Manifest für eine Sozialphilosophie: (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers) 9783839432440

Is it possible to write the social world and social processes from the perspective of the dominated? How can an articula

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German Pages 160 [156] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1. Die Sozialphilosophie — Eine (fast) Unbekannte in Frankreich
Der schlechte Ruf der Sozialphilosophie
Der Fall Frankreich
Reform oder Revolution?
Kapitel 2. Sozialphilosophie versus politische Philosophie
Die Geburt des Sozialen
Das soziale Individuum
Die Politisierung des Sozialen
Kapitel 3. Die Merkmale der Sozialphilosophie
Die Gesellschaft gegen den Staat
Die theoretische Praxis als Element der sozialen Teilung der Arbeit
Den Ist-Zustand diagnostizieren: An was krankt die Gesellschaft?
Das Bestehende evaluieren und kritisieren
Die Adressaten identifizieren: Das Problem des Sprechers
Kapitel 4. Die Umtriebe des »Sozialen«
Das Soziale als »Problem« und als »Frage«
Wozu (und wem) hat die »Erfindung des Sozialen« gedient?
Kapitel 5. Die Kritik des »Sozialen«
Sorge, Fürsorge, Herrschaft
Das Beispiel der Sozialmedizin: Recht auf Gesundheit oder Recht auf Krankheit?
Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik
Sozialphilosophie und Soziologie
Die kritischen Konzepte
Sozialkritik und Selbstreflexion
Einwände
Nachwort
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Manifest für eine Sozialphilosophie: (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers)
 9783839432440

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Franck Fischbach Manifest für eine Sozialphilosophie

Sozialphilosophische Studien Herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers | Band 10

Editorial Die Reihe Sozialphilosophische Studien siedelt sich auf einem Problemfeld an, das durch das Soziale im weitesten Sinne markiert ist – auf einem offenen Feld, auf dem sich Überschneidungen und Konvergenzen, Konfliktzonen und Kritikpotenziale mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen begegnen. Sozialphilosophie, wie sie die Reihe vertritt, versteht sich demnach nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern als Querschnittsprogramm. Wie »die Kultur« in den Kulturwissenschaften, so ist »das Soziale« ein Operator und kein Gegenstand: Das Soziale lässt sich nicht sagen, sondern es zeigt sich in seinen Vollzugsformen. Entsprechend werden in der Reihe sowohl grundlegende systematische Studien zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Sprechens über das Soziale als auch materiale Untersuchungen publiziert, an denen sich Erscheinungsweisen und Strukturformen des Sozialen ablesen lassen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers.

Franck Fischbach, geb. 1967, ist Professor für Philosophie an der Universität Straßburg. Sein spezielles Interesse in Forschung und Lehre gilt der deutschen Philosophie von Hegel bis zur Gegenwart und der Begründung einer eigenständigen Sozialphilosophie in Frankreich, dokumentiert neben dem hier vorgestellten Buch vor allem in seinen Büchern »La privation de monde« (2011) und »La citique sociale au cinéma« (2012).

Franck Fischbach

Manifest für eine Sozialphilosophie Aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers

Die Übersetzung wurde gefördert von der FernUniversität in Hagen. Publié avec le concours de l’université de Strasbourg Titel der frz. Originalausgabe: Franck Fischbach, »Manifeste pour une philosophie sociale« © Editions La Découverte, Paris, 2009 La Découverte, 9bis, rue Abel-Hovelacque, 75013 Paris

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Lisa Musial, Bielefeld Satz: Francisco Braganca, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3244-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3244-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Kapitel 1 Die Sozialphilosophie — Eine (fast) Unbekannte in Frankreich | 19 Der schlechte Ruf der Sozialphilosophie | 20 Der Fall Frankreich | 24 Reform oder Revolution? | 33

Kapitel 2 Sozialphilosophie versus politische Philosophie | 37 Die Geburt des Sozialen | 40 Das soziale Individuum | 44 Die Politisierung des Sozialen | 46

Kapitel 3 Die Merkmale der Sozialphilosophie | 55 Die Gesellschaft gegen den Staat | 55 Die theoretische Praxis als Element der sozialen Teilung der Arbeit | 57 Den Ist-Zustand diagnostizieren: An was krankt die Gesellschaft? | 61 Das Bestehende evaluieren und kritisieren | 64 Die Adressaten identifizieren: Das Problem des Sprechers | 70

Kapitel 4 Die Umtriebe des »Sozialen« | 81 Das Soziale als »Problem« und als »Frage« | 81 Wozu (und wem) hat die »Erfindung des Sozialen« gedient? | 86

Kapitel 5 Die Kritik des »Sozialen« | 93 Sorge, Fürsorge, Herrschaft | 94 Das Beispiel der Sozialmedizin: Recht auf Gesundheit oder Recht auf Krankheit? | 101

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik | 113 Sozialphilosophie und Soziologie | 113 Die kritischen Konzepte | 120 Sozialkritik und Selbstreflexion | 122 Einwände | 127

Nachwort | 137 Thomas Bedorf, Kurt Röttgers

Vorwort

Für die Generation derer, die, wie ich, um 1968 herum geboren wurden und die ihr Philosophiestudium entsprechend in den 1980er Jahren aufgenommen haben, stand dieses unter dem Stern der großen Wiederkehr der »politischen Philosophie«. Einige unserer »Meister«, die damals zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig waren, inszenierten die Wiederauferstehung der klassischen politischen Philosophie (von Pufendorf bis Kant1) und traten an, den »Rechtsstaat«2, die »Menschenrechte«3, die »Demokratie« und den »Humanismus«4 wiederzuentdecken. Die Wiederkehr dieser politischen Ideale, der insbesondere die durch Marx inspirierte Kritik lange Zeit entgegenwirkte, da sie diese stark ideologisch motiviert sah, ging Hand in Hand mit der Rückkehr zu einer politischen Philosophie normativen Typs. Diese analysierte nicht länger den Ist-Zustand der Gesellschaft oder die faktische Machart der Politik, sondern dachte stattdessen darüber nach, wie Gesellschaft und Staat sein sollen; ihre Frage war, welchen universellen normativen Prinzipien gemäß die sozialen und politischen Institutionen eingerichtet werden müssen, 1 | Luc Ferry fügte der Liste Fichte hinzu; Blandine Barret-Kriegel dagegen lehnte dies ab. Sie hielt den Autor der Rede an die Deutsche Nation für eine Inkarnation der »zweiten« politischen Philosophie der Moderne, das heißt der »romantischen« politischen Philosophie, verstanden als die Mutter aller Übel der Moderne. Dieser setzte sie die »klassische« politische Philosophie als die einzig »richtige« entgegen. 2 | Vgl. B. Barret-Kriegel, L’État et les esclaves. Réflexions pour l’histoire des États, Paris 1979, neu aufgelegt 1989. 3 | Was diesen Punkt betrifft, abgesehen von der in der voranstehenden Fußnote zitierten Arbeit, vgl. L. Ferry, Philosophie politique, I. Le droit : la nouvelle querelle des Anciens et des Modernes, Paris 1984. 4 | Ebd.

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um den Werten von Freiheit und Gleichheit zu entsprechen. Es kommt nicht von ungefähr, dass man in dieser Zeit und in diesem Kontext in Frankreich das Denken Rawls’, des Neubegründers der normativen politischen Philosophie, zu rezipieren begann und dass dessen Theorie der Gerechtigkeit allmählich Einfluss auf die Debatten gewann, bis sie schließlich 1987 auch ins Französische übersetzt wurde5. Dass man normative Fragen wieder anging, war das eine (an sich durchaus nützlich, vor allem im Kontext französischer Theorie, die Normativität systematisch verbannt hatte); das andere aber war, dass man sie strikt auf den rechtspolitischen Bereich beschränkte. Es war nicht selbstverständlich und gab auch keinerlei Notwendigkeit, eine Wiederbelebung der politischen Reflexion normativen Typs systematisch mit einer Verschleierung jeder Form von Normativität, die dem im eigentlichen Sinne sozialen Bereich menschlicher Existenz immanent ist, einhergehen zu lassen. Ist Normativität nicht auch innerhalb des sozialen Lebens selbst am Werk? Warum sollte man Normativität a priori auf rechtspolitische Prinzipien beschränken? Ich neige zu der Auffassung, dass die Rawl’sche Methode umso willkommener in Frankreich war, als sie auf einer systematischen Kritik am Utilitarismus beruht, und damit auf einer Kritik an der Idee, der zufolge die Norm menschlichen Handelns in der Gesellschaft die Suche nach der Maximierung des Wohlergehens für die größtmögliche Zahl ist; das heißt, dass sie auf der Kritik an einer Denktradition beruht, die gerade eine der wichtigen Quellen dessen darstellt, was ich hier unter dem Namen »Sozialphilosophie« vorstellen und zu verteidigen versuchen werde.6 Für die Architekten dieser Rückkehr zu einer »klassischen politischen Philosophie« ging es zunächst weniger darum, die Befreiung der französischen Philosophie von dem, was von den 1950ern bis in die 1970er Jahre Einfluss auf sie ausgeübt hatte (das heißt im Wesentlichen die Sozialwissenschaften, Heidegger und Marx), zu registrieren und zu verbu5 | J. Rawls, Théorie de la justice, übers. v. C. Audard, Paris 1987 [Deutsche Ausgabe: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. H. Vetter, Frankfurt a.M. 1988]. 6 | Ich merke an, dass die Diskussion, die die zeitgenössischen Utilitaristen (beispielsweise R.M. Hare und J. Mackie) mit Rawls führten, bis heute in Frankreich weitgehend ohne Echo geblieben ist, während Rawls’ antiutilitaristische Argumente meist für bare Münze genommen werden. Eine erwähnenswerte Ausnahme stellt die Arbeit von C. Audard dar, insbesondere im dritten Band ihrer Anthologie historique et ciritque de l’utilitarisme, Paris 1999.

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chen; es ging vielmehr darum, diese Emanzipation zu verkünden und in die Welt zu tragen. Sie prangerten an, was sie einst (1968 und noch wenig später) bewundert und mit dogmatischem Eifer verteidigt hatten, jünger und noch im Dunstkreis ihrer Lehrer, die bedeutender waren als sie selbst. Es ging darum, die »frohe Botschaft« zu verkünden, dass nicht notwendigerweise jegliche Macht die Ausübung einer Herrschaft sei (gegen Foucault), nämlich dann nicht, wenn es sich um »gute« Macht handele, die reguliert sei durch das Gesetz, und dass sich zudem (diesmal gegen Heidegger) die moderne Subjektivität nicht zwangsläufig in einer technischen Erschließung der Welt erfülle, nämlich dann nicht, wenn es sich um »richtige« Subjektivität handele, das heißt um transzendentale Subjektivität. Gleichermaßen und gleichzeitig verkündete man (gegen Marx), dass die Politik sehr wohl Autonomie besitze und sich nicht in der Wirtschaft und den sozialen Beziehungen auflöse; außerdem (diesmal gegen Soziologie und Anthropologie), dass sich das »Subjekt« insofern vom »Individuum« unterscheide, als es sich kraft seiner Autonomie bestimme und nicht mehr in einer Kette von determinierenden Ursachen auflöse. Man sieht daran, dass es einerseits darum ging, den Einfluss der Sozialwissenschaften auf die Philosophie zurückzudrängen, und andererseits – was viel wichtiger ist – den (tatsächlichen oder imaginierten) Einfluss, den der Marxismus noch immer ausüben konnte, und das, obwohl einige Marxisten (darunter kein geringerer als Althusser) ohnehin gerade erklärt hatten, dass sich der Marxismus in einer Krise befinde. Wo stehen wir heute? Wozu haben diese kleinen Ereignisse in der Welt der Philosophie gedient? Als »theoretische« Beigaben und zur ideologischen Präparation? Mit einigen Jahrzehnten Abstand, über die wir inzwischen im Bezug auf das »Werk« derjenigen verfügen, die theoretisch wie auch praktisch zur klassischen politischen Philosophie zurückkehren wollten (wenn man an die aktive Teilnahme an der Politik einiger Vertreter denkt, insbesondere L. Ferry und B. Kriegel), ist es heute möglich, eine etwas präzisere Idee des Vorhabens zu gewinnen. Halten wir fest, dass, wenn es hier angebracht ist, »Werk« in Anführungszeichen setzen, das daran liegt, dass die Abwesenheit eines Werkes ein Hauptcharakteristikum dieser Kleinmeister [petits maîtres] ist, die Ende der 1970er Jahre auf blühten und dann die 1980er und 1990er Jahre beherrschten oder dies zumindest versuchten. Nachdem sie sich auf einen durch die sogenannten »neuen Philosophen« bewirkten, noch nie dagewesenen theoretischen Verfall eingelassen hatten, dessen Abenteuer nun im Zynismus

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eines Bekenntnisses zur Sarkozy’schen Politik ausklingt, hinterlassen sie, die behaupten, die Generation eines Foucault, Deleuze, Derrida, Lyotard, Althusser, Bourdieu, Granel etc. zu Grabe zu tragen, blasse Eindrücke ihrer tristen, medienwirksamen Prozession und ihres öffentlichkeitsberauschten Kurses; aber sie hinterlassen kein Werk. Das Unrecht, das sie der Philosophie zugefügt haben, ist beträchtlich; ich tendiere dazu, zu denken, dass es erst einer zukünftigen Generation gelingen wird, die Philosophie wieder auferstehen zu lassen. Es bleibt festzuhalten, dass zur selben Zeit, zu der sie sich einer Apologie des »Rechtsstaats« hingaben, die Politik sogenannter »Reformen« auf den Weg gebracht wurde, die in Wirklichkeit Gegenreformen waren und unter unseren Augen zu einer Destruktion des aus der Nachkriegszeit ererbten Sozialstaates führten. Sie ließen nichts übrig als einen Staat, der sich aus allem heraushält (aus Bildung, Wissenschaft, Recht, Gesundheit, Sozialversicherung etc.) und auf sein absolutes Minimum reduziert ist, das heißt: auf die Armee, die Polizei und ein Recht, das der Letzteren zu Diensten steht. Würdigen wir das bemerkenswerte Ergebnis einer mehr als zwanzig Jahre dauernden Apologie des Rechtsstaates: Sie zielte darauf ab, das Monster niederzustrecken, das das 20. Jahrhundert hervorgebracht hatte, nämlich den »totalitären Staat«. Das ist gelungen: Das Ergebnis ist ein »Minimalstaat«, ein Staat im Kleinformat, wie ihn nicht einmal die leidenschaftlichsten Liberalen zu erträumen gewagt hätten. Man kann sogar von einem »liberal-kompatiblen« Staat sprechen, das heißt einem Staat, dessen Funktion sich im Prinzip in »Bankenrettung« (also: Reichenrettung) erschöpft sowie darin, die Sicherheit der Reichen und die Unsicherheit der Armen zu garantieren, finanziert durch den Abbau von Sozialleistungen; ein Staat, der den Privilegierten die Möglichkeit einräumt, Steuerzahlungen zu umgehen, während er unter den weniger Privilegierten einen Konkurrenzkampf in Gang hält und sie der noch nie dagewesenen Gewalt eines »Prekariats« aussetzt, das sich im fortgeschrittenen Stadium seiner Ausbreitung befindet. Die einzigen positiven Folgen dieser desaströsen Entwicklungen sind, einerseits, die Tatsache, dass der Diskurs um den Rechtsstaat nach der Einrichtung von Guantánamo und zwei mörderischen Kriegen im Irak (der erste durchgeführt im Namen des Rechts, der zweite im Namen des Guten – eine eklatante Offenlegung der direkten Linie, die vom Recht zur Moral führt und weiter von der Moral zur Religion) niemandem mehr etwas vormachen kann, und andererseits die derzeitige Wiederaufrüstung

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der Sozialkritik. Die sozial verheerenden Konsequenzen der neoliberalen Globalisierung sind mittlerweile allen klar, sodass die alte »soziale Frage« – die man dank der sozialen Kompromisse der Nachkriegszeit im Abendland für gelöst halten konnte, zumindest tendenziell – sich nunmehr von neuem stellt, diesmal jedoch auf globaler Ebene.7 Philosophisch führt das dazu, dass man wieder eine theoretische Methode anwendet, die weniger beansprucht, zu sagen, was sein soll oder was »Recht« ist, sondern die vielmehr zunächst eine Diagnose dessen beabsichtigt, woran die Gesellschaft, wie sie ist, »krankt«, sowie dessen, was in der bestehenden sozialen Ordnung der Entfaltung der Mehrzahl der Individuen im Weg steht oder diesen sogar zutiefst entwürdigte und beschädigte Lebensformen aufzwingt. Der Befund, der sich heute aufdrängt, ist, dass die Institutionen des Rechtsstaates und der individuelle Rechtsschutz mit den Beschädigungen, die den elementaren Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens zugefügt worden sind, absolut kompatibel sind.8 Auch sind sie kompatibel damit, dass einem nach wie vor wachsenden Bevölkerungsanteil Bedingungen von Arbeit, Wohnung, Gesundheit, Bildung und Ausbildung zugemutet werden, die offensichtlich die elementarsten Ansprüche an ein Leben verletzen, das man schlicht menschlich oder menschenwürdig finden kann. Wenn man in diesem Sinne häufig den Eindruck hat, heute Bedingungen vorzufinden, die an das 19. Jahrhundert erinnern, so ist die Situation, wenigstens im Abendland, dennoch nicht ganz die gleiche. Denn der für die betroffenen Individuen entwürdigende Sozialabbau scheint nunmehr vollkommen vereinbar mit »demokratischen« Regierungen zu sein, sowie mit Institutionen, die vorgeben (aber wie lange noch?), die individuellen Rechte und die bürgerliche Freiheit zu garantieren. Im 7 | Vgl. M. Davis, Planet der Slums, übers. v. I. Scherf, Berlin/Hamburg 2007. 8 | Solche Bedingungen wären ähnlich dem zu verstehen, was Amartya Sen »Befähigungen« oder »Kapazitäten« nennt (capabilities – man verzeihe mir, wenn ich den Neologismus »capabilités« zu benutzen vermeide), womit er Bedingungen bezeichnet, die nötig sind, um »menschliche Fähigkeiten« (human functionings) zu entwickeln, die es wiederum erlauben, ein annehmbares menschliches Leben zu führen, das vor allem durch das Erlangen von Wohlbefinden gekennzeichnet ist (vgl. A. Sen, On Ethics and Economics, Oxford 1991 und Ders., Inequality Reexamined, Cambridge, MA 1995).

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19. Jahrhundert konnte man, was Recht und Demokratie betraf, noch auf den politischen Fortschritt setzen und darauf, dass er zu einer Lösung der »sozialen Frage« beitragen würde – eine Hoffnung, die man heute nicht mehr nähren kann. Daher kommt es auch, dass uns das Intermezzo der Rückkehr zur politischen Philosophie tatsächlich beendet zu sein scheint, jedenfalls in der Form, die sie speziell in Frankreich angenommen hat, nämlich die Form einer entpolitisierten, entpolitisierenden, »politologischen« (wie Bourdieu sagte9) politischen Philosophie. Die Wiederkehr der und Rückkehr zur politischen Philosophie in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre bedeutete im Grunde genommen eine Abmagerungskur derselben, verordnet durch »Sciences Po«; eine Manier setzte sich durch, die die politischen und sozialen Probleme wertneutral und wie rein technische Probleme behandelte. Dieses Intermezzo ist beendet und im selben Maße, in dem die Maske der entpolitisierenden Praktiken und Diskurse der Verwalter des Sozialen fallen, scheint die soziale Welt selbst die politischen Schattierungen wiederzuentdecken. Dieses Buch möchte einer solchen Repolitisierung des Sozialen das Wort reden. Philosophisch geschieht dies durch die Annahme, dass die Politik dem Sozialen immanent ist, insofern Letzteres ein gespaltener und grundsätzlich konfliktueller Raum ist,10 sowie durch eine bestimmte Verschiebung der Fragestellung, von der wir gleich ein Beispiel geben können. Stellen wir die Frage: »Was ist ein entwürdigtes oder beschädigtes menschliches Leben?«11 Oder, um dasselbe zu sagen, aber »den Philoso-

9 | P. Bourdieu, »Eine wirklich kritische Haltung aufbauen«, in: P. Bourdieu, Interventionen 1961-2001, Bd. 4, übers. v. F. Hector, J. Bolder u.a., Hamburg 2004, S. 273. 10 | Ich schließe mich gern Axel Honneth an, um mit ihm zu sagen, dass »wir das Soziale auch nur dann hinreichend bestimmen können, wenn wir es zugleich immer auch als ein Feld sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe verstehen« (A. Honneth, »Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die Anerkennungstheorie«, Gespräch mit Olivier Voirol, in: J. Ph. Reemtsma, M. Basaure, R. Willig (Hg.), Die Erneuerung der Kritik, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 116). 11 | Der Ausdruck »beschädigtes Leben« ist dem Untertitel eines der Hauptwerke Adornos entlehnt, das er mit Kriegsende zu schreiben begann: Th. W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 2003. Mit »beschädigtes Leben« meint Adorno das Leben der Individuen, das in der fort-

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phen verständlich zu bleiben«12: »Was ist ein entfremdetes Leben?« Diese Frage hängt mit einer anderen Frage zusammen, die heute viel häufiger gestellt wird und sogar zum Titel eines Buches geworden ist: »Was ist ein gelingendes Leben?«13 Man könnte unschwer behaupten, dass die erste Frage einen gewissen Vorrang vor der zweiten hat. Dazu müsste man nur von der Feststellung ausgehen, dass das Leben prinzipiell von der Mehrzahl der Individuen selbst, wenn nicht als absolut gelungen oder misslungen, so doch wenigstens als unvollendet, unvollständig oder nicht zufriedenstellend erlebt und gedacht wird, und dass ein als gelungen beschriebenes und deklariertes Leben mehr die Ausnahme als die Regel darstellt. Bevor man sich also mit der Frage beschäftigt, was ein gelingendes Leben ist, sollte man zunächst fragen, warum die meisten Individuen auf die Frage sicherlich nicht antworten würden, dass sie ein gelingendes Leben führen. Die meisten Individuen hätten auf die Frage zweifellos eine nuancierte Antwort und würden zum Beispiel sagen, dass ein »Bereich« (das Familienleben) gelinge, ein anderer jedoch (das Berufsleben) scheitere. Dabei bliebe völlig offen, welchen Sinn es überhaupt hat, das Leben solchermaßen in einen gelingenden und einen scheiternden oder gescheiterten Aspekt desselben zu unterteilen. Jedenfalls ist die Frage, warum überhaupt ein Lebensaspekt als gescheitert betrachtet werden kann und wie sich dem begegnen lässt, vorrangig gegenüber der Frage, was genau ein gelingendes Leben wäre. Denn welchen Sinn hat es, ein Modell des gelingenden Lebens zu konstruieren, wenn die Mehrzahl der Menschen überzeugt davon ist, dass ein solches Leben nicht das ihre ist, ja nicht einmal das ihre sein kann, dass es reale Barrieren gibt (historischer, psychologischer oder sozialer Art), die dazu führen, dass ein gelingendes Leben in großem Maße nur ein Traum ist oder eine Hoffnung ohne Bezug zur Lebensrealität? Spinozas Modell des erfüllten menschlichen Lebens in seiner Ethik muss im Bezug auf die Widerstände im Sinn von externen Bedingungen und der menschlichen Natur selbst verstanden werden, die die menschgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft nicht viel anderes ist als ein bloßer Nebeneffekt der Güterproduktion. 12 | K. Marx, F. Engels, Die Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke (im folgenden zitiert als MEW), Bd. 3, Berlin 1969, S. 34. 13 | L. Ferry, Qu’est-ce qu’une vie réussie?, Paris 2005.

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liche Natur an ihrer eigenen Erfüllung hindern; diese untersucht er entsprechend in den Teilen drei und vier, bevor er im fünften Teil ein Modell des erfüllten menschlichen Lebens vorschlägt. Eine solche Untersuchung der Gründe, aus denen ein Individuum auf die Idee kommt, dass sein Leben teilweise oder vollständig gescheitert ist, scheint mir Vorrang vor dem Versuch einer Ad-hoc-Definition der Kriterien eines gelingenden Lebens zu haben, ganz einfach deswegen, weil die Mehrzahl der Menschen zunächst erlebt und feststellt, was nicht gut funktioniert, was »krankt«, dann versucht zu verstehen, warum das so ist, und schließlich die Mittel sucht, die möglicherweise Heilung oder Linderung verschaffen. Abgesehen von dem Problem, welche der beiden Fragen Vorrang hat, scheint mir aber vor allem, dass es sich um zwei verschiedene Arten von Fragen handelt. Die Frage »Was ist ein gelingendes Leben?« ist eine moralische Frage. Welche Lebensweise zu wählen angebracht ist im Hinblick auf ein erstrebtes Ziel – im Allgemeinen das Glück – ist die traditionelle Frage der Moralphilosophie. Das Individuum steht im Mittelpunkt dieser Frage, die nicht nur vollkommen legitim ist und im übrigen so alt wie die Philosophie selbst – für das Individuum handelt es sich zudem um eine »existenzielle« Frage, insofern sie eine Wahl zugunsten dieser oder jener Lebensweise eröffnet; eine Wahl, die nur das Individuum treffen kann, die es und nur es vollständig bindet. Die Frage ist also notwendig individuell.14 Für das Individuum geht es darum, zu bestimmen, welche Lebensweise es wählen sollte, um seine Chancen auf Selbstverwirklichung zu erhöhen. Die Frage »Was ist ein beschädigtes oder entfremdetes Leben?« ist dagegen von anderer Art; sie gehört weder zur Moralphilosophie, noch zur Ethik, sondern zur Sozialphilosophie. Der bestimmende Untersuchungsrahmen der Frage des entfremdeten Lebens kann nicht das individuelle Leben sein. Denn die Tatsache und die Erfahrung von Entfremdung oder nicht gelingender Selbstverwirklichung verweisen das Individuum auf die historischen, sozialen und kollektiven Bedingungen seiner Existenz. Wenn sich der Diskurs über das gelingende und erfüllte Leben gänzlich an das Individuum richtet, 14 | Halten wir fest, dass Spinoza auch hier wieder eine Ausnahme bildet: Er stellt fest, dass eine solche Frage nur beantwortet und der Weg zu einem erfüllten (oder »gelingenden«) menschlichen Leben nur gefunden werden kann, wenn man das Individuum zunächst dezentriert und es in die (natürliche wie auch historischsoziale) Totalität einschreibt, von der es abhängt und ein Teil ist.

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das dazu aufgerufen ist, eine existenzielle Wahl zwischen dieser oder jener Lebensweise zu treffen, so muss der Diskurs über das entfremdete, unvollkommene oder beschädigte Leben dagegen zunächst feststellen, dass ein individuelles Leben einem bestimmten sozialen Lebenskontext eingeschrieben ist. Wenngleich die externen Bedingungen eines gelingenden Lebens sicherlich erwähnt werden können, so sind sie doch zweitrangige, nebensächliche Bedingungen, die das Individuum bei seiner existenziellen Wahl unterstützen oder bestärken können. Als zentral und entscheidend hingegen drängen sich diese externen Bedingungen dann auf, wenn man sich fragt, was ein entfremdetes Leben ist. Der Diskurs über das entfremdete oder unerfüllte Leben hat unmittelbar mit den dem Individuum externen Bedingungen zu tun, die es zwingen, ein Leben zu führen, das als eingeschränkt oder begrenzt, ohnmächtig oder beschädigt erlebt wird; in einem Maße, dass selbst die internen Bedingungen, die zur Bestimmung eines entfremdeten Lebens hinzugezogen werden können (vor allem Bedingungen psychischer Art), wiederum auf den familiären und sozialen Kontext verweisen, in dem ein Individuum tatsächlich sozialisiert wurde. Kurz gesagt, die Frage »Was ist ein entfremdetes oder beschädigtes Leben?« eröffnet einen bestimmten Typ philosophischer Fragestellung und eine besondere Form der Untersuchung, die zu dem gehört, was wir hier Sozialphilosophie nennen werden. Diese kommt um die Frage, was eine erfüllte oder »gelingende« Lebensweise sein könnte oder müsste, sicherlich nicht herum und gewiss stößt sie dabei auch auf Fragestellungen ethischer Art – aber sie beginnt nicht mit dieser Frage. Ihr Ausgangspunkt sind vielmehr die Lebensformen und Lebenserfahrungen, die von den Akteuren selbst als unerfüllt, entfremdet, entwürdigt und beschädigt erlebt werden, und sie versucht, in deren sozialem und historischem Kontext die Bedingungen zu identifizieren, die diese Lebensformen scheitern lassen, häufig bis hin zu dem Punkt, an dem sie untragbar werden und es zu Protest oder Revolte kommt. Aber muss man nicht, wenn schon nicht über ein Modell, so zumindest über eine Vorstellung oder einfach ein Bild dessen verfügen, was ein gelingendes und erfülltes menschliches Leben sein könnte, um dessen nicht gelingende, nicht erfüllte Formen ausfindig machen zu können, in welchem Falle man schließlich doch wieder der Moralphilosophie oder der Ethik den Vortritt lassen müsste? Ich glaube nicht. Denn dann würde man nur wieder von der Erfahrung der Akteure selbst abstrahieren

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und sich auf die rein theoretische Ausarbeitung eines Modells des gelingenden menschlichen Lebens einlassen. Die Sozialphilosophie nimmt, im Gegenteil, ihren Ausgang von der gelebten Erfahrung der Individuen selbst, insofern diese mit ihren eigenen sozialen Existenzbedingungen konfrontiert sind und insofern diese Bedingungen ihre Chancen, ein erfülltes Leben zu führen, verringern oder vergrößern. Die Ausarbeitung von Kriterien für ein erfülltes menschliches Leben kann hier erst später einsetzen und findet auch nur auf Basis der Erfahrung der Individuen statt, sowie auf Basis der sozialen Bedingungen, die diese selbst als dem Gelingen ihres Lebens hinderlich und als ihre Chancen auf mögliche Selbsterfüllung minimierend benennen können. Die weltweiten sozialen Desaster, die charakteristisch sind für die postfordistische Ära, in die wir mit der Globalisierung eingetreten sind, machen Themen wie das entfremdete Leben wieder aktuell. Gleichzeitig offenbaren sie, dass die normativen Herangehensweisen, die charakteristisch sind für die politische Philosophie und die Moralphilosophie, nicht imstande sind, diesen Fragen auf zufriedenstellende Weise zu begegnen15. Tatsächlich ist weder eine unmittelbar an der Bestimmung der normativen Kriterien eines guten oder gelingenden Lebens orientierte Moralphilosophie, noch eine zur Bestimmung der universellen Prinzipien der Gerechtigkeit (Rawls) oder zur Freilegung der einem öffentlichen demokratischen Raum immanenten normativen Prinzipien (Habermas) verleitete politische Philosophie in der Lage, eine Sozialkritik zu formulieren, der es zugleich gelingt, sich tatsächlich auf die Erfahrungen zu beziehen, die für die aktuelle Entwicklungsphase (oder Rückbildungsphase) unserer Gesellschaften charakteristisch sind, nämlich die Erfahrungen von Entfremdung, Abstieg, Nicht-Zugehörigkeit, Ausschluss und Abwertung. Das veranlasst uns, eine philosophische Herangehensweise wiederzuentdecken, die anders vorgeht als die Moralphilosophie und die politische Philosophie, und einen Versuch ihrer Wiederbelebung zu unternehmen. Im Unterschied zur politischen Philosophie unternimmt die Sozialphilosophie weder eine Rückbesinnung auf die Philosophie selbst, noch einen Rettungsversuch ihrer Autonomie, und erst recht keinen Versuch einer Wiederherstellung ihrer an die Sozialwissenschaften verlorenen Hegemonie, sondern im Gegenteil die größtmögliche Öffnung für die Methoden 15 | Vgl. E. Renault, »Postmodernisme, marxisme et critique sociale en débat«, in: Actuel Marx, Nr. 40, Zweites Semester 2006, S. 164f.

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und Ergebnisse der Sozialwissenschaften und Humanwissenschaften im Allgemeinen. Für sie ist das Voraussetzung, um überhaupt über die negativen sozialen Erfahrungen und die sozialen wie psychischen Prozesse, die diese beschreiben, nachdenken zu können. Allein diese Öffnung für die Sozialwissenschaften und ihre Ergebnisse kann die Philosophie davor bewahren, bei einer rein »expressionistischen« Sozialkritik zu bleiben. »Expressionistisch« ist ein Ausdruck, den É. Pineault zur Bezeichnung eines Diskurses verwendet, »der sich, um die schädlichen sozialen und ökologischen Auswirkungen des zeitgenössischen Kapitalismus anprangern zu können, mit einer für selbstverständlich befundenen oberflächlichen Anklage der ›monströsen‹ Merkmale des Letzteren zufriedengibt«16. Ich stimme É. Pineault zu, dass ein kritischer Diskurs wie jener von A. Negri und M. Hardt ebenso wie andere post- oder neu-deleuzianische Diskurse zu einer solchen lediglich »expressionistischen« Form von Sozialkritik gehören. In dieser Art von Kritik geht der rhetorische Effekt des Anprangerns des Kapitalismus einher mit einer ziemlich unverhohlenen Form von Faszination bezüglich des Potenzials von Erfindung, Innovation, Selbsttransformation und permanenter Umwälzung des sozialen Gefüges. Im schlimmsten Fall führt dies zu einer Form von Komplizenschaft mit dem Gegenstand, im besten Fall zu einer Form von Verdinglichung des Kapitalismus, der betrachtet wird wie eine Art mysteriöse, mit okkulten Qualitäten ausgestattete Entität. Jedenfalls führt es zu einer Lähmung jeglicher kritischer Analysefähigkeit, was diese Produktionsweise betrifft. Mit dem Ziel, eine solche Kritik zu formulieren, und im Unterschied zur Moralphilosophie, behauptet die Sozialphilosophie weder, universelle Normen zu entdecken, noch, einen unparteiischen oder neutralen Standpunkt einzunehmen. Im Gegenteil: Sie zieht sich nicht eher zurück, als bis sie Partei ergriffen hat, auch (oder primär) politisch. Sie interessiert sich für die stets besondere, lokale und fleischgewordene Normativität, die durch die Praktiken der Individuen und Gruppen getragen und ins Werk gesetzt wird, und sucht nach den objektiven Bedingungen einer möglichst weitgehenden Selbstbehauptung für sie [affirmation d’eux-mêmes]. Dieses Buch will versuchen, Bedingungen, Sinn und Spannweite einer sozialphilosophischen Methode zu skizzieren. Um zu zeigen, wo16 | É. Pineault, »Quelle théorie critique des structures sociales du capitalisme avancé?«, in: Cahiers de recherche sociologique, Nr. 45, Januar 2008, S. 114.

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her die Sozialphilosophie kommt, wie und in welchen Formen sie sich entwickelt hat und als Tradition existiert, sind historische Überlegungen unabdingbar. Darüber hinaus wird es vor allem darum gehen, in einem sich als höchst paradox erweisenden französischen Kontext zur Legitimation einer sozialphilosophischen Methode beizutragen. Tatsächlich kann nämlich die Sozialphilosophie als einer der derzeit dynamischsten und produktivsten Stränge der Philosophie gelten – ohne als solche identifiziert zu werden und ohne in akademischen Debatten eine Rolle zu spielen.

Kapitel 1 Die Sozialphilosophie: Eine (fast) Unbekannte in Frankreich

Unsere Untersuchung geht von einer Feststellung aus: In Frankreich gibt es die Sozialphilosophie nicht. Sie wird zwar betrieben, zahlreiche Studien und Arbeiten, die erscheinen, gehören ihr an,1 aber sie wird nicht als solche deklariert, kaum jemand bekennt sich zu ihr, und etabliert ist sie schon gar nicht. Nichtsdestotrotz war es Frankreich, wo der Ausdruck »Sozialphilosophie« das erste Mal auftauchte – nämlich in einer anonymen Publikation, die 1793 in Paris unter folgendem Titel erschien: Philosophie sociale. Dédiée au peuple français [Sozialphilosophie. Gewidmet dem französischen Volk], »von einem Bürger der Section de la République française, ehemals Roule«2 . Doch die Verwendung des Ausdrucks »Sozialphilosophie« ist bis heute alles andere als selbstverständlich, vor allem bei uns, die wir unmittelbar mit einem Paradoxon konfrontiert sind: Der Ausdruck »Sozialphilosophie« selbst tauchte das erste Mal in Frankreich 1 | Um nur einige der neuesten Publikationen zu nennen: E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie et politique, Paris 2008; S. Haber, L’Aliénation. Vie sociale et expérience de la dépossession, Paris 2007; G. le Blanc, Vies ordinaires, vies précaires, Paris 2007, sowie L’Invisibilité sociale, Paris 2009. Man erlaube mir, zudem zu verweisen auf F. Fischbach, Sans objet. Capitalisme, subjectivité, aliénation, Paris 2009. 2 | Der anonyme Bürger war in Wirklichkeit Junius Frey, auch bekannt unter dem Namen Franz Thomas von Schönfeld. Sein richtiger Name war Moses Dobruska. Gershom Scholem widmete ihm ein bedeutendes Werk: Du frankisme au jacobinisme. La vie de Moses Dobruska, alias Franz Thomas von Schönfeld, alias Junius Frey, Paris 1981.

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auf (und zwar, bezeichnenderweise, während der Französischen Revolution) – und dennoch ist man sich hierzulande nicht im Klaren darüber, was er umfasst. Während man die »Moralphilosophie« und die »politische Philosophie« kategorial sehr genau einordnen kann und die Soziologie offensichtlicherweise innerhalb der »Humanwissenschaften« wissenschaftlich vollkommen legitimiert ist, spricht niemand, oder zumindest fast niemand, von »Sozialphilosophie« – diese bezeichnet in Frankreich kein institutionell etabliertes oder als legitim erachtetes Forschungsfeld.

D er schlechte R uf der S ozialphilosophie In den philosophischen Fakultäten und Instituten der französischen Universität wird »Sozialphilosophie« weder gelehrt, noch gibt es darin Forscher, die offiziell als Spezialisten auf diesem Gebiet gelten. Blickt man im Unterschied dazu auch nur kurz nach Deutschland, so stellt man fest, dass die Situation dort ganz anders ist: Obwohl der Ausdruck »Sozialphilosophie« nicht ursprünglich deutsch, sondern lediglich aus dem Französischen übersetzt ist, so ist »Sozialphilosophie« dennoch in Deutschland eine als solche anerkannte philosophische Disziplin. In den Universitäten gibt es Lehrstühle für Sozialphilosophie, wie es auch Lehrstühle für Moralphilosophie, politische Philosophie, Wissenschaftsphilosophie, Philosophie der Kunst oder Metaphysik gibt. Zudem darf man in Deutschland einen Philosophen »Sozialphilosoph« nennen, wie es etwa auf der Gedenktafel der Fall ist, die an der Fassade von Max Horkheimers Geburtshaus in Stuttgart angebracht ist – Horkheimer hatte 1931 das Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt gegründet (oder eher neu gegründet). In der akademischen Philosophie in Frankreich gibt es die Sozialphilosophie als solche nicht, sie bezeichnet kein als legitim anerkanntes Forschungsprogramm und auch kein offizielles Lehrgebiet der Philosophie. Dagegen ist es nicht selten, dass man außerhalb der Philosophie von »Sozialphilosophie« spricht. Vor allem Soziologen tun dies mitunter, allerdings eher, um damit entweder ein recht vages Projekt einer Art Epistemologie ihrer eigenen Disziplin zu bezeichnen, oder die allgemeinen und »essayistischen«, ja sogar journalistischen Diskurse, die nur diejenigen über das Soziale führen können, die sich die Anwendung und Beherrschung der wissenschaftlich bewährten Methoden einer Soziologie, die

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ihres Namens würdig ist, ersparen. Als Beispiel soll hier ein Verweis auf A. Ogien und seinen Gebrauch des Ausdrucks »Sozialphilosophie« im Rahmen einer epistemologischen Reflexion über die Soziologie genügen: »Die wahren theoretischen Probleme der Soziologie sind die, die […] im Forschungsverlauf auftauchen; es sind nicht die, die aus jener Verwirrung heraus entstehen, die dazu führt, Reflexionen theoretisch zu nennen, die bestenfalls zu einer etwas wirklichkeitsfremden Sozialphilosophie gehören […] und schlimmstenfalls zu einer unnützen Anhäufung gelehrter Referenzen oder leeren Geredes«3. Es ist ziemlich klar, dass dieses »bestenfalls« für einen Soziologen, der Epistemologe seiner eigenen Disziplin ist, nicht wirklich weit weg ist vom »schlimmstenfalls«. Aber man findet bei den Soziologen auch noch pejorativere Verwendungsweisen des Ausdrucks »Sozialphilosophie«: Etwa bei L. Boltanski, der heute, im Rückgriff auf den Text La Production de l’idéologie dominante von 1976, damals publiziert in den Actes de la recherche en sciences sociales, schreibt, dass das Ziel war, die »Sozialphilosophie der herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse«4 offenzulegen: »Sozialphilosophie« wird hier schlicht und einfach als Synonym für »Ideologie« gebraucht und bezeichnet die »Sicht auf die Sozialwelt«, die die Mitglieder der »herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse« teilen. Der hier unternommene Versuch hätte sein Ziel erreicht, wenn es gelänge, einige Soziologen davon zu überzeugen, dass es einen fundierten und strengen Gebrauch der Kategorie »Sozialphilosophie« gibt, dass der Ausdruck keinen bloß vagen und allgemeinen Sinn einer simplen »sozialen Weltanschauung«5 hat, 3 | A. Ogien, Les Règles de la pratique sociologique, Paris 2007, S. 9. 4 | L. Boltanski, Rendre la réalité inacceptable. À propos de »La Production de l’idéologie dominante«, Paris 2008, S. 52. Die Äquivalenz zwischen der »Sozialphilosophie« der »herrschenden Fraktion der herrschenden Klasse«, ihrer »Sicht auf die soziale Welt« und ihrer »Ideologie« wird gleich zu Anfang dieses Textes hergestellt: P. Bourdieu und L. Boltanski, »La Production de l’idéologie dominante«, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 7, 1976; Neuauflage Paris 2008. [Gekürzte Versionen dieses Textes sind auf Deutsch unter dem Titel »Die Produktion der herrschenden Ideologie« erschienen in: U. Bauer, U. Bittlingmayer, C. Keller, F. Schultheis (Hg.), Bourdieu und die Frankfurter Schule. Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus, Bielefeld 2014, S. 29-42, bzw. in P. Bourdieu, Interventionen, Bd. 2, S. 21-26. Anm. d. Ü.] 5 | [Deutsch im Original, Anm. d. Ü.]

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sondern dass er eine klare theoretische Tradition hat, zu der sie sich selbst vorbehaltslos bekennen wollen, und ein präzises theoretisches Projekt bezeichnet, zu dem sie selbst bedenkenlos einen Beitrag leisten wollen (zumindest auf einige von ihnen dürfte das zutreffen).6 Wenn er nicht das Projekt einer allgemeinen und damit vagen Reflexion über das Soziale und über die Sozialwissenschaften bezeichnet, so haftet dem Ausdruck »Sozialphilosophie« bei uns ein Hauch von Antiquiertheit an, der vom Ende des 19. Jahrhunderts und den Anfängen der dritten Republik herrührt. Jedenfalls scheint er nichts Aktuelles, geschweige denn Präzises, bezeichnen zu können. Im Unterschied dazu haben sich die Deutschen vielmals mit der Frage beschäftigt 7 und beschäftigen sich mit ihr bis heute, was genau die Sozialphilosophie als Disziplin ausmacht, in Abgrenzung zur Moralphilosophie, zur politischen Philosophie, zur Soziologie oder zur Politikwissenschaft 8. In Frankreich sind wir weit entfernt davon, uns diese Fragen zu stellen. Um das Gebiet der Sozialphilosophie abstecken zu können, müsste man zunächst eine Idee davon haben (selbst wenn sie nur annäherungsweise wäre), was der Ausdruck genau bezeichnet – was bei uns ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Das ist eine ganz und gar paradoxe Situation, vor allem, da die Sozialphilosophie eines der aktivsten und begrifflich produktivsten Fachgebiete der Philosophie ist, und das nicht erst seit heute. Man läuft nicht einmal Gefahr, zu übertreiben, wenn man behauptet, dass die Sozialphilosophie zwei Jahrhunderte lang (19. und 20. Jahrhundert) diejenigen philosophi6 | Eine Zusammenarbeit zwischen führenden Sozialphilosophen und Soziologen, die sich mit Herrschaft (P. Bourdieu und seine Schule), Soziologen, die sich mit Armut und Abstieg (S. Paugam) oder Soziologen, die sich mit dem Konzept und den Darstellungen des »Sozialen« als solchem (R. Castel) beschäftigen, erscheint mir natürlich, um nicht zu sagen, unumgänglich. 7 | Dies war bereits Horkheimers Anliegen in seiner Antrittsrede von 1931, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« (in: M. Horkheimer, Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972, Frankfurt a.M. 1972, S. 33-46). 8 | Dem widmet sich etwa Axel Honneth ausführlich in seiner Studie »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: A. Honneth, Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2000, wie auch Kurt Röttgers in seinem Buch Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002.

