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German Pages [183] Year 2010
Expeditionsreisen am Amazonas
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Ulrich von den Steinen
Expeditionsreisen am Amazonas Der Ethnologe Karl von den Steinen (1855–1929) Mit einem Geleitwort von Mark Münzel
2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: »Die Herren«, 1887: Januario, Dr. Pedro, Dr. Carlos, Perrot, Antonio; unten Dr. Guilherme, Dr. Paulo (von links nach rechts).
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Impress d.d., Ivančna Gorica Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Slovenia ISBN 978-3-412-20618-5
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»Für eine solche Studie muss man mit den Menschen, die man gründlich untersuchen will, verbunden sein (…), man muss in ihrem Lande leben, ihre Sprache lernen, ihre Bräuche ausüben (…), man muss nicht nur die Vorurteile bekämpfen, auf die man stößt, man muss auch die besiegen, die man mit sich bringt; denn das Herz ist parteiisch, die Gewohnheit mächtig, die Tatsachen sind verfänglich und die Täuschung ist bequem.« Comte de Volney (1757–1820) franz. Reisender und Philosoph
»Wer die Menschen säm(m)tlich für schlecht und eigennützig halten zu müssen glaubt, der möge in das ferne Ausland wandern, um sich dort zu überzeugen, dass man ihn besser behandelt, als er (es) verdient.« Karl von den Steinen
»Wie wenig ist am Ende der Lebensbahn daran gelegen, was wir erlebten, und wie unendlich viel, was wir daraus machten.« Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Staatsmann und Bildungsreformer
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1 Karl von den Steinen als junger Arzt, undatiert, um 1876.
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Inhalt Zum Geleit IX Einführung 1 Herkunft – Studienjahre – Reisen 5 Wagemut und Selbstbewusstsein 6 Such, wer da will, ein ander’ Ziel 10 Aug’ in Aug’ mit den Waldmenschen 16 Eine fragile Balance 19 Humor contra vielerlei Unbilden 25 Wenn jemand eine Reise tut … 28 Eine Karriere nimmt Fahrt auf 31 Leben unter Indianern 34 Indianer – kulturlose Barbaren? 42
Materielle und geistige Originalitäten der Waldmenschen 46 Wo Menschen leben, ist Kultur 55 Schwirrholz und Feuer 58 Das Zeichnen des Verborgenen 60 Unbekleidet – aber nicht nackt 66 Animistischer Glaube 73 Imagination und Mythos 79 Das Zählen bis zwei 83 VII
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inhalt
Der verpfuschte Völkergedanke 87 Mit Leib und Seele Ethnologe sein 91
Wieder unter Eingeborenen – aber fünfzig Jahre zu spät 97 Erkundungen auf Nuku Hiva 101 Bilderrätsel virtuos in die Haut gestochen 104 Die Erotik des Augenblicks 108 Tattoos auf dunkler Haut 111 Polynesischer Glaube 115 Die Weisheit des Weitgereisten 118 Tattoos sind ›in‹ – die Lust an Schmuck und Schmerz 120
Der ethnologische Ertrag 124 Der unwiederbringliche Blick 128 Das kulturelle Niveau der Ungleichheit 132 Die Eigengesetzlichkeit schriftloser Naturvölker 134 Intensität und Interaktionen 142 Ironie – Humor – Sprachwitz 145 Ethnographie im Reich der Fakten 149
Anmerkungen 154 Dank 158 Literaturverzeichnis 159 Bildnachweis 164 Personenregister 165
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Zum Geleit Das Weiterleben Karl von den Steinens
Persönliche Erinnerung: Ein Lob den Anekdoten Eine Annäherung an Karl von den Steinen, der gerne im Ich-Ton erzählte und seine wissenschaftlichen Theorien in Erzählungen und Beobachtungen zu verpacken wusste, erfolgt am besten auf etwas ähnliche Weise: Über eine Erzählung, nicht deduktiv, sondern induktiv. Das ist der Bauplan dieses Buches, und dem möchte auch ich mich anschließen. In meiner Studienzeit in den 60er Jahren fesselten uns Südamerika-interessierte Studenten vor allem zwei Klassiker der Forschung über das Amazonasgebiet, weil sie nicht nur Theorien entwarfen, denen sie dann passende Fakten zuordneten, sondern lieber erst einmal erzählten, wie sie von einer fremden Welt fasziniert und gefangengenommen wurden, wie sie sich für eine andere Kultur begeisterten und dann versuchten, sie trotz aller Widrigkeiten zu verstehen. Die beiden Autoren waren Karl von den Steinen und der eine Generation jüngere Theodor Koch-Grünberg. Wir fanden ihre ethnographischen Beobachtungen spannend und ihre oft leicht ironische Schilderungen von Land und Leuten lustig (vor allem bei von den Steinen, während Koch-Grünberg seinen ähnlichen Humor zurückhaltender einsetzt). Auf meiner ersten Feldforschung, zufällig gerade im Alto Xingu 75 Jahre nach Karl von den Steinen, wurde dieser zu meinem Begleiter. In den in seinen Büchern abgebildeten Gesichtern und Landschaften erkannte ich meine neue Umgebung wieder, die von ihm geschilderten Xinguanos lebten um mich herum auf und verhielten sich so, wie seine Bücher es beschrieben hatten. Auch ich wurde von der fremden Welt gefanIX
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gengenommen, und ich fand bei von den Steinen Ansporn, Trost und Bekräftigung meines Enthusiasmus. Etwas später reiste ich auch in die Hauptforschungsregion von Koch-Grünberg, das Rio Negro-Gebiet, und wieder begann ein Buch für mich zu leben. Diese Bücher strukturierten meine persönliche Erfahrung zu ethnologischem Sinn. Begeisterte Leser hatte von den Steinen von Anfang an. Seine Reisebücher sind nicht nur durch ihre damals das Publikum fesselnde (und dabei keineswegs sensationshaschende) Lesbarkeit bemerkenswert, sondern auch dadurch, dass sie – ohne belehrenden Zeigefinger noch trockene Gelehrtensprache – Wissenschaft sachlich und auf dem damals neuesten Stand vermitteln. Als ich freilich einige Jahre nach meiner Brasilienreise an einer Universität zu lehren begann und den Studierenden die Klassiker der Südamerikaforschung zu lesen aufgab, bemerkte ich bald einen Generationenbruch. Inzwischen war die 68er Studentenrevolte durch die Universitäten gezogen, und bald nach ihr kam die neue politische Sprachkorrektheit. Dass Karl von den Steinen sich über Indianer lustig machte, wurde nun als anstößig empfunden. Zwar hat er sich auch, und schärfer, über deutsche Gelehrte lustig gemacht, aber das half ihm nun nichts mehr: Einer, der von »Indianern« (ohne weiblichen Endungszusatz) sprach, von »Expedition« (ohne das Leid zu geißeln, das europäische Strafexpeditionen über die kolonisierten Völker gebracht haben), der Menschen erforschen wollte anstatt ihnen im Kampf gegen Ausbeutung beizustehen – ein Kolonialist also. Und ein Satz wie »Lustig heraus klang Evas liebliches Lachen«1 – eindeutig chauvinistisch, frauenfeindlich. Dass er sich um ein Verständnis für fremde Kulturen bemühte, war entweder »doch wohl das mindeste« oder rassistisch, weil er Unterschiede zwischen Kulturen behauptete, oder zynisch, weil er die Ausrottung der Menschen nicht kritisierte. Ein paar Jahre später war diese Welle wieder vorbei, aber der sprachliche Umbruch ist geblieben, die alten Bücher wirken auf heutige Studierende fremd, ja schwerverständlich, weil ihr Deutsch ein anderes, X
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heute altmodisch klingendes ist. So wurden gerade jene Autoren, die einstmals mit ihrer Sprache die Leserschaft fesselten, zum Opfer eines sprachlichen Wandels. Paradoxerweise dürfte die Schwerverständlichkeit nicht darauf beruhen, dass von den Steinen besonders gelehrtes, kompliziertes Deutsch mit vielen Schachtelsätzen geschrieben hätte, sondern im Gegenteil eher darauf, dass er um verständliche Sprache bemüht war und Theorien nicht aus allgemeinen Überlegungen ableitete, sondern aus lebendig geschilderten, oft anekdotischen Erlebnissen gleichnishaft erwachsen ließ. Gerade das erschwert seine Lektüre für Studierende, die nach der rasch abfragbaren Theorie suchen und nicht erst aus dem Leben, sondern gleich für die Prüfung lernen wollen. Karl von den Steinens Werk stand in der Ethnologie der zweiten Hälfte des 20. Jh. im Schatten der bei akademischen Prüfungsvorbereitungen immer wichtiger werdenden »Theorie«, d.h. der Fähigkeit, ältere Prüfer und jüngere Kollegen durch das Herbeten schwierig klingender, anglisierter griechischer Wörter in dunklen Satzkonstruktionen zu beeindrucken. Damit kann der alte Autor nicht dienen. Seine Sätze sind einfach verständlich, sein Wortschatz und seine Syntax sind wissenschaftlich auch gerade in dem Sinn, dass sie klar und präzise sind. Die Wende des wissenschaftlichen Stils zu einer als Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Masse der Laien dienenden, kunstvollen Unverständlichkeit, die sich schon Ende des 19. Jh. andeutete,2 hat er nicht mehr mitgemacht. So konnte es dazu kommen, dass seine Bücher erfolgreich wurden und ein großes Publikum anzogen, das begeistert spannende Reiseberichte las. Ja, er wurde sogar seinerseits Hauptheld eines Abenteuerromans für die Jugend, zwar mit verändertem Namen, aber doch für Leser seiner zwei Bücher von den Forschungsreisen zum Alto Xingu leicht erkennbar. Der Autor des auf diesen Büchern aufbauenden Jugendromans, Reinhard Roehle (1876‑1938) hat seine Romane oft zunächst als Fortsetzungsgeschichten in der »Knabenzeitung« Der gute Kamerad publiziert, aus der die Buchreihe Kamerad-Bibliothek hervorgegangen XI
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ist. Roehle hat in dieser Reihe, in der u.a. auch Karl Mays Schwarzer Mustang erschien, vier Romane veröffentlicht, darunter die romanhafte Nacherzählung der Abenteuer des »Professor Sturmfels«, der davon träumt, dorthin zu reisen, wo, wie er vor der Ausreise erzählt, »sich nicht allein die unbekannten Quellflüsse des Schingu befinden müssen, sondern nach der begründeten Vermutung bedeutender Gelehrter auch Indianerstämme leben, deren Erforschung für die Wissenschaft von größtem Interesse wäre«. Und am Ende: »Überblicken die vier Männer [Prof. Sturmfels und seine deutschen Begleiter] ihr vergangenes Leben, dann glauben sie nie vorher oder nachher eine köstlichere Zeit erlebt zu haben, als bei ihrer gemeinsamen Wanderung durch Sertao und Urwald, zu den Indianern an den Quellflüssen des Schingu.«3 Spannung und interessante Belehrung in diesem Roman werden für uns heutige Leser freilich zugedeckt vom Zeitgeist des Ersten Weltkrieges, weder fehlt der perfide Engländer, dessen leere Drohungen die mutigen Deutschen nicht schrecken, noch der treu berlinernde Diener; der Witz des Professors ist gröber als der des realen Vorbildes, und an die Stelle der neugierigen Erkundung fremder Welten tritt streckenweise das brachiale Sich-Durchschlagen. Und dennoch schwingt auch in dieser grobnationalen Verzerrung etwas von der Faszination mit, die von Karl von den Steinens Reiseberichten ausgingen. Doch eben diese Faszination hat später lange Zeit wissenschaftliche Reiseberichte diskreditiert, indem sie, mögen sie noch so nüchtern und realistisch sein, Erinnerungen an das (zwar andere, aber bei flüchtigem Blick aus der Ferne ähnlich erscheinende) kolonialistische Genre des Abenteuerromans evozierten. Es ist, als würden wissenschaftliche Bücher durch die Brille jener Verfremdung gelesen, die in einem nationalistischen und kolonialistischen Jugendroman aus Karl von den Steinens Forschungsabenteuer das deutsche Hau-Drauf-Abenteuer des »Professor Sturmfels« machte. Interessanterweise ist diese Entfremdung vom Forschungsreisebericht in Brasilien nicht zu bemerken, schon deshalb nicht, weil von den XII
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Einführung Im Spätsommer des Jahres 2003 erreicht mich überraschender Weise ein Päckchen mit Brief eines Kunstkabinetts aus Göttingen: Sehr geehrter Herr Dr. von den Steinen, in unserem Fundus haben wir einen alten Holzstich aus der Zeit um 1890 mit einem Bildnis des Dr. Karl von den Steinen, der 1884 eine Expedition durch Central-Brasilien unternahm. Außer Dr. Karl von den Steinen (Arzt) sind seine Begleiter, der Physiker Dr. Clauss und sein Vetter Wilhelm von den Steinen, der als Zeichner fungierte, abgebildet. Falls Sie an diesem Bild interessiert sind, bitten wir um entsprechende Nachricht. Mit freundlichem Gruß Alberding, Galerist. Ich betrachte das Bild lange und werde neugierig: Drei Männer im Expeditionsoutfit – Abenteurer? Forscher? Wissenschaftler? Völkerfreunde? Dass hinter diesem Trio mehr Wissenswertes liegen musste, ahnte und hoffte ich. Obgleich ich als Namensträger gelegentlich auf Karl von den Steinen angesprochen wurde, konnte ich aus zeitlichen Gründen der Frage nicht weiter nachgehen. Natürlich hatte ich von den Forschungsreisen meines Vorfahren in das Innere Brasiliens gehört. Auch in unserem Stammbaum hatte ich ihn vor Jahren fixiert. Er entstammt der Wuppertal-Cronenberger Linie unserer Familie. Wir haben einen gemeinsamen Urahn, Samuel (1740–1796). Aber Details aus seinem Leben waren mir zunächst nicht bekannt. Mein nun erwachtes Interesse führt mich in das Museum für Ethnologie und das Iberoamerikanische Institut sowie in die Archive der Staatsbibliothek und der HumboldtUniversität, alle zu Berlin – der Stadt seines beruflichen Wirkens, und 1
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in das Archiv der Stadt seiner Geburt – Mülheim an der Ruhr. Nach meinen Recherchen wird mir bald klar: Die im Schatten des Vergessens schlummernden ethnographischen Forschungen und Erkenntnisse Karl von den Steinens müssen nicht nur in der wissenschaftlichen Ethnologie studiert, sondern auch für das völker- und kulturkundlich interessierte Publikum gehoben werden. Brasilien übt seit jeher eine besondere Anziehungskraft auf deutschsprachige Abenteurer, Weltreisende, Naturforscher und Völkerkundler aus. Geographie und Naturkunde Südamerikas haben es nicht nur Alexander von Humboldt (1769–1859) angetan. Im Fokus der Botaniker und Zoologen wie Carl Friedrich Philipp Martius (1794–1868), Johann Baptist Spix (1781–1826), Johann Natterer (1787–1843), Friedrich Sellow (1789–1831), Prinz Maximilian zu Wied (1782–1867) liegen Natur- und Völkerkunde sowie die Geographie des Landes. Ferner werden in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge der politischen Neuordnung Europas und seiner überseeischen Einflussgebiete durch den Wiener Kongress völkerkundliche Expeditionen nach Brasilien unternommen. Umfangreiche Ethnografika indigener Ethnien kommen nach Europa. Übersichtswerke der Völkerkunde und ethnographische Atlanten erscheinen. Ethnologisch-wissenschaftliche Theorien werden entwickelt. Nach ausreichender Erforschung und hinreichender Bekanntheit des tropischen Südamerika und daher nicht mehr finanzierungswürdig, wie staatliche Geldgeber und Stiftungen meinen, verzichten sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf weitere Unterstützung großer Expeditionen. Abgesehen von Reisen christlicher Missionare und Abenteurer in die südamerikanischen Tropen erlahmt zunächst die naturkundliche und ethnographische Brasilienforschung. Nach 1870 kommt Brasilien erneut in das Blickfeld deutscher ethnographischer Interessen. »Die ersten großen völkerkundlichen Expeditionen nach Brasilien waren die von Karl von den Steinen in das Xingu-Quellgebiet in den Jahren 1884 und 1887. Nahezu zweitausend Ethnographica hat von den Steinen auf diesen Forschungsreisen für das 2
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Museum gesammelt«, heißt es im Begleitbuch zur Sonderausstellung des Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem Deutsche am Amazonas. Forscher oder Abenteurer? aus dem Jahre 2002. Die Gründung des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin (1873) gab wohl den entscheidenden Anstoß, wiederum deutsche Expeditionsreisen nach Brasilien durchzuführen, nun aber als selbständige ethnologische Disziplin. Es sind die letzten weißen Flecken auf der Landkarte Südamerikas, zu denen der Arzt Karl von den Steinen aufbricht. Das unbekannte Quellengebiet sowie der Flusslauf des mächtigen Rio Xingu und mögliche Verkehrswege durch die zentralbrasilianischen Tropen in den Norden des Landes sollten erforscht werden. Primär sucht Karl von den Steinen jedoch Erstbegegnungen mit Angehörigen unentdeckter Naturvölker. Insofern ist er nicht nur fleißiger Sammler von Artefakten, die als einzigartige Dokumente indigener Kultur gewertet werden, sondern versteht es als Arzt und Psychiater auch, in den Seelen fremder Menschen zu lesen. Er begegnet Indianerstämmen, die niemals zuvor weiße Menschen gesehen hatten. Nur wer mit den Eingeborenen zusammenlebt, so seine erste Erkenntnis, kann Kultur und soziales Leben dieser schriftlosen Naturmenschen angemessen würdigen. 1887 erfolgt eine zweite Expedition. Danach kehrt er an seine alte Wirkungsstätte, Berlin, zurück – reich an ethnographischen Exponaten und völkerkundlichen Erfahrungen. Hohe Ehrungen warten auf ihn. In Deutschland geht ein Stern am Himmel der Völkerkunde auf – hält die legendäre Vossische Zeitung vom 7. März 1925 zu seinem siebzigsten Geburtstag fest. Von den Steinens Bücher werden ethnologische Bestseller, weil er seine Erkenntnisse in verständliche, anregende und unterhaltsame Sprache kleidet. Sie trägt zur hohen Popularität der Völkerkunde in Deutschland bei. Noch heute rechnet die wissenschaftliche Ethnologie seine Veröffentlichungen zu ihren Standardwerken. Als akribischer Beobachter indigener Kulturen während der Aufenthalte im tropischen Dschungel legt er den Grundstein für einen bis 3
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heute geltenden Forschungsansatz: anthropologische und ethnographische Forschungen vor Ort sind unabdingbare Voraussetzung jeder ethnologischen Theoriebildung. Mit Karl von den Steinens Worten: »Nicht entschieden genug kann die Ethnologie die auf der Studierstube verfertigten Modelle bei Seite schieben; sie bedarf lebendiger Geschöpfe aus weiter Welt und ihrer Werke.« Auf diese Weise öffnet er Perspektiven für das Verstehen fremder Kulturen. Dabei entwickelt er nicht nur jene Vorläuferidee, die rassistischen Tendenzen wehrt, sondern entwirft auch das Bild von den Grundgemeinsamkeiten zwischen den Menschen, ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt. Die gegenwärtige Völkerkunde würdigt Karl von den Steinen als »Gründervater« der deutschen ethnographischen Brasilien-Forschung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts – so etwa der Marburger Ethnologe Michael Kraus in seiner materialreichen Dissertation Bildungsbürger im Urwald (2004). Weil dem Berliner Gelehrten bahnbrechende Entdeckungen für die Ethnologie gelingen, zählt er zu den populärsten deutschen Ethnologen seiner Zeit. Besonders die aufschlussreichen, detailgenauen Reiseschilderungen der zweiten Xingu-Expedition »Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens« (1894) erfreuen sich derartiger Beliebtheit, dass sie drei Jahre später in der zweiten Auflage als Volksausgabe erscheinen, die auch alsbald vergriffen ist. Die Forschungsreise zu den Marquesas-Inseln (1897/98) – komfortabel und frei von existentiellen Gefahren im Vergleich zu den Expeditionen in den zentralbrasilianischen Urwald – soll wegen ihrer Aktualität vornehmlich Karl von den Steinens Tattoo- und MythenInterpretationen berücksichtigen. Die völker- und kulturkundlich aufgeschlossene Leserschaft möge den lehrreichen und faszinierenden Spuren des Pioniers der Brasilienforschung zu fremden, unentdeckten Menschen folgen, deren Leben noch nicht erzählt worden ist – was eine Familiensaga ausschließt. Ulrich von den Steinen
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Herkunft – Studienjahre – Reisen Als Sohn des Geheimen Sanitätsrats Dr. Carl von den Steinen wird Karl Friedrich Wilhelm am 7. März 1855 als viertes von fünf Kindern einer protestantischen Familie in Mülheim an der Ruhr geboren. Bereits im Alter von zwei Jahren verliert er seine aus Mettmann (Rheinland) stammende Mutter, Auguste, geb. Wetter, nach der Geburt des Bruders Ernst. Karl lebt bei seinen Großeltern väterlicherseits in Wülfrath (Kreis Mettmann). Dort besucht er auch die Volksschule und wechselt zum Gymnasium nach Düsseldorf, wo sein Vater mittlerweile einen neuen Wohnsitz genommen hat. Nach seinem vorzeitig abgelegten Abitur – er ist gerade 17 Jahre alt – studiert er in Zürich, Bonn und Straßburg Medizin. Dass Karl von den Steinen Medizin studiert, hat Familientradition: Nicht nur der Vater, sondern auch Großvater und Urgroßvater sind als medizinische Vorfahren auszumachen. Im Alter von zwanzig Jahren promoviert er an der Universität Straßburg »Über den Anteil der Psyche am Krankheitsbild der Chorea« (Veitstanz). Nach Militärdienst in Dresden und Düsseldorf spezialisiert er sich als Psychiater in Berlin und Wien. Bereits im Jahre 1878 wird er Assistenzarzt in der psychiatrischen Abteilung bei Prof. Carl Westphal an der Berliner Charité. Die überaus früh abgelegte Reifeprüfung und die nachfolgenden frühen medizinischen Examina zeigen uns Karl von den Steinen einige Jahre lang als jüngsten Arzt in Preußen.1 Eine Karriere als Psychiater an der Charité steht bevor und hätte seinem Menschen zugewandten Naturell durchaus entsprochen. Dass alles ganz anders kommt, liegt an einem Mann, dem er lebenslang dankbar verbunden bleibt: Adolf Bastian (1826–1905). Bald nach Antritt der Stelle gedenkt er, sein psychiatrisches Blickfeld zu erweitern. Ihn interessiert der ganze Mensch, der Kranke besonders. Ein finanzkräftiges elterliches Geschenk ermöglicht das Vorhaben.2 5
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Ende des Jahres 1878 »nimmt er Urlaub zu einer Reise um die Erde«, wie er im Lebenslauf lapidar vermerkt. In den »Irrenanstalten der Kulturstaaten« hofft er, Einrichtungen der Pflege und Behandlung geistig behinderter Menschen in verschiedenen Ländern kennen zu lernen. Er spricht von notwendiger »Horizonterweiterung« und »speziellen Interessen«, die er zu realisieren gedenkt – ein ungewöhnlicher Gedanke für einen dreiundzwanzigjährigen, assistierenden Mediziner. Eine derartige Reise allein aus medizinisch-wissenschaftlichem Interesse? Reisen ohne Begleitung ist in dieser Zeit risikoreich, anstrengend, unkalkulierbar. Vermutlich ist auch Fernweh, Abenteuerlust und Entdeckerfreude im Spiel. Jedenfalls wendet er sich vom Leben in geregelten medizinischen Bahnen eines europäischen Bildungsbürgers ab. Will er eintauchen in andere, neue Wirklichkeiten menschlichen Daseins? Das Interesse, Verborgenes zu enthüllen, offen zu sein für das Unbekannte, springt bereits hier ins Auge und wird ihn ein Leben lang nicht mehr verlassen.
Wagemut und Selbstbewusstsein Im September 1878 schifft er sich in Bremen ein. Nach vierwöchiger Dampferfahrt erreicht er New York. An der Ostküste des Landes besucht er zahlreiche Krankenhäuser, Irrenanstalten und Archive der psychiatrischen Medizin. Im Frühjahr 1879 verlässt er New York in Richtung Kuba und Mexiko, wo er nebenbei den Spuren Alexander von Humboldts folgt und den Gipfel des Popocatepetl (5452 m) erreicht. Die weitere Reise führt ihn nach Honolulu/Hawaii. Im Gästebuch des Hotels liest er den Namen »Dr. Adolf Bastian«, den er bereits aus seiner Berliner Zeit kennt. Bastian befindet sich auf einer Expeditionsreise nach Indien, Polynesien, Nord- und Südamerika. Diese Begegnung sollte die berufliche Wende des jungen Arztes erdrutschartig einleiten: Heureka! Bastian war ursprünglich ebenfalls Mediziner, umtriebiger Naturforscher und leidenschaftlicher Völkerpsychologe. Im Nu gewinnt er den 25jährigen für die Völkerkunde/Ethnologie und ihre immense 6
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Herkunft – Studienjahre – Reisen
wissenschaftliche Bedeutung. Er drängt Karl von den Steinen zur Eile und besteht darauf, möglichst viel von dem »voreuropäischen Kulturbestand« zu retten. Denn das rasche Vordringen der euro-amerikanischen Zivilisation und der damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen führten zu unwiederbringlichem Verlust der indigenen Kulturen. »Eine Zeit, wie die unsrige«, stellt Bastian fest, »die mit rauer Hand zahlreiche Urstämme vernichtet und die Oberfläche der Erde in allen Richtungen durchfurcht, ist es den nachkommenden Generationen schuldig, so viel wie möglich von dem zu erhalten, was für das Verständnis der Entwicklung des Menschengeistes noch aus der Periode der Kindheit und der Jugend der Menschheit übrig geblieben ist. Was jetzt zerstört wird, ist für die Nachwelt unrettbar verloren.«3 Ein Blick, der heute möglich ist, wird morgen nicht mehr sein! – lautet die Devise der engagierten deutschen Naturforscher und Völkerkundler. „Von der Angst getrieben, dass die letzten Enklaven ›primitiven‹ Lebens durch die ›Feuersbrunst der Zivilisation‹ bald endgültig hinweggefegt sein könnte«, wie es bei Bastian weiter heißt, haben Ethnologen es als ihre wichtigste Aufgabe angesehen, so viele Informationen wie nur möglich zu sammeln. Dazu gesellen sich zeitgeistgeprägte völkerkundliche Prognosen vom absehbaren Aussterben indianischer Ethnien.4 Die um wissenschaftliche Anerkennung ringende Ethnologie im Deutschen Kaiserreich der 1880er Jahre sollte dabei nicht unterschlagen werden. Vollends überzeugt, schließt Karl von den Steinen sich dieser Erfahrungstatsache an. Inspiriert von Reise- und Expeditionsberichten Adolf Bastians findet er zur Völkerkunde. Mehr jugendlicher Elan und der Reiz des Fremden als völkerkundliche Qualifikation treibt ihn von der Psychiatrie zur Ethnologie. Sogleich tauscht er die Welt der Medizin gegen die Welt der feldforschenden Ethnographie ein. Sein medizinisches Ausbildungswissen schafft die strukturelle Affinität des Seelenkundlers zu elementaren Wesenszügen des Menschen. Darüber hinaus betreibt er autodidaktisch anthropologische Studien und erweitert seinen iberoamerikanischen Sprachschatz. 7
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Herkunft – Studienjahre – Reisen
Adolf Bastian ist seit vielen Jahren der neuen Wissenschaftsdisziplin Ethnologie, vormals Völker- und Landeskunde, nicht nur eng verbunden, sondern auch ihr leidenschaftlicher Vertreter und Förderer. Er ruft 1869 zusammen mit Rudolf Virchow, dem bekannten Pathologen an der Charité, die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte ins Leben. Im Jahre 1873 setzt er sich mit großem Elan für die Gründung des Königlichen Museums für Völkerkunde zu Berlin ein und übernimmt 1876 selbst die Leitung dieses Hauses. In Karl von den Steinen findet Adolf Bastian nun jenen genialen Schüler und Nachfolger, der seine wissenschaftlichen Theorien aufnimmt und weiterführt. In der Gedächtnisrede aus Anlass des Todes von Adolf Bastian im Jahre 1905 erinnert sich Karl von den Steinen: »Er [Bastian] eroberte den Menschen sofort, indem er ihm hohe, seltene Aufgaben stellte, und zwar mit einem Vertrauen, einer Zuversicht, dass man sich sogleich förmlich selbst wachsen fühlte. Das Geheimnis seiner erstaunlich suggestiven Kraft war kein anderes, als dass er immer nur an die besten Instinkte appellierte und selbst keine anderen besaß […]. Und an seiner flammenden Begeisterung entzündeten sich alle! Die Forschungsreisenden eilten hinaus und kannten keinen größeren Stolz als des Alten Glück und Freude zu sehen, wenn er sie nach erfolgreicher Heimkehr stürmisch umarmte.«5 Das in dem jungen Arzt geweckte Interesse an den so genannten Naturvölkern schlägt sich unmittelbar nieder auf den weiteren Reiseverlauf. Während der Überfahrt von Hawaii nach Auckland/Neuseeland lässt sich Karl von den Steinen – neugierig, wagemutig, furchtlos, wie er ist – auf den Samoa-Inseln absetzen. Wie kommt es dazu? Im ersten Band seiner Trilogie Die Marquesaner und ihre Kunst lesen wir, mehr als vier Jahrzehnte nach dem mutigen Ereignis: »Ein kleines grünes Eiland tauchte am Horizont auf, und ein einsames Fischerkanu kam in Sicht. Der Kapitän ließ mir zuliebe stoppen; tief unten schaukelte der Einbaum mit Männern und Weibern im Grasschurz […]. Ich folgte meinem Koffer nach abwärts, und rasch war der Dampfer bis 8
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Herkunft – Studienjahre – Reisen
auf die ferne Rauchsäule verschwunden, ich aber allein auf weiter Flur zum ersten Mal unter nackten Eingeborenen.«6 – Dass er Wochen später in Begleitung des deutschen Naturforschers Wilhelm Joest Japans höchsten Berg, den Fuji, 3776 m., am 6. Dezember 1880 besteigt, und nur ein Schneesturm das Gipfelerlebnis verhindert, sei am Rande vermerkt. Karl von den Steinen ist ethnologisch infiziert und nicht aufzuhalten! Der Impetus eines couragiert forschenden Arztes und Abenteurers treibt ihn voran. Damit steht er in der Reihe der Kulturgeschichtler und Völkerkundler des deutschen Kaiserreichs, deren Sehnsucht nach Fremdem und Exotischem als Grundmotiv ihrer Spurensuche nach weißen Flecken der Erde zu werten ist. Über Australien, Neuseeland, Ägypten und Italien reisend, kehrt er nach zwei Jahren, 1881, an seine alte Wirkungsstätte, Berlin, zurück. Die psychiatrische Tätigkeit an der Charité nimmt er zwar wieder auf, sucht jedoch zugleich nach neuen Anknüpfungspunkten, die seinen völkerkundlichen Neigungen entsprechen. Augenblicklich tritt er der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte bei. Als wertvolle ethnologische Grundlage, so nimmt er an, erweist sich sein Arzt-Beruf, besonders der des Psychiaters. Nostalgisches Interesse ist ihm fremd. Eher folgt er seinen großen Vorbildern Georg Forster, Alexander von Humboldt sowie seinem Lehrer Adolf Bastian. Vom Dienst am kranken Menschen zum ethnographischen Forscher – kündigt sich der berufliche und wissenschaftliche Perspektivwechsel an. Mit der Unbedingtheit seines rastlosen Wesens sucht er die Aufgabe, die ihm entspricht. Sein analytisch-diagnostischer Blick richtet sich nun auf die Grundlagen des Menschseins in unbekannten Gefilden: ihre Sprache, Kultur, Biologie und Herkunft, die untrennbar zusammengehören, sowie auf das soziale Verhalten der Menschen in ursprünglichen Gesellschaften. Quasi als Grundausbildung und Auflockerungsübung seiner Expe ditionen ins Unbekannte nimmt von den Steinen 1882/83 als Arzt und Naturforscher an einer deutschen Südpolarexpedition teil. Er sollte 9
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Seevögel und Robben erforschen. Nebenbei macht er sich in Organisation und Reisetechnik kundig. In Montevideo (Uruguay) – das Forschungsschiff befindet sich bereits auf dem Rückweg – geht Karl von den Steinen zusammen mit dem Physiker und Kartographen Dr. Otto Clauss, einem befreundeten Wissenschaftler, von Bord, um die erste eigene Forschungsreise zu starten. Am Hafen wartet verabredungsgemäß Karls Vetter, der Zeichner Wilhelm von den Steinen (1859–1934). Sie sollten in das unerschlossene Quellengebiet des Rio Xingu, eines südlichen Zuflusses des Amazonas, vordringen, unbekannte indigene Stämme, die so genannten Wilden, aufsuchen, Schifffahrts- und Landwege erkunden, geographische Messungen durchführen und Artefakte für das Völkerkundemuseum zu Berlin sammeln.
