts kann unrichtiger sein. Nichts war Luther fremder als Aufruhr anzustiften. Er war kein Freiheitsheld. Er suchte lediglich Frieden. Aber um den Weg zum Frieden zu finden und zu erschließen, musste er die Hindernisse energisch wegräumen. Luther machte zwar viel Lärm in der Welt, aber er gehört doch zur Schar der Helden des inneren Lebens. Die römisch-katholische Theologie hat in der letzten Generation dem Verständnis Luthers einen großen Dienst erwiesen. Früher war es die anerkannte Ansicht im römischen Lager, dass Luther im Namen der menschlichen Vernunft und der menschlichen Frechheit Aufruhr gegen die Kirche angestiftet habe. Aber neuere Untersuchungen, durchgeführt von würdigen Repräsentanten römisch-katholischer Theologie, fanden, dass das Gegenteil zutraf. Luther ging mit seiner Erfahrung des Unvermögens der menschlichen Vernunft und des Willens weiter als die Kirche, wenn es um den Frieden der Seele geht. Der gewichtigste Beitrag zu unserer Kenntnis Martin Luthers in der neueren römíschen Theologie ist von einem französischen Forscher geleistet worden, der nicht Theologe vom Fach, dafür aber wohl Frankreichs bedeutendster heute lebender Historiker ist. Imbart de la Tour hat das Verständnis, das er durch das Studium Luthers gewonnen hat, gründlich ausgearbeitet. [104] Als Mystiker war Luther unzufrieden mit der gleichmäßigen Aufteilung zwischen Gott und Mensch, zwischen Gnade und Freiheit, zwischen Glaube und Vernunft; er ging vielmehr darin weiter als Paulus und Augustin, den Menschen zu Nichts und Gott zu Allem zu machen. Man kann das mit Imbart de la Tour als Übertreibung des Mystikers und verhängnisvolle Verwerfung der klugen Verteilung beklagen, die das katholische System zwischen Gott und Mensch in der Frage des Heils vorgenommen hat.9 Man kann mit diesem ehrenwerten Forscher der Meinung sein, dass die Heilsgewissheit, welche die Religion der persönlichen Autorität und des unbedingten Vertrauens kennzeichnet, nach Übermut schmeckt im Vergleich mit der demütigen Abhängigkeit von der Leitung und dem Urteil der Kirche. Ja, römische Theologen charakterisieren Luthers Heilsgewissheit als Zeichen einer neuen, ab­trünnigen Religion. 9 [Vgl. Pierre Imbart de la Tour, Pourquoi Luther n’a-t-il créé qu’un Christianisme allemand, in: RMM 25/1918, 575–612.]

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Man kann Luthers Radikalismus in entgegengesetzter Richtung deuten und darin eine rückhaltlose, ja bis an die Grenze des Paradoxes reichende Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit des Menschen und der Allmacht Gottes sowie der wirklichen Freiheit sehen, die auf unbedingter und vollkommener Unterwerfung unter das höchste Gut beruht, welches Gott ist. Du, Gott, bist alles, ich bin nichts. Wenn ich etwas bin, dann bin ich es in Gott. Hier werden weiterführende Gedanken durch die Beobachtung angeregt, dass die Vorkämpfer des freien Willens (liberum arbitrium), die Jesuiten, geschworene Feinde aller wirklichen Freiheit beim Einzelnen und in der Struktur der menschlichen Gesellschaft waren. Aber der Mann, der aus eigener bitterer Angst lernte, dass der Mensch vollkommen unvermögend ist, etwas zu seinem eigenen Heil, Frieden und Seligkeit beizutragen, und der Gottes allmächtiges Erbarmen erfahren hatte, er und seine Mitarbeiter und Gesinnungsgenossen haben eine neue Epoche persönlicher Selbstständigkeit und der Selbstregierung der Gesellschaft eingeleitet. Aber wie immer man auch Luthers Standpunkt und dessen Wirkungen interpretiert, so steht doch ein Faktum auf alle Fälle unverrückbar fest, wenn man es einmal erkannt hat, nämlich dass Luthers [105] Erfahrung und Gottvertrauen nicht irgendwo auf halbem Wege stehen blieb. Er war für Halbheiten nicht zu haben. Er war kein Vermittler zwischen Extremen. Sondern er war Gottes Prophet. Und wie andere Propheten Gottes, so wurde auch er nicht von allen denen, zu denen er gesandt war, aufgenommen und anerkannt. Aber er empfing Gottes in der Schrift bezeugte Offenbarung und verlieh ihr so klaren und kraftvollen Ausdruck, dass seine Bedeutung keineswegs auf einen Teil der christlichen Kirche begrenzt bleibt. Der Dienst, den Luther dem Christentum als ganzem erwiesen hat, wird immer größer und immer deutlicher. Trotz aller politischen und kirchenpolitischen Wechselfälle musste Luther als Kirchenlehrer immer mehr anerkannt werden, ebenso gewiss wie er nicht nur offener und deutlicher als irgendein anderer Kirchenlehrer seiner Zeit die Einheit der katholischen Kirche, Unam Sanctam et Apostolicam Ecclesiam, gegenüber jeder Art von anmaßendem Sektenwesen behauptete, ob es nun Millionen oder kleine Kreise von Anhängern umfasst, sondern auch „den evangelischen und katholischen Glauben und Bekenntnis“10, mit der Schärfe und