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schen Begriffe hervorgebracht hat, die die Denkweisen [esprits] und die Gesellschaft selbst am gründlichsten durchdrungen haben, weit über die begrenzten Kreise hinaus, auf die die Philosophie für gewöhnlich beschränkt ist. Es sind dieselben Begriffe, kraft oder dank derer die modernen Gesellschaften versucht haben, sich spezifisch im Bezug auf die antiken und vormodernen Gesellschaften zu verstehen und zugleich ein kritisches Bewusstsein ihrer selbst zu formulieren. Historisch betrachtet ist der erste dieser Begriffe ganz sicher jener der »Entfremdung«9, ebenfalls zentral sind jedoch auch die Begriffe der »Ideologie«, des »Klassenkampfes«, des »Warenfetisch«, des »Nihilismus«, des »Sinnverlusts«, der »Entzauberung der Welt«, der »Modernisierung« und der »sozialen Rationalisierung«, der »Verdinglichung des Bewusstseins«, des »Verlusts der Aura«, der »Verarmung der Erfahrung«, der »uneigentlichen Existenz« und der »Alltäglichkeit des Man«, des »technischen Zeitalters«, der »Säkularisierung«, des »Praktisch-Trägen«, der »Eindimensionalität«, des »Totalitarismus« und der »Banalisierung des Bösen«, der »Bürokratisierung«, der »Disziplin« und der »Kontrolle«, der »Kolonialisierung der Lebenswelt«, des »Kampfes um Anerkennung« usw. Alle diese Begriffe sind Werkzeuge, die ein kritisches Verständnis der modernen Gesellschaften ermöglichen. Die Anführungszeichen signalisieren, dass es sich um Quasi-Zitate handelt, das heißt um signierte Begriffe leicht identifizierbarer Autoren (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Simmel, Weber, Lukács, Benjamin, Horkheimer, Adorno, Heidegger, Sartre, Marcuse, Arendt, Castoriadis, Foucault, Deleuze, Habermas, Honneth). Diese Liste (die keineswegs erschöpfend ist) macht deutlich, dass es Grund genug gibt, anhand eines Studiums der Begriffe, die sie hervorgebracht hat, eine Geschichte der Sozialphilosophie zu schreiben.10 Neben der Sozialphilosophie hat es ohne Zweifel nur die Psychoanalyse geschafft, ihre Begriffe quer durch die Gesellschaft hindurch bekannt zu machen. Wenn man jedoch, jenseits der reinen Aufzählung, den gemeinsamen Nenner dieser Begriffe oder Kategorien der Sozialphilosophie sucht, so stellt man fest, dass es sich bei allen um Begriffe mit doppelter Bestim9 | Inhaltlich fast zeitgleich erfunden in Frankreich und Deutschland von Rousseau und Hölderlin (vgl. S. Haber, L’Aliénation. Vie sociale et expérience de la dépossession, Kapitel 1). 10 | Was die Deutschen »Begriffsgeschichte« nennen, ist nicht zu verwechseln mit unserer »Ideengeschichte« [»histoire des idées«].

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mung und doppeltem Anspruch handelt: Sie sollen deskriptiv sein, aber auch evaluativ (oder kritisch). Sie wollen bestimmte soziale Phänomene als typisch für die modernen Gesellschaften beschreiben, um damit eine Kritik dieser Gesellschaften zu verbinden, insofern die beschriebenen Phänomene Ergebnis pathologisch zu nennender sozialer Entwicklungen sind. Oder, präziser: Die sozialen Akteure sollen bestimmte soziale Entwicklungen selbst als pathologisch beschreiben können, sei es, weil sie sie einengen und ihre soziale Handlungsmacht beschränken, sei es, weil sie Formen sozialen Leidens hervorbringen, sei es, weil sie die Verwirklichung ihrer sozialen Erwartungen verhindern. Der Begriff der »Kritik«, den sich die Sozialphilosophie ausgehend von den Junghegelianern und Marx11 zu eigen macht, ist somit sicherlich ihre zentrale Kategorie. Genau deswegen sollten wir der Liste, obwohl sie bereits lang ist, noch den Begriff des »sozialen Leidens« hinzufügen, wie E. Renault ihn kürzlich ausgearbeitet hat12 . Wie alle Begriffe, die wir genannt haben, so gehört auch jener des »sozialen Leidens« mit vollem Recht zur Sozialphilosophie, insofern es sich hierbei um einen Begriff handelt, der eine deskriptive Dimension (nämlich eine Beschreibung von Verzerrungsformen der sozialen Erfahrung unter Rückgriff auf ein Arsenal von Mitteln, das die kritische Soziologie und auch die Psychopathologie der Arbeit liefern) mit einer evaluativen Dimension verbindet (die von einem menschlichen Bedürfnis ausgeht, das ebenso fundamental ist wie das Vermeiden von Leiden), die wiederum zur Formulierung eines Diskurses führt, der zur Sozialkritik gehört.

D er F all F r ankreich Der Befund dieser paradoxen Situation, dass einerseits die Begriffe, die die Sozialphilosophie hervorgebracht hat, in der Gesellschaft bemerkenswert verbreitet sind, und dass der Begriff der Sozialphilosophie selbst 11 | Rufen wir uns in Erinnerung, dass dessen Hauptwerke sämtlich »Kritiken« sind: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (Manuskript von 1843, MEW Bd. 1), Die deutsche Ideologie oder Kritik der neuesten deutschen Philosophie (MEW Bd. 3), Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (MEW Bd. 2), Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW Bd. 23 u. 24). 12 | Vgl. E. Renault, Souffrances sociales.

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andererseits praktisch ignoriert wird, führt zu der Frage, welche institutionellen Gründe und historischen Ursachen dazu geführt haben, dass die theoretischen Methoden, die in den Zuständigkeitsbereich der Sozialphilosophie hätten fallen können, sich nicht als philosophische, sondern als soziologische oder historische Methoden verstehen und präsentieren mussten. Die tonangebende Philosophie im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in den Geburtsjahren der Soziologie, war eine Reflexionsphilosophie, das heißt eine auf Innerlichkeit und individuelles Bewusstsein gerichtete Philosophie, die in keiner direkten Verbindung mit der historischen und sozialen Außenwelt stand.13 Das erklärt zweifellos hinlänglich, warum die Erforschung der sozialen Wirklichkeit in Frankreich nur am Rand oder außerhalb der Philosophie betrieben werden konnte, und häufig sogar nur, indem man mit ihr brach oder sich in Opposition zu ihr begab. So will die französische Soziologie in ihrer Gründertradition, das heißt in der Tradition Durkheims, eine im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Methode sein und verortet sich genau deswegen außerhalb der Philosophie; zugleich aber gibt sie sich streng und normativ, vor allem, wenn man sie mit der deutschen Tradition vergleicht, speziell der Weber’schen, die etwa zeitgleich entstand. Bei Durkheim ist die Soziologie nicht rein deskriptiv, sie ist auch evaluativ und normativ.14 Wenn eine von ihm beschriebene soziale Tatsache [fait social] eine krankhafte oder pathologische Dimension aufweist, so zögert Durkheim nicht, Mittel zu verschreiben, die eine Modifizierung oder Besserung erlauben.15 Er tut also genau das, wovon sich M. Weber, 13 | Ich denke hier insbesondere an die Art Philosophie, die erst von Lachelier, dann von Lagneau praktiziert wurde, und an die bedeutende Rolle, die sie beim Aufbau der philosophischen Lehre in Frankreich gespielt haben. 14 | In Regeln der soziologischen Methode (R. König (Hg.), Neuwied/Berlin 1965, Drittes Kapitel, S. 141f.) greift Durkheim jene heftig an, denen zufolge »die Wissenschaft nichts über das Sollen« lehrt; Durkheim wendet ein: »Die Wissenschaft findet sich also von jeder praktischen Wirksamkeit fast ausgeschlossen und infolgedessen ohne wesentliche Lebensberechtigung; denn wozu soll man sich abmühen, die Wirklichkeit zu erkennen, wenn die Erkenntnis, die wir von ihr gewinnen, uns im Leben nichts nützen kann?“ 15 | Muss man daran erinnern, dass der Titel des letzten Kapitels von Durkheims Der Selbstmord »Praktische Folgerungen« lautet und dass der Autor dort nach

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der Gründer der deutschen Soziologie, so fern wie möglich hält,16 mit der Begründung, dass eine wissenschaftliche Methode wie jene der Soziologie darauf basiere, Werturteile zu neutralisieren – diese müssten vom Soziologen, wie von jedem anderen Wissenschaftler, der diesen Namen verdient, beiseite gelegt werden. Wenn es also in Frankreich keine oder praktisch keine Sozialphilosophie gibt (jedenfalls nicht anerkanntermaßen), so hatten wir dafür das, was man eine »philosophische« oder »philosophierende Soziologie« nennen könnte, von Durkheim bis Bourdieu; eine Soziologie, die nicht nur diagnostiziert, woran die Gesellschaft »krankt« (das machen die deutschen Soziologen auch), sondern die auch nicht zögert, praktische Mittel und Lösungen anzubieten. Man sieht, dass die Abwesenheit einer als solcher anerkannten Sozialphilosophie in Frankreich großteils dem historischen Umstand geschuldet ist, dass es den einzigen sozialphilosophischen Ansätzen, die Frankreich kannte, nämlich dem Saint-Simonismus und dem Comte’schen Positivismus, nicht gelungen ist, sich als tonangebende Philosophien zu etablieren. Dies mussten sie der reflexiven und spiritualistischen Tradition überlassen. Zwischen 1830 und 1870 entschied sich der ideologische Kampf zwischen der Sozialphilosophie und dem Spiritualismus mit der klaren und deutlichen Niederlage der Ersteren und dem Sieg des Letzteren, getragen vom aufstrebenden Bürgertum der Julimonarchie und des Zweiten Französischen Kaiserreichs.17 Daher ist die französische Sozialphilosophie der Saint-Simonistischen und Comte’schen Tradition für die wirksamen Mitteln sucht, das Übel, das der Selbstmord ist, zu »bannen«, den er als Symptom eines »pathologischen Zustandes« betrachtet, als Zeichen eines »alarmierenden Zustand[s] unserer Moral«? (É. Durkheim, Der Selbstmord, übers. v. S. u. H. Herkommer, S. 426-467). 16 | »Wir sind der Meinung«, schreibt M. Weber, »daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.« (»Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 149.) 17 | Halten wir fest, dass die französische Sozialphilosophie auch noch auf andere Quellen zurückgeht als den Saint-Simonistischen oder fourieristischen Sozialismus und den Comte’schen Positivismus – Quellen, die mit de Maistre und vor allem mit de Bonald von dem liberalen Bürgertum ebenso feindlich gesinnten sozialen Kräften ausgehen, aber aus diametral entgegengesetzten Gründen. Vgl.

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Philosophie weitgehend wirkungslos geblieben, bevor sie, nach dem Zusammenbruch von 1871, in der französischen Soziologie einen Abnehmer fand und für diese fruchtbar wurde.18 Man erinnere sich, dass Frankreich auch eine andere Form von Sozialphilosophie kannte, nämlich jene, die Comte die »reaktionäre Schule« nannte und die von L.-G.-A. de Bonald und J.-M. de Maistre vertreten wurde — Gegnern der Revolution und Befürwortern der Restauration. Diese Sozialphilosophie hat die ideologische Schlacht ebenfalls verloren, insofern die gesellschaftlichen Kräfte, die sie repräsentierte, die Bedeutung ihrer historischen Rolle bereits im Zweiten Französischen Kaiserreich und noch mehr nach dem Anbruch der Dritten Französischen Republik schwinden sahen. Letztere fand in der Durkheim’schen Soziologie ein theoretisches Fundament, das sie in keiner Sozialphilosophie mehr suchen musste.19 Sie schaffte es, auch in der Philosophie selbst die der Sozialphilosophie am meisten entgegengesetzten Formen philosophischer Praxis triumphieren zu lassen – wichtig war nur, dass sie im Bezug auf Kriterien, die im Wesentlichen der kantischen Philosophie entstammten, moralisch akzeptabel waren. Kurz gesagt, wenn man sich fragt, warum es die Sozialphilosophie in Frankreich eigentlich nicht gibt, so muss man sich mit den historischen Voraussetzungen beschäftigen, die dort die Institutionalisierung beider Disziplinen bestimmten. Wenn man sich in die letzten beiden Jahrzehnzu diesem Punkt P. Macherey, »Aux sources des ›rapports sociaux‹. Bonald, SaintSimon, Guizot«, in: Genèse, Nr. 9, Oktober 1992. 18 | Zwischen Comte und Durkheim breitet sich, Letzterem zufolge, »eine lange Phase der Benommenheit« aus (É. Durkheim, La Science sociale et l’action, Paris 1987, S. 122). »Seit den Anfängen der Julimonarchie«, schreibt Durkheim (ebd.), »sieht es so aus, als würde der Reflexionsstil zunehmend verloren gehen, besonders, was die sozialen Tatsachen betrifft; eine Art mentaler Betäubung macht sich breit, die die Ereignisse von 1848 nur für einen Moment unterbrechen.« Erst als das Zweite Kaiserreich zusammenbricht und die Wiederherstellung einer sozialen und politischen Ordnung notwendig wird, rückt die Erforschung der sozialen Phänomene wieder in den Vordergrund. 19 | Ich behaupte das auch auf die Gefahr hin, die Errungenschaften der Durkheim’schen Soziologie zu vulgarisieren und ihr eine eher moralisierende als wissenschaftliche Lesart in der »solidaristischen« Sozialphilosophie vom Anfang des 20. Jahrhunderts angedeihen zu lassen.

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te des 19. Jahrhunderts zurückversetzt, so sieht man dort einerseits eine Philosophie, die sich in erster Linie mit Subjekivität und subjektiver Innerlichkeit beschäftigt (und das Gebiet mit Tatsachen des Bewusstseins oder Bewusstseinszuständen besetzt), und andererseits eine Soziologie, die sich nicht auf die Beschreibung sozialer Tatsachen beschränkt, sondern auch evaluativ und sogar präskriptiv vorgeht. Zwischen einer Philosophie, die um Subjektivität kreiste, ihrer sozialen und historischen Umwelt enthoben, und einer Soziologie, die die Dimension der Kritik bewahrte und auf normative Fragen nicht verzichtete, gab es in Frankreich schlicht keinen Platz für eine »Sozialphilosophie«. Zur Zeit Durkheims konnte die Soziologie kaum anders gegründet werden als in Opposition zur Philosophie und als es darum ging, sie in der Universität zu verankern, konnte das nicht anders geschehen als in Opposition zu der Art von Philosophie, die tonangebend war. Nichts dergleichen in Deutschland. Dort trat die Soziologie nicht in Opposition zur Philosophie an und musste sich nicht als deren Gegnerin legitimieren – ganz im Gegenteil: Die Hauptbegründer der deutschen Soziologie (Simmel, Tönnies, Weber) hatten überhaupt kein Problem damit, ihre Schuldigkeit gegenüber der Philosophie im Allgemeinen und im Besonderen gegenüber zwei bestimmten Philosophen, nämlich Marx und Nietzsche, anzuerkennen. Ihre Gründungsgeste der Soziologie ist weit entfernt davon, die Philosophie zurückdrängen oder gar ersetzen zu wollen. Vielmehr greift sie genau die Diagnose auf, die Marx und Nietzsche den modernen Gesellschaften mit ihren negativen und pathologischen Phänomenen – erzeugt durch die wachsende Herrschaft einer Ökonomie des Marktes und des Geldes, die an eine Form streng instrumenteller Vernunft gekoppelt ist – gestellt hatten.20 20 | Erinnern wir uns, dass die Gründungsarbeit von M. Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) beinahe (danach folgen noch zwei Seiten) mit einer Anspielung auf Nietzsche endet. Weber macht sich hier Gedanken über den Lebensstil, den ein Kapitalismus impliziert, der sich schließlich von seinen eigenen (protestantischen) Gründungswerten des Asketentums und der Berufsethik unabhängig macht; die »Berufserfüllung« bleibt bestehen, aber in dem Sinne, dass »der einzelne heute meist auf ihre Ausdeutung überhaupt verzichtet«, was bedeutet, dass, was nunmehr das Individuum zu arbeiten zwingt, nicht mehr die asketische protestantische Ethik ist, sondern einzig der sinnlose Zwang des Marktes. Derselbe Arbeiter ist zu einem geistlosen Asketentum ge-

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Der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland ist somit folgender: Die Gründung der Soziologie als Wissenschaft geschah in Deutschland nicht als Bruch mit der Philosophie; vielmehr knüpfte man an sie an. Um Untersuchungen über die soziale Wirklichkeit anzustellen, musste man daher der Philosophie auch nicht jegliche Legitimation entziehen. Nicht nur ließ die deutsche Soziologie die Sozialphilosophie nicht verkümmern, indem sie sie ihres Gegenstandes beraubte; im Gegenteil, sie befruchtete sie sogar und belebte sie wieder. Das zeigt die Art und Weise, wie Sozialphilosophen wie Lukács, Horkheimer oder Adorno auf die soziologischen Theorien von Simmel und Weber zurückgriffen. Was haben Sartre und Aron im Deutschland der 1930er Jahre gesucht, der eine bei Husserl und Heidegger, der andere bei Weber und Dilthey, wenn nicht genau diese belebende Inspiration einer Sozialphilosophie, die versprach, sie vielleicht aus der Sackgasse des Subjektivismus und Spiritualismus zu führen? Der historische Erfolg der Seminare Kojèves21 zu Beginn der 1930er Jahre hat viel damit zu tun, dass er eine ursprünglich sozialphilosophische Problematik einführte, die genährt war durch Hegel, Marx und Heidegger. Über Generationen hinweg haben die originellsten französischen Denker gegenüber der tonangebenden französischen Philosophie und ihren herrschenden Traditionen stets dieselbe Geste des Bruchs bemüht – ist das nicht bedenkenswert? Um ein für alle Mal wachzurütteln, war alles recht: die Phänomenologie und ihre für die Welt geöffnete, situierte, verkörperte Subjektivität (Sartre, Merleau-Ponty), die Psychoanalyse und ihr »gespaltenes Subjekt« (Lacan), der Marxismus und seine Entdeckung des »Kontinents der Geschichte« (Althusser), die Humanwissenschaften und ihr Abstreiten einer fundierenden Subjektivität (Lévi-Strauss und die Linguistik, Canguilhem und die Medizin,

zwungen und wird außerhalb seiner Arbeitszeiten zum hedonistischen Genießer, auf der Suche nach Vergnügen und Zerstreuung. Daher die Anspielung auf Nietzsches Zarathustra, mit der Weber seine kritische Analyse beschließt: »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.« (M. Weber, »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1., Tübingen 1986, S. 203.) 21 | Über die Grenzen der akademischen Welt hinaus, da sie ja an der École pratique des hautes études gehalten wurden.

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Foucault und die Psychologie, Bourdieu und die Soziologie22). Mit seiner Feststellung, dass »die Philosophie […] eine Form der Reflexion« sei, »der jeder fremde Gegenstand gut tut und der […] jeder vertraute Gegenstand fremd sein muß«23, sprach Canguilhem aus, was die französischen Denker seit den 1930er Jahren getan hatten: außerhalb der Philosophie Grund zu suchen, sie weiter zu betreiben. Aber es ist bezeichnend, dass das, was in Frankreich ein »außerhalb« der Philosophie zu sein schien, andernorts keineswegs ohne Weiteres als ihr »äußerlich« oder »fremd« betrachtet wurde. Horkheimer beispielsweise drängte es ab 1930, an eine Zusammenarbeit von Philosophie und Sozialwissenschaften zu appellieren, die er für notwendig hielt.24 Im Gegensatz dazu steht der Erfolg eines, wie man sagt, »gewissen« Heidegger in der französischen Universität, der sich großteils durch den Kampf der tonangebenden französischen Philosophie gegen jegliches Erforschen sozialphilosophischer Praktiken erklären lässt. Die Gestalt eines Daseins, das heroisch in den Tod als seiner eigensten Seinsmöglichkeit vorläuft, die Kritik der Alltäglichkeit des »Man«, das heißt der »Masse«, und die von jeder historischen und sozialen Verwurzelung der philosophischen Diskurse absehende Interpretation der Philosophiegeschichte – all das wurde bei uns angenommen wie ein Geschenk des Himmels, so sehr bestätigte es die Philosophen in ihrer Leugnung des Sozialen und in ihrer Überzeugung, nicht zur »Masse« zu gehören. Andere Heidegger-Lesarten waren möglich; sie wurden in anderen Ländern formuliert, werden aber in Frankreich bis heute kaum rezipiert. Ich denke insbesondere an das Bemühen des tschechischen Philosophen Karel Kosik, Heidegger als Denker der Praxis zu lesen. Kosik stellt die praktische und soziale Veränderung der Welt in den Mittelpunkt der Interpretation des Themas der Öffnung des Daseins für die Welt.25 22 | In dieser Aufzählung fehlt ganz offensichtlich Deleuze. Das liegt sicherlich daran, dass er der einzige ist, der versuchte, die französische Philosophie in ihrem eigenen Innern anzufechten, indem er sich nicht von ihr ab-, sondern sie gegen sich selbst wandte. 23 | G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1974, S. 15. 24 | Vgl. M. Horkheimer, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«. 25 | Vgl. K. Kosik, Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, übers. v. M. Hoffmann, Frankfurt a.M. 1986.

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Aber man kann auch an das Unternehmen von H. L. Dreyfus und seinen Kommentar zum ersten Teil von Sein und Zeit denken, der sich entlang der grundsätzlichen Frage bewegt, welchen Beitrag dieses Werk zu den Sozialwissenschaften zu leisten vermag.26 Reiner Schürmann (einem deutschen Philosophen, dessen auf Französisch geschriebene Arbeit zu Heidegger glücklicherweise nicht auf einen Übersetzer warten musste) haben wir es zu verdanken, dass es auch in Frankreich einen Interpretationsbeitrag gibt, der aus Heideggers Werk einen Begriff des Sozialen und der sozialen Praxis zu gewinnen versucht. Ausgehend von Heidegger stellt er die Frage der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, Denken und Handeln. Es bedurfte schon eines ungewöhnlichen »Heideggerianers« wie G. Granel27, der in der Lage war, gleichzeitig Heidegger und Gramsci zu lesen, damit Schürmanns Werk in Frankreich nicht vollkommen unbeachtet blieb. Sagen wir es noch einmal, nur damit es wirklich klar ist: Man liegt falsch, wenn man glaubt, dass es im Grunde nur eine Art von Sozialphilosophie gebe, und dass diese eine von Marx und dem Marxismus ererbte Philosophie sei. In Deutschland beispielsweise gab es auch andere sozialphilosophische Ansätze als nur die auf Hegel und Marx zurückgehende »kritische Theorie«, die Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno, dann Habermas, und heute Honneth). Fakt ist, dass das Konzept der Sozialphilosophie selbst Gegenstand besonders intensiver Ausarbeitung im Neukantianismus der Marburger Schule in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war.28 Das ist übrigens, wieder einmal, ein Aspekt, 26 | Vgl. H. L. Dreyfus, Being-in-the-world. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Cambridge 1991. Dieser bemerkenswerte Kommentar zum ersten Teil von Sein und Zeit wurde noch immer nicht ins Französische übersetzt. 27 | Und seiner Herausgabe des großen Werkes von R. Schürmann, Des hégémonies brisées, Mauvezin 1996. 28 | Zwei Autoren sind in dieser Hinsicht in der neukantianischen Tradition wichtig: R. Stammler (der in seinem Buch Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung von 1896 als erster den Ausdruck »Sozialphilosophie« verwendete), sowie K. Vorländer (mit seinem 1897 in den Kant-Studien erschienenen Artikel mit dem Titel »Eine Sozialphilosophie auf kantischer Grundlage«, und seinen beiden Hauptwerken: Kant und der Sozialismus, 1900; Kant und Marx. Ein Beitrag zur Philosophie des Sozialismus, 1911). Unnötig zu betonen, dass keines dieser Bücher und keiner dieser

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der in Frankreich weitgehend verkannt und vergessen ist.29 Dieses Vergessen ist umso merkwürdiger, als sich hierzulande zur selben Zeit, das heißt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, ebenfalls eine aus dem Geiste Kants und Fichtes stammende Sozialphilosophie entwickelt hat, die insbesondere im »Solidarismus« von L. Bourgeois mündete. Wenngleich sie sich also nicht auf eine Marx’sche oder marxistische Methode reduzieren lässt (eine Tradition, die in Deutschland Lukács, Bloch, Korsch, Benjamin, Horkheimer, Adorno und Marcuse vertreten, um nur die wichtigsten Theoretiker zu nennen), so war die Sozialphilosophie dennoch zu keinem Zeitpunkt, weder anfänglich noch später, unabhängig von jener Frage, die man einfach die »soziale Frage« nennt (auf die wir zurückkommen werden). Man kann gewiss sagen: Ohne »soziale Frage« keine Sozialphilosophie. Die direkten Folgen der Entwicklung des Kapitalismus in Europa im 19. Jahrhundert, insbesondere das doppelte Phänomen eines Massenelends und der Entstehung einer organisierten Arbeiterklasse (der Ursprung der »internationalen Arbeiterbewegung«, der Gründung der sozialdemokratischen Parteien und der Gewerkschaften) spielten bei der Konstituierung der Sozialphilosophie eine entscheidende Rolle. Aber die »soziale Frage« ist keineswegs nur für Marx und die Tradition, die sich auf ihn beruft, zentrales Anliegen. In Deutschland spielt sie auch für die Vertreter des Neukantianismus in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine sehr wichtige Rolle (wenngleich als Problem der Moral). Von diesen entwickelten sich einige in Richtung einer Art »moralischer Sozialismus«, direkt und bewusst in Opposition zur marxistischen Tradition. Auf französischer Seite spielte die soziale Frage auch Artikel ins Französische übersetzt wude. Bzgl. der Sozialphilosophie des Neukantianismus vgl. den von H. Holzhey herausgegebenen Sammelband Ethischer Sozialismus, Frankfurt a.M. 1994. 29 | Siehe M. Ferrari, Retours à Kant. Introduction au néokantisme, aus d. Ital. übers. v. T. Loisel, Paris 2001, S. 118-127. Kürzlich wurde ein von M. Bienenstock herausgegebener Band der Revue germanique internationale der Beziehung zwischen dem »Neukantianismus und den Moralwissenschaften« gewidmet – nicht ein einziger Artikel beschäftigt sich mit der Sozialphilosophie des Neukantianismus und auch nicht mit der Sozialpsychologie Natorps (Revue germanique internationale, 6/2007, »Néokantisme et sciences morales«, Paris 2007). Zur Sozialphilosophie P. Natorps vgl. N. Jegelka, »Paul Natorps Sozialidealismus«, in: H. Holzhey (Hg.), Ethischer Sozialismus.

Die Sozialphilosophie: Eine (fast) Unbekannte in Frankreich

eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung einer »solidaristischen« Sozialphilosophie für die Dritte Französische Republik.30 Nicht nur gibt es also auch andere sozialphilosophische Ansätze, die sich intensiv mit der »sozialen Frage« beschäftigen, als nur die durch Marx inspirierten. Man könnte sogar sagen, dass die »soziale Frage«, von einem Marx’schen Standpunkt aus betrachtet, eine schlecht gestellte oder sogar eine falsche Frage ist (in einem Sinne, auf den wir zurückkommen werden). Eine falsche Frage wäre sie dann, wenn sie nur eine Art und Weise wäre, ein Problem zu regionalisieren, dessen wahre Lösung einen globalen Gesellschaftswandel verlangen würde.

R eform oder R e volution ? Dieser Versuch, der eine Rekonstruktion (und eine Verteidigung) der Sozialphilosophie, ihrer Vorgehensweisen und ihrer Themen sein will, wird eine unvermeidliche Tendenz haben, die Sozialphilosophie über einen Kamm zu scheren. Deshalb muss ich hier gleich deutlich sagen, dass die Sozialphilosophie keineswegs einheitlich, sondern in sich vielfältig ist; mehr noch, dass sie sogar von wichtigen einander entgegengesetzten theoretischen Positionen und teils unüberwindbaren Konflikten durchdrungen ist. Die durch Hegel und Marx inspirierte Sozialphilosophie war nicht nur keineswegs die tonangebende Tradition der Sozialphilosophie; ein ganzer Strang der Sozialphilosophie wurde zudem nicht müde, gegen diese marxisierende Tendenz anzukämpfen. Er versuchte, sie zu marginalisieren und dafür zu sorgen, dass sie möglichst wenig Raum einnahm. In Deutschland nahm die neukantianische Sozialphilosophie eine solche Position ein, die offensichtlicherweise, wenn nicht gegen Marx selbst (den sie mittels »Kantianisierung« neu zu verwerten suchte), so zumindest gegen den Marxismus der Zweiten Internationale ausgerichtet war. Vergleichbares geschah in Frankreich. In dem Text, der als Vorwort zur 1925 erschienenen Neuausgabe seines Buches Qu’est-ce que la sociologie? dient, widmet sich C. Bouglé einer Verteidigung und Darstellung dessen, was er selbst »Sozialphilosophie« nennt. Dabei geht er von der Rolle aus, die 30 | Vgl. den wichtigen, neuen Überblick von M.-C. Blais, La Solidarité, Paris 2008.

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diese Philosophie seiner Ansicht nach im Bildungswesen und in der Pädagogik spielen sollte, und fährt zugleich schweres Geschütz gegen eine andere Sozialphilosophie auf, in der man ohne Schwierigkeiten, wenn nicht genuin Marx’sches Denken, so zumindest dessen Anwendung durch seine sozialistischen Erben wiedererkennen kann: »Eine Sozialphilosophie, die wirklich kritisch und synthetisch vorgeht«, schreibt er, »hat nichts gemein mit dieser Art von fatalistischem Materialismus, den man uns manchmal präsentiert, als wäre er das letzte Wort der Sozialwissenschaft«31. Für seine durch Durkheim, den Solidarismus und den Republikanismus inspirierte Sozialphilosophie beansprucht Bouglé den Titel der »Kritik«. Damit enteignet er zugleich die Marx’sche oder marxistische Tradition dieses Titels und verpasst ihr stattdessen indirekt das schimpfliche Etikett der Dogmatik. Fatalismus auf der Ebene des Handelns ist dabei nur die Übertragung von Dogmatismus auf der Ebene von Wissen und Theorie in die Praxis. In diesem Zusammenhang sei nebenbei bemerkt, dass der Begriff der »Kritik« – von dem wir weiter oben sagten, er spiele eine zentrale Rolle in der Sozialphilosophie – zwei sehr verschiedenen Bedeutungen gemäß verstanden wurde und bisweilen noch immer verstanden wird. Einerseits kann man ihn – wie bei C. Bouglé der Fall – in seinem ursprünglichen kantischen Sinne verstehen: »Kritik« steht dann im Gegensatz zur »Dogmatik« und bezeichnet eine Methode, die die Ermöglichungsbedingungen von Wissen untersucht, bevor bestimmtes Wissen als wahr behauptet wird. Die marxisierende Philosophie, so wie Bouglé sie versteht, wird dann insofern »dogmatisch« genannt, als sie zum Beispiel beabsichtigt, Gesetze der sozialen und historischen Entwicklung zu formulieren, ohne sich aber im Vorfeld zu fragen, ob es überhaupt möglich ist, Gesetze im Bezug auf die soziale Wirklichkeit zu formulieren (was zu tun dagegen, Bouglé zufolge, der große Verdienst Cournots war), und wenn ja, dann wie sich diese Art von Gesetzen insbesondere zu den Naturgesetzen verhält. Genau damit beschäftigt sich Bouglé einige Zeilen vor dem obigen Zitat: »Die Gesetze, die die politische Ökonomie, die Rechtswissenschaft, die Sozialmorphologie bis hierher etablieren konnten […], sind nur unter allen Vorbehalten und unter gleich bleibenden Bedingungen wahr; sie wollen eher Tendenzen als Notwendigkeiten zum Ausdruck bringen«32 . 31 | C. Bouglé, Qu’est-ce que la sociologie?, Paris 1925, S. XX. 32 | Ebd., S. XIX.

Die Sozialphilosophie: Eine (fast) Unbekannte in Frankreich

Entsprechend bestünde der Irrtum der Sozialisten und Marxisten darin, zwingende Gesetze aufgestellt zu haben, wo man lediglich Tendenzen hätte angeben können, die eine soziale Entwicklung wahrscheinlich machen, aber niemals gewiss. Der Vorwurf des Dogmatismus ließe sich mit Leichtigkeit an Bouglé zurückspielen. Schließlich fällt er dieses Urteil ohne jegliche seriöse Überprüfung der Doktrin oder Doktrinen, gegen die er sich positioniert. Noch schwerer wiegt allerdings, dass die Tradition der Sozialphilosophie, der Bouglé den Titel »Kritik« absprechen will, den Begriff »Kritik« gar nicht so ohne Weiteres in jenem kantischen Sinne verwendet, in dem Bouglé ihn versteht. »Kritik« bedeutet in dieser Tradition, die bestehende soziale Wirklichkeit der Kritik zu unterziehen, das heißt gegen sie zu protestieren und sich zum Advokaten einer Transformation der bestehenden sozialen Ordnung zu machen. Bouglé weiß das sehr wohl, und es ist genau diese Tendenz der Sozialphilosophie, die er politisch entschärfen will. Daher die kurz auf seinen Angriff auf den »fatalistischen Materialismus« folgenden Zeilen: »Wer ausgeht vom Kampf und glaubt, dass er alles einreißen und für sich erobern kann, riskiert, dass er sich, sobald das erste Hindernis auftaucht, aus der Fassung gebracht, manövrierunfähig und ernüchtert wiederfindet; ich habe mehr Vertrauen in den, der, nachdem er die Schwierigkeiten vermessen hat, weiß, dass man die Welt nicht an einem Tag erobert; […] um meine Seele dem Werk der Lehre zu schenken, genügt es mir zu wissen, dass dieses Werk in der Gesellschaft zwar keine sofortige und absolute Veränderung bewirken kann – aber sehr wohl einen allmählichen Fortschritt.« 33

Man sieht hier deutlich, wie sehr die sozialphilosophischen Positionen, die Bouglé einnimmt, und auch sein eigener Begriff der Sozialphilosophie im Allgemeinen, politisch überdeterminiert sind. Seine Kritik des »fatalistischen Materialismus«, sein Plädoyer für tendenzielle Gesetzmäßigkeiten und sein Widerstand gegen zwingende Gesetze im Bereich des Sozialen basieren im Grunde auf seinem politischen Widerstand gegen jegliche »sofortige und absolute Veränderung« der Gesellschaft, das heißt auf seiner politischen Voreingenommenheit zugunsten eines »allmählichen Fortschritts« und einer schrittweisen Transformation der Gesellschaft. 33 | Ebd. S. XXI.

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Wir haben es hier also auf dem theoretischen Feld der Sozialphilosophie mit der großen politischen Alternative zwischen dem Weg der sozialen Revolution und jenem der gesellschaftlichen Reform zu tun. Das Dilemma zwischen Revolution und Reform ist wohl das größte politische Dilemma, das die Sozialphilosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und eines guten Teils des 20. Jahrhunderts in ihrem Inneren gespalten hat. Es gilt jedoch festzuhalten, dass es nur der Nachfolger eines viel älteren Dilemmas ist, das eine kaum weniger tiefgreifende politische Feindseligkeit zum Ausdruck bringt: das Dilemma von »Fortschritt« und »Konservierung«, das die Saint-Simonisten und Comte von den Befürwortern der »reaktionären Schule« (im Wesentlichen L.-G.-A. de Bonald und J.M. de Maistre) trennt. Man übertreibt nicht, wenn man behauptet, dass die Sozialphilosophie aus dieser Opposition heraus entstanden ist, zumindest in Frankreich. Kurz gesagt: Weit davon entfernt, ein in sich geschlossenes Ganzes zu sein oder auch nur halbwegs einheitlich, ist die Sozialphilosophie selbst ein von gegnerischen Kräften durchzogenes Feld, so sehr, dass sie sicherlich der Bereich der Philosophie ist, der für die sozialen Antagonismen und die politischen Auseinandersetzungen, die die Gesellschaft spalten, am unmittelbarsten durchlässig ist. Wenn das, was Althusser den »Klassenkampf in der Theorie« nennt, irgendwo existiert, dann sicherlich zuerst auf diesem Feld der Philosophie, in dem Sinne, dass die in der Sozialphilosophie eingenommenen Positionen großteils die theoretischen Begriffe für zuvor schon im sozialen Konfliktgeschehen eingenommene politische Positionen sind.

Kapitel 2 Sozialphilosophie versus politische Philosophie

Die Geburt der Sozialphilosophie Ende des 18. Jahrhunderts muss man sicherlich im Bezug auf die Entwicklung des Bereichs der Philosophie verstehen, von dem sie sich endgültig emanzipiert hatte: der politischen Philosophie. Die moderne politische Philosophie, sagen wir von Hobbes bis Kant, tendierte dazu, sich auf die Frage nach den Prinzipien zu beschränken, auf deren Basis eine politische und institutionelle Ordnung hergestellt werden kann, die stabil und zugleich zustimmungsfähig, das heißt legitim ist. Diese typisch moderne Art philosophischer Fragestellung klammerte im Prinzip einen ganzen Aspekt aus der politischen Philosophie aus, der in der Antike noch Teil von ihr gewesen war und dafür gesorgt hatte, dass sich politische Fragestellungen nicht nur um Stabilität und Legitimität der Institutionen drehten, sondern auch um deren Kapazitäten, den Menschen ein Leben zu ermöglichen und zu garantieren, das sie befriedigt und erfüllt. Es geht um den Aspekt des »guten Lebens«. Für Aristoteles führt der Bereich der Ethik zu dem der Politik, um sich dort zu erfüllen als das, was ihn umfasst und wovon er abhängt. Dieses Aspekts der Frage der Politik – des Aspekts des »guten Lebens« – hatte sich in der Zwischenzeit, das heißt während des Mittelalters, die Kirche in Form der Sorge um das Heil der Seele des Christen angenommen. Dass die moderne politische Philosophie die ethische, auf die Sanktionierung von Formen des guten und erfüllten Lebens hin ausgerichtete ethische Reflexion aussetzte, kann man als die Geschichte der Emanzipation der modernen Staaten von der Kirche verstehen und als Suche nach

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einer Legitimität ihrem eigenen Stand entsprechend, das heißt unabhängig von der kirchlichen Autorität. Es gab demnach eine Art Aufgabenteilung: Kirche und geistliche Autorität waren zuständig für die Frage des guten und menschlich erfüllten oder gelingenden Lebens und der Staat war zuständig für die politische Frage der Stabilisierung und Legitimierung der Institutionen des kollektiven Lebens. Um es mit Foucault zu sagen: Die moderne Politik der Souveränität wurde geboren, indem sie sich von der christlichen Regierung der Seelen löste. Nachdem die klassische politische Philosophie die Reflexion über die politischen Institutionen als Bedingungen eines guten und erfüllten Lebens zugunsten der Reflexion über die Bedingungen einer stabilen und legitimen Ordnung aufgegeben hatte, war die Bühne frei für eine Methode der Sozialphilosophie, die diese Arbeit, das heißt: die Frage des Heils, auf eigene Faust wieder aufnehmen konnte,1 aber nunmehr in säkularisierter Form, das heißt als Frage nach den Bedingungen eines guten und erfüllten Lebens. Auch die Regierungsfrage übernahm sie wieder, ebenfalls in säkularisierter und »ökonomischer« Form, als Frage einer Politik, die die Maximierung des Lebens der Bevölkerung anstrebt.2 Natürlich muss es von der Regel, dass die Sozialphilosophie entstanden ist, weil die klassische politische Philosophie die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer erfüllten menschlichen Existenz und eines »guten Lebens« vernachlässigt hat, auch Ausnahmen geben. Es gibt sicherlich noch andere, aber ich sehe zumindest eine größere Ausnahme: Spinoza. Er näherte sich der politischen Frage nach System und Form von Regime oder Regierung aus der Perspektive der ethischen Frage, welche Art von sozialem Leben ein Regime oder eine Regierung unterstützt, und ob damit die kollektive »Handlungsmacht« dieses sozialen Lebens gefördert wird oder nicht, das heißt, ob es darin möglich ist, dass sich die größtmögliche Zahl von der Vernunft und nicht von den Leidenschaften führen und leiten lässt. Spinoza kritisiert damit implizit die politische Philosophie, namentlich die von Hobbes. Die Kritik an der politischen 1 | Vgl. A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: Ders., Das Andere der Gerechtigkeit, S. 54-55. 2 | Vgl. M. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977/78, übers. v. C. Brede-Konersmann u. J. Schröder, Frankfurt a.M. 2015, insbesondere die Vorlesung vom 1. Februar 1978, S. 134-172.

Sozialphilosophie versus politische Philosophie

Philosophie bleibt auch mit der Geburt der Sozialphilosophie als solcher bestehen, was man zum Beispiel bei A. Comte sehen kann. Ihm zufolge (die Idee ist Bonald entliehen) ist die moderne politische Philosophie aus dem Protestantismus und dessen Prinzip des liberum examen hervorgegangen und hat die »wesentlich anarchische Natur« des »Individualismus« vorangetrieben. Diese sei charakteristisch für die metaphysische und kritische Phase und Bindeglied zwischen dem Erschöpfen des Theologismus und dem Aufkommen des Positivismus. Dieses individualistische Prinzip des modernen politischen Denkens betrachtet Comte als die Quelle der »okzidentale[n] Krankheit«, die »bald die Soziabilität [veränderte]« und »die Zersetzung des öffentlichen Lebens« beschleunigte. Für Comte geht es somit darum, über die politische Philosophie mittels und kraft einer Sozialphilosophie hinauszugehen, die in der Lage ist, in allen Dingen die Perspektive des »sozialen Urteil[s]« gegen jene der »persönlichen Untersuchung« durchzusetzen3. Die Sozialphilosophie unterhielt somit von Anfang an eine polemische Beziehung zur politischen Philosophie und das hat sich bis heute nicht geändert. Einer politischen Philosophie, die sich zum Beispiel mit J. Rawls damit beschäftigt, die Prinzipien einer gerechten, das heißt fairen, Verteilung der sozialen Grundgüter zu bestimmen, antwortet die Sozialphilosophie, dass sich die (zu ihrem Forschungsbereich gehörige) Frage, ob eine solche Gesellschaft die Bedingungen einer Selbstentfaltung und -verwirklichung für die größtmögliche Zahl ihrer Mitglieder bedenkt, weiterhin stellen würde – einmal angenommen, dass eine Gesellschaft, in der solche Gerechtigkeitsprinzipien herrschen, überhaupt tatsächlich existieren könnte. Denn die Antwort auf diese Frage ist weitgehend unabhängig von den politischen und juristischen Prinzipien, denen gemäß Verfassung, Gesetzgebung und Staat eingerichtet sind; sie hängt vielmehr direkt von der Art und Weise der Gestaltung des Sozialen und der Gegebenheit von sozialen Bedingungen ab, die der größtmöglichen Zahl von Individuen ein erfülltes und gutes Leben ermöglichen – ein Leben, das in physischer, moralischer, kultureller und symbolischer Hinsicht zufriedenstellend ist.

3 | A. Comte, System der positiven Politik, Bd. 3, übers. v. J. Brankel, Wien/Berlin 2012, S. 472f.

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D ie G eburt des S ozialen In diesem Zusammenhang »soll es nicht mehr der Staat, sondern die sich erst allmählich von ihm ablösende Gesellschaft sein, die auf die Voraussetzungen hin befragt wird, die dem menschlichen Lebensvollzug zur Verfügung stehen. So entsteht die Sozialphilosophie als Statthalter einer ethischen Perspektive im Neuland der sich konstituierenden Gesellschaft.«4 Drei historische Phänomene, die spezifisch europäisch sind, spielten beim Auftauchen des Sozialen als einem eigenständigen Bereich eine Hauptrolle. Erstens die Entstehung der Marktwirtschaft und die parallele Entwicklung der kapitalistischen Industrie; zweitens die Herausbildung der großen modernen Nationalstaaten, die mit der neuen Aufgabe konfrontiert waren, riesige Bevölkerungen zu erfassen, zu kontrollieren und zu regieren, um sie für Krieg und Produktion zu mobilisieren; und drittens das Aufkommen der »sozialen Frage« aufgrund einer Massenverarmung, die nicht mehr die Landstreicher und die Marginalisierten betraf, sondern die Industriearbeiter. Die Sozialphilosophie hat somit ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert, in jener Epoche, in der das Wort »sozial« aufkam,5 um damit einen Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen und Verhältnisse zu bezeichnen. Diesen gilt es zu erfassen und zu analysieren, ohne ihn gleich in den politischen Begriffen des Rechts, des Gesetzes, der Legitimität, der Repräsentation oder der Souveränität aufzulösen (sei es die Souveränität des Fürsten oder die des Volkes). Das Ganze wird vielleicht klarer, wenn man Foucault’sche Begriffe verwendet und feststellt, dass sich das Soziale zugleich als Wirklichkeit und als Begriff konstituiert, und zwar ab dem Moment, in dem die »Bevölkerung« – dieser typisch moderne Akteur – in ihrem Verhältnis zum Territorium, das sie besetzt, auf der Bildfläche erscheint, womit sich Fragen folgender Art auftun: Wie besetzt eine Be4 | A. Honneth, »Pathologien des Sozialen«, in: Ders., Das Andere der Gerechtigkeit, S. 55. 5 | Vgl. zu diesem Punkt die Anmerkungen R. Arons in einem Gespräch mit M. Foucault, das 1967 ausgestrahlt wurde (R. Aron, M. Foucault, Dialogue, Paris 2007, S. 13-14). Aron erinnert insbesondere daran, dass die Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert im Eintrag »sozial« notiert: »neues Wort«. Sie sehe darin die Geburt einer »differenzierten Begrifflichkeit der interpersonellen Beziehungen oder des Sozialen, wenn man so sagen kann, der Ökonomie, der Politik und so weiter«.

Sozialphilosophie versus politische Philosophie

völkerung ein Territorium? Was treibt eine Bevölkerung in ihrem Inneren an? Wie glaubt eine Bevölkerung, und wie geht sie unter? Welche Gefahren bedrohen eine Bevölkerung, und welche neuen Gefahren bringt sie selbst hervor? Wie kann man sie vor diesen Gefahren schützen, seien sie bedingt durch organische oder mentale Pathologien, oder durch soziale Unruhen und eine neue Politik? Welches Wissen ist nötig, um zu verstehen, was in einer Bevölkerung geschieht (Statistik, Demographie), und welche neuen Techniken und Strategien der Macht [pouvoir] müssen erfunden werden, um die neue Potenz [puissance] der Bevölkerung zu kanalisieren, und zwar in erster Linie in Richtung auf Reichtumsproduktion und soziale Reproduktion? All diese Fragen ergeben erst von jenem Moment an Sinn, in dem sich die neue Dimension des »Sozialen« öffnet, und von dem an zum alten politischen Problem des »Volkes«, seiner »Repräsentation« und seiner »Souveränität« das im eigentlichen Sinn soziale Problem der Bevölkerung, der Massen und der Klassen hinzukommt. Zwischen das bloße Aggregat der Individuen einerseits und das politisch konstituierte Volk andererseits schieben sich nunmehr die Bevölkerung und die Massen. Letztere gehören weder zur Anomie eines reinen vorpolitischen »Aggregats«, noch zur Legislation, die freiwillig und bewusst von einem politisch konstituierten und organisierten »Volk« gestiftet würde. Die »Bevölkerung« und ihre »Massen« tauchen als Ort einer bestimmten oder relativen Legalität auf, die eine statistische Vorhersagbarkeit jener Phänomene erlaubt, deren Ort sie sind, und einer möglichen Legislation, die nicht mehr so sehr die direkten Formen von Gebot oder Verbot annimmt, sondern die indirekten von Anreiz, Betreuung, Eindämmung, Regulierung, und auch Verhaltenskontrolle und -disziplin. Verwirklicht wird dies durch die Ausbildungsinstitutionen und die Methoden einer neuen Sozialmedizin6, sowie durch die Resozialisierungsverfahren für Gefängnisinsassen. Nichtsdestotrotz hatte das plötzliche Auftauchen der Bevölkerung, der Massen und der Klassen, also jener neuen Akteure, die nunmehr den im 6 | Vgl. auch M. Foucaults Analyse der drei Hauptformen der Sozialmedizin (»Die Geburt der Sozialmedizin«, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 3, übers. v. M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba u. J. Schröder, Frankfurt a.M. 2003, S. 272ff.), wie sie geboren werden in der Zeit zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Ende des 19. Jahrhunderts: Die Staatsmedizin (Deutschland), die urbane Medizin (Frankreich) und die Medizin der Arbeitskraft (England).