Such, wer da will, ein ander’ Ziel Der aufgeklärte Mediziner zieht aus, erneut das Staunen zu lernen, jenes Staunen, das ihm sein europäisches Menschenbild ausgetrieben hatte. Es liegt ein Geheimnis darin, staunen zu können, sich zu öffnen gegenüber Neuem, Unerwartetem: das Geheimnis des freien, unabhängigen, forschenden Geistes. Das sagt sich leicht in der Berliner Studierstube und tut sich schwer im tropischen Urwald. Hier ist der Weg vom Unbekannten zum Bekannten, vom Nichtwissen zum Wissen auf Schritt und Tritt von objektiven Gefahren, psychischen und physischen Strapazen gespickt. Karl von den Steinens Expedition war nicht der erste Versuch, den Dschungel Zentralbrasiliens und dessen multiethnische Bevölkerung zu erschließen. Mancher Abenteurer des frühen 19. Jahrhunderts war in der Wildnis steckengeblieben. Wiederholt hatten europäische Forschergruppen dementsprechende Anläufe genommen. Weit waren auch sie nicht gekommen. Zum Beispiel Adalbert Prinz von Preußen (1811–1873), später Admiral der Preußischen Flotte: Er erreichte 1843 das Amazonasgebiet und wollte den Rio Xingu 10
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stromaufwärts reisend erschließen. Beim 4. Breitengrad kapitulierte er. Warum? Karl von den Steinen führt Gründe an: Wer den Xingu stromaufwärts zu bewältigen gedenkt, also von Norden nach Süden
2 Vor der ersten Xingu-Expedition 1883, v.l.n.r.: Dr. Otto Clauss, Dr. Karl von den Steinen, Wilhelm von den Steinen. 11
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schifft, bleibt an den ersten Stromschnellen und Katarakten hängen. Das war das Schicksal des Preußen-Prinzen. Ferner berichtet eine in Brasilien bekannte Geschichte, an den Uferregionen des Xingu wimmele es von wilden, primitiven Populationen und zahlreichen kannibalischen Stämmen. »Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die 1500 Kilometer zwischen Cuiaba und dem Amazonas verbotenes Land […]. Kein Berufsethnograph hatte sich je dorthin verirrt«, erfahren wir von Claude Lévi-Strauss (1908–2009), dem französischen Ethnologen und Forschungsreisenden Südamerikas der 1930er Jahre, in seinem Reisebericht Traurige Tropen.7 Lévi-Strauss, der selbst kein Berufsethnograph gewesen ist, sondern auf Umwegen – nach Jura- und PhilosophieStudien – zur Ethnologie findet, weiß zwar, dass seine ethnologischen Forschungen Vorgeschichten haben, gleichwohl ignoriert er mehr oder minder die ethnographische Bedeutung der frühen deutschen Amazonien-Expeditionen. Berufsethnographen? Den Grundstein ethnographischer Expeditionen in die unwirtlichen Urwaldzonen Zentralbrasiliens legen Mediziner, Anthropologen, Geographen, Historiker, Archäologen, Biologen, Juristen, die, nach vielfach autodidaktischen völker- und landeskundlichen Studien, Menschen und Kulturen Amazoniens erforschen. Über Buenos Aires und Paraguay, wo immer möglich, mit dem Dampfer reisend, erreichen Karl und Wilhelm von den Steinen sowie Otto Clauss im Frühjahr 1884 die Hauptstadt der Provinz Mato Grosso, Cuiaba, ihren Ausgangspunkt im Bergland Zentralbrasiliens. Die Versetzung in eine der trostlosesten Regionen des Kontinents komme einer Verbannung gleich, zirkuliert in Offizierskreisen. Mitgeführte regierungsamtliche Empfehlungsschreiben aus Berlin beziehungsweise aus Buenos Aires öffnen Türen und sichern die Unterstützung der Expedition. Vor allem der brasilianische Kaiser Dom Pedro II. (seit 1875 Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte) fühlt sich den deutschen Forschungsreisenden in 12
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seinem Lande eng verbunden. Sie nehmen Kontakt zum Monarchen auf, dem deutschen Konsulat, zu Kaufleuten und Händlern. Bevor sie sich dem Dschungel überlassen, wird die Begleitmannschaft zusammengestellt: Zwei Diener sowie »einige tüchtige Leute« und eine Militäreskorte von dreißig Soldaten, die der Kaiser beisteuert, vervollständigen die Truppe. Bereits nach wenigen Tagen reduziert sich die Reisegesellschaft: wegen charakterlicher und psychischer Defizite werden einige Teilnehmer nach Hause geschickt, so dass schließlich zwanzig Männer die Expedition fortsetzen. Sie stammen überwiegend aus vormals eingewanderten portugiesischen Familien. Hinter der Mitnahme von Soldaten steht keine kriegerische Absicht, sondern lediglich eine Vorsichtsmaßnahme zur eventuellen Gefahrenabwehr. Denn Sicherheit, Expeditionserfolg sowie das eigene Leben hängen von der Verlässlichkeit und Fähigkeit der Reisegefährten ab. Gewehre/Pistolen dienen der Abschreckung und als Jagdwaffen der Nahrungsbeschaffung. Des Weiteren werden die in Cuiaba erworbenen vierundzwanzig Ochsen und einige Maulesel mitgeführt, zunächst als Lasttiere, sodann als Nahrungsvorrat. Unterwegs schließt sich ein missionierter Indianer aus dem Stamm der Bakairi, Antonio, als Dolmetscher an. Zwischen den verschiedenen Personengruppen besteht ein sachbezogenes, hierarchisches Gefälle: Karl und Wilhelm von den Steinen sowie Otto Clauss bilden den Kern der Explorateure, auch »die Herren« genannt, während die übrigen Reisegefährten Transport, Beistand und (militärischen) Schutz verantworten, allesamt praktisch veranlagte, robuste »Kameraden«. Von Freundschaft untereinander ist nicht die Rede, aber alle sind füreinander da: Jeder im Sinne seiner ihm zugewiesenen (Forschungs-) Aufgabe. Zum ersten Mal stoßen Weiße in diesen nie erreichten weglosen, tropischen Dschungel zu unberührten Indianervölkern vor. Eine Reise in die Vergangenheit, Schritt um Schritt bis an das Ende der menschlichen Population – oder an ihren Anfang? Zunächst per Lasttier und zu Fuß schlägt sich der Expeditionstrupp vom Mato-Grosso-Gebiet 13
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zu den Quellen des Rio Xingu durch. Sodann befahren sie mit Rindenkanus den wegen seiner zahlreichen, gewaltigen Stromschnellen nicht schiffbaren 2200 km langen Rio Xingu, eine recht wackelige Mission! Zehn bis fünfzehn Meter misst ein Kanu von ungefähr einem Meter Breite. Jede plötzliche Gewichtsverlagerung lässt das kiellose Boot kentern. Vorne paddeln die Eingeborenen, in der Mitte lagern Instrumente, Geräte und Proviant, im Heck befinden sich, mehr liegend als sitzend, jeweils einige Expeditionsteilnehmer. Acht bis zehn Kanus transportieren Mensch und Material. Fremdartig türkis-grün leuchtet der Dschungelfluss par excellence, als habe ein Chemieunternehmen nachgeholfen. Er mündet in einer Breite von nahezu acht Kilometern vielarmig in den Amazonas. Die tropischen Flussregionen in ihrem Rohzustand eignen sich zwar als Siedlungsgebiet, daher beherbergen die Uferwaldungen geheimnisvolle indianische Stämme. Sie sind jedoch kaum für den Schiffs- und Handelsverkehr nutzbar. Nicht nur tückische Katarakte, sondern auch die Unwegsamkeit des äquatorialen Tieflandes stehen dem im Wege und sind Grund für die Abgeschiedenheit der dort lebenden Menschen. Im Schutz des unzugänglichen Geländes zu Wasser und zu Lande pflegen indianische Stämme ihre Sitten, Riten und Kulte jenseits aller fremden Einflüsse – so die erste Erkenntnis der Forscher. Indem sie sich an der Uferlinie des Xingu entlang tasten, erreichen sie Siedlungen und kleine Dörfer, die keine Landkarte verzeichnet. Nahezu sechs Monate lang untersuchen, messen, zeichnen und kartographieren die Forscher das Quellengebiet und den Flusslauf des Xingu über hunderte von Kilometern. Sie begegnen Menschen im Urzustand, die nie andere als ihre im Regenwald lebenden Nachbarn gesehen hatten, sammeln fleißig Fakten, Daten, ethnographische und naturhistorische Objekte. Ein durchaus kühnes Unternehmen: denn kurz vor der Ankunft dieser schmalen Expeditionsequipe war eine französische Forschergruppe verschollen und deren Leiter getötet worden. Das Risiko der Forschungsreise bleibt unkalkulierbar. 14
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3 Reiseroute der ersten Xingu-Expedition 1884. 15
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Aug’ in Aug’ mit den Waldmenschen Das tropische Cuiaba ist bereits viele Tagesreisen entfernt. Straßen, Wege, Pfade, sie gibt es nicht mehr. Das Grün des uralten und doch frühlingsfrischen Dschungels schluckt alles. Macheten (Buschmesser) schlagen die Richtung entlang des Flusses. Armdicke Lianen bilden Wände wie Fels und vereiteln jedes geplante Marschziel. Ab und zu quält sich ein Sonnenstrahl durch das immer grüne Blätterdach. Wer Sinne dafür hat, entdeckt eine Symphonie aus Formen und Farben, fauligen Gerüchen und das unablässige Krächzen der Aras. Das Land ist flach, die Luft schwül. Ob morgens, mittags oder abends: der Zeitbegriff schwindet. Nur die Erschöpfung von Mensch und Tier gibt Auskunft über den vorgerückten Tag. Die Nacht ist laut, der Schlaf kurz: Zunächst ein Rascheln, plötzlich schreit alles durcheinander. Brüllaffen, Aras, Faultiere, Bisamschweine und andere Dschungelbewohner verbreiten einen Höllenlärm… Was ist geschehen? Der nachtaktive Jaguar reißt ein Schwein. Das Geschrei weckt die übrige Gesellschaft. Alle flüchten ins Dickicht oder auf die Bäume. Im Amazonasgebiet ist alles fremd. Unwirtlich, verborgen, bedrückend empfinden sie die Welt des Dschungels. Im Blick auf ihre bisherigen Lebenserfahrungen und Vorstellungen fehlt der Bezugsrahmen: Wie werden die Menschen im Urwald reagieren, wenn sie zum ersten Mal Weiße sehen? Freundlich, neugierig, entgegenkommend oder eher verhalten, abweisend, aggressiv? Stiller Stumpfsinn und die Monotonie des Marsches erfasst die Kolonne. Der Wirrwarr der mehr als zehn Quellenflüsse des Rio Xingu erschwert die Orientierung. Ein übers andere Mal stellt sich die Frage: Warum? Am späten Nachmittag beginnt die Suche nach Wasser, Weide und Bäumen, also einem Nachtquartier. Bis in den Abend hinein geht die Erkundung: Frisches Wasser für Mensch und Tier, Gras für die Maultiere und schlanke Bäume von sieben bis neun Schritten Abstand für die Hängematten. Idealerweise sollten die Lasttiere sich nicht in 16
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die Büsche schlagen, sondern in einer Talmulde nächtigen, was indes nur selten gelingt. »Gern würde ich auch den tropischen Früchten, die man in unserer Einöde billiger Weise im Überfluss antreffen sollte, ein Loblied singen, um das Konto der Annehmlichkeiten zu vermehren«, wünscht sich der Feldforscher, »aber es ist merkwürdig, man mag kommen, wann man will, es ist stets zu spät oder zu früh für die Gaben Pomonas [Äpfel].«8 Abseits jeder Zivilisation treffen die Forscher nach Wochen auf erste indianische Stämme. Später zählen sie achtzehn. Die Urwaldstämme gehören verschiedenen Sprachfamilien an: der Karaiben, Tupi, Ge und Aruak. Später klassifiziert von den Steinen die Trumai als eigene Sprachfamilie. Sie leben in flussnahen Siedlungen von jeweils einhundertfünfzig bis zweihundert Köpfen in bienenkorbartigen Hütten familienweise als Haus- und Zweckgemeinschaft zusammen. Holz, Schilfgras und Palmblätter, die ältesten Materialen von hoher Festigkeit, dienen als Baustoffe der Unterkünfte. Innen sind sie schmucklos und kahl. Wozu auch ›Tapeten‹, wenn die Waldmenschen von einer tropischen Wunderwelt umgeben sind? Clans (Sippen) oder Stammesverbindungen sind unter Naturvölkern bewährte Formen des Kollektivs: Sie bieten nicht nur Schutz gegen Feinde und Raubtiere, sondern ökonomisieren die Nahrungsbeschaffung und verbessern die Überlebenschance des Einzelnen. Erreichen die Besucher eine Siedlung, werden sie sogleich von Dutzenden männlichen Eingeborenen umringt. Frauen, ihre Kinder am Halse tragend, verharren in ängstlicher Distanz oder laufen in den Wald. Gespannte Erwartung und Respekt prägen jeden Kontakt mit den Indianern. Signalisieren Blicke, Worte und Gesten friedliche Absichten, wird umsichtig der Erstkontakt eingefädelt. Die Eingeborenen sind teils freundlich, teils reserviert bis misstrauisch gesinnt. Die gruppenübliche Wir-und- sie-Psychologie bestimmt zunächst das Geschehen: Skepsis aufgrund der Fremdheit dominiert verbale und nonverbale Kommunikation auf beiden Seiten. Die Forscher offerieren 17
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und demonstrieren ihre Handelswaren und Mitbringsel. Blicke und Gesten der Waldmenschen verraten Interesse, nicht selten nachvollziehbare Habgier. Ist die Erstbegegnung hergestellt und friedlich verlaufen, sind alle erleichtert. Der Umgang mit den Eingeborenen besteht vor allem in regem Tauschhandel. Später werden auch Kopf- und Körpermessungen vorgenommen. Für Messer, Äxte, Nägel, Glasperlen, Spiegel, Blechdosen, Kerzen, Schnallen und sogenannten Flitterkram erhalten die Forscher Ethnographika: Federschmuck, Halsketten aus Tierzähnen, Steinbeile, Masken, Hängematten, Sitzschemel, Tongefäße und vieles mehr. Geld ist kein Tauschmittel, es hat keinen ›Wert‹. Bunte Glasperlen, Messer, Äxte und Nägel bedeuten Reichtum und Macht. Tauschgeschäfte bedürfen keiner besonderen Sprachkompetenz. Daher bilden sie den Türöffner. Im Tauschen steckt bei Eingeborenen ein ausgeklügeltes Handeln voller Finessen, Tricks und Penetranz. Von den Steinen, unter den Mehinaku weilend, bemerkt dazu: » Ich eröffnete sofort das Tauschgeschäft und erhielt für Messer und Perlen einige Masken und Töpfchen. Sie wollten absolut Messer und wieder Messer haben, sie zeigten dabei ein recht ungeduldiges Gebaren. ›Nur heraus mit deinen Sachen‹, schien ein jeder zu sagen […]. Das Wesen eines reellen Geschäftes, bei dem, der etwas nimmt, auch etwas hergibt, war ihnen entschieden unklar.«9 Für indianische Kleinkunst, so des Forschers List, gibt er unverhältnismäßig große Gegengaben, »um ihre Habgier ein wenig anzuregen«. War hingegen den Indianern Interesse (und Gier!) der Besucher an Masken und Federschmuck bekannt geworden, »lieferte man ad hoc gemachten Schund«.10 Je schneller der Tauschhandel, desto zufriedener der Forscher; je länger das Feilschen, desto selbstbewusster und erfolgreicher der Indianer. Richard Rohde, ein in Paraguay lebender deutscher Abenteurer und Sammler, mehr Händler als Forscher, führt zeitversetzt Expeditionen zu indianischen Stämmen Brasiliens durch. Er optimiert seinen Tauschhandel mit den Eingeborenen, indem er ihnen Zuckerrohr18
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schnaps (Caxas) anbietet. Sobald sie ihrer Sinne verlustig sind, »vertauschen sie alles, was sie besitzen«.11 Obgleich die Verständigung mit den Indianern mühsam ist, zumal die verschiedenen Stämme sich unterschiedlicher Sprachen bedienen, lehnt von den Steinen Begegnungen im Alkoholrausch aus kulturethischen Gründen ab. Mit Hilfe von Antonio, dem Dolmetscher, gelingt es den Wissenschaftlern, eine quasi übergreifende Handelssprache bruchstückhaft zu entwickeln. Dadurch erfahren die Forschungsreisenden unter anderem, dass sie sich auf einem der drei Quellflüsse des Xingu, dem Rio Kulisehu, befinden.
Eine fragile Balance Jedes Aufeinandertreffen lebt von der Anspannung. Ständiges Oszillieren zwischen Anziehung und Ablehnung, Zutrauen und Misstrauen, bestimmt die Szene. Die Reisenden können nicht von dem Wunsch ausgehen, mit offenen Armen empfangen zu werden. Mal dominiert die Neugier am fremden Besucher, vor allem an den Tauschwaren, mal sperren sich die Eingeborenen gegen allzu nachdrückliches Eindringen in Alltag und Intimleben. Werden die unbekannten Eindringlinge angegriffen? Bestimmt Argwohn das Geschehen? Führen Missgeschick und Unerfahrenheit zu Konflikt und Eskalation? – keiner weiß es. Von Herzlichkeit und Devotheit bis zu Arglist und Feindseligkeit reicht ein Schritt. Der forschende Eifer darf nicht dazu verleiten, Gedanken und Gefühle aus dem Griff zu verlieren. Was für eine Katastrophe, wenn der Forscher sich als ›Hosenscheißer‹ entpuppt! Karl von den Steinen hatte gegenüber den Soldaten die Devise ausgegeben, bei Angriffen von indianischer Seite zur Abschreckung in die Luft zu schießen. Wer jedoch das Handwerk der Soldaten kennt, sollte sie nicht mit Besuchern eines Schützenfestes verwechseln: Militärs schießen nicht in die Luft, sondern scharf. Anlass dazu gibt ein folgenschwerer Zwischenfall: Lautlos passieren frühmorgens vierzehn Kanus, eines nach dem anderen, den nächtli19
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chen Lagerplatz der Forschergruppe. Es ist noch sehr still am Fluss. Von den Steinen zählt dreiundvierzig Männer, allesamt nackt, »an Gesicht und Körper schwarz und grellrot bemalt […], auf dem Kopfe trugen sie weiße Federhauben […], die Stehenden wurden überragt von dem fast 2 ½ m langen Bogen und hielten mit der Linken ein dickes Bündel bunt befiederter Pfeile umfasst. Allmählich machten sie halt, und der Stille folgte ein fürchterlicher Lärm, ein fanatisches Geheule und Gebrülle. Dass sie Trumai waren, konnte keinem Zweifel unterliegen: denn sie schrien das Wort unaufhörlich […]. Auch wir heulten, auch wir brüllten, jeder schrie, was ihm aus seiner Indianersprache einfiel: Katu, hekatu Trumai […]. So herzlich einladend wir ihnen auch winkten, so vertraulich wir in die Hände klatschten, so verbindlich wir auf unseren Lagerplatz zeigten […], es half nicht im geringsten.«12 Schließlich erreicht von den Steinen, sich einiger Trumai-Wörter erinnernd, die er in den Fluss schreit, eine Zusammenkunft auf dem Lagerplatz. Gegenstände werden unter lautem Palaver inspiziert und ausgetauscht. Plötzlich fällt ein Schuss! Panik bricht aus! Ein Trumai wälzt sich zitternd im Sand! Er hat versehentlich den Abzug eines Gewehrs bedient. Hals über Kopf stürzen sich die Eingeborenen in ihre Kanus – nicht ohne geistesgegenwärtig noch einige Gegenstände mitgehen zu lassen. Von der gegenüberliegenden Uferseite zieht ein Trumai einen Pfeil in Richtung Lager ab. Zum Entsetzen der Forscher »knattern die Gewehre der Soldaten«.13 Sie hätten nur in die Luft geschossen, beruhigen die Soldaten. Dann wird ringsum alles sehr still: Die Indianer sind im Wald verschwunden. Das weitere Studium der Trumai erübrigt sich, hält der Forscher fest. So rasch wie möglich verlässt die Equipe den Lagerplatz. Während der zweiten Xingu-Expedition, also drei Jahre später, erfährt von den Steinen von einem damals erschossenen Trumai. Das Zusammentreffen mit Indianern des Suya-Stammes spiegelt weniger ereignisreich jene Dramatik der Erstbegegnung wider, die bei den Trumai bedrückend erfolglos endete. Weil die Suya zwischen 20
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Unterlippe und Kiefer kleine Holzscheiben tragen, die den Unterkiefer mächtig hervortreten lassen, erscheinen sie recht bizarr und kriegerisch. Die jeweiligen Parteien stehen sich, nervös gestikulierend, am Flussufer gegenüber. Nach anfänglichem Palaver vor dem Hintergrund von Neugier und Misstrauen kommt Bewegung in die Szene: »Auf Gewehre verzichtend, allerdings mit Revolvern im Gürtel, fuhren schließlich die drei Wissenschaftler mit zwei Soldaten zum Gegenbesuch ans andere Ufer […]. In dichtem Gedränge saß man beisammen, beobachtend und, trotz eifrigem Redens, letztlich sprachlos. Nach kurzer Zeit drängten die Suya ihre fremden Besucher wieder zum Aufbruch. Von den Steinen versuchte, die Indianer mit einem Spiegel zuvor noch zu beeindrucken. Als er das Sonnenlicht darin auffing, um es über ihre Körper tanzen zu lassen, griffen diese erschreckt nach Pfeil und Bogen und verstärkten ihre Aufforderungen an die Forscher, wieder zu gehen. Diese ruderten daraufhin zurück.«14 Aufs Ganze gesehen trifft zu: Spannungsgeladene Aufeinandertreffen stehen einer Vielzahl einvernehmlicher, gar freundschaftlicher und erfolgreicher Begegnungen mit Eingeborenen verschiedener Stämme gegenüber. Die stete Ambivalenz von Zutrauen und Misstrauen, von Widerstand und Ergebung, bleibt indes charakteristisch für Kontakte und Zusammenleben mit den Urwaldmenschen. Die einzelnen indianischen Stämme der Bakairi, Bororo, Kustenau, Suya, Mehinaku, Auiti, Trumai, Tupi, Nahuqua und andere mehr haben sporadische Kontakte untereinander, vor allem, wenn Stammesverbindungen sich durch Heirat anbahnen. Sie sind nicht Ausnahme, sondern Regel, sofern die Siedlungsgebiete nicht allzu fern liegen. Dem nachbarschaftlichen Mit- oder auch Gegeneinander stehen indes knallharte Eigeninteressen gegenüber: der Kinderraub. Seit jeher, weiß der Forscher, hätten die Indianer Kinderraub bei fremden Stämmen mit Leidenschaft betrieben, um sich Krieger und Frauen aufzuziehen. So markierte man die Kinder, um sie wiedererkennen zu können, wie der Herdenbesitzer sein Vieh stempelt. Selbst Antonio, der Sprachmittler, 21
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behauptet eine alte Bororo, sei ihr vor Jahren von Fremden gestohlener Sohn. Obwohl kein Wort Bororo sprechend, nehmen sie sich Antonio vor, suchen nach der in frühester Jugend vorgenommenen Durchlöcherung der Unterlippe und geben ihn erst frei, »als sie statt ihres Lippenlöchleins eine durchlöcherte Nasenscheidewand fanden.«15 Der Kinderraub dient auch dazu, neue Verwandtschaftsbande zu gründen. Möglicherweise hat Claude Lévi-Strauss recht, wenn er die Inzestscheu am Übergang von dem natur- zum kulturgemäßen Leben ansiedelt. Dort sei die biologische Familie nicht mehr allein, sondern müsse sich mit anderen Familien verschwägern, um zu überleben.16 Nicht anders als in Hochkulturen lieben diese Waldmenschen die Kleinteiligkeit und Überschaubarkeit gemeinschaftsbezogener Strukturen. Fremdes, Unbekanntes wird abgelehnt, Eigenes und Bekanntes als erhaltenswert empfunden. Sie sammeln wild wachsende Pflanzen, betreiben etwas Landbau. Mandioca (stärkehaltige, tropische Wurzelknolle), Bohnen, Kürbisse, Mais und süße Kartoffeln bevorzugen sie als pflanzliche Nahrung, ergänzt durch frisches oder geräuchertes Fleisch erlegter Affen, Nabelschweine, Faultiere, Landschildkröten und anderes mehr. Ebenso werden Fische mit (vergiftetem) Pfeil und Bogen erlegt. Um die Treffsicherheit zu erhöhen und erfolgreicher jagen zu können, wird jeder Pfeil mit drei am Pfeilkopf befestigten Spitzen gefertigt. Der Mangel an Salz wird kompensiert durch die Nahrungsbeimischung von Sand oder Ton respektive Asche. Dazu trinken sie reichlich Wasser – ein Kostkomplex, für europäische Zungen auf Dauer ungenießbar und nicht Hunger stillend. Gegen Darminfektionen und Parasiten hilft Lehm: er bindet Gifte und Schadstoffe und massiert den Darm. Die gesamte Lebensgrundlage bietet und sichert der Regenwald. Flüsse sind wegen ihres Fischreichtums von überragender Bedeutung. Vorratswirtschaft und Dispositionen für das Morgen kennen sie nicht. Ihr Blick erreicht weder Vergangenheit noch Zukunft. Hier und jetzt spielt das Leben.
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4 Indianer vom Stamm der Mehinaku.
Ein problemarmes, sorgenfreies und glückvolles Leben, das aus einem Minimum an sozialem Miteinander besteht, breitet sich vor den Augen der Forscher aus. Abends liegen alle am Lagerfeuer auf dem Dorfplatz, die Nacht in Hängematten oder auf dem Boden dicht an dicht in Feuernähe. Naheliegenderweise stehen ihre physiologischen Bedürfnisse (basic needs) im Vordergrund: Ernährung, Fortpflanzung, Schutz, Sicherheit und Wehrhaftigkeit der Gruppe. Die Männer messen im Mittel 1,65 Meter, die Frauen sind etwas kleiner. Starker Brustkorb, breite Schultern, kräftige Extremitäten, massige Zähne und schwarzes, zum Teil krauses Haar, das eine Art Rundschnitt in Ohrenhöhe begrenzt, zeichnen die Männer aus. Im Stamm der Bakairi-Indianer fällt eine Besonderheit ins Auge: Sie »rasieren sich mit Grashalmen eine regelrechte Tonsur.«17 Dunkelbraune Augen und volllippiger Mund zieren das oval-breite Gesicht der Frauen, die durchgängig Pagenfrisur tragen. Alle übrigen Körperhaare werden bei beiden Geschlechtern ausgerupft oder mit Lanzengras rasiert. Die indianische Distanz zur Körperbehaarung hat Karl von den Steinen, zeitlebens 23
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5 Indianerinnen vom Stamm der Bakairi.
Vollbartträger, durchaus zu spüren bekommen: »Hässlich dünkte den Frauen mein langer und dichter Bart, und die eine oder andere Indianerin gab mir, mit vertraulichem Widerwillen daran zupfend, den wohlmeinenden Rat, dass ich ihn doch auch ausrupfen möge.«18 Ihre Hautfarbe kommt patiniertem Kupfer gleich. Sonnenbrand, Schmutz und Körperbemalung erschweren die Feststellung der ursprünglichen Farbe außerordentlich. Sie waschen sich selten. Mangels Kamm oder Bürste entfällt das Kämmen der Haare. Unter den Binden und Schnüren der Oberarme oder Unterschenkel erkennt man, wie hell die Indianer eigentlich sind. Ihre farbverzierten Körper fallen, aufs Ganze gesehen, bescheiden aus. Einfache Streifen, Tupfen auf Brust und Armen, Wellenlinien entlang der Schenkel, Zickzackmuster auf dem Rücken, meistens in den Farben rot und schwarz, schmücken Gesicht und Körper, Federbüsche den Kopf. Durchbohrte Lippen, Nasenscheide und Ohrläppchen nehmen bei Frauen und Männern Federschmuck respektive Schmucksteine auf. Es ist der menschlichen Eitelkeit geschuldet, dass Männer wie Frauen kunstvoll gefertigte 24
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Muschelketten tragen. Die Bemalung ist zunächst eine Art Kleidung, sodann auch Schutz: Die mit Ölfarbe bestrichene Haut bleibt in der Hitze angenehm geschmeidig, ferner dient sie als Moskitos- und Stechfliegenfänger. Denn die in Myriaden schwirrenden Tierchen kleben auf der Haut und gehen zugrunde. Eine dicke Hornhaut gibt ihren breiten Füßen den nötigen Schutz. Kleidung beschränkt sich bei Männern und Jünglingen auf die Penisschnur; Frauen und Mädchen bedecken ihre Scham mit einem dichten an Fäden befestigten dreieckigen Blatt (Uluri) – ein Kulturelement, über das noch zu berichten sein wird. Ansonsten: Da Kleidung sich in den Tropen erübrigt, ist auch keine vorhanden.
Humor contra vielerlei Unbilden Wer je unter endlosem tropischem Himmel gereist ist, weiß von feuchtheißem Klima, leidet unter Moskitos, Sandflöhen, Zecken und Stechfliegen, meidet nicht nur Jaguar, Puma und Krokodil, sondern auch die reißenden Stromschnellen des mächtigen Rio Xingu, abseits aller Tropenromantik. Die Rufe der Brüllaffen und Papageien schallen ohne Unterlass durch die dichte Flora des weglosen Dschungels. Gemeinhin betrachten wir die großen Tiere der Tropen als potenzielle Gefahr für den Menschen. Die »wahren Herren des Urwalds« sind jedoch kleine Krabbelwesen, »Schlepperameisen«, deren kräftiger Zubiss in Haut und Tuch gefürchtet wird.«19 Kleinst-Moskitos dringen durch alle Gazemaschen und landen auf jeder nackten Hautfläche. Blutsaugende Schnaken und jene ungiftigen südamerikanischen Bienen, die, angezogen von Ausdünstungen jeder Art, sich um die Sekretion der Mundwinkel und Nasenlöcher streiten, quälen die Wissenschaftler auf niederträchtigste Art. Eitrige Entzündungen der Haut, Gelbfieber, Malaria und Schlafkrankheit sind ständige Begleiter. Fest in den Armen des Urwaldes, bietet er keine friedliche Welt, keinen Ort zum
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Träumen und Verweilen; eher kommt er einer unwirtlichen, prähistorischen Landschaft gleich. Unzählige Male kentern die selbstgebauten Rindenkanus: Alle schwimmen, paddeln, tauchen in der reißenden Strömung. Bohnen, Mais, Fleisch, Felle, Decken schimmeln, keimen, faulen in der tropischen Schwüle. »Wir besitzen nur neun Kanus; eins ist sehr invalide […]«, so von den Steinens spaßig-ernster Feldbucheintrag; »[…] neuneinhalb Uhr vormittags…[wir] ließen die Boote zu Wasser. Sogleich ereignete sich ein Unfall. An einer kleinen Schnelle schlug Wilhelms Boot um, der törichte Neger Chico benahm sich so ungeschickt wie nur möglich. Mit dem Tornister und dem Koffer in der Hand, stand er mitten im Wasser […], verdutzt gleich einem Dienstmann am Bahnhofe, der seinen Fremden aus den Augen verloren hat […]; Verzögerung bis 1 Uhr nachmittags.«20 Viele Male wird ungewollt ein Bad im Fluss genommen. Es habe keinen mitgeführten Gegenstand gegeben, der nicht mindestens einmal völlig durchnässt gewesen sei. Dennoch reisen sie vornehmlich auf dem Wasser, weil ab und zu ein kühlendes Lüftchen Gesicht und Körper streicht. Was späteren Forschungsreisenden regelmäßig Ärger und Missvergnügen bereitet, Wutausbrüche und Reiseabbruch eingeschlossen, umgibt von den Steinen stets mit Humor und Ironie. Während der zweiten Expedition kentert das Rindenkanu des Kartographen Peter Vogel. »Dabei sank ein uns von Herrn von Danckelmann überlassenes Wasser-Thermometer seiner Bestimmung gemäß in die Tiefe, blieb aber auf Nimmerwiedersehen drunten und entzog sich der Ablesung.« Galt es, die wertvollen Instrumente zu bergen, »stürzten wir hinter den einzelnen Stücken her wie Mütter, deren Kinder in’s Wasser fallen.«21 Das besorgte Kartenmaterial über die Quellenflüsse des Rio Xingu kommentiert der Forscher so: »Die meisten Karten liefern über die Quellen des Flusses ganz genaue Angaben; schade nur, dass sie nicht übereinstimmen.«22 Humor als Waffe gegen heterogene Interessen, Demotivation, Selbstzweifel und emotionalen Verdruss? Vielerlei 26
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Unbilden werden im Gewand des Humors konterkariert – und manche Plackerei relativiert. Humor weiß um die Differenz von Wunsch und Wirklichkeit. Ein zögerlicher oder entmutigter Karl von den Steinen ist nicht vorstellbar. Er erlaubt keine Resignation. Sein Humor hält dagegen. Dennoch: In den Tropen gerät der europäische Mensch an den Rand der Belastbarkeit. Hier ist alles spannend und langweilig, harmlos und gefährlich, aufregend und abschreckend. Wunschtraum und Albtraum sind ineinander geschoben. Im Spätsommer des Jahres 1884 erreicht der Expeditionstrupp den Amazonas. Vorbei die Monate kreatürlichen Lebens! Die Forscher wissen nicht nur, dass klar angelegten Planungen im heimischen Berlin stets ungewisse Durchführungen im brasilianischen Dschungel gegenüber stehen; sie haben auch erfahren müssen: Risiken und Gefahren sind nicht kostenfrei. Einige Mitglieder der Expedition gingen durch eigenmächtige Entfernung von der Truppe verloren, andere litten an Fieber und Erschöpfung. Auch ist der Tod im Urwald ein regelmäßiger Gast. Durstig, hungrig, ausgemergelt, malariafiebrig, matt und müde besteigt die stark dezimierte Mannschaft einen Dampfer und erreicht Para (heute Hafenstadt Belem). Man macht sich im Allgemeinen nicht klar, hält Alexander von Humboldt, der bekannteste Deutsche unter den Forschungsreisenden, in seinen Notizen fest, dass die uralten Wälder Südamerikas, die so fruchtbar scheinen, tatsächlich eine Art Wüste sind, und es nicht ausgeschlossen ist, dort zu verhungern. Überdrüssig der artgerechten Kost der Eingeborenen, ist der Hunger ein ständiger Begleiter. Besonders zum Ende der Expedition, als der mitgeführte Proviant lediglich aus wenigen Dosen Erbsensuppe besteht, bleibt ein »Gefühl von Vereinsamung und Leere im Magen zurück, das der Volksmund Hunger nennt […]. Vor allem stellte sich unglaublicher Fleischhunger ein; wir aßen, wenn es ein oder zwei Tage kein Wildbret gegeben hatte, einen stinkenden Bock, ohne mit der Wimper zu zucken […]. Dazu entwickelte sich ein Hunger nach Süßem, der an das Krankhafte grenzte. In Sum27
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ma, wir hatten alle Arten von Hunger.«23 Daher bereitet die seltene Sättigung der Reisenden ein über das andere Mal große Glücksgefühle. Sie erreichen Rio de Janeiro, wo die Geographische Gesellschaft den Forschern zu Ehren ein Bankett gibt, und Kaiser Dom Pedro II. Karl von den Steinen mit dem Titel »Explorador« auszeichnet. Im Januar des Folgejahres (1885) sind Otto Clauss, Karl und Wilhelm von den Steinen in Deutschland zurück. Berlin empfängt sie mit großer Freude. Die Expedition wird als völkerkundliche Großtat gefeiert, obgleich die vollständige Erkundung der Verkehrswege zu Wasser und zu Lande von Cuiaba in den Nordosten Brasiliens aus topographischen Gründen unter den Erwartungen geblieben war. Karl von den Steinens Berichte über Erstbegegnungen mit Ureinwohnern Zentralbrasiliens vermitteln eine Ahnung von urzeitlichen Kulturen, die außerhalb Europas ihre ›Antike‹ haben. Die Gesellschaft für Erdkunde zeichnet die Forscher mit der Ehrenmedaille aus. Vor allem von den Steinens Mentor Adolf Bastian und Förderer Rudolf Virchow würdigen die Einzigartigkeit des Erstkontaktes mit indigenen Stämmen. Das Museum für Völkerkunde kauft für 6000 Mark die im Tauschhandel erworbenen und in ihrer Kunstfertigkeit faszinierenden ethnographischen Preziosen an, so dass Karl von den Steinen, der die Reise mit elterlicher Hilfe und privater Geldgeber vorfinanzierte, fürs Erste schuldenfrei ist.
Wenn jemand eine Reise tut … Diese eingängige Wahrheit des Matthias Claudius hat Karl von den Steinen sich zu Eigen gemacht: Die frisch entdeckten Eingeborenenstämme wollen beschrieben sein. Entdeckungen allein reichen nicht, man muss sie auch publizieren! Im Sommer 1886 erscheinen seine ethnologischen Expeditionsergebnisse in »Durch Central-Brasilien« – ein detaillierter, tiefgründiger wie aufschlussreicher Reisebericht. Frei von sprachlichem Imponiergehabe wird präzis und profund die 28
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Auswertung der Beobachtungen und Erkenntnisse vorgenommen. In Vorträgen erlebt die gelehrte Hörerschaft einen »typischen Rheinländer in seinem Humor und der feinen Kultiviertheit des Geistes«, hält ein Zeitgenosse später in der legendären Vossischen Zeitung anlässlich dessen siebzigsten Geburtstages fest. Fachkreise nehmen die Ergebnisse seiner Studien begeistert auf. Sie feiern ihn als Meister des Details. Bei den Freunden der Wissenschaft erwirbt er sich ethnologische Meriten. Seine Expedition ist das coming-out als Ethnograph. Karl von den Steinen hatte geographisches und völkerkundliches Neuland betreten und den Flusslauf des weithin unbekannten Rio Xingu von den Quellen bis zur Mündung befahren. Einen namenlosen Fluss heißt er zu Ehren des Präsidenten der Provinz Mato Grosso Rio (de) Batovy. Im weglosen Urwald des oberen Xingu traf die Forscherequipe zwar auf unbekannte indigene Stämme, die kein weißer Mann jemals gesehen hatte. Auch die Sammlung der Artefakte, also die materiellen Kulturerzeugnisse der Indianer, waren zufrieden stellend ausgefallen. Jedoch der anthropologische Ertrag, bedauert Rudolf Virchow, war unter der allgemeinen Erwartung geblieben. Daher eilt der Ethnologe ein zweites Mal zu den schriftlosen Ethnien in den tropischen Regenwald Zentralbrasiliens. Während die Faszination der ersten Expedition darin bestand, die zahlreichen Nebenflüsse des Rio Xingu zu kartografieren und erstmalige Begegnungen von Weißen mit Indianern zu dokumentieren, trägt die zweite Forschungsreise den Schwerpunkt Anthropologie: Physiognomie, Lebensweise, Sprachen und Mythen der Urwaldmenschen sollen erfasst und beschrieben werden. Neben der geistigen Kultur interessiert ihn weiterhin der materielle Kulturschatz der indigenen Bevölkerung, den er wiederum für das Berliner Völkerkundemuseum zu sammeln gedenkt. Eine forschungsrelevante Frage, die während der ersten XinguExpedition ohne Gewicht geblieben war, kommt nun in den Blick: Das Spannungsverhältnis zwischen Neuentdeckung und Erweiterung respektive Vertiefung der Forschungsregion sowie der Intensivierung 29
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6 »Die Herren«, 1887, v.l.n.r:Januario, Dr. Pedro, Dr. Carlos, Perrot, Antonio; unten Dr. Guilherme, Dr. Paulo.
begonnener Forschungspraxis in mehr oder weniger bekanntem Gebiet. Anders gewendet: Sollte von den Steinen sich darauf konzentrieren, das bislang Erfahrene en detail zu erarbeiten, also durch Beschränkung und Konzentration zur Spezialisierung vordringen, oder sollte die Zielrichtung seines Forschungsschwerpunktes darin bestehen, eine größere unbekannte Region forschend anzugehen – vielleicht um des höheren Prestiges willen? Aufgrund der Verweildauer im Forschungsgebiet von nur sechs Monaten entscheidet der Ethnologe sich für jene Vertiefung und Spezialisierung, die er auf der ersten Expedition begonnen hat. Der systematische Forschungsansatz, Begonnenes aufzunehmen und fortzusetzen, sollte sich als gewichtiger ethnographischer Aspekt künftiger Amazonienforschung erweisen. Der Start zur zweiten Expedition in das Xingu-Gebiet gestaltet sich unerwartet notvoll: Die Finanzierung ist nicht gesichert. Waren seine bisherigen Reisen nicht zuletzt dank elterlicher Unterstützung und privater Finanziers ermöglicht worden, so ist er nun ganz auf frem30
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de Geldgeber angewiesen. Der Urwaldforscher ist ratlos. Er klammert sich an brüchige Gewissheiten und laue Zusagen. Bitt- und Bettelbriefe an seine Protagonisten bleiben trotz der Anerkennung seiner Explorationsleistungen zunächst erfolglos. Ambitioniert wie er ist, richtet er nun seine Bitte an den Vorsitzenden der Gesellschaft für Erdkunde, Wilhelm Reiß: »Da meine Privatmittel für eine neue Reise leider nicht ausreichen […], die Untätigkeit und Ungewissheit nun aber unerträglich zu werden beginnt, müssen sich meine Blicke wohl allmählich wieder dem Irrenhaus zuwenden und mit Schrecken seh’ ich das von Weitem […], falls ich jetzt wieder hineingerate, werde ich auch nicht wieder herauskommen. Wir haben also glücklich schon eine Überproduktion von Reisenden – es ist aber ein verwünschtes Gefühl, mit seinen besten Absichten in den Papierkorb wandern zu müssen […]. Es wird aber für mich wie für manchen Anderen darauf hinauslaufen, dass ich mein Erlebtes und Erfahrenes nur für das Privatvergnügen schöner Erinnerungen angesammelt habe, und das ist doch, verzeihen Sie mir das harte Wort, schade. Mit melancholischem Gruß, Ihr sehr ergebener Karl von den Steinen.«24 Die Beharrlichkeit des Forschers führt dann doch zum Erfolg. Die einvernehmliche Fürsprache zweier Entscheidungsträger der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, Emil du Bois-Reymond und Rudolf Virchow, sowie die Carl-Ritter-Stiftung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin retten das Unternehmen durch Zusage von siebentausend Mark.
