Max Weber in Amerika: Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter. Mit einem Geleitwort von Hans-Peter Müller [1 ed.] 9783428538911, 9783428138913

Max Weber, einer der Begründer der Soziologie, bereiste 1904 gemeinsam mit seiner Frau Marianne die Vereinigten Staaten

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German Pages 392 Year 2013

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Max Weber in Amerika: Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter. Mit einem Geleitwort von Hans-Peter Müller [1 ed.]
 9783428538911, 9783428138913

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LAWRENCE A. SCAFF Max Weber in Amerika

Max Weber in Amerika Von Lawrence A. Scaff

Aus dem Englischen übersetzt von Axel Walter

Mit einem Geleitwort von Hans-Peter Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Die Brooklyn Bridge in New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts (© ullstein bild – Heritage Images / The Print Collector) Die englische Ausgabe erschien 2011 unter dem Titel „Max Weber in America“ © 2011 Princeton University Press, Princeton, New Jersey Für die deutsche Ausgabe alle Rechte vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13891-3 (Print) ISBN 978-3-428-53891-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83891-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Töchter Janine und Rosalyn

Geleitwort „In the beginning, all the world was America.“ So verfügte John Locke im Jahre 1690, und das sollte das Bild werden, mit dem Europa sein Alter Ego, die Vereinigten Staaten von Amerika, von nun an betrachten sollte. Wie in ei­ nem Brennglas gebündelt, konnte in ein und demselben Land die gesellschaft­ liche Evolution gleichsam vom Naturzustand bis zur Moderne in Augenschein genommen werden. So verdienten die ersten Siedler und die Ureinwohner ­ihren Lebensunterhalt als Jäger und Sammler, als Pelzhändler und Viehzüchter; der Süden der USA etablierte eine traditionale Plantagenwirtschaft auf der ­Basis von Sklaverei, während der Norden und Westen über großflächige Land­ wirtschaft und Fabrikproduktion die Industrialisierung und Urbanisierung vor­ antrieben. Ein Land mit multiplen Gesellschaftsformationen1 – und das in ­einem modernen demokratischen Rahmen. Was für ein Ereignis für jeden so­ zialwissenschaftlich interessierten Beobachter. So bemerkte schon Goethe in seinen „Zahmen Xenien“ im Jahre 1827, dass es Amerika besser als der alte Kontinent habe. Tocqueville erklärte 1835 in seiner neu geschaffenen Politik­ wissenschaft auch genau warum: Ein jungfräulicher Kontinent ohne äußere Feinde, Land zur Besiedlung im Überfluss, deshalb kein Adel, aber gut gebil­ dete, freiheitlich gesinnte wie religiös gestimmte Einwanderer aus Europa. So konnte die „Demokratie in Amerika“ auf der Basis von Freiheit und Gleichheit im Rahmen eines republikanisch gesinnten Individualismus gelingen und Eu­ ropa den Spiegel seiner eigenen Entwicklung vor Augen halten. Die Gretchen­ frage lautete folgerichtig: Wird es auf lange Sicht zur „Amerikanisierung“ von Europa kommen oder zur „Europäisierung“ von Amerika? Das ist der Dis­ kurs2, in den sich alle wechselseitigen Beobachtungen und transatlantischen Lernprozesse einschreiben sollten. Die alte Welt von Europa spiegelt sich in der neuen Welt von Amerika. Auf der Basis einer Wertegemeinschaft, die Max Weber „okzidentale Moderne“ nennt, beobachtet man sich, vergleicht sich und lernt voneinander. Europa hat stets, wenn überhaupt, von Amerika gelernt3, nicht aber von den anderen Kontinenten Afrika, Asien oder Australien. 1  Vgl. Georg Kamphausen, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890. Weilerswist: Velbrück 2002, S. 169 f. 2  So Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 59 ff. 3  Vgl. Hans-Peter Müller, Auf dem Weg in eine europäische Gesellschaft? Begriffsproblematik und theoretische Perspektiven. In: Berliner Journal für Soziologie, 17, 2007. S. 7–31.

VIII Geleitwort

Auch Max Weber schreibt sich in diesen Diskurs ein, untersucht er doch den Aufstieg des modernen okzidentalen Kapitalismus, ja des gesamten Rationalisierungsprozesses der okzidentalen Moderne. Warum ist es ausge­ rechnet in Europa um 1500 zu diesem take-off gekommen und nicht etwa in China oder Afrika? Woher rührt diese einzigartige Konfiguration aus Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, modernem Staat, moderner Bürokra­ tie und modernem Recht, ja moderner Kultur? Angesichts dieser universal­ geschichtlichen Fragestellung überrascht es nicht, dass Weber die Einladung in die USA zur Weltausstellung nach St. Louis, Missouri, gern annimmt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte die moderne westliche Welt angefan­ gen, sich in sogenannten Weltausstellungen selbst zu feiern und sich ihrer „Fortschritte“ zu versichern. Angefangen in Chicago 1893, folgte Paris im Jahre 1900 und St. Louis, Missouri, 1904. Zudem hatte man für die Woche vom 19. September einen „Congress of Arts and Sciences“ vorgesehen, bei dem der staunenden Welt die Einheit des gesamten wissenschaftlichen Wis­ sens in 128 Sektionen mit insgesamt 300 Vorträgen4 vorgestellt werden sollte. Es war die Prominenz der wissenschaftlichen Welt geladen, und mit wenigen Ausnahmen sind die meisten Koryphäen ihres Faches diesem ver­ lockenden Ruf – es gab ein Honorar von 500 $ oder 2.100 Reichsmark, wie Weber notiert – in die Neue Welt gefolgt. Webers Vortrag am Nachmittag des 21. September 1904 in einem sozial­ wissenschaftlichen Panel über „Rural Communities“ befasst sich mit „Kapi­ talismus und Agrarverfassung“5. Da Weber auf Deutsch vorträgt, halten sich die Besucherzahlen im Rahmen. Aber es sind alle wichtigen amerikanischen Ökonomen anwesend, die zu diesem Zeitpunkt entweder deutschsprachige Auswanderer oder in Deutschland ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler sind. Angesichts der Vorrangstellung deutscher Universitäten vor dem Ers­ ten Weltkrieg ist auch Deutsch eine wichtige Wissenschaftssprache. Weber ist gut gerüstet für das Thema. Zum einen umschreiben agrarpolitische und -historische Fragen recht gut seine Erkenntnisinteressen der frühen Werk­ phase bis 1898. Zum anderen wird der Kapitalismus, „die schicksalsvollste Macht des modernen Lebens“6, ihm immer mehr zum Problem am Beginn des 20. Jahrhunderts. 1904 ist aber auch persönlich ein „Schicksalsjahr“ für Max Weber. Er, der schon in jungen Jahren eine glänzende Universitätskar­ riere mit Professuren in Berlin, Freiburg und Heidelberg hingelegt hatte, 4  Siehe Howard J. Rogers (Hrsg.), Congress of Arts and Science: Universal Exposition, St. Louis, 1904. 6 Bde. Boston: Houghton, Mifflin 1905–6, online verfüg­ bar unter http: /  / books.google.com / books. 5  Max Weber, Kapitalismus und Agrarverfassung. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 108, 1952, S. 431–452. 6  Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1. Tübingen: Mohr-Siebeck 1972, S. 4.

GeleitwortIX

bricht nach einem Zerwürfnis mit seinem Vater 1898 zusammen. Dieser stirbt, ohne dass sich Vater und Sohn noch hätten versöhnen können. Die depressive Erkrankung sollte vier Jahre währen, in der er weder zu lehren noch zu forschen vermag. Erst allmählich beginnt er wieder zu lesen, um dann 1904 mit Edgar Jaffé und Werner Sombart das „Archiv für Sozialwis­ senschaft und Sozialpolitik“ zu übernehmen, dort selbst gleich seinen pro­ grammatischen „Objektivitätsaufsatz“ zu platzieren und den ersten Teil seiner berühmten „Protestantischen Ethik“ zu veröffentlichen. Die kühne These einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen Puritanismus und Kapitalismus versucht zu zeigen, dass die protestantische Berufsethik eine, wenn auch nicht die alleinige Komponente für den „Geist des Kapitalismus“ war, der dieser Wirtschaftsform im Westen durch die Prämiierung einer methodischrationalen Lebensführung zum Aufstieg verholfen hat. Wo, wenn nicht in Amerika, dem gelobten Land des Kapitalismus, konnte er seine Studien weiter vertiefen? Schon durch seine Familie war Webers Neugier auf die amerikanischen Verhältnisse geweckt worden. Sein Vater hatte 1883 zusammen mit Georg Siemens, Carl Schurz, James Bryce und Henry Villard eine Eisenbahnreise auf der Northern Pacific-Route von Minneapolis-St. Paul bis nach Portland, Oregan, und Seattle, Washington, unternommen, um europäische Investi­ tionschancen in Amerika7 zu eruieren. Friedrich Kapp, einst Weggefährte von Karl Marx und Moses Hess und berühmter Emigrant der 1848er-Revo­ lution, hatte dem 11-jährigen Max eine deutsche Ausgabe von Benjamin Franklins „Autobiographie“ mit seiner eigenen enthusiastischen Einführung geschenkt. Als 1888 James Bryces zweibändige Studie „The American Commonwealth“ erschien, wurde sie ebenfalls vom jungen Weber ver­ schlungen. Über die Kontakte zu Villard und Kapp hinaus hatte es auch einen Teil der Weber-Familie nach Amerika verschlagen. Es waren die Nachkommen von jenem berühmten Georg Friedrich Fallenstein, Max’ Großvater mütterlicherseits, in dessen Villa am Neckarstrand Max Weber bis zu seinem Tode residieren sollte. Hugo Münsterberg, ein PsychologieKollege aus den Freiburger Tagen, der mittlerweile von William James an die Harvard-Universität berufen worden war und den Kongress in St. Louis mit organisierte, hatte Anfang 1904 sein zweibändiges Werk „Die Amerika­ ner“ publiziert, das Max Weber auch sofort las. Grund genug also, die Neugier zu wecken und beherzt nach Amerika mit Ehefrau Marianne, einer engagierten Frauenrechtlerin, und Ernst ­Troeltsch, dem Theologen und Mitbewohner in der Fallenstein-Villa, auf­ zubrechen. Am 20. August ist es soweit: Sie schiffen sich in Bremerhaven 7  Vgl. Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800– 1950. Tübingen: Mohr-Siebeck 2001.

X Geleitwort

auf der „Bremen“ ein und kommen 10 Tage später in New York an. Die Webers werden drei Monate und zwölf Tage unterwegs sein, sie werden rund 5000 Meilen zurücklegen, meist mit der Eisenbahn, insgesamt 180 Stunden. Wie der nüchterne Weber überschlägt, kostet sie das Ame­ rika-Abenteuer 7000 Reichsmark. Ein Blick auf die Route zeigt, dass ihre Rundreise durch die Staaten der von Tocqueville sehr ähnelt. Sie werden Großstädte wie New York, Chicago, Washington, Philadelphia und Boston kennenlernen, aber auch indianisches Territorium in Oklahoma oder das Tuskegee-Institut in Alabama besichtigen. Was sind ihre Eindrücke? Welche Erfahrungen sammeln sie? Und vor allem, wie spiegeln sich diese amerikanischen Reiseerlebnisse im Werk von Max Weber wider? Diesen Fragen widmet sich Lawrence A. Scaff in seiner vorzüglichen Studie zum Problemkomplex „Weber und Amerika“, die hier in flüssiger Übertragung von Axel Walter auf Deutsch vorgelegt wird. Tat­ sächlich behandelt Scaff zwei in seinen Augen innerlich verwandte Fragen, die auf die Doppeldeutigkeit im Buchtitel „Max Weber in Amerika“ anspie­ len: zum einen Webers Reise nach Amerika, seine Begegnungen, seine Er­ fahrungen und ihre Widerspiegelung im Werk; zum anderen das Werk We­ bers in Amerika und die Fabrikation eines ewig jugendlichen Klassikers der Soziologie. Dieser Doppeldeutigkeit im Titel entsprechen die beiden Teile des Buches: Der erste Teil behandelt die Reise, der zweite die Rezeption von Webers Werk in den amerikanischen Sozialwissenschaften, selbst ein Stück spannender Soziologiegeschichtsschreibung. In systematischer Hin­ sicht sind es vier bzw. fünf Problemkomplexe, die Weber in Amerika inte­ ressieren: der Kapitalismus, die „Frontier“ mit ihrer Indianer-Romantik, das Rassenproblem, die Religion und – als die größte Hoffnung für die Demo­ kratie – die freiwilligen Assoziationen der Zivilgesellschaft. Kapitalismus, Demokratie und Individualismus begründen eine eigenarti­ ge wie spannungsgeladene Konfiguration von Wirtschaft, Politik und Kultur, die für Dynamik und Entwicklung der Gesellschaft sorgt, aber auch für ständigen Kampf und Konflikt unter den Menschen. Das ewige Werden, das Weber in Amerika beobachtet, darf wohl als Muster der westlichen Moder­ ne, ja vielleicht der globalen Moderne generell gelten. Aber wohin wird die Reise am Ende gehen? Wird sich Amerika europäisieren oder Europa ame­ rikanisieren? Weber nimmt in diesem Diskurs eine eigenwillig ambivalente Stellung ein – er registriert nämlich beides. Wenn Europa vor bürokratischer Stagnation bewahrt werden soll, wird es dynamisierende Elemente überneh­ men und von der amerikanischen Erfahrung lernen. Weber zählt dazu die Dynamik von Wissenschaft und Großindustrie, die Parteimaschinen mit plebiszitär gewonnenem Führer, wie er es an der Wiederwahl von Roosevelt während seines Besuchs beobachtet, die Vitalität der Zivilgesellschaft – er regt zu diesem Zweck eine Studie über das Vereinswesen in Deutschland

GeleitwortXI

an – und die „self-reliance“ in der Lebensführung als Erziehungsziel für junge Erwachsene. So könnte Europa und – das heißt für Weber auch und vor allem – Deutschland zu seinem eigenen Wohl stärker „amerikanisch“ werden. Dennoch konstatiert er auch mit einem gewissen Unbehagen die Gegenbewegung in der Neuen Welt. Mit der Schließung der „Frontier“, mit dem Druck weiterer Immigration, mit der Plutokratie wird die amerikani­ sche Gesellschaft säkularer, ungleicher und elitärer insgesamt werden. Die goldene Ära von Freiheit, Gleichheit und Individualismus, die schon Toc­ queville notiert hatte, wird dann an ihr Ende gelangen. Was als großartiges Experiment in demokratischer Gesellschaftsgestaltung begonnen hatte, endet im Mahlstrom grauer Modernität, auch wenn der amerikanische Traum als unzerstörbarer Mythos weiterleben mag. Mit „Max Weber in Amerika“ ge­ lingt Lawrence A. Scaff das große Kunststück, Webers Reise in den Diskurs über die Moderne einzurücken und sein Werk in seiner fortwährenden Be­ deutung für die Sozialwissenschaften zu beleuchten. Sein Buch ist ein schönes Geburtstagsgeschenk für das Jahr 2014, in dem wir Webers 150. Geburtstag feiern werden. Berlin, im Mai 2013

Hans-Peter Müller

Humboldt-Universität

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

I. Teil



Die Amerikareise

1. Gedanken zu Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Reise ins Amerika des Progressivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Neue Denkhorizonte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Eine „spiritualistische“ Konstruktion der modernen Wirtschaft? . . . . . . . . . 29 2. Das Land der Einwanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Ankunft in New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Kirche und Sekte, Stand und Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Settlements, Gemeinwesenarbeit und der städtische Raum . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Die Stadt als Fantasmagorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Hull House, die Schlachthöfe und die Arbeiterklasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Persönlichkeit als soziales Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Wissenschaft und Weltkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Der Kongress in St. Louis: Einheit der Wissenschaften? . . . . . . . . . . . . . . . 68 Letzte Gelegenheit für eine freiheitliche und große Entwicklung: der amerikanische Exzeptionalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Politik mit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Geschlecht und Bildung, Erziehung und Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5. Der letzte Rest Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Reiz und Lockung des Grenzlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Probleme und Schwierigkeiten im Indianergebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Natur, Traditionalismus und die Neue Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Bedeutung des Grenzlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6. Die Rassenschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Du Bois und die Untersuchung zur Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Die Lektionen von Tuskegee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Rasse und ethnische Gruppe, Klasse und Kaste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

XIV Inhalt 7. Unterschiedliche Lebenswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Kolonialkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Nichts bleibt als der ewige Wandel der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Ökologisches Zwischenspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Seelenleben und öffentliche Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 8. Die Protestantische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Geist und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 William James und sein Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Ideen und Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 9. Amerikas Modernität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Seltsame Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Amerikaner werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Kultureller Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 10. Deutung der Erlebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Der Diskurs über Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Ein Entkommen aus dem stahlharten Gehäuse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Amerika in Webers Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234



II. Teil



Das Werk in Amerika

11. Die Entdeckung des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Autor und Leserschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Forschernetzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Die Übersetzungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Die Fachdisziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Ein Amerikaner in Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Parsons übersetzt Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 13. Die Erfindung der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Gerth und Mills bringen eine Weber-„Quellensammlung“ heraus . . . . . . . . 277 Parsons „Theory of Social and Economic Organization“ . . . . . . . . . . . . . . . 281 Weber unter den Emigranten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Die Weber’sche Soziologie und Sozialtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Weber jenseits der Weber’schen Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300



InhaltXV

Appendix 1: Stationen von Max und Marianne Webers Amerikareise von 1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Appendix 2: Max Weber, Ausgewählte Briefe an amerikanische Kollegen, 1904 / 05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Konsultierte Archive, Bestände und Nachlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Bibliographische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungen Abb. 1: Park-Row- und St.-Pauls-Wolkenkratzer (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Abb. 2: Die deutsche ,Friedensgemeinde‘ Reform Church in North Tonawanda, New York. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abb. 3: Colonel Clarence B. Douglas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Abb. 4: Tams Bixby. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abb. 5: Robert Latham Owen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Abb. 6: Narcissa Chisholm Owen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Abb. 7: Das Clubhaus in Fort Gibson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Abb. 8: W. E. B. Du Bois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abb. 9: Das Haverford Friends Meeting House. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Abb. 10: William James. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Abb. 11: Jüdische Immigrantenmädchen im Henry Street Settlement, New York City. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Abb. 12: C. Wright Mills. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Abb. 13: Talcott Parsons. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Tabellen Tabelle 1: Max Webers Werk in englischer Übersetzung: die Hauptveröffent­ lichungen 1927–58 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Tabelle 2: Frühe Übersetzungen von Webers Arbeiten in Maschinenschrift, vervielfältigter Kopie oder als Mikroform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Vorwort Dies ist mein zweites Buch zu Max Weber; bis in die letzten Jahre war ich jedoch unschlüssig, ob ich es schreiben soll. Es gibt bereits eine solche Fülle an Literatur über den Menschen Weber, den Denker, den Wissenschaftler und den politischen Intellektuellen, dass ich es meinerseits sicher bei einem Bei­ trag hätte bewenden lassen können. Doch die Probleme und Fragen, die sich aus Webers Leben und Schaffen ergeben, faszinieren immer wieder aufs Neue. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, fasziniert zu sein: die emotio­ nale Spanne und das psychische Drama dieses Lebens, die Weite und Tiefe dieses Schaffens; das Gefühl, dass unsere Zeit etwas Wichtiges mit seiner Welt gemein hat; den Eindruck, dass Webers Ideen und Vorstellungen für so viele wissenschaftliche und politische Themen unserer Tage zentral wichtig sind; und nicht zuletzt die bleibenden Fragen im Zusammenhang mit seinen bekanntesten Begriffen, Argumenten, Interpretationen und Thesen. Die Faszination hat allerdings auch noch andere Gründe, da es immer noch eine ganze Menge von Dingen gibt, die wir über Weber und sein Leben, seine Schriften und seine Zeit nicht wissen. Trotz der gewaltigen Mühen, die von den Herausgebern der Max-Weber-Gesamtausgabe aufge­ wendet wurden, verfügen wir noch immer nicht über ein vollständiges veröffentlichtes Verzeichnis der Briefe und werden wohl noch lange auf diese Dokumentation warten müssen, falls wir sie überhaupt je in den Hän­ den halten werden. Die kritische Ausgabe der publizierten Texte ist lücken­ haft. Erst in den letzten Jahren wurden nach fast einem Jahrhundert zwei Texte wiederentdeckt, die Weber 1907 / 08 in The Encyclopedia Americana in englischer Übersetzung veröffentlichte. Gut möglich, dass wir einen bes­ seren Begriff vom Quattrocento in Italien oder vom Neuengland des 17. Jahrhunderts haben, dass wir diese Epochen genauer kennen und gründ­ licher verstehen, als die Zeit und die Umstände, in denen Weber lebte und arbeitete: die wilhelminische Ära in Deutschland, die Ära des Progressivis­ mus in den Vereinigten Staaten und die bedeutenden transatlantischen Be­ ziehungen, die im Westen geknüpft wurden, bevor es zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges kam – speziell im Bereich der Sozialpolitik, von Kunst und Wissenschaft und des geistigen Lebens überhaupt, wo die wesentlichen Defizite liegen. Vor allem sind die äußerst wichtigen Verbindungen Webers nach und mit Amerika und die Geschichte seiner Reise in die Vereinigten Staaten trotz wiederholter Anläufe nicht vollständig dokumentiert und be­ griffen worden.

2 Vorwort

Diese Untersuchung stellt sich dieser Herausforderung und unternimmt es, diese textlichen und geschichtlichen Desiderate zu füllen, indem sie sich, ganz unüblich, auf das konzentriert, was an Webers Arbeit und Erfahrung mit Amerika in Zusammenhang steht. Meine erste systematische Betrach­ tung zu Weber, Fleeing the Iron Cage, war der Versuch, Webers Denken als Ganzes in einer umfassenden Auslegung zu präsentieren, indem ich einige seiner wichtigsten Zeitgenossen zu Wort kommen ließ. Die vorliegende Studie verfolgt einen ganz anderen Ansatz; Max Weber in Amerika will das Denken und Leben in dieser Zeit und den geschichtlichen Zeitraum selbst erhellen – vor allem mit Blick auf die USA, wobei ein Auge auch auf Deutschland und Europa gerichtet ist. Die Leser werden die beiden Bedeu­ tungen von „Weber in Amerika“ bemerkt haben, die wörtliche und die übertragene: Der erste Teil ist seinen Reisen in den USA gewidmet, die er 1904 zusammen mit seiner Frau Marianne unternahm, während es im zwei­ ten Teil um die geistige Geschichte seines Werks, seiner Texte und Vorstel­ lungen gehen wird. Diesen beiden Untersuchungen gemeinsam ist die bio­ graphische Betrachtung, nicht des Menschen, sondern des Werks an sich; denn das, was nach wie vor am meisten fehlt und was wir folglich am dringlichsten brauchen, ist eine Biographie des Werks – oder, wenn man so will, eine Genealogie des Denkens, das uns fortgesetzt in seinen Bann schlägt und eine bleibende Herausforderung darstellt. Meine Herangehensweise verdient eine Erklärung. Ich habe zahllose Stunden und Tage, ja Wochen in zahlreichen amerikanischen und deutschen Archiven zugebracht, von der Knox County Public Library in Tennessee bis hin zum Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Das ist ein wun­ derbares Leben, wie Guy Oakes einmal zu mir sagte; wenn nur die Arbeits­ zeiten günstiger wären! Für meine Belange (und wenn man bedenkt, in welch dürftigem Zustand sich unser Wissen befindet und wie viel noch im Dunkeln liegt) ist das Studium der Primärdokumente einfach durch nichts zu ersetzen – Briefe, Zeugnisse, Zeitungen, Aufzeichnungen aller Art, man­ che ordentlich übertragen oder abgedruckt, andere eilig hingekritzelt und kaum zu entziffern. Dieses Material entmutigte mich häufig, immer aber fand ich es stimulierend, warf es doch Fragen auf, auf die ich bis dahin nicht gekommen war. Beeindruckend fand ich den schieren Umfang der Dokumente, und ganz besonders die Fülle an Material, welche die Samm­ lungen der historischen Gesellschaften der amerikanischen Bundesstaaten und Counties beherbergen. Natürlich ist es unerlässlich, solche Quellen kritisch zu sichten, und ich hoffe, ich habe in meiner kritischen Bestands­ aufnahme die einschlägigen Forschungsarbeiten und die Interpretationslite­ ratur hinreichend berücksichtigt, die allein im Falle Webers ganze Buchre­ gale füllen. Ich habe mich um eine lesbare Darlegung der Quellen und Dokumente bemüht, die soweit möglich, auf Fußnoten, Endnoten und ande­

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re den Textfluss unterbrechende Markierungen verzichtet. Stattdessen habe ich für jedes Kapitel einen bibliographischen Apparat zusammengestellt, der die relevanten Quellen aufführt. Ich möchte mich an dieser Stelle zu ein paar glücklichen Umständen äußern und einige Personen würdigen, ohne die diese Arbeit in der vorlie­ genden Form nicht zustande gekommen wäre. Ich freue mich, Herrn Guen­ ther Roth meine Dankbarkeit und Anerkennung aussprechen zu können, der meine Arbeit über die Jahre verfolgt und begleitet hat, nicht mit wohldurch­ dachten Kommentaren und Hinweisen sparte, die höchsten Standards der wissenschaftlichen Forschung verteidigte und dieser Untersuchung seine großzügige Ermunterung und Unterstützung gewährte. Er las das Manu­ skript von Anfang bis Ende und half bei zahlreichen Detailfragen mit sei­ nem Wissen aus. In einer besonderen Dankesschuld stehe ich auch bei Wilhelm Hennis für seine leidenschaftliche Beschäftigung mit Weber und dessen Werk, der sein Tod am 10. November 2012 ein frühzeitiges Ende setzte. Meine Arbeit an der Originalausgabe begleitete er mit begeistertem Interesse, und mit ihm habe ich nicht nur einen außergewöhnlichen Lehrer, sondern auch einen verehrten Freund verloren. Ich weiß keinen schöneren Abschiedsgruß zu seinen Ehren, als Thukydides’ Worte aus der Grabrede des Perikles zu zitieren, auf die er mich einst selbst aufmerksam machte: Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht. Wir lieben den Geist und erschlaffen nicht. Zugute gekommen sind mir die Gespräche und der Schriftverkehr mit Edith Hanke und Keith Tribe, von deren Arbeit meine eigenen Bemühungen profitiert haben. Als Generalredaktorin der Max-Weber-Gesamtausgabe war Edith Hanke insbesondere bei den Beständen des Mohr-Siebeck-Archivs behilflich. Ich darf sagen, dass mir zahlreiche Kollegen mit ihrem Rat zur Seite standen; erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang Kevin An­ derson, Robert Antonio, Karl-Ludwig Ay, David Chalcraft, Uta Gerhardt, Peter Ghosh, David Kettler, Harold Orbach, Joachim Radkau, Alan Sica, Sandra van Burkleo und Sam Whimster. Donald N. Levine stellte eine Ver­ bindung zur University of Chicago her, die meiner Arbeit in der Regenstein Library zugute kam. Stephen Kalberg, Dirk Käsler, Laurence McFalls, Guy Oakes und David Smith nahmen ebenfalls Anteil an diesem Projekt. Pat Riker und Marilee Scaff opferten liebenswürdigerweise ihre Zeit und betä­ tigten sich als Leser einzelner Kapitel. Ich danke Pat Riker für ihr Interesse und ihre Unterstützung und für die entspannte Atmosphäre im kalifornischen Santa Monica, wo der Schluss des Textes zu großen Teilen entstand – gleichsam unter den Schatten einer früheren Generation europäischer Ein­ wanderer, die an Amerikas Küsten angelangt waren. Speziell bedanken möchte ich mich bei Axel Walter für die Sorgfalt und das Engagement, mit

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denen er sich dieser Übersetzung widmete. Sein unermüdliches Befragen und die Aufmerksamkeit, die er auf Details verwendete, trugen ganz außer­ ordentlich zu einem genauen und lesbaren Text bei. Ohne Webers Korrespondenz hätte ich diese Untersuchung nicht durch­ führen können, und da meine ich sowohl die knapp 200 Seiten, die er während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten nach Hause schick­ te, als auch den üppigen Schriftverkehr vor und nach der Reise. Die mit der Hand geschriebenen Briefe zu studieren, ist eine Aufgabe für sich – Ma­ riannes große, gleichmäßige, fließende, untadelige, fast reine Sütterlinschrift, und dagegen Max’ enge, von leichter Erregbarkeit zeugende und ganz ei­ genwillige Handschrift, in der sich die altdeutsche und die lateinische Schrift mischten. Wenn sich die Persönlichkeit in den Bewegungen offen­ bart, mit denen die Hand über die Seite wandert, dann findet der Analytiker hier fruchtbaren Boden. Familienmitglieder und andere Briefpartner beklag­ ten sich hingegen, dass die Lektüre von Max Webers Briefen einer Entzif­ ferungsübung gleichkam. Dank der frühen Anleitungen Manfred Schöns von der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG), des weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet, ging ich so vor, dass ich die handschriftlichen Originale las, meine Dechiffrierungen mit Abschriften oder Druckfassungen verglich, etwa denen in Marianne Webers Lebensbild ihres Mannes, und mich dann wieder den Originalen zuwandte, um eine abschließende Korrektur vorzu­ nehmen. Meine Transkriptionen basieren auf dieser letzten Korrekturfas­ sung. Für die deutsche Ausgabe wurden die von der MWG redigierten Briefe Max Webers herangezogen. In diesem Zusammenhang möchte ich Thomas Gerhards und Sybille Osswald-Bargende für ihre Unterstützung Dank sagen. Obgleich die Veröffentlichung dieser und anderer Materialien aus dem höchst problematischen Zeitabschnitt zwischen 1898 und 1905 für 2014 geplant ist, werden diese Schwierigkeiten nie ganz aus der Welt zu schaffen sein, weil die MWG ausschließlich von Max Webers Briefen eine vollständige Zusammenstellung publiziert, nicht von denen Mariannes oder seiner Briefpartner. Die Arbeit mit Primärquellen lädt einen dazu ein, ganz besonders auf die Sprache, den Text und den Textzusammenhang zu achten. Ich jedenfalls näherte mich Max Weber auf diese Weise an. Im ersten Teil, in dem die Amerikareise von 1904 geschildert und in ihrer Bedeutung ermessen wird, legte ich das Augenmerk ganz bewusst auf das, was er tatsächlich geschrie­ ben hat; ich wollte der Beschäftigung mit seinem Werk durch die sorgfälti­ ge Untersuchung seiner Äußerungen einen neuen Impuls verleihen, und nicht dadurch, dass ich den von seinen späteren Kommentatoren vorgeschla­ genen Entwürfen nachging. Ein Großteil dieser Kommentare, so wertvoll er aus sich heraus sein mag, kann jedoch Verwirrung stiften und vom Eigent­ lichen ablenken. Viel lässt sich gewinnen, wenn man Weber unvoreinge­

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nommen zu lesen lernt, unbelastet von den verschiedenen „kreativen Miss­ deutungen“ der Vergangenheit (um Guenther Roths treffende Wendung zu gebrauchen). Der zweite Teil indes zählt zugegebenermaßen zu jenen Deu­ tungen und Fehldeutungen, den kreativen und den anderen. Die Kapitel erkunden die Netzwerke der Wissenschaftler, die sich zu Weber und seinem Werk hingezogen fühlten, unter besonderer Berücksichtigung der Politik und der Soziologie des ,Lesens‘ und Übersetzens und der Herstellung der ‚heiligen‘ Weber-Texte – da war der Autor Max Weber lange schon gestor­ ben und konnte seine Texte nicht länger erklären und in Schutz nehmen. Die spannende Frage nach dem Zusammenhang, in dem die beiden Dimen­ sionen einer solchen Untersuchung stehen – die historisch-textuelle und die theoretisch-deutende sozusagen – hatte ich immer im Hinterkopf. Einzelne Abschnitte dieses Bandes sind bereits an anderer Stelle veröf­ fentlicht worden. Teile des 5. Kapitels „Der letzte Rest Romantik“ erschie­ nen in abgewandelter Form im Journal of Classical Sociology und in The Protestant Ethic Turns 100: Essays on the Centenary of the Weber Thesis. Die Kapitel 11 bis 13 des zweiten Teils erschienen in The European Journal of Political Theory, in den Max Weber Studies und in Das Faszinosum Max Weber: Die Geschichte seiner Geltung. Ich habe diese Beiträge und Kapitel für die vorliegende Studie komplett umgeschrieben und überarbeitet.

Einführung Die Auseinandersetzung mit Max Webers Schriften und Ideen ist von jeher stark mit der Faszination für sein Leben verwoben. Karl Jaspers war hier federführend mit seinen frühen retrospektiven Würdigungen: Für ihn spiegelte das Werk den Menschen und der Mensch das Werk. Die Faszina­ tion ist so stark und so lebendig wie je. Das mag überraschen, war doch Webers Leben in mancher Hinsicht ganz und gar nicht außergewöhnlich. Wie fiel die Bilanz seines Tuns am Ende aus? Seinem kometenhaften Auf­ stieg in der universitären Welt setzte die Krankheit ein Ende. Einer Lehrtä­ tigkeit ging er genau genommen nur zu Beginn und in der Spätphase seiner Laufbahn nach, zusammen nicht einmal sechs Jahre. Seine Gedanken hatten keinen prägenden Einfluss auf die Lehrmeinung, und Schüler hatte er nur wenige. Seine gelegentlichen Bemühungen um eine politische Karriere führ­ ten zu nichts. Zwar mischte er sich in die politischen Angelegenheiten ein und meldete sich in den öffentlichen Debatten zu Wort, doch von Erfolg gekrönt waren diese Interventionen nicht, sie machten ihn vielmehr zu ei­ nem Außenseiter in seiner Zeit. Seine Versuche, neue Denkrichtungen oder neue Institutionen in der Welt des Geistes zu begründen, blieben gleicher­ maßen wirkungslos oder sie endeten, wie im Falle der Deutschen Gesell­ schaft für Soziologie, in Missverständnissen und seinem abrupten Rückzug. Selbst sein großes editorisches Projekt, der enzyklopädische Grundriss der Sozialökonomik, fiel dem Ersten Weltkrieg zum Opfer und war über den Fragmentstatus nicht hinausgekommen, als Weber 1920 starb. Alles in allem gab es in Webers Leben ernüchternd viele Enttäuschungen und Fehlschläge. Und doch war da immer noch das Werk, das – auch als mehr oder weni­ ger fragmentarisches – auf die ganze Weltgeschichte und Weltkultur ausgriff und die größten Fragen nach der Entstehung der modernen Welt aufwarf. Vieles blieb Stückwerk und unvollendet oder verteilte sich auf Fachzeit­ schriften, Handbücher, unregelmäßig erscheinende Publikationen oder Zei­ tungen. Weber schätzte den längeren Aufsatz, verfasste aber auch bevorzugt Handbuchartikel, Enzyklopädieeinträge und Forschungsbeiträge ohne Län­ genvorgabe – Formate, die einen Herausgeber heutzutage zusammenzucken lassen. Weber schrieb, von seiner Dissertation und seiner Habilitation abge­ sehen, kein einziges Buch. Die Form scheint ihm nicht viel bedeutet zu haben; die Ideen überhaupt auf Papier zu bringen, was häufig per Diktat erfolgte, darauf kam es an. Darum braucht es uns nicht sonderlich wundern, dass dieses Werk zu großen Teilen im Verborgenen lag oder in Vergessen­

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heit geriet. Es ist dennoch erstaunlich festzustellen, dass zwei seiner 1907 / 8 in englischer Übersetzung in The Encyclopedia Americana veröffentlichten Artikel (über die Landwirtschaft, das Forstwesen und die Industrie in Deutschland) bis in dieses Jahrhundert hinein unbekannt waren und in kei­ nem der bibliographischen ,Fangnetze‘ hängen blieben, angefangen bei de­ nen, die in den 1920er Jahren von seiner Frau und einigen tüchtigen Münchner Studenten ausgeworfen worden waren. Manchmal müssen Autoren auf die nach ihnen Kommenden warten, da­ mit ihr Werk zusammengetragen, gelesen, studiert und interpretiert und so der Vergessenheit entrissen wird. Max Weber liefert ein interessantes und vielleicht drastisches Beispiel für dieses Phänomen: als jemand, dem die Würdigung für seine Leistungen zu Lebzeiten versagt blieb, der zu seiner Zeit unbedeutend war, in unserer Zeit aber hoch angesehen ist und ausgie­ big zitiert wird, sogar von den Massenmedien. Wie ist es dazu gekommen? Was sind die Gründe für das Renommee, das er heute besitzt? Wie kam es dazu, dass wir nunmehr von einer Weber’schen Sicht auf die Dinge spre­ chen, von einer Weber’schen Herangehensweise, Analyse oder Theorie? Jeder, der Webers Schriften aus gründlichen Lektüren kennt, wird hierauf antworten wollen, dass die Texte selbst der Grund dafür sind; er wird die zwingenden Formulierungen und die Zeichen starken persönlichen Engage­ ments hervorheben, unabhängig davon, welchen Themen sich der Autor zuwandte, waren es die alttestamentlichen Propheten, die asketischen Prak­ tiken des Alltagslebens, die Entstehung der westlichen Musik oder abstrak­ te Themen wie etwa die patrimoniale Herrschaft oder die charismatische Autorität. Das Feuerwerk glänzender Einfälle, die Kombination von sach­ lichem Detailwissen und begrifflichen Verallgemeinerungen, die Verschmel­ zung des Subjektiven und des Objektiven, kann einem förmlich den Atem verschlagen, wie zahlreiche Leser feststellten. Mit einer solchen Antwort macht man es sich jedoch insofern zu leicht, als sich die Dinge auf viel komplexere und stringentere Weise darlegen lassen; dazu aber müssen die geistigen, historischen, politischen und sozialen Zusammenhänge, aus denen heraus Weber dachte und sein Denken entwickelte, in den Blick genommen und geschildert werden. Und genau das versucht dieses Buch zu leisten. Dazu müssen verschiedene Untersuchungsfelder miteinander verknüpft und muss eine Kultur- und Geistesgeschichte geschrieben werden, deren obers­ tes Ziel es ist, eine Darstellung der geistigen Biographie nicht bloß des Menschens, sondern des Werks selbst vorzulegen. Um sich von dieser Biographie und dem Phänomen Weber ein angemes­ senes Bild machen zu können, muss man verstehen, was Max Weber und seinem Werk in Amerika widerfahren ist. Interessanterweise gibt es zwei unterschiedliche, einander aber doch ergänzende Möglichkeiten des Heran­

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gehens an das Thema „Weber in Amerika“; denn zum einen war Weber in den USA: 1904 bereiste er die Staaten zusammen mit seiner Frau Marianne und zeitweise auch mit anderen Personen. Den Lesern der von ihr, Marian­ ne, verfassten Biographie Max Weber: Ein Lebensbild ist diese Episode lange schon bekannt, sie stellt jedoch ein besonders wichtiges Erlebnis dar, das bislang nicht in all seinen Dimensionen und Facetten erforscht worden ist. Die von Weber zu Zeiten des Progressivismus und der Präsidentschaft Theodore Roosevelts unternommene Amerikareise ist in der Tat ein span­ nendes Thema für sich, das einen an Alexis de Tocquevilles und Gustave de Beaumonts frühere Aufenthalte im Amerika Andrew Jacksons denken lässt. Meine Schilderungen der Begebenheiten der Reise und ihrer Begleit­ umstände – was die Webers unternommen und erlebt haben und wer ihre Gesprächspartner waren, was sie sich angesehen haben und was sie dach­ ten – entfalten ein weites kulturgeschichtliches Panorama der Vereinigten Staaten und wir entdecken aufs Neue unsere Vergangenheit, als das „ame­ rikanische Jahrhundert“ gerade begonnen hatte. Der erste Teil des Buches ist der Reise selbst und den begleitenden Kommentaren der Webers gewid­ met und präsentiert sie in einer längst fälligen umfassenden Darstellung. Doch was 1904 geschah, war auch ein Vorbote für das, was sich nach Max Webers Tod im Jahre 1920 ereignen sollte – die Rede ist von der Verwen­ dung, Auslegung und Verbreitung seines Denkens in den USA durch ame­ rikanische Wissenschaftler wie etwa Frank Knight und Talcott Parsons mit Beginn der 1920er Jahre und später dann durch deutsche Emigranten und andere Personen aus der englischsprachigen Welt. Was aus dem ,Weber’schen‘ Denken wurde, welchen Niederschlag seine Anschauungen in den Geistesund Sozialwissenschaften fanden, wird im zweiten Teil erörtert. Fast alles, was uns heute über Webers Aufenthalt in den USA bekannt ist, wissen wir aus Marianne Webers Darstellung, die 1926 herauskam. Die Amerikareise nimmt in Webers Leben und Werk eine Schlüsselstellung ein, fiel sie doch in eine Zeit, als er sich von dem lähmenden psychischen Zu­ sammenbruch von 1898 freizumachen begann, diesem lebensverändernden Vorfall, der von einer Reihe vielschichtiger sozialer und psychischer Um­ stände bedingt war, darunter Überarbeitung und Erschöpfung, schwere un­ gelöste innerfamiliäre Konflikte und die starken Triebspannungen, die in jenen Tagen als ,Neurasthenie‘ diagnostiziert wurden. Marianne Weber ih­ rerseits neigte beim Schreiben der Biographie ihres Mannes tendenziell dazu, diese Monate des Aufbruchs nach der Krankheit, der in der Reise von 1904 gipfelte, als den Anfang einer „neuen Phase“ zu stilisieren, als den entscheidenden Wendepunkt in Max’ Kampf um die Rückkehr in die Welt des Denkens, der Gelehrsamkeit und der öffentlichen Auftritte. Joachim Radkau hat jüngst eine neue Version der Darstellung Mariannes vorgelegt und die Amerikareise in diesem Zusammenhang auf einer Linie angesiedelt,

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auf der Weber sich aus den Fängen einer rachsüchtigen Natur zu befreien vermochte, ihre heftigen Durchbrüche immer weniger fürchten musste und schließlich zu „Erlösung und Erleuchtung“ fand. Beide treffen sie einen richtigen Punkt: Die Amerika-Erfahrung und ihre Verheißung wirkten in einer Hinsicht tatsächlich befreiend und erlösend auf ihn und stachelten seine Vorstellungskraft und seinen Enthusiasmus an, und Weber selbst hat von diesem Lebensabschnitt offenkundig in genau solchen Begriffen ge­ dacht. Welcher Erklärung für die Veränderung man auch den Vorzug gibt, es ist doch überdies bemerkenswert, dass der Weber, den wir gelesen, von dem wir Besitz ergriffen, den wir kritisiert, variiert und zu einem Teil des Diskurses der modernen Sozialwissenschaft und des modernen politischen Lebens gemacht haben, dass dieser Weber bis in die letzten Jahre fast aus­ schließlich der Weber der Texte war, die er in den letzten 16 Jahren seines Lebens verfasst hatte, von 1904 an, als er bereits 40 Jahre alt war. Ungeachtet des hohen Tons und bei aller verständnisträchtigen Teilnahme weist Marianne Webers Schilderung nicht unerhebliche Lücken und Auslas­ sungen, auch Gedächtnislücken und Übertreibungen auf, und zwar sowohl was Max’ Ansichten und Interessen angeht als auch ihre eigenen betreffend. Darum ist es unerlässlich, ihre Geschichte zu hinterfragen und von vorn zu beginnen, indem man zu den Quellen zurückgeht, die sie verwendet hat, wie etwa die Korrespondenz innerhalb der Familie oder die mit den Kollegen, während man außerdem neue Wege der Erkenntnis und der Deutung erkun­ det; in unserem Zusammenhang müssen wir der Frage nachgehen, was Weber in den Staaten tatsächlich gemacht hat und aus welchen Gründen, wen er dabei traf und warum, was er in Augenschein genommen hat und welche Bedeutung und Tragweite diese dichten, angefüllten Monate für ihn und sein Werk hatten. Und wir müssen die gleichen Fragen auch mit Blick auf Marianne Weber selbst und ihre Erzählung stellen, wollen wir ihre Dar­ stellung mit einem neuen Fundament unterziehen. Diese Fragen schlagen natürlich auf die Biographie durch, darüber hinaus aber leisten sie einen wichtigen Beitrag für eine Biographie der von Weber verfassten Texte und somit für ein besseres Verständnis der Gründe für die Aneignung seines Werks. Bei einem Denker vom Format Webers, in dem man gemeinhin einen der Begründer der Soziologie und der modernen Sozialwissenschaften sieht, sollten wir uns im Klaren darüber sein, dass eine Biographie der Person und des Werks in gewissem Maße auch eine Biographie der Wissenschaften und der aufkommenden wissenschaftlichen Disziplinen darstellt. Deshalb endet meine Untersuchung nicht mit Webers Erfahrungen und der Reise von 1904, sondern widmet sich darüber hinaus der Frage nach der späteren Rezeption und Entfaltung seines Denkens. Aus besonderen historischen und politischen Gründen ist die Erörterung des zweiten Teils zu großen Teilen eine ameri­

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kanische Geschichte, die in den 1920ern mit der Festschreibung und den ersten Übersetzungen von Webers Werk einsetzte, in den 1930ern und 1940ern mit dessen Entfaltung in Lehre und Fachwissenschaft ihren Fort­ gang nahm und nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Wiedereinführung dieses Werks in Europa ihren Höhepunkt erlebte. Im Nachzeichnen dieser Etappen ließe sich eine Art Rezeptionsgeschichte sehen. Doch es geht um weit mehr als das, denn die vorliegende Arbeit ist auch eine Untersuchung des ehrgeizigen Vorhabens, den Gegenstand der neuen sozialwissenschaftli­ chen Disziplinen zu definieren, einem Wissensbestand feste Form zu geben und Anerkennung zu verschaffen sowie eine spezielle Art von Bildungssys­ tem für die moderne Forschungsuniversität zu entwerfen und dort zu veran­ kern. Unnötig zu erwähnen, dass in diesen Zusammenhängen noch ganz andere Kräfte am Werk waren als die des begrenzten Kreises derjenigen Personen, die sich mit Webers Schriften befassten. Über die Erstellung und Aneignung von Webers Denken zu schreiben, heißt demnach, einen unübli­ chen Weg zu gehen und einzutauchen in die kontroverse Debatte über die moderne Universität, die Bildungspolitik und die politischen Strategien der Intellektuellen, die in unserem Fall in den zwanziger Jahren in den USA begonnen hatte, wo sie zunächst ausgetragen wurde, und die sich dann nach 1945 in verschiedene Richtungen ausbreitete, zuerst nach Europa und schließlich auch nach Asien. Resultat dieses Geschehens ist eine faszinie­ rende disziplinäre, institutionelle und geistige Geschichte, eine komplexe und wechselnde Konstellation von Ansichten über und Bindungen an eine spezielle Art des Forschens, die eines der wichtigsten Kapitel der Politik und Soziologie des Wissens im 20. Jahrhundert bilden. Da Max Weber in einem vergleichenden Stil über die Weltkulturen, den Kapitalismus und die Entwicklungstendenzen der „rationalen“ Formen sozialen Handelns und der sozialen und ökonomischen Ordnungen schrieb, sind die unterschiedlichen Verwendungen und Erweiterungen seines Werks jenseits seines eingegrenz­ ten Ursprungsorts erst recht beachtenswert und umso aufschlussreicher. Hinzufügen möchte ich, dass, wenn man heute aus diesem doppelten Blickwinkel über Weber und ,Amerika‘ schreibt, man nicht umhinkommt, auf das Problem des Amerikabildes einzugehen, das heute so unausweich­ lich ist wie im ganzen 20. Jahrhundert. Wendet man sich über die Beschäf­ tigung mit Weber auf die Epoche seiner Zeitgenossen zurück, auf herausra­ gende Gestalten wie Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson oder auf Menschen, die er getroffen hat, wie etwa William James, Samuel Gompers, W. E. B. Du Bois, Florence Kelley oder Robert Latham Owen, ist das nicht nur eine Gelegenheit, die amerikanische Gesellschaft, das geistige Leben und die amerikanische Politik von vor einhundert Jahren unter die Lupe zu nehmen, sondern auch eine Chance zum Nachdenken über den Verlauf eines Jahrhunderts und seine Bedeutung – seine Hoffnungen und Verheißungen,

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Enttäuschungen und Katastrophen. Der eigentliche Gegenstand dieses Bu­ ches ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sind die ersten Jahre des ,Ame­ rican Centurys‘. Man kann sich dem ansteckenden Optimismus und dem Aufbruchsgeist dieses geschichtlichen Augenblicks kaum verschließen, zu denen Weber durch seinen eigenen Überschwang in den Vereinigten Staaten selbst noch beitrug und die sich in der Dynamik von Teddy Roosevelts Herbstwahlkampf für das Präsidentenamt offenbarten, den Weber miterlebte. Das Bild von Max Weber als einem die moderne Welt Fliehenden, der der ,Demokratie‘ skeptisch gegenüberstand und düstere Warnungen über die ,Massen‘ ausstieß, ist im Grunde eine von Intellektuellen zu ideologischen Zwecken bewerkstelligte Fälschung. In Wahrheit vermittelt uns Webers Amerikareise eine viel schlichtere historische Lektion: Die Geschichte bie­ tet den Nationen bisweilen außerordentliche Chancen und sie hält wenig Tröstliches für jene bereit, die es nach endgültigen Antworten und unum­ stößlichen Wahrheiten verlangt. Ich verfolge in dieser Studie einen Ansatz, der mit einem Wort gespro­ chen historisch ist. Oder strenger noch: radikal ,historistisch‘, in dem Sinne, dass ich unser Verständnis von Webers Denken zu fördern versuche, indem ich seinem Werden in der konkreten geschichtlichen Situation von Webers Leben und seiner Zeit, seiner sozialen Bindungen und geistigen Auseinan­ dersetzungen nachgehe. Es ist mittlerweile üblich, einen solchen Ansatz als ,genealogisch‘ zu bezeichnen. Ob dieser Ausdruck sich nun als Metapher eignet oder nicht, er hilft uns in jedem Fall nur dann weiter, wenn damit gemeint ist, dass man sich auf die Quellen besinnt und sie studiert und der Herausbildung von Vorstellungen und Ideen in der Sprache, den sozialen Beziehungen oder der Erfahrung nachspürt. Es gibt fraglos andere hilfreiche und wichtige Ansätze, sich Weber oder einem anderen der großen Autoren und Denker anzunähern: den systematischen, den analytischen, den verglei­ chenden, den inhaltlichen oder thematischen oder den problemorientierten Ansatz. Geschickt gehandhabt kann jeder dieser Ansätze zu unserem Ideen­ verständnis beitragen und unser Denken befruchten. Man kann sich für ei­ nen von ihnen entscheiden, ohne die anderen auszuschließen oder zu ver­ werfen. Sie lassen sich auch gewinnbringend miteinander verbinden, wie ich in einigen Abschnitten dieses Bandes demonstrieren möchte. Dennoch aber ist es in diesem Stadium der Beschäftigung mit Weber, mit seiner Generation und den Problemen und Fragen des fin de siècle in Nordameri­ ka wie auch in Europa besonders dringend erforderlich, sich wieder mit den Zusammenhängen und Verhältnissen zu befassen, aus denen große Teile des Werks sowie die moderne Sozialtheorie, die heutigen Sozialwissenschaften und die sie abstützenden Institutionen hervorgegangen sind. Ich muss den Gedanken, dass die Vereinigten Staaten und ,Amerika‘ für Weber wichtig waren, ergänzen, und diese Ergänzung schließt auch ein

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Wort der Vorsicht ein. In seinem Spätwerk kommt Weber immer wieder auf Amerika zurück, auf Amerika als einen Ausgangspunkt, eine Vergleichsgrö­ ße, eine Veranschaulichung, ein Beispiel, eine Gelegenheit für Beobachtun­ gen und einen Gegenstand des Nachdenkens. Nur Großbritannien und England kann es in dieser Hinsicht mit ihm aufnehmen. Dagegen äußert sich Weber wenig zum Frankreich dieser Tage oder zu Italien. Weber pfleg­ te einen historischen und historisch-vergleichenden Denkstil, und mit Blick auf die europäische Zivilisation war es vor allem Rom, das seine historische Phantasie beflügelte, nicht die Nationalstaaten der Gegenwart. Im Osten richtete sich sein Blick auf Russland, und zwar nicht aus einem echten In­ teresse heraus, sondern aus weltgeschichtlichen Gründen, die mit der revo­ lutionären Umgestaltung einer traditionellen sozialen und politischen Ord­ nung im Zusammenhang standen. Das Nebeneinander von Amerika und Russland in seinem Denken könnte einen an Alexis de Tocquevilles Über­ legungen zu einem Europa zwischen den zwei großen Weltmächten denken lassen. Doch im Unterschied zu seinem französischen Vorgänger erkannte Weber in Amerika nicht das Gesicht der Zukunft und er entwarf Europas Entwicklung auch nicht wie dieser in einem Dreiecksverhältnis, obwohl er mitunter über eine ,Annäherung‘ zwischen alter und neuer Welt nachdachte und dergleichen Gedanken zum Ausdruck brachte. Die Amerikareise bot ihm vielmehr Gelegenheit zur Beobachtung und Veranschaulichung einer bestimmten Form der moralischen und sozialen Ordnung und einer kulturel­ len und politischen Dynamik, die den Kapitalismus in seiner Entwicklung kennzeichnete. Wenn es darum geht, diese Ordnung verständlich zu machen und ihrer Dynamik nachzuspüren, dann rückt die amerikanische Gegenwart jener Zeit, ob man will oder nicht, zwangsläufig in den Mittelpunkt von Webers Den­ ken über die moderne Welt. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn das heißt nicht, dass sein Denken sich um amerikanische Themen und Fragen drehte oder dass er die großen innovativen Fragen, zu den religiösen Überzeugun­ gen etwa und zur Wirtschaftstätigkeit, ohne die Erfahrungen in Amerika nicht hätte aufwerfen können. Seine Problemstellungen entsprangen viel­ mehr aus der Vertiefung in die soziale und kulturelle Weltgeschichte, die Kulturen des Westens und Ostens sowie aus der Beschäftigung mit den vielschichtigen Debatten in der Wissenschaft über Ursprünge, Wesen und Bedeutungsfragen der modernen Welt des ,Kapitalismus‘ – „der schicksals­ vollsten Macht unseres modernen Lebens“, als die er ihn bezeichnete. Man kennt die Gründe, aus denen ,Amerika‘ Teil dieser Diskussionen war; viele von ihnen hatte Max Weber in seinem Vortrag in St. Louis, Mis­ souri, benannt. Die Vereinigten Staaten bildeten eine neue Nation von im­ mensen Ausmaßen, die nach dem Bürgerkrieg ohne alte Aristokratie und in dieser Hinsicht unbelastet von der Macht der Tradition war, die aber wie­

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derum sowohl „über demokratische Traditionen [verfügte], die der Purita­ nismus als dauerndes Vermächtnis hinterließ“, als auch über eine Wirtschaft, in der die „Wirkungen der Macht des Kapitalismus“ auf beispiellose Weise zutage traten. Welche dieser miteinander im Wettstreit liegenden Kräfte würde sich durchsetzen? Wie ließen sich ihre gegensätzlichen Wirkungen in Einklang miteinander bringen? Welchen Verlauf würde die Geschichte in den USA nehmen? Weber fand eine markante Formulierung für den ge­ schichtlichen Kontext solcher Fragen: „Vielleicht war es einer Nation noch nie zuvor in der Geschichte so leicht gemacht wie dem amerikanischen Volk, eine große Kulturnation zu werden. Aber menschlichem Ermessen nach ist es auch zum letzten Mal in der Menschheitsgeschichte, dass solche Bedingungen für eine freiheitliche und große Entwicklung gegeben sind“. Was also wird aus diesem tiefgreifenden weltgeschichtlichen Experiment werden, welcher Wert sich als sein bleibender herausstellen? Fragen und Überlegungen dieser Art waren es, in denen Amerika Eingang in Max Webers Werk fand – als eine Wirklichkeit und als ein Symbol, als Geschichte und als Mythos. Weber stellte seine Betrachtungen zu Amerika auch aus einem weltgeschichtlichen Blickwinkel heraus an und nahm ent­ sprechende Einordnungen und Bewertungen vor; so äußerte er sich zum Ende seines Lebens hin in Wissenschaft als Beruf, Tocqueville nachklingen lassend: „Erlauben Sie“, wandte er sich an das Vortragspublikum, „dass ich Sie noch einmal nach Amerika führe, weil man dort solche Dinge oft in ihrer massivsten Ursprünglichkeit sehen kann.“ In den Schlussabschnitten von Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus bezog er sich ebenfalls auf Amerika, wo der kapitalistische Erwerbsgeist seine „höchste Entfesselung“ erfahren habe und seines „religiös-ethischen Sinnes entklei­ det“ sei. Solche Äußerungen scheinen zu dem Fin-de-siècle-Topos von Amerika als einem Inbegriff der Moderne und ihrer charakteristischsten Erscheinungsformen zu passen. Und sie bieten darüber hinaus auch einen passenden Einstieg in die Biographie des Werks, laden sie doch dazu ein, Nachforschungen anzustellen. Dieser Einladung bin ich gefolgt.

I. Teil

Die Amerikareise Wer den Dichter will verstehen Muss in Dichters Lande gehen. If it’s the poet you want to understand, Then you must go to the poet’s land. William James’ Diary, 5. Januar 1905

1. Gedanken zu Amerika Reise ins Amerika des Progressivismus Max Weber war ein unermüdlicher und begeisterter Reisender. In den zwei Dekaden zwischen seiner Hochzeit mit Marianne Schnitger im Jahre 1893 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs reiste er nach England, Schottland, Irland, Wales, Frankreich, Spanien, in die Schweiz, nach Korsika, ÖsterreichUngarn, Holland, Belgien, die Vereinigten Staaten und immer wieder nach Nord- und Süditalien. Diesen Reisen lagen unterschiedliche Zwecke und Mo­ tive zugrunde: seine Hochzeitsreise führte das Ehepaar Weber 1893 nach Großbritannien und 1895 reisten Max und Marianne als Touristen nach Frankreich; um sich dem Arbeitsdruck zu entziehen und zur Erholung von den emotionalen Turbulenzen flüchtete er nach 1898 viele Male südwärts nach Frankreich und Italien; und ab und an war er auch beruflicher Verpflich­ tungen wegen unterwegs, etwa 1904 für einen Vortrag auf dem Congress of Arts and Science in St. Louis oder 1909 für ein Treffen des Vereins für So­ cialpolitik in Wien. Was auch immer der konkrete Anlass war, diese Reisen halfen ihm, seine geistigen Kräfte zu erneuern, und sie beflügelten seine his­ torische Phantasie. Mitunter schien es, als sei er zu seiner wissenschaftlichen Arbeit nur imstande, wenn die Aussicht auf solch eine wiederbelebende Epi­ sode bestand und sie wie eine Muse am Horizont winkte. Dass das Reisen in Verbindung mit der Beobachtung des Neuen und Unvorhergesehen auf Geist und Gefühle belebend wirkt und bildet, ist alt­ bekannt. Die antike griechische Welt fasste diese Erfahrung mit dem Verb theorein, einer Zusammensetzung aus thea, das Schauen oder Anschauen von etwas; horan, die aufmerksame Betrachtung einer Sache; und dem Substantiv theoros, der aufmerksame Beobachter oder Abgesandte, der aus­ geschickt wurde, um fremdländische Bräuche in Augenschein zu nehmen und über sie zu ,theoretisieren‘ – das heißt, um eine rationale Erklärung für das Fremde und Unvorhergesehene zu finden. Die Entdeckungen großer Naturforscher und Ethnografen wie Alexander von Humboldt, Charles Dar­ win oder Bronislaw Malinowski wären ohne die Felderfahrung undenkbar gewesen. Das Gleiche trifft auf das Werk einiger der schärfsten Beobachter des politischen und gesellschaftlichen Lebens zu, etwa Autoren wie Alexis de Tocqueville und James Bryce. Ihre klassisch vollendeten Kommentare zur amerikanischen Politik und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Democracy in America und The American Commonwealth, konnten sie nur dank der

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Beobachtungen verfassen, die sie in den USA gemacht hatten. Wie verhält es sich im Falle Max Webers? Gehört er in dieser Hinsicht in eine Riege mit Tocqueville, Bryce und ihren Pendants in den Wissenschaften, wie Gun­ nar Myrdal, ein anderer scharfsinniger Beobachter des Lebens in Amerika, einst zu verstehen gab? Die annähernd drei Monate, die Weber 1904 in Amerika verbrachte, ra­ gen in mancher Hinsicht aus all seinen Reisen heraus. Lange schon hatte er eine solche Reise in Erwägung gezogen, war aber 1893 von dem Vorhaben abgerückt, gemeinsam mit seinem Freund Paul Göhre die Weltausstellung in Chicago zu besuchen, um sich im Geheimen mit Marianne Schnitger zu verloben, die er kurz darauf auch ehelichte – wobei er, um das nicht uner­ wähnt zu lassen, Göhres Platz in ihrem Gefühlsleben einnahm. Seine Vor­ kenntnisse der amerikanischen Verhältnissen erwarb er durch seinen Vater, der 1883 mit der Northern Pacific eine Bahnreise von Minneapolis-St. Paul nach Portland, Oregon und Seattle unternommen hatte, die von dem Finan­ zier und Freund der Familie Henry Villard in allen Einzelheiten organisiert worden war, und auf der er u. a. von Carl Schurz, James Bryce und Georg Siemens begleitet wurde. In seiner Schilderung der Ereignisse stellte Guen­ ther Roth ganz zurecht das Interesse heraus, das die „kosmopolitische Bourgeoisie“ am Ausloten der Investitionschancen und -möglichkeiten in dem sich entwickelnden nordamerikanischen Markt hatte; dass der Sohn zwei Dekaden später die wirtschaftlichen Bedingungen untersuchte, könnte durchaus auf einen gewissen Rest dieses Interesses zurückgehen. Doch Max Weber junior war auch ein eigenständiger Denker und Wissenschaftler, und seine gelegentlichen Äußerungen zu der Reise von 1904 zeugen von einem Verlangen nach Erweiterung seines geistigen Horizonts und danach, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, was andere an und in Amerika beobachtet und über das Land geschrieben hatten, von Bryces Texten (erstmals 1888 veröffentlich), die er sorgfältig las, bis zu den Darstellungen und fesselnden Schwärmereien Friedrich Kapps, des 1848 emigrierten bedeutenden Autors, deutsch-amerikanischen Politikers und Gegners der Sklaverei in Amerika sowie früheren Bundesgenossen von Karl Marx, Moses Hess und anderen Linkshegelianern des Rheinlandes. In Max’ jungen Jahren besuchte der in das vereinte Deutschland zurückgekehrte Kapp die Webers häufig zu Hause in Charlottenburg und wurde ein politischer Verbündeter von Max Weber senior; beide saßen sie als Abgeordnete für die Nationalliberalen im Reichs­ tag. Die Verbindung der Familie nach Amerika bestand jedoch nicht nur über Villard und Kapp, sondern auch durch die Berichte der Nachfahren Georg Friedrich Fallensteins, Max’ Großvater mütterlicherseits, durch den Austausch mit ihnen und die sie betreffenden Streitigkeiten – einige von ihnen hatten sich in der Neuen Welt niedergelassen, wo die Webers sie besuchen werden.



1. Gedanken zu Amerika19

Weber hatte seit Langem schon ein reges Interesse an Amerika genom­ men. Kapp etwa schenkte dem elf Jahre alten Max ein Exemplar der Über­ setzung von Benjamin Franklins Autobiography, „Seinem lieben jungen Freunde Max Weber“ gewidmet. Die von Kapp selbst verfasste preisende Einführung enthielt die unübliche Empfehlung an die deutschen Väter, ihren Söhnen Franklins Handlungsmaximen ans Herz zu legen. Dass Weber sich mit Amerika beschäftigte, gibt seine gesammelte frühe Korrespondenz an manchen Stellen zu erkennen; die Rede ist von den Jugendbriefen, die sei­ ne Frau posthum herausbrachte, wenngleich ihr daran lag, alles mit Max senior in Zusammenhang Stehende zu unterdrücken und einige familiäre Belange auszusparen oder zu umgehen. So hielt der 15-jährige Max fest, dass er „sich in letzter Zeit viel mit der Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika beschäftigt[e], die mir sehr interessant ist.“ (11. Oktober 1879) Fünf Jahre später ließ er seinen Onkel wissen, dass der recht rege Verkehr mit Friedrich Kapp eine starke Wirkung auf ihn habe und dass die Anziehung, die von Kapp ausgehe, von dessen außerordentlichem Gedächt­ nis, originellem Urteil und der „Kunst der Unterhaltung“ komme, die dieser im höchsten Maße besäße (8. November 1884). Und in zwei Briefen an seine Cousine Emmy Baumgarten kam er auf die in Amerika erlebten Ent­ täuschungen und auf die Heirat ihrer Halbcousine Laura Fallenstein zu sprechen, die er in Massachusetts besuchen sollte. (5. Juli 1887; 14. Juli 1889). Guenther Roth konnte mit seiner gründlichen Aufarbeitung der Fa­ milienkorrespondenz zeigen, welchen Umfang die Auseinandersetzung über den amerikanischen Zweig des Fallenstein-Klans hatte, mit der der junge Max und später Marianne gründlich vertraut waren. Die Amerikareise kam noch aus einem anderen wichtigen Grund gerade rechtzeitig. Sie stand gerade dann an, als Weber seine Aufmerksamkeit auf die Problemstellungen seiner bekanntesten Arbeit gerichtet hatte: auf das Thema des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem Handeln, wirtschaft­ licher Entwicklung und moralischer Ordnung, das er in dem zweiteiligen Aufsatz mit dem Titel Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus entfaltet. Angesichts dieses neuen Projekts, dessen Fertigstellung und Publikation sich über den Zeitraum seines Amerikaaufenthalts erstreck­ ten, wollte er jenen Aspekten und Erscheinungen des sozialen Lebens nach­ forschen, die er mit seiner These von der Nähe zwischen einem asketischen religiösen Ethos und dem wirtschaftlichen Handeln in den Vordergrund gerückt hatte. „Meine Fragestellung“, erklärt er, „[befasst] sich mit der Entstehung desjenigen ethischen ,Lebensstils‘, welcher der Wirtschaftsstufe des ,Kapitalismus‘ geistig ,adäquat‘ war [und] seinen Sieg in der ,Seele‘ des Menschen bedeutete“. Und diese Fragestellung gehörte in Amerika stets zu seinem Reisegepäck. Die Möglichkeit von Verbindungen zwischen Denkund Glaubenssystemen, wobei Weber insbesondere an die voluntaristischen

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protestantischen Sekten und an wichtige Aspekte des sozialen und wirt­ schaftlichen Handelns dachte – speziell an die Erscheinung, die bei ihm moderne Berufskultur hieß –, verlor er nie aus den Augen. Zu unterstreichen ist ferner, dass ihm die Monate in Amerika Gelegenheit gaben, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in der Neuen Welt gründlicher zu untersuchen. Wie von Sozialhistoriker aufgezeigt wurde, war der Kontext einer solchen Untersuchung geprägt durch zwei Merkmale der geistigen Welt des fin de siècle in Nordamerika, in Teilen des europäischen Kontinents, insbesondere in Deutschland und Skandinavien, und in Großbri­ tannien: die gemeinsame Geisteskultur, die, befördert durch den Bildungs­ austausch und den besonderen Reiz, an deutschen Universitäten zu studie­ ren, von der oberen Mittelschicht oder der kosmopolitischen Bourgeoisie weiterverbreitet wurde; und die von Weltoffenheit und ,progressiven‘ gesell­ schaftlichen und politischen Ansichten geprägte Haltung, die in Fachkreisen weit verbreitet war, ungeachtet der nationalen Unterschiede und des Wett­ streits zwischen den Großmächten. Beide spielten auf Webers Reisen eine wichtige Rolle. In manchen Hinsichten wurde die Reise zu einem Prüfstein für eine Rei­ he von Webers späteren Reflexionen. Listet man die Gegenstände seines Interesses auf, so liest sich das Resultat wie eine Agenda der wesentlichen Themen des amerikanischen Progressivismus: Einwanderung und Einwan­ derungsgemeinschaften, Klasse und Stände, Rasse und ethnische Gemein­ schaften, Geschlecht und Familienleben, Bildung und die Hochschulen, Religion und die Sekten, Demokratie und Wahlpolitik, politische Führer­ schaft versus bürokratische Herrschaft, die politische Ökonomie von Arbeit und Beruf, die mit dem Landbesitz einhergehenden Agrarverhältnisse, die Probleme der Städte, Fragen des Wohnungs- und Städtebaus und die mit dem Kapitalismus in Zusammenhang stehenden Fragen der Kultur. Die Weite der Themen spricht für James Kloppenburgs Auffassung, nach der wir es bei Weber im amerikanischen Kontext mit einem „verhinderten Progres­ siven“ zu tun haben, der sich von den anderen Theoretikern des Progressi­ vismus vornehmlich im Temperament unterschied, wohingegen er „ihre philosophische Sicht auf die Dinge und ihre politischen Ideale“ teilte. Max und auch Marianne Weber verwendeten erhebliche Mühe darauf, die Felder der Sozialpolitik und jene sozialen Institutionen ausfindig zu machen, die Reformbedarf erkennen ließen. Max verfolgte sein lang gehegtes Interesse an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, den Arbeitsver­ hältnissen, der Agrargesellschaft, der Religion, den Sozialwissenschaften und dem Universitätsleben. Die Personen, mit denen er beruflich in Kontakt kam, hatten fast sämtlich in Deutschland studiert oder Beziehungen dorthin. Er traf jedoch auch andere Menschen, Menschen aus den unterschiedlichs­ ten gesellschaftlichen Bereichen – das erstaunlich breit gefächerte Spektrum



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reichte von Grundstücksspekulanten im Indianergebiet bis zu William James in Cambridge. Er legte Wert darauf, unterschiedliche Regionen in Augen­ schein zu nehmen und die amerikanische Gesellschaft in möglichst vielen Facetten kennenzulernen – von New England bis in den tiefen Süden hinein absolvierte er ein bemerkenswert vielgestaltiges Pensum, das die Häuser der settlement-Bewegung in den Städten ebenso umfasste wie das Leben in der ländlichen Appalachen-Region, die Gemeinschaften der indianischen Urein­ wohner und die der Afroamerikaner genauso wie die Gemeinden der deut­ schen Einwanderer. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit besuchte er Lehr­ einrichtungen, suchte in den Bibliotheksbeständen, ob sich darin etwas Brauchbares für seine Arbeit finden ließe, und wohnte zu Beobachtungs­ zwecken Gottesdiensten bei – auf der langen Liste der Einrichtungen finden sich die Columbia University, die Northwestern University, die neue Uni­ versity of Chicago, das Tuskegee Institute, eventuell die University of Tennessee, das Haverford College, die Johns Hopkins University, Harvard University und die Brown University (und was Marianne angeht, die Col­ leges von Bryn Mawr und Wellesley). Die Gottesdienste umfassten zahlrei­ che protestantische Sekten: in erster Linie die Methodisten, Baptisten, afro­ amerikanischen Baptisten, Quäker, Presbyterianer und die Anhänger der Christian Science. Politisch stand der Herbst 1904 im Zeichen von Theodore Roosevelts Präsidentschaftswahlkampf, der am 12. September offiziell damit begann, dass er zu „bürgerlicher Rechtschaffenheit“ aufrief und Vorstellungen von „nationaler Größe“ zu wecken versuchte. Roosevelts offener Brief, in dem er seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten bekanntgab und seinen Wahlkampf eröffnete, wurde an dem Tag in der Chicago Daily Tribune abgedruckt, als Weber sich in Chicago aufhielt. Passionierter Zeitungsleser der er war, dürfte Weber diesen Text sicherlich gelesen haben, in dem die Amerikaner als „pragmatisch“ beschrieben wurden – „denn im Grunde sind wir ein geschäftiges Volk – Produzenten, Händler, Bauern, Lohnarbeiter, alles Leute vom Fach“ – und der Aufruf an die Nation erging, die Bildung der bürgerlichen „Persönlichkeit“ mit neuen Kräften voranzutreiben. Was Stil und Inhalt betrifft, wurde dieser zweimonatige Wahlkampf zu einem Meilenstein auf dem Weg der Ausrichtung der Präsidentschaft an der Nation und der Begründung einer, wie Weber später sagen wird, echten „plebiszi­ tären“ Amtsführung, wobei dieser Eindruck noch verstärkt wurde von den Bildern Teddy Roosevelts, wie er sich Hände schüttelnd durch die ethni­ schen Enklaven um Hull House herum bewegte. Soziale Themen und Pro­ bleme stellten sich in allen Bereichen: Einwanderung, ethnische Zugehörig­ keit, „die Frauenfrage“, die Ausbeutung der Arbeitskräfte, die Notlage in den Städten, die Bildungskrise, die Handelspolitik, die größer werdende Kluft zwischen Reich und Arm. Die Frage stand weiter im Raum, was mit

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dem neu gewonnenen überseeischen Reich und der neuen Position des Lan­ des als Weltmacht anzufangen wäre, und sie wurde auf der Weltausstellung in St. Louis in zahlreichen Varianten thematisch durchdekliniert, besonders sinnfällig bei einem großen philippinischen Exponat. Darüber hinaus wurde den offenen Fragen und ungelösten Problemen in Bezug auf das sogenann­ te inland empire, die Washington D.C. unmittelbar unterstehenden Gebiete des Südwestens, mit dem Indianer-Gebäude ein prominenter öffentlicher Messeplatz eingeräumt. Die Einladung, in die USA zu reisen, war an sich einer glücklichen Fü­ gung zu verdanken. Auf Drängen von Webers Heidelberger Kollegen Georg Jellinek lud Hugo Münsterberg auch Weber ein, den Congress of Arts and Science in St. Louis zu besuchen, der in Verbindung mit der Hundertjahr­ feier des Erwerbs der ehemaligen Kolonie Louisiana vom napoleonischen Frankreich geplant war. Man bot ihm an, über ein ökonomisches Thema referieren. Weber war von dieser Möglichkeit natürlich angetan und sagte seine Teilnahme ein paar Tage später zu. Münsterberg war damals an der Harvard University, wo er durch Vermittlung von William James eine Stel­ lung in experimenteller Psychologie bekleidete und als Kontaktmann zwi­ schen den deutschen und den amerikanischen Wissenschaftlern, Politikern und Geschäftsleuten wirkte. Zusammen mit Albion Small, Soziologe an der University of Chicago, und dem berühmten Mathematiker Simon Newcomb war Münsterberg in das Organisationskomitee berufen worden, das die Teil­ nehmer für den Kongress rekrutieren sollte. In den 1890er Jahren hatte er mit Weber und anderen Universitätslehrern wie Heinrich Rickert in Freiburg in Verbindung gestanden. Diese frühere persönliche Verbindung gab wohl den Ausschlag für die Einladung nach St. Louis, da Weber außerhalb des Kreises seiner deutschen Wirtschafts-, Geschichts- und Rechtskollegen nicht sonderlich bekannt war – anders als andere Eingeladene wie etwa der Theo­ loge Adolf von Harnack, der Chemiker Wilhelm Ostwald oder die Sozial­ wissenschaftler Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Werner Sombart. Aus dieser Gruppe lehnte nur Simmel, dessen Aufsätze schon von Albion Small übersetzt und im American Journal of Sociology herausgebracht wor­ den waren, eine Teilnahme ab. Webers Ansehen beruhte jedenfalls nicht auf einer neueren Arbeit, sondern auf Leistungen aus den rasanten ersten Jahren seiner Karriere. Die Planung des Kongresses erwies sich wie nicht selten bei akademi­ schen Zusammenkünften als kontroverse Angelegenheit. Während der Wort­ gefechte im Vorfeld des Kongresses zog Weber sogar in Erwägung, ihm ganz fernzubleiben, derweil er an seinen Reiseplänen festhielt, um in einen Meinungsaustausch mit Kollegen treten und die amerikanischen Städte in Augenschein nehmen zu können, wie er am 17. Juni und am 21. Juli 1904 direkt an Münsterberg schrieb. Die Gemüter beruhigten sich jedoch, die



1. Gedanken zu Amerika23

Drohung erübrigte sich und die Konferenz stellte sich als erstaunlich nütz­ liche Veranstaltung heraus. In St. Louis angelangt, erstattete Weber Jellinek Bericht und ließ ihn wissen, dass „sehr vieles hier sehr anders ist als es die Reiseschriftsteller, auch Münsterberg, schildern“ (24. September; BAK). Er bezog sich dabei auf Münsterbergs ausgedehnte Abhandlung in zwei Bän­ den Die Amerikaner (1904), die im selben Jahr in Deutschland veröffentlicht worden war und die Weber bestimmt gelesen hatte. (Eine gekürzte Fassung erschien kurz darauf in Amerika.) Angelegt als Vermittlung der stereotypen Ansichten von Amerikanern und Deutschen, gab es zwischen diesem Werk und Webers Denken kaum Überschneidungspunkte. Weder Münsterbergs mythische Deutung Amerikas als das Land der ,Tatkraft‘, des ,Wollens‘ und des ,Instinkts für Initiative und Eigenständigkeit‘ noch sein unkritischer patriotischer Blick auf Deutschland hätten sich mit Webers Anschauung vertragen. Aus der Bemerkung gegenüber Jellinek ergeben sich wichtige Fragen für unsere Untersuchung: Wenn sich Münsterberg und andere Autoren der Rei­ seliteratur irrten, warum hatten sie ein falsches Bild und inwiefern war es falsch? Womit rechnete Weber, welche Verhältnisse glaubte er vorzufinden? Wie und warum unterschieden sich seine Wahrnehmungen von denen ande­ rer? Wir haben es hier mit schwierigen Fragen zu tun, und jeder Antwort­ versuch muss ansetzen bei Webers Aufbruch in eine neue Ära der geistigen Auseinandersetzung, der sich nach der Jahrhundertwende vollzog und be­ gleitet war von einem Wiedererstarken seiner Kräfte und der Erweiterung einiger Themen, die ihm am Herzen lagen. Neue Denkhorizonte Max Weber kehrte nach einer etwa zweijährigen Abwesenheit am 21. Ap­ ril 1902, seinem Geburtstag, wieder in sein Heidelberger Zuhause zurück. Er war zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt. Ihm sollten nur noch 18 weitere Lebensjahre beschieden sein, und nicht bloß ein Teil, sondern die gesamte Arbeit, die sein Ansehen als einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahr­ hunderts begründen wird, lag noch vor ihm. Noch stand nicht fest, wie die Antwort auf die Frage seines Lebens ausfallen würde: Kündigte seine Rück­ kehr von einer Wiedergeburt seiner Fähigkeiten oder würde er der Verges­ senheit anheim fallen? Die Amerikareise steht am Anfang dieser Jahre intensiver geistiger Ar­ beit, in denen er Außerordentliches leisten wird. Man könnte sagen, dass die vier Jahre davor die entscheidenden Jahre in seinem Leben waren, legte er doch in dieser Zeit den Grundstein, und zwar im Wesentlichen aus eigener Kraft, um diese Frage in seinem Sinne zu beantworten. Dieser Zeitabschnitt

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aber liegt im Verborgenen. Man weiß sehr wenig darüber, was Weber ge­ macht, gelesen oder gedacht hat, und die meisten unserer Kenntnisse stam­ men von seiner Frau, von der er lange als seiner „einzigen Verbindung zur Welt“ vollkommen abhängig war, wie er einst einräumte. Von 1903 an hatte Weber die allerersten schmerzhaften Schritte auf dem Weg zurück zur geistigen Arbeit gemacht, unterbrochen von der üblichen Reisetätigkeit und der Publikation des mühsam erarbeiteten ersten Teils seines kritischen Aufsatzes zur historischen Nationalökonomie Wilhelm Roschers und Karl Knies’, seines Heidelberger Professors für Nationalöko­ nomie. Marianne berichtete Max’ Mutter Helene Weber, dass der erste Teil am 20. Februar an Gustav Schmoller abgesendet wurde, damit dieser ihn in seinen Jahrbüchern veröffentlicht. Ein verheißungsvoller Auftakt war dieser Aufsatz nicht gerade, diese 40 Seiten dichter Prosa mit dem kritischen Kommentar zu den logischen Problemen der historischen Methode (und im Besonderen zu Roschers naivem vorhegelianischen Emanatismus). Die Rei­ sen in diesem Jahr führten ihn an die bewährten Orte: Nachdem er sich mit Roscher und der Methodologie abgemüht hatte, entwich er zu Beginn des Frühlings nach Italien, dem folgte im Sommer ein Abstecher nach Holland, dann einer nach Hamburg für eine Tagung des Vereins für Socialpolitik, von wo aus es für ein anderes Zusammentreffen nach Helgoland weiterging, bevor Weber im Oktober nach Holland zurückreiste. Auf der Überfahrt von Hamburg nach Helgoland mit Edgar Jaffé, Werner Sombart und dem Bruder Alfred Weber, der kürzlich von der Frankfurter Zeitung porträtiert worden war, wurden die letzten Details der redaktionellen Aufgaben bezüglich des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik besprochen. Die Mitheraus­ geberschaft (zusammen mit Sombart und Edgar Jaffé, der die Zeitschrift erworben hatte) sollte Webers Kräfte sein ganzes rest­liches Leben lang in Anspruch nehmen, zugleich gehen einige seiner wichtigsten Publikationen mit auf sie zurück. Dass wahrscheinlich eine Reise nach Amerika bevorstand, wurde zuerst von Marianne Weber in einem Brief vom 28. August an Max’ Mutter Hele­ ne erwähnt. Während Max auf Helgoland die Pläne für das Archiv erörtert hatte, war sie in Heidelberg geblieben und äußerte sich nun drei Wochen später erfreut über die Neuigkeiten, dass Max „das erste Mal seit 5 Jahren“ mit Kollegen zusammengetroffen ist, „freilich wohl ohne an den Diskus­ sionen teilzunehmen“, wie sie mutmaßte. Doch Max’ Abwesenheit sowie der Kummer und die Enttäuschungen in den vergangenen Jahren zeigten schließlich auch bei Marianne Wirkung und brachten sie dazu, ihrer Schwie­ germutter folgendes aufschlussreiches Eingeständnis zu machen: Aber nun brannte auch die Sehnsucht in mir, dass auch mein Stern, mein feier­ licher – Max – noch einmal wieder leuchten dürfe – uns zur Wonne und andren



1. Gedanken zu Amerika25 zur Kündigung! O mein Gott, wie schwer ist es doch, in den Hafen der Resigna­ tion einzubiegen u. zu sehen, wie andre wirken und schaffen und er ausgeschaltet ist. Ob er es auch so empfindet? Ich weiß es nicht, möchte aber glauben, daß ihm die Beziehung mit dem alten Kreise in diesen Tagen manches davon nahelegt. Aber er ist ja so anders als die Meisten – vielleicht ist es auch noch die Krankheit, der Selbsterhaltungsdruck, der ihn gnädig vor solchen Gedanken, wie sie mich manchmal durchtoben, bewahrt. Übermorgen ist unser 10-jähriger Hochzeitstag. Zehn Jahre voll Liebe und gemeinsamen Lebens und Ineinanderwachsens und 6 davon voll schweren Schicksals! Und mein heißester Lebenswunsch, ganz mit ihm in Liebe u. Verständnis zu verwachsen, der ist nun mittels dieses Schicksals er­ füllt. Aber um diesen Preis?! Nein, das war nicht notwendig u. ist vorläufig aus keinem Zweckgedanken zu erklären, aber doch will ich es mit Dankbarkeit als das größte Geschenk dieser Jahre ans Herz drücken – dies Bewußtsein, mit ihm so verwachsen zu sein, wie wohl nur wenige Ehepaare ineinander verwachsen kön­ nen. Und nun werden wir unser Schicksal ja wohl auch weiter mit Anstand tragen – wenn freilich auch die heißesten Wünsche für seine Schaffenskraft von mir [zwar] beherrscht, aber nicht überwunden u. ausgerottet werden können. Nun aber genug davon. Wenn ich allein bin, kommt alles stärker u. elementarer über mich, als wenn er hier ist u. mir der Besitz der beglückenden Gegenwart alle Wünsche u. Traurigkeiten stiller u. unfühlbarer macht.

Die Lockung glücklicherer Tage jetzt und in Zukunft war einer der Grün­ de, die das Paar bewogen, die Reise in die Neue Welt zu planen, die sie im folgenden Jahr antraten. Was geschah in den Monaten vor ihrer Abreise, die am 20. August 1904 von Bremen aus erfolgte? Marianne kümmerte sich natürlich umge­ hend wieder um Max’ Wohlbefinden – und berichtete etwa, dass es mit seiner Gesundheit und Stimmung „auf und ab“ ging und dass „ihm nach schlechten Nächten der Tag sehr grau ist – dann hilft die Beschäftigung mit Bädeker über Amerika“ (30. Oktober). Fritz Baedeker hatte seinen Nord­ amerika-Führer 1893 rechtzeitig zur Weltausstellung in Chicago herausge­ bracht; 1899 erschien die zweite, überarbeitete englische Ausgabe. Die zweite, erweiterte deutsche Ausgabe für die Teilnehmer an der St. LouisAusstellung war in Vorbereitung. Weber hat wohl die erste zu lesen begon­ nen mit ihren aktuellen Einführungskapiteln, darunter jenes, das James Bryce über die amerikanische Regierung und Politik verfasst hatte. Den ganzen Baedeker zu lesen, hätte eine Lektüre von annähernd 500 Seiten bedeutet. Von Helgoland brachte Weber nun allerdings eine wichtige Schreibaufga­ be mit: das Geleitwort der Herausgeber für das neue Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und die Programmschrift, aus der die renom­ mierte Abhandlung „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozial­ politischer Erkenntnis“ wurde, die 1904 vor der Abreise in die Vereinigten Staaten herauskam. Es folgte das übliche Ringen: „Max ist nun doch ,fer­

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I. Teil: Die Amerikareise

tig‘ “, schrieb Marianne am 15. Februar 1904, als das Vorhaben kurz vor seinem Abschluss stand, denn, wie sie festhielt, schläft [er] schlecht, hat vermehrte sexuelle Reizungen und darf nicht arbeiten. Kurzum, wir werden ihn doch auf die Wanderschaft schicken, denn bis zur ame­ rikanischen Reise hält er ein ununterbrochenes Hiersein doch keinesfalls aus, er braucht jetzt unbedingt eine Erholung, da ihn die Arbeitsunfähigkeit viel ungetros­ ter und reizbarer als früher macht, was ja bei unseren gestiegenen Ansprüchen ganz natürlich ist. Seine Reisepläne haben sich noch nicht ganz geklärt, wahr­ scheinlich macht er eine Fahrt von Genua nach Amsterdam, jetzt ist ja doch noch nicht viel in der Natur anzufangen, selbst für die [Emilia-]Romana ist es noch etwas frühzeitig. Er wartet jetzt die Korrekturen der Druckbögen ab und wird wohl Ende der Woche – denke ich – abreisen. (DWS)

Joachim Radkau ist dem psychischen Geschehen in Webers Selbstreflexio­ nen und in den Theorien der Ärzte ausführlich nachgegangen – insbesondere der ambivalenten Semantik, die Max mit ,Natur‘ verband. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass Mariannes Sorgen übertrieben waren: Max ist in den Monaten, die der Amerikareise voraufgingen, nicht ein Mal in die Ferien oder an einen anderen Ort gereist; vielmehr stürzte er sich in seine Arbeit und war vollauf damit beschäftigt, die Transatlantikreise vorzubereiten. Zu sei­ nem Arbeitspensum gehörten zwei (im Frühling bzw. Sommer beendete) ,Ge­ legenheitsschriften‘, die eine zur Fideikommißfrage in Preußen und die ande­ re zu dem in der Literatur der Agrar- und Wirtschaftsgeschichte ausgetrage­ nen Streit um die altgermanische Sozialverfassung. Weber hielt fest, dass Letztere als Vorarbeit in seinen St. Louis-Vortrag einfließen sollte, sich dann jedoch zu einem eigenständigen Aufsatz entwickelte. Die thematische Ver­ bindung zwischen diesen Schriften, einschließlich der Ausführungen, die er in St. Louis vortragen wird, bestand für ihn darin, dass sie sich aus unter­ schiedlichen Blickwinkeln mit der Kapitalbildung und den Vorraussetzungen für die Entwicklung des modernen Kapitalismus befassten. Neben diesen Aufgaben, die teilweise von seinen neuen redaktionellen Verantwortlichkeiten herrührten, fand Weber auch noch Zeit, um sich als geistreicher Verteidiger der parlamentarischen Institutionen zu betätigen und in der Frankfurter Zeitung mit entsprechenden politischen Polemiken her­ vorzutreten, seinen ersten seit 1898. Und er begann auf dem Weg zurück zur Wissenschaft auch damit, in einem bedeutenden Heidelberger Zirkel mitzuwirken, dem auf Initiative des Neutestamentlers Adolf Deißmann und des Altphilologen Albrecht Dieterich zustande gekommenen und von ausge­ wählten Professoren gebildeten Gesprächs- und Diskussionskreis ,Eranos‘. Weber nahm am 28. Februar 1904 an einem Treffen teil und am 3. Juli an einem weiteren, bei dem sein Kollege Georg Jellinek über „die religiösen und metaphysischen Grundlagen des Liberalismus“ sprach, eine Thematik, die sich aus seiner Erörterung des Zusammenhangs zwischen den religiösen



1. Gedanken zu Amerika27

Grundauffassungen und den politisch-rechtsstaatlichen Erscheinungsformen in Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ergab. Jellineks Studie war gerade in zweiter Auflage erschienen und enthielt zahlreiche Beispiele aus der amerikanischen Geschichte der rechtsstaatlichen Praktiken. Der Autor argumentiert, dass der Schutz der Menschenrechte das geschichtliche Resultat der Kämpfe um die Religionsfreiheit ist und dass Amerikas Bills of Rights die Vorlage lieferten für die besser bekannte Französische Erklä­ rung der Menschen- und Bürgerrechte. Jellineks Arbeiten waren für Weber ganz wichtig als Schlüssel zum Verständnis des amerikanischen Beitrags zur modernen Rechtssprache, Tolerierung und Rechtsherrschaft. Wie Jellinek und Weber befassten sich auch die anderen Eranos-Mitglieder – darunter der Theologe Ernst Troeltsch, der Philosoph Wilhelm Windelband und der Historiker Erich Marcks – mit der tieferen Bedeutung der Religion für die menschlichen Gemeinschaften, und zwar sowohl unter historischen und kulturübergreifenden Gesichtspunkten als auch mit Blick auf das moderne Leben in seinen vielen Erscheinungsformen. Der Kreis war ideal für Weber, gleichsam der perfekte Rahmen, um seine Ideen ausarbeiten und vor einer kundigen und kritischen, gleichwohl aber wohlwollenden Zuhörerschaft darstellen zu können. Das Arbeitspensum voll machten anschließend der Vortrag für St. Louis und der Text, dem Webers Aufmerksamkeit mehr und mehr gehörte: Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus. Unter Verwendung der verfügbaren Korrespondenz hat Hartmut Lehmann zeigen können, dass Webers Neuausrichtung auch mit seiner Bemühung in Zusammenhang stand, Lujo Brentano, seinen Münchner Professorenkollegen im Fach der National­ ökonomie (und der Mann, den er 1919 an der Münchner Universität ablösen wird), dafür zu gewinnen, Sombarts Der moderne Kapitalismus zu bespre­ chen und eine Einteilung der „kollosalen“ Menge an Literatur über den Puritanismus vorzunehmen. Weil jedoch daraus nichts wurde, nahmen sich Weber und sein anderer Kollege Ernst Troeltsch, der ebenfalls dem EranosKreis angehörte, der Sache an. Im Oktober 1904 war Weber bereits in das Studium der puritanischen Quellen vertieft. Es ist verblüffend festzustellen, dass er in einem Brief an Brentano, mit dem er gerade in Hamburg zusammengetroffen war, die Mög­ lichkeit zur Sprache brachte, dass er sich in seinem Vortrag in St. Louis mit der Literatur der Reformation befassen werde: „Ich denke mit Vergnügen an das, wenn auch kurze Zusammensein und hoffe wie gesagt, Ihnen eventuell irgend wie nützlich sein können, falls Sie der Frage des Calvinismus näher­ treten. Ich werde im Laufe dieses Winters für meinen Louis’er Vortrag und einen Aufsatz für das Archiv die Quellen erneut durcharbeiten“ (10. Oktober 1903, BAK). In den folgenden Monaten brachte er tatsächlich zwei für sich stehende Texte zu Papier: das Referat über Agrarverhältnisse, Grundherr­

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I. Teil: Die Amerikareise

schaft und Kapitalismus, das aus seinen früheren Schriften aus den 1890ern schöpfte, und den ersten Teil von Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus, der als die ersten drei von schlussendlich fünf Kapiteln unter der knappen und doppeldeutigen Überschrift „Das Problem“ heraus­ kam. Weber begann mit der Abfassung dieses aus drei Kapiteln bestehenden und etwa 50 Seiten langen Aufsatzes im April 1904 und schloss sie im Juli ab. Ende dieses Monats schrieb Marianne an Helene Weber, „ja, unsere Gedanken richten sich stark auf Amerika“ (22. Juli; DWS). Weniger als einen Monat vor Abreise hatte Marianne sich „mit Genuß“, wie sie sagte, in Hugo Münsterbergs zweibändiges Buch über Amerika und die Amerika­ ner vertieft. Parallel war Max damit beschäftigt, die Druckfahnen von Teil I seiner Protestantischen Ethik zu lesen, die er, noch bevor sie Heidelberg verließen, an seinen Verleger Paul Siebeck zurückschickte. Den Schluss der Druckvorlage bildete eine Auseinandersetzung mit Luthers Berufskonzep­ tion, und im letzten Abschnitt wird eine Ermahnung ausgesprochen, die allzu oft missachtet wird: [A]ndererseits soll ganz und gar nicht eine so töricht-doktrinäre These verfochten werden wie etwa die: daß der ,kapitalistische Geist‘ [oder wohl gar der Kapitalis­ mus] nur als Ausfluß bestimmter Einflüsse der Reformation habe entstehen können. […] Sondern es soll nur festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Ein­ flüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ,Geistes‘ über die Welt hin mit beteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen. Dabei kann nun ange­ sichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den mate­ riellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen nur so verfahren werden, daß zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte ,Wahlver­ wandtschaften‘ zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Be­ rufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht. Alsdann erst, wenn dies leidlich eindeutig feststeht, könnte der Versuch gemacht werden, abzuschätzen, in welchem Maße moderne Kulturinhalte in ihrer ge­ schichtlichen Entstehung jenen religiösen Motiven und inwieweit anderen zuzu­ rechnen sind.

Als diese ermahnenden und einschränkenden Worte im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlicht wurden, neigte sich Webers Amerikareise bereits ihrem Ende entgegen. In den Vereinigten Staaten indes kannte man Weber damals gar nicht wegen der ,These‘ des Textes, der si­ cherlich zu seiner gewagtesten und umstrittensten Abhandlung wurde. Die größte thematische Herausforderung besteht an dieser Stelle jedoch nicht so sehr im Lesen oder Deuten des Werks, sondern in der Rekonstruk­



1. Gedanken zu Amerika29

tion seiner Entstehung. Was brachte Weber auf die Spur seiner berühmt gewordenen These der Protestantischen Ethik, was ist ihre ,Vorgeschichte‘? Welches sind die Schlüssel zum Verständnis der Ausgangspunkte und der Richtung von Webers Denken, als Amerika in sein Blickfeld rückte? Eine „spiritualistische“ Konstruktion der modernen Wirtschaft? Weber hat seine Untersuchung der „Protestantischen Ethik und des kapi­ talistischen Geistes“, wie ihr erster von ihm verwendeter Arbeitstitel lautete, nie wirklich zu Ende geführt. Nach seinem Besuch der Vereinigten Staaten äußerte er den Wunsch zurückzukehren, um die Quellen durchzuarbeiten, die er in den religiösen Bibliotheken von protestantischen Glaubensgemein­ schaften und Colleges freigelegt hatte, was er jedoch nie in die Tat umsetz­ te. In den hitzigen und langwierigen Auseinandersetzungen mit Karl Fischer und Felix Rachfahl zwischen 1907 und 1910 bearbeitete er das Werk, ver­ feinerte seine Argumentation, wie er schrieb. Im Zuge der Abfassung der mehrere Bände füllenden Aufsätze zur Religionssoziologie plante er eine vergleichende Studie des Christentums in seinen vielen Facetten, die jedoch nicht über das Anfangsstadium hinauskam. 1919 fügte er bei der Überarbei­ tung des Textes der Protestantischen Ethik einige neue Abschnitte hinzu und erweiterte die Fußnoten (um ein Drittel), und darin speziell die kritische Absetzung seiner Ansichten von denen anderer wie etwa Brentanos und Sombarts. Weber äußerte sich eingehend zum Ursprungstext, in Form von Erklärungen und näheren Ausführungen in diesen Aufzeichnungen und in gelegentlichen Kommentaren. Aus diesen ragen zwei Äußerungen besonders heraus: seine Anmerkung in der ersten Erwiderung auf Rachfahl von 1910, dass er zum gleichen Thema Vorlesungen gehalten hatte, „z. T. schon vor 12 Jahren“ – das heißt in den Jahren 1897–98; und die provokante Ankün­ digung bezüglich des zweiten Teils in einem Brief an Heinrich Rickert: „Im Juni / Juli [1905] erhalten Sie einen Sie vielleicht interessierenden kulturge­ schichtlichen Aufsatz (Askese des Protestantismus als Grundlage der mo­ dernen Berufskultur), eine Art ‚spiritualistischer‘ Konstruktion der modernen Wirtschaft“ (2. April 1905; NMW). Über Jahrzehnte blieben Fragen bestehen zur Entstehungsgeschichte, zu Quellen, Abstammung oder ,Ursprüngen‘ von Webers Ideen zur ,protestan­ tischen Ethik‘ und zum ,Geist‘ des Kapitalismus (ausnahmslos in Anfüh­ rungsstrichen und so auf Distanz gebracht). Guenther Roth hat ausführlich erforscht, inwiefern Webers Lebensumstände und sein familiärer Hintergrund in der „kosmopolitischen Bourgeoisie“ Europas – die deutschen Männer der väterlichen Seite der Familie und die Verbindungen zu den französischen

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I. Teil: Die Amerikareise

Hugenotten mütterlicherseits – ihn darauf vorbereiteten, die Beziehung zwi­ schen religiöser Ethik und Wirtschaft umfassend in den Blick zu nehmen. Ganz ähnlich hat Hartmut Lehmann darauf gedrungen, Webers Texte als eine Art Selbstzeugnis aufzufassen, das Rückschlüsse auf ihn selbst und im Weiteren auf den Familienkreis und die Personen, die er näher kannte, zu­ lässt. Daneben gibt es detailiertere Untersuchungen zu Webers vertiefter Beschäftigung mit den thematisch einschlägigen theologischen und populär­ wissenschaftlichen Werken, von den Schriften englischer Reformer wie Richard Baxter und John Bunyan bis zu den Arbeiten von Gelehrten wie Albrecht Ritschl über den Pietismus oder seines Professorenkollegen Otto Pfleiderer über die Religionsphilosophie. Es wurden auch Spekulationen über Webers Reifeprozess während jener in Zurückgezogenheit verbrachten Jahre vor 1904 angestellt: seine Beobachtungen in Holland oder seinen langen Aufenthalt in Italien und die Kontakte im Deutschen Historischen Institut in Rom mit den Spezialisten für die Gegenreformation Johannes Haller und Karl Schellhass, Letzterer ein Freund Webers aus Jugendtagen. Kurz gesagt: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ist in Wilhelm Hennis’ treffenden Worten zu einem „überdeterminierten Text“ geworden. Dennoch gibt es ein paar Anhaltspunkte, die im Zusammenhang mit sei­ nem Werden Erwähnung verdienen. Es sei daran erinnert, dass die Frage möglicher Verbindungen zwischen kulturellen Erscheinungsformen und der Wirtschaftsordnung – speziell dem Kapitalismus – durch die Historische Schule der Nationalökonomie in Grundzügen bereits erörtert und formuliert worden war. Das belegen etwa die Vorlesungen von Professor Karl Knies, Webers Lehrer, dem dieser 1897 an der Heidelberger Universität nachfolgen sollte. Drei Semester bevor er Knies in Heidelberg über angewandte Natio­ nalökonomie hörte, besuchte Edwin R. A. Seligman, ein amerikanischer Kollege Webers, mit dem er bekannt war, die gleiche Vorlesung. Seligmans ausführliche handschriftliche Notizen sind erhalten geblieben; in einem auf den 25. Oktober 1880 datierten Eintrag hielt er unter der Überschrift „Prak­ tische Nationalökonomie und Volkswirtschaftspolitik“ Knies Erörterung der „unterschiedlichen geistigen Beeinflussung“ der Ökonomie fest, die „Reli­ gion & Confession“ eine besondere Berücksichtigung angedeihen ließ. Knies diskutierte nacheinander die indischen Brahmanen, die antiken Grie­ chen, die Juden, das Christentum und den Islam. Innerhalb des Christen­ tums, einer „universellen Religion“, grenzte Knies den Katholizismus vom Protestantismus ab. Dessen Charakteristikum sei „das Prinzip des Individua­ lismus. Hier ist der Einzelne verantwortlich für seinen Glauben“, gibt Se­ ligman den Vorlesenden wieder und fügt folgende Fragmente hinzu: „Auch das rationale Prinzip. Auf den Fortg[ang] in den Schriften verwiesen. Tief­ greifende Gegensätze.“ Seligman hielt auch den Gegensatz zum Islam fest,



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wie Knies ihn verstand: „Glaube an unbedingten Fatalismus, [der] eine gewisse Apathie hervorbringt … keine Entwickl[un]g“, fasst er zusammen. Als Weber 1882 Knies Kurs belegte, wird dieser sicherlich über die glei­ che Problemstellung referiert haben: Wie und wodurch haben religiöse Glaubenssysteme die Herausbildung und Entwicklung des wirtschaftlichen Handelns und der Wirtschaftsordnung beeinflusst? Knies machte freilich mannigfaltige Ursachen geltend, aus denen er das wirtschaftliche Handeln zu erklären suchte, darunter die Finanzinteressen und verschiedene andere ,materielle‘ Faktoren. Weber hat die materiellen, gewissermaßen ,auf der anderen Seite der Kausalkette‘ angesiedelten Faktoren in seinem Spätwerk ausgiebig erörtert, etwa in seinen letzten Vorlesungen an der Universität München, die unter dem Titel Wirtschaftsgeschichte: Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zusammengefasst sind. Es waren jedoch der Geist und seine Sinngehalte, die Besonderheiten des Glaubens und der konfessionellen Überzeugungen, die ihn als jungen Mann inspirierten und seine Vorstellungskraft beflügelten. Darum war es zu erwarten, dass er 15 Jahre später, als er Knies ersetzte und Vorlesungen über das gleiche Thema zu halten begann, auf die eigentliche Frage zurückkommen würde: die Frage nach den Voraussetzungen für die Herausbildung der modernen Wirtschaft, umrahmt zum Teil von vergleichenden Bezugnahmen auf die Weltreligionen – und diese Frage wird ihn nie mehr loslassen und für den Rest seines Lebens beschäftigen. Die vielschichtige Biographie der These der „Protestantischen Ethik“ lässt sich bis in Webers Gewohnheit hinein verfolgen, Gottesdienste zu besuchen und religiöse Praktiken zu beobachten. Dies hatte er sich schon früh in seinem Leben angewöhnt und hielt es auch in den USA so. Ein wahrlich außergewöhnliches Beispiel für diese Praxis findet sich in einem langen Brief, den Weber als 22-Jähriger an seine Mutter schrieb. Zwischen den Semestern leistete er seinen Militärdienst bei der Reserve der Kaiser­ lichen Armee in Straßburg und hielt sich zeitweilig bei der Familie der Schwester seiner Mutter, Ida Baumgarten, ihrem Ehemann Hermann und deren Kindern und Freunden auf und traf dort auch ein Mal auf Karl Schell­ hass. Am Sonntag dem 3. Februar, dem Gedenk- und Feiertag für den Hei­ ligen Simeon, wurde Weber die Aufgabe zuteil, bei einem katholischen Gottesdienst in der Église Saint-Étienne das Offizierskorps zu vertreten. Bei letzterer Gelegenheit, Sonntag vor 14 Tagen, hörte ich übrigens eine sehr interessante Predigt, überhaupt einen interessanten Gottesdienst, in der Stephans­ kirche hier. Der Gottesdienst begann mit einer kurzen musikalischen Introduction und einer vom Kirchenchor gesungenen Strophe. Dann Predigt über das bekannte Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg [Matthäus 20: 1–16]. Dieselbe war ungemein volkstümlich und gemeinverständlich gehalten, ohne jeden Anklang an frömmelnde Plattheiten, sondern direkt praktisch, und dabei in der Dialektik wohl­

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durchdacht, so daß es eine Freude war, die geistige Arbeit darin erkennen zu können. Logisch betrachtet, war manches, besonders für jemand, der die protes­ tantischen Deduktionen und Gedankenzusammenhänge gewohnt ist, überraschend. Der Gedankengang war z. B. folgender: Die Arbeiter, welche am wenigsten gethan haben, erhalten so viel Lohn, wie die, welche am meisten gethan haben – also kommt es nicht darauf an, was man thut, wie auch der Gegensatz der Opfer Kains und Abels zeigt – sondern mit welchem Sinne man es thut, würde ein protestan­ tischer Prediger fortfahren –, es kam aber: sondern daß man die himmlische Gnade besitzt und vor den Augen des Herrn als ein Gerechter gilt, war bei Kain nicht der Fall. Diese Gnade aber muß erworben werden, und dazu hilft nur die Liebe, conf[essio]. ,Nur wenn ich einen Glauben hätte [und] Buße tun könnte‘ etc., woraus hervorgeht, daß selbst der Glaube dazu nicht ausreicht. Das wurde dann sogar direkt an praktischen Beispielen erörtert, unter stetem [Bezug] einer­ seits auf die Unfruchtbarkeit des toten Glaubens, andrerseits auf den Unsegen der noch so angestrengten Thätigkeit desjenigen, welcher die Gnade nicht erworben hat. Die ganze, gewandt und eindringlich gesprochene Predigt dauerte etwas über 20 Minuten, incl. der Vorlesung des Textes. […] Dann folgte eine mehr als halb­ stündige Liturgie mit dargebotenem Gesang. Das Ganze hat mich sehr interessiert und im Allgemeinen auch angesprochen, ganz besonders, wie erregt die Predigt, d. h. der Art nach [war], wie auf die Verhältnisse der Einzelnen eingegangen wur­ de, und in dem Geschick, mit welchem sie der Situation und der Vorstellungskraft der Soldaten angepasst und angemessen war. Jedenfalls ein starker Abstand von dem protestantischen Militärpfarrer hier, der seinerzeit über die Darstellung im Tempel sprach [Lukas 2: 25–35] und dabei den alten Simeon in zwei Teile zer­ legte, nämlich: 1) das Kind auf seinen Armen (!) 2) die Hoffnung in seinem Herzen, worauf die üblichen Sentimentalitäten folgten. (19. Februar 1887; DWS)

Marianne Weber hat diesen ausführlichen Brief Max’ an seine Mutter Helene aus unerfindlichen Gründen nicht in ihre Sammlung seiner Jugend­ briefe aufgenommen. Er ist nie zuvor zitiert worden, denn er lag verborgen in Mariannes mächtigem Archiv. Dass sie ihn nicht berücksichtigt hat, ist jedoch sonderbar: In dem religiös aufgeladenen häuslichen Umfeld seiner Tante, wo Weber seine ersten Gespräche über William Ellery Channing, Theodore Parker und die amerikanischen Unitarier führte, begann er über die Unterschiede in den praktisch werdenden religiösen Ethiken nachzuden­ ken, von denen sich die Argumentation in der Protestantischen Ethik leiten lassen wird. In diesen Predigtkommentaren spielt die geläufige Trennung zwischen Glaube und ,Werk‘ eine Rolle. Die lutherische Theologie beförderte den Gedanken von der Rechtfertigung allein aus Glaube, oder in Luthers eige­ nen Worten aus seiner Predigt über den Sinn der Frömmigkeit Simeons in Lukas 2 und sein Vertrauen darauf, durch den Glauben erlöst zu werden: „Da siehest du, wie die ganze Schrift nur zum Glauben treibt und die Werk’ verwirft als untüchtig, ja ärgerlich und hinderlich zur Rechtfertigung und solchem Aufstehen.“ Weber greift Luthers Gedanken auf und hält fest, dass der protestantische Pfarrer, als dieser seinerseits das Weinberggleichnis und



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das Paradox nach dem „die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden“ erläuterte, den Wert der innerlichen Überzeugung unterstri­ chen und dafür Simeon als Beispiel angeführt hätte, wohingegen der katho­ lische Priester Nachdruck auf die guten Werke legte, die der Einzelne zum Erhalt der göttlichen Gnade tun oder erweisen muss – wie eben etwa Sün­ denbekenntnis (confessio) und Buße, die der Lehre zufolge zwar notwendig, aber weder Selbstzweck noch hinreichend sind, um in den Besitz der Gna­ de zu gelangen. Weber hat die in Luthers Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stand sein können“ und in anderen Texten abgehandelte Idee von der Er­ füllung der Pflicht im Beruf als eine Bedingung der Erlösung natürlich ausführlich entfaltet und abgehandelt. In der Kirche im kurz zuvor annek­ tierten Elsass aber fanden die der Gefahr entgegensehenden Soldaten, gleich welcher religiösen Konfession, einen gewissen Trost darin zu hören, dass sie „in Frieden hingehen“ können, wenn sie entweder den Glauben erlangt oder die Gnade erworben haben. An diesem Jugendbrief sticht nicht nur Webers Kenntnis der biblischen Texte ins Auge, sondern vor allem seine Auffassung von einer theologischen Differenz – einer Differenz in der Auslegung und im Nachdruck – und davon, wie sich diese Differenz auf die praktischen Ethiken und das Tun und Handeln in der Welt auswirkt. Im Zuge seiner Beobachtungen macht sich die These der Protestantischen Ethik zunächst als eine Art Ahnung bemerkbar, die ihn dazu bewegt, weitere Überlegungen anzustellen, nach geschichtlichen Belegen zu suchen und die von Knies erwähnten „tiefgrei­ fenden Gegensätze“ durchzugehen und sich einen sinnvollen Reim auf sie zu machen. Und diese Suche wird er in den Kirchen und Sekten der Verei­ nigten Staaten fortsetzen.

2. Das Land der Einwanderer Ankunft in New York Max und Marianne Weber verließen Heidelberg am 17. August 1904, und am 27. November kamen sie mit dem Zug über Paris nach Hause zurück, nachdem sie in Cherbourg in Frankreich angelegt hatten – mehr als drei Monate waren sie auf Reisen. Den Atlantik überquerten sie an Bord der Bremen, einem in Danzig gebauten 10,5-Tonner der Norddeutschen Lloyd, der am Samstag dem 20. August in Bremerhaven abgelegt und Kurs aufs englische Southampton genommen hatte, um dort weitere Passagiere aufzu­ nehmen. Am 29. August kam das Schiff südlich von Fire Island in Sicht, als es Ellis Island vor New York anfuhr, wie die New York Times berichtete. Die Passagiere gingen am folgenden Tag von Bord. Die Fahrt über den Atlantik dauerte acht Tage, womit der vom Luxusliner Deutschland gehal­ tene Rekord von genau fünf Tagen, elf Stunden und 54 Minuten deutlich verfehlt wurde. Die Bremen hielt ihre Deutschland-New York-Verbindung bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 aufrecht, und als der Krieg vorüber war, fuhr sie als Reparationsleistung gemäß den Bedingungen des Versailler Vertrages unter britischer Flagge. Dank der Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit der für die Ellis Island Foun­ dation tätigen Archivare ist die Passagierliste von Webers Überfahrt im In­ ternet einsehbar. Sie enthält die Namen von 1.679 Passagieren, 60 Prozent davon Einwanderer aus Russland und den Habsburger Landen Zentral- und Osteuropas, einschließlich der Provinzen, die heute Polen umfassen. Die meisten der Männer und Frauen waren noch keine 25 Jahre alt, und viele waren Juden (,Hebräer‘ im Jargon der Einwanderungsgesetze); sie alle drängten sich auf dem 3.-Klasse-Zwischendeck und auf den tiefer gelegenen Decks. In ihren Briefen nach Hause nannte Marianne die genaue Zahl von 500 jüdischen Einwanderern. Unter den anderen Passagieren befanden sich zahlreiche deutsche und europäische Reisende anderer Nationen, die zur internationalen Ausstellung in St. Louis unterwegs waren. Zu diesen gehör­ ten der impressionistische Maler Max Schlichting, der sein Ölgemälde Strandvergnügen in St. Louis ausstellte, und Professor Guido Biagi, der Direktor der Laurenziana in Florenz, der auf dem Congress of Arts and Sciences über die Bibliothek als Bildungseinrichtung sprach. Marianne gab an, dass Schlichting, ein einflussreiches Mitglied der Kunstgenossenschaft und früheres Mitglied der Berliner Sezession, die Ausstellung im Auftrag



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der deutschen Regierung besuchen sollte, um sich dort als Kunstanwalt umzusehen und entsprechend aktiv zu werden, und damit einen wichtigen politischen Posten auszufüllen. Am ersten Tag auf See trat er an Max Weber heran und stellte sich ihm vor. Soviel ich weiß, war er der einzige (ehema­ lige) Sezessionist, der in St. Louis eine Arbeit ausstellte. Gerade erst war seine Abhandlung Staat und Kunst erschienen; darin hatte er seine früheren Mitsezessionisten angegriffen und die offizielle Forderung nach einer „ein­ heitlichen“ Präsentation der deutschen Kunst verteidigt, was es ihm offen­ sichtlich ermöglichte, durch das Raster der vom Hofe bekräftigten Missbil­ ligung der modernen Malerei zu schlüpfen. Es stellt sich die Frage, wie sei­ ne zwiespältige Doppelrolle auf Weber gewirkt haben mag, der gegenüber der scharfen und grob antimodernen kulturpolitischen Linie Kaiser Wilhelm II. eine immer kritischere Haltung bezog. Die Namen von Schlichting und Max und Marianne Weber und ihres Reisegefährten Ernst Troeltsch erscheinen erst spät auf der vollständigen Liste der Bremen, als die Passagiere 1638 bzw. 1647 bis 1649. Lustigerwei­ se wird Max darauf als Geistlicher geführt, wobei diese Bezeichnung wohl eher Troeltsch zugedacht war, der vielleicht ein entsprechendes Erschei­ nungsbild abgab. Die Atlantiküberfahrt war gut und ohne Seekrankheit verlaufen; zu Mariannes Missvergnügen aß Max sich mit großem Appetit durch die üppige Speisekarte. Sie vermerkte, dass sie bei den Abendessen mit zwei amerikanischen Lehrerinnen am Tisch saßen (bei einer der beiden dürfte es sich um die Chicagoerin Ida Pahlman gehandelt haben), die gerne mit ihrem Englisch behilflich waren. Ihre längste entschiedene Äußerung aber behielt sich Marianne für eines der sozialpolitischen Dauerthemen vor, das sie auf ihren Reisen durch das Land immer wieder beschäftigen wird: die Einwanderung. In Anbetracht der Situation an Bord, drängte sich diese Problematik geradezu auf. Ihr war aufgefallen, wie beengt die osteuropäi­ schen Immigranten untergebracht waren, aneinander gepresst wie „Schafe in der Hürde“, und sie hielt fest, dass der verhältnismäßig große Aufwand, der für Max und sie und die wenigen Privilegierten an Bord betrieben wurde, nicht zuletzt auf der Schröpfung dieser Vielen beruhte – „wirklich scheuß­ lich“, klagte sie, und „man sollte mal öffentlich darauf hinweisen“ (24. Au­ gust; NMW). Wie sie bald feststellen wird, interessierte man sich in man­ chen Kreisen der USA durchaus für die Kämpfe der Einwanderer und die unterdurchschnittlichen Lebensbedingungen in den Immigrantengemein­ schaften und betrachtete sie kritisch. Das Muster, nach dem sich die Einwanderung nach dem Bürgerkrieg vollzog, dürfte gut bekannt sein, speziell was New York angeht, dessen Hafen das Haupttor der Einwanderung und Hauptziel vieler Immigranten­ gruppen war. Nachdem die legale Einwanderung in die Vereinigten Staaten bis 1904 kontinuierlich angestiegen war, übertraf sie in jenem Jahr die

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Zahl von 800.000 Menschen und erreichte im darauffolgenden erstmals die Millionenmarke. Die in der Dekade vor 1914 dokumentierten großen Zah­ len werden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht wieder erreicht. Weil in den Stadtteilen New Yorks selbst fast vier Millionen Menschen lebten, schätzte man, dass sich der Anteil der im Ausland Geborenen an der Ge­ samtbevölkerung bis 1910 der 40-Prozentmarke näherte. (In den letzten Dekaden hat der Großraum New York solche Prozentzahlen fast wieder erreicht.) Die Welle von Einwanderern aus Deutschland und Irland hatte vor dem Jahr 1900 begonnen abzuebben und war durch eine Welle von Einwanderern aus Zentral-, Ost- und Südeuropa abgelöst worden – aus dem Habsburger Gebiet, dem russischen Reich und Italien. Von den 8,2 Mil­lionen Menschen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ins Land kamen, stammten zwei Drittel aus diesen europäischen Regionen. Darunter befanden sich auch Juden, zusammengenommen etwa 950.000 in dieser Dekade, wie aus einer offiziellen Mitteilung über die statistische Erhebung von 1910 hervorgeht. Viele siedelten sich auf Manhattans Lower East Side an, wo ihnen settlement houses, soziale Einrichtungen mit geschultem Per­ sonal, zur Verfügung standen, die das Ehepaar Weber im November 1904 besuchen wird. Die Webers hielten sich zwei Mal in New York auf: gleich nach ihrer Ankunft für fünf Tage zusammen mit Ernst Troeltsch, in denen sie sich im Astor House am Broadway einquartierten, und dann am Ende ihrer Reise­ tätigkeit für zwei Wochen, die intensiver waren und nachhaltiger wirkten. Diese beiden Wochen im November waren der Arbeit, dem Besuch zahlrei­ cher städtischer Einrichtungen und einem strammen gesellschaftlichen Pro­ gramm vorbehalten. Die ersten Tage nach ihrer Ankunft dagegen standen ganz unter dem Zeichen des Neuen: Die Ankömmlinge zeigten sich beein­ druckt von den ethnischen und wirtschaftlichen Kontrasten der Stadt, dem Gedränge aus unterschiedlichen Nationalitäten, den Villen der Reichen entlang der Fifth Avenue, dem Lärm und dem schlechten Zustand der Stra­ ßen (wovon der Baedeker-Reiseführer zu berichten wusste), von der Oase des Friedens und der Ruhe, die Frederick Law Olmsteds Central Park bil­ dete (den die Webers gebührend würdigten, da er sie an den Berliner Tier­ garten erinnerte), vom vielgepriesenen Green-Wood Friedhof in Brooklyn und von der Börse in der Wall Street. Letztere war damals eine touristische Attraktion; für Weber war dieser Schauplatz freilich schon aus beruflichen Gründen interessant, hatte er doch in der Vergangenheit einem skeptischen deutschen Publikum auf einigen hundert Seiten die Grundprinzipien und inneren Zusammenhänge der Effektenbörsen und der Produktenbörsen er­ läutert, nebst denen des Terminmarkts. Außerdem war er als akademischer Experte für den 30 Mitglieder zählenden Börsenausschuss im deutschen Reichsamt zurate gezogen worden. Die Verhandlungsprotokolle der Aus­



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schusssitzungen lassen erkennen, welch scharfen Blick er für die Vorgänge an den Börsen in Europa und Nordamerika hatte – zumal, was die aufkom­ menden Terminmärkte anging. Die Wall Street war Pflichtprogramm: Durch den Aufenthalt dort bekam er einen unmittelbaren Einblick in eine der be­ rühmtesten Institutionen des modernen Marktkapitalismus. Es gab sicherlich kein monumentales Bauwerk in Amerika, dass im all­ gemeinen Bewusstsein der Zeit so stark verankert war wie die Brooklyn Bridge und die Stahlgerüst-Wolkenkratzer der Städte, die etwas völlig Neu­ es darstellten, eine amerikanische Innovation in der Architektur und im Baustil. Die Webers berichteten von „malerischen“ Ausblicken, die sich ihnen beim Überqueren des East Rivers eröffneten, und Max rühmte neben dem Eindruck, den die Brücke mit ihren Menschenmassen bei ihm hinter­ ließ, auch den Fernblick auf die „Zwingburgen des Kapitals“ in lower Manhattan, die ihn an die Türme der grandi in den mittelalterlichen italie­ nischen Städten denken ließen. Direkt gegenüber ihrem Hotel befand sich das St.-Pauls-Gebäude und das 30-geschossige Park-Row-Gebäude, das er vom Baedeker her kannte und das von King’s Views of New York City als „das höchste Bauwerk seiner Art auf der Welt“ gepriesen wurde. „Die Grundrente peitscht die Häuser in die Höhe“, lautete Webers Diktum. Ma­ rianne beschrieb ihre Gemütslage so: „Grade gegenüber türmen sich zwei von den mächtigen ,Biestern‘ der 30-stöckigen ,Wolkenkratzer‘ auf, die man gesehen haben muß, um sie für wirklich zu halten. Noch frage ich mich vergebens, ob sie bloß scheußlich, grotesk u. prahlhansig sind, oder ob sie auch ihre Schönheit u. Würde für sich haben – jedenfalls schlagen sie voll – wie der Turm zu Babel – gleicher Anmaßung rundherum alles andre tot, namentlich die armen Kirchlein [darunter die St.-Pauls-Kirche] mit ihren gotischen Türmchen, die sich wie kleine Friedensinseln in dem wilden Stra­ ßenlärm zu behaupten suchen, verschwinden im Straßenbilde vollständig.“ (2. September; NMW). Diese Konfrontation von spiritualistischer ,Kultur‘ und materialistischem ,Kapitalismus‘ kann der neugierige Reisende auch heute noch auf sich wirken lassen und sich ein eigenes Urteil bilden. Max ergriff seinerseits Partei in dieser Sache und erklärte, dass die neuen impo­ nierenden Bauwerke nicht nach den herkömmlichen ästhetischen Kategorien beurteilt werden könnten. Sie seien Symbole einer neuen amerikanischen Art der Erhabenheit. Zwar sollten die wichtigsten Begegnungen mit Personen aus dem ameri­ kanischen Universitäts- und Collegeleben erst später auf der Reise stattfin­ den, gleich im September aber kam es zu ersten Gesprächen mit Professor William Hervey und seiner Frau. Hervey, ein Germanist an der Columbia University, der einen Teil seiner Ausbildung in Leipzig absolviert hatte, bot zusammen mit seiner Frau eine Einführung in die politisch-ökonomischen Verhältnisse des akademischen Milieus in der Metropole: kleine Wohnun­

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Abbildung 1: Eine Postkarte von New York City aus dieser Zeit zeigt die Ansicht von den Park-Row- und ­ St.-Pauls-Wolkenkratzern über den Broadway, die bei Marianne Weber zwiespältige Gefühle auslösten und sie zu den Äußerungen über die „mächtigen Biester“ beweg­ ten und Max dazu, über die „Zwingburgen des Kapita­ lismus“ zu witzeln. Mit freundlicher Genehmigung des ­Archive of American Architecture.

gen, beengte Büros, hohe Mieten, zeitaufwendiges Pendeln zur Arbeit, teure Einkäufe, Probleme, eine zufriedenstellende Haushaltshilfe zu finden, sowie Beschränkungen der ,Individualität‘ im Alltag. Wenig hat sich geän­ dert in einem Jahrhundert. Bei seinen beiden Mitreisenden erwarb sich Weber in den ersten Tagen den Ruf des Vorauseilenden – „Max geht es übrigens bis jetzt so gut wie noch nie (seit seiner Krankheit) namentlich in bezug auf das Laufen“, stell­ te Marianne fest –, der dem Neuen, dem Typischen und dem Ungewöhn­



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lichen mit gleicher Begeisterung nachstellte. Klage führte er über jene, die wie Troeltsch, statt sich auf die neue Erfahrung einzulassen, auf „die äuße­ ren Symbole des amerikanischen Geistes, so wie sie sich hier in New York präsentieren“, schnell „antipatisch u. abstoßend“ reagierten, wie Marianne zu berichten wusste. Webers Abenteuerlust hob ihn von Troeltsch und an­ deren Kollegen wie Werner Sombart ab, und ihr ist es entscheidend mitzu­ verdanken, dass er den Kontakt zu ganz unterschiedlichen Leuten suchte, dass er das Leben in Amerika bis in die Einzelheiten hinein erforschte und seinen Reiseplan so abwechslungsreich gestaltete. Nach den ersten Tagen in Manhattan bestieg die Dreiergruppe einen Schlafwagen der Pullman Company, der sie nach Albany ins nördlich gele­ gene Hudsontal brachte, von wo aus es nach Buffalo weiterging. Die von der schlagartig neuen Umgebung in den Bann gezogene Marianne erklärte, das Naturschauspiel „war köstlich u. erweckte ganz neue Empfindungen gegenüber der neuen Welt als das bisher Gesehene“. Es kam einer Offenba­ rung gleich, so als wäre ihnen die unverdorbene, paradiesische Landschaft enthüllt worden, die die Maler des Hudson im 19. Jahrhundert gefeiert hatten. Da sie die Urkraft der Natur sehen und erleben wollten, waren die Niagarafälle natürlich ihr eigentliches Ziel – eine fast schon obligatorische Wallfahrt für den Reisenden aus Europa. Alexis de Tocqueville und Gustave de Beaumont hatten im August 1831 dort Station gemacht, sich Regensa­ chen angezogen und eine gefährliche Untersuchung hinter den Fällen durch­ geführt. Es gab jedoch noch ein anderes, wichtigeres Ziel, das unsere Rei­ senden lockte: die deutsche Immigrantengemeinde in North Tonawanda am Ende des Eriekanals. Kirche und Sekte, Stand und Klasse Die Briefe der Webers aus North Tonawanda und von den Niagarafällen, wo sie in Andreas Kaltenbachs Hotel nächtigten, sind überraschend detail­ reich. Marianne nahm in ihre Darstellung der Ereignisse nur ein paar Sätze aus Max’ Kommentaren auf und betonte den schroffen Kontrast zwischen der urbanen Metropole, die sie gerade hinter sich gelassen hatten, und den schlichten Holzrahmen-Einfamilienhäuser der etwa 10.000 Seelen zählenden Einwanderergemeinde in North Tonawanda, die sie aufsuchten. Es ging je­ doch um mehr als um die unübersehbaren Unterschiede zwischen der kos­ mopolitischen Metropole und dem Kleinstadt-Amerika. Doch zunächst einmal erweiterte sich die Reisegesellschaft um drei wei­ tere Universitätskollegen. Bei den Niagarafällen schloss sich ihr der Erlan­ ger Philosoph Paul Hensel an, der zwei Wochen zuvor in New York ange­ kommen war, ebenfalls mit dem Ziel St. Louis, wo er eine mit „Probleme

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der Ethik“ betitelte Vorlesung halten wird. Johannes E. Conrad, Professor für Nationalökonomie an der Universität Halle und deren späterer Rektor, befand sich ebenfalls in der Stadt, auf Besuch bei seiner Tochter und deren Mann, Margarethe und Hans Haupt, bevor es nach St. Louis weitergehen sollte. Als ein bedeutender Vertreter der Historischen Schule der National­ ökonomie referierte Conrad auf dem Congress of Arts and Science über „Wirtschaftsgeschichte im Verhältnis zu den verwandten Wissenschaften“. Weber war mit beiden Wissenschaftlern bekannt; einige seiner ersten Bei­ träge zur politischen Ökonomie, darunter auch Artikel über die Börse, waren sogar von Conrad als Herausgeber der Jahrbücher für Nationalökonomie und des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften veröffentlicht worden. Hans Rollmann hat diese beruflichen Verbindungen in seiner späteren Rekonstruktion dieses speziellen Zeitabschnitts erwähnt, wobei er die in Hans Troeltschs Reisebriefen an seine Frau Martha ausgebreitete alternative Sicht auf das Geschehen geschickt einsetzte. Vervollständigt wurde die Gruppe durch den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Universi­ tätspräsidenten Edmund J. James, der sich ihr zusammen mit seiner in Deutschland geborenen Frau und den beiden fließend Deutsch sprechenden Söhnen im Studienalter anschloss. Die James- und die Hauptfamilien kann­ ten sich schon seit Jahren, aus der Zeit in Deutschland. Nachdem er seinen Abschluss in Harvard gemacht hatte, war James zum Studium nach Berlin und Halle gegangen, wo er 1877 seine Promotion bei Conrad abschloss. In Halle hatte er auch Anna Lange, die Tochter eines lutheranischen Pfarrers, kennengelernt und geheiratet. Nach Lehrtätigkeiten an der Wharton School an der University of Pensylvania und an der University of Chicago war James auf der akademischen Leiter schnell nach oben gelangt, hatte unter anderem die American Academy of Political and Social Science gegründet, ihre Annals herausgegeben und hatte dann die Präsidentschaft der North­ western University übernommen. Im Norden des Staates New York stand er in diesen Tagen im Begriff, ein Angebot anzunehmen und Präsident der University of Illinois zu werden (mit einem Gehalt von 8.000 $). James war eine renommierte Figur innerhalb der Gründungsgeneration der amerikani­ schen Ökonomen – viele von ihnen, beispielsweise Richard Ely und Edwin R. A. Seligman, hatten wie James ihre höhere universitäre Ausbildung in Deutschland vervollständigt. Weber befand sich also nicht nur mit Kollegen aus der Heimat in einer deutschen Einwanderergemeinde, sondern auch in Gesellschaft eines einflussreichen Bildungsadministrators, Nationalökono­ men, Universitätspräsidenten und Mitbegründer der American Economic Association. In North Tonawanda war Hans Haupt Pfarrer der German Evangelical and Reformed Church, die sich in der Shenck Street 174 inmitten eines Arbeiterviertels befand. Als Deutsche Vereinigte Evangelische Friedensge­



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Abbildung 2: Die deutsche ,Friedensgemeinde‘ Re­ form Church in North Tonawanda, New York, wie sie heute aussieht; eine Ansicht, die ermessen lässt, wel­ che Wichtigkeit die protestantischen Sekten damals hatten. Foto des Autors.

meinde gegründet und durch das Johannesstift in Berlin zeitweilig unter­ stützt, wurde sie wie viele andere Gemeinden auch in den 1950ern schließ­ lich in die United Church of Christ aufgenommen. Die Gottesdienste sind in dieser protestantischen Gemeinde bis weit ins 20. Jahrhundert in deutscher Sprache abgehalten worden. Der in Halle aufgewachsene Haupt war der Sohn des Theologen Erich Haupt, eines namhaften Neutestamentlers an der Martin-Luther-Universität, der in einige der zeitgeschichtlichen Auseinan­ dersetzungen über das Leben und die Lehre des historischen Jesus von Nazareth verwickelt gewesen war. Hans Haupt hatte sich nach Verlassen des Elternhauses von seinem pietistischen Hintergrund abgewandt und Anschluss an liberale protestantische Kreise gesucht, denen Leute angehörten, die Weber kannte, wie etwa Friedrich Naumann, Paul Göhre oder Martin Rade, der Herausgeber der Christlichen Welt – oder späterhin der Amerikaner Walter Rauschenbusch, mit dem Haupt während eines Deutschlandbesuchs

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zusammentraf. Haupt schrieb für Rades Zeitschrift; er interessiert sich vor allem für die praktische Ethik und für die menschliche Bedeutung der Hei­ ligen Schrift, weniger für ihre Dogmen oder ihren buchstäblichen Inhalt. Seine auf Deutsch publizierten Schriften über die Religion in Amerika drehen sich um das Verhältnis von Kirche und Staat und um das Wesen der Predigt. Sie zeugen von einem Geist, der sich für die politischen und so­ zialen Zusammenhänge des religiösen Lebens in den Vereinigten Staaten sensibilisiert hatte. Die Sitte, das Bibelstudium zur ,Charakterbildung‘ ein­ zusetzen, war einer von Haupts vielen Untersuchungsschwerpunkten. In North Tonawanda richtete sich Webers Interesse in der Hauptsache auf die innergemeinschaftlichen Beziehungen, auf den religiösen oder geist­ lichen Glauben ihrer Mitglieder und auf das Wirtschaften. Dieses Interesse bekundete sich in etlichen seiner Bemerkungen, die den Ausgangspunkt bildeten für zwei Reihen weitergehender Überlegungen: zum einen formu­ lierte er einen wesentlichen Unterschied zwischen der religiösen Gemein­ schaft als institutionalisierter ,Kirche‘ und der religiösen Gemeinschaft als voluntaristischer ,Sekte‘; zum anderen eine nicht minder wichtige Diskre­ panz zwischen sozialem „Stand“ und sozioökonomischer „Klasse“ in den entstehenden Immigrantengemeinschaften, die sich eingebettet fanden in eine bestehende ,demokratische‘ Sozialordnung. Seine informellen Äußerungen dokumentieren die ökonomischen Verhält­ nisse der Familien in North Tonawanda, angefangen bei den nach Bedarf und Bedürfnissen angefertigten Holzrahmenhäusern, die zwischen 1.000 und 3.000 $ kosteten; eines von ihnen war das der Friedenskirche benach­ barte Pfarrhaus von Haupt, das die Reisenden besichtigten. Webers Darstel­ lungen enthalten auch einen kurzen Abriss der wirtschaftlichen und sittlichen Fundamente der Kirche: Die Gemeinde besteht aus 125 Familien, der Kirchenbesuch scheint (grade bei den Männern) ganz brillant zu sein, die Unterhaltung der Kirche und des Pfarrers bringt die Gemeinde – fast alles ungelernte Handarbeiter aus den Holzmühlen und Packhöfen pp. – natürlich selbst auf: den einzelnen Arbeiter kostet das an Umlage ca. 20–30 $ (80–120 Mk) jährlich, daneben Collekten. Die Lehre, die gepredigt wird, ist ein so gut wie gänzlich undogmatisches Christentum sehr freien Charak­ ters, die Gemeinde sieht nur auf Persönlichkeit und Predigttalent des Pfarrers, macht die Generalsynode Schwierigkeiten, dann – meinte Haupt – würde die Gemeinde austreten. Der Pfarrer ist auf 3monatliche Kündigung (wie fast alle) angestellt, die aber sehr selten vorkommen soll. An Gehalt bezog Haupt – in seiner Erscheinung und Redeweise an [Martin] Rade erinnernd – s. Z. in der Prärie [bei seiner früheren Tätigkeit in Iowa] 250 $ (1050 Mk) pro Jahr, daneben luden ihn die Farmer Sonntags zu Tisch und schickten ihm Schweine etc., während die Frau Kaninchenfallen stellte. Jetzt, in [North] Tonawanda, scheint (nach seinen Andeutungen) sein Gehalt gegen 1000 $ (4200 Mk) zu betragen – ein Maurer in New York verdient 1½–2 mal so viel, ein Arbeiter in Tonawanda jedenfalls eben­



2. Das Land der Einwanderer43 so viel. Das 15-jährige Dienstmädchen (Gemeindekind) bekommt 104 $ (422 Mk) pro Jahr. […] die Pfarrgehälter scheinen sehr oft zwischen 600 u. 1000 $ zu va­ riieren, außer für die „Stars“ der Großstädte. Welche Contraste gegen Gehälter wie die des Steel Trust-Präsidenten [eine Anspielung auf J. P. Morgan] (1 Million $ = 4,2 Million Mk)! (8. September; NMW)

Die Haupts, die vier Kinder zu versorgen hatten, lebten demnach in be­ schränkten ökonomischen und arbeitsintensiven häuslichen Verhältnissen, die auf einer Art der Arbeitsteilung beruhten, welche an die autarkeia (au­ tarke Selbstversorgung) des antiken oikos oder Haushalts erinnerte. Weber war es ein Rätsel, wie sie über die Runden kommen konnten. Laut Rollmann und Wilhelm Pauck, der sich viele Jahre später bei Haupt nach dem Besuch der Wissenschaftler erkundigte, hatten Weber und ­Troeltsch Haupt im Vorfeld darum ersucht, so viele Informationen wie mög­ lich über die ethische Unterweisung der protestantischen Religionsgemein­ schaften zusammenzutragen, vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Belange. Haupt gab an, er sei von Webers und Troeltschs wissenschaftlicher Neugier nicht gerade angetan gewesen und ihre Berufskrankheit bestand seiner Meinung nach darin, dass sie all die Antworten, die sie haben woll­ ten, schon zu kennen glaubten. Als Weber 1906 daranging, die Fortsetzung der Protestantischen Ethik zu schreiben – die Abhandlung über die protes­ tantischen Sekten und den Geist des Kapitalismus –, zuerst für die Frankfurter Zeitung unter dem Titel „Kirchen und Sekten“, dann überarbeitet für Rades Christliche Welt –, wies er zu Beginn gleichwohl auf Haupts Zahlen hin, auch wenn er deren Quelle nicht nannte. Es war die Verbindung von freiwilliger Unterstützung für eine weitgehend unabhängige und autonome Gemeinde, den am Familieneinkommen gemessen beträchtlichen Kirchen­ zehnt sowie den hohen Kirchenbesuchszahlen, die Webers Aufmerksamkeit fand. 1920 stellte er in seiner letzten Überarbeitung dieser Reflexionen ei­ nen expliziten Vergleich mit Europa an: „[J]edermann weiß, dass schon ein kleiner Bruchteil dieser finanziellen Zumutung bei uns Massenaustritte aus der Kirche zur Folge gehabt haben würde. Aber davon ganz abgesehen, konnte niemandem, der vor 15–20 Jahren, ehe die letzte akute Europäisie­ rung der Vereinigten Staaten einsetzte, das Land besuchte, die selbst damals noch sehr intensive Kirchlichkeit, welche in allen nicht ganz unmittelbar von europäischen Immigranten überschwemmten Gebieten herrschte, entge­ hen. Sie war, wie jeder alte Reisebericht ergibt, früher noch viel stärker und selbstverständlicher als in den letzten Jahrzehnten.“ Es mag sein, dass Weber die langfristige Entwicklung in Richtung Säkularisierung überschätzt hat, wobei das Urteil hier ganz davon abhängt, was man mit dem Ausdruck meint, und seine „Europäisierungs“-Hypothese wirft zweifellos interessante Fragen zu der Sonderstellung Amerikas, dem ,Ame­ rican Exceptionalism‘, auf, denen man nachgehen müsste. Zu der Zeit je­

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doch bewegte ihn die Frage, wie sich der Unterschied zwischen Amerika und Europa erklären lässt. Bestätigt durch die Gespräche mit Haupt und die Beobachtungen in des­ sen Gemeinde glaubte Weber, die Antwort in Form und Wesen der Legiti­ mierung gefunden zu haben, die der Einzelne aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft erfuhr. Eine solche Legitimation hätte eine bestimmte Art von sozialer und moralischer Dynamik zur Voraussetzung, die sich nur in der voluntaristischen Glaubensgemeinschaft habe entwickeln können, in der für den reformierten Protestantismus typischen Organisa­ tionsform der „Sekte“. Der ,personale‘ Zug der Bindung würde nicht bloß in der ,Prüfung‘ der einzelnen Mitglieder offensichtlich, sondern er trat Weber zufolge auch in dem Umstand zutage, dass auf die Eigenschaften und Fähigkeiten der Person des Pfarrers geachtet wurde. Die Pfarrersstel­ lung war kein durch kirchliche Autoritäts- oder Obrigkeitsstrukturen gesi­ chertes ,Amt‘, sondern gründete in einer dem kollektiven Willen aller Ge­ meindemitglieder unterliegenden Ernennung oder ,Wahl‘. Weber und seiner klassischen und vielzitierten Darstellung nach war die Kirche also eine Gnaden[verwaltungs]anstalt mit obligatorischer Zugehörigkeit, die Sekte dagegen ein voluntaristischer Verband „religiös-ethisch Qualifizierter“. Im Protestantismus sei es über die Jahrhunderte immer wieder zum Konflikt zwischen diesen zwei gegensätzlichen Organisationsformen gekommen. Das beste Beispiel dafür sei Amerika, das für Weber das Land der Sekten und sektenartigen Verbände war, deren Stärke in politischer Hinsicht durch die formelle verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat und kulturell durch die egalitären und antiautoritären Standards befestigt wurde. Seiner Ansicht nach war bisher nicht richtig oder nur unzureichend ver­ standen worden, dass die in den USA allgemein verbreitete Religiosität oder „Kirchlichkeit“ im Voluntarismus des sektenmäßigen Verbandes und in seinen sozialen Funktionen gründete. Bei neuen Einwanderergemeinschaften aber konnte die Exklusivität der religiösen Sekte paradoxe Folgen haben, wie Weber in seinen Äußerungen über die Haupt-Familie festhielt: Dabei sind sie im Vorwärtskommen überall gehemmt durch ihren deutschen „Accent“, der namentlich bei Predigern jede Avancements-Chance fast ausschließt. Der Mann ist deshalb im Tonfall schon stark anglisiert. Er predigt – noch – meist deutsch, aber dazwischen auch englisch, die high schools (höhere Bürgerschule oder Quarta bis Untersekunda eines Gymnasiums etwa) sind natürlich rein eng­ lisch, er muß bei sich, seinen Kindern und seiner Gemeinde auf englische Sprache dringen, wenn sie nicht dauernd second rate bleiben wollen. „Geselligkeit“ ist schon durch die Raumverhältnisse ausgeschlossen, aber auch durch die Wohnge­ gend. Es ist üblich, daß die Leute, die in derselben Straße wohnen, sich besuchen, er wohnt aber nur unter seinen Arbeitern. Der Doktor und Apotheker in der zweit­ nächsten Straße besuchen ihn deshalb nicht, vollends nicht die „first set“-Familien aus den andren Stadtvierteln. Denn erst das Miethen einer Wohnung in einer



2. Das Land der Einwanderer45 Straße, die als zum „first set“ gehörend gilt, bekundet hier den Entschluß zu den „gentlemen“ zu gehören und führt – auch für den Reichsten! – zur Aufnahme in die „society“, – eine wunderliche Consequenz der rein mechanischen Merkmale, nach denen die demokratische Gesellschaft hier gegliedert ist. Wir haben einen gewaltigen Respekt davor, daß unter solchen Lebensbedingungen die Leute (und ihre Kinder) geblieben und geworden sind, was sie sind. (8. September; NMW; Hervorhebungen hinzugefügt)

Wenngleich er seine Äußerungen auf Deutsch abfasste, streute Weber die (von mir kursiv gesetzten) englischen Ausdrücke ein, als wollte er auf die­ se Weise die Wichtigkeit veranschaulichen, die der Sprache zukam. Die gesprochene Muttersprache als Ausweis kultureller Identität ist ein häufiges Thema in Immigrationsgemeinschaften, das die Generationen mit­ unter spaltet. Haupt zufolge war die öffentliche Meinung in North Tonawan­ da für das Deutsche als Schulsprache, ein Gesetz des Staates New York aber verlangte, dass mindestens die Hälfte des Unterrichts auf Englisch abzuhal­ ten sei. Die Sprache war jedoch bloß das Eine; im größeren Zusammenhang ging es um die Frage, worin die Kriterien bestanden, auf deren Grundlage die in Ungleichheiten resultierende soziale Ausdifferenzierung oder Unter­ scheidung in einer angeblich ,demokratischen‘ gesellschaftlichen und politi­ schen Ordnung praktiziert wurde – und wodurch und durch wen jenen Kriterien Anerkennung verschafft wurde. Eine auf der Hand liegende Ant­ wort lautete: auf der Grundlage der durch die wirtschaftlichen Verhältnisse oder den ,Wohlstand‘ bestimmten Klassenposition, die so über die „Lebens­ chancen“, wie es bei Weber heißt, entschied. Doch wodurch konnte dem „leidenschaftlichen Verlangen nach Unterscheidung“ [„passion for distinc­ tion“], das dem zweiten Präsidenten John Adams zufolge die Menschen umtreibt, noch Geltung verschafft werden, wenn es an Wohlstand oder ei­ nem ererbten Stand mangelte? Die in Webers Äußerung implizit enthaltene Antwort lautet: durch ,Bildung‘. Bildung und die Fragen der modernen Universität waren eines der großen Themen in Webers Schaffen, und seine Beschäftigung mit ihm gipfelte in dem berühmten Vortrag über Wissenschaft als Beruf, den er in einem seiner letzten Lebensjahre hielt. In der Person von Edmund James traf Weber auf ein Musterbeispiel einer universitären Führungskraft, der sich für die deut­ sche Gelehrsamkeit begeisterte und in Eigenregie die deutschen Gepflogen­ heiten den amerikanischen Anforderungen anzupassen suchte. James’ zu den Methodisten im mittleren Westen und zu den Hugenotten zurückreichende Wurzeln könnten ein Grund gewesen sein für sein leidenschaftliches Inter­ esse an den Verbesserungen auf allen Bildungsebenen für Männer und Frauen, wobei er ebenso leidenschaftlich für den Kindergarten eintrat wie für den gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen und für den freien Besuch der öffentlichen High Schools – alles Neuerungen, die nach

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dem Bürgerkrieg in Amerika eingeführt worden waren. Weber zeigte sich fraglos beeindruckt von James und der grandezza seines Auftretens und er hielt fest, dass James’ Position als Präsident einer amerikanischen Universi­ tät die politischen Fähigkeiten eines deutschen Kultusministers, den wirt­ schaftlichen Scharfsinn eines Unternehmensverwalters und dazu die Verwal­ tungskompetenz und die Amtswürde eines deutschen Universitätsrektors verlangte – womit Weber einen scharfen Blick für diese besonders an­ spruchsvolle Stellung bewies. Die von James als Leiter einer universitären Einrichtung vertretenen An­ sichten waren ein lehrreiches Beispiel für jene Verbindung, auf die Weber sich später als die „doppelte Tendenz“ in Amerikas höherer Bildung bezie­ hen wird: Förderung der Fachausbildung für Lehrkräfte und Geschäftsleute, wofür James’ erfolgreiche Umsetzung an der Wharton School ein Parade­ beispiel war, bei gleichzeitigem Eintreten für eine umfangreiche Vorbildung der Studenten auf vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen und humanis­ tischen Gebieten. Weber dürfte sicherlich James vor Augen gehabt haben, als er über diese Themen nachdachte. So heißt es etwa in einem Beitrag, den er 1911 für das Berliner Tageblatt verfasste und worin er eine eigene in Dresden gemachte Äußerung zur Richtigstellung wiedergibt, dass der Entwicklung hin zur Spezialisierung nach „europäischem Muster“, wie mir (zu meiner Überraschung) von beteiligten amerikanischen Herren wieder­ holt versichert worden sei (die Allgemeingültigkeit und Dauer dieser Erfahrung könne ich freilich nicht nachprüfen), eine ziemlich starke entgegengesetzte Ten­ denz gerade in amerikanischen Geschäftskreisen gegenüber[stehe]. Das College mit seiner spezifischen Prägung der Persönlichkeit (im Sinne des angelsächsischen gentleman-Ideals nämlich) und die spezifische Allgemeinbildung, welche es biete, scheine diesen Kreisen, nach ihren Erfahrungen, vielfach eine besonders geeigne­ te Stätte der Erziehung zur Selbstbehauptung (und, wäre hinzuzufügen, zum ge­ sunden bürgerlichen Selbstgefühl) des angehenden Kaufmanns, sowohl als Men­ schen wie für seinen Beruf, eine bessere als ein Fachkursus.

Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass die „Allgemeinbildung“, die damals durch James und andere universitäre Führungskräfte wie etwa die Präsidenten Charles Eliot von der Harvard University und Martha Carey Thomas vom Bryn Mawr College auf den Prüfstand gestellt und genau analysiert wurde, an amerikanischen Universitäten in der Regel noch heute ein Gegenstand ist, mit dem man sich eingehend befasst, anders als an eu­ ropäischen Einrichtungen; tatsächlich ist die general education nie wirklich aus der Diskussion verschwunden, sie stand lediglich mal mehr, mal weni­ ger im Vordergrund, was wiederum mit konkurrierenden Lehrplananforde­ rungen zusammenhing, mit konfligierenden Idealvorstellungen von gebilde­ ten Männern und Frauen sowie mit Unsicherheiten in der Frage der Ansprü­ che an eine gebildete Bürgerschaft.



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Was gibt es über die Adressaten dieser Diskussionen zu sagen, über die Universitätsstudenten selbst? Weber ist mit vielen von ihnen zusammenge­ troffen; an den Niagarafällen und in North Tonawanda zunächst mit Antho­ ny und Hermann, den beiden Söhnen von Edmund und Anna James, die beide an der South Side Academy von Chicago einen Abschluss gemacht hatten. Anthony, der ältere der beiden, war Offiziersanwärter an der Marine­ akademie von Annapolis. Weber kam diese Episode während des Ersten Weltkrieges wieder in den Sinn, im Zusammenhang mit einer Reihe speku­ lativer Kommentare über das Schicksal, das der amerikanischen Demokratie bevorstand in einer Zeit, in der „die moderne Demokratie überall, wo sie Großstaatdemokratie ist, eine bureaukratisierte Demokratie wird“. Kurz gesagt erwartete er für das große moderne und demokratische Staatswesen, dass die Ausbildung zu Experten und die organisierte Bürokratie die in den selbstverwalteten Sekten geltenden und auf der Gleichstellung beruhenden Standeskonventionen infrage stellen würden: Dieser Krieg wird für Amerika die Konsequenz haben, daß es als ein Staat mit einer großen Armee, einem Offizierskorps und einer Bureaukratie daraus hervor­ geht. Ich habe schon damals amerikanische Offiziere gesprochen, die sehr wenig mit den Zumutungen einverstanden waren, die die amerikanische Demokratie an sie stellt. Es passierte z. B. einmal, daß ich in der Familie einer Tochter eines Kollegen war [Margarethe Conrad Haupt] und daß eben das Dienstmädchen weg war – sie hatten ja drüben bei den Dienstmädchen eine zweistündige Kündigungs­ frist. Es kamen gerade die beiden Söhne, die Marinekadetten waren, und die Mutter sagte: „Ihr müßt jetzt hinausgehen, Schnee fegen, sonst kostet mich das täglich 100 Dollar Strafe.“ Die Söhne – sie waren gerade mit deutschen Seeoffi­ zieren zusammen gewesen – meinten: das schicke sich nicht für sie – worauf die Mutter sagte: „Wenn ihr es nicht tut, so muß ich es tun.“

Diese Geschichte aus dem Alltagsleben der Familie James stört das Bild, wenn auch nicht nachhaltig, das die Webers in ihrer Korrespondenz von den bestehenden Verhältnissen zeichneten. Dennoch erfüllte sie ihren Zweck, und zwar nicht bloß als eine Anmerkung zu den von der Spezialausbildung oder dem Militärdienst im Offizierkorps beförderten ständischen Konven­ tionen, sondern auch als eine Anmerkung zur Rolle der Frau in einer Kultur, die ,demokratische‘ Normen unterstützte. Webers Worte sind einer Rede entnommen, die er 1918 in Wien vor ös­ terreichischen Offizieren hielt; er äußerte sie mit provokativem Bezug auf die sardonische Kritik Thorstein Veblens, der am Schluss seiner Theory of Business Enterprise – eines Werks, das Weber gut kannte – die „räuberische nationale Politik“ als „rentables Geschäftsangebot“ bezeichnet hatte. Es wäre übertrieben zu sagen, dass Weber alle bilderstürmerischen Ansichten Veblens teilte. Einer Meinung waren sie jedoch im Hinblick auf die Gründe der im öffentlichen Leben Amerikas zutage tretenden Konflikte: die ,von unten‘, von den selbstverwalteten Sekten vorangetriebene radikale Autarkie

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nebst dem darin wirkenden Unabhängigkeitsgeist und die ,von oben‘, vom Verwaltungsstand und dessen Behörden und Verfügungen beförderten stän­ dischen Konventionen und Abhängigkeiten. Die moderne Universität befin­ det sich in dieser Zwickmühle; einerseits erkennt sie die Forderung der Forschergemeinschaft nach Selbstbestimmung an und versucht ihr Geltung zu verschaffen, auf der anderen Seite ist sie aber an die Verwaltungsricht­ linien gebunden. Der Mikrokosmos von North Tonawanda lieferte einen ersten Fingerzeig auf diese konkurrierenden Möglichkeiten. Settlements, Gemeinwesenarbeit und der städtische Raum Die doppelte Herausforderung durch die „soziale Frage“ und die „Frau­ enfrage“, die sich wegen der Einwanderung und der Lage der Familien aus der Arbeiterschaft häufig ganz schroff und schonungslos stellten, rief in Nordamerika und in Europa unterschiedliche Reaktionen hervor; die Webers sollten viele davon eingehender untersuchen. Marianne interessierte sich außerordentlich für die Settlement-Bewegung, die im späten 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der in London gegründeten Toynbee Hall entstanden war. Am letzten Tag bei den Haupts entschloss sie sich, nach Buffalo aufzubre­ chen und sich dort umzusehen, und ließ Max, der mit Briefeschreiben be­ schäftigt war, und auch Troeltsch zurück, der zusammen mit Hensel die zwischen den kanadischen und den amerikanischen Niagarafällen liegende Goat Island erkunden wollte. Buffalo war 1904 mit seinen ungefähr 400.000 Einwohnern die achtgröß­ te amerikanische Stadt, und als bedeutendes städtisches Zentrum beherberg­ te sie eine beträchtliche Anzahl von Einwanderern. Die allermeisten davon waren deutschstämmig. In Buffalo hatte 1901 die Pan-American Ausstellung stattgefunden, die Fortsetzung der Chicagoer Weltausstellung auf nationaler Ebene, und die Erinnerungen daran waren mit der Ermordung des amerika­ nischen Präsidenten William McKinley auf dem Messegelände verbunden. Die Haupts waren an jenem Tag vor drei Jahren, als die tödlichen Schüsse das Staatsoberhaupt trafen, zu Gast auf der Ausstellung gewesen. Marianne wurde von Grete Haupt und ihrem Vater Johannes Conrad be­ gleitet. Von den sechs Settlements für die Einwanderergemeinschaften in Buffalo suchten sie nur zwei auf, wahrscheinlich die Neighbourhood- und die Westminster-Niederlassung, letztere nah am deutschen Lutherstift gele­ gen, das von Häusern umgeben war, die deutsche Zimmerleute für ihre Familien errichtet hatten. Diese beiden Niederlassungen waren für Deutsch­ stämmige errichtet worden, und sie konnte feststellen, dass den Arbeitskräf­ ten nach deutscher Sitte ,Heimstätten‘ zur Verfügung standen, die umfassen­ de handwerkliche Angebote bereithielten, insbesondere für junge Männer



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und Frauen, und auch für Unterhaltung war gesorgt, etwa durch Laienspiel und Sportangebote. Mariannes knappe Beobachtungen bildeten den Anfang ihrer Bemühungen um das Verständnis der amerikanischen Sozialpolitik und der Lage der Frauen, und noch lange nach der eigentlichen Reise wird sie die Entwicklungen mit Interesse verfolgen. Neben ihren Beobachtungen sprach sie ausführlich mit Grete Haupt, die sie mit den Lebensumständen der Frauen in Amerika vertraut machte; diese Einblicke bekräftigten sie in ihren feministischen Ansichten und begründeten ihre Sympathie und ihr Wohlwollen für die amerikanischen Frauen, die sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland immer wieder zum Ausdruck brachte. An der Stadt selbst gefiel Marianne besonders der Kontrast zwischen dem innerstädtischen Straßenbild, den ethnischen Vierteln und dem landschaftlich gestalteten System von Verbindungs- und Wohngebietsstraßen, das vor mehr als zwei Jahrzehnten von Frederick Law Olmsted und Calvert Vaux entwor­ fen worden war, die sich 1904 auf dem Gipfel ihres Könnens befanden. Mein Ausflug nach Buffalo gestern was sehr nett, wenn auch von wegen des vielen „Latschens“ in den weitläufigen Straßen ziemlich anstrengend. Die Ge­ schäftsstraßen sehen trotz der Prachtbauten im ganzen so wenig einladend aus wie die von New York: alles ist mit einem schwarzen Rußschleier überzogen, die Fenster [z. T.] staubig, kurz: neu u. doch schon verwahrlost, so wie etwa die Vor­ städte bei uns. Das Wohnviertel der eleganten Welt ist dagegen reizend, lauter baumbepflanzte, grüne Straßen mit entzückenden Holzhäuschen, die so aussehen, als hätte man sie grade aus der Spielzeugschachtel [genommen u.] auf den sam­ metgrünen Rasen gestellt. Sie sind das einzig ganz Neue u. Eigenartige, was ich hier bisher an Architektur gesehen habe, u. ästhetisch weit befriedigender als die stolzen Steinpaläste in New York. (9. September; NMW)

Bei den Prachtbauten handelte es sich um die zwei Gebäude, die von innovativen Chicagoer Architekten entworfen worden waren: das Prudential (Guaranty) Building von Dankmar Adler und Louis Sullivan und das Elli­ cott Square Building von D. H. Burnham – ein passendes Präludium für die moderne Stadtlandschaft Chicagos, der die Webers bald ansichtig wurden. Für den ,Fortschritt‘ musste Buffalo in späteren Jahrzehnten einen hohen Preis zahlen. In den 1960er Jahren wurde in der Stadt, die Olmsted zufolge den bestgeplanten Stadtraum besaß, das System von Verbindungs- und Wohngebietsstraßen durch den Autobahnbau schwer geschädigt, für den sich die Bulldozer ihren Weg aus den Vorstädten durch bestehende Parkanlagen und Wohngegenden bahnten. Erst in der jüngsten Vergangenheit sind diver­ se Anstrengungen unternommen worden, Teile der Stadtlandschaft nach den ursprünglichen Entwürfen wiederherzustellen, was halbwegs erfolgreich gelang. Ab 1910 kam Hans Haupt seinen pastoralen Pflichten in einer anderen deutschen Reformkirche in Cincinnati nach, und dort blühte er auf, weil die

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in der Hauptsache aus Gebildeten bestehende Gemeinde ihm, Grete und ihren Kindern mehr zusagte. Das Paar blieb bis zum Lebensende in ihrer neuen Heimat. Als die betagte und schwer krebskranke Grete im Sterben lag, las ihr Hans „täglich“ zwischen drei und fünf am Nachmittag „ein paar Seiten“ aus Marianne Webers gerade erschienener Biographie über ihren Ehemann vor. Was hätten sie wohl gedacht, wenn sie all die Äußerungen aus diesen wenigen Tagen des Jahres 1904 hätten lesen können, die sich um ihrer beider Leben im Dienst der Immigrantengemeinde drehten? Die von ihnen in Tonawanda zurückgelassene Gemeinde hatte in späteren Jahren lange und schwer an den Folgen von Deindustrialisierung und Globalisie­ rung zu tragen und zerfiel schließlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Gotteshaus der einst pulsierenden Friedensgemeinde zum Ghost­ light [Irrlicht] Theater umfunktioniert, eine Ironie, die denen nicht verborgen bleiben dürfte, die das Theater heutzutage besuchen und dort auftreten.

3. Kapitalismus Am 9. September 1904 verließen Max und Marianne die Niagarafälle und reisten mit dem Zug nach Chicago, wo sie acht Tage bleiben werden; Ernst Troeltsch und Paul Hensel brachen einen Tag später auf. Untergebracht waren sie im neuen Auditorium Building in der Michigan Avenue, das als früher Beitrag zu einem modernen amerikanischen Baustil gelten darf; das nach Entwürfen des in Deutschland geborenen Dankmar Adler und seines Partners Louis Sullivan entstandene und 1899 fertiggestellte Gebäude be­ herbergt heute die Roosevelt University. Die deutsche Einwanderergemeinde in North Tonawanda war das erste Etappenziel vor seiner Ankunft in St. Louis für den Congress of Arts and Science gewesen. Das zweite und ganz anders geartete große Ziel, das Max’ Faszination für das Großstadtleben entsprach, war Chicago. Der einwöchige Aufenthalt in dem nach James Bryce „vielleicht typischsten der amerikanischen Orte in Amerika“, bot ihm zahlreiche Möglichkeiten, seine Neugier auf die amerikanische Urbanität zu befriedigen. Er war nicht enttäuscht von der Stadt, von der es in Carl Sand­ burgs bekannter Würdigung ,Chicago‘ heißt: Sie schlachtet Schweine für die Welt, baut Werkzeuge, hält den Weizen vorrätig, spielt mit Eisenbahnen am größten Güterumschlagplatz im Lande; Stürmisch, stark und zänkisch, ist sie die Stadt der breiten Schultern.

Er wolle nach Amerika reisen, um die Städte zu sehen, hatte Weber ge­ sagt, und er sah fast alle großen urbanen Zentren östlich des Mississippi. Von Chicago aber fühlte er sich besonders angezogen. 1883 hatte sein Vater dort zusammen mit Bryce, Carl Schurz und Henry Villard Station gemacht und im Palmer House Quartier bezogen. Entgegen seinen eigentlichen Plä­ nen hatte er die Columbian Exhibition zehn Jahre später nicht besucht. Chicago war bis 1904 zur fünftgrößten Stadt der Welt herangewachsen (hinter London, New York, Paris und Berlin) und sein Stadtgebiet war dop­ pelt so groß wie das Londons, wie Max notierte. Chicago war wie Berlin ein neuer Industrie- und Geschäftsmagnet und Verkehrsknotenpunkt; mit ihrer schnell wachsenden Arbeiterschaft stand die Stadt vor riesigen sozia­ len Fragen und Problemen. Nirgendwo sonst ließ sich die rohe Kraft und unbändige Energie der Neuen Welt so unmittelbar erleben, noch jene rasen­ de Geschwindigkeit und all die Angriffe auf die Sinne, die Georg Simmel 1903 in seinem bemerkenswerten Aufsatz über die moderne Metropole be­

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schrieben hatte. Was Weber selbst bei einer späteren Gelegenheit über sie sagte – die „moderne Großstadt mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern, Konzert- und Restaura­ tionssälen, Cafés, Schloten, Steinmassen, und all dem wilden Tanz der Tonund Farbenimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrü­ cken und den Erfahrungen von Varianten der seelischen Konstitution, die auf das hungrige Brüten über allerhand scheinbar unerschöpfbare Möglich­ keiten der Lebensführung und des Glückes hinwirken“ –, hätte auch gut zu Chicago gepasst. Als die Webers in Chicago ankamen, hatte gerade der erste große Streik im 20. Jahrhundert, an dem sich die Schlachter, Abpacker, Fuhrleute und die angegliederten Gewerbe in den Schlachthöfen beteiligten, mit der Niederla­ ge der Vereinigten Fleischer- und Schlachtergewerkschaft geendet. Dieser Gewerkschaftsverbund, ein Mitglied in der American Federation of Labor, dem Dachverband der amerikanischen Gewerkschaften, das erst 1897 durch Samuel Gompers aufgenommen worden war, hatte in den letzten vier Jahren die Organisation des Abpackgewerbes vorangetrieben. Als AFL-Präsident hatte Gompers (den Weber einen Monat später in Washington D.C. treffen wird) zur Vorsicht gemahnt und sich, freilich ohne Erfolg, gegen einen Streik ausgesprochen, weil er besorgt war wegen des Mangels an Disziplin in der Gewerkschaft, des Überangebots an ungelernten Arbeitern auf dem Arbeitsmarkt und wegen der organisatorischen Stärke der ,Big Five‘, der fünf großen Abpackunternehmen – Armour, Swift, Morris, Wilson und Cu­ dahy. Als die Verträge zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern im Mai ausliefen, wurden die Gewerkschaftsmitglieder unruhig, insbesondere die Facharbeiter; im Juli dann begann der Streik, wurde vorübergehend ge­ schlichtet, anschließend wieder aufgenommen und dauerte dann noch sechs Wochen. Obwohl die Mitglieder der Gewerkschaft offensichtlich für eine Fortsetzung des Streiks waren, erklärte die Führung mit Michael Donnelly an der Spitze den Arbeitskampf am 8. September für beendet. Die Gewerk­ schaftsführer gingen zwar mit positiven Verlautbarungen an die Presse, in Wahrheit aber war die Bilanz verheerend. Die gewerkschaftliche Organisie­ rung der Schlachthöfe erwies sich als völliger Fehlschlag. Einige Arbeiter und Führungsfiguren wurden auf die schwarze Liste gesetzt – darunter auch Donnelly –, und man hatte nichts erreicht, denn keine der großen Forderun­ gen wurde erfüllt: Einführung des Zehn-Stunden-Tags, einen Mindestlohn von 18,5 Cent für die Arbeitsstunde eines ,Ungelernten‘ und eine Regelung, verstärkt Männer in den Schlachthäusern einzustellen. Das Geschehen ver­ anlasste Finley Peter Dunne alias Mr. Dooley zu seiner ironischen Reprise, „If I was a wurrukin’ man I’d sigh f’r th’ good ol’ days whin Labor an’ Capital was friends. Those who lived through thim did.” [Wäre ich ein Malocher, hätt’ ich woll’n die gute alte Zeit zurück, wie Arbeit und Kapital



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noch Freunde war’n. Die, wo sie durchlebt haben, ging’s auch nich anders.] Immerhin trugen der Streik und seine Nachwirkungen nicht unwesentlich zu Webers aufregender Woche bei. Die Stadt als Fantasmagorie Max Webers Schilderungen von Chicago suchen in punkto Lebendigkeit und Anschaulichkeit ihresgleichen. Er verfasste zwei Briefe über die Stadt, und Marianne einen, was zusammengenommen etwa einem Zehntel ihrer gesamten Amerikakorrespondenz entspricht. Für das Lebensbild ihres Man­ nes wählte Marianne aus den schillerndsten Passagen einiges aus, doch sie ließ auch eine ganze Menge unberücksichtigt: ihrer beider Äußerungen über Hull House, Jane Addams und ihren Kreis; Max’ beiläufige Bemerkungen zu den Kirchen und zur Religion; und den mit dem Besuch der Northwes­ tern University in Evanston zugebrachten Tag (hier kam es durch die spä­ teren Herausgeber zu einer Verwechselung mit der University of Chicago). Max’ Thema ist die Anatomie der Stadt; Marianne zitierte seine ersten längeren Betrachtungen aus gutem Grund, lassen sie doch seinen klinischen Blick erkennen und enthalten treffende Vergleiche im Anschluss an ihre Ankunft in St. Louis: Chicago ist eine der unglaublichsten Städte. Am See liegen einige behagliche und schöne Villenviertel, meist Steinhäuser schwersten und lastendsten Stils, direkt dahinter liegen alte Holzhäuschen, genau wie sie in Helgoland sind, dann kommen die Tenements der Arbeiter und ein wahnwitziger Straßenschmutz, kein Pflaster oder miserable Chaussierung außerhalb der Villenviertel, in der city zwischen den sky-scrapers ein haarsträubender Straßenzustand. Dabei wird Weichkohle gebrannt. Wenn nun der heiße trockene Wind aus den Wüsten des Südwestens durch die Straßen fegt, so ist der Anblick der Stadt, zumal wenn die Sonne dunkelgelb untergeht, ein phantastischer. Man sieht am hellen Tage [nur] 3 Straßenblocks weit, auch von den Aussichtstürmen, Alles ist Dunst, Qualm, der ganze See mit einer violetten Rauchathmosphäre turmhoch bedeckt, aus der die kleinen Dampfer plötzlich auftauchen und in dem die Segel der auslaufenden Schiffe rasch ver­ schwinden. Dabei eine endlose Menschenwüste. Man fährt aus der city durch die – ich glaube 20 englische Meilen lange Halsted street in endlose Fernen, zwischen Blocks mit griechischen Aufschriften, Xenodochien etc., dann andre mit chinesi­ schen Kneipen, polnischen Reklamen, deutschen Bierhäusern – bis man an die „stock Yards“ gelangt: so weit man von dem Uhrturm der Firma Armour sehen kann, nichts als Hürden mit Vieh, Gebrüll, Geblöke, endloser Dreck – am Hori­ zont aber rundum – denn die Stadt geht noch Meilen und Meilen weiter, bis sie sich im Grün der Vorstädte verliert – Kirchen und Kapellen, Elevator-Speicher, rauchende Schlote – jedes große Hotel hat einen für seine Elevators etc – und Häuser jeden Formats. Meist kleine für höchstens 2 Familien, daher die ungeheu­ eren Dimensionen der Stadt und je nach den Nationalitäten differenziert in der Sauberkeit. Der Teufel war los gewesen in den Stock yards: ein verlorener Streik,

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massenhafte Italiener und Neger als Streikbrecher: täglich Schießereien mit Dut­ zenden von Toten auf beiden Seiten, Trambahnwagen umgestürzt und dabei ein Dutzend Frauen zerquetscht, weil ein Non-union-man darauf gefahren war, Dro­ hungen mit Dynamit gegen die Elevated [Hochbahn], von der richtig ein Waggon entgleiste und halb in den Fluß herabstürzte. Dicht bei unsrem Hotel ein Mord eines Cigarrenhändlers am hellen Tage, wenige Straßen davon in der Dämmerung ein Raubanfall von drei Negern auf einen Tramwagen etc, etc. – eine eigentümli­ che Culturblüthe Alles in Allem. Rasant ist das Durcheinanderquirlen der Völker: Die Griechen putzen, Straßauf-Straßab, den Yankee’s die Stiefel für 5 cts. Die Deutschen sind ihre Kellner, die Iren besorgen ihnen die Politik, die Italiener die schmutzigsten Erdarbeiten. Eine sehr instruktive Zeichnung im Hull House, – von dem Marianne wohl erzählte – zeigte wie dies Durcheinanderwehen der nationalen Zusammengruppierung Platz macht, die Lohntafel daneben zeigte (zu meinem Erstaunen) daß die Italiener die niedrigsten Löhne haben, niedriger als die Russen. Die ganze gewaltige Stadt – ausgedehnter als London! – gleicht, außer in den Villenvierteln – einem Menschen, dem die Haut abgezogen ist und dessen Einge­ weide man arbeiten sieht. Denn man sieht Alles – Abends z. B. in einer Neben­ straße in der city die Dirnen ins Schaufenster bei elektrischem Licht gesetzt nebst Preisangabe! Charakteristisch ist hier wie in New York die Behauptung einer ei­ genen jüdisch-deutschen Cultur. Theater spielen in Judendeutsch der Kaufmann von Venedig und eigne Judenschauspiele, die wir uns in New York ansehen wollen. Die Rolle der Deutschen ist in Chicago – trotz großer Zahl – sehr unbe­ deutend, selbst ihr „Schiller“-Theater haben sie – infolge Uneinigkeit – verkauft. Dagegen hat St. Louis eine große Zahl höchst angesehener deutscher Familien (natürlich mit amerikanisierten Kindern) und der deutsche Reichtum ist dem ­angloamerikanischen äquivalent. Carl Schurz lebte früher hier [in St. Louis], ihm gehört noch die Mississippi-Zeitung zu 2 / 3, welche die originelle Leistung fertig bringt, in einer streng republikanischen Morgen-Ausgabe und – mit andrem Re­ dakteur – einer ebenso streng demokratischen Nachmittags-Ausgabe zu erschei­ nen. Für das hiesige Parteiwesen und seine rein auf Ämterbesetzung gerichtete Eigenart oder vielmehr Charakterlosigkeit spricht das Bände! (19. September; NMW)

Die Stadt als menschlicher Körper, dem die Haut abgezogen und dessen Innenleben sichtbar geworden ist: Kein Zweifel, dass die Stadtsoziologie, eine Erfindung des Mittleren Westens und Chicagos, über keine großartige­ re, fantastischere Vorstellung vom organischen, völlig durchsichtigen Leben der Metropolen verfügt. Die Webers bestaunten die extremen Kontraste: dass Wohlstand und Ar­ mut, Dreck und saubere Behaglichkeit nebeneinander existierten, die Höf­ lichkeit neben dem Verbrechen, der Anstand neben dem Laster (in den Worten der Chicago Daily News) – und sie zeigten sich ebenso fasziniert davon, wie sich die soziale Ordnung und die Demographie der ethnischen Gruppen im Koordinatensystem der Stadt und in den Bauten abbildeten. Die Stahlgerüst-Wolkenkratzer, die sie zum ersten Mal in Manhattan erblickt hatten, waren in Chicago erfunden worden, und während Marianne jetzt



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festhielt, dass „einige großartige u. auch ästhetisch befriedigende“ darunter seien, nannte Max sie einen „Ausdruck wirtschaftlicher Kraft“ aus dem Geiste des Kapitalismus – die Rede gilt hier der neuen Architektur von Dankmar Adler und Louis Sullivan, D. H. Burnham und John W. Root, Charles Atwood und William LeBaron Jenney. Max Webers Schilderungen von Sex, Gewalt und Verbrechen waren viel­ leicht etwas überzogen, gemessen an anderen Stimmen aus den Wirren jener Tage nach dem fehlgeschlagenen Streik. So hieß es etwa in einem Leitarti­ kel der Chicago Daily Tribune, es sei „zwar zu gewaltsamen Handlungen gekommen […], deren Ausmaß allerdings wurde stark übertrieben“. Doch die Tribune und die Daily News berichteten weiter von Übergriffen im Schlachthofviertel, die sich nach Eintreffen der Streikbrecher ereignet hät­ ten. Die Gewalt war nicht nur Ausdruck der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Arbeitsbedingungen, in ihr entluden sich auch die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen und die zwischen Schwarzen und Wei­ ßen. Die Vereinigte Fleischer- und Schlachtergewerkschaft war von irischen und deutschen Arbeitern dominiert, insbesondere die höher gestellten Schlachter, obgleich auch Polen, Litauer und Angehörige anderer osteuropäi­ scher Nationalitäten neu hinzukamen. Ein genaues Abbild dieses Völkerge­ misches lieferte Upton Sinclair in seinem damaligen Bestseller The Jungle (1906), der auf eigenen Beobachtungen beruhte, die er 1904 in den Schlachthöfen gemacht hatte. Die Abpackunternehmen warben viele Afro­ amerikaner und wohl auch einige Italiener und Griechen als Streikbrecher an, und nicht selten richtete sich die Gewalt des Pöbels gegen sie, was die ohnehin schon bestehenden Ethnien- und Rassenkonflikte innerhalb der Gewerkschaft selbst noch verstärkte. Dass diese nicht in der Lage war, die Solidarität zwischen den Arbeitern aufrechtzuerhalten, wurde häufig als ei­ ner der Hauptgründe für das Scheitern des Streiks genannt. Die von Weber erwähnten Vorfälle sind tatsächlich dokumentiert. Die Tribune meldete am 13. September 1904 den gewaltsamen Übergriff des Mobs auf eine Straßen­ bahn, in der sich Männer, Frauen, Kinder und zwei angebliche (schwarze) Streikbrecher befanden, und nannte die Namen aller Personen, die dabei zu Schaden kamen. Die Presse berichtete auch von dem Raubüberfall auf einen Zigarrenladen und der Ermordung seines Besitzers sowie von den Aktivitä­ ten im Hotelcasino auf der Madison Street und den „nächtlichen Ausschwei­ fungen“. Die Amerikaner bezogen ihre Informationen über die Zustände in der Stadt aus den Enthüllungsgeschichten des muckraking journalism, der im Mist herumwühlenden und Missstände ans Licht bringenden Presse; den Ausdruck ,muckraking‘ hatte Theodore Roosevelt aus einer moralisch unan­ tastbaren Quelle übernommen, die auch zu Webers Favoriten zählte: aus John Bunyans Pilgrim’s Progress (dt.: Pilgerreise zur seligen Ewigkeit),

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worin ein Mann mit einer Mistgabel [muckrake] die schmutzige, aber not­ wendige Arbeit des Ausmistens verrichtet. Das neben Sinclairs Roman be­ rühmteste Traktat jener Zeit war Lincoln Steffens The Shame of the Cities (1904), die in dem von ihm selbst redaktionell geleiteten McClure’s Magazin als Fortsetzungsserie herausgebracht wurde. Steffens veröffentlichte ein längeres Kapitel über Chicago, worin er ein Bild zeichnet, das mit dem von Weber übereinstimmt: „Ganz vorn bei der Gewalt, am tiefsten im Schmutz; laut, gesetzlos, kein bisschen sehenswert, übelriechend, kennt weder Ehr­ furcht noch Respekt, neu und unbekannt; ein verwachsener Dorftölpel, die ,Harte‘ unter den Städten, ein Schauspiel für die Welt“. Auf der anderen Seite rühmte er Chicago aber auch für den Abenteuergeist, den Hang zur Kühnheit und für den ,Sportsgeist‘, die in einer Stadt zuhause wären, die nicht bloß von Reformen und Besserung reden, sondern etwas dafür unter­ nehmen würde. „Von allen amerikanischen Städten ist es Chicago, dem das Lob für Reformen gebührt“, schrieb er; „wirkliche Reformen, keine mora­ lischen Anwandlungen oder politischen Aufstände“. Die Aussichten und Folgen politischer Reformen angesichts der von Kor­ ruption, der Herrschaft der Bosse und den politischen Apparaten der Groß­ städte geprägten Verhältnisse waren natürlich das gewichtigere Problem für Weber und die amerikanischen Progressivisten. Chicago bot die perfekte Kulisse und den idealen Ort für die Auseinandersetzung mit dem Thema: Jane Addams’ Hull House. Hull House, die Schlachthöfe und die Arbeiterklasse Die Webers besuchten Hull House an ihrem ersten Wochenende in der Stadt, und Marianne kam Sonntagabend noch einmal zurück, um an einem Treffen der weiblichen Gewerkvereins-Liga, der Women’s Trade Union League (WTUL), teilzunehmen, bei der es sich um einen Ableger des von Jane Addams im selben Jahr gegründeten Interessenverbandes handelte. Sie besichtigten die Anlage und nahmen Einblick in die Sozialstatistiken. Mari­ anne, die ja bereits die Settlements in Buffalo in Augenschein genommen hatte, berichtete: Der Interessanteste was ich hier gesehen [habe], ist ein settlement großen Stils, das mit einem Aufwande von erheblichen Mitteln von einer ganz außerordentlich anziehenden Dame in einem Arbeiterviertel errichtet ist. Es umfaßt eine Kinder­ krippe, Wohngelegenheit für 30 Arbeiterinnen, eine Sporthalle für junge Leute, einen großen Konzertsaal mit Bühne, eine Lehrküche, Kindergarten, Räume für Handfertigkeits- u. Handarbeitsunterricht jeglicher Art etc. 15000 Personen beider­ lei Geschlechts verkehren hier im Winter, u. empfangen Belehrung, Anregung, Rat u. Vergnügungen – Es ist wirklich großartig, u. bekundet sowohl ein großartiges Organisationstalent wie auch in seiner ganzen Ausstattung feinsten Geschmack.



3. Kapitalismus57 Miss Ad[d]ams, die Gründerin u. Leiterin, der immer viele freiwillige Helfer u. Helferinnen zur Seite stehen, ist eine überaus anziehende, sanfte, vornehme Er­ scheinung – man glaubt es gleich, daß sie ihren Beinamen „angel“ Johanna ver­ dient. Ihre Fähigkeit, den reichen Leuten Geld abzuknöpfen u. so viele Kräfte zur Arbeit heranzuziehen, ist mir nicht weniger imponierend wie ihre Fähigkeit, den Armen u. Arbeitern ein Mittelpunkt zu sein u. ihr Vertrauen zu gewinnen. (un­ datiert, wahrscheinlich 13. September; NMW)

Marianne interessierte sich vor allem für die Anstellungsverhältnisse der Frauen, für deren berufliche Möglichkeiten, Arbeitsbedingungen und Löhne und für ihre Mitwirkung in gewerkschaftlichen Organisationen. Diese The­ men hatten sie schon zu interessieren begonnen, als sie in Deutschland als politische Aktivistin Aufsätze verfasste und dem Verein FrauenbildungFrauenstudium vorstand: Miss Ad[d]ams u. ihr Kreis befördert die Arbeiterinnenorganisationen so viel sie kann, u. arbeitet dabei Hand in Hand mit den männlichen Trade-Unions-Führern. Offenbar hat man auch hier mit den Frauenorganisationen schon mehr Erfolg als bei uns gehabt, es ist sogar gelungen, die Heimarbeiterinnen zu organisieren, d. h. sie zu Trade-Unions-Mitgliedern zu machen u. die Unternehmer zu zwingen, nur solche „labelled“ women (d. h. also Mitglieder der Gewerkvereine) zu beschäfti­ gen. In jener Versammlung [der WTUL] wurde nur über den verlorenen großen stock­ yard-strike, den Streik der Riesenschlachthausarbeiter u. Arbeiterinnen (20–30.000), der noch ganz Chikago in Aufregung u. teilweise auch in Aufruhr hält, diskutiert. Die Gedankengänge u. Ansichten über die Sache entsprachen ganz denen meiner Kreise. Ich fühlte mich deshalb sofort von heimatlicher Luft u. von mir bekannten Aufgaben umgeben – mußte aber wieder aufs Neue die anmutige Redegewandt­ heit der amerikanischen Frauen bewundern. Sie haben – ebenso wie die amerik. Männer – eine reizende Art, ihre Ansichten anschaulich, warm u. humorvoll an­ zubringen.

Am Ende dieses Abends bestand Jane Addams darauf, dass auch Marian­ ne sich äußert, wozu diese sich nur widerwillig bereitfand; sie sang ihrer Gastgeberin eine „Lobeshymne“, wie sie sagte, was Addams wiederum sehr verlegen machte. Diese vermittelte übrigens in den Wochen nach dem Scheitern des Streiks zwischen der Gewerkschaft und der Unternehmenslei­ tung, namentlich zwischen Michael Donnelly und J. Ogden Armour, und aufgrund ihres Ansehens und unter Einsatz all ihrer Überzeugungskraft ge­ lang es ihr, den Abpackerfirmen eine halbherzige Zustimmung abzuringen, wodurch sie der Gewerkschaft einen neuerlichen Arbeitskampf ersparte; der nächste ereignete sich erst weit im 20. Jahrhundert. Marianne wird sich erst viele Jahre später, 1930 um genau zu sein, in der Frankfurter Zeitung ausführlich zu Hull House und dem ,Engel von Chica­ go‘ äußern. Den Anlass dazu bildete Addams siebzigster Geburtstag. Bio­ graphische Erinnerung und Huldigung der Kultur der Frauen zugleich,

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widmet sich Mariannes Aufsatz dem moralischen Widerstand gegen die durchdringende Realität der in ihren Worten monströsen und dämonischen Stadt und zeichnet seine Konturen nach. Innerhalb von fast drei Jahrzehnten sei aus Chicago ihrer Ansicht nach ein „harmonischerer“ Ort geworden. In all dieser Zeit verkörperte Addams für sie das Beste, was die Stadt zu bie­ ten hatte, und Hull House galt ihr als Inbegriff der „Demokratisierung des Geistes“, als die Verwirklichung „dieses Glaubens an die Möglichkeit des Aufstiegs aller“, und das war es, was sie an Amerika am bewundernswür­ digsten fand und was den nachhaltigsten Eindruck bei ihr hinterließ. Während sich Mariannes Interesse auf Hull House und die WTUL rich­ tete, wandte sich Max den Schlachthöfen selbst zu. Sogar der Baedeker rühmte das Schauspiel, das es dort zu sehen gab: „Die Tötung der Rinder und Schweine erfolgt auf ganz ausgeklügeltem und schnellem Wege, für den sich nur jene interessieren werden, deren Nerven stark genug sind, das ganze Gemetzel und das Meer von Blut mit Gleichmut zu betrachten.“ Weber konnte nicht anders, er musste sich vor Ort ein Bild von den Vor­ gängen machen: „Überall fällt die gewaltige Intensität ins Auge“, schrieb er, [i]n den Stock yards mit ihrem „Ozean von Blut“ […] am meisten. Von dem Moment an, wo das Rind ahnungslos den Schlachtraum betritt, vom Hammer getroffen zusammenstürzt, dann alsbald von einer eisernen Klammer gepackt, in die Höhe gerissen wird und seine Wanderung antritt, geht es unaufhaltsam weiter, an immer neuen Arbeitern vorüber, die es ausweiden, abziehen etc., – immer aber im Tempo der Arbeit an die Maschine gebunden sind, die es an ihnen vorbeizieht. Man sieht ganz unglaubliche Arbeitsleistungen in dieser Athmosphäre von Qualm, Koth, Blut und Fellen, in der ich mit einem boy, der mich allein gegen ½ $ führte, herumbalanzierte, um nicht im Dreck zu ersaufen, – und wo man das Schwein von der Kofe bis zur Wurst und Conservenbüchse verfolgt. (20. Septem­ ber; NMW)

Die Fließband-Mechanisierung war in den Abpackbetrieben bereits weit fortgeschritten, die Regulierung der Bandgeschwindigkeiten nach Effizienz­ kriterien und Rentabilitätsberechnungen trieben die Produktionsprozesse an, dazu kam die Aufgabenspezialisierung, die es den Unternehmen erlaubte, Facharbeiter durch ungelernte Arbeitskräfte zu ersetzen. Die Betriebe prak­ tizierten den Fordismus lange bevor Henry Fords erste Fertigungsstraße 1913 zum Einsatz kam, wenngleich festzuhalten ist, dass die Veränderung bei Ford mit einem außerordentlichen Lohnanstieg auf 5 $ pro Tag verbun­ den war. Mit Blick auf die Arbeiterklasse muss gesagt werden, dass die entmenschlichende Rationalisierung des Arbeits- und Lebensumfelds nicht auf die Schlachthofbetriebe beschränkt war. Weber notiert: Stundenweit haben die Leute vielfach, wenn um 5 Uhr die Arbeit aus ist, nach Hause zu fahren – die Tram-Gesellschaft ist bankrott, seit Jahren – wie üblich – verwaltet sie ein „receiver“, der kein Interesse an der Abkürzung der Liquidation hat und daher keine neuen Wagen anschafft – die alten versagen alle Augenblick.



3. Kapitalismus59 Jährlich gegen 400 Leute werden tot- oder zu Krüppeln gefahren, ersteres kostet laut Gesetz die Gesellschaft 5000 $ (an die Wittwe oder Erben), letzteres 10000 $ (an die Verletzten), solange sie keine Vorsichtsmaßregeln trifft – sie hat nun kal­ kuliert, daß sie die 400 Entschädigungen weniger kosten als die verlangten Vor­ sichtsmaßregeln und bringt diese nicht an.

Die Irrationalität und Unverantwortlichkeit der ,rationalen‘ Berechnungen erfasste auch die Bereiche öffentliche Gesundheit und Sicherheit: Die Stadt Chicago trinkt das Wasser des Michigan-Sees, unfiltriert – der Dreck der Stadt floß bis vor Kurzem ganz und jetzt noch zum Teil dahin: ein österrei­ chischer College bekam alsbald gastrisches Fieber, Typhus ist alltäglich. Jetzt hat man den Chicago-River gestaut und nach der Wasserscheide zum Mississippi hin abgeleitet, und läßt mit ihm den Dreck der Stadt St. Louis in den Mund laufen. Der Tunnel der Underground-Strecke unter dem River wird sicherlich bald ein­ stürzen, da die Schiffe mit größerem Tiefgang fast immer auf ihm festlaufen: Niemand denkt daran, ehe er einstürzt, etwas zu thun, U.s.w. u.s.f. in infinitum. Es ist ein wildes Leben trotz der raffinierten Culturschicht, die darüber liegt.

Die Zahl der Typhusfälle ging in St. Louis jährlich in die Hunderte, es gab jedoch keine zwingenden wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Chicago eine Mitschuld an der Wasserverschmutzung traf. Bei einer der ersten Ent­ scheidungen im Umweltrecht, der Sache Missouri vs. Illinois and the Sanitary District of Chicago, in der 1906 das Urteil gesprochen wurde, brachte Richter Oliver Wendell Holmes die Ansicht des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten zum Ausdruck, dass die Wasserverschmutzung nicht be­ wiesen sei und die Klage nach „langen Überlegungen“ abgewiesen werde. Die von Halsted und Ashland Street, der 39. und 47. Straße in Südchica­ go quadratisch eingerahmten Abpackbetriebe, Tierpferche, Pack- und Ver­ sandanlagen, die 1971 endgültig geschlossen wurden, bildeten zu Anfang des Jahrhunderts einen Mikrokosmos des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit. Die Statistiken von damals weisen erstaunlich hohe, im Millionen­ bereich liegende Zahlen geschlachteter Rinder, Schweine, Schafe und Pferde aus; am eindrucksvollsten ist dennoch ein anderer Wert: Zu der Zeit, als Weber die Schlachthöfe besuchte, kamen 80 % des gesamten in den USA verzehrten Fleisches von diesem einen Ort, ohne dass es damals einheitliche Gesundheitsrichtlinien, Vorschriften oder Aufsichtseinrichtungen gegeben hätte. Schon zwei Jahre später allerdings unterzeichnete Präsident Roosevelt die Lebens- und Arzneimittelüberwachungsgesetze, wobei Sinclairs Schrif­ ten über die Bedingungen in den Schlachthöfen die legislativen Maßnahmen beschleunigt haben dürften. Die Gesetzgebung war ein wertvolles Resultat der durch den Streik bewirkten Aufmerksamkeit, wenn auch nicht die von einem Sozialisten wie Sinclair befürwortete Radikallösung. Fließband-Mechanisierung und Arbeitsrhythmus, wie Weber sie erlebte, bildeten einen kapitalintensiven Herstellungsprozess. Dieser brauchte jedoch

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immer noch viele Arbeitskräfte, zusammengenommen um die 25.000. Die Vereinigte Fleischer- und Schlachtergewerkschaft war zu Beginn eine Zunft­ gewerkschaft, deren Mitglieder sich selbst als Facharbeiter betrachteten. Die Rationalisierungsmaßnahmen innerhalb der Unternehmen führten jedoch zur Entwertung der Facharbeiterqualifikation, zur Ersetzung von Facharbeitern durch Ungelernte und dazu, dass die Löhne gedrückt wurden. Bei den Fach­ arbeitern handelte es sich in der Regel um Männer aus der älteren Immi­ grantenbevölkerung, die ungelernten Arbeiter hingegen waren zumeist neu­ ere Einwanderer, Frauen oder Afroamerikaner. Natürlich gab es Ausnahmen von der Regel: Die Gewerkschaft hatte beispielsweise etwa 500 schwarze Mitglieder, und im Abpackbereich begannen die Frauen zu dominieren. Der wirtschaftliche Trend aber war 1904 unverkennbar: Die Facharbeiter mit ihren fachlichen Qualifikationen gerieten zunehmend unter Druck und wa­ ren immer weniger gefragt. Der Verlust des Arbeitsplatzes, der sozialen Stellung, der Verdienstausfall und der Verlust des Berufs waren für die gelernten Kräfte nicht mehr bloß eine ferne Bedrohung. Max Weber schenkte dem Kapitalismus und den Arbeitsverhältnissen von Beginn seiner Forschungstätigkeit an sehr viel Aufmerksamkeit – dem Ka­ pitalismus als Produktionssystem, den Institutionen des Geldmarkts und der Marktwirtschaft sowie der Geschichte des kapitalistischen Wirtschaftssys­ tems. Damals beruhte sein Ansehen in der Hauptsache auf seinen Schriften zur Agrararbeit. 1908 wandte er sich jedoch wieder den Fragen der Indus­ triearbeit zu und komplettierte Erhebungen des Vereins für Socialpolitik zu Arbeit und Beruf in der Großindustrie in seinem Aufsatz Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Der Text wurde nicht ins Englische übertragen und wird heutzutage selten zitiert. Er ist selbst den Experten kaum bekannt. Weber widmet sich explizit der Frage der Mechanisierung und ihren Folgen, der Einwirkung (wie es in seiner Methodologischen Einleitung heißt) auf „persönliche Eigenart, berufliches Schicksal und außerberuflichen ,Lebens­ stil‘  “ der Arbeiter sowie auf die „ethnischen, sozialen und kulturellen“ Faktoren, die sich in der gesamten „Lebensführung“ der Arbeiterschaft äu­ ßern. Solche Problemstellungen dürften sich durch seine Beobachtungen in Chicago nur noch stärker aufgedrängt haben. Weber hatte stets ein waches Auge auf die Lebensumstände der städtischen Arbeiterschaft, sowohl in Deutschland als auch in den USA. In seinem offe­ nen Austausch mit Robert Michels stellte er immer wieder die soziokulturel­ len Dimensionen der Arbeitsverhältnisse und der Arbeitsorganisation heraus, und diese Perspektive zeigt sich auch in seiner Einschätzung der in Chicago erlebten ,sittlichen Ordnung‘. In seinen Äußerungen zu den Arbeitervierteln etwa hebt er auf einen offensichtlichen Unterschied zu New York ab, den er mit den Ethnien und kirchlichen Einrichtungen in Zusammenhang bringt, und geht dann näher auf das Thema der Säkularisierung ein:



3. Kapitalismus61 Chicago ist – infolge der Völkermischung – weniger kirchlich als selbst New York – trotzdem ist grade in den Arbeitervierteln die Zahl der (von den Arbeitern selbst bezahlten) Kirchen sehr groß. Hier liegen die charakteristischsten Züge amerikanischen Lebens, zugleich auch die schicksalsvollsten Momente tieferer innerer Umgestaltung. Orthodoxe Sekten waren es bisher, die dem ganzen Leben hier ihr Gepräge gaben. Alle Geselligkeit, aller soziale Zusammenhalt, alle Agita­ tion zu Gunsten philanthropischer und ethischer, auch – bei Campagnen gegen die Corruption – politischer Zwecke fanden an ihnen Halt. Jetzt ist, neben den Katho­ liken (die nur durch die Einwanderung ihre Zahl behalten bzw. vermehren) nur die altlutherische große Missouri-Kirche noch ein Fels der Orthodoxie. Sonst ist alles im Fluß. Die Presbyterianer haben die Prädestinationslehre und die Ver­ dammnis der ungetauft Sterbenden abgeschafft, die großen Sekten stehen im „pulpit change“ (d. h. ihre Geistlichen predigen oft gegenseitig in den andren Kirchen), die Arbeiter wollen von Dogmatik gar nichts hören. Die „ethische Cul­ tur“ hat einen Tempel mit sonntäglicher Predigt in New York. Vor Allem stehen überall Tempel der Christian Science, oft riesengroß, und die Staaten müssen gegen die Unsitte, keinen Arzt zu rufen, die Dyphteritis- etc. -Kranken nicht an­ zuzeigen u. nicht zu behandeln etc, mit dem Strafgesetz vorgehen. Die alte schar­ fe methodistische Kirchenzucht ist ebenfalls verblaßt. Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Dinge weiter entwickeln werden. (20. September; NMW)

Wenn Weber die Entwicklung in Richtung Säkularisierung auch als Ab­ rücken von der orthodoxen Theologie in den wichtigsten Konfessionen in­ terpretierte, so war dieser Trend für ihn nicht zwangsläufig gleichbedeutend damit, dass die Religiosität selbst im Schwinden begriffen war oder die religiösen Sekten ihre öffentliche und gesellschaftliche Bedeutung einbüß­ ten. Hierin sah Weber ein charakteristisch amerikanisches Muster, das selbst die neueren Einwanderergemeinden wiederholten: sachlich-nüchterne Skep­ sis gegenüber dem Dogma, gepaart mit einer sozialen Organisation nach Art der Sekten, die das öffentliche Leben der Arbeiterschaft nach wie vor durchdrang. Persönlichkeit als soziales Kapital Der einwöchige Aufenthalt in Chicago bot Anlass für eine Reihe von Veranstaltungen, die auf den Congress of Arts and Science hinführen sollten und die zum Teil von Albion Small und William R. Harper, dem Präsiden­ ten der University of Chicago, ausgerichtet wurden. Weil sich zahlreiche Delegierte des Kongresses in der Stadt aufhielten, war ein Empfang im Reynolds Club auf dem Campusgelände der Universität geplant, dazu ein Bankett im Hotel der Webers und diverse Stadt- und Museumstouren. We­ ber traf im Laufe der Woche höchstwahrscheinlich mit Small zusammen, wobei diese Begegnung nicht weiter von Belang war, und ob er diese Ver­ anstaltungen besuchte, ist unbekannt. Einen tiefen Eindruck hinterließ indes der Abstecher nach Evanston, den er gemeinsam mit Marianne und Ernst

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Troeltsch an einem Mittwoch unternahm (14. September), um der dortigen Northwestern University einen Besuch abzustatten; dieser war der erste der geplanten Aufenthalte an amerikanischen Lehr- und Bildungseinrichtungen, wobei zu den ursprünglich geplanten immer neue dazukamen. Weber hatte durch James vermutlich schon von der Northwestern gehört. Weil James gerade aus dem Präsidentenamt ausgeschieden war, stand die Campus-Tour unter der Leitung von James Taft Hatfield, einem Professor für deutsche Literatur und Sprache, dessen Vater nach Hatfields Worten als Pfarrer „die echte puritanisch-methodistische Tradition des 18. Jahrhunderts verkörperte“. Hatfield war mit einer hohen und lauten Tenorstimme ausge­ stattet und fühlte sich zur Volksliedtradition hingezogen und zur Musik des spirituellen Verlangens und der religiösen Hingabe – diese Empfindungen waren etwas ganz anderes als die calvinistischen Sentimentalitäten der ein­ fachen Baptisten und Quäker. Als aktives Mitglied der Methodistenkirche und als ,universitärer Ratgeber‘ der Studentenverbindung Beta Theta Pi, leitete er auch den konfessionsoffenen allfreitäglichen Studentengottesdienst. Er war einer von sieben Mitgliedern des Lehrkörpers der Northwestern, die an dem Kongress in St. Louis teilnahmen, wo er seinen Beitrag ,Germanic Literature‘ präsentierte. Viel später in seiner Laufbahn leitete er die Modern Language Association und hielt bei seiner Präsidentenansprache ein flam­ mendes Plädoyer für die ,akademischen Standards‘. Im Laufe des Tages schnappte sich Hatfield einen ahnungslosen Studien­ anfänger und mit ihm zusammen sang er seinen Gäste das Erkennungslied von Beta Theta Pi zur Melodie von ,O Tannenbaum‘ vor. Weber räumte ein, dass ihn diese Art von überschwänglichem Lokalpatriotismus rührte, der „wie so vieles hier, etwas Kindliches“ an sich hatte, etwas „aus gesundem Menschenverstand, Enthusiasmus und Naivität seltsam Gemischtes“ dar­ stellte. Seinen Aufenthalt dort beschrieb er so: Sehr erquicklich war der Besuch der Northwestern University in der Vorstadt Evanston, schön im Grünen am See, mit großen Play-grounds und reizenden Holz- oder auch Steinhäusern der Professoren. Wieder die kleinen, oft winzigen Räume der Professorenhäuser – ein Paff aus meiner langen Pfeife würde das Ar­ beitszimmer dauernd verfinstern –, ein sehr hübsches Heim einer studentischen Verbindung („Greek letter society“), die – außer Mensuren und Saufereien – Alles machen wie wir, hübsche Albums einer Studentinnen-Verbindung gleicher Art, mit amüsanter Schilderung der Art, wie die „alten Herren“ oder vielmehr „alten Da­ men“ der Verbindung vor Beginn des Semesters kommen, um Füchse („fresh­ men“) „keilen“ zu helfen etc. etc. – kurz viele hübsche Einblicke in das ebenso arbeits- wie Poesie-reiche amerikanische Studentenleben. (20. September; NMW)

Weber erwarb erstaunlich detaillierte Kenntnisse vom amerikanischen Schulsystem, von den Colleges und Universitäten, der Lebensführung der Studenten, den Voraussetzungen für die Hochschulabschlüsse, den Fakul­



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tätsberufungen und den Arbeitslasten, den Lehrmethoden, den Lebenshal­ tungskosten und Gebühren der Studenten und den Gehältern von Lehr- und Verwaltungskräften. Davon abgesehen jedoch galt sein Interesse speziellen Phänomenen, die mit dem Bildungsethos in Zusammenhang standen – der Kultivierung von Gewohnheiten, der Geistes- und Persönlichkeitsbildung sowie der Lebenseinstellung in Bezug auf Arbeit und Leistung: [W]ährend der amerikanische Junge auf der primary school, grammar school und high school sehr langsam und wenig zu arbeiten hat, ca 17–18 Jahre wird, ehe er so weit ist wie ein Untersekundaner, die denkbar größte Freiheit genießt, deshalb für unsren Geschmack oft schwer erträglich, aber allerdings sehr kräftig und selb­ ständig wird, – geht der College-Student (17 / 18–21 / 22 Lebensjahr) – normaler­ weise ins Internat, hat sich der Hausordnung zu fügen, ist bezüglich des Trinkens etc. wenn nicht formell, so doch faktisch controlliert, sein Studiengang ist – mit gewissen elective lessons – vorgeschrieben, Schwänzen giebt es nicht, Kirchgang mindestens wöchentlich, Examina alle Vierteljahr. Trotzdem liegt bei allen älteren Leuten der ganze Zauber der Jugenderinnerung allein auf dieser Zeit. Massenhaf­ ter Sport, hübsche Formen der Geselligkeit, unendliche geistige Anregung, zahl­ reiche dauernde Freundschaften sind der Ertrag u. vor Allem wird ernstlicher als bei uns die Gewöhnung zur Arbeit erzogen. Der Schwiegersohn unseres Gast­ freundes versicherte, ein college-bred-man lerne das Geschäft in 1 / 2 Jahr, andre in 2–3.

Weber bezog sich hier speziell (wie wir im nächsten Kapitel sehen wer­ den) auf den sehr erfolgreichen Magnaten der Eisen- und Stahlherstellung Frank Mesker, dessen Ansichten ihm vollkommen repräsentativ schienen. Im Allgemeineren aber bezog er sich auf, um es mit einem Wort zu sagen, die Askese. Ihn bewegte die Frage, wie jener Menschentyp, der sich dem Handeln in der Welt verschrieb, enstanden ist, aus welchen Quellen er ent­ sprang und welche institutionellen Kräfte ihren verstärkenden Teil zu seiner Herausbildung beigetragen haben. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stieß er auf eine Reihe von erstaunlichen „Gepflogenheiten“, keine aber beeindruckte ihn mehr als die Forderung, den Gottesdienst zu besuchen: Unglaublich muthet es an, wenn man in den Statuten der Northwestern Universi­ ty in Chicago (methodistisch ursprünglich, die große Rockefeller’sche Gründung ist baptistisch, beide conkurrieren in derselben Stadt!) liest: der Student muß von den täglichen Gottesdiensten 3 / 5 besuchen, doch aber statt je 3 Stunden Gottes­ dienst 1 Stunde Colleg mehr hören. Hat er einen größeren „Chapel record“ (!!) als verlangt, so wird es ihm auf das nächste Studienjahr gutgeschrieben u. er braucht dann so viel weniger attendance zu leisten, bei ungenügendem „Chapel record“ wird er nach 2 Jahren relegiert. Der „Gottesdienst“ ist dabei eigenartig: Vorträge über [Adolf von] Harnack’s Dogmengeschichte z. B. ersetzen ihn zuwei­ len. Am Schluß werden die Zeiten des nächsten Foot-Ball, Base-Ball, cricket etc. [Spiels] verkündet – wie früher in den deutschen Dörfern die Erntearbeit. Das Ganze ist ein wildes Durcheinander – es ist schwer zu sagen, wie stark die Indif-

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ferenz zur Zeit ist, daß sie zugenommen hat – namentlich durch die Deutschen – ist ziemlich sicher. Aber die Macht der kirchlichen Gemeinschaften ist noch immer gewaltig im Vergleich zu unsrem Protestantismus.

Webers Angaben waren im Wesentlichen richtig. Das Northwestern University Bulletin listete die einschlägigen Regeln auf: Die Gründungsurkunde der Universität bestimmt, dass „den angehenden Studenten dieser Einrichtung kein spezielles religiöses Glaubensbekenntnis abverlangt wer­ den soll“. Die Universität wurde nicht in der Absicht gegründet, den Studenten das Credo irgendeiner Kirche aufzunötigen, sondern zur Beförderung des Lernens unter den Bedingungen, welche der Herausbildung einer mannhaft christlichen Persönlichkeit nützlich und förderlich sind. Dies ist nach wie vor ihr Sinnen und Trachten. Von den Studenten am College wird erwartet, dass sie an dem sonntäglichen öf­ fentlichen Gottesdienst teilnehmen; in welcher Kirche sie das tun, bleibt ihnen überlassen. Der Gottesdienst wird das ganze Studienjahr über täglich außer samstags zur Mittagszeit abgehalten. Die Studenten sind verpflichtet, an mindestens drei Fünf­ teln dieser Gottesdienste teilzunehmen, wobei folgende Bestimmungen gelten: 1. Wenn ein Student weniger Anrechnungspunkte und also Gottesdienstteilnah­ men nachweisen kann, als er in einem halben Semester bräuchte, wird seine Zulassung in allen Studienfächern zurückgezogen und kann nur auf Empfeh­ lung der Fakultätskommission zum Kirchenbesuch wieder erteilt werden. 2. Besucht er mehr als die in jedem Semester vorgeschriebenen drei Fünftel der Gottesdienste und kann das nachweisen, so werden ihm die überzähligen Teil­ nahmen für das kommende Semester angerechnet.

Die Northwestern University war diesbezüglich kein Einzelfall. Ähnliche Vorschriften bestanden etwa an den Universitäten von Chicago und Tennes­ see. Dass Weber ein „wildes Durcheinander“ wahrnahm, war jedoch sicher­ lich nur sein persönlicher Eindruck. Ich beispielsweise habe an meinem koedukativen College ein vergleichbares Regime erlebt, das allerdings nur den Besuch von einem Gottesdienst pro Woche bindend vorsah, und ich bin mir sicher, dass die Studenten keine Probleme hatten zu verstehen, was man von ihnen verlangte, und den Forderungen zu entsprechen. Natürlich hat sich ,das College‘ mit der Zeit gewandelt, und es ist nicht mehr jener er­ zieherische ,Elternersatz‘, der es einmal war. 1904 aber war die Beschwörung der „Persönlichkeit“ [„character“] ein Ausdruck der Zeit, im Grunde ein Topos, der von den Amerikanern mit dem Bildungsmodell des College als Institution und eines nachhaltig prägenden Lebensabschnitts verbunden wurde. Der Idee begegnete man allerorten und bei allen möglichen Anlässen: in der Chicago Daily Tribune, in der der Vizepräsident der First National Bank der Leserschaft verkündete, dass „Persönlichkeit und Charakter ein wirkliches Kapital“ sind; oder bei Präsi­



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dent Theodore Roosevelts Besuch der Northwestern (in Begleitung von Edmund James), als das Staatsoberhaupt sich mit den Worten an die Stu­ denten wandte: „Einen unversehrten und starken Körper zu haben, ist zwei­ fellos eine großartige Sache. Noch besser ist es freilich, klug zu sein und über einen starken und lebhaften Verstand zu verfügen. Am glücklichsten aber darf sich schätzen, wer das Eine hat und das Andere und noch dazu etwas Höheres und noch Besseres – Persönlichkeit.“ Wie so oft stellte Roo­ sevelt auch bei dieser Gelegenheit sein sicheres Gespür für aktuelle Ent­ wicklungen unter Beweis: ,Persönlichkeit‘ war nicht bloß ein Ausdruck für Individualität oder besonderen Lerneifer, sondern für eine wichtige Eigen­ schaft im Leben, für eine Synthese aus geistiger und körperlicher Beweg­ lichkeit, für innere Kraft und spirituelle Stärke und für die Unabhängigkeit im Urteil. Die Rede von der Persönlichkeit und den moralisch-sittlichen Eigenschaften, die sie ausmachen – Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Sparsam­ keit, Fleiß und harte Arbeit – war die moderne Version dessen, was Benja­ min Franklin gepredigt hatte. Das College sollte, so war es gedacht, diesem Ideal zur Geltung verhelfen. Beobachtungen wie die an der Northwestern University wird Max Weber im Laufe der kommenden zwei Monate an etlichen anderen Einrichtungen anstellen: am Tuskegee Institute, an der Johns Hopkins University, am Ha­ verford College und an den Universitäten von Harvard und Columbia. Die allgemeinen Schlüsse, die er aus ihnen zog, finden sich in etlichen Arbeiten ausformuliert: in seinen Äußerungen über die Hochschulpolitik des Minis­ terialdirektors der Unterrichtsabteilung in Preußen Friedrich Althoff; in Texten, die er während des Krieges verfasste, wie etwa die Rede „Der So­ zialismus“, die er in Wien vortrug; und natürlich in „Wissenschaft als Be­ ruf“, worin die ganze Problematik anhand eines Vergleichs des amerikani­ schen mit dem deutschen Universitätslebens abgehandelt wird. Die AlthoffDebatte aber ist vielleicht die faszinierendste dieser Erörterungen, weil Webers einschlägige Beiträge keine Missverständnisse über sein Denken und dessen alte und künftige Orientierungspunkte aufkommen lassen. Seine Position in diesen hitzigen Auseinandersetzungen ist, was die Bezugnahmen auf Amerika anging, kaum verstanden worden. Werfen wir einen Blick auf einige markante Äußerungen aus Webers kurzem Referat vor den versammelten Teilnehmern auf dem IV. Deutschen Hochschullehrertag, der im Oktober 1911 in Dresden stattfand: Die klassische alte amerikanische Universität ist aus dem College herausgewach­ sen, und viele Colleges lagen nicht in den Großstädten, sondern womöglich auf dem Lande, jedenfalls an kleinen Orten; ferner waren die alten Colleges überwie­ gend von Sekten eingerichtet. Reminiszenzen daran finden sich noch überall. Heute dagegen sind die amerikanischen Universitäten bis zu einem gewissen Grade doch auf dem Wege, Großstadtuniversitäten zu werden. Und ferner ist kein

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I. Teil: Die Amerikareise

Zweifel, daß mindestens ein Teil der Universitäten das alte Collegesystem mit seinem Internatszwange und seiner strengen Kontrolle auch der Lebensführung der Studenten über Bord zu werfen teils im Begriffe steht, teils schon über Bord geworfen hat. Dagegen ist mir aus amerikanischen Geschäftskreisen versichert worden, daß diese es seien, welche auf den Fortbestand des College und der be­ sonderen Art der Collegebildung hinwirkten, die nicht in erster Linie Heranbil­ dung zur Wissenschaft bezweckt, sondern Ausbildung zur Persönlichkeit, zum Sich-behaupten-lernen in Kreisen gleichartiger Studenten, erwachsener Menschen, Ausbildung einer Gesinnung, die dem amerikanischen Staats- und Gesellschafts­ wesen als Unterlage zu dienen hat.

Zu den „Geschäftskreisen“ dürfte Frank Mesker gehört haben. Bei der Northwestern handelte es sich fraglos um eine Universität nach klassischem Muster, und auch wenn die University of Chicago dagegen neuer, urbaner und stärker auf die spezifisch wissenschaftliche Ausbildung der Hochschul­ absolventen ausgerichtet war, so war sie doch dem „College mit seinem Internatszwange“ und seinem gehörigen Respekt vor der Bildung verpflich­ tet geblieben und hatte diese den praktischen Ausbildungsbelangen auch weiterhin übergeordnet. Bis heute ist sie diesem Kurs hartnäckig treu ge­ blieben, sieht man einmal von gelegentlichen Perioden ab, in denen sie von Selbstzweifeln geplagt die ,Allgemein‘-Bildung infrage stellte und eine Reform der Lehre in Erwägung zog. Die modernen Debatten über die soge­ nannte Allgemeinbildung – und was sie auszeichnet: Offenheit für nicht­ westliche Kulturen, gesellschaftspolitisches Problembewusstein, Orientie­ rung am ,Bildungserlebnis‘ –, die häufig nicht angemessen gewürdigt wur­ den und die allein an den amerikanischen Universitäten geführt werden, sind genau deshalb wichtig, weil sie das Ideal des Colleges und das des gebildeten Bürgers berühren. Aus der Skepsis gegenüber den Alternativen zu diesem ursprünglich ame­ rikanischen Modell erklärt sich das provokative Element in seiner Kritik an den deutschen Verhältnissen: Währenddessen gründet man bei uns Handelsschulen. Wenn wir uns ganz deutlich ausdrücken wollen, so ist der Dampf, der diese Handelshochschulen macht, doch eigentlich immer der Umstand, daß die Kommis gern satisfaktions- und damit reserveoffiziersfähig werden möchte: ein paar Schmisse ins Gesicht, ein bißchen Studentenleben, ein bißchen Abgewöhnung der Arbeit – alles Dinge, bei denen ich mich frage, ob wir denn damit, wenn sie unserem kaufmännischen Nachwuchs anerzogen werden, den großen Arbeitsvölkern der Welt, insbesondere den Ameri­ kanern, werden Konkurrenz machen können.

Man ersetze die Amerikaner durch Bürger anderer Nationalitäten – Chi­ nesen etwa, Inder oder Brasilianer –, und die Frage stellt sich noch heute. Der Zusammenhang zwischen der Bildung in dem Sinne, in dem Weber sie im amerikanischen College vorfand, und den Herausforderungen des globa­ len Wettbewerbs ist der Öffentlichkeit vielleicht nie deutlicher gewesen. Es



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vergeht fast keine Woche ohne neuen Leitartikel, neue Rede, ohne einen weiteren Bericht oder Traktat, der die Aushöhlung der pädagogischen und bürgerlichen Ideale und des sozialen Kapitals beklagt, die mit der Idee des Colleges von Beginn an verknüpft waren. Die Problematik ist allerdings kaum je so erfasst und dargestellt worden, wie Weber, Bildungsgestalter wie James, Harper oder Hatfield oder auch Politiker wie Roosevelt sie verstanden, denn was sie im College sahen, waren die positiven Effekte ganz bestimmter institutionalisierter Vergesell­ schaftungs- und Geselligkeitsformen auf die Disziplinierung, die Selbstprü­ fung und auf die Errichtung der Sozialordnung. Diese Formen waren ganz ohne Frage Ausdruck einer pragmatischen Logik. Max Weber war freilich weniger an ihren unmittelbaren Nutzeneffekten interessiert, als an ihren Auswirkungen auf die Gesamtheit der praktischen Ethiken und eine charak­ teristische Form der Lebensführung innerhalb der Grenzen der kapitalisti­ schen Kultur. Wie ließe sich das durch das College verkörperte Ethos mit der kapitalistischen Rationalisierung der materiellen Welt versöhnen? Die Frage war nun formuliert, eine schlüssige Antwort aber hatte Weber noch nicht gefunden.

4. Wissenschaft und Weltkultur Der Kongress in St. Louis: Einheit der Wissenschaften? Der Congress of Arts and Sciences sollte am 19. September 1904 in St. Louis, Missouri, beginnen und eine Woche dauern; die Organisatoren hatten groß gedacht: In nicht weniger als 128 Sektionen sollte der Stand des Wis­ sens in den Human-, Natur- und Geisteswissenschaften, in der Medizin, im Recht, in der Religion und in der Erziehungswissenschaft ausgebreitet und bewertet werden. Es wurden etwa dreihundert Arbeiten eingereicht, die kürzeren und die Kommentare nicht mitgerechnet. Weber ergriff das Wort am Nachmittag des 21. September auf einem sozialwissenschaftlichen Fo­ rum, das sich mit den ländlichen Gemeinden befasste. Zur gleichen Zeit stellte Ernst Troeltsch seinen Beitrag vor, in dem er William James’ The Varieties of Religious Experience (dt.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung) erörterte, jenes „Meisterwerk“ von „außerordentlicher Fülle“, wie er James’ Vorlesungen im Rahmen dieser Veranstaltung über Religionsphilosophie charakterisierte. Am Morgen hatte eine soziologische Veranstaltung über die soziale Ordnung stattgefunden, auf der ihr Kollege Ferdinand Tönnies sich die Bühne mit Lester F. Ward geteilt und über die modernen sozialen Ge­ bilde sowie über seine Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft gespro­ chen hatte. Am nächsten Tag äußerte sich Werner Sombart auf einem Forum mit Richard Ely zu den Themen Sozialismus, städtisches Proletariat und Industriegesellschaft. Johannes Conrad und Paul Hensel stellten ihre Beiträ­ ge tags darauf vor. Andere Veranstaltungen warteten mit einer eindrucksvol­ len Teilnehmerliste auf: unter den auch später noch angesehenen Personen befanden sich Woodrow Wilson, James Bryce, Jane Addams und Martha Carey Thomas; Wilhelm Ostwald und Henri Poincaré und die amerikani­ schen Sozialwissenschaftler und Gesellschaftsreformer Frederick Jackson Turner, Franz Boas, W. I. Thomas, Edward A. Ross, Charles Merriam und Felix Adler. Die Abende waren den obligatorischen Riesenempfängen und Dinnern vorbehalten, von denen die Webers die meisten besucht zu haben scheinen, Max’ Beschwerden nach zu urteilen. Die Tagesveranstaltungen aber stellten sich als durchaus nützlich heraus, sehr zu Webers Überraschung, hatte er doch zunächst Zweifel am Sinn dieses Kongresses. Als gewinnbringend erwiesen sich etwa die Kontakte mit den amerikanischen Kollegen. Weber nahm offenkundig auch an den anderen nationalökonomischen Veranstaltun­



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gen teil, wodurch er Gelegenheit hatte, neben anderen Wissenschaftlern auch Edwin R. A. Seligman von der Columbia University und Jacob H. Hollander von der Johns Hopkins University zu hören und kennenzulernen; mit beiden wird er im letzten Monat seines Aufenthalts nochmals zusam­ mentreffen. Dass der Kongress überhaupt zustande kam, war das Verdienst einer kleinen Gruppe unentwegter Akademiker. In seiner Planungsphase wurde erstaunlich viel gestritten. Die Diskussionen begannen 1901 und beschränk­ ten sich im Grunde auf einen kleinen Kreis, dem fünf Männer angehörten: William R. Harper, der Präsident der Chicagoer Universität, war der Erste, der sich für die Idee stark machte; Nicholas Murray Butler, der Präsident der Universität von Columbia; Simon Newcomb, der Mathematiker und Astronom, der dem Kongress als Präsident vorstand, und seine beiden Vi­ zepräsidenten, Albion Small, der Leiter des Fachbereichs Soziologie an der Universität von Chicago, und Hugo Münsterberg, der Psychologe aus Har­ vard und ehemalige Professorenkollege von Weber aus Freiburger Tagen. Wenngleich die umfangreiche Korrespondenz zwischen diesen Fachleuten eher dazu taugte, die Gemüter zu erhitzen, als Klarheit zu schaffen, gibt sie im Rückblick doch einigen Aufschluss über den Stand der Wissenschaften am Beginn des 20. Jahrhunderters. Die für den Wissenschaftshistoriker wichtigen intellektuellen Fragen, die im Zuge der Diskussionen zutage traten, standen in Zusammenhang mit der scharf geführten Auseinandersetzung um die Forderung nach – wie es heu­ te heißt – methodologischer Einheit der Wissenschaften. Mit den Begriffen des späten Richard Rorty könnte man sagen, dass sich hier eine Form des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus, die mit der logischen Struktur des Wissens argumentierte, und eine an den wissenschaftlichen Interessen und Aktivitäten orientierte ,pragmatische‘ Auffassung gegenüberstanden. Münsterberg, der ein Verfechter eines einheitlichen, in sich geschlossenen Systems der wissenschaftlichen Erkenntnis war, vertrat die eine Seite, Small, der die Vielfalt der Wissenschaft und ihrer Methoden verteidigte, vertrat die andere Seite. Die öffentliche Auseinandersetzung wurde durch John Deweys interessanten Ansatz bereichert, der der neukantianischen Metaphysik Münsterbergs seine realitätsnahe pragmatische Sicht auf die Wissenschaft gegenüberstellte, die er in seinen später erschienenen Werken Democracy and Education (dt.: Demokratie und Erziehung) und The Quest for Certainty (dt.: Die Suche nach Gewißheit) ausformulierte. Münsterberg und Small hatten unterschiedliche Pläne für den Kongress vorgelegt. Münsterberg erklärte im Atlantic Monthly, er wollte mit seinem Vorschlag „erreichen, dass der Kongress auf die Vereinheitlichung der wis­ senschaftlichen Erkenntnisse hinarbeitet“; die Begegnungen sollten „die in

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dieser Zeit des isolierten Wirkens von Spezialisten allzu sehr vernachlässig­ te Idee der ,Einheit der Wahrheit‘ der Welt ins Bewusstsein heben“ – kämp­ ferische Worte, gerichtet an einen Pragmatisten. Münsterberg glaubte die Zeit gekommen, das alte Erbe abzuschütteln: den Materialismus des 19. Jahrhunderts, August Comtes Positivismus und Herbert Spencers Sozial­ darwinismus, damit das Wissen auf eine neue Grundlage gestellt werden konnte. „Unsere Zeit sehnt sich nach einer neuen Deutung der Wirklich­ keit“, schrieb er, und um diese Deutung zu bewerkstelligen, müsste dem Wissen in all seinen Wechselbeziehungen nachgegangen werden, müssten die „fundamentalen Prinzipien“ herausgearbeitet und offengelegt werden (Münsterberg spricht auch vom „philosophischen Fundament“), die das Band zwischen den Wissenschaften bilden. Diese Prinzipien wären zwar im Zusammenhang mit dem Versuch, ein System des Wissens zu errichten, im Wesentlichen schon zur Sprache gebracht worden, in einer Weise freilich, die noch viel zu sehr an Comte und Spencer erinnerte. Sein neues System aber unterscheide im Kern zwischen den „objektivierenden“ Wissenschaf­ ten, die es mit den „Erscheinungen“ zu tun haben, und den „subjektivieren­ den“ Wissenschaften, die sich mit den „Absichten“ befassen. Diese Termi­ nologie war ein Echo auf eine frühere Unterscheidung des Neukantianismus, der die „nomothetischen“ Naturwissenschaften, die nach unveränderlichen universalen „Gesetzen“ suchten, von den „idiographischen“ Geisteswissen­ schaften abgrenzte, die auf das „Verstehen“ kultureller und psychologischer Sachgehalte abzielten. Im Hinblick auf den Kongress galt Münsterbergs Interesse nicht so sehr der Unterscheidung an sich oder den Zuordnungsfra­ gen, damit hatte er sich bereits ausführlich in seinem wichtigen Werk Die Grundzüge der Psychologie (1900) befasst; jetzt ging es ihm vielmehr um das gleichermaßen unterstellte wie erhoffte Ganze, um die Querverbindun­ gen und um die „Einheit des Wissens“ als jenes Ideal, dem sich die Wis­ senschaftler seiner Ansicht nach verpflichten sollten. Small dagegen hatte für seine Vorlage den entgegengesetzten und zu ei­ nem progressiven Soziologen, der die pragmatistische Denkschule durchlau­ fen hatte, passenden Ausgangspunkt gewählt: Auf dem Kongress sollte es darum gehen, die Leistungen und den „Fortschritt“ des letzten Jahrhunderts einer umfassenden Bewertung zu unterziehen, wobei die Wissenschaft und die wissenschaftlichen Erkenntnisse nur eines von mehreren Themenfeldern bilden würden, wie etwa Gesundheit, wirtschaftliches Wohlergehen, soziale Gerechtigkeit, Ästhetik und Religion. Small zufolge bildete der „methodo­ logische Fortschritt nur einen sehr kleinen subsidiären Teil des wissen­ schaftlichen Fortschritts insgesamt, wohingegen die wichtigere Entwicklung dort stattfindet, wo reale oder praktische Probleme gelöst und neue Proble­ me an den heutigen Grenzen unseres Wissens gefunden und aufgeworfen werden“ – ganz ähnliche Vorbehalte äußerte auch Weber, der gar von einer



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„methodologischen Pestilenz“ sprach, von der die Sozialwissenschaft befal­ len wäre. Aus diesem Blickwinkel musste es sich bei dem Plan, die Befas­ sung mit den logischen Zusammenhängen zwischen den Wissenschaften zum höchsten Zweck des Kongresses zu erheben, entweder um mutwillige Scholastik handeln oder sein Urheber verstand nicht, wie Wissenschaft funktioniert und Wissenszuwachs zustande kommt. In einem Brief an Har­ per warnte Small, dass Münsterbergs Plan, hielte man sich starr daran, nicht die Einheit der Wissenschaft zutage fördern würde, sondern die Uneinigkeit unter den Wissenschaftlern. Wie zur Bestätigung von Smalls Warnung, mischten sich auch andere Personen in die Debatte ein und protestierten gegen die scholastische Be­ grenztheit von Münsterbergs Wissenschaftsbild. So beklagte sich etwa De­ wey ganz zu Recht, der eingebrachte Vorschlag setze auf „eine bestimmte Methodologie, die einer bestimmten Schule der Metaphysik entsprungen ist“, und liefe auf eine „sektiererische intellektuelle Anschauung“ hinaus. Wer behauptet, dass die unterschiedlichen Arten, Wissenschaft zu betreiben, und die theoretischen und praktischen wissenschaftlichen Ebenen a priori in ein System eingegliedert sind, in dem jede ihren eigenen, angestammten Platz hat, beschneidet die Wissenschaft, legt ihrer Praxis Schranken auf. Auch James, der sich später mit Münsterberg brieflich austauschte, geißelte diesem gegenüber den „unbedingten Willen zu einem System aus absoluten Prinzipien und ,Kategorien‘ “. James sah einen fundamentalen Gegensatz zwischen ihren beiden Standpunkten: „Wäre ich nicht so sicher“, schrieb er seinem Kollegen, dass die Welt groß genug ist, um viele verschiedene Denkrichtungen problemlos zu beherbergen und ihnen Raum zu geben, ich glaube, der große Abstand zwi­ schen Deinem ganzen Drang beim Philosophieren und dem meinen würde mich einigermaßen verzweifeln lassen. Ich finde es erfüllend, wenn die Natur frei und wild ist. Mir scheint, was Du liebst und willst, ist ein italienischer Garten, wo alle Dinge an ihrem eigenen abgetrennten Platz sind und man auf geraden Wegen laufen muss. (28. Juni 1906).

Dewey fand für diese wilde, ungezähmte Natur eine ganz passende poli­ tische Beschreibung: „Die Wissenschaft von heute wird demokratisch be­ trieben, darin besteht ihr Wesenszug, sie ist ein einziges Geben und Nehmen, ein Leben und Leben lassen.“ Liest man diese Argumente heute, gleichsam im späten Nachgang von Thomas Kuhns wissenschaftstheoretischem und wissenschaftsgeschichtli­ chem Werk, würde man vermuten, dass sich der pragmatistische Standpunkt schnell als die einzig vernünftige Wahl durchsetzte. Die damalige Ausein­ andersetzung erbrachte jedoch ein anderes Resultat, denn Münsterberg trug mit seinen fundamentalistischen erkenntnistheoretischen Ansichten offen­ sichtlich den Sieg davon. Sein Vorschlag hatte – vereinfacht gesagt – den

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entscheidenden Vorteil, dass er ein übergreifendes Organisationsschema vernünftig erscheinen ließ, das zumindest teilweise eine pragmatische Tren­ nung von seinem metaphysischen ,Überbau‘ erlaubte. Dewey hatte diese Entwicklung kommen sehen. Der Kongressplan, der sich schließlich heraus­ kristallisierte, beinhaltete mithin eine Aufgliederung der Wissenschaften in sieben Unterabteilungen – die ethisch-normative, die geschichtliche, physi­ kalische, geistige, utilitaristische, die regulative und die kulturelle. Willkür­ liche Zuweisungen und erzwungene Zusammenlegungen aber wurden durch die Aufteilung der Themen auf die 128 Sektionen nach Disziplinen vermie­ den. Der Plan sah gleichwohl ein Pflichtreferat vor, mit dem das spezielle Untersuchungsgebiet in einen größeren wissenschaftlichen Zusammenhang eingerückt werden sollte, und verlangte noch ein zweites Referat (mitunter auch ein weiteres), das dazu gedacht war, ein spezielles Forschungsproblem aufzuwerfen – die Erörterung sollte in der ,Theorie‘ ihren Ausgang nehmen und sich anschließend Fragen und Belangen der ,Praxis‘ zuwenden. Die Gremien, die über die Aufgabenverteilung zu entscheiden hatten, vergaben das erste Referat häufig an europäische Wissenschaftler, das zweite an ame­ rikanische. Argwöhnisch geworden, hielten sich Dewey, James und die anderen Prag­ matisten von den Geschehnissen in St. Louis fern, was eine bedauernswer­ te inhaltliche Schwächung für das ganze Unternehmen bedeutete; noch dazu wurde so die Gelegenheit verpasst, Wissenschaft und Forschung selbst zum Thema zu machen und öffentlich zu debattieren. Die Angesprochenen be­ fanden sich übrigens in guter Gesellschaft: von den eingeladenen Vertretern der Geistes- und Sozialwissenschaften sagten auch Georg Simmel, Henri Bergson, Émile Durkheim, Gabriel Tarde, Gustav Le Bon, Carl Menger und Eugen von Böhm-Bawerk ihre Teilnahme ab, wenngleich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gründe. Ein Blick auf den letztlich umgesetzten Kongressplan macht begreiflich, weshalb sich nicht wenige Redner bisweilen mit methodologischen Spitzfin­ digkeiten aufhielten oder, wie Weber und Troeltsch, den Gegenstand ihrer Referate neu bestimmten. Troeltschs eigentliches Thema war die Religions­ philosophie der Zeit; die handelte er zwar in ihren Umrissen ab, versuchte sich in diesem Rahmen jedoch an einer Neuformulierung ihrer Probleme, und zwar erstens in Auseinandersetzung mit den empirischen Untersuchun­ gen der Religionspsychologie in der Nachfolge James’ und zweitens in Form einer kritischen Neubewertung der Erkenntnistheorie Immanuel Kants. Weber, der über die „ländliche Gemeinschaft“ mit Bezug auf „andere Teil­ gebiete der Sozialwissenschaft“ sprechen sollte (während sein Berliner Kollege im Feld der Nationalökonomie Ignaz Jastrow das Gleiche für die „städtische Gemeinschaft“ tat), bestimmte seinerseits das Thema umgehend neu: nicht die ländliche Gemeinschaft, sondern die ländliche Gesellschaft,



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und nicht mit Bezug auf die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Diszi­ plinen, sondern mit Bezug auf die Stadt- und Industriegesellschaft. Weber, der sich mit den logischen und methodologischen Themen seiner Zeit auskannte, hätte sich ohne weiteres zu den wissenschaftstheoretischen Fragen äußern können, und vielleicht hätte er es auch getan, wenn er in die Auseinandersetzungen des Organisationskomitees eingeweiht gewesen wäre. In St. Louis aber vermied er die großen Fragen und begnügte sich damit, das ihm zugewiesene Thema kritisch und synoptisch abzuhandeln. Aller­ dings hatte er sich in diesem Jahr schon einschlägig zu Wort gemeldet; in seinem programmatischen Beitrag „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaft­ licher und sozialpolitischer Erkenntnis“, der die neue Redaktionspolitik des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik vorstellte, hatte er sich zu einigen Fragen und Problemen geäußert, die in den wissenschaftlichen Dis­ kussionen Verwirrung stifteten. In diesem im März 1904 veröffentlichten Aufsatz wendete sich Weber besonders scharf gegen die Vorstellung, nach der es sich bei der Kulturwissenschaft als der „Wissenschaft vom Kulturle­ ben“ um ein System von allgemeingültigen Gesetzen und endgültigen Glie­ derungen handelt, aus dem sich die Wirklichkeit deduzieren lasse und in dem die Psychologie für die Geistes- und die Sozialwissenschaften eine vergleichbare Rolle spiele wie die Mathematik für die Naturwissenschaften. Weber sagt zwar, dass die Unterschiede zwischen den Wissenschaften „nicht an sich derart prinzipielle sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Ohne Qualitäten kommen – von der reinen Mechanik abgesehen – auch die exak­ ten Naturwissenschaften nicht aus“. Dennoch aber verfehle eine „gesetzes­ wissenschaftliche“ Systematisierung, die wie die vorgeschlagene eine Ord­ nung unveränderlicher Verbindungen voraussetzt, gerade das, was an dem revolutionären Umbruch im westlichen kulturwissenschaftlichen Denken am deutlichsten und sinnfälligsten zutage trat – das Erkenntnisziel nämlich, die Erscheinungen des Lebens in ihrer geschichtlich gegebenen, aktuellen Ge­ stalt verstehend nachzuvollziehen. Weber beharrte darauf, Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft treiben zu wollen – das heißt, als eine experi­ mentelle Erforschung der immer neue Fragen aufwerfenden, weil uner­ schöpflichen Lebenswirklichkeit –, und das schloss für ihn ein, dass wissen­ schaftliche Erkenntnis eine Kulturleistung darstellt. Alle kultur- und sozial­ wissenschaftliche Erkenntnis, so könnte man diese Darlegungen zusammen­ fassen, hat einen kulturellen Zusammenhang zur Bedingung und setzt Vorstellungen und Ideen über das voraus, was als bedeutsam oder „wissens­ wert“ betrachtet wird – und so wollte er auch seine Behauptung verstanden wissen, wonach „wissenschaftliche Wahrheit“ nur ist, „was für alle gelten will, die Wahrheit wollen“. In seinem 1905 veröffentlichten Aufsatz über Wilhelm Roscher, Karl Knies und die Historische Schule der Nationalökonomie nahm Weber dann

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sogar ziemlich ausführlich und direkt Stellung zu Münsterbergs Ansichten, wobei die Kritik daran in der dichten und schwerfälligen Prosa des zweiten Teils leicht übersehen werden kann. Kern dieser Äußerungen ein Jahr nach dem Kongress von St. Louis ist seine verheerende Kritik an Münsterbergs Verwendung der Begriffe der „objektivierenden“ und „subjektivierenden“ Wissenschaften, wie etwa in seinem Programmentwurf für den Kongress. Weber zufolge stifteten diese begrifflichen Bemühungen nur Verwirrung und wären zum Scheitern verurteilt. Die Gründe dafür sind vielschichtig, lassen sich jedoch im Grunde auf drei reduzieren. Erstens: Die Unterscheidung fällt in sich zusammen, weil sie nicht zu erklären vermag, dass innerhalb einer Betrachtungsweise oder Forschungsmethode beide Arten des Erken­ nens und Verstehens zum Tragen kommen. Ein anschauliches Beispiel ist Münsterbergs Entscheidung, Psychologie und Soziologie zur Gänze den „objektivierenden“ Wissenschaften zuzuschlagen, zusammen mit der Physik und der Biologie, während er die politische Ökonomie, historische Natio­ nalökonomie und Geschichte in die Kategorie der „subjektivierenden“ ein­ ordnete. Eine solche Abgrenzung ergibt jedoch keinen Sinn, da jede Form, die Dinge zu betrachten und zu erforschen, sowohl mit „objektivierenden“ Begriffen, Hypothesen und Idealvorstellungen von einer angemessenen und hinreichenden Erklärung operiert als auch mit „subjektivierenden“ Fragen der Interpretation. Zweitens verzeichnet diese Terminologie das Wesen der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung, die Weber zufolge ausschließlich über die Konstruktion von „Idealtypen“ erfolgt, was wiederum ein komple­ xes Thema für sich ist. Und drittens liefert sie ein falsches Bild des Kern­ problems allen rationalen Forschens – nämlich genau zu benennen, worin die Eigentümlichkeit des Erkenntnisziels im Hinblick auf die vorliegende Problematik besteht. Die empirische ,Wissenschaft vom Wirklichen‘, die Weber in seiner Wissenschaftslehre verteidigte, bildet lediglich einen allge­ meinen Rahmen zur Orientierung in diesem Feld. Lässt sich Webers Kritik als Bekräftigung der von Small, Dewey und James vertretenen Positionen begreifen? Obgleich Weber methodologischen Fragen Beachtung schenkte, lehnte er es ab, dass „sachliche Probleme aus logischen Prinzipien heraus entschieden werden“, denn „das ergäbe eine Renaissance der Scholastik“, und diese Ablehnung teilte er sicherlich mit jenen amerikanischen Zeitgenossen. Doch auch sonst gibt es gute Gründe, in Weber einen, um James Kloppenburgs Fazit zu zitieren, „erkenntnistheo­ retischen Antifundamentalisten avant la lettre“ zu sehen, der in dieser Hin­ sicht Positionen zur Wissenschaft teilte, die denen von Dewey und James nahestanden, wenngleich diese das Thema ausführlich abhandelten. Es ist allgemein bekannt, mit welchem Nachdruck Weber darauf beharrte, dass der „Deutung“ in wissenschaftlichen Zusammenhängen unweigerlich ein großes Gewicht zukommt, zumal in solchen, in denen es um Bedeutungs- und



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Sinngehalte geht. Wohl weniger gewürdigt wurde in der amerikanischen Forschungsliteratur indes, dass er in seinen einschlägigen Reflexionen an vielen Stellen anerkennend zur Sprache bringt, dass die wissenschaftliche Erkenntnis der „Kulturwirklichkeit“ immer wieder an Grenzen stößt, dass sich kulturelle Werte unmöglich auf die Resultate solcher wissenschaftlichen Untersuchungen ‚gründen‘ lassen, dass Objektivität in diesem Bereich eine von „Gesichtspunkten“ eingeschränkte Objektivität und dass wissenschaft­ liche ,Wahrheit‘ kurzlebig ist. In Webers Werk gibt es keinen einheitlichen Wissenschafts-, Erkenntnisoder Wahrheitsbegriff. Diese Worte füllen sich erst durch das Wirken des Forschergeistes mit Inhalt, durch die konkreten Untersuchungen und durch die Standards, die innerhalb der Forschergemeinschaft Anerkennung finden. Der „Objektivitäts“-Aufsatz strotzt geradezu vor Warnungen wie dieser: „Nicht die ,sachlichen‘ Zusammenhänge der ,Dinge‘, sondern die gedank­ lichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissen­ schaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachge­ gangen wird und dadurch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeut­ same Gesichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue ,Wissenschaft‘.“ Zum Ende seines Textes hin treibt Weber die antifundamentalistische Erkenntnis­ position für die Sozialwissenschaften bis in die äußersten Konsequenzen: Die „  ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ beruhe nicht auf absoluten Kriterien oder empirisch geführten Geltungsbeweisen, schreibt Weber, vielmehr hänge sie davon ab: daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen, die ihr allein Erkennt­ niswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Gel­ tung gemacht wird. Und der uns allen in irgendeiner Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern, schließt die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein: das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt.

Das sind bemerkenswerte Äußerungen, und sie offenbaren die Art von Vertrauen auf die perspektivische Erkenntnis, die Weber mit dem Pragma­ tismus teilte. Von diesem gemeinsamen Standpunkt aus vermag die Wissen­ schaft in Gestalt der Kultur- und Sozialwissenschaften ihrem Geschäft nachzugehen, ohne sich die Last der Metaphysik aufzubürden – das heißt, ohne sich auf die Suche nach dem Absoluten oder den Universalien bege­

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ben zu müssen. Sie geht mit ihren Theorien und Hypothesen in Vorleistung und bereitet dem Denken den Weg. Diese sind Heuristiken, die nicht auf universale und unveränderliche ,Wahrheiten‘ abzielen, sondern auf verläss­ liche und belastbare Resultate und auf das Erreichen der Erkenntnisziele der Untersuchung. Letzte Gelegenheit für eine freiheitliche und große Entwicklung: der amerikanische Exzeptionalismus? Mit diesen Überlegungen zur Wissenschaft im Hinterkopf können wir uns erneut Webers Vortragthema in St. Louis zuwenden. Unmittelbar nachdem er es neu bestimmt hatte, erklärte er, dass im Großteil der industriellen und entwickelten Welt von heute keine „ländliche Gesellschaft“ mehr besteht, die von der städtischen getrennt wäre, ausgenommen vielleicht „in den Köpfen einiger Träumer“ in England – und, so ließe sich hinzufügen, auf dem europäischen Festland und auch in Nordamerika. Die Aussage nimmt sich auf den ersten Blick etwas überraschend aus. Warum behauptet Weber rigoros das Verschwinden der ländlichen Gesellschaft und was könnte uns das über sein Verständnis der Vereinigten Staaten sagen? Webers Vortrag in St. Louis zählt in gewisser Hinsicht zu den rätselhaf­ teren Stellungnahmen aus seiner Feder. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die originale deutsche Fassung, die Weber am Nachmittag des 21. Septem­ ber 1904 vortrug, ist nie veröffentlicht worden und wurde, wie das Manu­ skript von Wirtschaft und Gesellschaft, nie gefunden. Statt ihrer ist eine äußerst mangelhafte und begrifflich unzulängliche englische Übersetzung in den Kongressberichten erschienen, die den misslichen und irreführenden Titel „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ trug. Hans Gerth und C. Wright Mills versuchten sich an einer Verbesserung, kürzten den Titel zu „Capitalism and Rural Society in Ger­ many“, wobei diese Änderung noch immer nicht den Vergleichsrahmen berücksichtigte, den Weber für sein Thema gewählt hatte. Unlängst jedoch hat Peter Ghosh die Übersetzung minutiös erneuert und in eine Form ge­ bracht, die in punkto sprachlicher und begrifflicher Genauigkeit keine Wün­ sche offenlässt. Das Resultat ist insofern von großer Wichtigkeit, als wir nun klarer sehen, dass Webers eigentliches Thema die Auswirkung des Kapitalismus auf Entstehung und Entwicklung der modernen Landwirtschaft in Europa und Nordamerika ist, und zwar mit Bezug auf die städtischen Wirtschaftsverhältnisse, die Industrie, bestimmte Gesellschaftsbereiche und den modernen Staat. Fachsprachlich würde man heute sagen, dass der Text der an Umfang gewinnenden Debatte über die ,multiple modernities‘ oder die Vielfalt der Moderne zugehört.



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Der ganze mittlere Teil des Textes ist eine Wiederholung von früheren seiner Untersuchungen zur deutschen Landwirtschaft in ihrer Entwicklung, das Ganze aber ist umrahmt von einer Reihe von Ausführungen, die das europäische Festland, England und Nordamerika vergleichen. Ferner wird deutlich, dass der Vortag eine Übergangsstellung einnimmt: Er bildet eine Brücke zwischen Webers Untersuchungen zur Lage östlich der Elbe aus den 1890er Jahren und seinen neuen Interessen, wie sie in der Protestantischen Ethik entfaltet sind. Das verbindende Element ist der „Kapitalismus“, ge­ nauer gesagt die Frage nach den unterschiedlichen Auswirkungen der kapi­ talistischen Produktionsweisen auf Gesellschaft, Kultur, Politik und Staat. Diese Frage stand in engem Zusammenhang mit seiner Faszination für die amerikanische Gesellschaft, die mit von seinem Eindruck herrührte, dass die Vereinigten Staaten die einmalige Chance boten, Praxis und Kultur des modernen „rationalen“ Kapitalismus in besonders konzentrierter Form zu beobachten. Zunächst gab Weber eine allgemeine Antwort auf die Frage nach dem Verschwinden der „ländlichen Gesellschaft“, die auf jede Gesellschaft zu­ traf, die agrarwirtschaftlich den Übergang von den traditionellen Produkti­ onsweisen zu den kapitalistischen Formen und Verhältnissen der Produktion vollzogen hatte: Bei dieser Art des Wandels wird aus dem (in der Regel nicht ortsansässigen) Großgrundbesitzer ein Verpächter, aus dem Pächter ein Unternehmer oder Kapitalist, das Gut wird entweder von bezahlten Saison­ wanderarbeitern oder Tagelöhnern bewirtschaftet. „Zeitweise sind alle mit­ einander verbunden, dann gehen sie wieder auseinander“, hielt Weber fest und fügte hinzu, dass, wenn es in diesem Produktionssystem „eine spezifi­ sche gesellschaftliche Agrarfrage gibt, so ist es nur die, ob und wie die nicht mehr existierende ländliche Gemeinschaft oder Gesellschaft als starkes Dauergebilde wieder erstehen kann.“ Dazu könnte man ergänzend sagen, dass sich diese Entwicklung seitdem überall auf der Welt nur weiter verfes­ tigt hat und dass sich die Frage in dieser Hinsicht umso mehr stellt. In vielen Ländern waren die Verhältnisse ähnlich. In den USA aber waren die Voraussetzungen für eine tragfähige und rentable ländliche Gesellschaft aus speziellen geschichtlichen Gründen zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben, stattdessen hatten die kapitalistischen Produktionsver­ hältnisse den landwirtschaftlichen Sektor fest im Griff. Bei Weber heißt es: Die alte Stadt Neu-Englands, das mexikanische Dorf, die alte Sklavenplantage bestimmen die Physiognomie des Landes nicht mehr. Die speziellen Bedingungen, die die ersten Ansiedlungen in den Urwäldern und Prärien entstehen ließen, sind längst nicht mehr gegeben. Der amerikanische Farmer ist ein Unternehmer wie andere. Gewiß, es gibt zahlreiche landwirtschaftliche Probleme, meist technischer oder verkehrspolitischer Art, die ihre Rolle in der Politik gespielt haben und von amerikanischen Wissenschaftlern ausgezeichnet behandelt worden sind.

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Bisher aber gibt es noch keine spezifisch gesellschaftliche Agrarfrage. Und es hat sie nicht gegeben seit Abschaffung der Sklaverei und der Lösung der Frage, wie man über das riesige Siedlungsgebiet [im Westen], das in den Händen der Union lag, verfügen sollte. Die gegenwärtig schwierigen sozialen Probleme des Südens sind auch auf dem Lande wesentlich ethnischer, nicht wirtschaftlicher Art. Man kann keine Theorie der ländlichen Gemeinschaft als charakteristischer Sozialstruk­ tur auf Bewässerungsfragen gründen, auf problematische Frachtsätze, Siedlungs­ gesetze usw., wie wichtig auch immer diese Dinge sein mögen. Das mag in Zu­ kunft anders werden. Aber wenn irgendetwas charakteristisch ist für die ländlichen Verhältnisse der großen Weizen anbauenden Staaten Amerikas, so ist es, allgemein gesprochen, der absolute Wirtschaftsindividualismus des Farmers, seine Eigen­ schaft, reiner Geschäftsmann zu sein.

Zu den amerikanischen Wissenschaftlern, an die Weber gedacht haben dürfte, zählte sicherlich William Z. Ripley, Professor für Nationalökonomie in Harvard, dessen bekanntes Werk über die amerikanischen Eisenbahnen und die landesweite Transportpolitik gerade im Erscheinen begriffen war. Weber erwähnt ihn in seinen Briefen und hörte wohl auch dessen St. Lou­ iser Vortrag „Problems of Transportation“, den dieser im Anschluss an Eu­ gen von Philippovich hielt, jenen Ökonomen, dem Weber auf dem Wiener Lehrstuhl 1917 nachfolgen wird. Ripley erörterte im Detail, welche An­ strengungen nach dem Bürgerkrieg unternommenen worden waren, das Ei­ senbahnnetz auszubauen, welche Rolle die mächtigen Konzerne dabei spielten, wie sich der Wettbewerb zwischen den Teilbereichen gestaltete und welche Maßnahmen zur Regulierung des Handels zwischen den Bundesstaa­ ten ergriffen wurden – alle diese Dinge interessierten Weber als spezifische Aspekte der politischen Ökonomie des amerikanischen Kapitalismus. Zu Webers Darstellung und seiner Charakterisierung des Farmers als „reinen Geschäftsmann“ – Roosevelt hätte darin übrigens eine Auszeich­ nung gesehen und nicht mit Beifall gespart – ist zu sagen, dass er das In­ dividualistische einer solchen Existenz und den alten städtischen und dörf­ lichen Gemeinschaftszusammenhang Neu-Englands oder Mexikos ganz be­ wusst nebeneinanderstellte. Alexis de Tocqueville hatte im Zusammenhang mit dem Individualismus in Amerika davon gesprochen, dass er die Einzel­ nen voneinander absondere, jeden ständig auf sich zurückwerfe, mit dem Effekt, dass „das Gewebe der Zeit fortwährend zerrissen wird und die Spur der Geschlechter sich verwischt“. Der Individualismus hatte sowohl politi­ sche als auch kulturelle und sittlich-moralische Konsequenzen. Weber ging dessen ökonomischen Implikationen in seinen Ausführungen noch weiter nach, bis zu dem Punkt, wo er in dem selbstständigen unternehmerischen Farmer einen rational wirtschaftenden Landwirt erkannte. Mochte diese Sozialstruktur für die Amerikaner etwas Selbstverständliches gewesen sein – die kontinentaleuropäischen Verhältnisse waren doch ganz andere und die Bauern keine Farmer im amerikanischen Sinne: „Eine eigentüm­



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liche Kombination von Einflussfaktoren ist in diesen alten Ländern wirk­ sam, die ihre Abweichung von den amerikanischen Zuständen erklärt“. Webers Bemühungen um die Ermittlung dieser „eigentümliche Kombina­ tion von Einflussfaktoren“ – diese Wortwahl ist charakteristisch für seine Art zu denken – bilden das Zentrum seines Aufsatzes. Dass Europa eine „Ausnahme“ zu Amerika darstelle, war ohne Zweifel ein neuer Ansatz, ihre Beziehung zu überdenken, der jedoch vor dem Hintergrund von Webers Annahme, dass die Auswirkungen des Kapitalismus in den Vereinigten Staa­ ten aus historischen Gründen stärker zum Tragen kamen, einleuchtet. In jedem Fall lässt sich die Beziehung zwischen Europa und Amerika in beide Richtungen untersuchen; zur Erklärung des Unterschieds bedarf es einzig der historischen Genauigkeit. Das Ergebnis dieser Genauigkeit bei Weber ist eine interessante Reflektion über die geschichtliche Identität Amerikas, auf­ gezeigt anhand des Vergleichs mit Europa. Einige der Einflussfaktoren waren ohne Weiteres auszumachen und hatten mit der Demographie und der Möglichkeit des Landerwerbs zu tun – klei­ nere und dicht bevölkerte Länder auf der einen Seite, größere und wenig besiedelte auf der anderen –, die wiederum mit der Stärke der historischen Tradition und mit der ,Kultur‘ einer Nation in Zusammenhang standen. In den kleineren und dichter bevölkerten Ländern Europas – Deutschland war kleiner als Texas, wurde aber von fast ebenso vielen Menschen bewohnt wie die USA, brachte Weber seinem Publikum in Erinnerung – hatte die Verteilung von Grund und Boden entscheidende Bedeutung für die soziale Schichtung und stärkte die „Macht der Tradition“. Auf dieser Grundlage konnte sich eine Landbevölkerung herausbilden und ein Bauernstand, der für den eigenen Bedarf produzierte. Die gegensätzlichen Bedingungen in Nordamerika brachten den selbstständigen Farmer hervor, der für den Markt produzierte und den Marktkräften ausgesetzt war, ohne durch die traditio­ nellen und quasi-rechtlichen Abhängigkeiten gebunden zu sein. Demnach „ist der Markt in Amerika älter als der Produzent“, in Europa hingegen jünger. Dem ließe sich hinzufügen, dass diese historisch gewachsenen Un­ terschiede und die Auswirkungen des Kapitalismus dafür verantwortlich sind, dass die Marktkräfte in Nordamerika (und in England) wohlwollender wahrgenommen werden, während auf dem europäischen Kontinent diesbe­ züglich größere Skepsis herrscht. Ein weiterer offensichtlicher Unterschied bestand darin, dass der Erbadel in Amerika vor der Unabhängigkeit eine verhältnismäßig geringe Rolle spielte und Lehenspraktiken entsprechend relativ selten waren, worauf auch Tocqueville hingewiesen hatte. Weber allerdings komplizierte die übliche Verallgemeinerung auf interessante Weise, denn seiner Wahrnehmung nach verlief die Front zwischen dem auf Gewinnstreben ausgerichteten Kapitalis­

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mus und geschichtlichen, in einer Kultur verwurzelten Traditionen, deren Einfluss dieser zu „zersetzen“ suchte: Der Konflikt zwischen Kapitalismus und Tradition erhält nun eine politische Fär­ bung, denn es erhebt sich die Frage, ob die wirtschaftliche und politische Macht endgültig in die Hände des städtischen Kapitalismus übergehen soll, ob die klei­ nen ländlichen Zentren politischen und geistigen Lebens mit ihrer eigentümlich gefärbten Gesellschaftskultur verfallen und die Städte als alleinige Träger politi­ scher, gesellschaftlicher und künstlerischer Kultur das Kampffeld behaupten sol­ len. Und diese Frage ist identisch mit der, ob Leute, die für die Politik und den Staat leben konnten, wie der alte wirtschaftlich unabhängige Landadel, ersetzt werden sollen durch die ausschließliche Herrschaft von Berufspolitikern, die von der Politik und vom Staate leben müssen. In den Vereinigten Staaten ist diese Frage, jedenfalls für die Gegenwart, durch einen der blutigsten Kriege der Neuzeit entschieden worden, der mit der Zerstörung der aristokratischen, gesellschaft­ lichen und politischen Zentren der ländlichen Gebiete endete. Selbst in Amerika, mit seinen demokratischen Traditionen, die der Puritanismus als dauerndes Ver­ mächtnis hinterließ, war der Sieg über die Pflanzeraristokratie schwierig und wurde [nur] mit großen politischen und sozialen Opfern gewonnen. Aber in den alten Kulturländern liegen die Dinge sehr viel komplizierter. Denn dort ruft der Kampf zwischen der Macht geschichtlicher Überlieferung und dem Druck kapita­ listischer Interessen soziale Kräfte als Gegner des bürgerlichen Kapitalismus auf den Plan, die in den Vereinigten Staaten teils unbekannt waren oder zum Teil auf Seiten der Nordstaaten standen.

Anders gesagt ereignete sich der Kampf, in dem es die ,demokratischen Traditionen‘ – Weber zufolge eine Hinterlassenschaft des Puritanismus – mit dem ,aristokratischen Traditionalismus‘ aufnahmen, innerhalb der ame­ rikanischen Gesellschaft, und die Entscheidung dieses Kampfes im Bürger­ krieg war der Anstoß dafür, dass die amerikanische Gesellschaft sich in Richtung „bürgerlichem Kapitalismus“ entwickelte. Die Niederlage des Traditionalismus bedeutete das Ende für den reaktionären Antikapitalismus, außer als nostalgische Sehnsucht nach einer verschwindenden Lebensord­ nung. Sie bedeutete auch, dass eine neue Art der Politik entstand, die von Berufspolitikern in den Städten gemacht wurde und in welcher der Natio­ nalstaat immer mehr an Stärke gewann. In Europa war die von Weber so­ genannte „Rückständigkeit“ – eine ältere Form der ländlichen Gemeinschaft und Lebensordnung – noch immer gesellschaftlich verankert, wohingegen sie es unter den amerikanischen Bedingungen lediglich dazu brachte, Bilder einer idealisierten Vergangenheit zu entwerfen – wie etwa das vom Old South und der lost cause. Zudem vertraten die gesellschaftlichen Kräfte und sozialen Schichten, für die Weber das größte Interesse zeigte – die Intellek­ tuellen, die Kirche und die Sekten sowie die Arbeiterschaft – in der Regel unterschiedliche Positionen zur ,sozialen Frage‘. In Amerika war es um die Chancen auf ein Bündnis der Art, wie man es in Europa zwischen den Verfechtern von Tradition und traditioneller Gemeinschaft, den Verteidiger



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der Kultur, und den Unterstützern der proletarischen, gegen den Kapitalis­ mus gerichteten Sozialbewegungen finden konnte, viel schlechter bestellt, wofür Weber diverse Gründe anführte: hohe soziale Mobilität, Ausdehnung nach Westen, einfacher Landerwerb, die Einwanderungsdemographie, auf­ kommende ethnischen Spannungen, der Umstand, dass es kein stehendes Heer gab, das sich auf die allgemeine männliche Wehrpflicht stützte, und – am wichtigsten – eine Idee, die in seinem Denken langsam feste Gestalt annahm: die Mächtigkeit, der große Einfluss der religiösen Glaubensge­ meinschaften, der Sekten. Diese gesellschaftlichen und geschichtlichen Unterschiede führten Weber zu einem überraschenden Resultat – dass nämlich „der europäische Kapita­ lismus, wenigstens auf dem Kontinent, infolge all dieser Einflüsse ein ei­ gentümlich autoritäres Gepräge hat, das im Gegensatz steht zur bürgerlichen Gleichberechtigung und gewöhnlich deutlich von Amerikanern empfunden wird.“ Auf dem europäischen Festland war der Kapitalismus zu einer uner­ betenen Zumutung geworden, zu einer fortgesetzten Bedrohung der verlore­ nen Unabhängigkeit für die Privilegierten und zu einer fremden und ausbeu­ terischen Kraft für die Benachteiligten. Abgewandelt könnte man sagen, dass die Kultur des Kapitalismus von den sozialen Gruppen in Nordamerika anders erlebt wurde. Das eine kapitalistische Produktions- und Austausch­ system war nicht gleich das andere; sie unterschieden sich in dem, was sie für die Menschen bedeuteten. Wenn Amerikaner in Europa sind, erleben sie den Unterschied und fragen sich, warum Kontinentaleuropäer den Kapitalis­ mus ,missverstanden‘ haben. Die formalen Mindestvoraussetzungen für eine allgemeingültige volks­ wirtschaftliche Kapitalismusdefinition lassen sich ohne Schwierigkeit anfüh­ ren – Produktion für einen freien Markt, formell ,freie‘ Lohnarbeit sowie Rationalisierung der Produktionsfaktoren zur Erzielung eines dauerhaften Profits. Doch die historischen Umstände, unter denen die real existierenden kapitalistischen Produktionsweisen eingeführt wurden, und die gesellschaft­ lichen Kräfte erzeugten eine paradoxe Konstellation: In Amerika verband sich die Kultur des Kapitalismus mit der Rechts- und Chancengleichheit und einem Gefühl der Freiheit von autoritären Traditionen; in Europa hin­ gegen verband sie sich mit einer als aufgezwungen, entfremdend und aus­ beuterisch erfahrenen Rationalisierung des Lebens. Zu diesem Paradox ge­ hört, dass es im ersten Fall so wirkt, als arbeitete der moderne Kapitalismus Hand in Hand mit der ,Demokratie‘ oder der Demokratisierung, im zweiten aber, als beförderte er eine Art modernisierenden Autoritarismus. In St. Louis sprach Webers überspannter Doppelgänger Werner Sombart tags darauf nur über einen Aspekt dieser „Kombination von Einflussfakto­ ren“: das Industrieproletariat und die Aussichten für den Widerstand gegen

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den Kapitalismus, speziell mit Blick auf „die europäischen Verhältnisse“, wie er sagte. In seiner kurzen Randbemerkung zu Marx’ Theorien und zur Macht der Technik zeichnete sich bereits die These ab, die er in Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? voll entfalten wird. Som­ barts Text, mit dessen Abfassung er unmittelbar im Anschluss an seine Rückkehr nach Deutschland begann, lässt sich zuschreiben, dass er die moderne Erörterung des amerikanischen ,Exzeptionalismus‘ angestoßen hat, wobei sich der Gedanke selbst schon in Tocquevilles Betrachtungen über New York finden lässt. Die Ansicht, wonach der revolutionäre Sozialismus schon im Ansatz an Wohlstand, Aufstiegschancen und sozialer Mobilität scheiterte oder (in Sombarts griffiger Formulierung) an „Roastbeef und Apple Pie zuschanden wurde“, war im 19. Jahrhundert nicht neu. Sombarts Leistung bestand darin, sie bekannt und in den Stand eines Erklärungsprin­ zips erhoben zu haben, veranschaulicht an Beispielen aus Amerika. Weber blieb stets auf Distanz zu Sombarts Behauptungen; obgleich er nie eine explizite Gegenthese vorlegte, entwickelte er doch eine andere Sicht auf die Dinge. Schon in seinem St. Louiser Vortrag machte er auf Entwick­ lungen aufmerksam, die dem Vorschub leisten würden, was er verschiedent­ lich als die „Europäisierung“ des amerikanischen Lebens bezeichnete: die ausgedehnte Macht des Staates – eine Folge, gewollt oder ungewollt, der progressiven Reformen von Stadtverwaltung und öffentlichem Dienst, doch ebenso ein Ergebnis der Reaktion vonseiten der Politik auf die Risiken und Gefahren, die mit dem enthemmten Wettbewerb um die knappen Rohstoffe einhergingen. Man dürfe nicht vergessen, so Weber „daß die Siedehitze der kapitalistischen Kultur mit dem unbekümmerten Abbau und Verbrauch un­ ersetzlicher Bodenschätze zusammenhängt. Wie lange der Kohle- und Erz­ vorrat noch vorhalten wird, ist gegenwärtig schwer zu bestimmen. Die Nutzung neuer Produktivkräfte und Böden wird [jedoch] auch in Amerika bald ihr Ende erreichen. In Europa gibt es kein Neuland mehr.“ Die „Irrationalität“ der kapitalistischen Aneignung, die völlig ohne Regu­ lierung ablief, erhöhte den Druck auf den Staat, steuernd einzugreifen. Der Schutz des öffentlichen Interesses konnte mithin zur Staatsaufgabe werden, man denke etwa an die Kampagne Roosevelts, der sich damals für den Schutz öffentlichen Landes und die Reglementierung monopolistischer Kar­ telle starkmachte. Die gleiche Eingriffsdynamik konnte fast jeden Bereich in der modernen Wirtschaft erfassen, von der Agrarpolitik bis zur Arbeitsund Sozialfürsorgegesetzgebung. Tocqueville hatte bereits vorausgesehen, dass Industrialisierung und die Schaffung von Wohlstand eine neue soziale Schicht Privilegierter entstehen lassen würden. In den Analysen um die Jahrhundertwende wurde diese Schicht mit dem Vorzeigen von Standesbewusstsein, mit Konsum und



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Wohltätigkeit assoziiert – Weber selbst bezeichnete diese Entwicklung als „Feudalisierung“ des Kapitals. Wie einige amerikanische Autoren, etwa Thorstein Veblen in The Theory of the Leisure Class oder William Ghent in seiner zeitdiagnostischen Abhandlung Our Benevolent Feudalism, rechnete auch Weber damit, dass sich ein „neuer Adel“ herausbilden würde – „wahr­ scheinlich nicht dem Namen nach, aber de facto“ –, ein auf dem Reichtum gegründeter und nach Besitzstandswahrung strebender Geldadel gleichsam, wodurch die ältesten Formen sozioökonomischer Konflikte in einem neuen Umfeld wiedererstehen würden. Amerika könne der in Europa so drängen­ den „sozialen Frage“ nicht entgehen, die sich aufgrund des ähnlichen Ver­ laufs von Industrialisierung und Urbanisierung zwangsläufig auch hier erhe­ ben werde. Aus diesem Grund beschloss er seine Rede mit folgenden Überlegungen: Andererseits werden die Probleme, an deren Lösung wir gegenwärtig arbeiten, zum größten Teil auch an Amerika in nur wenigen Generationen herantreten; die Art und Weise ihrer Lösung wird den Charakter der zukünftigen Kultur auf die­ sem Kontinent bestimmen. Vielleicht war es einer Nation noch nie zuvor in der Geschichte so leicht gemacht wie dem amerikanischen Volk, eine große Kulturna­ tion zu werden. Aber menschlichem Ermessen nach ist es auch zum letzten Mal in der Menschheitsgeschichte, daß solche Bedingungen für eine freiheitliche und große Entwicklung gegeben sind, die Gebiete brachliegenden, herrenlosen Bodens verschwinden jetzt überall auf der Welt.

Das „wir“ in dieser Äußerung bezog sich auf „die entschiedenen Anhän­ ger demokratischer Einrichtungen“ – zu denen sich Weber selbst ausdrück­ lich rechnete. Aus diesem Blickwinkel waren die beiden für Amerika allem Anschein nach eigentümlichen Faktoren – wenngleich mit teilweisen Ent­ sprechungen in den Randzonen Kontinentaleuropas –, die sich langfristig auswirken würden, die Einwanderung und die Rasse oder Ethnienfrage. Weber traf über beide keine Voraussagen. Er deutete in St. Louis nur an, dass es im Zusammenhang mit der Einwanderung darauf ankommen werde, wie die „Assimilierung“ an die „geschichtlich überlieferte“ Kultur des Lan­ des über die sich verändernden Generationen gelingt. Die Rasse war ein eigenes Thema, zu dem er sich an anderer Stelle ausführlich äußern wird. Weber hatte ein ebenso wachsames Auge auf jene Entwicklungen, die zu dem von ihm ausgemachten und später als „Amerikanisierung“ Europas bezeichneten Geschehen beitragen könnten: Demokratisierung der öffent­ lichen Sphäre, Zusammenbrechen der traditionellen Klassenstruktur, Her­ vortreten des kulturellen „Lebensstils“ anstelle der traditionellen sozialen Klasse als einer Form der sozialen Differenzierung und die Tendenz, die drückende Last der Tradition dadurch loszuwerden, dass man sich von der magnetischen Anziehungskraft des Kapitalismus und seinen Verlockungen fortreißen ließ. Dies aber waren noch Zukunftsthemen.

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Einen wichtigen Teil dieser Zukunft bildete die Auseinandersetzung mit den religiösen Sekten, jener anderen Seite von Amerikas Sonderstellung, der er sich nach St. Louis zuwandte und die ihn lange beschäftigen wird. In St. Louis ergriff Weber das Wort als Nationalökonom, der den verschiedenen voneinander abweichenden Erscheinungsformen des modernen Kapitalismus auf beiden Seiten des Atlantiks nachspürte. Die Dinge aber, die ihn in je­ nem Herbst besonders beschäftigten, waren etwas außerhalb der National­ ökonomie im üblichen Sinne angesiedelt: die Frage der religiösen Ethiken, der ,Geist‘ des Kapitalismus und die Möglichkeit eines im Verborgenen liegenden, dennoch aber fundamentalen Zusammenhangs zwischen beiden, der in den asketischen Praktiken der Sekten zutage trat. Mit diesem Thema griff er ältere Interessen wieder auf, erweiterte sie jedoch im breiteren neu­ en Horizont der Beobachtungen und Erfahrungen in Amerika. Die neue Problematik verlangte auch eine ganz andere Art von Text: „Die Berufsethik des asketischen Protestantismus“, die den zweiten Teil von Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus bildete und die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb. Politik mit der Kunst Der Congress of Arts and Science war nur eine relativ bescheidene Episo­ de im großen Rahmen der weltumfassenden Ausstellung, die im April mit einjähriger Verspätung eröffnet worden war. Die erste Weltmesse dieser Art hatte 1893 in Chicago stattgefunden, gefolgt von Paris im Jahre 1900; die nationalen Regierungen hatten in der Organisierung einer internationalen Ausstellung eine Möglichkeit gesehen, die Wettbewerbsfähigkeit ihres Lan­ des unter Beweis zu stellen und ihm einen geldwerten Vorteil zu sichern – es war eine Art politischer Wettstreit mit anderen Mitteln, der etwas von den Olympischen Spielen unserer Tage an sich hatte. In dieser Hinsicht unter­ schied sich St. Louis nicht von Chicago oder Paris, wenngleich die Vereinig­ ten Staaten 1904 ein Interesse daran hatten, Erfolge zur Schau zu stellen, die dem zur Imperialmacht aufgestiegenen Land würdig waren. Um also das jüngst erworbene Reich herauszuheben und zu preisen, zeigte die Weltaus­ stellung ein riesiges philippinisches Exponat, das zur Feier der neuen Freihei­ ten und zur Kaschierung eines grausamen Guerillakrieges entworfen worden war, während außerdem eine Reihe fragwürdiger Veranstaltungen stattfan­ den, wie etwa jene, bei der Stammesangehörige der Igorot aus dem nörd­ lichen Teil der Insel Luzon James Bryce mit „Way Down Upon the Swannee River“ und „My Old Kentucky Home“ ein Ständchen brachten. An allen Schauplätzen war zu spüren, dass die Nationen miteinander ri­ valisierten, im Bereich der Technik wie bei den angewandten Wissenschaf­



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ten und genauso im Kunst- und Kultursektor. Bei der bildenden Kunst und Malerei kam es aufgrund von Uneinigkeit über die Beurteilungsmaßstäbe auch intern zu Rivalitäten, was der Anwendung außerkünstlerischer Kriteri­ en bei Ausrichtung und Auswahl der nationalen Exponate Vorschub leistete. Für die deutschen Organisatoren, Aussteller, Künstler- und Kunstgewerbe­ gruppen bedeutete dies, dass die Ausstellungsplanung unmittelbar von der politischen Auseinandersetzung über die deutsche Kunst und Gestaltung eingeholt wurde, so dass sich die modernen und sezessionistischen Künstler mit den offiziellen Kunstakademien und den Verteidigern der Tradition, zu denen Kaiser Wilhelm II. selbst gehörte, überwarfen. Peter Paret hat in seiner Untersuchung des Modernismus im wilhelmini­ schen Deutschland en detail geschildert, welche Kräfte an der Vorbereitung der Ausstellung beteiligt waren: auf der einen Seite die nationale Kunstgenossenschaft und ihr Präsident Anton von Werner, der Favorit des Hofes und eines der führenden Mitglieder der Preußischen Akademie der Künste und ihrer Schule; und auf der anderen Seite die regionalen sezessionisti­ schen Bewegungen und Künstler wie Max Liebermann, Lovis Corinth und Käthe Kollwitz. Kunstimmanent oder stilgeschichtlich betrachtet verlief die Scheidelinie zwischen dem von offizieller Seite gebilligten akademischen Realismus und dem Experimentieren, Impressionismus, Ästhetizismus und der mitunter politisch engagierten Kunst der modernen Gegenkultur. Daraus ergab sich ein explosives Gemisch aus rivalisierenden Positionen, wobei man hinzufügen muss, dass Wilhelms Feindseligkeit gegenüber der moder­ nen Kunst bekannt war und von ihm selbst energisch zum Ausdruck ge­ bracht wurde. In dieser Gemengelage wurde aus jeder innovativen Bemü­ hung im Feld der Kunst ein politisches Statement, das die bestehende Re­ gierungsform als ,Ein-Personen-Regime‘ entlarvte, als eine Grundordnung mithin, gegen die Weber zunehmend polemisierte. Als die Künstlergemein­ schaft in Sachen St. Louis mobilmachte, gelang es dem offiziell als Reichs­ bevollmächtigten eingesetzten Theodor Lewald mit Unterstützung seines amerikanischen Gegenübers Professor Halsey C. Ives, eine Zeit lang im Konflikt zu vermitteln. Lewald ging es darum, den Kreis der Mitwirkenden um Repräsentanten unterschiedlicher Schulen, künstlerischer Organisationen und Landesteile zu erweitern. Erfolg war ihm dabei nicht beschieden, weil Wilhelm II. und Werner die Auseinandersetzung zu seinen Ungunsten ent­ schieden. Wie offiziell verlautete, wurde der deutsche Beitrag zur Ausstel­ lung nach traditionellen und der orthodoxen Ästhetik entsprechenden Ge­ sichtspunkten ausgewählt, und so kam es, dass er „fast nur aus mittelmäßi­ gen und minderwertigen Gemälden bestand“, wie Paret festhielt. Was für die Wissenschaft galt, galt teilweise auch für die Kunst: Die Künstler der Sezession und ihre Anhänger blieben St. Louis genauso fern wie die Pragmatisten. Unter den Malern befand sich mit Max Schlichting,

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den Weber auf der Überfahrt kennengelernt hatte, ein einziger Impressionist. Mit Blick auf die Kunst im Allgemeinen gab es jedoch noch eine weitere, äußerst wichtige Ausnahme zu verzeichnen, bei der die Kontrolle der deut­ schen Autoritäten offensichtlich nicht funktioniert hatte: die Rede ist von den Künstlern, Gestaltern, Architekten und einstigen Verfechtern des Jugendstils in den angewandten Künsten oder im Kunstgewerbe, den Vorrei­ tern und Begründern von Werkbund und Bauhaus. Ihr Werk wurde in St. Louis gezeigt, allerdings nicht bei den bildenden Künsten, sondern in der Abteilung für „verschiedenste Branchen“. Dort konnte man auf die außer­ gewöhnlichen jungen Talente der modernen Bewegung treffen: auf Peter Behrens, Max Laeuger, Bruno Paul, Joseph Maria Olbrich, Richard Riemer­ schmid und noch eine ganze Reihe anderer. Ihr Werk war originell und kühn, ein großer gestalterischer Wurf, der dem Publikum als ein ästhetischer Gesamtentwurf präsentiert wurde. Er sorgte für allerhand Aufregung. Marianne Weber fühlte sich von diesen Ausstellungsstücken angesprochen und angezogen. Sie hatte nicht nur ein waches Auge für die Wolkenkratzer New Yorks und Chicagos oder für Frederick Law Olmsteds Entwurf der Stadtlandschaft Buffalos, sondern auch für die aktuellen Ausdrucksformen der ästhetischen Moderne. Ihre Äußerungen zu den künstlerischen und kunstgewerblichen Exponaten und architektonischen Interieurs im ,Bran­ chen-Gebäude‘ waren besonders aufschlussreich: In der Ausstellung ist über Erwarten viel Schönes zu sehen, – das weitaus Schöns­ te aber sind die von den deutschen Künstlern ausgestellten Zimmer u. kunstge­ werblichen Gegenstände. Während wir noch bis vor 10 Jahren in diesen Dingen hinter den anderen Nationen zurückstanden, nehmen wir jetzt in Geschmacksfra­ gen entschieden den ersten Platz ein, u. die modernen Künstler, namentlich die Darmstädter haben wirklich einen eigenartigen u. neuen Styl gefunden, der einem den Wunsch nach Renaissance- oder gothischen Möbeln einschlafen läßt. Die Formen sind möglichst zweckmäßig und schlicht, ohne jede erhabene Verzie­ rung, also sehr angenehm zum Staubwischen. – Alles ist auf die Farbe abgestimmt und die Kombination zwischen den verschieden gefärbten, manchmal auch einge­ legten Hölzern, den Farben des Polsters, der Wandtäfelung von Decken und Teppichen ist über alle Maßen ästhetisch befriedigend. Die künstlerische Pointe besteht auch darin, die Möbel auf einen bestimmten Raum abzupassen und die Fenster in jedem Zimmer individuell in Form und Farbe zu gestalten. Überhaupt sind alle kunstgewerblichen Sachen der Deutschen schön und dabei so wundervoll zu einem Gesamtbilde arrangiert, daß jede andere Nation weit dahinter zurück­ steht, was auch bereitwillig von allen Seiten anerkannt wird. Ich hoffe in diesen Tagen noch manches zu sehen, werde aber wohl immer wieder zur deutschen Abteilung zurückgehen. (27. September; NMW)

Mit keinem Wort erwähnte sie die offizielle, fast ausschließlich aus den anerkannten Akademien stammende gegenständliche Malerei und Bildhaue­ rei im Komplex für die bildende Kunst. Welche Anziehungskraft von der



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Orthodoxie einmal auch ausgegangen sein mochte, sie hatte sie mittlerweile eingebüßt. Mariannes Nationalstolz – ihr „liberaler Nationalismus“, wie Guenther Roth ihn nannte – tritt in Wendungen wie dieser zutage. Doch sie offenba­ ren genauso ihr Gespür für die Wirkung der aus dem GesamtkunstwerkGedanken hervorgegangenen Kunst und kunstgewerblichen Formgestaltung und für die Alltagsdinge neuen Stils. Mit den „Darmstädtern“ meinte sie in erster Linie die Mitbegründer und Mitgestalter der von Großherzog Ernst Ludwig ins Leben gerufenen Künstlerkolonie, Olbrich und Behrens; Olbrich steuerte die Pläne für eine Installation aus sechs Räumen bei, die einen Hof einfassten, Behrens die Gestaltung eines spektakulären Lesesaals. Mit ihrem Urteil befand Marianne sich in prominenter und fachmännischer Gesell­ schaft: Frank Lloyd Wright sah die Ausstellung und zeigte sich ähnlich begeistert für die im Branchen-Gebäude ausgestellten Exponate, besonders für die von Olbrich entworfenen Räumlichkeiten samt Hof. Wright ermutig­ te einige Mitarbeiter seines in Illinois gelegenen Oak Park Studios, die In­ stallationen selbst in Augenschein zu nehmen, für einen seiner Assistenten übernahm er sogar die Fahrtkosten. Als er 1909 nach Europa kam, war ihm sehr daran gelegen, mit Olbrich zusammenzutreffen; unglücklicherweise war dieser gerade verstorben. Wright sah sich dessen Arbeiten auf der Mat­ hildenhöhe trotzdem an. Es ist nicht schwer, Elemente einer gemeinsamen Vision in Formgestaltung, symbolischer Bildersprache und architektonischer Handschrift dieser Modernen ausfindig zu machen, wie Anthony Alfonsin, einer von Wrights Biographen, herausstellte. Betrachtet man Behrends dra­ matische und kraftvolle geometrische Konstruktionen, muss man unweiger­ lich an Wrights ganz ähnliche Innenräume denken. In jenen Jahren vor der Bildung des Werkbundes (1907) durch Olbrich, Behrens, Riemerschmidt und andere kam es zu einem Bruch in der offizi­ ellen Kulturpolitik, der von den Berliner Ministerien Wilhelm II. ausging und der von der Forschung bislang vernachlässigt wurde. Während die se­ zessionistischen Maler angesichts der ihnen vonseiten der Obrigkeit entge­ genschlagenden Feindseligkeit und der Differenzen mit den staatlichen Akademien und einflussreichen Figuren wie Anton von Werner zuhause blieben, konnten die Vertreter des Modernismus in den Künsten und im Kunstgewerbe, in Gestaltung und Architektur einen Erfolg für sich verbu­ chen. Mitermöglicht wurde dieser Erfolg durch die Arbeitsfreiheit, die au­ ßerhalb des Einflussbereichs der höfischen Patronage herrschte. Die besten Beobachter wie Wright, Hermann Muthesius oder Friedrich von Thiersch begriffen, dass in diesem Feld freien, ungehinderten Wirkens die neue Ein­ fachheit und Klarheit der Auffassung die organische Filigranarbeit und die kunstvollen Figuren des Jugenstils hinter sich gelassen hatten. Etwas ande­ res war entstanden – einfacher und klarer, unterstrich es die Funktionalität

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und legte den Akzent auf die Verwendung des Ornaments als ein tektoni­ sches Element. Diese Form des Modernismus bedeutete einen wichtigen Schritt hin zu einer schlichteren Ästhetik, zu einer überzeugenden Konver­ genz von Funktion und Form. Hier machten sich jene Entwicklungen und Prozesse bemerkbar, die Weber als Gegenstände für sein Schreiben zu ent­ decken begann und als Rationalisierung des ästhetischen Lebensbereichs zu fassen suchte. Geschlecht und Bildung, Erziehung und Autorität In St. Louis genossen die Webers die Gastfreundschaft von August und Willamina Gehner, in deren Villa am Lindell Boulevard sie sich einquartiert hatten; diese befand sich in unmittelbarer Nähe zum Wohnsitz des Bürger­ meisters (der James Bryce beherbergte) und war nur einen kurzen Fußmarsch vom Eingang zur Weltmesse entfernt. Bei Gehner handelte es sich um einen in Hannover geborenen deutschen Einwanderer, der als Jugend­licher nach St. Louis gekommen, bald darauf als 16-Jähriger in die Unionsarmee einge­ treten war und seinen Dienst bis zum Ende des Bürgerkriegs in der First Missouri Light Artillery verrichtet hatte. Im Anschluss hatte er ein Immobi­ lienbüro eröffnet, war Bankier und Finanzier geworden und hatte der deutschamerikanischen Bank of St. Louis vorgestanden. In einer Veröffentlichung der Stadt wurde er als „einer unserer bedeutendsten und besonders sozial gesinnten Bürger“ gepriesen. „Es gibt keine Bewegung, an deren Spitze er sich nicht setzt, wobei er immer auf das Fortkommen von St. Louis bedacht ist; nie steht er zurück, wenn es darum geht, Zeit, Einfluss und Geld für Pro­ jekte einzusetzen, die zum Wohl und Nutzen der Gemeinschaft initiiert wur­ den. Er ist einer der umtriebigsten Menschen und seine Fähigkeit, sich für die zahlreichen Belange einzusetzen, die ihm am Herzen liegen, empfiehlt ihn uns als einen Mann von großartiger Geisteskraft und erstaunlichem Leis­ tungsvermögen.“ Weber brachte Gehners amerikanischen Persönlichkeitstyp auf die damals übliche Formel vom „self-made man“; ein Leitgedanke, der uns in seinen Äußerungen immer wieder begegnet. Die Webers zeigten sich beeindruckt vom Hausstand der Gehners – noch mehr Marianne, der die gleichberechtigten Geschlechterbeziehungen in der Familie imponierten. Pauline, die am College ausgebildete Tochter der Geh­ ners, hatte kürzlich einen gewissen Frank Mesker geheiratet, den Sohn holländischer Immigranten, den der Globe-Democrat als „guten Fang“ be­ zeichnet hatte. Marianne schien der gleichen Meinung gewesen zu sein. Sein Familienunternehmen, die Mesker Brothers Eisenwerke, hatte sich durch die Einführung einer Linie von Geschäftsfassaden aus Metallblech, die im Mittleren Westen in großem Umfang abgesetzt wurden, eine führen­



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de Position in der Eisen- und Stahlproduktion erarbeitet – ein weiteres Beispiel für das erfolgreiche Engagement Einzelner. Diese unternehmerische Initiative einer Familie der oberen Mittelschicht, die den von Einwanderern gebildeten „self-made“-Geschäftskreisen angehörte, stand in aufschlussrei­ chem Kontrast zum Leben von Margarethe und Hans Haupt – die die We­ bers auf ihrem Weg nach St. Louis in North Tonawanda besucht hatten –, die Frage der Frauenarbeit und Frauenbildung stellte sich jedoch in beiden Milieus gleichermaßen, wie Marianne festhielt. Sie nutzte die Woche bei den Gehners, um Material zusammenzutragen, das sie in ihren späteren Betrachtungen über die sittlich-moralischen und politischen Verhältnisse des amerikanischen ,Privat- und Familienlebens‘ verwenden wird, während Max sich direkt bei führenden Geschäftsleuten nach deren Ansichten erkundigte. Marianne durfte sich noch über zwei weitere glückliche Umstände freuen: Sie besuchte ein für Frauen veranstaltetes Abendessen im St. Louis Women’s Club, bei dem die führenden Figuren der Frauenbewegung zusammenka­ men; dort traf sie zum zweiten Mal auf Martha Carey Thomas (nachdem sie ihr bereits im Juni beim Internationalen Frauenkongress in Berlin begegnet war) und nahm ihre Einladung zum Besuch des Bryn Mawr Colleges an. Das Dinner bot ihr zudem Gelegenheit, sich mit amerikanischen Frauen über Bildung und Erziehung und die ,Frauenfrage‘ auszutauschen. Diese Gespräche erlebten eine Fortsetzung als Max sich im Indianergebiet aufhielt und sie mit Pauline Gehner einen Tag in einer der neuen gemischtge­ schlechtlichen Highschools von St. Louis verbrachte. Zum Ende des Jahrhunderts hin hatte sich die Koedukation zu einer drän­ genden Frage für die Bildungsreformer und die internationale Frauenbewe­ gung entwickelt. St. Louis galt als Vorposten der ,amerikanischen Hegelia­ ner‘ und war als Zentrum der Bildungsdiskussion und Bildungsreform weithin anerkannt. Der prominenteste der frühen Modernisierer war William Torrey Harris, den es aus New England hierher verschlagen hatte und der sich als Schulinspektor durch die Herausgabe deutsch-englischer Jahresbe­ richte einen Namen gemacht hatte. Ab 1904 lebte er in Washington D.C., wo er seiner Tätigkeit als Regierungsbeauftragter für Bildung und Erziehung nachging, in der er es auf fast zwanzig Dienstjahre brachte. In St. Louis hatte Harris die Bedeutung der Bildung für eine neue Schicht von Erwerbs­ tätigen und eine neue Klasse von Führungskräften herausgestellt, die Wich­ tigkeit der Assimilation der Einwandererbevölkerung (zum großen Teil Deutsche) betont und „die Schaffung einer neuen Art des Bürgers für eine neue Form der Gesellschaftsordnung“ angemahnt. Er hatte nicht nur der politischen und bürgerlichen Bildung das Wort geredet, sondern auch einen eher traditionellen Nachdruck auf die klassischen Sprachen, auf Literatur und Geographie gelegt.