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eigentlichen Sinn sozialen Raum strukturieren, offenbar keinen Rückfall der politischen Problematik des Volkes, seiner Konstitution als Volk, seiner Repräsentation und seiner Souveränität in eine Art vormodernes Zeitalter zur Folge. Im Gegenteil, das ganze Problem wird, wie Hegel es zu Beginn dieses neuen Zeitalters treffend formuliert, zur Herausforderung der Verbindung jener zwei, die er »bürgerliche Gesellschaft« und »Staat« nennt. Wir befinden uns in einer viel weiter vorangeschrittenen Phase der Entwicklung des Kapitalismus als Hegel; das Problem der Beziehung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, zwischen dem Sozialen und der Politik, ist mitnichten verschwunden oder erledigt. Im Gegenteil: Es hat an Schärfe gewonnen. Die Frage ist heute, wie es gelingen kann, die Analyse des sozialen Unrechts, das einem Teil der Bevölkerung und den Massen geschieht, mit den im eigentlichen Sinn politischen, namentlich demokratischen Forderungen zu verbinden, die aus eben diesen Massen heraus entstehen. H. Arendt erinnert zu Recht daran, dass »niemand vor der Französischen Revolution je auf diesen Gedanken gekommen ist«, dass »die Armen, weil sie ›nichts zu verlieren haben als ihre Ketten‹, imstande sein könnten, die Fesseln der Unterdrückung ein für allemal zu sprengen« 7. Von den Anstrengungen des »Volkes« zu sprechen, sich von seinen Herren zu befreien und zu emanzipieren, konnte vorher nur einen politischen Sinn haben, es konnte sich um nichts anderes handeln als um den Kampf des »Volkes« für die Eroberung seiner politischen Souveränität. »Wenn man von ›Volk‹ sprach«, so meinte man damit, H. Arendt zufolge, »keineswegs das Volk der armen und kleinen Leute, und das Vorurteil des neunzehnten Jahrhunderts, daß die Wurzel aller Revolutionen die soziale Frage sei, finden wir noch nicht einmal andeutungsweise in den Erfahrungen und Vorstellungen des achtzehnten«8. Dass eine Klasse der Gesellschaft eine Revolution anzetteln könnte, weil die bestehende Gesellschaft ihr ein miserables Los zusprach, ist vor dem 19. Jahrhundert eine schier unvorstellbare Idee, wie auch die Idee der »sozialen Revolution« selbst. Das Auftauchen des Sozialen ging mit der Geburt neuer Wissensformen (Statistik, politische Ökonomie, Soziologie, Sozialmedizin, Kriminologie, Anthropologie usw.) und neuer Techniken einher (Disziplin- und 7 | H. Arendt, Über die Revolution, München 1994, S. 83. 8 | Ebd.

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Kontrolltechniken, deren Neuheit und zugleich Bedeutung Foucault aufzeigte). Neu aufkommende Wissensformen nahmen sich verschiedene Bereiche oder Aspekte des Sozialen vor (politische Ökonomie, vergleichende Mythologie, Linguistik9) oder behaupteten gleich, das Soziale selbst und als solches zu erfassen (Soziologie). Mit diesen sah sich die Philosophie konfrontiert; sie erkannte das Ausmaß der Umbrüche, die in der Realität, wie auch zeitgleich im Bereich von Wissen und Forschung stattfanden. Aber sie gab sich nicht damit zufrieden, darauf zu reagieren; man kann sogar sagen, dass sie in Führung ging, war sie es doch, die sich als erste eingehend konzeptuell mit dem »Sozialen« beschäftigte. Die Philosophie nahm diesem neuen Gegenstand gegenüber sehr verschiedene Haltungen an. Sie wollte sich selbst zu jener Instanz machen, von der ausgehend das Soziale organisiert oder umorganisiert würde (Saint-Simon und die Saint-Simonisten); sie wollte zudem von sich selbst ausgehend eine neue Sozialwissenschaft ins Leben rufen (Comte); sie betrachtete schließlich das Soziale als Ort ihrer eigenen Verwirklichung, um sich darin zu erfüllen und aufzulösen (die Junghegelianer und Marx). Diese verschiedenen Haltungen und Unternehmen haben jedenfalls einen neuen Typ von Philosophie begründet, und zwar zeitgleich, oder fast zeitgleich, in den wichtigsten europäischen Sprachräumen.10

9 | Vgl. zum Beispiel die Aufzählung der verschiedenen Sozialwissenschaften durch G. Tarde vor ihrer Krönung und Vereinigung zu der Sozialwissenschaft: »Und so handelt es sich jetzt ebenfalls darum, nach den soziologischen Wissenschaften ›die‹ soziologische Wissenschaft zu gründen. Es hat tatsächlich soziologische Wissenschaften – wenigstens im Entwurf – gegeben, Anfänge zur politischen Wissenschaft, zur Linguistik, zur vergleichenden Mythologie, zur Ästhetik, zur Moral, eine schon ziemlich weit fortgeschrittene politische Ökonomie, lange bevor auch nur ein Keim zur Soziologie vorhanden war.« (G. Tarde, Die sozialen Gesetze: Skizze einer Soziologie (1898), übers. v. H. Hammer, Leipzig 1908, S. 28. 10 | Zu den deutschen und französischen Sprachräumen muss man auch Schottland und England hinzufügen, vor allem J. Bentham und den Utilitarismus. Diese stellen die dritte Säule der neu entstandenen europäischen Sozialphilosophie dar.

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D as soziale I ndividuum Wenn man den Grund für die Opposition zwischen der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie angeben will, so kann man, meine ich, sagen, dass sie von zwei grundverschiedenen Bildern des menschlichen Individuums ausgehen. Die politische Philosophie geht von einem unabhängigen, autonomen Individuum aus, das als rationaler und freier Akteur betrachtet wird, der sich seines Eigeninteresses bewusst und in der Lage ist, sich Ziele zu setzen und die besten Mittel zu bestimmen, um diese zu erreichen. Die klassische politische Theorie von Hobbes bis Rawls basiert auf dieser Vorstellung vom Individuum, das Nutzen und Nachteil abwägen kann. Ganz anders die Sozialphilosophie. Anstelle eines rationalen und isolierten Individuums geht sie von einem Individuum aus, das relational konstituiert ist; sie versteht es als primär und in erster Linie wirkliches Wesen, das heißt als Wesen mit Bedürfnissen.11 In ihrer Betrachtung des Individuums beginnt die Sozialphilosophie, anders als die politische Philosophie, stets mit Wirklichem und Konkretem. Als wirkliches Wesen ist ein Individuum für sie stets in erster Linie affiziert. Es ist ein Wesen mit Empfindungen, aber es ist auch ein Wesen, das stets zunächst die Erfahrung seiner eigenen essentiellen Abhängigkeit von anderen macht, und somit ein Wesen, das sich auf andere zunächst im Modus des Bedürfnisses bezieht. Wirkliches Wesen, affiziertes Wesen, bedürftiges Wesen, Wesen im Bezug auf seine Abhängigkeit von anderen: All diese Aspekte zeigen, dass der Mensch, wie ihn die Sozialphilosophie versteht, auch und essentiell verletzbar und leidensfähig ist, Letzteres insbesondere im Bezug auf Leiden, das die Besonderheit hat, durch die Gesellschaft ausgelöst werden zu können. Das rationale Individuum, das Mittel und Zwecke miteinander, sowie auch Mittel und Zwecke mit den Umständen in Beziehung zu setzen vermag, verfügt über anscheinend unbegrenzte Ressourcen der Anpassungsfähigkeit an seine Umwelt. Im Unterschied dazu geht die Sozialphilosophie davon aus, dass der Mensch essentiell und existentiell von objektiven – das heißt stets zugleich wirklichen und sozialen – Bedingun11 | Was wir hier zusammentragen, findet sich sowohl bei den Autoren der Schottischen Aufklärung (besonders bei Hume), als auch bei Rousseau und, viel später, bei Marx (insbesondere in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten).

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gen abhängt, die seine Chancen auf Selbstbehauptung fördern oder einschränken. Diese essentielle Abhängigkeit von objektiv wirklichen und sozialen Bedingungen erzeugt eine fundamentale Prekarität der menschlichen Existenz,12 die nicht als konstitutive und essentielle Schwäche zu verstehen ist, sondern so, dass die Menschen in ihrer Handlungsmacht auf die objektiven Bedingungen zurückgeworfen werden, die ihre Möglichkeiten und Kapazitäten, was Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung betrifft, fördern und erweitern, oder sie, umgekehrt, verringern und einschränken. Bedeutet das, dass sich die Sozialphilosophie dort, wo die politische Philosophie ein Individuum konzipiert, das wesensmäßig aktiv und rational ist, in Passivität, Pathos und Sentimentalität ergeht? Sicherlich nicht. Wie Marx sagte, ist der Mensch einerseits »als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes Wesen«; aber andererseits, »als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen [ist er] mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen«13. Der hier in Frage stehende Mensch ist somit ein Wesen, das ein Schwinden seiner Handlungsmacht nur erfährt, sofern er sich wesensmäßig und positiv durch eben diese Handlungsmacht definiert; er sucht in der Gesellschaft die Bedingungen einer größtmöglichen individuellen wie auch kollektiven Bestätigung derselben. Die Rationalität, um die es hier geht, ist nicht die rein subjektive Fähigkeit des Abwägens von Nutzen und Nachteil, des Anpassens von Mitteln an Zwecke. Sie ist vielmehr selbst eine Modalität der Affirmation der Handlungsmacht des Einzelnen, verstanden in der besonderen oder spezifischen Form der Anstrengung, die jeder Einzelne unternimmt, um sein eigenes soziales Wesen zu verstehen und die Bedingungen einer größtmöglichen Affirmation dieses Wesens, sowohl individuell als auch im Bezug auf die Gemeinschaft, zu bestimmen. Diese qualitative Übernahme des Individuums durch die Sozialphilosophie in die Gesamtheit der Merkmale, die es zunächst als bedürfnisvolles Wesen verstehen, das heißt als Wesen, das zugleich wirklich und sozial ist, führt uns zu einer weiteren bemerkenswerten Differenz zwi12 | Für eine sozialphilosophische Analyse des Konzepts der »Prekarität« vgl. G. le Blanc, Vies ordinaires, vies précaires, insbesondere S. 103. 13 | K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Ergänzungsband 1. Teil, S. 578.

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schen der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie. Ersterer zufolge basiert die Einrichtung der politischen Institutionen auf einem Gründungsakt, der mit der Kontinuität der Natur bricht. Eine Ausnahme bildet hier wieder Spinoza, demzufolge die politischen Institutionen das funktionsfähige Naturrecht aufrechterhalten. Ansonsten ist die Grundtendenz der politischen Philosophie, die politischen Institutionen und die Einrichtung der politischen Ordnung selbst im Bezug auf einen Gründungsakt des Bruches zu begreifen, der die »bürgerliche Gesellschaft« von einer natürlichen Ordnung trennt, die man als prärational versteht14. Charakteristisch für die Sozialphilosophie ist dagegen die Tendenz, das Soziale in Kontinuität mit dem Natürlichen zu denken, und die Politik selbst in Kontinuität mit dem Natürlichen wie auch dem Sozialen. Gegen den für die klassische politische Philosophie typischen Artifizialismus, und wieder anknüpfend an das antike Thema des Menschen als natürlicherweise in Gemeinschaft lebendes Tier, betrachtet die Sozialphilosophie die untereinander durch soziale Beziehungen verbundenen Individuen, die die Natur selbst dazu bringt, soziale Bänder miteinander zu knüpfen, als ein ihrerseits natürliches Phänomen. Das führt dazu, dass sie die Gesellschaft auch nicht als künstlich konstruierte Totalität versteht, sondern als natürlich konstituierten Organismus.

D ie P olitisierung des S ozialen Daher kommt es auch, dass eine der Quellen der Sozialphilosophie zweifellos das konservative und reaktionäre Denken vom Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts ist.15 Bekanntermaßen warfen die antirevolutionären Denker (Burke in England, Rehberg in Deutschland, Maistre und Bonald in Frankreich) den Denkern der Aufklärung, wie auch den Akteuren der Revolution, vor, diese Organizität der Gesellschaft verkannt 14 | Dies mit enormen Differenzen, die vom reinsten kontraktualistischen Artifizialismus bis hin zur Hegel’schen Sittlichkeit als einer zweiten Natur reichen, die der ersten hinzugefügt wird und den Bereich des Rechts als geistiger Welt eröffnet, die als solche nicht auf die Natur reduziert werden kann. 15 | Das ist ein Punkt, den Robert Spaemann in der dem Vicomte de Bonald gewidmeten Arbeit unterstrichen hatte: Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration, Stuttgart 1998.

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und infolgedessen geglaubt zu haben, dass man mit den bestehenden Institutionen tabula rasa machen und aus dem Nichts neue erschaffen könne. Dagegen brachte Bonald vor, dass die politischen Institutionen nichts anderes seien als der Ausdruck der »allgemeinen Macht der Gesellschaft«. Auch der Individualismus, der Kontraktualismus und der Artifizialismus des modernen politischen Denkens können nichts anderes zur Folge haben als eine Auflösung der »allgemeinen Macht« der Gesellschaft in der »besonderen Macht« sämtlicher einzelner Mitglieder der Gesellschaft. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass »es keine Gesellschaft mehr gibt, da es keine allgemeine Macht mehr gibt«16. In diesem Stadium sozialer Auflösung kann die allgemeine Macht nur danach streben, sich wiederherzustellen – aus Gründen, die mit der Natur der Gesellschaft und des Menschen selbst zu tun haben, mit dem Leben des Letzteren in der und durch die Erstere; denn »die Gesellschaft kann ohne allgemeine Macht nicht bestehen, so wenig wie der Mensch existieren kann ohne Gesellschaft«17. Man sieht, dass sich hier zwischen die Individuen mit ihrer »besonderen Macht« und die im eigentlichen Sinne politischen Institutionen die »Gesellschaft« schiebt, die natürlicherweise eine »allgemeine Macht« über die Ersteren hat. Die politischen Institutionen sind dabei nichts anderes als Ausdruck und Inbegriff dieser allgemeinen und zugleich einigenden Macht, die die Gesellschaft natürlicherweise hat und die sie auch ganz natürlicherweise auf die Individuen ausübt. In den Worten Bonalds: Eine Gesellschaft ist »politisch konstituiert« von dem Moment an, in dem sie ihrer eigenen »allgemeinen Macht« eine explizite und leibhaftige Form verleiht. Einer solchen politischen Konstitution der Gesellschaft liegen keine unverbundenen atomisierten Individuen voraus, sondern immer schon die Gesellschaft selbst, und mit ihr die allgemeine Macht, die sie immer schon auf diese Individuen ausübt. Die primäre Wirklichkeit liegt weder in den individuellen, noch in den politisch-institutionellen Bedingungen. Es ist die Gesellschaft selbst, die sich politische Institutionen verschafft, und zwar einzig und allein zu dem Zweck, ihre eigenen Chancen auf Selbsterhaltung zu maximieren. Die

16 | L.-G.-A. de Bonald, Théorie du pouvoir politique et religieux, Textauswahl durch C. Capitan, Paris 1966, S. 124. 17 | Ebd. S. 125. Zu beachten ist hier die Rede von der sozialen Natur des Menschen.

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politische Macht hat, Bonald zufolge, keine andere Funktion als die, die Gesellschaft selbst zu konservieren. Man sieht somit, welche wichtige Rolle dieses explizit konservative Denken gespielt hat, insbesondere da es die Art und Weise der politischen Problemstellung völlig verändert hat, indem erstmals ein wesentliches Prinzip der Sozialphilosophie etabliert wird: Das Individuelle und die Beziehungen zwischen den Individuen, das heißt das Interindividuelle, ist nicht der Ursprung des Sozialen, und ausgehend von den Individuen und einer Vereinbarung zwischen ihnen oder einem Pakt, den sie geschlossen hätten, lässt sich keine soziale und politische Ordnung herstellen. An dieser grundlegenden Idee wird A. Comte festhalten, wie auch die gesamte Tradition der Sozialphilosophie, wobei das Denken Bonalds in einem wichtigen Punkt korrigiert wird: Eine Gesellschaft, verstanden als organische Wirklichkeit, kann sich nicht als solche konservieren und bewahren, auch wenn sie das anstrebt. Sie macht Veränderungen und Transformationen durch. Deshalb muss man nicht nur die Prinzipien einer sozialen Statik formulieren, sondern auch die einer sozialen Dynamik, und man muss die Gesetze der sozialen »Ordnung« um die ihres »Fortschritts« ergänzen. Die Sozialphilosophie als solche wird als Ausarbeitung einer Konzeption von Gesellschaft und sozialer Ordnung geboren, die in Opposition zu den Abstraktionen des klassischen politischen Denkens steht. Man sieht, dass ihr das gelang, indem sie sich innerhalb des politischen Kontextes ihrer eigenen Entstehung und Konstitution situierte. Während der Revolution und deren unmittelbarer Folgezeit ergriff sie für oder gegen die Revolution Partei, jeweils getragen durch der je anderen Seite feindlich gesinnte soziale Kräfte. So konstituierte sie sich, auf der einen Seite, mit Saint-Simon, durch ihre Parteinahme für diejenigen sozialen Kräfte, die an einer Fortsetzung und Vertiefung der durch die revolutionäre Phase in die Wege geleiteten Neuorganisation des Sozialen interessiert waren (die Saint-Simon die »Industriellen« nannte), und auf der anderen Seite, mit Bonald, indem sie sich politisch unter diejenigen sozialen und politischen Kräfte reihte, für die die Revolution direkt existenzbedrohend wirkte. Eine dritte Position wäre jene, die J. Bentham verkörperte, später A. Comte und K. Marx. Sie besteht aus einer Kritik an der Revolution, die sich nicht vom Standpunkt der Konservation oder der Reaktion her versteht. Bentham zum Beispiel unterzog die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte einer kompromisslosen Kritik, ohne deshalb gleich auf

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das reaktionäre Feld Burkes zurückzukehren: Die in der Erklärung der Menschenrechte verkündeten Prinzipien erlauben keine (Neu-)Organisation des Sozialen, da sie keine sozialen und politischen Prinzipien sind, sondern in Wirklichkeit eher moralische Prinzipien, »allenfalls dazu bestimmt, die Menschen zu leiten, nicht aber dazu, sie miteinander zu verbinden«18. Die Kritik bezieht sich also zum Beispiel darauf, dass die Revolutionäre als natürlich ausgaben (das Individuum und seine »Rechte«), was in Wirklichkeit jedoch historisch produziert und sozial konstruiert war. Die Kritik  – die man gleichermaßen bei Comte, Hegel und Marx finden wird  – richtet sich auch gegen die politisch-moralische Abstraktion des Standpunkts der Revolutionäre; denn diese politisch-moralische Abstraktion habe sie dazu gebracht, die besondere Natur des Sozialen als solchen zu ignorieren, Prinzipien und Praktiken zu fördern, die der Gesellschaft insofern schädlich sind, als sie zu einer Auflösung des Sozialen führen, oder Prinzipien als politisch universell zu proklamieren und zu deklarieren, die in Wirklichkeit sozial bestimmt und damit historisch partikular waren. Die Sozialphilosophie als solche entstand somit einerseits entlang einer explizit politischen Trennlinie und explizit politischer Auseinandersetzungen; und andererseits entlang einer Kluft, die sich durch das Trauma der Revolution auftat, das man nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und in England als solches empfand. Anders gesagt, dass sich die Sozialphilosophie von der politischen Philosophie abgrenzt, bedeutet nicht, dass sie keine politische Position verteidigen würde oder gar »apolitisch« wäre, ganz im Gegenteil. Eines ihrer Charakteristika ist es gerade, dass sie philosophisch eine explizite politische Parteinahme voraussetzt, oder dass sie meist explizit eine politische Positionierung fordert. In diesem Sinne äußert sie somit nicht nur keinen Anspruch auf objektive und apolitische Neutralität (einem solchen Anspruch gegenüber ist sie vielmehr explizit misstrauisch19), sondern behauptet zudem auch nicht – im Unterschied zur politischen Philosophie –, den Standpunkt dessen einzunehmen, was man »kollektives Interesse« nennt, da sie auch hier den Ver18 | Vgl. J. Bentham, L’Absurdité sur des échassesou la boîte de Pandore ouverte, ou la Déclaration française des droits en préambule de la Constitution de 1791 soumise à la critique et à l’exposition, zitiert nach B. Binoche, J.-P. Cléro (Hg.), Bentham contre les droits de l’homme, Paris 2007. 19 | Vgl. M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt a.M. 1992.

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dacht hegt, dass die Anrufung des kollektiven Interesses nur eine Art und Weise sein könnte, das Partikularinteresse einer bestimmten, herrschenden sozialen Gruppe zu verbergen. Der »Schleier des Nichtwissens« von J. Rawls ist beispielhaft für eine Strategie, die typisch ist für die politische Philosophie; diese lehnt die Sozialphilosophie ihrem eigenen Grundsatz nach ab. Die Kritik, die Habermas in diesem Zusammenhang an Rawls übt,20 ist die Kritik eines Denkers, der sich als Sozialphilosoph versteht. Als solcher lehnt er die Idee ab, dass es sozialen Akteuren gelingen könnte, so zu tun, als würden sie die Position, die innerhalb der sozialen Ordnung die ihre ist oder sein wird, ignorieren. Wo die politische Philosophie zumeist den politischen Kontext ihres eigenen Auftauchens unterschlägt und sich vorgeblich zu einer Position emporschwingt, die die vermeintlich äußerste und beste ist, die es im Bezug auf den Kontext geben kann,21 denkt sich die Sozialphilosophie meist als theoretische Intervention innerhalb eines genau angebbaren sozialen und politischen Kontextes. Weit davon entfernt, etwas zu unterschlagen oder zu verschleiern, beginnt sie meist damit, die Trennlinien zwischen den Kräften, die den Kontext kennzeichnen, zu beschreiben und zu analysieren. Mit der Geburt der deutschen Sozialphilosophie im Zusammenhang des Vormärz spielte sich ein Szenario ab, das dem der nachrevolutionären Phase in Frankreich vergleichbar ist. Die »rechten« und die »linken« theoretischen und politischen Erben Hegels 20 | J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M. 1997, S. 65-94. 21 | In genau diesem Punkt erhebt Habermas zwei wichtige Einwände gegen Rawls. Zunächst: Wie kann Rawls sicher sein, dass die von den im »Urzustand« platzierten Akteuren ausgetauschten Argumente etwas anderes zutage fördern als die für die abendländischen Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts typischen Vorurteile? Anders gesagt, der Universalismus der Theorie der Gerechtigkeit ist ein nicht ausreichend fundierter Anspruch. Zweitens ist der Anspruch der Theorie der Gerechtigkeit, Normen zu produzieren, überzogen und, in diesem Sinne, typisch für einen abstrakt-politischen Standpunkt. Die Normen warten nicht auf die Theorie, um produziert zu werden, sie sind vielmehr sozial und historisch erzeugt, das heißt: sie sind schon da, und was man allenfalls tun kann, ist eine Verfahrensweise auszuarbeiten, die es erlaubt, diese Normen zu prüfen, wie auch die Berechtigung ihres Anspruches. Für eine Darstellung (deren Standpunkt dem nahekommt, was ich hier »Sozialphilosophie« nenne) der Diskussion zwischen Rawls und Habermas vgl. Y. Sintomer, La Démocratie impossible? Politique et modernité chez Weber et Habermas, Paris 1999, S. 264-273.

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sahen sich in einem Maße miteinander konfrontiert, dass es nicht falsch wäre, zu sagen, dass die Sozialphilosophie – indem sie theoretische und praktische Parteinahme miteinander verband und kollektive Bewegungen mit dem Ziel anleitete, eine Partei der Gesellschaft im Dienste politischer Ziele aufzustellen – Zeugin der Geburtsstunde dessen war, was man seitdem die »politischen Parteien« nennt. Kurz gesagt, die Sozialphilosophie baut auf einem Fundament auf, das man aristotelisch nennen kann. Sie arbeitet auf ein Denken hin, das die Natur, die Gesellschaft und die Politik in Kontinuität miteinander begreift. Sie geht davon aus, dass die Entstehung von sozialem Leben in Kontinuität mit der natürlichen Ordnung der Dinge zustande kommt, und nicht durch einen Bruch mit derselben; dass die spezifische Form ihres natürlichen Lebens bestimmte Lebewesen dazu bringt, diesem natürlichen Leben zusätzlich eine soziale Form zu verleihen; dass das Soziale auf einem bestimmten Komplexitätsgrad des Natürlichen zustande kommt, und dass es unmöglich ist, es zu verstehen, wenn man es als Ergebnis eines Bruchs mit der Natur oder mit der natürlichen Ordnung der Dinge denkt. Vom Lebendig-Natürlichen [le vital] auf das Soziale zu schließen, ist im Allgemeinen richtig. Dasselbe gilt für die Beziehung zwischen dem Sozialen und der Politik: Die Sozialphilosophie denkt die Politik in Kontinuität mit dem Sozialen. Sie tritt nicht als ein Denken des Politischen auf, verstanden als zunächst für sich bestehende, der Gesellschaft äußerliche Ordnung von Phänomenen, die der Gesellschaft anschließend einen Rahmen geben, sie regulieren oder gar als solche stiften würde, sondern als ein Denken der Politik als einer spezifischen Modalität der sozialen Aktivität selbst. Die Sozialphilosophie trennt somit das Soziale und die Politik nicht; daher erspart sie sich auch die sinnlosen Versuche, die man in der Folge unternehmen muss, um beide wieder aufeinander zu beziehen, nachdem man zunächst ausgegangen ist von ihrer Trennung. So sehr die Sozialphilosophie zunächst denjenigen Prozessen den Vorrang gibt, kraft derer das Leben der primär natürlichen Wesen dazu kommt, eine soziale Form anzunehmen, oder kraft derer bestimmte natürliche Phänomene oder Beziehungen in einem gegebenen Moment und unter bestimmten Umständen die Form sozialer Phänomene und Beziehungen annehmen, so sehr interessiert sie sich auch für die Prozesse, die dazu führen, dass soziale Phänomene und Beziehungen in bestimmten Momenten und unter bestimmten Umständen im eigentlichen Sinne politische Phänomene und

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Beziehungen werden. So sehr sich die Sozialphilosophie für die Sozialisierung natürlicher Phänomene interessiert, so sehr interessiert sie sich für die Politisierung bestimmter sozialer Phänomene. Das bedeutet auch, dass die staatliche und rechtspolitische Form für sie nur eine mögliche Form der Politisierung des sozialen Lebens unter anderen ist. Sie ist diejenige Form, die die Politisierung annimmt, wenn sie sich vom sozialen Leben lossagt, abkoppelt und anstrebt, sich zum Rahmen des sozialen Lebens zu machen, um dieses von außen zu begrenzen. Daher auch das spezielle Interesse, das die Sozialphilosophie denjenigen Phänomenen der Politisierung des Sozialen entgegenbringt, die nicht oder nicht unmittelbar diese staatsrechtliche Form annehmen, das heißt denjenigen Formen der Politisierung, die im Allgemeinen nur in Phasen revolutionärer Umstürze stattfinden. Dieselben Gründe führen auch dazu, dass die Sozialphilosophie nur moderaten Gebrauch macht von Begriffen wie »die Demokratie«, »der Totalitarismus« oder »der Faschismus« – sie zieht es auch hier vor, die Dinge in Begriffen des Prozesses anzusprechen, und sie wird daher eher von der Demokratisierung einer Gesellschaft sprechen, oder, im gegenteiligen Fall, von ihrer Faschisierung.22 Aber sich in Begriffen der »Sozialisierung« und der »Politisierung« auszudrücken setzt gerade voraus, dass man sich zunächst fragt, wie etwas sozial wird, wie etwas politisch wird. Man beschäftigt sich somit nicht mit dem Individuum und dem Sozialen, oder mit dem Sozialen und der Politik als in sich geschlossenen Realitäten, mit deren nachträglicher Verbindung man dann große Schwierigkeiten haben wird. Vom Standpunkt der Geschichte der Sozialphilosophie ist Marx’ Umgang mit Hegel im Kommentar seines Manuskripts von 184323 zu dessen »Staat«-Paragraph aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts exemplarisch. Marx wendet dort gegen Hegel ein, dass die »Familie« und die »bürgerliche Gesellschaft« (jene beiden für das Soziale konstitutiven Elemente, die bei Hegel unter den Terminus Sittlichkeit fallen) die Substanz bilden, deren Attribut der Staat sei, und nicht umgekehrt. So gibt sich Marx nicht nur nicht mit der bloßen Hegel’schen Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat zufrieden (was für die Gründung der Sozialphilosophie freilich unabdingbar ist); er geht einen zusätzlichen Schritt und schließt sich einer 22 | Zum Konzept der »Demokratisierung« vgl. die Arbeiten von Y. Sintomer und vor allem die »conclusion générale« in La Démocratie impossible. 23 | K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, S. 201-333.

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Perspektive der Sozialphilosophie an, für die der Prozess der Politisierung oder das Politisch-Werden der Praktiken und Phänomene, die stets primär soziale sind, zentral wird. Bezüglich ihrer Herangehensweise an die Gesellschaft gibt es in der Konstituierung der Sozialphilosophie also die Kritik an der Verabsolutierung des politischen Standpunktes. Die Begründung für diese Kritik ist, dass das (im Wesentlichen auf die staatlichen Institutionen reduzierte) Politische das Soziale nicht überformt, sondern dass vielmehr die Politik dem Sozialen einbegriffen ist. Damit wird die Politik zwar relativiert, deswegen aber nicht vernachlässigt und schon gar nicht ignoriert. Marx relativiert die Politik, wenn er schreibt, dass »das menschliche Leben [unendlicher ist] als das politische Leben«; er kritisiert den politischen Standpunkt als »engherzig« und »abstrakt«, da getrennt »vom wirklichen Leben«, das heißt vom sozialen Leben. Derselbe Marx denkt jedoch auch den »politische[n] Akt« als notwendig für jede soziale Neuorganisation, ohne den es weder einen »Umsturz der bestehenden Gewalt« geben kann, noch eine »Auflösung der alten Verhältnisse«24. Die tragenden sozialen Kräfte einer sozialen Neuorganisation können sich ihre eigene Politisierung nicht ersparen, insofern diese vom Akt der Zerstörung der alten Ordnung nicht zu trennen ist. Ebenso wenig aber können sie aus diesem politischen Moment einen Fix- oder Haltepunkt machen, insofern ihr eigenes Werk ein soziales Werk und somit nicht lediglich negativ und destruktiv ist, sondern gleichermaßen positiv und gestalterisch. Deswegen geht Marx’ Kritik an der Abstraktion, der die Politik und der politische Standpunkt innerhalb der Philosophie mit ihrem engherzigen Charakter anhängen, mit dem Appell einher, das Feld der politischen Kämpfe nicht zu verlassen: »Der Kritiker kann also nicht nur, er muß in diese politischen Fragen (die nach der Ansicht der krassen Sozialisten unter aller Würde sind) eingehn.«25

24 | K. Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, MEW Bd. 1, S. 408f. 25 | K. Marx, Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«, MEW Bd. 1, S. 345.

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Kapitel 3 Die Merkmale der Sozialphilosophie

In diesem Kapitel sollen anhand von fünf Hauptthesen die Kriterien bestimmt werden, die es erlauben, die Sozialphilosophie als philosophische Tradition und gleichermaßen als eigenständiges philosophisches Projekt zu identifizieren. Man kann diese Thesen auch als den Bedingungen entsprechend lesen, die einen Diskurs ermöglichen, der zur Sozialphilosophie gehört.

D ie G esellschaf t gegen den S ta at Die Sozialphilosophie basiert erstens auf einer philosophischen Methode, die sich die nötigen Mittel verschafft, um die Gesellschaft vom Staat und das Soziale vom Politischen zu unterscheiden; sie ist eine Philosophie, die der Gesellschaft und dem sozialen Leben in Bezug auf den Staat und die Institutionen (und sei es relative) Autonomie zuerkennt. In diesem Sinne ist die Sozialphilosophie von Anfang an abhängig vom Auftauchen positiven Wissens, das sich mit der Gesellschaft (und nicht mehr mit dem Staat oder den bloßen politischen Institutionen) beschäftigt. Keine Sozialphilosophie ohne die Entstehung von Disziplinen wie der politischen Ökonomie, der Soziologie oder der Anthropologie, positiven Disziplinen also, mit denen die Sozialphilosophie seither in unaufhörlichem Kontakt steht. Unmittelbar nachdem die politische Ökonomie auf der Bildfläche erschien, wären somit Rousseau und Hegel in diesem Sinne die ersten Sozialphilosophen gewesen. Neben seiner politischen Philosophie beschäftigt sich Rousseau in seinem Werk unablässig mit pathologischen

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sozialen Phänomenen,1 die er für typisch für die Moderne hält und die er, als solche, der Kritik unterzieht. Hegel seinerseits begründet die fundamentale Unterscheidung zwischen »bürgerlicher Gesellschaft« und »Staat« begrifflich. Die Anerkennung einer Autonomie der Gesellschaft ist der erste Schritt, der zur Anerkennung einer dem Sozialen eigenen Rationalität führt. Diesen Schritt geht er eindeutig, obwohl er, wenn er die Gesellschaft als Rationalität des Verstandes bezeichnet, das Soziale noch dem Politischen unterordnet, das selbst durch eine rationale Logik bewegt wird. Nach wie vor gilt, dass die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat eine erste, absolut unerlässliche Bedingung ist für die Geburt der Sozialphilosophie; sie wird durch die Bestimmung eines neuen Bereiches der Wirklichkeit vollzogen, den die schottische Aufklärung auf den Namen civil society und die Deutschen auf den Namen bürgerliche Gesellschaft2 getauft haben. An diesem Punkt wird ganz klar, dass die Sozialphilosophie gemeinsame Wurzeln mit der Soziologie hat. Beide tauchen von dem Moment an auf, in dem man sich die theoretischen Mittel verschafft, die nötig sind, um den klassischen Dualismus zwischen Individuum und Kollektiv – das heißt zwischen den Begriffen, in denen sich traditionellerweise das »politische Problem« stellt – zu überwinden. Das Problem, wie die Individuen dazu kommen, selbst die politische Ordnung einzurichten, der sie sich dann sogleich bereitwillig unterwerfen, stellt sich nicht mehr, sobald man, wenn auch nicht sofort »das Soziale« als solches, wenigstens bereits »die Gesellschaft« ins Auge fasst. Die Frage, kraft welchen »Wunders« die Individuen bereit dazu sind, sich von den politischen Institutionen bezwingen zu lassen, die sie selbst erfunden haben auf Basis eines miteinander geschlossenen Paktes – und dem die Gefolgschaft zu verweigern sie ebenso frei sind, wie sie frei dazu waren, ihn allererst zu schließen – stellt sich dann nicht mehr. So lange man in dem vom klassischen politischen Denken ererbten Rahmen verharrt, so lange bleibt der Zwang, den die politischen Institutionen ausüben, als solcher undenkbar, da nur eine dieser beiden Möglichkeiten gelten kann: Entweder der Zwang ist ein 1 | Wie etwa mit der für die aufkommende bürgerliche Gesellschaft typischen Tatsache, dass der soziable Mensch gezwungen ist, außerhalb seiner selbst zu leben, womit Rousseau eine der ersten Theorien dessen anbietet, was man später soziale Entfremdung nennen wird. 2 | Vgl. J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1978, S. 140ff.

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echter Zwang, der den Individuen aufoktroyiert ist, was bedeutet, das er nicht von den Individuen kommen kann; oder der Zwang ist das Resultat einer Übereinkunft zwischen den Individuen, aber dann handelt es sich nicht um echten Zwang, schließlich kann er jederzeit widerrufen werden. Die Erfindung des Konzepts der Gesellschaft ermöglicht es dagegen zu denken, dass die Individuen stets zunächst einem primären sozialen Zwang unterworfen sind, von dem der politische Zwang, den die Institutionen ausüben, als abgeleitet gedacht werden kann. Das verändert die Art und Weise politischer Problemstellung radikal und erklärt außerdem, warum das Nachdenken über die spezifische Besonderheit des sozialen Zwangs seit den Anfängen3 der Sozialphilosophie und bis hin zu den zeitgenössischen (und post-Wittgenstein’schen) Debatten im Zentrum ihres Denkens steht, rund um die Frage, wie der Zwang einer sozialen Ordnung ausgeübt wird.4 Dabei kommt sie an der Durkheim’schen Definition des Sozialen durch den Zwang nicht vorbei.5

D ie theore tische P r a xis als E lement der sozialen Teilung der A rbeit Die Sozialphilosophie ist zweitens eine Philosophie, die sich selbst als einer sozialen Umwelt oder einem sozialen Kontext eingeschrieben begreift. Sie versteht sich als wissenschaftliche und theoretische Praxis, die an andere einen historischen Kontext konstituierende Praktiken gebunden ist, innerhalb dessen sie sich situiert weiß. Sie versteht sich somit nicht als losgelöst von jeglichem Bezug zur sozialen und historischen Wirklichkeit, in der sie entstanden ist, der sie angehört und auf die einzuwirken sie folglich auch nicht ablehnt. M. Foucault zeigt in seinem vielzitierten Kant-Kommentar Was ist Auf klärung?, dass ein solcher Begriff von Philosophie zum ersten Mal 3 | Vgl. insbesondere die Überlegungen Hegels zum Begriff der sozialen Verpflichtung im § 149 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a.M. 1986. 4 | Vgl. A. Ogien, »Le social des sociologues et le social des philosophes«, in: A. Ogien, Les Règles de la pratique sociologique, Paris 2007. Vgl. auch V. Descombes, Les Institutions du sens, Paris 1996, besonders die Kapitel 17, 18 und 19. 5 | Vgl. B. Karsenti, »La Société en personnes. Études durkheimiennes«, in: Économica, Paris 2006, Kap. 1: »La constitution du social«.

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mit Kant auftaucht6. Man muss ergänzen, dass er sich danach weiter gefestigt hat, mit Fichte und Hegel in Deutschland7 und mit Saint-Simon und Comte in Frankreich. Die Sozialphilosophie ist eine Philosophie, für die die Frage der Beziehung zwischen Theorie und Praxis essentiell ist, das heißt die Frage der Verbindung zwischen ihr selbst als Theorie und einer Praxis, verstanden nicht nur als mögliche Anwendung ihrer selbst, sondern auch als die Gesamtheit der anderen sozialen Praktiken, die den Kontext der Theorie bilden. Ein kleinster gemeinsamer Nenner der verschiedenen sozialphilosophischen »Schulen« wäre sicherlich die Idee, derzufolge die Sozialphilosophie zum größeren Bereich der praktischen Philosophie gehört, dem auch die »politische Philosophie« oder die »Moralphilosophie« angehören. Aber diese Zugehörigkeit zur praktischen Philosophie kann wiederum auf sehr verschiedene Weisen verstanden und gedacht werden. Ich sehe im Wesentlichen zwei: Entweder die Sozialphilosophie verortet sich in der Perspektive der sozialen Transformation; dann gehört sie zur praktischen Philosophie im Sinne einer Methode, die durch ihre theoretische Arbeit selbst zu einer Transformation der Gesellschaft in der und durch die Praxis beitragen will. Oder sie vertritt politisch eine reformistische Position und zieht der sozialen Revolution schrittweise Veränderungen vor, deren Ziel das wäre, was sie »sozialen Fortschritt« nennt; in diesem Fall denkt die Sozialphilosophie ihre eigene praktische Dimension als im Wesentlichen der Pädagogik zugehörig. Das ist der Fall mit dem Neukantianismus in Deutschland, speziell mit Paul Natorp – Neukantianer der Marburger Schule, 1899 Autor einer Sozialpädagogik und 1920 eines Sozial-Idealismus –, aber auch mit der Durkheim’schen Schule in Frankreich, speziell mit einem seiner Vertreter, C. Bouglé (neben É. Durkheim Mitbegründer der Zeitschrift L’Année sociologique). An der Verteidigung der Sozialphilosophie, der er sich im Vorwort zur 1925 erschienenen Ausgabe von Qu’est-ce que la sociologie? widmet, ist besonders interessant, dass sie sich auf die »Nützlichkeit« der 6 | M. Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in: E. Erdmann, R. Forst, A. Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York, S. 35-54. 7 | Vgl. F. Fischbach, »Aufklärung et modernité philosophique : Foucault entre Kant et Hegel«, in: Lectures de Foucault, Bd. 2, Textzusammenstellung v. E. da Silva, Lyon 2003, S. 115-134.

Die Merkmale der Sozialphilosophie

Sozialphilosophie beruft. Eine bestimmte Form von Philosophie zu verteidigen, indem man auf ihre Nützlichkeit verweist, war früher nicht weniger ungewöhnlich als heute; dessen ungeachtet wird die Nützlichkeit der Sozialphilosophie jedoch in verschiedenen Abstufungen weiter präzisiert und charakterisiert als im Wesentlichen pädagogischer Art. Bouglé zeigt, dass die Sozialphilosophie zunächst für die Moralphilosophie pädagogisch nützlich ist; damit bestätigt er zugleich, dass die Sozialphilosophie zum Bereich der praktischen Philosophie gehört. Sie mache nämlich die Lehre der Moral wirksamer als es »eine Reihe laizistischer Predigten über die verschiedenen Tugenden«8 sein könnte. Und wenn die Sozialphilosophie die Morallehre festigt, so nach Bouglé aus folgenden Gründen: »Möchte man, zum Beispiel, den Geist der jungen Leute dem Mitleid öffnen, der Brüderlichkeit, der Sorge um die soziale Gerechtigkeit? Dann wird man sich nicht damit begnügen, ihnen in einer allgemeinen Manier zu sagen, dass es Unglückliche gibt; man wird versuchen, sie in die Lage der verschiedenen Formen, Ursachen und Folgen der Armut zu versetzen; man wird ihnen von Arbeitslosigkeit und vom sweating-system sprechen; man wird sie die Finger auf die scharfen Kanten der Organisation unserer Wirtschaft legen lassen.« 9

Man sieht, dass die Sozialphilosophie, so wie Bouglé sie versteht, nicht darauf abzielt, den »jungen Geistern« zu zeigen, dass diese »Organisation der Wirtschaft« veränderbar ist oder verändert werden müsste – sondern allein darauf, sie auf eine Konfrontation mit deren »scharfen Kanten« vorzubereiten.10 Die pädagogische Nützlichkeit der Sozialphilosophie ist aber nicht darauf beschränkt, die republikanische Morallehre mit sozialen Beispielen 8 | C. Bouglé, Qu’est-ce que la sociologie?, Paris 1925, S. XII. Diese Bemerkung allein rechtfertigt es, Bouglé noch heute ein bisschen Aufmerksamkeit zu schenken – in einer Zeit, in der schließlich die »laizistischen Predigten über die Tugenden« und andere Abhandlungen über die laizistischen Tugenden philosophische Bestseller sind! 9 | Ebd. S. XIII. 10 | Bouglé sagt das explizit: »Für [einen Kurs in Moral] gibt es keine bessere Methode, unsere Schüler mit der Wirklichkeit vertraut zu machen und zu konfrontieren, als ihre Vorstellungskraft mit den sozialen Tatsachen zu sättigen.« (Ebd., S. XIV).

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anzureichern, um Letztere in eine Art »Sozialmoral« zu verwandeln. Ihre Nützlichkeit betrifft nicht allein einen lehrspezifischen Gehalt (in dem Fall die Moral), sondern das Ganze der Lehre selbst, den Sinn der Aufgabe, zu lehren, und die soziale Rolle des Lehrers. Die Sozialphilosophie bringt die Idee mit sich, dass der wahre Lehrer und Erzieher der Individuen zunächst die Gesellschaft selbst ist, und dass die Lehrinstitution nur die explizite, bewusste und freiwillige Form dieser Schule der Gesellschaft ist, durch die die Individuen gehen. Bouglé erwartet somit von der Sozialphilosophie, dass sie dem »Erzieher« ermöglicht, »ein klareres Bewusstsein seiner sozialen Funktion zu erlangen, seinen Platz zu bestimmen und seine Rolle in der Gesellschaft zu ermessen«.11 Selbst in der Schule der Sozialphilosophie ausgebildet, wird sich der Erzieher bewusst, dass ihm die Gesellschaft für seine Aufgabe, die Individuen zu formen, nichts anderes zur Verfügung stellt als die Sprache, und dass das einzige, worauf er mit diesem Instrument bei den Individuen einwirken kann, ihre Intelligenz ist. Nun verfügt die Gesellschaft – und gerade die Sozialphilosophie lehrt das – auch über andere Mittel, um die Individuen zu formen, das heißt um »über die individuellen Naturen eine soziale Natur zu legen«12, und zwar solche, die viel wirksamer sind: »[Die Gesellschaft] hat nicht nur die Sprache, um die Individuen zu formen; häufig geschieht dies auch durch die Kraft der Gesetze; und noch häufiger durch die Kraft der Dinge selbst, durch diese mächtige Gesamtheit mit uneindeutigen Pflichten, Zwängen, Anziehungskräften und Versuchungen, die manchmal, ohne dass wir es ahnen, und ohne dass es jemand gewollt hätte, dennoch unseren Kurs bestimmen.«13 Angesichts der Macht dieser objektiven sozialen Kräfte, die nicht nur die Intelligenz formen, sondern auch die Sensibilität der Individuen, erscheint der Beitrag der Lehrinstitution recht bescheiden und begrenzt: »Kleine Feuerstellen bewussten Handelns«, die lediglich »Punkte in der Nacht« sind – das sind die »Schulen«, folgt man Bouglé. Für Bouglé ist der Erzieher also bescheiden, sich aber auch voll und ganz seiner sozialen Funktion bewusst. Die Bescheidenheit der Rolle des Erziehers erlaubt es dem Republikaner Bouglé nebenbei, den Schulstreit zu entschärfen: Man irre sich, sagt er, wenn man denke, dass »derjenige, 11 | Ebd. S. XV. 12 | Ebd., S. XVII. 13 | Ebd.