Eine Karriere nimmt Fahrt auf Das winterliche Berlin verabschiedet Karl von den Steinen im Januar 1887. Der Arzt, Anthropologe und Mythenforscher Dr. med. Paul Ehrenreich (1855–1914), Berlin, der auch fotografiert, Dr. phil. Peter Vogel (1856–1915), Mathematiker am Königlichen Kadettenkorps in München, sowie der zeichnende Vetter Wilhelm von den Steinen, Karls bewährter Begleiter für strapaziöse Abenteuer, vervollständigen das 31
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Forscherquartett. Rio de Janeiro wird Ende Februar erreicht. Wegen grassierender Cholera in Argentinien verzichtet die Forschercrew zunächst auf eine Weiterreise. Vor Ort führen sie kleinere mineralische Untersuchungen durch und pflegen die traditionelle südamerikanische Gastfreundschaft. Der brasilianische Monarch und leidenschaftliche Förderer der deutschen Völkerkunde sowie kommerzielle Unternehmen begleiten das Expeditionsvorhaben wiederum mit großem Wohlwollen und spenden reichlich Proviant. Die Zahl weiterer Begleiter wird erheblich reduziert und professionalisiert: Zwei Offiziere, vier Soldaten, zwei Kameraden deutscher Abstammung, ein Koch und der Bakairi-Indianer Antonio, Dolmetscher und treuer Gefährte, komplettieren das Expeditionskorps. Im Juli desselben Jahres befindet sich der Trupp in Cuiaba, dem wiederum gewählten Ausgangsstandort. Die hier gegen teures Geld erworbenen achtzehn Maultiere und zwei Pferde transportieren Nahrungsmittel, Tauschartikel und wissenschaftliche Apparate sowie eine umfangreiche Fotoausrüstung. Neben Solinger Metallwaren, also Messer, Äxte, Nägel und Macheten, werden 75 Kilo bunte Glasperlen, Knöpfe, Karnevalsorden und diverser Flitterkram sowie Kuhketten zur Ausschmückung der Häuptlinge für den Tauschhandel mitgenommen. In übler Erinnerung an die während des ersten Aufenthaltes erlittene schwere Malaria von den Steinens ist medizinische Prophylaxe gefragt. Täglich vorbeugend eingenommene Arsenikpillen und Chinin versprechen Schutz beziehungsweise milden Krankheitsverlauf des Tropenfiebers. Karbolsäure, Ammoniak, Nikotin und weitere Medizinprodukte ergänzen die Urwaldapotheke. Sticht ein Skorpion zu, erfolgt nach ärztlichem Rat nicht nur äußerliche Karbolsäure-Ammoniak-Behandlung, sondern zugleich die innere Prophylaxe mit »Eckauer Doppelkümmel« – wobei sich auch die Gesunden der »wohltuenden« Wirkung rühmen.25 Solchermaßen werden körper
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7 »Die Kameraden«,1887, v.l.n.r.:Manoel, Carlos, Peter, Joao Pedro, Raymundo, unten: Columna, Satyro.
liche Beschwerden in Verbindung mit erhofftem ethnographischem Erfolg erträglich. Fünf bis sechs Stunden am Tage marschiert die originelle Karawane, hier tropa genannt. Große Buschmesser (Macheten) schlagen einen Pfad durch den weglosen Dschungel. »Unser Zug sah wohl nicht gerade elegant aus, er hatte aber etwas Flottes und Originelles an sich«, hält von den Steinen im Reisebericht fest. »Perrot [sc. Leutnant] zu Pferde, ritt im behäbigen Schritt auf dem alten Schimmel mit langem Schweif und langer Mähne […] voraus; nebenher schritt barfuss der Küchenjunge Manoel, stolz das Gewehr eines der Herren auf der Schulter, und in der Hand oder am Gewehr oder auf dem Kopf den großen, blau emaillierten Kessel. Es folgten oder folgten häufig auch nicht die Maultiere, eines hinter dem anderen, und wir und die Leute dazwischen verteilt, zumeist jeder für sich allein vorwärts strebend, aber immer in Sichtweite. Über die hoch aufgestapelte Last der Tiere, einem Kutschendach ähnlich, war eine steife Ochsenhaut gespannt […].«26 Das Nachtlager 33
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besteht aus festgezurrten Hängematten, gespannten Moskitonetzen und aufgehängtem, für Termiten unerreichbarem Reiseproviant. Jene erstandenen Maultiere erweisen sich indes als recht undiszipliniert und bereiten dem Expeditionstrupp erhebliches Missvergnügen. Sie rennen mit ihrer hohen Last gegen Bäume und Äste an, so dass sämtliches Gepäck sich auf dem Boden wieder findet. Auf diese Weise erleichtert, schlagen sie sich dann in die Büsche. Nur mühsam gelingt es mit der Zeit, eine bessere Ordnung zu halten. Während des Nachtlagers laufen die Tiere frei umher, sofern keine Talmulde sie an ihrem Ort bindet. Am Morgen werden sie nach oftmals stundenlanger Suche wieder eingefangen. Trotz umsichtiger Expeditionsplanung kommt die Truppe allmorgendlich in Zeitnot: das Anschirren und Beladen nimmt die wichtigsten Stunden der ›kühlen‹ Tageszeit fast ganz in Anspruch. Das Fehlen tüchtiger Eseltreiber und Pfadfinder wird mehr als einmal schmerzlich beklagt. Daher sucht von den Steinen im Unterschied zur ersten Expedition die Fortsetzung der Reise auf einem Quellarm des Xingu: dem Kulisehu.
Leben unter Indianern Stoßen sie während der Flussfahrten auf Indianer oder erreicht die Equipe eine indianische Siedlung zu Fuß, versucht von den Steinen, wie drei Jahre zuvor, umsichtig Kontakt aufzunehmen, Vertrauen herzustellen und die Eingeborenen für sich zu gewinnen. Damit öffnet der Forscher die Tür zum Erfolg. Auf dem Weg dorthin lauert reichlich Ungewissheit zwischen Gelingen und Misslingen des Tauschhandels. Denn Fremdheit löst Bedrohung, Angst, Flucht aus. Je kleiner die Zahl der Begleiter, desto geringer die Furcht und das Misstrauen der Indianer, erinnert sich der Forscher im Rückblick auf die erste Expedition. Jedoch eine nicht ernst zu nehmende, wehrlose Zwei-Mann-Expedition, wie sie zum Beispiel der Hamburger Jurist und Völkerkundler Max Schmidt (1874–1950) in Brasilien im Jahre 34
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8 Reiseroute der zweiten Xingu-Expedition, 1887/88.
1900 bis 1901 durchführt, verhindert auf Grund der Minderzahl den erfolgreichen Umgang mit Indianern auf Augenhöhe. Erscheint indes eine zu große Zahl von Fremden, flüchten Frauen mit ihren Kindern 35
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in den Wald, die Männer verharren verlegen in Distanz. Daher entschließt sich von den Steinen, in einer Bakairi-Siedlung allein zu weilen. Er nennt es seine »Bakairi-Idylle«, in der er sich eine Woche lang als Gast unter Freunden vorzüglich behandelt und gut aufgehoben fühlt. Heiter, friedfertig, sympathisch und zutraulich seien die Gastgeber untereinander und mit ihm umgegangen. »Unser gutes Einvernehmen blieb bis zur letzten Stunde dasselbe. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich am liebsten die ganze Regenzeit bei ihnen zugebracht […]. Die Alten waren klug und sorglich, die Jungen kräftig und behänd, die Frauen fleißig und häuslich.«27 Als seine Begleiter später nachrücken, verliert sich die natürliche Unbefangenheit, mit der man miteinander Gemeinschaft pflegte. In der Regel entsteht zwischen den Forschern und der indianischen Bevölkerung eine freundschaftliche Wechselbeziehung der begrenzten Möglichkeiten: Werden die Eingeborenen von den Steinen und seine Begleiter akzeptieren, auf seine Tauschabsichten und Fragen eingehen? Nicht selten erwirken optischer und psychologischer Druck das Entree: »Aufgrund ihrer numerischen Stärke und ihrer waffentechnischen Ausrüstung ergab sich […] für die Forscher die Möglichkeit, die Indianer zur Gastfreundschaft zu nötigen, ohne dass der damit verbundene Zwang offen demonstriert werden musste.«28 Die Wissenschaftler bedienen sich fallweise der Strategie furchterregender Schussvorstellungen, die das respekteinflößende Szenarium begleiten. In der Folge signalisieren gegenseitige Tauschangebote wohlwollenden, jedoch alternativlosen Umgang. Ängstliches, abweisendes Verhalten der Waldmenschen bedarf fortwährend erhöhter Aufmerksamkeit der Gefahreneinschätzung und vor allem des Dolmetschers Antonio. Beobachtend nehmen die Vettern von den Steinen und Paul Ehrenreich am Alltag des Dorflebens teil. Sie begleiten morgens die Männer zum Fischfang oder auf die Jagd. Führt ihr Weg in den Dschungel, zeigen die Indianer der Jagdgesellschaft die Richtung. Auf dem Rückweg, so der Indianer List, sollten die Forscher voraus gehen. Ein über 36
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das andere Mal nehmen sie die falsche Abzweigung und führen die Gruppe ins undurchdringliche Dickicht, was die Indianer mit sichtlicher (Schaden-) Freude quittieren. Hier sind sie die Herren und stolz auf ihre Überlegenheit. Die Frauen bleiben derweil im Lager, sammeln Früchte, Knollen und Brennholz. Während der Mittagshitze um 40 Grad Celsius wird es still. Nur das leichte, beständige Summen der Insekten stört die Idylle. Männer, Frauen und Kinder dösen oder schlafen; andere zupfen sich die ungeliebten Körperhaare aus oder entlausen sich gegenseitig. Von den Steinen, des Portugiesischen mächtig, sucht immerzu das Gespräch mit den Eingeborenen. Aber die Verständigung bereitet, wie schon auf der ersten Expedition, erhebliche Not. Es sei verflucht schwer, mit »diesen Kerls zu conversiren«, hält er fest. Denn »jeder Stamm besitzt seine eigene, von denen der anderen verschiedene Sprache. Eine Verständigung durch die Lingoa geral […] war unmöglich. Der Verkehr durch Zeichen bot keine Schwierigkeit« – nur sei das Antworten erheblich leichter als das Fragen.29 Dennoch: Er nimmt sich Zeit und immer wieder neue Anläufe zu verstehendem Lernen, um in fremdes Denken und Leben einzudringen. Sie bleiben jeweils einige Tage in einem Dorf, erstehen Ethnographika, notieren Vokabeln, lassen Erwachsene zeichnen und rechnen, teilen die indianische Freude an Fest und Feier, nehmen Körpermessungen an Männern, Frauen und Kindern vor und fotografieren die Bewohner. So leicht wie sich die Darstellung der Prozedur liest, so schwer ist die Durchführung. Paul Ehrenreich, der die anthropologische Aufgabe übernimmt, hält fest: »Messungen mussten in der Regel zuerst an Greisen vorgenommen werden, welche diese Operationen für ein Zaubermittel gegen ihre vielen kleinen Leiden, chronischen Katarrh und dergleichen, betrachteten. Allmählich wagten sich auch die Anderen heran […]. So brachte mir beispielsweise ein alter Nahuqua nach beendigter Messung mit freundlichem Grinsen das Maß seines Penis, welches er 37
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mit einem Strohhalm an sich selbst abgenommen hatte.« 30 Jüngeren Frauen und Männern missfällt die für sie unbekannte Körperberührung eines Fremden. Abweisend und zitternd am ganzen Körper, wie das Kind beim Impfarzt, ertragen sie die Prozedur, zumal ihnen weder Absicht noch Ziel dieser ärztlichen Praxis vermittelt werden kann. »Es war ein Macht- und kein Vertrauensverhältnis, das in diesen Fällen die Erhebung der Forschungsdaten ermöglichte. Der erhoffte ›Fortschritt der Wissenschaft‹ wurde als höherer Wert gehandelt als das Empfinden der untersuchten Menschen.«31 Die Fragen von Nähe und Distanz im Umgang mit den Dschungelbewohnern stellen die Forscher mehrmals täglich vor komplexe Aufgaben. Auf Schritt und Tritt stolpern sie über Sprachprobleme: Die Brüder beispielsweise hatten bei allen Indianerstämmen verschiedene Bezeichnungen. »Der jüngere Bruder stand auf der gleichen Stufe mit dem Vetter und hatte mit ihm den Namen gemeinsam. Die Bakairi nannten mich älteren Bruder, später, im dritten Dorf, auch Großvater, die Mehinaku nannten mich Onkel (also Mutterbruder). Meine Reisegefährten hießen stets meine jüngeren Brüder oder Vettern, und wurden auch von den Indianern selbst so angeredet.«32 Für den durchaus heiteren und vertraulichen Charakter der ver schiedenen Begegnungen mit den Eingeborenen steht folgende komischlustige Begebenheit: Die Männer (Frauen ist es untersagt) führen zur Freude ihrer Gäste in abendlicher Lagunenlandschaft bei Lagerfeuer und Tabaksduft einige Tänzchen auf: Synchron kreisen die Hüften im dumpfen Trommelrhythmus, Arme wirbeln durch die Luft in der drückenden Tropenschwüle. Darauf erwarten sie von Karl von den Steinen und seinen Gefährten, dass auch sie etwas Originelles von ihrer Herkunft beitragen sollten. Mit Gesten und Lautmalerei, die nicht selten zu Heiterkeitsausbrüchen führen, erzählt der Forscher ihnen von Haustieren und singt, obgleich unbegabt, Studentenlieder: »Gaudeamus igitur… Besonders amüsiert sind die Indianer, wenn die Forschergruppe dazu rhythmisch auf die Schenkel klopft, was sie mit großer Freude nachah38
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9 Demonstration einer Vogelpfeife bei den Mehinaku-Indianern.
men und bei jeder erneuten Begegnung wiederholen – Schenkelklopfen am Xingu! Jedoch haben Heiterkeit und spaßiger Umgang Grenzen. Die Forscher erreichen eine Siedlung. Freundlicher Empfang signalisiert: hier sind Tauschgeschäfte möglich. Am nächsten Tag bemerkt der Forscher, dass ihm über Nacht persönliche Gegenstände entwendet worden waren. Als die lautstarke Zurechtweisung der Dorfbewohner in Gegenwart des Häuptlings durch Vetter Wilhelm keine Wirkung zeigt, sieht Karl sich genötigt, »eine Theaterscene aufzuführen, um mich in Respect zu setzen. Ich holte den alten Häuptling aus seinem Haus hervor, schleppte ihn am Handgelenk zum Flötenhaus, erklärte ihm drinnen pathetisch die Missetat und schoss, da der Gute zu viele Entschuldigungen machte, plötzlich mit meinem Revolver gegen den Hauptpfosten des inneren Hauses. Die Wirkung war zufriedenstellend.«33 Nach dieser Demonstration erhält er umgehend alles Diebesgut zurück. Derartige Szenen sind nicht singulär in den Entdeckungsgeschichten fremder Völker. Zu Beginn der Erstbegegnung bestimmen Reser39
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viertheit, Ehrlichkeit und Offenheit auf beiden Seiten die Tauschgeschäfte. Nach und nach schlägt der Handel um in unredliches Feilschen und betrügerisches Verhalten – wie Menschen sich doch gleichen in den Zivilisationen und Kulturen dieser Welt! Ergreifend schildert Georg Forster, jener bekannte Reiseessayist James Cooks während der »Reise um die Welt« (1772–1775), wie schnell Konflikte mit tödlichem Ende jede Sozialität zerstören. Auf Polynesien weilend, wird nach zwei Warnschüssen ein Eingeborener erschossen. In betrügerischer Absicht hatte er nicht nur die im Tausch versprochenen Brotfrüchte unterschlagen, sondern auch sich der Eisenstange bemächtigt, die Cooks Schiff mit dem Landesteg verband: »Ein Offizier, der in diesem Augenblick aufs Verdeck kam, ward über die Verwegenheit des Indianers so aufgebracht, dass er nach einem Gewehre griff und den Unglücklichen auf der Stelle tot schoss […]. Es war allerdings sehr zu bedauern«, schreibt Forster, »dass der unglückliche Jähzorn eines unserer Mitreisenden […] dem Indianer unbilliger Weise das Leben kostete.« Zu Recht sei den Entdeckern fremder Welten vorgehalten worden, dass sie die Fremden nicht als »ihre Brüder, sondern als unvernünftige Tiere« behandelt hätten. Der »gesittete Europäer« trage »so viel Menschenliebe im Munde und so wenig im Herzen. Wahrlich, eine demütigende Beschämung.«34 Zum stets notwendigen Tauschhandel, meint Karl von den Steinen, fehle es in aller Regel an der Einschätzung des Wertes. Indianer hängen an ihrem Eigentum, weil er ihnen wert und teuer ist. Schnell hergestellter Tanzschmuck wie Masken oder Palmstrohmäntel werden im Handumdrehen erstanden. Andere kultische und rituelle Gegenstände erschweren das Loslassen: Haarspangen, Schnallen, Muschelketten oder Diademe aus Raubtierzähnen gelten als quasi ›unverkäuflich‹. Darunter befinden sich ›Erbstücke‹, die an verstorbene Verwandte erinnern. So geschieht es dann, dass die Forscher bei den verschiedenen Transaktionen mehr Waren abgeben als sie im Gegenzug erhalten, also ein schlechtes Geschäft machen. Zum anderen umschmeicheln die Tauschgegenstände der Besucher (Glaskugeln, Metallketten, Messer, 40
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Ordensschmuck oder Spiegel und dergleichen) die Waldbewohner derart, dass ihr Anblick eine nicht zu stillende Besitzgier auslöst. Das Glitzern und Glänzen, Funkeln und Spiegeln der sonnenbestrahlten Zivilisationspretiosen zieht auch die Ältesten aus ihren Hütten. Tauschen, handeln und feilschen bleibt ein schwer kalkulierbarer Markt. Er weckt zwar Interesse zwischen Indianern und Forschern, denn beide Parteien wollen den Besitzwechsel. Jedoch der jeweilige Wert des Tauschobjekts bleibt entschieden unklar. Auch Diebereien belasten den Tauschvorgang. Unter den Mehinaku weilend, gelingt ihnen wider erwarten ein zufriedenstellender Handel: »Von den Masken in dem Flötenhause wurden uns alle, die wir auswählten, ohne Anstand überlassen«, so dass sie eine »hübsche ethnologische Sammlung« 35 ihr Eigen nennen können. Bunt gefederte Tanzmasken, in denen Tiere pantomimisch nachgestellt werden, sind aber in den Augen der Eingegorenen nicht besonders wertvoll. Nach dem Fest werden sie oft achtlos beiseite geworfen. Die Forscher können sich ihrer frei bedienen. Überhaupt sind die Handwerksprodukte im Allgemeinen von geringer Lebensdauer. Hochstehende, industrialisierte Kulturen legen Wert darauf, möglichst langlebige und jeweils verbesserte Waren herzustellen, die Dschungelbewohner ziehen es vor, täglich die gleichen Gebrauchsgüter zu fertigen. Was sich als bewährt erwiesen hat, bedarf keiner Verbesserung. Ist eine Gesellschaft mit ihrer Manufaktur zufrieden, fällt es schwer, ihr zu widersprechen! Läuft der Tauschhandel glatt, überreicht der Ankommende einen Gegenstand, den kleineren beim Empfang, den größeren beim Abschied. Sodann erhält er die gewünschte Gegengabe der Eingeborenenmanufaktur. Um die Transaktionen fortzusetzen, offeriert der Gastgeber ›Speise und Trank‹ und erwartet die entsprechende Gegenleistung in Ware. Der Austausch von Gastgeschenken darf nicht zu der Meinung verleiten, die Eingeborenen seien immerzu gastfreundlich. Keineswegs fühlt sich der Indianer durch Besuche besonders geehrt, verschwenderische Bewirtung entfällt. Gewinnt der Gastgeber den 41
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Eindruck, dass der Gast nur bleibt, um es sich gut gehen zu lassen, wird er offenherzig zum Verlassen des Dorfes gebeten. Ein mehrtägiger Besuch weckt regelmäßig indianisches Misstrauen: Lassen sich die Fremden auf Dauer in dieser Region nieder, um sie gar zu okkupieren, oder bleibt es bei temporären Aufenthalten? Dass sie primär aus völkerkundlichen Motiven reisen und forschen, überzeugt die Eingeborenen nur selten. Insgesamt aber erleben die Forscher neugierige, aufgeweckte und durchgängig gutmütige Naturmenschen, wobei die Indianer aus dem Stamm der Bakairi sich als besonders herzlich und umgänglich erweisen. Die Regenzeit des Herbstes 1887 führt zum Abbruch der Reise und Rückkehr nach Cuyaba, dem Ausgangsort, sodann nach Rio de Janeiro. Im Spätsommer des Jahres 1888 erreichen sie Deutschland. Dennoch haben die Forscher 1.235 indianische Artefakte, farbige, mystische, expressive Objekte, die in ihrer Originalität indianische Kultur überzeugend widerspiegeln, auf dem Tauschwege eingesammelt und nach Berlin geschickt.
Indianer – kulturlose Barbaren? Auch die zweite Expedition wird in Berlin als großer Erfolg gefeiert. Für Karl von den Steinen bedeutet sie den wissenschaftlichen Durchbruch. Die philosophische Fakultät der Universität Halle verleiht ihm den Ehrendoktortitel. Die Berliner Gesellschaft für Erdkunde bestellt ihn zu ihrem Zweiten Vorsitzenden. Und das Museum für Völkerkunde erfährt einen mächtigen Zuwachs an Beständen durch den Ankauf der Sammlung der Expedition, die insgesamt nun 1.966 Exponate umfasst. Warum, so ist zu fragen, schreibt man den gesammelten Ethnographika einer derart große Bedeutung zu? Die Ärzte, Naturforscher und Völkerkundler, allen voran Adolf Bastian und Rudolf Virchow, sind überzeugt, dass die Gedanken- und Empfindungswelt der Eingeborenenstämme in die von ihnen gefertigten Gegenstände, Geräte 42
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und Gebrauchsgüter eingegangen seien und dadurch ihre kulturellen Leistungen rekonstruierbar würden. Fasziniert von dieser ethnologischen Prämisse, veröffentlicht Karl von den Steinen im Jahre 1894 seine umfangreichen Forschungsergebnisse in »Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens«. Mit der Detailgenauigkeit niederländischer Feinmalerei des 17. Jahrhunderts zeichnet der Autor Bilder des Alltags unter den Urwaldmenschen. Fachgelehrte heben die präzise Beobachtungsgabe sowie den Detailreichtum ethnographischer Angaben hervor. »Von den Frauen habe ich erwähnt« – beginnt der Ethnologe die Beschreibung der zwar nackten, dennoch »bekleideten« indianischen Frau – »dass alle das Schamhaar entfernen […]. Die Trumaifrauen trugen eine Binde aus weichem, grau-weißlichem Bast; sie war zu einem Stricke gedreht, so dass eine Verhüllung in den allerbescheidensten Grenzen vorhanden war und sicherlich nicht beabsichtigt sein konnte, da man den Streifen nur hätte breiter zu nehmen brauchen. Sie rollten einen langen, schmal zusammengefalteten Baststreifen an einem Ende ein wenig auf, hielten dieses Röllchen mit der einen Hand gegen den unteren Winkel des Schambergs angedrückt, drehten mit der anderen Hand den freien Streifen einige Male um sich selbst und führten ihn zwischen den Beinen nach hinten hinauf, kamen wieder nach vorn zu dem Röllchen, drückten es mit dem quer darüberweg gespannten Streifen an und wandten sich über die andere Hüfte zum Kreuz zurück, wo sie das freie Ende einschlugen und festbanden.«36 Bekanntlich sind große Forschungsreisende nicht nur große Sammler. Fast alle haben auch Tagebücher und Feldnotizen verfasst. In der Regel handelt es sich um die Wiedergabe eigener Erlebnisse und Erfahrungen, also der deskriptiven alltagsethnographischen Praxis. Im Idealfall tritt der Erzähler als objektiver Berichterstatter auf. Er enthält sich persönlicher Wertungen und moralischer Urteile. Demgegenüber steht die sogenannte inside story: Pannen, Krankheiten, Irritationen, Unglücke, Misserfolge, aber auch Erfolge und Freude gelungenen Miteinanders innerhalb der Forscherequipe. 43
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Karl von den Steinens herausragende Bedeutung für die Ethnologie – darauf verweist die Berliner Ethnologin Anita Hermannstädter – besteht nicht nur in der Pionierleistung zweier Brasilienexpeditionen und deren wissenschaftlicher Auswertung, sondern vor allem in einer »methodische[n] Umorientierung der Ethnologie«37, wozu er ein Programm der überprüfbaren Empirie entwickelt. Die geistige und materielle Kulturleistung der schriftlosen Naturvölker sollte den Ausgangspunkt der ethnographischen Forschung bilden. Ethnologie, so von den Steinens Postulat, bedarf ausnahmslos der Feldforschung am jeweiligen Ort des Geschehens. Damit leistet er die Vorarbeit als Grundlage künftiger Ethnologie. Mit Sympathie und Distanz gleichermaßen nähert er sich seinem Forschungsgegenstand: dem Menschen und seinen kulturellen Errungenschaften in urgesellschaftlichen Verhältnissen. Er beobachtet und registriert nicht nur, sondern nimmt teil, lebt mit den Eingeborenen zusammen, analysiert und beschreibt detailreich ihr soziales Leben und studiert ihre Sprachen. Empathie und rationales Interesse führen die Feder im Kulturvergleich und evolutionären wissenschaftlichen Ordnen. Dem Reden und Schreiben muss das Demonstrieren folgen, vornehmlich dann, wenn es um das erstmals Gezeigte geht. Diese ethnologische Einsicht belegt von den Steinen eindrücklich in seinen Monographien. Anders gewendet: Zur ethnographischen Faktenund Datenerhebung gehört die visuelle Dokumentation: zunächst das Zeichnen, sodann, während der zweiten Xingu-Expedition, die Fotografie. Die bildliche Wiedergabe, ein Gütekriterium der ethnographischen Arbeitsweise, konkretisiert die erhobenen Fakten und stützt die Beweisführung. Im Ergebnis korrigiert der Forscher das gängige, äußerst negative Bild der Indianer. Sie sind weder verwahrloste Wilde noch kulturlose Barbaren, weder sittenlos noch unmoralisch, weder indolent noch dekadent, sondern Menschen von größter Einfachheit. Arbeitsfleiß, körperliche Ausdauer und monogames Leben zeichnen diese auf niedriger Kulturstufe lebenden Naturmenschen aus. 44
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Dass der Umgang mit Indianern entschiedenes Handeln in entscheidenden Situationen verlangt, ist dem Feldforscher selbstverständlich und liegt im Wesen der Forschungsaufträge, verwertbare Ergebnisse nach Hause zu bringen. Zupackend und subtil zugleich, bleibt er ein vorurteilsfreier, einfühlsamer und neugierig-liebenswerter Indianerfreund. Wird hier sozusagen der unverdorbene, noble und gute Wilde gepriesen, der Naturmensch Rousseauscher Provenienz? Sicherlich ist von den Steinens Indianerbild nicht frei von Idealisierung und Verklärung, was jener freundschaftliche, ja genussvolle Aufenthalt unter den Indianern des Bakairi-Stammes belegt. Zum anderen bleibt sein selbstsicheres Auftreten dem Fremden gegenüber nicht verborgen. Seine faktische Überlegenheit in materieller und geistiger Ausrüstung ist nicht zu leugnen, ironische Bemerkungen eingeschlossen. Indes sollten wir berücksichtigen, dass alle Begegnung mit den Eingeborenen am Ergebnis orientiert war, wobei der Weg von Distanz und Nähe zu den fremden Menschen in jeder Kontaktaufnahme erneut ausgelotet werden musste. Insgesamt zeigt sich eine situationsbedingte Haltung des Feldforschers im Umgang mit den Indianern. Im Ergebnis sind es, wie später gezeigt werden wird, ethnographische Momentaufnahmen. Diese Einschätzung spiegelt die heutige Sicht der ethnologischen Forschung unter den Eingeborenen am Rio Xingu wider. Damals würdigte gelehrte Ethnologie die Urwaldstudien Karl von den Steinens uneingeschränkt und verehrte ihn in ihren fachhistorischen Beiträgen. Karl von den Steinen hatte unbekannte Indianerstämme entdeckt – nun entdeckte die Völkerkunde ihn.