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Für die Veränderung, zu der es über Harris’ Programm hinaus nach 1897 kam, zeichnete maßgeblich Calvin M. Woodward verantwortlich, der eben­ falls aus New England zugezogen war. Marianne besuchte höchstwahr­ scheinlich eine der beiden neuen ,kosmopolitischen‘ oder ,allgemeinbilden­ den‘ Highschools mit vierjähriger Ausbildung, die Woodward als Vorsitzen­ der des Schulausschusses 1904 eröffnet hatte. Obwohl er an Harris’ bürger­ lichen Idealen festhielt, sollte Woodward zugeschrieben werden, dass die Highschool sich zu wandeln begann und für das Heranwachsen in Amerika eine immer größere Rolle spielte. Seine Reformen zielten auf die Diversifi­ zierung von Lehrplan und Schülerschaft; er trat für die Koedukation ein, legte gleichermaßen Wert auf grundlagenwissenschaftliche Kenntnisse wie auf anwendungsbezogene Fertigkeiten, während er sich zugleich für die Einführung des Kurssystems (nach Neigung und Begabung) und des Col­ lege-vorbereitenden Unterrichts stark machte. Außerdem strebte er an, die Abbrecherquote zu reduzieren und die Vermittlung der für das neue Jahr­ hundert unerlässlichen Qualifikationen voranzutreiben; er wollte, dass der Schulunterricht obligatorisch, aber unentgeltlich ist, und darüber hinaus et­ was dafür tun, dass die jungen Frauen und Männer bessere Chancen und Möglichkeiten hatten. Mariannes spezielles Interesse galt den Gründen und Argumenten für den gemeinsamen Unterricht der Geschlechter und der Frage, wie er sich gesell­ schaftlich auswirkte – und damit einem Thema, das um die Jahrhundertwen­ de herum immer wichtiger wurde. Einschlägige Diskussionen dieser Zusam­ menhänge hatten schon in ihrer Heidelberger Frauengruppe stattgefunden, einem lokalen Ableger des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium, als es vor allem um Ausbildung, Arbeit und die berufliche Entwicklung der Frauen ging. Woodwards Programm schien genau besehen wie eine Bekräftigung all dessen, wofür sie stand und kämpfte. Der Direktor, berichtete sie, ein höchst angenehmer liebenswürdiger Mann, führte uns umher, er ist begeister­ ter Anhänger der coeducation, u. zwar vor allem aus moralischen Gründen, er will es der Art des Verkehrs von Jungen und Mädchen regelmäßig anmerken, ob sie eine gemeinsame Schule besucht hatten oder nicht. Von flirtations sei keine Rede. Die Mädchen lernten weit eifriger als die Jungen u. seien ehrgeiziger, was letzte­ ren sehr unbequem [ist]. Die Kinder werden von Lehrern u. Lehrerinnen unter­ richtet. Die Disziplin der Lehrerinnen über die Jungen lasse nichts zu wünschen übrig. Der Junge wird hier überhaupt ganz anders als bei uns zum gentleman-like Betragen gegen ladies erzogen, d. h., er ererbt schon die Tendenz dazu. Dann will man hier überhaupt nichts von unserem deutschen Autoritätsprinzip wissen, die Kinder werden schon als indiv. Persönlichkeiten behandelt, bei jedem Befehl wird ihnen der Grund dafür angegeben, wenn sie ihn wissen wollen, und es wird behauptet, daß sie sich auch auf diese Weise sehr leicht „managen“ las­ sen – die deutschen Lehrer aber fänden nicht leicht die richtige Art gegenüber amerikanischen Kindern. Alle moralischen Bedenken gegen die coeducation ver­



4. Wissenschaft und Weltkultur91 fliegen, wenn man eine solche Schule einmal mit eigenen Augen sieht. Das Sys­ tem erscheint so ungeheuer einfach und natürlich. (30. September; NMW)

Diese in einem privaten Brief geäußerte optimistische Einschätzung mag dem modernen Kritiker blauäugig und übertrieben vorkommen, schließlich stellt sich ihm die Problematik von Unterricht und Autorität (oder ihres Fehlens) heute ganz anders dar. Nichtsdestotrotz haben wir es hier mit Ma­ riannes spontaner und offener Reaktion auf die ihr begegnenden kulturellen Unterschiede zu tun; so positiv erlebte sie den Versuch, die Gleichberechti­ gung der Geschlechter an den Schulen umzusetzen. Eine Reihe von Unter­ suchungen kam späterhin zum gleichen Resultat; aus Sicht dieser Studien hatte sich das Versprechen von Woodwards moralischem und bürgerlichem Experiment erfüllt, weshalb sie für dessen landesweite Ausdehnung plä­ dierten. Ebenso wie die progressiven Reformen in den Städten kündeten auch die progressiven Reformen an den öffentlichen Schulen vom kommenden Sieg von Professionalisierung und Expertentum und waren doch zugleich ein Schritt in Richtung Demokratisierung von Bildung und Erziehung. Die bei­ den Trends führten eine spannungsvolle Koexistenz, worüber sich ein pro­ gressiver Pädagoge wie John Dewey sehr wohl im Klaren war. Mariannes Schlüsselworte für die Versöhnung des Konflikts lauteten: „einfach und natürlich“ – und diese Worte lesen sich wie eine Beschwörung der Emerson’schen Unabhängigkeit und Souveränität, wie eine Berufung auf das Beste, was die amerikanische Überlieferung zu bieten hatte. Auf Max Webers eigenes Denken bezogen, ließe sich in diesem Emerson’schen Ideal ein Ausdruck der gedanklichen Tiefe seiner Faszination für die ,antiautori­ tären‘ Elemente in der amerikanischen Kultur sehen, wie sie in wichtigen Passagen der Protestantischen Ethik sowie in seinen späteren Reflektionen über die Lehranstalten und die politische Erziehung in Deutschland und Amerika zum Ausdruck kommt. Dieses Ideal war eines der vordringlichsten Themen seines Werks.

5. Der letzte Rest Romantik In einem Brief aus St. Louis berichtete Marianne am 27. September 1904, dass ihr Ehemann Max sich zu „einem Trip in die südliche ,Wilderness‘ “ entschlossen hatte, „nämlich nach Oklahoma, einem ganz jung besiedelten Gebiet, wo er die Lebensbedingungen der Farmer erfragen will“, und fügte hinzu, dass sie keinen Zweck darin sehe mitzukommen, „da dort sonst nichts zu sehen und noch alles sehr primitiv ist“. Sie blieb in der Villa der Familie von August und Willamina Gehner am Lindell Boulevard und be­ suchte abermals die Weltausstellung, um sich „die Filipinos und die Indianer an[zu]sehen“ – das heißt das große philippinische Exponat und all das, was über das Indianergebiet und Oklahoma gezeigt wurde. Zu den Motiven und Plänen ihres Mannes äußerte sie sich zumindest in Teilen korrekt, und die Verteidigung ihrer Entscheidung macht deutlich, dass die Eheleute in ihren Interessen und Ansichten nicht immer überein­ stimmten. Max wollte diesen Streifzug eigentlich alleine unternehmen und ohne Begleitung nach Westen aufbrechen. Bei ihrer Ankunft in St. Louis hatte er allerdings noch ganz andere Reisepläne: Zusammen mit Kollegen wollte er zu einer 24-stündigen Reise per „through-train“ in die amerikani­ sche Hauptstadt aufbrechen, wo ein von der Leitung des Congress of Arts and Science organisierter Empfang mit Präsident Theodore Roosevelt im Weißen Haus geplant war, um dann von Washington „perhaps 28th mor­ ning“ wieder abzufahren, wie er Simon Newcomb in einem Brief schrieb. Dann wären er und Marianne vermutlich durch den Süden zu ihrer Ver­ wandtschaft weitergereist, Nachfahren seines Großvaters mütterlicherseits, Georg Friedrich Fallenstein. Demnach begann er also erst in St. Louis über eine Änderung seiner Route nachzudenken; seinen Kollegen Georg Jellinek ließ er am 24. September brieflich wissen, dass er „jetzt vielleicht, statt zu Roosevelt, nach Oklahoma und Texas“ reisen werde. Am darauffolgenden Tag äußerte er diese Absicht auch gegenüber Booker T. Washington und fügte in seinem Schreiben hinzu, dass er, nachdem er das Indianergebiet bereist und sich New Orleans angesehen hätte, am 3. Oktober in Tuskegee, Alabama, sein könnte. Das wäre freilich unmöglich zu schaffen gewesen; wie die meisten ,neuen‘ Reisenden aus dem Ausland unterschätzte Weber Entfernung und Zeitaufwand völlig. Die Veranstaltung, die Weber sich entgehen ließ, fand wie vorgesehen im East Room des Weißen Hauses statt; sie wurde vom Deutsch sprechenden



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Präsidenten ausgerichtet und – laut Münsterbergs Bericht an den Präsiden­ ten der Chicagoer Universität William R. Harper – von etwa 70 Wissen­ schaftlern besucht, wobei Roosevelt zum Plaudern aufgelegt war und „sich mit jedem Einzelnen ein Weilchen unterhielt“. Die Washington Post gab die Zahl der Besucher mit 75 an und zitierte den Präsidenten mit seinen Will­ kommensworten: Ich möchte betonen, wie froh ich darüber bin und wie sehr ich es zu schätzen weiß, diese Delegation hier begrüßen zu dürfen. Vielleicht ist der schönste Zug an unserem modernen Leben eben jene immer mehr Anhänger findende Überzeu­ gung, dass es ein weltumspannendes Leben sein muss, dass keine Nation auf die volle Entfaltung ihrer Möglichkeiten hoffen darf, wenn sie bloß innerhalb ihrer eigenen Grenzen bleibt, dass der Weg des Fortschritts über die freimütige Aner­ kennung der Tatsache führt, dass jede Nation anderen Nationen helfen und dass jeder von anderen geholfen werden kann. Zusammenkünfte wie diese sind, wie ich glaube, nicht nur für die wissenschaftliche, künstlerische und geistige Ent­ wicklung der teilnehmenden Nationen von immenser Bedeutung; meiner Ansicht nach bringt uns jede für sich der Zeit ein Stück näher, da die großartigen Rechtsund Gleichheitsgrundsätze zwischen den Nationen genauso gelten werden wie jetzt schon zwischen den Einzelnen in den hochzivilisierten Ländern.

Das war die typisch Roosevelt’sche Art sich auszudrücken, ein bündiges Bekenntnis zum Internationalismus und zu den imperialen, über die eigenen Grenzen hinausstrebenden Ambitionen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses Grußwort offenbart auch jenen für den amerikanischen Staat und seine Politik charakteristischen Moralismus, dem Weber im asketischen Protestantismus nachspüren wird. Roosevelt ließ seiner Verlautbarung im darauffolgenden Sommer Taten folgen und startete eine Vermittlungskam­ pagne zwischen Japan und Russland, die dem Russisch-Japanischen Krieg ein Ende setzte und ihm selbst 1906 den Friedensnobelpreis einbrachte. Es scheint bezeichnend für Weber, dass er sich diese Gelegenheit zur Fühlungnahme mit der Macht entgehen ließ, um stattdessen die einmalige Chance zu ergreifen, ins heartland Amerikas vorzudringen und die Grenz­ gebiete zu erforschen. Offenkundig änderte er seine Reisepläne während seines einwöchigen St. Louis-Aufenthalts tatsächlich; aus dem „Vielleicht“ wurde die feste Absicht, nach Oklahoma und ins Indianergebiet zu reisen, nicht aber nach Texas. Was ergab sich aus den neuen Plänen und was woll­ te er in Erfahrung bringen? Reiz und Lockung des Grenzlandes Webers Entschluss, westwärts zu reisen, hatte zweifellos mit seinem schon lange bestehenden Interesse an dem Themenkomplex zu tun, der Agrarpolitik, Immigration, Landnahme und Besiedlung, die Festlegung der

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Stammeszugehörigkeit der Indianer, ethnische Gemeinschaften und die Um­ stellung von den traditionellen auf moderne ,kapitalistische‘ Wirtschaftsver­ hältnisse umfasste. Als junger Wissenschaftler hatte er über ähnliche Fragen in der Antike geschrieben und war diesen Fragen dann mit Blick auf die ostelbischen Gebiete ausführlich nachgegangen, wie sein Vortrag in St. Louis zeigte. Jetzt bot sich ihm die Möglichkeit, die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten unmittelbar in Augenschein zu nehmen, wovon er sich tiefere Aufschlüsse erhoffte, was den Europa-Amerika-Vergleich, die ökono­ mische und soziale Entwicklung und die inbegriffene Frage nach der ,Son­ derstellung‘ Amerikas betraf. Noch von seinen Studientagen wusste er vieles über die wirtschaftliche Entwicklung Nordamerikas und kannte sich gut mit den einschlägigen Themen aus, die Friedrich Kapp, Gustav Schmoller, Max Sering und andere Nationalökonomen bis ins Einzelne dargelegt hatten. Serings Buch, das er im Anschluss an seine siebenmonatige Nordamerika­ reise verfasst hatte, war für Weber insofern besonders wichtig, als es ihn auf den rechtlichen, administrativen und technologischen Rationalismus aufmerksam machte, der der raschen Besiedlung auf dem Kontinent Vor­ schub leistete. Darüber hinaus hatten sicherlich auch Kapps Geschichten über die Besiedlung des amerikanischen Westens bei Weber ihre Spuren hinterlassen, ebenso wie die Reise seines Vaters durch die nördlichen Ebe­ nen, bei der dieser in North Dakota mit den Sioux und ihrem Häuptling Sitting Bull und in Montana mit den Indianern vom Stamme der Crow zusammengetroffen war. Die Aussicht darauf, sich mit der Lage und den Bedingungen im Grenzland vertraut machen zu können, übte eine unwider­ stehliche Anziehungskraft auf ihn aus, genau wie einige Generationen zuvor auf Alexis de Tocqueville. Was genau ihn bewog, nach Oklahoma und ins Indianer-Territorium zu reisen, ist nie aufgeklärt worden. Wie kam er überhaupt auf die Idee, die­ se Reise zu unternehmen? Am wahrscheinlichsten ist, dass der Plan in den Gesprächen mit Jacob Hollander entstand. Der bedeutende Wirtschaftswis­ senschaftler Hollander lehrte an der Johns Hopkins University und galt als führender Experte für Steuerpolitik; er und Edwin R. A. Seligman waren die wichtigsten amerikanischen Ökonomen, mit denen Weber in den USA zusammentraf. In St. Louis referierte Hollander einen Tag nach Weber, im Rahmen der wirtschaftstheoretischen Veranstaltung „The Scope and Me­ thod of Political Economy“. Webers spätere Anfrage bei Hollander belegt, dass er entweder den Vortrag hörte, bei dem Hollander zu genau diesem Thema sprach, oder mit ihm bei anderer Gelegenheit in St. Louis disku­ tierte. „I should be even more happy “, schrieb er ihm, „if I could get from you for our periodical an essay about the present development of economic investigation in America. I agreed so much with your statement – at St. Louis – that the rapid progress of the scientific work done in your



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country is almost unknown in Germany, even by many specialists in eco­ nomic science.“ (27. Oktober)1 Man kann wohl davon ausgehen, dass Weber Hollanders Vortrag besuch­ te, und es spricht einiges dafür, dass dieser wiederum bei dessen Vortrag anwesend war. Zu Webers Auftritt haben wir nur ein Zeugnis: Mariannes noch dazu knappe Darstellung in dem Lebensbild ihres Mannes. Genau genommen berichtete sie am 27. September bloß Folgendes nach Hause: „Der Vortrag war nach Form und Inhalt glänzend mit vielen politischen Pointen, die die Amerikaner interessierten. Der Hörerkreis war leider sehr klein, wie bei allen ausländischen Sprechern, die nicht wie Harnack Weltruf haben, aber es waren fast alle Fachkollegen da, und so hat er doch manche wertvolle Bekanntschaft gemacht, Einladungen erhalten etc.“ (NMW). Bei Webers Rede waren einige amerikanische Volkswirtschaftler an­ wesend – höchstwahrscheinlich Hollander und Seligman und wohl auch W. E. B. Du Bois sowie William Z. Ripley, ein an der Harvard University tätiger politischer Ökonom und Eisenbahnexperte, sowie John Bates Clark, ein an der Columbia University lehrender Vertreter der Grenznutzentheorie; sie alle beherrschten das Deutsche recht gut. Hollanders Vater war ein aus Bayern eingewanderter Geschäftsmann und aktiv in der deutsch-jüdischen Gemeinschaft von Baltimore tätig. Am Ende des Jahrzehnts wird er Kolle­ gen in Deutschland besuchen. Seligman und Du Bois kannten Weber aus den 1890er Jahren, als sie noch am Anfang ihrer wissenschaftlichen Lauf­ bahn standen; Du Bois hatte als Student in Berlin Webers Vorlesungen ge­ hört. Ripley tauschte sich in den 1890er Jahren mit deutschen Kollegen aus; auf dem Kongress referierte er am 24. September 1904 im Anschluss an seinen Wiener Kollegen Eugen von Philippovich über „Problems of Trans­ portation“. Clark war Seligmans Kollege an der Columbia University, und beide hatten bei Webers Lehrer Karl Knies an der Heidelberger Universität studiert. Zu den wichtigsten Einladungen, die Weber erhalten haben dürfte, gehör­ ten die von Hollander, Seligman und Du Bois. Weber besuchte Hollanders Ökonomieseminar an der Johns Hopkins University einen Monat darauf und verbrachte den 25. Oktober zusammen mit ihm, dessen Kollegen aus dem Bereich der Arbeitsökonomie, George E. Barnett, und ihren Studenten. Sie setzten sich unter anderem mit den Arbeitsverhältnissen auseinander, disku­ tierten die Sozial- und Wirtschaftspolitik im Indianergebiet und den Stand der wirtschaftwissenschaftlichen Disziplinen in den Vereinigten Staaten. Seligman beherbergte Weber am Ende der Reise in New York und stellte 1  Für eine Übersetzung der hier und im Folgenden angeführten Passagen aus Webers in Englisch abgefassten Briefen siehe Appendix 2.

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ihm zahlreiche Einrichtungen und Persönlichkeiten der Stadt vor. Einzig Du Bois’ Einladung auf einen Besuch an der Atlanta University konnte Weber aufgrund terminlicher Überschneidungen nicht nachkommen. Hollander hatte die Entwicklung des ökonomischen Denkens auf dem Kontinent und in Großbritannien genauestens verfolgt, und es dürfte ihn interessiert haben, was Weber zu Agrargesellschaft und kapitalistischer Ent­ wicklung zu sagen hatte. Zweifellos aber standen die Probleme, die Weber in St. Louis erörterte, mit politischen Themen in Zusammenhang, die Hol­ lander seinerzeit sehr beschäftigten. Dieser war selbst gerade aus dem India­ nergebiet und Oklahoma zurückgekehrt, wohin er nach seiner Ernennung zum „Sonderbevollmächtigten für die Besteuerung im Indianergebiet“ durch Ethan Allen Hitchcock, Präsident Roosevelts einflussreichen Innenminister, beordert worden war, um die Bedingungen im Indianergebiet und in den Gebieten von Oklahoma, New Mexico und Arizona zu untersuchen. In ei­ nem Brief aus Muskogee im Indianergebiet hatte Hollander Seligman zwei Monate zuvor mitgeteilt, er sei „noch immer damit beschäftigt, [sich] den Schmutz von der Reise abzuscheuern“, und ihm darüber hinaus anvertraut, dass „das Problem, das uns erwartet, zwar faszinierend, dennoch aber nicht minder geeignet ist, Verwirrung zu stiften“ (18. Juli 1904). Seine Beobach­ tungen und Befragungen im Indianergebiet und in Oklahoma vom Juli und August dieses Jahres fanden in dem von ihm angefertigten Kongressbericht nur in einem Punkt nachhaltigen Niederschlag – in seiner Befürwortung, den Betrieb freier öffentlicher Schulen durch gesetzliche Maßnahmen zu unterstützen. Der Bericht war Ausdruck seiner detaillierten Kenntnisse von der viel­ schichtigen und beunruhigenden Lage im Indianergebiet, die sich noch verschärfte durch die Auseinandersetzungen um den Landbesitz und die Landpolitik, den Mitgliedschafts- oder Zugehörigkeitsstatus der Angehöri­ gen der Fünf Zivilisierten Stämme, die Bundes- oder Regierungspolitik [federal policy], wie sie von der Dawes-Kommission oder der Union Agen­ cy beschlossen worden war, die jüngsten Untersuchungen von Bestechungs­ vorwürfen und die rasante Einwanderung von ,Weißen‘ – die sich nahezu versechsfacht hatte und im Zeitraum zwischen der Erhebung von 1890 und 1904 etwa 700.000 Personen umfasste. Hollanders Ansicht nach hatten all diese Faktoren Probleme geschaffen, „wie es sie wohl noch nie gab in der amerikanischen Geschichte“, ganz so, als wäre das Indianergebiet selbst zu einem Sonderfall im Panorama von Amerikas Sonderstellung geworden. In Anbetracht seiner jüngsten Tätigkeiten war Hollander wohl der ideale Ge­ sprächspartner für Weber, da er ihn mit Informationen und Ratschlägen ausstatten und ihm auch Empfehlungsschreiben an die wichtigen Personen in Guthrie und Muskogee mit auf den Weg geben konnte, an jene Männer, die er vor kurzem während seiner Vorbereitungen für den Bericht an den



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US-Kongress getroffen und befragt hatte und die allesamt in den beiden wichtigsten Politik- und Verwaltungszentren Oklahomas und des Indianer­ gebiets ansässig waren. Weber schrieb zwei längere Briefe aus dem Indianergebiet und erwähnte, dass er in Oklahoma einen weiteren verloren hatte. Er fuhr in der Nacht des 26. September im komfortablen Pullmanwagen auf der neueröffneten Bahn­ linie über Oklahoma City nach Guthrie. Die Reise begann jedoch wenig verheißungsvoll; eigentlich wollte Weber versuchen, mit Frank Greer zu­ sammenzutreffen, einem Mann, der ihm (sicherlich von Hollander) „emp­ fohlen“ worden war, und bei dem es sich um den einflussreichen Heraus­ geber der wichtigsten regionalen Zeitung, des Oklahoma State Capital, handelte. Zwei Tage zuvor hatte sich in Guthries elegantem Royal Saloon Folgendes zugetragen: Unter dem Vorwand, seinem Zeitungskollegen und Konkurrenten John Golobie einen Drink zu spendieren, richtete Greer plötz­ lich eine Waffe auf ihn, um Golobie, den Herausgeber des Oklahoma State Register, zur Zurücknahme von ein paar unfreundlichen Kommentaren zu zwingen. G ­ reer druckte den Widerruf tatsächlich und behauptete, Golobie habe ihn in voller Kenntnis der Sache und ohne Zwang unterzeichnet, wäh­ rend dieser selbst die Anschuldigung erhob, Greer hätte ihn mit dem Tode bedroht. Als Weber dort ankam, war die Geschichte von der regionalen Presse bereits aufgegriffen und aufgebauscht worden, vom St.Louis PostDispatch beispielsweise und vom Muskogee Democrat, der die Sache unter der Überschrift „Pistole kontra Füller“ brachte. In seinem Brief nach Hause hielt Weber seine eigene Reaktion auf die Darstellungen in der Presse fest, die er bei seiner Ankunft in Guthrie zu lesen bekam: Ein solches Verhalten ging ihm „doch etwas zu weit“ und war, wie er den kritischen Pressestim­ men beipflichtete, „ungentlemanlike und für das Ansehen des Westens compromittierend“. Sein Entschluss, unverzüglich nach Muskogee weiterzu­ reisen, schlug unerwartet hohe Wellen und machte ihn selbst zu einem Teil dieser Geschichte; der Daily Oklahoman berichtete mit allerlei Übertreibun­ gen von Webers Reaktion auf das Geschehen; unter der Überschrift: „Woll­ te nicht länger bleiben. Der Besuch eines deutschen Professors in Guthrie findet jähes Ende“ titelte er weiter: „Sagt, Greer sei kein ,Shentleman‘. Hatte sich eigentlich an den Herausgeber wenden wollen, hörte aber, dass der eine Waffe auf einen anderen Herausgeber gerichtet hätte, und nahm Abstand“. Dann hieß es: Fred van Dyne, Eigentümer des hiesigen Hotel Royal, verbürgt sich für die Wahr­ heit des Folgenden, das sich am gestrigen Tag innerhalb dieses Hotels zugetragen haben soll. Nach Ankunft des 11.40-Uhr-Zuges aus dem Norden zur Weiterfahrt nach Santa Fe brachte der Laufbursche des Hotels einen Mann von einiger Be­ rühmtheit in die Unterkunft, der sich als Prof. von Webber der Heidelberger Universität, Deutschland, eintrug. Er hatte eine ganze Menge Gepäck bei sich und

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gab an, er wolle eine Woche in der Stadt bleiben und dann nach Muskogee wei­ terreisen. Er behauptete, den Heidelberger Ökonomielehrstuhl innezuhaben und dass er durch die Vereinigten Staaten reise, um sich vor Ort mit den für sein Fach relevanten Verhältnissen vertraut zu machen. Nachdem sich von Webber etwa eine Stunde in seinem Zimmer aufgehalten hatte, kam er van Dyne zufolge die Treppe herunter und verlangte, dass sein Gepäck zur Verschickung nach Muskogee un­ verzüglich zum Bahnhof Frisco gebracht wird. Van Dyne war natürlich überrascht und sagte das auch, woraufhin von Webber folgende Erklärung abgab: „Eigentlich hatte ich vor, eine Woche hier zu bleiben und dann nach Muskogee weiterzufah­ ren. Ich habe ein Empfehlungsschreiben an einen hiesigen Zeitungsmann, den Herausgeber des State Capital, doch seit ich in der Stadt bin, lese ich in den Blättern, dass er eine Waffe trägt und dass er sie auf einen anderen Herausgeber gerichtet hatte. Für meine Begriffe kann es sich bei einem Waffenträger unmög­ lich um einen ,Shentleman‘ handeln und aus diesem Grund werde ich mich nicht mit ihm treffen, sondern auf der Stelle nach Muskogee fahren.“ Van Dyne sagt, dass jedes Zureden vergeblich war und er ihn nicht von seiner Meinung abzubrin­ gen vermochte und der Professor den ersten Zug aus der Stadt nahm.

Bizarrerweise wurde die Meldung dann von internationalen Nachrichten­ agenturen aufgegriffen und durch das Berliner Tageblatt weiter verzerrt; Max’ Mutter Helene Weber las jene Darstellung und sandte dem Ehepaar den Zeitungsausschnitt einen Monat später in ihr Bostoner Hotel nach, so dass Max sich selbst ein Bild von der Verfälschung seiner Reisetätigkeit machen konnte. Weil die aufgebauschte Schilderung des Vorfalls doch recht tief blicken lässt, soll sie hier vollständig wiedergegeben werden: Professor von Weber, Lehrer der National-Ökonomie an der Universität Heidel­ berg, der auf einer Studienreise zur Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnis­ se der Vereinigten Staaten am Mittwoch hier eintraf, erlebte gleich am ersten Tage etwas echt amerikanisches. Er hatte einen Empfehlungsbrief an den Redak­ teur Frank Greer vom „Oklahoma State Capital“, den er auch dem Adressaten überreichte, da er zur Erforschung der Verhältnisse im Westen eine Woche lang in Guthrie bleiben wollte. Während Greer den Brief in Empfang nahm, erschien der Redakteur John Gologie [sic] vom „Oklahoma State Register“, mit dem Greer in bitterster Feindschaft lebt, auf der Schwelle. Sofort begannen die beiden Redak­ teure wild aufeinander loszuschiessen, um ihre Meinungsverschiedenheiten zum Austrag zu bringen. Professor von Weber stand zuerst starr: nachdem er sich von seiner ersten Überraschung erholt hatte, ließ er sich sein Gepäck geben, begab sich zur Bahn und reiste mit dem ersten Zuge in die Zivilisation zurück. Von den beiden Redakteuren wurde bei der Schießerei niemand verletzt.

Es gab natürlich keine Schießerei, keinen Show-down in Webers Anwe­ senheit. Doch der auf Sensation getrimmte Artikel entsprach mit seinen Verzerrungen den europäischen Vorurteilen von Gesetzlosigkeit und Gewalt, die im Grenzland Amerikas um sich greifen würden; da störte bloß, was wirklich geschah. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern war freilich mehr als ein persönlicher Streit; in Wahrheit ging es dabei um Immobilieninvestitionen und den Standort des neuen Staatskapitols. Greer



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ergriff für Guthrie Partei und wollte die Stadt zum „Chicago des Südwes­ tens“ machen, während Golobie andere Vorstellungen hatte. Dieser amüsante Vorfall ist in einschlägigen Zusammenhängen zwar hin und wieder zur Sprache gekommen, was dabei allerdings unberücksichtigt blieb, war der entscheidende Punkt für das Reiseziel, der wesentliche Grund, aus dem Weber es wählte – nämlich seine ausgedehnte Beschäfti­ gung mit den wichtigen Problemen im Indianergebiet und der Arbeit der in Muskogee ansässigen Behörden. Webers Einführung in diese Kreise profitierte von einer seiner Zugbekanntschaften, der mit Colonel Clarence B. Douglas, dem damaligen Herausgeber des Muskogee Phoenix. Weber imponierte Douglas’ „höchst intelligente, eigentümlich südländisch anmu­ tende“ Erscheinung – unterstrichen noch durch seinen stattlichen Schnauzund Kinnbart –, indes Douglas seinerseits von Weber (und seinen Empfeh­ lungsschreiben) offenbar so beeindruckt war, dass er dessen Anwesenheit tags darauf öffentlich machte und unter der Überschrift „A distinguished Visitor“ eine entsprechende Meldung auf der Titelseite brachte. Dass We­ ber die Empfindungen erwidert haben muss, lässt sich seinen Äußerungen zu dieser unüblichen Form der Einführung in die Gesellschaft von Musko­ gee entnehmen, worin er die Größe der Überschrift als „riesengroß“ über­ trieb. Douglas war jedoch augenscheinlich nicht der Einzige, bei dem We­ ber Eindruck machte; so informierten beispielsweise zwei regionale Blät­ ter, der Medford Star und das Perkins Journal, ihre Leser in der Folge über seinen Aufenthalt und setzten sie davon in Kenntnis, dass „er die gewünschten Informationen von Mr. Shoenfelt, dem Indian Agent [dem Regierungsvertreter im Indianer-Territorium], und von anderen Beamten der Regierung erhält“. Die Nachricht im Muskogee Phoenix hatte folgen­ den Wortlaut: „Der an der Heidelberger Universität in Deutschland lehren­ de Professor Max Weber ist am gestrigen späten Abend in Muskogee an­ gekommen und weilt derzeit als Gast im Katy [Hotel]. Prof. Weber ist ein Teilnehmer am wissenschaftlichen Weltkongress und hielt während des jüngsten Treffens dieser erlesenen Gemeinschaft in St. Louis einen der wichtigsten Vorträge im Bereich der Nationalökonomie. Nach Muskogee kommt er mit Schreiben hochrangiger Regierungsfunktionäre an die Adres­ se des Indianervertreters Shoenfelt. Geplant hat er einen mehrtätigen Stu­ dienaufenthalt, um sich mit den Verhältnissen im Indianergebiet vertraut zu machen.“ „Hochrangige Regierungsfunktionäre“ sollte vermutlich heißen: der Sonderbevollmächtigte Jacob Hollander. Es war schon ein großes Glück für Weber, dass er zuerst auf Oberst Douglas traf, da die Zeitungsmeldung Türen öffnete, die ihm sonst wohl verschlossen geblieben wären. Douglas kannte sich auch bestens aus, was die Angelegenheiten im Indianergebiet betraf, war er doch als Anwalt und Vermittler zugelassen und zuvor für zwei der wichtigsten Regierungsvertre­

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tungen für das Gebiet tätig gewesen: für die Indian Agency bzw. für dessen Büro, das 1904 von J. Blair Shoenfelt geleitet wurde, und für die berühmte Dawes-Kommission, in der er als Beamter für die in der Creekland-Abtei­ lung anfallenden Dinge verantwortlich war. Minister Hitchcock hatte ihn ein Jahr zuvor aus dieser Stellung entlassen und die Bildung eines offiziellen Dezernats zur internen Untersuchung von Korruptionsvorwürfen in der Bun­ desverwaltung angeordnet. Mit Webers Aufenthalt dort fiel zusammen, dass Douglas sich an exponierter Stelle in seiner Zeitung gegen die Bundespoli­ tik und ihren Minister Hitchcock wandte und die Beschränkung des Land­ verkaufs kritisierte, weil er darin ein Hemmnis für die wirtschaftliche Ent­ wicklung sah. Zudem war er ein strikter Verfechter der Einzelstaatlichkeit; fünf Monate darauf beherbergte er Roosevelt bei sich während dessen Aufenthalts in Muskogee, wo sich der Präsident am 5. April 1905 für den (Einzel-)Staat Oklahoma aussprach und diese Diskussion damit beendete. Douglas war früher einmal als Tourist in Heidelberg gewesen, und weil er offensichtlich Gefallen an Weber gefunden hatte, erschien er am Morgen nach dessen Ankunft im Hotel, um ihre Diskussion fortzuführen und dem Gast die Stadt zu zeigen. In seiner späteren Rückschau auf die Ereignisse, beschrieb Douglas Mus­ kogee als die zur Jahrhundertwende „aktivste und interessanteste Kleinstadt im Südwesten […] die Zentrale für all die Rechtssachen und den Kauf von Indianerland, derweil sie zugleich die größte und wichtigste Handels-, Fi­ nanz- und Industriestadt der Region war.“ Er attestierte ihr eine „sagenhaf­ te Betriebsamkeit“ und „ungeheure Faszination“, und während Weber einen „Zauber“ von ihr ausgehen fühlte, empfand er sie als „magisch“. Weiter heißt es bei Douglas: „Die Straßen und Hotels waren an jedem Tag voll mit Indianern, befreiten Creek-Sklaven, Anwälten, Landspekulanten, Abenteu­ rern, Bauernfängern, Schiebern [d. h. Grundstücksspekulanten] und all de­ nen, die in dem neuen Land nach einer neuen Heimat suchten und nach einem Ort, wo man wirtschaftlich etwas auf die Beine stellen konnte. Geld war leicht beschafft und schnell wieder ausgegeben. Saloons gab es keine, doch ambulante Whiskey-Händler und Chili-Buden deckten den Bedarf der Leute, und alle waren glücklich und blickten zuversichtlich in die Zukunft.“ Auch Weber erlebte Muskogee als einen fröhlichen Ort und ließ sich selbst von dessen heiterem Optimismus anstecken; „ich glaube“, schrieb er, „seit meinen ersten Studentensemestern nicht mehr so lustig gewesen zu sein“. Er und Douglas waren sich jedoch im Klaren darüber, dass es im Indianer­ gebiet um ernste politische und wirtschaftliche Probleme ging und dass manche Leute und Gruppierungen mit handfesten Interessen ein Vermögen machen konnten, während andere Gefahr liefen, viel zu verlieren. Die vier wichtigsten Bundesvertretungen befanden sich in Muskogee: die Dawes-Komission oder Dawes-Bixby-Komission, wie sie bald heißen sollte;



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Abbildung 3: Colonel Clarence B. Douglas, Herausgeber des Muskogee Phoenix; er fand Gefallen an Max Weber, machte dessen Anwesenheit im Indianergebiet publik, zeigte ihm die Stadt und trug seinen Teil zu Webers Empfindung bei, seit den ersten Studiensemestern „nicht mehr so lustig gewesen zu sein“. Abdruck mit Genehmigung der Oklahoma Historical Society.

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die Union Agency für die Fünf Zivilisierten Stämme, die 1874 eingerichtet wurde, mit Shoenfeldt als Indian Agent, das neue Büro von George Wright als Regierungsinspektor für das Indianergebiet, das 1898 entstanden war; und der Hauptsitz der Bundesgerichte. Außerdem waren die Geschäftsstel­ len des Creek-Volkes dauerhaft in Muskogee ansässig. Weber erwähnt in seinen Briefen, dass er mit all den damals führenden Personen in der Bun­ desverwaltung zusammengetroffen ist – Tams Bixby, J. George Wright und J. Blair Shoenfelt – sowie mit zahlreichen ungenannten Anwälten, Männern aus der Immobilien- und der Ölbranche, Händlern und Geschäftsleuten. Es gab nur eine Person, die er außerdem gern getroffen hätte – General Plea­ s­ant Porter, das Oberhaupt der Creek, der sich zu der Zeit allerdings noch in St. Louis befand, wo er Termine auf der Ausstellung wahrnahm. Weber hatte jedoch Gelegenheit, in der Person Robert Latham Owens die wichtigs­ te politische Gestalt der regionalen Führungsschicht zu treffen und mit ihm Gespräche zu führen. Der seinerzeit prominente Anwalt und Geschäftsmann Owen, der in den 1880er Jahren als Indian agent der Regierung gewirkt hatte, gehörte dem Stamm der Cherokee an und sollte bald einer der ersten US-Senatoren von Oklahoma werden. Owen, ein politisch Progressiver und Modernisierer mit ausgezeichneten Studienabschlüssen der Washington und Lee University, zudem Rechtsanwalt und Mitglied der Demokratischen Par­ tei und später bekennender Wilsonianer in Fragen der Innen- und Außenpo­ litik, erlebte eine lange und außerordentliche Karriere in der amerikanischen Politik, gehörte von 1907 bis 1925 ständig dem Senat an und war ein un­ bedingter Befürworter des neuen Staates. Ein Zeitgenosse charakterisierte ihn so: „Von Senator Owen lässt sich mit großer Berechtigung – und mit größerer als von jedem anderen Lebenden – als dem Architekten eines Staa­ tes sprechen – dem Staat Oklahoma. Man muss in ihm wohl auch denjeni­ gen sehen, der das letzte Kapitel in der Geschichte der Indianer als eines eigenständigen Volkes verfasste.“ Owens Abstammungslinie zu den Chero­ kee verlief über seine Mutter Narcissa Chisholm Owen, die Tochter von Thomas Chisholm, der ein Freund Thomas Jeffersons und der letzte Erb­ häuptling der Western Cherokee war. Narcissa war ausgebildete Malerin und hatte ihr Studium in der Corcoran Gallery in Washington, D.C., absol­ viert; Weber traf sie bei ihr Zuhause zum Mittagessen. In St. Louis dürfte er ihr Bild jenes Hauses gesehen haben und auch die Porträts von Jefferson und Mitgliedern der Jefferson-Familie, die sowohl die Erinnerung an deren Freundschaft mit ihrem Vater als auch die an den Kauf Louisianas lebendig hielten; sie alle waren im Indianer-Gebäude ausgestellt.



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Die Probleme und Schwierigkeiten im Indianergebiet Die nie dagewesenen Probleme, von denen Hollander sprach und auf die Weber traf, waren 1904 bereits außerordentlich vielschichtig geworden. Angefangen aber hatten sie in der Jackson-Ära mit den schrecklichen Ver­ folgungen, Vertreibungen und Zwangsenteignungen, deren Beobachter Toc­ queville in den frühen 1830er Jahren an der nordamerikanischen Grenze in New York und in den Grenzgebieten Michigans und der Großen Seen ge­ wesen ist. Etwa vier Generationen später waren im Schmelztiegel des In­ dianergebiets zur Wegnahme- und Umsiedlungspolitik der Jacksonära noch diverse andere Entwicklungen verschärfend hinzugekommen: der Ausbau der Eisenbahn nach dem Bürgerkrieg, demographische Veränderungen, der Landhunger, Rassenspannungen, die jüngsten Ölfunde – und dazu kam noch der älteste der menschlichen Antriebe: die Gier. In einer solchen Lage stell­ ten sich drängende Fragen nach der Stammesautonomie und -selbstverwal­ tung, den Rechten der Stammesangehörigen und dem Landbesitz. Die Ein­ setzung der Dawes-Kommission 1893 war in der Absicht erfolgt, die Fünf Zivilisierten Stämme (Cherokee, Choctaw, Chickasaw, Creek, Seminolen) zu Verhandlungen über die Einstellung ihrer Selbstverwaltungspraxis zu bewegen, um so den Weg für die Einzelzuteilung des in Kollektivbesitz befindlichen Stammeslandes an zertifizierte Mitglieder jeder der fünf Stäm­ me freizumachen. Als die Einigungsgespräche den vorgegeben Zeitrahmen zu überschreiten drohten, erzwang der Curtis Act 1898 ein Ende der Selbst­ verwaltung und schaffte die politischen Systeme und Rechtsordnungen der Stämme per gesetzlicher Verordnung ab; dadurch beendete er, was Weber als „Landcommunismus“ bezeichnete, und leitete die Landvergabe an Ein­ zelpersonen ein; zudem stattete er den Innenminister mit umfangreichen rechtlichen und finanziellen Befugnissen aus, insbesondere hinsichtlich der Städte, die, nicht selten illegal, aus dem Boden geschossen waren, und schuf den zu dessen persönlicher Vertretung gedachten Posten des offiziel­ len Indianerinspektors. Als erster derartiger Inspektor erhielt J. George Wright Weisungsmacht über die Union Agency, die Schulaufsicht und des­ sen Leiter sowie über verschiedene andere Behörden. Nach 1898 sahen sich die Dawes-Bixby-Kommission und die angeglie­ derten Behördenvertretungen mit zwei großen Aufgaben konfrontiert: der Festlegung der Stammesmitgliedschaft oder Stammeszugehörigkeit und der Landzuteilung. Die Macht dieser Vertretungen darf nicht unterschätzt wer­ den. Die Aufnahme in das „Zugehörigkeitsregister“ einer der Stämme war Grundvoraussetzung für die Landzuteilung und hierdurch selbst eine Quelle von ernsten Auseinandersetzungen und Gerichtsverfahren. Die Landzutei­ lung und die Regelungen, denen sie unterlag, waren nicht weniger umstrit­ ten. Einem Experten zufolge war es allein Tams Bixby, der „über die Auf­

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Abbildung 4: Tams Bixby, der mit vielen Machtbefugnissen ausgestattete Kopf der Dawes-Bixby-Kommission und der wichtigste Funktionsträger der Bundesregierung, mit dem Weber in der im Indianergebiet liegenden Stadt Muskogee zusammentraf. Abdruck mit Genehmigung der Oklahoma Historical Society.



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teilung des Grundbesitzes der Stämme im Wert von mehreren Millionen Dollar entschied“, wobei er ein eindeutig festgelegtes behördliches Verfah­ ren zur Anwendeung brachte, um die ungefähr 20 Millionen Morgen Land zuzuteilen, ein Gebiet, etwa so groß wie der Staat Indiana. Weber sah die Vermessungskarten und andere Unterlagen, die in diesem Verfahren benutzt wurden. Über ähnlich umfangreiche Zuständigkeiten verfügte auch Wright, der „einige der strittigsten politischen Strategien, die sich die Bundesregie­ rung zu eigen gemacht hatte“, umsetzen sollte. Bei Webers Ankunft waren die Zugehörigkeits- und Zuteilungsentscheidungen schon weit gediehen. Beispielsweise hatte die Kommission bis Ende Juni 1904 bereits 17.237 Kleinflächen des Cherokee-Areals abgegrenzt und 14.606 Zuteilungszertifi­ kate ausgegeben, was rund 30 Prozent der Fläche des vorhandenen Landes entsprach. Zur Bewältigung des großen Arbeitspensums war die Bundesver­ waltung in Muskogee von bloß einer Handvoll zuständiger Beamter zu ei­ nem bürokratischen Apparat von beeindruckender Größe und Mitarbeiterzahl gewachsen. Im Jahr 1900 hatte die Dawes-Bixby-Kommission 270 Ange­ stellte und verfügte über ein Budget von 641.000 $, während die Union Agency bereits 137 Mitarbeiter zählte; vier Jahre später wurde die Verwal­ tungsmaschinerie von noch mehr Rädchen angetrieben. Sowohl die Dawes-Bixby-Kommission als auch die von Shoenfelt gelei­ tete und von Wright beaufsichtigte Union Agency erstatteten Minister Hitchcock unabhängig voneinander Bericht, was zu Misstrauen und Span­ nungen zwischen den beiden Vertretungen führte. Bixby und die Kommis­ sion waren mit der Durchsetzung des Bundesrechts in den Zugehörigkeitsund Landzuteilungsfragen betraut. Ziemlich unklar war hingegen, worin Wrights Aufsichtsmandat bestand, wenngleich dieser sich üblicherweise mit Fällen befasste, in denen es um Stadt- und Ortsgrenzen, Wert und Rechts­ titel von Grundstücken in den Städten, um Landverpachtungen und die Aufhebung von Beschränkungen auf Landverkäufe ging. Wright hatte Bixby und dessen Tätigkeit betreffend keinerlei Befugnisse, doch seine inoffiziel­ len Einschätzungen für Hitchcock und sein Ansehen als ehrlicher und un­ parteiischer Schiedsmann sorgten für Zurückhaltung. Zu diesen Spannungen trug noch Shoenfelts Tätigkeit als Indian Agent bei, die ihn tendenziell in Wrights Lager führten; beide waren strikte Verteidiger der Interessen der Stämme bzw. dessen, was sie als die Interessen der Stämme wahrnahmen. Hinzu kam noch, dass die Situation wie gemacht war für Beeinflussungs­ versuche, Bestechung und Insiderabsprachen. Korruptionsvorwürfe und In­ teressenskonflikte sorgten dann auch dafür, dass es zu einer großen internen Ermittlung kam, in der „angeblichen Missbräuchen und Unregelmäßigkeiten im Staatsdienst des Indianergebiets“ nachgegangen wurde; die Rede ist vom Bonaparte-Woodruff-Bericht, der Minister Hitchcock und Präsident Roose­ velt nur wenige Monate vor Webers Ankunft vorgelegt wurde. Dabei wurden

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die Verflechtungen zwischen Banken, Treuhandgesellschaften und Immobi­ lienunternehmen untersucht, in deren Verwaltungsräten auch die führenden Staatsbeamten saßen, wenngleich es zu keinen Gerichtsverfahren, Rücktrit­ ten oder Entlassungen kam. Aus diesen Kreisen scheint Wright der einzige gewesen zu sein, der die öffentliche Prüfung unbeschadet und mit weißer Weste überstand – was sein Ansehen vermutlich weiter steigerte. Noch komplizierter wurde die Lage in diesem politisch hochaufgeladenen Umfeld dadurch, dass die lokalen Meinungsführer, die sich wie Owen und Douglas sehr für die regionale Entwicklung einsetzten, mit der aus ihrer Sicht falsch verstandenen und paternalistischen Bundespolitik haderten und mit jeder der Bundesvertretungen über Kreuz lagen, die sie als unzugäng­ lich empfanden und als abgehoben, weil sie ihrer Meinung nach nicht wirklich mit den Umständen und Ansichten vor Ort vertraut waren. Als ein einflussreicher und vermögender Cherokee vertrat Owen außerdem sehr strenge Ansichten, was Stammespolitik, die indianische Kultur und die Rechte der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen innerhalb der Fünf Zivi­ lisierten Stämme betraf. Angesichts von Owens umfangreichen Verwal­ tungserfahrungen und Rechtskenntnissen, seinen finanziellen Interessen und all der Verbindungen, politischen Ambitionen und Ziele, die dieser Mann hatte, dürfte sich Weber für ihn am meisten interessiert haben. Max Weber hielt die Themen und Ergebnisse von einigen seiner Gesprä­ che mit Owens, Douglas, Shoenfelt, Bixby, Wright und anderen fest; vor­ nehmlich in zwei langen Passagen, die seine Frau Marianne nicht in ihre Biographie von ihm aufgenommen hat. Die erste verfasste er an seinem ersten vollständig in Muskogee verbrachten Tag, nachdem er Douglas am Morgen getroffen und mit Robert L. und Narcissa Owen zu Mittag gegessen hatte. Sie verrät etwas von Robert Owens Einfluss und seiner Sichtweise. Das Land hier ist bei weitem das Interessanteste was ich sah. Bis 1889 gehörte das ganze alte Indian Territory den Indianern, die wie eine fremde Macht behan­ delt wurden. Dann verkauften die Creeks und Cherokees die Hälfte für 15 Mill $ an die V. Staaten – das jetzige Territorium Oklahoma. Das Geld verteilten sie – Mr. [Robert L.] Owen war noch entrüstet über die Niedrigkeit des Preises und diese Dummheit – an die Stammesmitglieder, die es natürlich (pro Nase 500 $) schleunigst durchbrachten. Der Rest, das heutige Indian Territory, ist eben im Begriff, das Schicksal Oklahomas zu teilen. Den Indianern ist das Privateigentum oktroyiert, das Land vermessen und den einzelnen Familien zugeteilt worden. Die zahlreichen Neger – meist die Sklaven der Indianer – waren nach dem Bürger­ krieg von diesen als citizens zugelassen worden und erhielten folglich auch ihren Landanteil. Nun ist den Negern [als befreite Sklaven] seit 2 Jahren erlaubt, ihr Land bis auf die homestead von 40 acres, die unveräußerlich ist, zu verkaufen. Die Folge ist, daß jedes Jahr 2000 Negerfarmen von Weißen – bis auf die home­ stead – aufgekauft werden. Jenes selbe Gesetz erlaubte auch dem Indianer den



5. Der letzte Rest Romantik107 Verkauf des Landes, nur muß derselbe unter Vermittelung des Indian agent der V. Staaten in öffentlicher Versteigerung erfolgen und es wird ein Minimalpreis – meist 10 $ pro acre (ca. 24 Mk pro 1 Morgen, 96 pro Ha) festgesetzt. Etwa 8–900 Indianerfarmen gehen jährlich in weiße Hände über. Daneben gab es von jeher zahlreiche weiße Pächter auf dem Indianerlande. Jetzt ist Asphalt und Petroleum gefunden worden, und die weiße Bevölkerung ist schon stärker als die rote, selbst mit Einschluß der Halbblutigen, – Vollblutige gibt es hier ca. 14–15000, und diese verschmähen jede Beschäftigung außer Viehzucht, Jagd, Fischerei, Acker­ bauprodukte gewinnen sie, indem sie Weiße als Teilpächter einsetzen. Oklahoma und das Indian Territory werden demnächst zum Staat erhoben, man streitet nur, ob zu einem – worin die Republikaner die Mehrheit hätten, oder zu zwei – dann hätten die Demokraten im Indian Territory Chancen, die Mehrheit zu haben. (28. September; NMW)

Als Demokrat setzte sich Owen energisch für die Zwei-Staaten-Lösung ein, konnte sich jedoch, was selten genug vorkam, nicht durchsetzen. 1904 aber galt sein eigentliches Interesse dem Wohl und Gedeihen des Indianer­ gebiets und der Landpolitik, einschließlich den damit zusammenhängenden Rechten der Stammesmitglieder und den Chancen (seine eigenen inbegrif­ fen) auf wirtschaftlichen Gewinn und gesellschaftliches Fortkommen. Am 1. März desselben Jahres hatte er bereits vor dem Komitee für die Indianer­ gebiete Stellung bezogen und darauf gedrängt, dass die 40-Morgen-home­ steads von der Besteuerung ausgenommen werden und dass die Indianer­ schulen in dem Gebiet, die einen Wert von rund einer Million Dollar hatten, in den Besitz des neuen Staates übergehen, wofür auch Hollander eintrat. Am kritischsten ging er jedoch mit der Bundespolitik und mit den Maßnah­ men zum Schutz der Fünf Zivilisierten Stämme ins Gericht, die er „unver­ nünftig und unsinnig und […] kontraproduktiv“ fand, weil sie paternalistisch wären und die Stammesangehörigen ihrer „Initiativkraft“ berauben würden. Er wandte sich besonders gegen die rechtlichen Restriktionen auf dem Landverkauf, die paradoxerweise die ehemaligen schwarzen Sklaven, die von den Indianern jetzt als Stammesangehörige anerkannt waren, in eine bessere Ausgangslage brachten, was die Veräußerung von Landbesitz an­ ging, als ihn selbst – in der Sache setzte er sich vier Jahre später schließlich durch. Weber wird diese Argumente sicherlich alle aus Owens Mund gehört haben; am Ende seines Aufenthalts war er guter Dinge und hoffte, dass er Owen dafür habe gewinnen können, einen Beitrag für das Archiv für Sozial­ wissenschaft und Sozialpolitik zu verfassen: „Ich habe noch sehr viel In­ teressantes von den verschiedensten Leuten gehört und denke, mein Gast­ freund, der Cherokee, wird im ,Archiv‘ gegen die neuste Indianerpolitik der V. Staaten losschlagen. Seine Augen funkelten als er davon sprach.“ Owen aber war völlig in Anspruch genommen von den Auseinandersetzungen um die staatliche Eigenständigkeit und von seiner Ernennung zum Senator der Vereinigten Staaten, so dass diese Hoffnung unerfüllt blieb.

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Abbildung 5: Robert Latham Owens eindrucksvolle Erscheinung und seine durchdringende Intelligenz machten Eindruck auf Max Weber; dieser bezog sein Verständnis von der Bundespolitik aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Gesprächen mit Owen, der bald darauf in den US-Senat gewählt werden sollte. Mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress.

Owens Emerson’sches Plädoyer für Eigenständigkeit und Souveränität bildete einen Aspekt seiner größeren moralischen Vision von der ,equal dignity‘, der unbedingten Gleichwürdigkeit aller Menschen, und der unver­ zichtbaren Achtung des Einzelnen, unabhängig von Rasse, Glaube oder Geschlecht; und seiner prinzipienfesten politischen Auffassung, wonach „das Regieren auf lange Sicht eine sehr gefährliche Sache für die Regierten ist und etwas ganz Angenehmes für die Regierenden“, wie er in einer An­ hörung des US-Senats erklärte. Als Politiker brachte er diesen moralischpolitischen Standpunkt in ,verfassungsrechtlichen‘ Begriffen zum Ausdruck und befürwortete die Bürgerbeteiligung durch Referendum, Abwahlmöglich­ keit und Volksbegehren, plädierte für kurze und übersichtliche Stimmzettel, direkte Vorwahl, Direktwahl des Senatoren, Offenlegung der Wahlkampf­ finanzierung und dergleichen mehr – alles ,gut progressive‘ Anliegen. Auf ähnlich herausfordernde Weise arbeitete auch seine Mutter Narcissa Owen, die Weber als eine „perfect lady“ bezeichnete, die Ideen der Eigenständig­ keit und der Würde aus, wobei sie diese unter ästhetischen und kulturellen Gesichtspunkten entwickelte. Sie verfasste ihre Autobiographie auch aus dem Wunsch heraus, die Fünf Zivilisierten Stämmen zu verteidigen und für sie einzustehen; zudem wollte sie mit ihr dem Zerrbild und der in ihren Worten „modernen Entstellung des Indianers“ entgegenwirken. Die gleiche Absicht verfolgte sie mit ihrer Kunst, und auch ihrer Idee vom Künstler lagen diese Motive zugrunde. Sinnfällig nacherleben lässt sich das an ihrem beeindruckenden Selbstportrait von 1896, einem Gemälde, das ein moderner



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Abbildung 6: Narcissa Chisholm Owen, die Tochter von Thomas Chisholm, des letzten Erbhäupt­ lings der Western Cherokee. In Owens Selbstportrait kommt ihre Botschaft von selbstbewusster Eigenständigkeit zum Ausdruck; ein Ethos, das Max Weber bei ihrem Zusammentreffen auffiel. Mit freundlicher Genehmigung der Oklahoma Historical Society.

Kritiker für dessen „ausgesuchte Eleganz und vornehme Zuversicht“ lobte. Die Spannung zwischen ,Kultur‘ und ,Natur‘ im Leben und in der Kunst ist ein sehr altes Thema; im Grenzland der amerikanischen Ureinwohner aber machten sich die europäischen Reisenden häufig ganz übertriebene Vorstel­ lungen von dieser Spannung. Nicht so Tocqueville, der sehr genau verstand, welche Kräfte dort aufeinandertrafen; und auch Weber dürften die Zusam­ menhänge nicht entgangen sein, ebenso wenig wie seinen indianischen Gastgebern. Webers saloppe Bemerkung, „ ,Civilisation‘ ist hier mehr als in Chicago“, hätten die Owens gewiss unterschrieben. Die Aufhebung der Restriktionen auf den Landzuteilungen war einer der Hauptstreitpunkte in der Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern der Bundespolitik, die dem Schutz der Interessen der Stämme dienen sollte, und jenen, die sich für die Entwicklung des Gebietes stark machten. Owen freilich sah sich als Verteidiger sowohl der Gleichbehandlung der Stam­ meszugehörigen – der Indianer und der ,freedman‘, der schwarzen ehema­ ligen Sklaven – als auch der Aussichten auf eine gedeihliche ökonomische und soziale Entwicklung. Dennoch brachten ihn seine kraftvoll vorgebrach­ ten Ansichten in Konflikt mit Minister Hitchcock und den lokalen Reprä­ sentanten der Bundespolitik – Bixby, Shoenfelt, Wright –, denen es nach Meinung der anderen Angehörigen der Fünf Zivilisierten Stämme im Grunde nur darum ging zu verteidigen, was sie selbst für die gemeinsamen Interessen der Stämme hielten. Weber lieferte einen kurzen Bericht über seine Kontakte mit diesen Vertretern, die damit betraut waren, den durch

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den Curtis Act begründeten Auftrag des Bundes zu erklären und umzu­ setzen: Ich habe nun Vertreter fast aller beteiligten Interessenten und Ämter gesprochen, den Indian Inspector [Wright], den Indian Agent [Shoenfelt], den Vorsitzenden der Indian Commission [Bixby], welche sämtlich für Beschränkung des Landverkaufs, sorgfältige Auswahl der settler zum Ausschluß der Landspekulation und Erlaubnis, das Geld in Renten zu zahlen, sind, letzteres um deutsche Bauern aus Iowa und Wisconsin heranzuziehen. Die Landspekulanten, – ich sprach heute lange einen köstlichen Typus dieser Real estate men – verlangen, daß nur Vollblut-Indianer und nur ein Besitz von 40 acres (homestead) geschützt werden solle, und ein Teil der Indianer – die zum Teil steinreichen und äußerst geschäftskundigen großen Heerdenbesitzer – unterstützen sie darin. Sie wollen schnell Geld haben und es paßt ihnen die Bevormundung nicht. Sie hatten schon die leidenschaftlichste Op­ position gemacht, als der alte Landcommunismus, der faktisch ihnen (als Heer­ denbesitzern, die Weideland brauchen) zu Gute kam, aufgehoben und jedem Indi­ aner jeden Alters und Geschlechts der gleiche Teil (dem Werth nach) zugewiesen wurde, ein Geschäft, welches nächstes Jahr fertig sein wird und übrigens – ich sah die Aufmessungskarten etc. etc. – eine gewaltige Arbeitsleistung gewesen ist. Morgen findet nun eine Landauktion von Creek-Land statt, der ich beiwohnen werde, und dann kommen 5000 Creeks, lagern hier in Zelten und empfangen die Zahlung, die unter sie verteilt wird. (28. September; NMW)

Es könnte sein, dass Weber eigentlich „die Vorsitzenden“ der Indian Commission hatte schreiben wollen und dass er also auch mit Thomas B. Needles und Clifton R. Breckenridge, den beiden anderen Bevollmächtigten in diesem einflussreichen Triumvirat, zusammengetroffen ist. Er beschließt seine Darlegungen mit dem Hinweis auf die Ungezwungenheit dieser Büro­ gespräche: „Alle Beamte empfingen natürlich in Hemdsärmeln und wir streckten gemeinsam die Beine auf die Fensterbank. Die ,Rechtsanwälte‘ etc. machen einen etwas verwegenen Eindruck – aber es herrscht eine fa­ belhafte burschikose und doch den gegenseitigen Respekt stets im Auge behaltende Ungezwungenheit.“ Weber machte genaue Angaben zu den vonseiten der Regierung unter­ nommenen Anstrengungen, die Landspekulation durch rechtliche und admi­ nistrative Maßnahmen zu verhindern oder Missbrauchsfälle zumindest ein­ zudämmen, was ein wahre Herkulesaufgabe darstellte. Er bestätigte auch, dass es einen „kolossalen ,boom‘ “ gibt und die Landspekulation „trotz aller Gesetze blüht. Kein Wunder, da hier das Land mit 10 $ bezahlt wird und in Oklahoma der Preis schon jetzt auf 75 $ steht“; seine Angaben zu den Prei­ sen pro Morgen sind wohl korrekt, wobei einschränkend gesagt werden muss, dass die Landpreise je nach Qualität und Lage beträchtlich voneinan­ der abwichen. Zwanzig Jahre zuvor hatte Max Sering ermittelt, dass sich die Farmlandpreise in der Prärie von 5 $ bis 50 $ pro Morgen erstreckten, im Mittleren Westen von 40 $ bis 200 $ und in Kalifornien von 60 $ im Central Valley bis zu 250 $ im Santa Clara Valley (heute gemeinhin bekannt



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als Silicon Valley). Webers optimistische Einschätzung der Landzuteilung spiegelte die Hoffnungen von Bixby und der Kommission wider. Tatsächlich aber nahmen die Erstellung von genauen Zugehörigkeitsregistern (offiziell geschlossen am 4. März 1907) und die Landzuteilung noch etliche Jahre in Anspruch, und die Kommission war als das zuständige Rechtsorgan ein weiteres Jahrzehnt mit diesen Aufgaben befasst. Weber hat beim Schreiben dieser Zeilen zwei unterschiedliche Ereignisse, bei denen er anwesend war, zusammengefasst: die Landauktion selbst, die am 30. September im Büro des Indian agent stattfand und von der Presse wie üblich umfangreich angekündigt worden war; und die Auszahlung offizieller Gelder an Mitglieder des Stammes der Creek. Shoenfelt war persönlich für die Durchführung dieser Transaktionen zuständig, die ein großes Echo in der Presse fanden. Der Muskogee Daily Phoenix berichtete am 1. Oktober, dass 23 Teilgebiete zum Angebot standen, von denen vier für insgesamt 6.871 $ verkauft wurden; für die anderen ging entweder kein Kaufangebot ein oder die eingegangenen Offerten blieben unter den Mindestgeboten und wurden deshalb nicht angenommen. Die Zeitung berichtete auch vom Beginn der Auszahlung an die Creek, die eine Woche in Anspruch nahm und bei der der Indian Agent einen Betrag in Höhe von insgesamt 12.500 $ an die berechtig­ ten Einzelpersonen verteilte; Geld, das zu jener Gesamtforderung von einer Million Dollar hinzukam, die noch aus den 1830er Jahren stammte und auf den Verlusten basierte, die den Creek infolge der Zwangsumsiedlung von Alabama ins Indianergebiet entstanden waren. Die Auszahlung an die Creek war eine seltene Gelegenheit zu ethnogra­ phischen Beobachtungen: „Heut sah ich die Indianer truppweise kommen, ihr Geld zu holen – die Vollblutleute haben einen eigenen müden Zug im Gesicht und sind sicherlich dem Untergang geweiht, unter den anderen sieht man intelligente Gesichter. Die Tracht ist fast regelmäßig europäisch“, be­ richtete Weber am 1. Oktober (NMW). Für den Indian agent Shoenfelt waren diese Abwicklungen nichts Ungewöhnliches, und während er sie als Routinegeschäft erlebt haben dürfte, schienen sie Weber das Schicksal eines Volkes auszudrücken, das seiner historischen Bestimmung entgegenging. Natur, Traditionalismus und die Neue Welt Als Außenstehender ergriff Weber in der Auseinandersetzung keine Par­ tei; er stellte sich also – wenn diese Vereinfachung der rivalisierenden Po­ sitionen erlaubt ist – weder auf die Seite derjenigen, denen es in erster Linie um den Schutz der Kultur der amerikanischen Ureinwohner ging, noch auf die jener, die vorrangig die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung im Blick hatten. Seine Ansichten über die ,Entwicklung‘ im

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Allgemeinen aber, die er bereits in den Debatten um die Industrialisierung und die Wirtschaftspolitik während der 1890er Jahre in Deutschland darge­ legt hatte, deckten sich mit den von Robert Owen vertretenen Positionen. Weber registrierte aufmerksam Herkunft, Wichtigkeit und die Wirkungen jener Kräfte, die die Auseinandersetzung im Indianergebiet vorantrieben, und er war fasziniert von dem Wandel, der sich im Grenzland vollzog: der Um­gestaltung der alten Gesellschaft mit ihren traditionellen Ansichten und Haltungen in ein modernes Gemeinwesen mit modernen ,kapitalistischen‘ Wirtschaftsverhältnissen und modernen gesellschaftlichen und politischen Beziehungen. Er beobachtete die wechselnden Bündnisse zwischen home­ stead-Befürwortern, Vertretern der Eisenbahnen, Landspekulanten, Entwick­ lungs- und Prosperitätsverfechtern, unterschiedlichen Stammesgruppen und den Vertretern der Regierung. Diese Bündnisse waren es, die die Verwand­ lung des alten Indianerlandes in den neuen Staat Oklahoma bewirkten. Seine Aufzeichnungen der Gespräche und Beobachtungen lesen sich wie eine Bekräftigung der Ansicht, wonach die Zerrüttung der Fünf Zivilisierten Stämme zu großen Teilen, und paradoxerweise, auf das Konto der Regie­ rung selbst und ihrer lokalen Repräsentanten ging, die auf der Grundlage politischer, nicht kommerzieller, Motive handelten, und die dieses unge­ wollte Resultat mithilfe von Gesetzen, Gerichten und Justizbehörden herbei­ führten. Owen und Stammesmitglieder wie er haben sicherlich an diesem letzten Kapitel des alten Indianerlandes mitgeschrieben, dessen eigentliche Verfasser aber gehörten der Bundesverwaltung selbst an. Weber hatte auch keinen Zweifel daran, dass die moderne Industriezivili­ sation, die im Entstehen begriffen war, die alte, romantisierte Welt vollstän­ dig zum Verschwinden bringen würde: „Aber die Stunde des Urwalds hat auch hier geschlagen“; die „Lederstrumpf-Poesie“ des indianischen Lebens und des Grenzlandes gehe ihrem Ende entgegen. Nachdem er sich in Mus­ kogee umgesehen hatte, schilderte er seinen Eindruck mit den Worten: „Ein fabelhaft reizvolles – d. h. nicht ästhetisch reizvolles – Bild des Werdens, welches im nächsten Jahr schon ganz den Charakter von Oklahoma city etc., d. h. den jeder andren westlichen Stadt angenommen haben wird.“ (28. September; NMW) Am folgenden Tag formulierte er mit Bedauern: „Schade: in Jahresfrist sieht es hier aus wie in Oklahoma, d. h. wie in jeder anderen Stadt Amerikas. Mit gradezu rasender Hast wird Alles, was der kapitalistischen Cultur im Wege steht, zermalmt.“ (29. September; NMW) Im allerletzten Satz über das Indianergebiet greift er die Stimmung noch­ mals auf: „Doch genug von dieser Fahrt ins ,alte romantische Land‘ – wenn ich das nächste Mal hinkomme, wird der letzte Rest ,Romantik‘ dahinge­ gangen sein.“ (1. Oktober; NMW) Eben diese Passagen gab Marianne Weber in ihrer Darstellung nur in Stichworten wieder. Hebt man sie indes heraus, könnte der Eindruck entste­



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hen, Webers Abstecher ins Grenzland sei eine sentimentale Reise in eine von ihm als authentischer betrachtete Vergangenheit gewesen und ein will­ kommener Anlass, kaum verdeckt antimoderne und antikapitalistische Ge­ danken und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen. Davon sollte man sich aber nicht täuschen und zu falschen Schlüssen hinreißen lassen. Weber nahm in seinen Kommentaren auf viel subtilere und interessante Weise Stellung zu indigener Kultur und industrieller Zivilisation, als dass von ei­ nem bloßen Dafür oder Dagegen die Rede sein könnte. An keiner Stelle seiner Korrespondenz äußert sich Weber so einlässlich zur ,Natur‘ als geistiger ,Konstruktion‘ wie in seinen Beschreibungen des Indianergebiets. In seinem ersten Brief kommt er auf das Thema zu spre­ chen: die Natur in ihrer ,ursprünglichen‘ oder ,anfänglichen‘ Form, wie wir selbst sie uns vorstellen, und dann die Vermischung der fiktionalen Natur,Romantik‘ oder Natur-,Poesie‘, wie er sie im Grenzland erlebte, mit den modernsten Aspekten einer kapitalistischen Zivilisation, die im Entstehen begriffen war: Nirgends so wie hier mischt sich nun die alte Indianerpoesie mit modernster ca­ pitalistischer „Cultur“. Die neu angelegte Bahn von Tulsa nach Mc Alester führt zuerst, am Canadian River, eine Stunde lang durch veritablen Urwald – nur darf man sich nicht das „Schweigen im Walde“ mit Riesenstämmen etc. darunter vor­ stellen. Undurchdringliches Dickicht – so dicht, daß man gar nicht merkt, außer an wenigen Durchblicken, daß man nur wenige Meter vom Canadian River ent­ fernt fährt, – dunkle Bäume, denn das Klima ist schon ziemlich südlich, Schnee selten, bis oben hin von Schlinggewächsen übersponnen, dazwischen gelbe stille Waldbäche und kleine Flüsse, vollkommen vom Grün übersponnen – am meisten Lederstrumpf-Poesie haben die große Flüsse, wie der Canadian River, die in ihrem gänzlich wilden Zustande, mit riesigen Sandbänken und dichtem dunklem Grün an den Ufern, in Verkrümmungen und Verzweigungen ihre Fluthen dahinwälzen und einen eigenen Eindruck von etwas Geheimnisvollem machen, – man weiß nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen, sie sind, ein einziges indianisches Fischerboot abgerechnet, welches ich sah, völlig tot.

Weiter geht die Passage, die Weber am Ende seines ersten in Muskogee verbrachten Tages niederschrieb (und worin er den Canadian mit dem Ar­ kansas River verwechselte), mit der Darstellung des schrittweisen Eintritts in die moderne Zivilisation: Aber die Stunde des Urwalds hat auch hier geschlagen. Man sieht im Walde zwar gelegentlich Gruppen richtiger alter Blockhäuser – die indianischen kenntlich an den buntfarbigen Shawls unter aushängenden Wäsche, – aber daneben auch ganz moderne Holzhäuser und -häuschen aus der Fabrik, zum Preise von 500 $ an, auf Steine gelegt, dabei eine große Lichtung, mit Mais und Baumvolle bepflanzt: die Bäume hat man unten mit Theer beschmiert und angezündet, sie sterben ab und recken ihre bleichen, angeblakten Finger durcheinander in die Luft, was so mit den frischen Saaten unter ihnen zusammen einen wunderlichen, aber keineswegs

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anheimelnden Eindruck macht. Dann kamen große Prairiestrecken – teils Weiden, teils ebenfalls Baumwoll- und Maisfelder – und plötzlich fängt es an nach Petro­ leum zu stinken: man sieht die hohen Eiffelturm-artigen Gerüste der Bohrlöcher, selbst mitten im Wald und kommt an eine „Stadt“. Eine solche ist nun vollends ein tolles Ding. Zeltlager der Arbeiter, besonders der Streckenarbeiter der zahlrei­ chen im Bau befindlichen Bahnen, „Straßen“ im Naturzustande, meist mit Petro­ leum zweimal im Sommer getränkt gegen den Staub und entsprechend duftend, Holzkirchen von mindestens 4–5 Denominationen (Muskogee hatte vor 4 Jahren 4000 und hat jetzt 12000 Einwohner, meist Methodisten), auf diesen „Straßen“ als Verkehrshindernisse Holzhäuser, auf Rollen gesetzt und so fortbewegt: der Eigen­ tümer ist reich geworden, hat sie verkauft und sich ein neues Haus gebaut, das alte wird aufs Feld gefahren, wo ein Newcomer, der es gekauft hat, hineinzieht. Dazu das übliche Gewirr von Telegraphen- und Telephondrähten, elektrische Bah­ nen im Bau – denn die „Stadt“ erstreckt sich in unermeßliche Fernen, wir fuhren in einem kleinen Wagen mit einem Riesengaul darum herum, 4 Schulen der ver­ schiedenen Sekten, dazu public schools (gratis) – Schulzwang ist in Sicht – ein Hotel mit bescheidenen Zimmern […]. (28. September; NMW)

Weber verbindet in seiner Schilderung offenkundig Beobachtungen von der Zugfahrt von Guthrie nach Muskogee und von der anschließenden Tour durch Muskogee und die Umgebung, wo 1903 die ersten Erdölbohrungen stattfanden. Die statistische Angaben, die Weber wahrscheinlich von Doug­ las und Owen übernommen hatte, scheinen zu stimmen: In der Erhebung von 1900 wurde die Einwohnerzahl von Muskogee mit 4.254 angegeben; die von McAlester und South McAlester mit 4.125 und die von Fort Gibson mit 606. In diesen wenigen Sätzen dokumentiert Weber den Übergang von der urtümlichen Natur – dem Urwald der amerikanischen Wildnis, von dem auch Tocqueville so beeindruckt war – zur verblüffenden Phantasmagorie der aufkommenden Zivilisation, nebst verschiedenen Zwischenstufen, wo ,natürliche‘ und ,geschaffene‘ Formen einander durchdrangen und dieses Ineinander unmittelbar ins Auge sprang. Seine Darstellung hebt sich deut­ lich ab von Jean Hector St. John de Crèvecoeurs altbekannter Schilderung eines Zustands, in dem „alles modern ist und einträchtig und friedfertig nebeneinander besteht“ und die „Natur ihren weiten Schoß für den dauern­ den Zustrom von Neuankömmlingen öffnet“. In der Neuen Welt, heißt es bei Crèvecoeur weiter, „inspiriert ein jedes Ding den denkenden Reisenden und erfüllt ihn mit den menschenfreundlichsten Ideen; statt sich in seiner Vorstellung dem schmerzlichen und unnützen Rückblick auf Umstürze, Trostlosigkeiten und Qualen zu überlassen, ist er so klug, sich all die nutz­ bar gemachten und kultivierten Landstriche auszumalen und bis zu jenen Generationen vorauszudenken, die diesen grenzenlosen Kontinent mit neu­ em Leben erfüllen und ausgestalten werden.“ Weber hingegen inspirierte der Wandel in seiner Dynamik und das Neue an sich, aber genauso auch die



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Verdrängungen und Konflikte und die Erwartung, dass die Entwicklung in nicht allzu ferner Zukunft an Grenzen stoßen könnte. Crèvecoeur zitiert er nie, doch er zog andere nützliche Quellen heran, um der „Poesie“ der vor­ gestellten Ordnung der Natur Gewicht und Maß zu verleihen: aus der deut­ schen Literatur Ludwig Ganghofers Das Schweigen im Walde, nach Harry Zohn „der Inbegriff der deutschen Waldsentimentalität“; und aus der ameri­ kanischen Literatur die populären Abenteuer von Natty Bumppo in James Fenimore Coopers fünf Lederstrumpf-Romanen, in denen der Gründungs­ mythos einer „amerikanischen Odyssee“ gestaltet ist, um D. H. Lawrence zu zitieren, mit dem Wildtöter als Odysseus, und worin es um Kampf, Streit und innere Einsamkeit geht, um die Herrschaft über sich selbst und über die Welt. „Und wenn dieser Mann aus seiner statischen Isolation ausbricht“, so schließt Lawrence seinen Beitrag, „und sich wieder auf den Weg macht, dann ist Vorsicht geboten, denn dann wird etwas geschehen.“ Wenn sich Weber auf irgendeine Seite schlug, dann auf die von Law­ rence. Zwar ist die ,Begegnung‘ mit der Natur eine Sache der Vorstellung, bei der die Fiktion, das ,Dazudenken‘, einen guten Führer abgeben kann. Weber aber dachte nicht in Kategorien von Friedfertigkeit, Harmonie oder Harmlosigkeit, der Wald als Idylle hat in seinem Diskurs keinen Platz. Sei­ ner Auffassung nach muss man sich die ,Natur‘ als wild und ungezähmt, als unfassbar und erhaben vorstellen, und mithin als geheimnisvoll und rätsel­ haft. Im amerikanischen Grenzland war sie Angriffen ausgesetzt, Angriffen vonseiten einer ,Zivilisation‘, die mit ihrer Technik in sie eindrang und dort Konstruktionen errichtete, die Weber an das Ursymbol der großartigen mo­ dernen Erhabenheit denken ließen – den Eiffelturm –, wobei Erhabenheit in seinem Falle auch ein Überragen bedeutete. Er symbolisiert Dynamik und Entwicklung, genauso aber Mechanisierung, Enteignung und Herrschaft. Eben solche Gedanken und Empfindungen äußerte Weber auch im Zu­ sammenhang mit der anderen im indianischen Grenzland erlebten Episode des Zusammentreffens von Natur und Zivilisation: sein ungewöhnlicher Abstecher nach Fort Gibson. Marianne Weber nahm dessen briefliche An­ kündigung nicht mit in ihre Darstellung auf: „Heute oder morgen Abend werde ich einen ,trip‘ nach Fort Gibson und den Canadian River mit einigen hiesigen Anwälten machen, die ich kennen lernte, und so etwas UrwaldPoesie genießen, denn das Clubhaus, in welchem wir das supper nehmen sollen, liegt an einer Stelle, die durch Longfellow und andre bekannt ist – sogar die Hiawatha-Legende wird dorthin verlegt.“ (29. September; NMW) Der Kurzausflug fand am nächsten Tag statt; Marianne zitierte in ihrem Buch auszugsweise aus Max’ plastischen Schilderungen des Clubhauses, das oberhalb des Arkansas Rivers errichtetet worden war; der Gastfreund­ schaft von „Aunt Bessie und ,Uncle Tom‘ “ im Stile der amerikanischen Gemütlichkeit; der Exklusivität und Kultur des Clubs selbst, der für ihn

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Abbildung 7: Das Clubhaus in Fort Gibson, errichtet auf einem Felsen über dem Arkansas River, wird nicht mehr als Restaurant oder Wirtshaus betrieben. 1904 war es der Ort für ein imaginiertes amerikanisches Symposion und Ziel von Max Webers abenteuerlichen Streifzug durch den poetischen Urwald. Foto des Autors.

„das ins Amerikanische übersetzte Symposion“ darstellte; und dann be­ schrieb Max noch, wie sie sich in der „Wildheit“ verirrten, als sie auf dem Rückweg nach Muskogee über den Arkansas River etwa 20 Meilen zurück­ legen mussten. Neben Coopers und Ganghofers Geschichten nahm er also auch auf Hiawatha, Uncle Tom’s Cabin und Platons Symposion Bezug. Mit Fort Gibson als Schauplatz von Hiawatha lag Weber allerdings ganz falsch, da Henry Wadsworth Longfellow die amerikanischste der amerikanischen Sagas am Lake Superior und im Great-Lakes-Becken spielen ließ. Sein Irrtum lässt sich jedoch damit erklären, dass er dieses Stück der Legende von seinen amerika­ nischen Gastgebern aufgegriffen hatte. Bei ihnen hatte die Vorstellung mitt­ lerweile Tradition, dass Häuptling Hiawatha eine Verbindung zum Indianer­ land gehabt haben musste. Die Fiktion erfüllte ihren Zweck auch insofern, als sie zwei der Begründer der amerikanischen Literatur zusammenbrachte: Longfellow und den wichtigsten der ,anderen Literaten‘, Wash­ington Irving. Irving hatte zwar die Chance verstreichen lassen, eine passende literarische Form für die Hiawatha-Legende zu schaffen, und überlies das Longfellow. Dennoch aber war es in Wirklichkeit Irving, und nicht Longfellow, der Fort



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Gibson und dem Leben der amerikanischen Ureinwohner im Grenzland zu­ erst einen Platz in der amerikanischen Vorstellung verschafft hatte, durch die Veröffentlichung von A Tour on the Prairies (dt.: Reise durch die Prärien), seiner „brillant gezeichneten Bilder des Lebens im Grenzland“, denen eine 1832 unternommenen Monatsreise zu Pferd durch das Indianergebiet zugrun­ de lag, die von Fort Gibson zu einem Ort in der Nähe von Guthrie und zurück führte – Weber hat im Grunde das gleiche Gebiet durchquert. Weber zitierte nie aus diesem Werk Irvings, gleichwohl aber wird er davon gewusst haben, da zahlreiche der deutschen Übersetzungen Irvings wieder aufgelegt worden waren und viele Leser fanden. Am Ende der Protestantischen Ethik bezog er sich allerdings auf Irvings ältere Arbeit, die dessen Ruf begründet hatte, und speziell auf den Gedanken des asketischen Puritanismus und des „calculating spirit“ des Kapitalismus, seinen rechnenden Geist, der die „Unbefangenheit des ,status naturalis‘ “ bricht und weniger das „play of the fancy“, das Spiel der Fantasie, erkennen lässt, sondern vielmehr die ­„power of imagination“, die Vorstellungskraft. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass Irving Weber das Thema lieferte: die Beherrschung der Natur und des ,Natur‘-Zustands durch die innerweltliche Askese, verbunden mit einem Verlust an Romantik und Poesie, aber einem Zugewinn an jener Vorstellungs­ kraft, die es dem Menschen ermöglicht, die Herrschaft über sich und die Welt zu gewinnen. Die persönliche und politische „Freiheit“ und das „Verantwor­ tungsbewusstsein“ wurden zu den Leitmotiven des neuen Zeitalters. Dies wä­ re eine – wenn auch unübliche – Möglichkeit zur Beschreibung des ge­ schichtlichen Ziels von Personen wie Robert Owen, einem gläubigen Presby­ terianer, oder von sozialen Gruppen wie etwa den methodistischen Neuan­ kömmlingen, mit denen Weber in Muskogee zusammentraf. Sie waren die gesellschaft­lichen Vermittler jenes in Webers Worten „ethischen Lebensstils“, „welcher der Wirtschaftsstufe des ,Kapitalismus‘ geistig ,adäquat‘ war [und der] seinen Sieg in der ,Seele‘ des Menschen bedeutete“. Die Bedeutung des Grenzlandes Weber verbrachte eine knappe Woche im Gebiet von Oklahoma und im Indianerland, und doch hat diese Erfahrung an vielen Stellen seines Werks ihren Niederschlag gefunden. Manche der Echos sind allgemeiner Art und finden sich im Zusammenhang mit der Konzipierung analytischer Katego­ rien als sozialer Konstruktionen, wie etwa ,Rasse‘ und ,ethnische Gruppe‘, wobei Weber die Erfahrung sowohl in spontane Diskussionen hat einfließen lassen, wie jene in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, als auch in die systematischen Darstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Andere Male verwendete er sie in spezifischeren Zusammenhängen: In der letzten Fassung der Agrarverhältnisse im Altertum griff er beispielsweise Serings

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flüchtige Andeutung auf und behauptete mit ihm eine Ähnlichkeit zwischen der römischen und der nordamerikanischen Besiedlung: In der römischen Republik sei die Bereitstellung urbar gemachten öffentlichen Landes, des ager occupatorius, mit einer Rationalisierung der Vermessung und „einer geregelten Form der Okkupation“ oder Landausdehnung verbunden gewe­ sen, wie dies auch später im Indianergebiet bei der Dawes-Bixby-Kommis­ sion der Fall war. Damit erklärte sich in beiden Fällen die umfassende, re­ lativ rasche und ,kleinteilige‘ Besiedlung ausgedehnter Gebiete, die in Amerika sogar noch viel schneller vonstatten ging, als von Thomas Jefferson vorhergesagt, als er den Kauf des Louisiana-Gebiets besiegelt und die Grö­ ße des Landes mit einem Federstrich verdoppelt hatte. Am bezeichnendsten für Webers Verständnis der amerikanischen Demo­ kratie ist, dass er in den unterschiedlichen Textfassungen seines Aufsatzes „Die Protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ ein Gespräch, das er im Indianergebiet geführt hatte, verwendet, um eines seiner Haupt­ themen zu veranschaulichen: die Bedeutung der Zugehörigkeit der Person zu einer Sekte oder einem voluntaristischen Verband – bei dem die Verge­ sellschaftung eine moralisch-sittliche Prüfung voraussetzt – für ihre Legiti­ mation, ihre soziale Stellung und hinsichtlich der Errichtung einer Zivilge­ sellschaft. Werfen wir einen Blick auf die aus dem Jahr 1906 stammende Fassung dieser Begegnung: Die Zugehörigkeit zu einer nach amerikanischen Vorstellungen „reputierlichen“ Kirchengemeinschaft garantiert die Reputierlichkeit des Individuums, die gesell­ schaftliche nicht nur, sondern auch und vor allem die geschäftliche. „Herr“, sagte mir ein schon älterer Gentleman der in Undertakers Hardware (eisernen Leichen­ steinaufschriften) reiste und mit dem ich in Oklahoma einige Zeit zusammen war – „meinethalben mag Jedermann glauben, was ihm beliebt – aber wenn ich von einem Kunden in Erfahrung bringe, daß er seine Kirche nicht besucht, dann ist er mir nicht für 50 Cts. gut: why pay me if he doesn’t believe in anything?“ In ei­ nem so ungeheuer ausgedehnten Lande mit dünner Besiedelung und unstäter Be­ völkerung, wo überdies das Gerichtsverfahren zur Zeit noch in anglo-normanni­ schem Formalismus steckt, das Exekutionsrecht lax und zu Gunsten der Waffe der Farmer des Westens durch die Homestead-Privilegien so gut wie ausgeschaltet ist, konnte der Personalkredit eben zunächst nur auf den Krücken einer solchen kirch­ lichen Garantie der Kreditwürdigkeit fußen.“

Um die Legitimation der Person ging es jedoch nicht allein, schließlich waren es vor allem diese Vergesellschaftungsprozesse, die den im Grenz­ land so deutlich zutage tretenden invasiven Eingriffen und zersetzenden Effekten der kapitalistischen Kultur entgegenwirkten und die dem demo­ kratischen Leben in Amerika sein spezielles Gepräge gaben. Die amerika­ nische Zivilgesellschaft war nie ein „Sandhaufen“ oder „eine zu Atomen zerriebene Menschenmasse“, wie Weber etliche Male betonte, sondern eine



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ganz vielgestaltige und hochdifferenzierte soziale Ordnung, in der ständig Vergesellschaftungsprozesse abliefen – die geprägt und durchdrungen war von Gruppenzugehörigkeit, voluntaristischer Bindung und „Exklusivitäten aller Art“. Allgemeiner gesagt verlor Weber den Zusammenhang zwischen mora­ lisch-religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Betrachtungen nie aus dem Blick. Seine sinnträchtigen Bemerkungen über Grundstücksspekulanten, die homestead-Praxis und die Entstehung einer Gemeinschaft scheinen unmit­ telbar der Muskogee-Reise zu entstammen: Noch heute ist es etwas durchaus Normales, daß ein Grundstücksspekulant, der seine Baustellen besetzt zu sehen wünscht, vor allem inmitten derselben eine „Kirche“, d. h. eine Holzscheuer mit Turm, nach Art der entsprechenden Gebilde in unseren Spielzeugschachteln, erbaut und alsdann einen eben dem Seminar ent­ sprungenen Kandidaten irgend einer Denomination für 500 Dollars engagiert, mit der, sei es ausdrücklichen, sei es stillschweigenden Zusage, daß diese Position zu einer Lebensstellung auswachsen werde, falls es dem Betreffenden nur gelinge, die Baustellen recht schnell „voll“ zu predigen. Und es gelingt zumeist.

Auch an einem solchen Ineinandergreifen von spirituellen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen ließen sich die Assoziations- und Vereinigungs­ prozesse exemplarisch studieren, die aus Webers Sicht den Schlüssel zum Verständnis dieser neuen Zivilisationsordnung bildeten. Weber verwendete dieses Material auch in seinen wichtigen Erörterungen in Wirtschaft und Gesellschaft und in anderweitigen Diskussionen von Stand, Klasse, Bürokratie, Herrschaft und der „bürgerlichen Kultur“ der Demokratie: der Gedanke der ständischen Gleichheit des ,gentleman‘; des Verzichts auf die soziale Ehre, die der „Großspekulant“ um des bloßen Geldmachtstrebens leistete; des verhältnismäßig niedrigen sozialen Stands der Funktionäre und Beamten in den neubesiedelten Gebieten, wo unterneh­ merische Initiative geschätzt wurde und die beschränkenden Konventionen einer traditionellen Ordnung schwach waren und wenig Einfluss hatten; des Gegensatzes zwischen bürokratischer Herrschaft und politischer Demokra­ tie, speziell was das Regieren der Kleinstädte betraf; und der antiautoritären bürgerlichen Normen und der Bereitschaft, die ,Obrigkeit‘ zu hinterfragen, „die den einen abstoßend, den andern erfrischend berührt“. Bereits im India­ nergebiet hatte Weber die Konflikte beobachtet, die zwischen einer profes­ sionellen Bürokratie, der politischen Führung und den Verfechtern der de­ mokratischen Rechenschaftspflicht bestanden. Er war Zeuge geworden der Zusammenstöße zwischen dem alten Selbstverständnis der Stämme, den Rationalisierungskräften modernen Rechts und moderner Verwaltung sowie der unabhängigen Haltung einer charismatischen Figur wie Robert Owen. Es überrascht daher nicht, dass man in Webers ausgereifter politischer So­ ziologie auf solche Vorstellungen stößt.

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An dieser Stelle noch ein Wort zu Robert L. Owen, der nicht lange nach ihrem Zusammentreffen aktiv in die Bundespolitik eingriff. Das im USKongress verabschiedete Notenbankengesetz, der Federal Reserve Act, ging maßgeblich auf ihn und seine Vorschläge zurück. Als Vorsitzender des Se­ natsausschusses zu Bankenwesen und Währung wirkte Owen später zudem als Co-Autor der Owen-Glass-Bill, die das gegenwärtige Federal Reserve System und das governing board – ein vom Präsidenten zu ernennendes unabhängiges geldpolitisches Gremium – in den Vereinigten Staaten begrün­ dete, was seine beeindruckendste und nachhaltigste Gesetzgebungsleistung darstellte. Weber kannte die Wilson’sche Reform des Bankenwesens, sie „steht doch schon lange zur Diskussion“, wie er Edgar Jaffé als Reaktion auf die Bankenkrise von 1907 schrieb, die er ebenso verfolgt hatte. Weber hatte überlegt, sich dem Thema selbst zuzuwenden, autorisierte dann aber Jaffé, einen Artikel über das Banken- und Finanzwesen für den Grundriss der Sozialökonomik zu verfassen, in dem die Reform erörtert wurde. Wenn­ gleich Owen in der Korrespondenz mit Jaffé nicht namentlich erwähnt wird, kann man sich kaum vorstellen, dass Weber diesen Gesetzgebungstriumph nicht mit Owens Kritik an der Bundespolitik in Zusammenhang brachte, die er fast ein Jahrzehnt zuvor gehört hatte. Letztendlich aber stand die Reise nach Oklahoma und in das Indianerge­ biet unter dem Zeichen der Entstehung einer neuen Welt und bot Weber die einmalige Gelegenheit, diese beim Werden zu beobachten: „zum letzten Mal in der Menschheitsgeschichte“, hatte er in St. Louis gesagt, „dass solche Bedingungen für eine freiheitliche und große Entwicklung gegeben sind.“ Die Welt, die uns diese Entwicklung beschert hat, ist die Welt, die Weber selbst am Ende der Protestantischen Ethik beschreibt, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war: „jener mächtige Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschinel­ ler Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung […], der heute den Lebens­ stil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange be­ stimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brenn­ stoffs verglüht ist.“ Der Satz ist dem Abschnitt entnommen, an dessen Ende Weber mit rhetorischem Schwung sein am meisten gefeiertes und am meis­ ten angefochtenes Bild setzte: das vom „stahlharten Gehäuse“, das zu unse­ rem verhängnisvollen Schicksal in der Moderne geworden sei. Doch wenn man nach dem Bleibenden dieser Reise ins amerikanische Grenzland fragt, liegt es ebenso nahe, die Bilder eines mechanisierten Kapitalismus anzufüh­ ren, der das Leben der Ureinwohner, Siedler, Verwaltungsbeamten, Politiker, berufstätigen Menschen, Unternehmer und Enteigneten in Oklahoma und im Indianergebiet ohne Unterschied veränderte.

6. Die Rassenschranke Max Weber hatte wahrscheinlich lange schon vorgehabt, den amerikani­ schen Süden zu bereisen; einmal wegen der dort lebenden Verwandtschaft, den Nachfahren Georg Friedrich Fallensteins, zum anderen wegen der anre­ genden Berichte und Erzählungen Friedrich Kapps. Warum er sich allerdings zu der sehr langen Route entschloss, die von St. Louis über Memphis, Tennessee, nach New Orleans und dann weiter nördlich über Tuskegee, Alabama, nach Atlanta und noch darüber hinaus führte, ist nicht ganz klar. Genau wie Alexis de Tocqueville und Gustave de Beaumont interessierte sich auch Weber für die Rassenfrage und die Auswirkungen der Sklaverei, und er wollte vermutlich auch in Erfahrung bringen, was von den französi­ schen Einflüssen in den südlichsten Ausläufern des Louisiana-Ankauf-Ge­ bietes geblieben war. Auch sein Interesse für die Agrarökonomien dürfte ihn zu den Südstaaten hingezogen haben. Gut möglich, dass die Reiseroute in Gesprächen konkrete Gestalt angenommen hatte, die er während seines Aufenthalts in Jane Addams Hull House in Chicago führte, das mit dem Tuskegee Institute und zur Arbeit Booker T. Washingtons in Verbindung stand. Man kann davon ausgehen, dass Max und Marianne während ihres Aufenthalts in St. Louis von ihren Gastgebern August und Willamina Geh­ ner über die Zugroute in den Süden beraten worden sind. Der Halt in Tus­ kegee war offensichtlich geplant und ging möglicherweise auf einen Vor­ schlag von W. E. Du Bois, Jacob H. Hollander, Edwin R. A. Seligman oder einem der anderen Ausstellungsteilnehmer in St. Louis zurück, wie William I. Thomas oder Edward A. Ross. Am 25. September 1904, nur vier Tage nach seinem St. Louiser Vortrag, erwähnte Weber in einem Brief an Booker T. Washington zum ersten Mal, dass er beabsichtigte, Tuskegee einen Be­ such abzustatten, und teilte ihm ferner mit, dass er mit Du Bois gesprochen hatte. Seligman war unter den mutmaßlichen Hörern von Webers Vortrag neben Du Bois derjenige, der enge Verbindungen nach Tuskegee unterhielt; und Ross, der den Reformkreisen des Mittleren Westens angehörte, hatte im selben Jahr sogar seinen Wohnsitz nach Tuskegee verlegt, um dort als ­Washingtons persönlicher Assistent zu arbeiten, nachdem Du Bois diesen Posten, der ihm zuerst angeboten worden war, abgelehnt hatte. Was auch immer Weber zu diesem Teil der Reise bewogen hatte, er sah darin zweifellos eine Gelegenheit, die Rassenprobleme und die Beziehungen zwischen den Rassen in der früheren Konföderation nur 40 Jahre nach dem Bürgerkrieg aus der Nähe zu beobachten. Im Unterschied zu anderen St.-

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Louis-Teilnehmern und -Kollegen wie etwa Karl Lamprecht oder Werner Sombart war Weber sehr daran gelegen, mit führenden Vertretern der afro­ amerikanischen Gemeinschaft zusammenzutreffen, wobei sein besonderes Interesse ihren Bildungseinrichtungen, kulturellen Ausdrucksformen und politischen Zielen galt. Die Klassenbeziehungen und die ständischen Kon­ ventionen, die ethnischen Gemeinschaften, die Arbeitsverhältnisse und der Übergang zu einer kapitalistischen Wirtschaft – das waren die Themen und Kategorien, die Weber von seinen früheren Arbeiten her beschäftigten. Da­ neben gab es andere Fragen, die ihn interessierten, Fragen, die mit der Kultur und Religion, mit der Bildung und dem ,Geist‘ dieser Region in Zusammenhang standen, deren Geschichte durch die auf der Sklavenarbeit beruhenden Plantagenwirtschaft geprägt war. Als Agrarökonom hatte Weber die Latifundien der römischen Antike und die großen getreideanbauenden Güter des deutschen Ostens untersucht und entsprechende Studien vorge­ legt. Er hatte Beobachtungen angestellt zum Ende der „zweiten Leibeigen­ schaft“ im Osten Deutschlands – wie Friedrich Engels das sozioökonomi­ sche System bezeichnet hatte – und zur Wandlung dieser Region unter dem Druck des Weltmarktwettbewerbs, zur Einführung der kapitalistischen Pro­ duktionsweisen, zu den technischen Innovationen und zur Einwanderung. Mit Verständnis und Wohlwollen hatte er sich über den „Freiheitstrieb“ geäußert, der zulasten der traditionellen Sicherheit ging, welche die patri­ moniale Herrschaft gewährte. Was würde ihn demgegenüber im amerikani­ schen Süden erwarten? Einschlägige Literatur gab es kaum, und das war mit ein Grund dafür, dass er sich für das veröffentlichte Werk Du Bois’, und zumal für The Souls of Black Folk (dt.: Die Seelen der Schwarzen) begeisterte. Friedrich Kapps fachkundige Vorbürgerkriegsgeschichte der Sklaverei, die er seinem Mit­ streiter im Kampf um die Sklavenbefreiung, Frederick Law Olmsted, zuge­ eignet hatte, war 1904 aus der Mode und fand kaum noch Beachtung. Karl Bücher, Webers Ökonomiekollege in Leipzig, hatte jüngst sein Buch über Arbeit und Rhythmik veröffentlicht, das eine ganze Menge fesselndes Ma­ terial über die amerikanischen Folksongs enthielt – die „Seele der amerika­ nischen Musik“ in Du Bois’ Worten. Seine Arbeit war von dem Chicagoer Professor Charles Henderson und dessen Studenten unterstützt worden, die Lieder zusammengetragen hatten, die von den Feldarbeitern bei der Arbeit gesungen wurden. Weber kannte Büchers Untersuchung, die freilich wenig Aufschlussreiches zur Rasse und zum Nachbürgerkriegssüden enthielt. Im 2. Band von The American Commonwealth hatte James Bryce seiner Erör­ terung der Einwanderung einige Kapitel über die Reconstruction [die Wie­ dereingliederung der 1860  /  1 aus den Vereinigten Staaten ausgetretenen Staaten nach dem Bürgerkrieg] und deren Nachwirkungen im Süden und über die politische und soziale Lage der Afroamerikaner folgen lassen, die



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sowohl im Süden als auch im Norden schwierig war. Die Erörterung hatte jedoch bloß Skizzencharakter, und Rassen- und Ethnienfragen standen oh­ nehin nicht im Zentrum seiner Darstellung des Lebens in Amerika. Hugo Münsterberg unternahm einen gründlicheren Versuch, das Problem der, wie er sagte, „sozialen Ausgrenzung“ der Schwarzen zum Thema zu machen; seiner Ansicht nach würde sich die gesellschaftliche Gleichstellung, in wel­ cher Form auch immer, bestenfalls in einer sehr fernen Zukunft realisieren lassen, und zwar nicht nur in der ehemaligen Konföderation, sondern auch im Norden, wo die Diskriminierung mitunter brutaler und schroffer war als im Süden. Einige Seiten widmete er auch den beiden Tendenzen, die inner­ halb der Gemeinschaft der Schwarzen zutage traten, und stellte Washingtons Programm zur stufenweisen Reform von unten Du Bois’ Engagement ge­ genüber, der von einer besonderen Mission der Schwarzen gesprochen und zur Bildung einer beispiel- und vorbildhaften schwarzen Führungsschicht aufgerufen hatte. Münsterbergs Darstellung ließ sich immerhin zugute hal­ ten, dass sie ausgewogen war und es nicht an Mitgefühl fehlen ließ. Weil Weber diese Literatur bekannt war, hatte er eine ungefähre Vorstellung von den debattierten Themen und auch von den divergierenden Ansichten unter den schwarzen Wortführern und Intellektuellen. Was fehlte, waren Analysen, die ihm tiefere Einsichten in eine Soziologie oder Politik der Rassen und Ethnien vermittelt hätten; diesbezüglich musste er sich mit dem begnügen, was Du Bois bislang veröffentlicht hatte, darunter The Philadelphia Negro 1899, sowie mit der fortlaufenden Reihe von Untersuchungen in den Atlan­ ta University Publications und den Occasional Papers der American Negro Academy, einer Organisation zur Unterstützung der afroamerikanischen Wissenschaft und Forschung. Du Bois und die Untersuchung zur Rasse Der unmittelbare politische und geistige Kontext, in dem Weber mit Du Bois Kontakt aufnahm, mit ihm als auch mit Washington korrespondierte und schließlich in Tuskegee Station machte, war gleichsam Resultat der Ereignisse der vorangegangenen Jahre. Webers Ankunft erfolgte zu einem unter Forschungsgesichtspunkten durchaus günstigen Zeitpunkt, hatten sich doch über das letzte Jahrzehnt in der Gemeinschaft der Afroamerikaner sowie unter den Befürwortern der Rassengleichstellung und den Verfech­ tern der bürgerlichen Grundrechte Spannungen aufgebaut, die 1895 mit Washingtons ausgleichender Kompromiss-Rede von Atlanta begonnen und sich 1900 mit dem panafrikanischen Kongress in London fortgesetzt hat­ ten. An jene Rede erinnert man sich ihres Slogans wegen noch, mit dem Washington zur ökonomischen Selbsthilfe aufgerufen hatte, „Cast down your bucket where you are“ [„Arbeitet dort zusammen, wo ihr lebt, und

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nutzt alle Möglichkeiten, die euer Ort euch bietet“]; der Kongress hinge­ gen wurde zum Forum für den berühmtesten der politischen Kontrapunkte, die Du Bois setzte: „Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Rassenschranke [color line] – das Verhältnis der dunkleren zu den helleren Rassen der Menschheit in Asien und Afrika, in Amerika und auf den In­ selgruppen.“ Mit dieser Feststellung, die weltweit auf Resonanz stieß und zu unterschiedlichen Interpretationen Anlass gab, eröffnete Du Bois das zweite Kapitel seines Buchs The Souls of Black Folk. Sie fand auch ein bemerkenswertes Echo in einem von Webers letzten Briefen aus New York an die Adresse von Du Bois: „I am quite sure to come back to your coun­ try as soon as possible and especially to the South, because I am absolu­ tely convinced that the „colour-line“ problem will be the paramount pro­ blem of the time to come, here and everywhere in the world“ (17. Novem­ ber). Auch wenn es Weber nicht möglich war, noch einmal wiederzukom­ men, gelang es ihm doch, die einschlägigen Fragen in seinem Werk weiterzuverfolgen. In dem Kampf um Gleichstellung und bürgerliche Grundrechte in den Vereinigten Staaten begannen die Ansichten auseinanderzugehen zwischen der alten Führungsschicht und der jüngeren Generation gebildeter Afroame­ rikaner, die es mit drängenden organisatorischen, programmatischen, poli­ tisch-strategischen und sozialpolitischen Fragen tun hatten. Diesen Belas­ tungen lagen noch grundsätzlichere Fragen zugrunde, bei denen es um das Selbstverständnis, die Kontrolle und Lenkung der Bewegung und um die Ziele des Kampfes ging und immer mehr auch um das, was bei Du Bois die „Tuskegee-Maschine“ hieß. Wenn die von den unterschiedlichen Grup­ pierungen vertretenen politischen, pädagogischen und geschäftlichen Inter­ essen auch nicht grundsätzlich unvereinbar waren, so gerieten sie mit ihnen doch immer heftiger aneinander. Bis wohin das führen konnte, machte der gewaltsame Zusammenstoß zwischen Unterstützern und Gegnern Washing­ tons im Juli 1903 deutlich, zu dem es im Anschluss an dessen Rede zu den Bostoner Vertretern des National Negro Business League gekommen war, und dann wiederum das öffentliche Aufeinandertreffen von Washington und Du Bois im darauffolgenden Januar, bei dem diese beiden Vorkämpfer ihre divergierenden Positionen in der Carnegie Hall vor einem kleinen Kreis von New Yorker Führungskräften präsentierten, darunter Andrew Carnegie, ohne dass einer der beiden den Sieg davontragen konnte. Die Meinungsverschie­ denheiten und das Ausbleiben von Fortschritten bei den bürgerlichen Grundrechten sorgten dafür, dass Du Bois die Initiative ergriff und im nächsten Jahr die Niagara-Bewegung ins Leben rief; einige Jahre später wird er die National Association for the Advancement of Colored People gründen, eine auf nationaler Ebene wirkende Vereinigung zur Unterstützung und Förderung der Farbigen.



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Abbildung 8: Du Bois war der Einzige, der Webers Einladung gefolgt ist und einen Artikel für das Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik verfasste. Nach ihrem Zusammen­ treffen in St. Louis rühmte Weber Du Bois als den „bedeu­ tendsten soziologischen Gelehrten, der in den amerikanischen Südstaaten überhaupt existiert“. Harvard University Archives, call # HUP Du Bois, W. E. B. (1). Abdruck mit freundlicher ­Genehmigung.

In seinem Buch The Souls of Black Folk, das ein Jahr vor Webers An­ kunft erschienen war, hatte Du Bois im Kapitel „Über Mr. T. Booker Wash­ ington und andere“ bereits die Wichtigkeit des Kampfes herausgestellt und dessen potenzielle Dimensionen umrissen. In seiner kritischen Abhand­ lung, bei der es sich um eine überarbeitete Fassung eines früheren Artikels handelte, pries Du Bois Washingtons Doktrin und dessen Eintreten für

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„Sparsamkeit, Geduld und die Berufsausbildung für die Massen“, missbil­ ligte jedoch den Verzicht auf die politische Macht, den Kampf um die bürgerlichen Grundrechte, das Streben nach höherer Bildung und auf den Selbstbehauptungswillen der Schwarzen, ohne die Washingtons Lehre und sein Programm zum Scheitern verurteilt wären. Weber las Du Bois’ Buch, dieses „brillante Werk“, wie er es später nannte, vermutlich während seiner Reise durch Amerika. Die Tatsache, dass er Washington in einem seiner Briefe aus New York wissen ließ, dass er seine Arbeiten gelesen habe („hav­ing read your works“; wahrscheinlich zumindest Up from Slavery und Character Building), deutet darauf hin, dass Weber, der ein unermüdlicher Leser war, diese Materialien auf der Reise sammelte und verschlang. Im Falle von The Souls of Black Folk waren es Stil und Wortschatz, die ihn seinem Bekunden nach fesselten; das Buch beeindruckte ihn derart, dass er Du Bois nach seiner Rückkehr nach Deutschland seine frühere Promoven­ din Else Jaffé als Übersetzerin empfahl und selbst eine Einführung schrei­ ben wollte. Unglücklicherweise kam das Projekt aufgrund von Jaffés Mut­ terpflichten und wegen diverser Turbulenzen in ihrem Privatleben nicht zustande; außerdem zweifelte sie, ob sie der Kraft und Eleganz von Du Bois’ Prosa gewachsen sei und ihr mit dem eigenen Entwurf würde gerecht werden können. Es dauerte auf das Jahr genau ein ganzes Jahrhundert, bis endlich eine vollständige deutsche Übersetzung von Du Bois’ Meisterwerk vorlag. Es ist wichtig hervorzuheben, dass sich Webers und Du Bois’ Wege be­ reits in den frühen 1890er Jahren gekreuzt hatten, als Du Bois Student an der Berliner Universität war. Du Bois erinnerte sich später daran, dass er bei Weber Vorlesungen besucht hatte, vermutlich in der Zeit, als dieser als Ersatzreferent für Wirtschaftsrecht und Römisches Recht fungierte, weil sein Doktorvater Levin Goldschmidt, unter dessen Anleitung er 1889 Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter verfasst hatte, krank­ heitsbedingt ausfiel. Womöglich war es auch so, wie Nahum Chandler na­ helegte, und Du Bois hörte Weber, als dieser vor den Mitgliedern des ein­ flussreichen Vereins für Socialpolitik zur ostelbischen Frage sprach. In jedem Fall gehörte Du Bois zusammen mit Seligman zu den wenigen amerikani­ schen Wissenschaftlern, die Webers frühes Werk kannten und um sein An­ sehen wussten. Dennoch trafen sie erst in St. Louis das erste Mal als Kol­ legen zusammen, sehr wahrscheinlich beim Frühstück (Webers Erinnerung nach) und vielleicht auch, als Weber seine Rede hielt. Worüber sie sprachen, ist nicht bekannt, wenngleich es dabei bestimmt auch um die Rassenfrage und das Problem der afroamerikanischen Arbeitsverhältnisse im Nachbür­ gerkriegssüden gegangen sein dürfte. Im November fragte Weber brieflich aus New York bei Du Bois an, ob er für das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik einen Artikel über die Rassenfrage und die Beziehungen



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zwischen den Rassen in den USA schreiben wolle. Du Bois erklärte sich bereit und verfasste den Beitrag einige Monate später und war damit der Einzige, der auf eine der zahlreichen editorischen Initiativen einging, die Weber auf seiner Reise startete; sein Essay „Die Negerfrage in den Verei­ nigten Staaten“ wurde in deutscher Übersetzung veröffentlicht, der Weber eine kurze redaktionelle Anmerkung beifügte. Du Bois muss seinerseits Weber zu einem Besuch der Atlanta University eingeladen haben, da dieser den Besuch erwogen hat; das Vorhaben kam jedoch aus einer Reihe von Gründen nicht zustande, unter anderem deshalb, weil Du Bois verreist war, als Weber am 8. Oktober durch die Stadt kam. Die Beziehung Webers zu Du Bois hob sich insofern deutlich von seinen Beziehungen zu anderen Personen ab, als es zwischen ihnen nicht nur um die aktuellen Fragen zu den Rassenbeziehungen, zur gesellschaftlichen Gleichstellung und zur Sozialpolitik ging, sondern ferner um einen Kanon an intellektuellen Annahmen und Thesen zum sozialen und ökonomischen Leben, den sie miteinander teilten. Dieser gemeinsame Denkhorizont muss nicht weiter überraschen, denn er war mit eine Folge des Bildungsaustauschs zwischen Deutschland und den USA vor 1914, für den Du Bois mit seinen Erfahrungen exemplarisch stand. Die Beziehung hatte also zwei Seiten; einmal Du Bois’ Ausbildung an der Berliner Universität von 1892 bis 1894, wo er Gustav Schmollers renommiertes Seminar zur Volkewirtschaftslehre besuchen durfte und mit der besten wissenschaftlichen Forschung vertraut gemacht wurde, die die deutsche Sozialwissenschaft zu bieten hatte; die andere trat eine Dekade später während Webers Reise und in den nachfol­ genden Kommentaren und Schriften zutage. David Levering Lewis stellte in seiner Du Bois-Biographie heraus, wie wichtig die deutsche Historische Schule der Nationalökonomie für dessen intellektuelle Entwicklung gewesen ist. Erwähnung verdient, dass Du Bois’ universitäres Programm dem Weber’schen stark ähnelte: Du Bois studierte vorrangig bei den Nationalökonomen Schmoller und Adolf Wagner, hörte aber auch die beiden Historiker Heinrich von Treitschke und Max Lenz. Sein Statistiklehrer war August Meitzen, unter dessen Leitung Weber seine Habilitationsschrift in Römischem Recht verfasste, Die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891). Die Bedeutung von Schmollers Seminar zur Volkswirtschaftslehre, wo Du Bois im Dezember 1893 Teile seiner geplanten Doktorarbeit „Die landwirtschaft­ liche Entwicklung in den Südstaaten der Vereinigten Staaten“ vortrug, kann für die deutsche und amerikanische Forschung in den Sozialwissenschaften nicht überschätzt werden. Das Berliner Seminar bot zahlreichen angehenden Wissenschaftlern – darunter Richard Ely und Albion Small aus den USA und Georg Simmel und Werner Sombart auf deutscher Seite – die Möglich­ keit, ihre begrifflichen und empirischen Fähigkeiten zu trainieren und wei­

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terzuentwickeln; auf welch fruchtbaren Boden dies bei Du Bois fiel, zeigt sich an Texten wie The Philadelphia Negro, den Atlanta University Publi­ cations zur Jahrhundertwende, seiner Arbeit zum Zensus von 1900 oder seinem Beitrag für das Archiv, die führende sozialwissenschaftliche Zeit­ schrift in Deutschland. Genau wie Webers Untersuchungen aus den 1890er Jahren zur Agrarver­ fassung, den Landarbeitern und den eingewanderten Arbeitskräften im ost­ elbischen Deutschland, offenbaren auch Du Bois’ frühe Arbeiten, dass ihr Autor die Untersuchungsmethoden beherrschte und sich auf statistische Verallgemeinerungen ebenso verstand wie auf die Darlegung und Interpre­ tation der Stände, Klassen und Kasten, des sozioökonomischen Gefüges, der Entwicklungsverläufe und -zusammenhänge und der Rolle, die die Rassen und die ethnischen Gemeinschaften spielten. In gewisser Hinsicht kann man sagen, dass es nicht allein die Frage der Rassen und der ethnischen Gemein­ schaften war, sondern auch das damit zusammenhängende Interesse an verhältnismäßig agrarisch geprägten Ökonomien, an der Dynamik von In­ dustrialisierung und Urbanisierung, den anspruchsvollen Methoden der So­ zialforschung und den Aussichten auf Strukturreformen, das Weber ur­ sprünglich auf die Spur von Du Bois’ Arbeiten brachte – ein Interesse, das in Wahrheit von der in Berlin bevorzugten institutionelleren und stärker sozialwissenschaftlich ausgerichteten Variante der Nationalökonomie ge­ weckt und befördert und dann von Ely, Small, Seligman, Hollander, William Z. Ripley, Robert Park und sogar Thorstein Veblen an amerikanischen Uni­ versitäten gelehrt und vertreten wurden. Ein mit Blick auf die Geschichte der Sozialwissenschaften noch bedeutsamerer Punkt ist der, dass eine, in den Worten Dorothy Ross’, „einheimische Forschungs- und Untersuchungs­ tradition“, die „mit den progressiven Reformen in den Städten im Bunde stand“ und von der Autorität der deutschen Sozialwissenschaft abgesichert war, an der Institutionalisierung der Soziologie in den Colleges der Schwar­ zen und an Smalls Chicagoer Universität mitwirkte, wobei diese selbst sich darüber hinaus zu einem Zentrum für die Ausbildung afroamerikanischer Sozialwissenschaftler entwickelte, das sie heute noch ist. Diese Entwicklun­ gen standen natürlich in Einklang mit Du Bois’ frühem Bildungsprogramm, das in Atlanta und in den Auseinandersetzungen mit Washington feste Form angenommen hatte. Einen für Webers generelle Sicht wichtigen Anhaltspunkt enthält bereits sein St. Louiser Vortrag über die ländliche Gesellschaft, in dem er, wie wir sahen, darlegte, dass das Nebeneinander von unfreier Sklavenarbeit und kapitalistischer Marktproduktion in der alten Plantagenwirtschaft zu unhalt­ baren Widersprüchen führte und einen erbittert ausgetragenen Bürgerkrieg zur Folge hatte. In der Nachkriegszeit aber waren die drängenden sozialen Probleme des Südens seiner Behauptung nach „auch auf dem Lande wesent­



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lich ethnischer, nicht wirtschaftlicher Art“. Seine Reise durch den Süden; sein Aufenthalt in Tuskegee; seine Gespräche mit Weißen im Süden und im Anschluss dann mit Reformern im Norden wie Edwin R. A. und Caroline Beer Seligman und Helen Francis und Julia Sandford Villard im November 1904 in New York; und seine Lektüren von Washington, Du Bois und den auf Wirken Du Bois’ von der Atlanta University herausgebrachten Schriften sowie der Arbeiten der American Negro Academy schienen diese Einsicht zu bestätigen. Du Bois’ Archiv-Beitrag war in Teilen eine Reaktion auf Webers Feststel­ lungen bezüglich der Frage des Zusammenhangs zwischen Rasse und Klas­ se, die er in seinem ersten Brief an Du Bois aus New York in der für ihn typischen englischen Schreibschrift (mit gelegentlichen latinisierten Schrei­ bungen) abfasste: Until now, I failed in finding in the American (and, of course, in any other) lite­ rature an investigation about the relations between the (so-called) „race-problem“ and the (so-called) „class-problem“ in your country, although it is impossible to have any conversation with white people of the South without feeling the connec­ tion. We have to meet to-day in Germany not only the dilettantic literature à la H[ouston] St[ewart] Chamberlain & Cons., but a „scientific“ race-theory, built up on purely anthropological fundaments, too, – and so we have to accentuate espe­ cially those connections and the influence of social-economic conditions upon the relations of races to each-other. I saw that you spoke, some weeks ago, about this very question, and I should be very glad, if you would find yourself in a position to give us, for our periodical, an essay about that object. (8. November)

Webers Brief liefert einen wichtigen Fingerzeig, wie kritisch er über Rasse dachte, lange vor seinem scharfen Angriff auf Alfred Ploetz, den er 1910 in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegen diesen Verfechter der vorgeblich ,wissenschaftlichen‘ Theorien führen wird. Seine intellektu­ elle Position gegenüber der sozialen Konstruktion der Rasse ist hier bereits deutlich, und dass es an einer ernsthaften und tiefgreifenden Erörterung von Klasse und Rasse mangelte, war eine berechtigte Klage, auch wenn Du Bois den einen oder anderen einschlägigen Essay verfasst hatte. Die aktuellen Schriften, die Weber zur Hand genommen hatte, wie etwa Thomas Pages The Negro: The Southerner’s Problem (1904), die das McClure’s Magazin als Serie herausbrachte, waren in der Tat „oberflächlich“, wie er später gegenüber Du Bois sagte. Der Austausch mit Du Bois erhellt, dass Weber ein großes Interesse an der Rassenfrage in Amerika nahm. Er muss einen Zeitungsbericht über Du Bois’ Rede gelesen haben, von der sich ein Exemplar in dessen Nachlass erhalten hat (mit dessen eigenen handschriftlichen Korrekturen). Du Bois hielt den Vortrag „Caste in Amerika“ im Twentieth Century Club in New York und wiederholte ihn auch vor anderem Publikum; eine Fassung mit

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dem Titel „Caste: That Is the Root of the Trouble“ wurde am 19. Oktober 1904 im Register Leader von Des Moines, Iowa, abgedruckt. Die „Rassen­ frage“, so sein wichtiges Argument von damals, sei Teil und Folge der Unvereinbarkeit des Jefferson’schen Gleichstellungsversprechens mit der von Diskriminierung und „Knechtschaft“ geprägten Wirklichkeit, wofür er wiederum den „Kastengeist“ verantwortlich machte, „der sich in einem Land erhebt, das auf dem Urgedanken des immer währenden Widerstands gegen das Klassenprivileg wie auf einen Fels gegründet wurde.“ Du Bois räumte zwar ein, dass sich die unterschiedlichen Fähigkeiten und Leistungs­ vermögen der Einzelnen zwangsläufig in sozioökonomischen Unterschieden niederschlagen würden, stellte aber zugleich heraus, dass eine auf Leistung und wirtschaftlichem Erfolg basierende soziale Schichtung und Chancenord­ nung eine ganz andere Gesellschaft ergäbe als ein eisernes „System von Klassenprivilegien und unveränderlichen Kastenabstufungen“, das auf der Rassenzugehörigkeit beruht. Hinter den von ihm ausgemachten Bestrebun­ gen „nach einer neuen Sklaverei, durch den Versuch, Kapital aus dem Rassenvorurteil zu schlagen und Schranken der Hautfarbe zu errichten“, erkannte er wirtschaftliche Interessen und Rassenängste. Der öffentliche Widerstand gegen diese Form der Unterdrückung halte sich deshalb in Grenzen, weil die von der neuen Sklaverei betroffenen Menschen „haupt­ sächlich Schwarze“, die Armen und die Machtlosen seien. Du Bois warnte in diesen Passagen, dass solche Entwicklungen „Zivilisationen ausgelöscht“ hätten und forderte eine neue moralische Ordnung der Aufrichtigkeit und eine Politik, die sich an einer Idee ausrichtet, für die sich später der Aus­ druck „Chancengleichheit“ einbürgerte. Fast genauso argumentierte Du Bois in seinem Beitrag für das Archiv, zumal im letzten Teil, in dem er sich mit dem „neuen Kastengeist“ befass­ te. Das englische Manuskript reichte er zusammen mit einer Liste der neuesten Literatur über „die Negerfrage“ ein, für ihn „die Frage der Fra­ gen“, und mit einer kurzen und bescheidenen Erklärung, dass der Aufsatz „eine ziemlich eilig geschriebene Arbeit“ wäre und Weber nicht zögern sollte, „sie zusammenzustreichen oder abzulehnen, falls sie dem Gewünsch­ ten nicht entspricht.“ Weber kürzte den Aufsatz leicht und fügte ihm einen redaktionellen Kommentar bei; darin wies er darauf hin, dass Du Bois und andere die einschlägigen Themen in den Ausgaben 1–9 der Atlanta Univer­ sity Publications näher untersucht und über die auf diversen Konferenzen von 1896 bis 1904 diskutierte Forschung Bericht erstattet hatten; er würdig­ te auch die Verdienste von The Philadelphia Negro und The Souls of the Black sowie der elf von der American Negro Academy bis dahin veröffent­ lichten Occasional Papers – all diese Literatur wollte Weber eigentlich für das Archiv besprechen oder besprechen lassen, wozu es jedoch nicht kam, weil er sich unmittelbar, intensiv und unvorhergesehen mit der Russischen



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Revolution von 1905 befassen musste – jenem Ereignis, das wohl mehr als jedes andere das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der revolutionären Umbrüche, Kriege und beispiellosen Gewalt der Massen ankündigte und das Du Bois’ weitsichtige Voraussage über die „Rassenschranke“ eine Zeit lang in den Hintergrund treten ließ. Bei eingehender Betrachtung muss man sagen, dass Du Bois keinen Grund hatte, so bescheiden von seinem Beitrag zu Webers Zeitschrift zu denken, schließlich entfaltete er in den ersten beiden Teilen seines Aufsatzes eine um­ fassende politische Soziologie von den Klassenverhältnissen im Nachkriegs­ süden unter Rassengesichtspunkten, wobei er zum Teil auf seine bereits ver­ öffentlichten Arbeiten über das Freedman’s Bureau [eine behördliche Interes­ sensvertretung der befreiten Sklaven], die schwarzen Farmer und die Arbeits­ verhältnisse in der Landwirtschaft Bezug nahm. Er zeigte auf, dass das System, das sich im ,black belt‘ [eine ,Schwarzerde‘-Region in Alabama und Mississippi] herausgebildet hatte, die Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mittel war, eine Kombination aus Zwang oder Leibeigenschaft und der Aus­ nutzung der Sträflingsarbeit. Zur Teilung der Landarbeitskräfte in die vier sozioökonomischen Schichten – mit den Pächtern an der Spitze, gefolgt von den Halbpächtern, dann den ,croppern‘ (denjenigen ohne Kapital) und den Landarbeitern am unteren Ende – kamen noch offizielle rechtliche und inof­ fizielle gesellschaftliche und politische Beschränkungen, die die Bewegungs­ freiheit der Afroamerikaner hemmen und ihren Unternehmungsgeist unter­ drücken sollten. Die Rasse schlug sich unübersehbar in der Klassenstruktur nieder; die allermeisten schwarzen Amerikaner führten eine Randexistenz als Halbpächter und hatten kaum Aussicht, sich aus ihrer Zwangslage zu befrei­ en. Du Bois sah darin ein System von Frohndienst oder „Patronatsherrschaft“, und dieses glich in seinen charakteristischen Merkmalen jener Herrschaftsbe­ ziehung, die in Webers frühen Schriften über die Landarbeiter und in seiner späteren Herrschaftssoziologie in Wirtschaft und Gesellschaft als eine spezi­ elle Spielart des Traditionalismus in Erscheinung trat: der patriarchalen Herr­ schaft. Webers und Du Bois’ bekannter Zeitgenosse Carl Schurz bezeichnete diese Arbeitsverhältnisse in einem Beitrag für das McClure’s Magazin vom Januar 1904 schlichtweg als Leibeigenschaft: „Es gibt zwei, und nur zwei Möglichkeiten; entweder wird aus der Leibeigenschaft der Neger ein Dauer­ zustand – und sie bleiben auf bloße Plantagenhelfer reduziert, ,Seite an Seite mit den Maultieren‘, und faktisch rechtlos – oder sie werden als Bürger im eigentlichen Sinne des Wortes anerkannt.“ Schurz’ unumwundene Einschät­ zung und politische Bewertung der Lage, die in seiner Kenntnis der Verhält­ nisse vor Ort gründete, kam Du Bois’ Untersuchungen und Webers Beobach­ tungen ziemlich nahe. Zwischen Du Bois’ Analyse und Webers Erörterung der ostelbischen Ag­ rarverhältnisse in den 1890er Jahren gibt es einige auffallende Parallelen.

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Beide Darstellungen sind im gleichen Geist der historischen Nationalökono­ mie verfasst. Beide sezieren das Problem der abhängigen Arbeit, einer „zweiten Leibeigenschaft“, innerhalb einer Ordnung, die ein unhaltbarer Widerspruch zwischen einer zerbrochenen traditionellen Ordnung und kapi­ talistischen Produktionsweisen entstellte. Der Zusammenhang zwischen der Klassen- und der „Rassen“-Frage bildete den Schwerpunkt der einen Dar­ stellung, und der zwischen den Klassen und dem Problem der aus dem Ausland eingewanderten Arbeitskräfte den der anderen. Beide Autoren er­ kannten im uneingeschränkten Landbesitz und in der Landflucht die zwei Hauptmöglichkeiten, der Knechtschaft zu entgehen. Beiden war natürlich darüber hinaus klar, dass das Leben in der Gemeinschaft einen Schutzwall gegen die feindliche Umgebung bildete, wie die afroamerikanische Kirche höchst anschaulich vor Augen führte. Daneben gab es noch die seltener ergriffene Möglichkeit, den Bildungsweg einzuschlagen und über den Ein­ tritt in den Beruf Zugang in eine andere Welt, in dem Fall die bürgerliche Geschäftswelt, zu finden. Doch was die Entwicklungsdynamik anbelangte, war der Süden nicht mit Ostelbien gleichzusetzen. Es waren seine ,Abwei­ chungen‘ von den alten europäischen Gesellschaften, der entschieden ge­ führte Kampf zwischen Klasse und Rasse um den Verlauf der Konfliktlinien in Amerika und die Gefahr, dass die Rassenschranke ein bestimmender Faktor hinsichtlich der Kaste werden könnte, die für Weber und Du Bois eine Herausforderung für das Verständnis des Südens darstellten. Neben ihnen gab es einen weiteren Beobachter von außen, der das wis­ senschaftliche Erbe kannte: Gunnar Myrdal. In An American Dilemma be­ zog er sich ausdrücklich auf eine von Webers verallgemeinernden Aussagen über das Verbandsleben und dehnte sie auf die Gemeinschaft der Schwarzen aus; Weber hätte diese Anwendung begrüßt: „Max Weber sah den Sinn und Zweck der zahlreichen amerikanischen Geselligkeitsvereine [social clubs] im geschäftlichen, politischen und gesellschaftlichen Erfolg der Mitglieder, zu dem sie sich gegenseitig zu verhelfen suchen. Auf die amerikanischen Neger trifft das nur eingeschränkt zu […] die deshalb in Vereinen aktiv sind, weil sie in den meisten anderen Organisationen des amerikanischen Lebens nicht mitwirken dürfen […] Der enorme Umfang der Vereinsaktivi­ täten bei den Negern ist so gesehen ein schlechter Ersatz für die politische Betätigung, von der sie die Kaste abschneidet.“ Derweil der Ausdruck „Kaste“ vermutlich ganz aus dem allgemeinen Diskurs verschwunden ist und quasi keine Verwendung mehr findet, bestehen ein Jahrhundert nach dem Austausch zwischen Weber und Du Bois Spannungen fort, die ihre Ursache in Ungleichheiten haben – das heißt in sozioökonomischen Un­ gleichheiten, die auf die „Rasse“ und das Rassedenken zurückgehen, und solchen, die auf die „Klasse“ oder den sozioökonomischen „Status“ zurück­ gehen, um den häufig gebrauchten Ausdruck zu verwenden. Auch wenn uns



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ein Denken in den Kategorien von Klasse und Rasse offenkundig wider­ strebt, von den Kasten ganz zu schweigen, dringen doch ab und an Vorgän­ ge ins öffentliche Bewusstsein, und der Schleier des Vergessens lüftet sich. Du Bois seinerseits hat die Klassenfrage nie vergessen; bei seinem späteren Wechsel in ein radikales politisches Lager bezog er sich zentral auf sie. Webers Begeisterung für Du Bois’ Werk, und vor allem für Souls of the Black Folk, hat schließlich auch damit zu tun, dass und wie dieses Werk über die eher nüchternen Kategorisierungen der Sozialwissenschaft hinaus­ ging und Erfahrungsbereiche erschloss, die einer eng gefassten Wissenschaft womöglich entgangen wären. Nicht zu vergessen ist, dass Du Bois zudem ein Schützling William James’ war und von manchen als dessen wichtigster Schüler betrachtet wird. Das nachdenkliche und lyrische Moment seiner Art zu schreiben kommt auch in dem Aufsatz für das Archiv zum Tragen, wenn er sich der für ihn wesentlichen Frage nach dem „intellektuellen“ und „spi­ rituellen Kampf“ zuwendet und sich vorstellt, wie der „Gelegenheitsbesu­ cher des Südens“ einen Augenblick der Entfremdung erleben und ungläubi­ gen Blickes unter „den Schatten der Rassenschranke“ wieder zu sich kom­ men würde; das Bild selbst übernahm er aus einem seiner früheren Essays, „The Relation of the Negroes to the Whites in the South“. Du Bois gibt hier einen aufschlussreichen Einblick in das Empfinden des von weither kom­ menden Reisenden angesichts der gesellschaftlichen Zustände im Süden, die ihn fassungslos machen und schockieren. Weber war vorbereitet auf das, was ihn erwarten würde, und wurde doch mit ungewöhnlicher Intensität in die Erfahrung hineingezogen. Schon beim Lesen von Du Bois’ The Souls of the Black dürfte ihn das Gefühlsleben beeindruckt haben, das darin beschworen wurde, und die Trauerlieder oder „sorrow songs“, die Du Bois geschickt arrangierte und die Teil einer aus­ drucksstarken musikalischen Kultur waren, die an die deutsche Romantik denken ließ, mit der Weber so vertraut war. Er hielt fest, dass Leben und Einrichtungen der Afroamerikaner nicht jene strenge und schmucklose Äs­ thetik aufwiesen, die er bei manchen der protestantischen Sekten vorgefun­ den hatte. Obwohl er sich um eine Gelegenheit bemüht hatte, die Gesänge auf den Tabakfeldern des Südens zu hören, war ihm diese Möglichkeit versagt geblieben, wie er Karl Bücher gegenüber später bedauerte. Doch zwei Wochen, nachdem er Tuskegee verlassen hatte, konnte er in Washing­ ton D.C. den musikalischen Auftritt der afroamerikanischen Baptisten ver­ folgen und ihren Gesängen lauschen, die sie in dem großen Kirchenbau ihrer Gemeinde der Neunzehnten Straße darboten. Weber besaß ein fein entwickeltes Gehör für diese kulturelle Ausdrucksform und wusste um die Verbindungen zwischen Arbeit, Musik, Lyrik und Spiritualität. Schließlich war er vor Theodor W. Adorno der einzige große Gesellschaftstheoretiker, der bedeutende Beiträge über die Musik in ihrem globalen kulturellen Zu­

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sammenhang zu verfassen vermochte. Man darf wohl vermuten, dass er sich zu den Gefühlsvariationen unweigerlich hingezogen fühlte, die in diesem anderen und doch ganz vertrauten Reich der Spiritualität zum Ausdruck kamen, in der Du Bois ein „unausgesprochenes Verlangen nach einer wahr­ haftigeren Welt von Nebelwanderungen und Geheimwegen“ erkannte. Am Ende ihrer Korrespondenz äußerte Weber die Hoffnung, Du Bois mö­ ge ein Sabbatjahr in Deutschland verbringen, und gab dann erneut seiner Hoffnung Ausdruck, in die USA zurückzukehren: „I shall come to the United States, I think, 1907 or 8“ (1. Mai 1905). Du Bois hatte sein Leben lang In­ teresse an dem deutschen Geistes- und Kulturleben, und er stattete Deutsch­ land einen weiteren Besuch ab, allerdings erst 1926, lange nach Webers Tod. Die Lektionen von Tuskegee In ihren Schilderungen der amerikanischen Reise bedachte Marianne Weber Du Bois oder die aufkommende politische Debatte in den afroame­ rikanischen und den Reform-Kreisen mit keinem Wort, und sie nahm auch die Kommentare ihres Mannes über Du Bois nicht mit in ihre Ausgabe der Gesammelten Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik von 1924 auf. Über die Zugreise durch den Süden von Memphis durch New Orleans nach Tus­ kegee, Knoxville (Tennessee) und North Carolina verlor sie nur einen Satz. Zwei Seiten sind Tuskegee gewidmet; darin zitierte sie ausgiebig einen der Briefe ihres Mannes, verzichtete aber auf eigene Kommentare. Warum sie die Akzente so setzte, scheint klar: Positiv fiel der starke Eindruck ins Ge­ wicht, den Margaret Washington und ihr Kreis in Tuskegee bei ihr hinter­ ließen; diesen Kontakt, der ihren feministischen Interessen entgegenkam, schilderte sie auf typische und erhellende Weise. Doch sie litt auch unter der Hitze und dem feuchten Wetter und bekam in der Folge Migräne, die tagelang anhielt. Die beiden Wochen nach St. Louis können nicht angenehm gewesen sein und müssen ihr Durchhaltevermögen auf eine harte Probe gestellt haben. New Orleans enttäuschte; eine erstickende Hitzewelle setzte ihnen zu und führte zu schlaflosen Nächten; Erholung fanden sie ob der Schwärme von Moskitos in den Parks nur wenig, dazu war das alte French Quarter „ame­ rikanisiert“ und im Niedergang begriffen. Froh, das „verfluchte Loch“ hinter sich zu haben, reisten die Webers mit dem Zug weiter nach Mobile in Alabama und den Alabama-Fluss entlang über Montgomery nach Tuskegee. Auf dem Weg beobachtete Max die „Spuren des scheußlichsten Raubbaues der alten Baumwoll-Plantagen“, sah die „elenden Negerhütten“, bevor die ausgedehnten Pinienwälder in Sicht kamen, die von Holzexportfirmen be­ wirtschaftet wurden.



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Tuskegee dagegen eröffnete inspirierende und angenehme Aussichten und hinterließ (in Mariannes Worten) eine „ganz ergreifenden Eindruck“. In ih­ rer Biographie schrieb sie mit noch mehr Emphase, „was sie fanden, war wohl der ergreifendste Eindruck der ganzen Reise“. Wobei freilich sie es war, die sich auf diese Weise emotional berührt zeigte. Tuskegee wirkte wie eine Oase reformistischen Eifers, sozialen Engagements und eines fest um­ rissenen Erziehungs- und Ausbildungsprogramms. Von New York aus fasste Max seinen Eindruck in einem Brief an Booker T. Washington zusammen: „It was – I am sorry to say that – only at Tuskegee I found enthusiasm in the South at all.“ (6. November) In der Wahl des Wortes verriet sich eine wichtige Idee, denn Enthusiasmus, die Eigenschaft spiritueller oder ,göttli­ cher Inspiration‘, dem Altgriechischen ένθουσιασμός entlehnt und mit der asketischen Moral weitergegeben, wirkte seit Platons Tagen stets anziehend auf die Schöpfer und Bewahrer kultureller Werte, auf historische Gestalten wie Washington und Du Bois. Washington selbst war wiederholt zum Geldeinwerben in den Norden aufgebrochen und befand sich bei der Ankunft der Webers nicht in der Stadt, so dass sie liebenswürdigerweise von dessen Frau und den Angestell­ ten als Gäste aufgenommen wurden. Sie aßen mit Margaret Washington zu Mittag, sahen sich in der „Negererziehungsanstalt“ (Marianne) um und trafen mit dem Lehr- und Verwaltungspersonal zusammen. Weber erwähnt speziell die Dekanin der Frauen Jane E. Clark, die Washingtons älteste Tochter Portia im darauffolgenden Jahr für deren zweijähriges Musikstudi­ um bei Professor Martin Krause nach Berlin begleitete; Warren Logan, den Kassenwart und zweiten Mann in der Hierarchie; Robert R. Taylor, den am Massachusetts Institute of Technology ausgebildeten Architekten, der für die Gebäude und Anlagen zuständig war; und den „Professor für Landwirt­ schaft“, bei dem es sich entweder um George Washington Carver oder George R. Bridgeforth gehandelt haben dürfte. Während des kurzen Aufent­ halts überflog Weber die Schriften Washingtons und konsultierte möglicher­ weise auch hier die Bibliothek, während Marianne ein abendliches Treffen des Tuskegee Woman’s Club besuchte, das von Margaret Washington orga­ nisiert worden war und unter ihrer Leitung stand. Max vermerkte die unge­ wöhnliche Verbindung von „sozial freier Luft“, praktischer Berufsausbildung und dem nicht konfessionsgebundenen Bibelstudium mit dem „conquest of soil“-Ideal (Bodengewinnung und „Züchtung von Farmern“). Marianne war abermals in ihrem Element und fühlte sich ebenso wohl wie bei den Zu­ sammenkünften in Hull House; sie war ergriffen von dem „Idealismus und Streben“ der gebildeten Frauen, mit denen sie zusammentraf. In Chicago hatte sie ihr Augenmerk auf die Frauen und die Arbeitsverhältnisse gerich­ tet, in Alabama hingegen verlegte sie sich auf die Frauen und das Rassen­ problem.