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der die Schule in der Hand hat, die ganze Gesellschaft in der Hand hat«, denn es sei vielmehr die Gesellschaft, die die Schule in der Hand habe; und während manche so weit gehen würden, zu behaupten, dass »die soziale Frage in ihrem Grund nichts als eine Frage der Lehre [enseignement] ist«, sei vielmehr das Umgekehrte wahr: die Frage der Lehre sei in ihrem Grund nichts als eine soziale Frage.14 Und genau da liegt, Bouglé zufolge, die essentielle Nützlichkeit der Sozialphilosophie: Sie ermöglicht es jedem, sich seiner sozialen Funktion bewusst zu werden, und zwar umso klarer, als sie jedem zeigt, dass seine Funktion streng begrenzt und seine Rolle strikt beschränkt ist. So ermöglicht sie jedem, sich innerhalb einer Totalität zu verorten, die ihn umfasst und bestimmt, innerhalb derer er aber auch insofern besser agieren kann, als er die reale Reichweite seines möglichen Handelns genauer ermisst. Die Sozialphilosophie ermöglicht uns so, »unsere Funktion in unserer Gesellschaft, und diese Gesellschaft unter den Gesellschaften, und die Gesellschaften in der Natur einzuordnen.«15 Hier findet sich ein bereits genanntes Charakteristikum der Sozialphilosophie wieder, das sie besonders von der politischen Philosophie und von der Moralphilosophie unterscheidet: Nämlich nicht vom Individuum auszugehen, sondern es vielmehr als Endpunkt einer schrittweisen Fokussierung zu betrachten, die vom Panorama der Natur selbst ausgeht, durch die menschlichen Gesellschaften hindurch führt, die dieser Natur historisch eingeschrieben sind, und die schließlich bei einer bestimmten besonderen Gesellschaft landet, die sie in einem bestimmten Moment ihrer Entwicklung erfasst.

D en I st-Z ustand diagnostizieren : A n was kr ank t die G esellschaf t ? Die obige Anspielung auf Foucaults Kommentar zu Kants Text Was ist Auf klärung? ermöglicht die Behauptung, dass die Sozialphilosophie drittens eine philosophische Methode ist, die ihrer Zeit oder Epoche eine Diagnose stellt. So versucht sie, die charakteristischen Eigenschaften ihrer Epoche, die sie deutlich von früheren Epochen unterscheiden, zu fassen.

14 | Ebd. S. XVI. 15 | Ebd.

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Diese Methode, der Gegenwart eine Diagnose zu stellen, findet sich Foucault zufolge bereits bei Kant, aber sie findet sich auch – und von sicherlich noch viel expliziterer Art – bei Hegel (»die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefaßt«16), bei Comte, bei Marx oder bei Nietzsche. Zumindest ein Teil des Werkes des Letzteren gehört in dieser Hinsicht zur Sozialphilosophie (daher, über die Kulturkritik, auch der Einfluss Nietzsches auf Simmel und Weber, die Begründer der deutschen Soziologie)17. Diese diagnostische Methode beruft sich offensichtlicherweise auf eine medizinische Metapher, auf die man seit der Geburt der Sozialphilosophie zurückgreift. So zum Beispiel Saint-Simon, der 1819 schreibt: »Diese Annahmen zeigen, dass es sich in der aktuellen Gesellschaft tatsächlich genau umgekehrt verhält: […] denn, mit einem Wort, in allen Formen von Beschäftigung sind es unfähige Menschen, die mit der Aufgabe betraut sind, die fähigen Leute zu leiten. […] Obwohl dieser Abschnitt sehr kurz ist, glauben wir, hinreichend bewiesen zu haben, dass der politische Körper krank war, dass seine Krankheit schwer und gefährlich war, dass sie nicht fataler hätte sein können, da er als ganzer und gleichermaßen in allen seinen Teilen betroffen war.«18

Dieselbe Metapher findet sich bei einem anderen großen Diagnostiker, Nietzsche, der sich selbst als »Arzt der Zivilisation«19 bezeichnet; er stellt der europäischen Kultur die Diagnose, dass sie am Platonismus und an dessen populärer Version, dem Christentum, erkrankt sei. Auch die soziologische Analyse verwendet die Metapher; seit ihren Anfängen versteht 16 | G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 26. 17 | Vgl. A. Berlan, »La critique culturelle et la constitution de la sociologie allemande (Simmel, Tönnies, Weber)«, Diss., Université de Rennes, September 2008. 18 | Saint-Simon, Premier extrait de L’Organisateur (1819), Œuvres de SaintSimon et d’Enfantin, S. 26, Œuvres choisis, Paris 1956, S. 114 (Hervorhebungen von mir, F.F.). 19 | F. Nietzsche, »Der Philosoph als Arzt der Cultur«, N[23]15, in: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 7, Nachlaß 1869-1874, München 1999, S. 545. In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es zudem: »Ich erwarte immer noch, dass ein philosophischer Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes − ein Solcher, der dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn hat − einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen […]«, ebd., Bd. 3, S. 349.

Die Merkmale der Sozialphilosophie

sie sich als Diagnostik jener Phänomene, die der Soziologe als Störungen, Krankheiten oder Pathologien der Gesellschaft versteht. Von Anfang an machte sich die Sozialphilosophie zur Aufgabe, nicht nur herauszufinden, was in ihrer Zeit an Neuem geschieht, das es zuvor nicht gab, sondern vor allem zu diagnostizieren, woran ihre Zeit und Gesellschaft »krankt«, und was darin die Form sozial pathologischer Phänomene annimmt. Vorbild war dabei Saint-Simon, der seiner Epoche die Diagnose »kritisches Zeitalter« stellte; aber auch, früher noch, Rousseau, der die Pathologien des »soziablen Menschen« diagnostizierte: Ihm zufolge ist der Mensch der aufstrebenden bürgerlichen Vergesellschaftungsweise [sociabilité] entfremdet durch soziale Beziehungen, die ihn zwingen, ›außer sich‹ zu leben, dem Blick und der Meinung der anderen ausgesetzt. Die Aufgabe, die sozialen Pathologien zu diagnostizieren, übernahm anschließend die Soziologie. Das zeigt sich deutlich bei Durkheim und daran, wie er den Sozialismus betrachtet: Den Sozialismus zu studieren, bedeutet für den Soziologen nicht, sich mit dessen Doktrinen auseinanderzusetzen oder diese zu diskutieren, um sie anschließend zu widerlegen. Denn damit würde man »verfehlen, was den Grund und die Substanz [des Sozialismus] ausmacht, nämlich diese kollektive Diathese, diese tief liegende Schwäche, deren bloße Syndrome die einzelnen Theorien sind, wie oberflächliche episodische Manifestationen.«20 Der Sozialismus ist für den Soziologen nur als soziale Tatsache Untersuchungsgegenstand, das heißt nur insofern er sich von einem Studium desselben eine Aufklärung der Ursachen und der Phänomene erhofft, die ihn hervorgebracht haben. Nun sind die sozialen Zustände, die den Sozialismus hervorbringen, gerade die krankhaften und pathologischen Zustände der bestehenden sozialen Ordnung, das heißt das »Unbehagen, das die heutigen Gesellschaften umtreibt«21: Wenn »der Sozialismus ein Schmerzensschrei ist und manchmal auch ein Wutschrei, ausgestoßen von den Menschen, die unsere kollektive Schwäche am tiefgreifendsten spüren«22, dann ist es einerseits angebracht, dem Kranken nicht die Mittel zu verabreichen, die er selbst befürwortet, aber andererseits darf man auch nicht die Empfindungen des Kranken ignorieren, selbst »wenn er sie einer Ursache zu20 | É. Durkheim, Le Socialisme, Paris 1978, S. 29. 21 | Ebd., S. 27. 22 | Ebd.

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schreibt, die nicht die wahre Ursache ist« – denn diese Empfindungen sind »Teil der Diagnostik«23. Kurz, wenn der Sozialismus nicht selbst das Mittel der Wahl ist, dann liegt das, Durkheim zufolge, daran, dass er nur ein Symptom der Pathologie ist, die den sozialen Körper befällt; er ist nur der klarste Ausdruck der Krankheit, die den sozialen Körper zerfrisst.

D as B estehende e valuieren und kritisieren Sozialphilosophie ist viertens eine philosophische Methode, die bezüglich der Gesellschaft, die sie untersucht, einen evaluativen Standpunkt einnimmt, der eine Kritik der bestehenden sozialen Wirklichkeit erlaubt. Es versteht sich, dass diese Evaluation verschiedene Formen annehmen kann. Die Philosophie kann explizit präskriptiv vorgehen oder sich als Mittler und Ausdruck einer dem Wirklichen immanenten Selbstevaluation verstehen, das heißt einer von der sozialen Wirklichkeit selbst durchgeführten Selbstkritik (Letzteres ist die Marx’sche Perspektive). Anders gesagt, damit die Sozialphilosophie Philosophie bleibt, muss sie jedenfalls mehr leisten, als nur eine soziale Wirklichkeit zu beschreiben: Sie darf nicht darauf verzichten, diese auch zu evaluieren und zu kritisieren, was eine Reflexion über die Normen und Kriterien, in deren Namen diese kritische Evaluation stattfinden kann, voraussetzt. Dieses Kriterium kann insbesondere die Idee der »sozialen Pathologie« liefern, die Axel Honneth mit der These formuliert, dass das Charakteristikum der Sozialphilosophie sei, »Fehlentwicklungen« zu diagnostizieren (der Terminus überträgt das ursprünglich der Psychopathologie der Entwicklung entsprungene Konzept auf das Soziale) und die Bedingungen oder Ursachen dieser Fehlentwicklungen herauszuarbeiten.24 Ein solches diagnostisches Unternehmen setzt natürlich ein Konzept dessen voraus, wie genau sich Entwicklungen gestalten müssten, um keine Fehlentwicklungen zu sein und nicht pathologisch zu werden: »Von einer 23 | Ebd., S. 28. 24 | A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, S. 12: »[…] in der Sozialphilosophie [geht es] vordringlich um eine Bestimmung und Erörterung von solchen Entwicklungsprozessen in der Gesellschaft […], die sich als Fehlentwicklungen oder Störungen, eben als ›Pathologien des Sozialen‹, begreifen lassen.«

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›Pathologie‹ des gesellschaftlichen Lebens kann sinngemäß nur dann gesprochen werden, wenn bestimmte Annahmen darüber vorliegen, wie die Bedingungen der menschlichen Selbstverwirklichung beschaffen sein sollen.«25 Hypothesen dieser Art finden sich beispielsweise bei Marx:26 Die sozialen Prozesse wären nicht pathologisch, wenn die Gesellschaft für die Individuen der Ort einer Selbsterfüllung, Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung wäre. Die Kritik der bestehenden sozialen Wirklichkeit und das Ausfindigmachen der sozialen Pathologien, die die bestehende Gesellschaft hervorbringt, geschieht bei Marx ausgehend von der Idee einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, wie es im Manifest der kommunistischen Partei heißt 27. Die Reflexion über die Kriterien, im Namen derer die Kritik an der bestehenden sozialen Wirklichkeit geübt wird, nimmt infolgedessen für die Sozialphilosophie die Form einer Reflexion über die sozialen Bedingungen an, von denen es diejenigen herauszufiltern gilt, die notwendig für die »freie Entwicklung eines jeden« sind. Die Sozialphilosophie konstruiert jedoch nicht das Modell eines Zustandes sozialer Gesundheit von A bis Z, um dann all diejenigen Zustände als pathologisch zu bezeichnen, die diesem abstrakten Modell nicht entsprechen. Es geht nicht darum, das Modell dessen zu konstruieren, was eine rationale soziale Funktionsweise wäre, um anschließend jede Situation als irrational zu bestimmen, die diesem Modell sozialer Rationalität, in welcher Form auch immer, nicht entspricht. Die Sozialphilosophie geht generell nicht von einem Modell sozialer Rationalität aus, sondern von einer ganz anderen Hypothese, die keineswegs weniger Fragen aufwirft: nämlich von der Hypothese, derzufolge die modernen Gesellschaften selbst auf einem Modell sozialer Rationalität basieren, das sie teilweise bereits realisieren. Die Idee, dass die modernen Gesellschaften, wenn nicht auf einer immanenten Rationalität, so wenigstens auf einer immanenten Forderung nach Rationalität beruhen, die noch auf Erfüllung wartet, aber zumindest als Forderung und Perspektive schon vorhanden ist, haben Rousseau, Saint-Simon, Comte, Fichte und Hegel als erste formuliert. Für Rousseau und Fichte etwa basiert die soziale Modernität auf dem zugleich ra25 | Ebd., S. 56. 26 | K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte. 27 | K. Marx, F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 482.

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tionalen und praktischen Ideal dessen, was É. Balibar das »Postulat der Gleichfreiheit«28 nennt. Gerade dieses Ideal, auf dem die modernen Gesellschaften beruhen, ermöglicht es, die Hindernisse zu diagnostizieren, die dieselben Gesellschaften der Verwirklichung rationaler Prinzipien in den Weg stellen, obwohl sie diese selbst einfordern.29 Dasselbe gilt für Marx, wenn er die These aufstellt, dass eine essentielle Bedingung des Kapitalismus darin bestehe, dass der »Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt«30, obwohl die Funktionsweise des Kapitalismus – insbesondere mit dem ausbeuterischen Vertrag, den der Verkäufer der Arbeitskraft vom Besitzer der Produktionsmittel anzunehmen gezwungen ist – die Ungleichheit zwischen dem »Geldbesitzer« und dem »Arbeitskraftbesitzer« gerade etabliert: »Die Sphäre der Zirkulation […], innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.« In dem Moment, in dem man die Sphäre der Zirkulation verlässt und in die der Produktion eintritt, nehmen die Beziehungen zwischen den beiden Hauptprotagonisten dagegen offenbar einen Aspekt an, der das zuvor benannte Eden definitiv illusorisch werden lässt: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und

28 | É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen: Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität., übers. v. Th. Laugstien, Hamburg 2006. Vgl. insbesondere das Kapitel »Drei Begriffe von Politik: Emanzipation, Veränderung, Zivilität«. 29 | É. Balibar (vgl. die vorige Fußnote) zeigt, dass Gleichheit und Freiheit einerseits Forderungen von extremer Radikalität sind, in deren Namen aufständische Kämpfe geführt wurden und noch immer geführt werden können. Andererseits und gleichzeitig sind sie aber auch Prinzipien der Legitimation von Herrschaft. Denn die stabilsten und dauerhaftesten Macht- und Herrschaftssysteme sind gerade diejenigen, die zum Zweck ihrer Legitimation dieselben Worte benutzen, die auch der Widerstand gegen Herrschaftsformen benutzt. Dieselben Worte sind es aber auch, die dazu beitragen können, ein Herrschaftssystem zu delegitimieren, das die Verwirklichung der Ideale, auf die es sich zu berufen vorgibt, verhindert. 30 | K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW Bd. 23, S. 74.

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nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.«31 Man sieht, dass sich die Kritik hier nicht auf Prinzipien oder Normen beruft, oder auf ein Ideal, das der Philosoph konstruiert, sondern auf Prinzipien und Normen, die von der sozialen Ordnung selbst getragen und befördert werden. Im soeben genannten Beispiel geht es um Normen der politischen und sozialen Ordnung (Gleichheit, Freiheit). Die Rationalität der sozialen Ordnung ist hier daher eine praktische Rationalität; bezüglich dieser praktischen Rationalität stellt der Philosoph fest, dass sie als Norm von der sozialen Ordnung selbst eingefordert, und zugleich in ihrer tatsächlichen Funktionsweise zurückgewiesen wird. Aber der Sozialphilosoph kann noch weiter gehen und erkennen, dass die soziale Ordnung, verstanden als kapitalistische Ordnung (und das ist sie in Wirklichkeit mehr als alles andere), eine Rationalität ins Werk setzt, die mehr ist als die Rationalität praktischer Prinzipien und Forderungen: Sie ist die Rationalität der sozialen Ordnung selbst, die Rationalität ihrer Funktionsweise und der Modalitäten ihrer eigenen Reproduktion. Es geht also um den rationalen Charakter der sozialen Organisation selbst, insofern diese zum Beispiel die formalen Verfahren einer rationalen Berechnung von Gewinnmaximierung und Verlustminimierung ins Werk setzt. Man kann somit sagen, dass die kapitalistische Gesellschaft einen höheren Grad an sozialer Rationalität zeitigt, insofern sie gegen diejenigen Organisationsprinzipien eingerichtet wurde, die man im Vergleich weniger rational nennen kann, da sie meist ganz einfach aus der Tradition übernommen wurden. Das ist ebenfalls etwas, das sich bei Marx findet, zum Beispiel in seiner veritablen Verteidigung der Bourgeoisie als revolutionärer Klasse, der er sich im ersten Teil des Manifests der kommunistischen Partei widmet. Denn die Bourgeoisie sei diejenige Klasse, die die rationalen Prinzipien der Organisation des Sozialen vorangetrieben habe: »Die Bourgeoisie hat, wo sie zur Herrschaft gekommen, alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. […] Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut, in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.« Sie hat »dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt«. Aber, dennoch, »erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande

31 | Ebd., S. 189f.

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bringen kann«.32 »Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert«, derart, dass sie »massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen [hat] als alle vergangenen Generationen zusammen«33. Das ist eine vollkommen neuartige rationale Organisation der sozialen Arbeit, der sozialen Produktion und Reproduktion; ihre Resultate befindet Marx für außerordentlich: »Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiff barmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.«34 Was uns hier besonders interessieren wird, ist die Art und Weise, in der Marx diese Verteidigung der zugleich revolutionären und rationalisierenden sozialen Rolle der Bourgeoisie sofort mit einer Kritik der daraus resultierten Gesellschaft verbindet. Der grundlegende Punkt ist dabei, dass die Kriterien dieser Kritik alles andere als beliebig definiert und von außen herangetragen sind. Sie werden, im Gegenteil, mit der zuvor gegebenen Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft direkt mitgeliefert: »Es genügt, die Handelskrisen zu nennen […]: In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion.«35 Die Dysfunktionalitäten und Pathologien der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen erst als solche und erweisen sich erst als irrational, wenn man die Kriterien und Standards der Rationalität betrachtet, die von genau dieser Bourgeoisie selbst etabliert wurden. Namentlich im Hinblick auf eine berechnende Rationalität von Gewinnen und Verlusten erscheinen die Krisen des Kapitalismus, die jedesmal mit einer gigantischen Zerstörung von Produktivkräften und Reichtum einhergehen, als im eigentlichen 32 | K. Marx, Manifest der kommunistischen Partei, S. 464f. 33 | Ebd., S. 466f. 34 | Ebd., S. 467. 35 | Ebd., S. 467f.

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Sinn absolut irrationale Phänomene. Die bürgerliche Gesellschaft liefert somit selbst den Standard von Rationalität, der sie kritikwürdig macht. Wenn sich diese Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft bezüglich einer Irrationalität, die sich an keinem anderen Kriterium von Rationalität misst als an dem dieser Gesellschaft selbst immanenten, bereits bei Marx findet, so hat sie anschließend durch Webers Modernisierungstheorie der Gesellschaften, verstanden als Prozesse einer stets relativen sozialen Rationalisierung, einen entscheidenden Anstoß erhalten. Das protestantische Asketentum hat, Weber zufolge, eine entscheidende Rolle bei der Rationalisierung der Ökonomie gespielt – ein Phänomen, das man als vollkommen irrational verstehen kann, wenn man andere Kriterien heranzieht, etwa eudaimonistische oder hedonistische. Mit Weber wird es möglich, explizit zu sagen, was bei Marx nur implizit war: dass nämlich die Rationalität, die durch die kapitalistische Gesellschaft und durch die darin entfalteten Arten von Tätigkeiten vorangetrieben wird, eine bestimmte Art von Rationalität ist; sie gehört zu der Art von Rationalität, die Weber »Zweckrationalität« nennt 36. Diese unterscheidet sich von denjenigen Tätigkeiten, die auf eine »Wertrationalität« hin orientiert sind (das heißt hin auf den Glauben des Akteurs an den intrinsischen Wert seiner Handlung), sowie von denjenigen, die »affektuell« oder »traditional« ausgerichtet sind. Was also mit und nach Weber möglich wird, ist eine Sozialkritik, die sich nicht damit zufrieden gibt, die modernen Gesellschaften ihren eigenen Maßstäben und Rationalitätskriterien entsprechend zu beurteilen (was Marx macht), sondern die diese Rationalitätskriterien selbst entsprechend den Maßstäben eines erweiterten Rationalitätsbegriffes beurteilt. Der Sinn der Kritik besteht dann nicht mehr darin, zu sagen, dass die modernen Gesellschaften ihre eigenen Rationalitätskriterien missachten, sondern dass diese Rationalitätskriterien nicht jegliche Rationalität ausschöpfen oder auszuschöpfen beanspruchen können. Denn sie verkörpern nur eine partielle und eingeschränkte Form, für deren soziale 36 | Weber definiert sie folgendermaßen: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt« (M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel 1: Soziologische Grundbegriffe, Tübingen 1999, S. 27).

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Verwirklichung auf Kosten anderer Rationalitätsformen es keinerlei Rechtfertigung gibt. Mit dieser Form von Kritik befassen sich in der Folge Webers am eingehendsten G. Lukács37, dann M. Horkheimer38 und Th.W. Adorno. Aber es ist auch klar, dass das Zutagefördern einer »kommunikativen« Form von Rationalität durch J. Habermas, die der sprachlichen und diskursiven Alltagspraxis immanent sei, ihn zu einer Sozialkritik vom selben Typ führte.39

D ie A dressaten identifizieren : D as P roblem des S prechers Und schließlich, fünftens, muss sich eine philosophische Methode, um der Sozialphilosophie zugerechnet werden zu können, an die sozialen Akteure oder Subjekte wenden, die sich, wenn nicht gleich den Standpunkt der Sozialphilosophie selbst, so zumindest ihre Ergebnisse zu eigen machen können, um auf dieser Basis eine Transformation der bestehenden sozialen Wirklichkeit anzustoßen. Wenn sich die Sozialphilosophie an die sozialen Akteure wendet, die ihren Standpunkt in der Gesellschaft verbreiten können, so tut sie dies, insofern sie sich selbst als der sozialen Wirklichkeit eingeschrieben und als theoretischer Ausdruck dessen versteht, was J. Habermas ein »emanzipatorisches Interesse« genannt hat. Dieses wird zunächst von den in der Gesellschaft selbst aktiven Individuen und Gruppen getragen. So ernannte Comte die »Proletarier« zu den Adressaten seiner »positiven Politik« und Marx widmete sein theoretisches Unternehmen den »Arbeitern«, das heißt den Lohnarbeitern der großen Industrie, während die Theoretiker der ersten Generation der Frankfurter Schule auf die soziologische Umfrage zurückgriffen, um die Situation derer zu verstehen, die sie für ihre Adressaten hielten, nämlich die Arbeiter und Angestellten. Wenn es um die Proletarier geht, um die Arbeiter, die Angestellten oder die Frauen, um die kulturellen und sexuellen Minderheiten, um die Armen, die Erniedrigten, die aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen 37 | G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied u.a. 1970. 38 | M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. 39 | J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1982, Bd. 1. Kap. IV und Bd. 2 Kap. V.

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und die ins Prekariat Gezwungenen, allgemeiner: um die Subalternen, so ist der Anspruch der Sozialphilosophie, eine Sprecherrolle für sie zu übernehmen, oder zumindest imstande zu sein, ihren Standpunkt zu vertreten. Dabei stützt sie sich auf eine Überzeugung, die zunächst W. Benjamin40 ausformuliert, später J.-P. Sartre, und in jüngerer Zeit von neuem die Subaltern Studies 41 : Der Standpunkt, den der Sozialphilosoph im Bezug auf die Gesellschaft einzunehmen suchen muss, ist der der innerhalb der bestehenden sozialen Ordnung Beherrschten, das heißt der Standpunkt derer, die die Kritik in die Tat umsetzen und die ein vitales Interesse an der Transformation der Gesellschaft haben. Es geht um eine philosophische wie politische Parteinahme, deren Sinn offensichtlicherweise nicht darin besteht, zu sagen, dass die Beherrschten oder die Unterdrückten zwangsläufig Recht haben,42 sondern die vielmehr auf dem Bewusstsein des Sozialphilosophen für die soziale Verletzbarkeit beruht, die denjenigen Wesen eigen ist, die, als Menschen, nur durch die Sozialisation sie selbst werden können, und die an diese Sozialisation unwill40 | W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Berlin 2010, These VIII. 41 | Benannt nach der Zeitschrift, die sich seit ihrer ersten Ausgabe 1983 eine Geschichtsschreibung Indiens zum Ziel setzte, die weder vom Standpunkt der Kolonialmacht aus betrachtet wird, noch vom Standpunkt der sozialen Eliten des postkolonialen Indien, sondern vom Standpunkt derer, die nicht zur Elite gehören – diese nennt R. Guha, der Gründer der Zeitschrift, die »Subalternen« oder »das Volk«. Bezüglich der Frage, die uns hier beschäftigt, vgl. auch G.C. Spivak, »Can the Subaltern Speak?«, in: Dies., Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. A. Joskowicz u. S. Nowotny, Wien 2007. Besonders viel verdanke ich dem Artikel von E. Renault, »Subalternité, prise de parole et reconnaissance«, in: A. Giovannini, J. Guilhaumou (Hg.), Histoire et subjectivation, Paris 2008, S. 121-139. 42 | Es ist bemerkenswert, dass sich Benjamin im selben Text, in dem er den Historiker dazu einlädt, sich in die Schule der »Tradition der Unterdrückten« zu begeben, über das »Vertrauen« der sozialdemokratischen Politiker »in ihre ›Massenbasis‹« mokiert (W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, These X). Dieselbe Geste lässt sich in den Subaltern Studies erneut ausmachen, deren theoretische Parteinahme bedeutet, »dort, wo [die koloniale Historiographie] uns dazu gebracht hat, Mangel und Unfähigkeit zu lesen«, »Fülle und Kreativität« zu lesen (D. Chakrabarty, »Postcolonialité et artifice de l’histoire. Qui parle au nom du passé indien?«, in: M. Diouf, L’Historiographie indienne en débat, S. 85).

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kürlich Erwartungen herantragen, deren Enttäuschung für sie destruktiv werden kann. Daher der Anspruch des Sozialphilosophen, alltägliches soziales Leiden und alltägliche Verletzbarkeit zu artikulieren und auszuformulieren, das bzw. die Individuen und Gruppen erfahren, die ihre abgewertete und subalterne43 Situation meist daran hindert, sich in einer im öffentlichen Raum als legitim erachteten Weise Ausdruck zu verleihen. Diese Vorgehensweise, die diejenige der Sozialphilosophie wäre, wirft sicherlich auch Probleme auf. Berücksichtigen wir zunächst die Kritik, der die Rolle des Sprechers unterzogen wurde: Die Anmaßung des Philosophen, die Rolle des Sprechers der Beherrschten zu spielen, ist ein Kritikpunkt, in dem sich J. Habermas und M. Foucault treffen (auch mit G. Deleuze). Habermas sieht darin die Haltung, die einzunehmen bisweilen einige Vertreter der Frankfurter Schule verleitet waren; Foucault und Deleuze werfen sie im Wesentlichen Sartre vor. Wenn diese Kritik bedeutet, dass niemand sich ermächtigen darf, anstelle von anderen zu sprechen, weil man damit diesen anderen nur wieder die Kompetenz abspricht, selbst und für sich selbst zu sprechen, so ist das ein Argument, das mir legitim zu sein scheint. Nicht nur kann eine Sozialphilosophie, die ihres Namens würdig ist, klarerweise den Subalternen nicht jegliche Kompetenz absprechen, selbst das Wort zu ergreifen. Ihr Ziel ist es im Gegenteil gerade, diese Kompetenz zu stärken, sowie die sozialen Hindernisse zu bekämpfen und zu beseitigen, die diese Kompetenz ungerechterweise einschränken. Für unzulässig hingegen halte ich diese Kritik an der Rolle des Sprechers, wenn das Argument nur wieder dahin zurückkehrt, einen verschämten Schleier der Ignoranz über die realen sozialen Bedingungen der Herrschaft zu werfen (der Klasse, des Geschlechts oder der Rasse), der die Subalternen tatsächlich daran hindert, dem Sinn, den sie ihren Handlungen, ihren Kämpfen und ihrem Diskurs geben, Gehör zu verschaffen, und zu bewirken, dass dieser Diskurs als legitim erachtet oder auch einfach nur gehört wird. Eine andere Schwierigkeit ist, wie wir bereits weiter oben sagten, dass es auch nicht in erster Linie darum geht, den passiven Zustand des Leidens zu untersuchen und dabei zu vergessen, dass die Akteure auch in 43 | Wie uns E. Renault in seinem bereits zitierten Artikel (»Subalternité, prise de parole et reconnaissance«) erinnert, ist Gramsci der Erste, der den Terminus »subaltern« verwendet, um damit vor allem die Bauern und landwirtschaftlichen Arbeiter von Mezzogiorno zu bezeichnen.

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aktive Kampfprozesse und soziale Praktiken involviert sind, durch die sie ihrem Leiden selbst Abhilfe verschaffen und sich einer sozial abgewerteten Position entziehen. So war die Tradition, an die W. Benjamin erinnert, nicht nur die der »Unterdrückten«, sondern die der »unterdrückten Klasse, die kämpft«44. Das ist nicht ganz dasselbe. Die Sozialphilosophie hat dann nicht mehr so sehr die Position des Sprechers inne, als vielmehr die eher zuarbeitende Position einer Theorie, die sich für die bereits stattfindenden Kämpfe nützlich machen will, beispielsweise indem sie versucht, deren allgemeine Tragweite anzugeben, und indem sie diese Allgemeinheit und Abstraktion zu einem Punkt treibt, der eine neue Radikalisierung der Kämpfe in der Praxis erlaubt und ihnen Sichtbarkeit45 im Raum der legitimen Diskurse über das Soziale verschafft. Die Sozialphilosophie erkennt dabei denjenigen, die soziale Kämpfe in Gang setzen und austragen, eine eigene und spezifische Kompetenz zu – eine Kompetenz, die sie noch weiter stärken will (in einer Logik des Empowerment). Weder beansprucht sie, den Akteuren die Gründe für ihre Kämpfe zu erklären, noch ihnen die Richtigkeit ihrer Handlungsgründe aufzuzeigen. Diese Gründe und Kämpfe veranlassen die Sozialphilosophie, ihnen vielmehr als »Resonanzboden« zu dienen, indem sie sie in einem im eigentlichen Sinne theoretischen Element zum Ausdruck bringt; dieses ist unterschieden vom praktischen Element ihres Entstehens, ihrer Formation und ihrer ersten Ausformulierung, will aber zugleich mit ihm verbunden sein. Es geht also darum, dass »die theoretische Kritik, die nichts als eine Kritik auf dem Papier ist, nicht nur von der Bewegung der sozialen Kämp44 | W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (Hervorhebung von mir, F.F.). Diesen Ausdruck benutzt Benjamin in der französischen Version, die er selbst von seiner Schrift Über den Begriff der Geschichte vorlegte (in: W. Benjamin, Écrits français, J.-M. Monnoyer (Hg.), Paris 1991, S. 345). 45 | Bzgl. der verschiedenen zeitgenössischen Anwendungen des Konzepts der »Sichtbarkeit« vgl. O. Voirol, »Visibilité et invisibilité : une introduction«, in: Réseaux, 2005/1, insbes. S. 18-19, wo er schreibt: »Die Kritik, die erhoben wird, um die Unsichtbarkeit einer Situation, bestimmter Tätigkeiten oder sozialer Gruppen zu bemängeln, trägt dazu bei, sie als intelligible Entitäten erscheinen zu lassen und damit sichtbar zu machen. Die Kämpfe um Sichtbarkeit, die fordern, dass ungerechterweise ignorierte Praktiken mehr Aufmerksamkeit bekommen, können zu Transformationen in der ›Hierarchie des Sehens‹ führen.«

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fe durchdrungen wird, sondern bei Bedarf gleichermaßen als Resonanzboden für die unhörbaren und als abstraktes Gesicht für die unsichtbaren Prekären dienen kann.«46 Diese Art und Weise des Zusammenspiels der Sozialphilosophie mit den Kämpfen ist entscheidend. Denn die Diskurse, die die Akteure der Kämpfe selbst führen, werden meist disqualifiziert und aus dem Raum legitimer Diskurse ausgeschlossen; und dies gerade weil sie von denjenigen geführt werden, die die Auswirkungen der Klassen-, Geschlechts- oder Rassenherrschaft erleiden müssen. Die Intervention der Sozialphilosophie zielt darauf ab, die Diskurse der Subalternen über ihren Zustand, ihr Handeln und ihre Hoffnungen zu verbreiten, ihnen Gehör zu verschaffen und sie dadurch auch zu legitimieren. Aber das setzt voraus, dass die »Unterdrückten« in Kampfprozesse involviert sind. Nur dann kann die Sozialphilosophie in Betracht ziehen, sich in den Dienst eben dieser Kämpfe zu stellen.47 Nun ist dies bei weitem nicht immer der Fall, und eines der für die Entwicklung unserer Gesellschaften charakteristischen Probleme – das G. le Blanc ins Zentrum seiner sozialphilosophischen Diagnose stellt – ist gerade die Existenz solcher Phänomene von Abstieg und sozialer Präkarisierung, die ihre Opfer sozial delegitimieren, fragilisieren und unsichtbar machen. Was dabei grundsätzlich in Frage steht, ist die Möglichkeit des Ingangsetzens und Einleitens eines Kampf- oder Widerstandsprozesses selbst: Haben sie überhaupt noch die Möglichkeit, sich das Unrecht, das ihnen geschieht, zu vergegenwärtigen? Genau das ist fraglich. Zu Recht stellt G. le Blanc folgende Fragen: »Wenn sich die Verweigerung der Anerkennung so gestaltet, dass sie die Stimme dessen, der missachtet wird, aufhebt – wie soll dann der Kampf um Anerkennung in Gang kommen? Wenn die Verweigerung der Anerkennung dem missachteten Menschen selbst unsichtbar gemacht wird – wie soll man dann noch die Möglichkeit eines Kampfes um Anerkennung garantieren?«48 Wer einen Kampf um Anerkennung in 46 | G. le Blanc, Vies ordinaires, vies précaires, S. 166. 47 | Anders gesagt, den Diskurs der Subalternen bekannt machen zu wollen, setzt eine »Autonomie eines politischen Subjekts [voraus], das bereits konstituiert wäre; es ginge dann nur noch um die Weitergabe seiner praktischen und kognitiven Dynamiken« (E. Renault, »Subalternité, prise de parole et reconnaissance«) – aber eine solche Autonomie ist bei weitem nicht selbstverständlich und setzt Bedingungen voraus, die selbst gerade Gegenstand des Kampfes sind. 48 | G. le Blanc, Vies ordinaires, vies précaires, S. 217.

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Gang setzt, tut dies nicht ohne die Hoffnung, sich Gehör zu verschaffen und gehört zu werden. Doch es gibt Formen der Marginalisierung, die den Betroffenen jegliche Möglichkeit entziehen, sich Gehör zu verschaffen; bis schließlich selbst die Hoffnung, gehört zu werden, im Keim erstickt.49 Die Missachtung, deren Opfer es ist, wird hier dem missachteten Leben selbst unsichtbar gemacht, und zwar bis hin zu dem Punkt, an dem die Möglichkeit von Kampf und Widerstand selbst fraglich wird. Und wenn man, im besten Falle, davon ausgeht, dass Kampf und Widerstand doch in Gang kommen – dann gibt es hier keine Garantie mehr, dass diese selbst noch sozial sicht- und hörbar sind. Genau hier interveniert ein Konzept der Funktion der Sozialphilosophie, das nicht länger die Rolle eines Sprechers einnimmt (der Kämpfe, die bereits ausgetragen werden, und der Subjekte, die bereits konstituiert sind), sondern die eines Sprachrohrs im doppelten Sinne, wie G. le Blanc es präzisiert: »Der unhörbaren Stimme eine Stimme zu geben, damit sie hörbar wird, und ihre Stimme demjenigen zu leihen, der keine hat oder dessen Stimme keinen Bezug zum Leben hat.«50 Es geht also nicht nur darum, Sprecher derjenigen zu sein, deren Wortmeldungen als disqualifiziert und illegitim gelten und nicht anerkannt sind, sondern auch darum, den ansonsten sozial unhörbaren, weil marginalisierten, abgeschotteten, weit entfernten Stimmen Echo und Widerhall zu verleihen, sie also zu verstärken. Genau diese Rolle scheint mir zweifellos das von P. Bourdieu herausgegebene, in Frankreich 1993 erschienene Buch Das Elend der Welt zu übernehmen, auch wenn G. le Blanc es an dieser Stelle nicht zitiert.51 Zugleich gibt es hier aber ein Problem, über das sich G. le Blanc möglicherweise nicht ganz im Klaren ist. Er geht davon aus, dass man, wenn man seine Stimme den abgewerteten und unhörbar gemachten Stimmen 49 | Dies gilt auch für die Individuen, die sich in mehreren Formen von Beherrschung gleichzeitig befinden, wie beispielsweise die afroamerikanischen Frauen. Sie sind gleichzeitig einer Beherrschung hinsichtlich ihres Geschlechts, ihrer Rasse und ihrer Klasse ausgesetzt. E. Dorlin stellt im Bezug hierauf fest, dass »die sich überschneidende Struktur von Beherrschung jegliche Mobilisierung in einer aporetischen Situation zurücklässt, die destruktive und destrukturierende Auswirkungen auf die sozialen Bewegungen hat« (E. Dorlin, Sexe, genre et sexualités, Paris 2008, S. 81). 50 | Ebd., S. 217. 51 | [Die deutsche Ausgabe erschien 2005, Anm. d. Ü.]

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leiht, mit dem Ziel, sie zu verstärken und ihnen als Resonanzboden zu dienen, automatisch die Sprache dieser Stimmen in eine Sprache übersetzt, die nicht ursprünglich die ihre ist (nämlich jene der Philosophie). Diese Rolle der Übersetzerin setzt er voraus und vertraut sie explizit der Sozialphilosophie im Modus der Sozialkritik an. Er will »zu einer Philosophie der Übersetzung beitragen« als dem »einzigen Mittel, die Sozialkritik zu erneuern«, und weist ihr als eine ihrer Hauptaufgaben »die Wiederherstellung der Stimme der Prekären zu«52 . Sicherlich, G. le Blanc insistiert zu Recht darauf, dass die Prekären diese Übersetzungsarbeit bisweilen selbst übernehmen, insbesondere wenn sie im Kontext von Kämpfen die Sprache der offiziellen Politik in ihre Sprache übersetzen. So wurde beispielsweise im Lauf der Demonstrationen des Jahres 2006 der »Ersteinstellungsvertrag« [»Contrat première embauche«]53 übersetzt in »Arbeitslosigkeit, Prekarität, Exklusion«; oder, zur selben Zeit, die republikanische Devise in: »Freiheit, Prekarität, Brüderlichkeit.«54 Es ist eine Sache, dass die Prekären in ihren Kämpfen den offiziellen politischen Diskurs übersetzen; eine andere Sache aber ist es, dass der Philosophie, namentlich der Sozialphilosophie, die Aufgabe einer Übersetzung der Sprache der Prekären zukommen soll (nämlich in die Sprache der Philosophie). Letzteres ist meines Erachtens keineswegs selbstverständlich. Abgesehen davon, dass es keinerlei Garantie dafür gibt, dass eine solche Übersetzung in die Philosophie nicht zu einer Verfälschung führt, sehe ich persönlich überhaupt keine Notwendigkeit einer doppelten Übersetzung »der politischen Sprache in die Sprache der Prekären«, und dann »der Sprache der Prekären in die philosophische Sprache«55. So gerne ich G. le Blanc zustimme, wenn er der Sozialkritik die Aufgabe anvertraut, »die prekarisierte Stimme aufzugreifen, um ihre Verbreitung zu

52 | Ebd., S. 18. 53 | [Der »contrat première embauche« sollte es Unternehmen ermöglichen, jeden Neueingestellten unter 26 Jahren ohne jede Angabe von Gründen in den ersten beiden Beschäftigungsjahren wieder zu entlassen. Nach massiven Protesten nahm die Regierung unter J. Chirac und D. de Villepin den Vertragsentwurf schließlich wieder zurück. Anm. d. Ü.] 54 | Vgl. den Kommentar G. le Blancs zu dieser Übersetzung der republikanischen Devise (ebd., S. 22). 55 | Ebd., S. 20.

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garantieren und ihre am leisesten widerhallenden Echos zu verstärken«56, so sehr widerstrebt es mir, dies als eine Übersetzung zu verstehen oder zu interpretieren. Verbreiten ist nicht gleichbedeutend mit Übersetzen, außer offensichtlicherweise dann, wenn es darum geht, ein Werk über seinen ursprünglichen Sprachraum hinaus bekannt zu machen. Aber das setzt mindestens zwei verschiedene Sprachen voraus. Dass man die Sprache der Philosophie im Verhältnis zur Alltagssprache der Prekären als eine Fremdsprache verstehen kann, ist aber überhaupt nicht ausgemacht. Oder besser: Die Metapher der Übersetzung impliziert oder setzt voraus, dass man so tut, als handelte es sich um zwei verschiedene Sprachen. Aber genau das ist das Problem, denn von dieser Voraussetzung kann man nicht ausgehen. Wenn sich die Sozialphilosophie selbst als eine Sprache versteht, in die man die Sprache der Prekären oder der Subalternen übersetzen müsste – riskiert sie dann nicht, selbst genau der Rolle, die sie eigentlich spielen will, nämlich die Stimmen der Prekären zu verstärken und ihr Sprachrohr zu sein, zu unterminieren? Anders gesagt: Mir scheint, man kann nicht den Beherrschten eigene Kompetenz zuerkennen und ihnen zutrauen, dass sie die guten Gründe für ihre Kämpfe selbst benennen können, und gleichzeitig behaupten, dass diese Gründe von der Sozialphilosophie in die Sprache der Sozialphilosophie übersetzt werden müssten. Denn damit sagt man, scheint mir, nicht nur, dass die Sprache der Philosophie eigene Merkmale habe (das gebe ich gern zu), sondern auch, dass diese philosophische Sprache für die Alltagssprache, in der die Motive und Gründe für die Kämpfe formuliert werden, eine Fremdsprache sei, in die sie erst übersetzt werden müsste. Das Problem liegt hier nicht nur in den Besonderheiten oder speziellen Eigenheiten der im eigentlichen Sinne philosophischen Sprache, sondern darin, dass man sie als der Alltagssprache gänzlich äußerlich oder fremd versteht. Darin sehe ich eine Tendenz, die Philosophie im Allgemeinen, und die Sozialphilosophie im Besonderen, als Spezialistensprache zu verstehen; das wird ihr aber nicht ganz gerecht. Im Übrigen ist genau das der Unterschied zwischen der Sozialphilosophie und den Sozialwissenschaften: Die Soziologie ist sehr weitgehend zu einer Expertensprache geworden, was auch erklärt, warum die Beherrschten (seien sie in Kämpfe

56 | Ebd.