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Materielle und geistige Originalitäten der Waldmenschen Das öffentliche Interesse an Menschen in fremden Kulturen nimmt im Zuge der globalen Ausdehnung des Handels im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kräftig zu. »Im Bewusstsein der gesellschaftlichen Umbruchsituation, die nicht nur einen technischen Fortschritt, sondern auch den Verlust von Traditionen und lokaler Originalität mit sich brachte, stieg das Bedürfnis, traditionell lebende Bevölkerungsgruppen […] zu dokumentieren, bevor sie in den Sog der Moderne gerieten.«38 Initiator, Mentor und Hauptvertreter der Idee, scheinbar primitive Urgesellschaften vor dem Aussterben ihrer ethnischen und kulturellen Originalität umgehend aufzusuchen, war Adolf Bastian. Vor dem Hintergrund eigener Erkenntnisse während seiner Forschungsaufenthalte bei den Eingeborenen im Herzen Brasiliens greift Karl von den Steinen auf die Erfahrungen seines Entdeckers und Mentors Adolf Bastian zurück. Er hatte, wie oben ausgeführt, den jungen Arzt während einer Begegnung auf Hawaii im Jahre 1880 für die ethnologische Forschung gewonnen. Beide glauben, in der Begegnung mit vorgeschichtlichen, schriftlosen Naturvölkern »die geistige Grundausstattung der allgemeinen Menschheit aufspüren und daraus die Entstehung von Kultur erklären zu können.«39 Sofern die physische Einheit aller Menschen vorausgesetzt wird, verlangt die Frage nach ihren vielfältigen Unterschieden eine Antwort. Der Sache nach geht es um physische Gemeinsamkeit in kultureller Verschiedenheit. Bastian und von den Steinen wissen, dass die heute bestehenden Gesellschaften das Ergebnis Jahrmillionen dauernder evolutionärer Veränderungen sind. Im Kern jedoch, so ihre Annahme, gehen alle menschlichen Kulturen auf eine conditio humana zurück, deren Merkmale in den Entwicklungsstadien der Menschheit in verschiedenen Regionen der Erde nachweisbar 46
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sind. Wo immer Ideenkomplexe und Fertigkeiten, also von Menschen Gedachtes und Geschaffenes, vorgefunden wird, sprechen wir von Kultur in einem grundsätzlichen Sinn. Der einleuchtende Schluss: Wo Menschen leben, ist Kultur! Diese Überzeugungen bestätigen Bastians Feldforschungserkennt nisse, die unter dem Begriff »Elementargedanken«, aus denen »Völkergedanken« des menschlichen Geistes erwachsen, ethnologisch beschrieben werden. Was dem Botaniker die Zelle, dem Chemiker das Atom ist, das sind dem Ethnologen die Elementargedanken. Dabei handelt es sich »um ganz verblüffende Übereinstimmungen in Mythus, Kultus, Recht, Gebrauch und Sitte […], die bei entlegenen, geschichtlich und geographisch von einander ganz unabhängigen Stämmen beobachtet und auf einer Entwicklungsstufe (stehend) […] zu erklären seien«, hält von den Steinen in der Gedächtnisrede auf Adolf Bastian fest.40 Bastian führt den Elementargedanken zurück auf die physische Einheit des Menschengeschlechts. Von den Steinen schließt sich seinem Lehrer an und erweitert den Völkergedanken, indem er ihn nicht nur auf das einzelne Individuum, sondern auf den Menschen als Gesellschaftswesen richtet. Die Gemeinschaft kann nicht nur leichter ihr Überleben sichern, sondern auch soziale und ökonomische Einrichtungen betreiben, Glauben pflegen, Gebrauchsgegenstände fertigen und daher Freiraum für schöpferische Gedanken schaffen. Somit öffnet kollektives Leben Türen für die stete Fortentwicklung geistiger und materieller Kulturerzeugnisse. Der Völkergedanke ist das Naturvölker verbindende psychologische, soziale und kulturelle Element. Während des Zusammenlebens mit der indigenen Bevölkerung am Rio Xingu wirft Karl von den Steinen einen Blick auf die Entstehungswahrscheinlichkeit des Menschengeschlechts und seines biologischsozialen Daseins als Menschen in der Natur, ihrer Flora und Fauna. Der Mensch als biologisches Wesen ist Teil der Natur. Mehr noch: Mensch und Natur sind im tropischen Urwald symbiotisch verbunden. Denn ausschließlich die Natur gibt das Werden, Gedeihen und Vergehen vor. 47
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Der Mensch sieht sich als Abbild der ihn umgebenden Natur, nicht umgekehrt. Als Spezies der Evolution tritt der Mensch aber nicht auf der Stelle, sondern organisiert und differenziert sein Leben und schafft somit Kultur. In diesem Sinne hat jede menschliche Gemeinschaft kulturelle Leistungen, wenn auch der einfachsten Art, hervorgebracht. Deshalb steht naturnahes und solchermaßen archaisches Leben nicht im Gegensatz zum Leben in (Hoch-) Kulturen. Ein jeweils anderes Verhältnis zur Natur in den Klimazonen der Erde sowie Anpassung an die Umwelt, Verbesserung der Ernährung, allmähliche Sesshaftigkeit, Handel und Migration erklären den Unterschied. Die Frage, wie es zur unermesslichen Vielfalt des Menschengeschlechts kommt, ist damit noch nicht beantwortet. Unter dem Eindruck der Erstbegegnung mit den Ureinwohnern Zentralbrasiliens, den »Steinzeitmenschen«, die als vorgeschichtliche Menschen schriftlos und wild leben, sucht der Ethnologe eine Antwort auf ihre Herkunft. Er will sie rekonstruieren und bis zu Frühformen sozialen Lebens vordringen. Der Weg zu den kulturellen Anfängen soll im Rückgriff auf so genannte primitive Gesellschaften führen. Die Xingu-Indianer scheinen ihm gut geeignet, sich an die Ursprünge der menschlichen Entwicklung heranzutasten. Er studiert vornehmlich ihre Sprachen, Mythen, Legenden und animistischen Glaubensvorstellungen. Als teilnehmender, erkennender und verstehender Beobachter agiert er in einem sozialen Umfeld, dessen Regeln ihm unbekannt sind. Daher ist er stets erneut mit unerwarteten Ereignissen konfrontiert. Sie führen indes nicht zur Zerrissenheit des europäischen Wissenschaftlers. Die eigene Kultur stuft er durchaus als überlegen ein; zugleich postuliert er die Offenheit und Akzeptanz indianischer Kulturen und ihre Werthaltigkeit. Am ehesten, hofft der Forscher, stellt Erfolg sich ein, wenn er mit den Eingeborenen in ihrem angestammten Milieu lebt: an ihren täglichen Verrichtungen teilnimmt, ihre Sprache, Sitten und Gebräuche studiert. Er geht explorativ vor, will Neues, Unerwartetes, vielleicht 48
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Irrationales kennen lernen. Der Fremde zieht ihn an. Dies verlangt Behutsamkeit im Umgang mit ihm. Zunächst sucht er, Unterschiede zu verstehen. Rücksichtnahme, also den anderen ohne Wertung und Urteil wirklich anders sein zu lassen, sowie empathisches Verhalten führen in der Folge zur Einsicht, die das eigene Kulturverständnis relativiert. Während des Zusammenlebens mit den Eingeborenen analysiert er den Alltag der Waldmenschen, sammelt mit Hilfe seiner Forscherkollegen fleißig anthropologische und ethnographische Fakten. Ihre Deutung führt ihn zu Erkenntnissen über deren materielle und geistige Welt. Als Arbeitsmethode seines ethnographischen Programms wählt er die vergleichende Kulturgeschichte. Des Weiteren fragt er nach Entstehungsspuren sozialer Verhaltensweisen, intellektueller und manueller Grundfähigkeiten, die er in Begegnungen mit indigenen Stämmen zu eruieren gedenkt. Von der Ansicht zur Einsicht, von der Tatsache zur Interpretation, vom Gegenstand zur Theorie, kurzum: Vom Offensichtlichen auf dessen Gründe, so geht der Forscher methodisch vor. Dabei lässt er penible Umsicht walten, schreitet erst voran, wenn ihm der Unterschied zwischen Betrachten, Erkennen und Deuten völlig klar geworden ist und sich das Erscheinungsbild des Naturmenschen zum konzisen Bild ethnologischer Erkenntnis fügt. Ausgangspunkt bildet sein anthropologisch-medizinisches Interesse sowie seine psychiatrische Professionalität. Der menschlichen Entwicklungsgeschichte legt er evolutionäre Prozesse zugrunde. Denn im Vergleich mit der niedrigen kulturellen Entwicklungsstufe, etwa der Suya-Indianer, zieht von den Steinen den Schluss, dass »wir ein paar Jahrtausende klüger sind als ihr«41. In selbständigen Erfindungen und Organisationsweisen des Zusammenlebens an verschiedenen Orten der bekannten Welt sucht er nach Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen, Parallelen in der menschlichen Kulturentwicklung. Paul Ehrenreich, von den Steinens Forscherkollege und Begleiter der zweiten XinguExpedition, wählt den Begriff der Konvergenz. Er denkt dabei an Parallelen und Ähnlichkeiten, die nicht auf einen biologischen, materiellen 49
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und geistigen Ursprung allein zurückgeführt werden können. Eine wie auch immer geartete Beeinflussung oder Übernahme neuer Kulturelemente durch Wanderbewegungen (Migrationen) sind zwar nicht definitiv auszuschließen, aber wegen immenser geographischer Distanzen schwer vorstellbar. Auf ethnologischem Felde der Wahrscheinlichkeiten gibt es keine hypothesenfreien Analogieschlüsse. In dieser Hinsicht stehen von den Steinen und Ehrenreich treu an der Seite Adolf Bastians. Karl von den Steinen setzt demnach voraus, dass evolutionäre Vorgänge kulturelle Prozesse befördern – sonst wären wir nicht ein paar Jahrtausende klüger als die Urwaldmenschen im tropischen Brasilien. Der kulturelle Fortschritt dieses Klüger-Seins liegt in Erhellung, Herausbildung und Vervollkommnung höherer Komplexität: der Zivilisierung, Sozialisierung und Moralisierung des Menschen. Indes erkennt der Gelehrte bei der Gattung Homo keinen Automatismus der Höherentwicklung, keine lineare Bewegung, aber eine fortschreitende Differenzierung der menschlichen Kultur. Folglich verläuft kulturelle Ausbreitung nicht zielgerichtet; sie schlägt jedoch Richtungen zu komplexerem Dasein ein. Gewiss, so dürfen wir folgern, handelt es sich hier um eine optimistische Prämisse, wenn der Ethnograph behauptet, die menschliche Natur sei steten Entwicklungen unterworfen. Das heißt doch: Die Varietäten menschlichen Daseins sind weder endgültig festgelegt noch entschieden. Was ist der Mensch? Woher kommt er? Alle bisherigen Erklärungsversuche befriedigen nur halbwegs – aber man entkommt ihnen nicht. Unter der naturnah und archaisch lebenden Urwaldgesellschaft am Amazonas sucht der Feldforscher eine Antwort. Er folgt damit einem dringenden Anliegen der zeitgenössischen Völkerkundler, zu den Anfängen der menschlichen Entwicklung vorzustoßen. Ursprung und Geschichte der Völker, Herkunft der Stämme? Fragen, die von den Steinen bewegen. Dazu gesellt sich die Suche nach der Wesensbestimmung des Menschen, die universale Geltung beansprucht. Was anthropologisch nicht erklärt wird, bleibt als undefinierte Wesens50
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aussage hängen und wird implizit dauerhaft mitgeschleppt. Wie seine forschenden Zeitgenossen stellt von den Steinen sich dem anthropologischen Diskurs. Auch hierin folgt er seinem Lehrer Bastian, der von einer gemeinsamen Abstammung des Menschengeschlechts ausgeht. Wie »farbenbunt und formverschieden« Menschen auf der »Völkertafel der Erde« sich ausnehmen mögen, sind doch die »Anthropologen der Gegenwart von der gemeinsamen Abstammung unseres Menschengeschlechts überzeugt.«42 Obgleich vielfache Unterscheidungsmerkmale des Menschen (großer, kleiner Körperwuchs, dunkle, helle, gelbe Haut, runde, ovale Gesichtsformen, blondes, schwarzes, glattes oder krauses Haar etc.) zunächst eine gemeinsame gattungsgeschichtliche Abstammung nicht nahe legen, haben andauernde Reduplikationen, genetische Veränderungen (Mutationen) stets komplexere Lebensformen sowie immer neue Anpassungen unter Einschluss klimatischer, umweltbedingter Faktoren eine »Gruppe von Urmenschen«, den heutigen Menschen (homo sapiens), hervorgebracht. Schaut hier Charles Darwin zum Fenster herein? »Es stimmen aber alle Rassen in so vielen unbedeutenden Details der Struktur und in so vielen geistigen Besonderheiten überein«, weiß Darwin, »dass sie nur durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform erklärt werden können; und eine so charakterisierte Stammform würde wahrscheinlich als Mensch bezeichnet werden müssen.«43 Auch in den Wortsprachen der Erde erkennt von den Steinen sprachliche Universalien. Überall setzen Wörter sich zusammen aus »Vokalen und Konsonanten, aus Lippen-, Zungen- und Gaumenlauten, so dass sie allgemein den Gedanken in Subjekt und Prädikat zerlegen, allgemein die Beziehung des Orts- und Zeitverhältnisses ausdrücken. Grundformen des Denkens und Artikulierens, des absichtsvollen Sprechens als Willensbekundung lassen in allen Sprachen ein »gemeinsames Fundament erahnen.«44 Vom Vokalisieren über die sprachliche Modulationsfähigkeit zu bedeutungsvollem Sprechen: dieser Dreischritt liegt jeder sprachlichen Entwicklung des Menschen zugrunde. Denkt 51
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der Forscher hier an eine universale Grammatik, in der sprachliche Variationen und Prinzipien nur geringfügig voneinander abweichen? Jedenfalls sucht er, ausgehend von den ihm bekannten Sprachen, nach Sprachanalogien bei den Xingu-Indianern. Darüber hinaus finden sich bei allen Menschen stimmliche Fähigkeiten: des Lachens, Weinens, aber auch des Schreiens, Brummens, Schnalzens und dergleichen als Ausdruck allgemeiner seelischer Zustände. Ferner erarbeitet der Feldforscher einen linguistischen Bestand verschiedener indianischer Sprachen zum Verständnis der Mythen, Sagen und Gebräuche. Denn Sprache, so nimmt er an, ist mit der psychischen Entwicklung des Menschen eng verbunden und gibt in einzigartiger Weise Auskunft über Entwicklung, Wissen und Weltanschauung der indianischen Waldvölker. Kurzum: Sprache sprechen bedeutet Kultur verstehen! Was die feldforschende Ethnologie der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Erkenntnis veröffentlicht, ist heute ethnologisches Allgemeingut. Die linguistische Feldforschung betrachtet er Zeit seines Lebens als den wichtigsten Komplex seines ethnologischen Wirkens. Das gilt sowohl für seine brasilianischen Feldforschungen als auch für den späteren Aufenthalt unter den Marquesanern der Südsee. Die von ihm durchgeführten vergleichenden Sprachforschungen sowie sein mehr oder weniger intensives Zusammenleben mit verschiedenen Indianerstämmen korrigiert das herkömmliche europäische Bild der indigenen Völker nachdrücklich. Paul Ehrenreich, sein forschender Begleiter, führt später aus, dass sie während ihrer Xingu-Expeditionen nicht nur prähistorische, sprachverschiedene Stämme entdeckt hätten, »sondern Vertreter der wichtigsten Völkergruppen Brasiliens«.45 Könnte es sein, fragt der Ethnologe, dass wir Kulturmenschen die Antwort nach unserer Herkunft bei den »Buschmännern, Papuas oder Botokuden« finden?46 Im Schrifttum des Ethnologen ist die Bestimmung des Menschen, seiner Wesensdefinition, nicht eindeutig auszumachen. Bestimmt er den Menschen, wie traditionelle Anthropologie, als »animal rationale«, 52
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(»vernunftbegabtes Tier«), wobei die von Aristoteles eingeführte Wesensbestimmung den Oberbegriff »animal« durch das exklusiv verstandene »rationale« definiert? Insofern verstünde sich der Mensch als absoluter Sonderfall des Tieres. Oder ist der Mensch das Lebewesen, das sich durch seine Ratio grundlegend von allen anderen Lebewesen unterscheidet? Menschen wissen von Tradition und Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie erinnern sich ihrer Entdeckungen und Erfindungen. Menschenaffen (Gorillas, Schimpansen, Orang-Utans) und andere, ›intelligente‹ Tiere (Krähenvögel) tradieren Gelerntes nicht. Sie fangen im Unterschied zum Menschen und seinem Denkvermögen immer wieder bei null an. Jede Innovation der tierischen Primatenwelt bleibt an ihren Schöpfer gebunden und bildet keine wachsende Tradition. Wahrscheinlich blickt von den Steinen in diese Richtung. Reicht das Schwellenmerkmal zwischen Mensch und Tier aus? Teilhard de Chardin (1881–1955), der bekannte Paläontologe, hat in der Folge ein trennschärferes Unterscheidungsmerkmal eingeführt, wenn er glaubt, den Tier-Mensch-Übergang am Ichbewusstsein festmachen zu können. Tiere, konstatiert er, könnten wohl »wissen«. Kommunikationsversuche mit rezenten Menschenaffen haben das inzwischen erwiesen. Aber nur der Mensch »weiß, dass er weiß«. Dieses »Ich weiß, dass ich weiß«, einschließlich der sokratischen Negativvariante: »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, nimmt Teilhard als Ausdruck exklusiven menschlichen Bewusstseins.47 Das eigentlich Menschliche am Menschen lässt sich ferner an seiner Sprachfähigkeit nachweisen. Nur die menschliche Sprache kann etwas aussagen über das, was nicht anwesend ist: Sie reflektiert historische Phänomene, religiöses Bewusstsein und prognostiziert Zukunft. Schließlich fragt der homo sapiens nach dem Sinn des Lebens – auch wenn er keine befriedigende Antwort findet. Das sagt noch nichts über den Ursprung des Lebens und die Entstehung des Menschen aus, jedoch einiges über seine Entwicklungsgeschichte. Die Frage, was den Menschen zum Menschen macht, sucht bis heute nach einer überzeugenden Antwort. 53
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Die wiederholte Feststellung des Ethnologen, indianisches Leben im tropischen Urwald Brasiliens sei dem der Steinzeitmenschen vergleichbar, lässt uns nach der Vergleichsebene fragen. Liegt die Steinzeit nur einige Jahrhunderte zurück? Zweifellos passen die Urwaldeinwohner in das Schema: Jäger, Fischer, Sammler. Sie kennen »keine Metalle, keine Hunde, keine berauschenden Getränke, keine Bananen.«48 Es sind prähistorische Menschen in einer Welt der Tiere und Pflanzen, schriftlos, geschichtslos. Nach ihrer Vergangenheit oder Zukunft fragen sie nicht. Sie gewinnen ihre Lebenserfahrungen im Umgang mit (wilden) Tieren. Ihre ›Weltanschauung‹ sehen sie in der Natur vorgebildet. Auf dem Waldpfad, im Kanu, in der nächtlichen Hängematte – jeden Laut, jede Regung, die aus dem Dschungel dringt, nehmen sie wahr. Sensibilität und Neugier sind elementar, grenzenlos, unüberbietbar. Ihr Jagdfieber schließt jede Gelegenheitsbeute ein. Vorratswirtschaft? Privateigentum? – sie passen nicht in ihre Wirklichkeit. Sie leben und handeln im Gleichmut des jeweiligen Heute. Von den Steinens Kulturvergleich stärkt die Erkenntnis, dass Steinzeitmenschen und Urwaldindianer entwicklungstypologisch kaum differieren. Hier wie da sind Steine bevorzugter Werkstoff, der, bearbeitet, Werkzeugcharakter erhält. Feinere Arbeiten werden durch den Einsatz von Knochen, Zähnen und Muscheln erledigt. Aber Steinzeitmenschen? Das sind die Urwald-Indianer schwerlich! Wir sollten dieser Erkenntnis nicht allzu viel Kredit geben. Denn jede historische Erkenntnis trägt die Farbe ihrer Zeit. Je länger der Ethnologe sich mit kulturanthropologischen Fragen auseinandersetzt, desto mehr verabschiedet er sich von diesem Begriff. In seiner umfangreichen Studie »Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens«, 1894, in der Erkenntnisse und Ergebnisse der zweiten Xingu-Expedition aufgearbeitet werden, erklärt er: »Wir können diese Menschen nur verstehen, wenn wir sie als Erzeugnis des Jägertums betrachten.«49 Um jedes Missverständnis auszuräumen, hält er die so genannte Steinzeitthese für »eine Torheit«, die sich durch häufiges Wiederholen verselbständigt 54
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habe. »Ich sage also lieber einfach, unsere Indianer kannten noch keine Metalle und waren in ihren Arbeitsmethoden zunächst auf Muscheln, Zähne und Holz angewiesen, schon weil sie besser geeignete Steine großenteils gar nicht hatten.«50 Prähistorische Menschen der Steinzeit will der Ethnologe lediglich als anthropologischen Hintergrund verstehen, wenn er sie mit der indigenen Waldbevölkerung Brasiliens vergleicht. Anders gewendet: Der Forscher betrachtet die Xingu-Indianer und andere Stämme in Analogie respektive Entsprechung ihrer Verhaltensweisen zu den frühen Menschen des Paläolithikums. Damit drängt sich die Frage nach der zeitlichen Einordnung auf. Im Quellengebiet des Xingu leben vermutlich vor dem 10. Jahrhundert verschiedene indigene Populationen, die von Nordwesten Mittelamerikas kommend, südliche Amazonasregionen besiedeln. Es entstehen flussnahe regionale Siedlungseinheiten unterschiedlicher Stämme. Während seiner Expeditionen erkennt Karl von den Steinen mittels Sprachvergleich und übereinstimmender Dialekte eine Verwandtschaft verschiedener Ethnien, etwa der Tupi und Karaiben, der Bakairi und Karaiben, so dass er urteilt: »Es sind die Karaiben, die die Hauptmasse der Bevölkerung des Schingu-Quellgebiets darstellen.«51 Ihre Herkunft bleibt ungewiss; es fehlt das missing link für die räumlichen Entfernungen. Insgesamt schätzt der Forscher die Zahl der Xingu-Indianer auf 3500.
Wo Menschen leben, ist Kultur Wann treten Jäger, Sammler und Fischer in den Gesichtskreis der Geschichte? Im Paläolithikum, der ältesten und längsten Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor ungefähr drei Millionen Jahren in Afrika ihren Anfang nimmt, betreten diese Urmenschen das Feld der menschlichen Geschichte. Im Laufe der nächsten zwei Millionen Jahre entwickeln sich die heute bekannten Australopithecinen. Nomadisch ist ihr Leben. Eine Art Sesshaftigkeit in saisonalen Lebensräumen wird man erst in 55
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der Folgezeit annehmen können. Klimatische Einflüsse, etwa Trockenperioden, ändern Vegetation und Nahrungsangebot. Unter Einsatz von Steinen wird pflanzliche Nahrung bearbeitet, das heißt ›vorgekaut‹. Der allmähliche Übergang vom nomadischen Leben zur Landnahme und definitiver Sesshaftigkeit ist bei den Wildstämmen im Regenwald Brasiliens weitgehend abgeschlossen. Viehzucht ist zwar unbekannt, Ackerbau wird nur insoweit betrieben, als die Sorge um das tägliche Brot sie zu bäuerlicher Kleinstwirtschaft zwingt. Indes: Nahrung wird bereits zubereitet; denn die Indianer beherrschen das Feuer und somit eine frühe Kulturtechnik. Braten, kochen und dünsten haben einen ernährungspraktischen Grund. Die über offenem Feuer gebratene Nahrung konserviert, was nach wenigen Tagen ungenießbar wäre: Fleisch und Fisch. Ferner werden die Waldmenschen erkannt haben, dass gedünstete, gekochte oder gebratene Speisen leichter und schneller zu verdauen sind als durch Kauen roher Pflanzen, Blätter und Wurzeln. Betrachten wir diese Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Evolution, so ist der Energieertrag gegarter Nahrung effektiver als der aus unbehandelter Kost. Fette, Kohlehydrate, Eiweiße steigern die menschliche Leistungsfähigkeit von Kopf, Hand und Fuß. Nicht zuletzt spenden Brat- und Kochtechniken mehr Zeit, sich anderen kreativen Tätigkeiten zu widmen. Kurzum: Die Fähigkeit des Kochens und Bratens macht den Menschen im Zuge seiner Evolution klüger! Die Erstbegegnung mit den Urwaldmenschen, so ist zu folgern, lässt den Forscher wenige tausend Jahre in die Vergangenheit blicken. Wer gleichsam einige zehntausend Jahre zurückblickt, wird nach archäologischem Wissensstand der 1890er Jahre den Anfang des biologisch modernen Menschen erkennen. Der damals begonnene Kreislauf von Selektion, Anpassung, Vermischung, Trennung, Isolation, Öffnung und Abschließung im Leben der frühen Menschen begründet deren Ausdifferenzierung und Varietät. Eine lineare gattungsgeschichtliche Entwicklung (Hominisation) ist zwar nicht zu erkennen. Jedoch bestimmen Mutationen und genetische Zufälle/Sprünge biologische 56
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Veränderungen und erzeugen neue Varietäten. Auch Stammes- und Rassenkriege müssen als Evolutionsfaktor beachtet werden. Ohne dass Karl von den Steinen sich auf den bekanntesten Evolutionisten seiner Zeit, Charles Darwin (1809–1882),52 unmittelbar bezieht, lag doch die Tatsache der evolutionären Entwicklung des Menschen in den Köpfen der zeitgenössischen Naturwissenschaftler und Künstler: Ernst Haeckel, Herbert Spencer, Thomas Henry Huxley, Alfred Kubin, Gustav Klimt, Max Klinger und andere. Freilich kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Ethnologe im Unterschied zu Darwin die Entstehung des Menschen, dessen Anfang mit einem Schöpfungsakt verbunden wird, im Rückgriff auf die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte als komplexen evolutionären Prozess versteht. Anthropologische Beobachtungen an Menschen vorgeschichtlicher Zeit, die weder Schrift noch Rad, weder Metall noch Kleidung kennen, fordern den Ethnologen zu gedanklicher Vertiefung und Präzisierung. Der Glaube an die Entwicklung des menschlichen Geistes sowie die Annahme, dass die psychische Ausstattung des Menschen überall vergleichbar sei, lässt von den Steinen nach dem Ursprung des Menschen fragen. Diese Frage führt ihn zu einem Urheber, einem Schöpfer, einem Gott. Die heilige Schrift der Juden und Christen beginnt mit den Worten: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (Genesis, 1,1). Das hebräische Verbum »bara« meint schaffen, ›schnitzen‹, ›schneiden‹. Die Schöpfungstätigkeit eines Urhebers drückt also ein Schaffen, Machen, Herstellen aus. Dazu hat er der Schöpfung eine Ordnung mitgegeben, die mit »gut« bezeichnet wird (Genesis, 1, 11). Die ersten Menschen und alles, was sie umgibt, schließt der Ethnologe, erscheinen als »Kunstwerk des göttlichen Urhebers.«53 Gott hat die Welt ins Dasein gerufen, sie ist sein Besitz, er ist ihr Herr – zöge man den Schöpfungsgedanken theologisch aus. Anders gewendet: Der Mensch ist wesentlich das Produkt der Evolution. Gott hat den Anstoß gegeben. Schöpfungslehre und evolutionäres Denken, modern formuliert, gehen eine Verbindung ein: jüdischer Schöpfungsakt wird glaubend 57
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(= metaphysisches Vertrauen) übernommen; die evolutionäre Entwicklungsgeschichte des Menschen erweist sich als wissenschaftlich belegt, Funktionsmängel und Restzweifel eingeschlossen – ansonsten müssten wir ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen.
Schwirrholz und Feuer Ein überzeugendes Beispiel gemeinsamer Grundgedanken der Völkergesellschaften bietet die Erfindung des so genannten Schwirrholzes: ein reich bemaltes ungefähr dreißig Zentimeter langes Brett, dessen Form an einen platt gedrückten Fisch erinnert. Wenn man es an eine Schnur bindet und durch Drehung hoch in die Luft schwingt, erzeugt es ein seltsames Brummen und Summen, dem eine geheimnisvolle Bedeutung zugeschrieben wird. Sowohl »bei den Zunis im nordamerikanischen Arizona, (als auch) bei den Kaffern in Afrika, bei den Australiern, bei den Neuseeländern […], überall ist es mysteriöser Kultusgegenstand.«54 Ausschließlich Männer schwingen das Schwirrholz beim Tanz. Wehe den Frauen, die das Schwirrholz zu Gesicht bekommen – sie würden sogleich sterben! Sobald das unverkennbare Brummen und Brausen des geschwungenen Holzes erklingt, schließen sich alle Hütteneingänge, hinter denen die Frauen sich verborgen halten. Dass die alten Griechen während ihrer Dionysosmysterien ebenso Schwirrhölzer schwangen, mag verblüffen, klärt sich aber auf, wenn man von einem vergleichbaren Entwicklungsstadium des Geistes der Völker sowie einer »gleich funktionierende(n) Gehirnorganisation«55 ausgeht. Niemand wird dem Gedanken verfallen, resümiert der Gelehrte, durch den Einsatz des Schwirrholzes Beziehungen zwischen den Hellenen, den Australiern und den Südamerikanern annehmen zu wollen, und doch könnten die Einzelheiten nicht auffallender übereinstimmen. Überall zeigt die Entwicklungsgeschichte des Menschen Analogien, Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen. Die Erfindung des Feuers ist ein herausragendes Beispiel. Wir haben es nicht mit der Erfindung eines 58
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Einzelnen, eines Stammes oder einer Volksgruppe zu tun, sondern wie bei der Erfindung des Schwirrholzes mit dem Phänomen organisierten Geistes des vorgeschichtlichen Menschen. Es sind induktive Sprünge, frei von Ort und Zeit, die den menschlichen Geist beflügeln. Über die Tatsache, dass der Zoologe A. R. Wallace (1823–1913) unabhängig von C. Darwin zu derselben allgemeinen Selektionstheorie der Entstehung der Arten gelangt wie Darwin, wäre Karl von den Steinen weder überrascht noch befremdet. Die Bakairi-Indianer am Rio Xingu erzeugen Feuer, indem sie eine kleine Kuhle in ein Stück Holz schnitzen und mit einem Stock desselben Holzes quirlen. Durch die schnelle, druckvolle Reibung wird eine hinreichende Menge Holzmehl und Wärme gewonnen, die das Mehl zum Glimmen bringt. Daraus entsteht nicht etwa eine Flamme, sondern ein qualmendes, glimmendes Pulver, an dem man ein Stück Zunder anbläst: das Holzfeuerzeug. Auf den Samoa-Inseln erlebt von den Steinen eine andere Variante des Feuerentfachens: ein Stück Holz wird in einer geschnitzten Rinne eines andern Holzes sehr schnell hin und her gerieben. Trotz verschiedener Bewegungsarten wird das gleiche Ziel an unterschiedlichen Orten erreicht: Feuer. Die Möglichkeit, Steine mit Nachdruck aneinander zu reiben, ergibt eine weitere Variante, Feuer zu erzeugen. »Je nach Material und Arbeitszweck dürfte der Mensch auf verschiedene Art zu verschiedener Zeit an verschiedenen Orten die Feuerentzündung erfunden haben, aber überall sind es die Werkzeuge, die ihm dazu verhalfen.«56 Es liege daher ein Grundfehler in der Annahme, die elementaren Erfindungen der vorgeschichtlichen Menschheit gingen auf einen einzelnen Erfinder zurück. Es sind vielmehr jene bekannten »multiple discoveries« (R. Merton), die parallele Endeckungen und Erfindungen hervorbringen. Das bedeutet: Der Mensch besitzt genetische Codes, die ihn befähigen, unabhängig von Ort, Zeit und sozialer Umgebung selbstständige analoge Entdeckungen und Entwicklungen hervorzubringen. 59
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Das Zeichnen des Verborgenen Ebenso verhält es sich mit der Ursprache des Menschen: dem Zeichnen respektive Malen. In schriftlosen Gesellschaften erlebt der Ethnologe frappierende Übereinstimmungen der zeichnerischen Fähigkeiten. Unabhängig von Kultur, Region, Ethnie und Geschichte gäbe es ein Potential an vergleichbarer Kreativität. Wo die Indianer Menschen und Tiere zeichnerisch erfassen, begegnen sie uns fast durchgängig als sogenannte Strichmännchen. Es handelt sich nicht, wie man annehmen könnte, um Zeichnungen drei- bis fünfjähriger Kinder, sondern um die darstellerischen Fähigkeiten erwachsener Menschen. Das Schema der Frontansicht kann das Gehirn leicht verarbeiten: Augen, Nase, Mund, Ohren etc. Zunächst sind Portraits der Expeditionsmitglieder in direkter Vorderansicht zu sehen, sodann Jaguar, Affe, Kolibri, Schildkröte, Tapir sowie ein anatomisch nicht zuzuordnender Vierfüßler. Stets wird die Vertikale zuerst gezogen, dann die schwierigere Horizontale. Wo die Umrisse schwarz ausgefüllt sind, stellt der indianische Künstler höhere Ansprüche an sich selbst, etwa bei dem Soldaten. Die räumliche Anordnung der Figuren spielt keine Rolle. Bar jeder Profilstellung werden unbekümmert Arme am Hals oder an der Hüfte angebracht, der Kopf auf dem Körper und der Schnurrbart über den Augen. Hände und Füße sind meistens mit drei Fingern beziehungsweise drei Zehen ausgestattet. Die Fünfzahl am Ende der Extremitäten findet sich selten. In den Zeichnungen erkennen wir menschliche und tierische Schemata, aber keine Individuen. Über das Medium des Zeichnens zu kommunizieren, den anderen in den Blick zu nehmen, ist den Indianern unbekannt. Es fehlt (noch) die entsprechende kulturelle Anbindung. Obwohl in vielen Kulturen der Welt zu Hause, sucht der Ethnologe die Kunstfertigkeit, sich selber zeichnerisch abzubilden, bei den Naturmenschen am Rio Xingu vergeblich. Während die Kulisehu-Indianer (Bakairi, Bororo, Nahuqua) ihre Besucher zeichnen, legen sie größten Wert darauf, alle Attribute zu 60
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10 Originalzeichnungen der Kulisehu-Indianer I.
erfassen. Auf Proportionen kommt es nicht an, sondern auf Pfeife, Gewehr, Mütze, Säbel, Schnurrbart. Aber auch das Verborgene halten sie in ihrer Vorstellung fest: Bauchnabel, Anus, Penis, Vagina, Kniegelenk und anderes mehr. Die wichtigsten Attribute sind die von der Natur gegebenen. Im Unterschied zum momentanen Attribut wird in der Natur das Überdauernde gesehen. Der unbekleidete Indianer kennt seine eigene Physiognomie und überträgt sie selbstverständlich auch auf die bekleideten Forscher. Größe demonstriert Bedeutung, sie sagt etwas über den Rang der dargestellten Expeditionsmitglieder aus: Karl von den Steinen ist auf allen Zeichnungen erkennbar der Größte, trägt den längsten Bart, eine gewaltige Pfeife im Mund; es folgen sein Vetter Wilhelm, dann Paul Ehrenreich und die anderen. Jedoch bedarf das Faktum des »völlige(n) Kinderstandpunkt(es)«57, den der Forscher konstatiert, einer Korrektur. Zwar ist die Zeichenkunst der Eingeborenen infantil, und die meisten Zeichnungen könnten Kinderhand verraten. Damit differenziert er die Zeichenkunst der adulten Einge61
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borenen nicht hinreichend. Zeichnet der dreijährige Moritz Vater oder Mutter, dann versucht er sich an einem (einfachen) Abbild. Es käme Moritz nicht in den Sinn, festzuhalten, was er nicht sieht: Anus, Nabel, Vagina, Penis. Der Indianer hingegen hält zeichnerisch fest, was ihn interessiert und was er weiß, der kleine Moritz malt, was er sieht. Dieses Faktum ist recht aufschlussreich. Indianische Zeichner geben nicht Wirklichkeit wieder, sie schaffen kein Abbild des Gegenstandes, sondern sie beschreiben ihn. Auch das, was sie nicht sehen, wird ausgeführt! Ein möglichst genaues Bild vom lebenden Objekt will ihnen nach unseren Vorstellungen nicht gelingen. Daher ist die künstlerische Umsetzung der menschlichen Figur höchst unzureichend. Warum sollten sie sich selber zeichnen, sich im Bild festhalten? Wozu diese wert- und nutzlose Kunst? Notwendiges und Zweckmäßiges zur Nahrungsbeschaffung und Existenzsicherung sind primäre Vorgaben indigener Gesellschaften. Allenfalls Körperbemalung und Kultgegenstände weisen einfachen geometrischen Zierrat auf: Dreieck, Rechteck, Raute, Bogen, Linie, Kreis. Jene Differenz, die zwischen Kinderzeichnungen und denen der Indianer liegt, kommt vermutlich auch in der unterschiedlichen emotionalen Beteiligung zum Ausdruck. Es ist die seelische Verfassung des Kindes, die sich im Abbild widerspiegelt: etwa fröhliche Mutter, ernster Vater, selbstzufriedener Großvater. Der Eingeborene setzt dagegen einen rationalen Schwerpunkt: alle Accessoires müssen erfasst sein. Im Wissen um die Physiognomie des Menschen einerseits und das emotionale Engagement andererseits unterscheidet sich indianische Zeichenkunst von der des kleinen Moritz. Auch beim Umgang mit Farben erkennen wir, wie alltägliches Leben, intellektuelle und manuelle Fertigkeiten vom Interesse und der Anschauung abhängen. Was weiß der Xingu-Indianer von Farben und Farbstoffen? Nur vier sind ihm bekannt, die eigene Namen tragen: Schwarz (Ruß oder Holzkohle), weiß (kreidige Tonerde), rot 62
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11 Originalzeichnungen der Kulisehu-Indianer II. 63
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12 Originalzeichnungen der Bororo-Indianer. 64
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bis orangefarben (Pflanzensaft des Ochogoi-Baums), gelb (ein mit Öl versetzter kautschukhaltiger Extrakt). Grüne und blaue Farben hingegen entziehen sich der eigenen Wortprägung. Grüne Bäume und blauer Himmel bewegen ihn so wenig wie das Nass des Wassers. Als sogenannte kalte Farben fesseln sie ihn nicht, zumal er sie wegen ihres schwachen Kontrastes nur ungenau zu unterscheiden vermag; dennoch existieren sie für ihn. Zeigt der Forscher auf grün oder blau, glänzt der Bakairi überraschender Weise mit einem klugen Sammelbegriff: Periquitofarben! Alles, was nicht der schwarzen, weißen, gelben oder roten Farbe gleichkommt – wobei ihm Rot und Schwarz besonders imponiert –, findet sich im farbigen Panorama des Gefieders der Periquitos, einer knallbunten Papageienart, wieder: Smaragdgrün, Kobaltblau, Ultramarin, Zinnoberrot, Orange, Kadmiumgelb – eine Federnpracht ohnegleichen! Dennoch liebt er die vier Gebrauchsfarben, die Männer wie Frauen und ihre Masken zu Tanz und Feier schmücken. Die Kunst der Indianer, körperlichen Formen Gestalt zu geben, ist ungleich weiter fortgeschritten als ihr darstellerisches Vermögen in zwei Dimensionen, zumal Papier oder Vergleichbares unbekannt ist. Die zu bearbeitenden Materialien: Holz, Knochen, Zähne, Lehm, Federn, Stroh, Gras, Palmblätter kommen dem ausgeprägten manuellen Geschick dieser Menschen entgegen, vor allem, wenn die Nutzanwendung, also der alltagspraktische Gebrauch, im Vordergrund steht. Ruder, Schemel, Töpfe, Schalen, Masken, Halsketten, Federschmuck, Strohpuppen, Pfeil und Bogen bereichern nicht nur den Alltag, sondern, weil nützlich und notwendig, dienen der Daseinsvorsorge. Im Topf, aus getrocknetem Lehm (Ton) gefertigt, wird nicht etwa gekocht, sondern Wasser für die Hütten und Lagerplätze transportiert, und zwar als Ersatz für die nicht ganzjährig vorhandene ausgehöhlte Kürbisfrucht. Der geformte und getrocknete Lehm – übrigens eine Erfindung der Frau – ersetzt also den Kürbis, später auch den Korb, und zuletzt hängt er als Kochtopf über dem Feuer. 65
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Kochtopf ist ein Stichwortgeber: denn es gibt eine Geschlechterzuständigkeit der Arbeitsteilung. Die Frau nimmt dabei keine unwürdige, erniedrigende Stellung ein. Sie verantwortet den Feldbau, der Mann die Jagd; sie kocht, er brät – niemals umgekehrt. Die Frau, weil schwach, bedarf des Schutzes. Auf dem Heimweg vom Feldbau geht sie, schwer tragend, vor dem Mann. Im Wald hingegen folgt sie ihm, damit er möglicher Gefahren wehrt. Fremde und unbekannte Gäste jedoch bereiten den Frauen stets Not: nicht selten laufen sie mit ihren Kindern auf und davon in den Wald.
Unbekleidet – aber nicht nackt Indianisches Leben in Arbeit und Freizeit, in Fest und Feier, bei Tage und bei Nacht bedeutet Leben im tropischen Urwald, der kaum Klimavarianten kennt. Nahezu ganzjährige schwülheiße fünfunddreißig bis vierzig Grad Celsius verwöhnen und belasten die Waldmenschen gleichermaßen. Kleidung ist daher ein überflüssiges Accessoire. Männer, Frauen und Kinder sind unbekleidet – nackt sind sie nicht! Wie verstehen wir diesen scheinbaren Widerspruch? Befremdlich und erklärungsbedürftig erscheint für europäische Augen die Nacktheit der Eingeborenen. Sie repräsentieren zu damaliger Zeit den primitiven, zurückgebliebenen Wilden. Nacktheit gilt als schamlos, wild, rückständig, kulturlos. Der nackte Körper ist im prüden Preußen tabu. Nacktheit – schamvoll verhüllt – ist beiden Geschlechtern der Kunst und Antike vorbehalten. Karl von den Steinen fordert zu erheblichem Widerspruch heraus, wenn er in einem Vortrag 1885 erklärt: »Die Indianer […] gehen völlig nackt, wenn ich von einem Schamblättchen, das die Bakairi- und Custenau-Weiber tragen, und dem Stückchen roten Baumwollfaden absehe, mit dem die Trumai die Vorhaut vor der Eichel wie ein Wurstendchen zusammenbinden.«58 Differenzierter formuliert er 1888: »Sie sind noch völlig unbekleidet, das ist wahr, aber ›nackt‹ sind sie nicht; in diesem ›nackt‹ steckt schon ein 66
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nicht angebrachtes Urteil, steckt der Verdacht, sie seien zuchtlos und schamlos.«59 Nach kurzer Zeit des Zusammenlebens mit den Menschen verliere sich die Nacktheit in den Augen des Betrachters. »Unsere Kleider erscheinen den guten Leuten so merkwürdig wie uns ihre Nacktheit. Ich wurde von Männern und Frauen zum Baden begleitet und musste mir gefallen lassen, dass alle meine Zwiebelschalen auf das genaueste untersucht wurden. Für das peinliche Gefühl, das ich ihrer Neugier gegenüber zu empfinden wohl erzogen genug war, fehlte ihnen jedes Verständnis; sie betrachteten sodann andächtig meine polynesische Tätowierung, zumal einen blauen Kiwi aus Neuseeland, waren aber […] sichtlich enttäuscht darüber, dass sich unter der sorgsamen und seltsamen Verpackung nicht noch größere Wunder bargen.«60 Wahrgenommene Entblößung des menschlichen Körpers spiegelt im abendländisch-christlichen Kulturkreis das Schamgefühl wider. Indigene Gesellschaften besitzen keine geheimen Körperteile. Daher sind Schamgefühle so gut wie unbekannt. Es gibt keine biblische Geschichte, keinen Sündenfall und keinen unentrinnbaren Makel: Der aus dem Paradies vertriebene Mensch erkennt die Nacktheit seines Körpers und beginnt, sich seiner Nacktheit (Sexualität) zu schämen. Und er wird bis an das Ende aller Zeiten diese Scham nicht los. Jene knappen indianischen Verhüllungen der Geschlechtsteile – durch den männlichen Penisstulp oder die Hüftschnur zum Anlegen des Penis an den Leib sowie durch eine dreieckige Binde aus Rindenbast bei den Frauen – dienen der Infektionsprophylaxe. »Sie halten die Schleimhautteile zurück, wie bei den Männern die Glans verhindert wird hervorzutreten. Zurückhalten der Schleimhaut ist der allen Vorrichtungen beider Geschlechter gemeinsame mechanische Effekt.«61 Jedoch bedienen sich die verschiedenen Stämme unterschiedlicher Schutz- und Verhüllungspraktiken. Ansonsten fordert die äußerst reduzierte dreieckige Verhüllung des enthaarten Geschlechtsteils Aufmerksamkeit und sexuelle Erregung heraus, statt sie abzulenken. 67
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13 Uluri, „Schamblättchen“.