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Beiden Webers fielen die Unterschiede und die soziale Schichtung inner­ halb der schwarzen Bevölkerung auf; Marianne hielt fest, dass die Lehrer „teilweise so weiß wie ich“ waren und beide berichteten sie über den Ras­ sismus und seine Auswirkungen. Unter den Weißen hatte Max zufolge jeder „eine andre Meinung“ zu Booker Washington und seinem Werk, von tiefstem Abscheu gegen jede Negerbildung, welche den Pflanzern die „Hän­ de“ nimmt, bis zu der bei südlichen Weißen nicht seltenen Meinung, er sei der größte Amerikaner aller Zeiten außer Washington und Jefferson, – aber ausnahms­ los teilen sie die Ansicht, „social equality“ oder „social intercourse“ sei ewig undenkbar, auch oder vielmehr grade mit der gebildeten und oft zu 9 / 10 weißen Oberschicht der Neger. Dabei Planlosigkeit, ohnmächtiger Haß gegen den Yan­ kee – ich habe wohl hundert weiße Südstaatler aller Parteien und sozialen Klassen gesprochen, und das Problem scheint darnach absolut hoffnungslos, was aus die­ sen Leuten werden soll. (Am oder nach dem 13. Oktober; NMW)

Mit „diesen Leuten“ meinte Weber nicht die gebildeten Afroamerikaner, sondern diejenigen Weißen, die er wie seinen Onkel Fritz zu den „braven, stolzen, aber kopflosen und im heutigen Daseinskampfe verlorenen Men­ schen“ zählte. Weber rechnete einige seiner anderen Verwandten zur selben Kategorie, was Marianne in ihrer Darstellung allerdings nicht erwähnte. Mariannes in einem sehr persönlichen Ton vorgebrachten Überlegungen gipfelten darin, dass sie die Festlegung und soziale Konstruktion der Rasse selbst infrage stellte. Im Rahmen der Schilderung des günstigen Eindrucks, den sie von der am College ausgebildeten Jane Clark gewonnen hatte, machte sie klar, dass Clark in ihren Grundempfindungen, persönlichen Be­ dürfnissen und in ihrer Lebensauffassung den gebildeten weißen Frauen näherstand als den armen Schwarzen vom Land: Und doch – zwischen ihr u. den Weißen besteht keinerlei soziale Gemeinschaft, sie wird von ihnen zu der verachteten Rasse gerechnet, niemals darf sie hoffen, von den Leuten ihrer Bildung u. ihren Empfindungsweise als gleichwertig aner­ kannt zu werden. Der eine Tropfen Negerblut in ihren Adern schließt sie auf immer aus von der legitimen Lebensgemeinschaft mit einem weißen Mann. In der Tat, jeder Weiße, der vorurteilslos genug wäre, um mit diesen Menschen gesell­ schaftlich zu verkehren, wird von seinen eignen Rassengenossen geboykottet. Und das nennt man Christentum u. Anerkennung der „Menschenrechte“! Ich finde das ganze Verhalten der Weißen hier im Süden gegenüber diesen hochgebildeten Mischlingen einfach empörend. (12. Oktober; NMW)

In letzter Konsequenz, setzte sie hinzu, läge dem allen ein wirtschaft­ liches Motiv zugrunde: Rassenhass und Rassentrennung wären reine ,Schutz­ maßnahmen‘, um die schwarzen ,Hände‘, die die am wenigsten angesehenen Arbeiten verrichteten, von jeglicher höherer Bildung abzuschneiden. Diese anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Rassenproblematik setzten sie einige Tage später in Knoxville in diversen Gesprächen mit den Verwandten fort – in erster Linie mit Max’ Halbvetter William (,Bill‘) Miller. „Wir



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sprachen mit Bill über das Rassenproblem u. er ist viel zu gutherzig, um nicht schließlich zuzugeben, daß das Verhalten der Weißen gegenüber der gebildeten Oberschicht der Neger Ungerechtigkeit ist, zuckt im Übrigen aber noch die Achseln.“ Es gab jedoch eine Möglichkeit, dem Würgegriff der Kaste zu entkom­ men: einerseits durch „Bildung“ (Marianne), d. h. die Erziehung und Wei­ terentwicklung der Persönlichkeit, andererseits durch soziales Handeln und soziale Solidarität. Der Slogan des Woman’s Club, „lifting as we climb“ (die persönliche Weiterentwicklung der Frauen führt auch zu einer Weiter­ entwicklung der Gemeinschaft der Schwarzen), vermittelte das moralische, soziale und pädagogische Lehrcredo, den ,Geist von Tuskegee‘, wie es so­ wohl Margaret als auch Booker T. Washington zum Ausdruck brachten. Aus Mariannes Sicht wies das Bildungssystem von Tuskegee, an dessen Spitze Aktive wie Clark und der durch die religiöse Schule der Quäker gegangene Washington standen, in Bezug auf die Frauen grundsätzlich die gleichen Grundzüge der persönlichen Weiterentwicklung und der Erziehung zur selbstständigen und unabhängigen Persönlichkeit auf, eingebettet in ein Netz aus unterstützenden sozialen Beziehungen, wie sie sie an den FrauenColleges im Norden wie Bryn Mawr und Wellesley und Max an der North­ western University, am Haverford College, an der Harvard University und an anderen Einrichtungen beobachten wird. So gesehen war das zeitgenös­ sische Modell für das moralische System von Tuskegee das ,College‘, und viele Schichten darunter der in der weit zurückliegenden amerikanischen Vergangenheit formulierte Urtext der voluntaristischen Sekte. Tuskegee aber war noch mehr als das: Im Herzen des Südens bildete es eine Oase, in der die sozialen Klassen- und Kastenzwänge gebannt waren. Entsprechend dürfen die moralisierenden Sonntagabend-Ansprachen Boo­ ker T. Washingtons, von denen 37 in seinem Buch Character Building versammelt sind, als ein sinnfälliger Ausdruck der in Tuskegee vermittelten Lehrmeinung gelten. Nach heutigen Maßstäben kann Washingtons Botschaft von moralischer Rechtschaffenheit, persönlicher Verantwortlichkeit und hoffnungsfrohem Optimismus sich sowohl wunderlich altmodisch ausneh­ men als auch subversiv modern wirken. „Persönlichkeit ist eine Macht“, rief er seinem Publikum ins Gedächtnis. „Wenn ihr euch durchsetzen wollt in der Welt, wenn ihr stark, einflussreich und nützlich sein wollt, dann solltet ihr einen starken Charakter haben und eine starke Persönlichkeit sein.“ Die Anklänge an Franklin sind unüberhörbar, hier und zumal in einer Rede über die ,Ein gesparter Penny ist ein verdienter Penny‘-Moralpredigten, die We­ ber für seine Charakterisierung des ,kapitalistischen Geistes‘ von Benjamin Franklin übernahm. Doch auch in Washingtons Lehren findet sich die klas­ sische für die Rassenzusammenhänge blinde Meinung: „Gott kennt keine Rassenschranke“, intonierte er, „und Er will zu einem Geist erziehen, der

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uns vergessen lässt, dass es irgendwo eine solche Schranke gibt. Wir wollen größer und weitherziger sein als die Menschen, die uns wegen unserer Hauptfarbe unterdrücken.“ In solchen Sätzen bekundete sich eine Art mora­ listischer Reaktion auf Du Bois. Weber hätte die Differenzen zwischen Washington und Du Bois auf inte­ ressante Weise schlichten können, sah er in Tuskegee doch ein machtvolles Ethos verwirklicht, das der Würde der Arbeit und der Disziplinierung der Person im Dienste eines säkularen Ideals Nachdruck verlieh. In der Protestantischen Ethik spürt er den Werten dieser im Kern asketischen Haltung in den Vorstellungen von Beruf und Berufung nach und bringt sie dann wieder in dem völlig anderen Zusammenhang von Franklins Regeln für ein zweck­ volles und nutzbringendes Leben zur Sprache, das auf „moralische Vervoll­ kommnung“ und das Vorankommen in der Welt gerichtet ist. Demnach hat Weber, wie man annehmen darf, Character Building und Up from Slavery (dt.: Vom Sklaven empor) im ,Geiste‘ von Franklins Advice to a Young Tradesman und seiner Autobiography gelesen, so wie er Washingtons Erzie­ hungssprojekt in Tuskegee über den Aspekt der praktischen Berufsausbil­ dung hinaus als einen großangelegten Versuch auffasste, der auf die Wie­ derherstellung der moralischen Ordnung und der Persönlichkeit des Men­ schen abzielte. Weber hatte sicherlich die Charakterbildung oder Persönlich­ keitsentwicklung im Sinn, als er am Ende der anschließenden Debatte über die Protestantische Ethik auf Washingtons Äußerungen im fünften Kapitel von Up from Slavery Bezug nahm und betonte, dass es einen großen und entscheidenden Unterschied gebe zwischen der Behauptung eines „gött­ lichen ,calls‘ “, wie er etwa – „von Booker Washington ergötzlich geschil­ dert“ – „den Neger zu befallen pflegt, wenn er die Existenz als Heiliger derjenigen als Arbeiter vorzieht“ – aber genauso alle anderen, die sich aus der Verantwortung stehlen, andere täuschen oder sich weltliche Vorteile verschaffen wollen –, und einer echten „Berufung“ als Ausdruck der unbe­ dingten Hingabe an einen Beruf und seine asketischen Forderungen. Jene sei reiner Selbstbetrug, ein „Schmarotzer-Missionartum“. Von dieser aber ließe sich als von einem Anstoß zu einer Revolution von innen sprechen, einem Authentizitäts- oder Echtheitsprogramm durch die Disziplinierung und Umgestaltung des Einzelnen. Darin bestand für Weber die wahre Be­ deutung des Tuskegee Institute, seine Wahrhaftigkeit. Washingtons Botschaft war gleichwohl eine moralische Botschaft, und das machte ihre Stärke und inspirierende Kraft aus. Das Problem mit ihr ist, dass sie die Tendenz hatte, die historisch tief verwurzelten historischen und sozialen Realitäten auszublenden, desgleichen die herausfordernde Bedro­ hung durch das Kastendenken, und dass sie allenfalls indirekt politisch sein konnte. Sie konnte die Rassensoziologie, die Du Bois begründen wollte, nicht verdrängen und war kein Ersatz für sie, und mit ihr ließ sich auch



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nicht die Frage nach der gesellschaftlichen Gleichstellung und den Men­ schenrechten aufwerfen, die Du Bois in seinem Artikel für das Archiv zur Frage aller Fragen erklärt hatte: „Können die weiße und die schwarze Ras­ se in Amerika in Freiheit und Gleichheit zusammenleben? Was heißt ,zu­ sammenleben‘ in einem freien, modernen Staat?“ Sicherlich konnte es nicht bedeuten, die Ungerechtigkeit der sozialen Kasten hinzunehmen. Wenn zu­ sammenzuleben heißen sollte, getrennt voneinander zu leben, wenn auch in moralischer Rechtschaffenheit, dann wäre das Jefferson’sche Versprechen des amerikanischen Experiments vollends verleugnet und endgültig verloren gewesen. Rasse und ethnische Gruppe, Klasse und Kaste Webers Kontakt mit Du Bois, die Reise durch den Süden, sein kurzer Aufenthalt in Tuskegee und die zahlreichen Gespräche auf dem Weg – all diese Erlebnisse wirkten mit daran, dass der Horizont seiner intellektuellen Interessen sich weitete. Beim Nachdenken über die wichtigsten Kategorien der Erfahrung fand er Wege und Möglichkeiten, sie vom amerikanischen Kontext zu abstrahieren und die Ideen in Teilen seiner bekannten Erörterun­ gen von Rasse, ethnischer Gruppe und Nationalität; Klasse, Stand und Kaste; Herrschaft und Macht oder Autorität; und der Religionssoziologie umzuarbeiten. Die Begrifflichkeit dieser Erörterungen, die in der Folgzeit in der amerikanischen Forschung kanonisiert wurde, verdankt ihren Reichtum und ihre Fülle zu einem Teil diesem nachhaltig prägenden Abschnitt. Eine unmittelbare Konsequenz dieses Aspektes seiner Reisen in Amerika – worauf amerikanische Soziologen und ein aus Deutschland emigrierter Wissenschaftler früher bereits hingewiesen haben – war das Wortgefecht bei der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1910). In ei­ ner der Sitzungen zu den „Begriffen Rasse und Gesellschaft“ war das The­ ma auf die Rassenungleichheit gekommen, als Max Weber in eine hitzige Auseinandersetzung mit Alfred Ploetz geriet, einem Vertreter der vorgeblich ,wissenschaftlichen Theorie‘ der Rasse, die sich auf Vorstellungen des bio­ logischen Determinismus stützte. Weber hatte Ploetz bereits in seinen Brie­ fen an Du Bois erwähnt und nutzte nun die Gelegenheit für eine Würdigung Du Bois’ und seines Werks. Er wies Ploetz’ Argumentation einmal mehr zurück und strich die sozioökonomischen Bestimmungsfaktoren der Rassen­ verhältnisse heraus, während er seine Zuhörer daran erinnerte, dass es sich bei der ,Rasse‘ um eine kulturelle Kategorie handelt und dass das Vorurteil (in seinen Worten), „nicht […] Produkt von Tatsachen und Erfahrungen, sondern von Massenglauben“ ist. Ploetz’ Behauptung, die „Minderwertig­ keit“ ließe sich mit den Methoden der empirischen Wissenschaft belegen, konterte er energisch und schneidend: „Nichts dergleichen ist erwiesen. Ich

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möchte konstatieren, daß der bedeutendste soziologische Gelehrte, der in den amerikanischen Südstaaten überhaupt existiert, mit dem sich kein Wei­ ßer messen kann, ein Farbiger ist – Burckhardt [sic] Du Bois. In St. Louis auf dem Gelehrtenkongreß durften wir mit ihm frühstücken. Wenn aber ein Herr aus den Südstaaten dabei gewesen wäre, so wäre es ein Skandal ge­ worden. Der hätte ihn natürlich intellektuell und moralisch minderwertig gefunden: wir fanden, daß er sich betrug wie irgend ein Gentleman.“ Und zu dem allgemeinen Problem angeblicher rassischer Gruppenmerkmale oder Personeneigenschaften nahm er genauso eindeutig und scharf Stellung: „Aber daß es heutzutage auch nur eine einzige Tatsache gibt, die für die Soziologie relevant wäre, auch nur eine exakte konkrete Tatsache, die eine bestimmte Gattung von soziologischen Vorgängen wirklich einleuchtend und endgültig, exakt und einwandfrei zurückführte auf angeborene und vererbliche Qualitäten, welche eine Rasse besitzt und eine andere definitiv – wohlgemerkt: definitiv! – nicht, das bestreite ich mit aller Bestimmtheit!“ Bei den angeblichen Rassenunterschieden, die landläufig geltend gemacht wurden und die so verschiedenartige Merkmale wie Arbeitseinstellung und Körpergeruch umfassten, handelte es sich um soziale ,Erfindungen‘ oder um Beispiele einer Soziologie der Sinne, wie sie Webers Kollege Georg Simmel auf den Weg gebracht hatte. Solche Behauptungen entbehrten jeglicher fak­ tischer, natürlicher oder ,anthropologischer‘ Grundlagen. So ließe sich etwa die Hypothese vertreten, dass sich die Verachtung der körperlichen Arbeit im Zuge der von amerikanischen Ökonomen festgestellten ,Feudalisierungs­ tendenz‘ herausgebildet habe oder dass „es sich da einfach um einen Euro­ päisierungsprozess handelt[e], der in Amerika zufällig diese Nebenerschei­ nung zeitigt[e]“. Das gleiche Thema wurde zwei Jahre später auf der zweiten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erneut debattiert; Weber intervenierte abermals und verwies warnend darauf, dass „sich mit Rassentheorien bele­ gen und widerlegen [lässt], was man mag.“ Als „wissenschaftliches Verbre­ chen“ geißelte er den Versuch, die schwierige soziologische Analyse eines Problems durch die Anwendung unkritischer und verworrener Rassenbegrif­ fe und -hypothesen zu umgehen. Zwei zeitlich und vom Lebensmilieu her weit entfernte Wissenschaftler haben sich mit Webers Amerikaerfahrung genauer befasst und sind dabei der Frage nachgegangen, welche Spuren sie in seinem Denken hinterlassen und in welchen Zusammenhängen sie Eingang in sein Werk gefunden hat. Der deutsch-jüdische Flüchtling und Platon-Kenner Ernst Manasse, der nach seiner Flucht aus Nazideutschland an einem der Tradition nach schwarzen College der North Carolina Central University in Durham als Lehrer tätig war, hielt fest: „Die unmittelbare Beobachtung der Rassenkon­ flikte in den Vereinigten Staaten schien Weber mehr als jede andere Erfah­



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rung von der Notwendigkeit überzeugt zu haben, die Rasse in ihren sozia­ len Implikationen zu untersuchen.“ Manasses einsichtsvoller Kommentar beruhte zweifellos auf eigenen Erfahrungen im Süden. Seiner Auffassung nach analysierte Weber die sozialen Implikationen der Rasse vornehmlich in der Religionssoziologie und im Rahmen der Diskussion von Kaste, Klasse, Stand und ethnischen Gemeinschaften in Indien, China und im alten Judentum. Solche Kategorien spielen in diesen Studien ohne Frage eine wichtige Rolle – zumal in der Auseinandersetzung mit den Kasten und den Kastentabus im Hinduismus. In jüngerer Zeit hat Karl-Ludwig Ay den Fokus geschärft, indem er Webers begriffliche, logische und methodo­ logische Einwände gegen die Kategorie der Rasse und ihre erklärende Ver­ wendung hervorhob und den Rahmen für die wissenschaftlichen Fragen im Fach der politischen Ökonomie abgesteckte. Außerdem wies er darauf hin, dass Weber die Nordamerikabeispiele tendenziell in die Ausarbeitung sei­ ner ­systematischen Kritik des Rassebegriffs einfließen ließ, wobei er dazu auch ein näherliegendes ,Problem‘ hätte wählen können – den Antisemitis­ mus nämlich. Wie wollte Weber Aufklärung schaffen über die Rassen- und Klassenfra­ ge? In der politischen Ökonomie war die Diskussion bereits in Gang ge­ bracht worden, da er in seinen Heidelberger nationalökonomischen Vorle­ sungen von 1898 unter der Überschrift „Die biologischen und anthropolo­ gischen Grundlagen der Gesellschaft“ eine systematische Darstellung der zeitgenössischen Literatur zu Rasse und ethnischen Gemeinschaften gegeben und dabei auf 30 Quellen Bezug genommen hatte, von Ludwig Gumplowicz bis Adolphe Quetelet. Diese frühe bibliographische Übung diente ihm als Ausgangsbasis für seine weiteren nationalökonomischen Vorlesungen und späterhin dann für die ausgereiften Darstellungen in seiner unvollendet ge­ bliebenen Hauptabhandlung Wirtschaft und Gesellschaft, in der er die Zen­ tralbegriffe Rasse, ethnische Gruppe, Nationalität, Klasse, Stand und Kaste einer kanonischen Betrachtung unterzog. Wenn es irgendetwas gibt, was sich aus dem sorgsam formulierten Text von Wirtschaft und Gesellschaft heraushebt, so Webers äußerste Skepsis, ob Rasse und ethnische Gemeinschaft oder ethnische Zugehörigkeit taugliche Begriffe darstellten, von denen ohne Erklärung Gebrauch gemacht werden könnte. In seinen letzten Ausführungen zum Gegenstand in dem nämlichen Abschnitt über die soziologischen Begriffe behauptete er beispielsweise, dass „die Gemeinsamkeit von […] biologische[m] Erbgut, welches als ,Rassen‘-Merkmal angesehen wird, an sich natürlich noch keinerlei Verge­ meinschaftung der dadurch Ausgezeichneten“ bedeutet. Andere Faktoren wie etwa die Gemeinsamkeit der Sprache, Geschichte, Tradition, des religi­ ösen Glaubens oder das Zusammengehörigkeitsgefühl, die einer gemein­ schaftlichen Handlungsorientierung vorausgehen, seien für die Bildung einer

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sozialen Gemeinschaft entscheidend. Im Abschnitt über die ethnischen Ge­ meinschaften wiederum wird der Ursprung des Gemeinschaftsbewusstseins als äußerst heterogen betrachtet, es entspringe häufiger „gemeinsamen rein politischen Schicksalen“ als der „Blutsverwandtschaft“ oder „Abstam­ mungsgemeinsamkeit“. Die formale Definition verdeutlicht die soziale oder „künstliche“ Qualität von ethnischer Gemeinschaft: Der Stammverwandtschaftsglaube kann – ganz einerlei natürlich, ob er objektiv irgendwie begründet ist – namentlich für die politische Gemeinschaftsbildung wichtige Konsequenzen haben. Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht „Sippen“ darstel­ len, „ethnische“ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit ob­ jektiv vorliegt oder nicht. […] Die ethnische Gemeinsamkeit (im hier gemeinten Sinn) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemein­ schaftung erleichterndes Moment. Sie kommt der allerverschiedensten, vor allem freilich erfahrungsgemäß: der politischen Vergemeinschaftung, fördernd entgegen. Andererseits pflegt überall in erster Linie die politische Gemeinschaft, auch in ihren noch so künstlichen Gliederungen, ethnischen Gemeinsamkeitsglauben zu wecken […].

Vereinfacht gesagt handelt es sich bei der ethnischen Identität und der Rassenidentität keineswegs um Kategorien, die in der ,Natur‘ gründen, son­ dern um soziale und geschichtliche Konstruktionen mit politischem Hinter­ grund. Später lässt Weber eine Art Gnadenstoß folgen: Alles in allem finden wir in dem „ethnisch“ bedingten Gemeinschaftshandeln Erscheinungen vereinigt, welche eine wirklich exakte soziologische Betrachtung […] sorgsam zu scheiden hätte: die faktische subjektive Wirkung der durch Anla­ ge einerseits, durch Tradition andererseits bedingten „Sitten“, die Tragweite aller einzelnen verschiedenen Inhalte von „Sitte“, die Rückwirkung sprachlicher, religi­ öser, politischer Gemeinschaft, früherer und jetziger, auf die Bildung von Sitten, das Maß, in welchem solche einzelnen Komponenten Anziehungen und Abstoßun­ gen und insbesondere Blutsgemeinschafts- oder Blutsfremdheitsglauben wecken, dessen verschiedene Konsequenzen für das Handeln, für den Sexualverkehr der verschiedenen Art, für die Chancen der verschiedenen Arten von Gemeinschafts­ handeln, sich auf dem Boden der Sittengemeinschaft oder des Blutsverwandt­ schaftsglaubens zu entwickeln, – dies alles wäre einzeln und gesondert zu unter­ suchen. Dabei würde der Sammelbegriff „ethnisch“ sicherlich ganz über Bord geworfen werden.

Unter den gleichen Vorbehalt geriet auch der ,Rasse‘-Begriff. Die kritische Befragung von Sammelbegriffen und die notwendige Zerle­ gung in ihre konstitutiven Sinngehalte und Bezugsgegenstände, von denen Weber auch den Klassenbegriff nicht ausnahm, fanden ihre Fortsetzung in seiner meisterhaften Abhandlung „Klassen, Stand, Parteien“, die im englisch­



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sprachigen Raum unter dem von Gerth und Mills stammenden Titel „Class, Status and Party“ zu großer Bekanntheit gelangte. Der Text handelt in Wirk­ lichkeit von der Machtverteilung in politischen Gemeinschaften und unter­ sucht die ökonomische Macht (Klasse), die soziale Ehre oder das Prestige (Stand) und die organisierten Parteien in ihren Erscheinungen und Auswir­ kungen. Weber veranschaulichte die ständischen Konventionen tendenziell an amerikanischen Beispielen – die Gleichheit unter ,gentlemen‘, die soziale Vermischung von Chefs und Angestellten bei öffentlichen Anlässen, die Usurpation von so­zialem Rang durch die Geltendmachung von Herkunft oder Abstammung (z. B. durch die „first families of Virginia“ oder die Abkömm­ linge der Pilgerväter). In der äußersten oder extremsten Form entwickelt sich der Stand zur geschlossenen „Kaste“, wobei das im Allgemeinen nur da ge­ schieht, wo ihm „Differenzen zugrunde liegen, die als ,ethnische‘ angesehen werden“ – eine treffende Bemerkung zu dem, was ihm in Amerika begegnete. Weber begann mit einer Neufassung der Diskussion der sozialen Klasse in Wirtschaft und Gesellschaft, diese blieb jedoch ebenso Fragment wie die von Karl Marx im dritten und letzten Band seines Kapitals. Dieses sehr wichtige Thema schoben beide Denker so lange auf, bis es zu spät war. In diesen letzten Passagen kam Weber jedoch erneut auf den amerikanischen Süden zu sprechen und zeigte auf, dass es aus „kulturellen“ oder anderen Gründen gerade da nicht zu Klassenkonflikten kam und das Handeln nicht von ökonomisch determinierten Klasseninteressen bestimmt war, wo man das hätte erwarten können. Bei ihm heißt es: „Für das Fehlen des Klassen­ gegensatzes war die Lage des ,poor white trash‘ (sklavenlose Weiße) zu den Pflanzern in den Südstaaten klassisch. Der poor white trash war noch weit negerfeindlicher als die in ihrer Lage oft von patriarchalen Empfindungen beherrschten Pflanzer.“ Die Verdrängung und Überlagerung der ökonomi­ schen Klassen durch Kasten, Stände oder mehr oder weniger durchsichtige kulturelle Probleme und Auseinandersetzungen hat eine lange Geschichte in Amerika, die bis in die Moderne reicht. Auch wenn sie keine Notiz von Webers Arbeiten oder dessen Austausch mit Du Bois nahmen, befassten sich John Dollards und Hortense Powdermakers klassische und bahnbrechende Untersuchungen von Indianola, Mississippi, Caste and Class in a Southern Town (1937) und After Freedom: A Cultural Study in the Deep South (1939) mit genau diesem Thema – dem fortdauernden Kräftewechselspiel von Ras­ se, Klasse und Kaste. Die Amerikareise hatte an Bord der Bremen begonnen, zusammen mit Immigranten aus Zentral- und Osteuropa, und wird bei den settlement hou­ ses und in den jüdischen Einwanderervierteln von Manhattans Lower East Side zu Ende gehen. Genau zur Reisemitte kam Weber bei seinem Aufent­ halt am Tuskegee Institute mit der „Rassenschranke“ in Berührung. Was er dort und im Süden entdeckte, war das Wechselspiel von Klasse und Kaste

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und die Differenzierungen unter den sozioökonomischen Klassen innerhalb der Kastenordnungen sowohl der Weißen als auch der Schwarzen. Dem für die ,Rassenschranke‘ und ihre Auswirkungen geschärften Blick entging das Kastenproblem nicht, das eine handfeste Bedrohung für das demokratische Gesellschaftsideal darstellte. Ihm entging auch nicht der hohe Ausdifferen­ zierungs- und Schichtungsgrad innerhalb der Gemeinschaften der Weißen als auch der der Schwarzen. Mit dieser Beobachtung hatte Weber nicht gerechnet. Die Lage war viel härter, die Zusammenhänge viel komplexer, als Münsterbergs Verweis auf die „soziale Ausgrenzung“ vermuten ließ. In der Tat dürften ihm die Darstellungen Münsterbergs, Bryces und Tocquevil­ les in dieser Hinsicht keine Hilfe gewesen sein. Diesen Weg hatte er allein zurückgelegt. Weber ging letztlich davon aus, dass jede soziale Gruppe, ,Gesellschaft‘ oder ,soziale Ordnung‘ die Lebenschancen ihrer Mitglieder strukturiert und dabei von „offenen“ zu „geschlossenen“ Beziehungen übergeht, von „posi­ tiv“ zu „negativ“ privilegierten Verhaltensformen, Handlungen, Erwerbstä­ tigkeiten oder Lebensführungen. Die Frage war, wie sie das tat und auf welche Kategorien oder Leitvorstellungen sie dabei zurückgriff. Die Ant­ wort, die eine Gesellschaft auf diese Frage gab, stellte in seinen Augen den entscheidenden Test auf ihren Wert und ihr Ansehen in der Welt dar. Weber war nun einer Antwort nähergekommen; wenn auch keiner endgültigen, so doch immerhin einer viel komplexeren Einsicht darein, wie Amerika sich in dieser Frage verhielt.

7. Unterschiedliche Lebenswege Kolonialkinder Nach ihrem Aufbruch aus Tuskegee führte der Weg der Webers durch den Süden nach Washington D.C. Dort kamen sie am Abend des 18. Oktober 1904 an, nachdem sie in zehn Tagen fünf Staaten durchreist, mehr als tau­ send Zugmeilen zurückgelegt und in Atlanta; Chattanooga und Knoxville, Tennessee; Asheville und Greensboro, North Carolina; und in Richmond, Virginia, Station gemacht hatten. Diese zehn Tage waren ganz besonders ereignisreiche Tage, denn sie beinhalteten die Besuche bei der amerikani­ schen Verwandtschaft, den Nachfahren Georg Friedrich Fallensteins und seiner ersten Frau Elisabeth Benecke. Schon im Vorfeld der Abreise hatten sie sich etliche Male mit Max’ Mutter Helene in dieser Sache besprochen. Sie sorgte sich um die amerikanischen Verwandten und erwartete, dass ihr Bericht erstattet würde. Wie die „Kolonialkinder“ (so nannte man sie in der Familie) lebten und welcher Zukunft sie in der Neuen Welt entgegengingen, das hatte seit Jahren für innerfamiliären Gesprächsstoff gesorgt und gele­ gentlich auch für Streit und böses Blut, worauf Guenther Roth in seiner sehr schön gearbeiteten Familiengeschichte hingewiesen hat. Noch am 12. Au­ gust erkundigte sich Helene bei Max und Marianne, ob sie die Adressen von Bill Miller und James Miller hätten, und versprach sie ihnen sicher­ heitshalber nachzusenden. Genau wie das Abenteuer im Indianergebiet und der Besuch von Tuskegee wurde auch dieser Teil der Reise erst nach dem Aufenthalt in St. Louis arrangiert. Doch anders als bei Max’ Erkundungen ins Grenzland im Südwesten bedarf diese Reise keiner weiteren Erklärun­ gen: Das Zusammentreffen mit den Verwandten war einmal dazu gedacht, den Kontakt mit der Familie aufrechtzuerhalten, die Webers wollten aber auch über deren Lebensumstände berichten und den Erwartungen Helenes entsprechen. Fast alles, was von den Ereignissen während dieses Teils der Reise be­ kannt ist, weiß man aus Max’ und Mariannes Briefen. Es gibt jedoch eine ungewöhnliche Lücke in der Korrespondenz, die am 1. oder 2. Oktober beim Zwischenstopp in Memphis abbrach und erst zwischen dem 12. und 14. Oktober bei ihrem Aufenthalt in Asheville und Greensboro wieder ein­ setzte. Als sie in ihrem Hotel ‚The Manor at Albemarle Park‘ in den Bergen von Asheville, wo die Atmosphäre entspannt und die Luft angenehm warm

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war, erneut mit dem Briefeschreiben begannen, wussten sie nicht einmal genau, um welches Datum und welchen Wochentag es sich handelte. Zudem fehlt, worauf Marianne in einer späteren Anmerkung hinwies, der Schluss von Max’ Brief aus Asheville. Diese Lücken erschweren die Rekonstruktion der Reiseaufzeichnungen und sind zudem dabei hinderlich, den Aufenthalt bei den Verwandten in seiner Bedeutung zu ermessen. In dem Lebensbild ihres Mannes widmet Marianne den Geschehnissen bei den Verwandten zusammen mit dem kurzen Aufenthalt in Mt. Airy in North Carolina dreieinhalb Seiten, wobei sie auf Max’ Brief und ein paar von ihren eigenen in Washington D.C. verfassten Zeilen zurückgriff. Von den Ereignissen jenes Sonntags in Mt. Airy, es war der 16. Oktober, weiß man aufgrund der plastischen Schilderung der nachmittäglichen Taufe. Max beschrieb sie (etwas ausführlicher als in seinem Brief) in dem Artikel von 1906 „Kirchen und Sekten in Nordamerika“, wobei ihm das Geschehen als Material diente, an dem er den Stellenwert der Glaubenszugehörigkeit und, wie bei ihrem Aufenthalt in North Tonawanda, seine zentrale Unterschei­ dung zwischen einer institutionalisierten Kirche und einer voluntaristischen religiösen Sekte anschaulich machen konnte. Die in diesem Zusammenhang in der Biographie dargelegten Ansichten sind jedoch eher die Mariannes als die von Max. Zumindest ist in den einschlägigen Textpassagen von ihrer angeschlagenen Gesundheit die Rede (einer Erkältung und einem Asthmaanfall), zudem spiegeln sie, was noch mehr dafür spricht, ihre feministische Sicht wider, die sie in ihren Schriften der 1920er Jahre tendenziell in abgeschwächterer und weniger scharfer Form vorbringen wird. Werfen wir einen Blick auf ihre Klage von 1904, die sie über die gesellschaftliche Lage in Mt. Airy führte: Das Triebrad des inneren Lebens u. aller Handlungen ist bei diesen Menschen überhaupt das Familiengefühl, die Liebe u. Sorge für ihre Kinder und den ganzen Familienklüngel: Namentlich in den Herzen und Köpfen der Frauen regt sich sonst nicht viel, wie sollte es auch? Ihre Schulbildung ist denkbarst elementar, – kein Schulzwang – und die sogenannte Freischule läuft nur 4 Monate im Jahre. Man merkt’s auch. Die geistige Regsamkeit der Frauen ist unendlich viel geringer als die ihrer Männer u. deshalb ist es schwer, mit ihnen auf einen grünen Zweig zu kommen. Die Männer erleben u. erfahren vom Getriebe der Welt durch ihre geschäftliche Beziehung u. waren trotz des sehr unregelmäßigen Zeitungslesens ganz gut orientiert über das, was vorging. Mir fiel natürlich meist das Zusammen­ sein mit den Frauen zu, während Max draußen mit den Männern herumspazierte u. sie durch seine schönen Geschichten ergötzte. Man nahm einfach an, daß ich bei meinen eignen Geschlechtsgenossinnen am besten zu meinem Rechte käme. Aber wie seufzte ich nach den Männern!! Und wie spitzte ich die Ohren um von ihren Gesprächen etwas zu ergattern, und wie sehr habe ich einmal wieder das Los meines Geschlechts, das ihren [sic] Gesichts- u. Interessenkreis so begrenzt wie ihren Thätigkeitskreis bleiben läßt, bedauert! Mit einem Worte: die Frauen



7. Unterschiedliche Lebenswege147 waren sehr lieb u. gut, aber langweilig, mit den Männern war dagegen immer was anzufangen. (21. Oktober; NMW)

Es fällt nicht schwer, Mariannes Zwangslage nachzuempfinden, und man versteht ihre Entscheidung ohne Weiteres, diese ungnädigen, doch ehrlichen Passagen zurückzuhalten und nicht in ihr Lebensbild aufzunehmen. Was sie über die Schulausbildung sagte, traf zu: Der Besuch der öffentlichen Schu­ len war freiwillig, und das Schuljahr dauerte im Schnitt 20 Wochen. Im Unterschied zu Hull House oder zum Jane-Addams-Kreis in Chicago, wo sie in ihrem Element gewesen ist, kam sie sich bei den Verwandten in den Appalachen ganz deplatziert vor. „So lange wir dort waren fühlte ich mich […] ziemlich unbehaglich“, fasste sie die zwei vollen Tage in Mt. Airy zusammen. Nach dem zu urteilen, was einige Familienmitglieder in North Carolina bei späterer Gelegenheit mitgeteilt haben, ging es den Verwandten mit ihr nicht anders; Max „fanden sie einen mighty jolly fellow“, mit der Frau aber, die sie „Mary“ nannten, wussten sie nichts anzufangen. Für Mariannes Empfinden war dies der Tiefpunkt der Reise. Max war von unverminderter Munterkeit, sie dagegen dürfte verständlicherweise mit einem gewissen Neid und Verdruss auf die Kameradschaft unter den Män­ nern geblickt haben. Marianne wäre der gesamte Besuch bei der Verwandt­ schaft wohl nicht mehr als ein, zwei Absätze wert gewesen, hätten sie sich nicht zufällig an einem Sonntag in Mt. Airy aufgehalten und dort einen Gottesdienst bei den Methodisten und einen bei den Baptisten besucht, also bei zwei der Sekten, die Max am meisten interessierten und denen er im zweiten Teil der Protestantischen Ethik einige Abschnitte widmen wird. Da Marianne in ihrer Biographie jedoch nicht nur auf eine ausführliche Darstellung ihrer eigenen Reaktionen verzichtete, sondern auch auf eine genaue Schilderung der Reise selbst, war man sich bislang nicht im Klaren darüber, dass es in Wahrheit zu zwei Zusammentreffen mit Familienmitglie­ dern im Süden gekommen ist: das erste mit William (Bill) Miller und seiner Familie in Knoxville, Tennessee; das zweite mit den anderen Mitgliedern des Miller-(Fallenstein-)Clans jenseits der Berge in North Carolina. Marian­ ne zog sie beide zusammen und schrieb einen einzigen Satz über das erste­ re: „Einer von ihnen [Bill Miller], zunächst abwechselnd Bergmann und Elementarlehrer, jetzt Inhaber eines Anwaltsbüros, und mit einem schlauen Irländer, dem er die Arbeit tut, assoziiert, ist immerhin auf dem Weg zum Honoratioren.“ Mehr erfährt man nicht über die drei Tage in Knoxville. Doch wie die Gottesdienste in Mt. Airy, an denen sich die übrigen Mitglie­ der des Millerclans beteiligten, lieferten auch die Tage dort einige unerwar­ tete Einsichten.

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Nichts bleibt als der ewige Wandel der Dinge Als die Webers in Knoxville ankamen, was wahrscheinlich am 9. Oktober der Fall war, statteten sie Bill Miller einen Erwiderungsbesuch ab, der 1895 bei ihnen in Freiburg zu Gast gewesen ist, zusammen mit seinem Vater Friedrich (Fritz) Fallenstein, Helene Webers Halbbruder, auch bekannt als Francis Miller. Wie Guenther Roth darlegte, gab der Besuch der Millers in Freiburg Helene, die seinerzeit ebenfalls bei ihrem Sohn in der Schillerstra­ ße zu Gast war, einen willkommenen Auftrieb in den Monaten nach dem Tod ihrer Schwester. Allem Anschein nach haben sich Onkel Fritz und Bill auch mit Max gut verstanden, wenngleich der aufgrund von Überarbeitung, innerfamiliären Spannungen und den Vorbereitungen für einen Abstecher nach England nicht sonderlich gut aufgelegt war. Bills Vater, der „Old Captain“, wie er daheim in North Carolina genannt wurde, hatte ein abenteuerliches Leben gehabt; er war von dem Schiff, das ihn in die Neue Welt brachte, geflüchtet, kämpfte in den Seminolen-Kriegen der Jackson-Ära in Florida und Georgia, ging in den Norden, um in New York sein Glück zu machen, bestritt seinen Lebensunterhalt mit der Kunst­ schreinerei, bevor es ihn im Gefolge von Angehörigen der Herrnhuter Brü­ dergemeine in die Berge von Virginia verschlug, wo er heiratete und fortan ein Leben als Farmer führte – „zu seinem Unglück“, wie Max schrieb. Max muss die Geschichte von seinen Vettern gehört haben und womöglich auch von dem Mann, der sich um die finanziellen Dinge des Onkels kümmerte und den sie zufällig auf der Zugfahrt durch die Blue Ridge Mountains tra­ fen. Max hielt die Einzelheiten in einem der Briefe in die Heimat fest und setzte in einem aufschlussreichen Verweis hinzu, dass das Leben seines Onkels ihn an Gottfried Kellers Novelle von dem verhängnisvollen und selbstverschuldeten Niedergang und Ruin Schweizer Bergbauern erinnerte, Romeo und Julia auf dem Dorfe. Max’ gelegentliche literarische Bezugnah­ men erlaubten in allen Fällen Rückschlüsse auf die Bilder und Vorstellun­ gen, von denen er sich dabei jeweils leiten ließ: In diesem Fall hob er nicht auf die romantische Tragik von Kellers Shakespeare-Adaption ab, sondern auf die bäuerlichen Verhältnisse, eigentümlichen Gepflogenheiten und die mühselige Existenz der Landbevölkerung, die in ihrem Schicksal gefangen schien. Im Bürgerkrieg diente Onkel Fritz freiwillig in der Konföderiertenarmee, wo er zum Hauptmann aufstieg, und geriet dann offenbar in Kriegsgefan­ genschaft. Einer seiner Söhne, Jefferson Miller, schilderte Max die schreck­ lichen Bedingungen der Gefangenschaft in dem ihm zufolge „dummen Krieg“. Nach seiner Entlassung kehrte Fritz zu seiner Familie in die Berge North Carolinas zurück, wo er als Farmer gerade so über die Runden kam und wo er einmal als „county commissioner“ gewählt wurde, ein dem Land­



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rat vergleichbarer Posten. Max berichtete von der Loyalität seines Onkels zum Staat Virginia und seinem Glauben an dessen Sezessionsrecht; indem er sich für dieses Recht aussprach, setzte er sich über seine streng aboli­ tionistischen Ansichten hinweg und hielt sich an John C. Calhouns Auffas­ sung von der amerikanischen Verfassung, wie dieser sie in seiner Disquisition on Government entfaltet hatte; man muss freilich dazusagen, dass aus den erhalten gebliebenen Dokumenten nicht eindeutig hervorgeht, welche politischen Überzeugungen Fritz tatsächlich vertrat. Die Familie folgte jedoch nicht zur Gänze der absteigenden Handlungsli­ nie der Keller’schen Novelle. Bill muss einige der frühen Ambitionen seines Vaters aufgesaugt haben, da er das einzige der sechs Onkel Fritz gebliebe­ nen Kinder war, das sich – anders auch als die Kinder der nächsten Gene­ ration – aus den Begrenzungen der ländlich geprägten Appalachen löste, um eine Berufslaufbahn einzuschlagen. Von seiner Deutschlandreise zurückge­ kehrt, fasste er mit neunundzwanzig Jahren den Entschluss, sich an der University of Tennessee in Knoxville einzuschreiben, einer neuen, 1879 auf staatlich zugewiesenem Land errichteten Universität, die aus der Fusion des Blount College (gegründet 1794) mit der East Tennessee University hervor­ gegangen war. Die Universität erwies sich darin als progressiv, dass sie Frauen 1893 den Zugang gewährte; sie blieb aber auch ihren Gründungs­ prinzipien treu, und wie die Chicagoer Universitäten verlangte sie ihren Studenten noch 1904 die Teilnahme am Gottesdienst ab. Das Universitäts­ register führte Bill Miller als Student des zweijährigen Rechtsstudiengangs von 1895 bis 1897, mit der Anmerkung, dass sein bachelor of law einer von zehn Bachelorabschlüssen im Jahre 1897 war. Er setzte sein Studium im nächsten Jahr fort, Eintragungen über weitere Abschlüsse finden sich jedoch nicht. Im Vorgriff auf die Beendigung seines Studiums und vielleicht weil er erwartete, ein erfolgreicher Anwalt zu werden, heiratete er am 23. De­ zember 1896 Magnolia (,Nola‘) Brittian, und sie ließen sich dauerhaft in Knoxville nieder. Nach der Abschlussprüfung begann Bill mit seiner anwaltlichen Tätigkeit und ging dann 1898 eine Partnerschaft ein, die zwanzig Jahre halten wird, mit einem Mann namens John P. Murphy, dem „schlauen Irländer“ aus der zweiten Generation, wie Marianne ihn nannte. Das Unternehmen von W. F. Miller und J. P. Murphy ließ sich im Miller Building in der Innenstadt von Knoxville nieder. In allen städtischen Adressverzeichnissen dieser Zeit ver­ treten, scheint es eine über gute Beziehungen verfügende und erfolgreiche Partnerschaft gewesen zu sein, wenngleich Bill in den ersten Jahren noch gezwungen war, als Grundschullehrer, Bergarbeiter und Grundstücksspeku­ lant zusätzlich Geld zu verdienen. Er muss ein hohes Ansehen genossen haben, da er zudem vonseiten der Universität angefordert wurde, seine Professoren zu vertreten. Auch die Familie verließ sich auf ihn als Fach­

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mann; wie Max festhielt, kümmerte er sich um die finanziellen Angelegen­ heiten seines Bruders Hugh, der an Epilepsie litt, sowie um die seiner Schwester Elisabeth, die mit einem gewissen Robert Rawley verheiratet war, in dem die Familie einen „Spieler“ sah. In den Briefen an die Mutter und Schwiegermutter in Berlin und an die Tanten in Oerlinghausen berichteten Max als auch Marianne von den Erleb­ nissen in Knoxville, insbesondere in dem längeren Brief aus Asheville. Noch unter dem Eindruck von Tuskegee beobachteten sie die Rassenver­ hältnisse aufmerksam. In diesem Umfeld konnten sie die Haltung der wei­ ßen Südstaatler in der Rassenfrage relativ zwanglos erforschen. Knoxville selbst gab den Reisenden Gelegenheit, die Auswirkungen der Rassentren­ nung und der Diskriminierung der Schwarzen in der „Post-ReconstructionÄra“, der Zeit nach der Wiedereingliederung der abtrünnigen Südstaaten, aus nächster Nähe zu erleben: getrennte öffentliche Anlagen, Transportmit­ tel, Parks, Viertel, Kirchen und Schulen. Auch die Mechanismen der Be­ schneidung des Wahlrechts ließen sich hier studieren: restriktive Handha­ bung der Wählerregistrierung, die Wahlsteuer, Geheimwahl, die Bestätigung und Ratifizierung der Wahlresultate durch parteiische Wahlkommissionen und die manipulative Einflussnahme auf die Wahlkreisaufteilung. Knox County und das östliche Tennessee schwammen zwar mit auf der progressiven Reformwelle nach 1900. Im Urteil der Historiker aber war der Progressivismus als politische Doktrin eine vielschichtige und komplizierte Bewegung mit beträchtlichen regionalen Unterschieden, die sich bloß in einigen Ansichten zu Fragen der Industrialisierung, der Regierungsprinzi­ pien und der Rolle der „Wissenschaft“ in der öffentlichen Ordnung einig wusste. In Ost-Tennessee umfasste das „Reform-Ethos“ verschiedene grund­ sätzliche Anliegen: Verbesserungen im Bereich der Allgemeinbildung und der allgemeinen Gesundheit, Stärkung der Rechte der Arbeiterschaft, Stra­ ßenbau, Ausweitung des öffentlichen Dienstes und die Regulierung von Unternehmensinteressen und der allgemeinen Versorgungslage. Außerdem trat ein Teil der Progressiven auch für das Frauenwahlrecht ein, unternahm aber sonst nichts weiter für die Gleichstellung der Geschlechter. Wie an­ dernorts gingen auch hier von dem progressivistischen Credo keinerlei po­ sitive Effekte auf die Rassengerechtigkeit aus; es war nur „for whites“, wie C. Vann Woodward in seiner klassischen Geschichte des neuen Südens he­ rausstellte, und es tastete die „Kasten“-Beziehungen nicht an, die folglich wie gehabt fortbestanden. Der Progressivismus in dieser regionalen Spielart rührte auch nicht an die „getrennten Sphären“ für Männer und Frauen, wie Marianne in ihren fort­ gesetzten Klagen über die politisch-ökonomischen Haushaltsverhältnisse hervorhob. In Knoxville, wie ein paar Tage später in Mt. Airy, wurde sie in



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die häusliche Sphäre abgeschoben und sah sich rein auf den Umgang mit den Frauen und Kindern beschränkt: mit Bills Frau Nola, die sie „gutherzig u. nett, aber so passiv [und] phlegmatisch“ fand; deren einnehmende und hilfsbereite Mutter; eine Cousine, die zu Besuch war; und die beiden leb­ haften Kinder – den sechs Jahre alten Fritz und die vierjährige Ida, Bills angebetete „blauäugige Lilie“. Max indes hatte Zeit für die wichtigen und lebhaften Diskussionen mit Bill und den Männern. In dem arbeitsteilig ge­ regelten Haushalt war die Erziehung den erwachsenen Frauen überlassen, stellte Marianne fest, und sie scheint deren Herangehensweise geschätzt zu haben – die in ihren Worten „einfach“ und „demokratisch“ vorgingen –, obgleich sie die üblichen kulturellen Bedenken in punkto übertriebener Nachsicht und Mangel an Folgsamkeit zum Ausdruck brachte. „Demokra­ tisch“ bedeutete im häuslichen Kontext eine Art Ethos der Person (mit of­ fenkundig politischen Konnotationen), die zu Unabhängigkeit, Eigenstän­ digkeit, Bescheidenheit und zum Hinterfragen der Autoritätsinstanzen her­ angebildet werden sollte. Die gesellschaftliche Gleichstellung wurde in diesem Knoxville-Haushalt jedoch nicht angestrebt: Nola gestattete ihrem Sohn und ihrer Tochter nicht, mit den Arbeiterkinder aus der Nachbarschaft zu spielen; Marianne vermeldete: „Das Standesbewußtsein schießt wie ein Pilz aus dem Boden.“ Weil sie um Helene Webers Sorgen um die Verwandten wusste, merkte Marianne zudem an, dass Bill als das Familienoberhaupt auffallend reifer und mehr wie eine der hiesigen „Honoratioren“ wirkte. Doch im Gegensatz zu dem, was sie in ihrer Biographie nahelegte, spricht wenig dafür, dass ihn danach verlangt oder dass er die Mittel dafür gehabt hätte, der einflussrei­ chen Lokalelite beizutreten, ungeachtet des beruflichen Erfolgs, der ihm beschieden war, und der öffentlichen Verpflichtungen, denen er nachging. Max, der sein Augenmerk stets auch auf die materiellen Lebensgrundlagen richtete, hielt fest, dass Bills Jahreseinkommen 1000 $ ca (4200 M) [beträgt], er hat davon noch abzuzahlen an Schulden für seine Bureau-Einrichtung und legt etwas zurück, spekuliert etwas in Boden, sein Häuschen und Land hat er für 900 $ gekauft (½ des Werthes), Nola’s Haushalts­ budget beträgt, – da sie sweet potatoes u. dgl. selbst ziehen,– 20–25 $ (80–100 Mk.) monatlich. Solche Ziffern sind nur in den Südstaaten möglich, wo der Boden z. B. in Tennessee nur ½, in Alabama nur 1 / 5–1 / 10 so viel kostet wie in den von den Yankees eben erst seit einigen Jahren in Besiedlung genommenen Indianergebie­ ten von Oklahoma. (am oder nach dem 13. Oktober; NMW)

Die Knox-County-Akten weisen aus, dass Bill bis 1903 sogar an mindes­ tens zehn Bodengeschäften beteiligt war, darunter der Kauf von zwei neben­ einander liegenden Grundstücken in der Cornelia Street – die Gegend war zur damaligen Zeit ein nördlicher Außenbezirk –, auf denen das Haus er­ richtet wurde. Das Familieneinkommen scheint zwar nahe der Armutsgren­

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ze gelegen zu haben, Morgan Kousser aber hat gezeigt, dass es sicher im oberen Bereich der Südstaateneinkommen angesiedelt gewesen sein dürfte. (Im Jahr 1900 betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der ärmsten 76 Prozent der Bevölkerung gerade einmal 64 $!) „Bill prägte mir immer wie­ der ein, Dir zu sagen, er werde wohl nie ein ,rich man‘ werden, aber er sei ein ,very happy man‘ “, notierte Max und setzte hinzu: In der That so ist es – Marianne wird es wohl erzählen – eben diese Mischung von demokratischen Instinkten und Jefferson’schen Ideen, dem Typus der Fallenstein’schen Unfähigkeit sich zur Geltung zu bringen, wie ihn Onkel Roderich’s meiste Kinder repräsentieren, und eben doch mit dem aristokratischen Instinkt des alten Miner’s, des weißen Südstaatlers und des werdenden Honora­ tioren, ist doch etwas sehr Wunderliches und zeitigt nicht unbedenkliche Erzie­ hungsprinzipien, welche die Kinder außer stand lassen wird, hier im Lande in die Höhe zu kommen. Er arbeitet mit einem Iren zusammen – d. h. Bill thut die Arbeit; der Ire ist Assembly-Deputierter, Politiker und Schwerenöther, jener Typus des jovialen Schwadroneurs, der hier am ehesten politische Carriere macht, freundete sich sehr mit mir an, fand ich sähe wie ein Tennesseeman oder doch wie ein Kentuckyman aus etc. u. hat es hinter den Ohren. Trotzdem ist die Verbindung, wie ich nach Darlegung der Verhältnisse einsehen mußte, für Bill vorteilhaft. Der Ire thut zwar nichts, zahlt aber 1 / 3 des Bureaus und sein Anteil am Gewinn ist sehr klein. Der alte Kerl [er war 47!], der mich alsbald mit Geschenken von (ganz werthvollen) Büchern überschüttete, hat Bill nach dessen 2jährigem „Universitäts­ studium“ eines Tages auf der Straße gesehen, in sein Office geholt und sich Knall u. Fall mit ihm assoziiert und ihn so „gemacht“. Es ist eben Alles ein tolles Wechselspiel in diesen halbfertigen Verhältnissen – daß Bill 7 Monate miner, 5 Monate primary-school-teacher zu sein pflegte, wusste ich bisher auch nicht; sein Bruder wurde vom miner aus als physician auf die Menschen losgelassen. Vor Kurzem vertrat Bill, dessen Juristerei der eines deutschen Bureauvorstehers entspricht, den „Professor“ für common law auf 14 Tage, d. h. fragte die „Studen­ ten“ das aufgegebene textbook-Pensum ab, u. s. w. u. s. w. – ein tolles Durchein­ ander, in dem nichts bleibt als der ewige Wechsel aller Dinge, vor Allem des „Berufs“. (13. Oktober; NMW)

Max scheint sich mit Bill und seinem Rechtspartner gut verstanden und an dem Geben und Nehmen dieser Beziehungen Vergnügen gefunden zu haben. Denn immerhin verbrachte er mindestens zwei ganze Abende mit den Männern in der Stadt, an denen sie sicherlich über allgemeine öffent­ liche Themen miteinander diskutiert und möglicherweise auch eine politi­ sche Wahlkampfveranstaltung besucht haben. In seinen Briefen ließ er im­ mer wieder auch Bill zu Wort kommen und zitierte dessen Ansichten zu gesellschaftlichen Fragen. Und mindestens eines von Murphys Geschen­ ken, Arthur S. Colyars Life and Times of Andrew Jackson in zwei Bänden (1904), begleitete Weber zurück nach Heidelberg. Dass Max sich für die lokale Wahlpolitik interessieren würde, war zu erwarten gewesen, schließ­ lich kannte er sich in diesem Feld, das ihn von jeher faszinierte und fes­ selte, bestens aus.



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Besonderen Gefallen fand er an der Lebensgeschichte des irischen Part­ ners seines Vetters. Wie Webers Vater war John P. Murphy ein Berufspoli­ tiker geworden, der für die Politik und von ihr lebte. Der Knoxville Sentinel würdigte ihn zum Ende seines Lebens als „bekannten und renommierten Bürger, der seit mehr als 40 Jahren in der Stadt, im Staat und landesweit politisch wirkt.“ Er war der Sohn von irischen Einwanderern, ein Demokrat und Katholik, und hatte bereits als Elfjähriger zu arbeiten begonnen, als das Knoxville Journal ihn als Drucker anstellte. Murphy war im Wesentlichen Autodidakt, hatte später ein Rechtsstudium absolviert, bevor er die Partner­ schaft mit Bill Miller einging. Seine politische Laufbahn scheint während einer von Grover Clevelands Amtszeiten als Präsident einen ganz hilfreichen Schub bekommen zu haben, vermutlich während der ersten von 1885–89, als ihm seine politischen Dienste mit einer fest bezahlten Stelle im ameri­ kanischen Postdienst vergolten wurden, was zweifellos eine Gefälligkeit von der Art war, die Weber dem „spoils system“ zuordnete, also der Amts­ patronage, bei der ein Wahlgewinner seine Unterstützer mit Stellen in der öffentlichen Verwaltung belohnte. Murphy wurde späterhin zwei Mal für Knox County ins Unterhaus der Tennessee Assembly gewählt (wo er von 1893–95 und von 1901–03 vertreten war); im Oktober 1904 bemühte er sich erneut um den Einzug in die Versammlung (und war kein amtierender Abgeordneter, wie Weber nahelegte). Er war jedoch einer von elf Stadträten im Knoxville City Council und bekleidete diese bezahlte Amtstellung von 1891 an ununterbrochen, bis der gewählte Rat 1912 im Zuge landesweiter progressiver Reformbestrebungen durch eine fünf Mitglieder zählende Kommission ersetzt wurde. Der Herbstwahlkampf sah Murphy im Zentrum einer lärmenden innerund zwischenparteilichen Wahlschlacht in Knox County, in der sich der Parteiapparat der Demokraten, dem er angehörte und der damals Stadt und County kontrollierte, nicht nur mit den Kandidaten der Republikaner mes­ sen musste, sondern auch mit einem anderen Lager innerhalb der eigenen Partei. Murphys Flügel wurde abwechselnd als „organisierte Demokratie“, „Tysons Truppe“ nach einem ihrer Führungskräfte, Colonel L. D. Tyson, oder von der republikanischen Zeitung Knoxville Daily Journal and Tribune, die ihr Vergnügen darin fand, ihn mit der Tammany Hall, einer polit­ schen Seilschaft der Demokraten in New York zu vergleichen, einfach als „der Ring“ bezeichnet. Das gegnerische Lager wurde die „Reformer“ oder die „Bate Demokratie“ genannt, nach Senator William B. Bate, einem ihrer führenden ,Bourbon‘-Mitglieder [abwertend für Leute, denen aristokratische Ambitionen nach Art der französischen Bourbonen unterstellt wurden, die aber in Wahrheit in den meisten Fällen Modernisierer waren]; im demokra­ tischen Knoxville Sentinel hießen sie schillernder die „natural mugwumps“, also etwa die ,ewigen Abweichler‘, oder die „goo-goos“. Wie William R.

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Majors bemerkte, konnte man sich sicher sein, dass derartige Wahlgefechte in Tennessee „unerbittlich und unübersichtlich“ waren. Bei der Kampagne ging es um die übliche Mischung aus persönlichen Ambitionen und Vorwür­ fen bezüglich Korruption, Wahlbetrug und Postenvergabe an ungeeignete Personen, um Beschwerden über „prinzipienlose“ Politiker im „Ring“ und Scheinheiligkeit und Abtrünnigkeit unter den „mugwumps“. Dazu kam noch die verwirrende Vielschichtigkeit der Post-Reconstruction-Politik in Tennes­ see im Vorfeld der Prohibition. Tennessee war ein Grenzstaat, aber auch ein Südstaat, der sich aus drei geschichtlich und geographisch unterschiedlichen Teilen zusammensetzte; Knox County im östlichen Tennessee, wo ein Vier­ tel der Einwohnerschaft lebte, bildete das Zentrum einer republikanischen Wählermehrheit in einem Staat, der sich ansonsten fest in der Hand der Demokraten befand. In seiner bahnbrechenden Studie Southern Politics in State and Nation stellte V. O. Key fest, dass Tennessee während dieser Zeit faktisch aus zwei Einparteiensystemen bestand: Im Westen und in den Zentralregionen regier­ ten die Demokraten ein Gebiet, das vom Erbe der Plantagenwirtschaft, der Sklavenhaltung und des Rückhalts für die Konföderation geprägt war; die Republikaner wiederum kontrollierten den Osten, wo es kleine Farmen gab, die Sklaverei verhältnismäßig schwach ausgeprägt war und wo abolitionis­ tische und unionistische Ansichten von den allermeisten geteilt wurden. In Anbetracht dieser Realitäten wundert es nicht, dass Tennessee der erste Sezessionsstaat war, der die demokratische Ordnung im Laufe der Recons­ truction wiederherstellte. Die politischen Orientierungen und Parteienbin­ dungen, die während und nach dem Bürgerkrieg dort entstanden waren, erwiesen sich als bemerkenswert langlebig und äußern sich in einem ähn­ lichen Wählerverhalten bis in dieses Jahrhundert. Ferner machten sie den Staat insgesamt, verglichen mit anderen Südstaaten, zu einem verhältnismä­ ßig umkämpften Wahlgebiet, wobei die Konkurrenz zu Absprachen bei den Abstimmungen führte, unübliche Bündnisse entstehen ließ und die Partei­ maschinen in den Städten zum Heißlaufen brachte. Murphy – der einer lokalen Minderheit der Demokraten angehörte, die jedoch landesweit die Mehrheit stellten – schloss sich in diesem politischen Kontext dem reformorientierten und progressiveren Parteiflügel ,Neuer Sü­ den‘ an, der sich von der im Land dominanten ,Bourbon‘-Fraktion unter­ schied. Diese wechselnden Bezeichnungen sind mit Vorsicht zu genießen, im Allgemeinen aber verlief die Hauptteilungslinie zwischen jenen, die sich der Vision des ,Fortschritts‘ in Bildung und Wirtschaft verschrieben hatten (und sich also für die industrielle Entwicklung, für Eisenbahnverkehr, Wa­ renbeförderung und Urbanisierung starkmachten) und jenen, die die ,verlo­ rene Sache‘ hochhielten, für die Rechte der Staaten und das laissez-faire eintraten, die Überlegenheit der Weißen betonten und ihren Wurzeln zu der



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alten Plantagenbesitzeraristokratie nachspürten. Den ,Neuen Süden‘ im Blick hatten Organisationen wie etwa die 1901 gebildete Southern Good Roads Association oder die East Tennessee Education Association von 1903. Einer der führenden Verfechter der neuen Ideen war Arthur S. Colyar, der unter seinen Zeitgenossen als herausragender Industriemagnat galt. Er war auch ein wichtiger Strippenzieher, kandidierte allerdings drei Mal erfolglos für das Gouverneursamt; außerdem war er der Autor der Studie zu Tennes­ sees berühmtestem Politiker Andrew Jackson, die sich Murphy unlängst zugelegt und dann Weber übereignet hatte. Murphy kannte Colyar wahr­ scheinlich persönlich aus den Jahren, als sie in den progressiveren Kreisen der Demokraten politisch aktiv waren. Wie viele Landesteile zu Beginn des Jahrhunderts sah sich auch Tennes­ see zunehmend mit den regionalen Herausforderungen durch die ökonomi­ sche Entwicklung, die Macht der Unternehmen und die Notwendigkeit von Reformen im Bildungs- und Ausbildungssektor konfrontiert – mit jenen Problemen kurzum, die auch für den im Entstehen begriffenen modernen amerikanischen Staat zur Lösung anstanden. Murphy entschied sich für ei­ nes dieser Themen – für die Bildung –, als Schlüssel zur Bewältigung aller anderen Probleme. Mit dieser Position begab er sich in den Wahlkampf; am 8. Oktober 1904, einen Tag vor Max’ Ankunft, stellte er sie auf einer Wahl­ kundgebung vor. Wie die Lokalpresse berichtete, sagte Murphy, dass er von seinen Gegnern noch nicht angegriffen worden sei und dass er in Anbetracht der vorgerückten Stunde keine Diskussion mehr führen würde, dass er jedoch eine Zuwendung an die University of Tennessee in Höhe von 50.000 $ befürworte. Dass er sich 1000 Stipendien wünsche statt nur 275; zudem sei er für bessere Schulen in den County Districts, und dafür müsse etwas getan werden. Er plädierte für ein Gesetz, das die kostenlose Vergabe von Schulbüchern festschreibt, und auch für ein zwingendes Recht auf Bildung. Es müsste alles Erdenkliche unternommen werden, um die Schulbildung für unsere Kinder so kostengünstig und erschwinglich wie möglich zu machen. Er sprach sich für gute Straßen aus und für längere Schuljahre in den Districts.

In den nächsten Monaten entwickelte Murphy diesen Ansatz für eine Bildungsreform, die Tennessee zu einer seiner Größe angemessenen Univer­ sität verhelfen sollte, weiter aus, hob die Wichtigkeit der Bildungschance hervor und betonte, dass er „die Bildung so nah als irgend möglich an den armen Mann heranbringen“ wolle. Zu den politischen Leistungen, die ihn stolz machten, zählte er die Sicherung der Position des Fabrikinspektors, die er im Zuge seiner vorigen Parlamentstätigkeit durchsetzte und die Weber gutgeheißen hätte. Die Presse berichtete von den zahlreichen Veranstaltungen im Zusammen­ hang mit der bevorstehenden Wahl, und wenn Weber nicht sogar eine davon selbst besuchte, so dürfte er von den Debatten dieses überhitzten Wahl­

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kampfes mit Sicherheit zumindest gehört haben – wie gründlich und ge­ winnbringend er sich in die Zusammenhänge hineindachte, zeigt sich an seiner Auseinandersetzung mit dem Thema der politischen Partei als Ma­ schine oder an den fünfzehn Seiten in „Politik als Beruf“, worin er Organi­ sation und Struktur der Parteien in England, den Vereinigten Staaten und Deutschland miteinander verglich. „Die Schaffung solcher Maschinen be­ deutet […] den Einzug der plebiszitären Demokratie“, schrieb Weber. In Amerika sah er das „plebiszitäre“ Prinzip besonders rein ausgeprägt. Seiner Auffassung nach war es auf nationaler Ebene von Andrew Jackson auf den Weg gebracht worden, einem anti-traditionalistischen Politiker aus einem neuen Staat des „Westens“, und verfestigte sich durch Theodore Roosevelts Wahlkampf von 1904 und seine Vorstellungen von der Amtsführung eines Präsidenten. Die Politik wird jedoch vor Ort gemacht, und folglich muss die Maschi­ ne dort über Wurzeln verfügen. So sahen es damals die Amerikaner. In seinem Resumee des Wahlkampfs in jenem Herbst ließ sich der Herausgeber des Knoxville Sentinel wie folgt vernehmen: Jede politische Partei muss organisiert werden. So gehörten der Maschine, die in Knox County die Parteiarbeit verrichtete, 600 Menschen an. Der Vorsitzende konnte seine Macht, mit der man ihn ausgestattet hatte, nach Belieben auf diese Personen übertragen und ihnen wieder entziehen. Sie bildeten den größten und demokratischsten Apparat im Staat. Natürlich gab es einen kleineren Kreis maß­ gebender Männer, die gemeinsam beratschlagten und großen Einfluss hatten. Entsprechend wurde der Vorwurf der Bildung eines „Rings“ laut, der freilich nicht berechtigter war als in früheren Tagen. […] Und auch nicht berechtigter als mit Blick auf die Reihen der abtrünnigen Abgeordneten selber. Wir behaupten nicht, dass diese Organisation fehlerlos gewesen ist, doch bot sie unserer Ansicht nach weniger Anlass zu Kritik, als das für gewöhnlich in einem großen County wie diesem der Fall ist. Es gibt jedoch noch die andere Gruppe der Leute, die gegen alles sind, sich jeder politischen Maßnahme widersetzen und gegen jedes Vorge­ hen etwas einzuwenden haben, und diese stellte Rekruten für die Unzufriedenen und Missmutigen. Und hier meinen wir die natural mugwumps […] Sie sind gute Männer, viele von ihnen, und aufrechte Gestalten. [Doch] sie gehören zur Gruppe derer, die nie zufrieden und nie dafür sind, sondern immer dagegen, was es auch sei. (5. November 1904)

Diese Einschätzung der Politik und der politischen Abläufe, der morali­ sierenden Anti-Haltungen und Gegenpositionen – alles Kennzeichen der heftig geführten amerikanischen Lokalpolitik – weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit Webers Sicht auf die Dinge auf. Wenn man Louis Hartz’ Rede vom „natürlichen Lockeanismus“ in Amerika gelten lässt, ist man geneigt, von Befunden wie dem obigen als von einer Art „natürlichem We­ berianismus“ zu sprechen. Dass Organisation wichtig sei, ja unverzichtbar und notwendig, hieß es damals oft, letztlich aber waren solche Äußerungen



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noch kaum mehr als eine Art Politjargon, der parallel zur Entstehung des modernen amerikanischen Staates aufkam. In seinem American Commonwealth katalogisiert James Bryce diese Gedanken und Auffassungen und bringt sie in ein Bild der Politik, das mit den Prämissen und Kategorien von „Politik als Beruf“ in Einklang steht. Und wie endete das Ganze? Vor dem Hintergrund der geteilten Unterstüt­ zung vonseiten der lokalen Presse ging die Schlacht für „den Ring“ (und Murphy) verloren; nur einer von sechs Kandidaten wurde ins Amt gewählt und die Demokratische Partei von Knox County fiel in ihre Spaltung der 1890er Jahre zurück. Die natural mugwumps waren offenkundig besser or­ ganisiert als die organized democracy. Murphy aber gehörte dem Knoxville City Council weitere acht Jahre an, verdiente 100 $ jährlich und hielt zu­ gleich die Partnerschaft mit Bill Miller aufrecht. Max und Marianne sollten Bill Miller nie wiedersehen. Er überlebte sei­ nen Vetter um mehr als zwei Jahrzehnte; am 17. Mai 1941 schied er in seinem Haus in Knoxville still und plötzlich aus dem Leben. Man erinnerte sich seiner als Absolvent des College of Law der University of Tennessee und als Angehöriger der Washington Pike Methodist Church und der Bright Hope Freimaurerloge; er hinterließ seine Frau Nola und seine Tochter Ida Miller Harbison, seine „blauäugige Lilie“. Ökologisches Zwischenspiel Die Webers verließen Knoxville zur Wochenmitte. Wären sie noch etwas länger geblieben, hätte Max am 12. Oktober eine der vielen Wahlkampf­ reden von Murphy hören können. Stattdessen nahmen sie sich eine Auszeit und gönnten sich, vielleicht auf Bills Empfehlung, einen Abstecher in das herrlich gelegene Asheville in North Carolina – „einer der schönsten Punk­ te die wir sahen“, schrieb Max, „rundum blaue waldige Berge und der Wald in der Pracht seiner Herbstfarben […]“. Neben einer eindrucksvollen Herbstlandschaft und der noblen Unterkunft erwartete sie dort auch das Biltmore-Anwesen, das es in der Nähe zu bewundern gab und dem sie am 13. Oktober einen Besuch abstatteten. Asheville hatte das Glück, dass ihm nach dem Bürgerkrieg mit umfang­ reichen Investitionen aus dem Norden auf die Beine geholfen wurde, u. a. auch durch das Vanderbilt-Vermögen. Cornelius Vanderbilt hatte das philan­ thropische Engagement der Familie begonnen und eine Million Dollar für die Gründung einer Universität bereitgestellt, die 1879 im dreihundert Mei­ len entfernten Nashville eröffnet wurde. Einer seiner Enkel und Erben, George Washington Vanderbilt II., richtete seine Aufmerksamkeit dann auf ein ganz anderes öffentlichkeitswirksames Bauprojekt: das Biltmore-Anwe­

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sen. Er engagierte Richard Morris Hunt, den Architekten jener sozialen Eliteschicht, die Thorstein Veblen die leisure class, die Klasse der Müßigen nannte, bereiste mit ihm zusammen die Schlösser im Loiretal und wusste auf dem Rückweg, was er wollte: einen französischen Renaissancepalast, der an Blois und Chenonceaux erinnerte, mit Bankettsaal, Wintergarten, Schwimmhalle und 250 Räumen – vier Millionen Dollar wird ihn all das am Ende kosten. Für den Baedeker-Reiseführer war Biltmore „der wohl beste Privatwohnsitz in Amerika“, neben dem sich Thomas Jeffersons Her­ renhaus Monticello (das die Webers nicht sahen) bloß noch wie „ein inter­ essantes Beispiel für die Architektur der Zeit“ ausnahm und George Wash­ ingtons Mount Vernon (das sie sahen) gar zu einer „altmodischen Holzvilla“ herabsank. Jefferson, der eine ihresgleichen suchende architektonische Ausdrucksform für die amerikanische Heimat begründet zu haben glaubte, wäre empört gewesen. Weber wiederum war offenkundig fasziniert. „Vanderbilt’s berühmtes ,Estate‘ “, schrieb er, war so groß wie das Fürstentum Lippe, mit Chausseen darin von 71 (englischen) Meilen Länge, d. h. soweit wie von Heidelberg nach Straßburg. Schwarze Schwei­ ne, die täglich geseift und wie Odysseus mit Öl massiert werden, Kühe aller denkbaren Rassen, jede in ihrer stilvollen cottage – ganz brillanter frischer Icecream, d. h. hier wirklich gefrorne Sahne – prachtvolle Hühner etc. etc. – Jagd­ gründe, die mehrere hohe Bergkuppen und Quadratmeilen von dichtem Walde umfassen, die Farmer hat er [George Vanderbilt] (à la „Jacob der Letzte“) ausge­ kauft, dazu auf einer Hügelkuppe das prachtvolle, für uns – da er [Vanderbilt] anwesend war – leider nur von der backside anzusehende Schloß, endlich ein höchst „stilvoll“ gebautes Dorf nebst Kirche, vermiethet teils an die 500 Mann betragende Dienerschaft bzw. die Förster u. dgl., teils an Kurgäste, – ein ungeheu­ rer Eindruck von Besitz und – Vergeudung von Kraft, Land und Leuten. Aber allerdings wundervoll. (14. Oktober; NMW)

Die Anspielungen auf Europa und die Literatur waren hier in dem Bemü­ hen übereinander getürmt worden, dem Selbstverständnis dieser neuen Ausblühung der vermögenden Klasse von Müßiggängern zu entsprechen. Veblen, einer von Webers bevorzugten amerikanischen Sozialkritikern, hätte das alles wohl unter „bloßer Verbrauch“ verbucht. Auf Biltmore passte Veblens Slogan allerdings nicht ganz. Von Beginn an hatten Vanderbilt und Hunt eng mit Frederick Law Olmsted, Friedrich Kapps altem Verbündeten, zusammengearbeitet, weil ihnen die Schaffung eines autarken Gemeinwesens vorschwebte. Die Webers ihrerseits hatten sich über Olmsteds Landschaften lobend geäußert, auf die sie bereits ver­ schiedentlich gestoßen waren: in New Yorks Central Park; Brooklyns Pros­ pect Park; in den Parkstraßen in Buffalo und bei den Niagara Fällen; und in der im Jackson Park eingerichteten Ausstellungsanlage zur 1893er Welt­ messe von Chicago sowie im Zentrum des Hyde Parks. Olmsted gestaltete die Außenanlagen Biltmores nicht bloß, ihm gelang zudem das Kunststück,



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den Renaissance-Klassizismus harmonisch in die urwaldlichen Weiten der neuen Welt übergehen zu lassen. Dazu bedurfte es einer gewaltigen Auffors­ tung von verkümmertem Hartholzwald auf einer Fläche von mehr als 100.000 Morgen, zudem mussten in Europa entwickelte ökologische Verfah­ ren angewandt und zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten ein wissen­ schaftlich ausgebildeter Förster angestellt werden. Die Wahl fiel auf den mit den neusten Methoden vertrauten Naturschützer Gifford Pinchot, der wäh­ rend Theodore Roosevelts Präsidentschaft an die Spitze der US-Waldbehör­ de rückte. Das Projekt erfüllte mehrere humane und gewerbliche Zwecke und kam u. a. der lokalen Wirtschaftsentwicklung, einer nachhaltigen Forst­ wirtschaft und der Holzbranche zugute. Es war ein Experiment in verant­ wortungsvoller sozialer Ökologie und ein Versuch zur Wiedererrichtung des „Arbeitsdorfes“, des working village. Webers überraschende Anspielung auf Jakob der Letzte, Peter Roseggers 1888 veröffentlichte Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen, verweist ohne Zweifel auf die bevorzugten Themen des steirischen Erzählers: die Enteignung der Bauern, die Ausbeutung der Natur, die Wildtierhaltung zum Vergnügen ihrer Halter – kurz gesagt, auf den Siegeszug des Kapitals aus den Städten über die Traditionen der bäuerlichen Welt. Rosegger, der sei­ nerzeit viel gelesene Verteidiger der unberührten Natur und des ländlichen, an die geweihte Heimaterde gebundenen Lebens erzählte eine Geschichte über den letzten Jakob, dessen Himmelsleiter zerbrochen ist und der sich von Gott verlassen fühlt. (Die biblische Bezugsstelle ist Gen 28,12–17) Wie Kellers Romeo-und-Julia-Geschichte endet auch diese Erzählung tragisch, und damit, dass eine Lebensform verschwindet – obwohl nicht ganz, denn der junge Jakob, der Sohn, fährt zur See, wie der junge Fritz Fallenstein, und lässt sich schließlich (wie Fritz) in Amerika nieder. Doch anders als in Ferdinand Kürnbergers eigenartigem Reißer Der Amerika-Müde, aus dem Weber in der Protestantischen Ethik zitiert, ist das nicht der Anfang eines unglücklichen Endes, sondern der Beginn einer Selbstfindung. Die Erzählung handelt also demnach von Amerika, dem Naturschutzethos und von dem Projekt, das man heute als nachhaltige Ökologie bezeichnen würde. Rosegger lässt den jungen Jakob in den Goldfelder Kaliforniens ein Vermögen machen und wieder verlieren und lässt ihn dann, über eine Pil­ gerschaft und Prüfungen homerischen Ausmaßes, wieder zu sich selbst finden. Am Ende schreibt Jakob aus den fruchtbaren und unberührten Wei­ ten des Tals der Sierra Nevada (die der Autor nachlässigerweise nach Ore­ gon verlegte) seinem todgeweihten Vater, dass die neue, multiethnische Gemeinschaft, in der er zusammen mit deutschen, französischen, englischen und indianischen Siedlern lebt, die alte Harmonie des Lebens in der Natur wiederhergestellt hat, „wie die ersten Menschen nach Erschaffung der Welt“. Roseggers Vision ist mithin eine mythische Darstellung von Flucht, Mühsal,

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Erholung, Heilung und Erlösung. Der älteste Mythos Amerikas hat trium­ phiert: Europa verzweifelt angesichts der Verwüstungen durch die Indus­ trialisierung, während die Neue Welt die Rettung und Wiedergeburt der Menschheit in vollen Zügen auskostet. Die Geschichte entwickelt sich zu einem Gleichnis für die Vision der Erschaffer Biltmores, Vanderbilt und Olmsted. Weber war mit Kellers Werk vertraut, und er dürfte auch Roseggers be­ liebte Novellen gekannt haben. Als er mit Blick auf Olmsteds Schöpfung „Jakob der Letzte“ anführte, könnten ihm eine ganze Reihe von Vorstellun­ gen durch den Kopf gegangen sein: der unwiderstehliche Jefferson’sche Mythos von der amerikanischen Societas, die kühne Anmaßung des Ver­ suchs, die Welt neu zu erschaffen, die Versöhnung der klassischen europäi­ schen Kultur mit der Naturordnung Amerikas oder die heilsame Kraft der menschlichen Kunstfertigkeit und Raffinesse selbst angesichts der gierigen Ausbeutung und Erschöpfung der Ressourcen, die er im Indianergebiet be­ obachten musste. Die Ambiguität von Roseggers Erzählung, die Schilderung eines Endes und eines Anfangs zugleich ist, und die Abgelegenheit des Zufluchtsortes in den Bergen laden zu Spekulationen ein. Könnte Weber in irgendeiner Form auch an die Bedeutung seiner eigenen Odyssee durch Amerika gedacht haben? Seelenleben und öffentliche Welt Mit Asheville verließen sie einen Ort, der ihnen Ruhe und Erholung ge­ boten und einen flüchtigen Blick auf die „Reichen und Berühmten“ ermög­ licht hatte; nun führte sie ihr Weg nach Mt. Airy und damit zu etwas völlig anderem hin. Die Reise selbst gestaltete sich umständlich und strapaziös: Um fünf Uhr morgens bestiegen sie den Zug und erreichten ihr Ziel mit einem Pferdegespann lange nach Einbruch der Dunkelheit. Die Fahrt verlief ganz anders, als sie sich das vorgestellt hatten; statt in einem der gewohnten Pullman-Wagen – mit ihrem makellosen Service, den bequemen Polsterses­ seln, Mahlzeiten im Zugrestaurant, Bibliotheken, Schreib- und Raucherräu­ men – reisten sie in einem überfüllten Regionalzug. Max trug seine auffäl­ lige Reisekleidung, bestehend aus Knickerbockern und hohen Strümpfen, die die Mitreisenden für die deutsche „Nationaltracht“ hielten, was für viel Heiterkeit bei allen Beteiligten sorgte. Offensichtlich war keiner je zuvor einem Deutschen begegnet, für Max ein Zeichen von kulturellem Provinzia­ lismus. Nach einer malerischen Fahrt durch die Blue Ridge Mountains, die ihn an bestimmte Ansichten des Schwarzwalds denken ließen, machten sie kurz Station in Greensboro, North Carolina, wo sie ins Hotel Huffine essen gingen. Das dortige Mittagsangebot umfasste drei Sorten Fleisch, ein Fisch­ steak, Bohnen, junge Maiskolben, Nudeln, Rüben, Kraut, frisches Weißbrot,



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Butter, Torte sowie Kaffee und kostete 50 Cent pro Person; nur im Süden, vermerkte er, sei es billiger als in Deutschland, und außerdem habe man sich von allem nochmals nehmen können. Als Marianne, die sich nach wie vor erholen musste, eingeschlafen war, schrieb Max und hielt fest, wie ge­ spannt er sei, was sie in Mt. Airy erwarten würde: kein Kleinbürgertum mehr, wie er hoffte, sondern vielleicht echte Farmer. Während Marianne kein Blatt vor den Mund genommen hatte, was den Eindruck anging, den die Verwandten bei ihr hinterließen, äußerte Max sich nicht weniger offen zu dem Abenteuer in Mt. Airy. Der kurze Aufenthalt dort bot eine unerwartete Gelegenheit, die Religion ,in der Praxis‘ zu beob­ achten. Gleich zu Beginn ihres Besuchs in den Staaten hatte er in North Tonawanda einschlägige Beobachtungen anstellen können, die er in Chicago und auf anderen Stationen der Reise fortführen konnte. In dem kommenden Monat sollten sich etwas andere Möglichkeiten dazu bieten: Gottesdienste nämlich, von denen sie insgesamt sieben besuchen werden; den ersten am 16. Oktober in Mt. Airy und den letzten, veranstaltet von der Ethical Cul­ ture Society, am 13. November in New York. Von den Ereignissen in Mt. Airy existieren vier Fassungen; eine davon veröffentlichte Max Weber nach seiner Rückkehr für eine allgemein inter­ essierte und gebildete Leserschaft in der Frankfurter Zeitung und dann leicht abgewandelt in Martin Rades Die christliche Welt. Hierin bemüht er sich das erste Mal um eine klärende Verdeutlichung des Unterschieds zwi­ schen einer religiösen Sekte und einer institutionalisierten Kirche, auf den er schon in North Tonawanda aufmerksam geworden war und der seiner Ansicht nach in den amerikanischen Praktiken besonders deutlich zutage trat. Der Sonntag in Mt. Airy muss ihm in denkwürdiger Erinnerung geblie­ ben sein, schließlich wohnten sie am Morgen einem methodistischen Got­ tesdienst bei, am Nachmittag einem baptistischen, der im Freien stattfand und eine Massentaufe einschloss, und zwischen beiden nahmen sie an einem Familienessen teil, bei dem auch der für etliche Gemeinden zuständige Methodistenprediger zu Gast war. James („Jim“) Miller, Bill Millers jüngerer Bruder war gläubiger Metho­ dist. Und er war auch das erfolgreichste Mitglied des lokalen Clans – „ ,busy‘ wie ein Yankee“, zitierte Weber die Verwandten, wobei diese Charakterisie­ rung zugleich Bewunderung, Neid und Missbilligung ausdrückte. Neben der Landwirtschaft, mit der er 1.000 $ im Jahr verdiente, betrieb Jim noch ein Geschäft mit Pferden und Wagen. Er nahm die Webers und einige andere Familienmitglieder mit zum Gottesdienst in die Zion Methodist Church, einen einfachen, kargen scheunenartigen Bau in ländlicher Lage. Weber fiel der scharfe Kontrast zwischen der schlichten Festlichkeit des Innenbereichs und den brillanten Herbstfarben der landschaftlichen Umgebung auf. Die

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Predigt war „rein praktisch“ und hatte doch eine „emotionale“ Qualität, und sie verriet die starke innere Überzeugung des Predigers. Kirchgänger die sich „erweckt“ glaubten, kamen nach vorn, knieten am Altar nieder und beteten laut. Der Geistliche, der acht Kirchengemeinden im Umkreis ver­ sorgte, predigte „ganz wie ein politischer Redner“, merkte Weber noch unter dem Eindruck des Wahlkampfs von Knoxville an. Das einzige stören­ de Element war die Musik, der „unsäglich schauderhafte Gesang der schril­ len Stimmen“, zu dem er sich mehrfach äußerte. „In Amerika“, schrieb er ein paar Monate später in der Protestantischen Ethik, höre man „meist nur ein für deutsche Ohren unerträgliches Gekreisch als ,Gemeindegesang‘.“ Weber verstand etwas von Sinn und Zweck dieser musikalischen Ästhe­ tik, sowohl mit Blick auf die Neue Welt als auch was die europäischen Zentren der reformierten Kirche wie etwa Holland anging; sie brachte die Hörer zur Ernsthaftigkeit von Situation und Anlass zurück, wie er bezogen auf den Gottesdienst in Mt. Airy sagte. Mit mehr Zeit hätte er sich vermut­ lich eingehender und tiefer mit dieser Dimension der musikalischen Kultur der Appalachen-Region befasst. Wie Anthropologen und Musikologen später herausstellten, wirkte der strenge Calvinismus der primitiven baptistischen Prägung in dieser Gegend mit an der Verdrängung des klaren und schlichten Kirchengesangs, des Belcanto, oder des Vibrato in jedweder Form und för­ derte stattdessen den langsamen, getragenen und unstimmigen Gesang ohne Begleitung durch die Orgel oder irgendein anderes Instrument. Die Nüch­ ternheit des Ausdrucks sollte so streng und genau wie möglich an der Re­ ligiosität der Ur-Puritaner festhalten und die innerweltliche Askese der Kongregation hörbar bezeugen. Nach dem Gottesdienst unterhielt sich Weber beim Essen bei der Familie James Millers mit dem jungen Methodistenprediger über die religiösen Ent­ wicklungen, und der Geistliche räumte ein, dass die älteren Praktiken der regelmäßigen „Erweckungen“ und der allwöchentlichen konfessionellen „Gruppentreffen“ der einzelnen Mitglieder unter den gleichgesinnten Nach­ barn aus der Mode kamen. Weber fühlte sich dadurch in seiner Ansicht bestätigt, dass „massenhafte ,Orden‘ und Clubs der allerverschiedensten Art […] nun heute begonnen haben, der religiösen Gemeinschaft diese Funktion[en] teilweise abzunehmen“, eine Entwicklung, die er in der Frankfurter Zeitung genau darlegte: Fast jeder kleine Geschäftsmann, der Etwas auf sich hält, trägt irgendeine badge im Knopfloch. Aber das Urbild dieser Gebilde, welche alle dazu dienen, die „Ho­ norigkeit“ des Individuums zu gewährleisten, ist eben die kirchliche Gemeinschaft. Am vollkommensten aber ist […] diese Funktion entwickelt bei denjenigen Ge­ meinschaften, welche „Sekten“ in dem gleich zu erörternden spezifischen Sinne des Wortes sind. Mir persönlich wurde dies besonders deutlich, als ich, an einem kalten Oktobersonntag, im Vorlande der Blue Ridge Mountains in Nord Carolina



7. Unterschiedliche Lebenswege163 einer Baptistentaufe beiwohnte: etwa zehn Personen beiderlei Geschlechts, in full dress, stiegen nach einander in das eisige Wasser des Gebirgsbaches, in welchem während der ganzen Prozedur der schwarz bekleidete Reverend bis zur Hälfte des Körpers stand, lehnten sich nach umfangreichen Verpflichtungsformeln in seinen Arm, in den Knien einknickend, rückwärts bis zum Verschwinden des Gesichtes unter Wasser, stiegen prustend und schlotternd heraus und wurden von den mas­ senhaft zu Pferd und zu Wagen gekommenen Farmern congratulated und schleu­ nigst – aber zum Teil stundenweit – nach Hause gefahren. Faith schütze sie vor Erkältung hieß es. Einer meiner Vettern, der mich von seiner Farm aus hinbeglei­ tet hatte, und – er bewahrt als Zeichen seiner deutschen Abkunft die Unkirchlich­ keit! – den Vorgang unter despektierlichem Ausspucken über die Achsel hin ansah, zeigte ein gewisses Interesse, als ein intelligent aussehender junger Mann sich der Prozedur unterzog: Oh see: Mr. X! – I told you so! Zur Ruhe gestellt erwiderte er zunächst nur: Mr. X beabsichtigte, in Mt. Airy ein Bank aufzumachen und brauche bedeutenden Kredit. Die weitere Erörterung ergab, dass hierfür die Auf­ nahme in die Baptistengemeinde nicht in erster Linie wegen der Baptisten Kund­ schaft, sondern vielmehr gerade auch für die nicht baptistischen Kunden deshalb von entscheidendem Werte sein musste, weil die eingehenden Recherchen über sittliche und geschäftliche Lebensführung [durch die Gemeinde] für die weitaus strengsten und verlässlichsten galten.

Der erwähnte Vetter war einer von James und Bill Millers älteren Brü­ dern, Jefferson („Jeff“) Miller, ein bald sechzigjähriger Mann, der sich mit seinen Einkünften als Farmer gerade so über Wasser hielt, den Beruf und das Leben als Farmer aber verabscheute. Die Kluft zwischen den Genera­ tionen und die innerfamiliären Spannungen wegen des ,Erfolgs‘ waren offen­ sichtlich: Zwanzig Jahre lagen zwischen diesen Brüdern, und während Jeff den in seiner Natur liegenden Zynismus und seine Feindesligkeit gegenüber den Sekten auslebte, waren Jim und Bill feste Bestandteile des sozialen Gefüges des Methodismus. Jim gehörte Weber zufolge noch anderen, nicht näher bezeichneten „Orden“ an, und Bill war außerdem Freimaurer. Und das schlug sich zwangsläufig in unterschiedlichen Umgangs- und Gesellig­ keitsformen nieder: In Jeffs Haus wurden religiöse oder spirituelle Äußerun­ gen vermieden, wohingegen bei Jim beispielsweise Tischgebete gesprochen und die Personen mit ,Bruder‘ (oder ,Schwester‘) angeredet wurden. („Der Glaube schütze sie vor Erkältung“, war in Wirklichkeit Jims Ausspruch.) Max dürfte natürlich kaum entgangen sein, dass nicht Jeff, sondern Jim und Bill sich in der Welt behaupteten und erfolgreich waren. (Zur Verteidigung von Jeffs Benehmen möchte ich am Rande betonen, dass das Tabakkauen damals Usus war, sogar unter den Frauen der Verwandtschaft – zu Marian­ nes Bestürzung. Erfreulicherweise wird heute stattdessen Kaugummi gekaut, nur nicht auf den Spielerbänken beim Baseball, wo der Kautabak noch ein bescheidenes kulturelles Nischendasein fristet.) Die Taufe im Freien wurde höchstwahrscheinlich durch die Mt. Carmel Baptist Church ausgerichtet. Wenn auch nicht wirklich gesichert ist, um

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wen es sich bei den Teilnehmern handelte, bildete das Ereignis als solches für Weber einen wichtigen gesellschaftlichen Zusammenhang ab zwischen religiöser Zugehörigkeit, moralischer Bestätigung und ökonomischem Han­ deln. Diese Beziehung hatte auch einen symbolischen Aspekt, der sich etwa im Tragen eines Reversabzeichens oder einer Anstecknadel als äußeres Zeichen der Beglaubigung und der Überzeugung manifestierte. Zwar war dies keine ausschließlich auf Amerika beschränkte Praxis, doch aus Webers Sicht auf die Vereinigten Staaten war sie Ausdruck des Bekenntnisses der Person zu ihrer heiligen religiösen Herkunft und Orientierung. Das zu säku­ laren politischen Zwecken getragene Zeichen des ,guten Glaubens‘ (man denke an die allgegenwärtige amerikanische Flagge und ihr Abzeichen, das man sich heutzutage selbst im Präsidentschaftswahlkampf ans Revers hef­ tet) konnte mithin Zeugnis einer starken emotionalen Hingezogenheit sein. Es ging jedoch um mehr als nur um die Handhabung eines Zeichens, denn die von Weber wahrgenommenen Verbindungen zwischen Sektenzuge­ hörigkeit, Moral und ökonomischem Handeln schlugen sich unmittelbar in der Lebensführung nieder. Wie es sich damit bei der Verwandtschaft ver­ hielt, enthüllte sich ihm auf besonders einprägsame Weise. Es war die Be­ glaubigung des sittlich-moralischen Ansehens der Person durch das soziale Handeln und die Gruppenzugehörigkeit, die Webers Aufmerksamkeit fessel­ te, wie zuvor schon an den ganz verschiedenen Schauplätzen der Northwes­ tern University, des Tuskegee Institute oder im Indianergebiet. Im Zusam­ menhang mit Mt. Airy dienten ihm jedoch nicht nur „Mr. X“ oder ein ge­ wisser „Bem“ als Beispiele, sondern genauso die unterschiedlichen Lebens­ führungen der Vettern. Die von Weber zur Beschreibung der Vorgänge herangezogenen Begriffe – moralische Prüfung, ethische Bewährung, mora­ lische Erprobung, methodische Lebensführung, das Sich-Bewähren durch bescheidenen Fleiß im Beruf – betonten natürlich die Institutionalisierung des Zugangs zur Gruppe. Doch sie erfassten auch die Reibungen und Span­ nungen der Familiengeschichte, deren unmittelbarer Zeuge er war. Was die Sekten anging, musste die maßgebliche Behauptung noch unter­ mauert werden. Obgleich der Eintritt freiwillig erfolgte, verlangte er auch Durchsetzungsvermögen im Wettbewerb gegen andere Anwärter: wer sich in einem Kreis Gleichgestellter erfolgreich zu behaupten vermochte, stellte seine Legitimation unter Beweis. Unter sozialen Gesichtspunkten bedeutete die Sektenmitgliedschaft mithin ein in Webers Worten: „ethisches, insbeson­ dere auch ein geschäftsethisches, Qualifikationsattest für die Persönlichkeit“. Sie war der Ausweis ihres Ansehens, ihrer Ehrlichkeit und Vertrauenswür­ digkeit – damit ein Beweis ihrer Kreditwürdigkeit, und sorgte somit auch dafür, dass ihr Kredit gewährt wurde. Von hier aus war es nur noch ein kurzer logischer Schritt zur Auffassung der Sekten und aller sektenartigen Verbände als soziale Träger jener Sinnesart, die Weber sachlich als das



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„bürgerliche kapitalistische Geschäftsethos innerhalb der breiten Kreise des mittleren Bürgerstandes (mit Einschluss der Farmer)“ bezeichnete. Kurz gesagt waren die Sekten in Amerika das Ausgangsmodell. Alle an­ deren Vergesellschaftungsprozesse und Formen des Gruppenlebens folgten ihrem Beispiel bzw. waren ihnen nachgebildet. Heute würde man sie als die Garanten der ,Mittelklassewerte‘ bezeichnen, als die Garanten eines auf sozialem Vertrauen und sozialem Kapital gründenden Wohlstands. Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung In den Schlachthöfen Chicagos und wieder auf den Ölfeldern von Mus­ kogee im Indianergebiet war Max Weber der Dynamik der amerikanischen Gesellschaft auf der Spur, in der er, wie so viele, einen Ausdruck des mo­ dernen Industriekapitalismus sah – und wie so viele, sah auch er in den Vereinigten Staaten den Vorposten der kommenden Welt, gleichsam in der Nachfolge Alexis de Tocqevilles, der bereits zu Jackson Zeit in der ameri­ kanischen Gegenwart die Zukunft Europas zu erkennen glaubte. In Knox­ ville und Mt. Airy aber begann ein ganz anderes Bild Gestalt anzunehmen: Die wirtschaftliche Rationalität und ihre problematischen und entfremden­ den Effekte rückten in den Hintergrund zugunsten der Prozesse und Muster des für die demokratische gesellschaftliche und politische Ordnung Ameri­ kas charakteristischen Verbandslebens. Weber las diese Ordnung auf eine interessante ,progressive‘ Weise; er konzentrierte seinen Blick auf die Mächtigkeit des Verbandslebens, die Sekten und Orden sowie die Parteien, und auf die Herausbildung des Selbst, die Beglaubigung der Person und die Erschaffung des Bürgers durch das, was er die „kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung“ nannte. Die Wendung ist einigermaßen rätselhaft: Was genau meinte Weber? Am Schluss seines Beitrags für die Frankfurter Zeitung spitzte er das Thema polemisch zu, indem er einen doppelten Gegensatz herausstellte: die richtig verstandene Demokratie (mit Amerika als Beispiel) versus die Büro­ kratisierung des deutschen Lebens, die er verabscheute; und, überraschender noch, die Prozesse der Bildung und Entstehung sozialer Gruppen versus die romantische Sehnsucht nach der ,Gemeinschaft‘: Wer sich unter „Demokratie“, wie unsere Romantiker es lieben, eine zu Atomen zerriebene Menschenmasse vorstellt, der irrt sich, soweit jedenfalls die amerikani­ sche Demokratie in Betracht kommt, gründlich: nicht die Demokratie, sondern der bureaukratische Rationalismus pflegt diese Konsequenz des „Atomisierens“ zu haben, die alsdann durch die beliebte Oktroyierung von „Gliederungen“ von oben herab nicht beseitigt wird. Die genuine amerikanische Gesellschaft – und es ist hier gerade auch von den „mittleren“ und „unteren“ Schichten der Bevölkerung die Rede – war niemals ein solcher Sandhaufen, niemals auch ein Gebäude, wo

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jeder, der da kommt, unterschiedslos offene Türen findet: sie war und ist durch­ setzt mit „Exklusivitäten“ aller Art. Nirgends bekommt – wo die alten Verhältnis­ se noch bestehen – der einzelne endgültig Boden unter die Füße, weder auf der Universität noch im Geschäftsleben, wenn es ihm nicht gelingt, in einen sozialen Verband, früher fast stets kirchlicher, heute irgendwelcher Art, hineinballotiert zu werden und sich darin zu behaupten. Und in der inneren Eigenart dieser Verbän­ de waltet der alte „Sektengeist“ mit schonungsloser Konsequenz. Stets sind sie „Artefakte“, in der Terminologie von F[erdinand] Tönnies gesprochen: „Gesell­ schaften“ und nicht „Gemeinschaften“. Das heißt: Sie ruhen weder auf „Gemüts“Bedürfnissen noch erstreben sie „Gemütswerte“; der einzelne sucht sich selbst zu behaupten, indem er sich der sozialen Gruppe eingliedert; es fehlt jene indifferen­ zierte bäurisch-vegetative „Gemütlichkeit“, ohne die der Deutsche keine Gemein­ schaft pflegen zu können glaubt. Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung fördert die präzise Einordnung des Individuums in die Zwecktätigkeit der Gruppe – sei diese Football-Club oder politische Partei –, aber sie bedeutet keinerlei Abschwächung der Notwendigkeit für den einzelnen, für seine Selbstbehauptung konstant besorgt zu sein: im Gegenteil, gerade innerhalb der Gruppe, im Kreise der Genossen, tritt diese Aufgabe, sich zu „bewähren“, erst recht an ihn heran. Und nie ist daher der soziale Verband, dem der Einzelne zugehört, für ihn etwas „Organisches“, ein mystisch über ihm schwebendes und ihn umschließendes Ge­ samtwesen, stets vielmehr ganz bewusst ein Mechanismus für seine eigenen ma­ teriellen oder ideellen Zwecke. […] [J]ene Verbindung der innerlichen Isolierung des Individuums, die ein Maximum von Entfaltung seiner Tatkraft nach außen bedeutet, mit seiner Befähigung zur Bildung von sozialen Gruppen von festestem Zusammenhalt und einem Maximum von Stoßkraft – sie ist, in ihrer höchsten Potenz, zuerst auf dem Boden der Sektenbildung gewachsen.

Weber hätte auch „materiellen oder ideellen Interessen“ schreiben kön­ nen, wie in einem späteren Text. Das aber hätte an dem Entscheidenden nichts geändert: Das soziale Handeln innerhalb einer Gruppe kam dem Akteur sowohl hinsichtlich des Erwerbs materieller ,Güter‘ als auch bei der Durchsetzung seiner ideellen ,Werte‘ zugute. Zunächst einmal scheint es, dass Weber eine wichtige Quelle und viel­ leicht die wichtige geschichtliche Quelle des sozialen Kapitals in Amerika entdeckte. Die Passage ist jedoch noch erstaunlicher und bewundernswerter, als es ein solcher Schluss nahelegen würde, denn in den Bergen der Appa­ lachen hatte sich ihm bei den Verwandten eine Idee aufgedrängt, die in den vorangegangenen Wochen herangereift war, eine vorläufige Antwort auf die Frage von Chicago, die ihren Ursprung in der Spannung zwischen der öko­ nomischen Rationalisierung und einem Ethos der Askese hatte. War es möglich, dass sich der kapitalistischen Rationalisierung des sozialen und ökonomischen Lebens durch einen ausgeprägten Vergesellschaftungsprozess und ein bewusst gefördertes Verbandsleben entgegenwirken ließ? Die Idee verlangte ein Überdenken des sozialen Handelns bzw. des Pro­ zesses der Bildung sozialer Verbände, der bei Weber unter jenem Verbalsub­



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stantiv ,Vergesellschaftung‘ firmiert, das im Englischen nur unpräzise als „sociation“ oder „association“ wiedergegeben wurde. Man muss bedenken, dass die radikale Kapitalismuskritik in Europa vom jungen Karl Marx bis zu Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Leo Tolstoi immer Gegensatzpaare bildete: der Fragmentierung wurde die Ganzheit entgegenstellt, der Atomi­ sierung die Authentizität, der Mechanisierung die organischen Verbindungen und den entfremdenden Kräften der zivilen Gesellschaft die heilenden Kräf­ te der Gemeinschaft. Das ,Andere‘ des entfremdenden Kapitalismus war seine Überwindung in dem von der Gattung Mensch gelebten klassenlosen Gemeinschaft, bei der es sich um einen der Romantik entliehenen Platzhal­ terbegriff handelte. Weber aber behauptete, dass solche einander ausschlie­ ßende verdinglichte Kategorien völlig irreführend wären. Und das deshalb, weil sie die moderne Alternative unberücksichtigt ließen – nämlich die Art von zweckorientiertem Prozess der Bildung sozialer Verbände, die die Ein­ zelnen sowohl an das Lokale und Besondere als auch an das Umfassende und Allgemeine bindet. Der Prozess vereinigt und differenziert zugleich, und zwar auf der Grundlage gesellschaftlicher und nicht gemeinschaftlicher Normen, indem er sich auf die kühle Rationalität der Sachlichkeit statt auf das warme Wirken der Gemütlichkeit stützt (für die das Englische im Üb­ rigen keinen passenden Ausdruck bereithält). Die gesellschaftlichen Normen sind ,objektiv‘, weil sie dem Einzelnen äußerlich sind und in einer pragma­ tischen Logik gründen; sie bilden eine Praxis ab. Die Normen sind keine Normen des ,inneren Selbst‘, sie bedürfen der Innerlichkeit nicht. Allgemeiner gesagt verbindet diese Art von Vergesellschaftung oder Pro­ zess der Herausbildung sozialer Verbände das zweckrationale Handeln mit der wertrationalen Orientierung auf die gleichberechtigte Teilhabe am Grup­ penleben. In dieser Hinsicht ist sie demokratisch und ist sie auch durch und durch modern. Die Ziele und Zwecke des Zusammenkommens in einem sozialen Verband sind quer durch die sozialen Gruppen – von einem Wahl­ ausschuss bis zu einer Bibelgruppe oder Sportmannschaft – ganz unter­ schiedlich, die Verbände selbst aber kommen immer nach dem gleichen Muster zustande: durch die im modernen Umfeld vollzogene Wiederver­ wirklichung des „Sektengeistes“ in seinen sachlich-öffentlichen, partizipato­ rischen und kollegialen Normen. Die nichttraditionelle, öffentliche, sachlichunpersönliche, freiwillige und zweckrationale Lösung für das Problem des individuellen Handelns im Rahmen von Gruppen und ihren Beschränkungen war es, die eine so ungewöhnlich wirkmächtige und originelle Variation vorheriger Sozialgebilde hervorbrachte – eine Lösung, die von Romantik und Neoromantik jeder Coleur regelmäßig verkannt wurde. Webers Erkenntnisse, die sich den Erfahrungen während der Amerikarei­ se verdanken, reichen bis dahin, wo er in den antiautoritären und nichttra­ ditionellen Sekten das Grundmuster für die soziale Differenzierung und

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Demokratisierung entdeckte. Diese Einsicht hat den Vorzug der Gründlich­ keit, denn sie erst erfasst das amerikanische Gesellschaftsleben in seiner eigentlichen, elementaren Dynamik: einerseits den Drang nach Exklusivität, das Streben nach zweckbestimmten Zielen und den Willen zur Leistung; und auf der anderen Seite das Bekenntnis zu Inklusivität, gesellschaftlicher Demokratisierung und einem gemeinschaftlich geteilten Schicksal. Es ist verblüffend und einigermaßen paradox, dass die voluntaristische Vergesell­ schaftung beidem Vorschub leistete. In welcher Form und aus welchen Gründen diese beiden Reihen von widerstrebenden Kräften beschränkt wurden, sich vereinigten und zusam­ menwirkten, wieder auseinandertraten und erneut zusammenwirkten, war das nächste Problem, mit dem sich Weber würde befassen müssen. Ob seine Verallgemeinerungen von vor hundert Jahren weiterhin Gültigkeit beanspruchen dürfen, ist natürlich eine andere Frage, um die ausführlich und heftig gestritten wird. Am Ende muss sie jeder für sich beantworten.

8. Die Protestantische Ethik Nachdem sie sich von den Verwandten in North Carolina verabschiedet hatten, bestiegen die Webers erneut den Zug; ihr Ziel waren die beiden Hauptstädte des Amerikanischen Bürgerkriegs – Richmond in Virginia und Washington D.C. –, bevor es zurück an die Ostküste ging. Marianne hatte ihre Migräne überwunden, litt jedoch weiterhin unter Asthma und einer Erkältung, wovon sie sich erst in Philadelphia erholen wird. Max bemerkte, dass sie vielleicht länger in Mt. Airy geblieben wären, wenn sie gesundheit­ lich nicht so angeschlagen gewesen wäre, und damit begründete er auch, dass sie nach dem 20. Oktober nicht nach Atlanta zurückkehrten, um W. E. B. Du Bois zu besuchen. Der Halt in Richmond erlaubte bloß einen kurzen Blick auf die Stadt, doch die kurze Woche im District of Columbia sah zum ersten Mal ein geruhsameres Tempo vor – einige Tage Erholung für Marianne, eine Gele­ genheit, sich als gewöhnliche Touristen zu bewegen, und zwei aufschluss­ reiche Termine für Max. Die Webers, die sich im eleganten neuen Raleigh Hotel in der Pennsylvania Avenue nahe dem Weißen Haus einquartiert hatten, folgten der üblichen Baedeker-Reiseroute: nach einem Abstecher hinunter zum Potomac River besuchten sie George Washingtons Mount Vernon, den Arlington-Friedhof, das Zuhause von Robert E. Lee (Fritz Fal­ lensteins Kommandeur, hielt Max fest), das Washington Monument, Olm­ steds landschaftlich neu gestaltetes Capitol und die nach den von der Mc­ Millan-Kommission genehmigten Entwürfen umgestaltete Mall. Auf diesem Reiseabschnitt mischte sich die Schönheit der herbstlichen Natur mit dem kolonialen Amerika, mit Erinnerungen an den Bürgerkrieg und der Pracht des republikanischen Neoklassizismus: eindrucksvolle Ausblicke wechselten sich ab mit der Plantagenkultur, breiten Alleen, imposanter Architektur und der schmerzlichen Ergriffenheit angesichts von sechszehntausend Grabstei­ nen, die sich Reihe an Reihe in die Ferne erstreckten. Max verabschiedete sich von diesem Besichtigungsprogramm für zwei Termine, die beide mit Interessen in Zusammenhang standen, die er jüngst vertieft hatte. Bei dem einen handelte es sich um ein Treffen mit dem be­ kannten Präsidenten der American Federation of Labor (AFL; der Dachver­ band der amerikanischen Gewerkschaften) Samuel Gompers. Der gebürtige Londoner, der selbst eingewandert war, sich allerdings gegen die uneinge­ schränkte Immigration aussprach, hatte beim Streik in den Schlachthöfen

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eine Schlichterrolle bekleidet. Man kann nur spekulieren, weshalb das Treffen verabredet worden war und was dabei besprochen wurde, denn Webers Darstellung fiel sehr knapp aus: Gompers war „hyperdiplomatisch und immer sich interviewt fühlend, schluckte er immer die zweite Hälfte eines Satzes, der etwas Interessantes enthielt, herunter, so daß ich seine Gedanken mehr errieht als erfuhr“ (2. November; NMW). Die Idee zu dem Treffen entstand wohl entweder in Chicago, wo der Streik das beherrschen­ de Thema war, oder in St. Louis auf Anregung Jacob Hollanders. Die Zu­ sammenkunft könnte durchaus die Atmosphäre eines Interviews gehabt ha­ ben, da Weber sich lange schon für die Arbeitsverhältnisse und die Arbeits­ organisation interessierte und als ein Herausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik stets auf der Suche nach Informationen, Statistiken, Berichten und Beiträgen war – und seit dem letzten Monat auch nach einer Erklärung für das Scheitern des großen Streiks. Zu diesem Schei­ tern und zur AFL-Politik hinsichtlich der ungelernten und der eingewander­ ten Arbeiter wird er sein Gegenüber sicherlich befragt haben. Ein paar Monate später fiel Webers Mitherausgeber Werner Sombart die Aufgabe zu, die amerikanische Literatur zu den Arbeitsverhältnissen zu besprechen, noch bevor er seine Schrift Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? verfasste. Freilich griff auch Weber Arbeitsthe­ men auf, 1905 und danach in seinen Diskussionsbeiträgen auf Tagungen des Vereins für Socialpolitik sowie in der Monographie Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. In diesen Stellungnahmen und Schriften waren es aus­ nahmslos die „matter-of-fact-men“ der Gewerkschaftsführung in den Verei­ nigten Staaten, von denen Gompers zweifellos einer war, die ihm am meisten imponierten, vor allem angesichts der ideologisch geführten und tendenziösen Auseinandersetzungen in den sozialistischen Bewegungen und den Gewerkschaftsbewegungen Deutschlands. Weber erkannte jedoch eben­ falls, dass der Protest gegen die Verbürgerlichung der Gewerkschaftsbewe­ gung auch in Amerika an der Radikalisierung der Politik mitwirkte, sowohl in der heimischen Sozialistischen Partei als auch ab 1905 im Zusammen­ hang mit der Formierung der Industrial Workers of the World als einer Alternative zu Gompers moderater Gewerkschaftspolitik. Der zweite Termin ermöglichte es, die in Mt. Airy während des Besuchs bei den Verwandten begonnene Praxis fortzusetzen und bot Gelegenheit, am darauffolgenden Sonntag eine vollkommen andere Art von Gottesdienst zu erleben – den der Baptistenkirche der Neunzehnten Straße, bei der es sich um eine große städtische Baptistengemeinde von Schwarzen der Mit­ telschicht handelte, die 1839 gegründet worden war. Die Kirche, die Du Bois in seiner Atlanta-University-Studie The Negro Church erwähnt hatte, wurde von dem legendären Prediger und ehemaligen Sklaven Walter H. Brooks betreut, einem unermüdlichen Streiter für Mäßigung und Anstand,



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der sogar das Tanzen missbilligte. Die Kirche der Neunzehnten Straße spielte unter den afroamerikanischen Kirchen in der Region eine bedeuten­ de Rolle. Brooks war zwar damals leider abwesend, der Gottesdienst ent­ täuschte Weber wegen seiner emotionalen Ausdruckskraft dennoch nicht; was auch am Predigtstil, den Interaktionen der Gemeindemitglieder und ihren fesselnden Reaktionen lag, die von leichtem Rumoren und leisem Geflüster bis zum stürmischen Crescendo reichten: „die letzten Worte je­ den Satzes [der Predigt] erst leise, dann mit schriller Stimme wiederho­ lend, mit „Yes, Yes!“ oder „No, no“ auf das Apostrophieren des Predi­ gers – der nicht leidenschaftlicher war als der junge Methodist in Mount Airy und an [Adolf] Stöcker nicht entfernt heranreichte“ (2. November; NMW). Die Webers ließen sich in einer der hintersten Bankreihen nieder, kamen sich wie Fremdkörper vor und konnten abermals feststellen, welche bemerkenswerten Kontraste und Unterschiede es innerhalb der afroameri­ kanischen Gemeinde gab. Der Gottesdienst schien aus einer anderen Welt zu kommen, geheimnisvoll und ganz anders als erwartet – „unheimlich“ war das Wort, das Weber immer wieder in den Sinn kam. Die Empfindung sollte sich bald wieder einstellen, doch dieses Mal in einem fundamental anderen, asketischen Umfeld, einem Umfeld des stillen Wartens auf geistige Erweckung. Ohne dass die Webers damit rechnen konnten, bildete der Gottesdienst der Baptisten der Neunzehnten Straße eine Art Einschnitt und gab den letzten Wochen ihrer Tour durch Amerika die Richtung vor. Das Reisetempo nahm zu, und mit ihm auch die geistige Beanspruchung, und beide blieben sie hoch bis ganz zum Schluss. In ihrem Lebensbild fing Marianne ein paar der fesselnden Augenblicke ein, ließ je­ doch auch vieles äußerst Wichtige unberücksichtigt, das sich in den Begeg­ nungen mit Kollegen, Freunden, Institutionen und der sozialen Welt ergab und mit dem täglichen sowie dem moralischen und spirituellen Leben zu tun hatte. Geist und Welt Die Webers kamen an einem Montag in Philadelphia an und quartierten sich für einige Tage im Aldine Hotel in der zwischen der Neunzehnten und der Zwanzigsten Straße gelegenen Chestnut Street ein. In Amerikas dritt­ größter Stadt begegneten ihnen die Wolkenkratzer wieder, und sie ähnelten denen von New York und Chicago. D. H. Burnhams Land Title Building befand sich in derselben Straße und erinnerte sie an seine Fisher- und Re­ liance-Gebäude in Chicago. Dennoch aber war Philadelphia in einigen wichtigen Aspekten anders, die Marianne gebührend herausstellte: zahlrei­ che Gebäude im federal style; Straßenzüge von uniformen roten Ziegelstein­ häusern, die sich glichen „wie ein Ei dem anderen“; und der Kontrast

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zwischen der geradlinigen Stadtlandschaft, den „malerischen“ Ausblicken von den Colleges auf die Außenbezirke und dem „unendlich schmucklos schlichten, nüchternen“ Stil der traditionellen Bauten, die den „Quäkergeist“ zu atmen schienen. Während Marianne sich noch von den gesundheitlichen Problemen des Besuchs in Mt. Airy erholte, nutzte Max den folgenden Tag, um mit dem Zug nach Baltimore zu fahren, wo er auf Einladung Jacob Hollanders der Johns Hopkins University und dem ökonomischen Institut bzw. Seminar, wie es damals hieß, einen Besuch abstattete. Die Johns Hopkins Universität war dafür bekannt geworden, dass sie die deutsche Seminarmethode, die von dem Historiker Leopold von Ranke zur Ausbildung von Fachwissen­ schaftlern an der Berliner Universität vervollkommnet worden war, in die amerikanische Hochschulausbildung eingeführt hatte. Weber kam in den Morgenstunden hier an und besuchte eine, eventuell auch zwei Undergra­ duate-Lehrveranstaltungen: Hollanders Seminar „Economic Theories since Adam Smith“, an dem 17 Studenten teilnahmen, und das „Economic Semi­ nary“, das Hollander zusammen mit seinem Kollegen, dem Extraordinarius George E. Barnett, abhielt und das 13 Teilnehmer verzeichnete. Hollander und Barnett bildeten ein interessantes Paar mit ganz unter­ schiedlichen Hintergründen: Hollander bewegte sich in jüdischen Kreisen, sein Vater war erst kürzlich aus Bayern eingewandert; Barnett stammte aus einer etablierten Familie von Methodisten, und sein Vater war ein ordinier­ ter Pastor. Sie unterschieden sich in ihren politischen Ansichten, denn Hol­ lander diente den republikanischen Präsidenten, während Barnett ein „New Freedom“-Demokrat wurde. Dennoch entwickelten sie eine enge persönliche Freundschaft und arbeiteten jahrzehntelang zusammen. Weber war von ihrer Unterrichtsmethode fasziniert und hielt fest: „der ,Student‘ lernt zu Haus ca 30–40 Seiten eines nationalökonomischen Lehrbuchs (Hobson’s Evolution of Capitalism) und wird dann abgefragt; wurde hier recht geschickt mit einer Art Vorlesung combiniert. Dann Seminar; eine gute Seminararbeit wurde (sehr streng) kritisiert“ (2. November; NMW). Weber konnte bei die­ ser Gelegenheit nicht an sich halten und griff in die Diskussion ein, viel­ leicht angeregt von der Lektüre von John A. Hobsons Buch über den Kapi­ talismus und seine „Entstehung und Entwicklung“ durch die Maschinenpro­ duktion. Hobsons Buch stützte sich auf Arbeiten zur Baumwollindustrie von Webers Kollegen Gerhart Schulze-Gaevernitz, der darin nachgewiesen hatte, dass zwischen höheren Löhnen, kürzeren Arbeitszeiten, gesteigerter Produk­ tion und niedrigeren Produktpreisen ein Zusammenhang bestand. (Hobson nahm nur in die zweite, überarbeitete Fassung von 1906 ein Kapitel zu den Ursprüngen des modernen Kapitalismus und zum „kapitalistischen Geist“ auf, in dem er Sombarts Der moderne Kapitalismus und dessen Auffassung



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vom „ökonomischen Rationalismus“ heranzog, Webers eigentlich relevante­ re Arbeiten jedoch unberücksichtigt ließ.) Weber räumte ein, dass er „die Frechheit“ hatte, „die Diskussion mit den Studenten an mich zu reißen“. Hinterher dankte er Hollander und versprach, für das nächste Mal an seinem Englisch zu arbeiten. Zudem rühmte er die „intensity of the work“ und die „high standards of investigation“, die er dort vorgefunden hatte und die ein viel besseres Arbeiten ermöglichen würden als an den deutschen Universi­ täten, wo man aufgrund des finanziellen Drucks genötigt sei, sehr viele Studenten anzulocken (undatierter Brief, wahrscheinlich vom 2. November). Weber und Hollander sorgten sich beide wegen der Probleme im India­ nergebiet, und ihre Diskussionen in dieser Sache profitierten davon, dass Weber in Muskogee gewesen war und sich ein Bild von der Arbeit der Dawes-Bixby-Kommission gemacht hatte. Darüber hinaus aber interessier­ ten sie sich beide für Arbeitnehmerfragen und plädierten für einen kritischen Umgang mit der historischen Nationalökonomie. Hollander und Barnett waren unter den Ökonomen bekannt dafür, dass sie den Fokus in Lehre und Feldforschung auf die Arbeitsverhältnisse und die Gewerkschaftsbewegun­ gen richteten, wenngleich Hollander sich auch in Wirtschaftstheorie, Wirt­ schaftsgeschichte, öffentlicher Finanzwirtschaft und im Feld der außenwirt­ schaftlichen Beziehungen auskannte. Weber dürfte dessen Auffassung gou­ tiert haben, dass der beschränkte Empirismus und Historizismus Gustav von Schmollers und der deutschen historischen Schule ihre Arbeit getan hätten und jetzt um einen „neuen ökonomischen Theorierahmen“ ergänzt werden müssten, wie Hollander sagte. Er dürfte auch Hollanders Einschätzung ge­ teilt haben, wonach die Vereinigten Staaten unvergleichliche Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Forschung boten – „vielleicht selbst die beste öko­ nomische Forschungsstätte [sind], die die Welt je gesehen hat“; dies ist eine Formulierung, die einigen von Sombarts Äußerungen ziemlich nahekommt. Man kann sich kaum vorstellen, dass der Tag vorüberging, ohne dass sie sich über die Arbeitsverhältnisse, die AFL, Webers Treffen mit Gompers und all das austauschten, was zur gewerkschaftlichen Organisation der Schlachthöfe unternommen worden war. Als Mitherausgeber wollte Weber (und wollte auch Sombart) Hollander dafür gewinnen, einen Beitrag für das Archiv zu verfassen, entweder über die Probleme im Indian Territory – vor allem mit Blick auf die Finanzen und Steuern – oder über die Geschichte der amerikanischen Wirtschaftswis­ senschaft und die Wirtschaftstheorie. Hollander kannte Sombart und stand auch mit ihm über diese Themen im Austausch. Er schien einer Mitwirkung nicht abgeneigt zu sein, doch wie die meisten Bitten Webers blieb auch diese aufgrund von Arbeitsverpflichtungen und diversen anderen Beanspru­ chungen ohne konkretes Resultat.

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Zurück in Philadelphia kam Weber mit einer weiteren Form der welt­ lichen Studentenkultur in Berührung: am Abend in der Broad Street Station, wo eine ausgelassene Abschiedsfeier – nebst einem studentischen Festum­ zug – für das Footballteam der University of Pennsylvania stattfand, das zur Vorbereitung des alljährlich in Cambridge ausgetragenen Spiels gegen die Mannschaft der Harvard-Universität ein Trainingslager bezog. Das war ein erster Vorgeschmack auf kommende Ereignisse. Doch zunächst standen di­ verse Bildungseinrichtungen auf dem Programm, die sie sich anschauen wollten. Weber hatte sich brieflich an den Präsidenten des Haverford Col­ lege Isaac Sharpless gewandt und sich nach der Möglichkeit eines Campus­ besuchs erkundigt, die ihm in einem freundlichen Antwortschreiben einge­ räumt wurde. Es könnte durchaus sein, dass die Idee zu diesem Besuch auf die Präsidentin des Bryn Mawr College Martha Carey Thomas zurückging, da sie Marianne auf dem Congress of Arts and Science in St. Louis oder schon in Berlin eingeladen hatte, einen Tag auf ihrem Frauencampus zu verbringen. Am Morgen nach Max’ erfrischenden Gesprächen mit Kollegen und Studenten an der Johns Hopkins University nahm das Paar die Penn­ sylvania Main Line zum Bahnhof Haverford, von wo aus sie zu zwei wei­ teren Colleges aufbrachen, die beide von Quäkern gegründet worden waren; während Marianne Bryn Mawr besuchte und mit Martha Carey Thomas zu Mittag aß, verbrachte Max den Tag in Haverford und speiste mit dem dor­ tigen Dekan, dem Nationalökonomen Don Carlos Barrett. Wie im Falle der Northwestern University zeigte sich Marianne auch hier beeindruckt von der Kultur der Einrichtung. Ihre Gastgeberin Martha Carey Thomas hatte auf dem St. Louiser Congress eine Rede über ,das College‘ gehalten, die Marianne durchaus gehört haben könnte. Thomas hatte sich als entschiedene Teilnehmerin an der Debatte über die liberale Ausbildung hervorgetan und das vierjährige College (mit Campusunterbringung) als Ideal verteidigt und als einen Ort des liberalen Lernens und intellektuellen Erwachens bezeichnet, der den Studenten, wie sie sagte, „einen offeneren Horizont, ein größeres intellektuelles Mitgefühl, ein tieferes Glücksempfin­ den [vermittelt] [und] all die nicht greifbaren und nicht in Worte zu fassen­ den Dinge des Geistes“. In diesem Vortrag richtete sie sich genau genommen an zwei Gruppen von Personen: an universitäre Führungskräfte wie Charles Eliot, den Präsidenten von Harvard, der sich dafür aussprach, Männer und Frauen eine unterschiedliche Ausbildung angedeihen zu lassen, auf der Grundlage der vermeintlichen „natürlichen“ Unterschiede zwischen ihnen. Als Dozent in Bryn Mawr hatte auch Hugo Münsterberg aus der Sicht der Psychologie mit dergleichen Vorstellungen gespielt, allerdings deutlich zu­ rückhaltender. Die andere Zielgruppe bildeten jene Personen (auch hier war Eliot ein Beispiel), die bei den Studiengängen auf mehr Wahlfächerfreiheit und auf ein Curriculum drängten, das stärker auf die Bedürfnisse der ange­



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gliederten Graduiertenschulen, die auf den neueren Campussen wie der Johns Hopkins University und der University of Chicago eröffnet worden waren, zugeschnitten sein sollten. Die Diskussion der Lehrplanbestimmun­ gen war die erste Runde einer Debatte über den amerikanischen Collegeund Universitätscampus, die nie zu Ende geführt wurde und vermutlich nie wird, weil es dabei im Verborgenen auch und gerade um den historischen Sinn der College-Ausbildung geht: den intellektuellen und emotionalen Kampf nicht nur um die Bildung der „Persönlichkeit“, sondern auch um Seele und Geist des Menschen. Thomas spielte eine zentrale Rolle in den Anfängen der Debatte, denn sie verkörperte vollkommen jene Bemühung um die Schaffung von Institutionen, die das Ziel hatten, den Einzelnen, sein ,inneres Selbst‘, zu formen und umzugestalten. Marianne Weber traf mit Thomas das erste Mal auf dem Internationalen Frauenkongress in Berlin zusammen, wo sie sich das Podium bei einem Fo­ rum zum „Universitätsbesuch der Frauen“ teilten. Die Schlachten, die sie persönlich geschlagen hatten, und ihre feministischen Interessen für die Aus­ bildung und die Belange der Frauen brachten sie zusammen. Marianne Weber war eine der ersten Frauen, die an der Freiburger Universität zur Immatriku­ lation zugelassen wurden, und Thomas hatte 1882 an der Züricher Universi­ tät ihren Doktortitel erworben (summa cum laude in Englischer Literatur), nachdem sie in der Heimat von der Cornell und der Johns Hopkins Universi­ ty und in Deutschland von der Leipziger und der Göttinger Universität ableh­ nende Bescheide erhalten hatte. Sie war zudem die erste Präsidentin eines der großen Colleges. Thomas war bis 1904 zur Wortführerin in der Sache der Frauenbildung avanciert; sie genoß gleichsam Prominentenstatus, was mit daher rührte, dass sie keine Scheu davor hatte, sich mit den etablierten Auto­ ritäten anzulegen, bei denen es sich sämtlich um Männer handelte, und auf die gleichen Bildungschancen für Frauen und auf die Koedukation zu drän­ gen – Letzteres war Thomas unbeschadet ihres Bekenntnisses zu Bryn Mawr als einer Fraueneinrichtung ein tiefes Anliegen. In St. Louis hatte sich Marianne ein Bild davon machen können, wie die gemischtgeschlechtliche Ausbildung an den High Schools praktiziert wurde, und sollte sie damals noch irgendwelche Zweifel gehabt haben, so waren die schnell verflogen. In Bryn Mawr und die Woche darauf im Wellesley College konnte sie die Vorzüge des Frauencollege kennen und schätzen lernen; sie besuchte Vorlesungen in Philosophie und politischer Ökonomie und nahm das Campusleben in Augenschein. Wieder einmal war sie in ih­ rem Element. Am meisten imponierte ihr die Institutionalisierung von Maß­ nahmen zur Förderung der Unabhängigkeit, Autonomie, eines strengen Ar­ beitsregimes und dessen, was sie die „Vervollkommnung der Persönlichkeit“ nannte – bei der, wie sie fand, persönliche Freiheit und Kontrolle durch die Gesellschaft in ein bemerkenswertes Gleichgewicht gebracht wurden. Dieser

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„Hort des Idealismus“ aber nahm in ihren Augen Schaden durch das Ras­ senvorurteil – das einmal mehr bei einem Lunchgespräch mit Thomas über die „Negerfrage“ zutage trat, d. h. über die verwandten Fragen der gesell­ schaftlichen Gleichstellung der Afroamerikaner und der Klassen- und Stan­ desunterschiede innerhalb der Gemeinschaft der Schwarzen –, das die „christlichen und demokratischen Ideale“ zunichte machte, welche das College anerziehen sollte. Diese Episode erinnerte sie auf schroffe Weise an die „Rassenschranke“ im Norden. Aus Mariannes Sicht bestand hier zwei­ fellos ein Widerspruch, und die Lektion daraus lautete: In der Oase des li­ beralen Lernens hatte namentlich das rassische (und religiöse) Vorteil keinen Platz und durfte unter keinen Umständen verteidigt werden. Der Präsident des Haverford College, Sharpless, befand sich nicht auf dem Campusgelände und so hatte Max Weber das Glück, einen großen Teil des Tages mit dem Ökonomie-Kollegen Don Carlos Barrett verbringen zu können, der jüngst zum Dekan des College ernannt worden war. Barrett war gerade von einem Sabbatjahr in Deutschland zurückgekehrt, wo er in Berlin eine Vorlesung Alfred Webers, Max’ jüngerem Bruder, besucht hatte. Bar­ rett, ein Fachmann auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzwirtschaft, tat sich (einer Veröffentlichung von Studenten zufolge) auch als left guard des Footballteams der Fakultät hervor, das dem Swarthmore College beim jähr­ lichen Thanksgiving-Spiel eine Niederlage zufügte. Haverford erbrachte eine ganze Reihe von Aufschlüssen über die Bedingungen am College und das Studentenleben: Unterbringung auf dem Campus, klein gehaltene Kurse (Studenten und Lehrkräfte standen in einem Verhältnis von sieben zu eins, quasi so wie heute), eine Kulisse, die Marianne an einen „Sommeraufenthalt der oberen Zehntausend“ erinnerte, die Zeichen von Wohlstand und die nahezu platonische Kombination von intellektuellem und athletischem Kön­ nen. Weber kam zu Ohren, dass das Cricketteam angeblich das beste des Landes sei; es war gerade durch England gereist und hatte fünfzehn Partien gespielt (fünf Siege, zwei Niederlagen, acht Unentschieden). Haverford ist seiner Tradition treu geblieben und verfügt heute über das einzige Univer­ sitäts-Cricketteam in Amerika. Weber nutzte die Gelegenheit, um die Haverford-Bibliothek (die 1904 45.452 Bände umfasste) für seine Arbeit zu den Quäkern zu konsultieren, die in das bald zu schreibende vierte Kapitel der Protestantischen Ethik einfließen sollte. Obwohl sich in seiner Korrespondenz kein entsprechender Hinweis findet, könnte es dennoch sein, dass er mit Rufus M. Jones, dem bedeutenden Quäker-Gelehrten und Philosophieprofessor, zusammentraf. Jones erlangte für seine Bemühungen um die Wiederbelebung einer tätigen, bejahenden und weltlichen Mystik Bedeutung, die er in dem frühen Quä­ kertum gefunden hatte und die die Hinwendung zur Welt anstelle von ­Quietismus und weltlichem Rückzug verlangte. Die ,diesseitige‘ und auf das



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Abbildung 9: Das Haverford Friends Meeting House, unverändert seit 1904, von einem neuen Farbanstrich abgesehen und dem Banner mit der Aufschrift „There is no Way to Peace. Peace is the Way“. Die Webers besuchten einen Fifth-Day-Gottes­ dienst der Quäker, der einen starken Eindruck bei ihnen hinterließ und Eingang in Max’ Schriftwerk fand. Foto des Autors.

Handeln in der bestehenden Welt ausgerichtete Mystik faszinierte Weber wie kaum eine andere geistliche Orientierung. Weber erwähnte Jones später in seinem überarbeiteten Text als Herausgeber des American Friend und als die neben John W. Rowntree treibende Kraft hinter der maßgeblichen sie­ benbändigen Geschichte über Religion und Bewegung der Quäker. Ob Weber nun mit Jones zusammentraf oder nicht, dem Universitätsbibliothekar und Geschichtsprofessor Allen Clapp Thomas begegnete er mit Sicherheit und wurde entweder von ihm oder von Barrett zum Besuch des Haverford Friends Meeting eingeladen, einer Gemeinschaft praktizierender Quäker. Weber war über die Einladung beglückt; er hatte Texte von Quäker-Grün­ dungsvätern wie George Fox und Robert Barclay gelesen, hier aber bot sich ihm eine einmalige Gelegenheit, etwas ganz Neues zu erleben. Der Fifth-Day-Gottesdienst am nächsten Morgen wurde wie jede Woche in der meeting hall der Quäker abgehalten, die sich gleich neben dem Cam­ pus in der Buck Lane befand. Das College verlangte den Studenten bis 1965 die Teilnahme an dem Treffen ab. Das Gebäude, das nach wie vor als Versammlungshaus genutzt wird, hat sich über das letzte Jahrhundert kaum verändert; die Holzvertäfelung des Innenbereichs der Halle lädt zu stillem

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Verweilen, innerer Einkehr und zum aufmerksamen Wahrnehmen ein. Wer den Ort besucht und sich auf der harten Eichenbank in dem schwach be­ leuchteten Raum niederlässt, kann sich leicht vorstellen, dass der Gottes­ dienst auf einen Außenstehenden aus dem Lande Martin Luthers eine dra­ matische Wirkung gehabt haben dürfte. Max und Marianne beschrieben beide den ,Gottesdienst‘ – ein irreführen­ der Ausdruck ihrer Ansicht nach, insofern als es weder Orgel, Altar und Chor gab, nicht gesungen wurde, kein Bibellesen stattfand und auch kein Pfarrer mitwirkte; es war vielmehr eine Zusammenkunft von Menschen, die in tiefer Stille begann und bei der es still blieb, bis ein Mitglied der Glau­ bensgemeinschaft vom Geist ergriffen wurde, Frauen so gut wie Männer, und zu reden anhob, um eine religiöse Erfahrung zu schildern, ein Gebet zu sprechen oder sich zu einer Bibelstelle zu äußern. Marianne zufolge war es „genau wie bei den ältesten Christengemeinden, sehr einfach u. schmucklos, wie man sich nur denken kann – so antikatholisch wie möglich – verzich­ tend auf jede Art sinnlicher oder ästhetischer Beeinflussung, und dabei doch ungeheuer eindrucksvoll, namentlich das Schweigen u. die gesammelte Er­ wartung, dessen, was der heilige Geist aus dem Munde eines der Gemein­ deglieder verkündigen wird“ (27. Oktober; NMW). Das Ganze schien wie eine Verkündigung. Nur das Knistern des Feuers und gelegentliches Husten verrieten etwas über Zeit und Ort. Sechs Frauen und drei Männer saßen in vorderster Front, darunter eine ältere Frau, die für ihr „Charisma“ gerühmt wurde und von der es hieß, sie spräche am besten; Max und Marianne hofften, sie würde das Wort ergreifen, stattdessen aber hörten sie Allen Clapp Thomas sprechen, einen Kirchenältesten und Martha Carey Thomas älteren Onkel. Martha Carey Thomas war als gläubige Quäkerin aufgestiegen, hatte sich jedoch nach und nach von den Geboten der Orthodoxie wegbewegt, wozu sie zu einem Teil durch ihre neoromantischen ästhetischen Empfindungen und ihre Liebe zu Algernon Charles Swinburnes Dichtung und Richard Wagners Musik angeregt wurde. Ihr Leben widmete sie voll und ganz dem College und der Frauenbildung. Allen Clapp Thomas hingegen war ein Mitglied der Glaubensfamilie, das den Lehren der Quäker die Treue gehal­ ten hatte, die lokalen Treffen besuchte und den Kurs der Kirche mitbe­ stimmte. Als Historiker mit einer Neigung zur Philologie hatte Allen Thomas einen ziemlich förmlichen Vortrag über die Heiligen vorbereitet, vielleicht weil er meinte, dass die Spontaneität im Beisein der Gäste ihre Grenzen hätte. Weber fand die Rede zu Beginn „recht ledern“, erwärmte sich dann aber für die von Thomas sorgfältig vorbereitete, gelehrte und „hübsch praktisch ge­ wendete Interpretation der verschiedenen Bezeichnungen, die das Neue



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Testament den Christen giebt“. Der Text von Thomas’ Darstellung ist nicht erhalten, dennoch lässt sich aus Webers einige Monate später niederge­ schriebenen Anmerkung auf ihren Inhalt schließen: „ich selbst hörte noch eine Quäkerpredigt, welche den ganzen Nachdruck auf die Interpretation von ,saints‘ = separati legte.“ Weber sagt nicht, wer der Redner war, doch bei der „Quäkerpredigt“ handelte es sich ohne Zweifel um Thomas’ Rede beim Haverford Friends Meeting. Das Erlebnis des Fifth-Day-Gottesdienstes setzte sich deshalb in Webers Kopf fest, weil es ins Zentrum seiner These über die protestantische Ethik führte. Er bezog sich darauf in den beiden letzten Absätzen des langen vierten Kapitels der Protestantischen Ethik, deren einzige Fußnote auf Tho­ mas’ ,Predigt‘ verweist. Weber fasst seine Untersuchung zusammen und umreißt die Aufgabe des letzten Kapitels – der Berufsidee in ihrer Wirkung auf das Erwerbsleben und das Wirtschaften nachzugehen. Bislang, schreibt er, habe er sich lediglich an der Erörterung ihrer religiösen Fundamentie­ rung versucht: Entscheidend aber für unsere Betrachtung war immer wieder, um es zu rekapitu­ lieren, die bei allen Denominationen wiederkehrende Auffassung des religiösen „Gnadenstandes“ eben als eines Standes (status), welcher den Menschen von der Verworfenheit des Kreatürlichen, von der „Welt“, abscheidet, dessen Besitz aber […] nur durch die Bewährung in einem spezifisch gearteten von dem Lebensstil des „natürlichen“ Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel [garantiert wer­ den konnte]. Daraus folgte für den einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung.

In seinem Vortrag über die „Heiligen“ hatte Thomas offenbar genau die radikale Trennung zwischen dem Gläubigen und der Welt herausgestellt, den Gegensatz zwischen der Askese der Heiligen und dem unerlösten „na­ türlichen“ Gang des Lebens. Diese Trennung, dieser Gegensatz, ging „der Rationalisierung der Lebensführung in der Welt“ als Bedingung voraus, wie Weber den Gedanken fasste. Die Frage war jedoch, ob die Askese, statt zu einer Abkehr von der Welt zu führen, die Individuen dazu veranlassen konnte, sich der Welt zuzuwenden im Bemühen darum, sie zu beherrschen? Weber war dieser Ansicht: Die christliche Askese, anfangs aus der Welt in die Einsamkeit flüchtend, hatte bereits aus dem Kloster heraus, indem sie der Welt entsagte, die Welt kirchlich beherrscht. Aber dabei hatte sie im ganzen dem weltlichen Alltagsleben seinen natürlich unbefangenen Charakter gelassen. Jetzt trat sie auf den Markt des Le­ bens, schlug die Türe des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzuge­ stalten.

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Weber hatte also eine Möglichkeit gefunden, dem Paradox der „Heiligen“ zu einem vorläufigen Ausdruck zu verhelfen. Und er hatte eine Sprache zur Beschreibung einer Umgestaltung der Welt gefunden, die durch asketische Praktiken bewirkt wurde: durch ein Handeln, das auf die Beherrschung des Lebens und der Welt zielte, auch wenn es dieser Welt paradoxerweise nicht entsprungen und ihr weder verpflichtet war noch durch sie gerechtfertigt wurde. Die religiöse Zusammenkunft der Quäker war in keiner Hinsicht monas­ tisch, auch wenn ein Außenstehender wegen ihrer Loslösung vom Alltags­ leben diesen Eindruck hätte bekommen können. Die nüchterne Umgebung, das stille Verharren und die gespannte Erwartung der Gemeinschaft waren psychologisch wichtig als Vorbereitung auf das Herabsteigen des Geistes oder in Webers Worten auf die „die Überwindung des Triebhaften und Irra­ tionalen, der Leidenschaften und Subjektivitäten des ,natürlichen‘ Men­ schen.“ Allein in einem solchen Zustand konnte Gott sprechen und konnte der Einzelne sein Handeln am Gewissen ausrichten. Das stille Warten auf den Geist, darauf, dass er seine Wirkung tut, hatte nicht Trägheit oder kon­ templativen Rückzug zur Folge, sondern resultierte in Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein im weltlichen Beruf. Es ist mittlerweile gängige Meinung, dass wir es bei der protestantischpuritanischen Ethik mit der „Arbeitsethik“ zu tun haben – sprich mit einer moralischen Aufforderung, hart zu arbeiten, die landläufig mit humorloser Entschlossenheit, langen Arbeitszeiten und wenig Zeit für Vergnügungen, Spiel, Muße oder Inspiration assoziiert wird. Dieses Bild ist jedoch allen­ falls eine Karikatur des Ethos, das Weber zu beschreiben versuchte, und das ein Ethos der ständigen methodisch-asketischen Selbst- und Weltbeherr­ schung war und als ein Selbstzweck keiner Rechtfertigung mehr bedurfte. Die Askese dieser Art bewirkte in ihren unbeabsichtigten Folgen einen einschneidenden Wandel; sie zielte auf die Disziplinierung des natürlichen Selbst und auf eine Umgestaltung der Alltagswelt, indem sie Selbst wie Alltagswelt unter „rationale“ – d. h. „gewissensgeleitete“ und „achtsame“ – Kontrolle zu bringen suchte. Es war eine Ethik, die weder Kompromisse noch die kleinste Abwendung von sich zuließ; sie bezog alles ein und gab eine konkrete Art der Lebensführung vor, eine ganze Daseinsform. Die Ethik war gesellschaftlich verankert: Die protestantischen Sekten waren ihre sozialen Repräsentanten und Träger. Sie hatte jedoch auch eine seeli­ sche Dimension, weil das Handeln in der Welt mit einer psychologischen (Leistungs-)Prämie verknüpft war. Und wie Weber längst wusste, hatte niemand die Psychologie der religiösen Erfahrung und des religiösen Glau­ bens sowie deren Auswirkungen auf das menschliche Handeln erschöpfen­ der behandelt als William James.



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William James und sein Kreis Ihr Aufbruch nach Boston und die erste Bekanntschaft mit Cambridge in Massachusetts müssen einen starken Eindruck bei den Webers hinterlassen haben. Sie trafen auf die Menschenmassen, die gerade zum Spiel Penn(sylvania) gegen Harvard aufbrachen, und legten gemeinsam mit ihnen die zehnstündige Zugfahrt durch den Staat New York zurück. Am nächsten Tag, nachdem sie im Young’s Hotel in der Court Street in der Innenstadt von Boston abgestiegen waren, sahen sie sich die Begegnung in dem neuen Harvard-Stadion an, das im Jahr zuvor in der Art eines Amphitheaters als der erste Stahlbetonbau der Welt fertiggestellt worden war. Das Stadion, das zu seiner Eröffnung 22.000 Menschen Platz bot, war mit Fans gefüllt, die mit ihrem „donnernden Gesang“ für große Stimmung sorgten. Penn beende­ te Harvards Serie, das in der Saison noch nicht ein Mal verloren und zuletzt sechsmal hintereinander gewonnen hatte, und schlug seinen Rivalen aus der Ivy League mit elf zu null, womit es Cambridge in eine „tiefe Depression“ (Webers Worte) stürzte und in Philadelphia für Jubelstimmung sorgte. Der Philadelphia Inquirer erklärte den unerwarteten Sieg mit dem „Eifer“ des Teams und seinem „Mut“. „Das Großartige am Pennsylvania-Team ist sein geschäftsmäßiger Ernst“, legte sich ein Beobachter fest; der Penn-Trainer führte den Sieg schlicht und einfach darauf zurück, dass „unser Spiel nichts Unüberlegtes hatte“, sondern „dass wir das gemacht haben, was wir können, und dieser Linie sind wir konsequent treu geblieben, weil jeder Spieler sich gewissenhaft an seine Aufgaben hielt.“ Beim Montagsgottesdienst heiligte der Dekan das Resultat als „einen Triumph des Geistes und der Entschlos­ senheit von Penn“. Die Deutung des sportlichen Wettkampfs als Charaktertest und Erprobung des moralischen Werts ist natürlich ein weitverbreitetes kulturelles Phäno­ men, und das nicht nur in Amerika. Diese Äußerungen von vor einhundert Jahren geben jedoch noch etwas anderes zu erkennen: das Bedürfnis deut­ lich zu machen, dass eine physische Anstrengung, die von nicht wenigen als hemmungslos, als ein unwillkürliches Vergnügen, bloße Unterhaltung oder als Ausdruck maßloser persönlicher Ambitionen betrachtet wurde, im Ge­ genteil ein „rationaler“ Ausdruck der planvollen Leidenschaft und Hingabe eines weltlichen Asketismus war. Der Sport musste mit Begriffen begründet und gerechtfertigt werden, die mit der protestantischen Ethik in Zusammen­ hang standen – als ein uneitles, diszipliniertes, ernsthaftes, planvolles, hin­ gebungsvolles, gewissenhaftes Tun im Rahmen des Vernünftigen und einer sozial akzeptierten Form des weltlichen Leistungsstrebens. Weber war ver­ blüfft von der Berichterstattung in der Zeitung: Das Spiel und seine Nach­ betrachtung nahmen viel mehr Platz ein als der Präsidentschaftswahlkampf oder der Russisch-Japanische Krieg in Asien. Das war eine wichtige Lek­

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tion, nicht so sehr in Bezug auf die bürgerliche Kultur als vielmehr hin­ sichtlich der Soziologie des Sports, die Weber bald darauf in der Protestantischen Ethik erkunden wird. Jahre später wird Robert Merton seine Karriere mit einer eindrucksvollen Monographie zu den Ursprüngen der modernen Wissenschaft starten, die ihren Ausgangspunkt von einem Gedanken in Webers Abhandlung über den Zusammenhang zwischen asketischer Erlösungsreligion und moderner Wis­ senschaft nahm. Unter Rückgriff auf ähnlich anregende Darlegungen zu den kulturellen Effekten der Askese, hätte sich eine entsprechende Untersuchung auch in Bezug auf die tieferen Quellen des modernen Sportwahns durchfüh­ ren lassen. Die Atmosphäre des alljährlichen Footballspiels Harvard gegen Penn war eine so unwahrscheinliche wie passende Vorbereitung auf die Ereignisse jenes Sonntags. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kam Max Weber an diesem Tag mit William James zu einem nachmittäglichen Treffen bei Hugo und Selma Münsterberg in Cambridge zusammen. Zwei Mal be­ suchten die Webers das Haus, das sich zwei Straßen westlich der neuen Emerson Hall befand und an dem die fragende Aufschrift zu lesen war, „What is man that thou art mindful of him?“ (Psalm 8,4) [„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“]. Die in die Fassade der Universität von Freiburg eingemeißelte Devise hatte dagegen nahezu kantischen Geist geat­ met: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32). Der in der Ware Street Nr. 7 gelegene großräumige Wohnsitz der Münsterbergs war wie ge­ schaffen dafür, Freunde, Studenten, Kollegen, Wissenschaftler und Würden­ träger aus dem Ausland zu empfangen. Hier führte das Paar fast zwei Jahrzehnte lang einen Salon und schuf so ein Zentrum des gesellschaftlichen und geistigen Austauschs, vor allem zwischen Amerika und Deutschland. Die Bemühungen der Münsterbergs wurden durch die Verbitterung und die Missverständnisse des Ersten Weltkrieges zunichte gemacht. In den letzten Jahren nutzte die Universität das Haus als Büro für Entwicklung und das Fundraising der Ehemaligen, was einen passenden ironischen Kontrapunkt zu seiner bedeutenden und lange vergessenen Vergangenheit bildet. Im frühen Oktober bereits war die 50-köpfige Teilnehmerschar des Con­ gress of Arts and Science auf ihrer im Vorfeld vereinbarten Besichtigungs­ tour auf dem Campus von Harvard eingetroffen, wo der Präsident der Uni­ versität, Charles Eliot, sie feierlich empfangen hatte und ihnen zu Ehren ein Dinner stattfand. Weber hatte diese Ereignisse aufgrund seines Ent­ schlusses, allein nach Oklahoma und ins Indianergebiet aufzubrechen, ver­ passt, worüber er zweifelsohne große Erleichterung empfand. Bevor er Philadelphia verließ, hatte er Münsterberg geschrieben, um ihm mitzutei­ len, dass er in Cambridge gern einen der Kongressteilnehmer sehen würde,



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den Volkswirtschaftler in Harvard und Transport- und Eisenbahnexperten William Z. Ripley, der im Herbstsemester Nationalökonomie und Statistik lehrte. In St. Louis hatte Weber ihn vermutlich auf einem Forum reden hören, an dem auch sein Wiener Kollege Eugen von Philippovich teil­ nahm. Zudem äußerte er sein Interesse an einem Treffen mit dem progres­ siven Reformer und Verbraucheranwalt John G. Brooks, der in Deutsch­ land studiert hatte und wohl schon früher mit Weber zusammengetroffen war. Da das Semester bereits begonnen hatte, wollte Weber seinem Har­ vard-Gastgeber nicht zur Last fallen, wie er sagte, bekundete jedoch zu­ gleich, dass er an jedem anderen Treffen interessiert sei, das Münsterberg empfehlen würde. Der wiederum war von seinen Semesteraufgaben voll in Beschlag genommen: neben der Leitung des Labors und einem Psycholo­ gie-Seminar bot er zusammen mit Josiah Royce eine Einführung in die Philosophie an. Sein theatralischer Redestil und seine würdige Erscheinung machten Eindruck auf die 215 teilnehmenden Studenten dieser Veranstal­ tung. Es kursierten zahlreiche halb spöttische, halb anerkennende Bemer­ kungen; so dichteten sie etwa frei nach Luther: „Ein Münster-Berg ist unser Gott“. Royce und James wiederum unterrichteten zur selben Zeit ­ 21 Studenten und 14 Graduierte in Metaphysik. Münsterberg nutzte trotz seines Arbeitspensums die Gelegenheit, um dafür zu sorgen, dass James und Weber zusammenkamen. Von dem Kontakt mit Du Bois abgesehen, war dieses Gespräch sicherlich Max Webers folgenreichste Begegnung auf seiner Amerikareise. Die Webers kannten den Kreis um William James schon recht gut aus den Jahren an der Freiburger Universität, wo Weber und Münsterberg Kollegen waren. James, der sein psychologisches Laboratorium hatte aufgeben wol­ len, um sich stärker der Philosophie zuzuwenden, hatte Münsterberg 1892 angeworben, damit der ihn ersetzte. Münsterberg jedoch, der bei Wilhelm Wundt in dessen berühmten Laboratorium für angewandte Psychologie in Leipzig studiert hatte, war nicht bereit, seine Verbindungen nach Deutsch­ land zu kappen. Doch nach drei Jahren in Harvard und nachdem er für zwei Jahre nach Freiburg zurückgekehrt war, gab er James’ und Eliots Bitten nach; ungefähr zu der Zeit, als Max von Freiburg an die Heidelberger Uni­ versität wechselte (1897), ging Hugo Münsterberg nach Cambridge. Für Münsterberg lohnte sich der Wechsel: Schon im Jahr darauf wurde er ins Präsidentenamt der noch jungen American Psychological Association ge­ wählt. Einer von Münsterbergs Freiburger Studenten war Ethel D. Puffer, eine talentierte und temperamentvolle Absolventin des Smith College, die zu einer der tragenden Säulen in der Gruppe von jungen Wissenschaftlern und Ehefrauen wurde, die sich um die Münsterbergs, die Webers, um SchulzeGaevernitz und Heinrich und Sophie Rickert herum scharte. Neben ihrer

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Arbeit bei Münsterberg studierte sie Ethik und Ästhetik bei Heinrich Rickert (dabei traf sie mit Marianne zusammen), begleitete das künstlerische Werk von Selma Münsterberg und Sophie Rickert und unternahm während eines Sommers zusammen mit Selma eine mehrwöchige Bildungsreise zu den Kunstwerken Italiens. Sophie malte Ethels Porträt und fertigte eine Büste von ihr an, die 1904 in Mariannes Arbeitszimmer stand, gleich neben ihrem Schreibtisch. Wieder zuhause, nahm Ethel Puffer regelmäßig an den Treffen des Kreises um James, Münsterberg, Royce und George Santayana teil; sie pendelte zwischen Psychologie und Philosophie und schloss 1902 am Rad­ cliffe College ihre Promotion ab, die zweite, die einer Frau gestattet wurde. Sie nahm eine Stelle am Wellesley College an, wo sie erst Philosophie und dann Psychologie lehrte und wo sie bis zu ihrer Heirat 1908 blieb. Mit Charlotte Perkins Gilman begründete sie eine Denkrichtung, die als mate­ rial feminism Bekanntheit erlangte und sich in einer dem Progressivismus verpflichteten Form mit dem tiefgreifenden Wandel der Arbeits- Produk­ tions- und Konsumverhältnisse der Frauen befasste, speziell dem in ihrem Land. Marianne wäre von diesen Themen gefesselt gewesen, bearbeitete sie in ihren Aufsätzen doch zahlreiche derselben Probleme, die mit der Arbeits­ situation der Frauen, ihren häuslichen Rollen und Beschäftigungsverhältnis­ sen in Zusammenhang standen. In den 1920er Jahren wurde Ethel Puffer Howes Direktorin des Instituts für die Koordination der Belange der Frauen am Smith College, wo sie auch weiterhin Soziologie lehrte. Das SmithProjekt war der erste Vorstoß zur Institutionalisierung der Frauenforschung, und dem Christian Science Monitor zufolge handelte es sich bei ihm um „einen der originellsten und nachhaltigsten Versuche, die Frauenbildung voranzutreiben“. Nach sechs Jahren fiel das Institut althergebrachten Lokal­ interessen zum Opfer und wurde geschlossen. Ethel Puffer dürfte mit Sicherheit zu den Leuten gehört haben, die am Sonntag den 30. Oktober bei den Münsterbergs zusammenkamen, wo sich vielleicht auch Ripley, Brooks und Royce einfanden. Marianne und Ethel gab das Treffen Gelegenheit, ihre freundschaftliche Verbundenheit zu ver­ tiefen; beide Frauen vereinbarten, Wellesley zwei Mal gemeinsam zu be­ sichtigen, was einen besseren Vergleich mit Bryn Mawr ermöglichen sollte. Marianne besuchte eine von Ethel Puffers Ästhetik-Vorlesungen; die Ästhe­ tik bildete den Gegenstand einer großangelegten Studie, an deren Fertigstel­ lung Puffer gerade arbeitete. The Psychology of Beauty war eine umfassen­ de und detaillierte Untersuchung „der Mittel zur Herstellung von Schönheit“ in den unterschiedlichen kulturellen Bereichen. Die beiden Frauen besuchten auch das jüngst eröffnete Simmons College, wo Marianne nützliche Hinwei­ se für eine fettreduzierte Diät aufschnappte, was sie daran erinnerte, dass die ,Lebensreform‘-Bewegung in den Vereinigten Staaten und in Deutsch­ land längst im Gange war.