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involviert oder nicht) ihr misstrauen.57 Der große Vorteil der Sozialphilosophie gegenüber den Sozialwissenschaften besteht, scheint mir, genau darin, dass sie keine Expertensprache verwendet und daher direkt an die Alltagssprache anknüpfen kann, in der die gegen die Bedingungen ihrer Beherrschung Kämpfenden ihre Gründe formulieren. Sie kann die Gebrauchsweisen dieser Alltagssprache des Kampfes reflektieren und beispielsweise helfen, deren Voraussetzungen zu hinterfragen und zu klären, worum genau es überhaupt geht – und zwar innerhalb dieses Sprachgebrauches selbst, ohne eine Position von außen oder von oben herab einzunehmen. Zu diesem Zweck kann die Sozialphilosophie auf das theoretische Ressourcenarsenal der Sozialwissenschaften zurückgreifen. Wenn dann an dieser Stelle doch wieder eine Übersetzungsaufgabe auf sie zukommt, so besteht diese nicht in einer Übersetzung der Alltagssprache der Kämpfe in die Sprache der Philosophie, sondern in einer Übersetzung der Expertensprache der Sozialwissenschaften in die Alltagssprache, um die von den Sozialwissenschaften geschmiedeten begrifflichen Werkzeuge für die Kämpfe anwendbar zu machen. Ich würde also sagen, dass die Sozialphilosophie eine vermittelnde Position zwischen der Alltagssprache und der technischen Expertensprache der Sozialwissenschaften einnimmt. Diese Position versetzt sie in die Lage, die Rolle eines Mediators zwischen beiden zu spielen. Ihre Funktion als Resonanzboden bedeutet dann nicht nur, dass sie die Stimme der Stimmlosen verstärkt; sie übersetzt auch, umgekehrt, die wissenschaftlichen Konzepte der Expertensprache der Sozialwissenschaften in die Alltagssprache. Man sieht also: Wenn diese Frage der Rolle der Sozialphilosophie als Sprecherin oder Sprachrohr so oft Gegenstand der Diskussion ist, nicht zuletzt Gegenstand polemischer Diskussion,58 so liegt das daran, dass es 57 | Auf das sich Luc Boltanski beruft, um zu sagen, wie sehr es ihn in seiner Arbeit als Soziologe stört. 58 | Vgl. beispielsweise die Kritik, die D. Trom gegen das richtet, was er in seinem Buch La Promesse et l’obstacle. La gauche radicale et le problème juif, Paris 2007, v.a. S. 80f., »radikale Sozialkritik« nennt. Zu Recht stellt er fest, dass »sich die kritische Theorie, als Sprecherin des Leidens, als die Instanz begreift, die soziales Leiden in politischen Kampf verwandelt« (S. 81); man wundert sich jedoch, dass die kritische Theorie gleich danach vom Autor disqualifiziert wird, da sie sich auf einem Pathos der Viktimisierung ausruhe, die sich selbst auf eine illegitime Identifizierung des Leidens der Opfer des Kapitalismus mit dem Leiden der in die

Die Merkmale der Sozialphilosophie

bei dieser Frage in Wahrheit um die Frage der politischen Reichweite und den eigentlichen politischen Sinn der Sozialphilosophie im Speziellen, und der Philosophie im Allgemeinen geht. Ich selbst habe hier die Sozialphilosophie von der politischen Philosophie unterschieden, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung nicht bedeutet, dass sich die Sozialphilosophie nicht für politische Fragen und Probleme interessiert. Das sehen wir nun klar bestätigt. Eine der Hauptaufgaben, die die Sozialphilosophie übernimmt, ist gerade eine politische Aufgabe: nämlich herauszufinden, wie man dafür sorgen kann, dass die sozialen Probleme politisiert oder politisch werden, und dass die Individuen und Gruppen ihre Forderungen als politische Forderungen formulieren. Damit meine ich nicht, dass sich die Individuen und Gruppen in organisierten politischen Bewegungen zusammentun, sondern dass sie ihr Handeln und ihre Diskurse selbst im Sinne einer sozialen Transformation verstehen. Man sieht hier einmal mehr, dass die Sozialphilosophie unter »Politik« anderes und mehr versteht als lediglich Fragen politischer Organisationsweisen und politischer Parteien, und damit auch anderes als die Übernahme und Ausübung politischer Macht, das heißt staatlicher Macht. Unter »Politik« versteht die Sozialphilosophie die Wendung und Gestalt, die die Akteure ihren eigenen Diskursen und Praktiken geben, sobald sie die soziale Organisation von ihrer untergeordneten Position aus selbst in Frage stellen, und sobald sie eine mögliche Transformation dieser sozialen Organisation ins Auge fassen, die sie von ihrer untergeordneten Position emanzipiert.59 Vernichtungslager der Nazis Deportierten berufe. Was soll man dazu sagen. Man kann nur daran erinnern, dass sich die Sozialphilosophie, wenn ihre Methode kritisch ist (unnötig hinzuzufügen: »radikal«, vor allem, wenn man nie präzisiert, was genau damit gemeint sein soll) auf keinerlei Pathos der Viktimisierung beruft, sondern einzig und allein auf die Feststellung der menschlich entfremdenden und sozial und ökologisch destruktiven Auswirkungen des aktuellen Wirtschaftssystems. 59 | Dies lässt sich, scheint mir, kaum besser formulieren, als es Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus (übers. v. M. Hintz, Wien 2006, S. 193) tun: »Wenn wir hier vom ›politischen‹ Charakter dieser Kämpfe sprechen, dann zweifellos nicht im restriktiven Sinne von Forderungen auf der Ebene der Parteien und des Staates. Wir beziehen uns auf einen Handlungstyp, dessen Ziel die Transformation eines sozialen Verhältnisses ist, das ein Subjekt in einem Verhältnis der Unterordnung konstruiert.«

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Kapitel 4 Die Umtriebe des »Sozialen«

Wer die Besonderheiten einer sozialphilosophischen Tradition herausarbeiten will, muss offensichtlicherweise Stellung bezüglich der Frage beziehen, wie die Philosophie zu dem »Sozialen« in seinem landläufigen Sinne steht, der etwa gemeint ist, wenn man davon spricht, dass sich eine Regierung nicht ausreichend »um soziale Angelegenheiten kümmere«, oder wenn man feststellt, dass die Europäische Union ein ökonomisches und kein »soziales« Europa sei.

D as S oziale als »P roblem « und als »F r age « Die Frage, die sich stellt, ist somit, ob unter Sozialphilosophie eine Philosophie zu verstehen ist, die in das Soziale eingeht, oder die sich um soziale Angelegenheiten kümmert. Anders gesagt: Es geht darum, das Verhältnis zwischen der Sozialphilosophie und dem Sinn des »Sozialen« zu bestimmen, den Littré wie folgt definiert: »Mit sozial bezeichnet man im Gegensatz zu politisch die Bedingungen, die, sieht man einmal von der Regierungsform ab, auf die intellektuelle, moralische und materielle Entwicklung der Volksmassen Einfluß haben.«1 Der erste Verdienst dieser Definition eines – vergessen wir das nicht – positivistischen Schülers von Comte ist es, dass sie das Soziale vom Politischen trennt. Das Soziale in diesem Sinne umfasst sämtliches Wissen, sämtliche Techniken und Praktiken, die für eine Bestimmung der Bedingungen nötig sind, unter 1 | Zitiert nach R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, übers. v. A. Pfeuffer, Konstanz 2000, S. 214.

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denen eine Entwicklung der unteren Bevölkerungsschichten in materieller, moralischer und intellektueller Hinsicht möglich wird, die die Kluft zu den mittleren und oberen Schichten verringern kann. Das setzt jedoch voraus, dass man zunächst über die geeigneten Mittel verfügt, die Auswirkungen der für die »Volksmassen« entwicklungsschädlichen Bedingungen (physisch, materiell, moralisch und intellektuell in Hinsicht auf das, was man in einer gegebenen Gesellschaft »normal« nennen kann), weitestmöglich zu neutralisieren. Genau das heißt es, sich »um soziale Angelegenheiten zu kümmern«. Littrés Definition davon zeigt uns, dass man, zumindest vorerst (wenn man grob das Ende des Zweiten Kaiserreichs und die Anfänge der Dritten Republik einbezieht), nicht bedacht hat, dass es sich dabei um ein im eigentlichen Sinne politisches Ziel handelt, das als solches Angelegenheit des Staates wäre. Diese Zeit war die Geburtsstunde der »Sozialökonomie«, zu deren Hauptvertretern man sicherlich F. Le Play rechnen kann (den Gründer der Societé d’économie sociale, Berater Napoleons III. und Autor des 1867 erschienenen Buches La Réforme sociale en France). Es ging darum, die Wirtschaft mit sozialen Korrektiven zu versehen, beispielsweise in Form von Hilfe für die Bedürftigen, Zuwendungen von Seiten des Arbeitgebers [patronage patronal] sowie Sparinstituten – unabhängig von staatlicher Intervention und, wie Littré sagt, abgesehen von der konkreten Form der Regierung. Wenn ich im Rahmen einer Kriterienbestimmung der Sozialphilosophie behaupte, dass diese eine Philosophie ist, die das Soziale vom Politischen unterscheidet und die Gesellschaft vom Staat, so hat das »Soziale« dabei nicht den soeben genannten Sinn, den man etwa auch meint, wenn man beispielsweise von den zum »sozialen Sektor« gehörigen Berufen spricht. Das Soziale, wie ich es in meinem Kriterienkatalog benutzen würde, bezeichnet das, was Durkheim häufig die »soziale Ordnung« nennt. Damit meint er eine Ordnung von Phänomenen sui generis, die gleichberechtigt neben den natürlichen oder physischen Phänomenen existieren, und die man in ihrer spezifischen Besonderheit nur verstehen kann, wenn man sie nicht mit den politischen Phänomenen verwechselt und auch kein Konzept auf sie anwendet, das ursprünglich für die politischen Phänomene ausgearbeitet wurde (Letzteres wäre zum Beispiel der Fall, wenn man das Soziale erklären zu können meint, indem man von einer Theorie des Vertrags zwischen Individuen ausgeht – dabei sind die Konzepte, die mit »Verträgen« und »Individuen« arbeiten, gerade die Ergebnisse und Produkte einer bestimmten sozialen Entwicklung). Das

Die Umtriebe des »Sozialen«

Soziale, so verstanden mit Durkheim im Anschluss an Saint-Simon und Comte, bezeichnet in diesem Fall eine besondere Ordnung von Phänomenen innerhalb des Wirklichen, einen spezifischen Bereich des Wirklichen, der den physischen oder organischen Phänomenen gleichwertig ist; als Forschungsbereich unterliegt es damit einer Wissenschaft, deren Ziel die Bestimmung der Gesetze ist, die in spezifischer Weise die sozialen Phänomene regieren. Kurz, dieser Sinn des »Sozialen« hat nichts zu tun mit dem Sinn, der gemeint ist, wenn jemand davon spricht, dass er »im sozialen Bereich« arbeitet, das heißt in einem Beruf, der zu dem gehört, was man den »sozialen Sektor« nennt. Was ist überhaupt der »soziale Sektor« genau und was bedeutet »sozial« in diesem Fall? Der damit gemeinte Sinn von »sozial« ist der, den Deleuze den »bizarren, erst vor Kurzem entstandenen und zunehmend wichtigeren Sektor« nennt,2 und auch der Sinn, auf den J. Donzelot, einer der wichtigsten Theoretiker des Begriffes, anspielt, wenn er von ihm als einem »hybriden Register«3 spricht, in dem sich Ökonomie und Politik, das Private und das Öffentliche kreuzen. Die Probleme, die aus dem ökonomischen Bereich der Handelsproduktion stammen und eine palliative oder korrigierende Intervention des Staates erfordern, gehören in diesem Sinne zum »Sozialen«. Bezeichnenderweise meint das Soziale in diesem Sinne weniger eine spezifische Ordnung von Phänomenen oder »Tatsachen«, als vielmehr ein bestimmtes Register von Problemen, die es zu lösen gilt, und von Aufgaben, die zu diesem Zweck zuvor erledigt werden müssen. Das erste dieser Probleme ist genau das, was wir weiter oben ganz klassisch die »soziale Frage« genannt haben. Das Aufkommen der sozialen Frage seit den 1830er Jahren spielte eine wichtige Rolle bei der Herausbildung und Festigung eines sozialkritischen oder gesellschaftskritischen philosophischen Paradigmas. Eine ebenso beachtliche Rolle spielte es bei der Herausbildung des Konzepts des »Sozialen«, in einem Sinne, den wir hier gerade untersuchen. Um das zu verstehen, muss man sich daran erinnern, dass man mit der »sozialen Frage« die Probleme meinte, oder besser: die entscheidende Dysfunktion aufgrund einer Armutserscheinung, die nicht mehr die Erwerbslosen be2 | G. Deleuze, »Der Aufstieg des Sozialen«, Nachwort zu J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, übers. v. U. Raulff, Frankfurt a.M. 1979, S. 244. 3 | J. Donzelot, L’Invention du social. Essai sur le déclin des passions politiques, Paris 1994, S. 262.

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traf (also die, die keine Arbeit hatten oder nicht in der Lage waren zu arbeiten), sondern gerade die Arbeiterklasse, das Arbeitervolk der Großindustrie. In einem erweiterten und retrospektiven Sinne kann man sicherlich sagen, dass sich die soziale Frage auch schon vor dem industriellen Zeitalter stellte, dass sie aber damals die Probleme betraf, die Bettelei, Vagabundentum und Armut aufwarfen (das Problem der Armut vor allem dann, wenn diese mit Krankheit einherging). Denn diese frühere soziale Frage stellte sich im Bezug auf die Ränder der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens; das gilt nicht mehr für die soziale Frage des 19. Jahrhunderts und die industrialisierte Welt. Nunmehr hat man es mit einer sozialen Frage zu tun, die das Ganze der Gesellschaft in Frage stellt – denn sie betrifft nicht mehr deren Ränder, sondern deren Kern. Die Armen sind von nun an Arbeiter, und genau das ist das Problem und zugleich das Neue am Problem. Solange Armut die Erwerbslosen betraf, die nicht Arbeitenden, die Vagabunden, die Marginalisierten und andere »Parasiten« jeglicher Couleur, war Armut nur ein moralisches Problem. Sie wird erst zum »sozialen« Problem, als sie auf einmal sozial integrierte Bevölkerungsgruppen betrifft, die ein wichtiges Element der nunmehr für die Industriegesellschaften charakteristischen sozialen Teilung der Arbeit geworden sind. Daher können wir R. Castel nur schwer folgen, wenn er schreibt: »Die soziale Frage stellt sich explizit an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens, sie stellt gleichwohl auch die gesamte Gesellschaft ›in Frage‹«.4 Im Bezug auf die vormodernen Formen der sozialen Frage ist das sicherlich zutreffend, und im Bezug auf eine der aktuellen Formen der sozialen Frage gilt es wahrscheinlich auch heute wieder, insofern sie von den sogenannten Ausgeschlossenen gestellt wird, die Castel die »Überzähligen« nennt. Ob man dies jedoch auch von der industriellen Lohnarbeitswelt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts behaupten kann, ist fraglich. Denn massiv von Armut betroffen waren darin weder die Vagabunden, noch die Überzähligen, sondern tatsächlich die »Inkludierten«, nämlich die Lohnarbeiter und ihre Familien5. Dieselbe Idee findet sich an zentra4 | R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 20 (Hervorhebung von mir, F.F.). 5 | Erinnern wir uns daran, dass dies auch heute im Bezug auf diejenigen gilt, die man die »Prekären« nennt: im Unterschied zu den »Ausgeschlossenen« oder »Verstoßenen« sind die »Prekären« »eingeschlossen«, und zwar vor allem meist auch einge-

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ler Stelle in R. Castels Buch: »Nach wie vor der Industrialisierung stellt sich die soziale Frage ausgehend von der Situation der offenbar an den Rand gedrängten Bevölkerungsgruppen; nichtsdestotrotz betrifft sie die ganze Gesellschaft.«6 Das »offenbar« schwächt die Aussage ein wenig, aber der Kontext macht deutlicher, was R. Castel unter »an den Rand gedrängt« versteht. Die arbeitende Bevölkerung kann 1848 in Frankreich auf etwa vier Millionen Menschen geschätzt werden. Wenn man von dieser Zahl diejenigen abzieht, die in einer ländlichen oder semi-ländlichen Umgebung arbeiten, bleiben nur noch 1,2 Millionen vollzeitbeschäftigte »Industriearbeiter« übrig. Von diesen arbeitet nur die Hälfte in den großen industriellen Ballungsgebieten (diese haben sich in Frankreich erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts voll entwickelt). »An den Rand gedrängt« bedeutet also für R. Castel nicht »periphär«, sondern »minoritär«, und die Armut der Industriearbeiter bleibt R. Castel zufolge ein »Randproblem« im Sinne eines »Minderheitenproblems«, das heißt im Sinne einer Tatsache, die einen nicht-mehrheitlichen Teil der Bevölkerung betrifft. Allerdings wird diese soziale Tatsache nicht weniger wichtig dadurch, dass die von ihr betroffene Bevölkerungsgruppe in der Minderheit ist. Schließlich bezeugt sie, dass sich die Industriegesellschaft nur dadurch entwickelt, dass sie die Bevölkerungsgruppe, deren Arbeit ihre Entwicklung erst ermöglicht, in Armut hält. Jedenfalls gab es nach dem Auftauchen der sozialen Frage den Willen, sich um »soziale Angelegenheiten zu kümmern«; man tat dies sicherlich zunächst eher annäherungsweise und mit den Mitteln, die man gerade zur Verfügung hatte. So appellierte man etwa an die Menschenliebe der Arbeitgeber oder predigte den Arbeitern die Tugenden des Sparens und der Körperhygiene. Alldas war aber nur provisorische Bastelei, wenn man an die großen Innovationen des ausgehenden 19. Jahrhunderts denkt: Die Förderung von »Sozialeigentum«, die Erfindung der Sozialversicherung und, von allgemeinerer Art, die Gesamtheit der »Versicherungstechniken«.

schlossen in die Arbeitswelt. Sie leiden unter Prekarität in zweifacher Hinsicht, häufig unter beidem gleichzeitig: Prekarität der Arbeit (zeitlich begrenzter Arbeitsvertrag) oder Prekarität bei und auf der Arbeit (verschlechterte Arbeitsbedingungen). 6 | Ebd., S. 227.

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W ozu (und wem) hat die »E rfindung des S ozialen « gedient ? Auch wenn ich weit davon entfernt bin, J. Donzelots Enthusiasmus zu teilen, so hat er doch zweifellos Recht damit, die historische Tragweite der Errungenschaft der Versicherungstechniken und der »Erfindung des Sozialen« (wenn nicht durch Erstere ermöglicht, so zumindest durch sie vorangetrieben) zu betonen. Und doch möchte ich gerade den Verdacht nähren, dass die Konstituierung des »Sozialen« zu einer sehr merkwürdigen Operation gehört, die ein Problem nicht direkt entschärft, indem sie es konfrontiert, sondern es vielmehr auf die ganze Gesellschaft ausbreitet und dadurch auflöst. So wird es indirekt entschärft: Man benennt die »sozialen« Probleme als solche, indem man sie paradoxerweise im Ganzen der Gesellschaft auflöst. Damit sind sie nicht mehr die Probleme von bestimmten Personen oder Gruppen, sondern Allerweltsprobleme. Deleuze schreibt, dass »die Frage […] weder [ist], ob es eine Mystifikation des Sozialen gibt, noch welche Ideologie es ausdrückt« 7. Diese Frage nicht zu stellen fällt uns dennoch, zugegebenermaßen, sehr schwer; und noch schwerer fällt es, die Gründe zu verstehen, aus denen er sie nicht stellen will, vor allem wenn man bei J. Donzelot liest, was die »Erträge« dieser »Erfindung des Sozialen« sein sollen. Was für Erträge sind das? Was hat man diesem »progressiven Aufstieg des Sozialen, diesem hybriden Genre, das sich dort auftat, wo das Bürgerliche auf das Politische traf«8 zu verdanken? Man hat ihm zu verdanken, antwortet J. Donzelot, dass »die Affirmation der allen gleichermaßen zukommenden Souveränität und die Verherrlichung der freiwilligen Brüderlichkeit, die die Kraft der Revolutionäre ausgemacht hatten, durch eine Moral der Solidarität ersetzt wurden – die sich auf die Notwendigkeit beruft, mehr die sozialen Beziehungen zusammenzuhalten, als den republikanischen Traum einer freiwilligen 7 | G. Deleuze, »Sozialer Aufstieg«, S. 245. Im Kontext versteht man, was G. Deleuze damit meint, dass man diese Frage nicht vor einer Untersuchung der Herausbildung des Sozialen stellen darf. Am Ende der Untersuchung kann es aber »um so besser […] dem Leser überlassen [werden], selber seine Schlüsse über die Umtriebe und Antriebe des Sozialen zu ziehen« (ebd.). Das sagt einiges über Deleuzes Bewusstsein von diesen »Umtrieben« und »Antrieben«. 8 | J. Donzelot, L’Invention du social, S. 10.

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Gesellschaft aufrechtzuerhalten.«9 Man hat ihm weiter zu verdanken, dass »wir nicht mehr im Namen des Rechts und für das Recht kämpfen, sondern für unsere Rechte, unsere sozialen Rechte; diese definieren spezifische Privilegien oder lokale Kompensationen, die dieser oder jener Gesellschaftsgruppe aufgrund von Einzelschäden gewährt werden, die sie eigentlich aufgrund der sozialen Teilung der Arbeit hinnehmen sollte«10. Man hat ihm zu verdanken, dass »sich die absolute Forderung nach Gerechtigkeit verflüchtigt hat zugunsten von Streitigkeiten über die Relativität der Chancen, von der die einen profitieren, und für deren Risiken die anderen haften«11. Und schließlich hat man ihm zu verdanken, dass »der Begriff von Verantwortung langsam einer Vergesellschaftung von für pure Zufälligkeiten gehaltenen Lebensrisiken gewichen ist, eine Vergesellschaftung, die das Unglück der Anderen niemandem mehr anlastet und die von niemandem mehr ihr Glück einfordert.«12 Das sind im Endeffekt die großen Erträge; die Tatsache der Entschärfung der sozialen Konfliktualität ist dabei nicht der unwichtigste. Denn das »Soziale« verdrängt die Vorstellung von der Gesellschaft als einem konfliktuellen Kraftfeld, einem Ort der Konfrontation zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen denen, die von der sozialen Ordnung profitieren, und denen, denen sie schadet – oder zumindest erlaubt es eine solche Auflösung. Es ist die Vorstellung dieser großen Trennung, dieses großen Antagonismus von Klassen, den die Erfindung des »Sozialen«, die Kategorie der »Solidarität« und die damit einhergehenden Versicherungstechniken entschärfen. Die Analyse der Gesellschaft erfolgt von nun an nicht mehr in Begriffen des Konflikts zwischen denen, die die Gesellschaft bereichert, und denen, die sie in die Armut treibt, zwischen denen, die herrschen, und denen, die beherrscht werden. In der Gesellschaft, deren Funktionsfähigkeit vom »Sozialen« abhängt, ist jeder ein bisschen Gewinner und jeder ein bisschen Verlierer; jeder herrscht in einer bestimmten Hinsicht und wird in einer anderen Hinsicht beherrscht; jeder ist ein bisschen Profiteur und ein bisschen Opfer. Und genau dem dient das »Soziale«: dass die Forderungen nach Gerechtigkeit und Ausgleich keine absoluten Forderungen mehr sind, keine radikalen 9 | Ebd. 10 | Ebd., S. 11. 11 | Ebd. 12 | Ebd.

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Proteste, sondern einzig und allein lokale Forderungen und Proteste in Relation zu diesem oder jenem Beruf, Forderungen, die also nur als sozial legitim erachtet und anerkannt werden, insofern sie begrenzte Reichweite haben und auf dem friedlichen Weg der Verhandlung gut erfüllt werden können.13 Das Ziel, das die Sozialökonomie von Anfang an verfolgte, ist somit erreicht, und die Republikaner können zu Beginn des 20. Jahrhunderts endlich einlösen, worauf ein Buret seit 1840 gewartet hat: »Glücklicherweise können die Schmerzen der ökonomischen Ordnung durch eine friedliche Behandlung geheilt werden, vor allem in Frankreich, und glücklicherweise bedurfte es nur eines geringen Maßes an Weisheit, um die Revolutionen zu vermeiden, diese gefährliche Genesung, unter der wir immer noch leiden.«14 Zu Beginn der Erfindung des Sozialen gibt es die Idee, dass der Konflikt zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zwischen Arbeit und Kapital, nur ein scheinbarer Konflikt ist und dass es hinter dieser Erscheinung die tiefere Wirklichkeit eines sozialen Bandes gibt. Durkheims Konzept der »organischen Solidarität« zeigt, was es damit auf sich hat: Die soziale Teilung der Arbeit schafft zwischen den Individuen ein gegenseitiges Band der Abhängigkeit, das in der Industriegesellschaft tatsächlich viel stärker ist, als es jemals zuvor war. Aber das Problem ist, dass dieses Band unsichtbar ist. Und genau dem diente die Erfindung des Sozialen: zu zeigen, dass die Individuen jenseits von Klassendifferenzen und Klassenkonflikten sozial voneinander abhängig sind. Die Erfindung der Versicherungstechniken diente dazu, dieses Band sichtbar zu machen und von seiner Wirkmächtigkeit zu überzeugen, indem man den Sozial- und Versicherungsstaat zu einem »sichtbaren Ausdruck des unsichtbaren Bandes« machte, »das die Menschen, die in derselben Gesellschaft leben, zusammenhält«15. Und genau das erlaubte es, folgt man dem Euphemis13 | Was J. Donzelot folgendermaßen formuliert: »Die Einführung der sozialen Rechte Ende des 19. Jahrhunderts erlaubt es somit, eine allgemeine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit einzutauschen gegen einen lokalen Schutz der Allgemeinheit im Hinblick auf diejenigen ihrer Mitglieder, die einem speziellen Risiko ausgesetzt sind.« (J. Donzelot, L’Invention du social, S. 139). 14 | E. Buret, De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France, Bd. 1., Paris 1840, S. 40. 15 | So formuliert es Ch. Gide 1889 auf dem Congrès International des accidents du travail et des assurances sociales [Internationaler Kongress der Arbeitsunfäl-

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mus J. Donzelots, »das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeitnehmer zu modifizieren«, was letztlich heißt: dafür zu sorgen, dass das Verhältnis nicht mehr eines von Kampf und Konflikt war. Dabei orientierte man sich an dem, was Reichskanzler Bismarck mit seinen Sozialgesetzen16 gerade mit bemerkenswerten Erfolgen in Deutschland etabliert hatte. Am bemerkenswertesten daran war, dass es ihm gelang, den Aufstieg der deutschen sozialdemokratischen Parteien zu stoppen, sowohl hinsichtlich ihrer Wählerstimmen, als auch ihrer Mitgliederzahlen, das heißt den Aufstieg ihres organisierten marxistischen und dem Proletariat entstammenden revolutionären Randes.17 Dasselbe Ergebnis erhofften sich die Republikaner der 1890er Jahre, die J. Donzelot hinsichtlich »konkreter, nicht revolutionärer Lösungen für die sozialen Probleme« die »besseren sozialen Geister« nennt.18 Man muss anerkennen, dass diese »besseren Geister« keine leichte Aufgabe hatten. Schließlich hielten sowohl die Liberalen, als auch die Traditionalisten die Einführung des verpflichtenden Versicherungssystems für eine schleichende Form von Staatssozialismus, und mussten erst einmal davon überzeugt werden, dass »die Versicherung kein Empfangszimmer des Sozialismus war, sondern vielmehr sein Antidot« (das deutsche Beispiel bewies dies vollkommen unzweideutig), was zeigte, dass »die Rolle, die die Versicherungsmethode dem Staat zuweist, in keiner Weise die eines Akteurs freiwilliger Transformation der Struktur der Gesellschaft ist, sondern die einer Verwirklichung [mise en œuvre] von Bändern größtmöglicher Solidarität innerhalb der bereits bestehenden Struktur«19. Wenn die Reflexion über das so verstandene »Soziale« unzweifelhaft zu den Aufgaben der Sozialphilosophie gehört (ein Grund, aus dem le und der Sozialversicherungen] in Paris. Zitiert nach J. Donzelot, L’Invention du social, S. 128. 16 | Mit denen er während der 1880er Jahre das System der Krankenversicherung, der Unfallversicherung und schließlich der Rentenversicherung etablierte. 17 | Sicherlich war es nicht nur Bismarcks Sozialgesetzgebung, die ihm diesen beachtlichen politischen Erfolg bescherte, sondern auch das Ausnahmegesetz (»Sozialistengesetz«) von 1878, das sämtliche Presseorgane der SPD und solche, die der SPD nahe standen, verbot und ihren Aktivisten mit Gefängis, Exil und Arbeitsverbot drohte (vgl. J. Rovan, Histoire de l’Allemagne, Paris 1998, S. 566). 18 | J. Donzelot, L’Invention du social, S. 133. 19 | Ebd., S. 137 (Hervorhebungen von mir, F.F.).

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Die Ordnung der Familie von J. Donzelot tatsächlich ein großes Buch der Sozialphilosophie ist), so scheint es, dass dabei die Funktion der »Sozialkritik« tendenziell in dem Maße verblasst, in dem der Einfluss des »Sozialen« steigt. Um sich hiervon zu überzeugen, muss man nur die Sozialphilosophie der 1840er und 1850er Jahre in Frankreich mit jener der 1880er und 1890er Jahre vergleichen. Unter Federführung der Saint-Simonisten20 liest man einerseits, mit Proudhon, Fourier oder Blanqui, die leidenschaftlichsten Angriffe gegen das Privateigentum, den Müßiggang der Eigentümer oder die Ausbeutung der Arbeiter, und andererseits eine Verteidigung des solidarischen Bandes, das, jenseits anscheinend antagonistischer Klassen, die Individuen darin verbinde, dass sie derselben Gesellschaft angehören. Um den Gegensatz zwischen der Tendenz zur Sozialkritik einerseits und der Tendenz, sich »um soziale Angelegenheiten zu kümmern« andererseits zu erhellen und zu illustrieren, kann man auf R. Castels aufschlussreiche Nebeneinanderstellung zweier praktisch zeitgenössischer Zitate zurückgreifen. Zuerst ein Text von 1840, geschrieben von Charles Dupin, einem heute vergessenen, aber zu seiner Zeit hoch angesehenen Vertreter der »Sozialökonomie«: »Anstatt die Gesellschaft unter Verwendung abscheulicher Bezeichnungen in die Kategorien Eigentümer und Proletarier einzuteilen, die man dazu anstachelt, sich zu hassen und sich gegenseitig zu berauben, bemühen wir uns, den am wenigsten 20 | Wenn man zum Beispiel daran denkt, was Barthélemy Prosper Enfantin und Saint-Amand Bazard in ihrer Exposition de la Doctrine de Saint-Simon, die 1829 und 1830 publiziert wurde, schreiben: »Heute wird die ganze Masse der Arbeiter von den Menschen ausgebeutet, deren Eigentum sie nutzt. […] Die Ausbeutung fällt mit ihrem ganzen Gewicht auf die Arbeiterklasse zurück, das heißt auf die gewaltige Mehrheit der Arbeiter. Wenn die Dinge so stehen, erscheint der Arbeiter als direkter Nachfahre des Sklaven und Leibeigenen; er ist zwar frei und nicht an die Scholle gebunden, aber das ist auch schon alles, was er erreicht hat; in diesem Zustand legaler Freilassung kann er nur unter Bedingungen überleben, die ihm von einer zahlenmäßig kleinen Klasse aufgezwungen werden; den Bedingungen von Menschen einer Gesetzgebung, die Tochter des Eroberungsrechts ist, in Kraft gesetzt vom Monopol der Reichtümer, das heißt von der Befugnis, selbst in der Untätigkeit nach eigenem Ermessen über die Arbeitsinstrumente zu verfügen.« (Doctrine saint-simonienne. Exposition, Paris 1854, S. 123).

Die Umtriebe des »Sozialen«

begüterten Menschen zu zeigen, wieviele reichlich sprudelnde und heilige Quellen von Sympathie und Wohltaten zu ihren Gunsten inmitten der begüterten Klassen entspringen.« 21

Und gleich im Anschluss der Text von Proudhon aus dem Jahr 1846, der wie eine Antwort auf den voranstehenden klingt: »Leichtfertig erzählen Sie mir da etwas von Brüderlichkeit und Liebe. Ich bleibe davon überzeugt, daß Sie mich wohl kaum lieben, und ich fühle nur allzu gut, daß ich Sie nicht liebe. Ihre Freundschaft ist nur eine Finte, und wenn Sie mich lieben, dann nur aus reinem Eigennutz. Ich verlange alles, was mir zukommt, nichts als das, was mir zukommt. […] Sprechen Sie zu mir von Recht und von Haben, in meinen Augen den einzigen Maßstäben für das Gerechte und das Ungerechte, das Gute und Böse in der Gesellschaft. Jedem nach seinen Werken.« 22

Je mehr man das »Soziale« zum Gegenstand der Sozialphilosophie macht, und je mehr man die Reflexion über die Mittel, die nötig sind, um sich »um soziale Angelegenheiten zu kümmern«, zu ihrem Ziel erklärt, desto mehr scheint die Sozialphilosophie ihre Funktion der Sozialkritik aus den Augen zu verlieren. Man kann sich im Übrigen fragen, inwiefern die Renaissance, die die Sozialkritik derzeit unbezweifelbar erfährt, mit der Auflösung des Sozialen zusammenhängt, mit der Krise des Sozialversicherungsstaates, mit der Degeneration des Arbeitnehmertums und mit dem Auftauchen verschiedenster Formen von »Prekariat« – man könnte geradezu meinen, dass sich das Soziale erst auflösen musste, damit die Sozialphilosophie ihre kritische Funktion wiederfinden konnte.

21 | C. Dupin, Bien-être et concorde des classes du peuple français, Paris 1840, zitiert nach R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 265. 22 | J. Proudhon, Système des contradictions économiques ou économie de la misère, Paris 1846, zitiert nach R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, S. 233f.

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Kapitel 5 Die Kritik des »Sozialen«

Im Französischen gibt es bezüglich des Ausdrucks »Sozialphilosophie« eine Ambiguität, die mit dem soeben untersuchten, geläufig gewordenen Sinn des »Sozialen« zu tun hat: Man kann diesen Ausdruck stets im Sinne einer Philosophie oder einer philosophischen Praxis verstehen, die »sich um das Soziale sorgt«, die sich also Gedanken um Situationen von Ungerechtigkeit oder von sozialer Ungleichheit macht und dafür Lösungen sucht. Unser Problem mit diesem Begriff von Sozialphilosophie ist, dass man sie damit schnell selbst zu einem der Akteure des sozialen Sektors macht – man wird von ihr erwarten, dass sie sich daran macht, in der sozialen »Verwaltung« mitzuwirken, und vor allem, dass sie zu einem der zahlreichen »Experten« dieser Verwaltung wird; man wird erwarten, dass sie Lösungsvorschläge unterbreitet und Mittel bietet, im Sinne palliativer sozialer Korrektive. Unbestreitbar steht die Philosophie in diesem Sinne heutzutage unter zunehmend hohem Druck (vor allem über den Umweg von »Forschungsprogrammen«, die von der Philosophie verlangen, dass sie selbst ihre eigenen sozialen Anwendungsmöglichkeiten angeben soll). Aber ist das wirklich eine Aufgabe der Philosophie? Die Philosophie scheint mir eher eine Instanz zu sein, die den Sinn des »Sozialen«, so wie er sich historisch konstituiert hat, kritisch reflektiert, die sich also nicht nur selbst um soziale Angelegenheiten kümmert, sondern die soziale Funktion »des Sozialen« selbst hinterfragt; sie misstraut dem, was man für ihren offensichtlichen Sinn hält und beschäftigt sich mit der Frage, welche ideologischen Gesellschaftskonzeptionen der Begriff transportiert. Anders gesagt: Man darf die reflektive und kritische Funktion der Sozialphilosophie nicht aus den Augen verlieren, denn ge-

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nau das ist ihre allererste soziale Funktion. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Meine Vorbehalte betreffen nicht die Idee, dass die Sozialphilosophie auf die Gesellschaft einwirken und in ihr etwas bewirken kann (ich habe selbst diese Position, die den Anspruch hat, auf die Gesellschaft zu wirken, zu einem Kriterium der Sozialphilosophie erklärt). Meine Vorbehalte betreffen die Beschränkung dieser Wirkung auf eine rein korrektive oder palliative Tätigkeit, die an einer Verwaltung des Sozialen teil hätte, die jegliche Wirkung von der Art einer Transformation ausschließen würde.

S orge , F ürsorge , H errschaf t Aufgabe der Sozialphilosophie ist es somit, gegenüber dem, was man das »Soziale« nennt, misstrauisch zu sein. Tatsächlich bestand auch ein großer Teil der Sozialphilosophie stets in einer solchen Kritik des »Sozialen«. M. Foucault zum Beispiel kann man mit Recht einen Sozialphilosophen allerersten Ranges nennen, obwohl sein Werk in einer kritischen Genealogie des »Sozialen« besteht1. Dasselbe gilt für M. Heidegger: Genau in dem Moment, in dem er sich einer Kritik des Sozialen widmet, taucht einer der Aspekte auf, unter denen sein Hauptwerk Sein und Zeit teils zur Sozialphilosophie gerechnet werden kann. Ich denke an die Analysen des § 26, den Heidegger der Fürsorge [souci mutuel] widmet, die er unterscheidet von der »›Fürsorge‹ als faktische soziale Einrichtung«2 [assistance]. Letztere versteht er als einen defizienten und uneigentlichen Modus der »Fürsorge«. Im defizienten Modus der »Fürsorge« kann diese »dem Anderen die ›Sorge‹ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen.«3 Der Fürsorge als faktischer sozialer Einrichtung [assistance] setzt Heidegger eine andere Möglichkeit der Fürsorge [souci mutuel] entgegen, nämlich jene, »die für den Anderen nicht so sehr einspringt, […] um ihm 1 | Vgl. seine Geschichte der Sozialmedizin: M. Foucault, Die Geburt der Sozialmedizin, S. 272-298. Siehe auch die Kritik E. Renaults an dieser Foucault ’schen Genese der Sozialmedizin: E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie et politique, Paris 2008, S. 222ff., vgl. S. 119ff. 2 | M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 121. 3 | Ebd., S. 122.



Die Kritik des »Sozialen«

die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben«4. Diese Form der Fürsorge [souci mutuel], die ihre eigentliche Form ist, betrifft »die Existenz des Anderen […] und nicht ein Was, das er besorgt«5. Sie »verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.«6 Eine oberflächliche Lektüre dieser Passage von Sein und Zeit könnte einen glauben lassen, dass man es mit einer typisch konservativen und reaktionären Kritik der sozialen Institutionen und Sozialversicherungen zu tun hat. So einfach ist es aber ganz und gar nicht, wenn man sich die Mühe macht, die Gründe zu verstehen, aus denen Heidegger in der sozialen Institution einen defizienten Modus der Fürsorge sieht. »In solcher Fürsorge«, schreibt Heidegger, das heißt unter den Bedingungen einer Fürsorge [assistance], die den Anderen von der Sorge entbindet, kann dieser Andere »zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben« 7. »Herrschaft« und »Beherrschte« sind keineswegs harmlose Begriffe, insbesondere in einem Text, der sich um das Soziale dreht und aus der Feder eines Denkers stammt, bei dem man nicht damit rechnet. Es ist erstaunlich, dass P. Bourdieu, wenn er diese Passage kommentiert,8 das nicht sieht. Heidegger erklärt hier ganz klar die Gründe für den Verdacht, den er gegenüber dieser »sozialen« Institution, der defizienten Fürsorge [assistance], hegt: Dieser Inbegriff einer sozialen Institution führt zu Formen von Herrschaft, die umso perverser sind, als sie unsichtbar sind und sich für ihr Gegenteil ausgeben. Der Hintergrund dieser Interpretation ist nicht das alte reaktionäre Argument, demzufolge staatliche Fürsorge [assistance] dazu führt, dass den Individuen ihre Verantwortung genommen wird, sondern die viel interessantere und klarerweise viel innovativere Idee, derzufolge »sich um soziale Angelegenheiten kümmern« eine Art und Weise sein kann, Formen von Herrschaft zu stärken, und dies umso effizienter, als sie, wie Heidegger sagt, »stillschweigend« sind, und 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Ebd. 8 | Vgl. P. Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, übers. v. B. Schwibs, Frankfurt a.M. 1975.

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im Namen einer »Hilfe« für diejenigen ausgeübt werden, die sie gleichzeitig im Zustand der »Beherrschten« halten. Dieser Standpunkt enthält sicherlich noch etwas von der Nietzsche’schen Kritik, die auch Foucault oder Deleuze (die sich ebenfalls zu ihrem Nietzsche’schen Erbe bekennen) in ihrem Misstrauen gegenüber der Erfindung des Sozialen beeinflusste. Es lohnt sich, etwas näher auf Nietzsche selbst einzugehen. Nehmen wir zum Beispiel den Abschnitt der Götzen-Dämmerung, der der »Arbeiter-Frage« gewidmet ist. Die »Arbeiter-Frage« ist die Frage, die die Arbeiter selbst im Zusammenhang ihres Protests gegen soziale Bedingungen stellen, die sie als ungerecht beurteilen; sie kritisieren die soziale Ordnung, die sie untergeben hält und zugleich die Bedingungen ihres Beherrschtseins perpetuiert. Bezeichnenderweise wirft Nietzsche an keiner Stelle den Arbeitern vor, die »Arbeiter-Frage«, das heißt die soziale Frage, zu stellen. Angesichts der Bedingungen, in denen sie sich finden, hält er es für normal, dass sie diese Frage stellen. Er knöpft sich vielmehr diejenigen vor, die das Entstehen von Bedingungen zugelassen haben, in denen die Arbeiter diese Frage überhaupt erst stellen können, nämlich die Vertreter der europäischen Bourgeoisie als sozial herrschender und zugleich geistig dekadenter Klasse. Nietzsche wirft somit nicht dem »europäischen Arbeiter« vor, die soziale Frage zu stellen (der »zuletzt die grosse Zahl für sich [hat]«9, sodass er sich nicht zurückzuhalten braucht), sondern dem europäischen Bourgeois, dass er Bedingungen hat aufkommen lassen, in denen der Arbeiter zwangsläufig irgendwann die »Arbeiterfrage« stellen musste. Er prangert eine bourgeoise Klasse an, die mit sich selbst im Widerspruch ist, eine herrschende Klasse, die zugleich zu schwach ist, das heißt: zu christlich, um sich wirklich die Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft zu verschaffen und die Herrschaft als solche zu übernehmen. Die europäische Bourgeoisie weiß nicht, was sie will (was letztlich heißt, sie versteht es nicht mehr, zu wollen): Sie will eine herrschende Klasse sein, übt aber ihre Herrschaft mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen aus. Daher möchte sie zugleich »gut« sein und sich selbst beweisen, dass sie auch sensibel sein kann, was das Schicksal der Arbeiterklasse betrifft. Das führt uns zum eigentlichen Grund, aus dem die Bourgeoisie das »Soziale« erfunden hat. 9 | F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, München 1999, § 40, S. 142.



Die Kritik des »Sozialen«

Wäre die Bourgeoisie eine echte herrschende Klasse, so würde sie ohne Skrupel der Tatsache ins Gesicht blicken, dass das, was sie benötigt, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, eine Klasse von Sklaven ist. Sie würde folglich die Arbeiterklasse in einem Zustand der Unterwerfung halten, so, dass es dieser nie in den Sinn käme, gegen die Ungerechtigkeit ihrer Lage zu protestieren und diese »indiskrete Frage« namens Arbeiterfrage zu stellen. »Was hat man getan? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten – man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Koalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht) empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht.«10

Die Tatsache, dass die soziale Frage gestellt wird, ist also für Nietzsche ein Zeichen der Schwäche und Dekadenz der Bourgeoisie: Sie ist eine Klasse, die unfähig ist, sich die Mittel ihrer eigenen Herrschaft zu verschaffen, unfähig, die Zerreißprobe eines echten Kräftemessens zu ihren Gunsten und ihrem Vorteil auszutragen. Es ist somit ihre eigene Schwäche, die die Bourgeoisie dazu verdammt, sich »um soziale Angelegenheiten zu kümmern«. Nichtsdestotrotz ist es zugleich eine Lehre von größter Wichtigkeit, die Nietzsche bei dieser Gelegenheit den Arbeitern und von der bourgeoisen Sozialordnung Beherrschten erteilt: Die, die euch beherrschen, sind die Schwachen, sie haben nicht die Kraft, sich in direkte Konfrontation mit euch zu begeben, und eure schiere Zahl genügt, dass sie stets den friedlichen Weg der Verhandlung und des sozialen Kompromisses dem der Konfrontation vorziehen werden. Es liegt an euch, zu sehen, ob ihr euch auf diese Verhandlung einlasst, oder ob ihr es vorzieht, euren Vorteil bis zum Ende auszuspielen. Aber da die gesamte europäische Zivilisation dekadent ist (und nicht nur ihre Eliten), der sozialistische Arbeiter ebenso wie der liberale Bourgeois, muss Nietzsche daran zweifeln, dass die Arbeiter weiter gehen, als nur die »Arbeiter-Frage« zu stellen und ein paar 10 | Ebd., S. 142.

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neue Rechte einzufordern: Die Arbeiterklasse ist kaum mehr in der Lage als die Bourgeoisie, es wirklich zu einer Konfrontation kommen zu lassen und ein echtes Kräftemessen bis zum Ende durchzuhalten. Man kann festhalten, dass sich die Erfindung des Sozialen, mit ihren Sozialversicherungsinstitutionen und ihrer Suche nach Kompromissen zwischen sozialen Klassen, von einem Nietzsche’schen Standpunkt aus als die Art und Weise verstehen lässt, auf die es einer sehr christlichen Bourgeoisie gelang, ihre herrschende Position aufrechtzuerhalten, indem sie ihr gutes Gewissen konservierte und es vermied, dem, was es wirklich bedeutet hätte, eine herrschende Klasse zu sein oder sein zu wollen, ins Auge blicken zu müssen. Die Bourgeoisie erträgt sich selbst als herrschende Klasse nur dann, wenn sie so tut, als würde sie dem Arbeiter dazu verhelfen, selbst ein kleiner Bourgeois zu werden. Nietzsche sah, wie die Bourgeoisie den Arbeitern politische und soziale Rechte gewährte (Schutz gegen Arbeitsunfälle, Krankheit und Arbeitslosigkeit); er wäre daher nicht überrascht, zu sehen, dass all das bis hin zu bezahltem Urlaub geführt hat. Und genau diese Bourgeoisie greift Nietzsche an; die Bourgeoisie, die nicht der Herrschaftsinstinkt einer echten herrschenden Klasse antreibt, und die, in der Folge, bei den Arbeitern »die Instinkte zerstört, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird«. Einer Bourgeoisie, die sich selbst als herrschende Klasse kaum erträgt, kann auch nicht mehr die »Arbeiterklasse« gegenüberstehen. Zudem fiel ihr kein besseres Mittel ein, die Arbeiter als Beherrschte zu halten, als sie zu kleinen Bourgeoisen aufzuwerten, indem sie ihnen politische und soziale Rechte gewährte und ihre Existenzbedingungen verbesserte. Auch wenn Nietzsches Kritik der bourgeoisen Ordnung offenbar von einem »rückwärtsgewandten« Standpunkt aus erfolgt, der nostalgisch ist bezüglich der alten herrschenden Klassen vom aristokratischen Typ, die noch wussten, was die Mittel für ihren Zweck waren, das heißt für ihre Herrschaft, und die keine Skrupel hatten, diese Mittel anzuwenden, so ändert das nichts daran, dass Nietzsche dennoch ziemlich hellsichtig ist, was die Strategien der europäischen Bourgeoisie als herrschende und dekadente Klasse betrifft. Das Konservative, gar Reaktionäre seiner Pose erschöpft den Gehalt seiner Worte daher nicht. Ihm ist klar, dass sich die Bourgeoisie zum Apostel des Fortschritts, vor allem des sozialen Fortschritts machen konnte, wenn ihr dies zugleich die Erhaltung der bestehenden sozialen Ordnung und ihrer eigenen herrschenden Position ermöglichte. Die Strategie, eine »soziale Politik« ausgehend vom Willen zur



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Überwindung des Klassenkampfes und zur Angleichung der Interessen der Klassen zu machen, indem sie die soziale Konfliktualität entschärft, verfolgt die herrschende Klasse mit dem Ziel, ihre eigene Position zu behalten. »Sich um soziale Angelegenheiten zu kümmern« und sich selbst zum Initiator des wohl verstandenen »sozialen Fortschritts« zu machen (das heißt: immer auch verstanden als ein Mittel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen), ist somit eine Art der herrschenden Klasse, dort nachzugeben, wo »man in jedem Fall nachgeben muss, um zu vermeiden, was um jeden Preis vermieden werden muss, [nämlich] die Subversion der etablierten Ordnung«11. Dass seit den 1930er Jahren (Besatzungszeit und Gründung des »Französischen Staates« mit einbegriffen) und mehr noch in der Nachkriegszeit eine immer wichtiger und mächtiger werdende Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse selbst endgültig zum »Sozialen« konvertierte, sollte einen also hellhörig machen. »Sozialpolitik« wurde von ihr als fundamentales Element dessen ausgegeben, was sie »Modernisierung« nannte; diese sollte ihr eine Sprengung der »Blockaden« erlauben, die eine mit Begriffen von Konfrontation und Klassenkämpfen auf Basis unterschiedlicher Interessen operierende »archaische« Konzeption der Gesellschaft verursacht hatte. Angekommen in einer historischen Phase wie der unseren, in der die herrschende Klasse weiterhin den Diskurs der »Reform« und des Kampfes gegen die »Archaismen« führt, während sie alles widerruft, dem sie in der vorangegangenen Phase »nachgeben« musste, und die sozialen Kompromisse, die einzugehen sie sich verpflichtet gefühlt hatte, zurücknimmt, könnte man fast nostalgisch werden, wenn man an diese Zeit denkt, in der sie noch den sozialen Kompromiss suchte. Dabei würde man aber schnell vergessen, dass das nur in ihrem eigenen Interesse geschah und ausnahmslos zugunsten der Erhaltung der etablierten Ordnung. Man kann bis heute versucht sein, einen Nietzsche’schen oder Heidegger’schen Standpunkt einzunehmen, um im Namen individualistischer, elitistischer oder aristokratischer Konzeptionen jegliche Form von Sozialphilosophie zu kritisieren, was diese beiden Denker ja anscheinend fordern. Das ist aber ein Irrtum, der verkennt, dass beide vielmehr gerade das tun, was zu den Aufgaben der Sozialphilosophie gehört: Sie leisten eine Kritik des »Sozialen« und des »sozialen« Standpunktes bezüglich 11 | P. Bourdieu, L. Boltanski, La production de l’idéologie dominante, S. 77.