10 [Anspielung auf den Titel von Johann Gerhards Confessio catholica, in qua doctrina catholica et evangelica, quam Ecclesiae Augustanae Confessioni addictae profitentur, ex Romano-catholicorum scriptorum suffragiis confirmatur, 1634–37. Dort ist gemeint, dass allein die Protestanten die wahre, katholische Lehre vertreten, vgl. dazu S­ öderbloms Schrift Offenbarungsreligion, in dieser Ausgabe Bd. 1, 139]

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Stärke des Genies erlebte, verstand und wiedergab, von dem der große Dogma­tiker des Luthertums sprach. III. Nachdem ich nun versucht habe, Luthers zentrale Stellung in der geistigen Welt anzudeuten, wollen wir jetzt einen Blick auf die Weltkarte und die Geschichte werfen. Zur Linken, im Westen, finden wir den amerikanischen Kontinent. Zur Rechten sehen wir auf der ausgebreiteten Weltkarte im äußersten Osten China und Japan. Europa liegt halbwegs zwischen den seitlichen Rändern. Haben Sie irgendwann einmal bemerkt, was für Orte in Europa die Mittellinie einer solchen Weltkarte darstellen? Wir finden auf dieser Mittellinie oder in ihrer Nähe Rom, Genf, Wittenberg und unseren evangelisch-lutherischen Norden, der Dänemark, Island, Norwegen, Schweden, Finnland, Estland, Lettland umfasst, das heißt das Gebiet, in dem das Luthertum auf eine Weise Volksreligion geworden ist, mit der lediglich bestimmte Länder in Deutschland eine Ähnlichkeit vorzeigen können. Aber mit den Ländern und Nationen, die ich jetzt genannt habe, haben [106] wir bloß einen Bruchteil der vielen Sprachen des Luthertums angedeutet. Sind nicht die mehr als zwanzig Zungen, in denen evangelisch-­ lutherischer Gottesdienst in den Vereinigten Staaten gefeiert wird, ein Beweis für Universalismus? Die Geschichte zeigt, wie Martin Luther Wesen und universalen Charakter des Christentums erfasste. Er war ein Prophet nicht nur für seine eigene Nation. Sein Werk ist nicht auf irgendeine Nationalität beschränkt. Wir sehen dies an zweien seiner Gesinnungsgenossen und Nachfolger, die gewaltigen Einfluss auf die Ausbreitung des evangelischen Glaubens gehabt haben. Martin Luther war Germane und Deutscher, aller Zeiten größter Sohn seiner Nation. Ignaz von Döllinger, der bedeutendste Kirchenhistoriker des römischen Katholizismus im vorigen Jahrhundert, schrieb über ­Luther, sein Volk sei in seiner Hand wie die Leier in der Hand des Künstlers gewesen.11 Aber niemand hat mit höherer architektonischer Kunst Luthers evangelische Erfahrung von Glaubenszuversicht und Vergebung und sein neues Lebensideal in ein System gebracht als ein echter Franzose, Jean­ Calvin, zwar mit charakteristischen Unterschieden in manchen Punkten, aber doch mit demselben wesentlich evangelischen Verständnis. Das ist ein Beweis für den universalen Charakter der Botschaft Luthers. Er ist nicht auf irgendein Volk oder eine Völkerfamilie beschränkt, so tief er auch, ebenso wie unser Heiland und die größten Männer der Geschichte, 11 [Ignaz Döllinger, Über die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen. Sieben Vorträge, gehalten zu München 1872, Nördlingen 1888, 53.]