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Weber hatte sich zweifellos schon vor der Ankunft in Cambridge mit James’ Arbeiten auseinandergesetzt, wenn nicht auf Münsterbergs Anregung hin, dann über seinen Kollegen und Reisegefährten Ernst Troeltsch. Dieser hatte auf dem Kongress in St. Louis eine Abhandlung vorgestellt mit dem Titel „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft“ („Main Problems of the Philosophy of Religion: Psychology and Theory of Knowledge in the Science of Religion“). Dessen eigentliches Thema aber war William James’ Denken und die Herausforderung, die The Varieties of Religious Experience (dt.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung) für den kanti­ schen Rationalismus darstellte. Troeltsch, der James rühmte, ein „Meister­ werk“ verfasst zu haben – das sich durch Lebendigkeit und Unvoreinge­ nommenheit auszeichne und mit „feinen Generalisierungen“ souverän über seinen Gegenstand in der ganzen „Breite des Anschauungsmaterials“ verfü­ ge –, bemühte sich darum, Kants Aussagen über den Vernunftgehalt, die Gültigkeit oder Wahrheit des religiösen Glaubens in Teilen aufrechtzuerhal­ ten. Im Fortgang seines vortrefflichen Beitrags machte sich Troeltsch an eine Korrektur dessen, was er als Kants unhaltbar gewordene Position ansah. Er räumte an mehreren Stellen ein, dass Kants Rationalismus „allzu streng“ wäre gemessen an James’ Empirismus und dessen tiefgründigen Einsichten in den religiösen Zustand als „die Empfindung der Gegenwart des ,Gött­ lichen‘ “. Am Ende seiner Erörterung hatte er Kants „religiöses Apriori“ auf einen reinen Formalismus reduziert, und so konnte er im Rahmen seiner Richtigstellung nichts weiter tun, als seiner Sorge darüber Ausdruck zu geben, dass in der Verwirklichung der in James’ Werk entfalteten religiösen Erfahrung die Gefahr einer verworrenen Jenseitsmystik lag. Am Schluss äußerte er seinen Wunsch nach einer Synthese und forderte dazu auf, das Empirische und Psychologische mit dem Kritischen und Normativen zu einem neuen Ganzen zusammenzufassen, also James’ und Kants Positionen zu verbinden. Troeltsch hatte die Abhandlung mit an Bord der Bremen ­gebracht. Berücksichtigt man Webers Interessen und Themen, braucht es schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass er und Troeltsch sich nie über den Gegenstand und James’ imposanten Beitrag austauschten, während sie unterwegs waren bzw. in den Monaten zuvor, als sie beide aktiv am Eranos-Kreis mitwirkten. Weber las Paul Hensels Ausarbeitung für den St. Louiser Kongress, „Probleme der Ethik“, wahrscheinlich auf der Über­ fahrt; und wenn er Hensels kurzen Aufsatz las, dann sicher auch den von Troeltsch. Worüber Weber und James miteinander sprachen, kann man nur mutma­ ßen. Sie könnten alle möglichen ihrer gemeinsamen Themen berührt haben, einschließlich einer speziellen Vorlesung, die James in dieser Oktoberwoche halten sollte und deren Thema „The vocation of the Scholar“ (Der Beruf des Wissenschaftlers) im Allgemeinen eher mit Weber als mit James in

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Abbildung 10: William James, der „hervorragende Gelehrte“, dessen Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung Max Webers Aufmerksamkeit erregte. Die beiden Männer trafen an einem Herbstnachmittag in Cambridge in Massachusetts zusammen. Harvard University Archives, call # HUP James, William (5). Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Zusammenhang gebracht wird. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass Weber diese Rede hörte. Der einzige Hinweis auf ihr Gespräch stammt von Weber selbst und findet sich in seiner letzten Bemerkung zu James, die er in den überarbeiteten Text von „Kirchen und Sekten in Nordamerika“ einfügte. Nach einem Überblick über die unterschiedlichen Ausprägungen der Religio­ sität, die ihm in Amerika von North Tonawanda in New York bis Philadel­ phia begegnet waren, hielt er fest, dass diese Tatsachen „von manchen ge­ bildeten Amerikanern […] oft mit einer gewissen ärgerlichen Verachtung als ,Humbug‘ oder Rückständigkeiten kurz abgetan oder geradezu geleugnet



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[wurden]; vielen waren sie auch – wie mir William James bestätigte – wirk­ lich völlig unbekannt. Auf den verschiedensten Gebieten aber waren diese Rudimente noch in zuweilen grotesk wirkenden Formen lebendig.“ Auf diesen Punkt hatten beide Wissenschaftler in ihren Schriften aufmerksam gemacht. Die Spuren der religiösen und geistlichen Vergangenheit sind in der modernen und säkulareren Gegenwart oft übersehen worden, zumal von den Literaten und Intellektuellen. Weber hob diesen Gedanken auch im letzten Abschnitt der Protestantischen Ethik hervor, als er den Leser daran erinnerte, dass „der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußt­ seinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist“. Diese Bemerkung lässt wieder an sein zurückliegendes Gespräch mit James den­ ken, bei dem es in gewissem Umfang auch um Fragen der religiösen Erfah­ rung und deren Kulturbedeutung gegangen sein muss. Webers Werk enthält noch zahlreiche andere Hinweise auf James, wobei vieles davon im Verborgenen liegt, wie Wilhelm Hennis aufgezeigt hat, der nicht von „Einfluß“ sprechen wollte, sondern lieber von James’ „anregender Kraft“. Die geistigen Verbindungslinien sind in der Tat viel zahlreicher und faszinierender, als die wenigen Bemerkungen über Spuren und Rudimente des religiösen Lebens in der amerikanischen Gesellschaft erkennen lassen. Ideen und Erfahrung „Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese“ lautet der Titel, den Weber dem vierten Kapitel der Protestantischen Ethik gab. Es ist mit Abstand das längste der fünf Kapitel; es enthält fast die Hälfte des ur­ sprünglichen Textes und befasst sich mit den vier Hauptströmungen des asketischen Protestantismus: dem Calvinismus, dem Pietismus, dem Metho­ dismus und dem Baptismus. Zeitgenossen werden in den Aufzeichnungen fast gar nicht aufgeführt, dafür spielen historische Figuren wie etwa John Calvin, John Milton, Richard Baxter und John Bunyan eine umso größere Rolle. Mit einer Ausnahme allerdings: William James, der „hervorragende Gelehrte“, und sein monumentales Werk Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Webers Text ist für gewöhnlich nicht mit Blick auf die von James geführ­ te Diskussion gelesen worden, doch die Parallelen und Überschneidungen, Berührungspunkte und Vereinbarkeiten zwischen den beiden Gelehrten sind unverkennbar: ähnliche Formulierung der Kategorien von Askese und Mys­ tik, konsequente Ausrichtung auf die Lebensführung und die praktischen Auswirkungen der religiösen Überzeugungen und aufschluss- wie kenntnis­ reiche Darstellungen des spirituellen Lebens in seinen unterschiedlichen

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Gestalten bzw. der aus der religiösen Erfahrung hervorgehenden Typen der „Persönlichkeit“. Auch ihre Methoden legen einen Vergleich nahe: James insistierte zu Beginn der Vorlesungsreihe, dass man zwei „Formen von Untersuchungen“ auseinanderhalten müsse, die auf die logische Unterschei­ dung zwischen Existenzurteilen und Werturteilen (oder mit Blick auf unse­ ren Gegenstand, „spirituellen Urteilen“) zurückgehen. Üblicherweise wird diese Position Weber zugeschrieben. James wies mahnend darauf hin, dass sich Aussagen zu Wert, Bedeutung und „Wahrheit“ nicht von Aussagen zu Wesen, Struktur oder Geschichte eines Phänomens ableiten lassen. Sein Untersuchungsansatz verlange, so warnte er seine Hörer, die religiösen Er­ scheinungen unter einem „rein existenziellen Gesichtspunkt“ zu betrachten. Als Charles Eliot seinerzeit die Frage an ihn richtete, ob er die Schilderun­ gen religiöser Bekehrungserlebnisse für aufrichtig hielt, bemerkte James, dass es den Personen „darum geht, einen Idealtyp wiederzugeben, den sie für den wichtigsten und erbaulichsten halten“, und nicht um eine „buchstäb­ lich wahre“ Beschreibung, die freilich ohnehin eine Unmöglichkeit sei. „Ich denke, dass meine Darstellung ziemlich objektiv war“, so James weiter, „weil Menschen mit den unterschiedlichsten religiösen Neigungen darin etwas gefunden haben, das sie als Bestätigung der sie beherrschenden Ge­ danken aufgefasst haben, die sie vielleicht auf einen religiösen Weg brach­ ten.“ James’ methodologische Verteidigung seiner wissenschaftlichen Unter­ suchung könnte ebenso gut von Weber selbst sein. Was nun die empirischen Analysen angeht, so dürfte Weber keine Schwie­ rigkeiten gehabt haben, James’ zentralem Gegensatz unter den spirituellen Typen Sinn abzugewinnen – die Zartfühlenden versus die Grobkörnigen – oder seiner fundamentalen Unterscheidung zwischen der Religion des opti­ mistischen „gesunden Geistes“ [healthy-mindedness] und der desillusionier­ ten und melancholischen Suche nach Erlösung der „kranken Seele“, der Religion des angeschlagenen und geplagten Geistes [morbid-mindedness]. Die Ethical-Culture-Bewegung und die Christian Science zählten beide Ge­ lehrte übereinstimmend zu ersterer Religion, John Bunyan und Leo Tolstoi hingegen zu letzterer. Webers Interesse für solche Bewegungen und typi­ schen Geisteshaltungen ist vielfach belegt, angefangen bei seinen Beobach­ tungen der Büßer in Lourdes auf einer Reise nach Frankreich im Jahre 1897 bis hin zu seiner späteren unvollendeten Studie zu Tolstoi. Auch in der Heimat fand er unter seinen eigenen Verwandten genügend Beispiele für diese Typen und Orientierungen. So diente ihm speziell der Haushalt der Baumgartens in Straßburg, in dem der junge Max sich so gut auskannte, als ein Fallbeispiel für den Kampf zwischen der mind cure, wie James die von den Predigten Theodor Parkers und William Ellery Channings unterstützte Bewegung des auf den Geist gerichteten therapeutischen Optimismus nann­ te, und dem „Mysterium mit doppeltem Boden“ der unglücklichen Seelen,



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wie James sich ausdrückte. In James’ Darstellung ist es ein Kampf zweier Sichtweisen auf das Leben, die das „gespaltene Selbst“ in sich trägt. Kein Wunder, dass Eduard Baumgarten, der diesen emotionalen Brutkasten über­ lebt hatte, frappiert war von den ausführlichen Randbemerkungen, die er später in Webers persönlicher Ausgabe der Vielfalt religiöser Erfahrung entdeckte; unglücklicherweise haben die Archivare das Buch bis heute nicht wieder auffinden können. James und Weber wussten ganz genau, wohin sie als Menschen des „klerikal-akademisch-wissenschaftlichen“ Typus gehörten, und warum: Aus jeder Freudenquelle dringt ungeahnt, wie schon der alte Dichter wusste, et­ was Bitteres empor: ein Anflug von Übelkeit, das Absterben der Freude, ein Hauch Melancholie; wer das erlebt, meint die Totenglocken zu hören, denn selbst wenn es nur von kurzer Dauer sein sollte, so fühlt es sich doch an, als komme es aus einer tieferen Schicht, und ist oft erschreckend glaubwürdig und wirklich. Wenn es geschieht, erlischt der Grundton des Lebens, gleich dem Klang einer Klavierseite, auf die der Dämpfer fällt. Natürlich kann die Musik aufs Neue anheben – und wieder und wieder –, in Abständen. Doch der gesunde Geist behält für immer ein Gefühl der Verunsiche­ rung zurück. Er ist eine Glocke mit einem Sprung; er existiert aufgrund einer Duldung und infolge eines Zufalls.

Das sind William James’ Worte. Sie lassen sich autobiographisch lesen, doch man kann sie genauso gut als eine Einsicht in die Ambivalenz des „religiös unmusikalischen“ Geistesmenschen auffassen – wie Weber sich selbst einmal beschrieb –, der in einer schicksalshaften Wende zu einem leidenschaftlichen Beobachter der inneren Abgründe des Geistes wurde, und der weiß, was es heißt, wenn die Musik des Lebens aussetzt und „wieder und wieder“ anhebt. Einen hilfreichen Fingerzeig liefern James’ Zeilen auch mit Blick auf Webers Werk, denn sie erhellen einige der markantesten Stel­ len der Protestantischen Ethik: das Pathos des „Gefühls einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ und des „rastlosen und systematischen Kampfs mit dem Leben“, die Kennzeichen jenes Bewusst­ seinszustands sind, auf den sich Weber als „illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus“ bezog und den er unter den Menschen mit einer puritanischen Vergangenheit fand – zu denen auch William James zählte. Gelegentlich suchte Weber eben diese Eigenschaft der asketischen Beherr­ schung in sich selbst und beschwerte sich bitterlich, wenn er sie nicht zu fassen bekam. Wenn Wissenschaftler wie Hartmut Lehmann von Webers Texten als von einer Art Projektion oder einem Selbstzeugnis sprechen, dann haben sie solche Stellen im Sinn. Der Dialog, den Weber aus der Ferne mit James führte, steht unter dem Zeichen einer Problematik, die Weber ständig umarbeitete. In der Protestantischen Ethik tritt diese Problematik erstmals im 4. Kapitel hervor, wenn

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Weber unvermittelt erklärt, dass er nicht in erster Linie an der theologischen Doktrin, an Kirchendogma, Predigt oder moralischen Lehren interessiert sei; stattdessen käme es ihm auf etwas ganz anderes an, nämlich „auf die Ermittelung derjenigen durch den religiösen Glauben und die Praxis des reli­ giösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten. Diese Antriebe aber entsprangen nun einmal in hohem Maß auch der Eigenart der religiösen Glaubensvorstellungen“. In den ersten drei Kapiteln der Protestantischen Ethik hatte Weber derartige „Antriebe“ oder Themen aus dem psychologischen Register mit keinem Wort erwähnt. Durch das gleichsam im Hintergrund schwebende Werk von James aber sah sich Weber nun ge­ fordert – auch wenn er das nur etwas verklausuliert zu verstehen gab –, sein Augenmerk im 4. Kapitel auf die Psychologie des Glaubens zu richten. Er räumte ein, die religiösen Gedanken nicht anders als in „ihrer konsequen­ testen Form“ – das heißt als Idealtypen – darlegen zu können, wobei die Untersuchung selbst aus einem bestimmten Grund nun in diese Richtung ging: Es habe sich nämlich gezeigt, so Weber, dass der Gedanke der Prü­ fung des Einzelnen und der „Bewährung“ der spirituellen Überzeugungen zum „psychologischen Ausgangspunkt der methodischen Sittlichkeit“ ge­ worden war. Anders gesagt ließ sich das praktische Verhalten nicht vollstän­ dig verstehen, wenn man nur über die Effekte der sozialen Ordnung, der ökonomischen und politischen Interessen oder der moralischen und religiö­ sen Lehren nachdachte; auch die psychologischen Kräfte mussten in die Betrachtung einbezogen werden. Der Begriff eines in der Psyche verankerten „Antriebes“ versteht sich keineswegs von selbst. Weber dachte hier offenkundig nicht an eine physio­ logische oder natürliche Ausstattung, sondern an eine von kulturellen und religiösen Faktoren bedingte geistige Neigung. Diese Sicht fand ihren deut­ lichsten Ausdruck in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Luther­ tum, dem „eben, und zwar infolge seiner Gnadenlehre, der psychologische Antrieb zum Systematischen in der Lebensführung [fehlte], der ihre metho­ dische Rationalisierung erzwingt.“ Doch im Gegensatz zum Luthertum entfesselten der Calvinismus und die anderen protestantischen Sekten solche Kräfte und wirkten sich auf diese Weise ganz praktisch auf das menschliche Verhalten aus, was Weber als „psychologische Wirksamkeit“ bezeichnete. Oder etwas anders formuliert: In dem speziellen Fall der asketischen Sek­ ten, deren Praktiken auf die Umgestaltung der Welt abzielen, sieht sich die Soziologie der Religion gezwungen, auf eine praxis- oder ,verhaltensbezo­ gene‘ psychologische Argumentation abzustellen. Solche unterschiedlichen Wirkungen hatten auch eine historisch-politische Konsequenz, die Weber an vielen Stellen unterstrich. Als er etwa Adolf von Harnack für dessen Lektüre des ersten Teils der Protestantischen Ethik



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dankte, merkte er an, dass seine Ansichten über die auf das weltliche Han­ deln gerichtete Askese der Sekten, anders als bei seinem älteren Kollegen, an Georg Jellineks These über die historischen Wurzeln der modernen Frei­ heit und der modernen Menschen- und Bürgerrechte angelehnt sei. „Ich bin über die amerikanische Freiheit sehr anderer Meinung“, schrieb er. „In meiner Arbeit kommt notwendig Luther zu kurz, er bildet für diese religiös betrachtet peripherischen Gesichtspunkte eine wesentlich negative Größe, daran lässt sich nichts ändern. Wir dürfen doch nicht vergessen, dass wir den Sekten Dinge verdanken, die niemand von uns heute missen möchte: Gewissensfreiheit und die elementarsten ,Menschenrechte‘, die uns heute selbstverständlicher Besitz sind. Nur radikaler Idealismus konnte das schaf­ fen.“ Mit „Idealismus“ meinte Weber die psychologisch von einer prakti­ schen Lösung der Heilsfrage bedingten geistigen Eigenschaften: Wer hat Heil und Erlösung erlangt, und wie? Auf welchem Wege und welcher Opfer bedurfte es dazu? In Verbindung mit welchen Leistungen? In Verbindung mit welcher Form der weltlichen Anerkennung? In welchem Verhältnis zu Gott, den Mitmenschen und zum spirituellen Leben? Die Theologie konnte solche Fragen beantworten, und das hat sie beeindruckend detailreich getan. Weber aber war wie James an den existenziell fesselnden Antworten inter­ essiert, die Männer und Frauen fanden und die sie Tag für Tag in ihren moralischen Entscheidungen und praktischen Entschlüsse lebten. Weber und James sahen also zwei grundlegende Probleme – und die waren derart umfassend und schwierig, dass sie der westlichen Philosophie von Anfang an schwer zu schaffen machten: die Frage danach, wie Ideen und Handeln zusammenhängen, und die Frage nach der „Rationalität“ der Erfahrung. Das erste Problem tritt uns in Webers Werk in einer speziellen Form entgegen: als die Spannung zwischen den logischen und den psychologischen Auswirkungen der religiösen Vorstellungen auf das praktische Verhalten. Dass das Problem diese Form annahm, hatte seinen Grund in der strikten Prädestinationslehre des Calvinismus, nach der den Gläubigen Heil und Erlösung ungewiss bleiben müssen. Die logische Konsequenz dieser vollkommenen Ungewissheit konnte Fatalismus sein. Weber aber beharrte, dass die Lehre sich aufgrund der ferner an den Einzelnen gestellten For­ derung, sich im Beruf „auf die Probe zu stellen“ und zu „bewähren“, psy­ chologisch als Ansporn zu einem engagierten und weltlichen Tätigsein auswirkte. Während ein Geschehen folgerichtig und sein Eintreten logisch schien, bewirkte die Psyche etwas Gegenteiliges. Dies ist eine wichtige Beobachtung zu dem fraglichen Zusammenhang zwischen abstraktem Dog­ ma und konkretem Handeln, die James in seinen Vorlesungen wiederholt darlegte. Weber allerdings stellte dieses Resultat nicht zufrieden, es drängte ihn den Dialog mit James fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Zwar hatte er

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eingeräumt, dass die Psyche einen gewissen determinierenden Einfluss auf das praktische Handeln hat, „andererseits aber“, schrieb er, ist der Gedankengehalt einer Religion – wie gerade der Calvinismus zeigt – von weitaus größerer Bedeutung, als z. B. William James (The varieties of religious experience, 1902, p. 444 f.) zuzugestehen geneigt ist. Gerade die Bedeutung des Rationalen in der religiösen Metaphysik zeigt sich in klassischer Weise in den grandiosen Wirkungen, welche speziell die gedankliche Struktur des calvinisti­ schen Gottesbegriffs auf das Leben geübt hat. Wenn der Gott der Puritaner in der Geschichte gewirkt hat wie nur irgendein anderer vor oder nach ihm, so haben ihn dazu vornehmlich jene Attribute befähigt, mit denen die Macht des Gedankens ihn ausgestattet hatte. James’ „pragmatische“ Wertung der Bedeutung religiöser Ideen nach dem Maß ihrer Bewährung im Leben ist übrigens ja selbst ein echtes Kind jener Gedankenwelt der puritanischen Heimat dieses hervorragenden Gelehrten.

Webers sprachliche Präzision hat hier abermals eine kritische Stoßrich­ tung: Er äußert sich nicht zur philosophischen „Idee“, sei sie kantisch oder hegelsch, sondern zum Prozess des Denkens bzw. zu dem, was seine Qua­ lität ausmacht und was ein Pragmatist als Denken in Aktion hätte bezeichnen können. Es ist bemerkenswert, dass Weber sich auf die Passagen am Schluss der 18. Vorlesung in James’ Vielfalt bezieht, in der dieser die Behauptungen des „transzendentalen Idealismus“ infrage stellt, der für sich in Anspruch nahm, dem religiösen Glauben die objektiven, allgemeinen und in der Ver­ nunft gründenden rationalen Fundamente gelegt zu haben. Der lange Schat­ ten des alten Kant reichte noch immer weit. James stand selbstredend auf der Seite der Erfahrungstatsachen und bezog gegen die transzendentale Vernunft Stellung. Was aber nicht heißt, dass er die geschichtliche und praktische Wirkung (oder ,Rationalität‘) des speziellen Begriffs des gött­ lichen Willens in Abrede stellte. Die praktische Rationalität ist etwas ande­ res als die metaphysische Vernunft. Nichts anderes hingegen sagte Weber. Wer, wenn nicht Weber selbst, hatte auf der Wichtigkeit der praktischen Erprobung und Bewährung der Ideen insistiert? Dem Anschein nach um Korrektur des James’schen Gedankengangs be­ müht, gibt Weber jedoch hauptsächlich zu erkennen, dass er von denselben Voraussetzungen ausgeht: die Gültigkeit nach dem Maß der theoretischen Vernunft ist nicht sein Thema; ihm geht es vielmehr um die Bedeutung mit Blick auf die Kultur. Wie sich die Idee in Aktion „bewährt“, das sollte das Maß ihrer Bedeutung sein, daran sollte sich ihr Wert bemessen. Genau das schreibt Weber im nächsten Abschnitt, behält jedoch die andere Seite des Problems im Auge – nicht die Frage der Rationalität des Denkens in Aktion, sondern die der Rationalität des „Erlebnisses“: Das religiöse Erlebnis als solches ist selbstverständlich irrational wie jedes Erleb­ nis. In seiner höchsten, mystischen Form ist es geradezu das Erlebnis κατ᾽ ἐξοχὴν und – wie James sehr schön ausgeführt hat – durch seine absolute Inkommunika­ bilität ausgezeichnet: es hat spezifischen Charakter und tritt als Erkenntnis auf,



8. Die Protestantische Ethik193 läßt sich aber nicht adäquat mit den Mitteln unseres Sprach- und Begriffsappara­ tes reproduzieren. Und es ist ferner richtig: daß jedes religiöse Erlebnis bei dem Versuch rationaler Formulierung alsbald an Gehalt einbüßt, um so mehr, je weiter die begriffliche Formulierung vorschreitet. Darin liegt der Grund zu tragischen Konflikten aller rationalen Theologie, wie bereits im 17. Jahrhundert die täuferi­ schen Sekten wußten.

James’ Vorlesungen enthielten sehr zahlreiche Beispiele für die Anstren­ gung der von ihm angeführten Personen, zumal die der Heiligen und spiri­ tuellen Virtuosen, den rationalen Kern ihrer außerordentlichen Erfahrung allgemeinverständlich auszudrücken. In der Sache der Sinnhaftigkeit der Erfahrung wollte Weber das letzte Wort haben und schrieb: „Aber jene Ir­ rationalität, – welche ja übrigens keineswegs nur dem religiösen ,Erlebnis‘ eignet, sondern (in verschiedenem Sinn und Maße) jedem – hindert nicht, daß es gerade praktisch von der allerhöchsten Wichtigkeit ist, von welcher Art das Gedankensystem ist, welches das unmittelbar religiös ,Erlebte‘ nun für sich, sozusagen, konfisziert und in seine Bahnen lenkt; denn darnach entwickeln sich in Zeiten intensiver Beeinflussung des Lebens durch die Kirche und starker Entwicklung dogmatischer Interessen in der letzteren die meisten jener praktisch so wichtigen Unterschiede in den ethischen Konse­ quenzen, wie sie zwischen den verschiedenen Religionen der Erde beste­ hen.“ Diese Aufzeichnungen liefern eine bemerkenswert sensible Beobach­ tung über das reine Erlebnis in allen Lebensbereichen: es ist nur dann be­ greiflich und mitteilbar, wenn es in einen Deutungsrahmen eingefasst wird; und im Falle des spirituellen Lebens besteht dieser Rahmen häufig (wenn auch nicht immer) in einem gegebenen Gedankensystem. Der letzte Satz verrät den Grund, aus dem Weber auf diesem Punkt beharrte: sein unbe­ dingtes Verlangen nach einer Erklärung der Unterschiede bei den prakti­ schen ethischen Auswirkungen in den großen Weltreligionen und insbeson­ dere jenen Unterschieden in ihren Wirtschaftsethiken. Webers letzte unmittelbare Bezugnahme auf James findet sich an einer weitgehend unbekannten Stelle in seinen Schriften, in einer Buchbespre­ chung von 1909, deren Gegenstand das Problem der „Wahrheit“ in der Wissenschaftstheorie der Zeit ist. Der Text ist zwar bereits übersetzt, aber noch kaum diskutiert worden, und dabei verrät er sehr viel über Webers Position James gegenüber. Das besprochene Buch, eine von Adolf Weber verfasste Verteidigung der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft, enthielt eine kurze kritische Auseinandersetzung mit James’ pragmatistischem Wahr­ heitsbegriff aus den Vorlesungen über den Pragmatismus (1907), die Max vermutlich auch gelesen hatte. In Anspielung auf die Auffassung vom „cash value“ aus der zweiten Vorlesung beteuerte der Autor, dass „die Wahrheit für uns [deutsche Forscher] etwas Unabhängiges und Absolutes bleibt“. Max Weber konnte sich einer Erwiderung auf dieses Sich-zu-eigen-Machen

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des erhabenen Kantianismus nicht enthalten und bemerkte, dass der Begriff des „cash value“ als Maßstab für den Wahrheitsgehalt bei James sowohl einen „praktisch-utilitarischen“ als auch einen anders gewendeten Sinn hat: „Wert für die ,einfachste Beschreibung‘ empirischer Tatsachen, deren Er­ kenntnisgehalt unser (wissenschaftliches) ,Interesse‘ gilt“. Es sei kein Zufall, fügte er hinzu, dass die pragmatistische Konzeption in den Vereinigten Staaten und England entstand: Die Lehre von der mehrfachen Wahrheit hat seit den Zeiten des Nominalismus und [Francis] Bacons stets einen ihrer Hauptsitze in England gehabt und dort allwechselnd bald der Freiheit der empirischen wissenschaftlichen Forschung ge­ genüber der dogmatischen Gebundenheit, bald der Sicherung religiöser Bedürfnis­ se gegenüber dem Vormarsch der Naturwissenschaft dienen müssen. Früher ge­ nügte es diesem Zweck, wenn die religiöse Wahrheit, als das absolut Irrationale, gänzlich getrennt neben die empirische Wissenschaft gestellt und so von jeder Komplikation und allen Konflikten mit dieser entfernt gehalten wurde. Heute genügt das nicht mehr und die absolute Irrationalität alles Erkenntnissinns – nicht etwa nur: der als „Objekt“ gedachten „Welt“ – muß hinzutreten, um den nötigen Raum für die religiösen Interessen zu schaffen. – Natürlich ist dies bei James wirksame Motiv in dieser Art heute nicht allgemeingültig.

Was hier in der Nachfolge von Nietzsches Kant-Kritik zur Debatte stand, war der Status der Rationalität sowohl der moralischen und religiösen Über­ zeugungen als auch der empirischen Wissenschaft. Weber und James kann­ ten beide Nietzsches Kritik und seine Spekulationen über das Ressentiment; Weber verstand, dass James die Lösung des Problems der Erprobung an­ heimgestellt und dazu eine Arbeitshypothese über die Prüfung von Ideen in der Praxis vorgelegt hatte. „Der ,Pragmatismus‘ “, fährt er in unmittelbarem Anschluss an das oben Gesagte fort, hat vielmehr normalerweise, neben noch anderen Wurzeln, ein sicherlich sehr starkes Fundament in ganz bestimmten Eigentümlichkeiten der in England und Amerika (im Gegensatz zu Frankreich und – bis auf Mach – Deutschland) seit langem eingebürgerten physikalischen Denkweisen, wie sie z. B. auch bei Max­ well charakteristisch hervortreten: z. B. der Verwendung unter einander rational unvereinbarer, aber höchst sinnlich-anschaulicher Demonstrationsmethoden, die doch niemals den Anspruch erheben konnten, das „Sein“ des Vorganges repräsen­ tieren zu sollen. Auch diese Behandlungsweise, welche z. B. Duhem hübsch in ihrem Gegensatz gegen die autochthon kontinentale geschildert hat und welche die Gedankengänge der pragmatischen „Denkökonomie“ besonders nahe legte, führt in ihren Wurzeln bis über die Anfänge der modernen Naturwissenschaft ­hinaus zurück.

Dies sind erhellende Zeilen, die u. a. Aufschluss geben über die Entfer­ nungen, die Weber und James auf ihren intellektuellen Wanderschaften zu­ rücklegten, auf denen sie beide auf Ernst Mach, Pierre Duhem und Wilhelm Ostwald Bezug nahmen. Für die Kritik an Ostwalds epistemologischem „Naturalismus“ schrieb Weber einen ganzen Aufsatz. James’ epistemologi­



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sche Arbeiten umfassten wiederum eine scharfe Kritik an Rickerts neukan­ tianischem „realistischen“ Wahrheitsbegriff, dem auch Weber die Zustim­ mung verweigerte. Anmerkungen wie diese können nur Andeutungen sein und bedürften eigentlich der Erklärung; einstweilen müssen wir es jedoch bei ihnen bewenden lassen, weil wir das Ende von Webers geistigem Aben­ teuer in Begleitung von William James erreicht haben. Weber setzte sich auch in seinen späteren Aufsätzen noch mit den Fragen und Problemen auseinander, die seine Begegnung mit William James und die Vielfalt religiöser Erfahrung aufgeworfen hatte. Der wichtigste Ort für die Fortsetzung des Dialogs war jedoch weniger der zweite Teil der Protestantischen Ethik, sondern vielmehr die nachfolgende Schrift: die erste, überblickshafte Abhandlung, die den Anfang einer Reihe von Abhandlungen zu Konfuzianismus, Taoismus und den anderen Weltreligionen bildete, „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Untersuchungen“. Hans Gerth und C. Wright Mills übersetzten den 1913 geschriebenen Text als „The Social Psychology of the World Religions“ und gestatteten sich mithin eine redaktionelle Freiheit, die immerhin den Vorzug hatte, dass sie den wahren Gegenstand zu erkennen gab, den Weber mit ungewohnter Deutlichkeit aussprach: „Nicht die ethische Theorie theologi­ scher Kompendien, die nur als ein (unter Umständen allerdings wichtiges) Erkenntnismittel dient, sondern die in den psychologischen und pragmati­ schen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln sind das, was in Betracht kommt.“ Wie aus dieser thematischen Ankündigung aus dem zweiten Absatz her­ vorgeht, sollten einmal mehr die Handlungs-„Antriebe“ im Mittelpunkt stehen, wobei Weber ausdrücklich pragmatische Gesichtspunkte geltend macht. Webers Gedanken in diesem ungewöhnlichen Aufsatz nachzugehen, wäre zwar äußerst lohnend, würde aber zu weit führen. Dennoch ist der Hinweis wichtig, dass eine seiner meistzitierten Umschreibungen des ursächlich Wir­ kenden aus dem Zentrum der Diskussion stammt, bei der es um die James’sche Dreieinheit aus der bangen Suche nach authentischer Erfahrung, dem Verlangen nach „Erlösung“ und dem Auftrag der „Intellektuellen“ geht. Die Darstellung ist genau besehen eine nähere Ausführung eines Aspekts seiner Äußerungen zu James in der Protestantischen Ethik: Aber eine spezifische Bedeutung erlangte die Erlösung doch erst, wo sie Ausdruck eines systematisch-rationalisierten „Weltbildes“ und der Stellungnahme dazu war. Denn was sie ihrem Sinn und ihrer psychologischen Qualität nach bedeuten woll­ te und konnte, hing dann eben von jenem Weltbild und dieser Stellungnahme ab. Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die „Weltbilder“, welche durch „Ideen“ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die

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I. Teil: Die Amerikareise

Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Nach dem Weltbild richtete es sich ja: „wovon“ und „wozu“ man „erlöst“ sein wollte und – nicht zu vergessen: – konnte.“

Ideen und Weltbilder sind die Domäne der Heiligen, der des Wortes mächtigen Virtuosen des Geisteslebens oder der Intellektuellen. Das Welt­ bild einer Person ist weder ein simples Glaubenssystem, noch eine bloße Ideologie oder Weltanschauung, sondern eine geistige Landkarte der sicht­ baren und unsichtbaren Welt, des Bekannten und des Vorgestellten, der bewussten Wahrnehmungen und der Gefühlsempfindungen. In Webers Dar­ stellung geht das Weltbild aus Ideen hervor, insbesondere aus denen, die tief in der Religion verwurzelt sind. Die Sache ist jedoch kompliziert, weil auch die sogenannten ideellen Interessen Ideen sind, feste Bestandteile des Geis­ tes, die eine der entscheidenden Triebfedern für das Handeln bilden. So kompliziert Webers Darstellung auch scheinen mag, sie empfiehlt sich uns als ein konzentriertes Destillat seiner Bemühung, der Herausforderung durch James’ kompromisslosen Empirismus und sein unbedingtes Beharren auf der Wirklichkeit spirituellen Erlebens gerecht zu werden. Was ist zu Webers eigener Position zu sagen? Ist sein Beharren auf der empirischen Erschließung ein Spiegelbild des James’schen, oder sollten wir den empiristischen Argumenten des Pragmatismus nicht zu viel Gewicht beimessen? Lassen sie Raum für „Rationalität“? In dieser Frage bilden die kantischen Kategorien nach wie vor den Prüfstein. Beide Autoren verzichten im Zusammenhang mit ihrer Religionswissenschaft auf die Erkenntnisan­ sprüche des transzendentalen Ego, geben den transzendentalen Idealismus und den gesetzesgleichen, legislativen Zwang zur synthetisch-apriorischen Wahrheit zugunsten der menschlichen Entscheidungsfreiheit auf. In ­Troeltsch hatten sie einen Verbündeten insofern, als dieser mit James’ Erwiderung auf Kant übereinstimmte. James’ Auffassung nach erwächst die Rationalität aus der Erfahrung, im Zusammenspiel mit ihr: „Der Instinkt ist es, der uns führt, das Verständnis folgt ihm nur“, so bringt er es in der Vielfalt kurz und bündig auf den Punkt. Eigentlich meint James die „Intuition“ oder den „gefühlsbeherrschten Glauben“ in Abgrenzung zu den Gedanken und Ein­ sichten, die sich ohne Weiteres verständlich ausdrücken lassen. Was bei David Hume die menschlichen Gefühle und Emotionen waren, sind bei James die Intuitionen. Raum für Rationalität bleibt gleichwohl: James er­ kennt sie in „den menschlichen Denk- und Sichtweisen, welche Stück für Stück aus den einzelnen Erlebnissen heraus entstehen und wachsen, weil sie auf’s Ganze gesehen am besten funktionieren“, wie er bei einer Gelegenheit Münsterberg ins Gedächtnis rief. Genau diese ,epistemologische‘ Position war es, die Webers Ansicht nach mit dem vorrangigen Interesse in Einklang stand, das die innerweltliche Askese an der praktischen Rationalität nahm. Für Weber aber waren unsere „Rationalitäts“-Vorstellungen bekanntermaßen



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vielwertig und vielgestaltig und gingen auf komplexe historische, soziale und kulturelle Einflussfaktoren zurück. Ihm lag jedoch daran herauszustel­ len, dass sich die von James geltend gemachten „menschlichen Denk- und Sichtweisen“, sobald diese klar und verständlich ausgedrückt werden, darauf auswirken können, wie wir die Welt „erfahren“ (und in den Weltreligionen wirken sie sich tatsächlich in der Weise aus). Demnach muss James’ bün­ dige Formulierung ergänzt werden. Wenn das Verständnis sich herausgebil­ det hat, kann es unsere Intuitionen anleiten und ihnen Gestalt geben. Unse­ re Erlebnisse und Intuitionen würden dann „rationalisiert“, was ausdrücklich nicht besagen soll, dass das Resultat darum „rational“ nach dem Maß eines abstrakten Universellen wäre. Die kantischen Kategorien haben sich auch in Webers Denken verflüchtigt; an ihre Stelle traten stattdessen Analysetypen und Analyserichtungen des sozialen und ökonomischen Handelns in den jeweiligen historischen Umständen. Rationalität ist anders gesagt ein Kennzeichen der Wissenschaft und kei­ nes der Welt. Dem hätten William James und Max Weber sicher beige­ pflichtet.

9. Amerikas Modernität Die Zugreise von Boston nach New York führte die Webers durch Provi­ dence in Rhode Island und New Haven in Connecticut. In seinem Brief an Hugo Münsterberg aus Philadelphia hatte Max erwähnt, dass er sowohl die Brown University als auch Yale besichtigen wollte, immer noch auf der Suche nach einer Bibliothek, die in ihren Beständen Brauchbares zum Pu­ ritanismus und zu den protestantischen Sekten enthielt. Mehr als der kurze Abstecher zu Brown, wohin er mit Münsterbergs Empfehlungsschreiben aufbrach, ließ sich jedoch nicht einrichten; der allerdings erbrachte ein paar amüsante und aufschlussreiche Resultate. Weber legte Wert auf die Feststel­ lung, dass er sich in „der ältesten Heimath aller Gewissensfreiheit (Roger Williams) und der Trennung von Staat und Kirche auf der Erde“ befand (6. November; NMW). Auf der Suche nach Schriften zu seinem Thema begab er sich zum Campus-Bibliothekar, der ihm mitteilte, dass die Univer­ sität, obwohl sie von Baptisten und einigen Kongregationalisten gegründet worden war, beschlossen hatte, mit ihrem religiösen Erbe vollständig zu brechen und „ihren jetzigen Charakter als nicht-mehr ,Sectarian University‘ so stark [zu] betonen“. Sie hatte sich von allen Beständen zur Geschichte der Baptisten getrennt und sich auch keine moderne Literatur über die Gründerdenominationen zugelegt. Diese Form des Totschweigens der Ver­ gangenheit, um konfessionsungebunden und modern zu wirken, regte Weber immerhin zu einer Fußnote in der Protestantischen Ethik an, in der er mit­ teilt, dass die beste Baptisten-Bibliothek seines Wissens die der Colgate University sei, einer anderen von Baptisten gegründeten Einrichtung. Während sie in New England waren, hatten die Webers sich zwei Tage Zeit genommen, um ein anderes Mitglied ihrer Fallenstein-Verwandtschaft zu besuchen, Max’ Halbcousine Laura, ihren aus Deutschland eingewander­ ten Mann Otto von Klock und ihre acht Kinder, die in Wyoming, einer Gemeinde in der Nähe des Vororts Medford nördlich von Boston lebten. Dieser Besuch war Teil ihrer Bemühungen, Anteil an den Geschicken der Familie der Kolonialkinder zu nehmen und den Kontakt mit ihnen aufrecht­ zuerhalten, wie Guenther Roth dargelegt hat. Klock hatte ein erfolgreiches Schreib- und Übersetzungsunternehmen aufgebaut, das unter dem Namen seiner Frau firmierte (L. Fallenstein and Company) und war von den Astors und anderen eingesessenen und wohlhabenden Familien beauftragt worden, Ahnenforschung zu betreiben. Denn die Standesbewussten konnten durch die Wiederentdeckung einer persönlichen Familienvergangenheit ihren



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Stammbaum beglaubigen und wesentlich zu ihrem gesellschaftlichen Anse­ hen beitragen, worin Weber ein Zeichen der „Europäisierung“ sah. Der kurze Aufenthalt stellte sich als angenehm und lehrreich heraus. Max war der Meinung, dass die im Lande geborenen Klock-Kinder voll assimiliert waren, trotz der Geringschätzung, die ihr Vater gegenüber den „Yankees“ empfand, und ungeachtet seines romantischen Verlangens nach einem Deutschland, das es freilich gar nicht mehr gab. Überdies hatte die Säkula­ risierung eingesetzt, denn die zweite Generation wandte sich in einer Ent­ wicklung vom Protestantismus ab, die Weber für eine typische Erscheinung in den Einwandererfamilien hielt. Als die Webers einige Tage vor der Präsidentschaftswahl zu ihrem zwei­ ten Aufenthalt in New York City eintrafen, logierten sie diesmal weiter stadtaufwärts, vorbei an Theodore Roosevelts Geburtsstätte zum Holland House an der Fifth Avenue und der Dreizehnten Straße. Das Hotel befand sich vier Blocks nördlich von D. H. Burnhams unlängst fertiggestelltem Flatiron Building. Um Kosten zu sparen, übersiedelten sie in der darauffol­ genden Woche in eine Pension in der Madison Avenue 167, näher an der U-Bahn-Station der Dreiunddreißigsten Straße, die erst zwei Wochen zuvor eröffnet worden war. In der von Frau von Hilsen betriebenen Bleibe in der Madison Avenue hatten zwei amerikanische Paare und mehrere junge deut­ sche Geschäftsleute, die in der Stadt arbeiteten, Quartier bezogen. Durch die Berichte der deutschen Immigranten vom Leben in New York hörte Weber ein weiteres Mal von den Reizen der amerikanischen Clubs, die Eingang fanden in die überarbeitete Fassung seines Aufsatzes „Die protestantischen Sekten“ und in die grundlegende Abhandlung über Klasse und Status: Au­ ßerhalb des Arbeitsumfeldes herrschte völlige Gleichheit unter den „Gentle­ men“, ungeachtet der Unterschiede in Bezug auf die ökonomische Klasse und den sozialen Stand. Alexis de Tocqueville hatte sich von demselben Phänomen beeindruckt gezeigt, auch wenn er die Beobachtung nicht zu einer Untersuchung der wesentlichen Unterschiede zwischen der ökono­ misch definierten „Klasse“ und der in den Begriffen des gesellschaftlichen Ansehens und der sozialen Ehre definierten „Standes“ ausweitete. Im Vergleich zu den anderen amerikanischen Städten hatte Boston auf die Reisenden „älter, fertiger und harmonischer“ gewirkt. Ganz besonders im­ poniert hatte ihnen der Copley Square, der im Osten von Henry Richardsons Trinity Church und westlich von Charles McKims Boston Public Library begrenzt wurde. Die Kirche gegenüber des im Stil des italienischen Renais­ sanceklassizismus errichteten Bibliotheksgebäudes mit seinem warmen In­ nenbereich wirkte mit ihren deutlichen Anklängen an die Romanik beson­ ders kunstvoll und ästhetisch anziehend. Marianne fragte sich, was wohl ihr Schwager, der Architekt Karl Weber, von dem Bau gehalten hätte. In Manhattan erwarteten sie nun wieder die Anblicke, Klänge und Rhythmen

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der Metropole, die zunächst so erschreckend, neu und fremd gewirkt hatten. Doch Mariannes Reaktionen standen Max’ anfänglicher Begeisterung in nichts mehr nach, und sie berichtete, dass sie sich inmitten der verblüffend bunt gemischten Bevölkerungsgruppen und der architektonischen Vielfalt „ganz heimisch gefühlt“ habe. Ihre Beobachtungen nahmen genau wie die ihres Mannes mitunter einen rhapsodischen Charakter an: Wunderbar phantastisch ist der Blick von der Brooklyn Brücke im Abendschein auf die erleuchteten skyscrapers! Der Himmel dunkelrot u. lila verdämmernd u. in ihn hineinragend wie ein Gebirge mit seltsamen Konturen, der Haufen von Rie­ senbauwerken auf der Spitze von Manhattan Island, durchglüht von Millionen Lichtern, – so als ob der Geist, der in diesen Gebäuden lebt – das Geldstreben sich verkörperlicht hätte in glühenden Goldströmen, die die Wände durchleuchten. Ein märchenhafter Anblick! Man könnte auch meinen, die Graalsburg oder irgend­ ein Zauberschloß vor sich zu sehen (19. November; NMW).

Ob die phantastische, magische, seltsame Szenerie Marianne märchenhaft anmutete oder sie sich in eine Science-Fiction-Welt versetzt fühlte, die Sprache war ihr Medium, und mit den Mitteln der Sprache versuchte sie die Poesie des Modernen einzufangen. Welchen Geist das neue Jahrhundert atmen würde, war während des Prä­ sidentschaftswahlkampfs im Herbst deutlich geworden, und Theodore Roose­ velt verkörperte ihn gleichsam exemplarisch. Der Wahltermin fiel auf den 8. November 1904 und bot einen willkommenen Anlass für Beobachtungen. Zufälligerweise befand sich auch James Bryce als Beobachter in der Stadt, der gerade seine Godkin-Vorlesungen an der Harvard University abgeschlos­ sen hatte, „The Study of Popular Government“. In Manhattan errang der Anwalt Alton B. Parker einen leichten Sieg und lag sogar noch weiter vorn als William Jennings Bryans 1900. Theodore Roosevelt aber eroberte Brook­ lyn und trug in seinem und Parkers Heimatstaat mit etwa 175.000 Stimmen Vorsprung den Sieg davon, während er im ganzen Land mit zwei Dritteln der Bundesstaaten und mehr als 56 Prozent Zustimmung bei der Wähler­ schaft vorne lag; bei den Wahlmännern verfügte er über einen komfortablen Vorsprung und hatte 336 von ihnen auf seiner Seite, Parker dagegen bloß deren 140. Die Wahlbeteiligung in den fünf Bezirken New Yorks lag bei für heutige Verhältnisse unvorstellbaren 93,7 Prozent. Es gab nur eine lokale Überraschung: Der für eine weitere Amtsperiode im Senat des Staates kan­ didierende Demokrat George Washington Plunkitt – er war Teil der Tamma­ ny-Hall-Maschine und für seine Ansicht berühmt geworden, dass die „ehr­ liche Plackerei“ ein demokratisches Geburtsrecht sei – wurde mit 344 Stimmen geschlagen, was seine erste Niederlage in einer Laufbahn bedeu­ tete, die sich über mehr als vier Dekaden erstreckte. Roosevelts Ausstrah­



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lung und seine Popularität machten wohl den Unterschied. In einem Kom­ mentar zum Wahlausgang bezeichnete die New York Evening Post Roose­ velts souveränen Sieg als „einen Triumph der Person“, eine Anerkennung seiner „Persönlichkeit, die die Amerikaner in ihren Bann geschlagen hatte. Sein ausgeprägter Instinkt für Publicity und seine vollendete Meisterschaft in der Kunst, dem gewaltigen Druck standzuhalten und die Menschen mit­ zureißen – ein äußerst mächtiges politisches Instrument in einer Demokratie wie der unsrigen –, dazu seine herausragenden Eigenschaften und sein einnehmendes Wesen – all dies ließ ihn die Herzen der Amerikaner gewin­ nen und machte ihn zu dem siegreichen Führer, der er ist.“ Die Post brauch­ te nicht mehr als ein paar Zeilen für die Bekanntmachung, dass der „cha­ rismatische Führer“ – Webers Beitrag zu unserem politischen Diskurs –, dessen persönliche Qualitäten alles andere in den Schatten stellen, in Ame­ rika angekommen war. Kein Wunder, dass Weber u. a. Roosevelt wählte, als er nach Beispielen für charismatische Politiker suchte, die es mit den büro­ kratisierten Parteimaschinen aufnahmen. Während der beiden Wochen, die sie in der Stadt verbrachten, hatten die Webers nicht nur Gelegenheit, das politische Geschehen zu verfolgen, son­ dern auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Angebot an kulturellen Genüssen war reichhaltig, angefangen bei der ame­ rikanischen Uraufführung von Gustav Mahlers Vierter Sinfonie, unter der Leitung von Walter Damrosch (negativ besprochen wie in Europa); Richard Wagners Parsifal; eine musikalische Version von The Wizard of Oz; das Stück Alt Heidelberg, das Sigmund Romberg später zu seinem Musical-Hit The Student Prince umarbeitete; Henrik Ibsens Hedda Gabler; das Melo­ dram Sunday mit Ethel Barrymore in der Hauptrolle, die in der Presse als die „hochmoderne Verfeinerung“ in Person bezeichnet wurde; dazu Klassi­ ker wie William Shakespeares Much Ado About Nothing; und vieles mehr. Die Webers verfolgten genau, was sich in der Musik- und Theaterlandschaft tat; in Berlin etwa hatten sie eine Ibsen-Aufführung gesehen, in Paris eine Wagneroper gehört. Aus dem hiesigen Angebot wählten sie lediglich das Jiddische Theater aus. In New York hatten sie Wichtigeres im Sinn: die settlement houses; die Immigranten auf der Lower East Side; das soziale Engagement von Florence Kelly, Lillian Wald und David Blaustein; Kolle­ gen an der Columbia University, Vorlesungen und die dortige Bibliothek; die Kirchen und Sekten; die Arbeitsverhältnisse und die Gewerkschaften; und die alten Bekanntschaften und Familienkontakte. Der Reiseplan war schwindelerregend. Im Schlepptau von Edwin und Caroline Seligman und den Gebrüdern Paul und Alfred Lichtenstein sowie deren Ehefrauen Clara und Hannah, den Töchtern von Friedrich Kapp, absolvierten sie ein überaus vielseitiges und ereignisreiches Programm und trafen „so viel neue Leute […] wie in Heidelberg in einem Jahr“.

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Seltsame Widersprüche Der zweite Tag in der Stadt war ein Sonntag und gab ihnen Gelegenheit zu weiteren Gottesdienstbesuchen. Da die Auswahl in New York groß war, teilten sie sich auf: Marianne entschied sich für einen presbyterianischen Gottesdienst in der alten Marble Collegiate Church, die sich in unmittelba­ rer Nachbarschaft zu ihrem Hotel befand; Max indes begab sich in den Norden der Stadt zur neuen First Church of Christ Scientist, Central Park West Avenue, Ecke Sechsundneuzigste Straße. Marble Collegiate, dessen Altarraum von 1854 datierte, war 1628 offiziell als eine Holländische Re­ formierte Kirche gegründet worden und konnte so für sich in Anspruch nehmen, „Amerikas älteste ununterbrochen wirkende protestantische Kir­ che“ zu sein. Berühmtheit erlangte sie später im Jahrhundert durch die fünf Jahrzehnte währende Predigt- und Führungstätigkeit von Norman Vincent Peale; zu ihren bekanntesten Gemeindemitgliedern zählte der damalige Rechtsanwalt Richard Nixon. Die „Kraft des positiven Denkens“, die von Peale angepriesen und gefördert wurde, war ein idealer Ausdruck für die mind cure auf ihrem optimistischen Höhepunkt, als William James sie un­ tersuchte – und die ein viel späteres Kapitel in der Geschichte des welt­ lichen Asketismus darstellte. Der von Marianne besuchte Gottesdienst stand in scharfem Kontrast zum Haverford Friends Meeting; er war das Modell einer verfeinerten und distinguierten Religionsgemeinschaft, die für ihre Mitglieder „auf den Kirchenstühlen weiche Pfühle und Fächer“ bereithielt, wie es in einer Fußnote bei Weber heißt. Das maßgebliche Beispiel für die „mind cure“ der Jahrhundertwende bildete aus Webers und James’ Sicht natürlich die Christian Science. Die von Max besuchte Kirche auf der Upper West Side, die 1903 fertiggestellt worden war und über eine Million Dollar gekostet hatte, ging auf die Ent­ würfe von John M. Carrère und Thomas Hastings zurück, die damit den Geist der neuen Einstellung zum Leben einfangen wollten, der sich aus einer heiligen Vergangenheit erhob. Die an der École des Beaux-Arts in Paris ausgebildeten Architekten veränderten den Stil der Beaux Arts mit dem Ziel, eine monumentale Einheit aus der romanischen Basilika und der Versammlungshalle Neuenglands zu schaffen. Die massive schmucklose Außenseite aus elementaren Formen wirkte modernistisch und war von „einer erstaunlichen Wucht und Kraft“, wie der Architectural Record be­ fand. Modernes Bauen, so der Architekturtheoretiker Hastings, müsse einen überzeugenden Ausdruck finden für das Unverwechselbare der heutigen Zeit, während es sich die Zuneigung zu den historischen Baustilen bewahrt. „Bei der Lösung der Probleme“, schrieb er, „kommt es nicht entscheidend darauf an, dass man einen nationalen oder amerikanischen Standpunkt ver­ tritt, sondern dass man modern ist und dieser unserer Zeit gerecht wird“.



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Die neuen Anforderungen an das Bauen sollten mit der neuen universalen Botschaft an den inneren Menschen in Einklang stehen. Weber hatte im Laufe seiner Reisen viel über die Anzeichen für einen Säkularisierungstrend in Amerika gerätselt. Einerseits deutete sich an, dass die Jugend sowie Einwanderer aus der zweiten und dritten Generation sich vom Kirchenleben und der Religiosität abwandten, und im Osten auch die ältere Generation. Andererseits steckte „das heutige amerikanische Leben voll […] secularisierter Sprößlinge des alten puritanischen Kirchentums“, wie er seine Eindrücke am Ende des Aufenthalts zusammenfasste. Die scharfe Abgrenzung des „Säkularen“ vom „Sakralen“ konnte trügen. Wenn Menschen in Kontakt miteinander kamen, so berichteten die Liechtensteins etwa, lautete die erste Frage oft: „Zu welcher Kirche gehörst du?“ – zumin­ dest im frommeren Brooklyn, wo sie lebten, im Unterschied zum säkulare­ ren New York City. Die religiöse Zugehörigkeit fiel im Gesellschaftsleben nach wie vor ins Gewicht, wie die Stärke der Sekten selbst im fernen In­ dianergebiet gezeigt hatte. Und anders als in Europa kam es hier zu einer gewissen Wiederbelebung des Religiösen und es entstanden auch neue Be­ wegungen wie etwa das Mormonentum und die Christian Science. In den gegensätzlichen Erscheinungen sah Weber „seltsame Widersprüche“; ent­ sprechend heißt es in seiner Beschreibung der sonntäglichen Ereignisse: heut war ich hier im „service“ der „Christian Scientists“ (Gesundbeter). Sie haben zwei pompöse Kirchen hier, von denen je ein Dutzend feinster Equipagen halten, wenn „Gottesdienst“ ist. Die „Christian Science Quarterly“ giebt Programm, Text der Psalmen, Stellen aus der Bibel und aus dem symbolischen Buch „Science and Life“ für die Predigt für alle Gottesdienste des Quartals im Voraus an, ihr „Hymn Book“ ist compiliert aus Chorälen aller Nationen, mit Melodien von Händel, Haydn, Weber, Mendelssohn, deutschen Volksliedern, vielen englischen Melodien. Die „Kirche“, ein gewaltiger gewölbter Raum mit Tribünen und mächtiger Orgel, war gestopft voll: Alles „gute Gesellschaft“, aber incl. Mittelstand. Vor der Orgel sitzen erhöht ca 10–12 Männer und Frauen in Smoking bzw. weißer Seide, vorn zwei pulpits, von denen aus ein Mann im Smoking und eine Frau – ca 40 Jahr alt – in weiß, einen Immortellenkranz im Haar, mit tiefer Altstimme den Gottes­ dienst leiten. Zuerst Chor aus dem „Messias“ (wundervoller Gesang), dann Litur­ gie: Psalm 38, abwechselnd von der Predigerin und der Gemeinde gesprochen, dann 10 Minuten tiefe Stille zum Gebet (um geistiges und körperliches Wohl der Nächsten) mit lautem allgemeinem „Amen“ am Schluß, dann Gemeindegesang, mit allgemeiner Beteiligung, unbedingt eindrucksvoll zu nennen, – dann „sermon“, d. h. die Predigerin und der Prediger wechselten sich ab im Vorlesen: er ca 30 Stellen aus dem A[lten] und N[euen] Testament, sie aus dem Buch „science and life“, und wie es schien aus ihrem Predigtconzept. Inhalt: wieder und wieder die „immortality“, metaphysisch nach Art von Platons – oder wohl besser: Moses Mendelssohn’s „Phaedon“ in kurzen, feierlich und langsam gesprochen Sentenzen begründet, dann die alleinige Realität des „spirit“ und die Nichtigkeit und Ver­ gänglichkeit der Materie, Gottes unbegrenzte Allmacht über den Menschen und

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die Verworfenheit aller derer, die ihr sich zu entziehen versuchen und dadurch beweisen, daß sie nicht vom „spirit“ bewahrt, also nicht der „immortality“ teilhaf­ tig sind, Warnung vor den „falschen Freunden“ (den Ärzten offenbar) – 3  /  4 Stunden lang ohne alles Pathos und schließlich bis zur Langeweile vorgetragen – dann Orgelfuge und Klingelbeutel (d. h. mit Papierdollars dicht bedeckte Teller, vom Herrn im Smoking herumgereicht), dann ein Sopransolo (zu viel Tremolage und der englische Kloß im Munde, Gegenstand mir unbekannt, wohl moderne Composition), dann Gemeindegesang und Schluß, Abmarsch der hübsch angezo­ genen Kinder zur Sonntagsschule (in einem Nebenraum), die hier wie überall eine pièce de resistance ist. Es waren sicher 800, vielleicht 1000 Leute da und ihr Verhalten fällt unzweideutig unter den Begriff „Andacht“. – Die Bewegung hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, sie geht durch alle großen Städte der Union. (6. November; NMW)

Genau wie vor Jahren in Straßburg richtete Weber sein Augenmerk nicht nur auf die äußere Form der Andacht, sondern genauso auf die Auswahl der Texte und den Gehalt der spirituellen Botschaft, wobei er die Predigt über die Unsterblichkeit der Seele in die Nähe der Bemühungen der deutsch-jü­ dischen Aufklärung um die Versöhnung von Glaube und Vernunft rückte. In der Vielfalt religiöser Erfahrung war William James der Christian Science in ihrer psychologischen Dynamik nachgegangen; seiner Ansicht nach war die Sekte in der spirituellen Auseinandersetzung mit dem Bösen „die radikalste Richtung der Mind-cure-Bewegung“, und dieser Einschät­ zung kam Weber mit seinen Ansichten über die Reaktionen der Religion auf die Theodizee des Leidens sehr nahe. Es ist überhaupt sehr gut möglich, dass er seine Kenntnisse über die Kirchengemeinschaft von James bezog, der sich übrigens die ganze Woche lang in der Stadt befand, um bei der Eröffnung einer psychiatrischen Einrichtung behilflich zu sein. James hatte zudem ein sehr genaues Verständnis von den praktischen Wirkungen der „Mind-cure-Bewegung“ auf das Verhalten und er begriff sehr gut, weshalb sie allgemein akzeptiert wurde. Wie er in seiner Vielfalt schrieb, sei vielen die bewusste Annahme einer gesunden Geisteshaltung möglich geworden, die das selbst nicht von sich vermutet hätten; die spirituelle Wiedergeburt der Persönlich­ keit war überall zu beobachten, und zahllosen Familien ist die Lebensfreude wiedergeschenkt worden. Dies hatte indirekt großen Einfluss auf den Erfolg der Bewegung. Die Prinzipien der Mind-cure liegen gleichsam in der Luft, sodass ihr Geist wie nebenher empfangen wird. Man vernimmt ein „Evangelium der Erho­ lung“, hört von der „Sorge-dich-nicht-Bewegung“, von Leuten, die sich beim Anziehen am Morgen als Motto für den Tag immer wieder die Worte vorsagen: „Jugend, Gesundheit, Kraft!“ […] Es bleibt die einfache Tatsache, dass sich die Ausbreitung der Bewegung ihren praktischen Erfolgen verdankte. Und nichts machte die ganz entschiedene Hinwendung des amerikanischen Volkes zum prak­ tischen Nutzen deutlicher als der Umstand, dass sie, als sein einziger wirklich originärer Beitrag zur methodisch-planmäßigen Lebensanschauung, aufs Engste mit einer wirklichen Therapeutik verknüpft werden sollte.



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Der empfänglichen Allgemeinheit ging es jedoch letztlich weniger um die Feinheiten der Unsterblichkeitslehre, für sie zählten die therapeutischen Effekte auf die Lebensführung. Selbst zu James’ und Webers Zeit witterten Leute mit Geschäftsinteressen die Chance auf Profit; sie brachten James zufolge „schematisch produzierte unaufrichtige“ Selbsthilfe-Schriften her­ aus, die dem eifrigen Leser aber doch immerhin eine Ahnung von der spi­ rituellen Authentizität vermittelt haben dürften. Am darauffolgenden Sonntag setzten die Webers diese Art der Forschung fort und besuchten einen Gottesdienst der Ethical Culture Society, die in der Carnegie Hall zusammenkam. Der Gründer der Gesellschaft Felix Adler, der damals Professor für soziale und praktische Ethik an der Columbia Univer­ sity war, hielt einen Vortrag mit dem Titel „Mental Healing as a Religion“, worin er sich mit der Christian Science und ähnlichen ,wiederherstellenden‘ und ,lebensbejahenden‘ spirituellen Strömungen auseinandersetzte. Marian­ ne fand die Rede „etwas ledern“; da das korrigierte Manuskript in Adlers Papieren erhalten ist, können wir uns jedoch selbst ein Urteil bilden. Der in Deutschland geborene Adler kannte sowohl Edwin R. Seligman als auch William James – Seligman durch ihrer beider Erziehung in deutsch-jüdischen Kreisen und der Synagoge Emanu-El, in der Adlers Vater Rabbi und der Seligmans ein wichtiger Sachverwalter war; und James wegen ihrer gemein­ samen philosophischen Interessen. James versuchte sogar, Adler nach Har­ vard zu holen, womit er aber keinen Erfolg hatte. Adlers Leben war in der Vergangenheit und im weiteren Verlauf eine einzige heroische religiöse und spirituelle Suche. Er hatte sich mit seinen Ansichten von der orthodoxen rabbinischen Lehre abgewandt und war über das Reform-Judentum zu einer Position irgendwo im Nahbereich von Kants ethischem Rationalismus ge­ langt und machte sich schließlich eine Lebens- und Weltauffassung zu eigen, die von einer Art Emerson-Glaube beseelt und einem pragmatischen Ideal der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit verpflichtet war. Beim Nach­ denken über Adlers Wanderglauben und dessen Kernüberzeugungen be­ zeichnete einer seiner Mitarbeiter die Ethical Culture als eine „bekennt­ nisunabhängige Religion“, die sich einen bescheidenen Verhaltensgrundsatz zu eigen gemacht hatte: „Handle in deinem familiären, geschäftlichen, po­ litischen und beruflichen Umfeld stets so, dass du deinen Mitmenschen das Beste entlockst, und wenn du dich daran hältst, wirst du im Ansehen stei­ gen.“ In der Sprache Benjamin Franklins hätte diese Moral eine bündige Verhaltensregel ergeben: Hilf anderen, das ist der beste Grundsatz, denn so hilfst du nicht nur ihnen, sondern noch dazu dir selbst. Als Ausgangspunkt seiner Sonntagsansprache wählte Adler überraschen­ derweise eine Besprechung von Lafcadio Hearns neuem Buch Japan: An Attempt at Interpretation (1904), wobei es ihm eigentlich darum ging, gel­ tend zu machen, dass Japans Erfolg in der Gegenwart ein „moralisches

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Fundament“ hatte und die Disziplin der Japaner „in erster Linie aus ihrer Religion erwuchs“. Das Beispiel diente ihm zur Formulierung eines prag­ matischen Wahrheitskriteriums: Wenn eine Religion „sich positiv auf das Verhalten ihrer Anhänger auswirkt“, dann muss sie „ein gewisses Maß an Wahrheit enthalten“. Auf diese Weise verfügte er nun über einen Bewer­ tungsmaßstab für das mental healing und die faith cure, für die Geistheilung und das Gesunden durch den Glauben: angefangen bei den Praktiken in Lourdes, die Weber mit gebannter Faszination in den Blick genommen hat­ te, über die antiken Wallfahrten der Frommen, die gegenwärtigen Haltungen zur Behandlung von Krebs und Diphterie bis hin zu den neuen abstrakten Prinzipien der Christian Science. Natürlich lehnte Adler die von der Chris­ tian Science vertretene Metaphysik und deren Wissenschaft vom Wesen der Materie und des Bösen ab. Sein Haupteinwand gegen sie bestand jedoch in ihrer Untätigkeit und Innerlichkeit: asketisch zwar, doch zu jenseitsorien­ tiert, oder in Max Webers Verständnis, zu wenig auf eine tätige religiöse Askese gerichtet, um Natur und Menschenwelt beherrschen und umgestalten zu können. Sollten die Webers Fragen zu Adlers Interpretation und kriti­ scher Bewertung gehabt haben, so wäre Gelegenheit gewesen, diesen bei einem Dinner nachzugehen, das die Seligmans am darauffolgenden Abend bei sich zuhause auf der Upper West Side veranstalteten und zu dem auch Adler und seine Frau geladen waren. Weber hatte seine eigenen Ansichten zu den sozialen Auswirkungen des religiösen Glaubens und der religiösen Organisation. In seinem Werk ver­ suchte er den Sektenpraktiken, zum Beispiel den beim Gottesdienst der Christian Science beobachteten, nicht nur psychologisch auf den Grund zu gehen, sondern er untersuchte auch deren soziale Wirklichkeit – das heißt die rationalen Muster der Vergesellschaftung und der Gruppenlegitimation des Einzelnen. Der New Yorker Gottesdienst mit seinen ausgefeilten litur­ gischen, metaphysischen und musikalischen Details schien Welten entfernt von der methodistischen Praxis der Versorgung etlicher Gemeinden durch einen Prediger, von der auf einem Berghang abgehaltenen baptistischen Taufe, der Ausdruckskraft einer urbanen afroamerikanischen Baptistenge­ meinde oder der entsagenden Stille einer religiösen Zusammenkunft der Quäker. Für Weber hätte, was die Spanne der religiösen Erfahrung anging, der Kontrast zwischen dem verschwenderischen Aufwand der Christian Science und dem spartanischen Haverford Friends Meeting zweifellos nicht größer sein können. Dennoch aber einte diese unterschiedlichen Milieus und Spiritualitätsformen die Suche nach „Erlösung“ und die Forderung an den Einzelnen, seine moralische Befähigung in der nüchternen Sachlichkeit der Vergesellschaftung und der sozialen Prüfung gegenüber seinesgleichen unter Beweis zu stellen. Die von den voluntaristischen Sekten – Methodisten, Baptisten, Quäker oder Christian Scientists – erzielten Resultate waren für



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die Identität des Einzelnen ebenso folgenreich wie für seine Stellung und sein Ansehen innerhalb der Sozialordnung. Darüber hinaus wirkten die Sek­ ten auch mittelbar ,politisch‘, weil sie aus Webers Sicht den Schmelztiegel bildeten, in dem Idee und Praxis des Verbandslebens Gestalt annahmen. Amerikaner werden Die Webers bewegten sich während dieser letzten Wochen in New York vorwiegend in deutsch-jüdischen Kreisen und in progressiven Reformzir­ keln. Edwin R. Seligman, der bedeutende Professor für Nationalökonomie an der Columbia University, begleitete Max auf dem Campus, wo dieser mit Kollegen zusammentraf, Vorlesungen und die Bibliothek besuchte. An den beruflichen Diskussionen hat sicherlich auch der Wirtschaftstheoretiker John Bates Clark teilgenommen, der beim Congress of Arts and Science in St. Louis auf dem gleichen Forum wie Jacob Hollander gesprochen hatte. Ca­ roline Seligman richtete für Marianne einen women’s lunch aus und am letzten Tag, den die Webers in New York verbrachten, einen Empfang ihr zu Ehren im University Club, und sie begleitete sie bei den zahlreichen Ortsbesichtigungen, Treffen und Vorlesungen, die auf Mariannes Programm standen. Die Seligmans pflegten enge Bande zu den wichtigsten sozialre­ formerischen Institutionen und den sozialen Wohlfahrtsverbänden, von der Ethical Culture Society bis zur Educational Alliance, und sie kannten die Mitwirkenden und die Führungsfiguren gut. Edwin Seligmans Eintreten für die Kommunalreform brachte ihn in direkte Opposition zur Tammany Hall und zur New Yorker Tradition der Parteimaschinenpolitik. Die Diskussionen in diesen Kreisen, die von Friedrich Kapps und James Bryces kritischen Kommentaren bereichert wurden, dürften Weber bei seinen Reflexionen über die politischen Parteien, die Korruption und die Politmaschinen in den Städten nützlich gewesen sein. Diverse Passagen wie jene in Wirtschaft und Gesellschaft über die Reform in Verwaltung und öffentlichem Dienst oder die öffentlichen Beihilfen für Konfessionsschulen – Letztere bildeten eine politische Strategie von Boss Tweeds Tammany Hall zur Bindung der ka­ tholischen Wählerschaft – legen diesen Schluss nahe. Progressive Reformer wie Seligman befürworteten die Verwaltungsreform, und in solchen Beihil­ fen sahen sie im Allgemeinen ein wahltaktisches Kalkül zur Überbrückung der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche und mithin einen weiteren Fall von Korruption. Marianne Weber interessierte sich besonders stark für den Beitrag der Sett­ lements und der Frauen zur Sozialfürsorge, was bereits bei ihrer Exkursion in Buffalo deutlich geworden war, die sie zusammen mit Grete Haupt und Jo­ hannes Conrad unternommen hatte, und an dem Tag mit Jane Addams und

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der Women’s Trade Union League in Hull House. In New York setzten sie drei neue Settlements auf ihren Reiseplan: das University Settlement, das Henry Street Settlement und die Educational Alliance. Das älteste davon, das University Settlement, war 1886 als Reaktion auf den Zustrom von Einwan­ derern durch Carl Schurz, Stanton Coit von der Ethical Culture Society und andere gegründet worden, zwei Jahre nach Toynbee Hall in London und drei Jahre vor Hull House. In den Settlements trafen sie mit Florence Kelley zu­ sammen, mit Lillian Wald, der Mitbegründerin des Henry Street Settlements, und mit David Blaustein von der Educational Alliance. Die Besuche und Dis­ kussionen in diesen Einrichtungen gaben ihnen auch die Mittel an die Hand, um ihre Überlegungen zur Vergesellschaftung und zur Gruppenaktivität – die sozialen und politischen Funktionen der Clubs, Orden und Sekten im ameri­ kanischen Leben – abschließen zu können. Marianne war es wichtig, sich in ihrem Lebensbild zur Autonomie der Jungen- und Mädchenclubs in den Settlements zu äußern, die relative „Au­ toritätslosigkeit“ der Jugend anzusprechen und die Clubs als das wesent­ lichste „Amerikanisierungsmittel“ zu würdigen. Sie unterstrich auch die überragende Wichtigkeit des Modells der voluntaristischen Sekten für die Erziehung zum Bürger und alle Arten des bürgerinitiierten sozialen und politischen Handelns und zitierte eine von Max’ uneingeschränktesten Aus­ sagen: Das riesige Anschwellen der Clubs und Orden hier ersetzt die zerfallende kirchli­ che (d. h. Sekten-) Organisation. Ziemlich jeder Farmer und sehr viele Geschäfts­ leute mittleren und kleineren Ranges tragen ihre „badge“ im Knopfloch, wie die Franzosen das rothe Bändchen. Nicht in erster Linie aus Eitelkeit, sondern weil es alsbald die Legitimation dafür ist, daß er von einer bestimmten Gruppe Men­ schen, die ihn nach angestellten Recherchen über seinen Charakter und Wandel – man denkt unwillkürlich an unsere Reserveoffiziers-Recherchen – durch Ballot als ein gentleman anerkannt und aufgenommen ist, – genau derselbe Dienst, wel­ che dem Mitglied der alten Sekten (Baptisten, Quäker, Methodisten etc.) sein „letter of recommendation“, die ihm seine Gemeinde an die auswärtigen „Brüder“ mitgab, leistete. (19. November; NMW)

Unbeschadet der Klarheit der Aussage selbst, hat Marianne hier unglück­ licherweise eine Collage aus Passagen erstellt, die unterschiedlichen Briefen und Zusammenhängen entstammen, wodurch der Eindruck entsteht, als be­ ziehe sich dieser Abschnitt auf jenen zurückliegenden Sonntagnachmittag, den die Webers in Mt. Airy in North Carolina verbrachten. In Wahrheit aber haben wir es hier mit einem von Max’ Kommentaren zu den Ereignissen in New York zu tun – und speziell zu dem, was ihm an den Settlements auf der Lower East Side und ihren Erziehungs- und Ausbildungsprogrammen für jüdische Einwanderer wichtig erschien – die den „gewaltigsten Ein­ druck“ auf ihn gemacht hatten.



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Abbildung 11: Jüdische Immigrantenmädchen, die einen Strickkurs des Henry Street Settlements besuchen; ähnliche Szenen boten sich den Webers in den Settlements auf New Yorks Lower East Side. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der L ­ ibrary of Congress.

Die allgemeinen Gedanken zu den Ursprüngen von sozialem Engage­ ment und gesellschaftlichem Zusammenhalt, die heutzutage als „Sozialka­ pital“ bezeichnet würden, hatte Weber natürlich nicht exklusiv. Tocqueville und Bryce hatten ähnliche Überlegungen angestellt und von einem im ge­ sellschaftlichen und politischen Leben Amerikas verankerten Hang zum Handeln in der Gruppe und zu lokalen gemeinschaftlichen Aktionen ge­ sprochen. Im Falle der New Yorker Settlement-Bewegung kam noch hinzu, dass sie sich gegenüber neuen kulturellen, sozialen und politischen Er­ scheinungen im amerikanischen Leben offen zeigte und viele von ihnen bewusst übernahm: Clubs und Gruppen, Gremien und Zusammenkünfte, das Abstimmungsverfahren und die Mehrheitsregel, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die öffentlichen Debatten, das Prinzip der Interessens­ vertretung und des Wahlamts, Fairness als Prinzip, auf Vorurteilslosigkeit beruhende parlamentarische Spielregeln. Zum Amerikaner wurde, wer sich diese bürgerlichen ,Werte‘ und diese Arten des bürgerlichen Verhaltens zu eigen machte und die mit ihnen zusammenhängenden Formen und Normen verinnerlichte. Die neue Staatsbürgerschaft bedeutete eine Abkehr vom Traditionalismus und den alten Autoritäts- und Identitätsquellen – etwa die

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alten Sitten, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder ethnischen Gruppe, die Religion oder die Sprache –, und es hieß, „Gleicher unter Gleichen“ und „modern“ zu werden. Mit dem Thema der „kühlen Sachlichkeit der Vergesellschaftung“ und des sozialen Kapitals setzte sich Weber aus zwei Gründen speziell auseinander: um den Begriff der „Sekte“ einzuführen und um die große Triade der mo­ dernen Sozialtheorie abzuhandeln: Klasse, Rasse und Geschlecht. Diese thematische Abhandlung erreichte ihren Höhepunkt mit der Frage der Im­ migranten und der Immigration. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Reise an Bord der Bremen mit der Wahrnehmung der Immigration und der Ausnutzung der Immigranten begonnen hatte. In der neuen Welt hatte sich der soziale Horizont erweitert, hauptsächlich durch die Tage in Chica­ go; in Muskogee im Indianergebiet; am Tuskegee Institute in Alabama; in Knoxville in Tennessee; und in Mt. Airy in North Carolina. New York war die letzte der sozialen Forschungsstätten. Mit ihr schloss sich der Kreis: die armen Zwischendeckpassagiere, die aus Osteuropa kommend den Atlantik überquert hatten, tauchten in den Mietskasernen und Settlements der Lower East Side wieder auf. Wie war es ihnen ergangen? Der größere Teil der Schilderungen der New Yorker Settlement-Erlebnis­ se stammt von Marianne, wenngleich sie nur Auszüge daraus in der Biogra­ phie verwendete, und noch dazu ohne sich als die Verfasserin zu erkennen zu geben. Max hatte ihrer beider Eindrücke zusammengefasst und sie mit einem „theoretischen“ Fundament ausgestattet, die Einzelheiten aber stamm­ ten von Marianne. Eine solche Arbeitsteilung war nichts Ungewöhnliches für das Paar und sie spiegelte die geschlechtliche Rollenverteilung zwischen ihnen wider. Wie zu erwarten, zeigte sich Marianne am meisten von der Behandlung beeindruckt, die man der Jugend und den arbeitenden jungen Frauen ange­ deihen ließ. Sie erwähnte die „Unmasse von Knaben- und Mädchenklubs“ und hielt fest, dass schon die Kinder ermuntert werden, sich für irgend welche gemeinsamen Zwecke zu organisieren. Das gesellschaft­ liche Vergnügen ist dabei wohl die Hauptsache, aber jedes dieser Vereinchen tut auch irgend eine soziale Arbeit – bringt z. B. Geld für ein Hospital, oder für Weihnachtsgeschenke an arme Kinder zusammen, verteilt irgend ein belehrendes Flugblatt o. d. gl. Der Vorstand solcher clubs besteht immer aus Kindern. Sie haben einen Mr. Chairman, Kassierer u. Schriftführer u. stimmen über die Auf­ nahme ihrer Mitglieder regelrecht ab, kurz, sie bewegen sich in parlamentarischen Formen, u. auf diese Weise nehmen sie die Grundsätze des self government u. der cooperation sozusagen mit der Muttermilch in sich auf. Ich denke, diese uns so völlig fremde Seite des hiesigen Kinderlebens muß einen wertvollen erzieheri­ schen Einfluß haben. (11. November; NMW)



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Ein solcher Vergleich mit Deutschland drängte sich ihr nicht selten auf. In Boston hatte sie das Simmons College an die Lette-Häuser denken las­ sen, an das von Wilhelm Lette in deutschen Städten auf den Weg gebrach­ te Projekt zur Verbesserung der beruflichen Chancen von jungen Frauen, vor allem der unverheirateten. Die New Yorker Settlements setzten ein sogar noch besseres Modell der Kombination aus beruflichen und sozialen Unter­ stützungsnetzwerken in die Tat um, wie ein Abend in einem Club für junge arbeitende Frauen anschaulich machte: Die Mädchen aus allen Gewerben finden da geselligen Anschluß, anständiges Vergnügen, auch einzelne Fortbildungskurse u. Diskussionsabende. Was bei uns das Organisieren der Angehörigen verschiedener Berufszweige unmöglich machen würde – die Mannigfaltigkeit der Standesunterschiede existiert hier nicht, die Stenographin, die Verkäuferin, Putzmacherin u. das Fabrikmädchen fühlen sich nach der Arbeit in Toilette u. Federhut als Gleiche. An dem Abend war eine all­ gemeine Diskussion über ein von der Vorsitzenden, die keine Arbeiterin, sondern eine „Dame“ war, gewähltes Thema: sehr philosophisch u. scheinbar abstrakt: „über die Fähigkeit“. Aber es war gradezu bewundernswert, wie die Vorsitzende den Faden fortzuspinnen u. allerlei Fragen die einen jungen Menschen innerlich beschäftigen, bis zur Religion u. Sittlichkeit hineinzuziehen u. noch wunderbarer war es, wie sie die Mädchen zum Sprechen u. zur lebhaften Meinungsäußerung zu bringen wußte. Diese Dame gehörte zu den vielen Reichen, die hier voll echt demokratischen u. sozialen Verantwortlichkeitsgefühls den Arbeitenden ihre ganze Kraft u. Zeit widmen. (19. November; NMW)

Das Ereignis schien für Marianne nicht nur eine Lehrstunde im Einebnen der Klassen- und Standesunterschiede durch soziales Miteinander, Gruppen­ eingliederung und die Bildungsmöglichkeiten gewesen zu sein, sondern auch eine Lektion, was die geschickte Verknüpfung privater Belange mit der öffentlichen Rolle und dem öffentlichen Bereich anging. Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden in den Settlements offen­ sichtlich auch weiterhin gemacht, nicht nur durch die Organisationsstruktur, sondern auch bei den Inhalten im Zusammenhang mit der sozialen Konst­ ruktion des Selbst. Neben einem Club für arbeitende Mädchen hospitierte Marianne auch bei einem Jungenclub. „Das ist nun“, schrieb sie, eine merkwürdige in unsrem Leben [in Deutschland] absolut fehlende u. wohl auch nach unsren Erziehungsgrundsätzen ganz unmögliche Veranstaltung. Die kleinen 12-Jährigen bewegten sich ganz in den parlamentarischen Formen, über die Aufnahme eines neuen Mitgliedes wurde nach dem Bericht einer „Kommis­ sion“ über seinen Charakter abgestimmt, dann kam ein literarischer Teil. Ein Junge las offenbar etwas selbst Gedichtetes vor, u. dann – u. dies war das köst­ lichste – eine Diskussion über eine politische Frage: u. zwar darüber, ob es besser sei, die Senatoren durch das „Volk“ oder wie jetzt durch die Abgeordneten wählen zu lassen. 2 Buben mußten die eine u. 2 die andre Ansicht vertreten, u. der eine Bengel sprach mit Gesten u. allem Zubehör, „kritisierte“ die Schäden des gegen­ wärtigen Systems wie ein Alter. Dabei genierten sich die jungen Politiker (laute

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kleine jüdische Proletarierkinder) nicht eine Spur vor uns Erwachsenen. (19. No­ vember; NMW)

Der Jungenclub bildete einen Mikrokosmos der Vergesellschaftung und ihrer „objektiven“ Formen: die Erprobung der persönlichen Legitimation, eine Charakter- und Persönlichkeitsprüfung, die Offenlegung des Selbst vor seinesgleichen, öffentliches Debattieren einer strittigen Verfassungsfrage (der 17. Zusatzartikel wurde neun Jahre später verabschiedet), der selbstsi­ chere Ton und die souveränen Gesten der modernen Eigenständigkeit. Dabei spielten Klasse, Nationalität, Religion und ethnische Zugehörigkeit – und in diesem Fall das Alter – keine Rolle. Konnte es ein besseres Beispiel für die Erziehung zur Demokratie und die Institutionalisierung der politischen Bil­ dung geben? Max Weber sah in ihm einen Fall von vollkommener Autono­ mie, weil sämtliche äußere Autoritäten von den gruppeninternen Beratungen ausgeschlossen waren. Das einzige fehlende Element, ein wichtiges, das man dagegen in den Klubs der Mädchen und arbeitenden Frauen antreffen konnte, war die Ver­ bindung zwischen der privaten Welt der Innerlichkeit, dem Geist oder dem ,Seelenleben‘ und der Außenwelt mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen und öffentlichen Angelegenheiten. Jene mitunter sorgfältig geschmiedete, dann wieder vernachlässigte oder nicht vorhandene Verbindung hat das li­ berale Verfassungsprojekt Amerikas mit seinen Anleihen bei der Aufklä­ rungsrationalität von jeher verfolgt. Die Gespräche mit Florence Kelley und Lillian Wood bestätigten die Besucher in ihren Ansichten über die soziale und politische Bedeutung der Settlements, erinnerten sie aber zugleich an die reformbedürftigen gesell­ schaftlichen Bereiche, mit denen sie zuvor schon in Chicago in Berührung gekommen waren. Kelley, die zu dieser Zeit als Generalsekretärin der Na­ tional Consumers League wirkte, beeindruckte sie durch ihre gewinnende Präsenz, ihren „leidenschaftlichen Sozialismus“ und ihre scharfe Sozialkri­ tik. Beim Besuch ihrer Rede in der School of Philanthropy, die kürzlich eröffnet worden war und ein Ganzjahresprogramm in sozialer Arbeit anbot, hörten die Webers ihre Kritik am Fehlen einer landesweiten Arbeitsgesetz­ gebung, die Männer, Frauen und insbesondere Kinder vor der Ausbeutung schützte. Sie beklagte die Folgen des „bundesstaatlichen Partikularismus“ und das verwirrende und benachteiligende Flickwerk der staatlichen Ar­ beitsgesetze und führte außerdem einen heftigen Angriff auf die korrupten Praktiken und Absprachen zwischen Teilen der Gewerkschaften, der Groß­ industrie und den Gesetzgebern, bei dem sie sich auf ihre früheren Erfah­ rungen in Hull House und ihre Arbeit als leitende Fabrikinspektorin in Illi­ nois stützte. Natürlich hätte sich Marianne auch mit Kelleys feministischen Ansichten einverstanden erklärt, die immer wieder betonte, wie wichtig es



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sei, den Benachteiligten mehr Rechte einzuräumen und eine nachhaltige Sozialreform in Gang zu setzen. „Ethisch ist immer dann etwas gewonnen“, schrieb Kelley mit Blick auf die öffentliche Politik, „wenn die neue Intelli­ genz der Frauen durch eine ihrer Stellevertreterinnen auf der politischen Bühne zur Wirkung gelangt.“ Die Settlement-Bewegung selbst war der beste Beweis dafür. Nach ihrer Übersiedlung nach New York war Kelley eine der engsten Mitstreiterinnen Lillian Walds im Henry Settlement geworden. Wald, die die New York Hospital Training School absolviert und am Women’s Medical College des New Yorker Frauen- und Kinderkrankenhauses studiert hatte, hatte sich die öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege zu ihrem Auftrag gemacht. Wald war mit ihren an keine Konfession gebundenen und von Leuten wie Betty Loeb und deren Schwiegersohn Jacob Schiff privat finan­ zierten Anstrengungen bemerkenswert erfolgreich, sowohl bei der Kranken­ schwesternausbildung als auch bei der medizinischen Versorgung der Lokal­ bevölkerung, speziell der notleidenden Armen und der die Mietskasernen bewohnenden Arbeiterschaft. 1903 hatte ihr Krankenpflegedienst nach zehnjährigem Bestehen 18 Stadtteil-Zentren vorzuweisen, versorgte 4.500 Patienten im Jahr und dazu kamen noch mehr als 35.000 Hausbesuche. Später wurde der Dienst auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Die gan­ ze Organisation erinnerte Marianne, die mit Wald einmal zu Abend aß, an ein Diakonissenwerk, wie es sie in Europa gab, wo sie von den protestan­ tischen Ordensgemeinschaften geleitet wurden, wenngleich große Unter­ schiede bestanden: Durch Walds Vorgaben wandelte sich der Arztberuf und wurde für gebildete Frauen interessanter, weil er dem individuellen Unter­ nehmungsgeist Raum bot, persönliche Entwicklung ermöglichte und die Kräfte freier zur Entfaltung kommen ließ. Die Anstalten der Henry Street entwickelten sich auch zu Zentren für das breite Spektrum an sozialen Ak­ tivitäten, Clubtreffen und Erziehungs- und Ausbildungsprojekten, das ein Kennzeichen der Settlement-Bewegung als ganze war. Sie wurden zu einem Mittelpunkt des Gemeinschaftslebens, einem Ort für Geselligkeit und einem Gegengewicht zu der, in Max Webers Worten, „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus“. Kultureller Pluralismus Der Kapitalismus und sein verführerischer Geist gerieten Weber nie weit aus dem Blick. Gerade erst hatte er über das Thema geschrieben und dabei Benjamin Franklin ausgiebig zu Wort kommen lassen, mit Sätzen wie Pre­ digten, aus denen die kapitalistische Gesinnung „in charakteristischer Weise redet“. In New York gab es täglich mehr als genug, was ihnen den Kapita­

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lismus visuell und akustisch in Erinnerung brachte. Max und Marianne aber waren an den sozialen und kulturellen Reaktionen interessiert, an den Kon­ turen und dem Stoff der Lebenswirklichkeit der Metropole. Die Kirchen und Settlement Houses zeigten noch nicht das ganze Bild. In einer Dreimillio­ nenstadt gab es allemal noch unerforschte Seitenwege und Nischen. Von den Einladungen und der Begleitung der Seligmans abgesehen, widmeten die Webers einige der Nachmittage und Abende der Pflege freundschaft­ licher Beziehungen zu Personen aus dem Umfeld der Familie. Marianne hatte angeregt, Friedrichs Kapps Töchtern Clara und Hannah einen Besuch abzustatten: Clara war mit Paul Lichtenstein verheiratet und Hannah mit dessen jüngerem Bruder Alfred. Die Lichtensteins waren erfolgreiche Ban­ ker in Manhattan, die ihr Büro in Brooklyn Heights in unmittelbarer Nähe zur Brooklyn Bridge hatten. Max scheint ihre Gesellschaft während zweier Abendessen unterhaltsam und angenehm gefunden zu haben; während sie über religiöse Einstellungen und geschäftliche Dinge sprachen, wünschte sich Marianne im Scherz unter die Sozialaktivistinnen zurück. Das Paar begab sich auch zu Otto Weber Jr. und seiner Frau Mabel James und dem Freund ihrer Familie Hermann Rösing. Otto, auch ein Vetter, arbeitete für die an der Wallstreet aktive Finanzfirma G. Amsinck and Co. Der vielleicht einprägsamste all dieser Kontakte war der mit den Villards – der Nachmit­ tag mit Helen Frances Garrison Villard, der sozialreformerischen Aktivistin und Tochter von William Lloyd Garrison, und ihrer Schwiegertochter Julia Sandford, die seit kurzem mit dem forschen Oswald Garrison Villard, dem Herausgeber der New York Evening Post und ihrer Wochenbeilage The Nation, verheiratet war. Max hatte die Villards in Berlin kennengelernt, wo Henry Villard (damals Heinrich Hilgard), der 1900 verstorben war, sich in den Kreisen um Max’ Vater und Friedrich Kapp bewegt und der junge Os­ wald dasselbe Gymnasium in Charlottenburg besucht hatte wie Max und sein Bruder Alfred. Der unermüdliche Eifer und das entschiedene politische Engagement der Familie kommt am treffendsten in Oswalds späterer Hom­ mage an seine Mutter zum Ausdruck: „Was sie auch tat und wofür sie sich auch engagierte, immer war sie überzeugt, dass sie erreichen würde, was sie wollte und darum kannte sie keine Kompromisse. Eine Fanatikerin oder Puritanerin im engeren Sinne war sie jedoch nicht. […] Dass sie eine Posi­ tion, die sie aus Gründen der Zweckdienlichkeit eingenommen hatte, ändern würde – das war undenkbar; sich für einen persönlichen Vorteil eine andere Meinung zuzulegen oder um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, war ihr ebenso wenig möglich wie ihrem Vater, dessen markanteste Gesichtszüge mit den Jahren immer deutlicher bei ihr wieder hervortraten.“ Wie der Va­ ter, so die Tochter, und wie die Tochter, so der Sohn: das Zusammentreffen rief bestimmt Erinnerungen wach an die mal mehr, mal weniger erfolgrei­ chen politischen Kämpfe der Vergangenheit in Amerika und Deutschland



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und an die Reformer des 19. Jahrhunderts, deren Licht allmählich verblass­ te. Helen Villard erwähnte, dass sie vorhatte, sich in jener Woche auf dem eleganten Herbstreitturnier in Madison Square Garden sehen zu lassen, wo die High Society dem Gilded Age huldigte. Max musste sich unwillkürlich die Vanderbilts und andere Berühmtheiten vorstellen, wie sie den Blicken freigegeben in ihren Boxen saßen, während die Eindringlinge aus dem Volk sie und das Geschehen mit großen Augen bestaunten. Die Ausflüge in das abwechslungsreiche Kulturleben der Stadt umfass­ ten auch drei besonders aufschlussreiche Unternehmungen ganz spezieller Art. Einmal den Besuch eines Vortrags bei der League for Political Educa­ tion, wo die namhafte Ärztin und Rednerin Dr. Yamei Kin „A Chinese Woman’s View of the War in the East“ referierte. Kin, die nach dem Tod ihrer einer Seuche zum Opfer gefallenen Eltern von protestantischen Mis­ sionaren aufgezogen wurde, war in die Vereinigten Staaten gekommen und hatte – als erste Chinesin – am Women’s Medical College von New York in Medizin promoviert. Sie kannte das Henry Street Settlement und Lillian Wald, mit der sie die Sorge um das gesundheitliche Wohl der Allgemein­ heit teilte, und nutzte das Settlement-Modell für ihre Arbeit im Kranken­ haus und die Krankenschwesternausbildung in Tianjin in China. Obwohl in Asien ein Krieg im Gange war, sei „die Zeit nicht mehr fern“, prognosti­ zierte sie in ihrem Vortrag, „in der die Kämpfe auf andere Weise ausge­ tragen werden: Statt roher physischer Kräfte werden dann Meinungen und Wirtschaften aufeinanderprallen.“ Marianne war entzückt von ihr und ihrer Offenheit: Ihre Sympathien waren merkwürdigerweise auf Seiten der Russen, die für die orientalische Kultur keine Gefahr wären, da sie sich von ihr vollständig assimilie­ ren ließen, also nach einiger Zeit einfach Chinesen würden. Na, was sie sagte, war interessant genug, aber [erst] die reizende Art, in der sie sprach, und ihre zierliche, anmutige Erscheinung in ihrer malerischen chinesischen Tracht, die wir unseren Reformkleidern ganz gut zu Grunde legen könnten. [Das war] die Hauptanzie­ hung. Ich mußte ihr beistimmen, als sie die westeuropäischen Völker tadelte, weil sie sich anmaßen, alle Völker der Erde unter ihre kapitalistisch-industrielle Kultur zu zwingen, „so that every nation becomes exactly alike the other“, gerade wie eine Fabrikware den anderen gliche. Dieses kleine, zierliche u. kluge Persönchen war wenigstens ein erfreuliches Exemplar ihrer Art. Man möchte sie nicht in un­ sere Formen gepreßt wissen. (15. November; NMW)

Die New York Times berichtete von Kins Auftritt und zitierte sie mit ihrer Frage: „Wollen Sie, dass wir alle gleich sind?“; „Sie haben viele Dinge hergestellt“, wurde sie weiter wiedergegeben, „viele Maschinen gebaut, die vieles können und ausführen – alle auf die gleiche Weise. Haben Sie das­ selbe mit uns vor? Bis jetzt haben Sie uns bloß Ihre Laster zukommen lassen. Wir hätten jedoch gern Ihre Tugenden.“

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Ganz oben auf der Liste der „Tugenden“ standen die politischen Grund­ güter – Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit, gleichberechtigter Zugang zum öffentlichen Kommunikations- und Handlungsbereich – und damit genau die Werte und Ziele, um die es der Settlement-Bewegung bei ihren Bemü­ hungen um die Schaffung eines neuen bürgerlichen Lebens für die Einwan­ derer ging. Das Problem war nun aber, dass ein solches politisches System in manchen Fällen schlecht zu den ererbten kulturellen Formen und Identi­ täten passte, und sie infrage stellte oder gar verneinte. Kin war deshalb eine interessante Figur, weil sie das Problem erkannte, die Kluft in ihrer eigenen Person überbrückte und ein großes Thema des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Einen ganz anderen Abend verbrachten die Webers mit einem Funktionär der lokalen Drucktechnik-Gewerkschaft und seiner Frau, an dem sie nach dem Dinner einen gemeinsamen Rundgang durch eine Zeitungsdruckerei machten. Auch wenn weder Max noch Marianne den Namen ihrer Gastge­ ber erwähnten, darf man davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um Jerome F. Healy und seine Frau Margaret Ufer Healy handelte. Healy war zu dieser Zeit Schatzmeister des Drucktechnik-Verbandes Nr. 6 von New York City, ein Posten, über dessen Besetzung alle zwei Jahre per Wahl neu entschieden wurde und den er acht Jahre lang bekleidete. Das Treffen könnte von Se­ ligman oder von Hollander arrangiert worden sein oder speziell von dem Arbeitsökonomen George E. Barnett, der über die Druckindustrie forschte und zum Experten für die Drucktechnik-Gewerkschaft geworden war, die älteste Gewerkschaft im Lande. Die Gespräche und die Besichtigung vor Ort dürften Weber sehr willkommen gewesen sein, da er sich für die mo­ derne Presse- und Zeitungslandschaft interessierte; ein paar Jahre später wird er vor der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine vergleichende Untersuchung zu Zeitungen, Presseagenturen und zum Journalismus vor­ schlagen. Marianne wunderte sich einmal mehr über das weitgehende Feh­ len von Standesunterschieden, das sich etwa darin zeigte, dass der Setzer aus der Arbeiterschaft „vollkommener Gentleman“ geworden war und eine „belesene lady“ des Mittelstands zur Frau hatte, das sich selbst „zum oberen Mittelstand“ zählende Paar ein selbstgebautes Haus sein eigen nannte und alle paar Jahre nach Europa reiste. Der Lebensstil stellte Mariannes Auffas­ sung von einer mühseligen Arbeitsexistenz auf den Kopf. Bei Max Weber stellten sich die Resultate später ein, als er über politi­ sche Führung, Sachkenntnis in der Verwaltung, die progressive Forderung nach einer Reform im öffentlichen Dienst und das Problem der Korruption in den modernen Demokratien nachdachte. Als er zu Kriegszeiten in einer Rede über den Sozialismus darauf hinwies, dass er mit amerikanischen Arbeitern über das Thema gesprochen hatte, dachte er dabei sicherlich an Healy. Seine durchaus plastischen Ausführungen waren mitunter allerdings



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nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand, was die Mode und die Verhältnis­ se im Allgemeinen anbelangte: „Der echte amerikanische Yankeearbeiter steht auf einer hohen Stufe der Löhne und der Bildung. Der Lohn eines amerikanischen Arbeiters ist höher als derjenige manches außerordentlichen Professors einer amerikanischen Universität. Diese Leute haben vollständig die Formen der bürgerlichen Gesellschaft, sie erscheinen in ihrem Zylinder und mit ihrer Frau, die vielleicht etwas weniger Gewandtheit und Eleganz hat, aber im übrigen genau so sich benimmt wie eine andere Lady, während die Einwanderer, die aus Europa kommen, in die Unterschichten einströ­ men.“ Webers statistischer Überblick aus erster Hand stützte das Fazit zu den Standes- und Klassenunterschieden und zur Verbürgerlichung der Arbei­ terschaft: gewerkschaftlich organisierte gelernte Fabrikarbeiter verdienten mehr als Akademiker, wenn diese auch ein höheres Ansehen genossen, und natürlich waren sie im gesellschaftlichen Gefüge an ganz anderer Stelle angesiedelt als die neuen Einwanderer. „Wenn ich also mit einem solchen Arbeiter zusammensaß“, führte Weber aus, und ihm sagte: Wie könnt ihr euch eigentlich von diesen Leuten regieren lassen, die euch da in die Ämter hineingesetzt werden und die selbstverständlich […] aus dem Amte so viel Geld machen, als nur möglich ist, wie könnt ihr euch von dieser korrupten Gesellschaft, die euch notorisch Hunderte von Millionen stiehlt, regieren lassen?, so bekam ich gelegentlich die charakteristische Antwort, die ich wörtlich in ihrer Drastik wiedergeben darf: „Das tut nichts, es ist genug Geld für das Stehlen da und es bleibt noch immer genug übrig zum Verdienen für andere – auch für uns. Auf diese ,professionels‘, auf diese Beamten speien wir, die ver­ achten wir. Wenn aber eine examinierte studierte Klasse die Ämter einnimmt wie bei euch drüben – die speit auf uns.“ Das war bei diesen Leuten das Entscheiden­ de. Die Furcht vor dem Entstehen eines solchen Beamtentums, wie es in Europa tatsächlich besteht, eines ständischen, durch die Universitäten gebildeten, fachge­ schulten Beamtenstandes.

Plunkitts jüngste Niederlage dürfte noch dazu vor Augen geführt haben, dass selbst die bestgeölten Parteimaschinen in der Wahlkabine zum Still­ stand kommen können. Healys robuste Einschätzung verdeckte jedoch eine eigentliche Frage, welche die demokratische Rechenschaftspflicht und die Sachkenntnis betraf und über die Weber in seiner Bürokratiekritik und im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der demokratischen politischen Ord­ nung nachdenken wird. Von Seligmans progressiven Zeitgenossen unter­ nahm insbesondere John Dewey große Anstrengungen, um die Forderung nach Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit mit dem Bedarf und dem Verlangen nach Expertenwissen in Einklang zu bringen. Die Tour der Webers durch die vielfältige Stadtlandschaft fand ihren Abschluss mit einem Höhepunkt: einem Abend mit Dr. David Blaustein von der Educational Alliance und einer Besichtigung des im Bowery District gelegenen jiddischen Theaters, bei dem der soziale Wandel und die neuen

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Formen der Unterhaltung anzukommen begannen. Die Educational Alliance war genau wie das University Settlement und das Henry Street Settlement als eine Einrichtung gegründet worden, die den Immigranten in allen Belan­ gen helfen sollte, im amerikanischen Leben Fuß zu fassen. Sie kümmerte sich ausschließlich um die osteuropäische jüdische Bevölkerung der Lower East Side, die, wie Marianne hörte, eine Viertel Million Menschen zählte. Wahrscheinlich waren es sogar mehr; das statistische Bundesamt der Verei­ nigten Staaten registrierte 359.000 „hebräische“ Immigranten, die zwischen 1900 und 1904 in die Stadt gekommen waren. Blaustein hatte 1898 die Leitung der Educational Alliance übernommen und war gleich darangegan­ gen, sie zu einem Zentrum des sozialen Lebens für die eingewanderten Juden zu machen. Die Lebensgeschichte des im russischen Polen geborenen und zwanzigjährig nach Boston ausgewanderten Blaustein war ein inspirie­ rendes Beispiel für eine gelungene „Amerikanisierung“: Er schloss sein Harvard-Studium mit Auszeichnung ab; wirkte in Providence auf Rhode Island als Rabbi einer jüdischen Gemeinde; hatte an der Brown University eine Stellung als Assistant Professor für semitische Sprachen inne; und avancierte schließlich zu einem der führenden Community-Aktivisten und Sozialreformer. Bei der Educational Alliance bestand die Herausforderung für ihn darin, die Spaltungen innerhalb der zerstrittenen Gemeinschaft zu überwinden, die vor allem zwischen der orthodoxen und der reformorien­ tierten Richtung und zwischen der älteren Generation und der Jugend ver­ liefen. Obgleich er sich unermüdlich einsetzte, blieb ihm ein großer Durch­ bruch in dieser Sache versagt. Den Abend verbrachten Blaustein und die Webers zusammen mit dem erfolgreichen ukrainisch-stämmigen Bühnenautor Jacob Michailowitsch Gordin, um sich eine Aufführung des Stückes Di emese Kraft (Die wahre Kraft) anzusehen; die schauspielerische Leistung fand Max so großartig in ihrer Art, daß man die Handlung (ein Arzt, der eine „Frau aus dem Volk“ heirathet, die Conflikte der Culturschichten, die entstehen, erlebt, von ihr betrogen wird, sich aber am Totenbett seiner Tochter erster Ehe, die sie pflegen hilft, mit ihr versöhnt) vollständig verstand, [zumal] die nicht einwandfreie Dich­ tung einige Charaktertypen (insbesondre eines „Sozialisten“ und eines rabbini­ schen „Gelehrten“) aufwies, welche von den jüdischen Schauspielern, den besten, die Amerika kennt, in absolutester Selbstkarrikierung großartig gegeben wurden. Wir wurden natürlich hinter die Culissen zu den Akteurs, darunter einem 12 jäh­ rigen allerliebsten Mädchen, geführt, und das Zusammensein im Schauspielercafé nachher war recht interessant. (19. November; NMW)

Diese Unterhaltung drehte sich um das Jiddische, die Gemeinde und Gordins erstaunliche Produktivität: Romane, Kurzgeschichten, 73 Theater­ stücke, elf Kinder, und dazu verfolgte er noch das ehrgeizige Ziel, für jedes Kind zehn Stücke zu schreiben. Weber hoffte, dass er Blaustein, den er



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„unsern speziellen Freund“ und einen „Idealist reinsten Wassers“ nannte, davon überzeugt hatte, einen Artikel für das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik zu schreiben; die Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Blaustein hinterließ einen starken Eindruck. Er hatte sich einst darum bemüht, den Freimaurergrad „Meister vom Stuhl“ zu erwerben, musste je­ doch alle Bemühungen in dieser Richtung einstellen, weil der Ruf nach Schutz des christlichen Glaubens laut wurde. Dennoch sei es den Versuch wert gewesen, weil der im Falle des Gelingens moralische Legitimität be­ deutet hätte, und die wiederum wäre seinem Bekunden nach im Geschäfts­ leben von Nutzen gewesen. Blausteins Erzählung, schrieb Weber in einem Brief, „gab wieder einmal einen Einblick in die Art, wie hier die Clubs, Orden etc. funktionieren“; später ergänzte er seine überarbeitete Abhandlung „Die protestantischen Sekten“ durch eine Fußnote, in der er auf diese Epi­ sode anspielte. Sie bestätigte einmal mehr ein Muster, das er in anderen Zusammenhängen immer wieder beobachtet hatte. Viel mehr Bedeutung maß Weber allerdings Blausteins rabbinischer Leh­ re bei und seinen eigenen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Puritanis­ mus oder protestantischen Sekten und dem Judentum, die in seinem Kopf feste Form anzunehmen begannen. Das „Amerikanisierungs“-Programm der Educational Alliance setzte einen gewissen Grad an Kompatibilität oder Anpassungsfähigkeit zwischen dem moralischen Universum der ankommen­ den Immigranten und der neuen Kultur des Gastgeberlandes voraus. Blau­ stein, der den Weg der Anpassung selber gegangen war, wusste um dessen Tücken und praktische Schwierigkeiten. Weber gegenüber erwähnte er, dass die Educational Alliance „als erstes Ziel der Kulturmenschwerdung, welches durch alle Arten künstlerischen und geselligen Unterrichts erstrebt wird, die ,Emanzipation vom zweiten Gebot‘ “ begreift – das heißt vom zweiten Ge­ setz Mose „Du sollst dir kein Bildnis machen“. Das Ablegen der Vorschrift schien eine Voraussetzung für das Annehmen der „amerikanischen“ Identität zu sein. Überraschend ist, dass Weber Blausteins Bemerkungen in seinen Briefen mit keinem Wort erwähnte, sie jedoch in das letzte Kapitel seiner Protestantischen Ethik aufnahm. Die Anspielung auf den Abend mit Blau­ stein und Gordin ist einer ausführlichen Anmerkung entnommen, in der das praktische Problem der Unterrichtspolitik in der Educational Alliance als eine theoretische Frage nach den „charakterologischen Folgen“ der religiösethischen Lehren behandelt ist. In der Regel fragte Weber in diesen Zusam­ menhängen nicht nach der „Charakterologie“, sondern nach dem Ethos oder Habitus – den Neigungen und Weisen, sein Leben zu führen –, die von einer speziellen spirituellen und moralischen Ordnung befördert wurden. Sein besonderes Augenmerk galt der Berufskultur des amerikanischen Le­ bens und den Quellen ihrer moralischen Legitimierung.

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Die Frage nach den Folgen für den Habitus bildet eine Art Leitfaden in Webers Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den religiösen Ethiken und dem ökonomischen Handeln und sie zieht sich durch seine gesamte Religionssoziologie. In den letzten Tagen in New York hatte er abermals Gelegenheit, den Kampf zwischen der Ehrfurcht vor der religiösen Tradition und dem starken Reiz des eigentümlichen und „spezifisch gearteten Ratio­ nalismus“ der Moderne zu verfolgen, nun aber hinsichtlich der ,kulturellen Anpassung‘ der Immigranten. Die Institutionen der Jahrhundertwende ent­ wickelten eine besonders wirksame Form der Identitätsbildung bei den eingewanderten Bürgern und griffen dabei ganz bewusst auf das in der amerikanischen Vergangenheit erprobte Vergesellschaftungsmodell zurück. Dennoch aber war das Feld, in dem die Praktiken entwickelt wurden, poli­ tisch umkämpft. Heute erinnern sie uns an eine damals einflussreiche Posi­ tion in der Auseinandersetzung um die Behandlung der Einwanderer und die kulturellen Unterschiede, die nach wie vor in der Diskussion stehen. Die letzten beiden Wochen in New York waren eine ganz bemerkenswer­ te Besichtigungstour durch die sozialen Einrichtungen der Großstadt: pres­ byterianische und Christian Science Kirchen, die Ethical Culture Society, University und Henry Street Settlement, die Educational Alliance, die School of Philanthropy, die League for Political Education und das jiddi­ sche Theater. Webers Wunsch war es gewesen, die amerikanischen Städte zu besichtigen – nun hatte er so viel mehr unternommen und erlebt und Eindrücke gesammelt, die er zu einem riesigen Panorama einer vielschich­ tigen und vielgestaltigen soziokulturellen und politischen Ordnung zusam­ menfügen wird. In ihrer Zusammenfassung der letzten Reisetage bezeichne­ te Marianne die Monate in den Vereinigten Staaten als „unsere weitaus in­ teressanteste Reise“, wegen der Vielzahl und der Verschiedenartigkeit der Menschen, mit denen sie zusammengetroffen waren und gesprochen hatten. Max bekundete abermals seine Begeisterung für die Amerikaner als „ein wunderbares Volk“, ganz unabhängig von den gesellschaftlichen Problemen und politischen Herausforderungen, auf die sie gestoßen waren – insbeson­ dere die „Frage der Neger und die entsetzliche Einwanderung“, die in Max’ Worten „die großen schwarzen Wolken“ bildeten. Die Webers gingen am 18. November an Bord ihres Linienschiffes, der Hamburg, mit dem sie am kommenden Tag nach Cherbourg ausliefen. Max Webers Erwartungen auf eine Rückkehr in die Vereinigten Staaten sollten sich aufgrund seines Arbeitsdrucks sowie des aufziehenden Weltkrieges nicht erfüllen. Wäre er 1904 einen Tag länger geblieben, hätte er Woodrow Wilson, den damaligen Präsidenten der Princeton University im Cooper Union Gebäude über den „Amerikanismus“, das charakteristisch Amerika­ nische, reden hören. Wilson, der frei sprach, gab einen kurzen und durchaus eigenwilligen Abriss der amerikanischen Geschichte:



9. Amerikas Modernität221 Die Entwicklung unseres Landes nimmt in der Gegenwart einen ganz anderen Verlauf als in der Vergangenheit. Bislang vollzog sie sich in Jahrhundertschritten. Unser erstes Jahrhundert brauchten wir, um auf dem Kontinent richtig Fuß zu fassen; das zweite war nötig, um uns der Franzosen zu entledigen; und das dritte brachten wir damit zu, aus uns eine Nation zu machen; und nun befinden wir uns im vierten Jahrhundert unserer Entwicklung. Dass wir das großartigste Land auf der Welt sind, bedarf in unseren Augen keines Beweises; und wie der Richter in der Story [über falsche Bescheidenheit] sträuben wir uns nicht anzuerkennen, worin wir eine Tatsache sehen. Bislang waren wir ausschließlich mit dem Machen beschäftigt; wir sind gerade dem Jugendalter entwachsen und uns erfüllt die gan­ ze Kühnheit der Jugend und manchmal, wie ich fürchte, ein paar von ihren Un­ besonnenheiten. Wir hatten drei Jahrhunderte mit Aufbrüchen, und was wir jetzt brauchen, ist nicht die urwüchsige Kraft, sondern die vollendete Erziehung.

Die Wortwahl – „Kühnheit“ und „Unbesonnenheit“ – verrät zum einen die Freude an neuem Tatendrang, zum anderen aber auch die Sorge vor unvorhergesehenen politischen Fehleinschätzungen. Doch welches Modell war es, das Wilson in Anbetracht von Tatendrang und Ungestüm der Jugend für die Nation vorschwebte? Der künftige amerikanische Präsident fand eine fertige Antwort in dem „typischen Amerikaner“ als dem mythischen Staatsbürger, der auf das Neue zugeht und es erschließt, sich die Natur unterwirft und soziales Kapital bildet – und als der galt ihm, wie könnte es anders sein, Benjamin Franklin: Dieser neue Modell-Bürger „hieße bei mir eher Benjamin Franklin als Alexander Hamilton, denn Hamilton, so sehr ich ihn verehre, war von seinem Denken her Europäer. Zwar war er kein Mann von Kontrollausschüssen, Franklin aber war der Mann für das Neue, das erschlossen werden wollte. Er fand immer einen Weg, schienen auch alle versperrt, zur Not erfand er einen.“ Mit Franklin führte Wilson Webers Musterbeispiel für den „Geist des Kapitalismus“ an und er entfaltete die dazugehörige Vorstellung vom Ame­ rikanismus als eigenverantwortlichem Handeln in der Welt. In dieser Sicht auf die Welt und Amerika lag der Nachdruck auf den Chancen und Mög­ lichkeiten, auf Innovation, Herrschaft, Initiative und Selbstbeherrschung, entsprechend entschiedenen war der Bruch mit der Vergangenheit. Diese Sicht verschmolz nahtlos mit einem ,diesseitigen‘ Asketismus. Wilson zu­ folge könnten wir zur Bewältigung des Unerwarteten schließlich gezwungen sein, nur auf uns selbst zu schauen und eine ganz neue Daseinsform zu erfinden. Seine freien Ausführungen waren wie aus einem Guss. Eine schlüssigere Darstellung der amerikanischen Vision von der Moderne lässt sich kaum denken.

10. Deutung der Erlebnisse Als die Hamburg Kurs aufs offene Meer nahm und sich von der „wun­ derbar anziehenden Stadt“ entfernte, schrieb Max vergnügt: „New York liegt im Dunst einer schönen Winternacht hinter uns und alles ist vorüber – „après nous“ – und vielleicht auch „dans nous“ le déluge, denn gestern Nacht waren wir noch bis ½ 2 Uhr im Judenviertel.“ Er überschlug auch schnell die Kosten der Überfahrten über den Atlantik und der Zeit in Ame­ rika, der drei Monate und zwölf Tage vom Aufbruch in Heidelberg bis zur Rückkehr gerechnet: über 7.000 Mark, abzüglich des Honorars für den St. Louiser Congress-Beitrag von 500 $ oder 1.200 Mark. Die Reisenden hatten über 5.000 Meilen zurückgelegt, die meisten mit der Eisenbahn – 180 Stun­ den waren sie zusammengenommen unterwegs. Mit welchen Ergebnissen? Marianne, die stets auf Max’ Stimmungslage achtete und auf sein Wohlbefinden bedacht war, freute sich an dem Glück, das ihnen geschenkt wurde: „Ich habe manchmal das Gefühl, als brächte ich einen Genesenen mit nach Hause, der sich des Kapitals an Kräften, das er langsam, langsam angesammelt hat, wieder bewusst geworden wäre.“ Max teilte diese Einschätzung, überzeugt, dass an eine solche Reise ein Jahr zuvor nicht zu denken gewesen wäre; an einer Stelle erklärt er, dass „Anregung und Beschäftigung des Gehirns ohne geistige Anstrengung“ von gro­ ßem Nutzen sein kann. Ganz am Ende der Korrespondenz äußert er eine persönlichere und freimütigere Überlegung: Daß das „wissenschaftliche“ Resultat der Reise für mich zu diesen Kosten im Verhältnis stände, läßt sich natürlich nicht behaupten. Ich habe für unsere Zeit­ schrift eine erhebliche Zahl interessanter Mitarbeiter gewonnen, bin ganz anders als früher im Stande, die Zahlen der Statistik und die Berichte der Regierungen in den V[ereinigten] Staaten zu verstehen, werde selbst einige Kritiken über Ne­ gerlitteratur u. dgl. schreiben, auch sonst einige kleine Sachen vielleicht, – aber für meine kulturgeschichtliche Arbeit habe ich nicht viel mehr gesehen, als: wo die Dinge sind, die ich sehen müßte, insbesondere die Bibliotheken etc., die ich zu benutzen hätte, und die weit über das Land zerstreut in kleinen Sekten-Colleges stecken. – Unter diesen Umständen ist die Reise in unsrer jetzigen Lage natürlich nur unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Erweiterung des wissenschaftlichen Horizonts (und dem gesundheitlichen) zu rechtfertigen. Ihre Früchte in dieser Hinsicht können sich natürlich erst nach einiger Zeit zeigen. (nach dem 19. No­ vember; NMW)

Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Resultate keineswegs sicher waren und erst im Laufe der kommenden Monate und Jahre hervortreten sollten,



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sogar erst am Ende seines Lebens 16 Jahre später. Auch Enttäuschungen blieben nicht aus: Einzig W. E. B. Du Bois wird einen Artikel zu Ende bringen und dem Archiv zur Verfügung stellen. Die Kulturkritiken, die We­ ber ins Auge fasste, kommen nicht zustande; seine Gedanken zu Rasse, Klasse und Stand werden stattdessen in andere Arbeiten Eingang finden, vor allem in die entsprechenden Teile von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Ausweitung des wissenschaftlichen Horizonts und der Forschungsperspek­ tive aber war wichtig. Welche Bedeutung wird sie für sein Werk haben? Der Diskurs über Amerika Die Rückkehr in das winterliche Heidelberg gestaltete sich schwierig. Marianne kam mit einer Erkältung an, Max klagte über unregelmäßigen Schlaf. Die Beanspruchung durch die Arbeit und die öffentlichen Verpflich­ tungen wurden schnell zu viel, es folgten die üblichen Kämpfe und in Marianne stiegen die alten Ängste wieder auf. „Es wäre doch kurios“, schrieb sie, „wenn [Max] das stillere, gleichmäßigere Leben hier weniger vertragen könnte als das amerikanische Tosen“ (21. Dezember; DWS). An die Stelle der erwärmenden und schönen Schauspiele der Reise war die kalte Alltagswirklichkeit getreten. Dennoch war es Max möglich, an einigen Veranstaltungen mit Kollegen teilzunehmen; er besuchte einen politischen Vortrag von Eduard Bernstein, einem der führenden Vertreter der Sozial­ demokratie, mit dem er sich über die Quäker ausgetauscht hatte, und er­ schien bei Edgar Jaffés Antrittsvorlesung „Die methodischen Aufgaben der Nationalökonomie“, die als nähere Betrachtung zu Webers eigener Abhand­ lung über das Objektivitätsproblem angelegt war. Marianne hatte ihrer bei­ der Briefe aus Amerika von Helene Weber und den Tanten in Oerlingshau­ sen zurückerhalten, alle bis auf eine verlegte Seite, und eine Sekretärin tippte sie ab, damit sie in Vorträgen und Aufsätzen Verwendung finden konnten. Im Januar nahm auch der Eranos-Kreis seine Treffen wieder auf; den Anfang machte eine Sitzung im Haus von Ernst Troeltsch, die mit ei­ nem langen Disput endete, der noch im Freien weiterging, sodass Max da­ raufhin zwei Tage mit einer Erkältung im Bett verbringen musste. Bei dieser Diskussion nahmen wohl ihre Unstimmigkeiten über die typologische Be­ handlung von Kirchen und Sekten, Asketismus und Mystizismus ihren An­ fang. Weber erholte sich trotz des Rückschlags rechtzeitig für das erste Hauptereignis nach seiner Rückkehr: einen Abend beim Heidelberger Nationalsozia­len Verein am 20. Januar. Die Vereinigung hatte einen der Allgemeinheit zugänglichen „Amerika­ abend“ geplant, an dem Marianne Weber, Ernst Troeltsch und zwei andere Personen vortragen sollten: der Geschäftsmann Otto Nuzinger und Professor

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I. Teil: Die Amerikareise

Otto Cohnheim. Marianne war gebeten worden, über die „Frauenfrage“ in Amerika zu referieren; die Rede hatte sie zuvor für ihre eigene Frauengrup­ pe, den Verein Frauenbildung-Frauenforschung, vorbereitet, und sie hielt sie nochmals bei Veranstaltungen in Karlsruhe und Mannheim. Der Theologe Adolf Deißmann, ein Mitorganisator des Eranos-Kreises, führte durch den Abend. Troeltsch gab einige Reiseeindrücke wieder, hauptsächlich von New York und Chicago, während die anderen Redner über Geschäfts- und Ar­ beitsthemen sprachen, die mit ihren eigenen Amerikaerfahrungen in Zusam­ menhang standen. Max Weber war nicht als Redner angekündet, doch von Marianne ermutigt, entschloss er sich in letzter Minute, das Wort an die im Hotel versammelte zahlreiche Zuhörerschaft zu richten. Er sprach aus dem Stegreif eine Stunde bis nahe Mitternacht. Dies war sein erster öffentlicher Auftritt seit Jahren. Der im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Europa in Gang gekomme­ ne allgemeine Diskurs über Amerika hatte sich zwischen zwei Polen hin und her bewegt: auf der einen Seite die erbauliche Romantik und der Aben­ teuergeist von Karl Mays populären Schilderungen des amerikanischen Grenzlandes, die auch die multiethnische, multikulturelle Rettungsutopie in Peter Roseggers Jacob der Letzte durchwirkten, und auf der anderen Seite die Kulturkritik, wie sie in Ferdinand Kürnbergers notorisch missgestimm­ tem Roman Der Amerika-Müde Ausdruck fand, in dem der Protagonist Amerika gründlich satt bekommt und alles „Amerikanischen“ überdrüssig wird. Weber war, wie wir sehen konnten, mit beiden Anschauungen vertraut. Aus Anlass der Besichtigung des Biltmore-Anwesens hatte er Roseggers Bilder beschworen und über die Plünderung und die Urbarmachung der Natur nachgedacht. Und er hatte Kürnberger im ersten Teil der Protestantischen Ethik angeführt, um ihn zu berichtigen und in diesem Zusammenhang auf eine dritte Möglichkeit hinzuweisen, so zumindest scheint es im Rück­ blick: auf den unvoreingenommenen Vergleich und die vorurteilslose Unter­ suchung der Einrichtungen und Praktiken des sozialen und politischen Le­ bens unter den Bedingungen eines modernen Kapitalismus, den Nordameri­ ka und Europa gemeinsam hatten. Die Vorträge am „Amerikaabend“ reflek­ tierten die Anstrengungen in diese Richtung und die Redner beschäftigten sich mit den Städten, der Industrie und den Unternehmen in Amerika, mit den Gewerkschaften und Arbeitsverhältnissen, der Arbeitseinstellung, dem Lebensstandard, der amerikanischen Familie, den Aussichten für eine sozia­ listische Bewegung und mit der Stellung der Frau in der amerikanischen Demokratie. Für dieses Thema hatte Marianne sich entschieden, wobei ihre Darstellung vom Publikum „mit großer Spannung“ erwartet wurde und die meiste Aufmerksamkeit in der Presse fand. Die Vorträge waren ein guter Anfang, obwohl sie die Themen nicht so ausführlich und tiefgründig entfalteten, wie es aus Max’ Sicht wünschens­



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wert und möglich gewesen wäre. Die Heidelberger Presse fasste seinen abschließenden Veranstaltungsbeitrag so zusammen: Prof. Weber, lebhaft begrüßt, sprach in nahezu einstündiger Rede über das politi­ sche Leben in Amerika. In dieser Zeit machte er die Zuhörer mit dem Wesen und der Bedeutung der amerikanischen Demokratie, der Negerpolitik, den Wahlver­ hältnissen, der Autoritätslosigkeit des Amerikaners, den verschiedenen Sekten, dem Parlament und mit den Parlamentariern in ihrem Verhältnis zum Volk usw. bekannt und erntete dafür lebhaften Beifall. (Heidelberger Zeitung) In der Diskussion sprach Herr Professor M[ax] Weber über das politische Leben in Amerika, die Entwicklung der Parteiverhältnisse, das Negerproblem, das Regie­ rungssystem, die „Amerikanisierung“ der Einwanderer durch die Demokratie, das Vereinsleben, die Arbeiterverhältnisse u[nd] a[nderes] m[ehr]. Die geistvollen, sachverständigen Ausführungen Weber’s wurden mit gespanntester Aufmerksam­ keit angehört. Die Kritik der sozialen Zustände in unserem Lande erntete großen Beifall. (Heidelberger Tageblatt)

Auch wenn es keine vollständige Aufzeichnung seiner Äußerungen mehr gibt, kann man sich leicht vorstellen, dass die Aufzeichnungen der Reise – vom Grenzland der Indianer bis tief in den Süden und zu den Städten im Mittleren Westen und im Nordosten – darin eine prominente Rolle spielten. Weber scheint alle großen Themen angesprochen zu haben, mit Ausnahme der Bildung und der Universitäten vielleicht. Seine zumeist in politischen Begriffen vorgebrachte Sicht war nicht nur ein Beitrag zum Verständnis der Vereinigten Staaten, sondern auch ein, wie Die Hilfe zu berichten wusste, „gewaltiger Appell zu volkstümlicher und freiheitlicher Politik“, und ent­ sprach darin den weiter gefassten und allgemein geteilten Zielen des politi­ schen Progressivismus. In ihren veröffentlichten Einlassungen zu der Frage, was die Frauen von Amerika lernen konnten, erweiterte Marianne das Untersuchungsfeld und befasste sich mit den führenden Feministinnen, mit denen sie zusammen­ getroffen war, etwa mit Jane Addams und Florence Kelley. Daneben äu­ ßerte sie sich zu den sozialen Normen, den kulturellen Einstellungen und Unterschieden zwischen den Klassen und Ständen. Im Rückgriff auf ihre Gespräche und Beobachtungen rühmte sie die Vorzüge der gemischt­ ge­ schlecht­ lichen Erziehung an den High Schools, das Bildungsversprechen und die Colleges, die Sozialarbeit in den Settlements, die Karriereaussich­ ten für die arbeitenden Frauen im Kontext der Familie, die Rolle der Klubs und voluntaristischen Verbände und die Schritte zum Frauenwahl­ recht in den west­ lichen Staaten. Es war, wie die Presse berichtete, ein „Lobgesang“, der den amerikanischen Frauen attestierte, besser gestellt zu sein als die deutschen, vor allem politisch und in der Folge davon auch sozial und als Personen: kraft der – in Mariannes Worten – „demokrati­ schen Ideale, denen die amerikanischen Verfassung ihr Dasein verdankt:

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der Glaube an die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Persönlich­ keit und die Gleichberechtigung aller.“ Das Rassenvorurteil und die Be­ handlung der Minderheiten, wie sie sie vor Ort erlebt hatte, strafte das erhabene Versprechen der Ideale Lügen. Unabhängig davon aber erinnerten ihre Beobachtungen aus erster Hand und ihre Darlegung die Leserschaft an eine zentrale Tatsache und ein Bild von Amerika, die im öffentlichen Dis­ kurs viel zu oft zu kurz gekommen waren: die Vereinigten Staaten als die älteste selbstverwaltete Demokratie der Welt. Im Laufe dieser Wochen hatte sich Weber wieder seiner noch unfertigen Studie zugewandt – Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus –, weil der nächste Teil bereits fest als Vortrag für den Eranos-Kreis eingeplant war und dieser Termin nun anstand. Marianne hatte für die Zu­ sammenkunft einer kleinen Gruppe von Gelehrten am 5. Februar bei ihnen zuhause in der Hauptstraße „Schinken in Burgunder“ vorbereitet, wie sie schrieb, Max hingegen eine geistige Mahlzeit: die Mitglieder des EranosKreises bekamen seine Ausführungen über „Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben“ zu hören. Der Titel war interessant gewählt; geboten wurde eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Askese, namentlich ihres „weltlichen“ Typs, der die protestantischen Sekten kenn­ zeichnete, und der rationalen Erwerbstätigkeit in der modernen kapitalisti­ schen Marktwirtschaft. Die Worte streichen den praktischen Charakter der Untersuchung heraus: Was, wenn überhaupt, hat der Asketismus mit dem Verdienen des Lebensunterhalts in der modernen Welt von Geldwirtschaft, Börse und Rohstoffmärkten und mit der kapitalistischen Produktion und Konsumption zu tun? Hätte Weber an der Problematik des „Verdienens des Lebensunterhalts“ festgehalten und entsprechende Formulierungen gewählt, hätte man seine Fragestellung vielleicht besser verstanden, als er sich an die Abfassung des zweiten Teils der Protestantischen Ethik machte. Er hatte sich über das Thema in Amerika den Kopf zerbrochen, „secularisierte Sprößlinge des alten puritanischen Kirchentums“ ausgemacht und Überle­ gungen zur Arbeit, unternehmerischen Initiative und zur kapitalistischen Kultur angestellt. Der gewählte Titel kam dem des letzten Kapitels seines fertiggestellten Textes sehr nahe: des fünften Kapitels „Askese und Kapita­ lismus“, das nach der Überarbeitung 1919 „Askese und kapitalistischer Geist“ hieß. Es enthält die einprägsamsten und am meisten zitierten Stellen der gesamten Studie, darunter das viel diskutierte Bild vom „iron cage“ [„stahlharten Gehäuse“], das Talcott Parsons in seine Übersetzung einbrach­ te, den abschreckenden Verweis auf „Fachmenschen ohne Geist“ oder die Anspielung auf Friedrich Nietzsches „letzte Menschen“, die das Glück er­ fanden, aus Also sprach Zarathustra. Man kann davon ausgehen, dass We­ ber diese Ideen in einer ersten Fassung ausformulierte, als er damit beschäf­ tigt war, den Vortrag für den Eranos-Kreis zusammenzustellen.