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der Gesellschaft, mit der Begründung, dass ein solcher Standpunkt jener der Masse sei (Nietzsche) oder jener des »Man« (Heidegger). Darüber hinaus kann man das »Soziale« im Sinne des Sozialstaates und der Sozialpolitiken insofern kritisieren, als es einen Raum der Vermassung und der stillschweigenden Herrschaft öffnet; ferner weil es die Gesellschaft bürokratisiert; oder schließlich weil es Letztere mit einem Paket von Disziplin- und Kontrolltechniken versieht. Dies festzustellen, heißt noch lange nicht, dass man die Sozialphilosophie verlässt, oder dass man sie von einem asozialen, gar antisozialen Standpunkt eines elitistischen Individualismus aus kritisiert, der sich gegen die Auflösung der Besonderheiten im Sozialen zur Wehr setzen würde. Vielmehr kann dies, im Gegenteil, eine weitere Art und Weise sein, Sozialphilosophie zu betreiben und ihre kritische Funktion am Leben zu halten, im Bewusstsein der Tatsache, dass es eine »Ideologie des Sozialen« gab und gibt, die, unter dem Deckmantel des Gegenteils, die Interessen der herrschenden Klassen innerhalb der etablierten Ordnung bedient und für die Erhaltung der Letzteren sorgt. Man wird vielleicht einwenden, dass ich zumindest zugeben müsste, dass diese Form von Sozialphilosophie – wenn ich schon behaupten will, dass es eine Form von Sozialphilosophie sei – »reaktionär« ist und dass sie in der Tradition der konservativsten Formen der deutschen »Kulturkritik« vom Anfang des 20. Jahrhunderts steht. Das ist aber alles andere als selbstevident, wie wir am Beispiel Heideggers gesehen haben. Was genau soll »reaktionär« daran sein, zu zeigen, dass die Genese des »Sozialen« untrennbar ist von der Installation einer bestimmten Zahl von Techniken, mit denen Individuen12 diszipliniert und kontrolliert werden, von der Einführung insbesondere subtiler Formen von Herrschaft, oder von der Etablierung eines Gesellschaftsbegriffes, der jegliche ihm inhärente konfliktuelle Dimension abstreitet oder verschleiert? Die Kritik würde dann »reaktionär«, wenn sie zu der Schlussfolgerung käme, dass man jegliche Form sozialer Institutionen und sämtliche Sozialversicherungsmechanismen abschaffen sollte, um die Individuen ganz sich selbst, oder der privaten Großzügigkeit einiger reicher Sozialmäzene und Philanthropen zu überlassen, die entweder aus christlicher Nächstenliebe handeln oder aus wohl kalkuliertem Interesse. Aber nichts verpflichtet eine Sozialkritik zu einer solchen antisozialen Schlussfolgerung. Die Kritik der mit den Verfahrensweisen und Institutionen der sozialen Fürsorge ein12 | Oder Familien, wie J. Donzelot in Die Ordnung der Familie zeigt.



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hergehenden Disziplinierungs- und Unterdrückungsformen könnte auch im Namen einer anderen Form von sozialer Fürsorge stattfinden, die der Emanzipierung der Benachteiligten verschrieben wäre und nicht ihrer Überwachung und Kontrolle.

D as B eispiel der S ozialmedizin : R echt auf G esundheit oder R echt auf K r ankheit ? Diese Kritik am Sozialen, dieser Generalverdacht hinsichtlich dessen, was es heißt, sich »um soziale Angelegenheiten« zu kümmern oder kümmern zu wollen, findet sich bei Foucault in einem sehr präzisen Beispiel, nämlich der Erfindung der Sozialmedizin in Europa (Deutschland, Frankreich und England) während des ausgehenden 18. und kompletten 19. Jahrhunderts. Foucault zeigt, dass die Erfindung und Verbreitung der Sozialmedizin während dieser Zeit in ihren verschiedenen nationalen Ausprägungen Teil einer umfangreichen historischen Bewegung der medizinischen Versorgung der Gesellschaft war, die schließlich in unsere heutige Situation mündete, deren Charakteristikum Foucault zufolge ist, dass die medizinische Versorgung »über ihre […] Grenzen hinaus agiert« und »keinen Bereich mehr hat, der ihr äußerlich ist«13. Das Prinzip dieser Medizinisierung des Sozialen über ihre Grenzen hinaus geht, Foucault zufolge, auf eine zweifache große Transformation zurück, die die Medizin von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an durchgemacht habe: Auf der Seite des Subjekts sei die Intervention der Medizin unabhängig von der Nachfrage eines Kranken geworden, womit einem nunmehr autoritären Eingreifen der Medizin Tür und Tor geöffnet worden sei. Auf der Seite des Objekts hingegen habe die Medizin ganz einfach ihren Gegenstand geändert: »Die Gegenstände, die den Interventionsbereich der Medizin ausmachen«, seien nun nicht mehr »allein auf die Krankheiten« beschränkt; vielmehr habe sich die Medizin von diesem ursprünglichen Interventionsbereich emanzipiert und ihn über den Bereich der Krankheiten hinaus ausgeweitet, indem sie Tatsachen zu ihren Gegenständen gemacht habe, von denen sie selbst erkannt habe, 13 | M. Foucault, »Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin?«, übers. v. M. Bischoff, H.-D. Gondek, H. Kocyba u. J. Schröder, in: M. Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2003, S. 68.

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dass sie keine Krankheiten seien: »die Sexualität, das sexuelle Verhalten, die sexuellen Abweichungen oder Anomalien«.14 Diese Änderung des Gegenstandes ging so vonstatten, dass man sagen kann: Was nunmehr Gegenstand der Medizin ist, sind nicht mehr die Krankheiten, sondern ist vielmehr die Gesundheit als solche. Insofern sie, wie Foucault sagt, in ihrem Kern eine Sozialmedizin ist, hat sich die moderne Medizin nach und nach auf die Gesamtheit all dessen hin ausgeweitet, was die Gesundheit der Individuen und der Bevölkerungen zu fördern, zu verbessern oder zu sichern vermag. Das »Phänomen der endlosen Medizinisierung«15, wie Foucault es nennt, besteht in dieser Ausweitung der Medizin auf sämtliche Bedingungen der Gesundheit. Angetrieben wird diese grenzenlose Ausweitung des Unternehmens der Medizin auf die Gesellschaft Foucault zufolge dadurch, dass die moderne Medizin als solche geboren wurde, indem sie sich als »Medizin des Milieus« konstituierte. Es ist der Übergang von einer substanziellen Konzeption der Krankheit hin zu einer relationellen Konzeption, von dem Foucault in Die Geburt der Klinik spricht. Die Krankheit hat keine Substanz mehr, keine eigene Natur, die man bestimmen könnte, indem man von den individuellen Variationen abstrahiert, die von der Besonderheit der Organismen her käme, die sie affiziert. Broussais zufolge ist »ein Organismus [nur] erkrankt […], wenn er von der Außenwelt gereizt wird«16, und »die Krankheit ist nur mehr eine komplexe Bewegung von Geweben, die auf eine Reizursache reagieren: darin liegt das ganze Wesen des Pathologischen und es gibt keine essentiellen Krankheiten und keine Wesenheiten von Krankheiten mehr«17. Von diesem Moment an wird der Kampf gegen die Krankheiten mittels einer Intervention bezüglich der »Reizursachen« vollzogen, die von der »Außenwelt« herrühren. Man interveniert in Lebensmilieu und Lebensbedingungen des Organismus, von denen das Erreichen eines besseren Gesundheitszustandes abhängt. Daher erklärt sich die beachtliche Ausweitung des Interventionsfeldes der Medizin. Man öffnet Alleen in den Städten, damit die Luft darin zirkulieren und das Licht eindringen 14 | Ebd., S. 66. 15 | Ebd., S. 65. 16 | Zitiert nach M. Foucault, Die Geburt der Klinik, übers. v. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1988, S. 201. 17 | Ebd., S. 202.



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kann, man konstruiert ein Netz von Abwasserwegen und achtet auf die strikte Trennung der Kreisläufe von sauberem und schmutzigem Wasser, man beseitigt den Abfall, versetzt die Friedhöfe, die Schlachthöfe und die Krankenhäuser an den Rand der Städte usw. – lauter Entscheidungen, die zunehmend der Medizin zukommen,18 und die aus der modernen Medizin eine im eigentlichen Sinne soziale Medizin machen, sodass die Bedingungen der sozialen Umgebung, insofern sie der Gesundheit förderlich oder hinderlich sind, zu ihrem Gegenstand werden. Indem sie sich so auf sämtliche externen Bedingungen ausweitet und aufzeigt, inwiefern diese Bedingungen der Gesundheit förderlich oder schädlich sind, geht die Medizin mit einer neuen Forderung einher, nämlich der Forderung nach einem Recht auf Gesundheit. Dies ist es, was aus ihr auch eine Sozialmedizin macht. Sobald die Medizin etabliert hatte, dass die Gesundheit direkt von Lebensbedingungen und Lebensmilieu abhängt, konnte man Bedingungen fordern, die der Gesundheit am förderlichsten wären, wie auch ein entsprechendes Milieu. Unter »Sozialmedizin« ist somit nicht nur eine Medizin zu verstehen, die ihren Einfluss auf die Gesellschaft ausweitet, indem sie die städtischen Lebensbedingungen zu beeinflussen beginnt, sondern auch eine Medizin, die sich daran macht, sich »um soziale Angelegenheiten zu kümmern«. Und hier scheint wieder die Ambiguität des »Sozialen« auf, diesmal im Bezug auf das, was man »Sozial«-Medizin nennt. Es ist klar, dass die Medizin einerseits begann, auf die Forderungen zu antworten, die sich aus einem Recht auf Gesundheit für die armen Klassen ergaben, insbesondere in England, wo sich seit 1840 die »Idee einer aus Steuermitteln finanzierten Fürsorge und einer medizinischen Intervention, die ein Mittel darstellen sollte, den Ärmsten zu helfen, den Bedürfnissen einer 18 | Um genauer zu sein: zur »urbanen Medizin«, die Foucault für eine spezifisch französische Erfindung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hält (vgl. M. Foucault, »Die Geburt der Sozialmedizin«, S. 282ff.). Aber, wie E. Renault (Souffrances sociales, S. 233) zeigt, bezeugt das Beispiel Shadwicks und seines Berichtes aus dem Jahr 1842 On an Inquiry into the Sanitary Condition of the Labouring Population of Great Britain nicht nur, dass die urbane Medizin nicht spezifisch französisch ist, sondern dass darüber hinaus die Aufgaben der Gestaltung des städtischen Milieus nicht als vorrangig zur Medizin selbst gehörig erachtet wurden; Shadwick begreift sie als Aufgaben, die »nicht zur Wissenschaft des Arztes, sondern zu der des Bauingenieurs« gehören.

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Gesundheit zu genügen, die zu erhoffen die Armut ihnen untersagte«19 verbreitete. Aber andererseits besteht Foucault darauf, dass die Medizin als »Medizin der Armen« allein mit dem Ziel der Kontrolle dieser Armen und der Erhaltung der bestehenden sozialen Ordnung erdacht und praktiziert worden sei. Die medizinische Fürsorge [assistance] für die Armen sei daher untrennbar gewesen von dem Willen, die Ausbreitung der Krankheiten der Armen auf die Reichen zu verhindern20, ebenso wie auch die Durchführung von Impfaktionen untrennbar von dem Willen gewesen sei, »die bedürftigen sozialen Klassen zu kontrollieren«21. Anders gesagt: Die Sozialmedizin, verstanden als eine Medizin für die Armen, stellt sich Foucault zufolge klarerweise als eine Klassenmedizin dar, das heißt als eine von den Reichen ersonnene Medizin, die man den Armen mit dem Ziel verabreichte, die wohlverstandenen Interessen der Reichen zu schützen und die bestehende soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, indem man nicht nur die sozialen, sondern auch die sanitären Risiken minimierte, die die benachteiligten Klassen darstellten. Letztere dürfen nur insofern von einem System der Fürsorge [assistance] und der kostenlosen oder günstigen Behandlung profitieren, als sie gleichzeitig »diversen medizinischen Kontrollen« unterzogen werden22, die sämtlich Formen sozialer Kontrolle sind. Daher Foucaults Interesse an den »heftige[n] Reaktione[n] und Widerstände[n] durch die unteren Bevölkerungsschichten« oder an dem, was er »kleinere gegen die Medizin gerichtete Aufsässigkeiten« nennt 23, das heißt an den Formen des Widerstands der unteren Bevölkerungsschichten gegen die medizinische Kontrolle, die sie unter dem Deckmantel der Fürsorge über sich ergehen lassen mussten. Er merkt an, dass »die zahlreichen dissidenten religiösen Gruppen […], die im Verlauf des 19. Jahrhunderts wiederauftauchten, zum Zweck [hatten], die Medizinisierung zu bekämpfen und das Recht auf Leben, das Recht, krank zu werden, behandelt zu werden und auf eigenen Wunsch zu sterben, für sich einzu19 | M. Foucault, »Die Geburt der Sozialmedizin«, S. 294f. 20 | Dank medizinischer Behandlungen, die man den Armen angedeihen ließ, »befreiten sich die Reichen von dem Risiko, Opfer epidemischer Phänomene zu werden, die von der benachteiligten Klasse ausgingen.« (Ebd., S. 295). 21 | Ebd., S. 296. 22 | Ebd., S. 294. 23 | Ebd., S. 296.



Die Kritik des »Sozialen«

fordern«24. Zumindest ein Teil der unteren Bevölkerungsschichten lehnt sich somit direkt gegen die Medizinisierung und die medizinische und soziale Kontrolle auf, deren Gegenstand sie sind, und damit indirekt auch gegen die Sozialmedizin, das heißt gegen eine Medizin, die ihnen ermöglicht, Behandlungen in Anspruch zu nehmen und von einer Fürsorge zu profitieren. Hierin liegen die Ambiguität und Paradoxität des Sozialen. Das größte Paradoxon ist, dass diese antimedizinischen Aufstände im Namen eines »Rechts auf Leben« stattfanden, das heißt im Namen eines Rechts, das die Sozialmedizin und die Medizinisierung der armen Klassen doch eigentlich gerade befördern wollten. Zu diesen Foucault’schen Analysen kann man einiges anmerken. Man kann zunächst daran erinnern, dass die Sozialmedizin im Sinne der Medizin der Armen nicht einseitig von den privilegierten Klassen vorangetrieben wurde, anders als Foucault zu verstehen gibt. E. Renault erinnert zu Recht daran, dass »die Idee der Sozialmedizin [ab 1848] als eine von außen an die Medizin, von der Gesellschaft an die Ärzte herangetragene Herausforderung auftauchte«, genauer gesagt innerhalb der Gesellschaft, von den politisch fortschrittlichsten Vertretern der unteren Schichten.25 Man kann Foucault auch vorwerfen, was E. Renault dessen »kontinuistische Annahme« nennt, kraft derer er die deutsche »Staatsmedizin«, die französische urbane Medizin und die englische Sozialmedizin als Etappen einer schrittweisen Medizinisierung der Gesellschaft aufeinander folgen lässt. Diese kontinuistische Annahme hindert Foucault daran, zu sehen, dass »sozial« in der französischen urbanen Medizin und der englischen Medizin der Armen nicht dasselbe bedeutet. Im Fall Frankreich spricht Foucault von Sozialmedizin im Sinne einer Medizin, deren Gegenstand das soziale Lebensmilieu, die Umwelt und die durch die Urbanisierung hervorgebrachten sozialen Existenzbedingungen sind. Foucault selbst besteht darauf, dass diese urbane Medizin sich nicht spezifisch mit den Armen beschäftige (die sie nicht für ein »für die öffentliche Gesundheit bedrohliches Element« halte26), sondern mit den urbanen Lebensbedingungen und der Bevölkerung im Ganzen. Die englische Medizin sei im Gegensatz dazu sozial, insofern Gegenstand ihrer Intervention vor allem die Armen und die bedürftigen Klassen seien. Die Ambiguität des Sozialen – die darin 24 | Ebd., S. 296f. 25 | E. Renault, Souffrances sociales, S. 228f. 26 | M. Foucault, »Die Geburt der Sozialmedizin«, S. 292.

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liegt, dass den Armen zu helfen auch bedeutet, sie zu kontrollieren – beträfe folglich genau genommen nur die englische Medizin; Foucault hätte dann keine Rechtfertigung dafür, diese Ambiguität a posteriori auf andere Formen der Sozialmedizin zu übertragen. Aber die delikateste Frage ist die, ob das »Leben«, in dessen Namen Foucault zufolge antimedizinischer Widerstand und »Aufsässigkeiten« stattgefunden hätten, dasselbe Leben ist wie das, mit dem sich die Sozialmedizin beschäftigt (verstanden als Medizinisierung des Sozialen), und dessen Gesundheit sie fördern will. Eine Passage aus Der Wille zum Wissen zeigt, dass Foucault meint, es handele sich bei beidem um dasselbe Leben: »Und gegen diese Macht, die im 19. Jahrhundert noch neu war, haben sich die Widerstand leistenden Kräfte gerade auf das berufen, was durch diese Macht in Amt und Würden eingesetzt wird: auf das Leben und den Menschen als Lebewesen. […] Was man verlangt und worauf man zielt, das ist das Leben verstanden als Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen des Menschen, Entfaltung seiner Anlagen und Fülle des Möglichen. […] das Leben als politisches Thema [wird] gewissermaßen beim Wort genommen und gegen das System gewendet […], das seine Kontrolle übernommen hat.« 27

Das Beispiel ist einfach zu schön, als dass Foucault es nicht zur Veranschaulichung seiner These heranziehen würde, derzufoge es die Form der Macht und ihre Anwendung sind, die darüber entscheiden, in welcher Form und wo Widerstand aufkommt. Die neue Macht, die sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt und die Form einer sich positiv auf das Leben auswirkenden Macht angenommen hat – Foucault nennt sie »BioMacht« – brachte demnach ihren eigenen Widerstand hervor, und zwar einen Widerstand, der denselben Ursprung hat wie das, was er bekämpft. Die Macht über das Leben bringt Widerstand hervor, der sich ebenfalls im Namen des Lebens formiert, das heißt im Namen der Menschen, die als Lebewesen grundsätzliche Bedürfnisse haben. Zu diesen gehört auch, Existenzbedingungen zu haben, die dem Leben förderlich sind. Dieser Widerstand im Namen der Bedürfnisse von Lebewesen nahm die Form der Einforderung von »Rechten« an, wie etwa das Recht, von 27 | M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, übers. v. U. Raulff u. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1983, S. 172f.



Die Kritik des »Sozialen«

Existenzbedingungen zu profitieren, die ein erfülltes und gesundes Leben anstelle eines beschädigten und kranken Lebens ermöglichen, oder die die Verwirklichung von im Leben selbst angelegten Möglichkeiten gestatten, und sich nicht mit unerfüllten, unfertigen, eingeschränkten Lebensformen zufriedengeben zu müssen. »Weit mehr als das Recht ist das Leben zum Gegenstand der politischen Kämpfe geworden, auch wenn sich diese in Rechtsansprüchen artikulieren. Das ›Recht‹ auf das Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse, das ›Recht‹ auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann […] war die politische Antwort auf all die neuen Machtprozeduren […].«28 Dass diese Formen des Widerstands unter Rückgriff auf den Begriff des »Rechts« formuliert wurden, sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ziel der Kämpfe war, dem Leben förderliche Existenzbedingungen zu erreichen. Es ging um Kämpfe für Bedingungen, die eine Affirmation des menschlichen Lebens erlauben, und gegen Bedingungen, die das Leben leugnen oder schwächen und seine Affirmation erschweren. Bemerkenswert ist, dass Foucault hier, sobald er von erniedrigten oder unerfüllten Lebensformen spricht, und vom Kampf für die Affirmation des Lebens und für die Rückgewinnung von Handlungsmacht, auf das für die Sozialphilosophie charakteristische Konzept der Entfremdung zurückgreift. Noch bemerkenswerter ist, dass er das tut, indem er es dem Konzept des »Rechts« gegenüberstellt und gewissermaßen sagt: Sicherlich, dieser Widerstand hat im Namen des Rechts stattgefunden, aber in Wirklichkeit handelte es sich um Kämpfe gegen die Entfremdung des Lebens, gegen die Bedingungen, die das Leben entfremden und beschädigen. Klarer könnte Foucault nicht sagen, dass das politische Konzept des »Rechts« hier nicht sachgemäß ist, dass ein Verständnis der Kämpfe und des Widerstands in rein politischen Begriffen sie nicht ausreichend erklärt, und dass der richtige Standpunkt wie auch die angemessene Sprache hier nicht juridisch-politisch ist, sondern sozial. Wie paradox es ist, dass er dies inmitten einer höchst politischen Passage sagt, die einige der wesentlichen Elemente seiner eigenen Theorie der Macht enthält, ist offensichtlich. Und genau darin liegen, meine ich, die Grenzen dessen, was er sagt: Die Herangehensweise in Begriffen, die zwar keine Begriffe des Rechts 28 | Ebd., S. 173.

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mehr sind, dabei aber doch politische Begriffe bleiben, da sie Begriffe von Macht und Widerstand sind, hindert Foucault daran, die qualitative Bedeutung der Kämpfe, von denen er spricht, ganz zu erfassen. Denn es bringt ihn dazu, zu denken, dass die Kämpfe, denen es darum geht, das Leben affirmierende Bedingungen zu erreichen, etwas Grundsätzliches mit der Macht zu tun haben, der sie sich widersetzen, insofern es um die »Bio-Macht« geht, die auf die Maximierung des Lebens zielt. Wir geraten hier an die Grenze eines Standpunktes strenger politischer Philosophie. Diesem gilt es entgegenzuhalten, dass sich die Erfahrung des Beherrschtwerdens nicht auf die bloße Untersuchung von »Macht« reduzieren lässt. Armut, Prekarität der Arbeit und Prekarität auf und bei der Arbeit, sozialer Ausschluss, soziale Nichtzugehörigkeit, Missachtung, Nichtanerkennung und Unsichtbarkeit sind nicht nur Formen des Beherrschtwerdens, sondern Erfahrungen, die die Formen gesellschaftlichen Beherrschtwerdens mit Inhalt füllen. Den Inhalt dieser Erfahrungen schöpft die bloße Frage der Macht und der diversen Modalitäten ihrer Ausübung nicht aus; sie sind im Übrigen auch gar keine unmittelbaren Erfahrungen von Macht als solcher. Das Problem in Begriffen von Macht zu fassen, produziert einen sehr bedauerlichen Effekt der Euphemisierung; zudem sprechen die Betroffenen selbst nicht in erster Linie davon, dass auf sie irgendeine Form von »Macht« ausgeübt werde. Ihre negativen Erfahrungen haben einen konkreten Inhalt und eine qualitative Dimension. Beidem wird das Konzept der »Macht« nicht gerecht. Werfen wir einen Blick darauf, wie die Dinge auf Seiten des Widerstandes formuliert werden, wenn wir uns der Foucault’schen Begriffe bedienen. Die Forderungen, sagt er, beziehen sich auf »das Recht auf Leben, das Recht, krank zu werden, behandelt zu werden und auf eigenen Wunsch zu sterben«29. Foucault bezieht hier (das heißt auf dieser Konferenz im Jahr 1974) den Widerstand gegen die Medizinisierung und die Bio-Macht nicht auf die Forderung nach einem »Recht auf Gesundheit«, anders als in der zitierten Passage aus dem späteren Text Der Wille zum Wissen. Foucault geht somit vom »Recht auf Leben« als einem »Recht, krank zu werden, behandelt zu werden und auf eigenen Wunsch zu sterben«, über zum »Recht auf Leben« als einem »Recht auf Gesundheit«, ohne zu sehen, dass es sich hierbei um zwei sehr verschiedene Register oder Diskurse handelt: Allein das »Recht, krank zu werden« gehört zum 29 | M. Foucault, »Die Geburt der Sozialmedizin«, S. 297.



Die Kritik des »Sozialen«

Widerstand gegen die Macht, während das »Recht auf Gesundheit« im Gegenteil vollständig zur Sprache der Macht gehört, in diesem Fall zu jener der Bio-Macht. Vielleicht ist dies heute klarer, als es vor dreißig Jahren sein konnte. Die durch die Medizin ausgeübte soziale Kontrolle richtet sich im Wesentlichen gegen das Recht, »krank zu werden, behandelt zu werden und auf eigenen Wunsch zu sterben«. Ohne überhaupt zu thematisieren, wie man ein möglichst menschenwürdiges Recht, zu sterben, versteht, wird das Recht, krank zu werden, grundsätzlich infrage gestellt und sogar einfach ausgesetzt, insbesondere im Bezug auf die, denen auch die Zugangsbedingungen zu einer stabilen Arbeit entzogen sind. Die offiziellen und öffentlichen Kampagnen für Volksgesundheit, die uns einladen, »bewährte Methoden« zu übernehmen, die geeignet sind, zu schützen, was man zynischerweise »Gesundheitskapital« nennt, sind reine ideologische Kampfmaschinen. Sie zielen darauf ab, selbst die Idee eines »Rechts, auf eigenen Wunsch krank zu werden«, abzuschaffen. Wir befinden uns dabei an einem Punkt, an dem das »Recht auf Gesundheit« nicht mehr viel anderes ist als die bloße Negierung des »Rechts auf Krankheit«. Aber war das nicht von Anfang an impliziert? Wenn die Sozialmedizin, als Medizin der Armen, von Anfang an eine »Medizin der Arbeitskraft« war, die das Ziel hatte, eben diese Arbeitskraft betriebsbereit zu halten und ihre Produktivität zu steigern, dann implizierte das natürlich, dass man auch ihre Gesundheit so weit als möglich sichern, und ihr somit Zugang zu Behandlungen gewähren musste. Es implizierte aber auch und noch mehr, ihr die Idee eines Rechts, krank zu sein oder zu werden, so abwegig wie möglich erscheinen zu lassen. Dabei gehört ein solches Recht auf Krankheit normalerweise zum Faktum des Lebens selbst. Das anzuerkennen, bedeutet anzuerkennen, dass Verletzbarkeit wesentlich zum Leben gehört. Der Wille, die Produktivität des Lebens zu maximieren – und das Leben zu diesem Zweck gesund zu halten – gibt jedoch keinen Anlass, diese grundsätzliche Verletzbarkeit des Lebens anzuerkennen. Das liegt daran, dass die Bio-Macht grundsätzlich eine Macht ist, die Krankheit und Tod beständig von sich weist. Ihre Daseinsberechtigung ist das konstante Zurückdrängen der dem Leben selbst immanenten Grenzen von Krankheit und Tod. Sie setzt alle Mittel in Bewegung, um das Leben zu maximieren – Leben dabei verstanden als die »Gesamtheit der Kräfte, die gegen den Tod kämpfen«. Gegen diese Macht kommt man

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folglich nicht an, indem man ihr ein Recht auf Gesundheit entgegensetzt, das sie selbst gerade fördern und garantieren will. Was man ihr aber entgegensetzen kann, ist die Forderung eines Rechts auf Verwirklichung der dem Leben eigenen Kraft, eines Rechts auf »Entfaltung der Anlagen des Lebens« und auf »eine Rückbesinnung darauf, was es sein kann«. Dabei erkennt man zunächst wieder an, dass an erster Stelle der Anlagen des Lebens Krankheit und Tod stehen. Diese beiden Anlagen, die wesentlicher Teil des Lebens selbst sind, für sich einzufordern, bedeutet somit, Widerstand gegen eine Macht zu leisten, die das Recht auf Krankheit, das Recht auf Behandlung im Fall von Krankheit, und das Recht auf den Tod, wenn man ihn sich wünscht, permanent negiert. Zudem bedeutet es, einer Macht Einhalt zu gebieten, der es vorgeblich um den Schutz des Rechts auf Gesundheit geht, die dabei aber dieses Recht aushöhlt und jeglichen Inhalts beraubt; denn das Recht auf Gesundheit gibt es in Wirklichkeit nur als das Recht, wieder gesund zu werden, wenn und sobald man krank ist. Weiter bedeutet es, Widerstand gegen eine Macht zu leisten, die Gesundheit nicht einfach als Normalzustand im Unterschied zur Krankheit (als pathologischen Zustand) begreift, sondern als normatives Ideal, das permanent gegen die bloße Möglichkeit des Krankseins und letztlich auch gegen die Wirklichkeit von Krankheit und Tod eingefordert wird. Letztere werden so als Ereignisse, die zum normalen Lauf eines jeden Lebens gehören, verleugnet. Foucaults Verdienst ist es, die Idee einer Bio-Macht als einer Macht formuliert zu haben, die sich als systematische Zurückweisung von Krankheit und Tod konstituiert hat, und deren positiver, direkter und konstanter Einfluss auf das Leben mit dem Zurückdrängen von todbringenden Epidemien und Hungersnöten begann. Man muss aber auch ganz klar sehen, dass man gegen eine solche Macht keinen Widerstand leistet, indem man ein Recht auf Gesundheit einfordert, das sie selbst durch Maximierung des Lebens ins Werk setzt. Man kann nur Widerstand gegen sie leisten, indem man ihr systematisch ein Recht der Lebenden auf geschwächte Lebensformen – seien es Müdigkeit, Erschöpfung, Krankheit oder Behinderung – entgegenhält. Dies stellt die Homogenisierung infrage, der Foucault das Soziale unterwirft, indem er eine grundsätzliche Homogenität der Form der Macht mit den Formen des Widerstands, die ihr entgegengebracht werden oder die sie selbst hervorruft, behauptet. Eine solche Homogenisierung des Sozialen ist bereits bei Nietzsche am Werk, wenn er auf dem dekadenten Charakter insistiert, der den Bourgeoisen und den Proletariern



Die Kritik des »Sozialen«

grundsätzlich gemein sei. Diese Homogenisierung des Sozialen wirkt sich im Wesentlichen entpolitisierend aus, und man kann sie nur unschädlich machen, indem man das Soziale als einen gespaltenen Raum zutage treten lässt, als einen Ort der Konfrontation von entgegengesetzten und einander feindlichen sozialen Kräften. Um ein Beispiel zu geben: Anstatt sich, wie Foucault, in erster Linie damit zu beschäftigen, dass die Bio-Macht und der Widerstand gegen die Bio-Macht gleichermaßen das Leben oder ein Recht auf Leben für sich reklamieren, zeigt man auf, dass sich gegen eine Macht, die allerorts die Maximierung des Lebens fordert, Kämpfe formieren, die das Gegenteil fordern, nämlich die Fragilität des Lebens und ein Recht der Lebenden auf Erschöpfung, Krankheit oder Angewiesensein. Die Kritik hat hier folglich die Funktion, die Strategien einer Macht aufzudecken, die, unter dem Deckmantel eines Rechts auf Gesundheit, in Wahrheit eine Pflicht zur Gesundheit ver- und vorschreibt, und die staatliche Fürsorge [assistance] nur praktiziert, um sich die Behandlung, die den geschwächten Lebensformen zusteht, umso leichter zu ersparen. Damit landet man wieder bei Heidegger und seiner Kritik der Ambiguität der »sozialen Fürsorge«30 als einer stillschweigenden Herrschaft, die das, was eine eigentliche »Sorge« implizieren würde, vermeidet. Damit es ganz klar ist: Es geht natürlich nicht darum, die Verbesserungen, die die Geburt der Sozialtechniken und der Sozialinstitutionen (Sozialversicherungen, soziales Eigentum usw.) dem Los ganzer Bevölkerungen beschert haben, und vor allem den benachteiligtsten Bevölkerungsschichten, zu leugnen. Die Zeit der Zerstörung des Sozialen, die wir aktuell erleben, erinnert uns daran auf bittere und meist auch schmerzhafte Weise. Worum es geht, ist, die Erfindung des Sozialen, was es bedeutete und wozu es diente, politisch zu lesen. Erneut stellen wir fest, dass sich die Sozialphilosophie von der politischen Philosophie insbesondere darin unterscheidet, dass sie der Politik jegliche Autonomie abstreitet, sowie darin, dass ihr theoretischer Standpunkt politisiert ist. Der zweite Aspekt ist übrigens eine Folge des ersten: Die Sozialphilosophie kann einen politischen Standpunkt einnehmen und eine politische Parteinahme fordern, gerade weil sie die Politik wieder in das Soziale eingliedert und das Soziale als das konfliktuelle Terrain betrachtet, auf dem sich gegensätzliche politische Interessen formieren. 30 | [Im Original Deutsch. Anm. d. Ü.]

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Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

Die Sozialphilosophie steht in besonderer Beziehung zu den Sozialwissenschaften, und insbesondere zu einer bestimmten Sozialwissenschaft, nämlich der Soziologie, mit der die vorliegende Untersuchung immer wieder in Berührung gekommen ist. Es könnte sogar so aussehen, dass der Begriff von Sozialphilosophie, den wir vorgeschlagen haben, letztlich kaum etwas anderes ist als eine Art Kreuzung von Philosophie und Soziologie.

S ozialphilosophie und S oziologie Müsste man sich darüber empören? Wundert man sich etwa über die Existenz einer Sozialpsychologie, einer Ethnosoziologie, einer Sozioökonomie, einer Soziolinguistik? Man wird sagen, dass es sich hierbei um Fusionen innerhalb der Sozialwissenschaften handele, während die Sozialphilosophie eine Sozialwissenschaft (die Soziologie) mit einer nicht zu den Sozialwissenschaften gehörigen Disziplin (der Philosophie) verbinde. Das hat es aber schon einmal gegeben, nämlich im Fall der Verbindung von Geschichte und Soziologie, die G. Noiriel unter dem Namen »socio-histoire« [»Soziogeschichte«]1 versuchte. Sollen wir uns an ihm 1 | [»Socio-histoire« wird im Deutschen i.d.R. als »Sozialgeschichte« übersetzt (vgl. z.B. G. Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa, übers. v. J. Lossos u. R. Johannes, Lüneburg 1994), sodass die begriffliche Schwierigkeit, von der hier die Rede ist, im Deutschen nicht in derselben Form existiert. Anm. d. Ü.]

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ein Beispiel nehmen und wäre unserem Verständnis von »philosophie sociale« [»Sozialphilosophie«] besser gedient, wenn wir von »socio-philosophie« [»Soziophilosophie«] sprechen würden? Sollte es schließlich nicht in unserem Interesse sein, den etwas obsoleten Ausdruck »philosophie sociale« aufzugeben? Ich bin mir da nicht sicher. »Socio-philosophie« würde unweigerlich signalisieren, dass man einfach nur zwei Disziplinen nebeneinander stellt; entsprechend muss sich G. Noiriel verteidigen, dass er unter »sociohistoire« nicht einfach nur eine Nebeneinanderstellung von Geschichte und Soziologie versteht. »Die Grundprinzipien beider Disziplinen zu vereinigen«2, ist, wie er schreibt, etwas anderes und auch mehr als lediglich zwei Disziplinen innerhalb der Forschungsbereiche, in denen sie etabliert sind, und die sie jeweils als solche anwenden, nebeneinander zu stellen oder zusammen arbeiten zu lassen. Für G. Noiriel geht es vor allem darum, die Grundprinzipien von Geschichte und Soziologie zu kombinieren. Dafür muss man diese zunächst identifizieren. Wie er dabei vorgeht, ist keineswegs belanglos, sondern für einen sozialphilosophischen Ansatz sogar äußerst lehrreich. Er schreibt, dass »die Geschichte und die Soziologie wissenschaftliche Disziplinen wurden, indem sie, jede auf ihre Weise, die ›Verdinglichung‹ der sozialen Welt ablehnten«3. Die Geschichte zeigte, dass das, woraus unsere soziale und historische Umwelt besteht (Sitten und Bräuche, Institutionen im weiteren Sinne), nicht einfach nur träge und schon immer gegebene Dinge sind, sondern Produkte und Resultate einer Aktivität vorangegangener Generationen, Spuren von Handlungen von Menschen, die vor uns gelebt haben. Die Soziologie dagegen nahm ihren Aufschwung gegen die Form von »Verdinglichung«, die sich Kollektive (wie etwa: den Staat, die Nation, aber auch das Unternehmen oder die Fabrik) »als wirkliche Personen« vorstellt. Gegenstand der Soziologie war es somit, Noiriel zufolge, »diese Entitäten zu dekonstruieren«4, mit dem Ziel, sie als Resultate und Produkte der Beziehungen, die die Individuen miteinander unterhalten, und der Bänder, die sie untereinander knüpfen, zutage treten zu lassen. Man könnte G. Noiriel vorwerfen, dass das, was er hier über die Soziologie im Allgemeinen sagt, zwar zweifellos für die Soziologie Webers 2 | G. Noiriel, Introduction à la socio-histoire, Paris 2008, S. 3. 3 | Ebd. 4 | Ebd., S. 4.

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

gilt, aber sehr viel schwerer auf die Soziologie Durkheims anwendbar ist. Denn Letztere macht sich nicht nur, gerade umgekehrt, zum Prinzip, dass »die sozialen Tatsachen wie Dinge behandelt werden müssen«, sondern geht auch davon aus, dass sie als Wirklichkeiten und Phänomene sui generis erzeugt werden und sich nicht auf Individuen reduzieren lassen, die sie hervorbringen oder konstituieren würden. Anders gesagt, wenn es also irgendwo eine Form von Grundlegung sozialer Gesamtheiten gibt, dann offenbar in der Durkheim’schen Soziologie, anders als G. Noiriel meint. Man kann aber auch sagen, dass Durkheims soziologische Diagnostik den Sinn hat, zu betonen, dass die Individuen in den modernen Gesellschaften enger denn je durch Bänder reziproker Abhängigkeit (nämlich die der Arbeitsteilung) verbunden sind, und dass diese Bänder wesensmäßig durch die »Dinge« übermittelt werden. Man könnte auch der Idee G. Noiriels zustimmen und dafür argumentieren, dass es in der Durkheim’schen Soziologie sehr wohl eine Verdinglichungskritik gibt: Die »Dinge« (die man produziert und austauscht, um soziale Bedürfnisse zu befriedigen, aber auch Dinge wie die Institutionen und der Staat) sind nicht das Erste, sondern nur das Medium des gegenseitigen Bandes von Abhängigkeit und »organischer Solidarität«. Das Band wäre somit das Erste, die »Dinge« das Zweite, ihm nachgeordnete, und die Soziologie nähme effektiv eine Kritik der Verdinglichung des sozialen Bandes vor, die die sozialen Akteure spontan vornehmen würden. Aber G. Noiriel geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet, jenseits der Verdinglichungskritik, ein weiteres »Grundprinzip« der Soziologie, das den »konfliktuellen Charakter der Beziehungen zwischen den Individuen« betrifft, sowie die Kämpfe, von denen der soziale Raum durchzogen ist. Die Soziologie habe von Anfang an den konfliktuellen Charakter der sozialen Beziehungen zum Gegenstand gehabt; denn sie sei »von der Feststellung« ausgegangen, dass »das Leben in Gesellschaft nicht selbstverständlich« sei. Dieses Prinzip der sozialen Konfliktualität eröffnet zwei Forschungsperspektiven: Einerseits die einer Reflexion über das »Problem der sozialen Herrschaft«, und andererseits die einer Reflexion über die »soziale Solidarität«. Der konfliktuelle Charakter der sozialen Ordnung fordert somit eine doppelte Reflexion, nämlich sowohl über die Kämpfe, die die herrschenden Gruppen mit den beherrschten Gruppen innerhalb dieser sozialen Ordnung konfrontieren, als auch über die Strategien, die die Beherrschten anwenden, um untereinander Bänder der Solidarität zu knüpfen.

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Ich tendiere dazu, diese vorrangige Beschäftigung mit den Prinzipien von »Verdinglichungskritik« und »Herrschaftskritik« nicht so sehr für die Grundprinzipien der Soziologie zu halten, als vielmehr für die der Sozialphilosophie; genauer noch, für die der kritischen Sozialphilosophie, die G. Noiriel zur Grundlage seiner Methode macht. Weber und Durkheim muss man schon ein wenig überinterpretieren, um in ihrem Denken, wenn nicht eine Verdinglichungskritik, so wenigstens eine Herrschaftskritik am Werk zu sehen; Lukács, Adorno, Horkheimer oder Sartre (in der Kritik der dialektischen Vernunft) dagegen üben diese doppelte Kritik explizit. Bei ihnen muss man nichts überinterpretieren, es genügt völlig, einfach zu lesen. Anders gesagt: Die »socio-histoire« G. Noiriels scheint nicht so sehr eine Methode zu sein, die sich auf die Grundprinzipien von Geschichte und Soziologie beruft, als vielmehr eine Methode des Historikers, der in die Praxis seiner Disziplin durch die Sozialphilosophie geprägte grundlegende Konzepte einführt, wie etwa die kritischen Konzepte der »Verdinglichung« und der »Herrschaft«. Das bestätigt, dass die Sozialphilosophie nicht nur eine philosophische Methode ist, die selbst auf die Sozialwissenschaften zurückgreift; sie ist auch, umgekehrt, eine philosophische Methode, die die Sozialwissenschaften zu befruchten vermag und diesen Konzepte liefern kann, die imstande sind, ihre Erneuerung oder Wiederbelebung zu ermöglichen. Sozialphilosophie nimmt somit nicht die Synthese zweier bestehender Disziplinen vor, und noch weniger zielt sie darauf ab, eine wie auch immer geartete Hegemonie der Philosophie auf dem Feld der Humanund Sozialwissenschaften zu perpetuieren oder wiederherzustellen. Sie steht vielmehr für eine Methode, die sich einen Weg durch die verschiedenen Disziplinen bahnt (natürlich die Soziologie, aber auch die Geschichte, die Anthropologie, die Sozialpsychologie, die Psychopathologie der Arbeit usw.) und die Ergebnisse der separat voneinander durchgeführten Forschungen aufeinander bezieht. Sie durchquert Forschungsfelder, von denen sie sich nährt und die sie auch umgekehrt zu befruchten sucht. Es ärgert sie nicht im Geringsten, dass die sozialwissenschaftlichen Forscher die Konzepte, die sie produziert, zu weitläufig finden, zu vage und zu allgemein; im Gegenteil, sie wartet darauf, zu sehen, was aus ihren Konzepten wird, wenn sie von einem Soziologen, einem Anthropologen oder einem Historiker neu »angepasst« werden, das heißt wenn sie auf fruchtbaren Boden treffen – wenn sie also tatsächlich in eine theoretische Praxis Eingang finden, deren eigene wissenschaftliche Modalitäten die

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

Sozialphilosophie zugestandenermaßen ignoriert, und wenn sie, so bearbeitet, schließlich tatsächlich Wissen über und Einsicht in bestimmte soziale Phänomene und Prozesse produzieren. Wenn man präzisieren will, inwiefern genau sich die Sozialphilosophie und die Soziologie voneinander abgrenzen und zugleich aufeinander beziehen können, so mag es nützlich sein, auf ein charakteristisches Beispiel zurückzugreifen. Nehmen wir das der Armut und der Analyse der neuen Formen von sozialer Disqualifizierung. Das Beispiel ist erhellend, da es zeigt, inwiefern die Arbeit des Soziologen in einem bestimmten Moment auf ein von der Sozialphilosophie ausgearbeitetes Konzept zurückgreifen kann. S. Paugam etwa befand es kürzlich für nützlich, seine früheren Forschungsergebnisse über die Prekarität unter Rückgriff auf das Konzept der »Anerkennung« zu formulieren. Dies war möglich, weil A. Honneth5 aus dem alten Hegel’schen Konzept der »Anerkennung« ein Werkzeug der Erneuerung der Sozialkritik und des Verstehens der sozialen Kämpfe gemacht hat6, das damit in den letzten zehn Jahren 7 (wieder) ein wichtiges Konzept der Sozialphilosophie geworden ist. Es handelt sich dabei um einen typischen Fall der Übernahme eines von der Sozialphilosophie ausgearbeiteten Konzepts durch die Soziologie. Der Soziologe kann sich das Konzept aneignen, ohne deswegen die systematische Ausarbeitung des Konzepts ausgehend von drei grundsätzlichen Formen der Verweigerung der Anerkennung8, wie der Philosoph sie vorgelegt hat, übernehmen zu müssen. Er kann es als synthetische 5 | A. Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. vom selben Autor u.a. auch Pathologien des Sozialen. In Frankreich wurde das Konzept der Anerkennung ausgehend von einem Standpunkt sozialkritischer Philosophie durch E. Renault ausgearbeitet (Mépris social. Éthique et politique de la reconnaissance, Bègles 2000; L’Expérience d’injustice. Reconnaissance et clinique de l’injustice, Paris 2004). Ich selbst habe meinen Teil zur Wiederbelebung des Konzepts der Anerkennung beigetragen in Fichte et Hegel. La reconnaissance, Paris 1999. 6 | Woran man die für die Konzepte der Sozialphilosophie typische doppelte Dimension erkennt: Kritik und Heuristik. 7 | [In den letzten zehn Jahren vor Erscheinen dieses Buches auf Französisch, das heißt vor 2009. Anm. d. Ü.] 8 | Vor allem die 1) Nichtanerkennung bzw. Missachtung als Verletzung der physischen Integrität, 2) Missachtung als Verweigerung der moralischen Autonomie

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Formulierungshilfe für seinen Hauptbefund bezüglich der Arbeitswelt verwenden, nach dem er zwischen »Beschäftigungsprekarität« [précarité de l’emploi] und »Arbeitsprekarität« [précarité du travail] unterscheidet. S. Paugam zufolge bezeichnet die Beschäftigungsprekarität das, was man normalerweise unter Prekarität versteht: Die Abwesenheit von Arbeit, die Schwierigkeit, Arbeit zu finden oder wieder Arbeit zu finden, nachdem man sie verloren hat, sowie die Zunahme von befristeter Arbeit und unsicheren Verträgen. Prekarität breitet sich in diesem Sinne auf alles aus, was mit Verlust oder Abwesenheit von Arbeit einhergeht: Verlust der sozialen Absicherung, Verlust des Risikoschutzes (Unfälle, Krankheiten), Verlust der Wohnung und Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, eine neue Wohnung zu finden usw. Unter Arbeitsprekarität hingegen versteht S. Paugam eine Entwicklung, die nicht nur diejenigen betrifft, die ihre Arbeit verloren haben, die sich in einem unsicheren Beschäftigungsverhältnis befinden oder nur zeitweise beschäftigt sind, sondern auch die Individuen, die Arbeit haben. In diesem Fall geht es also um die Verschlechterung der Arbeit selbst, die diejenigen betrifft, die – einfach nur, um überhaupt Arbeit zu haben – bad jobs annehmen müssen, das heißt Arbeit, die ihre Würde oder ihren Selbstwert verletzt. Die Arbeitsprekarität breitet sich jedoch über die bad jobs hinaus aus. Auch Angestellte bekommen sie (insbesondere in Form psychischer Leiden) zu spüren, sofern die Managementtechniken von Unternehmen zunehmend auf die Leistung des Einzelnen setzen, ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Angestellten schüren und die kollektive Gegenwehr schwächen. Um diesen zweiten Typ von Prekarität zu benennen und zu beschreiben, greift S. Paugam auf das Konzept der »Anerkennung« zurück: »Die Analyse der Prekarität des Arbeitslebens«, schreibt er, »muss ausgehend von ihrem Bezug zur Arbeit und ausgehend von ihrem Bezug zur Beschäftigung stattfinden, denn diese stellen zwei verschiedene Dimensionen der Integration in das Arbeitsleben dar, eine so grundlegend wie die andere […]; später werde ich sagen, dass die Beschäftigungsprekarität auf die Problematik der Absicherung verweist, und die Arbeitsprekarität auf die der Anerkennung«. Dies, fügt der Soziologe hinzu, »ermöglicht eine Verifizierung der Annahme, dass der Begriff der Anerkennung nicht zuletzt dazu beiträgt, zumindest indirekt die Frage nach der entund der Eigenschaft als Rechtsperson, 3) Missachtung als Abwesenheit sozialer Achtung und Wertschätzung (vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, S. 212ff.).