Der unbefangene Umgang dieser Menschen mit ihrer Sexualität wundert nicht. Sie scherzen wie selbstverständlich und ohne jeden Anflug von Schamhaftigkeit über ihre »private parts«. Erklärt ein Mann, er sei der Vater des Kindes und stellt seine Frau als Mutter vor, fassen sie sich zur Verdeutlichung an jene Organe, die das Leben zeugen und denen es entspringt. Im erotischen Spiel und sexuellen Vollzug nehmen sie die so genannte Normalstellung ein. Ihre zarten Posen geben der natürlichen Zweisamkeit im Wald etwas Paradiesisches: eine tiefe, zufriedene Sorglosigkeit. Kopulierende Tiere finden stets gespannte Aufmerksamkeit: alle halten inne und verfolgen freudig den Vorgang. Alles, was Zuneigung und Liebe, Erotik und Sexualität betrifft, erregt die Neugier des Naturmenschen in hohem Maße. Sie sprechen gerne über Sexualpraktiken des anderen, aber weniger über eigene. Geraten ihre Organe in Aufruhr, nicht selten am abendlichen Feuer, stillen beide ihre Begehren im nahe gelegenen Busch; ansonsten finden sie in der Nacht zusammen. Beischlaf und Notdurft bleiben normalerweise 68
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den Blicken der Umgebung verborgen. Sie sind quasi tabuisiert und natürlicher Ausdruck des Lebens in der Natur. Differenziert betrachtet heißt das: »Auch Völker, die völlig nackt leben, kennen das, was wir Schamgefühl nennen; sie verschieben nur dessen Grenze.«62 Körper- und Schamhaare beider Geschlechter werden bereits in früher Jugend ausgerupft. »Wer das Haar entfernt, ist besser dran und vermisst doch nichts«, empfinden die Waldbewohner.63 Die verhüllte Scham, wie gesagt, setzt bekanntlich Aufmerksamkeit frei, ein Phänomen, das Menschen wiederholt erotisch-sexuell inspiriert. Rituelle Tänze ergänzen und steigern das libidinöse Verlangen. Theodor Koch-Grünberg (1872–1924), ein Schüler von den Steinens und Forschungsreisender Brasiliens, erlebt bei den Kobeua-Indianern einen so genannten Phallus-Tanz, dem sich »die Indianer […] mit besonderem Genuss hingeben«. Vor allem »die Koitusbewegungen, das Stöhnen und das imitierte Ausströmen des Samens« werden recht anschaulich ausgeführt. Da wir es mit natürlichen Vorgängen zu tun haben, die das »Wachstum, Werden und Gedeihen in der ganzen Natur« nachahmen, ist der Phallus-Tanz »nach der Auffassung der Naturmenschen (ein) anständiger Tanz.«64 Begriffe wie ›anständig‹ beziehungsweise ›unanständig‹ verraten den Blick europäischer Hochkultur. Den AmazonasIndianern ist alles anständig, was sie nicht als anstößig empfinden. Einehe ist die Regel. Damit sind polygame Lebensformen und wechselnder Geschlechtsverkehr zwischen unverheirateten Partnern nicht ausgeschlossen. Ein Häuptling gibt zu verstehen, drei Frauen sein Eigen zu nennen: »Die jüngste, eine recht hübsche, ungemein zierliche und geschmeidige Gestalt mit einem sehr verliebten Gesichtchen, war unzertrennlich mit ihm zusammen.«65 Sie folgt ihm auf Schritt und Tritt. Selbst auf die Jagd begleitet sie ihn: sie steht ihm physisch zur Verfügung und sozial zur Seite. Die Einehe bildet in der Gruppe das stabilisierende soziale und ökonomische Element. Stehen Heirat oder Scheidung an, verlaufen sie ohne besondere Feierlichkeiten beziehungsweise Umstände. Nach Absprachen der Väter und Mütter und Tausch 69
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14 Junge Frauen aus dem Stamm der Kamayura-Indianer.
einiger Gaben für die jungen Brautleute hängt der Bräutigam seine Hängematte über der der Braut auf – vermutlich eine Symbolhandlung für den ersten Geschlechtsakt – und die Verbindung ist besiegelt. Schwindet das Potential gemeinsamen Lebens gegen null, verlässt die Frau den Mann oder umgekehrt. Mehrere Kinder bekommt jedes Paar. Unter dem Stamm der Nambikwara weilend, bemerkt Claude Lévi-Strauss die geringe Zahl der Kinder und kinderlose Ehepaare. Es ist Sitte »dass die sexuellen Beziehungen zwischen den Eltern so lange verboten (sind), bis das letztgeborene Kind entwöhnt ist, das heißt oft bis zu dessen drittem Lebensjahr.«66 Umwelt und Armut des Lebens nötigen zur Umsicht. Daher wird nicht selten abgetrieben. Wurzeltee und mechanische Manipulationen bewerkstelligen diese Prozedur. Vor der Niederkunft fürchtet sich die Frau. Große Schmerzen begleiten die Geburt. Während sich die Gebärende in Gegenwart älterer Frauen, aber stets ohne Vater, an einen Baum im Wald klammert, gebärt sie in kniender oder hockender Stellung; steht aber, sofern sie 70
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die Kraft besitzt, bald auf, führt den Säugling zur Brust und arbeitet weiter. Die Nabelschnur des Neugeborenen durchtrennt der herbeigerufene Vater. Er ist es auch, der sich im Wochenbett, also in der Hängematte liegend, des Kindes annimmt, streng fastet und die Jagd meidet. Er ist gehalten, in den ersten Tagen nach der Geburt Mutter und Kind nahe zu sein. Er besorgt auch die Pflege des Säuglings und beendet sie erst, nachdem der Rest der Nabelschnur abgefallen ist. Kinder werden lange, oft über mehr als zwei Jahre, gestillt. Bei den polygam lebenden Häuptlingen nehmen sich die Frauen gemeinsam der Säuglinge an, die von einer Brust zur anderen gereicht werden, ohne dass Außenstehende sagen könnten, wer die leibliche Mutter ist. Erkrankt das Kind, kommt der ›Zauberarzt‹, also der Medizinmann (Schamane) des Dorfes. Patient ist überraschender Weise nicht das kranke Neugeborene, sondern der Vater! – weil er sich mit dem Kind als Wesenseinheit fühlt. Er nimmt auch die für das Kind vorgesehene Medizin ein. Das verstehe, wer will. Aber Karl von den Steinen bietet eine überzeugende Erklärung: »Der Eingeborene […] kann nicht wissen, dass die Mutter das den Eiern der Vögel entsprechende Gebilde beherbergt. Für ihn ist der Mann der Träger der Eier, die er, um es kurz und klar zu sagen, in die Mutter legt und die diese während der Schwangerschaft brütet […]. Der Vater ist Ei und das Kind ist der kleine Vater.«67 Das Kind ist das Kleine vom Großen oder dessen Miniaturausgabe. Und wenn ein Mädchen geboren wird? Auch das Mädchen wird als »kleiner Vater, nicht als kleine Mutter« bezeichnet, »es ist ja nur vom Vater gemacht«. Wir sollten diese Deutung rein sprachlich verstehen: Bei den Bakairi gibt es kein Wort für »Sohn« oder »Tochter«; wird ein Unterschied verlangt, legt man das Geschlecht hinzu: »pima imeri« lehrt der Ethnologe, »kann sowohl Sohn als auch Tochter des Häuptlings heißen.«68 Krankheit ist immer Folge von Hexerei. Schmerzen sagen dem Kranken, dass er von einem Feind außerhalb des Dorfes angegriffen wird. Hier muss die ärztliche Kunst des Medizinmannes helfen. 71
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Wie auch die Diagnose ausfallen mag, therapeutisch geschieht stets das Gleiche: »Der kranke Leib wird mit mächtigen [Tabaks-] Wolken angeblasen, gleichzeitig heftig bespuckt und zwischendurch unter fürchterlichem, das ganze Dorf durchhallendem Stöhnen, nicht des Patienten, sondern des Doktors, mit Aufwendung aller Muskelkraft geknetet. Das dauert eine lange Zeit. Der Arzt gönnt sich im Kneten nur wenige Ruhepausen, während deren er laut jammert und zugleich leidenschaftlich raucht. Die Zigarren werden von der Familie geliefert. Schließlich beginnt er zu saugen und spuckt unter krampfhaftem Prusten die Ursache des Leidens aus.«69 Das Vertrauen in die Heilkunst des Medizinmannes ist grenzenlos. Er ist einer, der alles kann. Jedoch niemand der Umstehenden erfährt, wie er’s macht. Endet das Leben, wird der Körper unter lautem Weinen und Wehklagen bestattet. Der Beerdigungsritus trägt zunächst den Charakter des Provisorischen: Wann genau ist der Mensch tot? Um jeden Zweifel am Tode auszuschließen, bleibt der Tote während dreier Tage auf dem Totenbett unberührt. Später wird er, nach fortschreitender Verwesung, eingewickelt und in West-Ost-Ausrichtung in eine Grube in Wassernähe gelegt, mit Palmblättern und Erde bedeckt. Nur in West-OstAusrichtung sieht der Verstorbene den täglichen Sonnenaufgang; denn irdisches Leben, vor allem die Arbeitsteilung, setzt sich im Jenseits fort. Dem männlichen Toten werden Pfeil, Bogen und Pfeife beigelegt, der verstorbenen Frau Sieb, Spindel und Topf. Nach einigen Monaten wird der/die Verstorbene endgültig beerdigt. Die vollzähligen Knochen des Skeletts werden ausgegraben und gereinigt. Tagelange Trauergesänge begleiten diesen Kult. Die mit bunten Federn geschmückten Knochen werden in einer Urne (Körbchen aus Palmblattstielen) in der Mitte des Dorfes beigesetzt. Von den Steinen und seine Männer haben aus Zeitgründen nicht erlebt, dass die Knochen der Bororo nach Verwesung und Ausgrabung am Fluss gewaschen und bemalt wurden, um sie anschließend im See zu versenken, wie Claude Lévi-Strauss70 die Zeremonie beschreibt. 72
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Animistischer Glaube »Die Auffassung der ganzen Welt als einer beseelten, der Animismus, ist ein Völkergedanke ersten Ranges.«71 Im Bewusstsein der Jäger, Sammler und Fischer sind die Grenzen von Realem und Irrealem, von Sinnlichem und Übersinnlichem fließend. Feste Gewissheiten? – Fehlanzeige! Der gesamte Lebensraum des Menschen ist mit spirituellen, mythischen, religiösen Vorstellungen verbunden. Fauna und Flora des tropischen Urwaldes: Alles ist mit Leben erfüllt, und alles, was lebt, ist (Geist-)beseelt. Auch in den Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen sehen Naturmenschen beseelte Kräfte am Werk. Wenn Blitz und Donner einschlagen und der Urwald brennt, erleben Eingeborene die Verdichtung des beseelten Bösen. Je geringer das Wissen über die Wesensverschiedenheit von Mensch, Tier, Pflanze und kosmischen Erscheinungen, desto animistischer der Glaube. Er spiegelt in indigenen Gesellschaften die totemistische Weltsicht wieder: jene MenschTier-Beziehung, die bei allen Naturvölkern eine überragende Rolle spielt. Weil sie noch nicht das kognitive Vermögen der Unterscheidung von Mensch und Tier besitzen, glauben sie, Tiere seien den Menschen wesensähnlich. Den Menschen gleich, besitzen Tiere selbstverständlich eine Seele. Daher erkennen sie in den Tieren seelenbelebte, kraftvolle Wesen, von denen sie abstammen und zu denen sie beim Ableben zurückkehren. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier sind fließend oder auch vollständig aufgehoben! Dümmer oder klüger, stärker oder schwächer – Mensch und Tier können stets beides sein. Der Eingeborene »anthropomorphisiert in seinen ›Märchen‹, er lässt die Tiere reden und handeln wie Menschen.«72 Tiere wie Menschen sind in Stämmen vereinigt. Tiere wie Menschen sehen verschieden aus, haben unterschiedliche Eigenschaften, differente Sprachen. Metamorphosen von Mensch und Tier und vice versa bieten dem Verstand keine Schwierigkeiten. Aber Missverständnisse gilt es auszuschließen: Es handelt sich hier nicht um 73
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Märchen aus Tausendundeiner Nacht oder äsopsche Fabeln, in denen menschliche Wesenszüge auf Tiere übertragen werden. Der Indianer setzt vielmehr »in die wunderbaren Geschichten, die er von den Tieren berichtet, dasselbe Vertrauen, wie jeder überzeugte Christ in die Wunder der Bibel.«73 Er weiß aber auch, dass er die ihn umgebende Natur ohne Mensch-Tier-Identifikation nicht begreifen könnte. Besonders Fische und Vögel stehen Indianern sehr nahe. Hier spielt der rote Amazonas-Ara, die Perle unter dem Gefieder des Urwaldes, eine herausgehobene Rolle. Die Bororo-Indianer rühmen sich im Leben wie im Tode ihrer genuinen Ara-Existenz. Von den Trumai wird berichtet, dass sie Wassertiere sind, weil sie den Fischen vergleichbar leben. Stamm für Stamm entscheidet sich für das ihm nahestehende, schönste Tier. Aus allem, was den Waldbewohner umgibt, leitet er elementare, magische Erfahrungen ab. Seine enge Mensch-Tier-Beziehung gehört zum Urphänomen kreatürlichen Zusammenlebens. Karl von den Steinen fragt eine alte Indianerin, in welches tierische Wesen er nach seinem Ableben verwandelt werden würde: In einen weißen Reiher – so ihre schmeichelhafte, aber ernst gemeinte und überzeugende Antwort. Menschliche Verwandtschaften mit Pflanzen und Tieren, Dämonenglaube, Zauberei, Magie, Beschwörungen, Opfer, Riten, Musik und Tanz sind Ausdruck einer naturnahen Kultur der tropischen Waldindianer. Jene gelebten Werte stärken, festigen und schützen das Gemeinschaftsgefühl der Stammesmitglieder insofern, als eigene Interessen denen des Kollektivs stets untergeordnet werden. Stete Verwandlungen und Identifikationen: Wie sollen wir sie verstehen, erklären? Zunächst verwechselt der Indianer Namen und Sachen. Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier sind ihm fremd. Sodann weist der Forscher darauf hin, dass »der Indianer ja in Wahrheit die wichtigsten Teile seiner Kultur von den Personen erhalten (hat), die wir Tiere nennen […]. Er verdankt, was er leisten kann, der Piranya, dem Hundsfisch, dem Affen, dem Kapivara, dem Aguti, dem Riesengürteltier, den Mollusken […]. Zähne, Knochen, Klauen, 74
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Muscheln sind seine Werkzeuge, ohne die er weder Waffe, noch Haus, noch Gerät herstellen könnte.«74 Ein weiterer Grund liege im Fehlen einer »ethischen Menschheit«. Alles, was der Indianer sein Eigen nennt, also sein geistiges und materielles Vermögen, glaubt er, von den Tieren erworben zu haben. Und da er sich mit ihnen identifiziert, erübrigt sich die sittliche Erkenntnis des guten oder bösen Handelns, der Belohnung oder Strafe. Folgerichtig haben Naturmenschen mit Verwandlungen (Metamorphosen) kein Problem. Ihr Leben, nur das gegenwärtige, wird insofern immerzu beeinflusst, als sie mit der beseelten Umwelt ablehnend oder zustimmend verkehren und kommunizieren können. Es steht zu vermuten, dass diese Menschen, analog zum kindlich-magischen Verhalten, das eigene Selbst auf belebte und unbelebte Objekte projizieren und daraus ihre bildhafte Phantasiewelt der mythischen Geschichten und Kulte entstehen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht zweifelt etwa ein Kind, das mit seiner Puppe spricht, nicht daran, von der Puppe verstanden zu werden. Die Puppe, ein Wesen, mit dem man plaudert, besitzt eine ›Seele‹. Die Beseeltheit versteht sich als Primärerlebnis der kindlichen Psyche. Das heißt: Innenvorgänge des Kindes werden mit Außenvorgängen in Analogie gesetzt, kurz, die Puppe wird ein Stück des eigenen Selbst. Sie hat einen menschenähnlichen Geist. Vergleichsweise verläuft das Gespräch mit (Haus-)Tieren: Kindliche Phantasie (aber nicht nur sie!) nimmt an, Tiere könnten die Sprache der Menschen verstehen und deren Absichten deuten. Mangels kognitiver Fähigkeiten bleibt es beim Pseudodialog. Die Abstraktion der wesensmäßigen Unterscheidung von Mensch und Tier, von toter und lebender Welt, wird erst auf dem Wege der Persönlichkeitsentwicklung durch Lernen und Erfahrung geleistet. Dem Kind genügt die auffällige Ähnlichkeit der Puppe mit dem Menschen. Indianer erkennen im Regenbogen eine Wasserschlange, in den Sternen kleine Flöhe. Die Sonne leuchtet dem Bakairi wie ein Ball aus grellroten Papageienfedern: dieses eine Ver75
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gleichsmaterial der glanzvollen Farbe reicht für die Erklärung aus. Im Dialog gibt der Forscher zu bedenken, dass die Sonne heiß sei, die Papageienfedern nicht. Der Indianer »grollte mir einfach und war in seinem tiefsten Inneren beleidigt.«75 Abstraktionen entwickeln sich in der Menschheitsgeschichte später, jetzt ist alles noch anschaulich, konkret. Magisch-mythische Vorstellungen und Praktiken vom Wirken der beseelten Natur prägen das Dasein. Der Bakairi-Indianer glaubt, vom Jaguar abzustammen. Seine Ahnen verkehrten mit vierbeinigen Tieren. Die Eingeborenen der Trumai hingegen, schwimmgewandt und von kräftigem Körperbau, haben Alligatoren oder Raubfische als Vorfahren. Jedoch: Den Eingeborenen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie sich gegenüber Tieren als die klügsten aller Lebewesen betrachten. Ahnungsweise bestimmt Selbstreflexion das Dasein, wenn von den Steinen ein stets wiederkehrendes indianisches Motiv konstatiert: »Klugheit überwindet Stärke!«76 Kommen hier rational tiefer liegende Wahrheiten in den Blick, Indizien evolutionären Fortschritts? Dennoch bleibt ihr Bewusstsein prälogisch bestimmt. In ihm wuchern phantastische Vorstellungen. Die allgegenwärtige Furcht vor Dämonen der belebten und unbelebten Welt, die mit dumpfen Trommelschlägen vertrieben werden, zeigt uns die Lebensart des Naturmenschen der animistischen Welt. Wer führt das Wort, steuert die Gruppe, präsidiert den Stamm? Um die »höheren Ideen der Indianer«, wie sie der Ethnologe ironischerweise zu nennen pflegt, in das Alltagsleben der Eingeborenen zu tragen, bedarf es eines Mittlers: Ältesten, Priesters, Häuptlings, Zauberers. Diese Würde ist erblich, »und deshalb nicht immer in den besten Händen […]. Ist die Gemeinde mit ihrem Oberhaupt unzufrieden, so weiß sie sich zu helfen: sie trennt sich von ihm und zieht einfach an einen anderen Ort.«77 So kann er im Wald nur sich selbst regieren! In vorgeschichtlichen Stämmen wirken diese Männer als Autoritäten, akzeptierte Entscheidungsträger in allen Belangen des täglichen Zusammenlebens. Sie tradieren von Geschlecht zu Geschlecht jene 76
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Urphantasien und übernatürliche Praktiken, die von den Steinen aufgezeichnet hat. Aus elementaren Naturbeobachtungen, Erinnerungen an die Väter und Jagdgeschichten sind sie entstanden und werden alle wortwörtlich geglaubt. In unserem Falle schreitet der Zauberarzt, Medizinmann, Heiler und Helfer, zur Tat: In wichtigtuerischen Gesten setzt er sich Respekt einflößend in Szene, indem er die Umherstehenden anspuckt, anbläst oder anraucht. Sodann nimmt er »Gift« aus einer Pflanze zu sich, stirbt (er ist ›tot‹, nicht nur bewusstlos!), wacht wieder auf und erzählt seltsame Dinge, die er in seiner komatösen Wanderung erlebt hat. Eine Sonnenfinsternis hat er zum Beispiel durch Verwandlung in einen schwarzen Vogel und Beschattung der Gestirne mit seinen Flügeln hervorgerufen. »Eine der ersten Fragen, die bei jedem Stamm an mich gerichtet wurden, war stets: bist du ein Zauberer? Und wenn ich sie bejahte, stellte sich der betreffenden Kollege vor mich hin, schlug sich auf die Brust und hielt eine längere Ansprache, in der er seine Macht und Kunst gebührend herausstrich, prallte aber respektvoll zurück, wenn ich schließlich, ein Streichhölzchen anzündend, ihm die meine wies.«78 Dass wir recht ungewöhnliche Vorgänge als Zauberei im Sinne von Scharlatanerie abtun, Eingeborene sie aber für wahr beziehungsweise wirklich erachten, liegt an ihrer Vorstellungskraft jenseits aller Gesetzmäßigkeit und begrifflichen Schärfe. Kein physikalisches, mathematisches, chemisches oder biologisches Gesetz bremst die Vorstellungswelt dieser Menschen. Je unwahrscheinlicher die Erlebnisse, desto wahrscheinlicher der Glaube daran. Auf der Linie evolutionären Denkens fortfahrend, konstatiert von den Steinen einen Wendepunkt von grundlegender Bedeutung: Es ist die Erkenntnis des Machens. Bekanntlich ist die Freude des Menschen am Können, Machen und Herstellen sein stärkstes Motiv. Er fertigt Gegenstände an, entwickelt sie weiter und zieht daraus neue Erkenntnisse. Naturmenschen erfinden Werkzeuge: Stein-, Knochen-, Holz77
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werkzeuge. Das Werkzeug ist das erste Gemachte, der erste Gegenstand. Denn in der Natur wird nichts gemacht, alles entsteht. Wir haben es mit Dingen zu tun, die nicht wachsen oder erscheinen, sondern durch (kreative) Tätigkeit Sinn gebend entstehen und sich nur durch Einwirkung ändern lassen. Im Bewusstsein des Menschen wächst das Gefühl, die ihn umgebende Welt beeinflussen, ja, beherrschen zu können. Ernsthafte Gegner kennt er nicht mehr, sofern er nicht selbst zum Gegner wird. Noch existiert das animistische Weltverständnis im Leben des Waldmenschen. Mit dem Machenkönnen verfällt es jedoch mehr und mehr. Das Gefühl, über Dingen und Sachen zu stehen, wächst. Der Mensch verlässt das Vorzimmer der Logik. Er schafft sich eine Welt für die Hand, die auf Gegenstände verändernd einwirkt. Machen und Herstellen sind nicht Selbstzweck, sondern nützlich und zielgerichtet. Damit gehen analytische und konzeptionelle Fähigkeiten einher. Der Daumen, vier Fingern gegenüberstehend, macht die Hand zur Hand, die greifen, drehen, schlagen, festhalten kann. Sie bearbeitet Steine, Knochen, Holz, stellt Werkzeuge her und entfacht Feuer. Folglich führt der Weg vom Kopf zur Hand, die ihrerseits kreativ-konstruktive Ausdrucksformen entwickelt. Die zweite Hand ergänzt die erste und steigert insofern die Gebrauchsfähigkeit. Die vorgefundene Welt erfährt nun eine nach anderen Regeln strukturierte Ordnung: »Mit den Dingen, die mit Willen, ja einem bestimmten Zweck gemacht werden, tritt die kausale Fragestellung in die Welt. Hätten wir keine Werkzeuge, so hätten wir auch keine Frage nach der Entstehung des Vorhandenen.«79 Stets haben wir es zu tun mit jener weltoffenen Anlage des forschenden Menschen, die ihn fragen lässt: Woher kommt, was mich umgibt? Wer hat das alles gemacht? Der Mensch war und ist es nicht. An dieser Stelle streift der Feldforscher die Gottesfrage. In wiederkehrenden Gesprächen mit Eingeborenen verschiedener Stämme, ist sich von den Steinen gewiss, fehlt die Vorstellung von einem (persönlichen) Gott gänzlich. In ihren Sprachen sucht man das entsprechende 78
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Wort vergebens. Eine Verehrung von Idolen, Opfergaben, Anbetungen habe er weder erlebt noch wahrnehmen können. Das Abstraktum Gott rechnet er nicht zu den Elementargedanken des Urmenschen. Genau genommen erübrigt sich im Glauben an die beseelte Natur eine persönliche Gottesvorstellung. Rhythmische Tänze und farbgeschmückte Körper sowie Flötenspiel und Trommelschlag begleiten freudige oder traurige Ereignisse: erfolgreiche Jagden, gewonnene kriegerische Auseinandersetzungen, Fremdenbesuch, Begräbnisse. Sie bilden ohne theistische Variante den archaischen Lebensalltag.
Imagination und Mythos Eine entscheidende Rolle in der Evolution spielen Verwandlung und menschliche Imagination. Verwandlungen und Imaginationen sind logische Widersprüche fremd. Verwandlungen stehen für Übergänge. Der Kreislauf fortgesetzter Existenz wird nicht durchbrochen. Das Sterben etwa wird als Verwandlung verstanden, nicht als Vernichtung und Ende des Lebens. Nach dem Tod wird ein neuer Aufenthaltsort eingenommen, ohne dass die Seele stirbt. Den Toten begegnet man im Traum oder hört sie nachts im Walde. Träume spiegeln die andere Seite des Daseins, die sogenannte zweite Wirklichkeit. Sie sind den Lebenden hinreichend Beleg für die Zusammenkunft mit den Toten. Wer wollte daran zweifeln, wenn Augen und Ohren sich im Traum davon überzeugt haben. Der Verkehr der Lebenden mit den Toten wundert daher nicht. In einem Gespräch mit dem indianischen Begleiter Antonio wird der Forscher belehrt, dass es gefährlich sei, einen Schlafenden plötzlich zu wecken. Dieser könnte sich ja in fernen Gegenden aufhalten (obwohl er in der Hängmatte schläft!), dort auf die Jagd gehen, Fische schießen oder Bäume fällen und nicht schnell genug zurückkehren, so dass er in einen Toten verwandelt werde. In der TraumWirklichkeit verwandeln sich Tote in farbenprächtige Papageien, deren Federn als wertvoller Kopfschmuck gilt. Die Bororo glauben an eine 79
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Wiederverkörperung der menschlichen Gestalt, sowohl als Seelenwanderung (Reinkarnation) als auch an die Fortsetzung des Erdenlebens im Tier. Da Fische und Vögel in ihrem Leben eine besondere Bedeutung einnehmen, geben sich die Lebenden den Namen eines Fisches, nach dem Ableben finden sie sich als Papagei wieder. Niemandem kommt es in den Sinn zu fragen, ob das im Traum Gesehene und Geschehende wirklich ist. Traum und Wirklichkeit: Sie tauschen nicht selten ihre Plätze. Zur Veranschaulichung sollten wir Verwandlungen mit undeutlichem Sehen erklären: »Fern auf dem Waldweg bemerken wir etwas, was wir genau zu erkennen [glauben] noch gar nicht in der Lage sind. Jeder sieht, was er zu sehen erwartet: einen Stein, ein Reh, einen Holzhaufen […].«80 Je näher wir den Gegenständen kommen, desto mehr erkennen wir, was sie wirklich sind: das Reh erweist sich als Pilze sammelnde Frau, der Holzhaufen als Termitenhügel und der Stein als bemooste Wurzel. Wir glauben nicht an eine Verwandlung, sondern nehmen wahr und gestehen, dass wir uns getäuscht, also halluziniert haben. Indianer hingegen glauben bei näherem Betrachten an eine Verwandlung des ehemals Wahrgenommenen. Ihnen fehlt jene Gesetzmäßigkeit des Sehens, das sich irren und täuschen kann. Wie nahe liegt es daher, dass Imagination Mythen schafft. Im Mythos des Waldmenschen hören wir Geschichten, die zwar wahrhaftige Geltung beanspruchen, sich aber nicht rechtfertigen müssen: Ihre Begründung bleibt außer Acht, ihre Wahrheit wird nicht hinterfragt, ihr Geschichts- und Weltbild enthält keine offenen Fragen. Alles Fühlen und Denken fügt sich zu einem sinnlich-anschaulichen Ganzen und bedarf keiner Hermeneutik. Woher stammen diese Vorstellungen? Aus der Einbildungskraft? Aus den Träumen dieser Naturmenschen? Aus der Zusammenschau beider? Jedenfalls ist anzunehmen, dass Mythen der Sinngebung dessen dienen, was die Menschen umtreibt: die Gegenwart ihrer Existenz. Insofern tragen sie kreativen Gehalt. Die belebte und unbelebte Natur sowie Sonne, Mond, Sterne, Blitz, Don80
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ner und Feuer sind miteinander verbunden. Werden und Vergehen, Bewegungen und Veränderungen vollziehen sich in der mythischen Weltsicht von selbst. Für naturnah lebende Menschen bilden Mythen den harten Kern ihrer Existenz: Sie tragen, prägen und stärken das Ichund Wir-Gefühl; sie schaffen Bindungskräfte in Ritus und Kultus, in Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Waldmenschen wissen nicht, dass jedem Wesen eine individuelle Entwicklung zukommt, Zeit und Raum hinreichende Vorstellungen verlangen. Im Gespräch mit einem intelligenten Indianerburschen fragt von den Steinen nach der Entstehung der Welt. Die damals lebenden Menschen seien jetzt alle tot, antwortet jener; aber ein alter Stammes angehöriger der Bororo habe ihm, dem Indianerburschen, berichtet, dass dessen Großvater noch dabei gewesen sei. Fazit des Ethnologen: »Wenn man solche Dinge mit der größten Ernsthaftigkeit von klugen, gesunden Menschen vorgetragen hört, so meint man es freilich mit Augen zu sehen, wie die Legenden in ihrer Seele sich bilden und bilden müssen.«81 Die Antwort des jungen Indianers entspricht durchaus seinem auf die Gegenwart fixierten Leben. Wenn bei den Bororo-Indianern die Abstrakta Vergangenheit und Zukunft ohne Belang sind, bedarf der Mythos über die Entstehung der Welt, also über etwas Vergangenes, zum mindesten eines Augenzeugen als Beleg für das vergangene Ereignis. Der Augenzeuge ist bei fast allen indigenen Völkern die höchste Autorität. Der Großvater der Bororo war Augenzeuge und zugleich Beweis des Erlebens der Weltentstehung. Mit Hilfe der Augenzeugenschaft wird Vergangenes gegenwärtig. Auch bei retrospektivem Desinteresse bleibt die Weltentstehung beziehungsweise ihre Existenz für den Indianer ein Faktum. Jedoch wird die Entstehung der Welt, als Glaube an eine Schöpfung im Sinne des Monotheismus, nicht aufgenommen oder erörtert. Die Unbefangenheit der Indianer gegenüber Raum, Zeit und übernatürlicher Welt belegt evident die Entwicklungsstufe der Ein81
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geborenen. Eigengesetzliche und geschlossene Kausalitäten sind den Dschungelstämmen unbekannt. Fremd ist ihnen der differente Ablauf aller Lebensprozesse. Allein auf Naturerscheinungen fixiert, erfassen sie deren Wirkungen ausnahmslos sinnlich. Was Naturmenschen unmittelbar einleuchtet, verlangt von uns erhebliche Vorstellungskraft. Was sich bei ihnen als Lebenswirklichkeit ereignet, verwerfen wir als absurd, paradox, Glauben und Verstand widersprechend. Und dennoch sollten wir nicht leichtfertig urteilen. Sind uns die Verse eines Paul Celan oder Hans Erich Nossack sogleich zugänglich? Was empfindet unser betrachtendes Auge bei den Bildern eines Max Ernst oder Salvador Dali? Selbst Wallfahrten, Wunderheilungen, Heiligenverehrungen und Devotionalienkult überwiegend christlicher Herkunft genießen im aufgeklärten einundzwanzigsten Jahrhundert wohlwollende Aufnahme. Aufgeklärte Europäer glauben an Wunder, Naturvölker am Amazonas an Geister. Wirklichkeit kennt ungezählte Ausdrucksformen, die jenen logischen Konzeptionen, in denen wir uns gemeinhin zu Hause fühlen, widersprechen. Mythisches Empfinden und Denken durchlaufen Entwicklungs prozesse. Mit dem allmählichen Gebrauch der Vernunft wachsen Aufmerksamkeit, Beobachtungsfähigkeit und Erkenntnis. Mit Erkenntnissen wächst Wissen; auf Wissen folgen Taten. Indianer sind in der Lage, auf einem völlig unbekannten Terrain tadellos die Himmelsrichtung einzuhalten, ohne jemals einen Blick nach der wandernden Sonne werfen zu müssen. Im Inneren einer Hütte können sie fast ohne Überlegung den Stand der Sonne richtig angeben. Der Indianer »kennt alle Tiere und Pflanzen und alle haben ihren Namen – sein Wortreichtum ist viel größer als der eines ungebildeten Europäers – aber er verfügt noch nicht wie dieser über höhere, übergeordnete Begriffe.«82 Der Papagei hat einen Namen, viele Papageien haben viele verschiedene Namen. Jeder Fisch wird mit einem neuen Wort bezeichnet. Wir sagen Schellfisch, Stockfisch, Tintenfisch und individualisieren durch Zufügung eines Unterscheidungsmerkmals (Schell-, 82
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Stock-, Tinten-) jene Verschiedenheit der Fische. Dahinter verbirgt sich eine hohe spracharchitektonische Gestaltungskraft, »während der Indianer nur lose Steine zusammenschleppt und zu einer plumpen Mauer zusammenfügt.«83 Der Bakairi blickt in einen kleinen runden Spiegel, den der Forscher ihm entgegenhält. Jener nickt ruhig und sagt: »paru«, Wasser. Vom Blick in das Wasser, das seinen Körper spiegelt, ist dem Indianer die Funktion des Spiegels bekannt und nennt ihn ohne Umschweife »Wasser«. Andere Indianer reagieren wie er, wenn von den Steinen seinen Spiegel hervorziehen sollte: »Zeig das Wasser!«84 fordern sie ihn auf. Mehr als hundert Körperteile sind bekannt und werden genau unterschieden. Ein Körperteil besteht nicht an sich, sondern nur in Zusammenhang mit einem bestimmten Menschen beziehungsweise Tier. A-Nase, B-Nase, C-Nase bilden ein Wortganzes; es wird einzelnen Menschen oder Tieren zugeordnet. »Nase« allein ist nicht denkbar, da sie allein nicht existiert. In keiner der indianischen Sprachen sei ein entsprechendes Wurzelwort Nase vorhanden. Der Körperteil haftet stets am Ganzen, isoliert kommt er nicht vor. Es handelt sich um einfache Wiedergabe des in der Natur Wahrgenommenen. Während der Indianer »also ›Nase‹ schlechthin nicht sagen kann, kann er Blatt schlechthin sehr wohl sagen; denn Nasen sieht er nur an Menschen oder Tieren, aber nirgendwo für sich allein existieren, wogegen er Blätter sowohl an dem Baume, als auch auf dem Boden beobachtet.«85 Das elementare Bewusstsein, so ist zu folgern, klebt am konkreten Gegenstand. Selbständige Wortformen respektive Teilbegriffe in abstrakte Sprache zu überführen, bringt der Urwaldmensch nicht zustande.