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Nach dem Vortrag ließ Weber keine Zeit verstreichen. Da seine unleser­ liche Handschrift umfangreichere Abtippvorbereitungen verlangt hätte, war er dazu übergegangen, seine Ausführungen zu diktieren. Am 2. März berich­ tete Marianne, dass er damit begonnen hatte, Fräulein Hagmann die „Pro­ testantische Askese“ zu diktieren, was ein Brief bestätigt, den Max eine Woche später seinem Bruder schickte. Die letzten beiden Kapitel nahmen langsam konkrete Form an, und vier Wochen später berichtete Marianne (am 3. April), dass der Text fertiggestellt sei, keine zwei Monate nach dem Treffen des Eranos-Kreises. Ungefähr zur selben Zeit wurde die Heidelber­ ger Seilbahn wieder in Betrieb genommen, die ihre Passagiere auf die Hö­ hen über der Stadt beförderte, denn es war wärmer geworden, die Vögel waren zurückgekehrt – der Frühling hatte Einzug gehalten. Max hatte die Kapitel 4 und 5 diktiert, 110 Seiten in der Druckausgabe des Archivs, die zu den 54 Seiten hinzukamen, die vor seiner Abreise nach Amerika veröf­ fentlicht worden waren. Jetzt konnte er seine stillen Spaziergänge auf den Wegen oberhalb der geschäftigen Stadt wieder aufnehmen. Ein Entkommen aus dem stahlharten Gehäuse? Als er Die Protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus fertig­ stellte, legte Weber nahe, dass seine Abhandlung als ein Beitrag zur Kultur­ geschichte zu verstehen sei und er sie als Kulturhistoriker verfasst habe. Hatte die Amerikaerfahrung in Webers Denken Spuren hinterlassen und sich in diesem kulturhistorischen Aufsatz niedergeschlagen? Hatten sich neue wissenschaftliche Perspektiven eröffnet? In unserer Zeit der digitalen Medien lässt sich auf diese Fragen natürlich leicht und schnell eine Antwort finden, indem man etwa die CD-ROM von Webers gesammelten Hauptwerken – die durch Karsten Worms und Thomas Müllers ausgetüftelte Funktionen zu unserer bequemen Verfügung stehen – mit Suchworten wie Amerika, Vereinigte Staaten, Franklin oder Individualismus durchforstet. Und dieses angenehme Verfahren wird zahlreiche Be­ legstellen und Hinweise auf die Vereinigten Staaten, auf Amerika und die amerikanischen Zusammenhänge zutage fördern – viel mehr als zu anderen Nationen (von Deutschland natürlich abgesehen) mit Ausnahme von Eng­ land oder Großbritannien. Richtet man sein Augenmerk speziell auf den ursprünglich im Archiv veröffentlichten Text des zweiten Teils der Protestantischen Ethik, ergibt sich folgendes Bild: konkrete, häufig in Fußnoten ergänzte Bezugnahmen auf (ungefähr in der Abfolge) den Methodismus in Amerika; die Säkularisierung des amerikanischen Lebens; die Colleges; die Brown University; Literatur zu den amerikanischen Kolonien; antiautoritä­ ren Tendenzen in Amerika; William James’ Vielfalt religiöser Erfahrung; den Pragmatismus; den Begriff des „gentleman“; James Bryces Äußerungen

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zum amerikanischen College; Benjamin Franklins Autobiographie; die an­ glo-amerikanische Selbstbeherrschung; die Toleranz in Rhode Island (mit Erwähnung von Roger Williams), Maryland (Lord Baltimore) und Pennsyl­ vania (William Penn); die amerikanischen Sekten; die Northwestern Univer­ sity; den emotionalen Grundzug des Methodismus in Amerika; die amerika­ nischen Neger; den Bestand der Colgate University Bibliothek zu den Baptisten; die Respektlosigkeit in Amerika; das Quäker-Meeting am Haver­ ford College; Franklin noch weitere zwei Mal, als Verkünder von „ehrlich währt am längsten“ und von „Zeit ist Geld“; Thorstein Veblens Theory of Business Enterprise; Washington Irving; den selfmademan; die „Europäisie­ rung“ von Amerika; die Educational Alliance und die „Amerikanisierung“ der Einwanderer; die amerikanischen Gewerkschaften; die Musik und die Trinity Church in Boston; die Freiheitsidee; das Erbe in Amerika; die Ka­ pitalbildung und den Handel in New England; Pennsylvania und den Ame­ rikanischen Unabhängigkeitskrieg; der dry-good-man in Ohio; und schließ­ lich den Kapitalismus als „Sport“ in den Vereinigten Staaten! Die Auswahl ist verblüffend und wäre ohne seine Rundreise durch Amerika in dieser Form zweifellos nicht möglich gewesen. Freilich erweitert Weber sie gleich im nächsten Aufsatz „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika“, der ein Jahr später (1906) veröffentlicht wurde und explizit von einer Reihe von Prob­ lemstellungen in den Vereinigten Staaten seinen Ausgang nimmt. Den Inhalt und die Quellen dieser Ausführungen, die tendenziell einzelnen Aspekten der genealogischen Abstammung der amerikanischen Institutionen und der amerikanischen Kultur nachgehen, haben wir jedoch bereits erörtert. So viele Hinweise eine digitalisierte Suche auch liefern mag, letztlich sagt sie uns deshalb wenig, weil wir nicht auf fesselnde Beispiele und auf Kernsät­ ze aus sind, sondern nach dem eigentlich Problematisierten einer kontrover­ sen These fragen, die Weber bis ans Ende seines Lebens beschäftigte und in seinem Denken immer konkretere Gestalt annahm. Dass Amerika in die These der Protestantischen Ethik Eingang fand, hatte zwei einleuchtende Gründe: Die Vereinigten Staaten boten in ihrer mehrsprachigen und vielschichtigen Kultur Beispiele jenes asketischen Ethos, nach denen Weber suchte – die „Sprößlinge“ eines Habitus mit dem Nachdruck auf der methodischen Rationalisierung der Lebensführung. Die religiösen Sekten faszinierten Weber unabhängig von ihrer Glaubensrich­ tung aus genau diesem Grund: Bei ihnen begegnete er dem Menschen, der mit seiner Persönlichkeit dem in der Protestantischen Ethik entworfenen „Idealtypus“ in gewisser Weise entsprach. Die Darstellung sollte ihrem Gegenstand jedoch gerecht werden und nichts überzeichnen. Dafür freilich ist der asketische Grundzug zu oft einem American-Gothic-Motiv nachemp­ funden, dem Grau in Grau von verhärmten Gesichtszügen und zerfurchten Stirnen, von Schicksalsschwere und verbissenem Marschieren zum Takt



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harter Arbeit und einem Leben frommer und ausgeprägter Rechtschaffen­ heit. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass Weber sehr angetan war von Enthusiasmus, urwüchsiger Kraft und Abenteuerlust der Amerikaner, ihrem sozialen Engagement, Gestaltungsvermögen und dem Sinn für Hu­ mor, die Ausdruck eines Verlangens nach Selbst- und Weltbeherrschung waren, das er von Zeit zu Zeit offenbar sogar bei sich zu wecken versuch­ te. Auch diese in den Briefen skizzierten Eigenschaften gehörten zu dem Bild, das in seiner Vorstellung Gestalt angenommen hatte. Der zweite Grund war ein ebenso triftiger: Geschichtlich bedingt – und Weber kannte all die konkreten Bedingungen nur zu gut – bildete Amerika den idealen Boden, auf dem die moderne Marktwirtschaft, der rationale kapi­ talistische Unternehmergeist und eine kapitalistische Kultur von scheinbar unbegrenztem Wirkungsbereich gedeihen konnten. Der Kapitalismus und sein ,Geist‘ hatten natürlich auch an anderen Orten existiert, doch in der Neu­ en Welt schien er sich vergleichsweise ungehindert und auf konzentrierte, ja geradezu unbändige Weise entfalten zu können. Weber hatte die prägenden Merkmale der modernen kapitalistischen Wirtschaft sorgfältig analysiert und Abgrenzungen vorgenommen zwischen den Unternehmungen in der Antike und im europäischen Mittelalter und den neuen Formen des rationalen Kapi­ talumschlags und der Geldanlage in den modernen Industriestaaten mit e­ inem ,freien‘ oder ,sich selbst regulierenden‘ Handel und ebensolchen Arbeitsver­ hältnissen und Kapitalmärkten. In Amerika war er offensichtlich beeindruckt von der Dynamik und den Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten – des rapiden Wachstums, des Arbeitsaufwands insgesamt, der massiven demo­ graphischen Verschiebungen, der sozialen Konflikte und der beunruhigenden Verwandlung der Natur in materiellen Wohlstand. Mit welch elementarer Kraft sich diese Verwandlung vollzog, wurde allerorts deutlich: in den Häfen, bei den Eisenbahnen, in den Metropolen, den Einwandererstädten, den Baum­ wollanbaugebieten oder im Grenzland. Und es zeigte sich auch an den prak­ tischen und nüchternen Lebensanschauungen und Leistungen des amerika­ nischsten unter den sozialen Typen, dem „self-made-man“. Weber traf ihn, wie auch die „self-made-woman“, an jeder Ecke an – als Gewerkschaftsfüh­ rer, Politiker, Geldgeber, Geschäftsperson, Prediger, Journalist, Administra­ tor, Gemeindeaktivist und Sozialarbeiter. Einer von diesem Typus konnte kürzlich sogar den Gipfel der politischen Macht erklimmen und Präsident der Vereinigten Staaten werden: Näher als Barack Obama kann man diesem ­„Idealtyp“ nicht kommen, er verkörpert ihn geradezu. Weber dürfte das sichtbare Nebeneinander dieser widerstreitenden Kräfte – der ethischen und der materiellen – nur allzu deutlich ins Auge gesprun­ gen sein, schließlich hatte er es gleich am ersten Tag symbolträchtig erfah­ ren: im Bild der Kirchturmspitze von St. Paul’s vor der hoch aufragenden Fassade des Wolkenkratzers von Park Row. Die Reisenden haben sich ja

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selber zu dem symbolhaften Kontrast geäußert. Und damit wären wir zur Kernfrage gelangt: Wie hält es Weber mit dieser Grundspannung zwischen einer bestimmten Art des moralischen Lebens und den konkurrierenden Anforderungen des ,kapitalistischen Geistes‘? Wie er den Widerspruch durch die „elective affinities“, die „Wahlverwandtschaften“, löst, wissen die englischen Leser durch Parsons hochgeschätzte Detektivgeschichte, die Meistererzählung des ‚heiligen‘ Textes. Doch was ist mit der amerikanischen Erzählung selbst? Ist Weber bei seinen Beobachtungen in Amerika auf irgendeinen Hinweis auf Versöhnung gestoßen? Gibt es einen Ausweg aus den Dilemmata der kapitalistischen Moderne? Bietet das charakteristi­ sche Muster der Vergesellschaftung eine Möglichkeit, dem stahlharten Ge­ häuse der zunehmenden Bürokratisierung und der Versteinerung der Institu­ tionen zu entkommen? Vermögen diese charakteristischen sozialen Formen den schlimmsten Exzessen der kapitalistischen Kultur entgegenzuwirken? Dies ist nicht nur eine Frage für Weber, sondern genau besehen auch eine für die amerikanische Geschichtsschreibung. Weber scheint mit dieser Frage gerungen zu haben, als er sich in einer Reihe von Anläufen Gedanken machte über die „Europäisierung“ des ameri­ kanischen Lebens (diese Idee war ihm sicherlich schon 1904 vertraut) und über das Gegenstück dazu, die „Amerikanisierung“ europäischer Institutio­ nen, wobei dieser Ausdruck auftauchte, als er seine Aufmerksamkeit auf das Problem der Wissenschaft, der Universitäten und der Vereinsaktivitäten in seinem eigenen Land richtete. Mit der Wendung „Europäisierung von Ameri­ ka“ bezog er sich genau genommen auf mehrere unterschiedliche Erschei­ nungen: erstens auf die Bürokratisierung und die unbeabsichtigten Folgen für die Entwicklung des Staates durch die progressive Reform des öffentlichen Dienstes – die Zunahme des fachmännisch ausgebildeten festangestellten Verwaltungspersonals. „Die moderne Demokratie wird überall, wo sie Groß­ staatdemokratie ist, eine bureaukratisierte Demokratie“, so brachte er es 1918 in seiner Rede „Der Sozialismus“ kurz und bündig auf den Punkt. Dies war eine institutionelle und strukturelle Entwicklung, die im Falle von Amerika einherging mit der Landverteilung und der Besiedlung des Grenzgebietes, die er in St. Louis beschrieben und im Indianergebiet beobachtet hatte. Zweitens galt der Ausdruck einem Phänomen des sozialen Statusstrebens und meinte das Eindringen von Normen sozialer Ehre, genauer gesagt die „aristokrati­ schen“ Anmaßungen der Plutokratie, die auch von den Amerikanern selbst unter die Überschrift „Feudalisierung“ gestellt wurden. Laura Fallensteins Ehemann Otto von Klock hatte auf dieser Basis ein Unternehmen gegründet. Die Entwicklung war deshalb bedeutsam, weil sie den bescheidenen Prakti­ ken der voluntaristischen Verbindungen diametral entgegenzustehen schien. Drittens war „Europäisierung“ mitunter ein Platzhalterbegriff für den lang­ fristigen Säkularisierungsprozess, der Webers Auffassung nach den massiven



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Zustrom von Immigranten aus dem Hinterland der Alten Welt begleitete. Sei­ ne Bewertungen aber schwankten, sowohl was die Säkularisierung als auch die Einwanderung anbelangte, und mit seinen Voraussagen lag er häufig weit daneben. In vierter und letzter Hinsicht bezog er sich mit dem Ausdruck auf ein institutionelles Phänomen und verwendete ihn hin und wieder, wenn er über das Aufkommen der modernen, der Wissenschaft verpflichteten For­ schungsuniversität nachdachte (wie etwa Jacob H. Hollanders Johns Hopkins University oder Edwin R. A. Seligmans Columbia University), neben dem pädagogischen Modell des amerikanischen College mit seiner eindrucksvol­ len spirituellen Abstammung. Diese letzte Bedeutung von „Europäisierung“ macht allerdings bereits deutlich, dass es dem Begriff an Klarheit mangelte, insofern als Weber nämlich noch dazu feststellte – in Übereinstimmung mit Veblen –, dass die modernen Forschungsuniversitäten auch eine ganz entge­ gengesetzte Entwicklungstendenz verkörperten. Dies waren zum Widerspruch reizende, gleichwohl aber eher beiläufige Verwendungen, die einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standzuhalten vermochten. Thema und Hypothese der „Amerikanisierung“ aber blieben sogar noch unklarer und unausgereifter und bildeten den vielleicht schwächs­ ten Teil von Webers Untersuchung. Denn so, wie Weber den Ausdruck verwendete, bezog er sich im engsten Sinne entweder auf Veränderungen im politischen Parteien- und Wahlsystem, wie es von Bryce in The American Commonwealth katalogisiert worden war – das heißt auf das Hervortreten der Massenpartei als eine Wahl-„Maschine“; Weber äußerte den Gedanken wiederholt gegenüber Robert Michels und in seinen politischen Aufsätzen. Im universitären Kontext, vornehmlich dem der großen Privatuniversitäten, bezog sich der Ausdruck auf die Übernahme eines unternehmerischen – oder wie Weber sagte, „kapitalistischen“ – Modells des Anlockens extern finanzierter Forschung. Doch auf einer tieferen Ebene meinte Weber mit „Amerikanisierung“ et­ was ganz anderes und viel Gravierenderes: die Entstehung des dichten Netzes aus Gruppenzugehörigkeit, bürgerlicher Kultur und sozialem Kapital, nach dem Vorbild der im Schmelztiegel der Ur-Sekten entwickelten volun­ taristischen Verbindung. Die Idee trat in seinen während des Krieges veröf­ fentlichten Abhandlungen hervor, speziell in „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ (1917); aus gutem Grund übersetzten Hans Gerth und C. Wright Mills Teile daraus und übernahmen die zentralen Argumentationsli­ nien in ihren Band mit Webertexten, der 1946 herauskam. Weber schlug in diesen späten Aufsätzen eine Reihe von institutionellen Reformen für das „neue Deutschland“ vor, wobei er vor allem amerikanische, britische und französische Beispiele mitbedachte. Auf der Ebene der sozialen Verhältnisse und der politischen Kultur aber ließ er sich wieder von den Reizen des amerikanischen Modells einnehmen. Das Modell war in der Tat eine der

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wenigen positiven Alternativen, auf die Weber in der Gewissensprüfung während der ersten Monate der Weimarer Republik mit Blick auf Deutsch­ land verwies; für ihn ging es in diesem Zusammenhang um nichts anderes als um „ganz massive Erziehungsfragen“. Aus Furcht vor Missverständnis­ sen fügte Marianne ihrer Veröffentlichung des Kommentars die erklärende Fußnote hinzu: „Jugendklubs: Die Kinder werden von ihren eigenen Kame­ raden in die Klubs hineingewählt, wenn sie sich gesittet betragen.“ Max’ Empfehlung hatte rein gar nichts mit kultureller Nivellierung, Materialismus oder Konsumismus zu tun, die in den gängigen Stereotypen als das ,typisch Amerikanische‘ hingestellt wurden. In Wirklichkeit ging sie auf eine grund­ verschiedene Alternative zurück, auf die fordernde Schule der innerweltli­ chen Askese. Der Gedanke aber war zu fremdartig und stieß auf taube Ohren. Er war seiner Zeit hoffnungslos voraus. Heute können wir die Dinge vielleicht besser einordnen. Claus Offe hat sich in seinen Adorno-Vorlesungen der Herausforderung gestellt, Webers Amerikareise in ihren Resultaten zu deuten. Seiner Auffassung nach hat Weber aus Amerika ein sozialtheoretisches Lebensthema mitgebracht – nämlich die Fra­ ge, ob die US-Gesellschaft eine bestandsfähige und in Europa eventuell sogar nachbildbare soziale und politische Formation darstellt, in der zumindest der Möglichkeit nach die Bürokratisierung, Rationalisierung, Verdinglichung, Entper­ sönlichung, Säkularisierung und Sinnlosigkeit des vom modernen Kapitalismus hervorgetriebenen Berufs- und Fachmenschentums auf Dauer vermieden werden und somit die individuelle Freiheit nicht nur […] an der von kleinen Minderheiten besetzten Spitze von Staats-, Partei- und Verwaltungsapparaten, sondern kollektiv an der Basis der Bürger und ihrer Assoziationen gewahrt werden kann.

Offes Antwort auf diese Frage lautet kurz gesagt, dass die „Null-Hypothe­ se“ in Webers Werk keine Bestätigung findet und dass die Spekulationen über das „Konvergieren“ oder „Divergieren“ von Amerika und Europa mittlerwei­ le ohnehin von den Ereignissen überholt wurden. So gesehen gibt es unge­ achtet gewisser historisch bedingter „Anomalien Amerikas“ nur ein mehr oder weniger kohärentes und einheitliches Modell der kapitalistischen Ent­ wicklung und Modernisierung, das den Namen der von Weber geschätzten Kategorie trägt: „okzidentaler Rationalismus“. Es gibt keine anderen Wege zur modernen Welt bzw. nur eine Moderne, und nicht mehrere. Und es gibt auch keine gut beleuchteten und viel begangenen Wege, die eine Flucht vor den Konsequenzen der kapitalistischen Moderne gestatten würden. Dies ist ein wichtiges Fazit, und richtig verstanden ist es das schlüssigs­ te, zu dem man gelangen kann. Dennoch ist es etwas überstürzt und vor­ greifend, da die Biographie des Werks sich tiefer ergründen lässt, wenn man angemessen würdigt, dass Weber eine größere und voll entfaltete Thematik mit nach Amerika brachte – den vermuteten Zusammenhang im Sinne einer



10. Deutung der Erlebnisse233

„Wahlverwandtschaft“ zwischen einem in der religiösen Überzeugung grün­ denden Ethos, einem Typ der weltlichen Orientierung, der in Benjamin Franklins Reden exemplarisch zum Ausdruck kam, und dem „kapitalisti­ schen“ Wirtschaften – und sowohl mit stichhaltigen Belegen für den postu­ lierten Zusammenhang zurückkehrte als auch mit neuen Fragen zu den Implikationen eines neuartigen Typs sozialer Formierung: der „kühlen Sach­ lichkeit der Vergesellschaftung“ in den voluntaristischen Verbindungen. Nur in Amerika und nirgendwo sonst begegnete Weber diese gesellschaftliche Erscheinung. In der Folge bemüht er sich darum, die Möglichkeit ihres Zustandekommens in typologischer Hinsicht, d. h. anhand eines ideal ge­ dachten Typs zu akzentuieren. Im Zentrum dieses „Idealtyps“ steht die moralisch-sittliche Persönlichkeit des Berufsmenschen, die Person, die sich einem Beruf verschreibt oder durch einen Beruf Identität erlangt. In sozialer Hinsicht wird dieser Personentyp erst durch eine spezielle Form der Zivil­ gesellschaft ermöglicht, in der die freiwillige Mitwirkung in einer Gruppe mit der selbstbestimmten Auswahl und moralischen Prüfung der Gruppen­ mitglieder einhergeht. Eine stabile, wahre Zivilgesellschaft in einer so ver­ fassten Demokratie erfordert also eine bestimmte soziale Konstruktion des modernen Selbst, eine besondere Art von „Charakterologie“ oder Persön­ lichkeitsbildung. Es ist verblüffend festzustellen, dass Weber die „Amerika­ nisierung“ der Immigrantenjugend, die er in Clubs und kleinen Gruppen miterleben konnte, in eben dieser Weise dachte bzw. dass seine Charakteri­ sierung des amerikanischen ,College‘ auf solche sozialen Bedingungen ab­ stellte. Aus seiner Sicht wiederholten diese lokalen Mikrokosmosmen bloß ein in der größeren sozialen Ordnung fest etabliertes Muster und verstärkten es ihrerseits wiederum. Es wäre ein dramatischer Gedanke und eine befriedigende Vorstellung, wenn dieses idealtypische Muster der Vergesellschaftung und dieser Typ der Zivilgesellschaft – konstruiert nach dem Vorbild der Sekte – einen Ausweg eröffnen könnten aus der bedrängenden Rationalisierung und Entzauberung des Lebens, die von jenen durch den Kapitalismus entfesselten Kräften bewirkt wurden. Weber unterließ es klugerweise, diesem sozialen Gebilde einen Namen zu geben. Weil sich bürgerliche Gesellschaft mit ihren ,bour­ geoisen‘ Konnotationen verbietet, hat Sung Ho Kim vorgeschlagen, es als „sektenartige Gesellschaft“ zu bezeichnen, wobei diese Wendung soziolo­ gisch zwar zutreffend, sprachlich aber unelegant und schwer verständlich ist. Wie auch immer man es nennt, in der gegenwärtigen geschichtlichen Welt der Gruppenzugehörigkeit wird sich der Fluchtweg, die große Alterna­ tive, kaum je finden lassen, und seine Entdeckung ist paradoxerweise nur innerhalb der Rahmenbedingungen der selbstbestimmten und selbsttragen­ den Vergesellschaftung denkbar. Jenseits davon werden immer die üblichen Antinomien bestehen – die Wahlmöglichkeiten zwischen diametral entge­

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I. Teil: Die Amerikareise

gengesetzten Handlungsorientierungen, die Parsons, auf Webers Schultern stehend, die „Muster-Variablen“ nannte. Die Geschichte der Gemeinschafts­ bewegungen, der religiösen wie der säkularen, ist bis heute eine einzige Anstrengung, solche Wahlmöglichkeiten abzuschaffen und dem warrantable calling treu zu bleiben, um den lang vergessenen Ausdruck der Puritaner zu verwenden, also der „eigentlichen Berufung“. Wir wissen, woher der Anstoß zu diesen Bewegungen kam. Ihre Brutstätte wurde von Perry Miller in sei­ ner klassischen Darstellung The New England Mind bereits genauestens beschrieben, der sich darin mit Webers „Protestantischer Ethik“ einverstan­ den erklärt. Was die Aussichten angeht, eine Saat dieser Art auf fremdem Boden auszubringen, sei bloß auf Webers skeptische Warnungen bezüglich der Chancen auf eine liberale Demokratie in Russland verwiesen. Amerika in Webers Werk Nach den ausgeprägt amerikanischen Vergesellschaftungsformen richtet sich eine nächste Frage auf den erweiterten wissenschaftlichen Horizont von Webers Werk, der nämlich nach 1905 wiederholt amerikanische Beispiele und Modelle anführte und Vergleiche mit Amerika anstellte, vor allem im öffentlichen Zusammenhang. Die Thematiken und Kontexte sind dabei auf­ fallend unterschiedlich: die Debatten im Verein für Socialpolitik über Kon­ zerne, Kartelle, den Staat, Bürokratie und Produktivität; die in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geführten Diskussionen über Presse, moderne Medien, die Soziologie der voluntaristischen Vereinigungen, Rasse, Reli­ giosität, die Sekten, die begriffliche und soziologische Vielschichtigkeit von juristischen Personen wie ,den Vereinigten Staaten‘ und die Schwierigkeit, die ,Nation‘ und nationale Identität begrifflich zu fassen; die Erwiderungen auf Felix Rachfahl zu den Sekten, zum Erwerbssinn und zum „kapitalisti­ schen Geist“, den Weber hier zum ersten Mal als Habitus bezeichnet; die Reden und Artikel zur Hochschulbildung, ausgelöst von den Auseinander­ setzungen um die „Freiheit der Lehre“, die Politik der Universitätsverwal­ tung unter Friedrich Althoff im Preußischen Ministerium für Unterrichtsan­ gelegenheiten und die Diskussionen auf den Hochschullehrertagen; die er­ folglosen Diskussionen mit Georg Jellinek über ein projektiertes Institut für internationales Recht und vergleichende Politik an der Heidelberger Univer­ sität, für das Andrew Carnegie als Finanzier gewonnen werden sollte; und schließlich, wiederholt in den politischen Aufsätzen von 1917 bis 1919, die Bezugnahmen auf die politischen und sozialen Verhältnisse in Amerika, die sogar Eingang fanden in Webers Äußerungen als Mitglied von Hugo Preuss’ Ausschuss zur Erarbeitung der Weimarer Verfassung. Weber dienten die amerikanischen Institutionen und sozialen Praktiken in all diesen Fällen als ein logischer Ankerpunkt, als eine Ausgangsbasis und



10. Deutung der Erlebnisse235

Vergleichsgrundlage für seine Feststellungen und Argumentationen. Die Bildung von Kontrasten, Gegensätzen, Alternativen oder Antinomien war ohnedies das Kennzeichen seiner rastlosen typologischen Geistestätigkeit. Mitunter verfolgte er polemische Absichten wie etwa bei dem Angriff auf Gustav Schmollers Verteidigung von Kartellen in Deutschland und dessen Ablehnung der amerikanischen Kartellverbotsgesetze. In anderen Fällen ging es ihm um Forschung und Lehre – beispielsweise in dem Bericht an die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, in der er eine großangelegte Stu­ die des Vereinswesens anregte, wobei er genau besehen auf nichts Geringe­ res aus war als eine vergleichende Untersuchung der Zivilgesellschaft und der Quellen des sozialen Kapitals. Indem er sich von der Verallgemeinerung zu den Beispielen bewegt – Bowlingklubs, Gesangsvereine, politische Par­ teien, voluntaristische Sekten, Künstlerkreise – wird deutlich, dass die Qualität der Vereins- oder Verbandsaktivität über Ausprägung und Stärke der Zivilgesellschaft wesentlich mitentscheidet und dass ihm die amerikani­ schen Praktiken der ,Auswahl‘ und des ,Unter-Beweis-Stellens‘ von Persön­ lichkeit und Charakter als ein Bewertungsmaßstab dienen: „Wie steht es damit bei uns? Finden sich – und in welcher Art und welchem Umfang – dazu Analogien? Wo? Mit welchen Konsequenzen? Wo nicht? Warum nicht?“ Und weiter: „Wie wirkt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art von Verband nach innen? Auf die Persönlichkeit als solche?“ In dieser Kas­ kade von Fragen ist Webers Erregbarkeit quasi mit Händen zu greifen: In welche Richtung lässt eine bestimmte Form der Vergesellschaftung den Einzelnen gehen – in Richtung passiver und untätiger Unterwerfung oder sorgt sie mit dafür, dass aus ihm ein aktiver und engagierter Staatsbürger wird? Dies ist nicht bloß eine Frage nach der Bildung des sozialen Kapitals, sondern auch eine nach der Konstruktion der Art von Person, die eine de­ mokratische Sozialordnung braucht und die dieser Ordnung gerecht wird. Nirgends tritt solch eindringliches Fragen offensichtlicher zutage als in den beiden berühmten Reden „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“. In Anbetracht des Kontextes und der Zuhörerschaft dieser Reden an Studenten in München am 7. November 1917 und am 28. Januar 1919 – eine im Krieg befindliche, aber noch nicht besiegte Nation und eine durch die politische Umwälzung nach dem Waffenstillstand zerrissene Stadt – kann man nur darüber staunen, dass es darin teilweise um Amerika ging. Aus Webers Sicht sind die „inneren“ Bedingungen und nach innen gerich­ teten Forderungen nach unbedingter Hingabe an das Wissensstreben oder einer bedingungslosen Entscheidung für den politischen Beruf durch kein Hier und Jetzt beschränkt. Sie sind vielmehr Teil eines Gesprächs, das in einer weit zurückliegenden Vergangenheit begonnen hat und bis in eine unbekannte und weit voraus liegende Zukunft andauern wird. Man könnte sagen, sie sind transzendent. Dagegen sind die „äußeren“ institutionellen

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I. Teil: Die Amerikareise

und materiellen Umstände für die Ausübung der Wissenschaft oder der Politik als Beruf geschichtlich und gesellschaftlich determiniert. Wie nun, fragt er, stellt sich die Situation heute dar? Was die „äußeren“ Umstände angeht, dominiert in der Wissenschaftsgemeinschaft der schnelle Wechsel der Universitäten, geht die Entwicklung weg vom alten Modell der kulti­ vierten Bildung und Erziehung, das auf den Prinzipien der Kollegialität beruhte, und hin zu einem bürokratisierten und kapitalisierten Unternehmen, das auf Wettbewerb, Produktion und auf die Trennung des Wissenschaft­ lers / Arbeiters von den Produktionsmitteln ausgerichtet ist; im politischen Bereich wiederum kommt es zur Ersetzung der Politik als nebenberuflicher Tätigkeit für Honoratioren durch den hauptberuflichen Politiker, die Partei als Maschine und den Aufstieg des, in Webers Worten, „plebiszitären Prin­ zips“, was die Auswahl der Führungskräfte angeht. Verbabschieden wir uns von den Illusionen und hören wir auf, uns etwas vorzumachen, rät er; bei diesen Entwicklungen gibt Amerika den Weg vor. Mitunter äußert er sich sehr bestimmt: „Unser deutsches Universitätsleben amerikanisiert sich, wie unser Leben überhaupt, in sehr wichtigen Punkten“. An anderer Stelle spricht er jedoch nur eine Einladung aus: „Erlauben Sie, daß ich Sie noch einmal nach Amerika führe, weil man dort solche Dinge oft in ihrer mas­ sivsten Ursprünglichkeit sehen kann“ – dort findet sich die eigentliche Quelle, die ursprünglichste, uranfängliche und natürlichste Form. Mit dieser Offerte aber wurden wir über eine Grenze geführt, insofern nämlich, als der letzte Satz nicht von rein „äußeren Dingen“ handelt, son­ dern von dem „inneren Berufe“, dem Problem der Bedeutung der Wissen­ schaft im Gesamtzusammenhang des Lebens. Wir könnten fragen, mit welchem Begriffsarsenal William James versucht hätte, dieses Problem zu bewältigen. Das, was Weber im Anschluss sagt, liefert die Antwort: Seine Worte verstehen sich als eine Ermunterung zu einem jähen Sprung in den Strom des Pragmatismus, als eine Lektion im praktischen Nutzen und im „cash value“ der Ideen und des Erkenntnisstrebens. Die Fragen der Bedeu­ tung und des Sinns klärt Weber nicht auf transzendentale Weise, sondern aus der Sache selbst heraus, indem er dazu aufruft, sich selbst über das eigene Tun „Rechenschaft zu geben“, und an das „Verantwortungsgefühl“ appelliert – in der Wissenschaft die Verantwortung für die Erkenntnis und ihre Verwendung, und in der Politik die Verantwortung für die Ausübung der Macht und ihre Konsequenzen für die Geschichte. Es gibt natürlich eine ganze Reihe anderer Themen und Gegenstände, die bislang noch gar nicht erörtert wurden: in erster Linie die posthum zusam­ mengestellten Kapitel, Abschnitte und Fragmente wie beispielsweise Econ­ omy and Society. Sie aber bilden passenderweise einen Teil des Werks in Amerika.

II. Teil

Das Werk in Amerika Es hat mich sofort brennend interessiert und ich musste es gleich ganz durchlesen … als wäre es eine Detektivgeschichte. Talcott Parsons über seine Lektüre von Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus 1925 in Heidelberg

11. Die Entdeckung des Autors Autor und Leserschaft Max Webers Ansehen in der Gegenwart beruht zu einem wesentlichen Teil auf seiner Rezeption in der englischsprachigen Welt. Dennoch war die Rezeption in Amerika – die Übersetzung, Veröffentlichung, Lektüre, Deu­ tung und Verbreitung seines Werks und dessen Auswirkungen auf die Fach­ disziplinen, die Forschung und das geistige Leben überhaupt in den Verei­ nigten Staaten – eine langwierige und ungewöhnlich komplexe Angelegen­ heit, die bis heute fortdauert. Seine Schriften waren zu seinen Lebzeiten im Grunde unbekannt. In den 1920er Jahren jedoch begann man sich für sein Werk zu interessieren, was dazu führte, dass seine Schriften nach und nach übersetzt wurden und seine Gedanken Eingang fanden in die sozialwissen­ schaftlichen Disziplinen, in die Lehrpläne der Colleges und Universitäten und auch in die öffentlichen Debatten. Von den Fachveröffentlichungen abgesehen, ist es heute keine Seltenheit mehr, dass Weber in der Populär­ literatur in Erscheinung tritt, wie beispielsweise in John le Carrés Absolute Freunde, oder dass man seine Vorstellungen in Zeitungsartikeln, der Blogo­ sphäre oder an anderen Orten erwähnt findet wie etwa in der New York Review of Books, im New Yorker, im Atlantic Monthly oder im Chronicle of Higher Education. Während in den vergangenen Jahrzehnten die Texte von Karl Marx oder Sigmund Freud wichtige Bezugsquellen darstellten, scheint es einzig Alexis de Tocqueville in dieser Sphäre des öffentlichen Diskurses zu einem vergleichbaren Nachleben gebracht zu haben. Man darf wohl vermuten, dass Weber eine solche Entwicklung verblüfft hätte. Er für seinen Teil war nicht darauf aus, sich ein Ansehen dieser Art zu verschaffen, und weder er noch sonst jemand hätte diese Entwicklung in den 1920er Jahren für möglich gehalten. Eine wahre „Verkettung von Umständen“ – um mit Weber zu sprechen, sowohl von gewollten Resultaten als auch ganz zufäl­ ligen Ereignissen, oder von Interpretationen seiner Arbeiten, die Guenther Roth einmal treffend als „kreative Missdeutungen“ bezeichnete – hat zu diesem Erfolg geführt. Dass von Webers Schriften eine große Faszination ausgeht oder manche seiner Ideen – wie etwa Charisma und „charismatische Herrschaft“, Büro­ kratie und bürokratische Herrschaft oder die allgegenwärtige „Arbeits­ ethik“ – Bekanntheit erlangt haben, ist natürlich nicht zwangsläufig gleich­

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II. Teil: Das Werk in Amerika

bedeutend mit einem nachhaltig prägenden „Einfluss“ des Werks oder dessen „Paradigmen“-Status in den Fachdisziplinen wie der Soziologie und der Politikwissenschaft, die heutzutage von scheinbar unüberbrückbaren Diffe­ renzen, immer weitergehender Fragmentierung und Aufgliederung in Spezi­ albereiche gekennzeichnet sind. Selbst die Rede von einer ,erfolgreichen‘ Rezeption ist problematisch, weil es aufgrund der Vielschichtigkeit schwer einzuschätzen ist, inwiefern die heutigen Fachdisziplinen bei einem Vorläu­ fer wie Weber in der Schuld stehen. So ist es nicht verwunderlich, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Meinungen darüber gibt, was oder wie viel die sozialwissenschaftlichen Disziplinen – und die Soziologie im Besonde­ ren – Webers Werks tatsächlich zu verdanken haben. Manche meinten eine charakteristische „Weber’sche“ Sichtweise, ein eigenständiges „Weber’sches“ Paradigma oder Forschungsprogramm ausmachen zu können, derweil ande­ re mit solchen Behauptungen und Kategorien kaum etwas anzufangen wuss­ ten und sie entsprechend stark anzweifelten. Solche Unstimmigkeiten sind auf Wirrnisse an zwei Fronten zurückzuführen: Erstens herrscht Uneinigkeit in Bezug auf die Anwendung und den Gebrauch von Wörtern wie Rezep­ tion, Einfluss, Verbreitung oder Ausbreitung. Wenig präzise sind die Anga­ ben in der Frage, wann Behauptungen solcher ,Sachverhalte‘ als begründet gelten dürfen. Zweitens ist in den amerikanischen Fachdisziplinen nach wie vor umstritten oder unzulänglich dargestellt, worin Webers Beitrag als sol­ cher eigentlich besteht. Dieser Umstand ist sicherlich zum Teil der verwi­ ckelten Geschichte der Übersetzung und Eingliederung seines Werks in den sozialwissenschaftlichen Kanon und auch den Querelen über die Arbeitstei­ lung innerhalb der aufkommenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen selbst geschuldet. In einem ersten Schritt kann man festhalten, dass für die erfolgreiche Rezeption und Verbreitung von Webers Werk drei notwendige Bedingungen erfüllt sein mussten: die Herausbildung von Netzwerken aus Fachleuten für die Förderung und Aufrechterhaltung des Interesses an seinen Schriften; die Übersetzung und Veröffentlichung der wichtigsten Teile des Werks; und die ,Institutionalisierung‘ seines Denkens, seiner Forschungsprobleme und sei­ ner Begrifflichkeit in den Lehrplänen, Grundstudiumskursen und For­ schungsseminaren für Fortgeschrittene und Doktoranden an den amerikani­ schen Colleges und Universitäten. Neben diesen drei Bedingungen müssen zwei weitere Punkte Berücksichtigung finden, mit denen es im amerikani­ schen Zusammenhang eine besondere Bewandtnis hatte: der Bedarf der Disziplinen der neu entstehenden Sozialwissenschaften – insbesondere der Soziologie – in der modernen Forschungsuniversität und in einem fach­ lichen Kontext, in dem Webers Werk Antworten und Orientierung bereitzu­ halten schien; und eine bestimmte Resonanz oder Konvergenz von Webers Grundannahmen und Grundfragen mit den amerikanischen Verhältnissen



11. Die Entdeckung des Autors241

und mit Themen, die im gesellschaftlichen und intellektuellen Leben in Amerika von Bedeutung waren, darunter ein außerordentlich wirkmächtiges kulturelles Narrativ von Leistung und Buße. Der letzte Punkt ist nicht zu unterschätzen; eines der auffälligsten Merk­ male des Werks bestand darin, dass es sich ungewollt das elementarste der amerikanischen Narrative erschloss: die Möglichkeit, sich um einer besseren Zukunft willen vom alten Leben freizumachen – sein Selbst neu zu entwer­ fen, eine zweite Chance zu bekommen, für die Fehler der Vergangenheit zu büßen und sie wiedergutmachen zu können, nach einer endgültigen Versöh­ nung mit Gott und der Welt zu trachten. Weber beschrieb das Muster bis in die Einzelheiten, vor allem in der Protestantischen Ethik. Dem aufmerksa­ men Leser konnten die Zusammenhänge und Ähnlichkeiten nicht verborgen bleiben. Zu vertraut waren ihm die Charaktere. Das war eine Geschichte über uns selbst. Das kulturelle Narrativ war daher der eigentliche Ursprung der Aufmerksamkeit für Webers Texte und der Faszination für sein Werk. Forschernetzwerke Zum besseren Verständnis der Rezeption und Verbreitung von Webers Werk in der wichtigen Dekade der 1960er ist es nützlich, die Entwicklungen ins Auge zu fassen, die sich im Zentrum des amerikanischen Universitäts­ lebens und der intellektuellen Auseinandersetzung in den Sozialwissenschaf­ ten vollzogen haben, und genauso auch jene, die am Rande der etablierten Fachdisziplinen und Institutionen vonstatten gingen. Sie alle waren auf ihre Weise wichtig. Darüber hinaus müssen die maßgeblichen Gruppierungen [clusters] von Forschenden und Wissenschaftlern benannt und auseinander­ gehalten werden, die mit der Zeit das größere Netzwerk aus Akademikern, Lehrkräften und Intellektuellen bildeten, von denen die Kenntnisse über Weber weitergetragen wurden. Die Effektivität dieser Gruppierungen grün­ dete in ihrer Stellung innerhalb des amerikanischen Geisteslebens, in ihrem institutionellen Prestige, ihrer führenden Position in der Bildungspolitik und ihrer Rolle bei der Ausbildung und Unterstützung der Nachfolgegeneratio­ nen von Lehrkräften und Wissenschaftlern. Die Gruppierungen wirkten auch bei der Bildung einer größeren gebildeten Öffentlichkeit mit. Es mag sein, dass solche schematischen Verallgemeinerungen einen komplexen Zusam­ menhang über Gebühr vereinfachen, unserer Diskussion liefern sie dennoch hilfreiche Orientierung. Mit Blick auf die frühen Arbeiten zu Weber sind fünf Kerninstitutionen zu nennen: die University of Chicago, Harvard University, die University of Wisconsin, Columbia University und die New School for Social Re­ search – drei fest etablierte Privatuniversitäten, eine angesehene öffentliche

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Land-grant Universität und eine kleine neue städtische Einrichtung. Jede der unterschiedlichen Forscher-Gruppierungen, in denen intensive Diskus­ sionen geführt wurden, hatte in einer oder mehreren dieser Universitäten eine Basis. Die erste Gruppierung von Bedeutung, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in Erscheinung trat, bildeten die Wissenschaftler in Chicago und Harvard: Frank Knight in Ökonomie und Louis Wirth in Soziologie in Chicago, denen sich Edward Shils als Doktorand anschloss, und dann ab 1927 Talcott Parsons in Harvard. Zu diesem Quartett kamen noch Melchior Palyi und Alexander von Schelting, die ab 1933 an der University of Chi­ cago tätig waren, Palyi als Ökonomiedozent und Schelting als Stipendiat der Rockefellerstiftung. Und man sollte auch Edward Hartshorne dazuzäh­ len, Student bei Parsons und Doktorand in Chicago, der als eine Art Mittler wirkte und Schelting wieder an Parsons heranführte. Parsons war mit Schel­ ting bereits während seines Studiums in Heidelberg zusammengetroffen, und der wieder aufgenommene intellektuelle Austausch erwies sich als un­ gewöhnlich fruchtbringend, da Parsons gerade mit der Abfassung von The Structure of Social Action beschäftigt war, die 1937 veröffentlicht wurde. In diesem Kreis hatte Parsons seine Heidelberger Dissertation zu Weber, Sombart und dem Problem des Kapitalismus geschrieben und folglich kann­ te er sich aus mit den Debatten in der deutschen Gelehrtenwelt. Wirth wirkte in erster Linie als ein Aktivist in den Fachkreisen und als Dozent, und er betreute Shils sowie später Reinhard Bendix. Knights Interesse an Weber’schen Themen erreichte Mitte der 1930er Jahre seinen Höhepunkt, flaute dann aber ab, weil Knight sich stärker auf die Auseinandersetzungen in der Wirtschaftstheorie konzentrierte, und als er und Parsons von 1940 ab getrennte Wege gingen, trat er kaum noch in Erscheinung. Schelting schloss sich Howard Becker an der University of Wisconsin an, allerdings nur kurz, und wechselte dann als Dozent an die Fakultät der Columbia University. Von diesen Forschern beschäftigte sich keiner so nachhaltig und lange mit Weber wie Parsons und Shils, die seine Fackel bis ans Ende ihres Lebens trugen. Die zweite bedeutende Gruppierung, die die Übersetzungsarbeit maßgeb­ lich voranbringen wird, bildete sich um Hans Gerth, der 1940 an die Uni­ versität von Wisconsin kam. Gerth, der früher mit Karl Mannheim in Hei­ delberg und Frankfurt in Verbindung gestanden, dann in London im Exil gelebt hatte und sowohl mit Parsons als auch mit Shils freundschaftliche Verbindungen pflegte, war im Dezember 1937 erstmals in die USA gekom­ men für das jährliche Treffen der American Sociological Society in Atlantic City in New Jersey, wo er an den sogenannten „Flüchtlingsgesprächen“ teilnahm. Gerth brachte eine Fülle von Wissen über das soziologische Den­



11. Die Entdeckung des Autors243

ken mit: über den Mannheim-Kreis, zu dem er gehört hatte, sein Studienjahr bei Harold Laski an der London School of Economics und die Auseinan­ dersetzungen mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und anderen am Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Nach einigen befristeten Lehrauf­ trägen, die teilweise durch Shils Unterstützung zustande gekommen waren, zog Gerth Howard Beckers Aufmerksamkeit auf sich und kam nach Madison in Wisconsin mit dem unseligen und zweifelhaften Aufenthaltstitel enemy alien, „feindlicher Ausländer“. Seine glänzenden Begabungen und sein Lerntempo fielen bald zwei ambitionierten graduate students in Soziologie auf, C. Wright Mills und Don Martindale. Letzterer erinnert sich an das Zusammentreffen: Die Mehrzahl der Studenten hatte die Vorlesung mit einer Mischung aus Fas­ sungslosigkeit und Frustration aufgenommen. Sie saßen da, mit den geöffneten Heften vor sich, die Stifte bereit, und merkten, dass etwas Bedeutsames vor sich ging, doch sie konnten keinen Anfang finden und auch keinen Haltepunkt – es gab einige, die rein gar nichts aufzuschreiben vermochten. Ein kräftig gebauter junger Mann aber, der in meiner Nähe saß, hatte offensichtlich keine Probleme. Er verfolgte die Vorlesung mit wachem, strengem, taxierendem Blick, ließ sich zugleich aber kein Wort, keine Geste entgehen und machte sich mit großer Ge­ schwindigkeit Notizen. Auf dem Weg nach draußen liefen wir nebeneinander. Ich sagte zu ihm, dass das die außergewöhnlichste Vorstellung gewesen wäre, die ich je erlebt hätte. Worauf er [Mills] erwiderte, dass Gerth der einzige in diesem Fachbereich sei, dem zuzuhören sich lohne.

Diese Episode ließ bereits das Beziehungsmuster und die Rollenvertei­ lung in dieser dynamischen Dreierkonstellation erkennen, aus der sich zwei ungewöhnliche und produktive Partnerschaften entwickelten. Nach einem kurzen Arbeitsaufenthalt an der University of Maryland zog es Mills in der Folge weiter zur Columbia University, wo Robert Merton und Theodore Abel seine Kollegen waren, während Martindale eine lange Laufbahn an der University of Minnesota vor sich hatte. Die dritte, jedoch eher lose verknüpfte Gruppierung, die erwähnt werden muss, setzte sich aus Gelehrten und Wissenschaftlern zusammen, die in den 1930er Jahren emigrierten – vor allem aus jenen, die in New York mit der New School for Social Research, wo Webers Arbeiten ausgiebig zitiert und diskutiert wurden, in Verbindung standen, etwa Emil Lederer, Albert Salo­ mon oder Hannah Arendt. Zwischen diesen emigrierten Wissenschaftlern und den eben angeführten Gruppierungen gab es zwangsläufig gewisse Überschneidungen, wofür Hans Gerth das beste Beispiel war. Als Spätan­ kömmlinge befanden sich diese Intellektuellen in der Regel eher am Rand der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, auch weil sie weder über amerika­ nische Wurzeln verfügten noch über starke institutionelle und fachliche Verbindungen in die Vereinigten Staaten. Zudem waren sie weit verstreut, was in erster Linie an dem staatlichen Universitätssystems lag – Paul Ho­

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II. Teil: Das Werk in Amerika

nigsheim zum Beispiel befand sich an der Michigan State University, Arthur Salz an der Ohio State University, Eric Voegelin an der Louisiana State University und an der University of Alabama und Karl Loewenstein an der University of Massachusetts. Manche von ihnen wurden allerdings später von renommierten Einrichtungen angeworben, Franz Neumann etwa von der Columbia University oder Leo Löwenthal von der University of Cali­ fornia-Berkeley. So verstreut und randständig angesiedelt diese Forscher auch waren, sie trugen dennoch das Ihre dazu bei, dass die Kenntnisse von Webers Werk weitere Verbreitung fanden, als es sonst der Fall gewesen wäre, insbesondere an den regionalen öffentlichen Universitäten. Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, bildeten sich innerhalb dieses Netzwerkes und seiner drei Hauptgruppierungen von ambitionierten Wissen­ schaftlern nach und nach Muster des Mit- und Gegeneinanders, der Zusam­ menarbeit und der Rivalität in Bezug auf Weber und sein Werk heraus. In manchen Fällen wurden Kenntnisse und Texte geteilt, es kam aber auch zu Unstimmigkeiten in Deutungsfragen und zu Streit über den Zugriff auf Texte, wobei die Frage der Beherrschung des Deutschen als Kontrollinstru­ ment fungierte, doch auch Anlass zu Unstimmigkeiten und Kritik war. Man stritt sich aber auch um ,Vorrechte‘, wie so oft in der Wissenschaft, und konkurrierte um die informellen ,Rechte‘ an den Übersetzungen. Die von Miteinander wie Konkurrenz geprägte Situation wurde noch unübersicht­ licher dadurch, dass die Weberkenntnisse und die Übersetzung seines Werks auf zwei unterschiedlichen Ebenen voranschritten: auf der Ebene des allge­ mein zugänglichen Diskurses über sein Denken, der sich aus dem veröffent­ lichten, urheberrechtlich geschützten Werk speiste; und auf der Ebene der privat oder halböffentlich hervorgebrachten Texte und gewonnenen Kennt­ nisse, auf die nur eine ausgewählte Leserschaft Zugriff hatte und die eine Art verborgene oder ,flüchtige‘ Literatur entstehen ließen. Es gibt nur eine Person, die sich von den Vertretern dieser Gruppierungen abhob und einen Sonderfall darstellte: Lowell Bennion, ein Mann, an den sich kaum jemand erinnert, wenngleich er mit Becker und Schelting korres­ pondierte und Parsons seine Arbeiten kannte. Bennion hatte bei Eric Voege­ lin in Wien studiert, und dort machte er auch mit Webers Werk Bekannt­ schaft. 1933 veröffentlichte er sein erstes Buch zu Max Weber, Max Webers Methodology, eine kenntnisreiche Erörterung, die er als Dissertation bei Maurice Halbwachs an der Université de Strasbourg verfasst hatte, der We­ ber in Frankreich bekanntzumachen half. Zurück in den Vereinigten Staaten war Bennion auf die Suche nach einer akademischen Heimat in der Sozio­ logie gegangen, und weil er die in den Jahren der Depression nicht finden konnte, nahm er stattdessen eine Verwaltungsstelle in der Mormonenkirche an, wo er sich um die Reformierung und Liberalisierung ihrer Praktiken bemühte, im Geiste, wie er meinte, von Webers Rechtschaffenheit und sei­



11. Die Entdeckung des Autors245

ner Verteidigung des Individuums gegen die autoritäre Herrschaft. Nachdem er sich aus Enttäuschung zurückgezogen hatte, trat Bennion in den 1960er Jahren an der University of Utah wieder in Erscheinung und kehrte nach einem Jahrzehnt zu seiner ersten Liebe zurück; in Utah veranstaltete er je­ des Jahr ein Seminar zu Weber, das gut angenommen wurde und auf die Vorstellung einer neuen Generation von Studenten einwirkte. Bennions an sich schon bemerkenswerte intellektuelle Reise illustriert noch dazu einen ganz wichtigen Aspekt an den wissenschaftlich-akademischen Netzwerken: Sie zeigt das Muster der Beschäftigung mit dem Werk, das für die gesamte Forschergeneration, die in den späten 1920er und den 1930er Jahren auf den Plan trat, kennzeichnend war. Die Übersetzungsgeschichte Diese allgemeinen Darstellungen lassen sich im Veröffentlichungsver­ zeichnis anschaulich nachvollziehen. Über etwas mehr als drei Jahrzehnte sind bis 1960 elf Haupttexte von Max Weber ins Englische übertragen worden, sie alle durch sechs Wissenschaftler, die den Mittelpunkt dieser Netzwerke bildeten: Knight, Parsons, Shils, Gerth, Mills und Martindale – ein Ökonom und fünf Soziologen –, nur gelegentlich wurden andere Spezi­ alisten hinzugezogen (siehe Tabelle 1). Dazu kamen noch ein paar kürzere Webertexte, die gesondert als Artikel oder Kapitel veröffentlicht wurden: „Class, Status and Party“ [„Klassen, Stände, Parteien“ aus Wirtschaft und Gesellschaft] und eine Auswahl über Bürokratie und Charisma aus Wirtschaft und Gesellschaft sowie „The Hindu Social System“ aus Webers Religionssoziologie. Durch diese Übersetzungen standen der englischsprachigen Leserschaft nach mehr als drei Jahrzehnten schließlich alle von Max Webers Gesammelten Aufsätzen zur Religions­ soziologie zur Verfügung; dazu einige Teilstücke von Wirtschaft und Gesellschaft; große Bereiche der Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre; und diverse andere Texte wie etwa die beiden maßgeblichen Vorträge „Sci­ ence as a Vocation“ und „Politics as a Vocation“ und natürlich Knights Fassung der Wirtschaftsgeschichte, wenn das Publikum auch auf Webers begriffliche Vorbemerkung verzichten musste. Diese Texte erschienen ohne klares Verständnis von der Abfolge der Arbeiten und dem Werkzusammen­ hang – ein Umstand, den die Übersetzer-Autoren selbst beklagten und der ein bedauerliches Durcheinander zur Folge hatte, das bis heute fortbesteht, speziell in der Religionssoziologie. Das Hauptprojekt, das von dieser Übersetzungswelle nicht erfasst worden war und unerledigt blieb, war natürlich der vollständige Text von Wirtschaft und Gesellschaft, der 1968 von Guenther Roth und Claus Wittich in drei

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II. Teil: Das Werk in Amerika Tabelle 1 Max Webers Werk in englischer Übersetzung: die Hauptveröffentlichungen 1927–58

Jahr

Titel

Übersetzer

1927

General Economic History

Frank Knight

1930

The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism (GARS 1:1–206)

Talcott Parsons

1946

From Max Weber: Essays in Sociology

Hans Gerth und C. Wright Mills

1947

The Theory of Social and Economic Organization (EaS, Teil 1, Kap. 1–4)

A. M. Henderson und Talcott Parsons

1949

The Methodology of the Social Sciences (GAW, 146–290, 451–502)

Edward Shils and Henry Finch

1951

The Religion of China: Confucianism and Taoism (GARS 1:276–536)

Hans Gerth

1952

Ancient Judaism (GARS 3)

Hans Gerth und Don Martindale

1954

On Law in Economy and Society (EaS, Teil 2, Kap. 8)

Max Rheinstein und Edward Shils

1958

The Religion of India (GARS 2)

Hans Gerth und Don Martindale

1958

The City (EaS, Teil 2, Kap. 16)

Don Martindale und Gertrud Neuwirth

1958

The Rational and Social Foundations of Music

Don Martindale, Johannes Riedel und Gertrud Neuwirth

Bänden herausgebracht wurde und zu großen Teilen auf den früheren Teil­ übersetzungen beruhte, darunter Parsons einflussreiche Fassung des I. Teils, The Theory of Social and Economic Organization (1947). Die sehr umfang­ reiche Einführung der Herausgeber und die Aufnahme als Appendix eines Großteils des zu Kriegszeiten verfassten Aufsatzes „Parlament und Regie­ rung im neugeordneten Deutschland“ (1917) [„Parliament and Government in an Reconstructed Germany“] rückte Webers Werk in einen größeren geistigen und politischen Zusammenhang. Seither sind weitere Einzelarbei­ ten erschienen, mit denen die Textlücken Stück für Stück geschlossen wer­ den sollten: in der Hauptsache Webers Dissertation über die Handelsgesell­ schaften im Mittelalter, seine Aufsätze zu Russland, die Debatten mit Karl Fischer und Felix Rachfahl über die These der „Protestantischen Ethik“, seine Kommentare zu den Hochschulen, die Abhandlungen zu den Aktien-



11. Die Entdeckung des Autors247 Tabelle 2 Frühe Übersetzungen von Webers Arbeiten in Maschinenschrift, vervielfältigter Kopie oder als Mikroform Jahr

Titel

Übersetzer

ca. 1934–35

•  „Objectivity in Social Science and Social Policy“ (GAW, 146–214)*

Edward Shils

•  „The Meaning of Ethical Neutrality“ (GAW, 451–502)* •  „Critical Studies in the Logic of the Cultural Sciences“ (GAW, 215–90) •  „Roscher and Knies“ (GAW, 1–145) •  „Critique of Stammler” (GAW, 291–357) •  „Science as a Vocation“ (GAW, 524–55)* •  „Politics as a Vocation“ (GPS, 493–548)* •  „Socialism“ (GASS, 492–518) •  „The Reichspraesident“ (GPS, 486–89) •  „Parties“ (aus EaS, Teil 2, Kap. 3)* •  „Classes, Estates, Parties“ (aus EaS, Teil 2, Kap. 9)* ca. 1935

„Sociology of the Press and Associa­ tions“ (DGS 1910, in GASS, 431–49)

Everett Hughes

1937–38

Economy and Society, Teil 1, Kap. 1 (Soziologische Grundbegriffe)

Alexander von Schelting und Camilla Kample; Edward Shils und Alexander von Schelting; Talcott Parsons

1938

Sociology of Law (EaS, Teil 2, Kap. 8)

(Frank Knight), Edward Shils

1939

Economy and Society, Teil 1, Kap. 1–4

A. M. Henderson, Talcott Parsons

ca. 1940

„Politics as a Vocation“ (teilweise)

Gabriel Almond

*  Texte, die 1939 durch die University of Chicago als Pflichtlektüre für den im zweiten ­Studienjahr (sophomore) obligatorischen sozialwissenschaftlichen Übersichtskurs eingeführt wurden.

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II. Teil: Das Werk in Amerika

und Produktenbörsen, die ausführlichen Handbuchartikel zu den Agrarver­ hältnissen im Altertum und die restlichen Aufsätze über methodologische Fragen in den Sozialwissenschaften, die von Edward Shils und Henry Finch ausgelassen worden waren. Diesen Veröffentlichungen mögen Abstimmung und Zusammenhang gefehlt haben, dennoch erweiterten und vertieften sie den Einfluss- und Wirkungsbereich von Webers Ideen. Festzuhalten bleibt, dass die klare und übersichtliche Anordnung der frü­ hen Aktivitäten insofern ein wenig täuscht, als die tatsächliche Geschichte dieser Übersetzungen und deren Verfügbarkeit viel komplizierter ist, als es vielleicht scheint. Nach der Veröffentlichung von Parsons Fassung der Protestantischen Ethik im Jahre 1930 wurden über das nächste Jahrzehnt ver­ teilt etliche Übersetzungsanläufe unternommen. Shils begann seiner eigenen Darstellung zufolge damit, verschiedene Texte zu übersetzen; am Ende seiner Bemühungen hatte er mindestens elf Texte fertiggestellt, die haupt­ sächlich aus der Wissenschaftslehre stammten, aber auch zwei Auszüge aus Wirtschaft und Gesellschaft und drei politische Schriften (siehe Tabelle 2). Shils erinnert sich an seine Beweggründe und hält rückblickend fest: Schwer zu sagen, warum ich mit der Übersetzung der Aufsätze aus der Wissenschaftslehre begonnen habe. Vielleicht war ich schlichtweg zu faul, selbst etwas Ernsthaftes zu schreiben. Um die Wahrheit zu sagen, ich verehrte diese Schriften. Ich konnte nie verstehen, weshalb die Leute Max Weber für einen obskuren und schwierigen Autor hielten, außer was die Auffassung des Sinns anbelangte – die fand und finde ich nach wie vor unbefriedigend! Alles andere war mitunter zwar sehr schwer zu bewältigen, doch immer wenn das gelang, fühlte man, dass ein Problem gelöst war. Es war sehr schön zu erleben, wie die Teile sich zueinander fügten. […] Ich habe diese Schriften Max Webers aus keinem besonderen Grund übersetzt. Es gab keine Absprachen oder Pläne zu ihrer Veröffentlichung; ich tat es einfach. (ESP)

Shils war nicht allein mit seinem Enthusiasmus. Everett Hughes übersetz­ te Webers Geschäftsbericht auf dem Ersten Deutschen Soziologentag mit dessen Anregungen zu einer Soziologie des Zeitungs- und Vereinswesens; der Politikwissenschaftler Gabriel Almond versuchte sich an „Politik als Beruf“; und etliche andere Personen nahmen sich Teile von Wirtschaft und Gesellschaft vor und übersetzten sie: Schelting tat sich mit Camilla Kamp­ le zusammen, um an dem berühmten ersten Kapitel zu arbeiten, setzte dieses Projekt dann gemeinsam mit Shils fort und reichte ihrer beider Arbeit auf Parsons Wunsch hin an diesen weiter, der gerade über Alexander M. Hendersons Textentwurf der ersten beiden Kapitel saß und ihn bearbeitete. Am meisten von allem überrascht, dass Frank Knight 1938, während er von der Lehre freigestellt war, einen Doktoranden angeheuert hatte, damit dieser



11. Die Entdeckung des Autors249

das Rechtssoziologie-Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft übersetzte, von dem eine Rohfassung an Shils ging und später an den Rechtsprofessor an der University of Chicago Max Rheinstein, wodurch sie den Ausgangspunkt bildete für die Veröffentlichung von 1954 unter dem Titel On Law in Eco­ n­omy and Society. Welche Verwendung fanden diese Texte? Die Textlage ist nicht völlig geklärt, und es lässt sich auch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es aus­ schließlich die genannten Arbeiten waren, die Webers Schriften eine Art unterirdisches Asyl verschafften. Zwei Beispiele mögen das illustrieren: Marianne Weber, die mit Frank Knight in brieflichem Austausch stand, hielt in einem ihrer Schreiben an ihn fest, dass „der Verlag [Mohr Siebeck] und ich einem Amerikaner [schon vor Jahren] die Erlaubnis zur Übersetzung der soziologischen Begriffslehre (1. Teil [von Wirtschaft und Gesellschaft]) er­ teilt [haben]: ich habe damals eine Einleitung dazu geschrieben. Aber der Übersetzer fand offenbar keinen Verleger, die Arbeit ist nie erschienen.“ (13. März 1937; FKP) Edith Hanke zufolge weist das Mohr Siebeck-Archiv den mysteriösen Übersetzer als den bekannten amerikanischen Soziologen George Simpson aus. Shils erinnerte sich, dass er zu seiner Zeit als Wirths Forschungsassistent einige seiner eigenen Übersetzungen an einen nicht namentlich genannten Freund verliehen hatte, der daraufhin zusätzliche Kopien anfertigte und diese unter Graduiertenstudenten in Umlauf brachte, was den stets vorsichtigen Shils derart beunruhigte, dass er seine Überset­ zungen zurückforderte! Das Interesse an diesen Materialien nahm fraglos zu, als Knight 1936 sein Seminar zum deutschen Text von Wirtschaft und Gesellschaft veranstal­ tete, das von Shils und einer Hand voll anderer Knight-Anhänger besucht wurde, unter denen sich Shils Erinnerung nach zumindest zeitweilig auch Milton Friedman befand. Die Seminarvorbereitungen veranlassten Knight Parsons, nach dessen weiteren Plänen in Bezug auf Weber zu fragen: Wie [Melchior] Palyi mir gerade mitgeteilt hat, sind Sie dabei, Wirtschaft und Gesellschaft zu übersetzen. Ich dachte mir, ich könnte Ihnen schreiben und Sie fragen, ob es sich tatsächlich so verhält. Ich veranstalte gerade ein Seminar zum Werk (soweit wir kommen!) und mir schwebt vor, das beste auf Englisch verfüg­ bare Material bereitzustellen und dabei müsste es sich meiner Ansicht nach nicht um eine vollständige & geschlossene Übersetzung handeln. Mich würde ohnehin interessieren, welche Pläne Sie haben und wie weit diese fortgeschritten sind, und vor allem, ob Sie einen größeren Teil davon als abgetipptes Manuskript vorliegen haben und ob Sie uns dieses überlassen würden, nur damit wir schneller voran­ kommen können. Es wäre auch dann hilfreich, wenn es noch nicht fertig wäre; ich könnte Kopien davon anfertigen lassen und vielleicht ein paar Vorschläge machen zu den spezifisch ökonomischen Fragen. Und daran anknüpfend: wie sieht es mit den Aufsätzen zur Wissenschaftslehre aus? Ich habe mir „überlegt“, auch etwas zu einigen von ihnen zu machen. (13. April 1936; TPP)

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Palyi war falsch informiert, was Parsons Vorhaben in dieser Phase anbe­ langte; die Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft ging er drei Jahre später an. In seiner Erwiderung auf Parsons enttäuschende Antwort bemerkt Knight: „Ich hatte mit ein paar Studenten bereits vereinbart, es auf den Versuch ankommen zu lassen und Teile daraus grob zu übersetzen, von denen ich hoffe, dass ich sie in meinem Unterricht in ökonomischen Zusam­ menhängen verwenden kann“ (1. Mai 1936; TPP). Im Bestreben, die Über­ setzungen als Unterrichtshilfsmittel einzusetzen, hatte Knight bereits die Gelegenheit ergriffen und Parsons auf einen seiner Übersetzungsanfänger aufmerksam gemacht: „Es gibt hier einen Jungen in Soziologie [Edward Shils], der arbeitet gerade an einem Buch mit Weberauszügen für ein grö­ ßeres Publikum. Haben Sie von ihm gehört?“ (13. April 1936; TPP) Auf diese saloppe Weise wurde Talcott Parsons mit Edward Shils bekanntge­ macht. Knights Erkundigung ist auch der früheste Hinweis auf Shils Ab­ sichten, lange bevor er sich mit Gerth und Mills um Vorrechte stritt. Trotz seiner instinktiven Vorsicht ließ Shils einige Übersetzungen unter seinen Kollegen zirkulieren, Hans Gerth eingeschlossen. Als die Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft fertig vorlagen, hat Parsons sich offenbar groß­ zügig gezeigt; er vertraute die Ausarbeitungen und auch eine Mikrofilmko­ pie davon zumindest Howard Becker, Robert Merton und Eric Voegelin an (nicht zu vergessen Shils und Schelting, von deren Arbeit er Gebrauch ge­ macht hatte), und wie es scheint, haben sie allen ihren Studenten ermöglicht, Einblick in die Texte zu nehmen. Beckers Position an der University of Wisconsin dürfte für die Gewinnung eines neuen und einflussreichen Pub­ likums – außerhalb der etablierten Kreise in Chicago und Harvard – beson­ ders nützlich gewesen sein. Das wichtigste Resultat all dieser Geschehnisse war zweifellos die in Chicago diskutierte Reformierung des sozialwissenschaftlichen Lehrplans für das Grundstudium am College (die ersten beiden Jahre der universitären Ausbildung), die von dem berühmten Bildungsadministrator und Universi­ tätspräsidenten Robert Hutchins vorangebracht wurde. Frank Knight hatte sich mit dem Thema bereits 1936 auseinandergesetzt und Parsons gegenüber angemerkt, dass „hier oft die ,Rede‘ geht, man müsse der zunehmenden Spezialisierung entgegenwirken und sie überwinden. Wenn die betreffenden Personen es ernst mit dem meinen, was sie sagen, so sollte dieses Anliegen, die Studenten mit den Materialien Max Webers auszustatten, meinem Da­ fürhalten nach zu einem wichtigen Punkt im aktuellen Programm gemacht werden“ (1. Mai 1936; TPP). Knight meinte, das Klima sei günstig, um mit der Unterstützung des Anthropologen Robert Redfield, der damals als De­ kan der Sozialwissenschaften wirkte, etwas zu erreichen. Und tatsächlich wurden drei Jahre später sechs Webertexte, die Shils übersetzt hatte und die für den studentischen Gebrauch vervielfältigt worden waren, in den allge­



11. Die Entdeckung des Autors251

meinen Unterrichtslehrplan für die Studenten im zweiten Studienjahr für den sozialwissenschaftlichen Pflichtgrundkurs aufgenommen. Bei den Chicago-Reformen handelte es sich um die erste wirkliche ,Ins­ titutionalisierung‘ von Webers Denken an einer amerikanischen Universität. Wegen Chicagos großer Bedeutung für die amerikanische Hochschulbildung ging von ihnen eine Art Vorbildwirkung auf die nachfolgenden Neuerungen im Unterrichts- und Lehrplanbereich aus. An der Universität selbst hinter­ ließ die Einbindung von Webers Texten Spuren bei Studenten wie Reinhard Bendix, der als undergraduate Webers Originalbeiträge im Archiv las, und sie bot den vom College eingestellten Lehrkräften – unter ihnen Daniel Bell, Milton Singer, Morris Janowitz und David Riesman – Gelegenheit zu Forschung und Studium. Dass Max Weber an der amerikanischen Universität und darüber hinaus als ein Denker hervortreten konnte, der Aufmerksamkeit verdiente – der es wert war, dass man ihn übersetzte, sich in Graduiertenkollegs mit ihm be­ schäftigte, ihn im Grundstudium lehrte und in öffentlichen Foren zitierte –, war jedoch keineswegs selbstverständlich. Wie kam es dazu und was waren die Gründe für seine wachsende Bekanntheit? Die Fachdisziplinen Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt und wie zu einem Puzzle zusammengefügt werden. Als Webers Werk in den 1920er Jahren die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen begann, geschah das nicht von ungefähr an der Universität von Chi­ cago, der Heimat eines der ältesten Soziologie-Departments in den Verei­ nigten Staaten und der ältesten Soziologie-Zeitschrift der Welt, dem American Journal of Sociology. Bis dahin hatte die frühe amerikanische Soziolo­ gie des Mittleren Westens nicht Weber, sondern Georg Simmel Beachtung geschenkt. Albion Small, der Vorsitzende des Chicagoer Departments, hatte neun von Simmels Aufsätzen übersetzt und zwischen 1896 und 1910 im American Journal of Sociology veröffentlicht. Im Unterschied dazu erschien vor 1927 nur ein einziger größerer Weber-Aufsatz auf Englisch: sein 1904 gehaltener Vortrag auf dem Congress of Arts and Science in St. Louis, tief vergraben freilich in den Konferenzberichten. Erst unlängst hat man heraus­ gefunden, dass auch zwei kurze Beiträge unter Webers Namen in englischer Übersetzung in der Encyclopedia Americana von 1907 / 8 erschienen sind – zwei kleine Abhandlungen, die fast ein Jahrhundert lang unbemerkt blieben. Es ist schwer vorstellbar, dass Small als einem der Organisatoren des St. Louiser Kongresses und Gastgeber von Weber und den anderen Delegierten aus Europa, die Chicago zuvor schon einen Besuch abgestattet hatten, We­

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II. Teil: Das Werk in Amerika

bers damals und später erschienene Arbeiten entgangen sein sollten, wie etwa die wichtige „Objektivitäts“-Abhandlung oder Die protestantische Ethik. Dennoch kam es in diesen frühen Jahrzehnten zu keinem Überset­ zungsprojekt, und es bildete sich auch keine engagierte Leserschaft heraus. Dass sich die Dinge zu Webers Gunsten wandelten, hing auch mit der zunehmenden Verfügbarkeit seiner Texte in Deutschland zusammen, zu der Marianne Weber und andere wie etwa Oskar Siebeck und Melchior Palyi ihren Beitrag geleistet hatten. Daneben spielte das wachsende Interesse in Chicago an den methodologischen Grundlagen der Sozialwissenschaft und großangelegten Vergleichsstudien eine Rolle, wo man in gewissen Kreisen die Geduld verlor mit der Beschränkheit und Trivialität der enggefassten, unsystematischen, atheoretischen und rein deskriptiven Darstellungen. In ihren rückblickenden Bewertungen aus den 1960er Jahren bestätigten so­ wohl Hugh Duncan als auch Irving Horowitz die ehedem „ziemlich be­ schränkte Welt der amerikanischen Sozialwissenschaft“ und die dramati­ schen Nachkriegsentwicklungen, die auch mit der Verfügbarkeit preiswerter sozialtheoretischer Übersetzungen in Zusammenhang standen und mit We­ bers Rolle als einer Alternative zum reinen Lokalismus und Provinzialismus und als ein „kosmopolitischer“ Gelehrter, der „die Dinge aus einer globalen historischen Perspektive betrachtet“. Diese Sicht setzte sich bei den Schlüs­ selgestalten in Chicago früher durch. So insistierte beispielsweise Wirth in seiner 1926 verfassten Übersicht über die modernen soziologischen Auffas­ sungen in Deutschland, Weber sei „der bekannteste und sicherlich auch der meistzitierte Soziologe in Deutschland“; anerkennend äußerte er sich über dessen Arbeit in der vergleichenden Religionssoziologie und seine Bemü­ hungen, die Sache der Wissenschaft voranzubringen und der Soziologie zu einer Definition ihres Gegenstands und ihrer Methodologie zu verhelfen. Wie zur Bestätigung der Äußerung seines Kollegen zu Webers Bedeutung veröffentlichte Knight im darauffolgenden Jahr seine Übersetzung der Wirtschaftsgeschichte, Webers nachgelassene Vorlesungen, die Hellmann und Palyi 1923 herausgebracht hatten, und übersetzte auch deren Vorbemerkung. Wirth, der 1911 als Jugendlicher selbst immigriert war und fließend Deutsch sprach, dürfte die Entwicklungen auf dem Kontinent sicherlich mit Interesse verfolgt haben, wenngleich er hauptsächlich zu den amerikani­ schen Städten und zur Sozialpolitik forschte. Er spielte zudem eine wichtige Rolle als Dozent und Organisator und war eine bedeutende öffentliche Gestalt. Knight wiederum galt als sachkundiger Wirtschaftstheoretiker und Kritiker der Institutionenökonomik; zu Weber zogen ihn seine eigenen viel­ seitigen Interessen an methodologischen Fragen, den sozialen Zusammen­ hängen des ökonomischen Handels, den Verwendungen und Grenzen der analytisch-theoretischen Methoden zum Verständnis des Homo economicus und an den Kennzeichen und Ursprüngen von modernem Kapitalismus und



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Marktwirtschaft. Obgleich religiös „unmusikalisch“, wie Weber sich selbst einmal charakterisierte, war auch Knight durch seine evangelikale Erzie­ hung von der Religion und ihren sozioökonomischen Auswirkungen faszi­ niert. Er muss eine gewisse Geistesverwandtschaft zu Weber empfunden haben. Knight war außerdem Germanist und hatte seine Magisterarbeit an der University of Tennessee zu Gerhard Hauptmann verfasst. Aufgrund seiner hervorragenden Deutschkenntnisse übersetzte er die Wirtschaftsgeschichte allein und holte sich bloß hin und wieder fachliche Hilfe bei sei­ nem früheren Lehrer, dem Wirtschaftshistoriker A. P. Usher. Weil Allyn Young, der Doktorvater seiner Wirtschaftsdissertation in Harvard, ihn dazu ermutigte, brachte Knight seine Übersetzung in dem New Yorker Kleinver­ lag Greenberg in dessen ökonomischer Schriftenreihe Adelphi heraus. Diese eigenständig erbrachte Leistung ließ Oskar Siebeck auf Knight als einen möglichen Übersetzer für die Protestantische Ethik aufmerksam werden, auch wenn es nie eine offizielle Anfrage gab und Knight selbst nicht daran gelegen war, die Verantwortung für eine zweite Übersetzung auf sich zu nehmen. Als Parsons sich nach Knight erkundigte, tat er das bei dessen Chicagoer Ökonomiekollegen Paul Douglas, und das war der Beginn einer mehr als ein Jahrzehnt währenden fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen den beiden Wissenschaftlern. Dass Wirth sich auf Weber als einen Soziologen bezog, und nicht als Wirt­ schaftswissenschaftler oder -historiker, war eine bedeutsame Entscheidung, denn sie spiegelte Veränderungen wider, die sich in den sozialwissenschaft­ lichen Disziplinen in Chicago vollzogen hatten, speziell die Trennung der Soziologie von der Ökonomie, der etwas später weitere Ausdifferenzierungen folgten, als etwa Soziologie und Anthropologie und Politikwissenschaft und Geschichte voneinander abgegrenzt wurden. Das aufkommende und von me­ thodologischen Fragen befeuerte Interesse an der Rolle Webers in der Sozio­ logie fand seinen Niederschlag in Theodore Abels Systematic Sociology in Germany (1929). Die Veränderungen in den Fachdisziplinen machten sich Ende der 1920er und Anfang der 30er Jahre tatsächlich auch an den großen amerikanischen Lehr- und Forschungsuniversitäten allgemein bemerkbar. Was Harvard angeht beispielsweise, sollte man sich daran erinnern, dass Tal­ cott Parsons zunächst als Tutor in der Wirtschaftswissenschaft angestellt war (1927–30) und dann als Lehrkraft in der Soziologie, die als ein neues Depart­ ment aus dem Committee on Sociology and Social Ethics (bestand nur 1931) hervorgegangen war, inmitten einer Debatte darüber, ob sie überhaupt als ei­ ne sozialwissenschaftliche Fachrichtung betrachtet werden sollte. Die Verän­ derung im Gefüge der Fächer, deren Grenzen an den amerikanischen Univer­ sitäten im Allgemeinen stärker betont wurden als an den europäischen Ein­ richtungen, erlaubte bzw. begünstigte sogar die Angliederung von Webers Werk an manche der neu aufkommenden Fragestellungen.

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II. Teil: Das Werk in Amerika

In dieser Übergangsphase innerhalb der Wirtschaftswissenschaft – die Wirtschaftsgeschichte hatte der Wirtschaftstheorie da bereits einen Teil des Feldes überlassen müssen – fand Webers Wirtschaftsgeschichte vermutlich keinen sonderlichen großen Anklang. Dennoch trugen diese späten Vorle­ sungen ihren Teil zur Diskussion des Kapitalismus und der Art von ,Ratio­ nalität‘ bei, die mit der Kapitalakkumulation und den Marktverhältnissen einherging. In einem Artikel, in dem Knight einen Theorienvergleich zwi­ schen Sombart und Weber zum „modernen Kapitalismus“ anstellte – und damit dasselbe Thema in kurzer Form behandelte, über das Parsons seine Dissertation verfasst hatte –, strich er die Bedeutsamkeit der Entdeckung durch diese beiden Ökonomen heraus, die Entdeckung dessen, was er die „quantitative Rationalität als eine Phase des modernen Denkens“ nannte; heute wird diese Auffassung von Jürgen Habermas und anderen üblicher­ weise als „instrumentelle“ Rationalität verhandelt. Im Rahmen einer Kurz­ darstellung der Debatte über die „protestantische Ethik“ fasste Knight zu­ sammen, worin für ihn Webers Bedeutung bestand: Was immer man von seiner Theorie des Puritanismus hält, in einer Hinsicht über­ ragt Max Weber zweifelsohne all die anderen erwähnten Autoren; er ist der Ein­ zige, der sich wirklich mit der Frage der Ursachen auseinandersetzt oder sich dem Stoff aus dem Blickwinkel heraus zuwendet, aus dem allein sich eine Antwort auf solche Fragen finden lässt, das heißt aus der Perspektive des geschichtlichen Ver­ gleichs im weiteren Sinne. Mir scheint, dass die Frage nach dem Ursprung des Kapitalismus gewinnen würde, wenn man sie in negativer Form stellte: Warum entstand der Kapitalismus nicht (was genau wirkte seiner möglichen Herausbil­ dung entgegen) zu anderen Zeiten und an anderen Orten als im westlichen Euro­ pa der Moderne? Und vor allem, warum kam es in den antiken und klassischen Zivilisationen zu keiner Entwicklung, die derjenigen in der modernen Zeit ver­ gleichbar gewesen wäre? Max Weber geht diesen Fragen nach. Bei seiner Wirtschaftsgeschichte handelt es sich um einen reinen Abriss, der bloß in einem re­ daktionellen Flickwerk aus studentischen Vorlesungsmitschriften zu haben ist, doch in dieser grundlegenden Hinsicht ist er eine Klasse für sich.

Es war in diesem Geiste, dass Weber damals als Ökonom und Wirt­ schaftshistoriker gelesen wurde. Selbst als Ökonomiedozent befasste Knight sich später in seinem WeberSeminar nicht mit wirtschaftsgeschichtlichen Themen und dem Wesen und den Wurzeln des Kapitalismus, sondern mit Wirtschaft und Gesellschaft. Inzwischen hatte sich die Perspektive gewandelt und es war der ,interdiszi­ plinäre‘, der die sozialwissenschaftlichen Disziplinen umgreifende Weber, dem jetzt die Aufmerksamkeit galt. Knights Seminar von 1936 entwickelte sich zu einer intensiven intellek­ tuellen Auseinandersetzung und für einen Enthusiasten wie Shils zu einer nachhaltig prägenden Erfahrung:



11. Die Entdeckung des Autors255 Wir lasen größere Teile von Wirtschaft und Gesellschaft, Zeile für Zeile, äußerten uns zum Gelesenen, warfen Fragen dazu auf, versuchten, den Text zu begreifen. Es war eine wichtige geistige Erfahrung. Auf seine Weise war das Seminar fast so intensiv wie die Diskussionen über Wirtschaft und Gesellschaft, die von Schel­ ting und ich vor einigen Jahren in New York führten, als wir das erste Kapitel einer genauen Lektüre und Interpretation unterzogen. In einer ganz wichtigen Hinsicht war es viel besser, weil Frank Knight sich immer wieder ganz profund dazu äußerte, welche Gedanken und Assoziationen der Weber-Text bei ihm aus­ löste. Mitunter brach es auch mit dem altmodischen krachledernen Ausdruck des Staunens aus ihm heraus: „That’s mighty fine stuff!“ (Undatiert; ESP)

Diese besondere Seminarbegegnung mit Knight und die Erfahrung, Weber durch dessen Augen zu lesen, veranlassten Shils später zu einer wichtigen und aufschlussreichen Selbstreflexion. „Es war überwältigend zu erleben, wie in den von Webers Ideen eröffneten Perspektiven Dinge zusammenfan­ den, von denen ich bis dahin nie vermutet hatte, dass zwischen ihnen ir­ gendein Zusammenhang bestehen könnte“, erklärte er. „Ich war nicht in der Lage, das alles aufzunehmen oder für mich befriedigend zu ordnen. Weber zu lesen, war jedoch im wörtlichen Sinne atemberaubend. Manchmal muss­ te ich mitten im Lesen aufstehen und ein oder zwei Minuten herumlaufen, bis ich mich wieder beruhigt hatte.“ Genau diese Art von Erfahrung beim Lesen von Webers Arbeiten weitab von ihrem Entstehungsort – in Chicago oder sonst irgendwo, auf Deutsch und dann als Teil eines Diskurses in eng­ lischer Sprache – ist der Schlüssel zum Verständnis der von Weber ausge­ henden Faszination, der Wirkung auf seine Leser und der Rezeption seines Werks in Amerika. Ähnlich starke Reaktionen, wie Knight, Shils und Par­ sons sie zeigten, ließen sich immer wieder beobachten. Das Leseerlebnis war der eigentlich ausschlaggebende Faktor, dem ge­ genüber die pädagogischen Debatten über die Verwendung des Werks und die Auseinandersetzungen um die Fachgrenzen an Bedeutung zurücktraten. Die durch die Versenkung in Webers Werk ausgelöste intellektuelle Begeis­ terung mündete in ein nicht nachlassendes Engagement und gab einer Be­ wegung des Denkens Auftrieb, die jenseits der Routineforschung und der üblichen Beschränkungen das Verlangen nach großen Fragen und unerwar­ teten und neuen Zusammenhängen befriedigte. Das Werk schien für ein großes Leserspektrum interessant und hatte offenbar vielen etwas zu bie­ ten – Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen, Historikern, Politikwissen­ schaftlern, Anthropologen, Altphilologen oder Methodologen. Vielseitig anwendbar und anschlussfähig, weigerte es sich, einer standardisierten Fachnomenklatur zu entsprechen. Dazu kam freilich noch, dass es, Shils zufolge, überwältigend und verwirrend war und trotzdem beglückend und unwiderstehlich. Es versprach geistige Befreiung. Wie die Neue Welt selbst, eröffnete es dem Geist neue Perspektiven.

12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes Von allen Texten Max Webers ist einer unerreicht – unerreicht wegen der besonderen Bedeutung, die ihm als ein Ausdruck von Webers Originalität und als der Grundstein für sein Ansehen zukommt: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, im Folgenden PESC abgekürzt), ein wahrhaft kanonisches Buch, das als das „berühmteste“ Buch der Soziologie bezeichnet wurde und das 1930 in der Übersetzung von Talcott Parsons erschien. Es war das zweite Werk Webers, das ins Englische übertragen wurde, nach Knights Übersetzung der Wirtschaftsgeschichte; und beide waren die einzigen über­ setzten Texte, die verfügbar waren, bis nach dem Krieg eine Kaskade von Übersetzungen folgte, angefangen bei der Auswahl an Schriften, die von Hans Gerth und C. Wright Mills übersetzt und herausgegeben wurden, From Max Weber: Essays in Sociology. PESC erschien nicht nur früh, sondern erwies sich zudem als von erstaunlicher Langlebigkeit: sie sicherte Parsons eine 72 Jahre währende Regentschaft als der einzigen Text-Autorität für die englischsprachige Welt. Die Situation änderte sich erst mit der Veröffent­ lichung neuer Übersetzungen durch Peter Baehr und Gordon Wells, die auf Webers Originalaufsätzen von 1904 / 5 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik beruhten, und durch Stephen Kalberg, der auf den von Weber 1920 überarbeiteten Text zurückgriff, den Parsons favorisiert hatte. Übersetzen ist ein riskantes Geschäft, wie die Liebhaber der Dichtung, der erzählenden, fiktionalen Literatur und die Anhänger der Sozialtheorie sehr wohl wissen. Lesen wir, was einst Vladimir Nabokov in „On transla­ ting Eugene Onegin“ schrieb:                

O, Pushkin, for my stratagem: I traveled down your secret stem And reached the root, and fed upon it; Then, in a language newly learned, I grew another stalk and turned Your stanza, patterned on a sonnet, Into my honest roadside prose – All thorn, but cousin to your rose.

[O, Puschkin, mein Kunstgriff war es: mich an deinem geheimen Stiel hinab zu den Wurzeln gleiten und dort nähren zu lassen; dann trieb ich einen anderen Stängel aus und übertrug deine sonettgleiche Strophe in meine rechtschaffene Straßenrandprosa – Lauter Dornen, doch mit deiner Rose verwandt.]



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes257

Jemand sagte einmal, dass alle Übersetzungen dem Original in gewissem Umfang Gewalt antun und es verfälschen; wenn man wissen wolle, was ein Autor eigentlich gemeint hat, müsse man das Originalwerk lesen, den Dor­ nenschmerz beseitigen und sich an der Rose erfreuen. Die Diskussion und Verbreitung von Ideen aber wäre ein langsames und schwungloses Unter­ fangen, würde man einem solchen Rat sklavisch Folge leisten. Übersetzun­ gen, wie unvollkommen auch immer, sind eine unverzichtbare Hilfe zur Wissensvermittlung, selbst wenn sie unter Umständen kreativen Missdeu­ tungen Vorschub leisten. In der Tat haben Missdeutungen genau wie die angeblich sinntreuen Lektüren bei der Rezeption eines Autorenwerks, der Entstehung von Ruf und Ansehen und der Weiterentwicklung von Ideen schon immer eine Rolle gespielt. Bei keiner der Weber’schen Schriften wurde der Übersetzungsstreit schär­ fer geführt als bei PESC – in dessen Zentrum natürlich das Alter Ego des Textes stand: der junge Talcott Parsons. In die Anerkennung von Parsons Leistung mischten sich schon seit geraumer Zeit unterschiedlich starke Vor­ behalte und Beschwerden über seine Übersetzung. Auftrieb erfuhren die revisionistischen Lesarten noch dazu von den Reaktionen gegen die „Parso­ nisierung“ Webers, die mit The Structure of Social Action (1937) eingesetzt hatte, bei der sich Parsons unglücklicherweise von Alexander von Scheltings methodologischer Kritik an Weber leiten ließ. Diese Dinge haben jüngst eine größere Dringlichkeit erfahren, als die Übersetzung des Werks in neue Richtungen ausgedehnt wurde und auf neue Forscherkreise ausgriff, die ganz andere Interessen hatten als Parsons und seine Generation. Auch wenn in den Streitfragen der Übersetzung sicherlich nie ein Konsens erzielt wer­ den wird, so besteht doch Einigkeit darin, dass diese erste Übersetzung der berühmtesten soziologischen Untersuchung „enorm großen Einfluss auf die Rezeption von Webers Werk in der englischsprachigen Welt hatte“, obgleich – wie es in der repräsentativen Einschätzung eines Zeitgenossen weiter heißt – die „meisten Forscher [heutzutage] zustimmen, dass Parsons Über­ setzung schwere Mängel aufweist“. Ein gleichzeitig einflussreicher und mangelhafter Text, der für viele das Maß aller Dinge darstellte und doch grobe Fehler enthält, ist an sich ein Kuriosum und verlangt nach einer Er­ klärung. Wie konnte diese Situation entstehen? Die Geschichte der ersten Übersetzung der Protestantischen Ethik und der Veröffentlichung von PESC bildet ein Kapitel der Soziologie des Wis­ sens oder genauer gesagt, der Politik und Soziologie von Webers Überset­ zungen, und ein ungewöhnlich kompliziertes Kapitel noch dazu. Die Über­ setzungsgeschichte liefert ein Lehrstück in der sozialen Konstruktion eines Textes, und was ebenso wichtig ist, eine genaue Antwort auf die Fragen, die im Mittelpunkt jeder allgemeinen Übersetzungssoziologie stehen: Wer über­ setzte das Werk, und aus welchen Gründen? Wann, und wo? Wie wir noch

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II. Teil: Das Werk in Amerika

sehen werden, ist der Text, den wir als PESC kennen, zwar das Resultat intellektueller Entscheidungen, zu denen Parsons als Übersetzer gelangte, doch er ist eben auch das Resultat des Wirkens sozialer Kräfte und Verhält­ nisse in jener Zeit. Genau genommen handelt es sich nicht um die von Parsons eigentlich beabsichtigte Übersetzung, sondern um den von ihm vorgelegten Text, der unter dem Einfluss sozialer Umstände zustande ge­ kommen sowie von den „Korrekturen“ und Anordnungen der Herausgeber modifiziert worden war. Diese Umstände und Modifikationen hatten einen englischsprachigen Webertext entstehen lassen, der aus heutiger Sicht als weniger zufriedenstellend angesehen werden muss als Parsons ursprüngliche Fassung. Demnach richtete sich ein Teil der Kritik (wenngleich nicht die ganze) mit Parsons an die falsche Adresse. Jene heute als „unzulänglich“ betrachteten Aspekte der Übersetzung standen zu einem nicht geringen Teil mit Umständen und Verhältnissen in Zusammenhang, die dem Einfluss des designierten Übersetzers entzogen waren. Ironischerweise richtete sich die nachfolgende Kritik in manchen ihrer Äußerungen nur auf gewisse Proble­ me, die Parsons damals selbst Sorgen bereiteten und die er selber kritisch sah, nachdem er sich der Herausforderung gestellt hatte, ein verlässliches und lesbares Manuskript vorzulegen. Ein Amerikaner in Heidelberg Talcott Parsons erste kleinere Vorarbeiten für die Übersetzung von We­ bers religionssoziologischem Werk datieren von Ende 1926; Anfang des folgenden Jahres begann er, sich ernsthaft mit dem Vorhaben zu beschäfti­ gen, parallel zur Abfassung seiner Doktorarbeit während einer auf ein Jahr begrenzten Tätigkeit als Ökonomiedozent am Amherst College, seiner Undergraduate-Alma-Mater. Drei Jahre später schloss er die Arbeit nach aus­ gedehnten Verhandlungen und vielen Komplikationen mit der Veröffent­ lichung des Textes in London und New York ab. Die Frage, die den jungen Talcott Parsons, ob als Student in London oder Heidelberg oder als junge Lehrkraft am Amherst College oder an der Har­ vard University, umtrieb, ist mit einem Wort benannt: Kapitalismus. Unnö­ tig zu erwähnen, dass ihn dieses Erkenntnisproblem nicht allein plagte, sondern viele der führenden Ökonomen, Frank Knight und Allyn Young eingeschlossen. Dass Parsons mit diesem vielschichtigen ,Problem‘ auf Weber stieß, war reiner Zufall. Nach seinem Abschluss in Amherst und ­einem Jahr an der London School of Economics, wo er Vorlesungen bei R. H. Tawney, Morris Ginsberg, L. T. Hobhouse und Bronislaw Malinowski besuchte, ereilte ihn das Glück in Form eines Stipendiums für ein neues, nach dem Ersten Weltkrieg aufgelegtes Austauschprogramm mit Deutsch­ land, wobei er im akademischen Jahr 1925  /  6 einfach der Heidelberger



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes259

Universität zugeteilt wurde, ohne dass er irgendein Mitspracherecht dabei hatte, noch viel über die Fakultät wusste. Wie er später einräumte, hatte er während des ganzen Jahres in London „nie jemanden Webers Namen aus­ sprechen hören […], dennoch aber war er nach wie vor die beherrschende Figur in Heidelberg und ich begann mich sehr schnell sehr stark für ihn zu interessieren“. Obgleich Tawney an Religion and the Rise of Capitalism arbeitete, hatte er offenbar jede Erörterung von Webers Werk in seinen Vorlesungen vermieden. „Der entscheidende Wendepunkt war für mich“, wie Parsons sagte, „nach Deutschland zu gehen und mit Weber in Berüh­ rung zu kommen. Wäre ich in den späten Zwanzigern entweder an die Columbia oder nach Chicago gegangen, ich denke nicht, dass ich Weber dann aufgesaugt hätte, zumindest nicht die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre. Unter anderem hätte ich die deutsche Sprache nicht gut genug be­ herrscht, um Weber auf Deutsch zu lesen, und es hätte noch ziemlich lange gedauert, bis Übersetzungen herausgekommen wären.“ Als er im Herbst nach einem Sprachkurs in Wien und ohne Weber gele­ sen zu haben in Heidelberg ankam, wurde er Kursen bei Alfred Weber, Karl Jaspers (über Immanuel Kant) und Karl Mannheim zugeteilt, der ein Semi­ nar zu Weber veranstaltete. In dem Jahr studierte er auch bei den beiden Nationalökonomen Emil Lederer und Edgar Salin und entschied sich schließlich für Letzteren als seinen Hauptbetreuer einer Dissertation über den Begriff des „Kapitalismus“, einen akademischen Abschluss, dessen Erreichen er sich während der ersten Monate seines Aufenthaltes nicht ein­ mal vorstellen konnte. Einer frühen Empfehlung Arnold Bergsträssers fol­ gend, begriff er sehr schnell, dass Weber derjenige war, den man lesen musste. Parsons fing mit Beginn des Semesters an, Weber zu lesen, zunächst während der vielen in der Bibliothek verbrachten Stunden. Schnell aber legte er sich die erste Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft (1922) zu, die Gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922) und zumindest den ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (auch hier die Auflage von 1922). Die Randbemerkungen und vielen Unterstreichun­ gen in diesen Büchern und in seinen Aufzeichnungen jener Tage weisen ihn als unersättlichen und sorgfältigen Leser aus; Parsons verschlang Webers Texte und gab damit seinen frühen Arbeiten, wenn nicht seiner ganzen Laufbahn, die Richtung vor. Wie er sich später ausdrückte, „wirkte“ ein in diesen Texten geistig anwesender Weber „in einem sehr realen Sinne als mein Lehrer“. Wie Edward Shils behielt auch er diese anfängliche Begeg­ nung in lebhafter Erinnerung; er schrieb: „Ich glaube nicht, dass es bloßer Zufall war, dass das erste Werk, das ich von Weber las, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus war. Ich weiß allerdings nicht, wie sehr es andere überraschen wird, dass diese Lektüre einen unmittelbaren

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II. Teil: Das Werk in Amerika

und starken Einfluss auf mich hatte. Die Arbeit rief gleich mein starkes Interesse wach und ich las sie mit einem Mal durch – das heißt, beschränkt auf die Stunden in der Bibliothek, da ich noch kein eigenes Exemplar besaß –, als wäre es eine Detektivgeschichte.“ Welchen Spuren und welchen Hinwei­ sen ist Parsons nachgegangen? In seinem eigenen Exemplar findet sich unter den reichlichen Randbemerkungen speziell eine, die einen Hinweis auf die Antwort gibt – ein einfaches „Uncle Frank“, das er neben einen Satz kritzelte, den Weber aus Benjamin Franklins Advice to a Young Tradesman zitiert und den Parsons unterstrichen hatte: „Neben Fleiß und Mäßigkeit trägt nichts so sehr dazu bei, einen jungen Mann in der Welt vorwärts zu bringen, als Pünktlichkeit und Gerechtigkeit bei allen seinen Geschäften“, oder in seiner späteren ursprünglichen maschinengeschriebenen Überset­ zung: „After industry and frugality, nothing contributes more to the raising of a young man in the world than punctuality and justice in all his dealings.“ (Beiläufig sei erwähnt, dass Parsons Webers Sperrungen übernahm und in einer Anmerkung darauf hinwies, dass es sich um dessen Hervorhebungen handelte, nicht um Franklins; für den veröffentlichten Text aber wurden Sperrungen und Fußnote entfernt, wie in allen anderen Fällen auch auf die redaktionellen Empfehlungen Tawneys hin). Tief in den Text vergraben, war Parsons nun den Menschen auf der Spur, die er kannte, ihrem Ethos, ihren moralisch-sittlichen Persönlichkeiten, und mit ihnen auch sich selbst. Der Autor wollte seinen detektivischen Lesern die Botschaft vermitteln: de te narratur fabula (diese Geschichte handelt von dir); eine Wendung, die We­ ber tatsächlich an anderer Stelle verwendete. Die Kulturbedeutung der „protestantischen Ethik“ und des „Geistes des Kapitalismus“ für Amerikaner wie Parsons, dieses Wiedererzählen des fesselndsten Narrativs der Grün­ dung ,Amerikas‘ und seiner moralischen Ordnung, seiner „Gewohnheiten des Herzens“, wie Tocqueville sagte, ist einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Weber in den Vereinigten Staaten. Die offensichtlichsten Resultate dieses für Parsons außerordentlich pro­ duktiven Jahres waren seine Dissertation unter Salin, die er im Jahr darauf bei einer Rückkehr nach Heidelberg verteidigte (am 29. Juli 1927, der Grad wurde ihm jedoch erst im April 1929 verliehen), und die bald darauf erfolg­ te Publikation ihres dritten Kapitels in zwei Teilen, „ ,Capitalism‘ in Recent German Literature“, in dem von der University of Chicago herausgegebenen Journal of Political Economy. Das Fundament aber, um Weber übersetzen und The Structure of Social Action (1937) schreiben zu können, wurde gleichfalls in Heidelberg gelegt. Der Vorschlag zur Übersetzung wurde En­ de 1926 oder Anfang 1927 an Parsons herangetragen, bevor er seine Dis­ sertation abgeschlossen hatte, wobei der Impuls nicht von einem Verlag ausging, sondern von Professor Harry Elmer Barnes, dem Soziologen und Historiker, der damals am Smith College tätig war und später an der New



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School for Social Research lehrte. Dass es Parsons mit der Idee ernst war, kam erstmals in einem informativen handschriftlichen Brief zum Ausdruck, den er Marianne Weber schrieb (die er aus seinem Heidelberger Jahr kann­ te) und der eine höfliche und wichtige Bitte um Unterstützung enthielt – auf die ihm sieben Monate später geantwortet wurde. Er schrieb im April 1927 auf Deutsch (undatiert): Sehr verehrte Frau Professor:   Vor mehreren Monaten ist mir vorgeschlagen worden, etwas von Max Weber ins Englische zu übersetzen. Der Vorschlag war mir außerordentlich angenehm und ich habe Verhandlungen mit verschiedenen Leuten darüber aufgenommen.   Eine Reihe von Büchern wird jetzt herausgegeben unter dem Titel „History of Civilization Series“, die in England vom Verlag Kegan, Paul & Co. Ltd, London, und in den Vereinigten Staaten vom Verlag Alfred Knopf, New York, publiziert wird. Man schlägt vor, die „Protestantische Ethik“ von Max Weber mit der „Vor­ bemerkung“ und wahrscheinlich auch dem Aufsatz „Die protestantischen Sekten usw“, d. h. die ersten 236 Seiten vom Band I der Religionssoziologie darin als ein Band für sich erscheinen zu lassen.   Neulich habe ich mit dem Redakteur der Reihe, Mr. C. K. Ogden, und auch mit dem Verlagshaus Knopf gesprochen und beide haben den Vorschlag genehmigt. Jetzt hängt alles davon ab, wie die Sache von deutscher Seite angesehen wird.   Hätten Sie gerne, daß diese Arbeit Max Webers im Englischen erscheinen solle? Ich weiß nicht, ob ich genügend in der Arbeit Max Webers und in der deutschen Sprache eingewachsen bin, um der Aufgabe gewachsen zu sein. Trotzdem werde ich mein Bestes tun, da ich glaube, daß gerade diese Schrift für uns in Amerika von außerordentlicher Wichtigkeit ist und viel weiter bekannt zu werden verdient.   Die Angelegenheit der Übersetzungsrechte bleibt, wie ich verstehe, in den Hän­ den der englischen Firma, Kegan Paul. Sie ist bereit, den üblichen Betrag für die Rechte eines wissenschaftlichen Werkes, etwa $100 zu bezahlen. Mehr können sie nicht leisten, da dies ja keine kommerzielle Unternehmung ist. Glauben Sie, daß der Verlag Mohr damit einverstanden sein wird? Und wenn Sie die Übersetzung gern sehen würden, könnten Sie vielleicht so freundlich sein, ein Wort an den Verlag zu schreiben? Ich glaube, es würde die Verhandlungen sehr erleichtern.   Mit vorzüglicher Hochachtung   Ihr ergebener Talcott Parsons  (TPP)

Parsons stürzte sich mit Entschlossenheit und Begeisterung auf das Pro­ jekt; er sprach mit Ogden, der sich damals in den USA aufhielt, und mit Paul B. Thomas bei Knopf. Er rechnete damit, dass sich Schwierigkeiten ergeben könnten und warb deshalb um Mariannes Unterstützung, vielleicht im Wissen darum, dass 1922 ein Antrag von Routledge auf das Vorzugs­ recht für eine englischsprachige Ausgabe aller drei Bände der Religons­ soziologie bei Mohr Siebeck gescheitert war. Die andere offenkundige Schwachstelle bildeten sein fehlendes Ansehen und die Frage seiner Ver­ trauenswürdigkeit: Er war ein 24-jähriger, kaum dem Graduiertenstudium

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II. Teil: Das Werk in Amerika

entwachsener, noch gänzlich unbekannter und unbedeutender Wissenschaft­ ler, der zudem bislang nichts veröffentlicht hatte und noch ohne Doktorgrad und dauerhafte universitäre Anstellung war. Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass er überhaupt in Betracht gezogen wurde! In Wahrheit wurde er das anfangs gar nicht, und selbst ganz zum Schluss zogen die Herausgeber noch andere, nicht namentlich genannte „erfahrene Übersetzer“ hinzu, die sich ein Bild von seiner Arbeit machen sollten. Marianne ihrerseits war daran gelegen, dass es mit dem Projekt, von dem Parsons sie in Kenntnis gesetzt hatte, voranging; sie lud ihn zum Sonntag­ nachmittagstee ein, als er wieder in Heidelberg war, um seine Dissertation fertigzustellen und zu verteidigen. Aus ihrem Treffen am 26. Juni 1927 er­ gab sich für Parsons ein Folgegespräch mit Oskar Siebeck, der dabei, wie aus den Archivdokumenten hervorgeht, „einen sehr guten Eindruck von ihm“ hatte (22. August 1927; VAMS). Marianne Weber und Oskar Siebeck waren beide darauf erpicht, den bestmöglichen Übersetzer zu finden, wobei insbesondere Marianne Bedenken hatte, jemanden einzusetzen, der sich in den Diskussionen der Religionssoziologie nicht auskannte; sie sorgte sich wegen der schlimmen Erfahrung ihrer Freundin Marie Luise Gothein, deren Buch Geschichte der Gartenkunst in der Übersetzung verstümmelt worden war. Siebeck verstand sich nicht nur als Repräsentant des Verlages, sondern auch als Anwalt von Marianne Webers editorischen und finanziellen Inte­ ressen. Parsons avancierte schnell zu Mariannes Kandidat, den sie nach Kräften und beständig unterstützte und von dem sie bis zum Ende ihres Lebens 1954 mit großer Wärme sprach. Sie beide einte die Liebe zu Max Weber und seinem Werk, und diese Liebe teilten sie in den Jahrzehnten ihrer freundschaftlichen Beziehungen, die nur vom Krieg unterbrochen wur­ den. Ohne diese besondere Verbindung – ohne Parsons unbeirrbare Hingabe und Marianne Webers unerschütterliche Unterstützung, die von Siebeck mitgetragen wurde – wäre die Übersetzung sehr wahrscheinlich überhaupt nicht erschienen und gewiss nicht zu dem Zeitpunkt, zu dem sie tatsächlich herauskam. Parsons übersetzt Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus Abgesehen von den naheliegenden Dingen, die die Auswahl eines Über­ setzers, die Rechtsansprüche und die finanziellen Konditionen betrafen, stellten sich ganz konkrete Fragen im Zusammenhang mit der Übersetzung, die als The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism bekannt wurde: Welcher Text oder welche Texte sollten übersetzt werden? Wer würde die Einführung schreiben, und welche Form sollte die Einführung in das Werk und den Autor haben? Wer würde die redaktionelle Gesamtverantwortung



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes263

übernehmen? Die Veröffentlichungsrechte mussten mit englischen und ame­ rikanischen Unternehmen ausgehandelt werden: Kegan Paul und Allen & Unwin in London, Alfred A. Knopf in New York, und schließlich ganz am Ende Charles Scribner’s Sons in New York. Die ersten drei Verlagshäuser spielten in den Besprechungen mit Mohr Siebeck von Anfang an eine Rol­ le. Wobei festzuhalten ist, dass Oskar Siebeck nur mit Stanley Unwin enge Beziehungen pflegte, und dieser Umstand sollte den Ausschlag geben. Was den Text selbst angeht, so plädierte Siebeck schon seit längerem für die Übersetzung aller drei Bände von Webers Religionssoziologie, und inte­ ressanterweise stimmte Parsons ihm aus wissenschaftlichen Gründen zu; Frank Knight gegenüber erklärte er später, dass „die Protestantische Ethik sich nur im größeren Zusammenhang [von Webers Religionssoziologie] verstehen lässt“, wie er immer betont und über die Jahre wiederholt zum Ausdruck gebracht hatte (5. Juni 1936; TPP). Er wollte möglichst alle Bän­ de übersetzt sehen. Doch sämtliche Versuche, Kegan Paul und Knopf zu überzeugen, führten nicht zum gewünschten Erfolg; offenkundig einigte man sich im Sommer 1927 auf eine Reduzierung des Umfangs der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (nachfolgend GARS) auf die Bände 1 und 2 in der Kegan-Paul-Reihe, und damit auf die Veröffentlichungsform, die von Harry Barnes ursprünglich favorisiert worden war und die C. K. Ogden, dem Herausgeber der Reihe, der wieder in London weilte, vorge­ schlagen wurde. „Wir erklären uns bereit, mindestens die ersten beiden der drei Bände von Max Webers ,Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziolo­ gie‘ in englischer Übersetzung (nebst dem amerikanischen Markt) in der Reihe History of Civilization zu Ihren Bedingungen herauszubringen“, heißt es in der Verlagsmitteilung an Siebeck (26. Juli 1927; VAMS). Eine Reihe von quälenden Verhandlungen in den Folgemonaten machte diese offenkundige Einigung zunichte. Warum es dazu kam, ist kaum zu verstehen, denn eigentlich lagen die Parteien mit ihren Positionen nicht weit auseinander. Die Korrespondenz zwischen Parsons, Ogden, Thomas, Sie­ beck und Marianne Weber deutet darauf hin, dass hier ,materielle‘ geschäft­ liche und ,ideelle‘ akademische Interessen aufeinanderprallten und ein un­ lösbarer Streit um die Besitzrechte an der Übersetzung entbrannte. Die Korrespondenz lässt noch dazu vermuten, dass auch die Veröffentlichungs­ politik der Zwischenkriegsjahre eine Rolle spielte, insofern als unter den englischen und amerikanischen Firmen ein gewisses Misstrauen herrschte, was zu Verdunklungstaktiken und wechselseitigen ,Schuldzuweisungen‘ führte. Im Zusammenhang mit der Übersetzung europäischer und besonders deutscher und französischer Autoren paarte sich Vorsicht mit kaum verhoh­ lenen Animositäten – ein Erbe des Ersten Weltkrieges. Um Parsons die Si­ tuation zu erklären, bemerkte Ogden ihm gegenüber bei einer Gelegenheit, dass „es nicht sein kann, dass für ein deutsches Buch mehr bezahlt wird als

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II. Teil: Das Werk in Amerika

für ein englisches, wie es im Moment der Fall ist, außer auf einer nichtkommerziellen Basis (,damit man etwas von diesen Ausländern hat‘)“! (23. Juni 1927; TPP) Bedenken gab es gegenüber der Verpflichtung eines amerikanischen Übersetzers. Zu allem Übel gelangte Ogden endlich zu dem Schluss, dass Siebeck ein „hoffnungsloser“ Fall von einem Verhandlungs­ partner wäre, was Parsons veranlasste, den Verleger zu verteidigen: „Ich bin jedoch der Meinung, dass er [Oskar Siebeck] recht hat [nicht bloß die ,Protestantische Ethik‘ in Übersetzung veröffentlichen zu wollen]. Ich bin unbedingt der Ansicht, dass das Werk für sich eine Einheit darstellt und dass es ein Jammer wäre, würde man es zerstückeln, weil dann das Ver­ ständnis für das Ganze fehlt. Außerdem glaube ich, dass es ein breites Pu­ blikum finden würde und dass, wenn ein Teil Bekanntheit erlangt hätte, eine erhebliche Nachfrage nach dem Rest bestünde. Hier spricht man viel darüber, und ich glaube, dass es von vielen gelesen würde“ (12. November 1927; TPP). Es trifft zu, dass Oskar Siebeck sich nach Kräften bemühte, die besten Bedingungen auszuhandeln, nicht zuletzt deshalb, weil er in diesen Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit Mariannes finanzielle Interessen wah­ ren wollte. Er mag sich im Verlauf der Verhandlungen nicht sonderlich entgegenkommend gezeigt haben, es spricht jedoch nichts dafür, dass er sich einer vernünftigen Übereinkunft verweigert hätte. Die erzielte er am Schluss doch noch, als er sich mit Stanley Unwin von Allen & Unwin auf Bedingungen einigte, die sehr nah an denen waren, die Ogden von Kegan Paul vorgeschlagen hatte, mit einer wichtigen Ausnahme: die Entscheidung darüber, was übersetzt werden sollte. Jenes Scheitern und der Rückzug von Kegan Paul und von Knopf hätten zur Einstellung des ganzen Projektes führen können. Stattdessen bemühte sich Parsons weiter und drängte darauf, die vorgeschlagene Übersetzung beschränkt auf den ersten Band von GARS (1–275) herauszubringen: die Vorbemerkung von 1920; die „Protestantische Ethik“-Aufsätze; die Aufsät­ ze zu den protestantischen Sekten; und die Einleitung zur folgenden Auf­ satzreihe über die Weltreligionen. Die Einleitung wurde jedoch irgendwann fallengelassen, und schließlich auch die Aufsätze zu den Sekten – ein Pro­ zess der ,Textschrumpfung‘ unter dem Druck der Herausgeber, der übrig­ ließ, was wir heute zur Verfügung haben. Selbst um das Festhalten an der Vorbemerkung musste hart gerungen werden. Weil Marianne Weber sich sehr eingesetzt und Oskar Siebeck seine Beziehungen zu Stanley Unwin hatte spielen lassen, konnte Parsons schließlich im September 1928 – un­ gefähr zwei Jahre nachdem die Idee aufgekommen war – Allen & Unwin in London eine Rohfassung (oder wie die Herausgeber sagten, ein „Probe­ stück“ oder ein „Übersetzungsmuster“) des ersten Aufsatzes der „Protes­ tantischen Ethik“ vorlegen. Worauf er eigenem Bekunden nach aus war, ließe sich als „semantische“ Übersetzung bezeichnen, und er wollte errei­



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chen, dass die unausweichlichen Probleme der Textbedeutung sowie der größere Sinnzusammenhang des Werks in einer kritischen Einführung be­ handelt wurden: Ich habe mich im Allgemeinen um Texttreue bemüht und nicht darum, ein stilis­ tisches Kunstwerk im Englischen vorzulegen. Alles andere hätte eine völlige Umgestaltung der Textanlage erfordert. […] Zudem scheint es mir alles andere als wünschenswert, die Arbeit ohne eine kritische Einführung herauszubringen, die deren Stellenwert im Hinblick auf Webers soziologisches Werk als Ganzes und Webers Position innerhalb des sozialen Denkens in Deutschland darlegt. In Deutschland selbst ist sie arg missverstanden worden, und ich fürchte, dass sie ohne eine solche Absicherung beim englischen Leser das gleiche Schicksal ereilt. (24. September 1928; TPP).

Weil R. H. Tawneys hohes Ansehen genoss und über eine größere Anhän­ gerschaft verfügte, und weil er 1926 Religion and the Rise of Capitalism, seine Holland Memorial Lectures, veröffentlicht hatte, war er von Beginn an Stanley Unwins erste Wahl für die Einführung oder das Vorwort; Tawney dabeizuhaben, drängte er Siebeck, „würde erheblich helfen, dem Buch in der Presse wie in den akademischen Kreisen eine angemessene Rezeption zu sichern“ (22. Juli 1927; VAMS). Also wurde Tawney damit beauftragt, der jedoch leider nicht auf dem Laufenden war, was die neueren Entwick­ lungen in der deutschen Gelehrtenwelt anging. Sein Briefwechsel mit Unwin und Siebeck von 1930 zeigt beispielsweise, dass er noch nie von Mariannes 1926 veröffentlichter großer Biographie ihres Ehemannes gehört hatte. Hinzu kommt, dass Tawney Webers eigentlichen Argumenten wenig Auf­ merksamkeit schenkte und sich in dem 14-seitigen uninspirierten und an­ spruchslosen Vorwort vielmehr von seinen eigenen Interessen leiten ließ; da er es erst in letzter Minute verfasste, verzögerte sich die Veröffentlichung der Übersetzung und Stanley Unwin war auf eine harte Geduldsprobe ge­ stellt. Tawney scheint wirklich eine ganze Weile gebraucht zu haben, bis er Webers Bedeutung erfasste, und während seine Einführung in Parsons Über­ setzung der Protestantischen Ethik zu wünschen übrig ließ, legte er mit dem Vorwort von 1937 zur zweiten Auflage seines eigenen Buches seinen präg­ nantesten und maßgeblichen Weberkommentar vor. Die entstandene Situa­ tion bestätigte Parsons Befürchtungen über die Folgen des Verzichts auf einen kritischen Kommentar. Wie Lutz Kaelber, ein erfahrener Übersetzer, fest­ hielt, „haben Tawneys falsche Darstellungen unter den Soziologen und auch unter den Wissenschaftlern der angrenzenden Fächer Schule gemacht und eine genauso nachlässige Auslegung von Webers Werk zur Folge gehabt, zumindest solange, bis andere seiner Schriften in englischer Übersetzung vorlagen und Tawneys Vorwort durch eines ersetzt wurde, das Webers Ar­ gumentation in ihren Stärken und Schwächen darstellte und die Argumenta­ tionskontexte miteinbezog.“

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Auch wenn Parsons eine erste Fassung fertiggestellt hatte, war keines­ wegs gesichert, dass die Übersetzung ihre Vollendung erleben und tatsäch­ lich herausgebracht würde. Stanley Unwin hatte in der Frage eines passen­ den Übersetzers zunächst Tawney zurate gezogen, hatte Frank Knight aus­ geschlossen, dessen Übersetzung der Wirtschaftsgeschichte er in England zu veröffentlichen bereit war, und hatte dann weiter über andere „erfahre­ ne“ Übersetzer nachgedacht. Trotz seines günstigen Eindrucks von Knights Leistung, „haben wir nicht vor“, hatte Unwin Siebeck geschrieben, „uns in Amerika nach einem Übersetzer für die ,Protestantische Ethik‘ umzuschau­ en“ (25. Juli 1927; VAMS). Dennoch ist genau das geschehen. Unwin aber hat mit sich Marianne Webers Entscheidung für Parsons nie abgefunden, wie sein beständiges Nachfragen und die dauernden Klagen deutlich mach­ ten, so als wollte er sie und Oskar Siebeck daran erinnern, welches Risiko es barg, dass er sich so großzügig zeigte, ihren Wünschen zu entsprechen. Noch im Oktober 1929 ließ Unwin Siebeck einen von Tawney verfassten Bericht über die Übersetzung zukommen, um, wie er sagte, „Ihnen eine Vorstellung von den Schwierigkeiten zu geben, die wir uns eingehandelt haben, weil Sie auf einem amerikanischen Übersetzer bestanden. Er bestä­ tigt, was wir dauernd erleben, nämlich dass man die Technik des Überset­ zens genauso beherrschen muss wie den Gegenstand und die Sprache. Wir zweifeln nicht, dass die Sache zu einem Abschluss kommt, doch wir den­ ken, dass Sie nun unsere Abneigung besser verstehen, Übersetzer zu ver­ pflichten, von deren Arbeit wir nichts wissen“ (29. Oktober 1929; VAMS). Parsons muss etwas von den Zweifeln und Spannungen mitbekommen ­haben, da er einen ganz unüblichen Schritt unternahm; er bat seinen Freund und Mitstreiter von der London School of Economics, den Ökonomen Ar­ thur R. Burns, das Büro von Allen & Unwin während seines Urlaubs in England aufzusuchen und herauszufinden, wie die Situation sich darstellte. Burns konnte ihn in gewisser Weise beruhigen, musste seinem Freund je­ doch bekennen, dass man ihn nach seinem (Parsons) Ruf und seinen Leis­ tungen ausgefragt hatte. Unwin seinerseits bestimmte zur Wahrung der Diskretion R. H. Tawney zum Schiedsrichter in allen Streitfällen, die sich ergeben könnten, und hielt dies auch wirklich als Klausel in dem von Parsons unterzeichneten Vertrag fest, nebst der Bestimmung, dass der Ver­ lag sich das Recht vorbehält, den Text auf Kosten des Übersetzers über­ arbeiten zu lassen. Parsons „Übersetzungsmuster“ in Maschinenschrift war in Wahrheit eine Prüfung seines Könnens. Es wurde von mindestens sechs Leuten gelesen: drei nicht bekannten Lektoren im Haus, dazu Stanley Unwin selbst, Oskar Siebeck und, ganz überraschend, Marianne Weber. Die Reaktion des Verlags ließe sich im besten Fall als widerwillige Zustimmung zu einer Rohfassung begreifen, die dringend einer Überarbeitung bedurfte, im schlechtesten Fall



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als Infragestellung des ganzen Unternehmens. Ein weniger vom Glück be­ günstigter und zarter besaiteter Übersetzer hätte an diesem Punkt vielleicht die Flucht ergriffen. Mariannes Schreiben an Siebeck (der es an Unwin weiterleitete) ließ erkennen, wie ernüchtert sie selbst war, und Parsons kann es unmöglich anderes gegangen sein: Es ist für mich sehr schwierig, die Parsons’sche Übersetzung zu beurteilen, da ich sie mit deutschem, nicht englischem Sprachgefühl lese. Für mich ist sie so durch­ aus lesbar u. auch stilistisch erträglich, u. ich glaube, als Grundlage einer Über­ arbeitung dürfte sie jedenfalls in Betracht kommen. Für eine Anzahl von Stellen werden sich sicher bessere Formulierungen finden lassen, aber zweifellos nur durch einen Übersetzer, der in der Geschichte und in der Nationalökonomie zu Hause ist. Ich bemerke gleich auf S. 1 von Abschnitt 2 ein Fragezeichen bei dem Begriff „historical individual“. Das deutsche Wort „historisches Individuum“ ist ein in Deutschland bekannter von H. Rickert geprägter philosophischer Begriff, der m. E. nicht anders übersetzt werden kann. Wenn aber der Parsons’sche Text für englische Leser unverständlich ist, so müssen wir dem englischen Verlag m. E. die Befugnis geben, ihn überarbeiten zu lassen, allerdings durch eine wissen­ schaftlich geschulte Persönlichkeit, die sich die Aufgabe stellt, den Inhalt mög­ lichst getreu wiederzugeben. Es ist natürlich der konzentrierte Gehalt der Sätze, der solche Schwierigkeiten 1) des Verstehens 2) des Übersetzens macht. (26. No­ vember 1928; VAMS).

Ein solches Infragestellen der Standardbegrifflichkeit sagt eine ganze Menge darüber aus, auf welcher Ebene die Klagen über die Qualität von Parsons Arbeit vorgebracht wurden. Unwin hatte seine Position dargelegt und war dafür weiterzumachen, allerdings mit dem zur Absicherung einge­ setzten Tawney. Als die fertiggestellte Übersetzung Mitte 1929 in den Büros von Allen & Unwin eintraf, kam natürlich abermals Kritik auf. Mittlerweile war das dritte Jahr nach Barnes’ erstem Kontakt schon weit fortgeschritten und Par­ sons hatte sich in all der Zeit um einen lesbaren und verlässlichen Text bemüht; er verzichtete auf komplizierte Formulierungen und auf eine Be­ grifflichkeit, die zu Missverständnissen führen und so eine weitere Verzöge­ rung nach sich ziehen konnte. Schon im Sommer zuvor hatte ihn die Er­ nüchterung eingeholt; wie er Ogden schrieb, „zieht es sich solange hin, dass ich bereit bin, jeden Verleger zu akzeptieren, der die Sache zu einer Ent­ scheidung bringt“ (10. Juni 1928; TPP). Er war jedoch auch auf Genauigkeit bedacht, und so übernahm er gewissenhaft fast alle der vielen Weber’schen Hervorhebungen von Wörtern und Wendungen sowie dessen legendäre und häufige Verwendung der An- und Abführung bei Schlüsselworten und zen­ tralen Wendungen. Wann immer es möglich war, behielt er Webers Absätze bei und verwies an den Rändern dazu noch auf die Seitenzahlen im Text des ersten Bandes der GARS, wodurch er dem neugierigen Leser ermöglich­ te, beide Sprachen miteinander zu vergleichen.

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Tawney las das Schreibmaschinenmanuskript als Erster, ihm folgten noch zwei professionelle Übersetzer (Korrektoren gab es damals noch nicht). Der amerikanische Verlag dieser Ausgabe, nunmehr Charles Scribner’s Sons, hielt sich aus diesen Diskussionen zum Glück heraus, da die Abmachungen mit diesem Unternehmen nicht durch Allen & Unwin in die Wege geleitet worden waren, sondern erstaunlicherweise durch Ralph Barton Perry, Par­ sons älteren Philosophie-Kollegen in Harvard und Reihen-Berater für Scribner’s, der auf einen preiswerten stundentenfreundlichen „Weber’schen Quellentext“ aus war, der in einer neuen sozialwissenschaftlichen Reihe erscheinen sollte. Aus vertraglichen Gründen war Tawneys Urteil in jedem Fall bindend. „Von Parsons Weber-Übersetzung“, schrieb er, habe ich nun mehr gelesen. Wie bereits gesagt, kann ich nicht für ihre Richtigkeit bürgen, weil es sehr lange bräuchte, alles Satz für Satz zu vergleichen. Ich denke, dass es als englischer Text durchgehen wird, sofern gewisse Änderun­ gen durchgeführt werden, und zwar (1) Der Übersetzer hat die deutschen Sperrun­ gen durchweg übernommen. Ich fürchte, dass muss man ändern. Deutsche Autoren wenden dieses Hervorhebungsverfahren auch dort an, wo das gar nicht nötig wäre und wo es im Englischen ganz unangebracht schiene. Auf manchen Seiten findet sich dergleichen in jeder zweiten Zeile, und das hätte bestimmt keine gute Wirkung auf den englischen Leser. Ich schlage vor, die Übersetzung von jeman­ dem lesen zu lassen, der die Hervorhebungen dort entfernt, wo sie dem englischen Leseempfinden nach unnötig sind. (2)  Da und dort trifft das Gleiche auch auf den Gebrauch der An- und Abführung zu, wenn auch insgesamt weniger häufig. (3)  Die Absätze und Textunterbrechungen müssen aufmerksam geprüft werden. (4) Hin und wieder, allerdings nicht sehr oft, scheint mir Mr. Parsons Englisch unsicher. Auch hier bräuchte es in der Regel nicht viel, um zu besseren Resultaten zu kommen. In manchen Fällen würde es schon reichen, die Wortreihenfolge zu ändern. Der mit Abstand schwächste Teil der Übersetzung, das Englisch betreffend, ist die Einführung, was vermutlich den Grund hat, dass sie auf Deutsch besonders abs­ trakt und schwierig ist. Meiner Meinung nach ist hier besondere Aufmerksamkeit geboten. (28. September 1929; TPP).

Aus der bequemen Rückschau wirkt Tawneys Besorgnis über „Mr. Par­ sons Englisch“ und die Einführung doch etwas übertrieben. Dies lässt sich an einem repräsentativen Beispiel aus dem ursprünglichen Typoscript von 1929 nachvollziehen, und zwar an Parsons Wiedergabe der ersten beiden Sätze aus Webers „Vorbemerkung“: A child of modern European civilization will necessarily and rightly treat prob­ lems of universal history in terms of this question: [to] what combination of cir­ cumstances may the fact be attributed that in western civilization and only in it, cultural phenomena have appeared, which – nevertheless as we like to think at least – lie in a line of development having universal significance and value?



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes269 Only in the west does “science” exist at a stage of development which we recog­ nize today as “valid”.

In dem redaktionell korrigierten und dann tatsächlich veröffentlichten Text heißt es: A PRODUCT of modern European civilization, studying any problem of universal history, is bound to ask himself to what combination of circumstances the fact should be attributed that in Western civilization, and in Western civilization only, cultural phenomena have appeared which (as we like to think) lie in a line of development having universal significance and value. Only in the West does science exist at a stage of development which we recognize to-day as valid.

Was ist durch die Intervention erreicht worden? Durch eine einfache syntaktische Veränderung lässt sich der erste Satz nun zwar leichter über­ blicken, doch Parsons präzisere Darstellung von Webers zentraler und hoch­ wichtiger Fragestellung wurde ohne Not geopfert. Und auch auf die Erhal­ tung des sorgsam gestalteten Schriftbilds von Webers Text, das Parsons getreulich nachgebildet hatte, legte man offensichtlich keinen großen Wert, sonst wäre es nicht so stark beeinträchtigt worden. Die Veränderungen gegenüber der Typographie von Parsons Fassung waren in der Tat beträchtlich und umfangreich. Von größter Bedeutung ist, dass Tawneys Vorstellungen entsprechend fast alle von Parsons sorgfältig übertragenen Sperrungen und Anführungszeichen entfernt wurden. Um nur einmal das Ausmaß der Hervorhebungen zu verdeutlichen, sei erwähnt, dass Weber beispielsweise allein in der Vorbemerkung 83 Wörter hervorgehoben und in 50 Fällen die An- und Abführung verwendet hatte, wobei Parsons fast alles genauso übernahm. In dem veröffentlichten Text sind jedoch nur zehn Hervorhebungen beibehalten und alle von Weber und Parsons verwen­ deten Anführungszeichen entfernt worden. Abschnitte und Sätze wurden geteilt und weiter vereinfacht. Und schließlich wurden auch die am Rand eingetragenen Seitenzahlverweise auf den Originaltext fallengelassen, weil durch die Verlagerung von Webers sehr umfangreichen Fußnoten an das Textende (eine redaktionelle Entscheidung, die mit Parsons offenbar gar nicht abgesprochen war!) ein solches Verweissystem nur Verwirrung gestif­ tet hätte. Der Umbau von Parsons intendierter Typographie war keine Klei­ nigkeit und keineswegs harmlos, denn der tatsächlich veröffentlichte Text hatte im Vergleich zu seiner ursprünglichen Vorlage einiges von der Weber’schen Akzentuierung, Nuancierung und Bedeutung verloren, wie heutige Wissenschaftler festgehalten haben. Mit Blick auf Parsons berühmte Begrifflichkeit ist jedoch zu sagen, dass nach all diesen Lektüren – wahrscheinlich waren es insgesamt mindestens neun vom Verlag organisierte Leute, zu denen noch mehrere nicht nament­

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II. Teil: Das Werk in Amerika

lich genannte andere Personen kamen, die Parsons eigenem Bekunden nach zurate gezogen hatte – der Grundwortschatz, der ihm eine solche Bekannt­ heit einbrachte, unangetastet blieb: in der Regel „conduct“ oder schlicht „life“ für Lebensführung, „life“ oder „way (also „type“ und „manner“) of life“ für Lebenstil, „elimination of magic from the world“ für Entzauberung der Welt, „historical individual“ für historisches Individuum, die furchtbaren „correlations“ für Wahlverwandtschaften („elective affinities“) und im wich­ tigsten Fall „iron cage“ für stahlhartes Gehäuse (wörtlich „a casing as hard as steel“). Die bekannt prägnanten und kraftvoll rhythmischen Sätze, wie man sie etwa auf den letzten Seiten finden kann, waren ebenfalls Parsons ureigenste Erfindung; zum Beispiel, „The Puritan wanted to work in a cal­ ling; we are forced to do so“ oder „No one knows who will live in this cage in the future, or whether at the end of this tremendous development entirely new prophets will arise, or there will be a great rebirth of old ideas and ideals, or, if neither, mechanized petrification, embellished with a sort of convulsive self-importance. For, of the last stage of this cultural devel­ opment [Dann allerdings könnte für die ,letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung], it might well be truly said: ,Specialists without spirit, sensu­ alists without heart; this nullity imagines that it has attained a level of ci­ vilization never before achieved‘.“ Kein Herausgeber würde an diese von Pathos erfüllte Sprache rühren wollen. Dieses eine Mal überlebten sogar die Anführungszeichen, die Hervorhebungen freilich nicht. Zusammen mit dem Übersetzer aber entging auch allen Lesern Webers äußerst wichtiger philo­ sophisch-kultureller Verweis auf Friedrich Nietzsches „letzte Menschen“, die „Erfinder des Glücks“, und so übersahen sie einen integralen Bestandteil der Argumentation, wobei Parsons fälschlich abweichende Wendung (näm­ lich „the last stage of this cultural development“) die Grenzen seiner Vor­ stellungswelt und Interessen erkennen lässt. Dessen ungeachtet erreichte Parsons englische Prosa der „Protestantic Ethic“ oft einen Grad an Klarheit, Kraft und Prägnanz, der, und das ist das Bemerkenswerte und Paradoxe daran, dem viel gescholtenen bleiernen Stil seiner darauf folgenden Arbei­ ten abging. Es scheint ganz so, als ob Webers Sprache und Denken seine Vorstellungskraft befeuerten und seinem Stil Lebendigkeit einhauchten und ihn geschmeidiger machten. Die glücklichen Nutznießer dessen waren na­ türlich Weber und seine englischsprachige Leserschaft. Im Hinblick auf die für uns Heutige zentralen Weber’schen Begriffe ist es wichtig herauszustellen, dass Parsons während seiner Studentenzeit in Heidelberg zur Genüge (aber nicht ständig!) deutsche Wendungen in seine Lesenotizen übernahm, wie etwa „Systematik der Lebensführung“, „Entzau­ berung der Welt“ oder „methodische Lebensführung in den USA“, wenn er in der Protestantischen Ethik oder in der Nachfolgeschrift „Die protestanti­ schen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ las. Es ist nicht etwa so, dass



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes271

er dieser Terminologie nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt oder es versäumt hätte, sie als Teil des Textes zu begreifen. Er konzentrierte sich vielmehr von Beginn an auf das Problem des ,Kapitalismus‘ – den Begriff des Kapitalismus – oder wie er in seinen Notizen schrieb, auf die Frage der „Züchtung kapitalistischer Qualitäten“, und viel später in der Druckfassung, auf den ,Kapitalismus‘ als ein „socioeconomic system“. Parsons zentrale Frage war naturgemäß Teil des intellektuellen Diskurses und der Wirt­ schaftswissenschaft seiner Zeit, und nicht des sogenannten „Diskurses der Moderne“ oder irgendwelcher Problemzusammenhänge der Kultursoziologie und der Kulturkritik unserer Zeit. Zur Präzisierung sei erwähnt, dass Parsons in seinem Dissertationskapitel ausführte, Webers Text sollte auch deshalb zugänglich gemacht werden, um eine Alternative auszuloten zu den „individualistischen“, „rationalistischen“ und „unilinearen“ Entwicklungsannahmen, wie sie das angloamerikanische ökonomische Denken prägten. Den Rahmen für sein Thema hatte Parsons dem Werk seines Doktorvaters Edgar Salin entlehnt. Edgar Salin, ein Groß­ neffe von Jacob Schiff, der sich als Jugendlicher auf Einladung seines On­ kels eine Weile in New York aufgehalten und unter den Reichen gelebt hatte, kannte man jedoch nicht nur als Ökonom, sondern auch als einen Ästhetiker, der den Dichtungen Stefan Georges anhing. Die ästhetische Sensibilität zeigt sich in der überzogenen Radikalität, mit der er zwei Be­ trachtungsweisen in der Ökonomie voneinander scheidet: die eine abstrakt und individualistisch, die andere konkret-geschichtlich und „organisch“ mit Wurzeln in der deutschen Romantik. Salin schlug Karl Marx und Weber der letzteren Richtung zu. Freilich war es unmöglich, sie in ein derart grobes Schema zu pressen, ohne ihre Positionen jeweils erheblich zu verzerren, und tatsächlich verwarf Parsons den Gedanken ein paar Jahre später völlig, als er The Structure of Social Action schrieb. Als er die Protestantische Ethik übersetzte, können ihm diese Dichotomien bei seinen Entscheidungen über die Begrifflichkeit und die kategorialen Differenzierungen schwerlich von Nutzen gewesen sein. Was das Problem des Kapitalismus selbst betraf, so hatte Webers Abhand­ lung für Parsons zwei große Vorteile. Erstens befasste sie sich kritisch mit der „ökonomischen Interpretation der Geschichte“ und zeigte auf, dass die Probleme des modernen Kapitalismus nicht ausschließlich mit den Werk­ zeugen der abstrakten Wirtschaftstheorie angegangen werden dürfen, son­ dern dass es dazu auch die Mittel und Methoden der vergleichenden Ge­ schichte und der soziologischen Erforschung braucht. Zweitens lieferte sie eine klärende Antwort auf das ,Problem‘ des Kapitalismus an sich, das aus Parsons (wie aus Webers) Sicht eine Sache des Verstehens der „eigentüm­ lichen Rationalität“ des modernen Kapitalismus war. Diese Rationalität be­ stand Parsons kurzer Wiedergabe der Weber’schen Darstellung zufolge in

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II. Teil: Das Werk in Amerika

den (1) rationalen Formen der Organisation und der Institutionen, wie Bü­ rokratie, rationales Recht, rationale Buchhaltung und die rationale Organi­ sation der formell „freien“ Arbeit; und der (2) charakteristischen „Ausrich­ tung der gesamten Lebensführung des modernen Menschen auf einen spe­ ziellen Wertekanon“, zusammengefasst in der Wendung „der Geist des Ka­ pitalismus“. Resultat dessen war ein sozioökonomisches System, das Parsons in seiner Dissertation als „objektiv“ bezeichnete – das heißt als ein unab­ hängig vom Willen der Einzelnen existierendes; „mechanistisches“ oder auf Vertragsbeziehungen beruhendes; „ästhetisches“ im Sinne der Bejahung überpersönlicher Handlungsnormen wie „Produktivität“ und „Dienstleis­ tung“; „autonomes“, weil seinen eigenen Entwicklungsgesetzen folgendes; und „rationales“ System in dem doppelten Sinne des Einsatzes von Mitteln zur Erreichung von Zwecken und der Forderung nach „äußerster Disziplin und Selbstbeherrschung im gesamten Leben jedes Einzelnen“. Die stärker ,psychologisch‘ eingefärbte und an ,kulturellen‘ Zusammen­ hängen orientierte Sprache, von der Weber gelegentlich Gebrauch machte, diente ihm dazu, der speziellen Merkmale und rationalen Prinzipien des modernen Kapitalismus habhaft zu werden, wie aus Parsons selbstverfasster Gliederung der „Vorbemerkung“ (GARS 1:1–12) hervorgeht, die im Folgen­ den genauso wiedergegeben werden soll, wie er sie aufgeschrieben hat, samt der Verweise auf die Seitenzahlen des deutschen Textes (TPP): Staatsbegriff 4 Kap. die schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens 4 Unmittelbar danach Charakteristik des Kapitalismus 4–5 Anmerkung gegen Brentano 4–5   Simmel, Sombart Begriff des Kapitalismus überhaupt 6 Spezifische Eigenart des modernen Kapitalismus 6–7   Rationale Organisation 7   Trennung von Haushalt u. Betrieb 8   Rationale Buchführung 9   Kap. Arbeitsorganisation 9   Rat. Sozialismus 9   Das Zentrale Problem 10    Entstehung des Bürgertums    Eigenart der mod. Wissenschaft Wichtige Quellen des Kapitalismus 11 Recht   Rationalismus der okzidentalen Kultur, 11   Religiöse und magische Mächte 12 Asketischer Protestantismus



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes273

Auf diesen durchgesehenen und überarbeiteten Seiten, die Weber 1920 veröffentlicht hatte, kommt auch der Begriff der Lebensführung vor, in Parsons Stichpunkten hingegen nicht, wo er stillschweigend dem „Rationa­ lismus der okzidentalen Kultur“ untergeordnet ist. In dieser Hinsicht sind die modernen Einwände gegen Parsons intellektuelle Entscheidungen richtig und wichtig: Sie lenken unsere Aufmerksamkeit auf eine (Be-)Deutungsebe­ ne, auf der er die Konturen verwischte. Die ganze so reiche Begrifflichkeit der mit „Leben“ gebildeten Substantive, die im fünften Kapitel der Protestantischen Ethik von solch zentraler Wichtigkeit ist – Lebensführung, Lebensstil, Lebensideal, Lebensanschauung, Lebensauffassung, Lebensstimmung – verlor ihre gestaltbildende Kraft in Parsons eher verhalten formu­ lierten Fassung. Vielleicht war es die Simmel’sche Neigung zu diesen ge­ dämpfteren Tönen, eine Erinnerung an das letzte Kapitel über den „Stil des Lebens“ („Style of Life“) in Georg Simmels Philosophie des Geldes, was es Parsons ratsam und zweckmäßig erscheinen ließ, das Trennende zu beto­ nen und in diesen Fällen ein weniger kulturell- und psychologisch-andeu­ tendes Vokabular zu verwenden bzw. Webers Erfindungen insgesamt zu vernachlässigen. Ungeachtet solcher Entscheidungen als Übersetzer, trifft es ferner zu, dass Parsons mit seiner Deutung die übergreifende Begrifflichkeit von Rationa­ lismus, Rationalität und Rationalisierung genau erfasste, die für Webers Darstellung der Askese und des kapitalistischen ,Geistes‘ von zentraler Bedeutung war. Diese Theoriesprache hat die Zeiten überdauert als eines der markantesten Wegzeichen von Webers Denken und hat es inzwischen zu einem Eigenleben gebracht. Was das betrifft, waren Parsons Richtungsvor­ gaben klug gewählt: Sie wurden dem, wie Weber gesagt hätte, ,kulturell bedeutungsvollen‘ Problemkomplex der modernen Welt auch weiterhin ge­ recht – nämlich der „eigentümlichen Rationalität“ der kapitalistischen Kul­ tur des Westens und dem fraglichen Wesen des modernen Kapitalismus als „schicksalsvollste Macht“, als dynamisches sozioökonomisches System im Zeitalter der ,Globalisierung‘, wie es heute heißt. Für Parsons war die Übersetzung der Protestantischen Ethik nur eine Episode am Beginn seiner Laufbahn, an die er – wie an ein militärisches Ausbildungslager gleichsam – nicht mehr dachte und die er hinter sich gelassen hatte. Er brachte sie nur noch ein Mal zur Sprache, und bei dieser Gelegenheit spielte er sie dramatisch herunter; nachdem er von Marianne Weber unterstützt und mit Oskar Siebeck bekanntgemacht worden war, hielt er lediglich fest: „Ich ging zu Siebeck und handelte die Bedingungen aus. Er wiederum organisierte die Veröffentlichung der englischen Fassung durch Allen & Unwin in London. Sie erschien nach einigem Hin und Her im Frühsommer 1930.“

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Das Resultat dieses „Hin und Her“ war jedoch ein Text, bei dem es sich streng genommen nicht um die von Parsons gewollte Fassung handelte, sondern um einen Eingriff, der die Dinge nicht besser machte, um eine ,inkorrekte Korrektur‘ oder eine echte Verschlimmbesserung, um das schöne deutsche Oxymoron zu verwenden. Doch der Text war zustande gekommen und stellte eine bleibende Leistung dar, und dennoch kam er zur Unzeit, denn gerade als er herausgebracht wurde, schien sein Problemgegenstand – der Kapitalismus und sein „Geist“ – auf die Selbstzerstörung zuzusteuern. Der Crash an der New Yorker Aktienbörse im Oktober 1929 fiel zusammen mit dem abschließenden Korrekturlesen, den Beschwerden der Schriftsetzer und Parsons letzten Bemühungen um die Richtigstellung der Fehlverbesse­ rungen, auf die hin er gewarnt wurde, „dass Sie mit ihren Autorenkorrektu­ ren über den erlaubten 10 Prozent liegen.“ (27. Januar 1930; TPP) Während das Problem des Kapitalismus die Welt mit voller Wucht getroffen hatte, vermochte eine von einem deutschen Autor verfasste gelehrte Abhandlung über die „Arbeitsethik“ und ihre kulturell-religiösen Ursprünge mit ihrem überbordenden Schwung vielleicht Ablenkung zu schaffen. Der ,Geist‘ des Kapitalismus hatte eine zu finstere Gestalt angenommen. Der Leiter von Allen & Unwin in London konnte in der Folge von insgesamt nur 1009 verkauften Exemplaren im Jahre 1933 berichten. „Das Buch wird aktuell wenig nachgefragt“, sinnierte er, „und es ist unwahrscheinlich, dass es uns überhaupt je gelingen wird, mindestens 2.500 davon abzusetzen“ – eine grandiose Fehleinschätzung in Anbetracht der Nachkriegsentwicklungen. Auf Parsons Übersetzungsarbeit, die zugleich eine ungewollte Interpretation darstellte, wartete eine neue Generation von Lesern in einem enorm verän­ derten Umfeld. Heute sollten wir Parsons PESC noch einmal genau in den Blick nehmen und einer Neubewertung unterziehen, aber nicht etwa bloß deshalb, weil der Text voller Fehler steckt. Wir sollten das tun, weil es sich bei ihm um ein gemeinschaftlich hervorgebrachtes Artefakt handelt, um ein Beispiel für die Wechselfälle der ,Autorschaft‘. Natürlich liest jede Generation einen Text vor dem Hintergrund ihrer eigenen Problemstellungen und Fragen, und eine neue Generation wird ihn anders lesen und wird ihn logischerweise ver­ ständlicher und anschaulicher und dem Zeitgeist zugänglicher machen wol­ len. Doch was verbirgt sich hinter diesen Komparativen? Sollen neue Les­ arten den früheren vorgezogen werden? Hätte ein anderer Text, der Parsons ursprünglichen Hervorhebungen, Anführungszeichen und randständigen Seitenzahlverweisen von GARS Band I treu geblieben wäre, auch nur das kleinste bisschen am Weberbild und der Interpretation seines Werks geän­ dert? In der tatsächlich vorliegenden und Parsons zugeschriebenen Überset­ zung hat Webers Text zweifellos etwas von seiner Subtilität und Textur, seiner Akzentuierung, begrifflichen Präzision und von seinem Sinnzusam­



12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes275

menhang eingebüßt. Zwar wurde er einer neuen, englischsprachigen Leser­ schaft erschlossen, das jedoch als eine einfachere und schematischere Ab­ handlung. Dem sorgfältigen englischen Leser mussten die sprachlichen Feinheiten, problematischen oder übernommenen Gedanken und die Art von auktorialer Distanz nahezu gänzlich verborgen bleiben, die Weber vermit­ teln wollte, als er seine kulturelle Geschichte und ,Erklärung‘ des Zusam­ menhangs – der „Wahlverwandtschaft“ – zwischen der „protestantischen Ethik“ und dem „Geist“ des Kapitalismus entfaltete. Querabgleiche von Original und Übersetzung erwiesen sich als äußerst schwierig, wie jeder weiß, der sich beispielsweise schon einmal die Mühe gemacht hat, nach den Stellen zu suchen, vier an der Zahl, an denen Weber die Wendung Entzauberung der Welt (disenchantment of the world) benutzt, die Parsons tatsäch­ lich immer etwas anders übersetzte. Vielleicht wären wir mit Parsons ur­ sprünglicher Fassung und einer originalgetreueren Typographie schneller zu jener eigentlichen Fragestellung gelangt, die Webers Vorstellungen erst Le­ ben einhauchte. Vielleicht hätten wir fruchtlose Debatten über Positionen vermieden, die Weber zugeschrieben wurden, die er aber nie vertreten und in manchen Fällen sogar explizit zurückgewiesen hat. Vielleicht, vielleicht… Doch halt! Weil wir über Parsons ursprüngliche Maschinenfassung verfü­ gen – die den hingekritzelten Vermerk eines unbekannten Archivars trägt: „Dies sollte als ein historisch wertvolles Dokument aufbewahrt werden“ –, könnte ein unternehmerischer Geist sich auch jetzt noch daranmachen, Par­ sons authentische Übersetzung von Webers Text herauszubringen, aus der mit ein paar wirklich minimalen Änderungen in den Fällen berechtigter Einwände seiner posthumen Kritiker – ein Wort hier, eine Wendung da – durchaus die maßgebliche Fassung des berühmtesten Werkes der Soziologie werden könnte. Und warum das Ganze? Welchem Zweck – geistiger, wis­ senschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, historischer oder persönlicher Art – würde ein solches Projekt dienen? Zur Verteidigung der Überset­ zungsarbeit, die viel Mühe gekostet und wenig Wertschätzung erfahren hat, reicht es vielleicht, wenn man antwortet, und dabei unseren Autor paraphra­ siert, dass auch die Detektive unter uns nie mit Bestimmtheit wissen kön­ nen, wann neue große kulturelle Probleme und Fragestellungen hervortreten werden, und mit ihnen bislang noch nicht zum Ausdruck gelangte Ressour­ cen des Textes sowie innovative Deutungen, Missdeutungen und Neudeu­ tungen.

13. Die Erfindung der Theorie Das Schicksal von Max Webers Protestantischer Ethik ist ein fesselndes Kapitel der Soziologie des Wissens. Die gesellschaftlichen Kräfte, unter deren Wirkung Talcott Parsons seine Übersetzung anfertigte, bilden wiede­ rum ein umfangreicheres Lehrstück der Politik und Soziologie der Ausfor­ mulierung, Präsentation und Verbreitung von Webers Denken. Und ein Lehrstück bilden auch die nachfolgenden Entwicklungen – insbesondere die äußerst wichtigen nächsten beiden Schritte auf Webers amerikanische und englischsprachige Leserschaft zu: die 1946 zur rechten Zeit gekommene Veröffentlichung der von Hans Gerth unter Mitwirkung von C. Wright Mills ausgearbeiteten Übersetzung einiger der wichtigsten Texte aus dem WeberCorpus in From Max Weber: Essays in Sociology; und im darauffolgenden Jahr Talcott Parsons letzter Beitrag zur Weber-Übersetzung, der erste Teil von Wirtschaft und Gesellschaft, den Parsons als The Theory of Social and Economic Organization für den Druck freigab: ein ehrgeiziger Titel, der nur noch in vager Verbindung zu Webers Originalmanuskript stand. Wenngleich Parsons Fassung der Protestantischen Ethik sicherlich ein besonderer Platz im Pantheon des Weber’schen Werks gebührt, haben die beiden Texte von 1946 und 1947 das Wissen über Weber in neue und un­ erforschte Bereiche hinein erweitert. From Max Weber bot eine prägnante Auswahl von zentralen Texten über Politik, Wissenschaft, die Religionsso­ ziologie, über Bürokratie, Charisma und andere aus Wissenschaft und Gesellschaft entnommene Themen, während The Theory of Social and Economic Organization auf dem Taschenbuchcover beworben wurde als „die umfangreichste Allgemeindarstellung von Max Webers soziologischer The­ orie und ihrer Anwendungen auf die weit gefassten empirischen Probleme der Geschichte in ihrer Struktur und ihrem Wandel“. Parsons meinte das Wort für Wort: Sehet, endlich, den Universaltheoretiker Weber! Die Be­ hauptung hat in der Folge ein Eigenleben gewonnen. Als sich die Interna­ tional Sociological Association vor ein paar Jahren dazu entschloss, ihre Mitglieder zu befragen, welches Buch sie für das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts in der Soziologie hielten, erwies sich nicht die Protestantic Ethic als unangefochtener Sieger, sie brachte es immerhin auf den vierten Platz, sondern Webers Economy and Society. Das ist ein erstaunliches Re­ sultat für eine Abhandlung, die zum größten Teil aus Manuskripten und Aufzeichnungen besteht, die ihr Autor selbst nie für eine Publikation als zusammenhängender Text vorbereitet hatte.