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in seiner eigenen Nation verwurzelt war. Er ist nicht beschränkt auf irgendeine Sprache, wiewohl er seine eigene Muttersprache mit der Kunst eines Meisters und Schöpfers handhabte wie kein anderer. Jean Calvin war Franzose bis ins Mark seines Wesens, wie Ferdinand Brunetière, der keineswegs unparteiisch, sondern römisch gesinnte französische Literaturhistoriker bemerkt.12 Calvin war ein würdiger Nachfolger und Seelenverwandter derer, die im Mittelalter in Frankreich die gotischen Kathedralen erbauten, und mehr noch der französischen Scholastiker, welche aus der christlichen Lehre hochgewölbte und spitzbogige Systeme errichteten. Wir haben uns von Wittenberg nach Südwesten und Süden begeben, [107] zu den Domänen der französischen Kultur. Lassen sie uns nun von Wittenberg aus nach Nordwesten gehen, zu den Ländern angelsächsischer Bildung. Am Abend des 24. Mai 1738 hörte John Wesley in London, wie einige Worte laut vorgelesen wurden. Den Eindruck, den sie auf ihn machten, schildert er auf folgende Weise: „Ich fühlte, dass ich für mein Heil Christus vertraute, Christus allein, und eine Gewissheit wurde mir geschenkt, dass er meine Sünden, ja meine, von mir genommen und mich von dem Gesetz der Sünde und des Todes gerettet hatte.“13 Was er gehört hatte, war Luthers Vorrede zum Römerbrief. Später schrieb Wesley in sein Tagebuch: „Nachdem wir viele Jahre lang auf dem neuen Weg des Heils durch Glauben und Werke gewandelt waren, gefiel es Gott vor ungefähr zwei Jahren, uns den alten Weg zu zeigen, der heißt: Heil durch Glauben allein.“14 Hier hören wir also die angelsächsische Aufnahme von Luthers sola fides, „allein der Glaube“, durch John Wesley, den Begründer und Lehrer des Methodismus, der ebenso weit wie Luther von jeglicher separa­tistischen Absicht entfernt war, eine neue Religionsgemeinschaft zu gründen. Sein einziges Anliegen war, der Kirche und Gemeinde Christi als deren treuer Sohn zu dienen. Wenn der Vorsatz der Brüder John und Charles Wesley und ihrer beiden Kameraden im Lincoln College in Oxford im November 1729, die Vorschriften und das ganze Leben der Religion auf das Strengste ernst zu nehmen, ihrer Richtung den Charakter verlieh, der zu dem Namen Methodismus führte, so war es [doch] Martin Luthers Heilsgewissheit, in welcher der Methodismus seine religiöse Seele bekam und zu der

12 [Vgl. Ferdinand Brunetière, Histoire de la littérature française (1515–1830), Bd. 1, Paris o. J. (1912), 193 f. Seine römische Gesinnung bringt der Vf. ganz knapp im letzten Satz des Kapitels (230) zum Ausdruck.] 13 [John Wesley, Journal 24.5.1738, in: Works Bd. 18 (= Journal and Diaries Bd. 1), hg. v. R. E. Davies, 1989, 250. Hervorh. im Orig.] 14 [Answer to the Rev. M. Church’s Remarks on the Rev. Mr. John Wesley’s Last Journal 1744, Works, Bd. 9 (81–122), 98. Hervorh. im Orig.]