Das Zählen bis zwei »Sechs mal schon hat der Mais geblüht, seit wir das Quellgebiet des Schingu (Xingu) verlassen haben – zwei – zwei – zwei (ahage, ahage, ahage) rechnet der Bakairi und findet kein Wort in seiner Sprache, um 83
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eine größere Zahl auszudrücken.« Mit diesem mathematisch-linguistischen Novum führt Karl von den Steinen die Leser seiner umfangreichen Monographie Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens zu einem Phänomen seiner ethnologischen Forschungen. Was heißt das? Beim Zählen und dem Umgang mit Zahlen ist der Xingu-Indianer ein Totalausfall. Er zählt bis zwei: 1 + 1 = 2. Darüber hinaus kombiniert er durch Zusammenzählen die über zwei hinausgehende Zahl. »Die Abstraktion der Zahl über 2 fehlt entschieden, wie ich mich an vielen Versuchen überzeugt habe, vollständig, und ist mir zuweilen fast zweifelhaft erschienen. Legt man verständigen Männern unter ihnen 4 Maiskörner vor, so können sie niemals auf einen Blick angeben: das sind 4 […], sondern sie müssen stets zuerst die sinnliche Vorarbeit vorausschicken, dass sie sich die kleine Gruppe in vier einzelne Körner auseinanderlegen und nehmen dann noch die Finger zu Hilfe. Für die unmittelbare Bestimmung von 2 Gegenständen reicht die Übung etwa noch aus, bei dreien müssen sie bereits komponieren.«86 Unter Zuhilfenahme von Fingern und Zehen zählt er 1 bis 2; 1 bis 2 plus 2 etc. Die Zahl fünf wird durch zwei plus zwei plus eins gebildet. So erreicht er mühsam die Zahl 20. Es ist ein »Wortzählen nach Zweien«, das sie mit Hilfe der Finger bewältigen. Was darüber hinausgeht, wird als ›uruhu‹, viel, bezeichnet. Als Anschauung kann man ihm die Zahl fünf und zehn durch Hinweis auf Hände und Füße klarmachen; aber rechnerisch kann er damit nicht umgehen. Weiß der Bakairi, dass er fünf Finger hat? Ohne nachzudenken nicht, obwohl er sie zählen kann. Drei Maiskörner liegen auf dem Boden; wie groß ist die Zahl? Es gab nie eine Antwort, »ohne dass das Häufchen in 2 und 1 zerlegt worden wäre.«87 Der Bakairi zählt nach folgendem Schema: I, II, II I, II II, II II I, II II II. Die Zahl 5 ergibt sich nicht aus: I II II, sondern aus II II I. Es scheint so, dass die Zahl 2 schon vor der Zahl 1 vorhanden gewesen war. »Der Elementarsatz des Kopfrechnens 2 x 2 = 4 muss seinem Verstande aber noch unzugänglich bleiben.«88
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Vermutlich wird die Zahl zwei aus der Natur abgeleitet und als Paar, das heißt als »augenfällige Symmetrie der Natur« erkannt: Augen, Ohren, Hände, Beine, Mann, Frau, Tag, Nacht und dergleichen. Zweifellos besitzen diese Menschen ein erstaunliches Wissen, dem jedoch jedes Abstraktionsvermögen im Sinne begrifflichen Denkens abgeht. »Sie haben nur das anschauliche Nebeneinander, nicht das begriffliche Übereinander.«89 Nur in Verknüpfung mit Objekten des Lebensumfeldes (Pflanzen, Tieren, Menschen) schafft das neuronale Netz den Weg zur Zahl und ihrer Anwendung. Erleben und Handeln bilden stets eine Einheit. Dieses Faktum ist im Auge zu behalten. Das Gehirn, so die Zuversicht des Ethnologen, könne mehr, als das Bewusstsein zum Ausdruck bringe. Ihr mangelndes Rechnen bedeute Mangel an Intelligenz nur insofern, als er freilich einen beschränkten ökonomischen Horizont verbürgt, habe aber mit geringer Begabung unmittelbar nichts zu tun. Für den Umgang mit Zahlen gibt es bei den Ureinwohnern des Dschungels keine Notwendigkeit. Es fehlt der ökonomische Druck eines Geschäftslebens. Zahlen sind Abstrakta und entsprechen nicht dem Wertgefühl des Indianers. Mit einem Blick erfasst er bildhaft eine unbestimmte Vielheit, etwa erlegter Tiere, die nicht gezählt, sondern als ›Haufen‹ aufgeteilt werden. Die visuelle Einschätzung von Menge, Größe, Länge, Breite ist seine Domäne. Ein Stück Holz in seiner Hand ist anschaulicher als die fünf Finger an seiner Hand. Was sollten diese Menschen auch zählen? Sie kennen keine Haustiere, haben keine Herden, deren Stückzahl dem Besitzer wichtig wäre, sie treiben kaum Handel und stehen im Tauschverkehr auf der niedrigsten aller Stufen, indem sie sich gegenseitig beschenken. Sie zählen nicht die Jahre ihres Alters – warum auch? Sie leben im Hier und Jetzt von Tag zu Tag. Das belebende Wechselspiel der Jahreszeiten: im tropischen Urwald ist es unbekannt. An den Fingern zählen sie die Menge der Tauschgeschenke. Eine Hand reicht in der Regel aus. Da nun Bedarf am Umgang mit Zahlen kaum besteht, ist das Zählen über die Anschauung von eins und zwei hinaus ohne Bedeutung. Allenfalls die Zahl der Kinder und 85
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Geschwister wecken Interesse. Der abstehende Daumen steht für die »1« und zugleich für den Vater. Weitere Rechenexempel des Ethnologen, die er mit dem Fingerzählen durchführt, also 1, 2 … bezieht der Eingeborene nicht auf das Zählen als mathematische Reihe, sondern auf die Anzahl der Kinder, Brüder, Schwestern. Zählen haftet also am Gegenstand und an der Anschauung. Diese Erfahrung, erzählt der Forscher, musste auch der alte Pater Dobritzhofer machen. Er schrieb dem Zählen im Alltag, besonders aber im Beichtstuhl, hohe Bedeutung zu. Daher forderte er an Sonntagen das ganze Volk auf, mit lauter Stimme von 1 bis 100 in spanischer Sprache zu zählen. »Allein, er wusch an einem Mohren.« Die Leute konnten zwar alle Zahlen auf Spanisch artikulieren, »irrten sich doch im Zählen, so dass man ihnen hierin nicht trauen darf.«90 Anders gewendet: Sie verstehen nur die Lautsprache, aber nicht die Sprache des Gedankeninhaltes, die das Abstrakte mit dem Konkreten verbindet. Alles Anschauliche und Gegenständliche wie schnitzen, schmücken, trommeln lernen sie ungleich eher als die aufsteigende Ziffernreihe. Vergleichbare Erfahrungen hatte eine Goldsucher-Expedition der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter Leitung des portugiesischen Missionars Lopez gemacht. Nach intensiver Unterweisung erklärte er die im nordwestlichen Tiefland Brasiliens lebenden »wilden« Bakairi zu Christen. »Von ihrer neuen Religion verstehen sie indes so viel wie von der Spektralanalyse. Mehr als schöne portugiesische Taufnamen haben sie nicht zu bieten.«91 Die mathematischen Gedächtnisleistungen der Eingeborenen veranlassen Karl von den Steinen, die Praxis eingeschränkten Abstraktionsvermögens in Übersetzungsübungen mit Antonio, dem Bakairi-Indianer und unschätzbaren Begleiter zweier Brasilien-Expeditionen, zu reflektieren. Sagen und Geschichten, Legenden und Mythen der Waldmenschen sollen Auskunft über ihren kulturellen Entwicklungsstand geben. Zu diesem Zweck wird die Sprache der Bakairi mit Antonios Hilfe zunächst in das Portugiesische übertragen und umgekehrt. Antonio 86
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jedoch sieht überhaupt nicht ein, warum Sprache übersetzt werden soll. In seinem 1892 verfassten Kompendium Die Bakairi-Sprache erklärt der Ethnologe, der ein ausgeprägtes Gespür für Stil und Grammatik der portugiesischen Sprache besitzt, dass er nur über den Weg der Sprache das geistige, soziale und materielle Leben der Indianer erschließen könne. Aber: Antonio versteht weder den Inhalt noch die Form einer Aussage: »Wenn ich ihm zum Beispiel einen Satz gab, du hast das und das getan, so übertrug er beharrlich, ich habe das und das getan […]«, oder, »wenn ich ihm sagte, der Häuptling hat einen Jaguar getötet, so erklärte er mir mit Nachdruck und nicht frei von Vorwurf, nein, der Häuptling hat keinen Jaguar getötet.«92 Indianer »sagen leider oft andere Dinge, als sie nach meinen Wünschen sagen sollten, und kritisieren die Handlung, anstatt sie zu benennen. Sie dachten für sich und nicht für mich.«93 Die Abstraktionsebene einer Sprachübung vermag Antonio nicht zu erreichen. Trotz wiederholt zu leistender Überzeugungsarbeit konnten sprachliche Hindernisse und Übersetzungsnöte erst im Zuge gewinnreichen Forschens und durch kontinuierlichen Gedankenaustausch über gemeinsame Reiseerlebnisse reduziert werden.
Der verpfuschte Völkergedanke Abendländisch-christliche Kultur neigt dazu, die »Urgeschichte des Geistes auf der Geschichte indogermanischer Vorstellungen« aufbauen (zu) wollen.«94 Der abendländische Kulturbegriff ist eurozentrisch geprägt. Er täuscht darüber hinweg, dass in anderen Kulturen verschiedenwertige, nicht minderwertige Formen sprachlicher, sozialer, ethischer, ästhetischer, religiöser Produktion vorherrschen. In gleicher Weise glaubt zeitgeschichtliche ethnologische Forschung, die indigene geistige Welt als minderwertig, tief stehend, barbarisch, kurzum: als primitiv erklären zu können. Es wird zwar zugegeben, dass kuriose Sitten und Gebräuche sowie exotische Klischees verschiedener Reiseabenteurer keine Vision primitiven Lebens mehr darstellen. Bedeutsamer 87
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jedoch ist das Wissen über jene schriftlosen Völker, die am Rande unseres Weltbildes liegen. Das hypothetische Grundvolk, von dem die indogermanischen Stämme sich ableiteten, habe jedoch die Entwicklungsstufe eines vorgeschichtlichen Naturvolks längst verlassen, konstatiert der Feldforscher. Voreingenommenheit oder Unvermögen gegenüber einem echten Naturvolk bestimme Teile der ethnologischen Wissenschaft. Erkenntnisse seiner Feldforschungen weisen Analogien zu indogermanischen Sprachwurzeln nach: »Nun haben wir in Centralbrasilien echte Karibenstämme angetroffen und können durch eine große Anzahl lexikalischer und flexivischer Übereinstimmungen mit den längst bekannten Karibensprachen des nördlichen Südamerika auf das Evidenteste beweisen, dass diese sämtliche Idiome ebenso gut wie die indogermanischen auf eine alte Grundsprache zurückgehen.«95 Daraus folgt: Der ethnologisch verengte Blick auf indogermanische Entwicklungsstränge allein werde den Gang der allgemeinen menschlichen Sprach- und Geistesentwicklung nicht erschließen können. Das komplizierte Kulturverständnis aufgeklärten abendländischchristlichen Forschens sowie wissenschaftliche Hybris und mangelnde Bereitschaft, die europäische Zivilisationsbrille abzulegen, »verpfuscht den Völkergedanken.«96 Hier bestimmen Kontroversen die ethnologische Szene: Befinden sich die Waldstämme Brasiliens auf niederer kultureller Entwicklungsstufe? – was von den Steinen bejaht. Oder ist ihr archaisches Dasein Folge von Verkümmerung und Niedergang, also Dekadenz? – was etwa Carl Friedrich Philipp von Martius behauptet. Wer verkümmert und niedergeht, muss vorher hinauf gelangt sein, folgert Karl von den Steinen. Für den aufsteigenden Weg finden die ethnologischen Kontrahenten der Entartungshypothese keine schlüssige Antwort. Und dies umso weniger, als Elementarbeobachtungen der Feldforschung zahlreiche Übereinstimmungen in Ideen und Einrichtungen bei entlegenen und sprachlich nicht verwandten Völkern feststellen.
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Fortschreitende Erkenntnisse führen indes zu differenzierter Betrachtung. In einem Diskussionsvotum von 1905 bemerkt von den Steinen: Er glaube nicht an die Dekadenz der Naturvölker und auch nicht, »dass die heutigen brasilianischen Naturvölker herunter gesunken seien aus früherer Höhe […]. Untersuchungen der letzten Jahre […] scheinen ein anderes wichtiges Moment genügend zu erweisen, dass nämlich von den alten Kulturvölkern in Peru wie von den Mexikanern […] eine Fülle von höheren Anregungen zu den Naturvölkern durchgesickert ist. Die Menschen selbst sind nicht herabgesunken, aber das, was von den gebildeteren Völkern zu den kulturarmen gelangte, tritt bei ihnen unter verkümmerten Formen auf, und ist doch nicht ihr eigenes Erzeugnis, sondern stammt aus der anderen Quelle.«97 Menschliche Evolution kennt letztlich nur eine Richtung, dass hochentwickelte Kulturen aus niederen hervorgegangen sind. Gemäß seiner feldforschenden Erkenntnis plädiert der Gelehrte für die Öffnung der anthropologisch-ethnologischen Perspektiven fremder Kulturen und ergreift somit die Chance zu Korrektur und Erweiterung der kulturhistorischen Wissenschaft. Mit diesem Plädoyer leitet Karl von den Steinen die Geburtsstunde des Kulturrelativismus ein. Er entwickelt nicht nur jene kulturwissenschaftliche Vorläuferidee, die heute in die Weltgemeinschaft einmündet, sondern auch das Bild von den Grundgemeinsamkeiten zwischen den Menschen in ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt. Franz Boas, in den 1880er Jahren von den Steinens jüngerer Berliner Kollege, Professor der Anthropologie, zunächst in Worcester (Massachusetts), dann an der Columbia University, Experte für die indigenen Völker im Nordwesten Amerikas, hat von den Steinens Kulturverständnis aufgenommen und weitergeführt. Boas vertritt die Gleichwertigkeit der Kulturen. Nach ihm sind alle Kulturen relativ – womit er sich entschieden gegen jede Form von Rassismus und Ethnozentrismus und nicht zuletzt gegen Kolonialismus wandte. Theodor Koch-Grünberg schließt sich dieser anthropologischen Grunderkenntnis an. 89
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Auch die strukturale Anthropologie Claude Lévi-Strauss‹, dessen iberoamerikanische Feldforschungen der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Monographie Traurige Tropen ihren Niederschlag gefunden haben, hat ihre Wurzeln im frühen Kulturrelativismus. Im Nachruf zu seinem Tode am 31. Oktober 2009 finden wir eine treffliche Würdigung kulturrelativistischen Denkens: »Er erkannte die gleiche Notenlehre in den vielfältigen Melodien der Zivilisation, die einheitliche Grammatik in den unterschiedlichen Ausdrucksformen der Kultur.«98 Allerdings verkennt der französische Ethnologe die Intention der Berliner Völkerkundler. Sie reisen nicht als Eroberer, sondern als Forscher. Sie suchen nicht indigene Gesellschaften auf, um sie zu kultivieren, zu zivilisieren und solchermaßen zu verderben oder gar zu vernichten. Sie treibt vielmehr die Suche nach den Anfängen um. Prädikate wie Primitivität, Dekadenz oder Armseligkeit der Urwaldmenschen belegen die jeweils vorherrschende europäische Sicht- und Beurteilungsweise. Die Kulturrelativisten verstehen Kulturen aus sich selbst heraus, daher sind sie nicht kommensurabel. Naturmenschen etwa mit Adjektiven zu versehen (wild, primitiv, barbarisch, etc.) verbiete sich. Sie verachten jede Form von Diskriminierung des Fremden. Unter Zugrundelegung reicher Felderfahrungen haben sie erkannt: Nicht rassebiologische Definitionen bestimmen das Leben eines Volkes/ Stammes, sondern ihre kulturelle Tradition. Diese Voraussetzung befähigt Ethnologen, Lebensweisen und Arbeitserzeugnisse der schriftlosen Gesellschaften insofern angemessen zu würdigen, als europäische Kulturmenschen in ihnen einzigartige Urkunden für die allmähliche Entstehung höherer Abstraktionen finden. Schriftlose Völker könnten Antwort geben auf Fragen nach unserer eigenen Herkunft. Genaue Beobachtung und Elementarisierung des Blicks gegenüber dem Fremden werden als probate Mittel empfohlen. Dadurch spiegelt sich das Vertraute in der fremden Welt und öffnet den Weg zu neuen Erkenntnissen. »Nicht entschieden genug kann die Ethnologie die auf der Studierstube verfertigten Modelle bei Seite schieben; sie bedarf lebendiger 90
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Geschöpfe aus weiter Welt und ihrer Werke.«99 Karl von den Steinen negiert den Gelehrtentyp, dessen Welt der Globus auf dem Schreibtisch ist. Sein kritisches Votum weist auf die fast ausschließliche Theorieebene der zeitgenössischen Völkerkundler hin. »Bis zum Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts waren Ethnologen überwiegend Schreibtischgelehrte, die die Berichte von Missionaren und Kolonialbeamten, von Reisenden anderer Disziplinen, von Seeleuten, Händlern und Pflanzern vergleichend auswerteten.«100
Mit Leib und Seele Ethnologe sein Nach zwei Forschungsreisen in den Urwald Zentralbrasiliens und der Veröffentlichung seiner ethnologischen Studien stellt sich für Karl von den Steinen erneut die Frage nach seiner beruflichen Zukunft. Während er noch in Brasilien weilt, beklagt er im Brief an seinen Mentor und Direktor des Berliner Museums, Adolf Bastian, die ungewisse berufliche Schwebelage, die ihn in Berlin erwarte. »Mit Leib und Seele möchte ich mich der Ethnologie ergeben, aber ich weiß nicht, wie es möglich sein wird […]. Da ich auf einen Zuschuss von Hause nicht weiter rechnen darf, bin ich absolut darauf angewiesen, mich nach einer Stellung umzusehen, die mit ausreichendem Einkommen verbunden ist […]. Vorderhand weiß ich eigentlich nur eine glückliche Lösung, dass ich an Ihrem Museum Directorialassistent würde; wäre dafür irgendwelche Aussicht vorhanden?«101 An eine Rückkehr zu den Geisteskranken denkt er nicht; denn »die Liebe zum Gegenstand [sc. der Ethnologie] ist mit der längeren Beschäftigung nur gewachsen […], und ich stimme mit der Erkenntnis unseres hochverehrten Altmeisters Adolf Bastian überein, dass der Untergang der gering geschätzten Naturvölker den Verlust unersetzlicher Urkunden für die Geschichte des menschlichen Geistes bedeutet«.102 Sofern westliche Kultur und Zivilisation rasant fortschreiten, würden die archaischen Lebensformen der Naturmenschen für alle 91
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Zeit verschwinden. Adolf Bastian rät ihm, sich wissenschaftlich zu qualifizieren. In der Habilitationsschrift »Erfahrungen zur Entwicklungsgeschichte des Völkergedankens« (1889) sucht Karl von den Steinen, seine reflektierten Feldforschungsergebnisse zu etablieren. Mit bemerkenswertem Spürsinn für ethnologisch relevante Fragestellungen weist er auf wissenschaftliche Defizite hin. Unter Vorbehalt nehmen die Gutachter der Philosophischen Fakultät der Friedrich-WilhelmUniversität, Professor von Richthofen und Dr. Kiepert, die Arbeit an. Ihr werden mangelnde Systematisierung der Gedankenfülle als auch methodische Unzulänglichkeiten vorgehalten. Wie hätte er sich auch an methodischen Standards orientieren können, die so gut wie nicht vorhanden waren. Die junge Wissenschaft kommt zunächst ohne Formeln, Experimente und Zahlen aus. Sie will das Denken öffnen für Fragen der Entstehungswahrscheinlichkeit des Menschen, seine evolutionäre und kulturelle Entwicklung bis in die Gegenwart. Hinreichende Erfahrungen im wissenschaftlichen Umgang mit kulturhistorischen und evolutionistischen Vergleichen auf der Basis praktischer Forschung vor Ort kann er also von den Gutachtern nicht erwarten. Bezeichnenderweise wird ein Stubengelehrter, Wilhelm Dilthey (1833–1911), der an außereuropäischen Kulturen desinteressierte Philosoph, zu einem weiteren Gutachten der auf ethnographischen Forschungen beruhenden Habilitation gewonnen. Wie sollte der Philosoph den ersten, unverfälschten Blick auf das archaische Leben der schriftlosen Urwaldvölker, ihre geistige und materielle Kultur, angemessen würdigen, wie die sinnliche Qualität beobachteter Fakten ethnographisch sachgerecht erfassen, einordnen? Nein, die Fülle ethnographischer Informationen iberoamerikanischer Urwaldgesellschaften ist ihm schlicht unzugänglich. Zum wissenschaftlichen Mainstream dieser Zeit bildet die indigene Welt eine terra incognita. Folglich bereitet die kulturelle Verschiedenheit der erforschten indigenen Stämme der geisteswissenschaftlichen Analyse erhebliche Schwierigkeiten.
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Diltheys Kritik trifft indes nicht so sehr von den Steinens wissenschaftliche Methode, sondern den Kern des Problems der Völkerkunde: die Eigenständigkeit gegenüber anderen Fächern und ihre wissenschaftliche Präzisierung.103 Die damaligen Forscher nähern sich der Völkerkunde »durch den Blickwinkel ihres eigenen Berufes.«104 Franz Boas wählt eine ratsamere Lösung. Er habilitiert sich 1886 in Geographie (damals verbunden mit den historischen Wissenschaften) und setzt wegen besserer Arbeitsbedingungen in den 1890er Jahren seine ethnologische Karriere feldforschend und lehrend in den Vereinigten Staaten von Amerika mit großem Erfolg fort. Möglicherweise war der Feldforscher Karl von den Steinen nicht klug beraten, als er seine Habilitationsschrift bei der jungen Disziplin »Ethnologie« (Philosophische Fakultät) einreicht; sie war zwar akzeptiert, aber noch nicht etabliert. Der Weg zu einem fachlich begründeten und fest umrissenen Lehrstuhl lag in sehr ferner Zukunft. Erst im Jahre 1952 (!) erhält das Fach an der Humboldt-Universität zu Berlin seine Selbständigkeit. Die Erfahrungswissenschaft nach komparativer Methode müsse einen anderen Weg einschlagen als den des Historikers, insistiert von den Steinen. Der Kulturforscher lässt zunächst den Zeitfaktor außer Acht. Er »lächelt über das ›schon‹ in den üblichen Wendungen: ›schon die alten Griechen und Römer‹, ›schon die alten Ägypter und Babylonier‹, weil ihm nur alt ist, was mehr oder weniger primitiv ist, d. h. was einer älteren Schichtenbildung angehört, gleichgültig, ob es an der Oberfläche oder in der Tiefe vorgefunden wird.«105 Von den Steinen meidet somit den Streit, ob die sogenannte Kulturarmut der Naturvölker eine tiefere Entwicklungsstufe darstellt oder die Folge von Verkümmerung und Niedergang ist. Indes stößt feldforschende Ethnologie an ihre Grenzen, wenn sie fest umrissene Kulturen annimmt. Kulturen, vornehmlich Stammeskulturen, sind weder fest umrissen noch rein, sondern in ständiger Mischung und Entwicklung. Der Ethnograph plädiert dafür, dass jede menschliche Gesellschaft die ihr gege93
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benen Möglichkeiten lebt. Und da sie nicht vergleichbar sind, gelten die Gesellschaften als gleichwertig. – Blitzt hier erstmalig die Idee der gemeinsamen Menschheit auf, die in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts Claude Lévi-Strauss in seiner epochalen Ethnologie »Traurige Tropen« (1955) weiterführend reflektiert? Schlagend in der Sache, taktvoll in der Form, so dass niemand aus der Ethnologenzunft sein Gesicht verliert, liefert von den Steinen mit Blick auf die 1890er Jahre ein kleines ironisches Glanzstück: Die Ethnologie sei ja bekanntlich ein Kind des 19. Jahrhunderts, das seine eigentliche Lebenskraft erst in der zweiten Hälfte empfangen habe. Und es sei nicht ausgemacht, ob es von den Kinderkrankheiten bereits genesen sei. Es werde noch heute von den älteren Geschwistern im inneren Herzen als unnützer Wildfang angesehen und von der etwas schwerfälligen Alma Mater selbst sehr stiefmütterlich behandelt.106 Seiner bisherigen Wirkungsstätte kehrt er den Rücken. Wahrscheinlich lag es an den unerquicklichen Vorgängen im Zusammenhang mit seiner Habilitation. Sicherlich spielten auch Neid und Missgunst am Museum eine Rolle. Er verlässt Berlin und habilitiert sich bereits 1890 an der Philipps-Universität zu Marburg um. Im Jahr darauf wird er dort zum Extraordinarius für das Fach Völkerkunde ernannt. Auf Grund fehlender ethnologischer Sammlungen demissioniert er bereits im Jahre 1892. Gegenüber dem Königlichen Curatorium der Philipps-Universität führt er am 3. März 1892 aus: »Dem Königlichen Curatorium […] beehre ich mich hiermit ganz ergebenst meinen Austritt aus dem akademischen Lehrkörper anzuzeigen […]. Wie ich allmählich gelernt habe, ist fruchtbare ethnologische Arbeit nicht möglich […] ohne das Material eines Museums. Nur an einem ethnologischen Institut […] könnte der Dozent ersprießliches leisten; denn ohne Demonstration vermag er bei dem Schüler weder die Grundlage wirklichen Verständnisses zu schaffen, noch die Möglichkeit selbständigen Urteils, das Ziel des Unterrichts, zu erreichen. Ich muß es deshalb zurzeit für nützlicher halten, der praktischen Forschung zu dienen als der Lehre.«107 Ohne 94
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enge Anlehnung an vorhandenes Tatsachenmaterial sieht der Gelehrte sich nicht in der Lage, sein Fach angemessen zu vertreten. Zurück in Berlin, wird Karl von den Steinen 1893 Direktionsassistent für die südamerikanische Abteilung am Königlichen Museum für Völkerkunde. Die Vorarbeit hat vermutlich Adorf Bastian geleistet, der Karl von den Steinens Karriere in Berlin, dem Zentrum deutschen ethnologischen Forschens, zu fördern gedachte. Zunächst scheint er wissenschaftlich auf der Stelle zu treten, obwohl er zeitgleich die damals bekannte geographische Zeitschrift Das Ausland redigiert und der Gesellschaft für Erdkunde vorsteht. Wie kommt es zu dieser fachlichen Schwerpunktsetzung? Auf Anraten Bastians bemüht sich der Ethnologe, über das Fach Geographie seine wissenschaftliche Qualifikation breiter anzulegen und seinen Bekanntheitsgrad in der völkerkundlichen Welt auszubauen. So repräsentiert er als Vorsitzender die deutsche Geographie auf dem internationalen Geographenkongress 1895 in London. Weiterhin betreibt er vergleichende ethnologische Sprachund Mythenstudien. Dabei erinnert er sich einer Vergangenheit, die für ihn noch nicht vergangen war: »Als junger Arzt hatte ich von einer Weltreise in den Jahren 1879 bis 1881 trotz Mexiko und Kalifornien, trotz Japan, Java, Indien und Ägypten die stärksten und lebendigsten Eindrücke doch von den polynesischen Inseln heimgebracht, wo Mensch und Natur in Schönheit und Freude zusammenklingen, wie sonst nirgendwo auf Erden«, führt er später im ersten Band seiner Trilogie Die Marquesaner und ihre Kunst aus. Der Gedanke, die polynesischen Inseln erneut aufzusuchen, nun mit ethnographischer Zielsetzung, treibt ihn um und sollte alsbald Wirklichkeit werden. Um eine »empfindliche Lücke in der Völkerkunde« zu schließen, begibt sich der gelehrte Feldforscher im Auftrag des Königlichen Museums zu Berlin im Sommer 1897 zu den Marquesas, einer verlorenen Inselgruppe in den Weiten des südlichen Pazifiks. Nach zehn Schreibtischjahren zieht es ihn wiederum zu Eingeborenen in eine weite, allerdings nicht unbekannte Welt, nun geographisch 95
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in die Gegenrichtung: nicht nach Südamerika, sondern in die Südsee. Dort forscht er ein halbes Jahr in paradiesischer Zivilisationsferne des naturnah lebenden Menschentums. Auch hier stellt sich die Frage nach den Beweggründen der allein durchgeführten Expedition. Was zunächst als wissenschaftlicher Seitensprung erscheint, erweist sich dann als Karriere fördernd. Abgesehen von fehlenden Exponaten der polynesischen Insel-Welt im Berliner Museum und bestehender Forschungslücken, dient diese Expeditionsreise in erster Linie der umfassenderen wissenschaftlichen Ausstattung des Ethnologen Karl von den Steinen, der nach wie vor auf die Übernahme eines Lehrstuhls an der Berliner Universität hofft.
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Wieder unter Eingeborenen – aber fünfzig Jahre zu spät Einen Augenblick lang, während seiner Reise um die Erde, hatte er sie wahrgenommen und liebgewonnen, die einfachen und zufriedenen jungen Menschen, eins mit der tropischen Natur: pittoresk, exotisch, verführerisch – dabei müssen seinen Augen jene Frauen in ihren langen, dunklen, hochgeschlossenen Leinenkleidern – der Missionsmode folgend – entgangen sein. Vielleicht fühlte er sich zu den Menschen hingezogen wie Herman Melville, jenem desertierten amerikanischen Matrosen, der, 1842 auf Nuku Hiva weilend, nicht nur den Weltbestseller »Moby Dick«, sondern auch »Vier Monate auf den MaquesasInseln« und die schöne Novelle »Typee« verfasst hat, oder wie Paul Gauguin, in den 1890er Jahren auf der Suche nach seinem Paradies auf Hiva Oa – und es dort fand. Melville konnte von den Steinen nicht begegnen; der war zwei Generationen früher da. Ob er Gaugin kennen lernte, davon erfahren wir nichts. Ihr Sujet war wohl zu verschieden. Bei den Ureinwohnern des Archipels sollte der nach wie vor ungeduldige Forschergeist erneut befriedigt werden. Sein vorrangiges ethnologisches Motiv: Kunst und Kultur der Tätowierung, Sprachen- und Mythenforschung. Auf der pazifischen Inselgruppe südwestlich von Hawaii lebt er ein halbes Jahr unter Eingeborenen in ihrem Naturparadies – leider fünfzig Jahre zu spät, wie er im Blick auf die Entdeckung dieses einzigartigen Kulturareals gesteht. »Handelsschiffe, Kriegsschiffe, immer wechselnde Beamte aus aller Herren Länder hatten die Schätze der alten Kultur entführt. Mir blieb die Nachlese.«108 Tal um Tal und Berg um Berg erschließend, erreicht er alle bewohnten Orte des Archipels und erwirbt für die Berliner Völkerkunde seltene Preziosen von einzigartiger, rätselhafter Ornamentik. Ferner betreibt er ethnographische Studien zur erstmaligen Deutung der motivreichen 97
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Nadelstechkunst (Tattoos) der Südseeinsulaner, erforscht hölzerne und steinerne Artefakte, die er in seiner umfangreichen Trilogie Die Marquesaner und ihre Kunst (1925 –1928) veröffentlicht. Allein die äußeren Umstände der Reise und des Aufenthaltes unter den Eingeborenen des polynesischen Archipels sind einer Forschungsidylle vergleichbar. Gefahren und Strapazen, Entdeckungen und Erkenntnisse der Erstbegegnungen mit Indianern im tropischen Urwald Amazoniens – wie weit liegen sie zurück! Er quert den Nord-Atlantik und Kanada bis Vancouver, erreicht St. Francisco und segelt am 1. August 1897 mit der »City of Papeete« in zwanzig Tagen recte via zur Hauptinsel des Marquesas Archipels: Nuku Hiva. Natürlich bewegt er sich nicht auf jungfräulichem Boden, den er als Weißer in Begegnungen mit südamerikanischen Ureinwohnern vor Jahren betreten hatte. Die Entdeckung der Inselgruppe liegt lange zurück. Vermutlich um 200 v. Ch. beginnt die Besiedlung von Samoa und Tonga beziehungsweise Hawaii aus. Erst 1595 kommt der Erstkontakt mit Europa zustande. Der spanische Admiral Alvaro de Mendana landet, von Peru kommend, auf der Insel Fatu Hiva und sucht später die Nachbarinseln auf. Zu Ehren des Marques de Mendoza, Vizekönig von Peru, nennt der Admiral die Inselgruppe »Marquesas«. »Der Admiral beeilt sich, an Land die erste Messe lesen und den ersten Mais säen zu lassen: zwei Saaten, die beide nicht aufgegangen sind«, bedauert Karl von den Steinen.109 Über Jahrhunderte versuchen sich christliche Missionare am untauglichen Objekt. Fast alle Mühen, die kannibalischen Eingeborenen für den christlichen Glauben auf Dauer zu gewinnen, sind vergeblich. In Messen und Andachten kommt es regelmäßig zu heftigen Zornesausbrüchen: »Alles ist falsch! Euer Gott ist schlecht, gut sind wir, und unser Gott ist der Wahre.« Der alte Missionar Amstrong kann es nicht fassen: »Sie können einander töten und verzehren und dennoch glauben sie, sie täten Gottesdienst.«110 Leider fehlt dem Missionar die nötige Empathie: Wer frei, glücklich und ohne Schuldgefühle lebt, braucht keine Sündenlehre und Erlösung 98
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vom Bösen. Marginal und von bescheidenem Erfolg bleibt zunächst die Mission der christlichen Glaubensväter. Der Archipel gerät zwei Jahrhunderte lang in Vergessenheit. Denn der nächste Seefahrer, James Cook – jener britische Weltumsegler, der 1779 auf Hawaii erschlagen wird – betritt die Marquesas erst im April 1774. In seiner Begleitung befinden sich die deutschen Natur- und Völkerkundler Johann R. Forster (1729–1798) und Sohn Georg Forster (1754–1794), Nestor essayistischer Reisebeschreibungen und Verfasser einer Wörtersammlung der marquesanischen Sprache, auf die Karl von den Steinen in seinen Studien zurückgreift. In den Folgejahrzehnten durchquert Schiff um Schiff der großen Seefahrernationen den Stillen Ozean und streift jeweils auch die Marquesas. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht Adam Johann von Krusenstern (1770–1846), russischer Admiral von deutscher Herkunft, mit 99
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einer von ihm geführten Expedition 1803 die Inselgruppe. Friedlich erobert er die Marquesas und erwirbt sich hohe Verdienste um die Ethnographie des polynesischen Inselreichs. Ethnologische Forschung verdankt ihm sowie seinen Reisegefährten v. Langsdorff und Tilesius die ersten eindrucksvollen Bilder der tätowierten Südseeinsulaner, wobei die Ganzkörpertätowierten besonders ins Auge stechen. 1842 hisst der französische Admiral Dupetit-Thounars die Trikolore und annektiert die Inselgruppe. Seither gehören die Marquesas-Inseln geographisch und politisch zu Französisch-Polynesien – also den französischen Überseeterritorien, wie man die ehemaligen Kolonien heute nennt. Der Marquesas-Archipel besteht aus vierzehn Inseln und zahlreichen Atollen – vulkangeboren, vor zehn Millionen Jahren aus dem Meer gestiegen. Es sind die Berggipfel der Tiefsee, geographisch: die Hot Spots der pazifischen Platte. Schroff fallen die zerklüfteten Felsen ins Meer. Schwarzer Sand bedeckt die kaum vorhandenen, kleinen Strände. Baden ist nur bedingt möglich. Im Jahresmittel beträgt die Temperatur bei hoher Luftfeuchtigkeit 30° C. Die Vegetation ist tropisch, aber nicht üppig. Eher einförmig und artenarm charakterisiert Karl von den Steinen Fauna und Flora. Die gesamte Inselgruppe erstreckt sich von Nordwesten (Nuku Hiva) nach Südosten (Fatu Hiva) mit einer Landfläche von ca. 1300 Quadratkilometern. Von vierzehn Inseln sind um die Wende zum 20. Jahrhundert sechs bewohnt. Der tropische Archipel ist von der nächsten Landmasse Neuseeland 5000 Kilometer entfernt, nach Australien werden 6000 Kilometer gemessen. Wer die Marquesaner auf ihre geographische Abgelegenheit anspricht, wird mit der Antwort beschieden, dass ihre nächsten Nachbarn die Götter seien. Weiter weg kann man nicht sein. Auch von der Grande Nation nicht, die noch heute jenen Teil Polynesiens alimentiert.