13. Die Erfindung der Theorie277

Gerth und Mills bringen eine Weber-„Quellensammlung“ heraus From Max Weber: Essays in Sociology erschien, als die amerikanischen Nachkriegsuniversitäten und die Sozialwissenschaften in eine neue Phase beispielloser Entfaltung eintraten. Dass Gerth und Mills sich für das ,Reader‘-Format entschieden – der für den Unterricht konzipierte Text be­ gann mit einer informativen und spannend aufbereiteten Einführung in Webers Leben und sein Werk –, zeigte ihren redaktionellen Sachverstand, der von einer Vermarktungsexpertise bei Oxford University Press abgestützt wurde. Selbst Edward Shils, der damit gedroht hatte, das Projekt zu verzö­ gern oder dafür zu sorgen, dass es allmählich in Vergessenheit geriet, wie Guy Oakes und Arthur Vidich nachgewiesen haben, musste ihm später wi­ derwillig seine Bewunderung aussprechen. Wobei er das bloß hinter den Kulissen tat, wenn man so will, und nicht in einem zu Lebzeiten zur Ver­ öffentlichung bestimmten Text; er schrieb, „Obwohl ich der Meinung bin, dass Gerths und Mills Weberübersetzungen nicht sonderlich geglückt sind, so handelt es sich doch um die Arbeiten, die Max Weber in Amerika und England bekannt machen und sein Ansehen heben. Vor Erscheinen dieses Sammelbandes lag kaum etwas von Max Weber in Englisch vor, wobei die Texte, die es gab, auf ihre Weise sehr gelungen sind. Gerth und Mills haben jedoch einige ziemlich wichtige Schriften zugänglich gemacht, obgleich in einer sehr melodramatischen Übersetzung und einer tendenziös in diese Richtung weisenden Auswahl.“ Selbst als er ihnen in einer privaten Notiz Lob zollte, konnte er sich beißende Nebenbemerkungen nicht verkneifen und er genoss es, Gerth „Inkohärenz“ und „Unverständlichkeit“ vorzuwer­ fen oder ganz besonders bissig gegen Mills vorzubringen, dass er „ein ge­ wöhnlicher, energischer, halbgebildeter und produktiver Rohling geblieben wäre, wenn nicht Gerth mit seinem Wissen über Weber einen zivilisierenden Einfluss auf ihn gehabt hätte“. Diese Salve aus Shils Magazin darf als die originellste Gunstbezeigung gelten, die Weber je zuteil wurde. Es ist noch untertrieben zu sagen, dass sich diese Konkurrenten während und nach der Veröffentlichung von From Max Weber wenig Pardon gaben. Oakes und Vidich sind dem bemerkenswerten Geschehen nachgegangen und haben detailliert dargelegt, wie die anfängliche Zusammenarbeit in Konkurrenz, Geheimhaltung, Misstrauen und Eifersucht unter Berufskolle­ gen umschlug, was schließlich zum Abbruch der Beziehungen zwischen Gerth und Shils führte. Oakes und Vidich kamen zu demselben Schluss wie Mills selbst, dass der Reader nur um den Preis der kollegialen Freundschaft zwischen Gerth und Shils herausgebracht werden konnte. In diesem Zusam­ menhang waren zwei Faktoren entscheidend. Erstens kam es zur sogenann­ ten „Shills-Affäre“, die zurecht so heißt, weil sie in ihren bedenklichsten

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Aspekten ein Kampf um ,Anspruchs‘-Rechte in der Wissenschaft war. In dieser verwickelten Beziehung war Gerth auf ein Gebiet vorgedrungen, das Shils mit seiner Manie für die Übersetzung schwieriger Webertexte als Ers­ ter besetzt hatte. Die Sache begann gewissermaßen mit einem Zufall, da Gerth sich eigenem Bekunden nach während des Krieges als registrierter Ausländer in Madison in Wisconsin wiederfand und die Stadt nur mit Son­ dergenehmigung verlassen durfte. Um der Langeweile zu entkommen und vielleicht auch, um sein Englisch zu verbessern, nahm er sich Texte von Weber vor und begann sie zu übersetzen. Aus seiner Sicht hatte Shils sich bereits auf die schwierige Aufgabe verlegt, Karl Mannheim zu übersetzen, hatte zusammen mit Louis Wirth Ideology and Utopia fertiggestellt (1936) und sich dann Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus zugewandt (erschienen 1940 als Man and Society in the Age of Reconstruction). In der Veröffentlichungswelt war Weber von allen wichtigen deutschsprachigen Vorläufer-Autoren als einziger im Wesentlichen noch unberührt geblieben. Aus Gerths Sicht gab es keine bessere und sinnvollere Aufgabe, als dieses Versäumnis nachzuholen und die klaffende Lücke langsam zu schließen. Shils aber war es unmöglich, diese offenkundige Arbeitsteilung mit seinem eigenen Sendungsbewusstsein in Einklang zu bringen. Gerth war der Natur der Sache nach ein gefährlicher Konkurrent, der sich auf heiliges Gelände vorgewagt hatte. Aufgrund seiner Ausbildung und seiner Arbeitsbeziehun­ gen mit Leuten wie Mannheim und wegen seiner Sprachbegabung war er jemand, der Shils ganz hätte verdrängen können. Zweitens kaschierte Gerths beiläufige Darstellung seines Vordringens auf das Feld Webers eine feste pädagogische Absicht, die er mit Knight und Shils an der University of Chicago gemeinsam hatte: seinen Studenten gute neue Texte über wichtige Gegenstände zugänglich zu machen, die ihren Lese- und Deutungshorizont erweitern und seine Lehre aufwerten würden. Selbst in der Methode bestanden Ähnlichkeiten, da auch er fortgeschrittene Studenten als Mitarbeiter verpflichtete und dazu heranzog, einen fertigen und den sprachlichen Gepflogenheiten entsprechenden Textentwurf zu erar­ beiten, dem er selbst nach sorgfältigem Abgleich mit dem Original die Zustimmung erteilte, woraufhin dieser dann für den Unterrichtsgebrauch und zur Weiterverbreitung vervielfältigt wurde. Im Soziologiedepartment der University of Wisconsin fiel Gerths Wahl auch auf Mills. Was als eine pädagogische Übung begonnen hatte, entwickelte sich über mehrere Semes­ ter peu à peu zu einem lokalen Veröffentlichungsunternehmen für Webertex­ te, in dessen Verlauf Gerth und Mills die Koordinaten für ihre editorische Beziehung und Arbeitsteilung festlegten. So seltsam es klingen mag, Mills Rolle im Anspruchsstreit und bei der Unterstützung und Förderung von Gerths Begabung trug ganz maßgeblich



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zur Ausweitung der Kenntnisse über Weber und sein Werk bei. Wäre Gerth seiner eigenen desorganisierten Brillanz überlassen geblieben, hätte er sehr wahrscheinlich nie eine Reihe von Webertexten zusammenstellen können, die die Aufmerksamkeit eines renommierten großen Verlages gefunden hät­ te. Doch durch Mills unternehmerisches Talent, seine Karriereambitionen, sein Gespür für das Publikum und den Verlagsmarkt und der reinen Chuzpe und ,Gewieftheit‘, die er an den Tag legte, bildeten der ältere immigrierte Wissenschaftler und der ehemalige Student der University of Texas ein formidables Gespann. Das Buch, das dieser Zusammenarbeit entsprang, war genau die Art von Quellensammlung, die Ralph Barton Perry seinerzeit vorgeschwebt hatte, als Parsons an der Übersetzung der Protestantischen Ethik saß – ein Buch freilich, das bei weitem kein Kompendium des Weber’schen Denkens war. Perrys Ansicht nach brauchte es einen kostengünstigen Reader, der den Unterrichtsbedarf an den amerikanischen Hochschulen zu decken vermoch­ te, wo die Wissensvermittlung im Vordergrund stand und wo die Einfüh­ rungsveranstaltung und die Lektüre und Analyse von Texten im besten Fall mit ambitionierteren Zielen in einem Wettbewerbsumfeld verbunden waren: Hörer anzulocken, viel versprechende Studenten zu rekrutieren und die höhere Ausbildung sowie die Forschungsprogramme voranzubringen. In dieser Hinsicht und in diesem Zusammenhang vermochte From Max Weber „Weber bekannt zu machen“, wie Shils festhielt. Der Gerth-Mills-Partnerschaft entsprangen darüber hinaus noch eine gan­ ze Reihe von Veröffentlichungen, darunter ihr 1953 erschienenes sozialpsy­ chologisches Gemeinschaftswerk Character and Social Strucure (dt.: Person und Gesellschaft: Die Psychologie sozialer Institutionen), vor allen Dingen aber die populären Abhandlungen, die Mills unter Rückgriff auf Gerths reiche Ideenwelt zusammenstellte, etwa White Collar: The American Mid­ dle Classes (1951; dt.: Menschen im Büro) und The Power Elite (1956; dt.: Die amerikanische Elite: Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten). Mills Meisterstück bei der Umarbeitung der Theorie bestand darin, die Wege aufzuzeigen, wie sich Elemente aus Webers Denken zu einer ,webe­ rianischen‘ Kritik der sozialen Klasse, Macht, Organisation und des sozialen Standes im modernen Amerika zusammenfügen ließen. Unabhängig davon hat Mills, wie man der Fairness halber sagen muss, seinen Denkgefährten nach Kräften unterstützt, damit der in Bezug auf Webers Werk den nächsten Riesenschritt nach vorn machen konnte. „Warum schreibst du nicht die definitive intellektuelle Biographie Webers?“, fragte er ihn herausfordernd. „Warum in Gottes Namen gehst du die Sache nicht an? Du bist eindeutig der richtige Mann dafür. Das wäre der Weg, der Königsweg, um all deine

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Abbildung 12: C. Wright Mills 1954 in seinem Büro an der Columbia University mit den Weber-Übersetzungen hinter sich; fotografiert für das Life Magazin als der gefeierte Autor von White Collar. Aufnahme durch Fritz Gorro. Abgedruckt mit Genehmigung von Getty Images.

Übersetzungsarbeiten zu befestigen. Wenn du dich dazu entschließen soll­ test, so lass dir bitte gesagt sein, dass ich das Manuskript, soweit es das Englische betrifft, sehr gerne ohne Erwähnung meines Namens überarbeiten würde. Ich meine das ernst. Denk’ darüber nach. Der Verleger hätte kein Problem damit“ (22. Dezember 1959). Gerth blieb in dieser Sache mit Ox­ ford University Press in Kontakt, doch er ließ sich auch von der Lehre und den alltäglichen Trivialitäten in Beschlag nehmen, und als Mills plötzlich



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starb, verlor das Projekt mit ihm seinen Impresario. Das große definitive Werk steht, so scheint es, immer noch aus. Parsons „Theory of Social and Economic Organization“ Die Gemeinschaftsproduktion, mit Hans Gerth im Zentrum, nahm ihren Anfang an der University of Wisconsin; ihr verdanken wir die Fertigstellung des von Oskar Siebeck und Talcott Parsons Mitte der 1920er Jahre ins Au­ ge gefassten Projekts, wenngleich durchaus nicht in der von ihnen präferier­ ten Form: der Übersetzung aller drei Bände der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie. Immerhin aber wurden diese Aufsätze in englischer Sprache zugänglich gemacht, wenn sie sich auch auf fünf aufeinanderfol­ gende Bücher verteilten, Gerth und Mills Reader inbegriffen. Nach wie vor unerschlossen war der respekteinflößende Teil des Werkes, in dem viele Webers Opus Magnum sehen: die als Wirtschaft und Gesellschaft bekannte Stoffsammlung. Die Aufforderung, diesem Versäumnis abzuhelfen, landete abermals auf Talcott Parsons Schreibtisch. Die Veröffentlichung der Gesamtheit von Wirtschaft und Gesellschaft ist eine ziemlich verwickelte Angelegenheit, von der Übersetzung gar nicht zu reden. Der deutsche Text bestand zum Großteil aus unfertigen Manuskrip­ ten, die Marianne Weber mit der Hilfe von Melchior Palyi nach dem Tod ihres Mannes herausgebracht hatte. Dass sich die Veröffentlichung mit der Zeit nur immer noch komplizierter gestaltete, hatte verschiedene Gründe: das Verschwinden großer Blöcke von Webers handschriftlichem Original; die Frage nach der Verortung des Werks im Grundriß der Sozialökonomik, dem mehrbändigen sozialökonomischen Grundlagenwerk, das Weber selbst während seines letzten Lebensjahrzehnts als leitender Herausgeber für Os­ kar Siebeck betreut hatte; die Frage, in welchem Verhältnis Webers Beiträge zu dieser enzyklopädischen Unternehmung standen; und schließlich der Umstand, dass der von Marianne Weber herausgegebene und später von Johannes Winckelmann modifizierte Text einer kritischen Prüfung unterzo­ gen wurde, die Zweifel an seiner Genauigkeit aufkommen ließ, sogar was den eigentlichen Titel des Werks betraf. Die aktuelle Rekonstruktion durch die Herausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe verspricht eine Lösung für diese Schwierigkeiten, jedenfalls für den deutschen Text. Parsons, der in den 1920er Jahren unverhofft auf Weber gestoßen war und in den 1930ern über die Problemstellungen in dessen Denken arbeitete, war sich dieser editorischen Komplikationen und Verwicklungen nicht bewusst. Er kaufte und las den Text von Wirtschaft und Gesellschaft erstmals wäh­ rend seiner Studentenzeit in Heidelberg, in der als dritter Teil des Grundriß der Sozialökonomik veröffentlichten Ausgabe von 1922, mit der Marianne

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Weber und Palyi der Leserschaft eine systematische und kohärente Abhand­ lung an die Hand geben wollten. Das in seinem Nachlass erhaltene Buch mit seinem eigenhändigen Eintrag „Talcott Parsons Heidelberg 1925“ ent­ hält zahlreiche Unterstreichungen (in vier Farben!) und viele deutsche und englische Randbemerkungen. Die deutschen Anmerkungen sind vermutlich älter, was allerdings nicht sicher ist. Auf alle Fälle wurde der Text gründlich durchgearbeitet – und das viele Male. Wenn Parsons die Protestantische Ethik rasch wie einen Kriminalroman las, dann muss er sich durch Wirtschaft und Gesellschaft Schritt für Schritt durchgearbeitet und den Text gelesen haben wie ein monumentales Epos vom Schlage der Odyssee Homers oder Leo Tolstois Krieg und Frieden, wenn nicht „like a Chinese book“, wie das kompilierte Werk Wolfgang Mommsen zufolge zum richtigen Verständnis gelesen werden müsste. Das gründliche Studium war eine erhellende Erfahrung für Parsons und ganz anders als die Begegnung mit der Protestantischen Ethik. Gleich blieb in­ des, dass er sich knappe Bemerkungen an den Rand notierte: „sehr wichtig“ und „Anknüpfung an Sombart“ heißt es beispielsweise neben Webers dick unterstrichener Charakterisierung von Henry Villards „blind pool“-Hand­ streich auf den Aktienbesitz der Northern Pacific Railway als ein Beispiel für den „Beutekapitalismus“, dessen Erscheinungen, in ihrer ganzen Struktur, ihrem „Geist“ nach, grundverschieden von der rationalen Leitung eines regulären großkapitalistischen „Betriebs“ [sind], gleichartig dagegen den ganz großen Finanz- und Kolonialausbeutungsunternehmungen und dem mit Seeraub und Sklavenjagd vermengten „Gelegenheitshandel“, wie es sie seit den ältesten Zeiten gegeben hat. Das Verständnis der Doppelnatur dessen, was man „kapitalistischen Geist“ nennen kann, und ebenso das Verständnis der spezifischen Eigenart des modernen, „berufsmäßig“ bürokratisierten Alltagskapitalismus ist geradezu davon abhängig, daß man diese beiden, sich überall verschlingenden, im letzten Wesen aber verschiedenen Strukturelemente begrifflich scheiden lernt.

Das Beispiel, das der Familiengeschichte der Webers und Amerikas Gilded Age entstammte, warf die Frage nach der ,Rationalität‘ des voll entwi­ ckelten Kapitalismus auf, die sich auch Sombart gestellt hatte. Die Stelle fesselte die Aufmerksamkeit des jungen Parsons, weil er in Passagen wie diesen nicht nur den familiären Hintergrund wahrnahm, sondern auch eine Ausformulierung des Begriffs des modernen Kapitalismus – der „spezifi­ schen Eigenart des modernen ,berufsmäßig‘ bürokratisierten Alltagskapita­ lismus“, wie es wörtlich heißt. Das Konkrete wurde zum Allgemeinen, weil Parsons in Webers Text auch eine theoretische Analyse des größeren, allge­ meineren Problems der ,Rationalität‘ als solcher sah – namentlich der Ra­ tionalität alles sozialen Handelns. Wie dargestellt, waren die verschiedenen Bemühungen um die Überset­ zung von Wirtschaft und Gesellschaft, die mit den Namen von Knight,



13. Die Erfindung der Theorie283

Shils, Alexander von Schelting und anderen verbunden sind, in den 1930er Jahren vorangekommen. Hatte Parsons frühere Ersuchen noch abgelehnt, nahm er sich der Aufgabe 1939 schließlich doch an, allerdings erst, wie er erklärte, auf eine Anfrage Friedrich von Hayeks hin, bei der Fritz Machlup, Ökonom an der University of Buffalo, als Mittelsmann auftrat. Nachdem Hayek von Wien an die London School of Economics gewechselt war, hatte er den jungen Ökonomen Alexander Henderson ermutigt, die ersten beiden Kapitel des Textes zu übersetzen. Aus Sorge um die Qualität der Übersetzung hatte er dann bei Parsons um Rat nachgefragt. Parsons fand die Arbeit sehr mangelhaft und äußerte dem Londoner Verleger James ­Hodge gegenüber erste Bedenken: [D]ieses Werk [Wirtschaft und Gesellschaft], vor allem das erste Kapitel, weist eines der ganz wenigen der schwierigsten Übersetzungsprobleme auf, die ich mir vorstellen kann. Einige der Hauptgründe hierfür sind die folgenden: Das Werk ist hochgradig technisch, und Webers begriffliche Einlassungen sind auf das Nötigste beschränkt; er verzichtet auf all die detaillierten Erklärungen und Anwendungen, die den Text viel eingänglicher machen würden. Dazu kommt, dass das Werk speziell in seinen methodologischen Teilen auf eine Entwicklung des Denkens aufbaut und auf Diskussionen rund um seine Problemstellungen, die in der eng­ lischsprachigen Welt keine direkte Entsprechung haben. Daher versteht der einge­ weihte deutsche Leser viele Ausdrücke und Verweise, die im Englischen gar kein richtiges Gegenstück haben. Weber baute auf diese Tradition auf und konkretisier­ te viele dieser Ausdrücke weiter, was das Problem noch verschärft. Und schließ­ lich ist Webers Stil unabhängig von diesen Überlegungen auf seine Weise schwie­ rig. (26. Januar 1939; TPP)

Angesichts dieser Vorbehalte legt Parsons sich die Frage vor, „ob es überhaupt ratsam ist, eine direkte Übersetzung auch nur zu versuchen“. Seiner Ansicht nach könnte es den Aufwand lohnen, aber nur dann, wenn man dabei äußerst sorgfältig vorginge, Gegenstand und Begrifflichkeit die größte Aufmerksamkeit zukommen ließe und das Ganze mit einer übergrei­ fenden Einführung flankieren würde – womit er sich gleichsam selbst ein Mandat für das Eingreifen erteilte. Parsons Reaktion war vielleicht nicht ganz uneigennützig, doch mit dem, was er über Webers Sprache sagte, traf er sicherlich einen richtigen Punkt. Begriffsbausteine wie Zweckrationalität (instrumental, purposive or meansto-ends rationality), Vergemeinschaftung (the process of forming communal relationships), Vergesellschaftung (the process of forming social relation­ ships; sociation oder association) oder selbst das gewöhnliche Adjektiv sinnvoll (meaningful) stellten spezielle Schwierigkeiten dar, für die eine Lösung gefunden werden musste. Dass Henderson offensichtlich dazu neig­ te, zweckrational mit „end-rational“ oder sinnvoll mit „significant“ wieder­ zugeben, trug Parsons zufolge nur noch mehr zur Verwirrung bei. Auch wenn Henderson eine naheliegende Verteidigungshaltung wählte, hatte er im

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Kern der Sache sicher recht: Hodge schrieb er, dass „Weber seine Leser in Begriffen denken lässt, die für den englischen Leser neu sind, und wenn die Begriffe verwendet werden sollen, dann braucht man auch eine neue Termi­ nologie, und es macht keinen großen Unterschied, ob man den Alltagswor­ ten eine neue technische Bedeutung gibt oder ob neue Wörter geprägt werden, doch eines von beiden muss erfolgen“ (undatiert, aber vor dem 14. März 1939; TPP). Anders gesagt bestand die vorliegende Aufgabe aus der Sicht beider Männer darin, eine neue Begriffssprache zu erfinden, ein Geflecht aus miteinander verbundenen Substantiven, Verben und Adjekti­ ven, das Webers Denken gerecht wurde und es in struktureller und inhalt­ licher Hinsicht abbildete. In dem folgenden Briefwechsel willigte Parsons in Hodges Bitte um Überarbeitung des Henderson’schen Entwurfs der ersten beiden Kapitel von Economy and Society ein und konnte den Verleger auch dazu bewegen, die Kapitel drei und vier von Wirtschaft und Gesellschaft mit aufzunehmen und so den ersten Teil des Textes zu vervollständigen, wobei er richtigerweise argumentierte, dass sie es mit einem Begriffsganzen zu tun hätten, das nicht auseinandergerissen werden sollte. Bei Teil 1 handelte es sich genau genom­ men um die „soziologische Kategorienlehre“, die Weber zuletzt (1919 und 1920) verfasst und dann selbst für die Veröffentlichung vorbereitet hatte. Ein Jahrzehnt war es her, dass Parsons sich mit Stanley Unwin und R. H. Tawney auseinandergesetzt hatte, und durch seinen Erfolg mit The Structure of Social Action (1937) befand er sich in der komfortablen Lage, seine Vorstellungen in dieser Sache durchsetzen zu können. Die Rollen waren nun vertauscht und statt Tawney wirkte jetzt Parsons als Vermittler und Richter in der Sache. Henderson geriet aufgrund seiner Einberufung zum Militär aus dem Blickfeld; letztlich lieferte er nie die von Parsons erbetene Über­ setzung der Kapitel drei und vier. Da das Feld nun ihm überlassen war, stellte Parsons in etwa vier Monaten Arbeit einen Übersetzungsentwurf fertig, dem er in einer Notiz an Robert Merton hinzusetzte, dass er ferner seinen „theoretischen Aufsatz“ bzw. seine Einführung in das Werk abge­ schlossen habe (28. September 1939; TPP). Durch den Zweiten Weltkrieg verzögerte sich die Veröffentlichung um acht Jahre. In der Zwischenzeit hatte Parsons den Text auf Mikrofilm auf­ genommen und Kopien an Merton von der Columbia University und an Howard Becker von der University of Wisconsin für deren Institutsbiblio­ theken gesandt. Bei der Ausarbeitung des Textes hatte er den Ökonomiehis­ toriker und Harvard-Kollegen Professor Edwin Gay hinzugezogen, um mit ihm das lange zweite Kapitel über die soziologischen Kategorien des wirt­ schaftlichen Handelns zu beraten, das in der Vergangenheit zu selten ange­ messen gewürdigt wurde, wenngleich es unlängst durch die einschlägigen



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Bemühungen Richard Swedbergs wieder ins Blickfeld gerückt ist. Außerdem benutzte er die früheren Übersetzungen von Shils und Schelting. Parsons verfolgte zwei umfassendere Ziele: erstens die Abstraktion einer theoretischen Sichtweise aus Webers empirischen Interessen. In einer Äuße­ rung über seine Übersetzertätigkeit brachte Parsons die Sache Louis Wirth gegenüber auf den Punkt: Webers theoretische Analyse ist ganz zweifellos an das empirische Interesse am Kapitalismus geknüpft. Mir scheint, dass sich das besonders deutlich bei der Klassifikation der Handlungstypen zeigt, bei der die beiden rationalen Typen ganz eindeutig den Mittelpunkt bilden und die beiden nichtrationalen Typen wirkende Restgrößen darstellen. Das Gleiche trifft auf das ganze typologische System von Wirtschaft und Gesellschaft zu. Beim gründlichen Durcharbeiten des Buchanfangs und beim Übersetzen fand ich diesen Eindruck nachhaltig bestätigt. An jedem wichtigen Punkt beschäftigt Weber die Frage, worin die Rationalität des Handelns besteht und auf welche Bedingungen sie sich stützt. Bei der berühmten Klassifi­ kation der Herrschaftstypen scheint mir ganz offensichtlich, dass die rationale, legale Herrschaft den begrifflichen Ausgangspunkt bildet und dass die beiden anderen Typen primär als ihre Antithesen in verschiedenen Hinsichten aufgefasst sind. (6. Oktober 1939; TPP)

Soweit die Übersetzung die Logik von Webers Denken offenlegte und seine theoretischen Annahmen herausstellte, erfüllte sie noch einen zweiten Zweck: die Leser mit einem gänzlich anderen Weber bekannt zu machen. Die Absicht trat in Parsons Einleitung deutlich hervor, denn dort hatte er sich, wie er Eric Voegelin gegenüber erklärte, mit einigen methodologischen Problemen von Webers Werk befasst, wobei ich seiner – wenn man so will – Soziologie der Institutionen im Bereich der Wirt­ schaft und dem der Politik den meisten Platz eingeräumt und mich speziell auf seine Lesart der modernen westlichen Sozialordnung und der Gründe für ihre Instabilität konzentriert habe. Mir schien es besonders wichtig, Nachdruck auf diesen Aspekt seines Werkes zu legen, weil man in Weber, wie Sie wissen, hier entweder den naiven Idealisten der Protestantischen Ethik sieht oder den Metho­ diker des Idealtyps. Dieser institutionelle Aspekt seines Werks ist in der englisch­ sprachigen Welt noch kaum angekommen. (1. August 1941; TPP)

Parsons hatte mit seinem eigenen Werk ungewollt dazu beigetragen, den früheren Eindruck von Einseitigkeit zu verfestigen. Die neue Übersetzung bot ihm Gelegenheit zur Korrektur und er entfaltete darin eine umfangreiche theoretische Begrifflichkeit zur institutionellen und strukturellen Analyse. Parsons gelang es mit der Theory of Social and Economic Organization – den Titel hatte er Hodge vorgeschlagen –, dem wissenschaftlichen Weber begrifflich gerecht zu werden. Er ersetzte den eher umgangssprachlichen und wörtlichen Ausdruck, den Shils und Schelting häufig bevorzugt hatten, durch einen abstrakteren Stil und verallgemeinerte Wendungen: zum Bei­ spiel „application to subjective processes“ für innerlich oder „the objective

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II. Teil: Das Werk in Amerika

point of view“ für äußerlich. Er entwickelte eine ausgefeilte Begrifflichkeit zur Bezeichnung der Typen des sozialen Handelns, der Grundlagen der Legitimität, der Kategorien des sozialen und wirtschaftlichen Handelns und des Systems der sozialen Schichtung. Fast alles davon ist in dem vollstän­ digen Text von Economy and Society, der heute gelesen wird, erhalten ge­ blieben, mit Ausnahme der unbedachten und ungünstigen Wahl von „impe­ rative control“ oder „coordination“ für Herrschaft, die er spät in sein Ma­ nuskript eingetragen hatte, statt der nunmehr üblichen Standardtermini „domination“ oder „authority“. In der gehobenen modernen Gesellschafts­ theorie führt die Zweckrationalität mittlerweile ein Eigenleben, zumeist als „instrumental rationality“ in den maßgebenden Übersetzungen von Jürgen Habermas’ Arbeiten. Und für einen schwer fassbaren Begriff wie Vergesellschaftung, den Parsons wechselnd als „associative relationship“ oder „orga­ nized activity“ wiedergab, gibt es schlichtweg keine festgelegte Lösung und wird es nie eine geben. Parsons anfängliche Skepsis war wohlbegründet; durch die Herauslösung aus ihrer sprachlichen Einbettung haben manche der Begriffe allzu viel von ihrem ursprünglichen Sinngehalt eingebüßt. Zufälligerweise waren die vier von Parsons übersetzten Kapitel praktisch Webers letzte Worte in der Sozialtheorie. Doch während die Religionssozio­ logie in einer weiten weltgeschichtlichen Perspektive entfaltet wurde, die in einer Fülle von historischen Beispielen zur Anschauung gelangte, war die Stoßrichtung in The Theory of Social and Economic Organization nunmehr eine andere. Diese Kapitel warteten mit etwas bemerkenswert Neuem auf: einem Monumentalbau aus Idealtypen des sozialen Handelns, die von der gänzlich formalen und legalen Rationalität bis zum rein affektiven Handeln und dem gewohnheitsmäßigen Tun reichten, wie Parsons bemerkte. Weber überließ sich hier seiner intellektuellen Neigung, diametral entgegengesetzte Positionen und extrem weit auseinanderliegende Alternativen auszumachen, um im Vergleich unterschiedliche institutionelle Möglichkeiten darzulegen. Jedes Entwicklungsschema, das sich vielleicht hätte abzeichnen können, verflüchtigte sich mit der Ausbreitung der reinen Typen, die Weber zur empirischen Untersuchung und Bewertung bestehender Sozialstrukturen oder sozialer Organisationen in scheinbar unbegrenzter Zahl zur Verfügung standen. Darüber hinaus wurde die für das soziale Handeln konstitutive Situation verdeutlicht: Der Einzelne war nunmehr vor die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen und ihren Konsequenzen gestellt. Die Übersetzung hatte ihr Ziel erreicht: Webers Werk war im Bereich der All­ gemeintheorien auf ein neues Bedeutungsniveau gehoben.



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Weber unter den Emigranten Von Hans Gerths und Talcott Parsons’ Rollen in dem Geschehen, in dem Weber zu Ansehen gelangte und das Wissen über sein Werk zunehmende Verbreitung fand, führt der Bogen zurück zu der dritten bedeutenden, etwas verstreuten Gruppierung von Wissenschaftlern, die mit den Universitäten in Verbindung standen und die Entwicklung der Sozialwissenschaften sowie den Verlauf des geistigen Lebens in Amerika mitbestimmten: die Zwischen­ kriegsgeneration der emigrierten Gelehrten und Universitätsprofessoren, ,Weimarer Intellektuellen‘ und Exilierten aus Nazideutschland. Auch sie waren Mitwirkende am Kampf um die Aneignung Webers, in dem viele „den wichtigsten Denker ihrer Zeit“ sahen, der den Debatten in den Sozial­ wissenschaften „die Begriffe lieferte“, um einen Historiker der New School for Social Research zu zitieren. Doch anders als die ersten beiden zuvor betrachteten Forscherverbunde bildete die Emigrantengemeinschaft keine wirklich zusammenhängende Gruppe. Der Ausdruck Verbund [cluster], der eine minimale Bindung impliziert, passte genau genommen nicht auf sie. Aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit, Verstreuung und inneren Spannungen muss diese Gruppierung als ein kompliziertes, vielschichtiges und umkämpftes patchwork aus ungleichen und manchmal zusammenfindenden sozialen und beruflichen Netzwerken aufgefasst werden. Die Emigration aus Deutschland überspannte im zweiten, dritten und vierten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehrere akademische Generationen der uns besonders interessierenden Sozialwissenschaftler, von Louis Wirth, der 1911 als Jugendlicher emigrierte, bis zu einem der wichtigsten Studen­ ten an der University of Chicago, Reinhard Bendix, der 1938 als 22-jähriger Student in die USA kam. Der spezifisch politische Ausdruck Emigrant verdeckte jedoch die Verschiedenartigkeit der Motive für den Aufbruch nach Amerika: eine mehr oder weniger freiwillige Entscheidung zur dauer­ haften Emigration unter dem ständigen Druck der Ereignisse, ein erzwun­ genes (und unter Umständen vorübergehendes) Exil, die Verfolgung als Jude oder die Vertreibung aus politischen oder ideologischen Gründen durch die Nazi-Machthaber nach 1933. Welche – für die soziale Ausdifferenzie­ rung und den sozialen Stand innerhalb der Emigrantengemeinschaft mitunter bedeutsamen – Motive und Gründe die Einzelnen auch hatten, es waren ganz besonders die Ankömmlinge aus dem deutschsprachigen Europa der 1930er Jahre mit ihren abrupt unterbrochenen und möglicherweise für im­ mer zerstörten Laufbahnen, die dem vielgestaltigen Gebilde ein gewisses Wir-Gefühl vermittelten. Was diese Menschen zu einer Art Schicksals­ gemeinschaft verband, war die Erfahrung der Vertreibung, die Theodor W. Adorno als „beschädigtes Leben“ bezeichnete.

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Ein Gefühl für die Art dieses Bruchs und die vieldeutigen Empfindungen, die er auslöste, vermittelt auf ungewöhnliche Weise eine der vielen Nach­ kriegskorrespondenzen zwischen Karl Jaspers, einem Verehrer Webers, und Hannah Arendt. Am 19. April 1950, zwei Tage bevor Max Weber 86 alt geworden wäre, hatte Jaspers in seinem Haus im Baseler Exil einen Traum, von dem er Hannah Arendt brieflich in Kenntnis setzte: „Gestern nacht träumte ich merkwürdig. Wir waren zusammen bei Max Weber. Sie – Han­ nah – kamen zu spät, wurden mit Jubel empfangen. Der Aufgang führte durch eine Schlucht. Die Wohnung war die alte. Max Weber war gerade von seiner Weltreise heimgekehrt, hatte politische Dokumente und Kunstwerke, besonders aus Ostasien mitgebracht. Er schenkte uns einen Teil, Ihnen die besten, weil sie mehr von Politik verstanden als ich.“ Arendt, die gerade dabei war, The Origins of Totalitarianism (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) fertigzustellen, antwortete: „Ich habe noch viel Max Weber gelesen – eigentlich auf Ihren Traum hin. Der hat mir erst so blöd­ sinnig geschmeichelt, daß ich mich vor mir selbst geschämt habe. Aber diese [Webers] Meisterschaft der Nüchternheit ist doch nicht zu erreichen, wenigstens mir nicht.“ Und weiter heißt es in dieser Selbstbetrachtung: „Etwas Dogmatisches bleibt bei mir immer irgendwo hocken“, worauf sie in Klammern hinzusetzt: „(Das kommt davon, wenn sich die Juden in die Geschichtsschreibung wagen).“ Ohne dass Jaspers dies von seinem Schweizer Exil aus hätte erfassen können, enthielt seine Traumeingebung eine ungewöhnliche Antwort auf die Frage, warum Weber die Aufmerksamkeit der emigrierten Gelehrten in Amerika zuteil wurde. Sie beschwor das altertümliche Bild des mythischen Forscher-theoros herauf, der genau wie die Emigranten selbst in eine frem­ de Welt geworfen war, der sammelte und dokumentierte und als ein Ratge­ ber, Vordenker und Beobachter des Unbekannten wieder heimkehrte. Weber verankerte sich tief im Innern des intellektuellen Milieus der Emigrantenge­ meinschaft und dessen, was man die soziale Psyche der geflüchteten Ge­ lehrten, der Immigranten und der Exilierten in Amerika bezeichnen könnte. Ihm und seinem Werk kam eine doppelt dienliche Funktion zu: sie bildeten eine Brücke zum Neuen, zur Welt der kapitalistischen Moderne, und zu­ gleich einen Weg zu einer akzeptablen kosmopolitisch-,liberalen‘ histori­ schen Vergangenheit, zur geistigen Welt, die Jaspers und viele andere in Webers Wohnsitz in der Ziegelhäuser Landstraße erlebt hatten, dem von Webers Großvater Fallenstein erbauten Haus und dem Treffpunkt von Georg Gottfried Gervinus und den Frankfurter Liberalen von 1848, die in den Jahren bis 1933 zu Außenseitern, Vertriebenen und Ausgestoßenen der mo­ dernen deutschen Geschichte geworden waren. Demnach war es der Weltbürger und selbsternannte „Außenseiter“ Weber, der den der Exilgemeinschaft als wichtig geltenden geistigen Orientierungen



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und Fragen Legitimität und Gewicht verleihen konnte: den politisch-kultu­ rellen Zusammenhängen, den moralischen Fundamenten der sozialen und ökonomischen Ordnung, dem Problem der ,Rationalität‘ und der Irrationali­ tät des Handelns, dem Ort für das historische Denken oder der „historischen Sensibilität“, der „Wert“-Problematik, der Bedeutung der Wissenschaft als Beruf, dem Los der Intellektuellen und der jüdischen Gelehrten. Es war dieser Weber, der den anfänglichen Schock und die Ablehnung gegenüber dem, was mit Leo Löwenthal gesprochen als „geistiger und kultureller Pro­ vinzialismus“ wahrgenommen wurde, zu dämpfen vermochte und der die emigrierten Forscher und Intellektuellen zur Mitarbeit bei der Bewältigung der historischen Aufgabe bewegen konnte, das geistige und kulturelle Leben in Amerika weiterzuentwickeln. Die gleichzeitige Gegenwart eines anderen Weber, an dem Wissenschaftler wie Frank Knight, Talcott Parsons und Ed­ ward Shils schon längst ein ausgewiesenes Interesse hatten, eröffnete den Neuankömmlingen aus Europa nicht nur Chancen und Möglichkeiten, son­ dern bereitete ihnen auch Probleme. Die jüngste Beschäftigung mit Weber in Amerika und die daraus hervorgegangenen Arbeiten hatten das Werk aus seinem vertrauten Kontext herausgelöst und den politischen Weber ebenso in den Hintergrund treten lassen wie die Sicht auf ihn als ,intellektuellen Desperado‘, die den Emigranten so viel bedeutete. Was würde unter dem Einfluss ihres von Spannungen und widerstreitenden Positionen geprägten Denkens und Handelns aus dem Werk werden? Wie in Jaspers Traum kam Arendt tatsächlich spät – zu spät, um noch auf diese Frage antworten zu können. Sie traf nie mit Max Weber zusammen und besuchte lediglich ein paar der Heidelberger jours, die Marianne Weber auch in den 1920er und 30er Jahren ausrichtete. In dieser verblüffend viel­ gestaltigen Gemeinschaft von Gelehrten in der Emigration gab es natürlich auch jene aus einer älteren Generation, die, wie Jaspers, Weber persönlich gekannt hatten, etwa Emil Lederer an der New School oder Paul Honigs­ heim an der Michigan State University und Karl Löwenstein an der Univer­ sity of Massachusetts. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Webers Gelehrsamkeit und Persönlichkeit bei ihnen nachwirkten und, wie sie oft herausstellten, Einfluss auf ihre Arbeit und Lehre hatte. Honigsheim ist dafür ein Paradebeispiel, da er seine Musiksoziologie ganz ausdrücklich als eine Ausweitung von Ideen verstanden wissen wollte, die sich in den Ge­ sprächen mit Weber entwickelt hatten. Webers Erbe beeinflusste sein Leben als Wissenschaftler und Lehrender offensichtlich in jeder der Fragen, denen er nachging, und in seiner ganzen Haltung den Studenten im Seminar ge­ genüber. Andere, wie etwa Alfred Schutz, Albert Salomon oder Arnold Brecht an der New School, hatten Webers Werk gelesen und es dann für ihre eigenen Zwecke verwendet – Schutz in der Phänomenologie und Brecht in der politischen Theorie. Sie veröffentlichten auch Arbeiten, die manche

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II. Teil: Das Werk in Amerika

von Webers Ideen darlegten, deuteten oder sich zu eigen machten, und sie setzten die politisch-ökonomische Dimension seines Werks stets als eine Selbstverständlichkeit voraus. Salomon hatte bereits in Deutschland über Weber publiziert und ihn etwas irreführend als den „bürgerlichen Marx“ charakterisiert, wobei die Wendung in bestimmten Kreisen noch Jahrzehnte nachhallte. Mit Blick auf seine New-School-Kollegen war sie insofern wichtig, als sie jenen eine Art geistigen Anknüpfungspunkt lieferte, die wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer und auch Lederer eine kritische neomar­ xistische Sicht auf die Dinge mit über den Atlantik gebracht hatten, die sich dann während der Jahre im Exil in der Regel veränderte. Salomons maß­ gebliche Webereinführungen, die er in den Vereinigten Staaten in den ersten beiden Bänden von Social Research veröffentlichte, zeigen ihn als frühen Kenner der philosophischen und soziologischen Fundamente von Webers Werk, erweiterten nun jedoch den Fokus und nahmen das gesamte Spektrum der Themen in den Blick, mit denen es die Sozialwissenschaften zu tun hatte, als wollte der Autor zu verstehen geben: Wenn man sich am theore­ tischen Diskurs der modernen Sozialwissenschaften beteiligen möchte, dann sollte Webers Werk am Beginn stehen. Für die empirischen Untersuchungen der New-School-Forscher ist es charakteristisch, dass nahezu jedes Weber-Zitat den Weber der politischen Ökonomie oder der politischen Soziologie anführt, dem in Erkenntnisfragen Vertrauen entgegengebracht wurde. Das trifft nicht weniger auf Franz Neu­ mann und sein Meisterwerk Behemoth zu, auch wenn Neumann aufgrund seiner Verbindungen zum Institut für Sozialforschung mit den Intellektuellen der New School häufig uneins war. Selbst emigrierte Gelehrte, die in ihren Grundüberzeugungen so weit auseinanderlagen wie Paul Lazarsfeld und Theodor W. Adorno, ließen sich von ähnlichen Teilen des Weber’schen Werks inspirieren. Unter den umfangreicheren Forschungsprojekten des Lehrkörpers gibt beispielsweise Frieda Wunderlichs letzte, der deutschen Agrarwirtschaft gewidmete Veröffentlichung zu erkennen, dass sie Webers frühesten Untersuchungen zur Agrarwirtschaft des ostelbischen Deutsch­ lands im 19. Jahrhundert viel verdankt. Doch als ein ,institutioneller‘ Öko­ nom, der mit Idealtypen und einer Typologie des rationalen Handelns ope­ rierte statt mit formalen Grenznutzenmodellen oder mathematischen Ent­ scheidungsmodellen, fand Weber kaum Beachtung in dem neu entstehenden Bereich der Wirtschaftstheorie und in den Arbeiten von Fachökonomen wie etwa Ludwig von Mises, Albert Hirschmann oder Oskar Morgenstern. Außerhalb der Mauern der New School gab es gleichwohl andere For­ scher, etwa Melchior Palyi an der Southern Illinois University, Arthur Salz an der Ohio State University, Erich Voegelin an der University of Alabama oder Leo Strauss an der University of Chicago, die mit Webers Denken vertraut waren. Bei Voegelin und Strauss reichten die Reaktionen auf We­



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bers Werk von Ambivalenz bis zur Feindseligkeit. Voegelin, ein LauraSpelman-Rockefeller-Stipendiat in den Vereinigten Staaten von 1924 bis 1927, der einen Teil dieser Zeit an der University of Wisconsin verbrachte, hatte vor seiner Emigration eine positive Weberbesprechung veröffentlicht. In The New Science of Politics (1952) ging er jedoch gegen Weber in die Offensive und kam damit Strauss und dessen berühmtem Angriff auf Weber in Natural Right and History (1953) zuvor. Strauss’ Ansichten sollten im Zusammenhang mit dem von Knight und Shils favorisierten Lehrplan für die Sozialwissenschaft an der University of Chicago gelesen werden. Er verallgemeinerte seine Kritik zu einer Anschauung, in der die „Sozialwis­ senschaft“ oder einfach „das Soziale“ und die „politische Philosophie“ ge­ trennt voneinander zu stehen kamen, wobei sich diese Verdinglichung von Positionen auch in Voegelins Werk finden ließ sowie in einer von ,existen­ zialistischen‘ Fragen abgewandelten höchst eigenwilligen und neuartigen Fassung auch bei Hannah Arendt. Arendt zufolge war Voegelins Buch „auf dem Holzweg, aber trotzdem wichtig. Die erste prinzipielle Diskussion der wirklichen Probleme seit Max Weber“, und ihre Meinung zu Strauss fasste sie so zusammen: „Er ist ein überzeugt-orthodoxer Atheist. Sehr komisch. Eine wirkliche Intelligenzbegabung. Ich mag ihn nicht.“ – eine Empfindung, die von Strauss und seinen Anhängern erwidert wurde in diesem oftmals streitsüchtigen Umfeld. Das gesellschaftliche Leben besteht manchmal aus Konflikten und Feind­ seligkeiten, und das damals wie heute mit interessanten Folgen. In der Emigrantengemeinschaft gab es in den 1930er Jahren auch eine, wenn man so will, ,Nichtrezeption‘ Webers, die aufgrund der Nachkriegsentwicklungen im intellektuellen Leben Amerikas Berücksichtigung verdient. In New York konnte man sich schon früh ein Bild machen von der Lage und den mitun­ ter unbehaglichen institutionellen (und persönlichen) Beziehungen zwischen den drei intellektuellen Zentren: der Columbia University, der New School for Social Research und dem von Frankfurt nach Manhattan transferierten Institute for Social Research. Edward Shils erfasste den Kern dieser Situa­ tion in seinem unnachahmlichen politisch eingefärbten Stil, als er sich aus dem Abstand von vier Dekaden zu dem Jahr äußerte, das er in enger Ver­ bindung mit der Columbia in der Stadt verbrachte. An der New School tummelten sich ihm zufolge „eine ganze Menge gebildeter liberaler und sozialdemokratischer Deutscher, kein bisschen fanatisch, dafür kultiviert und sehr angenehm im Umgang“, die mit Webers Werk sehr vertraut waren. Stadtaufwärts in den Morningside Heights wiederum gab es die „Frankfurt gang“, wie er sagte, ganz unangenehme Leute: furchtbar hochtrabend, radikal, klüngelhaft, auf sich bedacht. Wo sie konnten, verbreiteten sie ihre verderbliche Kritische Philosophie, d. h. ihren aufgedonnerten Marxismus. Ich habe ihre Seminare in der 117. Straße

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II. Teil: Das Werk in Amerika

429 West besucht und ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeiner von ihnen über Weber schrieb. […] Horkheimer interessierte sich nicht für Weber, Marcuse genauso wenig, und auch nicht Adorno oder Pollock. Selbst Wittfogel, der damals zu ihnen gehörte und folglich dem Kommunismus sehr nahestand, ließ Weber in seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1927) außen vor, meines Wis­ sens zumindest.

Man kann sich vorstellen, dass Shils zu der Zeit mit größter Aufmerk­ samkeit auf den Namen ,Weber‘ und die Bezeichnung ,Weberianer‘ achtete, war das doch das Jahr, in dem er in unmittelbarem Anschluss an Knights Weber-Seminar in Chicago einem ähnlichen Seminar bei Schelting an der Columbia ziemlich viel Aufmerksamkeit schenkte und das den Ausgangs­ punkt bildete für ihre ersten Bemühungen um die Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft. Weder vom Temperament noch von seinen Neigungen her war Shils in der Lage, die Kluft zu überbrücken, die diese drei Institutionen und For­ schergruppierungen voneinander trennte. Zum Ende des Jahrzehnts gelang dies bis zu einem gewissen Grad Franz Neumann und Otto Kirchheimer, und ebenso Paul Lazarsfeld aus einer autonomen Position in seinem Büro für Angewandte Sozialforschung. Obgleich er sich selbst als „europäischen Positivisten“ verstand, beteiligte sich Lazarsfeld genau genommen bis in die späten 1930er Jahre stark an der „empirischen Arbeit“ des Instituts, bevor er sich mitsamt seinem umstrukturierten Büro an der Columbia ansiedelte. Er kannte auch Webers Handlungsbegriff und seine empirischen Arbeiten und bezog sich vor dem Hintergrund gewisser eigener Interessen zustim­ mend auf sie. Tatsächlich aber war das Verhältnis zu Weber und seinen Schriften viel komplizierter, als Shils in seiner bissigen Darstellung nahelegte. Zudem wandelte sich die Situation in den Emigrantengruppen über die Jahre. Die Erinnerungen an den „bürgerlichen Weber“ im europäischen Zusammenhang verblassten und an ihre Stelle rückte sogar in denselben Köpfen ein mit allen Werkzeugen für die Sozialwissenschaft in der Neuen Welt ausgestat­ teter Weber. Außerdem traten zwischen der historischen und der verglei­ chenden Sicht im amerikanischen Umfeld gewisse „Wahlverwandtschaften“ von der Art zutage, wie Bendix sie noch aus eigenem Erleben kannte. Franz Neumann knüpfte an solche Affinitäten an und thematisierte in diesem Zu­ sammenhang sogar den Beruf des Wissenschaftlers in der Emigration – nämlich die Durchsetzung einer mühsam erarbeiteten historischen Sichtwei­ se und die Begründung der Theorie auf den auf Amerikas Weg lauernden Gefahren, wie sie von den Sozialwissenschaften reflektiert wurden: überop­ timistische Annahmen hinsichtlich der Möglichkeiten zur Weltveränderung, übertriebener Glaube an den aus sich selbst gerechtfertigten Nutzen des Sammelns von rohen empirischen Daten und übereifriges Streben nach je­



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ner Form der finanziellen Unterstützung, die eine Gefahr für die intellektu­ elle Integrität und Unabhängigkeit darstellt. Was Amerika den Emigranten im Gegenzug zu bieten hatte, war eine erfrischend pragmatische Lektion, wie sich Theorie und Praxis in Einklang bringen ließen – und das war ein idealer Ausgangspunkt für die Faszination durch Weber. Was das Weber’sche Werk selbst anging, ist Franz Neumann kluger Einschätzung zuzustimmen: „Es ist kennzeichnend für die deutsche Sozialwissenschaft, dass sie Weber geradezu zerstörte, indem sie sich fast ausschließlich auf die Diskussion seiner Methodologie verlegte. Weder fand seine Forderung nach empirischen Untersuchungen Beachtung noch sein Beharren auf der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers gegenüber der Gesellschaft. Erst hier, hier in den Vereinigten Staaten wurde Weber wirklich lebendig.“ Für Neumann war es gerade so, als ob Webers Streben nach empirischer und intellektueller Sach­ lichkeit im Land von Benjamin Franklin und William James eine Heimat gefunden hatte. Es dürfte nicht überraschen, dass das große Forschungs- und Anschau­ ungsspektrum unter den Emigranten und der Umstand, dass sie über die ausgedehnte Landschaft des intellektuellen Lebens in Amerika verstreut waren, eine außerordentlich vielschichtige geistige, soziale und institutionel­ le Geschichte zur Folge hatten. Auch wenn Institutionen wie die New School über die Jahre eine Randstellung innehatten und über weniger Re­ nommee verfügten, muss dennoch herausgestrichen werden, dass die Wis­ senschaftler im Exil das Verständnis von Webers Werk und das Interesse an ihm mit der Zeit um eine neue Dimension erweiterten. Die Themen ihrer Auseinandersetzung mit Weber und der Gebrauch, den sie von ihm mach­ ten, fanden ein weites Echo und kamen auf einer Vielzahl institutioneller Schauplätze zur Sprache, wie die Entwicklungen in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg zeigten. In diesem Zusammenhang sei auf die Columbia University und die dort veranstalteten Diskussionen verwiesen. Das Fakultätsseminar über den Staat war ein wichtiges Beispiel für die neuen Anwendungen, die Webers Denken nach dem Krieg über die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fachdiszi­ plinen hinweg fand. Franz Neumann, der sich der Columbia-Fakultät in Politikwissenschaft angeschlossen hatte, nahm mit Karl Wittfogel von den Emigranten, mit Robert Merton und anderen an diesem bedeutenden inter­ disziplinären Seminar teil, wie später auch C. Wright Mills, Daniel Bell, S. M. Lipset, David Trueman, Richard Hofstatter und Peter Gay. Die Emi­ granten waren zu einem Teil des akademischen Mainstreams in Amerika geworden. In welcher Form manche der Weber’schen Ideen Berücksichti­ gung fanden, zeigt sich beim Blick in die Protokolle des vierzehntäglichen Seminars, in denen man von 1946 an immer wieder auf seine Arbeit zur rational-legalen Herrschaft und zu den bürokratischen Formen der Organi­

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sation stößt, die den Diskutanten als Ausgangspunkt dienten und den Unter­ suchungen zugleich den Rahmen vorgaben. Die Kenntnisse von Webers Ideen aus Wirtschaft und Gesellschaft, das gerade in Übersetzung zu er­ scheinen begann, wurden zu einem gemeinsamen Bezugspunkt für die Teilnehmer. Selbst abweichende Standpunkte zur bürokratischen Rationali­ sierung in Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West, demokratischen und autoritären Ländern, wurden in Bezug auf Weber erörtert. In diesen Diskussionen ging es nicht um eine Interpretation von Webers Werk an sich, sondern vielmehr um die Auseinandersetzung mit speziellen Themen wie etwa den Mechanismen der Bürokratie in der Sowjetunion, für die seine Schriften einfach einen nützlichen Leitfaden und eine stringente theoretische Perspektive lieferten. Man kann durchaus sagen, dass es sich bei dem Columbia-Seminar über den Staat um einen typischen Diskurs handelte: typisch in dem Sinne, dass Webers Werk zur Argumentation herangezogen wurde, als ein Text Verwen­ dung fand, mit dem man das eigene Verständnis und die eigene theoretische Position zum Ausdruck brachte, verdeutlichte und abgrenzte. Es war mehr und mehr diese Verwendung von Weber im Zusammenhang mit der Be­ handlung strittiger Themen, die nicht seine eigenen waren, die wesentlich mit dazu beitrug, dass seine Ideen ,gesellschaftlich Karriere machten‘ und sich ein geistiges Umfeld herausbildete, in dem jene Ideen neu formuliert, kritisiert, neu ausgelegt und somit erneuert werden konnten. Die Weber’sche Soziologie und Sozialtheorie Der hier vornehmlich behandelte substanzielle Kern der Übersetzun­gen – also Parsons The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, Gerths und Mills From Max Weber: Essays in Sociology und Parsons The Theory of Social and Economic Organization – schuf die Basis für das Vordringen von Webers Werk in die Sozialwissenschaften und insbesondere in die Speziali­ sierungsrichtungen der Soziologie. Zu diesem Korpus kann man noch die drei Aufsätze aus Webers Wissenschaftslehre zählen, die Edward Shils schließlich zusammen mit Henry Finch als The Methodology of the Social Sciences (1949) herausbrachte, wobei man sagen muss, dass dieser Text nur dürftig redigiert wurde. Einige seiner Wortneuschöpfungen, wie etwa das schwammige „ethical neutrality“ für Wertfreiheit, haben die Diskussionen seither verwirrt und verschleiert, warum Weber darauf beharrte, dass die Ideale der rationalen Kritik und der „Intersubjektivität“ in der Wissenschaft rein gar nichts mit moralischer Gleichgültigkeit zu tun haben. Nur ein paar scharfsichtige Denker an der Peripherie wie etwa Maurice Merleau-Ponty waren sich darüber im Klaren, welche Forderungen diese Art von ,Freiheit‘ dem Einzelnen in existenzieller und geistiger Hinsicht auferlegte.



13. Die Erfindung der Theorie295

Bis zum Ende der 1950er Jahre hatten sich Webers Texte einen fixen Platz an den Universitäten erobert und gehörten zum Standardprogramm in der Religionssoziologie, politischen Soziologie, in der Bürokratie- und Or­ ganisationsforschung, den Untersuchungen zur Ungleichheit und sozialen Schichtung, den historischen Vergleichsstudien zu den sozialen Institutionen und der Modernisierungsdiskussion. Diese Ausbreitung des Werks in der Soziologie war jedoch nur ein Teil der Geschichte, denn Webers Ideen hiel­ ten im gleichen Zeitraum auch Einzug in die großen sozialwissenschaft­ lichen Disziplinen der Politikwissenschaft, Kulturanthropologie und in man­ che Bereiche der Geschichte, der Philosophie und anderer Geisteswissen­ schaften. Sie wurden Teil der kontroversen Auseinandersetzung um den „Positivismus“, des sogenannten Positivismusstreits, und fanden Eingang in die philosophische, methodologische und politische Debatte über „Wertur­ teile“ und „Objektivität“ in der Wissenschaft, die in den frühen 1960er Jahren in Schwung kam. Zugleich ermöglichte diese doch einigermaßen unwahrscheinliche Übersetzung, Auslegung und Verbreitung von Webers Werk in Amerika statt in Europa – wie Uta Gerhardt unlängst feststellte – Webers genauso unwahrscheinliche und überraschende Rückkehr an seinen Ursprungsort. Nachdem sie die Flamme in Nordamerika am Leben erhalten hatten, durften Wissenschaftler wie Parsons und Bendix, auch Horkheimer und Adorno, zusammen mit anderen erleben, wie sie nach Deutschland zurückgelangte, wenngleich nicht unter Bedingungen, die sich irgendeiner von ihnen ausgesucht hätte. Es ist fast ein halbes Jahrhundert her, dass die drei Konferenzen zum Gedenken an den hundertsten Jahrestag von Max Webers Geburt auf beiden Seiten des Atlantiks abgehalten wurden (1964): jene der Midwest Sociolo­ gical Society in Kansas City, der International Sociological Association in Montreal und der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Heidelberg. Beim Durchsehen der Tagungsberichte von damals, zumal dem aus Heidel­ berg, betritt man gleichsam noch einmal die alten Schlachtfelder der 1960er Jahre, auf denen die überhitzten kulturellen und ideologischen Kämpfe ausgetragen wurden, wobei Weber und sein Werk als Stellvertreter fungier­ ten für den Widerstreit der gegensätzlichen Positionen, Programme und für gegenseitige Vorwürfe, von denen einige aus einer nicht enden wollenden Vergangenheit stammten. Diese Konferenzen bildeten eine Art Zäsur bei der Wiedergewinnung und Rekonstruktion von Webers Denken. Sie rückten eine Reihe von sozialwissenschaftlichen, akademisch-fachlichen und univer­ sitären Themen ins Blickfeld, die Webers Aufmerksamkeit gefunden und ihn in einigen seiner wichtigsten Texte beschäftigt hatten, etwa in „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“: die Pflichten der Lehrenden und Studie­ renden; die kritische Würdigung der politischen und ökonomischen Macht; die sozialen und kulturellen Folgen des Kapitalismus; die Anwendung der

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II. Teil: Das Werk in Amerika

Abbildung 13: Talcott Parsons in späteren Jahren in seinem Ar­ beitszimmer an der Harvard University; der Kampf um Webers Vermächtnis in den 1960ern und der Ernst der Zeit haben ihre Spuren hinterlassen. Harvard University Archives, call # UAV 605.295.7, Box 3. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Wissenschaft und der Gebrauch der Vernunft in einer Zeit, die von der Großforschung, riesigen Bürokratien und unpersönlichen Marktkräften do­ miniert wurde; die Aussichten für soziale Gerechtigkeit oder den Sozialis­ mus; und unsere Verantwortung für die Geschichte. In den meisten Fällen entwickelten sich die Debatten dieser Themen jedoch zu feindseligen Aus­ einandersetzungen zwischen orthodoxen ,Weberianern‘ wie etwa Parsons und Bendix auf der einen Seite und Vertretern der „Kritischen Theorie“ wie Adorno und Marcuse auf der anderen. Protagonisten wie Raymond Aron schienen wie gefangen zwischen den disputierenden Parteien der querelles allemandes. In den darauffolgenden Jahrzehnten sind diese grundlegenden und mit Webers Werk verknüpften Themen nie ganz von der Agenda verschwunden; die Frage der ,Rationalität‘ wiederum und das Problem des Kapitalismus als der „schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens“ sind in der ersten



13. Die Erfindung der Theorie297

Dekade des 21. Jahrhunderts mit aller Macht zurückgekehrt. Von heute aus gesehen, da das verkürzte 20. Jahrhundert, das nur von 1914 bis 1991 dau­ erte, hinter uns liegt, kamen zu diesen fundamentalen und beständigen Themen jedoch noch intensive gedankliche Auseinandersetzungen mit einer Vielzahl geistiger, kultureller und politischer Einflussfaktoren; dazu zählten etwa der schwere Reputationsverlust von Parsons und Shils allgemeiner Handlungstheorie, der Niedergang des strukturellen Funktionalismus in den Sozialwissenschaften, der Zusammenbruch des Marxismus, die ,kulturelle‘ Wende in den Sozial- und Geisteswissenschaften, das Ende des Kalten Krie­ ges und die damit verbundene Neuordnung und die gesellschaftlichen Span­ nungen und Wirren der letzten Jahrhundertwende. Beim überstürzten Eintritt in das jetzige Jahrhundert sind nur wenige Monumente und Orientierungs­ punkte von der Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten geblieben; Webers Den­ ken zählt dazu. Die Bilanzierung und Bestandsaufnahme des Bleibenden vollzog sich auf unterschiedliche Weise. In Deutschland ist Webers Werk als Ganzes schließ­ lich einer gründlichen Sichtung und Prüfung unterzogen worden; dabei wurden die verbindlichen gesammelten Werke mit großem Aufwand zusam­ mengestellt und als kritische Ausgabe – die Max Weber-Gesamtausgabe – herausgebracht. Dabei stieß man auf eine Goldmine von noch unveröffent­ lichten Briefen und kulturellen Marksteinen aus der nach wie vor kaum verstandenen Wilhelminischen Ära. Durch diese Anstrengung haben die Möglichkeiten zur historischen und bibliographischen Kontextualisierung eine enorme Erweiterung erfahren. Selbst ein Produkt der Rivalität des Kalten Krieges, ist die Max-Weber-Gesamtausgabe über die Gründe für ihre Entstehung hinausgewachsen und eröffnete bessere und reichere Pers­ pektiven für das Verständnis der Werkbiographie. In den wissenschaftlichen Disziplinen lag der Nachdruck häufig auf der Eingliederung des Werks, seiner Erweiterung in unterschiedliche Richtun­ gen und darauf, es auf ein – erstaunlich umfangreiches – Spektrum aktuel­ ler Problematiken anzuwenden, jene etwa, die mit der Umsetzung des Rechts in Zusammenhang standen, mit der Rechtspflege, der Bildung von Institutionen in der Europäischen Union, den Abläufen in den modernen Unternehmen, der ,Rationalität‘ im modernen Marktkapitalismus, der Mo­ dernisierung der Regierungsformen in den Entwicklungsländern oder den Fragen des modernen Habitus und Lebens in einer „entzauberten“ Welt. Unter diesen neueren Ausdeutungen bildeten die elegante Apotheose der Weber’schen Entzauberungsthese – die Welt der Erscheinungen ist zu einer rationalisierten, berechenbaren und ihrer magischen und rätselhaften Kräfte beraubten Welt geworden – und ihre spiegelbildliche Entsprechung, das Versprechen, sie ,wieder zu verzaubern‘, einen aufschlussreichen Fall: Der genaueren Bestimmung der Umstände der von Weber namhaft gemachten

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II. Teil: Das Werk in Amerika

„Entzauberung“ folgte eine Diskussion seiner Sicht, verbunden mit Erklä­ rungen, Erweiterungen und Kritik, wobei die Reaktionen von der Bejahung bis zur Ablehnung reichten. Den zahlreichen Artikeln nach zu urteilen, die im Laufe des letzten Jahr­ zehnts erschienen sind, richtete sich das Augenmerk nicht allein auf die grundlegenden Merkmale von Webers Werk, sondern galt zu einem beträcht­ lichen Teil auch der ,Weber’schen‘ sozialtheoretischen Position, deren Grund­ züge man herauszuarbeiten und zu benennen suchte. Mag sein, dass solche theoretischen Erörterungen in Amerika nach wie vor nahezu ausschließlich innerhalb der Soziologie stattfinden, anderswo aber haben die Diskussionen die durchlässigen Fachgebietsgrenzen hinter sich gelassen und überall dort, wo die ,Sozialtheorie‘ in Erscheinung tritt, ein allgemeineres Interesse an ihr begründet. Der wiederentdeckte Autor ist nun in seinem ganzen Potenzial entfaltet und hat eine Denkbewegung hervorgebracht, ein Adjektiv vor dem Substantiv [social theory], eine Anschauung oder theoretische Sichtweise oder, um es mit den Worten einer bedeutenden Gruppe von Wissenschaftlern zu sagen, ein „Forschungsprogramm“ oder ein „Paradigma“. Eine Weber’sche „Theorie“ – wie würde die möglicherweise aussehen, wofür könnte ein Weber’sches „Forschungsprogramm“, „Paradigma“ oder eine Weber’sche „Sichtweise“ stehen? Es wäre übertrieben zu behaupten, dass hinsichtlich möglicher Antworten auf eine solche Frage Einigkeit er­ zielt worden wäre oder dass es auch nur zu dem eigentlichen Vorhaben, aus Webers unvollständigen, erforschenden und kein System bildenden Schriften eine ,Weber’sche Theorie‘ zu abstrahieren, einen übergreifenden Konsens gäbe. Das Werk bestach von jeher durch seinen unerreichten Umfang, seine unübertroffene Vielfältigkeit und Anschlussfähigkeit. Dennoch sind durch die Fülle der Bücher, Artikel und Kommentare der jüngeren Vergangenheit die Konturen einer Sichtweise, wenn nicht sogar die genauen Inhalte, er­ kennbar geworden. Jeder Versuch aber, diese Konturen zu umreißen, bringt es unweigerlich mit sich, dass die dem Weber’schen Denken zugrundelie­ gende Struktur dramatisch zusammengedrängt und verdichtet wird – das von seiner Anlage her, was man nicht vergessen sollte, prinzipiell problem­ orientiert und nicht darauf gerichtet ist, eine allgemeine ,Theorie‘ oder eine methodologische Position auszuformulieren. So scheint es denn auch für diejenigen, die sich auf die Suche nach einer „Theorie“ gemacht haben, keinen Zweifel daran zu geben, dass Webers zentrale Fragen immer auf die Untersuchung von Entwicklungsdynamiken und auf das Verständnis ihrer Auswirkungen auf die Lebensführung in un­ terschiedlichen soziohistorischen Zusammenhängen ausgerichtet waren. Solche Fragen prägen sein Werk in der Tat und machen es einzigartig. Aus allgemeiner Sicht ließe sich etwa mit M. Rainer Lepsius sagen, dass Webers



13. Die Erfindung der Theorie299

Untersuchungen Ausdruck eines Interesses an „dynamischen Prozessen“ sind – das heißt an den von konfligierenden sozialen Kräften angetriebenen Entwicklungsdynamiken, die in punkto Dauer, Tempo, Richtung und Aus­ wirkungen unbestimmt und offen sind. Im Anschluss an Weber können Entwicklungsdynamiken als eine dreigliedrige Beziehung zwischen Struktur, Handeln und Sinn aufgefasst werden, um die in den Sozialwissenschaften gebräuchlichen Fachbegriffe zu verwenden. In etwas weiter ausholenden Darstellungen heißt es, Webers Analyse befasse sich mit drei zentralen Pro­ blemen und ihren Beziehungen: dem Problem der äußeren Struktur oder körperlichen Form, in der Handlungen sich vollziehen; dem Problem der Rationalität des Handelns und der Vergesellschaftung oder der Bildung von sozialen Beziehungen und dem Problem der kulturellen ,Sinngehalte‘ und ,Bedeutungen‘, einschließlich des Sinns des Handelns für die Beobachteten wie die Beobachter. Diese dreifache Ausrichtung scheint auch in den ersten Abschnitten von Wirtschaft und Gesellschaft gegeben. Es ist im Hinblick auf die Theorie und das schwer definierbare ,For­ schungsprogramm‘ oder ,Paradigma‘ wirklich wichtig, die Dinge auf diese Weise zu fassen, legt es doch den Schluss nahe, dass Webers Werk eine Brücke schlägt zwischen den Forschungsansätzen in den Sozialwissenschaf­ ten, die häufig als Alternativen vorgeschlagen werden: dem strukturalen Ansatz, dem institutionellen, dem auf das rationale Handeln gerichteten oder handlungsorientierten Ansatz und dem kulturellen. Außerdem lässt sich nun zeigen, dass die Beziehungen zwischen den drei Problemkomplexen bei Weber auf unterschiedlichen Analyseebenen ausgearbeitet sind: auf der individuellen Ebene des Handelnden und der Handlungsorientierungen, auf der sozialen Ebene der Vergesellschaftungen, Institutionen und Organisatio­ nen; und auf der kulturellen Ebene der Legitimierungsprozesse und der Auseinandersetzung um ,Werte‘ und die ,normative‘ Ordnung. Die ganze Soziologie der legitimen Macht oder Herrschaft steckt voller solcher Varia­ tionen. Kein einzelner Problemkomplex und auch keine einzelne Analyse­ ebene kann den logischen Vorrang beanspruchen, denn das käme einem Vorurteil gleich, insofern als dass der eigentlichen Untersuchung der Bezie­ hungen und Zusammenhänge vorgriffen würde. Dieses Beharren auf einer konfigurationalen, „multikausalen“ und „Mehrebenen“-Analyse, wie die aktuellen sozialwissenschaftlichen Begriffe lauten, kommt der Empfehlung gleich, bei jeder Ereigniskonfiguration, die bei Weber als „Verquickung“ oder „Verkettung von Umständen“ firmiert und als solche den soziohistori­ schen Wandel im Großen erklärt, stets nach den spezifischen Besonderheiten und den Unterschieden zu suchen. Von dem in dieser Form zusammengefassten und von seinen konkreten Problematiken abgelösten Weber’schen Projekt konnte also gezeigt werden, dass es Analyseverfahren und Untersuchungsansätze bereitzustellen vermag,

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II. Teil: Das Werk in Amerika

die sich auf die meisten der vielgestaltigen Probleme und Problemkomplexe anwenden lassen. So gesehen sind der Ausweitung der Begrifflichkeit – von der Askese zur Zweckrationalität, wenn man so will – allein durch die Vor­ stellungskraft des Forschenden Grenzen gesetzt. Dieser Auffassung nach ist aus Webers Werk im erfolgreichen Fortgang des Prozesses, den Parsons seinerzeit angestoßen hat, eine Stimme geworden, die Gehör findet und Gewicht hat, und das nicht nur in den angestammten Bereichen der Sozio­ logie und anderer Sozialwissenschaften, sondern auch in der gehobenen Sphäre der ,Gesellschaftstheorie‘ mit all ihren verblüffenden Facetten, von den Reflexionen George Herbert Meads bis zu den Untersuchungen von Pierre Bourdieu. Letztlich ist deutlich geworden, was man sich unter einer ,Weber’schen‘ Theorie vorzustellen hat, wie sich ein Weber’sches For­ schungsprogramm und eine Weber’sche Sichtweise charakterisieren ließen. Weber jenseits der Weber’schen Soziologie So allgemein und abstrakt solche Behauptungen auch sind, sie können durchaus fruchtbar sein und unsere Überlegungen voranbringen. Sie ermun­ tern uns anzuerkennen, dass Parsons Recht hatte und Max Weber wirklich zu einer geistigen Synthese gelangte, wobei diese nicht auf die Begriffe und Kategorien der allgemeinen Handlungstheorie beschränkt ist. Es handelt sich bei ihr vielmehr um das komplexe Resultat aus der Verbindung von strukturellen und institutionellen Analysen, Rationalitätsüberlegungen, Aus­ sagen zum sozialen Handeln, der Erkenntnis kultureller Eigentümlichkeiten und einem tiefreichenden Verständnis für die Geschichtsforschung und die historische Evidenz bzw., wie es im letzten Satz der Protestantischen Ethik heißt, einem unbeirrbaren Streben nach der schwer fassbaren Konstruktion der „historischen Wahrheit“. Gerechtfertigt und legitimiert war diese Syn­ these nicht als eine Theorie, deren Allgemeinheit ihres Gleichen gesucht hätte, sondern kraft ihres heuristischen Versprechens auf die Erfassung und Klärung wichtiger Rätsel, Probleme und Fragen bezüglich der Phänomene der sozialen und geschichtlichen Welt. Lebendig wurde sie durch ihre nu­ ancierten Differenzierungen, vielfältigen Anwendungen und ihre Problem­ orientiertheit, nicht weil sie auf Systematizität abgezielt hätte. Die Bemühungen, aus dem Weber’schen Werk einen Kanon für die Sozi­ alwissenschaften zu machen und es in den Mittelpunkt ihrer aktuellen Pläne und Vorhaben zu rücken, müssen ungeachtet ihrer Eleganz prinzipiell gänz­ lich unvollkommen bleiben, gehen dabei doch die neuen spannenden und aufregenden Seiten verloren, die stets jener Forschung vorbehalten sind, die nicht ihrer gut gesicherten Paradigmen wegen, sondern für ihre „ewige Ju­ gendlichkeit“ Beachtung verdient, um Webers suggestive Wendung zu ge­ brauchen.



13. Die Erfindung der Theorie301

Richtet man den Blick auf die jüngsten Deutungskämpfe um Weber, las­ sen sich zwei Richtungen erkennen. In der einen geht es mit Webers Ideen über die Grenzen der Soziologie hinaus in die Gefilde der eindrucksvollen philosophischen und politischen Tradition des Westens, von der die moder­ ne Soziologie bloß ein wesentlicher Teil ist. Auf diesen Höhen des Denkens sind die Gesprächspartner für Weber weniger Parsons und Mills, sondern Denker wie Thukydides, Platon, Aristoteles, Niccolò Machiavelli, Immanu­ el Kant, G. W. F. Hegel, Alexis de Tocqueville, Karl Marx, John Stuart Mill und Friedrich Nietzsche sowie die gesamte Tradition des bürgerlichen Re­ publikanismus, des Liberalismus und des liberal-demokratischen Denkens. Hier war Weber ein Spätankömmling, der am Ende von zwei Jahrtausenden des Nachdenkens über zivilgesellschaftliche oder bürgerliche und philoso­ phische Themen in Erscheinung trat. Die ethischen und politischen Lektio­ nen der westlichen Überlieferung gelangen in seinen konsequentesten, durchdringendsten und am stärksten sozial engagierten Schriften treffend und pointiert zur Darstellung. Die Arbeiten kreisen zurück an die Anfänge in der Antike und die Ur-Fragen nach dem, was wir tun und wie wir leben sollen; Weber geht diesen Fragen nun in einer grundlegend anders rationa­ lisierten und entzauberten Welt nach, die neue, komplexe und ehrliche Antworten verlangt, die nicht selten Verunsicherung oder Beunruhigung hervorrufen. Der diese Perspektive belebende Geist bewirkte eine dezente Neuausrich­ tung, bei der Webers Beschäftigung mit der Condition humaine, mit ,Staats­ handwerk und Seelenhandwerk‘, in den Fokus rückte. Fragt man aus diesem Blickwinkel nach dem, was ihn am meisten und nachhaltigsten interessierte, so lautet die Antwort: die Herausbildung von Persönlichkeit und Charakter der Einzelnen in den unterschiedlichen Lebensordnungen. Webers Begriffe der Lebensführung und der Lebensordnung wurden in den Rang von Leit­ motiven erhoben. Seine verdichtete Synthese von Ideen aus der Religions­ soziologie, die hochaufgeladene Zwischenbetrachtung, die Gerth und Mills in „Religious Rejections of the World and Their Direction“ umbenannten, wurde zum Meistertext, in dem die einzelnen Stränge des Weber’schen Denkens zusammengefunden haben. Der Text bietet ein ungewöhnliches geistiges Abenteuer: eine mit historischen Beispielen und Vergleichen ange­ reicherte Führung durch die Selbstpraktiken in der westlichen Zivilisation. Webers Bezug zu den Vorgängern in der Tradition des Westens äußert sich thematisch in dem Nachruck, mit dem er die Wichtigkeit des morali­ schen und politischen Urteilens, der ethischen Verantwortung, des Zusam­ menwirkens von Charisma und politischer Erziehung, der Institutionen zur Förderung und Pflege des Bürgerseins und der Begründung einer aktiven Zivilgesellschaft durch die Kraft der Vergesellschaftung betont – und das sind genau die Themen seiner Amerikareise. Diese nachdrückliche Beto­

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II. Teil: Das Werk in Amerika

nung ließe sich als singuläre „Beschäftigung mit der ethischen Charaktero­ logie und dem bürgerlichen Dasein in einer modernen Massendemokratie“ begreifen, als Bemühung um die Wiedergewinnung der klassischen politi­ schen Tradition und darum, dem Ideal, das bei Machiavelli virtú heißt, neues Leben einzuhauchen. Dieses spezielle Weber’sche Projekt ist in der Tat stark mit den politischen und philosophischen Traditionen des westli­ chen Denkens verwoben, was uns im Hinblick auf die Werkbiographie da­ ran erinnert, dass Weber den Denkern der griechischen Antike Bewunderung entgegenbrachte, von Rom angezogen war und auch der Renaissance-Kultur in Italien große Bedeutung beimaß. Die andere Richtung in der Begegnung mit Weber erlebt in einer ganz anderen Welt und unter ganz anderen Umständen noch einmal jene Art von Enthusiasmus, die Lesern wie dem jungen Talcott Parsons und Edward Shils zuteil geworden war, denn das Weber’sche Denken ist heute über die ame­ rikanische Soziologie hinaus, hat andere Perspektiven, soziale Kontexte und Denkweisen erschlossen und drückt gegen die Grenzbefestigungen der an­ erkannten Fachdisziplinen. Der amerikanisierte Weber der Gründungsgrup­ pierungen in den Sozialwissenschaften ist einem ,internationalisierten‘ ­Weber gewichen, in einem Dialog von beeindruckendem Umfang, der weit über die Grenzen Amerikas hinaus Forscher aus Osteuropa, Russland, Spanien, Lateinamerika, dem Mittleren Osten, China, Korea, Taiwan und Japan zusammenführte. Dass Webers Gedankengut diese erstaunlich weite Verbreitung fand, war nicht allein Folge seines originellen Schreibstils oder der Tatsache, dass seine Themen und Gegenstände eben die unterschied­ lichen Kulturen, Religionen und Ökonomien der Welt waren, sondern hatte auch mit den Leitgedanken und Begriffen und mit den Fragen und Problemen seines Denkens zu tun, die nach wie vor auf der Höhe der Zeit sind, ihre dramatischen Entwicklungen zu erfassen vermögen und inspirierend wirken. Es mögen neue große kulturelle Probleme hervorgetreten sein, We­ bers Denken aber vermag sie noch immer zu erhellen. Eines der großen kulturellen Probleme der Vergangenheit ist auch heute noch zentral und verbindet uns mit ihr: die Rationalisierungsprozesse in den Lebensordnungen der Welt, um eine Formulierung Webers aufzugreifen – oder, freier gesprochen, das Problem der ,Modernisierung‘ und der unaus­ weichliche Konflikt zwischen Traditionalismus und den Kräften der moder­ nen Welt, mit denen sich Weber in zahlreichen seiner Texte befasste, ja die deren eigentliches Zentrum bildeten, wobei die Protestantische Ethik hier an erster Stelle zu nennen ist. Und so überrascht es nicht, dass, wenn Webers Ideen in den Debatten in einem Land wie dem zeitgenössischen Iran auf­ tauchen, die Frage nach der „legitimen Herrschaft“ aufgeworfen wird, nach der Legitimität der traditionellen Herrschaftsform des „Patrimonialismus“, die dort eine prägende Rolle spielt und die andernorts nicht zu beobachten



13. Die Erfindung der Theorie303

oder verdeckt ist. Oder dass, wenn die Sprache auf die Bildung des „So­ zialkapitals“ und das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat kommt, ob nun in Litauen oder in Korea, Webers Erläuterungen zur Vergesellschaf­ tung Klärung zu schaffen oder einen Weg zu eröffnen vermögen, den von den Reibungskräften der modernen Rationalisierungswelt verursachten Kon­ flikten zu begegnen, vor allem in Gesellschaften, die schwierige soziale Wandlungsprozesse erleben. Nirgendwo ist der Dynamisierungseffekt des Weberstudiums augenfälliger als in Japan, wo seit der Zeit von Knight und Parsons eine unabhängige Rezeption im Gange ist. (In China dagegen wurde Weber erst kürzlich ent­ deckt, wobei man sich dort fast ausschließlich an die englischen Überset­ zungen hält und diese statt der Originalfassungen ins Chinesische überträgt.) Die japanische Faszination für Weber hat gute Gründe, denn nach Ansicht Wolfgang Schwentkers ist die breite und tiefgehende Wirkung, die das Werk Max Webers seit den 1920er Jahren in Japan hat, der Tatsache zu­ zuschreiben, daß ein Großteil der japanischen Sozial- und Kulturwissenschaftler die neuere Geschichte ihrer Gesellschaft als einen Sonderfall partieller Moderni­ sierung, oder mit Blick auf Max Weber besser: als Teilrationalisierung interpretiert hat. Im Werk Max Webers fanden sie die Entwicklung des Menschen hin zur autonomen Persönlichkeit in einer bürgerlichen Vertragsgesellschaft idealtypisch vorgeprägt. Dieses Modell der europäischen Moderne lösten sie aus seinem ange­ stammten kulturellen Kontext heraus und wandten es als Methode und Wertidee auf die Analyse der japanischen Gesellschaft […] und der asiatischen Welt [an]. […] Das Werk und die Person Max Webers wiesen besonders den japanischen „Modernisten“ (kindaishugisha) den Weg aus dem Zaubergarten magisch-religiöser und politischer Heilslehren und öffneten ihnen die Augen für die Welt aus der sie kamen und in die sie eintraten.

Diese andere Lesart hat wenig von einem Forschungsprogramm, sie zeugt stattdessen von einer viel dringlicheren Suche nach Orientierung in der Welt, nach Antworten auf die Frage, wie man handeln soll und was zu tun ist. So gesehen hat sie etwas mit den Bemühungen gemein, Webers Denken innerhalb der westlichen politischen und philosophischen Tradition zu ver­ orten. ,Max Weber in Japan‘ bildet ein Art Vorlage. Die japanische Erfahrung des Sich-Öffnens für den Westen – das heißt für die Kräfte der ,Rationali­ sierung‘ oder ,Modernisierung‘ – wiederholt sich überall auf der Welt. Es gibt kein Entkommen und auch keine Ausnahmen. Stets führt der Weg dabei aus der magischen, romantisierten Vergangenheit in die rationalisierte, ent­ zauberte Gegenwart und Zukunft, aus den poetischen Gefilden in die pro­ saische Welt. Im Indianergebiet von 1904 genauso wie zu anderen Zeiten, an anderen Orten und in anderen Kulturen: mit rasender Geschwindigkeit fegt die kapitalistische Kultur alles hinweg, was ihr im Weg steht. Damals

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II. Teil: Das Werk in Amerika

wie heute stellt sich immer die gleiche Frage: Wie reagieren die Menschen, und wie stellen sich eine Gesellschaft und eine Kultur auf die durch das Projekt der Moderne entfesselten Kräften ein? Webers Werk wird auch weiterhin in den Zeiten und an den Orten Nach­ hall finden, wo die Rationalisierung ihren Fortgang nimmt und die Belas­ tungen durch den Wandel der Tradition deutlich empfunden werden, denn das Werk ist nicht nur mit den Rationalisierungsdynamiken vertraut, sondern auch mit dem Spektrum und den Typen möglicher Reaktionen, mit den Verlockungen aller Auswege aus den Aporien der Moderne: Weltbeherr­ schung; Weltflucht; Versöhnung mit den widerstrebenden Kräften; stille Kapitulation vor dem Schicksal; Wiederbelebung alter Glaubensüberzeugun­ gen; Rückkehr zu den ehrwürdigen und verehrten Traditionen; Flucht in Ästhetizismus, Intellektualismus, Erotizismus oder in eine andere Form der solipsistischen Lebensführung; Alltagstranszendenz durch die Macht des Außergewöhnlichen, durch Charisma; der Ruf nach ,Revolution‘. Die Mög­ lichkeiten lassen sich immer aufs Neue ergreifen; es kann keinen Schluss­ strich geben unter die allzu menschliche Suche nach Alternativen. Max Webers Reise und die Ausbreitung seines Werks in Amerika trugen ihren Teil zum Zustandekommen mehrerer Projekte bei, die noch immer im Gange und auch noch lange nicht abgeschlossen sind. Darum kann man sicher sein, dass die Aufmerksamkeit, die Webers Schriften und den Weber’schen Gegenständen in Zukunft zuteil wird, sich wie von jeher auf den Reichtum, die Brillanz, Vielschichtigkeit und den Vorzug der Anschluss­ fähigkeit des Denkens stützen kann. Der Kontext für die Lektüre und die Deutung des Werks mag sich wandeln, seine Leserschaft wechseln, immer aber wird man den Irrungen und Wirrungen der Gegenwart in einer selbst wiederum verwirrenden Vielzahl von Wegen begegnen können. Und was sollte unter solchen Umständen näher liegen und aussichtsreicher sein, als sich wieder neu mit dem Werk selbst zu beschäftigen. Nur so kann das Denken lebendig und mit den großen kulturellen Problemen der Zeit in Verbindung bleiben.

Appendix 1

Stationen von Max und Marianne Webers Amerikareise von 1904 17. August

Aufbruch in Heidelberg

20. August

Abreise in Bremen an Bord der Bremen

29. August

Ankunft im Hafen von New York; die Bremen „kommt 19.30 Uhr südlich von Fire Island in Sicht“.

30. August

Passagiere gehen von Bord

30. Aug.–4. Sept. New York City; Astor House am Broadway und Vesey Street; Besichtigung der Börse, der Brooklyn Bridge und des GreenWood-Friedhofs in Brooklyn und der Villen entlang der Fifth Avenue; Gespräche mit William Hervey, Columbia University 4. September

Zugfahrt zu den Niagarafällen mit Ernst Troeltsch

5.–9. September

Niagarafälle: Hotel Kaltenbach; in Begleitung von Paul Hensel

6. September

Besuch von North Tonawanda, New York; die German Reform Church; Zusammentreffen mit Hans und Grete Conrad Haupt

7. September

Begegnung mit Professor Edmund James, Präsident der North­ western University, seiner Frau Anna Margarethe Lange und ­ihren Söhnen

8. September

Marianne besucht Settlements in Buffalo, New York, zusammen mit Professor Johannes Conrad und Grete Conrad Haupt

9. September

Zugfahrt nach Chicago

9.–17. September Chicago Auditorium Building Hotel, Michigan Avenue 11. September

Besuch von Hull House, Zusammentreffen mit Jane Addams; Marianne nimmt an einem Treffen der Woman’s Trade Union League teil

14. September

Northwestern University, Evanston, Illinois; Webers besuchen eine methodistische Kapelle, wahrscheinlich in Begleitung von Professor James Taft Hatfield

15. September

Delegierte des Congress of Arts and Science besuchen die Uni­ versity of Chicago und das Field Museum, Empfang im Reynold’s Club, möglicherweise Zusammentreffen mit Albion Small

306

Appendix 1

16. September

Max besucht die Schlachthöfe; Abendbankett für die Kongress­ teilnehmer, Auditorium Building

17. September

Zugfahrt nach St. Louis in Missouri; Max wird dort bis zum 26. September bleiben, Marianne bis zum 1. Oktober; Aufenthalt bei August Gehner

18. September

Troeltsch besucht die Gehners

19. September

Congress of Arts and Sciences beginnt

20. September

Max’ und Mariannes’ elfter Hochzeitstag

21. September

Max’ Vortrag „The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science“ (offizieller Titel der Übersetzung)

22. September

Marianne besucht ein Abendessen des Woman’s Club („Science Section of the Wednesday Club“); Max hört vermutlich Jacob Hollanders Vortrag „The Scope and Method of Political Econ­ omy“

25. Sept. oder früher

Frühstück mit W. E. B. Du Bois

26. September

Max reist mit dem Nachtzug ins Oklahoma-Gebiet

27. September

Max kommt 11.40 Uhr in Guthrie, Oklahoma, im Hotel Royal an und bleibt laut Daily Oklahoman eine Stunde, reist dann nach Muskogee ins Indianergebiet weiter

27. Sept.–1. Okt. Max in Muskogee, Quartier im McFarland’s Hotel und Café 28. September

Mittagessen mit Robert Lantham Owen und seiner Mutter Nar­ cissa Chisholm Owen; Treffen mit Oberst Clarence B. Douglas, Herausgeber des Muskegee Phoenix; J. Blair Shoenfeldt, India­ nervertreter der Regierung; J. George Wright, Regierungsinspek­ tor für das Indianergebiet, und Tams Bixby, Vorsitzender der Dawes-Kommission

29.–30. September Max unternimmt einen Abstecher zum Clubhaus von Fort Gibson 29. September

In St. Louis besucht Marianne zusammen mit Pauline Gehner Mesker eine gemischtgeschlechtliche Highschool

30. September

Max wohnt einer Landauktion bei

1. Oktober

Max beobachtet eine Auszahlung an die Creek; macht Station in South McAlester im Indianer-Territorium; Max und Marianne reisen jeweils mit dem Nachtzug nach Memphis, Tennessee

2. Oktober

Max und Marianne treffen im Peabody Hotel in Memphis wieder zusammen und reisen gemeinsam nach New Orleans weiter

3.–5. Oktober

New Orleans



Appendix 1307

5. Oktober

Zugfahrt nach Tuskegee in Alabama

5.–7. Oktober

Tuskegee; Treffen mit Margaret Washington, Jane Clark und den Mitarbeitern am Tuskegee Institute; Marianne besucht den Tus­ kegee Woman’s Club; Begegnung mit Dr. S. Becker von Gabril

8. Oktober

Zugfahrt durch Atlanta und Chattanooga in Tennessee, nach Knoxville, Tennessee

9.–12. Oktober

Knoxville mit William F. (Bill) Miller und Familie; Gespräche mit John P. Murphy, Millers Anwaltspartner

12.–13. Oktober

Asheville, North Carolina, im Hotel The Manor, Albemarle Park; Besichtigung des Biltmore Anwesens Vanderbilts

14. Oktober

Halt in Greensboro, North Carolina; Essen im Hotel Huffine, nachdem sie in Asheville um 5 Uhr morgens aufgebrochen wa­ ren; Weiterfahrt mit dem Zug nach Mount Airy, North Carolina

14.–16. Oktober

Mount Airy mit Jim und Jeff Miller und Verwandten

16. Oktober

Am Morgen Besuch eines methodistischen Gottesdienstes mit der Miller-Verwandtschaft; am Nachmittag wohnen sie einem baptistischen Gottesdienst bei

17. Oktober

Mit dem Zug nach Richmond in Virginia

18. Oktober

Morgendliche Besichtigungstour durch Richmond; mit dem Zug von Richmond nach Washington, D.C.

18.–24. Oktober

Washington, D.C., Quartier im Raleigh Hotel; Besichtigung von Mount Vernon und Arlington National Cementery; Max trifft mit Samuel Gompers zusammen

23. Oktober

Besuch eines afroamerikanischen Gottesdienstes der Nineteenth Street Baptist Church

24. Oktober

Zugreise nach Philadelphia

24.–28. Oktober

Philadelphia, Quartier im Aldine Hotel, 1910 Chestnut Street



Max besichtigt die Johns Hopkins University in Baltimore; be­ sucht Vorlesung und Seminar von Jacob Hollander; trifft mit George E. Barnett zusammen

26. Oktober

Marianne besucht das Bryn Mawr College, Begegnung mit Mar­ tha Carey Thomas; Max besucht das Haverford College und besichtigt die dortige Bibliothek, Zusammentreffen mit Professor Don Carlos Barrett

27. Oktober

Sie besuchen den Quäker-Gottesdienstes beim Haverford Friends Meeting und hören Allen Clapp Thomas über die Heiligen spre­ chen

28. Oktober

Zugfahrt nach Boston

308

Appendix 1

28. Okt.–4. Nov. Boston, Quartier im Young’s Hotel 29. Oktober

Besuch eines Football-Spiels: University of Pennsylvania schlägt Harvard University 11-0

30. Oktober

Bei Hugo Münsterberg zuhause, 7 Ware Street, Cambridge, Mas­ sachusetts; Zusammentreffen mit William James

31. Okt.–1. Nov. Nach Melrose, nördlicher Vorort von Boston; Besuch bei Laura Fallenstein und Otto von Klock 2.–3. November

Max nutzt die Bibliothek der Harvard University; trifft sich ver­ mutlich mit John Brooks, William Ripley; Marianne besichtigt das Wellesley College (zwei Mal) zusammen mit Ethel Dench Puffer und besucht eine Vorlesung von ihr; besichtigt auch das Simmons College; Max und Marianne statten den Münsterbergs einen weiteren Besuch ab

4. November

Mit dem Zug nach New York City über Providence, Rhode Is­ land (Max besucht dort die Bibliothek der Brown University) und New Haven in Connecticut

5.–19. November New York City, Quartier im Holland House, Fifth Avenue und Thirtieth Street (4.–7. November) und 167 Madison Avenue (7.–19.) 6. November

Max wohnt einem Gottesdienst der First Church of Christ Scien­ tist bei, Central Park West in der Ninety-sixth Street; Marianne besucht einen presbyterianischen Gottesdienst der Marble Colle­ giate Church, Fifth Avenue, Ecke Twenty-ninth Street

8. November

Theodore Roosevelt wird zum Präsidenten gewählt

10.  November

Abendessen mit einem Gewerkschaftsfunktionär und dessen Frau, wahrscheinlich Jerome F. und Margaret Ufer Healy

11. November

Abendessen bei Familie Paul Lichtenstein, 182 Amity Street, Brooklyn

12. November

Besichtigung des University Settlements, Zusammentreffen mit Lillian Wald; Besuch eines Vortrags von Dr. Yamei Kin „A Chi­ nese Woman’s View of the War in the East“

13. November

Besuch des Ethical Culture Society Meetings in der Carnegie Hall; Felix Adler spricht über „Mental Healing as a Religion“

14. November

Abendessen bei Edwin und Caroline Seligman zuhause mit Kol­ legen und Freunden, darunter Felix Adler

7.–18. November Begegnung mit Florence Kelley, Webers hören ihre Rede an der School of Philanthropy; Zusammentreffen mit Otto Weber und Frau und Hermann Rösing; Zusammentreffen mit Helen Frances Garrison Villard; Marianne besucht eine Zusammenkunft des „working girl’s club“ und isst mit Lilian Wald in einem der



Appendix 1309 Settlements zu Abend; besucht auch ein Meeting des Jungen­ clubs in dem Settlement; Max an der Columbia University, ar­ beitet in der Bibliothek und besucht Vorlesungen

17. November

Abendessen bei Familie Alfred Lichtenstein, 201 Columbia Heights, Brooklyn

18. November

Empfang zu Ehren Mariannes im Columbia University Club; Besuch einer Aufführung von Jacob Gordins Stück Di emese Kraft im Jiddischen Theater mit Gordin und David Blaustein, dem Leiter der Educational Alliance

19. November

Abreise aus New York an Bord der Hamburg

27. November

Ankunft in Cherbourg in Frankreich; mit dem Zug über Paris nach Heidelberg

Appendix 2

Max Weber, Ausgewählte Briefe an amerikanische Kollegen, 1904 / 05 Hinweis: Die Korrespondenz ist in alphabetischer Reihenfolge der Adressaten aufgeführt.

W. E. B. Du Bois Max Weber an W. E. B. Du Bois, vor dem 8. November 1904 New York City eigenhändig (unvollständig) University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 167 Madison Avenue New York (until 18th Nov., afterwards: Heidelberg, Germany) Dear Sir – I learned from you at St. Louis that you hoped to be back at Atlanta after the 20th of October. Unfortunately my wife could not stand the climate of the South and so I failed to see your University and to make your acquaintance, – the few minutes at St. Louis not counting in this respect. I hope to be allowed to do so another time. To-day I beg you to take into consideration a request I have to make as editor (together with Prof. Sombart) of the „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpoli­ tik“. Until now, I failed in finding in the American (and, of course, in any other) literature an investigation about the relations between the (so-called) „race-problem“ and the (so-called) „class-problem“ in your country, although it is impossible to have any conversation with white people of the South without feeling the connec­ tion. We have to meet to-day in Germany not only the dilettantic literature à la H[ouston] St[ewart] Chamberlain & Cons., but a „scientific“ race-theory, built up on purely anthropological fundaments, too, – and so we have to accentuate especially those connections and the influence of social-economic conditions upon the relations of races to each-other. I saw that you spoke, some weeks ago, about this very question, and I should be very glad, if you would find yourself in a position to give us, for our periodical, an essay about that object. So I bid you to write me, wheth­ er you should be willing to do so, and at what time? [Wie ich von Ihnen in St. Louis erfuhr, hofften Sie, nach dem 20. Oktober zurück in Atlanta sein zu können. Unglücklicherweise vertrug meine Frau das Klima des



Appendix 2311

Südens nicht und so war es mir nicht möglich, Ihre Einrichtung zu besuchen und Ihre Bekanntschaft zu machen – die wenigen Minuten in St. Louis waren diesbezüglich nicht hinreichend. Ich hoffe, zu einem anderen Zeitpunkt dazu Gelegenheit zu haben. Heute möchte ich Sie um Aufmerksamkeit für ein Ansuchen bitten, das ich als Herausgeber (zusammen mit Prof. Sombart) des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ an Sie richte. Es ist mir bislang nicht gelungen, in der amerika­ nischen Literatur (oder in irgendeiner anderen, versteht sich) eine Untersuchung ausfindig zu machen, die sich damit befasst hätte, wie die (sogenannte) „Rassenfra­ ge“ und die (sogenannte) „Klassenfrage“ in Ihrem Land zusammenhängen, dabei hat man jedes Mal, wenn man sich mit Weißen aus dem Süden unterhält, das sichere Gefühl, dass da eine Verbindung besteht. In Deutschland muss man sich heutzutage nicht nur mit der dilettantischen Literatur der H[oustons], S[tewarts] Chamberlains & Cons. herumschlagen, sondern auch mit einer „wissenschaftlichen“ Rassentheorie, die auf rein anthropologischen Fundamenten fußt – und darum müssen insbesondere jene Verbindungen hervorgehoben und muss der Einfluss der sozial-ökonomischen Bedingungen auf die Beziehungen der Rassen untereinander herausgearbeitet wer­ den. Ich sah, dass sie vor einigen Wochen über genau dieses Problematik gesprochen haben, und es würde mich sehr freuen, wenn sie sich bereitfänden, uns einen Aufsatz über jenes Thema zur Verfügung zu stellen, den wir in unserer Zeitschrift veröffent­ lichen dürften. Ich bitte Sie also darum, mir zu schreiben, ob Sie auf meinem Vor­ schlag einzugehen gedenken und wann wir mit einem Resultat rechnen dürfen.] Max Weber an W. E. B. Du Bois 17. November 1904 New York City eigenhändig University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 Dear Sir – I received your kind letter dated Nov. 8th and am indeed very glad, that you are disposed to give us the essay I asked you for. I shall with pleasure read the studies about the race problem you kindly promised to send me, and hope to be allowed to ask you also for a report and schedule of the lectures of the Atlanta University, showing the text books used in the social-science-lectures, if I could get them. I am quite sure to come back to your country as soon as possible and especially to the South, because I am absolutely convinced that the „colour-line“ problem will be the paramount problem of the time to come, here and everywhere in the world. My German address is, simply: Prof. M.W., Heidelberg. I am going there this Saturday, and am Yours very respectfully Max Weber [Ich habe Ihren freundlichen Brief vom 8. November erhalten und freue mich wirklich sehr, dass Sie uns den Aufsatz, um den ich Sie bat, zur Verfügung stellen wollen. Gern werde ich mich in die Untersuchungen zur Rassenfrage vertiefen, de­

312

Appendix 2

ren Zusendung sie mir netterweise zusicherten, und darf Sie hoffentlich auch noch um eine Mitteilung und einen Zeitplan für die Vorlesungen an der Atlanta Universi­ ty bitten, aus denen – wenn möglich – hervorgeht, welche Lehrbücher in den sozi­ alwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen verwendet werden, sofern das möglich ist. Ich werde mit ziemlicher Sicherheit baldmöglichst in Ihr Land zurückkommen und in den Süden vor allem, weil ich fest davon überzeugt bin, dass das Problem der „Rassenschranke“ das vorrangige Problem der kommenden Zeit sein wird, hier und überall auf der Welt. Meine deutsche Anschrift lautet einfach: Prof. M.W., Heidelberg. Ich werde die­ sen Samstag dorthin aufbrechen] Max Weber an W. E. B. Du Bois 30. März 1905 Heidelberg eigenhändig University of Massachusets, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 Dear Sir, I was glad to receive your kind letter. When, at the 15th, your article was not yet at hand, I supposed you might perhaps be prevented of writing the same now, and so we had to dispose about the space of the next number of the „Archiv“. So, your article will be published at the head of the number to be edited November 1st of this year, – it would be hardly possible at any earlier term. – Your splendid work: „The souls of black folk“ ought to be translated in German. I do not know, whether anybody has already undertaken to make a translation. If not, I am authorized to beg you for your authorisation to Mrs. Elizabeth Jaffé = von Richthofen here, a scholar and friend of mine, late factory inspector of Karlsruhe, now wife of my fellow-teacher and fellow-editor Dr. Jaffé. I should like to write a short introduction about Negro-question and -literature, and should be much obliged to you for some information about your life: [viz.] only: age, birthplace, descent, positions held by you, – of course, only if you give your authorization. I think Mrs. Jaffé would be a very able translator, which will be of some importance, your vo­ cabulary and style being very peculiar: it reminds me sometimes of Gladstones idio[tis]ms, although the spirit is a different one. – I should like to give in one of the next numbers of the „Archiv“ a short review of the recent publications about the „race problem“ in America. Besides your own work and the „Character-Building“ of Mr. Booker Washington, I got only the book of Mr. Page („The negro, the Southener’s Problem“ – very superficial me thinks), the „Oc­ casional papers“ of your Academy and the article of Mr. Willcox in the Yale Review. If there is anything else to be reviewed, I should be much obliged to you for any information. (Of course I saw the article of Viereck in the official publications). – Please excuse my bad English – I seldom here had the opportunity to speak it, and reading a language or speaking and writing it is very different. Yours very respectfully Professor Max Weber



Appendix 2313

[Ich habe mich über Ihren freundlichen Brief gefreut. Als Ihr Artikel am 15. noch nicht vorlag, nahm ich an, Sie seien womöglich davon abgehalten worden, selbigen jetzt zu verfassen, und so sahen wir uns veranlasst, über den Freiraum der nächsten Ausgabe des „Archivs“ anderweitig zu verfügen. Ihr Artikel wir nun also ganz vorn in der am 1. November erscheinenden Ausgabe veröffentlicht werden – ein früherer Termin ist kaum denkbar. Ihre großartige Arbeit: „The souls of the black folk“ müsste ins Deutsche übersetzt werden. Mir ist nicht bekannt, ob jemand bereits eine Übersetzung in Angriff genommen hat. Wenn nicht, bin ich befugt, Sie um Ihre Zustimmung für Frau Eli­ sabeth Jaffé = von Richthofen zu bitten, eine Studentin und Freundin von mir, später Fabrikinspektorin in Karlsruhe, jetzt Ehefrau meines Kollegen und Mitheraus­ gebers Dr. Jaffé. Ich möchte gerne eine kurze Einführung zur Negerfrage und Ne­ gerliteratur schreiben und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir einige Informa­ tionen zu Ihrem Leben zukommen ließen: [das heißt] bloß: Alter, Geburtsort, Her­ kunft, Positionen, die Sie bekleiden – natürlich nur, wenn Sie dem zustimmen. Meiner Ansicht nach wäre Frau Jaffé eine sehr fähige Übersetzerin, was in Anbe­ tracht Ihres sehr speziellen Wortschatzes und sehr eigenen Stils doch recht wichtig ist: die mich zuweilen an Gladestones Spracheigentümlichkeiten denken ließen, wenngleich der Geist ein anderer ist.– Ich möchte in einer der nächsten Ausgaben des „Archivs“ gern einen kurzen Über­ blick über die neuesten Veröffentlichungen zur „Rassenfrage“ in Amerika geben. Neben Ihren Arbeiten und Mr. Booker Washingtons „Character-Building“ habe ich nur das Buch von Mr. Page („The Negro, the Southener’s Problem – sehr oberfläch­ lich meinem Eindruck nach), die „Occasional Papers“ Ihrer Academy und den Artikel von Mr. Willcox in der Yale Review bekommen können. Wenn es noch anderes gibt, das besprochen werden sollte, wäre ich über jede Information dankbar. (Natürlich habe ich den Artikel von Viereck in den offiziellen Publikationen gesehen). – Bitte entschuldigen Sie mein schlechtes Englisch – ich hatte hier selten Gelegen­ heit, es zu sprechen, und es ist etwas ganz anderes, eine Sprache zu lesen, als sie zu sprechen und zu schreiben.] Max Weber an W. E. B. Du Bois 17. April 1905 Heidelberg eigenhändig University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 Dear Sir – your manuscript came to my hands to-day. We shall provide for the translation as soon as possible, and it will be printed in the number of November 1st of this year. I hope you have received my letter on behalf of Frau Dr. Jaffé. I thank you very much for your very useful article and am yours very respectfully Prof. Max Weber

314

Appendix 2

[Heute hat mich Ihr Manuskript erreicht. Wir werden es sobald als möglich über­ setzen lassen, und es wird in der Ausgabe vom 1. November dieses Jahres erschei­ nen. Ich hoffe, Sie haben meinen Brief im Namen von Frau Dr. Jaffé erhalten. Ich danke Ihnen vielmals für Ihren sehr nützlichen Artikel] W. E. B. Du Bois an Max Weber 18. April [1905] eigenhändige Kopie (unvollständig) University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 My Dear Professor Weber: It is very kind for you to offer Madame Jaffa [sic]-von Richthofen’s services in the translation of my book & if the necessary business arrangements can be made I shall be delighted to accept her services. I have written my publishers, Messrs. A. C. McClurg & Co., in whose name my book is copyrighted & told them of your offer. They reply that they are negotiating for a French translation with their Paris representative, M. Terquem & that thru him they will take up your proposition & see if they can interest some German publishers. Meantime may I ask if you know of any German publisher who would probably be willing to undertake the publishing of a German translation. If you do kindly let me know. I will write you on this matter again as soon as I hear further. I trust my manuscript is by this time in your hand. It is a rather hurried piece of work & if it is not just what you want do not hesitate to cut it down or reject it. As to literature on the Negro problem the recent publications include: Sinclair: Aftermath of Slavery (Sewell Maynard & Co.) Johnson: Light Ahead for the Negro (Grafton Press) Collins: Domestic Slave Trade (Broadway Pub. Co.) [Es ist sehr nett von Ihnen, die Dienste von Frau Jaffa [sic]-von Richthofen für eine mögliche Übersetzung meines Buches anzubieten, & wenn die nötigen ge­ schäftlichen Vereinbarungen getroffen werden können, werde ich ihre Dienste mit Freuden annehmen. Ich habe meinen Verlegern Messrs. A.C. McClurg & Co., unter deren Namen mein Buch urheberrechtlich geschützt ist, geschrieben und sie von Ihrem Angebot in Kenntnis gesetzt. Sie antworten, dass sie durch ihren Vertreter in Paris, M. Terquem, dieser Tage über eine Übersetzung ins Französische verhandeln und dass sie Ihren Vorschlag über seine Person aufgreifen & sehen werden, ob sie deutsche Verleger dafür interessieren können. Bei der Gelegenheit darf ich vielleicht fragen, ob Sie einen deutschen Verleger kennen, der wohl bereit wäre, die Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung zu übernehmen. Wenn ja, lassen Sie mich das bitte wissen. Ich werde mich in dieser Sache wieder an Sie wenden, sobald ich mehr weiß. Ich hoffe, mein Manuskript hat Sie mittlerweile erreicht. Es ist eine ziemlich eilig geschriebene Arbeit & falls sie dem Gewünschten nicht entspricht, zögern Sie nicht, sie zusammenzustreichen oder abzulehnen.



Appendix 2315

Was die Literatur zur Negerfrage angeht, so seien einige von den neuesten Ver­ öffentlichungen genannt: Sinclair: Aftermath of Slavery (Sewell Maynard & Co.) Johnson: Light Ahead for the Negro (Grafton Press) Collins: Domestic Slave Trade (Broadway Pub. Co.)] Max Weber an W. E. B. Du Bois 1. Mai 1905 Heidelberg eigenhändig University of Massachusetts, Amherst, Du Bois Library, Du Bois Papers, reel 3 My dear colleague! I thank you very much for your kind letter. We have engaged a publisher – Dr. P[aul] Siebeck (Firma: J. C. B. Mohr), Tübingen, the publisher of the „Archiv für Sozialpolitik“ –, of course with reservation of your previous consent to the making of the translation. I beg you to inform your publisher and hope there will be no difficulties. – The library of our University will, certainly, be very glad to have your Univer­ sity publications. I thank you very much for your useful informations. Will you not have your „Sabbath-year“ one of the next years? I hope you will come to Germany then, once more, and visit us. As to me, [perhaps] I shall come to the United States, I think, 1907 or 8. Yours very respectfully Prof. Max Weber [Haben Sie vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Wir sind mit einem Verleger einig geworden – Dr. P[aul] Siebeck (Firma: J. C. B. Mohr), Tübingen, den Verleger des „Archivs für Sozialpolitik“ – natürlich unter dem Vorbehalt Ihrer vorherigen Zustimmung zur Anfertigung der Übersetzung. Informieren Sie doch bitte Ihren Verleger; ich hoffe, es werden sich keine Schwierigkeiten ergeben. Die Bibliothek unserer Universität würde sich sicher glücklich schätzen, über Ihre Universitätspublikationen zu verfügen. Ich danke Ihnen sehr für ihre hilfreichen Informationen. Wollen Sie nicht in einem der nächsten Jahre Ihr Sabbatjahr nehmen? Ich hoffe, dann werden Sie erneut nach Deutschland kommen und uns einen Besuch abstatten. Ich für meinen Teil werde [vielleicht] in die Vereinigten Staaten kommen, ich denke, 1907 oder 8.]

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Appendix 2

Jacob Harry Hollander Max Weber an Jacob Hollander 27. Oktober 1904 Philadelphia, Aldine Hotel eigenhändig Milton S. Eisenhower Library, Johns Hopkins University, Hollander Papers, series 1, box 11 Dear Professor Hollander – Allow me to express, again, how much I enjoyed my visit in your seminary, the acquaintance I made of your scholars and of your assistant fellow-teacher. I was deeply impressed by the intensity of the work done in your department and, before all, learned with pleasure, that – at least in your University – the ambition to get the largest number of students, so dangerous even now to almost all our German Universities – is not allowed to lower the high standard of scientific investigation. In Germany we suffer much more than you are able to imagine from that illness resulting out of our system of paying the teachers by taxes paid by the students for each lecture. – When I come again after some years – as I hope to do – I think my English will be improved so that I will be more able to express myself. – I talked with you about the questions of the Indian Territory and asked you, during our conversation, if you would be inclined to give us for the „Archiv für Sozialwissenschaft & Sozialpolitik“ an essay about the development of these ques­ tions during the time since the treaties giving existence to that Territory. Do you think to be able to fulfil my request and – perhaps – to inform me about the time, at which you will probably be able to do so? I should be even more happy, if I could get from you for our periodical an essay about the present development of economic investigation in America. I agreed so much with your statement – at St. Louis – that the rapid progress of the scientific work done in your country is almost unknown in Germany, even by many specialists in economic science. I am quite sure that critics of single works of American writ­ ers would not change this situation, if not our public, before reading such critics as we hope to give in the future in our periodical, has get some broader information about the evolution of American economic investigation as a whole, the different methods used, the „schools“ and their relations to European „schools“ etc. – I don’t know where to apply if not to you and should indeed be very happy if you could give us an essay of this character. I beg you to take this request in consideration and hope to get from you a promise. I am informed that you have recently published some articles about objects like this. – Do you think I should be able to get some recent reports of the Johns Hopkins University and, if possible, the rules for taking the Ph.D.-degree, by simply applying to the Secretary of the President? or are they sold by the booksellers? I should be



Appendix 2317

much obliged for any information about that and am sorry having forgotten to ask you in Baltimore. Yours very respectfully Max Weber (Young’s Hotel, Boston or: Holland House, New York) P.S. For your information about the formalities of our periodical: we pay for es­ says 80 Mark (= ca. 19 $) for each 16 pages, Maximum 240 Mks. for the single essay [Erlauben Sie, dass ich noch einmal betone, wie sehr ich den Besuch in Ihrem Seminar genossen habe und wie sehr es mich gefreut hat, mit Ihren Studenten und Ihrem Mitarbeiter bekannt zu werden. Ich war tief beeindruckt von der Intensität, mit der in Ihrer Sektion gearbeitet wird, und vor allem sah ich mit Freuden, dass das ehrgeizige Bestreben, die größtmögliche Zahl an Studenten zu erreichen, das gerade jetzt für alle deutschen Universitäten eine solche Gefahr darstellt, zumindest an Ihrer Universität nicht dazu führen darf, dass die hohen wissenschaftlichen For­ schungsstandards sinken. Wir in Deutschland leiden viel mehr, als Sie sich vorstellen können, an dieser Krankheit, die das Ergebnis unseres Entlohnungssystems ist, den Dozenten mit den Abgaben zu bezahlen, die die Studenten für jede Lehrveranstal­ tung zu entrichten haben. – Wenn ich in einigen Jahren wiederkommen werde – worauf ich hoffe –, wird sich mein Englisch verbessert haben, sodass ich mich dann besser ausdrücken kann. Wir sprachen über die Dinge des Indianer-Territoriums und ich fragte Sie im Zuge unserer Unterhaltung, ob Sie geneigt wären, uns für das „Archiv für Sozial­ wissenschaft & Sozialpolitik“ einen Aufsatz darüber zukommen zu lassen, wie sich diese Dinge entwickelt haben, seitdem jenes Gebiet als vertraglich festgeschriebenes Territorium existiert. Glauben Sie, dass Sie meinem Ersuchen werden nachkommen und mir – vielleicht – sagen können, wann Ihnen das vermutlich möglich sein wird? Noch lieber wäre mir, wenn ich von Ihnen für unser Periodikum einen Aufsatz über den aktuellen Entwicklungsstand der Wirtschaftsforschung in Amerika bekom­ men könnte. Ich war ganz einverstanden mit ihrer Feststellung – in St. Louis –, dass die rasante Entwicklung, die die Wissenschaft in Ihrem Land genommen hat, in Deutschland nahezu nicht zur Kenntnis genommen wurde, und selbst von vielen Spezialisten der Wirtschaftswissenschaft nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kritiken einzelner Werke amerikanischer Autoren an dieser Situation nichts ändern würden, wenn unsere Öffentlichkeit, bevor sie solche Kritiken liest, wie wir sie in Zukunft in unserem Periodikum hoffentlich vorlegen werden, nicht umfangreicher über die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaftsforschung im Ganzen, die un­ terschiedlichen verwendeten Methoden, die „Schulen“ und ihr Verhältnis zu den europäischen Schulen etc. in Kenntnis gesetzt wurde – ich wüsste nicht, wohin ich mich wenden sollte, wenn nicht an Sie, und wäre wirklich hocherfreut, wenn Sie uns einen Aufsatz dieser Art überlassen könnten. Ich bitte Sie, denken Sie darüber nach, und ich hoffe auf eine Zusage. Mir ist bekannt, dass Sie kürzlich ein paar Artikel über solche Themen veröffentlicht haben. –

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Appendix 2

Meinen Sie, ich könnte einige jüngere Berichte der Johns Hopkins University und – möglicherweise – die Anforderungen zum Erwerb des Ph.D.-Degrees bekommen, wenn ich mich einfach an das Sekretariat des Präsidenten wende? Oder werden sie über den Buchhandel vertrieben? Ich wäre über jede Information dazu dankbar und bedaure, dass ich in Baltimore nicht daran dachte, Sie zu fragen. P.S. Zu Ihrer Information über die Formsachen unserer Zeitschrift: Wir zahlen bei Aufsätzen 80 Mark (= ca. 19 $) je 16 Seiten und höchsten 240 Mark für den Ein­ zelaufsatz.] Max Weber an Jacob Hollander 3. November 1904 Young’s Hotel Boston eigenhändig Milton S. Eisenhower Library, Johns Hopkins University, Hollander Papers, series 1, box 11 Dear professor Hollander I received with thanks your letter of Nov. 2d and am glad to see, that you are willing to contribute to our periodical. We should be interested to get specially a sketch of the present tendencies of development in American economic investigation and should be very glad if you would develop your essay in that direction – the earlier history of American economic thoughts being to-day rather better known in Germany than their present conditions. I beg you to write me to Heidelberg, or – if you are able to inform me already now – to New York, Holland House, at what time you think we shall have to expect your essay and how large it (approximately) will be (longer or shorter than your essay in the Yale Review[)]. I am at N[ew] York until 18th November. I will try to make arrangements for an exchange of our publications so as you kindly suggest. The difficulty is, that our library and our seminary both are subscrib­ ers to the Johns Hopkins Studies and the numbers to our disposition for exchanges are very limited now – we exchange, I think, with at least 8–10 American periodicals –, and so my fellow-editors Sombart & Jaffé might perhaps not yield to your proposal. I write you about that from Germany. Sombart is – I was surprised to be informed so here – gone back to Germany October 28th. Yours very respectfully Max Weber [Ich habe Ihren Brief vom 2. Nov. mit Dank erhalten und ich freue mich, dass Sie bereit sind, an unserem Periodikum mitzuwirken. Wir wären speziell an einem Abriss der aktuellen Entwicklungstendenzen in der amerikanischen Wirtschaftsfor­ schung interessiert und wären erfreut, wenn Sie Ihren Aufsatz dahingehend ausar­ beiten würden – über die frühere Geschichte des amerikanischen Wirtschaftsdenkens weiß man in Deutschland heute mehr als über ihren heutigen Stand. Bitte schreiben Sie mir nach Heidelberg oder – falls Sie mich jetzt schon informieren können – nach New York, Holland House, wann wir Ihrer Meinung nach mit Ihrem Aufsatz rechnen



Appendix 2319

dürfen und welchen Umfang er (ungefähr) haben wird (länger oder kürzer als Ihr Aufsatz in der Yale Review). Ich bin bis zum 18. Nov. in New York. Ich werde versuchen, auf einen Austausch unserer Publikationen hinzuwirken, den Sie freundlicherweise angeregt haben. Die Schwierigkeit besteht darin, dass unsere Bibliothek und unsere Universität die Johns Hopkins Studies beziehen [und natürlich auch die Bibliothek in Breslau] und unsere Austauschmöglichkeiten augenblicklich sehr begrenzt sind – wir pflegen meines Wissens einen Austausch bei mindestens 8–10 Periodika –, sodass meine Mitherausgeber Sombart & Jaffé Ihrem Vorschlag möglicherweise nicht entsprechen können. Ich schreibe hierüber aus Deutschland. Sombart ist – ich war überrascht, als ich hier davon erfuhr – am 28. Oktober nach Deutschland zurückgekommen.]

Edwin R. A. Seligman Max Weber an Edwin R. A. Seligman 19. November 1904 eigenhändig Columbia University Libraries, New York, Archival Collections, Ms Coll / Seligman Sehr geehrter Herr College! Wir können New York nicht verlassen, ohne Ihrer Frau Gemahlin und Ihnen nochmals unsren verbindlichsten Dank auszusprechen für die ganz außerordentliche Liebenswürdigkeit, mit der Sie uns aufgenommen und uns hier die Wege geebnet haben. Eine ganze Reihe der genuß- und lehrreichsten Abende verdanken meine Frau und ich ausschließlich Ihrer freundlichen Fürsorge und Vermittlung. Ich werde voraussichtlich im Lauf der nächsten Jahre die V[ereinigten] Staaten noch einmal besuchen, und hoffe dann nicht in dem Maße wie jetzt in der Eile und überdies durch meine ungenügende Beherrschung der englischen Sprache und außerdem durch meine auch hier gelegentlich noch recht fatal fühlbare Krankheit gehemmt zu sein. Ich bitte Sie nochmals, die selbst für „Dutchmen“ außergewöhnliche Formlosig­ keit, mit der wir uns hier betragen haben, zu verzeihen, – es war thatsächlich nicht anders möglich gegenüber dem überwältigenden Maße von persönlichen Beziehun­ gen, die sich hier alsbald entwickelten. Ich hoffe, Ihre Frau Gemahlin und Sie geben uns recht bald die Ehre eines Besuchs in Heidelberg – vielleicht während Ihres „Sabbathjahrs“? Ich erlaube mir, Ihnen demnächst einige Essays zu schicken, die Sie vielleicht im Anschluß an unsre Unterhaltungen interessieren. Mit ausgezeichneter Hochachtung und collegialem Gruß Sowie angelegentlichster Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin Ihre ergebensten Max Weber und Frau.

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Appendix 2

Max Weber an Edwin R. A. Seligman 18. Dezember 1905 eigenhändig Columbia University Libraries, New York, Archival Collections, Ms Coll / Seligman Sehr geehrter Herr College! Sie haben mir durch Übersendung Ihres Werkes („Principles of Economics“) eine große Freude und Überraschung bereitet und ich beneide Sie sehr um die bedeuten­ de Arbeitskraft, welche in dieser Leistung sich ausspricht. Ich habe erst einen Teil Ihrer Darlegungen lesen können, da ich tief in logischen Arbeiten stecke, und darf mir daher kein Urteil erlauben. Mich freut es, daß Sie ebenso wie dies überhaupt in den U[nited] St[ates] geschieht, das Übermaß von Historismus, welches durch den starken Einfluß Schmoller’s auf uns lastet, entschlossen bei Seite lassen und das gute alte Princip: „qui bene distinguit, bene docet“, nach wie vor gelten lassen. Bei uns ist zur Zeit fast jeder Muth zu theoretischer Arbeit und die Unbefangenheit in der Prägung klarer Begriffe dahin, und Sombart’s Arbeiten – so sehr hoch ich sie stelle – haben darin keine Wandlung gebracht. – Ich kann leider Ihre Sendung vorerst kaum mit einer noch so bescheidenen Ge­ gengabe erwidern, da meine Studien sich auf sehr entlegenen Gebieten bewegen. – Eine besondre Freude wäre es mir, und sicherlich auch Sombart, wenn Sie gele­ gentlich Veranlassung nähmen, sich einmal in unsrem „Archiv“ zu äußern, – jetzt wo Sie diese große Arbeit abgeschlossen haben, ist ja Ihre Arbeitskraft wieder freier als bisher. – Ihr Werk wird selbstverständlich in unserer Zeitschrift eingehend besprochen werden, nur bedarf es etwas Zeit, da unser Raum zur Zeit übermäßig besetzt ist und es auch nicht leicht ist, einen geeigneten deutschen Rezensenten zu finden. Doch werden wir alle Mühe aufwenden. Mit den besten Neujahrs-Gratulationen und Empfehlungen, auch meiner Frau, an Ihre Frau Gemahlin und Sie bleibe ich Ihr hochachtungsvoll ergebenster Max Weber



Appendix 2321

Booker T. Washington Max Weber an Booker T. Washington 25. September 1904 St. Louis eingenhändig Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88 Dear Sir Being here as speaker at the Congress of Arts and Science, I should be very glad to visit – if I am allowed to do so – your world-known Normal and Industrial School at Tuskegee. I am going now to Oklahoma and the Indian Territory and shall come, I think, the 1st October to New Orleans, so that I could be October 3d at Tuskegee. I should be very obliged to you, if you kindly would write me to New Orleans, St. Charles Hotel, if I may have the honour to visit you and see your In­ stitute. I made here the acquaintance of Mr. Du Bois, from Atlanta, and am exceedingly interested in your great and humanitary work. Yours very respectfully Max Weber Professor of social science at the University of Heidelberg, Germany [Ich bin hier einer der Vortragenden auf dem Congress of Arts and Science und es wäre mir eine große Freude – würde mir die Möglichkeit gegeben – Ihre in der ganzen Welt bekannte Normal and Industrial School in Tuskegee zu besuchen. Ich werde ins Oklahoma- und Indianer-Territorium fahren und werde, denke ich, am 1. Oktober nach New Orleans kommen, so dass ich am 3. Oktober in Tuskegee sein könnte. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, würden Sie mir freundlicherweise nach New Orleans, St. Charles Hotel schreiben, falls mir die Ehre eines Besuchs an Ihrem Institut zuteil wird. Ich habe hier die Bekanntschaft von Mr. Du Bois aus Atlanta gemacht und mich interessiert Ihre großartige und menschenfreundliche Arbeit außerordentlich.] Booker T. Washington an Max Weber 30. September 1904 Kopie des Typoskripts Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88 Mr. Max Weber, St. Charles Hotel, New Orleans, Louisiana My dear Sir: I write to assure you that we shall be very glad to have you include Tuskegee in your itinery [sic] and shall expect you to be here September 3rd [sic]. It will give

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Appendix 2

us great pleasure to have you accept the hospitality of the school while here and for you to remain just as long as you possibly can. We shall afford you every opportun­ ity to look into the work we are doing at Tuskegee. If you will be good enough to advise me as to just when you will reach Tuskegee, I shall see that you are met at the Station. I think I ought to say that it is very probable that I myself shall not be here at the time of your visit, but the Acting Principal and all of the offi cers of the Institute will take pleasure in seeing that you are given opportunity to thoroughly investigate our work and in making your stay pleasant and profitable. Very truly yours [Ich möchte Sie hiermit versichern, dass es uns sehr freut, dass Sie auf Ihrer Reise in Tuskegee Station machen, und wir erwarten Sie hier am 3. Oktober. Es wäre uns eine große Freude, dürften wir Sie bei uns in der Schule beherbergen, solange Sie hier bleiben wollen und können. Wir werden Ihnen jede Gelegenheit geben, unsere Arbeit in Tuskegee in Augenschein zu nehmen. Wenn Sie so gut wären, mir mitzuteilen, wann genau Sie in Tuskegee ankommen werden, sorge ich dafür, dass man Sie am Bahnhof in Empfang nimmt. Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass ich selbst während Ihres Besuches sehr wahrscheinlich nicht hier sein werde, doch dem stellvertretenden Direktor und allen leitenden Angestellten des Institutes wird es ein Vergnügen sein, Ihnen jede Gele­ genheit zur Erforschung unserer Arbeit zu geben und Ihnen einen angenehmen und ergiebigen Aufenthalt zu verschaffen.]

Max Weber an Booker T. Washington 6. November 1904 167 Madison Avenue, New York eigenhändig Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88 Dear Sir – I was, some weeks ago, at Tuskegee, and my wife and myself were so deeply impressed by all we saw and learned there, that we hoped to be in a position to come again before leaving the country. I should especially have been very glad to meet you, yourself, after having read your works and seen your work. But my wife could not stand the climate of the South and so we went back and have now, the 19th, to cross the ocean to Germany. Before going, allow me to express our respectful and hearty thank to Mrs. Wash­ ington and to the officers and teachers of your Institute, especially 1) Mr. Warren Logan, 2) Mr. Taylor, 3) the professor of Agriculture and 4) Miß Clark. I hope to come again after some 2 or 3 years latest and then to have the opportunity to ex­ press you the high admiration and consideration, which I, as I think everybody who saw Tuskegee, feel for you and your important work. It was – I am sorry to say that – only at Tuskegee I found enthusiasm in the South at all. –



Appendix 2323

I hope to get some reports of your Institute here by the booksellers; if not, I hope not to trouble too much your secretary in applying to him. With high respect Yours very truly Professor Max Weber [Vor einigen Wochen war ich in Tuskegee, und meine Frau und ich waren so tief beeindruckt von dem, was wir dort sahen und erlebten, dass wir hofften, vor Ver­ lassen des Landes noch einmal wiederkommen zu können. Eine besondere Freude wäre es mir gewesen, Sie zu treffen, nachdem ich Ihre Bücher gelesen und Ihre Arbeit gesehen habe. Doch meine Frau vertrug das Klima des Südens nicht, und so sind wir wieder abgefahren und müssen nun, am 19., zurück über den Ozean nach Deutschland. Bevor wir gehen, möchte ich nicht versäumen, wenn Sie gestatten, unseren res­ pektvollen und herzlichen Dank auszudrücken an Mrs. Washington, und die leiten­ den Angestellten und Lehrer Ihres Instituts, insbesondere an 1) Mr. Warren Logan, 2) Mr. Taylor, 3) den Professor für Landwirtschaft und 4) Miss Clark. Ich hoffe, in 2 oder 3 Jahren wiederkommen zu können und dann Gelegenheit zu haben, Ihnen die hohe Bewunderung und Achtung auszusprechen, die ich, wie meiner Meinung nach jeder, der Tuskegee erlebt hat, für Sie und Ihre Arbeit empfinde. Entschuldigen Sie, wenn ich das sage – doch im ganzen Süden habe ich einzig in Tuskegee ­Enthusiasmus gefunden. – Ich hoffe, bei den hiesigen Buchhändlern ein paar Berichte über Ihr Institut be­ kommen zu können; wenn nicht, falle ich Ihrem Sekretär hoffentlich nicht allzu sehr zur Last, wenn ich mich an ihn wende.]

Booker T. Washington an Max Weber [10.] November 1904 Kopie des Typoskripts Library of Congress Washington, Booker T. Washington Papers, containers 96–7, reel 88 Prof. Max Weber 167 Madison Ave., New York, N. Y. My dear Sir: I am very glad indeed to have your letter of a few days ago and to learn that you so thoroughly enjoyed the short time that you spent at Tuskegee. I am very sorry that I myself was not here to have the pleasure of meeting you, but I have been very glad to hear so much of you from those here who did meet you. Our only regret is that you were not able to spend a longer time at Tuskegee and to look more thoroughly into the work that we are trying to do. I am very glad however to know that you hope to visit Tuskegee again, and assure you we shall be very glad to re­ ceive you at any time you can come.

324

Appendix 2

I am sending a copy of my last Annual Report, and other printed matter, which contains information with reference to our work. Very truly yours, Enc. [Ich freue mich wirklich sehr über Ihren Brief von vor ein paar Tagen und darü­ ber zu erfahren, dass Sie Ihren kurzen Aufenthalt in Tuskegee in vollen Zügen ge­ nossen haben. Ich bedaure sehr, dass ich selbst nicht hier war, um das Vergnügen zu haben, Sie kennenzulernen. Doch es freut mich, so viel von Ihnen zu hören, das mir die Personen berichten, mit denen Sie hier zusammengetroffen sind. Wir bedau­ ern bloß, dass Sie nicht länger in Tuskegee bleiben und keinen gründlicheren Ein­ blick in die Arbeit, die wir hier zu tun versuchen, bekommen konnten. Mit großer Freude erfüllt mich indes das Wissen um Ihre Hoffnung auf Wiederholung des Be­ suchs in Tuskegee, und seien Sie versichert, dass wir Sie, wann immer Sie es er­ möglichen können, mit großer Freude empfangen werden. Ich schicke eine Kopie meines letzten Jahresberichts und andere Drucksachen, die Informationen über unsere Arbeit enthalten.]

Konsultierte Archive, Bestände und Nachlässe Bayerische Staatsbibliothek, München Deponat Weber-Schäfer Boston Public Library, Special Collections Hugo Münsterberg Papers Bryn Mawr College Archives Martha Carey Thomas Papers Bundesarchiv Koblenz Nachlass Lujo Brentano Nachlass Georg Jellinek Cincinatti Historical Society, Cincinatti, Ohio Hans and Margarethe Conrad Haupt Papers Columbia University Rare Book and Manuscript Library Felix Adler Papers Edwin R. A. Seligman Papers Deutsche Staatsbibliothek Handschriftenabteilung, Berlin Nachlass Adolf von Harnack Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Nachlass Werner Sombart Nachlass Max Weber [GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 6] George Allen and Unwin Archive, University of Reading Library Harvard University Archives and Houghton Library Charles W. Eliot Papers William James Papers Talcott Parsons Papers William Z. Ripley Papers Helen Frances Garrison and Oswald Garrison Villard Papers Haverford College Library, Special Collections Rufus Matthew Jones Papers Isaac Sharpless Papers The Johns Hopkins University, Milton S. Eisenhower Library Archives Jacob C. Hollander Papers Knox County, Tennessee Public Library, McClung Historical Collection

326

Konsultierte Archive, Bestände und Nachlässe

Library of Congress, Special Collections and Archives Simon Newcomb Papers Robert Latham Owen Papers Booker T. Washington Papers Michigan State University Library, Special Collections Paul Honigsheim Papers Missouri Historical Society, St. Louis Northwestern University Library, Special Collections Edmund J. James Papers James Taft Hatfield Papers Oklahoma Historical Society, Oklahoma City Robert Latham Owen Papers Radcliffe College, Schlesinger Library John Graham Brooks Papers Morgan-Howes Family Papers (Ethel Dench Puffer Howes) St. Louis Art Museum Archives Louisiana Purchase Exposition University of Chicago Regenstein Library, Special Collections William R. Harper Presidential Papers Frank Knight Papers Edward Shils Papers Albion Small Papers University of Massachusetts W. E. B. Du Bois Library, Special Collections W. E. B. Du Bois Papers University of Tennessee Library, Special Collections Verlagsarchiv Mohr Siebeck, Tübingen; heute nach Schenkung durch den Verlag im Besitz der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin Washington D.C. Historical Society

Bibliographische Angaben Abkürzungen Ich habe folgende Abkürzungen für häufig zitierte Werkausgaben Max Webers verwendet, im deutschen Original wie in englischer Übersetzung: Baehr & Wells

The Protestant Ethic and the „Spirit“ of Capitalism and Other Writings, hg. und übers. von Peter Baehr und Gordon Wells. New York: Penguin, 2002.

EaS

Economy and Society: An Outline of Interpretive Sociology, hg. von Guenther Roth und Claus Wittich. New York: Bedminster Press, 1968. Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1978.

GARS

Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bde. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1920.

GASS

Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hg. von Marianne Weber. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1924.

GASW

Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1924.

GAW

Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1968.

Gerth & Mills

From Max Weber: Essays in Sociology, hg. und übers. von Hans Gerth and C. Wright Mills. New York: Oxford University Press, 1946.

GPS

Gesammelte Politische Schriften. 2. erw. Aufl. hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1958.

Lassman & Speirs Political Writings, hg. von Peter Lassman und Ronald Speirs. Cambridge: Cambridge University Press, 1994. MWG

Max Weber Gesamtausgabe, hg. von Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter und Johan­ nes Winckelmann. Tübingen: Mohr (Siebeck), 1984.

PESC

The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism. übers. von Talcott Parsons. New York: Charles Scribner’s Sons, 1958 (1930).

Shils & Finch

The Methodology of the Social Sciences, übers. von Edward A. Shils und Henry A. Finch. Glencoe, IL: Free Press, 1949.

328 WuG

Bibliographische Angaben Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1964.

Die folgenden Abkürzungen habe ich für Archive verwendet, die mehr als ein Mal im Text genannt werden. BAK

Bundesarchiv Koblenz

DWS

Deponat Weber-Schäfer, Bayerische Staatsbibliothek

ESP

Edward Shils Papers, University of Chicago Regenstein Library, Special Collections

FKP

Frank H. Knight Papers, University of Chicago Regenstein Lib­ rary, Special Collections

NMW

Nachlass Max Weber, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­ besitz

TPP

Talcott Parsons Papers, Harvard University Archives

VAMS

Verlagsarchiv Mohr Siebeck

Anmerkung: Die Hervorhebungen in den Zitaten im Text sind, von gekennzeich­ neten Ausnahmen abgesehen, sämtlich aus den Originaldokumenten übernommen.

Einführung Marianne Webers Max Weber: Ein Lebensbild (Tübingen: Mohr [Siebeck]) ist bis heute die maßgebliche Quelle für Webers Biographie. Das Buch wurde von Harry Zorn übersetzt als Max Weber: A Biography (New York: John Wiley and Sons, 1975) und 1988 (New Brunswick, NJ: Transaction) wiederveröffentlicht mit einer neuen Einführung von Guenther Roth „Marianne Weber and Her Circle“. Joachim Radkaus brisante Neubewertung mit Schwerpunkt auf den seelischen Dramen von Webers Leben ist Max Weber: Die Leidenschaft des Denkens (München: Carl Han­ ser, 2005), übersetzt in gekürzter Form durch Patrick Camiller als Max Weber: A Biography (Cambridge: Polity Press, 2009). Die klassische historische Untersuchung von Alexis de Tocquevilles Amerikareise mit Blick auf sein Denken stammt von George Wilson Pierson, Tocqueville in America (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1996 [1938]). Alexander Schmidt diskutiert in Reisen in die Moderne: Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich (Berlin: Akademie Verlag, 1997) Amerikabilder von vor 1914. Für eine umfangreichere Sicht siehe James W. Ceaser, Reconstructing America: The Symbol of America in Modern Thought (New Haven, CT: Yale University Press, 1997), bes. Kap. 7 f. für deutsche Auffassungen. Seite 7 Webers Americana-Artikel „Germany – Agriculture and Forestry“ und „Germa­ ny – Industries“ sind wiederabgedruckt in der Kölner Zeitschrift für Soziologie



Bibliographische Angaben329 und Sozialpsychologie 57 (2005): 139–56 und in Max Weber Studies 6, Nr. 2 (2006): 207–30, im Anschluss an Guenther Roths kritische Einführung; siehe auch MWG I / 8, Ergänzungsheft (2005).

12 Webers Bezugnahme auf den Kapitalismus als „die schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens“ ist in GARS 1:4 und in der Einführung von 1920 in die Collected Essays in the Sociology of Religion in PESC 17. 12 f. Für Webers St. Louiser Rede siehe meine Erörterung im 4. Kapitel dieses Bandes; die Rede ist wiederabgedruckt in Gerth & Mills als „Capitalism and Rural Society in Germany“; Zitate hier auf 369, 385. [A.d.Ü.: Als Zitiergrund­ lage im vorliegenden deutschen Band dient die von Hans Gerth angefertigte Rückübersetzung der englischen Fassung von Webers Vortragstext: „Kapitalis­ mus und Agrarverfassung“, veröffentlicht in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 108. Bd., 3. Heft (1952), 431–52; Zitate auf 437, 452] 13 „Erlauben Sie, daß ich Sie noch einmal nach Amerika führe …“ ist in Max Weber „Wissenschaft als Beruf“ in GAW 605; Gerth & Mills, 149. Die Äuße­ rungen zu Amerika sind in GARS 1:204; PESC 182.

1. Gedanken zu Amerika Für den Progressivismus in Amerika und Europa siehe die klassische Untersu­ chung von James T. Kloppenberg, Uncertain Victory: Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870–1920 (New York: Oxford University Press, 1986); siehe auch James T. Kloppenberg, The Virtues of Liberalism 1920 (New York: Oxford University Press, 1998) bes. 6. Kap. Siehe ferner Melvin Stokes, „American Progressives and the European Left“, Journal of American Studies 17 (1983): 5–28; Dorothy Ross, The Origins of American Social Science (Cambridge: Cambridge University Press, 1991); Daniel T. Rogers, Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age (Cambridge: Belknap Press, 1998); und Axel R. Schä­ fer, American Progressives and German Social Reform, 1875–1920: Social Ethics; Moral Control, and the Regulatory State in a Translantic Context (Stuttgart: Steiner Verlag, 2000). Nützliche Untersuchungen aus der Fülle an Literatur sind Eldon J. Eisenach, The Lost Promise of Progressivism (Lawrence: University Press of Kan­ sas, 1994); Steven J. Diner, A Very Different Age: Americans of the Progressive Era (New York: Hill and Wang, 1998); Michael E. McGerr, A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America (New York: Free Press, 2003); Shelton Stromquist, Reinventing ,The People‘: The Progressive Movement, the Class Problem, and the Origins of Modern Liberalism (Urbana: University of Illinois Press, 2006); und zuletzt Maureen A. Flanagan, America Reformed: Progressives and Progressivisms, 1890s–1920s (New York: Oxford University Press, 2007). Es gibt eine enorme Menge an Literatur, die viel zu umfangreich ist, als dass man sie hier anführen könnte, zur „protestantischen Ethik“, Webers „These“ und der Frage ihrer historischen und empirischen Grundlagen. Für Details siehe Alan Sica (Hg.), Max Weber: A Comprehensive Biography (New Brunswick, NJ: Tranaction, 2004). Für meine Zwecke nützlich sind Peter Ghosh, „Max Weber’s Idea of ,Puritan­ ism‘: A Case Study in the Empirical Construction of the Protestant Ethic“, History

330

Bibliographische Angaben

of European Ideas 29 (2003): 183–221; und Peter Ghosh, „Max Weber in the Nether­ lands 1903–7: A Neglected Episode in the History of The Protestant Ethic“ Bijdragen en Medeelingen betreffende de Geschiednis der Nederlanden 119 (2004): 358–77; beide Beiträge sind jetzt in Peter Ghosh, A Historian Reads Max Weber: Essays on the Protestant Ethic (Wiesbaden: Harrasowitz, 2008), Kap. 1 und 2. Siehe auch Guenther Roth, „Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Max Webers ,Pro­ testantische Ethik‘ “, Vademecum zu einem Klassiker der Geschichte ökonomischer Rationalität (Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen, 1992), 43–68; und Peter Hersche, „Max Weber, Italien und der Katholizismus“, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996): 362–82. Hartmut Lehmann, Max Webers ,Protestantische Ethik‘ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996) bietet eine verlässliche und aufschlussreiche Erörterung; siehe auch Wilhelm Hennis’ erhellendes Buch Max Webers Fragestellung: Studien zur Biographie des Werks (Tübingen: Mohr Siebeck, 1987), übers. von Keith Tribe als Max Weber: Essays in Reconstruction (London: Allen & Unwin, 1988) und in einer zweiten Ausgabe unter dem Titel Max Weber’s Central Question (Newbury, England: Threshold Press, 2000.) Unter den herausgebrachten Sammelwerken siehe Hartmut Lehmann und Guenther Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts (Cam­ bridge: Cambridge University Press, 1993); Hans G. Kippenberg und Martin Riese­ brodt (Hg.), Max Webers „Religionssystematik“ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001); Hartmut Lehmann und J. M. Quédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003); und zu­ letzt William Swatos und Lutz Kaelber (Hg.), The Protestant Ethic Turns 100: Essays on the Centenary of the Weber Thesis (Boulder, CO: Paradigm, 2005), bes. die Aufsätze von Hartmut Lehmann, William Swatos und Peter Kivisto. Die gründlichste Diskussion von Webers Kenntnissen von Alexis de Tocquevilles Democracy in America ist Martin Hecht, Modernität und Bürgerlichkeit. Max Webers Freiheitslehre im Vergleich mit den politischen Ideen von Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau (Berlin: Duncker & Humblot, 1998), bes. 12 f., 153–66, 199–235. Allgemeiner zu Weber und Amerika siehe Georg Kamphausen, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890 (Weilerswist: Velbrück, 2002), bes. 5. Kap.; siehe auch Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne: Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten (Frankfurt / M.: Suhrkamp, 2004), bes. 3. Kap.; übers. von Patrick Camiller als Reflections on America: Tocqueville, Weber and Adorno in the United States (Cambridge: Polity Press, 2005). Seite 18 Gunnar Myrdals Bemerkungen zu Weber sind in der ungekürzten Fassung seines Klassikers An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy (New York: Harper and Brothers, 1944), 952, 1429 Anm. 43. 18 Die farbige Darstellung der Northern-Pacific-Bahnreise von Max Weber Senior ist in Paul Lindau, Aus der Neuen Welt: Briefe aus dem Osten und Westen der Vereinigten Staaten (Berlin: Rütten und Loening, 1990 [1884]). 18 Für die „kosmopolitische Bourgeoisie“ siehe Guenther Roth, Max Webers deutsch­ englische Familiengeschichte 1800–1950 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), bes. 1. Kap. James Bryce, The American Commonwealth (London: Macmillan,



Bibliographische Angaben331 1988). 2 Bde.; Bryce’ populäres Werk erlebte mehrere Auflagen; wahrschein­ lich ist, dass Weber eine der frühen vollständigen Ausgaben benutzte, etwa die dritte, überarbeitete Fassung von 1893. Webers Ausgabe von Franklins Auto­ biographie in Übersetzung Sein Leben, von ihm selbst beschrieben mit Kapps Einführung und der Widmung an den jungen Max vom Dezember 1875 befin­ det sich in der Handbibliothek Max Weber der MWG-Arbeitsstelle in München.