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für die Tatkraft und den praktischen Sinn der Angelsachsen gemachten Übersetzung der von Luther erneuerten Lehre des Paulus wurde. Lassen Sie uns nun einen Blick nach Osten werfen. Indiens und Japans und Chinas religiöse Urkunden werden eines Tages zu ebenso vielen Alten Testamenten für das einzige Neue Testament der Menschheit werden, obwohl in deren Erzeugnissen der allgemeinen Offenbarung keine Propheten wie im Alten Testament aufgetreten sind, um Gottes besondere Offen­ barung zu verkündigen. Wo findet das Evangelium seine Anknüpfung in diesen Religionsbüchern? Soweit ich sehe, insbesondere in der Lehre von Bhakti, von [108] der Liebe zu Gott, dem hingebungsvollen Vertrauen zu einem persönlichen Gott. Diese Bhakti-Religion gründete in der ­Bhagadvad­ gita Jahrhunderte vor Christi Geburt und stellt seitdem den religiösen Kern sowohl der hinduistischen Frömmigkeit als auch des späteren, besonders in China und Japan reich entwickelten Mahayana-Buddhismus dar. Von Martin Luthers Gottvertrauen können die Bhakti-Frommen etwas lernen, was kaum irgendein anderer Kirchenlehrer in gleicher Fülle und mit ähnlicher Frische gesagt hat. Insbesondere kann Luthers mystische Innerlichkeit dazu verhelfen, sich von dem trüben erotischen Beigeschmack zu reinigen, den wir auch in abendländischer Mystik kennen, und sich erfüllen zu lassen von der heiligen Leidenschaft und dem Ernst des Evangeliums. Wir sollten ein wenig von Martin Luthers Universalismus lernen, denn Universalismus kommt aus der Konzentration auf das Wesentliche. Mangelnder Universalismus leitet sich oft aus mangelndem [Sinn für] Proportionen her. Wir dürfen nicht eine wahrhaft universale und katholische (allgemeine) Geistesrichtung mit irgendeiner gut gemeinten Bereitschaft vermengen, etwas von dem preiszugeben, das wesentlich ist. Wenn dem Luthertum manchmal vorgeworfen wird, exklusiv und unbeweglich zu sein, zieht man nicht immer die folgenden Umstände mit in Betracht. Es wurde für notwendig erachtet, Fenster und Portale unserer alten mittelalterlichen Kirchen in Schweden zu erweitern. Unsere Väter vor hundert Jahren brauchten mehr Luft, mehr Licht und mehr Sonne in ihnen, so wie Luther und andere mit ihm reinere Luft und helleres Licht im Heiligtum der christlichen Theologie forderten. Dunkel, Staub und muffige Luft haben dort nichts zu suchen. Unsere Väter vergrößerten deshalb die Fensteröffnungen und Eingangstüren, um die Sonnenstrahlen und die frische Luft des Tages hereinzulassen. Aber es gibt eine Grenze. Wenn man weiterhin Fenster und Portale immer größer und größer macht, dann bekommt man zwar viel Luft und Licht, aber die Mauern werden immer kleiner und schwächer. Und das Wichtigste in einem Gebäude sind doch wohl dessen Wände und Mauern. Unsere Kirche braucht feste Mauern, um gequälten Menschenherzen Schutz und Heimat zu gewähren [109] und den Stürmen und Erdbeben der Geschichte zu widerstehen. Wenn die Lutheraner – 331 –