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Erkundungen auf Nuku Hiva »Die Eingebornen waren wohlgebildete, schöne Leute von gelblicher oder hellbrauner Farbe; die aber der vielen Puncturen wegen, womit sie am Leibe gezieret waren, ins schwärzliche zu fallen schien. Sie gingen völlig nackend, und hatten bloß ein klein Stück Zeug […] um die Hüften; Bart und Haare sind glänzend und schwarz.«– erzählt Georg Forster, Cooks Reisebiograph während seiner zweiten Weltumsegelung und Autor des epochalen Essays »Reise um die Welt.«111 Mehr als ein Jahrhundert später begegnen diese farbverzierten, pittoresken Ureinwohner der Marquesas, die sich selbst henua enana (Land der Männer) nennen, Karl von den Steinen. Vor allem junge Männer und Frauen gefallen sich in ihrer von Kopf bis Fuß tätowierten Haut. Häuptlinge und Krieger sind in der Regel am ganzen Körper tätowiert, so dass selbst bei genauer Betrachtung kein Fleck natürlicher Haut auszumachen ist. Was bedeutet dieser schwarzblaue Schmuck, der von Kopf bis Fuß den ganzen Körper überzieht? Welche Kultur bringt derartige Gestaltungsmöglichkeiten der menschlichen Haut hervor? Weil »jeder Alte eine lebende Bibliothek ist«, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt, lässt der Ethnologe sich von erfahrenen Männern und Frauen Geschichten über Leben und Glauben der Inselbewohner und ihrer Tätowierkunst erzählen. Seiner Ehefrau daheim berichtet er Details des Arbeitstages im Telegrammstil: »Aufstehen um ½ 6 Uhr, Bad, Frühstück: Kaffee, zwei Eier, gelegentlich eine Banane. Um 7 Uhr erscheint Tauahokaani, meine Lehrerin, und die Schreiberei, von vielen Qualen des Übersetzens lange unterbrochen, geht an bis ½ 11 Uhr. Mittagessen und Fortsetzung von ½ 1 bis nach 5 Uhr. Abendessen, Sitzung mit Bradora und Nataro, d.h. ich sitze an meinem vom Bischof gepumpten Tisch, die anderen liegen auf der Matte, Frau Nataro schläft bereits. Ende gegen 9 Uhr. Die Abwechselung liegt im Wetter«112. So die eingangs erwähnte Forscheridylle! 101
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Zunächst schreibt von den Steinen die Geschichten auf, versteht sie aber kaum. Mit Hilfe der Dolmetscherin gelingt es ihm später, seine Niederschrift zu enträtseln. Daraus leitet er aufschlussreiche Verknüpfungen zur Erforschung der marquesanischen Kultur ab. »So arbeitete ich von Insel zu Insel und nach Möglichkeit von Dorf zu Dorf und wurde endlich selbst ein […] Wissender.«113 Gleichwohl gehört zu diesem Wissen die Annahme, dass jede sinnvolle Wörterfolge auch in der Muttersprache formulierbar ist. Indes muss der Gelehrte einsehen: Eins-zu-eins-Übersetzung misslingt. Die Sprachbilder der Eingeborenen haben oftmals kein Pendant zur europäischen Hochsprache. Auch die Dolmetscherin ist nicht in der Lage, ihre eigene Sprache grammatisch richtig zu schreiben. Fast resignierend hält er fest: »Weil man die Sätze, die man hört, nicht in die einzelnen, durchaus vertrauten Wörter auflösen kann, ist mir eine Sprache noch nie so unangenehm fühlbar gewesen […]; was ein »i« oder »a« oder »e« alles bedeuten kann, ist schauderhaft.«114 In den Sitzungen erkennt der Ethnologe, dass diese fabelhaft begabten Menschen nicht nur ihre persönliche Lebensgeschichte erzählen können, sondern auch vergegenwärtigen, was als Brauchtum, Tradition und Religion bekannt ist. Dabei fließen subjektive Betrachtung und objektive Deutung ineinander. Sie verlieren sich nicht selten in phantasievollen und visionären Bildern des Erzählers. Denn tradiertes Wissen, gespeichert allein im Gedächtnis, ist notwendig selektiv: Einiges wird hinzuerfunden, umgedeutet, anderes unterschlagen, neu gewichtet. Die Geschichten der Alten schmecken nach Heldensage, Mythos und Legende. Imaginationen kreieren Mythen, nicht nur über Sonne, Mond und Sterne. Alle nur denkbaren Ereignisse des menschlichen Lebens werden in epischer Breite und großer Emphase ausgesponnen. Kämpfe, Feste, Seefahrten, Liebesabenteuer, Kraftproben sowie der Glaube an den Himmel der Götter, bei denen es ausgesprochen menschlich zugeht, spielen eine herausgehobene Rolle. Vor allem Ereignisse aus vorgeschichtlicher Zeit spiegeln den Versuch, menschli102
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ches Selbstverständnis und weltliches Geschehen aus ihren Ursprüngen heraus zu deuten. In Anlehnung an das Leben der Götter legen die Eingeborenen ihre Gegenwart aus. Da keinerlei schriftliche Dokumente vorhanden sind, die historische Kontinuität garantieren, sind die phantasievollen Erzählungen von relativem Wert. Im nachgelassenen Schrifttum des Ethnologen »Marquesanische Mythen« (1933/34) finden wir detaillierte Entfaltungen des ätiologischen Sagen- und Mythenschatzes der Urbevölkerung, unter anderem auch die polynesische Variante von Adam und Eva, dem ersten Menschenpaar: Tiki (= Gott), der Mann, hat an seiner Seite Hina-MataOne, die Frau. Sie schlief auf dem Sand, der sich bei Ebbe anhäuft. Tiki kam zu ihr, und die Frau trieb böses Spiel. Es wurde eine Tochter geboren, die Tiki ins Landesinnere entführte. Die Frau bat Tiki: »Gib mir unsere Tochter, damit du nicht böses Spiel mit ihr treibst.« Tiki jedoch willigte nicht ein. Sie lebten im Hause des Tiki zusammen und das Mädchen wurde erwachsen. Eines Tages schlug Tiki vor, sie solle im Hause nach oben gehen; dort sei ein Mann, der ihm aufs Haar gleiche. Als die junge Frau oben ankam, war der Vater bereits da. Er hatte sich nämlich ohne Wissen seiner Tochter nach oben geschlichen. »Du bist ja wie mein Vater!«, rief sie erstaunt aus. Er leugnete. Dennoch trieben sie böses Spiel […]. Die wiederholte väterliche List, jeweils als erster am Ort des »bösen Spiels« zu sein, durchschaute die Tochter und meinte, es sei ein gutes Ding, miteinander zu leben. Und da der Vater sich immerzu ergötzte, wurde eine Tochter geboren, die Tetua-Oa (= Gott des langen Tages); sodann wurde ein Sohn gezeugt mit Namen TuaMetaki (= Windgott). Eines Tages, als beide herangewachsen waren, standen sich Schwester und Bruder von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Fragte der Bruder: »Wo ist das Heilmittel des Motea?« »Hier in den Lippen«, antwortete die Schwester. »Nein, tiefer!« gab der Bruder zurück. »In meiner Brust?« »Nein, tiefer!« »Wo?« »Tiefer abwärts!« Sie zeigte auf den Nabel. »Nein, noch tiefer!« »Hier?« »Ja, da ist das Heilmittel des Motea!« (= bezieht sich auf die Ejakulation). Sagte die 103
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Schwester: »Komm her!« Bruder und Schwester lebten zusammen und es entspross ein Kind im Leib der Schwester.«115 Vergleichbare mythische Motive haben wir bei den Bakairi-Indianern vorgefunden. Etwa in der dortigen »Schöpfungslegende« wird die erste Frau schwanger, indem sie zwei »Pfeilknochen« verschluckt. Eine Umschreibung für den zweimaligen Koitus mit dem nicht näher beschriebenen (Gott?) Kamuschini.116 Was in das kollektive Gedächtnis der Inselbewohner eingegangen ist, wird entfaltet: die Entstehung der Welt, das Wirken der Götter, Menschen und Tiere. Frei von reflektiertem Denken, jedoch gepaart mit List und Schläue, erzählen die Südseeinsulaner ihre Mythen in kindlichem Lapidarstil. Charakteristikum der Mythen- und Sagenwelt sind Assoziationen und Konnotationen, deren Wahrheitsgehalt sich jeder historischen Überprüfbarkeit entzieht. Alle Geschichten der Eingeborenen sind tabu-, aber nicht kostenfrei. Jeder Erzähler lässt sich gut bezahlen. Der Besitz einer Geschichte wird als reeller, käuflicher Wert betrachtet. Ein alter Priester, empört sich der Forscher, »forderte mit einem feindseligen, gehässigen Blick 80 Dollar Vorausbezahlung, wenn er nur irgendeine meiner Fragen beantworten solle. Ich war starr über dieses Autoren-Honorar, das wahrscheinlich kein Verleger für ein Buch über die Marquesas bewilligen wird, musste aber die Hälfte bezahlen.«117 Zum Glück wird in chilenischen Dollars gerechnet, deren Wert weniger als die Hälfte der amerikanischen Währung ausmacht.
Bilderrätsel virtuos in die Haut gestochen Alles, was sich von Kopf, Herz und Hand verwirklichen lässt, wird unter die Haut getrieben. Die zeichnerischen Gestaltungsmöglichkeiten sind zahllos. Der europäische Blick erkennt in der EingeborenenTätowierung vor allem eine Aufwertung und optische Verschönerung des weiblichen und männlichen Körpers. Mathematisch-geometrische Linienornamentik wechselt sich ab mit stilisierten Motiven aus dem 104
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Tierreich. Die auf ihre Grundform reduzierten Pflanzen- und Tierdarstellungen werden kombiniert. Und immer wieder Kreise, Dreiecke, Rechtecke, Rauten, Quadrate und so genannte Strichmännchen ergänzen die Motivvielfalt. Auffällig sind streifenähnliche Aussparungen der Ganzkörpertätowierten. Dadurch entsteht eine Art Zonengliederung. Sie hat nicht nur symmetrisch-aufteilende Funktion, sondern dient auch der Hervorhebung der Einzelmotive in der Gesamtornamentik des oder der Tätowierten. Besonders eindrucksvoll fallen die überaus fantasievoll stilisierten Tikis aus. Eigentlich sind es Vorbilder, Muster. Karl von den Steinen deutet diese »Figürchen« (= Tikis) als Gesichter eines Gottes der Marquesaner und Urahn des Menschengeschlechts. Tikis finden sich vor allem an den Wölbungsflächen des Körpers: Podices, Knie- und Oberarmgelenken. Der Kürze halber spricht der Ethnologe von »tikigenen Motiven«. Ferner stechen Motive der Fauna des Ozeans ins Auge: Haie, Wale, Rochen, Krebse, Delphine, Schildkröten – alles kunstvollgeometrisch, vielfach verbunden mit Schachornamentik auf der Brust, in die Haut gebracht. Besonders dem Motiv der Schildkröte, dem heiligen Tier der Marquesaner, wird magische Kraft zugeschrieben: Schutz gegen Krankheit, Verwundung und Unglück sowie gegen Niederlage und Not. Es steigert aber auch Zeugungsfähigkeit und allgemeine Attraktivität. Das Schutzmotiv der Eingeborenen ist gleichzusetzen mit »Abwehrzauber«. Dieser prophylaktischen Maßnahme wird höchste Wirkung zugesprochen. Folglich ist jeder und jede bis hinter beide Ohren tätowiert: »Die Linien um die Lippen sind ein Zauber gegen Zahnweh und Hunger, die um die Augen für scharfes Sehen, die auf der Brust gegen Speere und Flintenkugeln, die in der Gegend der Gelenke, um Rheumatismus oder Verrenkungen abzuwehren.«118 Besonders eindrucksvoll sind die Häuptlinge tätowiert. Ihr Körperschmuck zeugt von Kraft, Macht, Stärke (marquesanisch mana). Er markiert den Stammesunterschied und ist Teil kriegerischer Vorbereitung. Der mar105
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16 Ganzkörpertätowierung eines Kriegers aus dem te.i.i.-Stamm, Tilesius, 1804. 106
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17 Zonentätowierung mit Detailerklärungen in polynesischer Sprache. Zeichner: Kahi Hanaupe. 107
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tialische »Schreck-Schmuck« wird derart intensiv in die Haut getrieben, dass selbst die Suche nach einem Quadratzentimeter natürlicher Haut erfolglos ist – wenn man die Fußsohlen außer Acht lässt. Die Ganzkörpertätowierung besteht nicht aus einer Einzelleistung. Sie wird über Monate und Jahre derart komplettiert, dass noch vorhandene natürliche Hautregionen den Raum für Verschönerungen der Hauptmotive bilden. Die auf der Haut vorgezeichneten und anschließend tätowierten Motivkombinationen werden individuell ausgewählt. Niemals finden sich zwei Eingeborene mit derselben Tätowierung. Abgesehen von der Bedeutung der Einzelmotive wird dem phantasiebegabten und tattookundigen Betrachter am Ende ein so genannter motivreicher Gesamtplan deutlich. Das unterscheidet die polynesische Tattoo-Kunst etwa von tätowierten Australiern, Japanern oder Chinesen, die farbige, naturgetreue Einzelmotive wie Drache, Tiger, Fisch oder chinesische Tattoo-Kalligraphie bevorzugen. Sprechen wir die Stilisierungen des gewaltigen Zeichenrepertoires der Tätowierer an, so haben wir es nicht mit der hohen Kunst einer Motivstilisierung und reflektierter Darstellung zu tun, sondern mit einem Rückgriff auf Grundformen und markante Merkmale des darzustellenden Objekts. Bezeichnend ist das häufig wiederkehrende Schildkrötenmotiv: als Tattoo besteht es aus dem Körper (= Oval), vier Beinen (= gewinkelte Doppelstriche, jeweils zwei nach vorne und hinten) sowie dem Hals (= Doppelstrich nach oben) und dem Kopf (= kleine Raute). Diese archaisch-naive Kunst ist allen Völkern Ozeaniens gemein, die jenseits der Hochkulturen leben.
Die Erotik des Augenblicks Ferner erkennt der Ethnologe einen praktischen Nutzen überraschender Art: Die gesamte farbpunktierte Haut des Menschen hebe den Eindruck der Nacktheit und des Schamgefühls völlig auf. Da jene Ornamente vorwiegend in den mittleren und unteren Regionen des 108
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Körpers vorkämen, könnten sie als früher Kleiderersatz gelten, und zwar »mit dem unschätzbaren Vorteil sowohl der Dauer als auch der Unverlierbarkeit.«119 Symmetrische Linearornamente schmücken den tätowierten Mann von der Hüfte bis zu den Unterschenkeln, einschließlich der reich verzierten Podex- und Afterregion. Er scheint eine eng anliegende, dunkelblaue Seidenhose zu tragen, die bei Fest und Tanz in parfümiertem Kokosöl glänzt. Dass dieses Beinkleid nicht nur zeremonialer Schmuck ist, sondern auch die Attraktivität des (jungen) Mannes steigert, zumal, wenn er im Spiel der Muskeln, ihrer Dehnung und Kontrahierung, verblüffend erotisch-sexuelle Reize auslöst, sprengt kaum unsere Vorstellungskraft. Süffisant bemerkt der Ethnologe: »Die Männer haben nicht den Fettreichtum, der viele ihrer westlichen Verwandten nicht günstig auszeichnet.«120 Junge Frauen neigen zu sparsamerem Körperschmuck: Arme, Beine, Hände, Füße, Rücken und Lippen sind bevorzugte Partien – um das Auge empfänglich zu machen für die schillernde Erotik und den koketten Charme des Augenblicks. Zeichenhaft deutet der geschmückte Körper den Abschied von der Kindheit als Stempel der beginnenden Reife an. Das Selbstwertgefühl der achtzehn- bis zwanzigjährigen Männer wächst und trägt die Bewunderung des anderen Geschlechts ein. Daraus folgert der Ethnologe, dass die Tätowierung dieser lebensfrohen Menschen wesentlich ein sexueller Reizschmuck rein ästhetischen Charakters sei. Bei genauer Beobachtung wird indes die verführerische Selbstdarstellung junger Frauen offensichtlich. Dem Anblick figürlicher Grazie und tätowierter Haut kann sich kein Auge entziehen. Während die Männer ihren Hamigürtel, den Geschlechtsschutz, beim Tanz nicht ablegen, verzichten die Frauen darauf. Unbekümmert und direkt zeigen naturnah lebende Menschen, was sie auszeichnet: Die Tätowierung des Mannes steht für seine Kampfeslust, Stärke, Potenz. Im Bilderschmuck der Frau dominieren Liebreiz, Erotik und Verführung. Sie geben sich dem Tanz und der Liebe hin. Dem Reiz des Sinn109
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lichen folgt die sexuelle Hemmungslosigkeit, die Freude am orgiastischen Event: »Unverheiratete Mädchen [können] ungestraft und nach Wohlgefallen ihrer Liebeslust frönen, was sie ausgiebig und mit ungebremster Sinnesfreude [tun], und dies bereits ab dem zehnten Lebensjahr. Je mehr Liebhaber ein Mädchen [hat], umso mehr Achtung [genießt] es.«121 Wohlhabende Männer nennen so viele Frauen ihr Eigen, wie sie ernähren können. Ist hier die Vorstellung von einer Welt des Wohlergehens, des Friedens und der freien Liebe zu Hause? Lebensfrohe, wohlgeformte, expressive Menschen, immer und gerne in Bewegung, leben abseits jeder Vulgarität die Wonnen des Daseins. Überhaupt kann das selbstdarstellerische, dekorative Bedürfnis dieser Kinder des Südsee-Idylls kaum überschätzt werden: »Was immer die Tropennatur an geeignetem Material zu bieten vermag, wird herbeigeschafft, kunstvoll gebunden, geflochten, graviert und geschnitzt.«122 Eine reiche farbige, duftende und verschwenderische Vielfalt. In malerischen Symmetrien überzieht die Motivvielfalt den ganzen Körper der Insulaner. Jedoch kann der begehrte Körperschmuck auch andere Empfindungen auslösen. Denn die »Tatauierung kann ebenso gut der Verunstaltung wie der Verschönerung dienen, sie entstellt den Verbrecher und den Sühnepflichtigen, sie ziert den Krieger und das junge Weib.«123
Tattoos auf dunkler Haut Bei Menschen dunkler Hautfarbe hebt sich die blauschwarze Linienzeichnung nicht ab. Daher praktizieren die Marquesaner eine zweite Art der Körperdekoration: die Narbentätowierung. Durch (schmerzhaftes) Einschneiden oder Einritzen der dunklen Haut bleiben dauerhafte, etwas wulstige Schmucknarben zurück. Zweifelsfrei sprechen sie die Männlichkeit des Trägers an und verleihen ihm optisch martialische Stärke. Sowohl die durchgängig angewandte Stichtätowierung auf weißer und gelber Haut als auch die Narbentätowierung sind bei 111
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allen Naturvölkern, besonders bei den Eingeborenen der Südsee, hinreichend bekannt. Die Wortbedeutung »Tätowierung« respektive »Tatauierung« ist unklar. Sie geht sprachlich vermutlich auf eine lautmalerische Entwicklung zurück: tatatu bedeutet im Tahitischen »Wunde«, »Verwundung«; dazu kommt das Tak-tak-tak. Gemeint ist wohl das tackernde Punktiergeräusch des traditionell benutzten Tätowierkamms während des Anbringens der Tattoos in die mittlere Hautschicht (Dermis). Kurzum: Tatauieren/Tätowieren, meint der Forscher, bedeute so viel wie »Wunden schlagen«, aus denen dann Bilder entstehen. Mit dem Punktieren wird ein Farbstoff aus »verbrannten und pulverisierten Kokosschalen« oder »Brennuß-Ruß«124 unter die Haut getrieben, so dass sie später dunkelblau nachleuchtet. Tätowieren kann nicht jeder. Die »Meister des Bilderklopfens« sind im polynesischen Sprachgebrauch Professionals des ornamentalen Hautschmucks. Die Tatauiermeister haben in der polynesischen Gesellschaft einen herausgehobenen Status und daher Anspruch auf ein angemessenes Honorar. Wer keine Dollars besitzt, bezahlt mit Naturalien: namentlich Schweinen. Wer beides nicht sein eigen nennt, bleibt untätowiert und somit gesellschaftlich deklassiert. Angesiedelt zwischen Medizinmann und Priester, erhalten die Tätowiermeister ihre Aufträge in der Regel von Häuptlingen, die ihre Stammesangehörigen tätowieren lassen. Wie überall im polynesischen Inselreich erklingen während der Tätowierung in den Hütten beschwörende Lieder, die den Glauben an die Abwehr-, Schutz- und Heilwirkung der Hautbilder stärken sollen. Den nachhaltigsten Eindruck der Ganzkörpertätowierung hinterlässt die so genannte Trauertätowierung. Sie besteht aus einer Quer linierung des ganzen Körpers. Gesicht, Hals und Hände werden ausgespart. Auf den Knien erkennen wir das bekannte Schildkrötenmotiv. »Allgemein verbreitet«, erklärt von den Steinen, »war das Ritzen und Zerfleischen der Haut, eine Kulthandlung anlässlich des Todes. Das 112
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Abhacken der Klein- oder Ringfingerglieder […] war nur eine feierliche Variante dieser Skarifikation [Einritzen oder Einschneiden der Haut, U.v.d.St.]; es kam darauf an, das Blut hervorströmen zu lassen, man hackte von Fall zu Fall ein Glied nach dem anderen ab […]: Blutspenden durch Wunden und Verstümmelung die kleinen, Darbieten eines Lebenden durch Menschenopfer das große Mittel, um den göttlichen Zorn zu beschwichtigen.«125 Tätowierung in ihrer stärksten Ausdrucksform ist folgerichtig sakrales Blutopfer. Man bringt den Göttern mit dem Getöteten die kostbarste Speise zum Geschenk dar – ein Blutbad als Totenspende mit der Absicht, die Götter günstig zu stimmen inmitten von stundenlangen monotonen Gesängen und Tänzen. »Die Opfer waren symbolisch die Fischspeise der Götter: an der Angel schleifte man den Erschlagenen, hing ihn auf zur Verwesung […]. Die meisten Opfer wurden auf dem großen Festplatz getötet, oder, wenn sie schon erschlagen waren, verzehrt […]; alle stürzten sich über die Leiche, um eines Stückes habhaft zu werden. Wer kein Messer hatte, biss in die Haut um die Brustwarze in dicken Knoten los und konnte dann, wie man versichert, mit einem einzigen Zuge den ganzen Arm losreißen.«126 Die tätowierten Männer besitzen gegenüber Nichttätowierten sowie den Frauen und Kindern das Privileg, das erste und beste Fleischstück verzehren zu dürfen. Bis in die Gegenwart wird der Menschenopferkult auf den Marquesas als Kannibalismus praktiziert. Vom 17. November 1974 wird berichtet: »›Big man‹ (= Häuptling) verstorben, (er) wurde von drei Frauen verspeist. Sie wurden zur Polizei zitiert, aber wieder freigelassen.«127 Burgl Lichtenstein, Völkerkundlerin und Marquesas-Reisende der Gegenwart, berichtet zum Beispiel von der priesterlichen List, Menschenfleisch beschaffen zu lassen: »Erkrankte ein Priester lebensbedrohlich, wurde ein Bewohner aus einem feindlich gesinnten Tal gefangen und als Opfer für seine baldige Genesung dargebracht. Gesundete der Priester, war die Sache in Ordnung, wenn nicht, wurde die Opferjagd
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wiederholt. Starb er, nahm das ganze Tal Anteil und fiel im offenen Kampf über einen feindlichen Stamm her.«128 Kannibalismus (Anthropophagie) wozu? Er dient nicht der normalen Nahrungsaufnahme. Der Verzehr von Menschenfleisch beruht auf der Vorstellung einer dualistischen Beziehung von Seele und Körper. Indem die polynesischen Eingeborenen Menschenfleisch essen, glauben sie, Kraft, Macht und Stärke (mana) des Verstorbenen sich ohne jede symbolisierende Überhöhung ›einverleiben‹, also auf den eigenen Körper, die eigene Seele, übertragen zu können. Ferner glauben und hoffen sie, durch Menschenopfer die Götter des marquesanischen Himmels derart für sich einnehmen zu können, dass sie von Blitz, Donner und Feuer ablassen. Zwar treiben auch Not und Hunger Menschen dazu, schlechthin alles zu essen. Bei den Polynesiern müssen wir magischen, mystischen respektive religiösen Ursprung der Anthropophagie annehmen. Zweifellos ist der Menschenopferkult ein schweres Vergehen, bestraft wird er kaum. 114
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Polynesischer Glaube Fragen wir den Ethnologen nach Ursprung, Herkunft und Überlieferung der Tattoo-Kunst, die in der Welt dieser Menschen eindrucksvoll und dauerhaft zum Ausdruck kommt, so führt er sie auf einen »urzeitlichen und kosmopolitischen Brauch« zurück.129 Auf dem asiatischen Festland werde er ebenso gepflegt wie in den ältesten Traditionen der Maori (Neuseeland) oder auf Samoa, Tahiti und Hawaii – stilistische Motivwechsel eingeschlossen. Die Tätowiermeister, arm an technischen Mitteln, reich an Phantasie und manueller Fertigkeit, eröffnen in den Schmuckmotiven der Haut eine Götterwelt, die, so wird geglaubt, vor dem Menschengeschlecht existierte. Auch auf Tahiti wird ausführlich erzählt, dass es die Tatauierung vor den Menschen gab. Das heißt: Die Frage der Erschaffung des Menschen ist dem Polynesier zwar nicht belangvoll, aber sie beschäftigt ihn ebenso wie die nach dem Ursprung der Tätowierkunst. Wie so häufig in der Sagen- und Mythenwelt, ist die Herkunft den Göttern geschuldet. Mythen erzählen, wie die Gegenwart des Seins aus der Vergangenheit begründet wird. Alles Werden, Bestehen und Vergehen lösen einander in endloser Folge ab: die Sonne folgt dem Mond, das Licht dem Dunkel, der Tag der Nacht, während das Himmelsgewölbe stets gleichmäßig seine Bahn zieht. Damit ist aber ihre Herkunft noch nicht geklärt. Wo bleibt die untergegangene Sonne? In der Unterwelt? Sie heißt im Glauben dieser Menschen nicht Orkus, sondern Hawaii. Geht am Abend die Sonne am Horizont (= im Meer) unter, setzt sie ihren Lauf unter dem Meer (unter der Erde) fort und geht in Hawaii auf. Versinkt sie dort am Abend im Meer, wird es hell auf den Marquesas. Es gibt also auf der westlichen Seite der Erde ein weiteres Land der Pflanzen, Tiere und Menschen. Ähnliches geschieht mit den Toten. Auch ihre Seelen erreichen Hawaii, das Land ihrer Vorväter. Sie durchwandern den Archipel in dreißig Tagen, vom »oberen« ins »untere« Hawaii – wobei Wächter 115
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den jeweiligen Eintritt kontrollieren: »Seele, wohin willst du? Ich gehe nach Hawaii hinab. Was für Sachen hast du bei dir?« Sofern es sich um »wertvolle« Accessoires handelt: Kleid, Bartschmuck, Gürtel oder Pottwalzahn, gibt der Wächter sein Plazet: »Du sollst nicht sterben, du hast viele kostbare Dinge!«130 Nicht nach Hawaii, sondern in den Himmel fliegen die Seelen der Priester. Sie verwandeln sich in einen Nachtschmetterling, der sich zu einem großen Vogel auswächst und himmelwärts fliegt. Das sei der Glaube der »Allerältesten«, meint der Ethnologe, also Ausdruck polytheistischer Religion. Nun gehen Entstehungsglaube und mündlich überlieferte Mythen-Tradition in naturreligiösen Vorstellungen derart unauflösliche Verbindungen ein, dass ihr Wert zwar theologisch aufschlussreich, jedoch historisch bedeutungslos ist. Die Herkunft der Marquesaner von den Einwohnern der Hawaii-Inseln abzuleiten, mag historisch zu verifizieren sein; dass sie als Tote zu ihren Vorvätern nach Hawaii zurückgehen, ist natürlich mythischen Vorstellungen zuzuordnen. Menschliches Leben von der Zeugung bis zum Tode ist Gottheiten zu verdanken. Das Faktum der Endgültigkeit des Todes aller Kreatur sprengt den geistigen Horizont des Polynesiers. Er glaubt an Verwandlung und Weiterleben in anderen Kreaturen. Wie schon bei den indianischen Waldmenschen Brasiliens dargelegt, ist auch auf den Marquesas der Glaube an Verwandlungen von Mensch zum Tier und umgekehrt zu Hause. Der weite, kontrastreiche (Götter-) Himmel über den Inseln des größten Meeres unserer Erde bildet den Horizont des Glaubens dieser unbedarften Menschen. Der polynesische Mythos besitzt jene Kraft der lebendigen Anschauung, in der die Wanderungen der Wolken, ihre stetig wechselnden Bilder vom Werden und Vergehen gleichnishaft das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tode abbilden. Die Götter im Himmel bewegen den Willen der Menschen und verknüpfen ihn kausal mit allen Vorkommnissen des irdischen Lebens. Daher kommt es immer darauf an, den Willen der Götter zu erkennen und sie durch kultische Handlungen 116
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(Opfergaben) gütig zu stimmen. Sagenhafte Ereignisse liegen diesen Vorgängen zugrunde. Die Erfindung der Tätowierung liest sich so: Hina, die Tochter des Gottes Taaroa, gebar ihrem Vater eine Tochter, Apouvorn, die ebenso die Frau des Taaroa wurde. Aus dieser Verbindung gingen zwei Söhne hervor, sodann wieder eine Tochter, die ihre Keuschheit bewahren sollte, obgleich die Brüder ihre Verführung beabsichtigten. Das wollte nicht sogleich gelingen. Also erfanden die Brüder den Hautschmuck, das Tatauieren. So geschmückt, erscheinen sie vor ihrer Schwester, die vor lauter Bewunderung über die reich verzierten Körper Opfer der brüderlichen Absicht wird. »So hatte die Tatauierung ihren Ursprung unter den Göttern. In Nachahmung ihres Beispiels und zur Erfüllung derselben Zwecke wurde sie unter den Menschen ausgeübt.«131, eine göttliche Vorgabe für die profane Welt. Den Götterkindern wird demnach die erste Tätowierung zugeschrieben. Mythische Motive und religiöse Weisheiten haben dort ihre Grenzen, wo im ereignisarmen Alltag die Lust am Spiel der zeichnerischen Hautgestaltung dominiert: Dreiecksreihen, Sparrenmuster, Schachmotive und immer wieder (mäandernde) Tribals nehmen die Tätowiermeister aus ihrer unmittelbaren Umgebung auf und bringen sie in verschiedenen virtuosen Kombinationen auf Arme und Beine, Brust und Rücken. Anders gewendet: Auch ohne jede mythische Überhöhung pflegen die Marquesaner die Kunst der Tätowierung: als einträgliches Geschäft in allen Kreisen der Bevölkerung, sofern man zahlen kann, mit Geld oder Naturalien. Den weiteren Weg der Tätowierkunst hat Karl von den Steinen vorausschauend erfasst. Klassische Marquesas-Ornamentik wird in der Folgezeit kombiniert mit asiatischen Motiven: Blumen, Blüten, Pflanzen, Schlangen, Echsen, Delphinen, Fischen, Vögeln – alles naturgetreu und vielfarbig ausgeführt. Mit zunehmender Souvenirtätowierung verliert das Sakrale und Kultisch-rituelle der Tätowierkunst zugunsten freier Darstellung gegenständlicher Motive ihre ursprüngliche Bedeu117
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tung. Die Matrosen lernen von den Eingeborenen die Stichtechnik. Statt hübscher Ornamente schlagen sie geschmacklose Motive in die Haut, meistens an Ober- oder Unterarm sowie den Unterschenkeln. »Allerletzten Endes«, antizipiert von den Steinen, »kommt die platte ideographische Nüchternheit der Wörter in Druckbuchstaben. Der Eingeborene tatauiert sich selbst die Namen Verstorbener, seine eigenen, seiner Geliebten […], nach Wunsch auf den weißen Arm ein ›Talofa‹ (Sei gegrüßt!) oder ›Tofa‹ (Lebewohl!) Samoa.«132 Individuelle Wünsche der Reisenden dominieren heute das Geschäft der Tätowierer nicht nur auf den Marquesas. An Bord des Touristenschiffs von Nuku Hiva nach Papeete befinden sich professionelle Tätowierer, die während der Rückreise fast allen Inseltouristen Tattoos als individuelles Mitbringsel in die Haut stechen.
Die Weisheit des Weitgereisten Karl von den Steinen dekliniert und interpretiert die überwiegend aus geometrischen Formen und stilisierten Tiermotiven bestehende naive Hautornamentik der Eingeborenen des Marquesas-Archipels. Damit hat er den Südseeinsulanern nicht nur die Bedeutung der Motivvielfalt der Tattoos erschlossen, sondern auch ihre kulturellen Wurzeln freigelegt und bis heute bewahrt. Feldforschung unter naturnahen Völkern weist ihm den Weg. War dem Forschungsreisenden dabei bewusst, Avantgardist der mythologischen Motivdeutung südseeinsulanischer Tätowierkunst zu sein? Zweifellos erschließt, publiziert und fördert er als erster die ozeanische Hautornamentik. Damit gehört Karl von den Steinen zu jener Ethnologenzunft, die nicht nur Feldforschung betreibt, sondern das Erforschte auch überzeugend in plausible, verständliche Sprache kleidet. Seine Tattoo-Interpretationen sind bis heute ethnologisch derart grundlegend, dass wir ihn hinsichtlich der Herkunft der Tattoos als wissenschaftlichen Gewährsmann schlechthin verstehen. In »Haupt118
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20 Tätowiermeister mit Ehefrau auf den Marquesas im Jahre 2002.
werke der Ethnologie« (2001) werden von den Steinens marquesanische Kunstdeutungen als »hervorragende(n) Meilensteine zumindest in der deutschsprachigen Kunstethnologie« gewürdigt, »die im eigentlichen Sinn des Wortes auch weiterhin einen überragenden Vorbild119
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charakter behalten wird.«133 Tätowierer der Gegenwart, die auf der Suche nach dem Ursprung der gestochenen Körperbilder die Marquesas-Inseln bereisen, erzählen, dass von den Steinens Symboldeutungen der Tattoos das »Maß aller Dinge« und die einzige Überlieferung der marquesanischen Tätowierungskultur dieses Südseearchipels darstellen. Jörg »Monte« Klein, Tätowierer aus Leidenschaft, hält in seinem Tagebuch anlässlich der Reise zu den Marquesas im Jahre 2002 fest: »Glücklicherweise war Karl von den Steinen gegen 1900 [!] auf den Inseln und verfasste eine sehr ausführliche Studie über die Tätowierungen. Wenn man das Buch kennt und sich dann hier auf dem Marquesasmarkt umschaut, werden einem spätestens jetzt die Augen geöffnet. Ein Großteil der hier feilgebotenen Tapas zeigt exakt die Zeichnungen von unserem Karl.«134 Und: »Wie ich bereits erwähnte, basieren die meisten Flashs Polynesiens heute auf genau diesen Skizzen (sc. Karl von den Steinens). Ein Exemplar seines Buches befindet sich in Honolulu auf Hawaii. Einige der Tätowierer haben die Abbildungen kopiert, vermutlich ohne der deutschen Sprache mächtig zu sein, und in Umlauf gebracht. Die Kopien dienen als Vorlage für Tapa-Malerei, Holzschnitzereien und natürlich Tattoos. So sind wenigstens die ursprünglichen Ornamente überliefert. Die jeweilige Bedeutung ist den meisten Insulanern allerdings nicht bekannt«135 Der deutsche Ethnologe, so schließen wir, hat die Wurzeln der polynesischen Tattoo-Kunst freigelegt und überzeugend vermittelt. Auf den Marquesas gibt sie bis heute kultischen und ethnologischen Standard vor.
Tattoos sind ›in‹ – die Lust an Schmuck und Schmerz Wenn an warmen Sommertagen die T-Shirts der Twens höher und die Hosen tiefer sitzen, dann ziehen besonders die Steißbein-Tattoos (vulgo: »Arschgeweihe«) viele interessierte Blicke auf sich. Tattoos sind 120
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beliebt. Fünfzehn bis zwanzig Prozent eines Jahrgangs, so schätzt man, trägt ihre hautgeschmückte Einzigartigkeit zu Markte. Arme und Beine, Rücken und Brust müssen für den dauerhaften exotisch-ornamentalen Hautschmuck herhalten. Auch Dekolletee und Bauch werden nicht ausgespart. Gesicht und Hals bleiben untätowiert. Geheimnisvolle Motive der farbigen Nadelstechkunst zieren heute die exponierte Haut: tropische Vögel, Fische, stilisierte Gesichter, Blumen, Drachen, Dämonen, Donnervögel, geometrische Muster, ferne Symbolik, Namen, Daten, Zahlen und anderes mehr. Was vorwiegend Matrosen, Handwerksburschen, Schausteller, Boxer, Sträflinge und so genannte Aussteiger schmückte, ist heute Modeaccessoire der überwiegend jungen Generation und versteht sich weithin als Ausdruck einer Jugendkultur. Aber nicht nur. Nahezu alle Mitglieder europäischer Fürstenhäuser waren tätowiert. Sie sahen sich in der Tradition der frühen Christen: Kreuz oder Fisch, Lamm oder Hahn sind bekannte TattooMotive derer, die sich zum christlichen Glauben auf immer bekannten. Im gesellschaftlich negativen wie im positiven Sinne handelt es sich um Minderheiten oder Außenseiter – Exklusivität eingeschlossen.136 Woher die Bilderrätsel auf den exponierten Freiflächen einer Angelina Jolie, eines Robbie Williams oder Brad Pitt? Was hat es auf sich mit den Körperbotschaften eines David Beckham, Torsten Frings, Stefan Kretzschmar oder David Odonkor? Ihre Bedeutung ist vielschichtig: Zum einen beschreiben sie das soziale Miteinander einer Gruppe, zum andern betonen sie Abgrenzung, Individualität, Exklusivität und Exzentrizität, nicht zuletzt zielen sie auf politischen/sozialen Protest oder auch auf sexuelle Reize. Nicht zufällig stellt zur Fußballweltmeisterschaft 2006 die Frankfurter Allgemeine Zeitung137 unter dem Titel »World Cut II.« Untertitel: »Die Bilderrätsel auf der Haut der Fußballstars« ganzseitig die Tattoos der Balltreter ins Bild. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung folgt drei Tage später mit »Tattoo-Wabohu. Der Körperkult der Stars.«138 Jene Fußballprominenz und alle weniger Berühmten teilen ihre Lei121
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denschaft für Tätowierungen. Zur verzierten Gesellschaft gehören etwa acht bis zehn Millionen Deutsche und auch die zwanzigjährige Rachel. Zwei Diamanten schieben sich auf ihrem Dekolletee vor zwei Erdbeeren: »Meine harte und meine weiche Seite«, erklärt Rachel. Einfach und klar öffnet die Seele ihr Fenster. Im Unterschied zum Make-up der Kosmetik, stellt die Tätowierte sich selber aus: unveränderlich, dauerhaft, nachdrücklich. Jene bunten Hautbilder beschreiben, was die Sprache der Tätowierten nicht vermag: Mein Schmuck unterstreicht meine Person, sie wird unverwechselbar, sie muss auffallen, aber nicht gefallen. Tätowierte kommunizieren durch Körperbilder und inszenieren sich selbst. Vielleicht, weil kein anderes, individuelles, dauerhafthaltbares Ausdrucksmittel des Körpers eine tiefere psychische Verbindung zum Träger der Botschaft bietet als die Tätowierung. Folgt er nur einem Trend, kann er sich ungewollt in einer sozialen Randgruppe wieder finden. Wer hierzulande den Namen seiner Liebsten verewigen lässt, sollte jedoch wissen, dass der Name nicht selten die Liebe überdauert. Amy Winehouse, ehemals glückliche Tattoo-Trägerin, sucht nach endgültiger Verbannung des Ehemanns aus ihrem Leben die Dermatologie auf: Namenszug, Kreuz, Adler, kurzum alles, was an Blake erinnert, fällt dem Laser zum Opfer. Tattooentfernung (Dermabrasion oder selektive Photothermolyse = Lasertherapie) ist indes recht schwierig, teuer und nicht immer erfolgreich; vor allem nicht, wenn Tattoos mehrfarbig sind. Farbpigmente werden mit Laserstahlen in kleinste Farbteilchen zersprengt. Jede Farbe benötigt jedoch einen speziellen Laser, weil nur das mit der Farbe korrespondierende Licht angenommen wird. Dennoch: Enthusiasmus und Freude am ornamentalen Hautschmuck, seine oftmals versteckten, vertraulichen Botschaften und Lebensmotti sowie die Idealisierung des eigenen Körpers wecken nicht nur die Aufmerksamkeit des Betrachters, sondern stärken auch das Selbstwertgefühl und die äußerliche Attraktivität der Trägerin oder des Trägers. Irrtum eingeschlossen! Torsten Frings, einer aus der tätowierten Fuß122
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ballprominenz, hat sich einen Drachen stechen lassen – dachte er. Bis ihm jemand erklärte, es sei ein Seepferdchen. Schnell hat er ein anderes Motiv darüber tätowieren lassen.