19 Max Weber, Jugendbriefe hg. von Marianne Weber (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1936), 29, 140–2, 255, 314. 19 „Für meine Fragestellung, die sich mit der Entstehung desjenigen ethischen ,Lebensstils‘ befasst …“ ist in „Bemerkungen zu der vorstehenden ,Replik‘ “ (1908), wiederabgedruckt in Die Protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann (Gütersloh: Mohn, 1978), 55; Baehr & Wells, 241; und The Protestant Ethic Debate: Max Weber’s Replies to His Critics, 1907–1910, hg. von David J. Chalcraft und Austin Harrington (Liver­ pool: Liverpool University Press, 2001), 50. 20 James T. Kloppenberg, Uncertain Victory: Social Democracy and Progressiv­ ism in European and American Thought, 1870–1920 (New York: Oxford Uni­ versity Press, 1986), 321. 23 Hugo Münsterberg, Die Amerikaner (Berlin: Mittler und Sohn, 1904). 2 Bde., und die gekürzte englische Fassung in einem Band The Americans, übers. von Edwin B. Holt (New York: McClure, Phillips, 1905). Die deutsche Ausgabe wurde von Albion Small im American Journal of Sociology 10, Nr. 2 (1904): 245–52 besprochen. 25 Die erste Ausgabe von Fritz Baedekers berühmtem Nordamerika-Reiseführer erschien 1893 mit Blick auf die Weltmesse in Chicago auf Deutsch und Eng­ lisch. Die zweite, englische Ausgabe wurde 1899 herausgebracht und die dritte, wiederum auf Deutsch und Englisch, im Vorfeld der Ausstellung in St. Louis. 26 Leider wissen wir nicht allzu viel über den Eranos-Kreis; siehe M. Rainer Lepsius, „Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1904–1908“ in Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaft für das Jahr 1983 (Heidelberg: Carl Winter, 1984), 46–8; Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum (Düssel­ dorf: Droste, 1998), 277–9; und Hubert Treiber, „Der ‚Eranos‘ – Das Glanz­ stück im Heidelberger Mythenkranz?“ in Wolfgang Schluchter und Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), 75–153. 28 Das Zitat aus der Protestantischen Ethik ist dem Originaltext von 1904 / 5 ent­ nommen, GARS 1:83, Baehr & Wells, 36, vgl. PESC 91 f. Bei seiner Erstver­ öffentlichung in zwei Teilen erschien Webers Werk mit „Geist“ in Anführungs­ strichen: Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus. Diese wurden in der Fassung von 1920 und in Talcott Parsons Übersetzung (PESC) im Titel fallengelassen. Wenn ich mich im vorliegenden Band auf die Original­ ausgabe beziehe oder aus ihr zitiere, behalte ich die An- und Abführung bei „Geist“ bei.

332

Bibliographische Angaben

30 f. Edwin Seligmans ausführliche Vorlesungsmitschriften in fünf Notizheften be­ finden sich in seinen Papers, Box 86 (die Zitate stammen aus dem 2. Notizheft, Heidelberg Wintersemester 1880  /  81). Sein Briefwechsel mit Weber begann 1897. 32 Martin Luthers Äußerungen sind Luthers Evangelien-Auslegung entnommen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1950).

2. Das Land der Einwanderer Das vom US-Department of Homeland Security alljährlich herausgebrachte Yearbook of Immigration Statistics liefert historische Vergleichsdaten zur Einwanderung. Detaillierte Angaben zur Einwanderung nach Nationalitäten für den Zeitraum zwi­ schen 1900 und 1910 finden sich in Berichten der New York Times vom 16. Oktober 1910 und 19. Mai 1912. Die Passagierlisten der in New York angekommenen Schif­ fe können unter http: /  / www.ellisisland.org eingesehen werden. Webers ausführliche Schriften zu den Effekten- und Produktenbörsen wurden zusammengefasst zu Börsenwesen. Schriften und Reden 1893–1898 in MWG I / 5, hg. von Knut Borchardt mit Cornelia Meyer-Stoll (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1999, 2000). Eine von Steven Lestition angefertigte Teilübersetzung liegt vor als „Stock and Commodity Exchanges“ und „Commerce on the Stock and Commodity Exchan­ ges“ in Theory and Society 29 (2000): 305–71. Die Sitzungsprotokolle des Börsen­ ausschusses im Reichsamt sind die Verhandlungen des provisorischen Börsenausschusses im Reichsamt des Innern (Berlin: Reichsdruckerei, 1896), bes. 31, 33, 34, 66 f., 128 f., 165–7 für Webers Äußerungen zu deutschen und anderen Börsen wie etwa die von New York, Chicago und London. Bei Hans Rollmanns Darstellung der Amerikareise handelt es sich um „ ,Meet Me in St. Louis‘: Troeltsch and Weber in America“ in Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts, hg. von Hartmut Lehmann und Guenther Roth (Washington, D.C.: German Historical Institute und Cambridge University Press, 1992), 357–83. Die zwei Monographien von Hans Haupt sind Die Eigenart der amerikanischen Predigt (Gießen: Töpelmann, 1907) und Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten von Nordamerika (Gießen: Töpelmann, 1909). Für die literarische Aufzeichnungen der Haupt-Familie siehe Hans Haupt, Out of My Life (1941) und Margarethe Conrad Haupt, Life Stories and Memories (1930), die sich beide in der Cincinnati Historical Society befinden; siehe auch Walter H. Haupt, A Myopic View of the Twentieth Century, or an Autobiography, früher im Besitz von Hildegard Haupt Babbs. Für Paucks Kommentare zu Hans Haupt siehe Wilhelm Pauck, Harnack and Troeltsch: Two Historical Theologians (New York: Oxford University Press, 1968), 72. Pauck war ein angesehener deutscher Theologe und wusste gut Bescheid über die deut­ schen evangelikalen und Reformgemeinden; nebenbei bemerkt, ordinierte er meinen Vater 1940 zum Congregational Minister. Bei Webers Artikeln über die Religion in Amerika handelt es sich um „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ “, Frankfurter Zeitung vom 13. und 15. April 1906; überarbeitet als „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika, eine kirchen- und sozialpolitische Skizze“,



Bibliographische Angaben333

Christliche Welt 20 (1906); in einer weiteren Umarbeitung und Erweiterung 1920 als „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“, GARS 1:207–36. Die Fassung von 1906 liegt übersetzt vor als „ ,Churches‘ and ,Sects‘ in North America: An Ecclesiastical and Sociopolitical Sketch“ in Baehr & Wells, 203–20; die Fassung von 1920 ist als „The Protestant Sects and the Spirit of Capitalism“ in Gerth & Mills, 302–22. Eine kurze Darstellung der Stadtplanung und von Olmsteds Arbeit in Buffalo enthält Francis R. Kowsky (Hg.), The Best Planned City: The Olmsted Legacy in Buffalo (Buffalo, NY: Burchfield Art Center, 1992). Ausführlichere Informationen sind jetzt im Internet zugänglich. Verlyn Klinkenborgs The Last Fine Time (New York: Alfred A. Knopf, 1991; neu aufgelegt University of Chicago Press, 2004) widmet sich Buffalo nur mit Blick auf die Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg, erfasst aber dennoch die Folgen von Industrialisierung und wirtschaftlichen Umbrü­ chen, die in den 1890er Jahren ihren Anfang nahmen. Seite 34 Max Schlichtings Gemälde Strandvergnügen wurde vor wenigen Jahren in der Nationalgalerie in Berlin gezeigt; siehe den Ausstellungskatalog Berliner Impressionismus. Werke der Berliner Secession aus der Nationalgalerie, hg. von Angelika Wesenberg (Bonn: GH Verlag, 2006), 99. 43 Zitat aus GARS 1:208; Gerth & Mills, 302 f. 44 Die Definitionen von „Kirche“ und „Sekte“ sind in GARS 1:221; Gerth & Mills, 314. 46 Webers sämtliche Schriften zu den Universitäten sind versammelt in Max Webers vollständige Schriften zu akademischen und politischen Berufen, hg. und mit einer Einleitung von John Dreijmanis (Bremen: Europäischer Hochschul­ verlag, 2010), Zitat hier 142 f. (aus einem Zeitungsbeitrag); und viele wichtige davon in einer anderen Ausgabe in Übersetzung Max Weber on Universities, übers. und hg. von Edward Shils (Chicago: University of Chicago Press, 1974). 47 Webers Rede von 1918 an österreichische Offiziere ist „Der Sozialismus“, in GASS 492–518, Zitat hier 497; übersetzt als „Socialism“ in Lassman & Speirs, 278 f.

3. Kapitalismus Seite 51 Für Bryces Äußerung siehe James Bryce, The American Commonwealth (India­ napolis, IN: Liberty Fund, 1995), 2:1456. Bei Sandburgs Zeilen handelt es sich um die erste Strophe aus „Chicago“ (1916), zu finden unter http: /  / carlsandburg.com / chicago.htm. 52 Webers Äußerungen über die moderne Großstadt sind seiner Diskussionsrede zu W. Sombarts Vortrag über Technik und Kultur auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910 entnommen, GASS 453.

334

Bibliographische Angaben

56 Lincoln Steffens, „Chicago: Half Free and Fighting On“, McClure’s 21, Nr. 6 (1903): 563–77; Zitate hier 563, 564; siehe auch The Autobiography of Lincoln Steffens (Berkeley, CA: Heyday Books, 2005 [1931]), 428, über Chicago. 56 Informationen über die Abbildungen und Papiere von Hull House, einschließ­ lich jener demographischen Tabellen, die von den Webers eingesehen wurden, finden sich auf einer Website der Northwestern University unter http: /  / homic­ ide.northwestern.edu / pubs / hullhouse / Maps / . 57 f. Marianne Webers ehrendes Gedenken an Jane Addams ist „Jane Addams. Zu ihrem 70. Geburtstag“, Frankfurter Zeitung vom 9. September 1930, Abendaus­ gabe, 1 f. Die ausführlichen Protokolle des Heidelberger Ortsverbands des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium von 1897 bis 1905 finden sich in Ma­ rianne Webers Nachlass, DWS Ana 446, Sch. 22; der Verein leistete finan­zielle Unterstützung für Charlotte Perkins Gilmans Besuch und Vortrag in Heidelberg im März 1905. 58 Fritz Baedekers Beschreibung der Schlachthöfe von Chicago ist in The United States, 2., überarb. Ausgabe (Leipzig: Karl Baedeker  /  New York: Charles Scribner’s Sons), 1904, 357. Außer in Philip S. Foners Klassiker History of the Labor Movement in the United States, Bd. 3, The Policies and Practices of the American Federation of Labor, 1900– 1909 (New York: International Publish­ ers, 1964) wird der Schlachthofstreik von 1904 behandelt in David Brody, The Butcher Workmen: A Study of Unionization (Cambridge, MA: Harvard Univer­ sity Press, 1964); James R. Barrett, Work and Community in the Jungle: Chicago’s Packinghouse Workers, 1894–1922 (Urbana: University of Illinois Press, 1990), bes. das 5. Kap. über die Rationalisierung der Arbeit; und in Rick Halpern, Down on the Killing Floor: Black and White Workers in Chicago’s Packinghouses, 1904–54 (Urbana: University of Illinois Press, 1997), bes. 1. Kap. 60 Max Webers vom Verein finanziell unterstützte Untersuchung zur Industriear­ beit von 1908 Zur Psychophysik der industriellen Arbeit ist wiederabgedruckt mit einer methodologischen Einführung in GASS 1–255 und in MWG I / 11 (1995). 62 Im University Record of the University of Chicago 9, Nr. 6 (1904): 229 f. sind die mit dem Congress of Arts and Science in Zusammenhang stehenden Ereig­ nisse erwähnt. Die Äußerung zu Vater und Sohn Hatfield finden sich in „Me­ morial Meeting to James Taft Hatfield“ (14. Dezember 1945) und „James Miller Hatfield“; J. T. Hatfield Papers, Northwestern University Archives. 64 Die studentischen Verhaltensregeln der Northwestern University sind abge­ druckt im Bulletin of Northwestern University. General Catalogue, 1904–05 (Evanston, IL: Northwestern University, 1904); siehe 174 für den „religiösen Kult“. Der Artikel in der Chicago Daily Tribune ist „Says Character Is Capital, David R. Forgan, Vice President of the First National Bank, Talks at Athenae­ um“, Chicago Daily Tribune vom 10. September 1904. Theodore Roosevelts Rede an der Northwestern am 2. April 1903 behandelt Estelle Frances Ward in ihrer Story of Northwestern University (New York: Dodd, Mead, 1924), 242 f. Siehe auch Judy Hilkey, Character Is Capital: Success Manuals and Manhood



Bibliographische Angaben335 in Gilded Age America (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1997) für die kulturgeschichtlichen Aspekte des Themas.

65 f. Webers Schriften zu den amerikanischen und deutschen Universitäten sind versammelt in Max Webers vollständige Schriften zu akademischen und politischen Berufen, hg. und mit einer Einleitung von John Dreijmanis (Bremen: Europäischer Hochschulverlag, 2010), siehe 123 f. für die zitierten Anmerkun­ gen von 1911 und 23 f. in Max Weber on Universities, übers. und hg. von Edward Shils (Chicago: University of Chicago Press, 1974).

4. Wissenschaft und Weltkultur Die sieben Berichtsbände des Congress of Arts and Science: Universal Exposi­ tion, St. Louis, 1904, hg. von Howard J. Rogers (Boston: Houghton, Mifflin, 1905–6) sind im Internet bequem einsehbar unter http: /  / books.google.com / books. Weber trug deutsch vor; seine Rede wurde für die Veröffentlichung übersetzt von Charles Sei­ denadel, der auch Sombarts Rede übersetzte, als „The Relations of the Rural Com­ munity to Other Branches of Social Science“. Die Seidenadel-Übersetzung wurde im siebenten Berichtsband veröffentlicht und mit Überarbeitungen und einem irrefüh­ renden Titel („Capitalism and Rural Society in Germany“) in Gerth & Mills, 363–85, nachgedruckt. Bei der von mir herangezogenen verbesserten Korrekturfassung von Peter Ghosh handelt es sich um „Max Weber on ,The Rural Community‘: A Critical Edition of the English Text“, History of European Ideas 31 (2005): 327–66; siehe auch Ghoshs Begleitartikel „Not the Protestant Ethic? Max Weber at St. Louis“, History of European Ideas 31 (2005): 367–407, überarbeitet als „Capitalism and Herrschaft: Max Weber at St. Louis“, 4. Kap. in Peter Ghoshs A Historian Reads Max Weber: Essays on the Protestant Ethic (Wiesbaden: Harrassowitz, 2008). Wie Ghosh ausführt, müsste der Titel eigentlich und am genauesten lauten „Rural So­ciety in Its Relation to the Other Branches of Society“. Eine kritische Version des Textes wurde auch in MWG I / 8 (1998): 212–43 veröffentlicht. Hans Rollmanns Darstellung des Congress of Arts and Science von 1904 ist „ ,Meet Me in St. Louis‘: Troeltsch and Weber in America“ in Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts, hg. von Hartmut Lehmann und Guenther Roth (Washington, D.C.: German Historical Institute und Cambridge University Press, 1992), 357–66. Robert W. Rydells All the World’s a Fair: Visions of Empire at American International Expositions, 1876–1916 (Chicago: University of Chicago Press, 1984) rückt die Ausstellung zum Erwerb von Louisiana in einen politischen und historischen Zusammenhang. Für eine kritische Untersuchung neueren Datums siehe James Gilbert, Whose Fair? Experience, Memory, and the History of the Great St. Louis Exposition (Chicago: University of Chicago Press, 2009). Seite 69 f. Hugo Münsterberg verteidigte seinen Plan für den Congress im Atlantic Monthly 91 (1903): 671–84, Zitate hier auf 673, 676, 684; in Science 18 (1903): 559–63; und im Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods 1 (1904): 1–8. Für eine Zusammenfassung von Münsterbergs Ansichten siehe Matthew Hale, Human Science and Social Order: Hugo Münsterberg and the

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Bibliographische Angaben Origins of Applied Psychology (Philadelphia: Temple University Press, 1980), bes. 6. Kap.

70 Bei Albion Smalls scharfsinnigster Erwiderung auf Münsterberg handelt es sich um einen unveröffentlichten und nicht datierten (wahrscheinlich im Februar 1903 abgefassten) Bericht an die Organisatoren des Congress of Arts and ­Science; in den Simon Newcomb Papers, Nr. 39; Zitat hier auf 5. 71 Smalls Brief an Harper vom 24. Januar 1903 befindet sich in den University Presidents’ Papers der University of Chicago. John Deweys kritische Erwide­ rung an Münsterberg ist in Science 18 (1903): 275–78, 665. William James’ Brief an Münsterberg vom 28. Juni 1906 gehört in den Zusammenhang einer größeren kritischen Diskussion von neo-kantianischer Philosophie und Pragma­ tismus in den William James Papers. Du Bois verfasste auch eine scharfe Kritik an dem die „sociology“ betreffenden Durcheinander auf dem Kongress, veröffentlichte sie jedoch nicht: „Sociology Hesitant“ in den Du Bois Papers, reel 82. 73 Max Weber „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) in GAW 146–214, Zitate hier auf 173, 184; Shils & Finch, 49–112; siehe auch die überragende jüngste Übersetzung von Keith Tribe, „The ,Objectivity‘ of Knowledge in Social Science and Social Policy“ in The Essential Weber: A Reader, hg. von Sam Whimster (London: Routledge, 2004), 359–404. 73 f. Webers Texte sind „Roscher und Knies und die logischen Probleme der histo­ rischen Nationalökonomie“ (1903–1906), GAW 1–145; siehe 70–92 für die Kritik an Münsterberg; Zitat hier auf 72; übersetzt von Guy Oakes als Roscher and Knies: The Logical Problems of Historical Economics (New York: Free Press, 1975). 74 James Kloppenberg, The Virtues of Liberalism (New York: Oxford University Press, 1998), 84. 75 Weber „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er­ kenntnis“ in GAW 166, 213 f. „The ,Objectivity‘ of Knowledge in Social ­Science and Social Policy“ in The Essential Weber: A Reader, hg. von Sam Whimster (London: Routledge, 2004), 371, 403. 76 Für einen jüngeren Kommentar zur Diskussion der Modernisierung und der „multiple modernities“ (eine S. N. Eisenstadt zugeschriebene Auffassung) im Zusammenhang mit den Vereinigten Staaten siehe Wolfgang Knöbl, „Of Con­ tingencies and Breaks: The U.S. American South as an Anomaly in the Debate on Multiple Modernities“, Archives européennees de sociologie 47, Nr. 1 (2006): 125–57. 77–84  Max Weber, „Kapitalismus und Agrarverfassung“ (Rückübersetzung durch Hans Gerth) in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 108. Bd., 3. Heft (1952) 431–52, Zitate hier 431, 432, 433, 434, 437, 440, 452; für den engli­ schen Text siehe „Max Weber on ,The Rural Community‘: A Critical Edition of the English Text“, Übers. Peter Ghosh, History of European Ideas 31 (2005): 327–66. Tocqueville erörtert den „Individualismus“ in Democracy in America, Bd. II, II. Teil, Kap. 2–4, 8; sein „Wie die Aristokratie aus der Industrie her­



Bibliographische Angaben337 vorgehen könnte“ ist das 20. Kapitel im II. Teil von Bd. II [dt.: Über die Demokratie in Amerika (München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1976)]. Werner Sombarts Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? erschien zuerst 1905 als Artikel im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, im folgenden Jahr dann unter dem gleichen Titel als Buch (Tü­ bingen: Mohr [Siebeck], 1906). Ein brauchbarer Abriss der „Exzeptionalismus“Debatte ist Seymour Martin Lipset und Gary Marks (Hg.), It Didn’t Happen Here: Why Socialism Failed in the United States (New York: W. W. Norton, 2000). Siehe Thorstein Veblen, The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions (New York: Macmillan, 1902 [1899]) [dt.: Theorie der feinen Leute (Frankfurt / M.: Fischer Taschenbuch, 2011); und William J. Ghent, Our Benevolent Feudalism (New York: Macmillan, 1902).

85 Die Auseinandersetzung um die deutsche Kunst auf der internationalen Austel­ lung 1904 wird erörtert in Peter Paret, The Berlin Secession: Modernism and Its Enemies in Imperial Germany (Cambridge: Belknap Press, 1980), 4. Kap.; Zitat hier auf 149. 86 Fotografien der Räume in dem Gebäude für verschiedene Branchen enthält der Descriptive Catalogue of the German Arts and Crafts at the Universal Exposition, St. Louis 1904 (Berlin: Imperial German Commission, 1904). In den offiziellen Darstellungen finden sich zwei aufschlussreiche Beiträge über Ar­ chitektur, Kunst und Kunstgewerbe: Friedrich von Thiersch, „Architektur und Kunstgewerbe“ 2:179–98 und Hermann Muthesius, „Das Kunstgewerbe, insbe­ sondere die Wohnungskunst“ 2:263–96 in Amtlicher Bericht über die Weltausstellung in St. Louis 1904 erstattet vom Reichskommissar, 2 Teile (Berlin: Carl Heymanns Verlag, 1906). 87 Guenther Roth, „Marianne Weber als liberale Nationalistin“ in Jürgen Hess, Hartmut Lehmann und Volker Sellin (Hg.), Heidelberg 1945 (Stuttgart: Steiner, 1996), 310–26. Zu Frank Lloyd Wright, Joseph Maria Olbrich und die St.Louis-Ausstellung siehe Anthony Alfonsin, Frank Lloyd Wright: The Lost ­Years, 1910–1912: A Study of Influence (Chicago: University of Chicago Press, 1993), 12–40. 88 Gehners Beschreibung ist in The City of St. Louis and Its Resources (St. Louis, MO: Continental, 1893). Für die Geschichte der Mesker Brothers Iron Works siehe die Publikation des Illinois Historic Preservation Agency, Historic Illinois 28 (April 2006), leicht im Internet einzusehen unter www.illinoishistory. gov / gotmesker / Historic_Illinois_Meskder.pdf; ein Foto der Hochzeitsfeier der Gehners (1903) erscheint auf Seite 5. 1960 wurde die aus rotem Granit errich­ tete elegante deutsche Barockvilla der Gehners niedergerissen, um Platz zu schaffen ausgerechnet für den Hauptsitz des Optimist Club International. 90 Die maßgebliche Studie zur Reform der öffentlichen Schulen und die Rolle von Calvin Woodward in St. Louis hat Selwyn K. Troen vorgelegt: The Public and the Schools: Shaping the St. Louis System, 1838–1920 (Columbia: University of Missouri Press, 1975); das Zitat von Harris ist auf 162. William J. Reese befasst sich in Power and the Promise of School Reform: Grassroots Movements During the Progressive Era (Boston: Routledge und Kegan Paul, 1986) mit den Kontroversen über die Schulausbildung im Progressivismus.

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Bibliographische Angaben

5. Der letzte Rest Romantik Für Belegstellen von Webers Vorkenntnissen über den amerikanischen Westen siehe seine Jugendbriefe, 75, und Die römische Agrargeschichte, MWG I / 2, hg. von Jürgen Deininger (1986): 145. Bei Max Serings Untersuchung handelt es sich um Die Landwirthschaftliche Konkurrenz Nordamerikas in Gegenwart und Zukunft (Leipzig: Duncker & Humblot, 1887); siehe 107 für seine Ausführungen zur Besied­ lung. Der Journalist Paul Lindau brachte eine Darstellung der von Henry Villard organisierten Bahnreise heraus, an der Max Weber sen. teilgenommen hatte, siehe Lindau, Aus der neuen Welt (Berlin: Rütten und Loening, 1990), 6. Kap. Guenther Roth befasst sich mit dem Zweck der Reise in Max Webers deutsch-englische ­Familiengeschichte 1800–1950 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 478–85. Im Jahr 1855 hatte Kapp eine Darstellung der deutschen Settlements in Texas veröffentlicht, wiederabgedruckt in Friedrich Kapp, Aus und über Amerika. Thatsachen und Erlebnisse (Berlin: Springer, 1876), 243–90. Zur Geschichte des Indianer-Territoriums siehe Jeffrey Burton, Indian Territory and the United States, 1866–1906 (Norman: University of Oklahoma Press, 1995). Seite 92 f. Die zitierten Briefe von 1904 sind aus den Simon Newcomb Papers (20. Sep­ tember), den Nachlass Georg Jellinek (24. September), den Booker T. Washing­ ton Papers (25. September) und den William Harper Papers, University of Chicago Regenstein Library, Special Collections (7. Oktober). 93 Der Bericht über den Empfang im Weißen Haus erschien unter dem Titel „De­ legates at White House“ in der Washington Post vom 28. September 1904. 94 f. Webers Brief vom 27. Oktober 1904 (siehe Appendix 2) befindet sich in den Jacob Hollander Papers. 96 Hollanders Brief vom 18. Juli 1904 ist in den Edwin Seligman Papers. Hollan­ der berichtete über das Indianergebiet in „A Report on School Taxation in In­ dian Territory“, 58. United States Congress, 3. Sitzungsperiode, House of Re­ presentatives, Dokument 34 (1904); Zitat hier auf 2. Bei den St. Louiser Vor­ trägen, die Weber wahrscheinlich besucht hat, handelt es sich um John Bates Clark, „Economic Theory in a New Character and Relation“ 47–56; Jacob H. Hollander, „The Scope and Method of Political Economy“ 57–67; William Z. Ripley, „Problems of Transportation“ 95–112; und Edwin R. A. Seligman, „Pending Problems in Public Finance“ 190–200; in Congress of Arts and Science Universal Exposition, St. Louis, Bd. 7, hg. von Howard J. Rogers ­ (Boston: Houghton, Mifflin, 1906). 97  f. Von dem Vorfall in Guthrie wurde berichtet in „Wouldn’t Stay: German Professor’s Visit at Guthrie was Suddenly Terminated“, Daily Oklahoman vom 29. September 1904; die Darstellung aus dem Berliner Tageblatt ist dem Nach­ lass Marianne Webers entnommen (DWS); es handelt sich dabei um einen Zeitungsausschnitt, den Helene Weber ihrem Brief vom 2. Oktober an Max und Marianne in Boston beifügte; mein Dank gilt Sam Whimster, der mich auf diesen Abdruck aufmerksam machte. Webers Ankunft in Muskogee ist Thema in „A Distinguished Visitor“, Muskogee Phoenix vom 28. September 1904.



Bibliographische Angaben339

99–101  Clarence B. Douglas, Oklahoma in the Making from the Twin Territories (El Reno, OK: El Reno American, 1951), 28. 102 Für Robert Owen siehe den Artikel eines unbekannten Verfassers „Senator Owen and the Halo of Romance“, Current Opinion 56 (1914): 350; und Wyatt W. Belcher, „Political Leadership of Robert L. Owen“, Chronicles of Oklahoma 31 (1953): 361–71. 104 f.  Für die Angaben zu Bixby, Wright und die Dawes-Bixby-Kommission siehe Kent Carter, „Tams Bixby“, Chronicles of Oklahoma 78 (2000), 412; Kent Carter, „A Faithful Public Servant“, Chronicles of Oklahoma 81 (2003), 55, 64; und Kent Carter The Dawes Commission and the Allotment of the Five Civil­ized Tribes (Orem, UT: Ancestry.com, 1999), bes. Kap. 8 und 11; Zitat hier auf 175. 107 Owens Kongressaussage ist „Remarks before the Committee on the Territories of the House of Representatives“ in Statehood for Indian Territory and Oklahoma (Washington, D.C: Government Printing Office, 1904), Zitate hier auf 5 f., 8. 108 f.  Siehe Narcissa Chisholm Owen, Memoirs (Oklahoma City: Oklahoma His­ torical Society, 1907), bes. 102–4; Janet Shaffer, „The Indian Princess at Point of Honor“, Lynch’s Ferry: A Journal of Local History 7 (1994): 15–23; und Joni L. Kinsey, „Cultivating the Grasslands: Women Painters in the Great Plains“ in Independent Spirits: Women Painters of the American West, 1890– 1945, hg. von Patricia Trenton (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1995), 264 f., 268. 114 Siehe Jean Hector St. John de Crèvecoeur, Letters from an American Farmer (New York: Signet, 1963), 36 f. 115 Zohns Kommentar findet sich in Marianne Weber, Max Weber: A Biography, Übers. Harry Zohn (New Brunswick, NJ: Transaction, 1988), 291 Anm. 22. D. H. Lawrence, Studies in Classic American Literature (New York: Penguin, 1977), 55, 69. 116 f.  Siehe John F. McDermott, „Introductory Essay“ in Washington Irving A Tour on the Prairies (Norman: University of Oklahoma Press, 1956), xxii. Webers Äußerungen zu Irving sind in GARS 1:167 Anm. 2, 188 Anm. 2; PESC, 261 Anm. 10, 275 Anm. 73; Baehr & Wells, 177 f., 194. 117 Webers Äußerung über den „ethischen Lebensstil“ und den Kapitalismus ist in Die Protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Win­ ckelmann (Gütersloh: Mohn, 1978), 55; „Second Reply to Fischer“ in The Protestant Ethic Debate: Max Weber Replies to His Critics, 1907–10, hg. von David J. Chalcraft und Austin Harrington (Liverpool, England: Liverpool University Press, 2001), 50. 118 f.  Zur Ähnlichkeit zwischen römischer und nordamerikanischer Besiedlung äu­ ßert sich Weber in „Agrarverhältnisse im Altertum“ in Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber (Tübingen: Mohr Siebeck, 1988), 1–288, hier 197, 230; Übers. von R. I. Frank als The Agrarian Sociology of Ancient Civilizations (London: New Left Books, 1976). Die Zitate

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Bibliographische Angaben sind aus „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika“, Frankfurter Zeitung vom 13. und 15. April 1906; „ ,Churches‘ and ,Sects‘ in North America“ in Baehr & Wells, 204–6; vgl. „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalis­ mus“ in GARS 1:215; „The Protestant Sects and the Spirit of Capitalism“ in Gerth & Mills, 310; GARS 1:154 f. Anm. 3; EaS 926, 932 f., 971, 984 f., 991; PESC 255 f. Anm. 178. Für eine Analyse von Webers Vorstellungen von den Sekten und deren Bedeutung siehe Sung Ho Kim, Max Weber’s Politics of Civil Society (Cambridge: Cambridge University Press, 2004), bes. Kap. 3.

120 Webers Brief an Jaffé vom 10. Januar 1914 ist in MWG II / 8 (2003): 465 f.; siehe auch Edgar Jaffé, „Das englisch-amerikanische und das französische Bankwesen“ in Bankwesen. Grundriss der Sozialökonomik vol. 2 (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1915), bes. 209–14. 120 Weber abschließende Bemerkungen sind in GARS 1:203; „Max Weber on ,The Rural Community‘: A Critical Edition of the English Text“, übers. von Peter Ghosh, History of European Ideas 31 (2005): 345–46; Gerth & Mills, 385; PESC 181; Baehr & Wells, 121.

6. Die Rassenschranke Bei der Weber bekannten Literatur zu den Rassebeziehungen in Amerika handelt es sich um Friedrich Kapp, Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika (New York: Hauser, 1861); James Bryce, The American Commonwealth, Bd. 2 (Indianapolis, IN: Liberty Fund, 1995), Kap. 93 f., später allerdings wurde eine viel umfangreichere Diskussion in Kap. 95 hinzugefügt; Hugo Münsterberg, Die Amerikaner, Bd. 1 (Berlin: Mittler und Sohn, 1904), bes. 261–88. Münsterbergs Buch ist von Albion W. Small im American Journal of Sociology 10 (1904), 250, besprochen worden; darin führt Small den Satz des Autors: „Die Negerfrage ist die einzige wirklich schwarze Wolke am Horizont des öffentlichen Lebens der amerika­ nischen Nation“ (Münsterberg 1:282) als ein Beispiel einer übertriebenen und un­ ausgewogenen Meinung an. In Karl Büchers Arbeit und Rhythmus, 3. Aufl. (Leipzig: Teubner, 1902), 217–33, gibt es einen Abschnitt mit Partituren und Texten afroame­ rikanischer Feldarbeitslieder. Am Anfang der Diskussion der Rasse in Webers Werk steht der Aufsatz eines deutschen Emigranten, Ernst Moritz Manasses „Max Weber on Race“, Social Research 14, Nr. 2 (1947): 191–221, gefolgt von zwei Teilüberset­ zungen (Jerome Gittlemans) von Webers Wortmeldungen auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910, und Kommentaren von Benjamin Nelson: „Max We­ ber on Race and Society“, Social Research 38, Nr. 1 (1971): 30–41; und „Max Weber, Dr. Alfred Ploetz, and W.E.B. Du Bois“, Sociological Analysis 34, Nr. 4 (1973): 308–12. Karl-Ludwig Ay legte mit „Max Weber und der Begriff der Rasse“, Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 1 (1993): 189–218, die gründlichste Einschätzung vor. Unter den wichtigen frühen Untersuchungen zur Rasse in Amerika siehe Hortense Powdermakers, After Freedom: A Cultural Study in the Deep South (Madison: University of Wisconsin Press, 1993 [1939]), das einen soziologischen Ansatz verfolgt; John Dollard wählt in seinem Caste and Class in a Southern Town (Garden City, NY: Doubleday, 1988 [1937]) einen psychologischen Rahmen und argumentiert mit der „frustration aggression“-These. Eine kritische



Bibliographische Angaben341

Neubewertung legten jüngst Jane Adams und D. Gorton vor mit „Southern Trauma: Revisiting Caste and Class in the Mississippi Delta“, American Anthropologist 106, Nr. 2 (2004): 334–45. Historiker haben sich immer wieder mit den Besonderheiten der wirtschaftlichen Entwicklung im Süden befasst. Für einen neueren Beitrag dazu siehe Wolfgang Knöbl, „Of Contingencies and Breaks: The U.S. American South as an Anomaly in the Debate on Multiple Modernities“, Archives européennes de sociologie 47 (2006): 125–57. Für Booker T. Washington siehe Louis R. Harlans unübertroffene zweibändige Biographie Booker T. Washington: The Making of a Black Leader, 1856–1901 (New York: Oxford University Press, 1972); und Booker T. Washington: The Wizard of Tuskegee, 1901–1915 (New York: Oxford University Press, 1983). Margaret (Mrs. Booker T.) Washingtons kurze Darstellung ihrer Arbeit ist „The Tuskegee Woman’s Club“, Southern Workman 49, Nr. 8 (1920): 365–9. Weber las Up from Slavery (New York: Doubleday, 1901), das er in der Debatte um die „Protestantische Ethik“ (1910) anführte, und gewiss auch die Sammlung von Washingtons Sonntagabendansprachen in Tuskegee, Character Building (New York: Doubleday, 1902.) W. E. B. Du Bois’ Klassiker The Souls of Black Folk (Chicago: A. C. McClurg, 1903) [dt.: Die Seele der Schwarzen, übers. und hg. von Jürgen und Barbara MeyerWendt. Freiburg: Orange Press 2003] vereinigt verschiedene seiner vorherigen Ver­ öffentlichungen. Seine Monographie The Philadelphia Negro: A Social Study (Phila­ delphia: University of Pennsylvania Press, 1899) wurde durch die University of Pennsylvania Press 1995 wieder aufgelegt, und die Veröffentlichungen der Atlanta University sind jetzt im Internet unter http: /  / fax.libs.uga.edu / E185x5xA881p / aup­ menu.html abrufbar. Die Occasional Papers der American Negro Academy wurden wiederveröffentlicht (New York: Arno Press, 1969) und sie umfassen auch Du Bois’ „The Conservation of Races“ (1897). Seinen Artikel „The Relation of the Negroes to the Whites in the South“ findet man in den Annals of the American Academy of Political and Social Science 18 (1901), 121–40. Du Bois’ Artikel im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22 (1906): 31–79, ist jüngst von Joseph Frac­ chia ins Englische rückübersetzt worden; siehe „Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten (The Negro Question in the United States) (1906)“, CR: The New Centennial Review 6 (2006): 241–90. Die maßgebliche Biographie W. E. B. Du Bois’ ist David Levering Lewis’ zweibändige Studie: W. E. B. Du Bois: Biography of a Race, 1868–1919 (New York: Henry Holt, 1993) und W. E. B. Du Bois: The Fight for Equality and the American Century, 1919–1963 (New York: Henry Holt, 2000). Für die Beziehungen zwischen Du Bois und Max Weber siehe die eingehende Darstel­ lung in Nahum D. Chandler, „The Possible Form of an Interlocution: W. E. B. Du Bois and Max Weber in Correspondence, 1904–1905“, CR: The New Centennial Review 6 (2006); 193–239, und 7 (2007): 213–72, zusammen mit der ausführlichen Erörterung neuerer Sichten auf Du Bois im selben Band derselben Zeitschrift. Axel R. Schäfers „W. E. B. Du Bois, German Social Thought, and the Racial Divide in American Progressivism, 1892–1909“, Journal of American History 88 (2001): 925–49, zeigt ein waches Gespür für die Uneindeutigkeiten innerhalb des Progres­ sivismus in den Vereinigten Staaten.

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Bibliographische Angaben

Seite 124 „The problem of the twentieth century is the problem of the color line …“ schreibt Du Bois am Beginn seines Aufsatzes „The Freedmen’s Bureau“, Atlantic Monthly 87 (1901): 354; überarbeitet zum zweiten Kapitel in The Souls of Black Folk (Chicago: A. C. McClurg, 1903). 124 Siehe Appendix 2 für Webers Briefwechsel mit W. E. B. Du Bois und Booker T. Washington. 126 Ich möchte Guenther Roth dafür danken, dass er meine Aufmerksamkeit auf Else Jaffés Brief an Du Bois lenkte, den sie ihm am 10. November 1905 ge­ schrieben hatte, und worin sie ihr Interesse an dem Übersetzungsvorhaben zum Ausdruck brachte, aber auch Zweifel bezüglich ihrer Möglichkeiten zu seiner erfolgreichen Umsetzung. 128 Dorothy Ross befasst sich in The Origins of American Social Science (Cam­ bridge: Cambridge University Press, 1991) mit der Wichtigkeit der deutschen Universitäten für die im Entstehen begriffenen Sozialwissenschaften in Ame­ rika; Zitat hier auf 439. 128 f.  Webers Einschätzung, dass die Probleme des Südens „wesentlich ethnischer, nicht wirtschaftlicher Art“ waren, stammt aus seiner St. Louiser Rede; siehe Hans Gerths Rückübersetzung „Kapitalismus und Agrarverfassung“ in Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 108. Bd., 3. Heft (1952), 431–52, Zitat hier auf 432, und „Max Weber on ,The Rural Community‘: A Critical Edition of the English Text“, übers. von Peter Ghosh, History of European Ideas 31 (2005): 329. 129 f.  „Caste in America“ ist nachgedruckt als „Caste: That is the Root of the Trouble“ in Writings by W. E. B. Du Bois in Periodicals Edited by Others, hg. von Herbert Aptheker (Millwood, NY: Kraus-Thompson, 1982), 1:231–4. 131 Carl Schurz’ Artikel ist „Can the South Solve the Negro Problem?“, McClure’s 22 (1904): 259–75. Weber wusste von Schurz durch seinen Vater, der mit ihm durch die Vereinigten Staaten gereist war, und durch Friedrich Kapp, Schurz’ politischen Verbündeten. Es spricht dennoch nichts dafür, dass er mit Schurz in New York City zusammengetroffen ist. 132 Bei Myrdals klassischem Werk haben wir es mit einer wichtigen frühen Aus­ nahme vom Fehlen einer Rassensoziologie zu tun; siehe Gunnar Myrdal, An American Dilemma: The Negro Problem and Modern Democracy, unter Mitwirkung von Richard Sterner und Arnold Rose (New York: Harper and ­ Brothers, 1944); Zitat hier auf 952 f. 133 W. E. B. Du Bois, „The Relation of the Negroes to the Whites in the South“, Annals of the American Academy of Political and Social Science 18 (1901): 121–40. 133 Webers Brief an Karl Bücher vom 1. Februar 1909 ist in MWG II / 6 (1994): 46–50. 135 Marianne Weber, Max Weber: Ein Lebensbild (München: Piper, 1989), 309; Max Weber: A Biography, übers. von Harry Zohn (New Brunswick, NJ: Trans­ action, 1988), 295.



Bibliographische Angaben343

137 Booker T. Washington, Character Building: Being Addresses Delivered on Sunday Evenings to the Students of Tuskegee Institute (New York: Doubleday, Page, 1902), 91, 290. 138 Webers Bezugnahme auf Washingtons Up from Slavery ist aus seiner zweiten Replik auf Rachfahl (1910), dem „Antikritischen Schlusswort zum ,Geist des Kapitalismus‘ “ in Die Protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann (Gütersloh: Mohn, 1978), 283–346, Zitate hier auf 341 Anm. 19; übers. in The Protestant Ethic Debate: Max Weber’s Replies to His Critics, 1907–1910, hg. von David J. Chalcraft und Austin Harrington (Liverpool, England: Liverpool University Press, 2001), 129 Anm. 19. Andrew Zimmermans „Decolonizing Weber“, Postcolonial Studies 9 (2006): 53–79, ist eine feindselige Attacke, die viel Aufhebens macht um das Thema Rasse, aber kaum Aufschlüsse liefert. Sein Artikel über Washington und das Tuskegee Institute, „A German Alabama in Africa: The Tuskegee Expedition to German Togo and the Transnational Origins of African Cotton Growers“, American Historical Review 110 (2005): 1362–98 (erscheint demnächst als Monographie Inventing the Color Line: The Tuskegee Expedition to German Togo and the Globalization of the New South) ist da schon hilfreicher, insofern als er auf die Unklarheiten im Tuskegee-Programm hinweist. 139 W. E. B. Du Bois, „Die Negerfrage in den Vereinigten Staaten (The Negro Question in the United States) (1906)“; der von Du Bois in Englisch abgefass­ te Beitrag ist von einem unbekannten Übersetzer für die Veröffentlichung im Archiv ins Deutsche übertragen worden. Das englische Originalmanuskript ist nicht erhalten. Joseph Fracchia übersetzte die deutsche Fassung zurück ins Englische, CR: The New Centennial Review 6, Nr. 3 (2006), Zitat hier 285. 139 f.  Siehe Max Weber, „Diskussionsbeiträge in der Debatte über Alfred Plötz: Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme“ in GASS 456–62 (gekürzter Text) und das Original in Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19–22 Oktober 1910 in Frankfurt a. M. (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1911), 151–65. Die Teilübersetzung durch Jerome Gittleman ist oben angegeben. 140 Webers Äußerungen auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin sind wiederabgedruckt in GASS 489; dieser Text wurde nicht ins Englische über­ setzt. 140 f.  Ernst Moritz Manasse, „Max Weber on Race“, Social Research 14, Nr. 2 (1947): 191. 141 Webers Entwurf für seine Lehrveranstaltungen von 1898 wurde wiederveröf­ fentlicht als Grundriss zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1990); siehe bes. § 6, 9 f.; und die Vorlesungen von 1894 bis 1898 sind in MWG III / 1 (2009). 141–43  Max Webers wichtigste einschlägige Texte sind in Wirtschaft und Gesellschaft, die Kapitel „Stände und Klassen“, „Ethnische Gemeinschaften“, „Poli­ tische Gemeinschaften“, und „Klassen, Stände, Parteien“; siehe MWG I / 22.1 (2001): 169–90; bes. 178 f. zur Standesehre und zum „poor white trash“; siehe auch MWG I / 22.5 Die Stadt (1999): 254.

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7. Unterschiedliche Lebenswege Mit Webers amerikanischen Verwandten befasst sich Guenther Roth in Max ­ ebers deutsch-englische Familiengeschichte, 1800–1950 (Tübingen: Mohr Siebeck, W 2001), bes. 94 f., 354–70, 531 f. Für die Mt. Airy-Verwandtschaft siehe das von Larry G. Keeter und Steven Hall veröffentlichte Video Max Weber Visits America, auf video.google.com / videoplay?docid=3847257290288473322; siehe auch Larry G. Keeter, „Max Weber’s Visit to North Carolina“, Journal of the History of Sociology 3, Nr. 2 (1981): 108–14; Larry G. Keeter, „Max Weber: A Spy!“, ASA Footnotes 8, Nr. 6 (1980): 7; und William H. Swatos, „Sects and Success: Missverstehen in Mt. Airy“, Sociological Analysis 43, Nr. 4 (1982), 375–9. Die wichtigen klassischen Untersuchungen für die Politik und Geschichte des Südens jener Zeit sind V. O. Key, Southern Politics in State and Nation (New York: Alfred A. Knopf, 1949), bes. das 4. Kap. über Tennessee; und C. Vann Woodward, Origins of the New South, 1877–1913 (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1951), bes. 14. Kap. Zum Progressivismus sind zahlreiche Arbeiten verfasst worden; hilfreiche Diskussionen gibt es in Arthur S. Link und Richard L. McCor­ mick, Progressivism (Arlington Heights, IL: Harlan Davidson, 1983) und Richard L. McCormick, The Party Period and Public Policy: American Politics from the Age of Jackson to the Progressive Era (New York: Oxford University Press, 1986), 269–88. Die Politik des New South und Colyars Rolle werden erörtert in Thomas Woodrow Davis, „Arthur S. Colyar and the New South, 1865–1905“ (PhD diss., University of Missouri–Columbia, 1962). Unter den Büchern, die Murphy Weber schenkte, befand sich die beiden Bände von Arthur St. Clair Colyars Life and Times of Andrew Jackson: Soldier–Statesman–President, (Nashville, TN: Marshall und Bruce, 1904), die sich jetzt in der Handbibliothek Max Weber der MWG in Mün­ chen befinden, wovon mich ihre Generalredaktorin Edith Hanke in Kenntnis setzte. Zu Knoxville existiert keine zufriedenstellende sozialgeschichtliche Darstellung. Bei den für meine Zwecke nützlichsten Quellen handelt es sich um Verton M. Que­ ener, „The East Tennessee Republican Party, 1900–1914“, East Tennessee Historical Society’s Publications 20 (1950): 94–127, Morgan J. Kousser, The Shaping of South­ ern Politics: Suffrage Restriction and the Establishment of the One-Party South, 1880–1910 (New Haven, CT: Yale University Press, 1974), 104–23; Lucile Dea­ derick (Hg.), Heart of the Valley: A History of Knoxville, Tennessee (Knoxville: East Tennessee Historical Society, 1976); William R. Majors, Change and Continuity: Tennessee Politics since the Civil War (Macon, GA: Mercer University Press, 1986), bes. 2. Kap.; Dewey W. Grantham, „Tennessee and Twentieth-Century American Politics“ in Tennessee History: The Land, the People, and the Culture, hg. von Carroll Van West (Knoxville: University of Tennessee Press, 1998), 343–72; Paul H. Bergeron, Antebellum Politics in Tennessee (Lexington: University Press of Kentu­ cky, 1982); sowie Paul H. Bergeron, Stephen V. Ash und Jeanette Keith, Tennesseans and Their History (Knoxville: University of Tennessee Press, 1999), Kap. 9.



Bibliographische Angaben345

Seite 153 f.  William R. Majors beschreibt in Change and Continuity: Tennessee Politics since the Civil War (Macon, GA: Mercer University Press, 1986), 32, die ­politischen Gefechte als „bitter and confusing“. 155 Von Murphys Wahlkampfbeitrag wurde berichtet in „Deputy Sheriff Yarnell Interrupted the Meeting“, Knoxville Sentinel vom 10. Oktober 1904. Max Weber, „Politik als Beruf“ in MWG I / 17 (1992): 204; Gerth & Mills, 103. 156 Ich beziehe mich hier auf Louis Hartz’ klassische Formulierung; The Liberal Tradition in America: An Interpretation of American Political Thought since the Revolution (New York: Harcourt, Brace and World, 1955), bes. Kap. 1. 158 Hier beziehe ich mich auf Thorstein Veblens The Theory of the Leisure Class (New York: Macmillan, 1902 [1899]) [dt.: Theorie der feinen Leute (Frank­ furt / M.: Fischer Taschenbuch, 2011). Mit dem Biltmore-Anwesen befasst sich Witold Rybczynski in A Clearing in the Distance: Frederick Law Olmsted and America in the Nineteenth Century (New York: Charles Scribner’s Sons, 1999), 379–84. 160 Peter Rosegger, Jakob, der Letzte. Eine Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen, 13. Aufl. (Leipzig: L. Staackmann, 1904), Zitat hier auf 372. Für die kulturelle Bedeutung der Heimatliteratur siehe Peter Blickle, Heimat: A Critical Theory of the German Idea of Homeland (Rochester, NY: Camden House, 2002). 161 Webers Bezugnahmen auf das Geschenen in Mt. Airy sind in „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ “, Frankfurter Zeitung vom 13. und 15. April 1906; „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze“, Die Christliche Welt vom 14. und 21. Juni 1906; übers. von Colin Loader als „ ,Churches‘ and ,Sects‘ in North America: An Ecclesiastical Socio-Political Sketch“, Sociological Theory 3, Nr. 1 (1985): 7–13. Die letzte Umarbeitung ist Max Weber, „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ aus GARS 1; übers. von Hans Gerth als „The Protestant Sects and the Spirit of Capitalism“ in Gerth & Mills, 302–22. 162 Webers Kommentar zur Musik in amerikanischen Kirchen ist in GARS 1:185 Anm. 1; PESC, 272 Anm. 64; und Baehr & Wells, 191–92 Anm. 278. Nütz­ liche ethnographische Studien, darunter auch Gespräche mit einigen von We­ bers Verwandten, sind in James L. Peacock und Ruel W. Tyson Jr., Pilgrims of Paradox: Calvinism and Experience among the Primitive Baptists of the Blue Ridge (Washington, D.C.: Smithsonian Institution Press, 1989); und Be­ verly Bush Patterson, The Sound of the Dove: Singing in Appalachian Primitive Baptist Churches (Urbana: University of Illinois Press, 1995). 162 f.  Max Weber „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ “, Frankfurter Zeitung vom 13. April 1906. In den Briefen erwähnt Weber, dass Jeff Miller sich an einen der Män­ ner wandte, der auf den Namen „Bem“ getauft wurde; Weber äußert sich hier allerdings nur andeutungsweise bzw. ohne nähere Angaben zur Zeit und zu den Umständen zu machen, so dass diese unklar bleiben: „Jeff, der die Sache für Unsinn hält, erzählte, dass er einen gefragt habe: ,Didn’t you feel pretty

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Bibliographische Angaben cold, Bem?‘ Antwort: ,I thought of a pretty hot place (= Hölle natürlich), Sir, and so I didn’t care for the cold water‘ “ (19. Oktober, NMW; die zitierten Äußerungen führt Weber auf Englisch an).

164 f.  Max Weber „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ in GARS 1: 211, 213 f.; Gerth & Mills, 305, 308. Für zur Sache gehörige Themen in der Religionssoziologie siehe William H. Swatos, „Baptists and Quakers in the USA“ in Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, hg. von Hartmut Lehmann und Jean Martin Quédraogo (Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht, 2003), 257–70, und die Erwiderung von Hermann Wellen­ reuther, „On the Curious Relationship between Words and Realities: Some Re­ marks on ,Baptists and Quakers in the USA‘ “ im selben Band, 271–7. 165 f.  Max Weber, „ ,Kirchen‘ und ,Sekten‘ “, Frankfurter Zeitung vom 15. April 1906; „ ,Churches‘ and ,Sects‘ in North America: An Ecclesiastical Socio-Po­ litical Sketch“, übers. von Colin Loader, Sociological Theory 3, Nr. 1 (1985); 10 f. Eine herausragende Erörterung von Webers Sektentheorie und ihrer mo­ dernen Folgerungen ist Sung Ho Kim, Max Weber’s Politics of Civil Society (Cambridge: University of Cambridge Press, 2004).

8. Die Protestantische Ethik Seite 170 Sombarts ausführliche Betrachtungen sind in Werner Sombart, „Quellen und Literatur zum Studium der Arbeiterfrage und des Sozialismus in den Vereinig­ ten Staaten von Amerika (1902–1904)“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1905): 633–703; und Werner Sombart, „Studien zur Entwick­ lungsgeschichte des nordamerikanischen Proletariats“, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 21 (1905): 210–36, 308–46, 556–611, die mit der Erklärung einsetzen: „Die Vereinigten Staaten von Amerika sind in die Mode gekommen. Sie sind ‚interessant‘ geworden“, 634. 170 Bei Webers Stellungnahmen zu den Arbeitsverhältnissen handelt es sich um Erwiderungen auf Referate bei Tagungen des Vereins für Socialpolitik, wieder­ abgedruckt in GASS 394–430; siehe bes. 402–6, vom September 1905. 172 Außer dem Vortrag auf dem Congress of Arts and Science hatte Hollander kurz zuvor veröffentlicht: „Political Economy and the Labor Question“ in North American Review 176 (1903): 563–70; und „Economic Investigation in the United States“, Yale Review, Mai 1903, 25–31; Zitate hier auf 26, 29. Seine Neubewertung der Wirtschaftswissenschaft in Amerika ein Jahrzehnt später ist „Economic Theorizing and Scientific Progress“, American Economic Review 6, Nr. 1, Supplement (1916): 124–39. Das akademische Programm in der Wirtschaftswissenschaft wird beschrieben in Jacob H. Hollander und Geor­ ge E. Barnett (Hg.), „The Economic Seminary, 1904–1905“, Johns Hopkins University Circular, neue Reihe, Nr. 6 (1905), 1–43. George Barnetts frühes Werk The Printers: A Study in American Trade Unionism (Cambridge, MA: American Economic Association, 1909) war eine wegweisende Untersuchung zur Druckgewerkschaft. Der Text, den die Studenten in Hollanders Seminar



Bibliographische Angaben347 benutzten, ist John A. Hobson, The Evolution of Modern Capitalism: A Study of Machine Production, 2. Aufl. (London: Walter Scott, 1901 [1894]).

174 Martha Carey Thomas’ St. Louiser Rede „The College“ ist abgedruckt in den Berichtsbänden Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis, 1904, Bd. 8, hg. Howard J. Rogers (Boston: Houghton, Mifflin, 1907), 133–50; wiederabgedruckt in Educational Review vom Januar 1905, 1–23; Zitat hier auf 17. Die Untersuchung, die ihr nationale Reputation einbrachte, ist ihre Education of Women (Washington, D.C.: U.S. Department of Education, 1900), eine Sammlung von Schriften, die Nicholas Murray Butler herausbrachte. Das Buch wurde 1904 für die St. Louis-Ausstellung neu verlegt, und es muss Marianne Weber als wichtige Quelle gedient haben. Für die Debatte über die Geschlechterdifferenz und die Bildung siehe Martha Carey Thomas, „Should the Higher Education of Women Differ from that of Men?“, Educational Review vom Januar 1901, 1–10. Marianne Webers Vortrag in Berlin über die Mitwirkung von Frauen in der Wissenschaft ist „Die Beteiligung der Frau an der Wissenschaft“ in Der Internationale Frauen-Kongress in Berlin 1904, hg. von Marie Stritt (Berlin: Verlag C. Habel, 1904), 105–15; in demselben Band folgt in mittelbarem Anschluss (124–30) Martha Carey Thomas’ Beitrag „The University Education of Women in the United States of America, with Special Reference to Coeducation“. Die maßgebliche Biographie ist Helen Lefkowitz Horowitz, The Power and the Passion of M. Carey Thomas (New York: Alfred A. Knopf, 1994). 176 f.  Weber führt Rufus M. Jones in einer Fußnote der letzten Überarbeitung der Protestantischen Ethik an, GARS 1:151 Anm. 4; PESC 253 Anm. 169. 178 f. Weber erwähnt Allen Clapp Thomas’ Haverford-Rede zwei Mal, wenngleich er ihn nicht namentlich anführt; siehe GARS 1:162 Anm. 4; Zitate hier 162 f.; PESC 258 Anm. 193; Baehr & Wells, 104, 175 f. Anm. 220. In der Überarbei­ tung von 1919–20 fügte Weber „in Haverford College“ ein (GARS 1:162 Anm. 4). Die zweite Bezugnahme ist in „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“, GARS 1:230 Anm. 2; „The Protestant Sects and the Spirit of Capitalism“ in Gerth & Mills, 317 f. 182 Webers kurze Äußerungen zur Soziologie des Sports sind in GARS 1:183 f.; PESC 166 f.; Baehr & Wells, 113. 183 Hugo Münsterbergs Hauptabhandlung Die Grundzüge der Psychologie Leip­ zig: J. A. Barth, 1900) wurde in Deutschland besser aufgenommen als in den Vereinigten Staaten, was zum Teil daran lag, dass sie sich mit methodologi­ schen Fragen auseinandersetzte, die aus dem Methodenstreit herrührten. Für Münsterbergs Platz in der Psychologie siehe Matthew Hale, Human Science and Social Order: Hugo Münsterberg and the Origins of Applied Psychology (Philadelphia: Temple University Press, 1980). 184 Ethel Puffer berichtet in „Studies in Symmetry“, Psychological Review 4, Nr. 1 (1903), 467–539, über ihre Arbeit in experimenteller Psychologie am Harvard’s Psychological Laboratory. Ihre Abhandlung The Psychology of Beauty (Boston: Houghton, Mifflin, 1905), Zitate hier auf 39, war sowohl eine Studie in Ästhetik als auch eine in Psychologie.

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185 Ernst Troeltschs Vortrag ist Psychologie und Erkenntnistheorie in der Reli­ gionswissenschaft. Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts and sciences in St. Louis,M. (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1905); übersetzt als „Main Problems of the Philosophy of Religion: Psychology and Theory of Knowledge in the Science of Religion“ und veröffentlicht in Congress of Arts and Science, Universal Exposition, St. Louis 1904, hg. von Howard J. Rogers, Bd. 1 (Boston: Houghton, Mifflin, 1905), 275–88; siehe auch seine Bespre­ chung des Bandes in Deutsche Literaturzeitung 25, 10. Dezember 1904, 3021–7. Troeltschs Würdigung von James ist „Empiricism and Platonism in the Philosophy of Religion: To the Memory of William James“, Harvard Theological Review 5 (1912): 401–22; wiederabgedruckt in einer von ­Troeltsch formal geänderten und erweiterten Fassung als „Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie. Zur Erinnerung an William James“ in Gesammelte Schriften. Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Bd. 2 ­(Aalen: Scientia Verlag, 1962), 364–85. 187 f.  Webers explizite Bezugnahmen auf William James sind in GARS 1:111 f. Anm. 4 und 213 Anm. 1; letztere ist übersetzt in Gerth & Mills, 308 (die Her­ ausgeber integrieren die Fußnote in den Text); PESC 232 f.; übers. von Peter Baehr und Gordon Wells, in Baehr & Wells, 144 f. Webers Äußerung in der Fußnote zur psychologischen Wirkung von Nietzsches Gedanken der „ewigen Wiederkehr“ ist eine Hinzufügung zur Fassung von 1920. Die andere Bezug­ nahme auf James ist in Webers Besprechung von Adolf Webers Die Aufgaben der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 29, Heft 2 (1909), 615–20. Für wichtige Untersuchungen siehe Wilhelm Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen: neue Studien zur Biographie des Werks (Tübingen: Mohr Siebeck,1996), bes. 50–71; übers. von Keith Tribe als Weber’s Science of Man: New Studies for a Biography of the Work (Newbury, England: Threshold Press, 2000), bes. 46–65; und Hartmut Lehmann, „Max Webers ,Protestantische Ethik‘ als Selbstzeugnis“ in Max ­Webers ,Protestantische Ethik‘ (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), 109–27. Für eine skeptische Sicht siehe Peter Ghosh, „Max Weber and William James: ,Pragmatism‘ Psychology, Religion“ in A Historian Reads Max Weber: Essays on the Protestant Ethic (Wiesbaden: Harrassowitz, 2008), Kap. 8. 188 f.  William James, The Varieties of Religious Experience (New York: Vintage, 1990 [1902]), Zitate hier in den Vorlesungen I, XIII [dt.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt  /  M.: Insel, 1997]. William James an Charles Eliot, 13. August 1902, in den Charles W. Eliot Papers, Box 125A. 189 Baumgartens Beobachtungen James betreffend sind in Eduard Baumgarten, Max Weber: Werk und Person (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1964), 313. 189 William James, The Varieties of Religious Experience (New York: Vintage, 1990 [1902]), Vorlesungen IV und V „The Religion of Healthy-Mindedness“, S. 105 [dt.: Vielfalt, „Die Religion des gesunden Geistes“, 139] Vorlesung VI., „The Sick Soul“, 128–29 [dt.: „Die kranke Seele“, 160 f., Übers. geänd.]; Vorlesung VIII „The Divided Self, and the Process of Its Unification“, 155 [dt.: „Das gespaltene Selbst und sein Vereinigungsprozess“, 188].



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189 Webers häufig angeführte Äußerung, „Denn ich bin zwar religiös absolut ,unmusikalisch‘ […] Aber ich bin, nach genauer Prüfung, weder antireligiös, noch irreligiös“ ist in Max Weber an Ferdinand Tönnies, 19. Februar 1909, MWG II / 6 (1994): 65. GARS 1:93, 95, 98; PESC 104, 105, 108; Baehr & Wells, 73, 74. 190 GARS 1:86, 125; Baehr & Wells, 69, 86; PESC 97 f., 126. Im Zusammenhang mit seiner Rede von den „psychologischen Antrieben“ fügte Weber in der Aus­ gabe von 1920 die verdeutlichende Wendung „durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen“ hinzu. Weber stellt heraus, dass der „Bewährungsgedanke als psychologischer Ausgangspunkt der methodi­ schen Sittlichkeit“ für seine Betrachtungen fundamental ist, GARS 1:125. 190 GARS 1:128; Baehr & Wells, 87; PESC 128. 191 Max Weber an Adolf von Harnack, 12. Januar 1905, im Nachlass Adolf von Harnacks. 192 f.  GARS 1:111 f. Anm. 4; Baehr & Wells, 144 Anm. 113; PESC 232 Anm. 66. 193 f.  Siehe Webers Besprechung im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 29, Heft 2 (1909), 615–20. 195 f.  Max Weber, „Die Wirtschaftethik der Weltreligionen“ ist in GARS 1:237–75, Zitate hier 238, 252; übers. von Hans Gerth als „The Social Psychology of the World Religions“ in Gerth & Mills, 267–301; und kürzlich übersetzt von Sam Whimster als „Introduction to the Economic Ethics of the World Religions“ in The Essential Weber: A Reader (London: Routledge, 2004), 55–80. 196 William James, The Varieties of Religious Experience, Vorlesung III, 74 [dt.: Vielfalt, 106, Übers. geändert]; William James an Hugo Münsterberg, 16. März 1905, in den William James Papers. Martha Nussbaums Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions (Cambridge: Cambridge University Press, 2001) ist eine neuere Diskussion der Rationalität von Emotion und Erfahrung. All­ gemein zum Pragmatismus siehe Lewis Menands exzellente Darstellung The Metaphysical Club: A Story of Ideas in America (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2001).

9. Amerikas Modernität Mit Webers zweitem Aufenthalt in New York befasst sich Guenther Roth in „Transatlantic Connections: A Cosmopolitan Context for Max and Marianne Weber’s New York Visit 1904“, Max Weber Studies 5, Nr. 1 (2005): 81–112. Roth geht den familiären Verbindungen nach und berichtet, dass Paul und Clara (Kapp) Lichten­ stein in Brooklyn, Amity Street 182, lebten, in einer Wohngegend, die heute Cobb­ le Hill heißt (ein paar Häuser vom Geburtsort von Winston Churchills Mutter Jennie Jerome entfernt), während Alfred und Hannah (Kapp) Lichtenstein in Brooklyn Heights lebten, 201 Columbia Heights. Die Webers waren am 11. bzw. am 17. No­ vember 1904 bei den Familien zum Essen zu Gast. Siehe auch Guenther Roth, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001), 354–70, 486–89, für die Familiengeschichte.

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Bibliographische Angaben

Seite 198 f.  Webers indirekte Bezugnahmen auf Otto von Klock und die Gespräche in der Fremdenpension in der Madison Avenue sind in der Schlussfassung von „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“, GARS 1: 215, 216 Anm. 1, 2; Gerth & Mills, 310–11, und „Klassen, Stände, Parteien“ MWG I / 22.1 (2001): 260; „Class, Status, Party“ EaS 932; Gerth & Mills, 187. 201 Weber charakterisiert Theodore Roosevelt als charismatischen Politiker in Max Weber „Entstehung und Umbildung der charismatischen Autorität“, WuG 849 f.; „Charisma and Its Transformation“, EaS 1130–2; Weber bezieht sich auf Roosevelts Wahlkampf von 1912, den er offensichtlich mit Interesse ver­ folgte. Für eine jüngere Diskussion von Webers Charisma-Vorstellungen und ihre Anwendbarkeit siehe Peter Baehr, Caesarism, Charisma and Fate: Historical Sources and Modern Resonances in the Work of Max Weber (New Brunswick, NJ: Transaction, 2008). 202 Webers Bezugnahme auf die Marble Collegiate Church ist in GARS 1:215 Anm. 1; Gerth & Mills, 310. 202 f.  Siehe Jean-Pierre Isbouts, Carrère and Hastings: Architects to an Era (Diss., Rijksuniversiteit Leiden, 1980), bes. 144–8; und Mark Alan Hewitt, Kate Lemos, William Morrison und Charles Davock Warren, Carrère and Hastings, Architects (New York: Acanthus Press, 2006). Von Carrère und Hastings stammt auch der Entwurf der New York Public Library und der Office Buil­ dings von Senat und Repräsentantenhaus in Washington, D.C. Eine Zusam­ menfassung von Hastings’ Architekturtheorie ist seine „Modern Architecture“ in Ralph Adams Cram, Thomas Hastings und Claude Bragdon, Six Lectures on Architecture: The Scammon Lectures for 1915 (Chicago: University of Chicago Press, 2003 [1917]), 98–122; Zitat hier auf 98. 204 James’ Äußerungen zur „mind cure“ sind in William James, The Varieties of Religious Experience (New York: Vintage, 1990) 92 f., 103, Vorlesungen IV und V zur Religion des gesunden Geistes [dt. 136 f., 142 f.]. 205 Für einen Überblick über die Ethical Culture Society siehe das Buch von Adlers Assistent David S. Muzzey, Ethics as a Religion (New York: Frederick Ungar, 1951), Zitat hier auf 3 f.; auch Horace L. Friess, Felix Adler and Ethical Culture: Memories and Studies, hg. von Fannia Weingarner (New York: Columbia University Press, 1981). Adlers zwanzigseitige Predigt „Mental Healing as a Religion“ ist in den Felix Adler Papers, Box 61. 207 Webers Äußerungen zur Kommunalreform und zur Unterstützung für katholi­ sche Schulen sind in WuG 707, 909; EaS 961, 1195 f. Die Themen werden auch von James Bryce in The American Commonwealth (Indianapolis, IN: Liberty Fund, 1995) diskutiert, in den Kapiteln zum Parteiensystem im Allge­ meinen 2: 683–906, sowie im selben Band in „The Tammany Ring in New York City“, 1023–46, und „The Churches and the Clergy“, 1370–85. 212 f.  Florence Kelley gibt in Some Ethical Gains through Legislation (New York: Macmillan, 1905), Zitat hier auf 172, eine prägnante Darstellung ihres sozia­ listischen und progressiven Feminismus. Die neueste Biographie stammt von



Bibliographische Angaben351 Kathryn Kish Sklar: Florence Kelley and the Nation’s Work: The Rise of Women’s Political Culture, 1830–1900 (New Haven, CT: Yale University Press, 1995), der erste von zwei Bänden zu Kelley. Mit dem transatlantischen Dialog zwischen den reformorientierten Frauen befasst sich der von Kathryn Kish Sklar, Anja Schuler und Susan Strasser herausgegebene Band Social Justice Feminists in the United States and Germany: A Dialogue in Documents, 1885–1933 (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1998), wenngleich Marianne Weber darin etwas zu kurz kommt. Für mehr Informationen zu Lil­ lian Wald siehe Doris G. Daniels, Always a Sister: The Feminism of Lillian D. Wald (New York: Feminist Press, 1989); Lillian Wald’s reader Lillian D. Wald: Progressive Activist, hg. von Clare Coss (New York: Feminist Press, 1989); und Beatrice Siegel Lillian Wald of Henry Street (New York: Macmil­ lan, 1983).

214 f.  Die Familiengeschichte der Villards ist ausführlich dargestellt in Henry Vil­ lard, Memoires of Henry Villard: Journalist and Financier, 1835–1900, 2 Bde. (Boston: Houghton, Mifflin, 1904); Fanny Garrison Villard, William Lloyd Garrison on Non-Resistance, Together with a Personal Sketch, and a Tribute by Leo Tolstoi (New York: Nation Press, 1924); und Oswald Garrison Villard, Fight­ ing Years: Memoirs of a Liberal Editor (New York: Harcourt, Brace, 1939), Zitat hier auf 21. Siehe auch Michael Wreszin Oswald Garrison Villard: Pacifist at War (Bloomington: Indiana University Press, 1965), und für die tieferen Gründe des bürgerlichen Engagements der Familie und ihre unan­ gepasste Unterstützung für die Belange der Frauen, die Afroamerikaner und die Friedensbewegung Henry Mayer, All on Fire: William Lloyd Garrison and the Abolition of Slavery (New York: St. Martin’s Press, 2008 [1998]). 215 f.  Über Yamei Kins Rede im Ausschuss der League for Political Education (in dem kleinen Theater des Berkeley Lyceums) wurde berichtet in „China a Real Power, Dr. Kin’s Prediction“, New York Times vom 13. November 1904; siehe auch James Kay Mac-Gregor, „Yamei Kin and Her Mission to the Chi­ nese People“, Craftsman 9 (1905): 242–9. 217 Webers Bemerkungen zur Einstellung amerikanischer Arbeiter der Korruption gegenüber sind in „Der Sozialismus“ (1918), in GASS 496; und Lassman & Speirs, 277. 217–19  Zu David Blausteins Arbeit siehe Memoires of David Blaustein, Educator and Communal Worker, hg. von Miriam Blaustein (New York: McBride, Nast, 1913). Von Daniel Soyer liegt mit Jewish Immigrant Associations and American Identity in New York, 1880–1939 (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1997) eine herausragende historische Darstellung vor. Jonathan M. Hess behandelt in Germans, Jews and the Claims of Modernity (New Haven, CT: Yale University Press, 2002) den Diskurs der jüdischen Emanzipation und die Verheißung, die Grenzen und Widersprüche des aufgeklärten Universalismus. Webers Bezugnahmen auf Blaustein sind in GARS 1:181 f. Anm. 2, 212 Anm. 3; PESC 166, 270 f.; Baehr & Wells, 112, 189; zur Educational Alliance in New York und die Assimilierung der eingewanderten Juden siehe „Die protestantischen Sekten“, GARS 1:212 Anm. 3, „The Protestant Sects“, Gerth & Mills, 307; EaS 623; MWG I / 22.2 (2001): 432. Webers Wendung „spezi­

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Bibliographische Angaben fisch gearteter ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“ ist in GARS 1:11; PESC 26.

220 f.  Über Woodrow Wilsons Rede im Cooper Union Gebäude wird berichtet in Wilson „Says Elasticity Saves the Constitution“, New York Times vom 20. No­ vember 1904; Hervorhebungen hinzugefügt.

10. Deutung der Erlebnisse Seite 222 Webers letzter Brief von der Reise ist nicht datiert, doch er schrieb ihn am 19. November oder später (NMW). 223 Zu Troeltschs dreifacher Abgrenzung zwischen Kirche, Sekte und Mystizismus siehe Arie L. Molendijk, Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (Gü­ tersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1996); siehe auch die Zeitschrift TroeltschStudien 9 (1996). 225 Die Berichte der Heidelberger Zeitung und des Heidelberger Tageblatts über den „Amerikaabend“ am 20. Januar 1905 sind wiederabgedruckt in MWG I / 8 (1998): 381–5, Zitate hier auf 384 f. Marianne Webers Vorträge wurden veröf­ fentlicht als „Was Amerika den Frauen bietet“, Centralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine 6 (1905): 170–2, 177–9, 186–8; Zitat hier auf 170. Jeffrey L. Sammons liefert in Ideology, Mimesis, Fantasy: Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker, Karl May, and Other German Novelists of America (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1998) eine nützliche Erörterung der Amerikabilder in der Literatur. 227 Die (nicht vollständige) CD-ROM-Auswahl aus Webers Werk ist Max Weber. Das Werk, hg. von Thomas Müller (Berlin: Heptagon, 2000) und Max Weber im Kontext, hg. von Karsten Worm (Berlin: InfoSoftWare, 2001). 230 Webers Zeile zu Bürokratie und Demokratie findet sich in „Der Sozialismus“ in GASS 497; Lassman & Speirs, 279. 231 f.  Siehe Max Weber, „Wahlrecht und Demokratie in Deutschland“ (1917) in GPS 233–79; MWG I / 15 (1984); Gerth & Mills, 386–95. Webers Äußerung über die amerikanischen Clubs ist in einem Brief an Friedrich Crusius vom 24. November 1918, in Gesammelte Politische Schriften hg. von Marianne Weber (München: Drei Masken Verlag, 1921), 483. 232 Offes Interpretation stammt aus seinem Beitrag „Max Weber: Amerikanische Auswege aus dem Gehäuse der Hörigkeit?“ in Selbstbetrachtung aus der Ferne: Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten (Frankfurt / M.: Suhrkamp, 2004), Zitat hier auf 66; übers. von Patrick Camiller als „Max Weber: American Escape Routes from the Iron Cage?“ in Reflections on America: Tocqueville, Weber and Adorno in the United States, (Cambridge: Polity Press, 2005); Offe stützt sich teilweise auf Georg Kamphausens Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890 (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2002).



Bibliographische Angaben353

233 Sung Ho Kim, Max Weber’s Politics of Civil Society (Cambridge: Cambridge University Press, 2004), bes. 6, 91–3, 173–80. 234 Perry Miller diskutiert die „protestantische Ethik“ im 3. Kapitel von The New England Mind: From Colony to Province (Cambridge, MA: Harvard Univer­ sity Press, 1953) und wendet die Idee auf John Cottons The Way of Life (London: o.V., 1641) an. 234 f.  Zahlreiche von Webers wichtigen Schriften über die Universitäten und die Bildungspolitik wurden von Edward Shils zusammengefasst und übersetzt in Max Weber on Universities: The Power of the State and the Dignity of the Academic Calling in Imperial Germany (Chicago: University of Chicago Press, 1973); das peinigende und wenig bekannte Vorhaben von vor dem Ersten Weltkrieg, Carnegie als Finanzier für das geplante Heidelberger Institut zu gewinnen, wird von Weber und Jellinek diskutiert: MWG II / 6 (1994), bes. die Briefe vom 15. und 25. Juli, 19. August sowie 12. September 1909. Mari­ anne Weber veröffentlichte die meisten Diskussionsreden ihres Mannes auf den Tagungen des Vereins für Socialpolitik und den Deutschen Soziologenta­ gen in GASS 394–491; sie sind jetzt ebenfalls abgedruckt in MWG I / 8 (1998). Webers Vorschlag, voluntaristische Verbindungen bzw. das „Vereinswesen“ zu untersuchen, den er auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910 machte, ist enthalten in Max Webers vollständige Schriften zu akademischen und politischen Berufen, hg. und mit einer Einleitung von John Dreijmanis (Bremen: Europäischer Hochschulverlag, 2010), Zitat hier auf 104; übersetzt von Sung Ho Kim mit einer Einführung des Übersetzers in Max Weber Studies 2, Nr. 2 (2002): 186–209. 235 f.  Die maßgeblichen Fassungen von „Wissenschaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ sind jetzt in MWG I  /  17 (1992), herausgegeben von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter [zitiert nach der Studienausgabe (MWS) 3, 18]; Hans Gerth und C. Wright Mills veröffentlichten ihre Übersetzung in Gerth & Mills, 77–156. Die jüngste Übersetzung ist Max Weber, The Vocation Lectures, übers. von Rodney Livingstone, hg. von David Owen und Tracy B. Strong (Indianapolis, IN: Hackett, 2004) mit einer Einführung durch die ­Herausgeber.

11. Die Entdeckung des Autors Seite 239 Für typische Beispiele von Webers Einflussbereich siehe John Le Carré, Absolute Friends (Boston: Little, Brown, 2003), 352, 390; Patrick R. Keefe, „Iraq: America’s Private Armies“, New York Review of Books (12. August 2004); Earl Shorris, „Ignoble Liars: Leo Strauss, George Bush, and the Philosophy of Mass Deception“, Harper’s 308 (2004): 65–71; Charles Kurzman, „Reading Weber in Tehran“, Chronicle Review vom 1. November 2009, abrufbar im Internet unter http: /  / chronicle.com / article / Social-Science-in / 48949 / +Charles +Kurzman,+“Reading+Weber+in+Tehran&cd=1&hl=en&ct=clnk&gl=us&client =safari.

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Bibliographische Angaben

239 Roths Kommentare zu „kreativen Missdeutungen“ sind nachzulesen in Guen­ ther Roth und Reinhard Bendix, Scholarship and Partisanship: Essays on Max Weber (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1971), 35; und Guenther Roth, „Max Weber: Family History, Economic Policy, Exchange Reform“, International Journal of Politics, Culture and Society 15, Nr. 3 (2002): 509. 240 Ein treffendes Beispiel für eine „Webertheorie“ in der amerikanischen Sozio­ logie ist Randall Collins Weberian Sociological Theory (Cambridge: Cam­ bridge University Press 1986); für eine entgegengesetzte skeptische Bewertung von Webers Stellenwert oder „Einfluss“ siehe David Zaret, „Max Weber und die Entwicklung der theoretischen Soziologie in den USA“ in Max Webers Wissenschaftslehre: Interpretation und Kritik, hg. von Gerhard Wagner und Heinz Zippian (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 332–66. Das Weber-Paradigma: Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert et al. (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), plädiert für ein „Weber’sches Paradigma“ oder „Forschungsprogramm“ in den heutigen Sozialwissenschaf­ ten, eine Auffassung, die aus einem ganz anderen Blickwinkel aufgegriffen wird von Mark I. Lichbach in „Thinking and Working in the Midst of Things“ in Comparative Politics: Rationality, Culture, and Structure, hg. von Mark I. Lichbach und Alan S. Zuckerman, 2. Aufl. (Cambridge: Cambridge University Press, 2009), 18–71. 242 Talcott Parsons’ Dissertation ist „ ,Capitalism‘ in Recent German Literature: Sombart and Weber“, ursprünglich veröffentlicht in zwei Teilen in the Journal of Political Economy 1928–29, und wieder aufgelegt in Talcott Parsons: The Early Essays (Chicago: University of Chicago Press, 1991), 3–37. Die beste Quelle für den frühen Talcott Parsons ist Charles Camic „Introduction: Talcott Parsons before The Structure of Social Action“ in Talcott Parsons: The Early Essays (Chicago: University of Chicago Press, 1991), xxx–xliv. Siehe auch Uta Gerhardts Talcott Parsons: An Intellectual Biography (Cambridge: Cam­ bridge University Press 2002), worin die Autorin den Nachdruck auf sein öf­ fentliches und politisches Engagement legt. Hartshornes Leben endete im August 1946 tragisch, als er von Nazipartisanen auf der Autobahn ermordet wurde. Als Entnazifierungsoffizier für Bayern tätig, hatte Hartshorne Marianne Weber am 16. Mai 1945 einen Besuch abgestattet, die in ihren Lebenserinnerungen von ihrem Gespräch berichtet (Bremen: Storm Verlag, 1948), 483–91; sie „zeigte eine warmherzige Reaktion, als die Rede auf Talcott Parsons kam“, hielt Hartshorne in seinem Tagebuch fest. Uta Gerhardt erhielt großzügiger­ weise Einblick in sein Tagebuch. 242 David Kettler und Volker Meja befassen sich in Karl Mannheim and the Crisis of Liberalism (New Brunswick, NJ: Transaction, 1995), 220–6, mit den „Flüchtlingsgesprächen“. 242 Don Martindales The Monologue: Hans Gerth (1908–1978), A Memoir (Gha­ ziabad, India: Intercontinental Press, 1982) ist ein Werk von erfrischender Aufrichtigkeit, auf das mich Guenther Roth aufmerksam machte; Zitat hier auf 2.



Bibliographische Angaben355

244 f.  Lowell Bennion, Max Weber’s Methodology (Paris: Les Presses Modernes, 1933); siehe auch Laurie N. DiPadova „Max Weber and Lowell Bennion: Towards an Understanding of Hierarchy and Authority“, Dialogue: A Journal of Mormon Thought 30 (1997): 1–24. 245 Webers ausgewählte kürzere Texte sind „Class, Status and Party“, übers. von Hans H. Gerth und C. Wright Mills, Politics 1 (1944): 272–8; „The Hindu Social System“, übers. und hg. von Hans H. Gerth und Don Martindale in Bulletin No. 1, Historical Series, Bd. 1 (Minneapolis: University of Minneso­ ta Sociology Club, o. J.); und „The Essentials of Bureaucratic Organization: An Ideal-Type Construction“, 18–27, „The Presuppositions and Causes of Bureaucracy“, 60–8, und „The Routinization of Charisma“, 92–100, in Robert K. Merton, Alisa P. Gray, Barbara Hockey und Hanan C. Selvin (Hg.) Reader in Bureaucracy (Glencoe, IL: Free Press, 1952). 248 Shils’ unveröffentlichte autobiographische Reflexionen finden sich in „Some Notes on Max Weber in America“ (1975–76); Zitate hier auf 28, 30, in den ESP. 248 Parsons korrespondierte zu Übersetzungsfragen mit Dumas Malone, dem Lei­ ter von Harvard University Press (25. Februar 1939), Knight (17. Mai 1939), Shils (17. Mai 1939), Schelting (12. Juli 1939) und Professor F. Gay (17. Au­ gust 1939) – alle Briefe in TPP. Siehe auch Knight an Malone, Brief vom 20. Mai 1939, in den TPP. 249 Marianne Webers Brief vom 13. März 1937 ist in den FKP, Box 62; ihre „Einleitung“ ist offenbar nicht erhalten geblieben. Die zehn Jahre ältere Kor­ respondenz über die Fragen der Übersetzung umfasst den Brief von Oskar Siebeck an Marianne Weber vom 21. Juli 1927 (VAMS) und einen Austausch zwischen Parsons und Douglas, 13. November und 7. Dezember 1927, TPP. 252 Siehe Hugh D. Duncan, „The Uses and Misuses of Max Weber’s Types of Legitimation in American Sociology“, 316–43 (Zitat hier auf 316) und Irving L. Horowitz, „Max Weber and the Spirit of American Sociology“, 344–54 (Zitate hier auf 346, 350) in „Weber Symposium“, Sonderausgabe, Sociological Quarterly 5 (1964); und Louis Wirth, „Modern German Conceptions of Sociology“, American Journal of Sociology 32 (1926): 461–67; Zitat hier auf 464. Siehe auch Guenther Roth, „Heidelberger kosmopolitische Soziologie“, in Das Weber-Paradigma: Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert, Agathe Bienfait, Steffen Sigmund und Claus Wendt (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 23–31. 253 Siehe Theodore F. Abel, Systematic Sociology in Germany: A Critical Analysis of Some Attempts to Establish Sociology as an Independent Science (New York: Columbia University Press, 1929). 254 Bei Frank Knights Einschätzung handelt es sich um „Historical and Theoreti­ cal Issues in the Problem of Modern Capitalism“, Journal of Economic and Business History 1 (1928): 119–36; Zitate hier auf 130, 134. Für Beispiele von Webers Einflussbereich als Nationalökonom siehe Georg Brodnitz, „Recent Work in German Economic History, 1900–1927“, Economic History Review 1 (1928): 322–45; oder die Kommentare nicht nur zur General Economic His-

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Bibliographische Angaben tory [Wirtschaftsgeschichte], sondern auch zu Webers Habilitationsschrift von 1891, Die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht, von einem an der Johns Hopkins University lehrenden Kenner der Materie, Frank Tenney: „Recent Work on the Economic History of Ancient Rome“, Journal of Economic and Business History 1 (1928): bes. 110. Die wirtschaftswissenschaftlich interessierte Leserschaft siehe auch Carl Diehl, „The Life and Work of Max Weber“, Quarterly Journal of Economics 38 (1923): 87–107.

255 Siehe auch Edward Shils, „Some Notes on Max Weber in America“, 41 f., ESP. 255 Siehe Edward Shils, „Some Academics, Mainly in Chicago“, American Scholar 50 (1981): 179–96; Zitat hier auf 184.

12. Die Erschaffung des ‚heiligen‘ Textes Diese Kapitel stützt sich auf die Korrespondenz aus hauptsächlich zwei Quellen: die Talcott Parsons Papers (HUGFP 42.8.2 und 42.45.2), angeführt als TPP; und die Bestände des Verlagsarchivs Mohr Siebeck (Karton-Nr. 432, 439, 447, 455), ange­ führt als VAMS. Außerdem habe ich das George Allen and Unwin Archiv an der University of Reading genutzt (Korrespondenz von 1930). Ich weiß die Bemühun­ gen Mike Botts von der University of Reading und insbesondere die Edith Hankes von der Max-Weber-Arbeitstelle der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu schätzen, die mir bei meiner Arbeit in den Archiven in Reading und Tübingen wert­ volle Hilfe leisteten. Zwei Übersetzungen ins Englische jüngeren Datums sind The Protestant Ethic and the „Spirit“ of Capitalism and Other Writings, hg. und übers. von Peter Baehr und Gordon C. Wells (New York: Penguin, 2002); und The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, hg. und übers. von Stephen Kalberg (Los Angeles: Roxbury, 2002), das nun in erweiterter vierter Auflage vorliegt. Peter Ghosh plant ebenfalls eine (die dritte) Neuübersetzung. Die Diskussion der Übersetzung und Textinterpre­ tation lässt sich in zahlreichen Studien verfolgen, darunter Peter Ghosh, „Some Problems with Talcott Parsons’s Version of ,The Protestant Ethic‘ “, Archive européennes de sociologie 35 (1994): 104–23; Peter Ghosh, „Translation as a Conceptual aAct“, 59–63, wie auch David J. Chalcraft, Austin Harrington und Mary Shields, „The Protestant Ethic Debate: Fischer’s First Critique and Max Weber’s First Reply (1907)“, 15–32 (Zitat heir auf 20); Gordon C. Wells, „Issues of Language and ­Translation in Max Weber’s Protestant Ethic Writings“, 33–40; und Stephen Kalberg, „The Spirit of Capitalism Revisited: On the New Translation of Weber’s Protestant Ethic (1920)“, 41–58, sämtlich in Max Weber Studies 2, Nr. 1 (2001). Siehe auch Peter Baehr, Founders, Classics, Canons: Modern Disputes over the Origins and Appraisal of Sociology’s Heritage (New Brunswick, NJ: Transaction, 2002), 185– 204; Lutz Kaelber, „Max Weber’s Protestant Ethic in the 21st Century“, International Journal of Politics, Culture and Society 16, Nr. 1 (2002): 133–46 (Zitat hier auf 133); Lutz Kaelber und Stephen Kalberg, „An Exchange“, International Journal of Politics, Culture and Society 17, Nr. 2 (2003): 329–32; Lutz Kaelber, „Introduction: Max Weber’s Dissertation in the Context of His Early Career and Life“, in Max Weber The History of Commercial Partnerships in the Middle Ages, übers. von Lutz



Bibliographische Angaben357

Kaelber (Lanham, MD: Rowman and Littlefield, 2003), 38–40; Sam Whimster, „Translator’s Note on Weber’s ,Introduction to the Economic Ethics of the World Religions‘ “, Max Weber Studies 3, Nr. 1 (2002): 74–98; Richard Swedberg, The Max Weber Dictionary: Key Words and Central Concepts (Stanford, CA: Stanford Uni­ versity Press, 2005); Die protestantische Ethik wurde von Jean-Pierre Grossein ins Französische übersetzt als L’Éthique protestante et l’esprit du capitalisme (Paris: Gallimard, 2003); Jean-Pierre Grossein, „Max Weber ,à la française‘? De la néces­ sité d’une critique des traductions“, in „Lire Max Weber“, hg. von François Chazel und Jean-Pierre Grossein, Sonderausgabe, Revue française de sociologie 46, Nr. 4 (2005): 883–901; Keith Tribe, „Talcott Parsons as Translator of Max Weber’s Basic Sociological Categories“, History of European Ideas 33 (2007): 212–33; David Chalcraft, „Why Hermeneutics, the Text(s) and the Biography of the Work Matter in Max Weber Studies“, in David Chalcraft, Fanon Howell, M. L. Menendez und Hector Vera (Hg.), Max Weber Matters: Interweaving Past and Present (Farnham, England: Ashgate, 2008), 17–40; und Nortons kritische Ausgabe von Max Weber, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, übers. von Talcott Parsons, hg. von Richard Swedberg (New York: W. W. Norton, 2009). Seite 257 Lutz Kaelbers Kommentar ist in „Max Weber’s Protestant Ethic in the 21st Century“, International Journal of Politics, Culture and Society 16, Nr. 1 (2002): 133. 259 f.  Talcott Parsons’ Reflexionen zu seiner Begegnung mit Webers Werk sind in „A Short Account of my Intellectual Development“, Alpha Kappa Deltan 29, Nr. 1 (1959), 3–12; „Dialogues with Parsons“ (1973 / 4), hg. von Martin Mar­ tel, in Essays on the Sociology of Talcott Parsons, hg. von G. C. Hallen, Indian Journal of Social Research 17 (1976): 1–34, Zitate hier auf 4 f.; und „The Circumstances of My Encounter with Max Weber“, in Sociological Traditions from Generation to Generation, hg. von Robert K. Merton und Matilda White Riley (Norwood, NJ: Ablex, 1980); Zitate hier auf 38, 39, Hervorhebungen hinzugefügt. Für die Biographie des Werks siehe auch Guy Rocher, „Talcott Parsons: A Critical Loyalty to Max Weber“, in Max Weber’s „Objectivity“ Reconsidered, hg. von Laurence McFalls (Toronto: University of Toronto Press, 2007), 165–83. 260 Für Webers Franklin-Zitat siehe GARS 1:32; PESC 49. Die Wendung de te narratur fabula verwendet Weber in „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ in GASW 291; übers. von Christian Mackauer als „The Soci­ al Causes of the Decay of Ancient Civilization“, Journal of General Education 5 (1950): 76. 265 Die Korrespondenz zwischen Tawney und Stanley Unwin befindet sich im George Allen and Unwin Archiv. 265 Siehe R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism (New York: Mentor, 1963), 3–9, für sein Vorwort zur Ausgabe von 1937. Lutz Kaelbers Einschät­ zung ist in „Max Weber’s Protestant Ethic in the 21st Century“, International Journal of Politics, Culture and Society 16, Nr. 1 (2002): 137.

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Bibliographische Angaben

268 GARS 1:1; PESC 13. Im Original heißt es in Webers Vorbemerkung: „Univer­ salgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kultur­ welt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behan­ deln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrich­ tung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? Nur im Okzident gibt es ,Wissenschaft‘ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als ,gültig‘ anerkennen.“ 270 Parsons’ Wendungen über das „being forced to work in a calling“ und die „specialists without spirit“ sind in PESC 181, 182; GARS 1:203 [„Der Purita­ ner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein“], 204 [„Fachmenschen ohne Geist“]. 271 Edgar Salin formuliert seine Ansichten in Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl. (Tübingen: Mohr [Siebeck], 1951 [1923]; neu herausgebracht Berlin: Springer-Verlag, 2007), bes. 62–102 [1923]). 272 Siehe Talcott Parsons’ „ ,Capitalism‘ in Recent German Literature: Sombart and Weber“ in Talcott Parsons: The Early Essays, hg. von Charles Camic (Chicago: University of Chicago Press, 1991), bes. 3 f., 22–32; Erstveröffent­ lichung 1928 / 9 im Journal of Political Economy. 273 Talcott Parsons, „The Circumstances of My Encounter with Max Weber“, in Sociological Traditions from Generation to Generation, hg. von Robert K. Merton und Matilda White Riley (Norwood, NJ: Ablex, 1980), 40. 274 Siehe Guenther Roth, „Max Weber at Home and in Japan: On the Troubled Genesis and Successful Reception of His Work“, International Journal of Politics, Culture and Society 12, Nr. 13 (1999): 521, für Angaben zum Verkauf von The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism in einem Brief vom 30. Juli 1934 des Leiters von Allen & Unwin an J.C.B. Mohr. 275 Die vier „Entzauberung der Welt“-Stellen, die Weber 1919 / 20 hinzufügte, sind GARS 1:94, 114, 156, 158; PESC 105, 117, 147, 149.

13. Die Erfindung der Theorie Unter dem Stichwort „Weber’sche Theorie“ siehe die ganz verschiedenen Vorstel­ lungen und Angebote von Randall Collins, Weberian Sociological Theory (Cam­ bridge: Cambridge University Press, 1986); Harvey Goldman, Max Weber and Thomas Mann: Calling and the Shaping of the Self (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1988); Wolfgang Schluchter, Rationalism, Religion, and Domination: A Weberian Perspective, eine Zusammenstellung von Kapiteln aus Schluchters Rationalismus der Weltbeherrschung (Suhrkamp 1980); Aspekte bürokratischer Herrschaft (Suhrkamp 1985); und Religion und Lebensführung (Suhrkamp 1988), übers. von Neil Solomon (Berkeley und Los Angeles: University of Califor­ nia Press, 1989), und derselbe, Paradoxes of Modernity: Culture and Conduct in the Theory of Max Weber, übers. von Neil Solomon (Stanford, CA: Stanford University



Bibliographische Angaben359

Press, 1996); Lawrence A. Scaff, Fleeing the Iron Cage: Culture, Politics, and Modernity in the Thought of Max Weber (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1989); Steven Kalberg, Max Weber’s Comparative-Historical Sociol­ ogy (Chicago: University of Chicago Press, 1994); Peter Breiner, Max Weber and Democratic Politics (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1996); Richard Swedberg, Max Weber and the Idea of Economic Sociology (Princeton, NJ: Princeton Univer­ sity Press, 1998); Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung: Studien zur Biographie des Werks (Tübingen: Mohr Siebeck, 1987); übers. von Keith Tribe als Max Weber’s Central Question, 2. Aufl., (Guildford, England: Threshold, 2000) und Max Webers Wissenschaft vom Menschen: neue Studien zur Biographie des Werks (Tü­ bingen: Mohr Siebeck, 1996); übers. von Keith Tribe als Max Weber’s Science of Man: New Studies for a Biography of the Work (Guildford, England: Threshold, 2000); Zenonas Norkus, Max Weber and Rational Choice (Marburg: Metropolis, 2001); Alan Sica, Max Weber and the New Century (New Brunswick, NJ: Transac­ tion, 2004); Sung Ho Kim, Max Weber’s Politics of Civil Society (Cambridge: Cambridge University Press, 2004); und Peter Baehr, Caesarism, Charisma and Fate: Historical Sources and Modern Resonances in the Work of Max Weber (New Brunswick, NJ: Transaction, 2008). Jüngere Textsammlungen sind Stephen Turner (Hg.), The Cambridge Companion to Weber (Cambridge: Cambridge University Press, 2000); Gert Albert, Agathe Beinfair, Steffen Sigmund und Claus Wendt (Hg.), Das Weber-Paradigma: Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003); William H. Swatos und Lutz Kaelber (Hg.), The Protestant Ethic Turns 100: Essays on the Centenary of the Weber Thesis (Boulder, CO: Paradigm, 2005); Charles Camic, Philip S. Gorski und David M. Trubek (Hg.), Max Weber’s Economy and Society: A Critical Companion (Stanford, CA: Stanford University Press, 2005); Javier Rodriguez Martinez (Hg.), En el centenario de La ética protestante y el espíritu del capitalismo (Madrid: CIS, 2005); Wolfgang Schluchter und Friedrich Wilhelm Graf, Asketischer Protestantismus und der ,Geist‘ des modernen Kapitalismus (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005); Michel Coutu und Guy Rocher (Hg.), La légitimité de l’État et du droit. Autour de Max Weber (Québec: Presses de l’Université Laval, 2005); Karl-Ludwig Ay und Knut Borchardt (Hg.), Das Faszinosum Max Weber: Die Geschichte seiner Geltung (Konstanz: UVK Verlagsgesell­ schaft, 2006); Laurence McFalls (Hg.), Max Weber’s „Objectivity“ Reconsidered (Toronto: University of Toronto Press, 2007); und David Chalcraft, Fanon Howell, M. L. Menendez und Hector Vera (Hg.), Max Weber Matters: Interweaving Past and Present (Farnham, England: Ashgate, 2008). Für hilfreiche Einschätzungen zu Webers Wirkung auf Teilbereiche der Soziologie siehe Guenther Roth und Reinhard Bendix, „Max Webers Einfluss auf die amerika­ nische Soziologie“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959): 38–53; Guenther Roth, „Vergangenheit und Zukunft der historischen Sozio­ logie“ in Max Weber heute: Erträge und Probleme der Forschung, hg. von Johannes Weiss (Frankfurt: Suhrkamp 1989), 417–23; und Uta Gerhardt, „Die Rolle der Re­ migranten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 und die Interpretation des Werkes Max Webers“ in Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, hg. von Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt (Hamburg: Christians Verlag, 2002), 216–43.

360

Bibliographische Angaben

Die Literatur zu den Emigranten und Vertriebenen aus Deutschland ist viel zu umfangreich, um sie hier vollständig anführen zu können. Nützlich für die Zwecke des vorliegenden Bandes sind Hans Gerth, Politics, Character, and Culture: Perspec­ tives from Hans Gerth, hg. von Joseph Bensman, Arthur J. Vidich und Nobuko Gerth (Westport, CT: Greenwood Press 1982). Paul Honigsheims Laufbahn in der Soziologie ist umfassend dokumentiert in den Paul Honigsheim Papers, Michigan State University Special Collections, vor allem das Material zur modernen Philoso­ phie, Religion, Musik, Ethnologie und sozialen Schichtung – die Hauptfelder seiner Lehre und Forschung. Er selbst äußerte sich in „Erinnerungen an Max Weber“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 15 (1963), 161–271, übers. von Joan Rytina in On Max Weber (New York: Free Press, 1968), enthält auch die übersetzten Fassungen von Honigheims Beiträgen „Max Weber als Soziologe“, Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften 1 (1921), 32–41; „Max Weber im amerikanischen Geistesleben“, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (1950 / 51), 408–19; und „Max Weber“, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (Stuttgart: Gustav Fischer, 1961), Bd. 11, 556–62. Außerdem: Paul Honigs­ heim, The Unknown Max Weber, hg. von Alan Sica (New Brunswick, NJ: Transac­ tion, 2000). Siehe auch Karl Löwenstein, Max Webers staatspolitische Auffassungen in der Sicht unserer Zeit (Frankfurt / M., Bonn: Athenäum, 1965), übers. von Richard und Clara Winston als Max Weber’s Political Ideas in the Perspective of Our Time (Amherst: University of Massachusetts Press, 1966); und Emil Lederer, „Freedom and Science“, Social Research 1 (1934): 219–30. Die „Contested Legacies“-Sonder­ ausgabe des European Journal of Political Theory 3, Nr. 2 (2004) enthält nützliche Analysen, bes. die Artikel von Peter Breiner, „Translating Max Weber: Exile ­Attempts to Forge a New Political Science“, 133–49; und John Gunnell, „Reading Weber: Leo Strauss and Eric Voegelin“, 150–66. Für die Arbeit der New School siehe Albert Salomon, „Max Weber’s Methodolo­ gy“, Social Research 1 (1934): 147–68; Albert Salomon, „Max Weber’s Sociology“, Social Research 2 (1935): 60–73; und Albert Salomon, „Max Weber’s Political Ideas“, Social Research 2 (1935): 368–84; siehe auch Albert Salomon, „Max Weber“, Die Gesellschaft 3 (1926): 131–53. Für Salomons Leben siehe Ulf Matthiesen, „ ,Im Schatten einer endlosen Zeit‘: Etappen der intellektuellen Biographie Albert Salo­ mons“, in Exil, Wissenschaft, Identität: Die Emigration deutscher Wissenschaftler, 1933–1945, hg. von Ilja Surbar (Frankfurt: Suhrkamp, 1988), 299–350. Siehe auch Arnold Brecht, Political Theory: The Foundations of Twentieth-Century Political Thought (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1959); Frieda Wunderlich, Farm Labor in Germany 1810–1945 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1961). Für Voegelin und Strauss siehe Eric Voegelin, „Über Max Weber“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (1925): 177–93; Eric Voegelin, The New Science of Politics (Chicago: University of Chicago Press 1952); Eric Voegelin, Autobiographical Reflections, hg. von Ellis Sandoz (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1989); Leo Strauss, Natural Right and History (Chicago: University of Chicago Press 1953), 2. Kap.; Hannah Arendt, The Human Condition (Chicago: University of Chicago Press 1958) und ihre Ansichten in Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von L. Köhler und H. Saner, Neuausgabe (München: Piper, 1993); Correspondence 1926–1969, 184–6, 240, 281, 582–5; übers. von Robert und Rita Kimber (New York: Harcourt Brace,



Bibliographische Angaben361

1992), 148–50, 203, 244, 548–51. Für Lazarsfeld siehe Paul F. Lazarsfeld, „An Episode in the History of Social Research: A Memoir“, in The Intellectual Migra­ tion: Europe and America, 1930–1960, hg. von Donald Fleming und Bernard Bailyn (Cambridge, MA: Belknap Press, 1969), 270–337; und Paul F. Lazarsfeld und An­ thony R. Oberschall, „Max Weber and Empirical Social Research“, American Sociological Review 30 (1965): 185–99. Siehe auch Reinhard Bendix, Unsettled Affinities, hg. von John Bendix (New Brunswick, NJ: Transaction 1993), bes. 12–14; Franz L. Neumann, „The Social Sciences“, in The Cultural Migration: The European Scholar in America, hg. von Franz L. Neumann, Henri Peyre, Erwin Panofsky, Wolfgang Köhler und Paul Tillich (Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1953), 4–26. Seite 276 Die International Sociological Association teilt die vollständigen Resultate ihrer Umfrage nach den „Books of the Century“ mit auf http: /  / www.isa-socio logy.org / books. 277 Edward Shils, „Some Notes on Max Weber in America“, 32 f., 36–8; ESP, Box 46. 277 Für die Diskussion der Troika Gerth, Mills und Shils siehe Guy Oakes und Arthur J. Vidich, Collaboration, Reputation, and Ethics in American Academic Life: Hans H. Gerth and C. Wright Mills (Urbana: University of Illinois Press 1999), bes. 21–37; und Guy Oakes und Arthur J. Vidich, „Gerth, Mills, and Shils: The Origins of From Max Weber“, International Journal of Politics, Culture and Society 12, Nr. 3 (1999): 399–433. Siehe auch Donald A. Nielsen, „Hans H. Gerth, C. Wright Mills, and the Legacy of Max Weber“, Interna­ tional Journal of Politics, Culture and Society, 13, Nr. 4 (2000): 649–61. 279 Perry wandte sich drei Mal brieflich an Parsons in der Sache des Weber’schen Quellentextes: am 7. Dezember 1928 sowie am 25. Januar und 10. Juni 1929; TPP. 279 f.  Mills’ Brief an Gerth vom 22. Dezember 1959 ist in C. Wright Mills, Letters and Autobiographical Writings, hg. von Kathryn Mills und Pamela Mills (Ber­ keley und Los Angeles: University of California Press 2002), 282. 281 Es gibt eine längere Diskussion des Aufbaus und der editorischen Eingriffe in Economy and Society, in der es durchweg um die Schwierigkeiten geht, einen Text zusammenzustellen, der Webers Intentionen gerecht wird und seinen Begriffen, Darstellungen und Argumenten entspricht und sie vermittelt. Eine gut lesbare Zusammenfassung dieser Belange ist Wolfgang J. Mommsens „Max Weber’s ,Grand Sociology‘: The Origins and Composition of Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie“, History and Theory 39 (2000): 364–83; siehe auch MWG I / 24, hg. von Wolfgang Schluchter (2009). Die kompletteste Erör­ terung von Parsons’ Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft stammt von Keith Tribe, „Talcott Parsons as Translator of Max Weber’s Basic Sociological Categories“, History of European Ideas 33 (2007): 212–33.

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Bibliographische Angaben

282 Webers Text ist in WuG 838; EaS 1118. Wolfgang J. Mommsens Empfehlung ist seinem eben angeführten Beitrag entnommen, „Max Weber’s ,Grand Sociol­ogy‘  “: 365. 285 Siehe Richard Swedberg, Max Weber and the Idea of Economic Sociology (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1998) und Max Weber Essays in Economic Sociology, hg. von Richard Swedberg (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1999). 285 Die Shils- und Schelting-Übersetzung der ersten Seiten von WuG 3–15, EaS 3–22, ist in den FKP, Box 53; sie wählten den übergreifenden Titel „The Methodological Foundations of Sociology“, eine Überschrift, die Parsons bei­ behielt. 286 Zu den Anwendungsfeldern „instrumenteller Rationalität“ siehe Jürgen Haber­ mas, Die Theorie des kommunikativen Handelns, Band I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 2. Kap. 225–368; übers. von Tho­ mas McCarthy als The Theory of Communicative Action, Volume One: Reason and the Rationalization of Society, (Boston: Beacon Press, 1984), 143–271. 287 Die Charakterisierung Webers als der „wichtigste deutsche Denker“ findet sich in Peter M. Rutkoff und William B. Scott, New School: A History of the New School for Social Research (New York: Free Press, 1986), 201; siehe auch Lewis Coser, Refugee Scholars in America: Their Impact and Experience (New Haven, CT: Yale University Press, 1984); Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil: Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research (Frankfurt: Campus-Verlag, 1987), übers. von Rita und Robert Kimber als Intellectuals in Exile: Refugee Scholars and the New School for Social Research (Amherst: University of Massachu­ setts Press, 1993); Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung (München: dtv, 1986), übers. von Michael Robertson als The Frankfurt School: Its History, Theories, and Political Significance (Cambridge: MIT Press, 1994); und Martin Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923–1950, 2. Aufl. (Berkeley und Los Angeles: Univer­ sity of California Press, 1996). 288 Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von L. Köhler und H. Saner, 184–6. Die fesselnde Anekdote fand bei anderen Beachtung und wurde für unterschiedliche Zwecke eingesetzt; siehe etwa Peter Baehr, „The Grammar of Prudence: Arendt, Jaspers, and the Appraisal of Max Weber“ in Hannah Arendt in Jerusalem, hg. von Steven E. Aschheim (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 2001), 306–24. 289 Leo Löwenthal, An Unmastered Past: The Autobiographical Reflections of Leo Lowenthal, hg. von Martin Jay (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1987), 148. Die Bezeichnung „intellektueller Desperado“ stammt von Siegfried Krakauer: siehe Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung (Mün­ chen: dtv, 1986), 73.



Bibliographische Angaben363

291 Hannah Arendt und Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. von L. Köhler und H. Saner, 277, 281. 291 f.  Edward Shils, „Some Notes on Max Weber in America“, 37 f.; ESP, Box 46. 293 Neumann, „The Social Sciences“, in The Cultural Migration: The European Scholar in America, hg. von Franz L. Neumann, Henri Peyre, Erwin Panofsky, Wolfgang Köhler und Paul Tillich (Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1953), Zitat hier auf 22; Hervorhebung hinzugefügt. 293 Für das Columbia University Seminar über den Staat siehe die Protokolle von 1946  /  7 (Columbia University Seminars Office Archive), bes. 18. Oktober, 1. und 29. November 1946 sowie 17. Januar 1947; ich möchte David Kettler dafür danken, dass er mich auf diese Akten aufmerksam gemacht hat. Siehe auch den Kommentar in Ira Katznelson, Desolation and Enlightenment: Political Knowledge after Total War, Totalitarianism, and the Holocaust (New York: Columbia University Press, 2003), 121–34. 294 Merleau-Pontys Urteile über Weber sind in Maurice Merleau-Ponty, „The Crisis of the Understanding“ (1955), in The Primacy of Perception and Other Essays, hg. von James M. Edie (Evanston, IL: Northwestern University Press, 1964), 193–210. 295 Die Aufzeichnungen der Wortbeiträge auf den Konferenzen im Jahr 1964 sind in „Max Weber: A Symposium“, Sonderausgabe, Sociological Quarterly 5, Nr. 4 (1964), und Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages 1965, hg. von Otto Stammer (Tübingen: Mohr [Siebeck]), 1965); übers. von Kathleen Morris als Max Weber and Sociology Today, (New York: Harper and Row, 1971); siehe auch Guenther Roth, „Hei­ delberg und Montreal: Zur Geschichte des Weberzentenariums 1964“ in Das Faszinosum Max Weber. Die Geschichte seiner Geltung, hg. von Karl-Ludwig Ay und Knut Borchardt (Konstanz: UVK, 2006), 377–91, und Guenther Roth, „Reminiscences of the Weber Centenary 1964, Its Prehistory and Aftermath: Lessons in Academic Politics“ in Max Weber Matters, hg. von David Chal­ craft, Fanon Howell, M. L. Menendez und Hector Vera (Farnham, England: Ashgate, 2008), 41–52. Siehe Uta Gerhardt, „Die Rolle der Remigranten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 und die Interpretation des Werkes Max Webers“ in Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, hg. von Claus-Dieter Krohn und Axel Schildt (Hamburg: Christians Verlag, 2002), 216–43; und Uta Ger­ hardt, „Worlds Come Apart: Systems Theory versus Critical Theory. Drama in the History of Sociology in the Twentieth Century“, American Sociologist 33 (2002): 5–39. 298 Zur „Entzauberung“ siehe die ganz unterschiedlichen Ansätze in Anne Har­ rington, Reenchanted Science: Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1996); Richard Jenkins, „Disenchantment, Enchantment and Re-Enchantment: Max Weber at the Mil­ lenium“, Max Weber Studies 1 (2000), 11–32; Jane Bennett, The Enchantment of Modern Life: Attachments, Crossings, and Ethics (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2001); Wolfgang Schluchter, Die Entzauberung der Welt

364

Bibliographische Angaben (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009); George Ritzer, Enchanting a Disenchanted World: Continuity and Change in the Cathedrals of Consumption, 3. Aufl. (Thousand Oaks, CA: Pine Forge Press, 2010).

298 f.  M. Rainer Lepsius, „Eigenart und Potenzial des Weber-Paradigmas“ in Das Weber- Paradigma: Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, hg. von Gert Albert, Agathe Beinfair, Steffen Sigmund und Claus Wendt (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 32–41. 299 Ein jüngeres Beispiel für einen gutgemachten Entwurf einer „Weber’schen“ Sichtweise, einschließlich klarer „Idealtypen“ ist Chris Wickhams vorbildli­ ches Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800 (Oxford: Oxford University Press, 2005). Für eine frühere Generation von Wissenschaftlern, die von Webers Argumenten Gebrauch machten, siehe Mo­ ses I. Finley, The Ancient Economy (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1973). 300 Siehe Max Weber „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpoli­ tischer Erkenntnis“ in GAW 206: „es gibt Wissenschaften, denen ewige Ju­ gendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellun­ gen zuführt.“; „The ,Objectivity‘ of Knowledge in Social Science and Social Policy“ in The Essential Weber: A Reader, hg. von Sam Whimster, übers. von Keith Tribe (London: Routledge, 2004), 398; Shils & Finch, 204. 301 „Staatshandwerk und Seelenhandwerk“ (statecraft and soulcraft) heißt es bei Sung Ho Kim, Max Weber’s Politics of Civil Society (Cambridge: Cambridge University Press, 2004), 6. Kap.; Zitat hier auf 180. 303 Wolfgang Schwentker, Max Weber in Japan: Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte 1905–1995 (Tübingen: Mohr Siebeck, 1998), 14 f.; zitiert in Guenther Roth, „Max Weber at Home and in Japan: On the Troubled Genesis and Successful Reception of His Work“, International Journal of Politics, Culture and Society 12, Nr. 13 (1999): 518; siehe auch die Aufsätze in Max Weber und das moderne Japan, hg. von Wolfgang Schwentker und Wolfgang J. Mommsen (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999).

Appendix 2: Max Weber, Ausgewählte Briefe an amerikanische Kollegen, 1904 / 05 Seite 310 Webers erster Brief an Du Bois umfasst zwei Seiten und ist unvollständig; verfasst hat er ihn vor Ort im Holland House. Weber schrieb die Addresse der Fremdenpension 167 Madison Avenue in New York, wo er sich nach dem 7. November aufhalten würde. 312 Webers dritter Brief an Du Bois wurde mit kleineren Fehlern wiedergegeben in The Correspondence of W. E. B. Du Bois, hg. von Herbert Aptheker (Am­ herst: University of Massachusetts Press, 1973), 1:106 f.



Bibliographische Angaben365

312 Die von Weber im dritten Brief an Du Bois erwähnten Werke sind Booker T. Washington, Character Building (New York: Doubleday, 1902); Thomas Nel­ son Page, The Negro: The Southerner’s Problem (New York: Charles Scribner’s Sons, 1904); die American Negro Academy Occasional Papers, Nrn. 1–11 (1896–1905); und Walter F. Wilcox, „The Census Statistics of the Negro“, Yale Review, Mai 1904, 274–86. Bei „Viereck“ muss es sich um Louis Vier­ eck, den deutschen Einwanderer und Angehörigen der Deutschen Gesellschaft der Stadt New York handeln, wenngleich ich den erwähnten Artikel nicht ausfindig machen konnte. 314 Die zweiseitige Abschrift des originalen Du Bois-Briefes ist unvollständig. Du Bois’ Briefe befanden sich nicht in den Nachlässen von Max oder Marianne Weber. 315 Im letzten Brief Webers an Du Bois ist das Wort „vielleicht“ im Original durchgestrichen.

Personen- und Sachwortverzeichnis Abel, Theodore  243, 253 Adams, James  45 Adler, Dankmar  49, 51, 55 Adler, Felix  68, 205 f., 350 Adorno, Theodor W.  133, 232, 243, 287, 290, 291 f., 295, 296 Afroamerikaner  54, 55, 60, 106, 121–139, 170 f., 176, 341 Agrarverhältnisse  76–78, 103, 110, 117 f., 122, 128 f., 131, 290 Almond, Gabriel  248 Althoff, Friedrich  65, 234 Amalgamated Meat Cutters and Butcher Workman’s Union (AMCBW; Vereinigte Fleischer- und Schlachtergewerkschaft)  52, 55, 60 American Federation of Labor (AFL)  52, 169, 170, 173 Amerikanische Ureinwohner  102–117 Amerikanischer Bürgerkrieg  80, 88, 128 f., 148, 154, 157, 169 Amerikanisierung  83, 208 f., 218 f., 225, 230–233, 236 Amerikanismus, das Amerikatypische  220 f., 232 Antiautoritarismus  44, 91, 119, 167, 225 Appalachen  21, 147, 149, 162 Arbeiterklasse  42 f., 48, 51–53, 56–61, 80 f., 211–213, 216 f. Arbeitsethik  63, 66 f., 180, 193, 239, 274 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik  24 f., 27, 28, 73, 107, 125–131, 133, 139, 170, 173, 219, 223, 227, 251, 256, 310–314, 316 f., 320 Arendt, Hannah  243, 288–291

Aron, Raymond  296 Askese  29, 63, 135, 138, 167 f., 187–191, 205, 223, 226–229 – innerweltliche  117, 162, 179–181, 187, 196, 202, 221, 226, 232 Atlanta University  96, 127 Autorität  90 f., 208–210, 294. Siehe auch Herrschaft Ay, Karl-Ludwig  141, 340 Bacon, Francis  194 Baedeker, Fritz  25, 58 Baehr, Peter  256, 350 Baptisten  62, 64, 161–164, 170 f., 198, 206, 208, 345 f. Barclay, Robert  177 Barnes, Harry Elmer  260 f., 263 Barnett, George E.  95, 172 f., 216, 346 Barrett, Don Carlos  174–176 Barrymore, Ethel  201 Bate, William B.  153 Baumgarten, Eduard  189 Baumgarten, Emmy  19 Baumgarten, Hermann  31 Baumgarten, Ida Fallenstein  31 Baxter, Richard  30, 187 Beaumont, Gustav de  8, 39, 121 Becker, Howard  242–244, 250, 284 Behrens, Peter  86 f. Bell, Daniel  251, 293 Bendix, Reinhard  242, 251, 287, 292, 295, 296 Benecke, Elisabeth  145 Bennion, Lowell  244 Bergson, Henri  72 Bergstraesser, Arnold  259 Berliner Universität  126 f.



Personen- und Sachwortverzeichnis367

Bernstein, Eduard  223 Beruf  20, 28, 29, 33, 60, 138, 152, 185 f., 191, 213, 219, 233, 235, 282, 289, 292 – auf der Grundlage einer Berufung  138, 179 f., 234 Biagi, Guido  34 Bildung (und Erziehung)  45 f., 62 f., 65 f., 89–91, 155, 172–176, 234, 241 f., 250 f., 278 f. – der Einwanderer  210–212, 219 – in Tuskegee  135–138 Biltmore Anwesen  157–160, 224 Bixby, Tams  102–106, 109, 110, 111 Blaustein, David  201, 208, 217–219 Boas, Franz  68 Börse  36 f., 332 Bourdieu, Pierre  300 Bourgeoisie  18, 20, 29, 161, 233. Siehe auch Mittelschicht Brecht, Arnold  289 Brentano, Lujo  27, 29 Brooks, John G.  183 f. Brown University  21, 198, 218, 227 Bryan, William Jennings  200 Bryce, James  17 f., 25, 51, 68, 84, 88, 122 f., 144, 157, 200, 207, 209, 227, 231, 330 f. Bryn Mawr College  21, 46, 89, 137, 174 f., 184 Bücher, Karl  122, 133, 340 Bunyan, John  30, 55 f., 187 f. Bürokratie  47, 105, 119, 217, 234, 239, 245, 272, 276, 282, 293 f., 296 Bürokratisierung  165, 230, 232 Burnham, D. H.  49, 55, 171, 199 Burns, Arthur R.  266 Butler, Nicholas Murray  69 Calhoun, John C.  149 Calvin, John  151 Calvinismus  27, 62, 162, 187, 190 f., 192 Carnegie, Andrew  124, 234

Carrère, John M.  202 Chamberlain, Houston Stewart  129 Chandler, Nahum  126 Channing, William Ellery  32, 188 Charisma  119, 178, 201, 239, 301, 304, 350 Chicagoer Weltausstellung  18, 25, 48, 84 China  215, 292, 302 f. Christian Science  61, 184, 202–207 Clark, Jane E.  135–137 Clark, John Bates  95, 207 Cleveland, Grover  153 Clubs  115, 132, 135–137, 162, 199, 208–213, 210, 212, 219, 225, 232–234, 352 Cohnheim, Otto  223 f. Colgate University  228 Columbia University  21, 37, 65, 69, 95, 201,205, 231, 241 f., 291–294 Colyra, Arthur  152, 155, 344 Conrad, Johannes E.  48, 68, 207 Comte, Auguste  70 Cooper, James Fenimore  115 Crèvecoeur, Jean Hector St. John  114 Dawes-Bixby-Kommission  76, 100, 103–105, 111, 118, 173 Deißmann, Adolf  26, 224 Demokratie  11, 45–48, 71, 80 f., 83, 118 f., 144, 165 f., 211 f., 217, 226, 235 – plebiszitäre  21,156, 236 Demokratisierung  58, 81, 83, 91, 165, 167 f. Deutsche Gesellschaft für Soziologie  6, 117, 129, 139 f., 216, 234, 295 Deutschland  18–23, 40, 77, 85 f., 112, 122, 127 f., 170, 258 f., 265, 287, 295 – Bildung in  62, 66, 90 f., 175, 317 – im Vergleich zu den Vereinigten Staaten  43, 48 f., 57, 62, 79, 94 f., 131 f., 156, 184, 210 f., 225, 231 f., 235

368

Personen- und Sachwortverzeichnis

Dewey, John  69–74, 91, 217 Dieterich, Albrecht  26 Dollard, John  143 Donnelly, Michael  52, 57 Douglas, Clarence B.  99–101, 106, 114 Douglas, Paul  253 Du Bois, W. E. B.  10, 95 f., 121–35, 138–140, 169 f., 183, 223, 336, 340–343 – Briefwechsel  310–315 Duhem, Pierre  194 Duncan, Hugh  252 Dunne, Finley Peter  52

Familienleben  42 f., 44 f., 47, 88 f., 146 f., 150 f., 164, 198 Feminismus  146, 175, 184, 212 f., 350 f. Siehe auch Frauen Feudalisierung  83, 140, 230 Fischer, Karl  29, 246 Fox, George  177 Franklin, Benjamin  19, 65, 137 f., 205, 213, 221, 227 f., 233, 260, 293, 331 Freiburger Universität  69, 175, 182 f. Freiheit  27, 63, 81, 117, 122, 135, 139, 175, 191, 225, 228 Freimaurer  157, 163, 219 Friedman, Milton  249

Educational Alliance  207 f., 217–220 Einwanderer  44 f., 48, 83, 199, 208–211, 216, 287 – jüdische  35 f., 217–219 Eliot, Charles  46, 174, 182 f., 188 Ely, Richard  40, 68, 127 f. Emersonianismus  91, 108, 205 Engels, Friedrich  122 Entzauberung / Desillusionierung  188, 233, 270, 275, 297 f., 301, 358 Eranos-Kreis  26 f., 185, 223, 224, 226, 331 Erlösung / Heil  32 f., 160, 188, 191, 195, 206, 303 Ethical Culture  61, 188, 205–207 Ethnische Gemeinschaft / Gruppe  53–55, 128 f. – definiert  142 Europäisierung  43, 82, 140, 199, 230 Exzeptionalismus / Ausnahmestellung Amerikas  76–84

Ganghofer, Ludwig  115 f. Gay, Edwin  284 Gay, Peter  293 Gehner, August  88, 92, 121, 337 Gehner, Willamina  88, 92, 121 George, Stefan  271 Gerhardt, Uta  295, 354 Gerth, Hans H.  76, 195, 231, 242–246, 250, 256, 276, 277–281, 287, 294 Geschlecht  64, 90 f., 150, 347. Siehe auch Frauen Gewerkschaften  52, 58–60, 217 Ghent, William  83 Ghosh, Peter  76, 335, 348 Gilman, Charlotte Perkins  184, 334 Gleichstellung / Gleichberechtigung  47, 81, 88, 91, 108, 119, 123 f., 130, 139, 143, 150 f., 167, 175, 199, 209 f., 211 Göhre, Paul  18, 41 Goldtschmidt, Levin  126 Golobie, John  97–99 Gompers, Samuel  10, 52, 169 f., 173 Gordin, Jacob Michailowitsch  218 f. Grenzland  98–103, 109, 112 f., 115–120, 225, 229 f. Greer, Frank  97–99 Großbritannien  12, 20, 77, 79, 156, 194, 227, 277

Fallenstein, Friedrich (Fritz) auch bekannt als Francis Miller  136, 148 f., 152, 159, 169 Fallenstein, Georg Friedrich  18, 92, 121,145, 288 Fallenstein, Laura  19, 198, 230



Personen- und Sachwortverzeichnis369

Habermas, Jürgen  254, 286 Habitus  142, 219 f., 228, 234, 297 Halbwachs, Maurice  244 Haller, Johannes  30 Hanke, Edith  249, 344, 356 Harbison, Ida Miller  151, 157 Harnack, Adolf von  22, 63, 95, 190 f. Harper, William R.  61, 67, 69, 71, 93 Harris, William Torrey  89 Hartshorne, Edward  242, 354 Hartz, Louis  156 Harvard University  21 f., 46, 65, 69, 78, 95, 137, 174, 181, 200, 218, 241 f., 253, 296 Hastings, Thomas  202 Hatfield, James Taft  62, 67 Haupt, Erich  41 Haupt, Hans  40–45, 49 f., 89 Haupt, Margarethe Conrad (Grete)  48–50, 89, 207 Haverford College  21, 65, 137, 174–177 Hayek, Friedrich von  283 Healy Jerome F.  216 f. Healy, Margaret Ufer  216 Hearn, Lafcadio  205 Heidelberger Universität  30, 183, 234, 242, 258 f. Henderson, Alexander M.  248, 283 f. Henderson, Charles  122 Hennis, Wilhelm  30, 187, 330, 348, 359 Henry Street Settlement  208 f., 213–215, 218, 220 Hensel, Paul  39 f., 48, 51, 68, 185 Herrschaft (domination)  115, 119, 131, 285 f., 299, 302 Hervey, William  37 f. Historisches Individuum  267, 270 Historische Schule der National­ ökonomie  30, 40, 74, 127,173 Hitchcock, Ethan Allen  96, 100, 105, 109

Hobson, John A.  172 f. Hodge, James  283–285 Hofstadter, Richard  293 Hollander Jacob H.  69, 94–97, 99, 103, 107, 128, 170, 172 f., 207, 216, 231, 346 – Briefwechsel  316–319 Holmes, Oliver Wendell  59 Honigsheim, Paul  243 f., 289, 360 Horkheimer, Max  243, 292, 295 Horowitz, Irving Louis  252 Hugenotten  30, 45 Hughes, Everett  248 Hull House  21, 53, 54, 56–8, 121, 135, 147, 208, 212 Hume, David  196 Hunt, Richard Morris  158 Idealtyp  74, 188, 190, 228, 229, 233, 285 f., 346 Identität  45, 207, 209 f., 216, 219 f., 233, 234. Siehe auch Staatsbürger­ schaft Individualismus  30, 38, 78, 189 Intellektuelle  10 f., 80, 122 f., 187, 195 f., 241–243, 287, 289 Irving, Washington  116 f. Ives, Halsey  85 Jackson, Andrew  152, 155 f. Jaffé, Edgar  24, 120, 223 Jaffé, Else von Richthofen  126, 312–314 James, Anna Lange  40, 47 James, Edmund J.  40, 45 f., 47, 62, 65, 67 James, Willam  10, 15, 21 f., 68, 71–74, 133, 180, 181 f., 185–197, 202, 204 f., 283, 348 Janowitz, Morris  251 Japan  205 f., 303 Jaspers, Karl  6, 259, 288 f. Jastrow, Ignaz  72

370

Personen- und Sachwortverzeichnis

Jefferson, Thomas  102, 118, 136, 158 Jeffersonianismus  130, 139, 152, 160 Jellinek, Georg  22 f., 26 f., 92, 191, 234 Johns Hopkins University  21, 65, 69, 172–174 Jones, Rufus M.  176, 347 Judentum  205, 219 Kaelber, Lutz  265 Kalberg, Stephen  256 Kample, Camilla  248 Kant, Immanuel  72,185, 192, 194, 196, 205, 259 Kapitalismus  12, 19, 26, 28, 37, 58–60, 76–78, 112 f., 118 f., 165, 172, 213 f., 229, 254, 259, 271–273, 282, 296 – in Amerika und Europa  80 f., 167 f., 228 – Auswirkungen des   78–80, 232 f., 295 Kapp, Friedrich  18 f., 94,121 f., 158, 201, 207, 214 Kaste  130, 132 f., 137–319, 141–144, 150, 340 f. Katholizismus  30–33, 61, 207 Keller, Gottfried  148 f., 160 Kelley, Florence  10, 208, 212 f., 225, 350 f. Kettler, David  363 Key, V. O.  154 Kim, Sung Ho  233, 340, 346 Kin, Yamei  215 f. Kirchenbesuch / Teilnahme am Gottes­ dienst  64, 149, 177 Kirchheimer, Otto  290, 292 Klasse  45, 129–133, 141–144. Siehe auch Bourgeoisie, Mittel­ schicht, Arbeiterklasse Klock, Otto von  198, 230 Kloppenberg, James  20, 74 Knies, Karl  24, 30 f., 33, 73, 95 Knight, Frank  8, 242, 245, 248, 249 f., 252–255, 256, 258, 263, 266, 278, 282, 289, 291 f., 303

Koedukation  45, 64, 90, 175, 225 Korruption  55 f., 96, 100, 105, 154, 207, 212, 216 f. Kuhn, Thomas  71 Kürnberger, Ferdinand  159, 224 Lamprecht, Karl  122 Laski, Harold  243 Lawrence, D. H.  115 Lazarsfeld, Paul  290, 292 Leage for Political Education  215 Lebensführung  52, 60, 66 f., 163 f., 179, 187, 190, 205, 270–273, 298, 301 Lederer, Emil  243, 259, 289 f. Lee, Robert E.  169 Lehmann, Hartmut  27, 30, 189, 330 Leipziger Universität  37, 175 Lepsius, M. Rainer  298 f. Lette, Wilhelm  211 Lewald, Theodor  85 Lewis, David Levering  127 Lichtenstein, Alfred  201 214 Lichtenstein, Clara Kapp  201, 214 Lichtenstein, Hannah Kapp  201, 214 Lichtenstein, Paul  201, 214 Lipset, Seymour Martin  293 Lockeanismus  156 Loewenstein, Karl  244, 289 Logan, Warren  135 London School of Economics  243, 258 Longfellow, Henry Wadsworth  116 f. Löwenthal, Leo  244, 289 Luther, Martin  28, 32 f., 178, 183, 191 Luthertum  61, 190 Mach, Ernst  194 Machiavelli, Nicolò  301 Machlup, Fritz  283 Malinowski, Bronislaw  17, 258 Manasse, Ernst  140 f. Mannheim, Karl  242 f., 259, 278



Personen- und Sachwortverzeichnis371

Marcks, Erich  27 Marcuse, Herbert  292, 296 Martindale, Don  243–246 Marx, Karl  18, 82, 143, 167, 239, 271, 290, 301 Maxwell, James Clerk  194 May, Karl  224 McKim, Charles  199 McKinley, William  48 Mechanisierung  58–60, 115 Meitzen, August  127 Mendelsson, Moses  203 Menschenrechte  27, 136, 139, 191 Merleau-Ponty, Maurice  294 Merriam, Charles  68 Merton, Robert  182, 243, 250, 284, 293 Mesker, Frank  63, 66, 88 Mesker, Pauline Gehner  88 Methodisten  45, 61 f., 114, 117, 147, 161 f., 206 f., 208 Michels, Robert  60, 231 Miller, Elisabeth  150 Miller, Fritz  151 Miller, Hugh  150 Miller, James (Jim)  145, 161, 163 Miller, Jefferson (Jeff)  148 f., 163 Miller, Magnolia Brittain (Nola)  149–151 Miller, Perry  234 Miller, William F. (Bill)  136 f., 145, 147 f., 149 f., 151–153, 157 Mills, C. Wright  76, 195, 231, 243–246, 250, 256, 276, 277–281, 293, 294, 301 Milton, John  187 Mittelschicht / Mittelklasse  89, 165, 170, 203, 216, 279 Modernisierung  232, 295, 302 f., 336 Mommsen, Wolfgang J.  282 Moral  135, 164, 191, 205, 212, 349. Siehe auch Askese Mormonentum  203, 244

Müller, Thomas  227 Münsterberg, Hugo  22 f., 28, 69–74, 93, 123, 144, 174, 182–184, 194, 198, 340, 347 Münsterberg, Selma  182, 184 Murphy John P.  149, 152–157 Musik  62, 122, 133 f., 162, 203 f. Myrdal, Gunnar  18, 132 Mystik  166, 176 f., 185, 187, 192, 223 Nachhaltigkeit / Zukunftsfähigkeit  82 f., 120, 159, Nationalökonomie  30, 40, 73 f., 78 f., 84, 94, 99, 128, 141, 172 f., 193 f., 223, 290 Natur  71, 109, 113–117, 159 f. Naumann, Friedrich  41 Neumann, Franz  244, 290–293 New School for Social Research  241 f., 243, 260 f., 287, 289–291, 293 Newcomb, Simon  22, 69, 92 Nietzsche, Friedrich  194, 226, 270, 301 Northwestern University  21, 40, 53, 62–66 Nuzinger, Otto  223 Oakes, Guy  277 Odgen, C. K.  261–264, 267 Offe, Claus  232, 330 Olbrich Joseph Maria  86 f. Olmsted, Frederick Law  36, 49, 86, 122, 158, 160, 169, 333 Ostwald, Wilhelm  22, 68, 194 Owen, Narcissa Chisholm  102, 106, 108 f. Owen, Robert Latham  10, 102, 106–109, 112, 117, 119 f. Palyi, Melchior  242, 249 f., 252, 281 f., 290 Paret, Peter  85 Park, Robert  128 Parker, Anwalt Alton B.  200

372

Personen- und Sachwortverzeichnis

Parker, Theodore  32, 188 Parsons, Talcott  8, 226, 230, 234, 242, 244, 245–251, 253–275, 276, 279, 281–286, 289, 296 f., 300–302 Pauck, Wilhelm  43, 332 Peale, Norman Vincent  202 Perry, Ralph Barton  268, 279 Persönlichkeit  21, 42, 46, 61–67, 137 f., 164, 175, 181, 212 f., 233, 235 Pfleiderer Otto  30 Philippinen  22, 84, 92 Philippovich, Eugen von  78, 95, 183 Pinchot, Gifford  159 Platon  116, 135, 176 Ploetz, Alfred  129, 139 Plunkitt, George Washington  200, 217 Poincaré, Henri  68 Politische Bildung und Erziehung  91, 212, 231 f., 301 f. Politische Parteien  54 – als Maschinen  156, 200 f., 231 Powdermaker, Hortense  143 Pragmatismus  70 f., 75 f., 192–196, 206, 236 Presbyterianer  61, 117, 202, 220 Preuss, Hugo  234 Progressivismus  20, 56, 91, 207, 216, 225, 341 – in Tennessee  150 f. Protestantismus  20, 29–33, 40–5, 64, 84, 93, 133,187, 199, 202 Puffer, Ethel D. Puffer (Howes)  183 f., 347 Puritanismus  13, 27, 80, 117, 162, 189, 192, 198, 203, 219, 226, 234, 254 Quäker  62, 137, 172, 174, 176–180, 206, 207, 208, 223 Rachfahl, Felix  29, 234, 246 Rade, Martin  41–43, 161 Radkau Joachim  8 f., 26, 328

Rasse  83, 117, 129–133, 136, 139–144, 150, 340 f. Rassismus  136, 150, 176 Rationalismus  94, 220, 232, 272 – bürokratischer  165 – kantischer  185, 205 Rationalisierung  58–60, 67, 81, 88, 118, 166, 179, 190, 301–304 Rationalität  59, 165, 167, 180 f., 191–193, 196 f., 212, 220, 271–273, 282 f., 285, 296 f. – instrumentelle o. Zweckrationalität  254, 283, 286 Rauschenbach, Walter  41 Redfield, Robert  250 Religion  30–33, 42–44, 60 f., 63 f., 118 f., 161–165, 170 f., 177–180, 187 f., 202–207 Religiosität / Kirchentum  43 f., 61, 162, 203 Rheinstein, Max  249 Richardson, Henry  199 Rickert, Heinrich  29, 183 f., 195, 267 Rickert, Sophie  183 f. Riesman, David  251 Ripley, William Z.  78, 95, 128, 183, 184 Ritschl, Albrecht  30 Rollmann, Hans  40, 43 Roosevelt, Theodore  8, 10, 55, 59, 65, 67, 78, 82, 92 f., 96, 100, 105, 159 – als charismatischer Führer  201, 350 – Präsidentschaftswahlkampf  11, 21, 156, 200 f. Rorty, Richard  69 Roscher, Wilhelm  24, 73 Rosegger, Peter  159 f., 224 Rösing, Hermann  214 Ross, Dorothy  128 Ross, Edward A.  68, 121 Roth, Guenther  18, 19, 29 f., 87, 145, 148, 198, 239, 245 f., 337, 342, 349, 354 Royce, Josiah  183 f.



Personen- und Sachwortverzeichnis373

Russisch-Japanischer-Krieg  93, 181, 215 Russland  12, 34, 54, 130 f., 234, 246 Säkularisierung  43, 60 f., 199, 203, 230 f. Salin, Edgar  259 f., 271 Salomon, Albert  243, 289 f., 360 Salz, Arthur  244 Sandburg, Carl  51 Santayana, George  184 Schellhass, Karl  30 f. Schelting, Alexander von  242, 244, 248, 250, 255, 257, 283, 285, 292 Schiff, Jacob  213, 271 Schlichting, Max  34 f., 85 f., 333 Schmoller, Gustav von  24, 94, 127, 173, 235, 320 Schulausbildung  62 f., 90 f., 147. Siehe auch Bildung und Erziehung Schulze-Gaevernitz, Gerhart von  172 f., 183 Schurz, Carl  18, 51, 54, 131, 208 Schutz, Alfred  289 Sekten: religiöse  43 f., 61, 65, 81, 146, 161, 164 f., 166, 208 f., 210, 233 – im Unterschied zur Kirche  44 self-made-man  88 f., 229 Seligman, Caroline Beer  129, 201, 207 Seligman, Edwin R. A.  30 f., 40, 69, 94–96, 121, 126, 128 f., 201, 205 f., 207, 216 – Briefwechsel  319 f. Sering, Max  94, 110, 117 f. Settlements  48, 56–58, 207–213 Shakespeare William  148, 201 Sharpless, Isaac  174 Shils, Edward  242–251, 254 f., 259, 277–279, 282 f., 285, 291 f., 294, 297, 302 Shoenfeldt, J. Blair  99 f., 102, 105 f., 109–111 Siebeck, Oskar  252 f., 262–267, 273, 281

Siebeck, Paul  28, 315 Siemens, Georg  18 Simmel, Georg  22, 51 f., 72, 127, 140, 251, 272 f. Simmons College  184, 211 Simpson, George  249 Sinclair, Upton  55 f., 59 Singer, Milton  251 Small, Albion  22, 61, 69–71, 74, 127 f., 251, 340 Smith College  183 f., 260 Sombart, Werner  22, 24, 27, 29, 39, 68, 81 f., 122, 127, 170, 172 f., 242, 272, 282 Soziales Kapital  66 f., 165 f., 209 f., 231 f., 235, 303 Soziale Mobilität / Aufstiegschancen  44 f., 82, 131, 151 f. Sozialismus  59, 82, 170, 212 Spencer, Herbert  70 Spiritualität  133 f., 135, 176 f., 187 f., 193, 203–205, 219 spoils system  153 Sport  56, 167, 181 f., 228 Staat  47, 79 f., 82, 108, 155 f., 198, 230, 293 f. Staatsbürgerschaft / Bürgerstand  46, 66 f., 89, 164 f., 209 f., 216, 221, 235, 301 Stahlhartes Gehäuse (iron cage)  120, 226, 227, 230, 270 Stammesmitgliedschaft  82, 105 f. Stand  45, 66, 142 f., 199, 211, 217 Steffens, Lincoln  56 Strauss, Leo  290 f. Streik der Schlachthausarbeiter  52–57 Sullivan, Louis  49, 51, 55 Swedberg, Richard  285 Tammany Hall  153, 200, 207 Tawney, R. H.  258–260, 265–269, 284 Taylor, Robert R.  135 Theater  201 – jiddisches  54, 217 f.

374

Personen- und Sachwortverzeichnis

Thomas, Allan Clapp  177–179, 347 Thomas, Martha Carey  46, 48, 89, 174–176, 178, 347 Thomas, Paul B.  261, 263 Thomas, William I.  68, 121 Tocqueville, Alexis de  8, 12 f., 17 f., 39, 78–82, 94, 103, 109, 114, 121, 144, 199, 209, 239, 260, 301, 330, 336 f. Tolstoi, Leo  167, 188, 282 Tönnies, Ferdinand  22, 68, 166 Traditionalismus  80, 111 f., 131, 209 f., 302 Tribe, Keith  336, 364 Troeltsch, Ernst  27, 35 f., 39 f., 43, 48, 51, 62, 68, 72, 185, 196, 223 f. Truman, David  293 Turner, Friedrich Jackson  68 Tuskegee Institute  21, 65, 121, 134–139 Tyson, Colonel L. D.  153 University of Chicago  21, 22, 40, 53, 61, 66, 175, 241 f., 249, 260, 278, 287, 290 f. University of Pennsylvania  40, 174 University of Tennessee  21, 149, 155, 157, 253 University of Utah  245 University of Wisconsin  241 f., 250, 278, 281, 284, 291 University Settlement  208, 218, 220 Unwin, Stanley  263–267, 284 Vanderbilt, George Washington II  157 Veblen, Thorstein  47, 83, 128, 158, 228, 231 Verbürgerlichung  170, 217 Verein für Socialpolitik  17, 24, 60, 126, 170, 234 Verein Frauenbildung-Frauenstudium  57, 90, 224, 334 Vidich, Arthur  277 Villard, Helen Francis Garrison  124, 214 f.

Villard, Henry (auch bekannt als Heinrich Hilgard)  18, 51, 214, 282 Villard, Julia Sandford  124, 214 Villard, Oswald Garrison  214 Voegelin, Eric  244, 250, 285, 290 f. Wagner, Adolf  127 Wagner, Richard  178, 201 Wald, Lilian  201 208, 213, 215 Wahlen  153–157, 200 f., 211 Wahlverwandtschaft  28, 230, 233, 270, 275, 292 Ward, Lester F.  68 Washington, Booker T.  92, 121–124, 125 f., 135–138 – Briefwechsel  321–324 Washington, George  136, 158, 169 Washington, Margaret  134 f. Weber, Adolf  193 Weber, Alfred  24, 176, 214, 259 Weber, Helene Fallenstein  24, 28, 31 f., 98, 145, 150, 223 Weber, Karl  199 Weber, Max Sr.  18, 29, 51, 94, 153, 214 Weber, Otto, Jr.  214 Wellesley College  21, 137, 175, 184 Wells, Gordon  256 Werner, Anton von  85, 87 Whimster, Sam  338, 349 Wilhelm II.  35, 85, 87 Wilson, Woodrow  10, 68, 220 Winckelmann, Johannes  233 Windelband, Wilhelm  27 Wirth, Louis  242, 249, 252 f., 278, 285, 287 Wittfogel, Karl  292 f. Wolkenkratzer  37 f., 54 f., 171, 200 Women’s Trade Union League (WTUL)  56–58, 208 Woodward, C. Vann  150 Woodward, Calvin M.  90 f. Worm, Karsten  227



Personen- und Sachwortverzeichnis375

Wright, Frank Lloyd  87 Wright, J. George  102 f., 105 f., 109 f. Wunderlich, Frieda  290 Young, Allyn  253, 258

Zeitungen  21, 54, 97 f., 146, 153, 162 f., 181, 216 Zivilgesellschaft  118 f., 167, 233–235, 235, 301, 303 Zohn, Harry  115