manchmal ein bisschen zu viel Angst vor Sonne und Licht haben, ein bisschen zu viel Angst, ihre Schätze der frischen Luft auszusetzen, so kann man sie mit den Ägyptern vergleichen, die Saatgut für Jahrtausende in den Königsgräbern aufbewahrten. Wenn man diese Körner in fruchtbare Erde legt, dann erfüllen sie ihre Aufgabe und bringen Frucht. Doch im Gefängnis des Grabes war es ihnen nicht möglich, ihre Bestimmung zu erfüllen. Was ist nun besser, das Saatgut für kommende Geschlechter rein und unverfälscht zu erhalten oder es in alle Winde zu verstreuen? Es ist unsere Pflicht, unser heiliges Erbe ohne Verunreinigung oder Vermischung rein zu erhalten. Doch es ist eine noch heiligere Pflicht, in unserem eigenen Leben und im Leben der Christenheit und der Menschheit davon Gebrauch zu machen. Um die Wahrheit, die Gott uns anvertraut hat, fruchtbar zu machen, ist es weder notwendig noch zweckmäßig, alle Augen­blicke von dem zu reden, was wir nicht sind. Es gibt Menschen, nicht zuletzt in unserer eigenen Gemeinschaft, die höchst eifrig bemüht sind, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit zu betonen, dass sie nicht das eine und nicht das andere sind. Was sind sie dann eigentlich? Ich erinnere mich an einen gebildeten Laien von streng kirchlicher Einstellung, der vor einigen Jahren zu mir kam und seiner Begeisterung darüber Ausdruck gab, dass er etwas von dem gelesen und gehört hatte, was die Reformation und das Luthertum tatsächlich sind, nicht bloß was sie ablehnten. Es gibt etwas, das wichtiger ist, als Grenzen abzustecken. Das ist: aufzuzeigen, was wir tatsächlich in unserem eigenen Land besitzen. Nein ist ein weniger starkes Argument als Ja. Die dringendste Aufgabe ist für uns als evangelisch-lutherische Christen zu diesem Zeitpunkt, Ja zu sagen, nicht Ja zu allem Möglichen, sondern Ja zu Gottes Verheißung und Willen. Wir müssen Gottes Ja gegen das Nein der Verleugnung setzen, das die Sünde, das Böse, das Elend und die teuflischen Verwicklungen der Welt gegen das segensreiche Ja Gottes aufrichten. Wenn wir gegen Luthers Willen seinen Namen für unsere Abteilung der Kirche benutzen, dann müssen wir auch etwas von seinem Universalismus lernen und unseren Mitchristen und der Menschheit [110] um uns herum etwas von dem unendlichen Reichtum zeigen, der im gläubigen Vertrauen zu Gott liegt. Luthers Universalismus bedeutet weniger Misstrauen, weniger Vorsicht, weniger Furcht und mehr von dem Mut und der Zuversicht des Reformators. Wir brauchen, wie der Bischof von Skara zur Einweihung der Fakultätsgebäude am 6. November telegrafierte, „Luthers demütig kühnen Geist“. Universalismus im Sinne Luthers bedeutet nicht, in einer verwirrenden Vielheit von Wahrheiten, sondern in der offenbarten WAHRHEIT zu leben, das heißt, in dem erobernden Ja, das die erlösende Liebe Christi im Namen Gottes ein für allemal gesprochen hat.

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Namenregister Umlaute sowie schwedisches å bzw. Å sind den entsprechenden Vokalen a, o und u zugeordnet. Aaron  41 Ågren, Sven  41 Agricola, Johann  103 Aischines  180 Åkerberg, Hans  13 Alanus (Alain de la Roche)  244 f Albrecht, Erzbischof von Mainz  46, 226, 252 Albrecht, Graf von Mansfeld  137 Aleander, Hieronymus  210, 2 ­ 12–214, 216, 219, 221, 226 Alexander d. Gr.  269 Alexander VI.  246 Alexius  89 Althaus, Paul, d. J.  19 Ambrosius  58, 169 Amsdorf, Nikolaus von  93, 118, 120, 123 f, 153, 182, 215, 264 Andrae, Tor  42 Andreae, Laurentius  247 Anna, Mutter Marias  91, 245 Anselm von Canterbury  (10) Anshelm, Valerius  304 Aquila, Kaspar  149, 188 Aristides  180 Arnauld, Antoine  73, 75 Äsop  36, 55, 122 Augustinus, Aurelius  43, 58, 73–75, 93, 148, 169, 190, 230, 251, 258, 279, 289, 324, 327 Aulén, Gustaf  69, 317 Aurifaber, Johann  94, 133 Barge, H.  300 Baumgartner, Martin  169 Bavarius, Valentin  85 f Beethoven, Ludwig van  57 Bercken, Johann  45 Bernhard von Clairvaux  48, 169, 324 Berquin, Louis  187 Billing, Einar  9, 14, 276 Billing, Gottfrid  13