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

würdigenden Arbeit zu stellen«9. Der Philosoph sollte sich mit einem Urteil darüber zurückhalten, dass die soziologische Verwendung »seines« Konzeptes der Anerkennung eine durchaus erhebliche Einschränkung hinnehmen muss; er sollte es im Gegenteil begrüßen, dass das Konzept zu tatsächlichem, und damit notwendigerweise sowohl präzisem wie auch begrenztem soziologischen Wissen führt. Das ist ein Merkmal der Entstehung von Wissen an der Kreuzung von einem philosophischen Konzept (Anerkennung) mit einer soziologischen Unterscheidung (Beschäftigungsprekarität und Absenkung des Sozialversicherungsniveaus, Arbeitsprekarität und Verweigerung von Anerkennung). Das Gleiche geschieht, wenn das Konzept der Anerkennung auf die von Bourdieu vorgeschlagene Unterscheidung zwischen dem »situationsbedingten« (oder dem »großen«) und dem »positionsbedingten« (oder dem »kleinen«) Elend trifft10. Beide gehören zu dem, was R. Castel die »soziale Unsicherheit« nennt11, aber Erstere bezeichnet die Situation derer, für die die Privatisierung der Beschäftigung zu einem Verlust jeglicher Absicherung führt, nicht nur sozial, sondern auch materiell; das »positionsbedingte Elend« dagegen ist die Erfahrung derer, die eine Beschäftigung haben, aber eine solche, die ihnen keine soziale Wertschätzung einbringt und die zum Verlust ihres Selbstwertes mit dem Gefühl der sozialen Nutzlosigkeit führt, kurz gesagt, zu psychischem und sozialem Leiden aufgrund der Verweigerung von Anerkennung.12 Dieses Beispiel der Verwendung eines ursprünglich sozialphilosophischen Begriffes durch die Soziologie darf uns nicht zu einer Vernachlässigung des umgekehrten Phänomens führen, nämlich der Art und Weise, in der die Sozialphilosophie selbst den Kontakt zu den Sozialwissenschaf9 | S. Paugam, N. Duvoux, La Régulation des pauvres, Paris 2008, S. 67. Ähnliche Überlegungen stellt S. Paugam im Vorwort zur Neuauflage aus dem Jahr 2007 seines Buches Le Salarié de la précarité an (Paris 2007, S. XVI-XVII). 10 | P. Bourdieu (Hg.), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnose alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, übers. v. B. Schwibs u.a., Konstanz 1997, S. 19. 11 | R. Castel, Die Stärkung des Sozialen: Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, übers. v. M. Tillmann, Hamburg 2005. 12 | Bourdieus Diagnose lautet, dass diejenigen, die dem »positionsbedingten Elend« und damit der Verweigerung von Anerkennung am meisten ausgesetzt sind, genau die sind, die Berufe haben, »deren Aufgabe es ist, aktiv mit der großen Not umzugehen oder darüber zu sprechen«. P. Bourdieu, Das Elend der Welt, S. 19.

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ten braucht, um durch diese ergänzt zu werden und sich zu entwickeln. Besonders deutlich wird dies in den Arbeiten von E. Renault, in denen man sieht, wie die ursprüngliche Idee, derzufolge Anlass der Kämpfe um Anerkennung negative Erfahrungen »sozialer Missachtung« sind13, in beachtlichem Maße erweitert wird durch die im Kontext der Psychopathologie der Arbeit entstandenen Untersuchungen, besonders durch die Arbeiten von C. Dejours, bis schließlich das Konzept der »sozialen Missachtung« ersetzt wird durch das des »sozialen Leidens«. Dieses Konzept ist geeigneter als das vorherige, mit empirischen Umfragen verbunden zu werden; es erleichtert die Kreuzung theoretischer Fachbereiche (Psychologie, Psychoanalyse, Ergonomie usw.) mit Praktiken, sogar mit ganzen institutionellen Sektoren (wie etwa der Sozialmedizin); und es lässt sich besser auf den Erfahrungsgehalt der Akteure beziehen, der viel leichter und genauer objektivierbar und identifizierbar ist als es die Erfahrungen von Missachtung und Verweigerung von Anerkennung sind.

D ie kritischen K onzep te Die Sozialphilosophie produziert somit Konzepte, die, neu angepasst vom Soziologen, das soziologische Wissen erweitern können. Dennoch bleibt die Sozialphilosophie Philosophie; sie verwechselt sich nicht mit der Soziologie und tendiert auch nicht dazu. Als Philosophie und als Sozialphilosophie hat sie spezifische Charakteristika, deren erstes ist, dass sie eine bestimmte Art von Konzepten ausarbeitet, die ich »kritische Konzepte« nennen würde, das heißt Konzepte, die geeignet sind, sowohl die negativen Erfahrungen der Akteure zusammenzutragen, als auch ein objektives Feld oder Forschungsgebiet der sozialen Welt zu bestimmen, das mit den von der Soziologie erworbenen Werkzeugen abgesteckt und untersucht werden kann. Die Sozialphilosophie arbeitet somit Konzepte aus, die in der Lage sind, an die Alltagssprache anzuknüpfen und die von den Akteuren selbst verwendet werden können. Die Akteure können sie je nach Bedarf aufgreifen und zum Ausdrucksmittel ihres Empfindens von negativen sozialen Erfahrungen machen, oder auch zum Ausdrucksmittel der Gründe und Motive, aus denen sie nach einer Transformation derjenigen

13 | Vgl. E. Renault, Mépris social.

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

sozialen Bedingungen streben, die ihnen nur beschädigte, geschwächte oder erniedrigte Lebensformen erlauben. Typische Konzepte der Sozialphilosophie, wie etwa das Konzept der Entfremdung, der Verdinglichung oder des Kampfes um Anerkennung haben, scheint mir, genau diese Rolle gespielt; und sie können diese Rolle definitiv noch immer spielen – aber nur unter der Voraussetzung, dass man sie nicht als Konzepte betrachtet, deren Sinn ein für allemal fixiert wäre, das heißt unter der Voraussetzung, dass man sie überarbeitet und den sozialen Erfahrungen unserer Gegenwart entsprechend neu anpasst.14 Was aber die Konzepte dieses Genres, das heißt die Konzepte der Sozialphilosophie, auszeichnet, ist ihre Verfügbarkeit. Sie können unmittelbar außerhalb des philosophischen Rahmens ihrer Verfertigung angewandt und nicht nur von den Soziologen in Beschlag genommen werden, die aus ihnen Forschungswerkzeuge machen, sondern auch von den sozialen Akteuren, die sie benutzen, um die Bedeutung ihrer negativen Erfahrung des Sozialen zusammenzufassen und zu resümieren. Es versteht sich von selbst, dass die Aufgabe der Sozialphilosophie nicht darauf beschränkt ist, sich Konzepte aus einer früheren Phase ihrer Geschichte wiederanzueignen und abzuändern. Ihre Aufgabe besteht auch darin, neue Konzepte anzufertigen – so wie es beispielsweise E. Renault kürzlich mit dem Konzept des »sozialen Leidens«15 getan hat, oder G. le Blanc mit den Konzepten der »Stimme der Stimmlosen«16 und der »gesellschaftlichen Unsichtbarkeit«17. Die grundlegende Funktion der Konzepte der Sozialphilosophie besteht folglich darin, die verschiedenen For14 | A. Honneth hat Sinn und Gehalt der Konzepte des Kampfes um Anerkennung und der Verdinglichung jeweils philosophisch neu erarbeitet in Kampf um Anerkennung, und Verdinglichung: Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a.M. 2005. Das Konzept der Entfremdung wurde neu erarbeitet von R. Jaeggi, Entfremdung, Frankfurt a.M./New York 2005, S. Haber, L’Aliénation, sowie von mir in Sans objet. Subjectivité, capitalisme, aliénation. 15 | E. Renault, Souffrances sociales. 16 | G. le Blanc, Vies ordinaires, vies précaires. 17 | G. le Blanc, L’Invisibilité sociale. Bezüglich des Konzepts der Unsichtbarkeit vgl. auch die Arbeiten von O. Voirol: »Les formes de l’invisibilité« in: M. Garrau, A. le Goff (Hg.), La Reconnaissance: Perspectives critiques, Paris 2009; »Invisibilité et ›système‹. La part des luttes pour la reconnaissance«, in: A. Caillé, Ch. Lazzeri (Hg.), La Reconnaissance aujourd’hui, Paris 2009.

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men negativer sozialer Erfahrung zu validieren und zu legitimieren, und ihnen, indem sie sie zusammenfasst, resümiert und schlicht und einfach beim Namen nennt, zu einer zuvor nicht gekannten Sichtbarkeit zu verhelfen. Diese Sichtbarkeit kann ihrerseits auf die Subjekte dieser Erfahrungen einen Effekt des Empowerment haben, der den Weg für politische Mobilisierung ebnet. Das ist die Rolle des Philosophen, insbesondere die des Sozialphilosophen. A. Badiou nennt diese Rolle »Schweißer der getrennten Welten«18 : Sie besteht darin, die Welt der als legitim erachteten Diskurse mit der Welt der unterdrückten und abgewerteten Stimmen zusammenzuschweißen.

S ozialkritik und S elbstrefle xion Man sieht, dass das Konzept der »Kritik« selbst über die Produktion solcher »kritischen Konzepte« hinaus eine zentrale Rolle für die Sozialphilosophie spielt. Wenn es ihr gelingt, die negativen sozialen Erfahrungen zu artikulieren und sich selbst auf sie zu beziehen, dann kann sie auch ihre Funktion der Sozialkritik gewährleisten. Wenn jedoch diese Sozialkritik zugleich eine philosophische Kritik sein und bleiben soll, so muss sich ihr Diskurs gewissen Zwängen aussetzen, oder, um es positiver zu formulieren, gewissen Ansprüchen genügen, die Diskurse, die nicht philosophisch zu sein behaupten, nicht kennen und ignorieren können. Der erste dieser Ansprüche ist jener der Kohärenz: Als kritische Sozialtheorie muss die Sozialphilosophie sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen. Diesen Anspruch formuliert M. Postone ganz klar: »Eine gesellschaftskritische Theorie, die von der gesellschaftlichen Bestimmtheit der Menschen und ergo ihres Bewußtseins ausgeht, muß auch die bloße Möglichkeit ihrer eigenen Existenz erklären können.«19 Wenn die Frage der Selbstreflexion in der Geschichte der Sozialphilosophie stets eine Rolle gespielt hat, dann liegt das daran, dass sie selbst stets einen im eigentlichen Sinne philosophischen Anspruch auf Kohärenz mit sich 18 | A. Badiou, Zweites Manifest für die Philosophie, übers. v. Th. Wäckerle, Wien/Berlin 2010, S. 28. 19 | M. Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, übers. v. C. Seidler, W. Kukulies, P. Haarmann, N. Trenkle u. M. Dahlmann, Freiburg 2010, S. 223.

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selbst hatte. Das erklärt beispielsweise Habermas’ kritische Marx-Interpretation in Erkenntnis und Interesse. Er verdächtigt die Marx’sche Theorie, nicht imstande zu sein, sich selbst und ihrer eigenen Existenz reflexiv Rechnung zu tragen, und zwar aufgrund der entscheidenden Bedeutung, die Marx dem Paradigma der Produktion und der Arbeit zulasten der Bedeutung der Reflexion beimisst, das heißt zulasten der kritischen Instanz selbst.20 M. Postone zeigt, dass dieser Verdacht der selbstreflexiven Inkohärenz, die Habermas Marx vorwirft, großteils ungerechtfertigt ist; Marx ist dagegen gewappnet, und zwar seit der Schrift Die deutsche Ideologie, wo er schreibt: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.«21 Anders gesagt: Was über die Möglichkeit eines kritischen Standpunktes im Bezug auf die bestehende soziale Wirklichkeit Rechenschaft ablegt und was sie erklärt, ist die Existenz einer Bewegung oder eines Prozesses in dieser sozialen Wirklichkeit, die bzw. der bereits dabei ist, sie von innen aufzuheben. In den Begriffen der Schriften des späten Marx sind es die dem Kapitalismus selbst immanenten Widersprüche, die die Möglichkeit eines kritischen Standpunktes erklären, der, in der Theorie, die Kritik am Kapitalismus und dessen Negation zum Ausdruck bringt. Die kapitalistische Gesellschaft generiert als widersprüchliche Gesellschaft in und aus sich selbst die Möglichkeit der Sozialkritik. Marx begründet damit eine kritische Methode, die keine dem Kapitalismus externe Position voraussetzt, was unmöglich wäre, sondern eine, die ihm vielmehr vollkommen immanent ist. Über Marx hinaus stellte sich die Frage der Selbstreflexion und der Kohärenz der Sozialphilosophie von neuem im Kontext der Frankfurter 20 | Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1992, v.a. S. 59: »So entsteht im Werke von Marx ein eigentümliches Mißverhältnis zwischen der Forschungspraxis und dem eingeschränkten philosophischen Selbstverständnis dieser Forschung. In seinen inhaltlichen Analysen begreift Marx die Gattungsgeschichte unter Kategorien der materiellen Tätigkeit und der kritischen Aufhebung von Ideologien, […], der Arbeit und der Reflexion in einem; aber Marx interpretiert, was er tut, in dem beschränkten Konzept einer Selbstkonstitution der Gattung allein durch Arbeit.« – Womit er riskiere, die Existenz des reflexiven und zugleich kritischen Standpunktes, der doch der seine sei, nicht mehr erklären zu können. 21 | K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie, S. 35.

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Schule, mit einer Schärfe, die typisch ist für die Theoretiker der ersten Generation derselben. Fehler und Grenze der ersten kritischen Theorie22 sind in einem gewissen Sinn, dass sie einen Wirklichkeitsaspekt der kapitalistischen Gesellschaften isoliert und abstrahiert haben, nämlich die »Arbeit«, und auf dieser Basis eine Kritik dieser Gesellschaften für möglich hielten. Dabei übersahen sie, dass es unmöglich ist, eine Kapitalismuskritik gleich welcher Art zu begründen, wenn man einzig vom Konzept der Arbeit ausgeht – aus dem simplen und guten Grund, dass der Kapitalismus selbst Konzept und Wirklichkeit von Arbeit vollkommen neu definiert und konfiguriert hat. Die »Arbeit« hat keine überhistorische Wirklichkeit, auf Basis derer eine Kritik der spezifischen Form, die sie im Kapitalismus annimmt, möglich würde. Auf der zur Wertquelle abstrahierten menschlichen Arbeit – was genau die Definition und Neukonfiguration der Arbeit im Kapitalismus ist – kann man in keiner Weise eine Kritik des Kapitalismus gründen; und offensichtlicherweise kann man sich noch weniger auf ältere Formen der Arbeit stützen, die der Kapitalismus selbst hinfällig gemacht hat (wie etwa die Arbeit als Erzeugerin von Nutzwerten). Eine Kritik, die einen Gesellschaftsaspekt isoliert und verabsolutiert, um auf dieser Basis das Ganze dieser Gesellschaft zu kritisieren, ist eine partielle Kritik, die als solche nicht in der Lage sein kann, sich selbst reflexiv Rechnung zu tragen.23

22 | Ich denke insbesondere an M. Horkheimer, der in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M. 1967 meint, dass die Arbeit in Widerspruch zu den kapitalistischen sozialen Beziehungen gerät; entsprechend begründet er auf der Arbeit die Möglichkeit der Existenz einer kritischen Instanz. Damit übersieht er aber, dass man aus der Arbeit an sich keine den kapitalistischen sozialen Beziehungen externe Wirklichkeit machen kann. Die Spezialität dieser Beziehungen ist es schließlich, dass sie die soziale Arbeit als abstrakte menschliche Arbeit vollständig neu konfiguriert haben. Der Irrtum besteht darin, aus der Arbeit eine überhistorische oder sogar ahistorische Kategorie zu machen. 23 | Man könnte meinen, dass Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung den totalisierenden Anspruch der Kritik wiedergefunden hätten. Aber dieser Anspruch entgleitet weitgehend, insofern die Kritik sich auf die Gesamtheit des zivilisatorischen Prozesses bezieht, anstatt sich auf eine historisch situierte bestimmte soziale Form zu beschränken. Daher stößt die Kritik wieder auf das Problem der Selbstkohärenz: Wenn es der gesamte Zivilisationsprozess ist, der sich

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Aufgrund des Anspruches auf Selbstkohärenz ist die von der Sozialphilosophie vorgebrachte Kritik keine partielle und von außen herangetragene Kritik, sondern eine totalisierende und immanente Kritik. Darunter verstehen wir eine Kritik, die sich nicht auf ein in abstrakter Weise isoliertes Element des Ganzen stützt, sondern eine Kritik, die ins Herz der kritisierten Gesellschaft selbst zielt. Von diesem ausgehend lässt sich die Gesellschaft als die Totalität, die sie bildet, erfassen, und zugleich der Möglichkeit der Entstehung eines kritischen Standpunktes darin Rechnung tragen. Ermöglicht wird dies letztlich durch den Kapitalismus selbst, insofern die Gesellschaftsform, die er hervorbringt, homogen ist wie keine andere. Diese Homogenität der kapitalistischen Gesellschaft, in der sich die Individuen in einem System gegenseitiger Abhängigkeit finden und einem von früheren Gesellschaften ungekannten objektiven Zwang ausgesetzt sind, sorgt dafür, dass sich diese Gesellschaft mehr denn jede andere als Totalität darstellt, geeignet, als solche begriffen und kritisiert zu werden. Genau das lässt auch jede partielle Kritik als unzureichend erscheinen.24 Diese starke Homogenität der kapitalistischen Gesellschaft ermöglicht eine Kritik, die nicht partiell ist, sondern totalisierend; sie zielt darauf ab, das strukturierende Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft zutage zu fördern. Dies ist Marx’ Anspruch, wenn er den Wert als das gesuchte strukturierende Prinzip bezeichnet, als den Kern der kapitalistischen Gesellschaft. Dass der materielle soziale Reichtum die Form des Wertes annimmt, das heißt eine Form, die gänzlich unabhängig von den sozialen Bedürfnissen ist, und dass daher die soziale Arbeit die Form abstrakter menschlicher Arbeit annimmt, deren Produkte nicht mehr in erster Linie Nutzwerte sind, nützliche Dinge, sondern Waren, das heißt »wertvolle Dinge«, und dass schließlich die Produktion eine Warenproduktion

als pathologisch erweist, wie kann dann darin die Möglichkeit eines kritischen Standpunktes bewahrt worden sein? 24 | Diese Homogenität ist im übrigen vollkommen kompatibel mit dem widersprüchlichen Charakter der kapitalistischen Gesellschaft: Die soziale Homogenisierung geschieht im Rahmen und durch die Verbreitung der widersprüchlichen Dynamik des Kapitals.

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wird, das heißt die Produktion von Dingen, denen man Wert beimisst 25 – all das machte Marx zufolge die grundlegende historische Neuheit des Kapitalismus und zugleich das strukturierende Prinzip aus, das sämtliche sozialen Praktiken und Bewusstseinsformen der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt. Dieses Prinzip zu identifizieren und der Kritik zu unterziehen, setzt keine Position voraus, die der durch dieses Prinzip strukturierten Gesellschaft extern wäre, sondern im Gegenteil eine im Vergleich zu den früheren ökonomischen Theorien viel radikalere Immanenz der kritischen Position. Denn diese waren sich ihres eigenen Eingeschriebenseins in die Gesellschaft, die sie beschrieben, nicht bewusst; sie tendierten alle dazu, deren Strukturen als ewig, ahistorisch und der Natur der Dinge eingeschrieben zu betrachten. Marx’ Anspruch auf reflexive Selbstkohärenz der Kritik führt ihn dazu, Konzepte auszuarbeiten, die sowohl den Kern der kapitalistischen Gesellschaftsform beschreiben (die Konzepte der Ware und des Werts), als auch den widersprüchlichen Charakter des Kapitalismus selbst zum Ausdruck bringen (das Konzept der Ware als gleichzeitig und widersprüchlicherweise sowohl »sinnlich« als auch »übersinnlich« gegeben und das Konzept der Arbeit, das unter der Herrschaft des Kapitals gleichzeitig und widersprüchlicherweise »abstrakte Arbeit« und »lebendige Arbeit« ist). Diesen doppelten Anspruch der reflexiven Selbstkohärenz und des Erfassens des den Kern einer Gesellschaftsform konstituierenden Prinzips (im Sinne des Formulierens einer Kritik derselben, die immanent und zugleich totalisierend ist, die also nicht nur von außen kommt und partiell ist) scheint mir die Sozialphilosophie beibehalten zu müssen, wenn sie nicht darauf verzichten will, Philosophie zu sein.

25 | Die Verbindung zwischen »Ware« [marchandise] und »Markt« [marché] im Französischen ist kontingent: Es gibt sie weder im Deutschen, noch im Englischen. Die Verbindung bringt uns leider dazu, zu denken, dass die Ware eine Kategorie ist, die zur Sphäre der Zirkulation und der Distribution gehört. Dem ist aber nicht so, wenigstens nicht bei Marx, für den die Ware eine Kategorie der Produktion ist und das Ergebnis einer Produktion bezeichnet, die auf dem Wert gründet. »Ware« bezeichnet ein Ding, dem Wert beigemessen wird, ganz unabhängig davon, dass diese Ware sofort auf einen Markt getragen werden kann. Ebenso bezeichnet »Warenproduktion« eine Produktion, die auf dem Wert gegründet ist, und nicht eine Produktion, die durch den Markt reguliert wird.

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E inwände Um diese Untersuchung abschließen zu können, müssen wir noch auf zwei Schwierigkeiten eingehen, mit denen sich die Sozialphilosophie konfrontiert sieht, und die auch die Haupteinwände darstellen, die man gegen sie erheben kann. Um es vorwegzunehmen: Man kann der Sozialphilosophie einerseits ihren Normativismus vorwerfen, und andererseits ihren Substanzialismus. Der Antinormativismus ist charakteristisch für einen Großteil der politischen Philosophie des sogenannten »Poststrukturalismus«. Der Verdacht (um es gelinde auszudrücken) gegenüber dem Normativen ist, insofern dieses stets zugleich präskriptiv ist, sehr weit verbreitet in der Philosophie, wie auch in den Humanwissenschaften im Allgemeinen, vor allem in Frankreich. Wenn man sich in den Fußstapfen der Arbeiten Foucaults bewegt, so kann man leicht versucht sein, davon auszugehen, dass eine soziale Norm stets an eine Form von sozialer Herrschaft gebunden sei. Was die Akteure als Norm oder als Ideal fixieren, wäre in den allermeisten Fällen nichts anderes als das Produkt ihrer Verinnerlichung der sozialen Herrschaft, der sie selbst ausgesetzt sind.26 Nun wäre aber der Normativismus der Sozialphilosophie unmittelbar vorgegeben durch ihre Methode einer Diagnostik der »sozialen Pathologien« oder der »Pathologien des Sozialen«, wie A. Honneth sagt. Zu sagen, dass es Pathologien des Sozialen gibt, scheint vorauszusetzen, dass es einen sozialen Normalzustand gibt, im Bezug auf den sich bestimmen lässt, was ein anormaler und damit pathologischer Zustand wäre. So stellt A. Honneth fest, dass die Methode der Sozialphilosophie dazu führt, dass »Störungen kritisiert werden, die mit psychischen Krankheiten die Eigenschaft teilen, daß sie Lebensmöglichkeiten einschränken oder deformieren, die als ›normal‹ oder ›gesund‹ vorausgesetzt werden«27. 26 | Nachdem dieses antinormative Foucault ’sche Erbe im Feminismus besonders präsent ist, vor allem bei J. Butler, nehmen wir das Beispiel von Frauen, deren Ideal es ist, eine Familie gründen zu wollen. Dieses Ideal kann man so verstehen, dass es in Wirklichkeit das Produkt ihrer Verinnerlichung einer Norm ist, in dem Fall die verbindliche, monogame und reproduktive Norm der Heterosexualität; diese Norm wäre selbst nichts anderes als der Ausdruck der männlichen Herrschaft. 27 | A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, S. 57f.

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Wenn man beispielsweise eine bestimmte soziale Situation kritisiert, weil die Individuen darin nur zu prekarisierten Arbeitsformen Zugang haben, so impliziert dies, dass man die normale soziale Situation als die betrachten würde, die den Individuen stabile Arbeitsformen verschafft, die die Arbeit zugleich zum Ort einer Selbstverwirklichungserfahrung machen. Man kann der Sozialphilosophie somit vorwerfen, dass sie als selbstverständlich annimmt, dass es besser ist, eine Arbeit zu haben als keine Arbeit zu haben, oder dass eine stabile Arbeit zu haben besser ist als eine instabile Arbeit zu haben, was nicht nur darauf hinausläuft, eine Situation für normal zu befinden und eine andere für anormal, sondern auch darauf, für eine herrschende Norm innerhalb der sozialen Ordnung zu bürgen. Aus einer normativen Sozialphilosophie würde so schnell eine präskriptive Sozialphilosophie, die Arbeit als zwangsläufigen Weg eines normalen sozialen Lebens vorschriebe. So würde man es versäumen, die entscheidende Frage zu stellen, »ob sich um ein Leben zu sorgen zwangsläufig bedeutet, es wieder in Arbeit zu bringen, unter Verweis der sozialen Klinik auf eine Normalität, die sich durch Arbeit einstellen würde; oder ob es bedeutet, es in seiner relativen Exzentrik im Bezug auf die Kreativität des Lebens zu begleiten, bis hin zu Abweichungserscheinungen von der Arbeitsnorm«28. Schlimmer noch: Dieses Vorschreiben der Arbeitsnorm oder der Arbeit als Norm führt zu einer Kompromittierung der kritischen Funktion der Sozialphilosophie, indem man jegliches Infragestellen der spezifischen Form, die die Arbeit in einer gegebenen Gesellschaft annimmt, verhindert; in der kapitalistischen Gesellschaft wäre dies vor allem die Form der abhängigen Beschäftigung. Wenn man diese Form als Norm hinnimmt, so ist sie nicht mehr hinterfragbar; sie ist dann eingebürgert und der Kritik nicht länger zugänglich. Sie vorschreiben zu wollen, würde bedeuten, jegliche Form von Selbstverwirklichung als allein durch Arbeit möglich anzunehmen; damit würde man aus dem Blick verlieren, dass die vorherrschende Form der Arbeit selbst der Selbstverwirklichung der größtmöglichen Zahl im Weg stehen kann. Wir müssen daher präzisieren, dass die Idee der Sozialpathologie – wenigstens wie ich sie hier verstehe – keine implizite Referenz auf einen sozialen Normalzustand transportiert, den es zu erreichen oder wiederherzustellen gälte. Die Idee der Sozialpathologie bezieht sich zunächst 28 | G. Le Blanc, L’Invisibilité sociale, S. 168.

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auf die Feststellung eines sozialen Leidens, und zwar nicht verstanden im Sinne eines »Leidensbegriffes, [der] getrennt [wäre] vom gesellschaftlichen Diskurs über das Leiden«29. Dies deutet an, dass die Idee einer Sozialpathologie direkt verknüpft ist mit dem Diskurs, den die sozialen Akteure selbst zu artikulieren imstande sind, was ihr Verständnis und Empfinden von sozialem Leiden betrifft. Man sieht, dass Normativität, wenn der Philosoph eine soziale Pathologie diagnostiziert, nicht übernommen und den sozialen Akteuren aufgezwungen wird, sondern dass es sich vielmehr um Normativität handelt, die Letztere selbst tragen. Sie selbst sind es, die eine Differenz aufmachen zwischen normalem sozialen Leiden und sozialem Leiden, das sie selbst als anormal bewerten, insofern ihre Kriterien und Hoffnungen bezüglich ihrer Vorstellung von Selbstverwirklichung nicht erfüllt werden, da die sozialen Bedingungen, unter denen sie leben, dies nicht gestatten. Wenn es also einen normativen Horizont gibt, dann den des sozialen Lebens und seiner Akteure selbst; es ist der Erwartungshorizont derer, die am sozialen Leben teilhaben und die sich von dieser Teilhabe erhoffen, dass sie ihnen die Bedingungen eines erfüllten und gelingenden Lebens verschafft. In noch radikalerer Weise jedoch kann man Einwände gegen die Art erheben, in der die Sozialphilosophie in ihrer Sozialkritik das Konzept der »Pathologie« – und allgemeiner medizinische Metaphern überhaupt – verwendet. Die radikalste und argumentativ gründlichste Form dieser Zurückweisung findet sich unzweifelhaft bei J. Rancière: »Die Verfahren der Gesellschaftskritik haben nämlich zum Zweck, sich um die Unfähigen zu kümmern, die nicht sehen, nicht verstehen, was sie sehen, und die nicht das angeeignete Wissen in engagierte Energie umwandeln können. Denn die Ärzte brauchen diese zu behandelnden Kranken. Um ihre Unfähigkeiten zu behandeln, müssen sie sie unendlich reproduzieren. Um diese Reproduktion nun sicherzustellen, genügt die periodische Wendung, die Gesundheit in Krankheit und Krankheit in Gesundheit verwandelt.« 30

29 | E. Renault, Souffrances sociales, S. 266. 30 | J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, übers. v. R. Steurer, Wien 2010, S. 59f.

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J. Rancière zeigt den Zirkel auf, in dem die Sozialkritik unvermeidbar gefangen zu sein scheint: Um behaupten zu können, dass sie sich, wenn nicht gleich um die Gesellschaft selbst, so zumindest um die sorgt, die diese Gesellschaft »krank« macht, ist die Kritik darauf angewiesen, dass diese Kranken auch existieren; und damit sie selbst Kritik bleiben kann, müssen diese Kranken krank bleiben, die Kritik muss sie als Kranke reproduzieren. Das heißt: Der Kritiker ist nicht nur angewiesen auf die, die er als krank bezeichnet, sondern auch darauf, dass diese zugleich Unfähige sind und nicht in der Lage, sich um sich selbst zu sorgen. Das ist offensichtlich notwendig, denn anderenfalls würde der »Kritikerarzt« jegliche Daseinsberechtigung verlieren. Noch besser als machtlose Kranke sind aber, J. Rancière zufolge, ahnungslose Kranke, Kranke also, die nicht wissen, dass sie krank sind – sie schätzt die Gesellschaftskritik noch mehr. Ihnen gegenüber ist der Kritiker in der Position dessen, der verstanden hat, dessen, der weiß und der gesehen hat: Er hat gesehen, dass die Gesellschaft ein Dispositiv ist, das nicht nur zwangsläufig krank macht, sondern dies auch in einer Weise tut, dass die Kranken gar nicht erkennen, dass sie krank sind. Mit solchen ahnungslosen Kranken hat der Gesellschaftskritiker eine rosige Zukunft vor sich: Seine Kranken wissen nichts davon, dass sie krank sind, können sich folglich nicht um sich selbst sorgen wollen, werden folglich immer krank sein, und der Kritiker bleibt auf ewig Kritiker. J. Rancières Argument trägt, unter der Voraussetzung, dass die Sozialkritik tatsächlich von einem therapeutischen Willen beseelt ist. Es gibt zweifellos Beispiele, auf die das zutrifft; das jüngste ist G. le Blancs Vorschlag einer Verbindung von »Kritik und Klinik«31. Deren Ziel ist es, mit der Gesellschaftskritik eine Dimension zu verbinden, die er »Klinik« nennt; sie wäre die Dimension der »Versorgung« [soin] und käme jenen zu, die sozial leiden. Im Bezug auf dieses Projekt des »Versorgens« der durch »gesellschaftliche Unsichtbarkeit« bedrohten Leben gelten meiner Ansicht nach die Einwände, die ich gegen die Übernahme einer sozialen Rolle oder Funktion der Sozialphilosophie vorgebracht habe. Die Sozialphilosophie hat sich nicht selbst »um soziale Angelegenheiten zu kümmern«, ihre Aufgabe ist es vielmehr, ein kritisches Bewusstsein dessen zu schaffen, was man das »Soziale« nennt. Ich stimme J. Rancière hierin vollkommen zu: Setzt nicht der Wille, sich um prekarisierte Individuen 31 | G. le Blanc, L’Invisibilité sociale, Kapitel VII, S. 161-178.

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zu sorgen, voraus, dass diese nicht imstande sind, sich um sich selbst zu sorgen? Sie selbst sind nicht wissend, aber es gibt andere, die für sie wissend sind, und die sich um sie sorgen werden. Dieses »sie« bezeichnet nichts anderes als unfähige Individuen32, das heißt als minderwertig erachtete Individuen. Wenn also der Sozialphilosoph diejenigen, an die er sich als sozial Abgewertete richtet, aufwertet, so weist er dabei jegliche emanzipatorische Perspektive zurück, sofern Emanzipation – woran uns J. Rancière erinnert – gerade bedeutet, vom Zustand der Minderwertigkeit auszugehen. Eine Gesellschaftskritik, die das Bild der Klinik bemüht, scheint mir ihre Wurzeln in der Nietzsche’schen Tradition des Arzt-Philosophen zu haben: Dort findet sich sowohl das Projekt einer Behandlung der Zivilisation oder der Gesellschaft, als auch die Idee, dass die Kränksten zu einer Masse gehören, die von sich selbst nicht weiß, dass sie krank ist, als auch schließlich die Idee, dass der, der die Diagnose stellt, das heißt der Philosoph, über eine spezifische Klarheit verfügt, zu der die betreffende Masse prinzipiell keinen Zugang haben kann. Man kann tatsächlich der Ansicht sein, dass die Voraussetzungen dieser »Kritik-Klinik« jegliche emanzipatorischen Bestrebungen verhindern, wenn sie sich diesen nicht gar explizit in den Weg stellen. Ich für meinen Teil habe hier eine Sozialphilosophie verteidigt, die eine Art von Kritik auf den Weg bringt, die zunächst diejenigen, an die sie sich richtet, als fähige Individuen anerkennt; sie nimmt die Perspektive einer Festigung und Entwicklung der Gesamtheit ihrer Fähigkeiten ein, und vor allem ihrer Fähigkeit, selbst 32 | Der Übertragung des Modells der »Versorgung« auf die soziale Welt, die G. le Blanc vornimmt, gelingt es nicht (und er behauptet es auch gar nicht), sein ursprüngliches Terrain einer Care-Ethik zu verlassen. Nun richtet sich die care, die »Versorgung«, an fragile Wesen, die nur geringe oder gar keine Autonomie besitzen, wie etwa kleine Kinder, Kranke, Behinderte, Alte oder am Lebensende Befindliche. Das Modell der »Versorgung« auf ganze Bevölkerungsgruppen auszuweiten, insbesondere auf die, die vom Elend und von sämtlichen Formen von Unsicherheit, die ihre gesellschaftliche Existenz belasten, am meisten betroffen sind, setzt implizit voraus, dass diese Bevölkerungsgruppen als derart fragil, derart geschwächt erachtet werden, dass sie offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, sich zu mobilisieren und gegen die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Knechtung anzukämpfen. Gibt es einen sichereren Weg, zu verhindern, dass sie sich jemals mobilisieren oder jemals kämpfen?

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den Zustand der Abgewertetheit, in dem die soziale Ordnung sie hält, zu verlassen. Den Begriff »soziale Pathologie« habe ich im Sinne einer Benennung dessen, was »krankt«, was »nicht gut geht«, verwendet; das heißt im Sinne dessen, was in einer Gesellschaft dysfunktional ist, was die, die in dieser Gesellschaft leben, sehr wohl selbst zu erkennen in der Lage sind – Abwertung, Einschränkung, und vor allem auch Negierung ihrer Fähigkeiten sind für sie das sicherste Anzeichen dafür, woran es krankt und was in der Gesellschaft dysfunktional ist. Anders gesagt: Von »sozialer Pathologie« war nicht die Rede, um damit einem »therapeutischen« (heilen wollenden) oder »sich sorgenden« Methodentypus das Wort zu reden. Ich meine vielmehr, dass der Befund, woran eine Gesellschaft, wie sie ist, krankt, und was soziales Leiden generiert, die anhaltende Forderung nach gesellschaftlicher Transformation und Emanzipation mit sich bringt, von der bestimmte »kritische« Modelle absehen, oder zumindest tendenziell absehen (damit hat J. Rancière vollkommen Recht). Dem gilt es hinzuzufügen, dass sich nicht von außen feststellen lässt, woran eine gegebene Gesellschaftsform krankt und was in ihr dysfunktional ist; die Individuen, die tatsächlich in dieser Gesellschaftsform leben, stellen das selbst fest. Sie benennen es entsprechend ihren eigenen Erwartungen, die sie selbst als legitime Erwartungen bewerten. Ich gehe somit von einer realen Fähigkeit der Individuen aus, selbst den Grad der Übereinstimmung zwischen ihren Erwartungen und dem, was die bestehende soziale Ordnung von diesen Erwartungen zu verwirklichen gestattet, zu ermessen, und gleichermaßen selbst zu beurteilen, inwiefern die Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und dem Grad ihrer Verwirklichung in der Gesellschaft eine im Allgemeinen akzeptable Diskrepanz ist, oder nur akzeptabel unter bestimmten Voraussetzungen, oder aber eine Diskrepanz, die vollkommen inakzeptabel und intolerabel ist. Das führt uns zurück zur bereits weiter oben ausgeführten Idee, derzufolge der »richtige« Standpunkt für die Sozialphilosophie der Standpunkt der »Beherrschten« ist, das heißt der Standpunkt der von der bestehenden sozialen Ordnung am meisten Benachteiligten, für die die Diskrepanz zwischen ihren Erwartungen und der Erfüllung oder die Möglichkeiten und Perspektiven der Erfüllung dieser Erwartungen am größten ist. Es liegt an ihnen, zu sagen, ob die Diskrepanz tolerierbar ist oder nicht, und Stellung zu der Frage zu beziehen, ob es Chancen auf Verringerung dieser Diskrepanz gibt, wenn der bestehende Rahmen der sozialen Ordnung aufrechterhalten wird – oder ob es im Gegenteil keiner-

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lei Chancen auf Verringerung dieser Diskrepanz gibt, es sei denn zum Preis einer umfassenden Veränderung der sozialen Organisation und einer totalen Neugründung auf neuen Grundlagen. Eine Methode, die den sozialen Akteuren nicht sämtliche dieser Fähigkeiten und Kompetenzen zuerkennt – und vor allem den am meisten benachteiligten Mitgliedern einer Gesellschaft, unter dem Vorwand dass, insofern sie benachteiligt sind und beherrscht werden, ihnen jegliche Fähigkeit genommen sei, ihre eigenen Erwartungen zu formulieren und ihre Möglichkeiten auf Erfüllung dieser Erwartungen anzugeben – scheint mir nicht für sich beanspruchen zu können, eine »Sozialphilosophie« zu sein. Als solche muss sie nicht nur zunächst den sozialen Akteuren Fähigkeiten zuerkennen, sondern außerdem darauf angelegt sein, diese zu entwickeln und zu stärken. Andererseits warnt A. Honneth vor dem Risiko der Selbstauflösung der Sozialphilosophie, wenn sie es gänzlich den betroffenen Individuen überließe, zu bestimmen, was ihnen zufolge eine soziale Pathologie ist.33 Aber den betroffenen Individuen eine solche Fähigkeit zuzuerkennen, beraubt die Sozialphilosophie nicht ihrer Funktion, diese Fähigkeit zu stärken und zu entwickeln, und ihnen Argumente und Analysen zu liefern, die bei der Feststellung dessen, was man als soziale Pathologie betrachten kann, entscheidend helfen und mitwirken. Der andere große Einwand, den man gegen die Methode der Sozialphilosophie, wie ich sie hier zu rekonstruieren versucht habe, erheben kann, hängt mit dem ersten zusammen, der den normativen Charakter der Sozialphilosophie betrifft. Dieser zweite Vorwurf lautet, dass sie auf Prinzipien »substanzieller« Art basiere, die als solche nicht hinterfragt würden. Die Sozialphilosophie sei verpflichtet, substanzielle Voraussetzungen freizulegen hinsichtlich dessen, was ein erfülltes oder gutes Leben sei. Denn es seien dieselben substanziellen Voraussetzungen, die die Sozialphilosophie als Normen einfordere. Wenn sie von »Selbstverwirklichung« der Individuen spricht, vom »erfüllten Leben«, vom »Wohlbefinden« oder vom »Glück«, so kann sich die Philosophie nicht von den Konzeptionen des erfüllten Lebens, des Wohlbefindens und des Glücks, die in einer gegebenen Gesellschaft oder auch in bestimmten Gesellschaftsgruppen vorherrschen, lossagen. Nichts, was sie zu diesen Themen zu

33 | A. Honneth, »Pathologien des Sozialen«, S. 66 f.

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sagen hat, kann daher die Form der Allgemeinheit annehmen und noch weniger Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Der Einwand ist wichtig und hat A. Honneth seit seinem Buch Kampf um Anerkennung 34 und anderen Texten aus derselben Zeit35 beschäftigt. Eine Lösung verspricht er sich von Seiten einer, wie er es nennt, »möglichst sparsamen Anthropologie, die einige wenige, aber elementare Bedingungen menschlichen Lebens rekonstruiert«36. Darunter versteht A. Honneth die Orientierung, die die Werke M. Nussbaums37 und Ch. Taylors38 bieten. Bei Letzterem nehme eine solche »möglichst sparsame« Anthropologie insbesondere den Aspekt einer »formalen Anthropologie« an, »die die allgemeinen Bedingungen einer ungezwungenen Artikulation menschlicher Lebensideale umreißt«39. Von hier aus muss man das Projekt der Bestimmung der sozialen Minimalbedingungen verstehen, die erforderlich sind, damit die Individuen ungezwungen Lebensideale formulieren können, die anschließend als Maßstab zur Bestimmung der sozialen Pathologien dienen können. Ich denke, dass man dem Vorwurf des Substanzialismus tatsächlich weniger in der Dimension des Formalismus begegnen sollte, sondern am besten auf das Konzept der »Bedingungen« zurückgreift. Die Sozialphilosophie definiert Modelle eines erfüllten oder gelingenden Lebens nicht über den Inhalt und sie kritisiert eine soziale Situation auch nicht aus dem Grund, dass diese die Verwirklichung dieses oder jenes vor seiner Verwirklichung erdachten Modells des guten Lebens verhindere. Sie denkt vielmehr darüber nach, dass Individuen ein Modell des guten Lebens – wie auch immer es inhaltlich aussehen mag – nicht verwirklichen können, ohne dass eine bestimmte Zahl sozialer Bedin34 | Vgl. insbesondere das letzte Kapitel dieses Werkes mit dem Titel »Intersubjektive Bedingungen Personaler Integrität: Ein formales Konzept der Sittlichkeit«. 35 | Vgl. insbesondere A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«. 36 | Ebd., S. 67. 37 | Vgl. M. Nussbaum, »Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit«, in: M. Brumlik, H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993. 38 | Vgl. Ch. Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a.M. 1994. 39 | Ebd., S. 68.