Billström, Jacob  126 Birgitta von Schweden  244, 324 Böhmer, Heinrich  44, 180, 221 Bonnier, Albert  63 Bora, Katharina von: s. Luther, Katharina Bossert, Gustav  55 Bracciolini, Gian Francesco Poggio  55 Braun, Wilhelm  177 Brecht, Martin  201 Brenz, Johannes  107 Brieger, Theodor  19, 31, 180, 212, 225 Brießmann, Johann  110 Brilioth, Yngve  247 Brisger, Eberhard  106 Brück, Gregor  40, 117 Brunetière, Ferdinand  330 Bucer, Martin  220 Buchholzer, Georg  41 Buddha, Gautama  236 Budé, Guillaume  263 Bugenhagen, Johann (Pomeranus)  81, 101, 107, 116, 123, 130, 144, 150 f, 163, 325 Caesarius, Johann  231 Cajetan de Vio, Jakob  47, 206 f, 278 Calvin, Jean  50, 73–75, 262, 330 Camillus, M. Furius  180 Capito, Wolfgang  229, 252 Carafa: s. Paul I. Carlyle, Thomas  33 f, 53, 66 Chledowski, Casimir  265 Cicero, M. Tullius  180 Clemen, Otto  33 Cochlaeus, Johannes  37, 97, 220, 226, 316 Cordatus, Konrad  113, 196 Cranach, Lukas, d. Ä.  26 Cruciger, Caspar  57, 81 Cyprian, Ernst Salomon  212, 220, 224 Daniel  175 David  41, 135, 154, 163 f, 168, 176

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Denifle, Johann  50, 56, 312 Desprez, Josquin  161 Dickens, Charles  30 Dietrich, Veit  43, 94, 110, 128, 131, 134 Dionysos  271 Döllinger, Ignaz von  69, 199 f, 329 Dominikus  245 Dostojewskij, Fjodor  270 Duchesne, Louis  43 Duns Scotus, Johannes  41 Dürer, Albrecht  181, 232, 264, 293 f Eck, Johann  32, 37, 47, 127, 210, 213 Eckhart, Meister  203, 324 Elia  57, 314 Elisa  57 Epikur  257, 263 Erasmus von Rotterdam  17, 51, 56, 62, 80, 105, 138, 171, 187, 212, 229–268 Essen, Johannes von  201 Etzin, Franz  200 Eucken, Rudolf  249 Eugen III., Papst  48 Evers, Georg  50, 55 Faber Stapulensis, Jacobus  236 Forcellini, Egidio  37 Franciscus: Franz von Assisi  205 f, 219, 236, 239, 324 François I.  298 Friedrich der Weise, Kurfürst  32, 57, (59), 174, 208 f, 212, 224, 252, 278 Fries, Elias  270 Frostenson, Anders  29 Fugger, Jakob Graf  32 Gauger, Hans-Martin  274 Gaume, Jean-Joseph  50 Geijer, Erik Gustaf  11 Georg von Anhalt  123 Georg, Herzog von Sachsen  37, 58 Gerbel, Nikolaus  57, 99 Gerhard, Johann  328 Gerhardt, Paul  158 Gerson, Johannes  131, 143, 169 Glapion, Jean  213, 220 Glüenspies, Philipp  120 Goethe, Johann Wolfgang von  57 Goldschmidt, Christian  215 Göransson, Nils Johan  11, 13 Gregor XVI.  50 Grijs, Paul  244 Grisar, Hartmann  31, 43, 50, 55, 57, 65, 76, 94, 98–100, 110, 118, 123, 128,

133, 137–140, 155, 168, 171, 182, 199, 273, 275–278, 280–283 Gustaf II. Adolf  214, 219, 312 Habakuk  285 Haraldsson, Magnus  247 Harnack, Adolf von  9, 19, 226 f, 230 Hausmann, Nikolaus  36, 103–108, 119 f, 136, 138, 149, 184, 248, 254 Hausrath, Adolf  15, 29, 35 f, 38, 80, 121 f, 176, 178, 192, 212, 216–219, 225, 302 Heiler, Friedrich  290 Heinrich VIII.  50, 58 Hermelink, Heinrich  265 Herrmann, Wilhelm  67 Hesse, Eobanus  59, 313 Hieronymus  43, 112, 169, 251 Hiob  103, 105, 119, 143, 164 f, 167 f, 186, 192, 206, 272, 286 Hiskia  164 f, 168, 176 Høffding, Harald  30, 66 Holberg, Ludvig Baron von  30 Holl, Karl  9, 17, 76 Holmquist, Hjalmar  227 Hopfer, Daniel  26 Hübinger, Gangolf  243 Hunzinger, August Wilhelm  183 Hus, Johann  32, 213, 216, 324 Hutten, Ulrich von  52 f, 211 f, 214 Imbart de la Tour, Pierre  69, 215, 236, 243, 327 Jackelén, Heinz  63 Jadjnavalkya  236 James, William  189, 249 Jansenius, Cornelius  73, 75 Jeanne d’Arc  214 Jeremia  283 Jesaja  57, 236 Jesus Sirach  111, 272 Joachim II., Kurfürst von Brandenburg  41, 44 Johann, Herzog von Kursachsen  216 Jona  167 Jonas, Justus  36 f, 43, 81, 101 f, 104 f, 107, 109–111, 113, 119 f, 138, 141, 163, 168 f, 180, 221, 225 f Josua  41 Jundt, André  73 Kaiser, Leonhard  107 Kalkoff, Paul  206, 210, 224 Karl V., Kaiser  (33), 46, 148, 210, 212– 214, (220), 222, 224 f

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Karlfeldt, Erik Axel  297 Karlstadt, Andreas Rudolf Bodenstein von  32, 45, 172 f, 278 Katharina von Siena  244 Kaufmann, Thomas  316 Kaulfuß-Diesch, Karl  33 Kawerau, Gustav  42 Khagg, Rakhmetallah al-Hindi al Utmani Izkhar al-  42 Kiefl, Franz Xaver  50 Kierkegaard, Søren  56, 79 Kolde, Theodor  224 Köstlin, Julius  101 Kühn, Johannes  221 Lagercrantz, Otto  272 Landquist, John  190 Lang, Johann  251 Laotse  236 Lauterbach, Anton  120, 141, 281 Lavaleye, Émile de  244 Lechler, G. B.  252 Lefèvre d’Étaples, Jacques: s. Faber Stapulensis Leo X.  47 Lepenies, Wolf  270 Levertin, Oscar von  270 Lie, Jonas  30 Liedgren, Emil  30 Linderholm, Emanuel  227 Link, Wenzel  107 f, 121, 143, 150, 196, 263 Linné, Carl von  270 Lönnegren, Ernst  10 Loyola, Ignatius von  16 Lukian  257, 263 Lundström, Herman  34, 248 Luther, Hans (Martins Vater)  84–87, (163) Luther, Hans (Martins Sohn)  (40), 102, (111), 263 f Luther, Katharina  54 f, 60–62, 102, 121 f, 155 Luther, Magdalena (Martins Tochter)  58, 121 Machiavelli, Nicolo  50 Mackay, William Paton  11 Magni, Petrus  31 Maria, Mutter Jesu  89, (175), (217), 245 Martensen, Hans Lassen  79 Marx, Karl  19 Mathesius, Johannes  29, 50, 182, 314 f Matthias, Bischof von Strängnäs  246

Maximilian I., Kaiser  208, 210 Medler, Nikolaus  57 Melanchthon, Philipp  32, 36, 38, (44), 54, 56, 81, 88, 90, 102 f, 105, 110, 113, 115–117, 123 f, 127, 138, 157–159, 173–175, 177 f, 180, 182, 225 f, 264 f Menius, Justus  103 Metzsch, Hans von  153 Miltitz, Karl von  46 f Moeller, Reinhard  19 Mogård, Anders  9 Moibanus, Ambrosius  381 Molière (Jean-Baptiste Poquelin)  274 More, Thomas  234 Mose  116, 133, 236, 271, 299 Mosellanus (Petrus Schade)  32 Müller, Kaspar  302 Müntzer, Thomas  176 f, 219, 303, 308 Musa, Antonius  182 Myconius, Friedrich  119, 216 f, 219 Naumann, Friedrich  70 Niklashausen, Johannes von  299 Nikolaus V., Papst  265 Ockham, William  240 Örnhjälm, Andreas  247 Orpheus  220, 271 Pascal, Blaise  73–75, 243 Paul IV., Papst  224 Paulus  49, 57 f, 73, 75, 120, 130, 135, 143, 149, 168 f, 185, 190 f, 198, 230, 250, 272, 283, 285, 289, 315 f, 327, 331 Pelagius  251 Petri, Laurentius, schwed. Erzbischof  325 f Petri, Olaus, schwed. Reformator  245 f, 291 Petrus  57 f, 105, 110, 135, 143, 169, 188 Petzensteiner, Johann  215, 225 Peutinger, Conrad  222 Pfleiderer, Otto  9 Philipp von Hessen  44, 180 Pistorius, Friedrich  106 Platina (Bartolomeo Sacchi)  265 Platon  236 Plautus  91, 230 Poggio: s. Bracciolini Pomponius: eigentlich Pomponio Leto  265 Poulsen, Alfred Sveistrup  282 Pravest, Wilhelm  172 Preuß, Hans  265