Schlussbetrachtung: Philosophie und Sozialkritik

gungen gegeben ist, die diese Verwirklichung gestatten. Die Sozialkritik als solche taucht erst auf, wenn sich der Befund aufdrängt, dass die Gesellschaft die Bedingungen, die der größtmöglichen Zahl von Individuen ein gutes Leben zu führen gestatten, nicht bereitstellt – was auch immer sie sich unter einem guten Leben vorstellen mögen. Dieses Konzept der Bedingung scheint mir im Rahmen der Sozialphilosophie eine entscheidende Rolle spielen zu müssen. Schließlich kann es ihr nicht darum gehen, lediglich zu behaupten, dass die Individuen frei seien, selbst zu entscheiden, welche Lebensform sie als für sich gut bewerten, und dass sie anschließend in der Gesellschaft einen Komplex von Bedingungen vorfinden können müssten, die ihnen tatsächlich gestatten, dieses von ihnen selbst bestimmte Modell des guten Lebens umzusetzen. Die Dinge so zu betrachten, heißt, von Individuen auszugehen, die a priori nicht immer schon sozialisiert sind – das heißt von Individuen, die man im Gegenteil für a priori in der Lage hält, vollkommen autonom selbst die Ziele zu bestimmen, die sie verfolgen wollen. Das entspricht aber nicht der tatsächlichen Existenzweise der Individuen. Denn in Wirklichkeit sind sie immer schon sozialisiert, sie existieren nicht zunächst als reine Ichs, unabhängig von der Gesellschaft, um dann anschließend in Form von Zielen, die sie sich setzen, und in Form von Bedingungen, die zur Verwirklichung dieser Ziele erforderlich sind, auf Inhalte zu treffen. Das ist genau die Vorgehensweise einer liberalen politischen Philosophie, die man vor allem bei Rawls und seiner Idee findet, derzufolge »die Person […] vor ihren Zielen da [ist].«40 Der Standpunkt der Sozialphilosophie steht in radikaler Opposition zu einer derartigen Hypothese eines jeglichen Kontextes enthobenen Ichs, das in der Lage wäre, rein und souverän in seinem tiefsten Inneren, frei von jeglichem bewussten oder unbewussten Einfluss durch den historischen Kontext und das soziale Umfeld, in dem es entsteht, über seine Ziele nachzudenken. Sie geht im Gegenteil von einem situierten Ich und von Individuen aus, die als immer schon sozialisiert gedacht werden. Ihre These ist, dass Art und Form der Gesellschaft, in der die Individuen leben, stets in umfangreicher Weise bestimmen, welche konkreten Ziele sie verfolgen können. Oder, um es auf Begriffe zu bringen, die den Gegensatz zwischen Antike und Moderne charakterisieren: Die Sozialphilosophie schlägt sich ganz klar auf die Seite der antiken Idee, 40 | J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 607.

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derzufolge die Individuen ihre Ziele in der Gesellschaft, in der sie leben, entdecken [découvrent], und steht in Opposition zur modernen Idee, derzufolge die Individuen ihre Ziele unabhängig von jeglichem Kontext wählen [choisissent]. Wenn es die historisch determinierten sozialen Bedingungen sind, unter denen die Individuen leben, die ihre Wahlmöglichkeiten, dieses oder jenes Ziel zu verfolgen, reglementieren, dann sind die Individuen aus genau diesem Grund auch prinzipiell berechtigt, von dieser Gesellschaft (die eben in hohem Maße bestimmt, was sie konkret für ein gutes Leben halten können) die Bereitstellung von sozialen Bedingungen zu erwarten, die ihnen die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem guten Leben gestatten. Die Enttäuschung dieser Erwartung von sozialen Bedingungen, die Selbstverwirklichung und ein gutes Leben ermöglichen würden, motiviert eine Sozialkritik und einen sozialen Kampf, deren gemeinsames Ziel darin besteht, solche Bedingungen zu erreichen oder zu verwirklichen. Das ist es auch, was schließlich deutlich macht, dass die Sozialphilosophie – als Reflexion, deren Gegenstand das Studium der für ein gutes Leben erforderlichen Bedingungen ist – sowohl an eine ethische Reflexion auf das gute Leben selbst und die Natur dessen, was ein erfülltes menschliches Leben ist oder sein kann, anknüpft, als auch an eine politische Reflexion auf Kampfprozesse, an deren Horizont sich die Eroberung von sozialen Bedingungen eines erfüllten Lebens für die größtmögliche Zahl findet.

Nachwort Thomas Bedorf, Kurt Röttgers

Franck Fischbach hält im vorliegenden Buch ein Plädoyer für die Sozialphilosophie. Adressiert ist dieses Plädoyer in der französischen Originalversion an ein französisches Publikum. Die Herausgeber einer Übersetzung einer vermeintlich innerfranzösischen Theorie-Intervention müssen sich die Frage gefallen lassen, warum eine solche innerfranzösische Diskussion um den Begriff und das Institut einer Sozialphilosophie in deutscher Übersetzung, d.h. nun für ein außerfranzösisches Publikum publiziert zu werden verdient. Dabei werden wir uns nicht auf den bequemen Gemeinplatz herausreden, daß deutsch-französischer Kulturaustausch im Sinne einer Förderung und Stärkung eines europäischen Kulturbewußtseins stets und ohne weitere Begründung begrüßenswert sei. Vielmehr werden wir uns auf die Sache einlassen, um die es Fischbach und auch uns geht. Fischbach entwickelt drei Kernthesen: 1. Es gibt keine französische Tradition einer disziplinär eigenständigen Sozialphilosophie, was bedauernswert ist und einen Mangel der Gegenwartskultur in Frankreich darstellt. 2. Zur Entwicklung und Beförderung einer eigenen französischen Sozialphilosophie hilft ein Blick auf Deutschland und dessen disziplinäre Tradition einer Sozialphilosophie. 3. Eine französische Sozialphilosophie nach deutschem Vorbild hätte kritisch zu sein, d.h. zur Kritik der sozialen Verhältnisse zu befähigen. Zweifellos bringen es Thesen der grundsätzlichen Art, wie sie Fischbach vorbringt, mit sich, zu Diskussionen zu führen. Das ist ihr rhetorischer

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Vorzug. Sie müssen aber zugleich, um der Prägnanz und der rhetorischen Qualität willen nicht nur vorübergehend Ambivalenzen und Zwischentöne ausblenden. Das ist ihr Preis. Wir werden uns im Folgenden einerseits damit auseinandersetzen, was an der deutschen Tradition in den Blick des französischen Plädoyers gerät und was bezeichnenderweise gerade nicht, und warum wohl nicht. Andererseits werden wir auf die damit verschränkte Frage eingehen, ob Sozialkritik tatsächlich die einzige oder die Kernaufgabe von Sozialphilosophie darstellt. Eine kritische Sozialphilosophie, wie sie Franck Fischbach vorschlägt, macht als kritische bestimmte normative Voraussetzungen. Einerseits nimmt sie Abstand zur Idee einer politischen, d.h. auch »bloß politischen« Umwälzung, wie ja schon Marx an der Französischen Revolution kritisiert hatte, eine bloß politische und keine darüber hinausreichende soziale Revolution zu sein. Andererseits überzeugt ihn auch eine Neubegründung von Vorstellungen einer politischen Gerechtigkeit in der Nachfolge von John Rawls nicht, weil sie auf einem zentralen Begriff des Richtigen fußt. Zugleich aber bekennt Fischbachs Sozialphilosophie sich – anders als die Soziologie – zu dem Sinn normativer Grundannahmen in der Sozialphilosophie, weil – so unterstellt er – das gesellschaftliche Zusammenleben als solches auf Normativität gegründet sei, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen juridisch-politischen Verfaßtheit. Es macht aber auch für die Sozialphilosophie einen erheblichen Unterschied, ob man lediglich davon ausgeht, daß der gesellschaftliche Zusammenhalt (auch) durch Normen gesichert sei und die Sozialphilosophie dieses soziale Faktum zu beschreiben hätte, oder ob die Sozialphilosophie sich selbst auf Normativität gründet, d.h. immanent normierend und dann auch kritisch zu sein hätte. Nur im zweiten Fall ergibt das mit gedanklicher Notwendigkeit das, was Fischbach propagiert, nämlich eine kritische Sozialphilosophie für Frankreich, für die die kritische Theorie in Deutschland anregend sein könnte. Horkheimer z.B. bezeichnete es als eine Illusion, daß es eine wertfreie wissenschaftliche oder philosophische Beschreibung der sozialen Zusammenhänge, inklusive ihrer Wertorientierungen, geben könnte.1 Danach – so muß man sagen – ist Sozialphilosophie selbst ein Teil des Sozialen und seiner impliziten Normen und 1 | Vgl. Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1988, 162-225.

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reflektiert sich explizit und kritisch in dieser Stellung. Indem sie nämlich auf die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche stößt, kann sie dann gar nicht anders, als sie kritisch zu reflektieren. Zudem sei durch das Desaster der Politik der letzten Jahrzehnte (Globalisierung und herrschender Neoliberalismus) und einer sie legitimierenden Philosophie offenkundig geworden, daß nun auch eine philosophisch begründete Sozialkritik auf der Agenda stünde. Eine solche philosophische Sozialkritik könne allerdings nicht – wie die Utopisten –, sagen, wie es sein solle, sondern nur noch, wie es angesichts der Rettung der Banken und der Verelendung der Menschen nun gar nicht mehr gehe, da der neoliberal umformatierte Rechtsstaat nicht mehr in der Lage sei, die Würde der Menschen zu schützen. Im Hinblick auf das Politische geht es Fischbach daher vorrangig um eine Re-Lokalisierung des Politischen im Sozialen.2 Kriterium der philosophischen Sozialkritik ist für Fischbach daher das (auch nur partielle) Nicht-Gelingen oder Scheitern des Lebens der Menschen, und zwar weil den Menschen, sozial systemisch bedingt, lebensweltliche Widerstände begegnen, die das Gelingen einer menschenwürdigen Existenz verhindern. Traditionell war die Frage nach der individuellen Einrichtung eines gelingenden Lebens (Glück) eine ethische Frage der Lebensführung. Aber die andere Perspektive auf die Entfremdungsbedigungen und die Verstümmelungen eröffnet das spezifisch sozialphilosophische Fragen. Dieses geht nicht mehr vom Individuum und der Selbstzurechnung des Scheiterns aus, sondern verweist vom Individuum weg auf dessen historische und soziale Bedingtheiten, die eben nicht mehr zur Disposition einer individuellen Moral stehen. Das Scheitern der Lebenssinnerfüllungen ist auf eine objektive soziale Rahmung zurückzuführen, die nur eine Sozialphilosophie, aber nicht mehr eine Ethik thematisieren kann. Von diesen negativen Erfahrungen der Menschen, nicht aber mehr von dem Entwurf eines positiven Bildes gelingenden Lebens hätte eine kritische Sozialphilosophie auszugehen. Fazit: Für Fischbach können die Grundlagen der Sozialphilosophie weder in einer Ethik noch in einer politischen Philosophie liegen, sondern müssen sich auf die Entfremdungserfahrungen der Menschen beziehen, die wissen, daß ein Leben, speziell unter den Bedingungen einer neolibe2 | Der Tendenz nach geht das in eine Richtung, die analog K. Röttgers in seinem Beitrag »Flexionen des Politischen« verfolgt hat (in: Th. Bedorf u. K. Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, Berlin 2010, 38-67).

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ralen und globalisierten Ökonomie, nicht dasjenige Leben ist, das ihnen gut täte. Eine solche Sozialphilosophie schwingt sich nicht zu einer praxisrelevanten oder praxisbehilflichen Ratgeberin in politischen und philosophischen Fragen auf, sondern ihre Tugend ist das Zuhören auf das, was ihr die Menschen auf der einen Seite, die Sozialwissenschaftler auf der anderen Seite zu sagen haben. Insofern genügt Fischbach eine allein »expressive« Sozialkritik nicht mehr, er fordert ihr Engagement und ihre Parteilichkeit. Dem Defizit, daß eine solche philosophische Sozialkritik von einer enormen inneren Dynamik und Innovationskraft getragen ist, sie aber gleichwohl im akademischen Diskurs der Philosophien in Frankreich bisher keinen ihr gebührenden Platz habe finden können, will das hier vorliegende »Manifest« abhelfen. Als gutem Kenner der deutschen philosophischen Tradition dienen Franck Fischbach für eine französische Sozialphilosophie nach deutschem Vorbild vor allem Hegel, Marx und die Kritische Theorie als Richtpunkte. Nun ist es natürlich nicht so, als wäre Hegel in Frankreich unbekannt, im Gegenteil. Insbesondere die Phänomenologie des Geistes und da vor allem die Dialektik von Herr und Knecht ist vielfältig aufgenommen und kontrovers diskutiert worden. Insbesondere die Marxismus-nahe Interpretation von Kojève ist vielfältig rezipiert worden: von Sartre, de Beauvoir, Fanon u.a.; Eric Weil und Jean Wahl und dann auch Hyppolite haben dieser Interpretation widersprochen. Und auch Marx ist bestens bekannt, hier sind neben Kojève, Sartre und Lefebvre vor allem Altusser und seine Schüler Rancière, Badiou, Balibar u.a. als einflußreich zu nennen. Ein wenig anders ist es mit der Kenntnis und Rezeption der von Horkheimer, Adorno und den anderen Denkern der vom Institut für Sozialforschung begründeten Kritischen Theorie bestellt. Einzig Walter Benjamin – der ja nur am Rande dazugehört – hat, z.B. bei Klossowski, Derrida und auch bei LacoueLabarthe, die gebührende Beachtung gefunden. So darf Fischbachs Plädoyer für eine Anknüpfung an die deutsche Tradition der Sozialphilosophie vor allem als ein Eintreten für einen bestimmten Teil dieser Tradition, d.h. für eine kritische Sozialphilosophie verstanden werden. Damit sieht er davon ab, daß es ein anderes Denken des Sozialen auch in der französischen Philosophie vielfältig und auf unterschiedlichste Weise gibt und gegeben hat: man denke etwa an Foucault, Deleuze, Lyotard, Levinas, Nancy u.a. Vom späten Foucault ist zudem die Äußerung überliefert, daß er es bedaure, die Schriften von Horkheimer und Adorno nicht rechtzeitig ken-

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nengelernt zu haben, weil seine Darstellungsziele mit den ihren vielfältig übereinkommen. Hier hätte es manche Anknüpfungspunkte gegeben. Gleichwohl geht Fischbach von einer einfachen und kategorischen Feststellung aus: »en France, la philosophie sociale n’existe pas« – in Frankreich gibt es keine Sozialphilosophie (s.o. S. 19). Zwar gebe es sozialkritische Untersuchungen, ohne daß diese jedoch unter der eigentlichen Bezeichnung einer Sozialphilosophie firmierten. So verweist er auf das angeblich erste Auftreten des Begriffs »philosophie sociale« im Französischen. Er nennt die 1793 anonym in Paris erschienene Schrift Philosophie sociale dédiée au peuple François, par un Citoyen de la Section de la République Françoise, ci-devant du Roule. Das ist zwar nicht die erste Erwähnung,3 die erste war eine quasi-rousseauistische »Ethik« des elsässischen Abbé Durosoy, wie jüngere Forschungen ergeben haben. Sie geht davon aus, daß der Mensch seiner Natur nach ein soziales, auf Gesellschaft ausgerichtetes Lebewesen ist. Das isolierte Individuum ist eine blutleere und künstliche Abstraktion, die mit der menschlichen Wirklichkeit wenig zu tun hat. Gewiß gibt es nach ihm auch die egoistischen Individualisten, aber sie sind Resultate der Sittenlosigkeit von Luxus und Libertinage. Und so beschreibt Durosoy die Pflichten, die dem wahren Menschen aus seiner sozialen Natur erwachsen. Eine solche Pflichtenethik des animal sociale (zoon politikon) folgt der Umdeutung des Begriffs »sozial«, die auf Rousseau zurückzuführen ist,4 der Materie nach ist sie aber sehr konventionell. Aber die Wortverwendung von 1793 ist die interessantere; sie stammt von einem mährischen Juden namens Moses Dobruschka, der als Waffenhändler in österreichischen Diensten solche Verdienste erwarb, daß er als Franz Thomas Edler von Schönfeld geadelt wurde, dann jedoch als Anhänger der Französischen Revolution nach Paris ging, den Namen Lucius-Junius Frey annahm, in Paris jedoch immer als österreichischer Spion verdächtigt wurde, am Ende jedoch aufgrund einer Anklage als Abenteurer und Konspirateur am gleichen Tag wie Danton hingerichtet wurde. Auch seine »philosophie sociale« ist jedoch alles andere als eine Sozialphilosophie in dem Sinne, wie sie angemessen wäre und auch von 3 | Früher war: Jean Baptiste Durosoy, Philosophie sociale; ou Essai sur les devoirs de l’homme et du citoyen. Paris 1783. 4 | Näheres: (Red.,) Art. »Sozial, das Soziale«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IX, Basel, Stuttgart 1995, Sp. 1113-1121, bes. Sp. 115f.

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Fischbach anvisiert wird. Die Schrift ist nichts anderes als ein von Kant und der Sekte der Sabbatianer inspirierter Verfassungsentwurf zu einer der Freiheit angemessenen idealen Verfassung für Frankreich, d.h. eine politische Philosophie und nicht eine Sozialphilosophie als davon unterschiedene Disziplin. Eine eigenständige Sozialphilosophie verdankt sich erst Entwicklungen der 1890er Jahre, und zwar im deutschsprachigen Raum.5 Diese Begründung entwickelt sich in drei unabhängig voneinander entwickelten Konzepten, nämlich dem von Rudolf Stammler (1894, 1896), Georg Simmel (1894, 1896) und Ludwig Stein (1897).6 Daß erst hier von Sozialphilosophie gesprochen werden kann, gehorcht der Anwendung dreier Kriterien: erstens muß die Philosophie einen Begriff von Gesellschaftlichkeit entwickelt haben, zweitens muß sie sich selbst, ihre eigene Reflexion als ein Moment des Sozialen zu begreifen gelernt haben, drittens muß sie sich über diesen Begriff selbst identifizieren können, was allein eine Habitualisierung und evtl. Institutionalisierung dieser Art von Reflexion freisetzt. Ansätze, die dieser Bestimmung genügen, liegen erst mit diesen drei Autoren vor.

1. Die eigentliche Begründung der Sozialphilosophie bei R. Stammler erfolgt 1896 in seinem großen Werk Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine so­zialphilosophische Untersuchung. Von den Zeitgenossen ist dieses Werk als »eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage« wahrge­nommen worden. Der neukantianische Ansatz dieses Werks prägt sich in zweierlei aus: a) dem er­kenntnistheoretischen Anspruch, die Bedingungen der Erkenntnis des so­zialen Le­bens aufzuspüren oder »in welchem Sinne eine Gesetz­mäßigkeit des sozialen 5 | Vgl. K. Röttgers, Art. »Sozialphilosophie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IX, a.a.O., Sp. 1217-1227. 6 | Auf die Begründung einer Sozialphilosophie bei Ludwig Stein (der keine größeren Nachwirkungen beschieden waren), wird aufgrund seines methodisch höchst problematischen Eklektizismus aus Neukantianischem, Sozialistischem, Utilitaristischem und Positivistischem nicht näher eingegangen (vgl. L. Stein, Die sociale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Social­p hilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart 1897).

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Lebens überhaupt möglich ist« 7 und b) in einer präskriptiven Seite, die auch die Be­dingungen der Einheit des sozialen Lebens selbst erforschen will. Die Sozialphilosophie hat also zweierlei zugleich zu leisten: Sie hat erstens die Bedingungen möglicher (wissenschaftlicher) Erkenntnis des sozialen Lebens zu klären. Dabei unterstellt sie, daß eine solche nur möglich ist, wenn die Annahme »einer allgemeinen Gesetzmä­ßigkeit des sozialen Lebens« ge­rechtfertigt ist. Die Sozialphilosophie hat daneben zweitens auch eine praktisch-philosophische Komponente. Dann hat die Frage »Wie ist Gesellschaft überhaupt möglich?« nicht nur die Bedeutung »Wie ist Gesell­schaft als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erkenntnis möglich?«, son­dern auch die praktisch-philosophische Bedeutung »Wie ist Ge­sellschaft als Sphäre des sozialen Handelns aus Freiheit möglich?« Stammler stellt nun fest, daß auch Kant, dessen Erkenntniskritik er sich verpflichtet fühlt, eine derartige Fragestellung, nämlich über die Einheit des sozialen Lebens selbst, nicht verfolgt habe, nicht einmal in der Metaphysik der Sitten. K. Vorländer hält diesen Sachverhalt noch eindeutiger fest: »Kant hat seine wissenschaftliche Lebensaufgabe, die Neubegrün­ dung der Philosophie als systematische Wissenschaft, auf das soziale Gebiet nicht ausgedehnt. Er hat […] keine zusammenhängende kritische Sozialphilosophie ge­schaffen […]«. Ein solcher Versuch liege in Stammlers Buch erst­mals vor.8 So ist nach Vorländer Rudolf Stammler der Begründer der »kritischen Sozialphilosophie« im Sinne Kants: »Stammlers Erörterungen sind […] die Prolegomena zu einer jeden künftigen Sozialphilosophie, die als Wissenschaft wird auftreten kön­nen.«9 Im Unterschied zu den methodisch immer noch tastenden Versuchen und Einzeluntersuchungen der Sozialwissenschaf­ten, so meint Stammler, organisiert sich die erkenntniskritisch aufgeklärte sozialphilosophische For­schung an der Vorstellung, daß es eine »allgemeingültige Gesetzmäßigkeit des sozia-

7 | R. Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine so­z ialphilosophische Untersuchung, Leipzig 1896, 14. Diese Formulierung ist erkennbar der Kantischen nachgebildet, die (in den »Metaphysischen An­f angsgründen der Naturwissenschaft«) fragte, wie Natur (unter Gesetzen) über­h aupt möglich sei. 8 | K. Vorländer, »Eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage«, in: KantStudien 1 (1897), 197-216, hier: 197. 9 | Ebd., 198; auch dieses eine allzu offensichtliche Anspielung.

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len Lebens«10 geben müsse. Die Idee einer solchen Wissenschaft ist von allgemeiner praktischer Relevanz deswegen, weil in der Gesell­schaft um eine gesetzmäßige Ausgestaltung des sozialen Lebens gerungen wird, vor allem in der Form des Bewußtseins der Dringlich­keit der ›sozialen Frage‹.11 Also entsteht die Forderung einer Sozialphilosophie: »Es ist […] mit Hilfe der systematischen Zergliederung unserer sozialen Begriffe derje­nige Grundsatz herauszufinden, unter dessen bewußter Festhaltung allein eine Einheit in den wechselvollen Bestrebungen des sozialen Lebens möglich ist.«12 Stammler und jene, die ihm folgten, integrierten die theoretische und die praktische Aufgabe und definierten da­her die Sozialphilosophie als »wissenschaftliche Untersu­chung darüber: Unter welcher grundlegenden formalen Gesetzmäßigkeit das soziale Leben der Menschen steht.«13 Diese Idee einer Sozialphilosophie konnte alsbald aus dem Lager des sich für den Sozialismus öffnenden Neukantianismus den einstimmig­ sten Beifall ernten. Es ge­sellten sich dem Stammlerschen Programm einer Sozial­philosophie auf Kantischer Grundlage nämlich bald bei: K. Vorländer 1897, F. Haymann 1898, O. Gerlach 1899, P. Natorp 1899, der Wundt-Schüler R. Eisler 1905 u.v.a.m.14 10 | Ebd., 4. 11 | Ebd., 6. 12 | Ebd., 17. 13 | Ebd., 7. 14 | Vgl. K. Vorländer, »Kant und Marx« [1904], in: Marxismus und Ethik, De La Vega u. H. J. Sandkühler (Hg.), Frankfurt a.M. 1970, 262-350; F. Haymann, JeanJacques Rousseau’s Sozialphilosophie, Leipzig 1898; O. Gerlach, »Kant’s Einfluß auf die Sozialwissenschaft in ihrer neuesten Entwicke­lung«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 55 (1899), 644-663, 648; P. Natorp, Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft, Stuttgart 3 1909; das Werk war Rudolf Stammler gewidmet. Der südwestdeut­s che Neukantianismus stand dagegen der Sozialphilosophie genauso wie der So­z iologie eher reserviert gegenüber, vgl. H. Rickert, Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, 222ff., ders., Die Grenzen der naturwissen­s chaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wis­s enschaften, Tübingen 2 1913, 542ff., sowie W. Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 2 1920, 320f.; R. Eisler, Kritische Einführung in die Philosophie, Berlin 1905, 351f. Kant selbst hütete sich sehr wohl, die Perspektiven von Freiheit und Gesetzmä-

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2. Dem Jahr 1894 verdanken wir auch Georg Simmels »Parerga zur So­ zialphilosophie«15. Tatsächlich sind diese nichts anderes als eine Aufbereitung bestimmter Aspekte von Simmels 1892/93 erschienener »Einleitung in die Moralwissenschaft«,16 und zwar solcher, von denen er selbst sagt, daß sie »an und für sich in den Umkreis des socialphilosophischen Denkens gehören.«17 Das Raffinierte einer solchen Bemerkung ist nun, daß es einen solchen »Umkreis so­cialphilosophischen Denkens« damals noch gar nicht gab, daß er viel­mehr durch diese Rede überhaupt erst erzeugt wurde, anders gesprochen: im Simmelschen Verständnis von So­zialphilosophie ist diese in der »Moralwissenschaft« bereits enthalten, ohne daß der Terminus dort gebraucht würde. Da bei Simmel eine Definition von Sozialphilosophie fehlt, lohnt es sich, die Themen zu benennen, die als spezifisch sozial­ philosophische ausgezeichnet werden: Be­ sitz/Haben; Freiheit vs. Determiniertheit; Strafe; Sozialismus als Rationalisierung des Lebens. Vor 1894 hatte Simmel in ähnlichen Zusammenhängen den Begriff ›Sozialethik‹ statt des Begriffs Sozialphilosophie gebraucht.18 Im übrigen merkt Simmel an, daß es einen »Zusammenhang in der Erkenntnis der socialen Dinge« gebe, »dessen Zerlegung in Provinzen sich demnach statt als eine Fremdheit des Wesens nur als vorläufige wissenschaftliche Arbeitsteilung heraus­stellt«.19 Für Simmel ist der oben angedeutete Befund einer Entstehung der Sozialphilosophie aus dem Geiste des Neukantianismus keineswegs so eindeutig. Im Hinblick auf seine Bestimmung der Aufgaben der Sozialphilosophie ist sein Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus ambivalent. ßigkeit d.h. erkenntnistheoretische und normative Fragen, wie sie die neukan­ tianische Sozialphilosophie mischt, Kompromisse schließen zu lassen. Man muß daher vielleicht sogar sagen, daß Kant die Sozialphilosophie im neukantianischen Sinne nicht vergessen hat, sondern daß sie in seinen Augen eine unmögliche Unternehmung gewesen wäre. 15 | In: G. Simmel, Gesamtausgabe, Frankfurt a.M. 1989ff., (zit. als GSG) Bd. IV (1991), 391-402. 16 | GSG III, IV (1989, 1991). 17 | GSG IV, 392. 18 | Z. B.: »Bemerkungen zu socialethischen Problemen«, in: GSG II, 20-36. 19 | GSG IV, 392.

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Im Ur­sprungsjahr der Sozialphilo­sophie (1894) erschien auch die Gründungsurkunde der Simmel­schen Soziologie, nämlich der Aufsatz »Das Problem der Soziologie«20. Auch hier ist von einer Sozialphilosophie nicht die Rede, da Phi­losophie v.a. als Negativbild vergangener philosophischer Bemühungen auftritt, mit »leeren Allgemeinheiten und Ab­straktionen« »das Unzusammenhän­gendste in eine begriffliche oder rein äußerliche Einheit zwingend«21 ein System zu bilden. Insbe­sondere gegen den entsprechenden geschichtsphilosophischen Ver­such, umfas­sende Gesetze der Geschichte gefunden zu haben, grenzt sich Simmels Soziologie-Entwurf »streng« ab.22 Gegen diese und andere Gefährdungen will Simmel das Aufgabengebiet einer So­ziologie »schützen« und dieses »allerdings unter Verzicht auf ihre hochfliegenden Ansprüche, eine grenzgesicherte Heimstätte zu guten Besitzrechten gründen […]«23 Einerseits also betont Simmel immer wieder die Aufgabenbezogenheit seiner Frage­stellungen und daß ihm an Disziplinennamen und -aufteilungen nicht gelegen sei, an­dererseits aber zwingt ihn seine Konzeption von Soziologie geradewegs zu einer solchen kantianischen und erkenntnistheoretischen Grenzbestimmung des Erkennt­nisgebiets einer Soziologie. Diese Doppelheit erlaubt einer­seits zwar, die Aufgabenstellung der Soziologie zu präzisieren, läßt andererseits aber die Mög­lichkeiten einer Sozialphilosophie völlig im Unklaren. Kontur gewinnt Simmels Praxis der Sozialphilosophie ex negativo durch die grund­sätzliche und vernichtende Kritik an Stammlers Sozialphilosophie, die im wesentlichen aus zwei Punk­ten besteht: 1. Stammler hat einen falschen, weil zu engen Begriff von Gesellschaft, indem er Gesellschaft an die Bedingung der Normierung knüpft, wohingegen Simmel sei­ner Überzeugung Ausdruck verleiht, »daß man bei social-philosophischen Un­tersuchungen [nicht] von einer bestimmteren Definition der Gesellschaft aus­gehen darf, als daß Gesellschaft überall da ist, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung stehen.«24 20 | GSG V, 52-61; zu den Verbindungen zur »Soziologie« s. den Editorischen Be­ richt zu Bd. XI (1992), 877-905. 21 | GSG V, 52. 22 | Ebd., 59. 23 | Ebd., 61. 24 | G. Simmel, »Zur Methodik der Socialwissenschaft«, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 20 (1896), 227-237,

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2. Aber die Normativität Stammlers stört Simmel noch an einer weiteren, viel­leicht wichtigeren Stelle: Stammler glaubt nämlich an die Möglichkeit einer objektiven Begründung (eine Zeit lang hätte man gesagt: Letztbegründung) einer all­gemeingültigen obersten Normierung im Gesellschaftlichen, deren Idee er auf den Begriff einer »Gemeinschaft frei wollender Menschen«25 bringt. Gäbe es eine solche schlechthin objektive Norm nicht, meint Stammler, dann könne es auch keine Begründungen für abgeleitete soziale Normen und Insti­ tutionen geben. Demge­genüber formuliert Simmel für die praktische Philoso­phie einen – wie er sagt: – Relativismus, der die Objektivität von Geltung zu einem Relationsbegriff erklärt. Gegen die Absolutisten à la Stammler formu­liert er: »Denn selbst wenn es jenes absolut sachlich Richtige gäbe, so wäre es uns doch nur in Gestalt der historisch zur Herrschaft gelangten Vorstellung zugängig, stellt also erkenntnistheoretisch eine unnütze Verdopplung dieser dar.«26 Der zweite Blick geht auf die Soziologie von 1908. Hier wird zunächst eindeutig festgestellt, daß Soziologie nicht identisch ist mit demjenigen Teil der Philosophie, der auch ihr Teil bleiben soll und nicht als separate Wissenschaft auftreten mag, nämlich der Sozialphilosophie.27 Ob dabei allerdings bestimmte Fragen der Er­kenntnistheorie der Gesellschaft in die Sozialphilosophie oder in die Soziologie ge­hören, scheint für Simmel zweitrangig.28 Umso bemerkenswerter ist allerdings der letzte Exkurs der Soziologie über »die Analogie der individualpsychologischen und so­ ziologischen Verhältnisse«.29 Hier werden soziologi­sche und sozialphilosophische Erkenntnisweisen in relativ deutlicher Weise von­einander unterschieden. Sozio­logische Erkenntnis hat die Gesellschaft zum Gegen­ stand, d.h. die gesamte Di­mension der Wechselwirkungen der Individuen. Frage ist dann, was bleibt für eine nicht-normative Sozialphilosophie an Aufgaben übrig? Sie hat, wie Simmel sagt, einen »allgemeinen Zusamhier: 232; vgl. auch die entspr. Ausführungen u. d. T. »Wie ist Gesellschaft möglich?« in der Soziologie (1908), in: GSG XI, 42-61. 25 | G. Simmel, a.a.O. (Anm. 57), 233. 26 | Ebd., 236. 27 | Vgl. GSG 11, 40f. 28 | Vgl. Ebd., 61. 29 | Ebd., 850-855.

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menhang« zum Gegenstand, »der an der sozialen Form nur eines seiner Beispiele findet.«30 Scheint das zu bedeuten, daß die Sozialphilosophie an die anderen Gebiete der Philosophie rückgebunden bleibt, während die Soziologie davon befreit wäre, so trifft eine solche Interpreta­tion ge­ wiß nicht das ganze Selbstverständnis der Simmelschen Soziologie. Wir müs­sen daher Simmels Beispiele näher analysieren, um den Unterschied verstehen zu können. Diese betreffen die im Titel genannte Analogie. Interessenkonflikte kommen z.B. sowohl zwischen den Individuen als auch in den Individuen vor. Für die Soziologie gehören die intra-individuellen Konflikte nicht zum Gegenstandsbereich – um es in Termini einer anderen Theorie zu sagen: für das soziale System ist das psychische System bloße Umwelt –; daher kann auch die angesprochene Analogie nicht innerhalb der Soziologie auftauchen. Anders die Sozialphilosophie; durch die Art ihrer Begriffsbildung ist es ihr erlaubt, die Grenzen des Individuums und der Gesellschaft zu überschreiten, um sie zu über­blicken und hier und dort womöglich Analogien zu er­kennen: Konflikte z.B. im Individuum und zwischen den Individuen, d.h. allgemeine Wechselwirkungen, die sowohl Gesellschaften als auch Indi­v iduen konstituieren. Sozialphilosophie befaßt sich mit nicht auf direkte Weise lösbaren Aufgaben; denn wir haben zwar eine intuitive Gewißheit, daß die strukturelle Analogie von Individuum und Gesellschaft mehr ist als ein bloßer Zu­fall, vielmehr auf eine »Einheit« beider verweist, die es ermöglicht, daß eines das andere reprä­sentiert. Aber diese Einheit hat metaphysischen Charakter und ist un­mittelbar weder erkennbar noch darstellbar. Um sie zu denken, brauchen wir andere Er­kenntnismethoden als diejenigen, über die die Soziologie als empirische und theoretische Wissenschaft verfügt. Man sieht also, daß Simmel in der Soziologie zwei Aufgabenbestimmungen für die Sozialphilosophie vorsieht: 1. Erkenntnistheorie soziologischer Erkenntnisse, wobei auf dieser Seite der Berührung von Philosophie und Soziologie auf eine ge­naue Grenzbeziehung kein gesteigerter Wert gelegt wird, und 2. Metaphysik des So­zialen, die sich z.B. den Zusammenhang des Inneren und des Äußeren zum Gegen­stand ihrer Bemühungen wählt. Simmel gehört zwar zu den dreien, die die Sozialphilosophie aus der Taufe ge­hoben haben, doch ist er zugleich derjenige, dessen eigener An­ satz einer Sozialphilosophie am wenigsten weit ausgearbeitet ist. Das ist 30 | Ebd., 850.

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deswegen bedauerlich, weil sein Ansatz von zweierlei Beschränkungen frei war, welche die Frühgeschichte der Sozialphilosophie bis hin zu Othmar Spann belastet haben: 1. Der enge neukantianische Glaube, daß alle Erkenntnisbemühungen sich von der Kantischen Philosophie her begründen lassen müssen, daß also Sozialphi­losophie eine von Kant vergessene Aufgabe oder ein unausgeführter Teil sei­nes Systems sei. 2. Daß auch die Philosophie die moralische Pflicht habe, sich zur sozialen Frage zu äußern und entsprechende Normen und Werte, die helfen können, diese Aufgabe zu lösen, zu formulieren und daß die Sozialphilosophie die Ein­lösung dieser Pflicht der Philosophie zu sozialem Engagement sei. Gerade dieser zweite Glaube aber beschert den neukantianisch-sozialistischen Sozialphiloso­phen ein Problem, das Kant bewußt immer vermieden hatte, nämlich eine Ver­quickung von theoretischer und praktischer Philosophie mit der Gefahr des na­turalistischen Fehlschlusses. 1910 dann, im Gründungsjahr der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie«, hat die Soziologie so viel eigenes Profil gewonnen, daß die Abgrenzung zur Sozialphiloso­phie, wo sie denn von Seiten der Soziologie überhaupt vorge­nommen wird, eindeutig ist: Während die So­ziologie sich mit Tatsachenfragen der sozialen Welt befaßt, sich da­ mit zu den objektiven, positiven und wertur­teilsfreien Wissenschaften rechnet, befaßt sich die Sozial­philosophie mit Fragen der Ethik, der Wer­tung und Sinnfragen. Die Sozialphilosophen for­mulieren damit keine Er­kenntnis, die von allen vernünfti­gen Menschen ge­teilt werden müsse, son­dern sie verbreiten »Ansichtssachen« und beziehen sich auf eine »moralische Stimmung«31.

31 | L. Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriß, Innsbruck 1910, ND 1969, VI, VII.

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3. Die Erfolgsgeschichte der neukantianischen Sozialphilosophie war so durchschlagend, daß Max Horkheimer im Jahre 1931 fest­stellen konnte, daß sie nun »im Mittelpunkt des allgemeinen philosophi­schen Interesses« stehe,32 auch wenn er zugeben muß, daß es an einer allgemein zustimmungsfähigen begrifflichen Bestimmung der Sozialphilo­sophie noch man­gele. Gleichwohl versucht er als einen Generalnenner al­ler Begriffsklärungen festzuhalten: »Als ihr letztes Ziel gilt danach die philosophische Deutung des Schicksals der Men­schen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern, die nur im Zu­ sammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben der Men­schen verstanden werden kön­nen: um Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt.« Nicht nur, daß Horkheimer hier auf den Tönniesschen Begriff der Gemein­schaft zur Be­stimmung des Sozialen zurückgreift, sondern auch, daß er »Staat, Recht, Wirtschaft, Religion« (in dieser Rei­henfolge und mit Zusatz der Religion zu dem bisher schon Üblichen!) als erste Gegenstände der Sozialphilosophie bestimmt und daß er schließlich die Sozialphilosophie mit Kulturphilosophie identifiziert, erweist seine Be­stimmung der Sozialphiloso­phie als theoriegeschichtlich bemerkenswert konservativ. So er­staunt es nicht, daß er die Wurzeln der Sozialphilosophie im »klassischen deut­schen Idealismus« sucht. Entsprechend werden als die Gegen­stände dieser So­zialphilosophie des deutschen Idealismus (sprich: der Rechts­philosophie von Hegel) die Spannungen zwischen der Autono­ mie der Ver­nunft und der sozialen Determiniertheit des empirischen Men­schen ange­sehen. Als nach dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems die Philo­sophie in einer positivistischen Ära zugrunde zu gehen drohte, so lautet die Horkheimersche Geschichtsphilosophie der Schick­ sale der ›So­zialphilosophie‹, da »wurde die Philosophie und besonders die Sozialphilo­sophie immer dring­licher dazu aufgerufen, die ihr von Hegel

32 | M. Horkheimer, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«, in: ders., Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1972, 33-46, 33.

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zu­gedachte Rolle aufs neue aus­zuüben – und die Sozialphilosophie ist die­sem Rufe gefolgt.«33 Alle sozialphiloso­phischen Bemühungen von Cohen bis O. Spann eint nach Horkheimers Ansicht ein Antipositivis­mus, der von der Überzeugung getragen ist, daß es jenseits positiven Be­stehens noch ein Reich des Sollens und der Geltungen gebe. Damit aber ist auch das Problematische aller Sozialphilosophie der Gegenwart be­zeichnet: sie ist verklärend. Umgekehrt ist die einzige dezidiert nicht-ver­k lärende Philosophie in Horkheimers Diagnose, diejenige Heideggers, weit entfernt von jeder Sozialphilosophie. So kann Horkheimer festhalten, daß diese Spielarten der Sozialphilo­sophie sich einreihen in die philosophischen und religiösen Bemühungen, die Einzelexistenz »wieder einzusenken in den Schoß […] sinnvoller Totalitäten.«34 Diesen Zustand, in dem Sozialphiloso­phie zum Bekenntnisakt oder zum Geschmacksurteil geworden ist, muß man überwinden. Die Aussagen der Sozialphilosophie sollen wieder wahr­ heitsfähig sein können. Dazu aber ist es nötig, daß sich die Sozialphiloso­ phie in ein positives Verhältnis interdisziplinärer Kooperation zur Soziologie als empirischer, wahrheitsfä­higer Wissenschaft von den sozialen Tatsachen setzt, um die »aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissen­schaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am Gegen­stand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch das Allge­meine nicht aus den Augen zu verlieren.«35 Die spezielle sozialphilosophische Fragestellung des Instituts für Sozialforschung soll nach Willen seines neuen Di­rektors der Zusammenhang sein »zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesell­schaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn […]«.36 Eine Frage dieser Art, eine Frage nach dem Zusammenhang von Ökonomie, Seelenleben und Kultur als empirisch erforschbarer Einzelsachverhalte, wird hier wie bei Simmel zuvor als eine sozialphiloso­phische Frage angesehen und steht im Kontext allgemeiner philosophischer, metaphysischer Fragen. Durch Horkheimers Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialfor­schung hat der Begriff der Sozialphilosophie Eingang in das 33 | Ebd., 37. 34 | Ebd., 38. 35 | Ebd., 41. 36 | Ebd., 43.

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Spektrum neo­marxistischer Theoriebildung gefunden. Die von Stammler ausgehende und von Habermas einflußreich vertretene normativitätsorientierte oder mit Normativität durchmischte Sozialphilosophie wurde in Deutschland zuletzt am nachhaltigsten formuliert in den Theorien der Anerkennung, etwa bei Axel Honneth, auf den sich auch Fischbach gelegentlich zustimmend bezieht.

4. Aus der Nachzeichnung der Entstehung der Sozialphilosophie in Deutschland zeigt sich, daß Fischbach mit gutem Recht sein Manifest für eine Sozialphilosophie, sofern er sie als normative Disziplin versteht, mit einem Blick über den Rhein begründet. Doch zugleich sollte das Bild durch den Hinweis ergänzt werden, daß die Geschichte der Sozialphilosophie diesund jenseits des Rheins auch nicht-normative Alternativen bereithält. Seit Alfred Schütz’ und insbesondere seit H. Zeltners Arbeiten hat sich eine Sozialphilosophie auf die phänome­nologische Intersubjekti­v itätstheorie E. Husserls bezogen,37 die auf nachhaltige Weise verschiedene Spielarten der Soziologie beeinflußt hat. In Kritik an der egologisch-transzen­ dentalphilosophischen Ausgangslage gewannen phänomenolo­gische Ansätze an Inter­esse, die nicht von der Einsamkeit ei­nes transzen­dentalen Ego ausgingen, sondern von einer zwischenleiblichen Verflochtenheit.38 – Einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes stellt sich das Soziale dar als ein Symbolisches (und sein Gegenteil: ein Diabolisches), dessen Medium der Text ist, der sich in den Dimensionen der Sprache, der Zeit und des Sozialen entfaltet. Eine solche Sozialphilo­sophie thematisiert vor dem Hintergrund von Zeitlichkeit (Vergangenheit und Zukunft) und von Sprachlichkeit (Symbolik und Diabolik) vorrangig die Sozialität des

37 | Vgl. A. Schütz, Gesammelte Aufsätze, 3 Bde., Den Haag 1971 sowie H. Zeltner, »Das Ich und die Anderen«, in: Zeitschrift für philosophische For­s chung 13 (1959), 288-313, sowie ders., Sozialphilosophie. Die Kategorien der mensch­lichen Sozialität, Stuttgart 1979. 38 | Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 sowie B. Waldenfels, Sozialität und Alterität, Berlin 2015.

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kommunikativen Textes.39 – Zu denken wäre dann an eine Ontologie des Sozialen (nicht zu verwechseln mit dem sprachanalytischen Begriff der social ontology), die von Heidegger lernen könnte, das Soziale im Ausgang vom jenem Abgrund, der zwischen Zweien klafft, zu bestimmen (»Fuge«). Der soziale Abstand, der nicht in der Verfügung der Einzelnen steht, ist insbes. von Jean-Luc Nancy in seiner Sozialphilosophie ausbuchstabiert worden. Das Soziale wird hier gefaßt als ein »singulär plural sein«, das sich nur in gebrochenen, fragmentiert-temporären Gemeinschaften versammeln läßt.40 – Es wäre schließlich zu denken an jene Ansätze, die Sozialphilosophie im Ausgang von einer Theorie der Alterität betreiben. Sofern Alterität als unverfügbar und uneinholbar gedacht wird, ergibt sich das Soziale als spannungsreiches Zwischen von absoluter und sozialer Andersheit. Sofern in diesem Zusammenhang von Verantwortungen die Rede ist, ist auch dieser Zugang keineswegs präskriptiv zu verstehen.41 Fischbachs Rückgriff auf die deutsche Tradition der Sozialphilosophie ist also zweifellos gut begründet. Ebenso sehr jedoch war in den Tagen der nahezu zeitgleich entstehenden Sozialphilosophie und Soziologie so etwas wie ein Umspielen der Abgrenzung möglich (und damit der Entscheidung zwischen normativer und nicht-normativer Sozialphilosophie), wofür Simmels ambivalente Sozialphilosophie das hervorragendste Beispiel abgibt. Diesseits wie jenseits des Rheins liegen nicht-normative Alternativen vor, von denen man sich nur wünschen kann, daß sie im deutsch-französischen Dialog künftig weiter aufgegriffen würden. Fischbach setzt für die Zukunft auf eine Pluralität von Sozialphilosophien. Und wir sind bereit, ihm hier ohne Vorbehalt zu folgen.

39 | Vgl. K. Röttgers, Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie, Bielefeld 2012 sowie ders., Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002. 40 | Vgl. J.-L. Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004. 41 | Vgl. Thomas Bedorf, Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld 2011.

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