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Propst, Jakob  108, 121, 123 Quensel, Ulrik  23 Råbergh, Herman  32 Ratzeberger, Matthäus  100, 123 Rautenstrauch, Johannes  242 Reinhold, Gottfried  36 Reuchlin, Johannes  230, 236 Rhau, Georg  162 Rhegius, Urbanus  118 Ribbing, Gutaf  23 Ritschl, Albrecht  9–13 Ritschl, Otto  178 Rosenius, Carl Olof  10 Rousseau, Jean-Jacques  56 Rubianus, Crotus  91, 217 Rühel, Johann  302 Ruin, Waldemar  268 Runestam, Arvid  261 Runestam, Staffan  20, 268, 297 Sabatier, Auguste  9 Savonarola, Girolamo  215 Scarabaeus, Georg  146 f, 154 f Schade, Petrus: s. Mosellanus Schalling, Martin  196 Scheel, Otto  51, 71, 85–87, 89, 91–93, 96 f Schlaginhaufen, Johannes  54, 94, 129, 131, 133–136, 138, 145 f, 148, 163, 182 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  9, 13 Schmolck, Benjamin  176 Schurf, August  222 Seeberg, Reinhold  274–276 Seidemann, Johann Karl  214, 281 Senfl, Ludwig  35, 117 f, 161 f Shakespeare, William  50, 79 Siberger, Wolfgang  61 Sickingen, Franz von  211–214, 220 Sigismund, Kaiser  213 Skytte, Martin  247 Söderblom Anna  (13) Söderblom, Jonas  10, (12) Sokrates  57, 79, 180, 269 Sommar, Magnus  247 f Spalatin, Georg  32, 38 f, 54, 73, 99, 101, 104, 138, 148, 181, 185, 187, 201 f, 212–214, 220, 224, 251 f, 298 Spegel, Haquin  247 Stähelin, Rudolf  252, 254

Staupitz, Johann von  58, 79 f, 94, 114, 129, 169–171 Steinhöwel, Heinrich  55 Stifel, Michael  104, 254 Storch, Nikolaus  173 f Strauß, Jakob  184 Strindberg, August 56, 63, 270 Stübner, Markus  173 f Sture, Svante  244 Sturm, Kaspar  214 Styffe, Carl Gustaf  247 Sutel, Johann  172 Swaven, Peter  215 Tauler, Johannes  143, 164, 169, 176 Terenz (P. Terentius Afer)  117 Tetzel, Johann  31, 45 f Thomander, Johan Henrik  30 Thomas, Apostel  217 Thomas von Aquin  168, 240 Thür, Johann  302 Tillich, Paul  17 Tolstoj, Lew  14 Traub, Gottfried  243 Troeltsch, Ernst  9 Ulvsson, Jakob  244 Utenheim, Christoph von  187 Valla, Laurentius  265 Vergil (Publius Vergilius Maro)  91, 111, 230 Voes, Heinrich  201 Vogel  221 Volleyr de Séronville, Nicolaus  304 Voltaire (François-Marie Arouet)  271 Volz, Paul  234 Weida, Markus von  76 Weißenbusch, Wolfgang  160 Weller, Hieronymus  40, 57, 111–115, 120, 127, 135, 138, 151, 189, 314 Wellhausen, Julius  10 Wernle, Paul  69 Wesley, Charles  330 Wesley, John  330 Westman, Knut Bernhard  227, 244 f Wiskamp, Gerhard  84, 108 Worbeck, Veit  221 Wyclif, John  324 Zarathuschtra  14 Zeiger, Balthasar  54 Zwilling, Gabriel  113 Zwingli, Huldrych  50, 55, 127, 304

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