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Der ethnologische Ertrag Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt die gelehrte Ethnologenzunft Karl von den Steinen in einer Doppelrolle: Professor für Ethnographie/Völkerkunde an der Friedrich-Wilhelm-Universität und Direktor am Ethnologischen Museum für die Sammlungen Südamerikas. Universitätslehrer und Museumspraktiker – geht das zusammen? Seit Gründung des Völkerkundemuseums (1886) hat Adolf Bastian daran gedacht, die Tätigkeit am Museum mit den Lehr- und Forschungsaufgaben an der Universität zu verbinden. Völkerkundliches Anschauungs- und Lehrmaterial sollte nicht nur ausgestellt und zugänglich sein, sondern auch wissenschaftlich erarbeitet und vermittelt werden. Von den Steinen schließt sich der Verbindung von ethnographischer Praxis und ethnologischer Theorie vollends an: Seminare finden sowohl an der Universität als auch im Museum statt. Der Ethnologe nimmt diese Herausforderung an. Er kennt die Praxis und beherrscht die Theorie, muss jedoch alsbald feststellen: Lehrverpflichtungen, Direktorenamt und Forschungsreisen lassen sich aus Zeitgründen nicht vereinbaren. Ferner empfindet er seine Forschungsfreiheit in unerträglichem Maße beschnitten. Nicht zuletzt verschlechtert sich das Verhältnis zu den Professorenkollegen: »Seine Lehrtätigkeit wurde von den Kollegen scharf kritisiert, vor allem fasste man seine Reisen und die Lehrtätigkeit am Museum als Behinderung des Hochschullehrers auf.«139 Daher gibt er bereits 1904 auf eigenen Wunsch seine Hochschultätigkeit auf. Zwei Jahre später legt er auch das Direktorenamt am Museum nieder. Die ethnographischen Seminare und Übungen zu den Naturvölkern Südamerikas und der Mythologie Polynesiens hält er dennoch privatissime et gratis im Museum für Völkerkunde weiterhin ab. Durch die nennenswerte Mitgift seiner Ehefrau finanziell hinreichend ausgestattet, führt er fortan die unabhängige Existenz eines 124
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Privatgelehrten. In den kommenden Jahren wird er hauptsächlich die Mythen- und Tattoostudien der Marquesas-Reise auswerten. Wie schon fünfundzwanzig Jahre zuvor, als der junge Assistenzarzt aufbricht, die Erde zu umreisen, kehrt auch hier ein markanter Charakterzug wieder: unabhängig und selbstbestimmt zu forschen. Karl von den Steinen findet zurück zu der Freiheit, die er während seiner großen Expeditionsreisen genießen konnte. Entbunden von Kollegenschelte, Verwaltungsund Prüfungspflichten, übernimmt er keine Öffentlichen Ämter mehr. Seinen wissenschaftlichen Kollegen bleibt er durch Teilnahme an den Internationalen Amerikanisten-Kongressen verbunden. Im Jahre 1905 erreicht ihn eine hohe Auszeichnung aus den USA: Die »New York Academy of Sciences« und die »Anthropological Society of Washington« nehmen Karl von den Steinen als Ehrenmitglied auf.140 Brasiliens Regierung ernennt zu Ehren des Xingu-Pioniers den Rio Atelchu, einen westlichen Nebenfluss des Xingu, Rio Steinen. Mit befreundeten Kollegen korrespondiert er lebhaft. Neben ethnologischen Fragen beschäftigen ihn reiseorganisatorische Belange. Wissenschaftliche Kontakte hält er aufrecht über die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, der er in den Jahren 1908 bis 1910 vorsteht. Wiederholt auftretende Gichtanfälle, die er überwunden glaubte, zwingen ihn, den Vorsitz 1911 niederzulegen. Im Jahr darauf wird er als erster mit der »Rudolf-Virchow-Plakette« ausgezeichnet. Im Alter von einundfünfzig Jahren beginnt er wiederum eine rege Reisetätigkeit. Nun unabhängig und selbstbestimmt, kann er fremdkulturellen Phänomenen und kulturübergreifenden Begegnungen nachgehen. Er sammelt und inventarisiert, deutet und beschreibt materielle Kulturzeugnisse indigener Völker. Dazu forscht er in Frankreich, England, Spanien, Österreich und Italien, in Deutschlands Museen ohnehin. Er sucht siebenundsiebzig Museen der Natur- und Völkerkunde auf – mehr als zwanzig Jahre lang! Einzelheiten aus dieser Zeit sind nicht zu gewinnen. Auskünfte der Literatur sowie der 125
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Enkelgeneration bleiben spärlich. Gewiss erschweren Erster Weltkrieg und seine Folgen die internationale Forschungsarbeit ungemein. Dennoch bleibt der praxisorientierte Gelehrte ein Suchender: mehr frei schaffender Museumsmensch und Interpret materieller Kulturgüter als ethnographischer Theoretiker erwirbt und vergleicht er Exponate und völkerkundliches Material von einmaliger Bedeutung. Hier mag die Frage, warum er heute weitgehend unbekannt ist, eine Antwort finden: Praktische Feldforschung liegt seinem wissenschaftlichen Naturell eher als die Aufstellung neuer Theorien. Wie sesshaft der Berliner Gelehrte sich in Museen und Universitäten auch einrichtet, bleibt er doch ein wissbegieriger Wanderer, ein rastloser Pilger um des Menschen willen. Sein wissenschaftliches Forschen der späten Jahre im Museum versteht sich als ›sesshafte‹ Art des Reisens durch die Welt der ethnographischen Sammlungen und Bücher. Nicht gehobene ethnographische Schätze ans Licht zu fördern, ist so mutig wie einfallsreich. Daher riskiert er etwas für seine Forschungen, weil er sie als Privileg begreift. Unter den Ethnologen Südamerikas sollte er der erste sein, der von seinen Expeditionen zu den indigenen Völkern der zentralbrasilianischen Wildnis nicht nur Exponate und Geschichten mitbringt, sondern auch ein neues Bild vom Menschen: seinen Wurzeln und seiner Entwicklung aus urzeitlicher Kultur. »In seiner Forderung nach ethnologischer Forschung vor Ort, die teilnehmende Beobachtung und Interview mit einschloss, bahnt Karl von den Steinen bereits in den 1890er Jahren den Weg für eine moderne Methodik der Ethnologie, die sich nach dem ersten Weltkrieg allgemein durchsetzen sollte.«141 Es ist jene Übereinstimmung von Forschergeist und Abenteuer, von Ehrgeiz und Beharrlichkeit, von Leidenschaft und Wissenschaft, welche die brillantesten und mutigsten Köpfe des neunzehnten Jahrhunderts anzieht. Wer Neuland betreten will, wird Ethnologe. Wer sich der Enge westlichen Denkens und Lebens zu entziehen gedenkt, betreibt Feldforschung in fernen Ländern. Alexander von Humboldt, naturwissenschaftlicher Nestor der Weltreisenden an der Wende vom 126
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18. zum 19. Jahrhundert, hatte die Vorlagen geliefert. Die eingangs genannten Naturforscher Spix, von Martius, Natterer sowie die Völkerkundler Bastian, von Luschan, von den Steinen, Boas, Koch-Grünberg, Lévi-Strauss und andere nehmen den Ball auf und spielen ihn weiter. Sie alle treibt es auf der Suche nach den Anfängen zu räumlich und zeitlich voneinander entfernten Kulturen. Michael Kraus, Marburger Ethnologe, stellt in seiner materialreichen Studie über die deutsche ethnologische Amazonienforschung trefflich den allgemeinen systematischen Forschungsgesichtspunkt heraus, der entscheidend die wissenschaftliche Anerkennung des Faches Ethnologie in Deutschland befördern sollte. »Die beiden Reisen Karl von den Steinens zum Alto Xingu bildeten lange Zeit die zentrale Referenz innerhalb der deutschen Amazonienforschung. Sie setzten nicht nur neue Maßstäbe bei der ethnographischen Erforschung Brasiliens, sondern die von Karl von den Steinen aufgeworfenen Fragen bildeten auch in regionaler Hinsicht noch eine lange Zeit den Bezugs- und Ausgangspunkt für nachfolgende Expeditionen und führten zu einer regelrechten Systematik bei der Erforschung des östlichen Südamerikas.«142 Der systematische Aspekt ist insofern bedeutsam, als gemeinhin angenommen wurde, es handle sich bei den Brasilien-Expeditionen lediglich um sogenannte Entdeckungsreisen. Die ethnographische Qualität liegt in der Forschungsweise, systematisch unbekannte Gebiete auszuwählen und jeweils dort anzuknüpfen, wo zuletzt aufgehört wurde. Ferner stellt von den Steinen sich gegen den seinerzeit wirkungsstarken Rationalismus und seine Deduktion. Die Erhebung von Daten, Interview, Experiment, teilnehmende Beobachtung und deren wissenschaftliche Auswertung, also empirische Ethnographie, stellen nicht nur die Überprüfbarkeit der Fakten sicher, sondern weisen auch der Ethnologie ihren künftigen methodischen Weg. Dieser fordert jene Darlegung von Detailergebnissen heraus, die charakteristisch sind für von den Steinens Leben als Forschungsreisender und Universitätslehrer. 127
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Der unwiederbringliche Blick Menschen zu erreichen, die normalerweise nicht erreichbar sind, zu forschen, wo andere nicht geforscht haben, ist Karl von den Steinens ethnologisches Mantra. Der Drang nach Unbekanntem, die Sehnsucht nach Fremdem, denen er auf seinen weiten Reisen näher zu kommen glaubte, hat den Feldforscher und Ethnologen nie verlassen. Unbedingtes Wissenwollen, die Suche nach verborgenen Weisheiten in fremden Gefilden, die empathische Teilnahme am Leben unentdeckter Menschen, die fragende, aushorchende Praxis treibt ihn zu den Naturmenschen im tropischen Regenwald Zentralbrasiliens und den Inselbewohnern des weltabgewandten polynesischen Mikrokosmos der Südsee. Gewiss hat sein Unterwegssein als Arzt und Völkerkundler auch eine religiöse Dimension. Gibt es letzte Erkenntnisse vom Menschen ohne Mythologie, Wissenswertes ohne religiöse Erleuchtung, Hoffnung ohne Glauben? Wunschdenken und rationale Einschätzung der Chancen, Gebiete zu betreten, in die noch kein Weißer seinen Fuß gesetzt hatte, laufen bei Karl von den Steinen, dem visionären Pragmatiker, zusammen. Weitreichendes Interesse an anderen Menschen wird gespeist aus deren Zeitlichkeit im Hier und Jetzt. Aus Sorge, die aussterbenden indigenen Stämme nicht mehr aufsuchen, erleben, studieren zu können, strebt er nach dem unwiederbringlichen Blick der Erstbegegnung. Hier steht der Ethnologe in der Tradition wissenschaftspolitischer Interessen des zweiten Kaiserreichs: Ethnographica entlegener (unerforschter) Weltregionen zu sammeln, zu beschreiben, zu vergleichen, zu analysieren, auszustellen. Medizinisches Grund- und Spezialwissen sowie seine analytische und diagnostische Begabung bilden jene tragfähige anthropologische Basis, durch die er Zugang zum unbekannten Menschen findet. Dabei hat er während seiner Reisen um die Welt weder Indianer noch andere Eingeborene missioniert, bekriegt, ausgeraubt oder gar ihr Land unterworfen, sondern das ethnologische Wissen Zentralbrasili128
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ens und der Marquesas-Polynesier durch seine zahlreichen Veröffentlichungen grundlegend bereichert. Die Spätfolgen? Heute leben die wenigen verbliebenen Waldvölker Amazoniens seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Reservaten, beklagen zu Recht maßlose Abholzungen und Zerstörung der größten »Grünen Lunge der Welt«, machen für Touristen, Cineasten und Fernsehschaffende den kriegerischen Wilden und sind infiziert vom süßen Gift der Zivilisation. Steht der Xingu-Pionier und frühe Chronist indianischer Kultur für den Anfang vom Ende indigener Gesellschaften im zentralbrasilianischen Mato Grosso? Anders gefragt: Wenn Naturvölker im Museum landen, ist dann ihr Schicksal besiegelt? Mit Karl von den Steinen verbinden sich Risikobereitschaft, realistische Einschätzung der Gefahren in unbekannten Gebieten und wissenschaftlicher Erkenntnisdrang. Wenn es die Situation erfordert, zeigt sich der Forschungsreisende von reflektierter Entschiedenheit: Sowohl gegenüber den Indianern als auch im Blick auf seine Begleitmannschaft greift er ein und behauptet seinen Führungsanspruch als Expeditionsleiter; ansonsten sucht er das kommunikative, gedeihliche und zielfördernde Miteinander – auf Status und Distanz verzichtend. Hoffnungsvolle Unruhe als dominierendes Arbeitsmotiv trägt wesentlich zu seinen Expeditionserfolgen bei. Ferner bestimmen philanthropische Grundgestimmtheit und der Wunsch nach wissenschaftlicher Anerkennung innerhalb der ethnologischen Fachwelt das Bild des Gelehrten. Er will an einer Vergangenheit arbeiten, die es zu entdecken gilt. Er will etwas versuchen, was vor ihm noch keiner gewagt hat, schreibt er in Durch Central-Brasilien: »Warum soll der Mensch seine Schwäche nicht eingestehen? Ich bekenne, als ich den Plan ins Auge fasste, den Schingu zu erforschen, bin ich von einem gewissen freudigen Ehrgeiz nicht frei gewesen: Du willst etwas versuchen, was keiner vor dir getan hat.«143 Freudiger Ehrgeiz, Erst- und Einmaliges zu vollbringen – diesem Grundmotiv ist er sein Leben lang treu geblieben. 129
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Er weiß sich als Sucher und Spurenleser, der sich fremdem Leben öffnet, indem er in die Haut des Anderen schlüpft, der versteht, indem er beschreibt, was er in feldforschender Detailarbeit erfährt, erlebt, bewältigt. Er deutet und verdeutlicht die Gewohnheiten und Sitten, Mythen und Sagen der Indianer aus ihrem geistigen und materiellen Kontext. So gelingen ihm Analysen des kollektiven Unbewussten dieser Menschen und Aufschluss über ihr kulturelles Niveau. Zugleich pflegt er jene Einfühlsamkeit, die in der überzeugenden Ethnographie nie fehlt. Aus Erkenntnissen seiner Expeditionen ins Unbekannte zieht er wissenschaftliche Schlüsse und initiiert die kulturrelativistische Ethnologie – womit er sich gegen herkömmliche anthropologische Thesen der völkerkundlichen Zeitgenossen stellt: Indianer seinen kulturlos, primitiv, amoralisch, barbarisch, dekadent. Auffallend in diesem Zusammenhang ist von den Steinens Enthaltsamkeit in der völkerkundlich-wissenschaftlichen Diskussion. Kritische Stellungnahmen oder Theoriedebatten mit anderen Forschern seines Fachs bilden die Ausnahme. Allein die Frage der Herkunft indigener Ethnien, vornehmlich der Karaiben innerhalb der Xinguano-Population, zeigt ihn im Diskurs mit internationalen Südamerikanisten.144 Es gehört zu seiner publizistischen Strategie, Auseinandersetzungen über ethnographische Fragen zu meiden. Es fehlt zum Beispiel ein Literaturverzeichnis in seiner umfangreichen Monographie Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens (1894). Er beschränkt sich wesentlich auf die detailgenaue Erfassung und Beschreibung der indianischen Wirklichkeit in geistiger und materieller Hinsicht. Und da er im Urwald Zentralbrasiliens ethnographisches Neuland betritt, ist er zunächst darauf bedacht, seine Forschungsergebnisse auszuwerten und zu sichern. Zu dürftig erweist sich vorhandenes Forschungsmaterial.145 Seine Kontakte mit Indianern sind zwar vielschichtig, intensiv und ertragreich, bleiben aber relativ kurz. Deshalb erscheinen ihm die eigenen Forschungserkenntnisse nicht hinreichend zu sein, als dass er sich in der Lage glaubt, ethnologische Theorien aufzustellen. Sei130
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ne ethnographische Praxis erweist sich als situationsbedingt und nicht als hinreichender Garant, daraus repräsentative ethnologische Schlüsse zu ziehen. Dennoch: Den Lehrstuhltheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt es, die Denk- und Verhaltensmuster der Urwaldmenschen Zentralbrasiliens sowie regionale Forschungsfakten entgegen zu halten. »Der Blick wurde nunmehr wirklich auf die Indianer und ihre Kulturen gerichtet, und nicht auf deren argumentative Brauchbarkeit innerhalb der Alten Welt.«146 Den Grundstein für seine spätere Karriere als Universitätsprofessor und Museumsdirektor legt Karl von den Steinen lediglich durch zwei Forschungsreisen zu den schriftlosen Urwaldvölkern Brasiliens sowie die wissenschaftliche Bearbeitung seiner Reiseberichte. Eine auch für damalige Universitätskarrieren schmale Basis. Jene allein durchgeführte Expedition zu den Marquesas-Inseln erweitert zwar seinen ethnographischen Horizont und erfreut sich bis heute wegen ihrer polynesischen Mythen- und Tattoo-Interpretation hoher Aktualität, bleibt aber im Vergleich mit seinen Südamerikaforschungen und Erstbegegnungen mit den Waldmenschen am Amazonas von geringerer wissenschaftlicher Bedeutung. Der Ethnologe war nach Selbstaussage, wie oben bemerkt, fünfzig Jahre zu spät gekommen. Darüber hinaus stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach von den Steinens Einstellung zum Kolonialismus, der in Deutschland heftig diskutiert wurde. In einschlägigen Zeitschriften und Jahrbüchern ist Sandra Rebok, Berliner Ethnologin, nicht fündig geworden. Das ist umso bemerkenswerter, als in dieser Frage Karl von den Steinen seinem Lehrer Adolf Bastian, »eine der führenden Persönlichkeiten, die sich für die Verwendung der Ethnologie im Rahmen kolonialistischer Zwecke eingesetzt haben«147 wohl die Gefolgschaft verweigert. Von den Steinens Lehre von kultureller Gleichwertigkeit trotz großer kultureller Verschiedenheit menschlicher Gesellschaften hätte die Akkulturation in die Lebens- und Wertvorstellungen der europäischen Zivilisation nicht zugelassen. Ferner misstraut er politischen Okkupationsgelüsten. 131
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Daher steht zu vermuten, dass der Berliner Ethnologe vom Virus kolonialistischer Ideologie nicht infiziert gewesen ist.
Das kulturelle Niveau der Ungleichheit Der Berliner Gelehrte forscht vorurteilsfrei – soweit wir das von einem Wissenschaftler und »Bildungsbürger im Urwald« (M. Kraus) abendländisch-christlicher Prägung erwarten können. Sein analytischer Geist fragt: Wie sollen wir ihn erfassen, den Menschen in kultureller Fremdheit, wie beschreiben, wie entschlüsseln? Wer unbekannte Kulturen und Gesellschaftssysteme verstehen will, muss sie an ihren eigenen Maßstäben und Kategorien messen und beurteilen. Der unverfälschte Blick auf den Fremden gelingt nur durch entschiedene Distanz zur eigenen Kultur. Die europäische Kultur- und Zivilisationsbrille abzulegen, Eingeborene selbst zu erleben und sprechen zu lassen, ihre Sprache zu lernen, mit ihnen auf Zeit zusammen zu leben, verstehen sich als unabdingbare Voraussetzungen ethnologischen For schens. Das klingt selbstverständlich, war es aber nicht. Von den Steinen widerspricht dem bis dahin gängigen Indianerbild entschieden, dass die Ureinwohner Brasiliens degenerierte Wilde seien, also verkommene Menschenwesen, die sich auf der untersten Stufe der Menschheit befänden. Obgleich zeitgenössische Völkerkundler vortrefflich beobachteten, mangele es an ihrer Beurteilung: Einfaches Leben bedeute nicht primitives, Wildheit sei nicht identisch mit Beschränktheit, und man gehe fehl, unbekleidet mit nackt zu übersetzen.148 Wer am Gelehrtenpult deduziere, ziehe in der Regel die falschen Schlüsse. Hypothesenbildung statt der Wahrheitsabbildung liege dann nicht fern. Im Unterschied zur deduktiven Methode, setzt von den Steinen auf Empirie und Tatsachenforschung: teilnehmende Beobachtung, Analyse, Beschreibung, Vergleichung, Auswertung. Die eigene Weltsicht relativiert er und kann stereotypen Negativurteilen der Ethnologenzunft nicht folgen. Er weist zum Beispiel nach, dass Kopf- und 132
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Körpermessungen der Eingeborenen, besonders der Längen-BreitenIndex ihrer Schädel – bislang als Maßstab ihrer Intelligenz betrachtet – rassistische, anatomische Fiktion ist. – Wie wir heute wissen, kann die Schädelform selbst unter Geschwistern erheblich variieren. Einfachheit, Sittlichkeit, monogame Lebensweise, Arbeitsfleiß, Ausdauer und Friedfertigkeit der ansässig lebenden Ureinwohner Zentralbrasiliens werden betont. Vornehmlich in ihrer Einfachheit erkennt von den Steinen den Keim kultureller Originalität. Für den Forschungsreisenden befinden sich die Xingu-Bewohner auf niedriger Kulturstufe. Daher spiegeln sie Teil einer frühen Menschheitsgeschichte wider, die andere Gesellschaften bereits überwunden hatten. Kultur und Evolution haben sich in der Menschheitsgeschichte immerzu gegenseitig beeinflusst. Kultur prägt alle Lebensvorgänge und gibt Antworten auf existentielle Fragen der Menschen aller Zeiten. Naturvölker und Kulturvölker stehen nicht im Widerspruch zueinander. Naturvölker leben in unmittelbarer Abhängigkeit geradezu symbiotisch von und in der Natur, was nicht mit Kulturlosigkeit gleichzusetzen ist. Deshalb verbiete es sich, von kulturlosen Gesellschaften zu sprechen. Wer kulturell bestimmtes Verhalten als Lernen und Weitergabe erworbener Eigenschaften versteht, der würdigt die kulturellen Leistungen der Indianer, zu denen sie trotz ihres einfachen Lebens fähig sind. Das ist umso bemerkenswerter, als sie weder Metall noch Metallwerkzeuge kennen. Die vorurteilsfreie Beobachtung lehrt uns, dass es Wilde, Primitive überhaupt nicht gibt. Es gibt zwar ein kulturelles Niveau der Ungleichheit, an deren Seite jedoch das humanistische Menschenbild der Gleichheit steht. Überall findet sich eine von Menschen kreierte soziale Ordnung, bestimmen Normen und Wertvorstellungen sowie Sprache und materielle Errungenschaften das menschliche Dasein. Mit anderen Worten: Menschen leben stets als Kulturwesen, sofern sie Maßnahmen zur Nahrungsbeschaffung und –zubereitung ergreifen, Schutztechniken vor Feinden und der Witterung beherrschen und Organisationsformen gemeinsamer sozialer, ritueller, kultischer Tätigkeit pflegen. So 133
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archaisch, elementar und dürftig man das Leben der Naturmenschen auch einstuft, besitzen sie doch jene Kulturerrungenschaften, ohne die menschliche Existenz nicht denkbar wäre. Es gibt nur eine Kulturmenschheit – allerdings mit qualitativen Unterschieden der kulturellen Ausstattung. Die zur klassischen Formel gereifte Einsicht, dass der Mensch von Natur aus ein Kulturwesen ist, haben die Anthropologen und Soziologen von Helmuth Plessner (1892–1985) bis Arnold Gehlen (1904–1976) Jahrzehnte später propagiert und popularisiert. Jüngst werden die Forschungsergebnisse der 1880er Jahre wortreich wiederholt und als kulturspezifisches Novum ausgegeben.149
Die Eigengesetzlichkeit schriftloser Naturvölker – ein Kerngedanke, der von den Steinens Forschungsintention präzis wiedergibt. Anita Hermannstädter schreibt, dass es dem Ethnologen darauf ankomme, »fremde Kulturen im Rahmen ihrer eigenen Lebensweise zu verstehen und zu würdigen […].«150 Die Fremdheit der Eingeborenen ist für von den Steinens ethnologische Betrachtung geradezu konstitutiv. Fremdheit stößt ihn nicht ab, sie zieht ihn an, befördert sein Interesse, reizt seinen Wissensdrang. Fremdheit eröffnet Horizonte, sprengt Grenzen, negiert Ängste. Was von den Steinens Forscherdrang geradezu beflügelt, führt bei dem Forschungsreisenden Wilhelm Kissenberth (1878–1944) zum »Kulturschock«. »Die Konfrontation mit fremden Gewohnheiten, die Normen und Tabus der eigenen Gesellschaft verletzten«, erklärt Hermannstädter, führten bei Kissenberth zu einem Kulturschock. Andauernde Ekelgefühle und moralische Skrupel begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Die Verkommenheit der Hütten stößt ihm ebenso unangenehm auf wie der Körperschmutz und der ungewohnt offene Umgang mit Sexualität, so dass er bemerkt: »Sie sind unreinlich wie die Schweine.«151 Dazu gesellen sich ekelerregende Bräuche und Gewohnheiten, etwa das dauernde Entlausen unter den Frauen, sowie »der Stumpfsinn, der in diesen degenerierten Brasilianern steckt.«152 134
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Alle vorgefundenen Realitäten des Lebens der Urwaldmenschen dulden nach von den Steinen keinen europäischen Kulturmaßstab. Tabus, Peinlichkeiten und Skrupel des Bildungsbürgers einer Hochkultur dürfen hier nicht bemüht werden. Ausscheidungen aus Körperöffnungen, mannigfache Gerüche von Haut und Haaren sowie Erotik und Sexualität sind quasi tabufreie Lebensfelder indianischer Gesellschaften. Ein anderer zeitgenössischer Brasilienreisender, der 1855 in Tilsit geborene Abenteurer und Sammler Richard Rohde, wird Zeuge eines Tanzfestes der Bororo: »Hoch interessant ist der beliebte Fararutanz«, schreibt er nach Berlin. »Zu diesem Tanz putzen sich die Leute mit Federkronen, Schellen und anderen Zierrathen. Ein Vortänzer, grotesk aufgeputzt, in jeder Hand Klappern aus Kürbis, an den Füßen Schellen aus Hirschhufen, befindet sich in der Mitte. Die Männer bilden einen Kreis um denselben, die Weiber einen größeren […]. Nun singt die ganze Bande ein monotones Lied, wozu sie taktmäßig springen […]. Nachdem sie in dieser Weise eine Weile getanzt haben, brüllt der Vortänzer: hau! Und macht einen wilden Sprung. Die ganze Gesellschaft ahmt dasselbe nach und der Tanz ist zu Ende.« 153 Sensibilitätsdefizite, mangelnde Empathie und das Unvermögen, dem Fremden mit Respekt und Interesse zu begegnen, weisen Kissenberth und (mit Einschränkung) Rohde als ethnologische Irrläufer aus. Sie lassen nicht erkennen, dass ihnen daran liegt, Menschen in ihrem Anderssein zu verstehen. Sie projizieren immerzu die eigenen kulturellen Werte und Normen in das fremde, unvertraute Leben. Ein realistisches Bild der fremden Wirklichkeit entsteht so nicht. Es sind die falschen Männer am falschen Ort bei falschen Leuten. Sie repräsentieren und bestätigen das negative Bild der Indianer als primitiv, barbarisch, degeneriert. Es dominiert der selbstgefällige, arrogante Blick von oben nach unten: von dem Ethos europäischer Hochkultur abendländischchristlicher Provenienz in die Urwaldniederungen indianischer Absonderlichkeiten und Kuriositäten. 135
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Sind charakterliche und berufliche Qualifikation dieser Forschungsreisenden um die Jahrhundertwende hinreichend bedacht worden? Da geschieht es dann, dass Abenteurer und völkerkundliche Fremdlinge in die Welt gesandt werden, deren anthropologisches und ethnographisches Forschungsvermögen trotz materieller Ausbeute sich als dilettantisch erweist. Großes wird geplant, Kleines nach Hause gebracht. Die Protagonisten des Königlichen Museums zu Berlin, Initiatoren und Finanziers der Expeditionen, haben sich, als das Unvermögen der Reisenden offenbar wurde, zu ihren Entscheidungsfehlern bekannt.154 Persönlicher und beruflicher Ehrgeiz sowie Interesse am fremden, unerforschten Menschen sind zwar willkommene Voraussetzungen, jedoch unzureichende Eignungen erfolgreicher Expeditionen. Da in den Erstbegegnungen mit den Waldmenschen Zentralbrasiliens wissenschaftliche Maßstäbe des Umgangs fehlen, kann man sich vorrangig Mediziner – denen nichts Menschliches fremd ist! – wie Bastian, von den Steinen, Ehrenreich und andere als forschende Ethnographen vorstellen. Als Karl von den Steinen die Gastfreundschaft der Bakairi am abendlichen Dorfplatz Pfeife rauchend genießt und es an hemmungslos abgesonderten, mit nachhaltigen Duftnoten versetzten lautstarken Winden nicht fehlt, meint er: »Bakairi sum, nihil humani a me alienum puto.«155 Er liebt die Naturmenschen; die Liebe zu den Bakairi hat er geradezu verinnerlicht. Allerdings kann hier die Gefahr mangelnder wissenschaftlicher Objektivität schlummern. Unbestritten zeichnet er ein subjektives Bild indianischer Friedfertigkeit. Bedrohungen, Konflikte, blutige Auseinandersetzungen und Stammeskriege wird von den Steinen nicht erlebt haben. Neben friedlichem Zusammenleben der schriftlosen Naturmenschen sollten wir die Konfliktnatur des Menschen in ihren verschiedenen Manifestationen nicht außer Acht lassen: den Willen zu überleben, die eigene Sippe zu erhalten, zu festigen, auszuweiten. In diesem Zusammenhang neigen Menschen zu Aggression, Destruktion und Zerstörung. Der oben erwähnte Kinderraub, die Entführung junger Frauen anderer indianischer Stämme stehen bei136
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spielhaft für Konfliktsituationen, die in jedem Augenblick eskalieren können. »Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Amazonasindianer vor ihrer Unterwerfung unter den modernen Nationalstaat in andauernden, blutigen Fehden miteinander lebten, die zwar selten viele Menschenleben kosteten […], aber doch fast nie ein Gefühl dauernder Sicherheit in Frieden aufkommen ließen«, weiß der Marbuger Ethnologe Mark Münzel, der in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts das Xingu-Gebiet bereist hat.156 Ein früher Südamerikaforscher, der bereits erwähnte Carl Friedrich Philipp von Martius, entwirft noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein äußerst abwertendes Bild der indianischen Bevölkerung. Sittenlos und unmoralisch lebend, befänden sich diese Naturmenschen auf der »untersten Stufe der Menschheit« und bildeten insofern jene zum Untergang bestimmten »verwahrloste(n) Überreste ehemaliger Hochkulturen«.157 In einer spektakulären Aktion bringen von Martius und sein zoologischer Kollege Spix einige angeworbene Indianer aus dem Stamme der Botokuden nach München. Dort werden sie »ethnographisch erforscht« und zur Schau gestellt, bis sie alsbald dem Klima erliegen. Sie wissen nicht, dass »die Widerstandsfähigkeit der Indianer, sobald sie nicht auf ihre gewohnte Art leben, unglaublich gering ist.«158 Ihr Schicksal ist mit dem Leben in den Sozialstrukturen ihres Stammes verbunden; außerhalb ihres artgerechten Umfeldes werden sie nicht überleben. Kulturelle Hybris und internalisierte zynische Distanz dieser Forschungsreisenden missbilligen letztlich indigene Kulturen und blockieren ethnologische Inspiration. Da ihnen das Gespür für die sinnliche Realität indianischen Lebens abgeht, bleibt ihnen der Zugang zu den ethnischen Originalitäten verschlossen. Das Sozial-, Rechts- und Moralverhalten der Eingeborenen ist ihnen ebenso fremd, wie die anthropologische Erkenntnis, dass die natürliche Existenz des Menschen nicht anders als kulturell zu denken ist – indes erhebliche Unterschiede in jeweils verschiedenen geistigen und materiellen Ausformungen beste137
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hen. Hier liegt von den Steinens Forschungsansatz. Er lebt mit seinen engsten Begleitern und Indianern tabufrei in Dorfgemeinschaft zusammen. Über ein indianisches »Flötenkonzert« schreibt er als teilnehmender Gast: »Abends war musikalische Vorstellung. Ein flackerndes Reisigfeuer erhellte schwach die Nacht. Je zwei Männer traten mit Menis, den meterlangen Flöten, auf; einer hat die klappernden Schalen um den Fuß gebunden. Das eine Paar postierte sich bei uns, das andere vor dem gegenüberliegenden Hause. Jene fingen nun an zu blasen, (dabei) rhythmisch mit dem Fuß auf der Stelle stampfend. Die vis-avis kamen blasend zu uns herüber […]. Im Finale schwoll die Klage des im Schornstein rumorenden Nachtwindes […] und das Quartett war zu Ende. Höflich kredenzte man uns dann sofort den stärkenden Mingau.«159 – Begegnungen auf Augenhöhe werden zum explorativen Ereignis. Karl von den Steinen erkennt im Eingeborenen den naturnahen Kulturmenschen, und nimmt ihn als solchen ernst. Niemals bezeichnet er einfache und ursprüngliche Lebensformen als primitiv, barbarisch, dekadent. Er verlässt sich nicht auf Mutmaßungen, sondern ausschließlich auf Beobachtungen, Interviews und Erkenntnisse. Was er in der natürlichen Umgebung vorfindet, bestimmt seine Aufmerksamkeit. Präzis und schnörkellos führt der Arzt als Ethnologe seine Forschungen auf regionaler und lokaler Ebene durch: Sammelt ethnographische Fakten, denn sie sprechen für sich selbst, treibt anatomische Studien, lernt und analysiert indigene Sprachen, um Wandlungen und Übereinstimmungen menschlicher Kulturentwicklungen auf die Spur zu kommen. Auf diese Weise gelingen ihm erstmalig indianische Portraits von wissenschaftlicher Qualität. Dabei bewegt sich der Forscher stets auf schmalem Grat: Will er seine Forschungsziele erreichen, muss er, ohne sich gemein zu machen, mit den Eingeborenen sympathisieren, zugleich ist er gehalten, die Distanz des Naturwissenschaftlers zu wahren. Misslingt der Balanceakt von Nähe und Distanz zum Gegenstand
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21 Übersetzungen aus der Bakairi-Sprache. 139
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der ethnographischen Studien, stehen Forschungsertrag und –erfolg in Frage. Unwägbarkeiten, Konflikte, Demotivation, Krankheiten und Misserfolge sind allen Ethnographen bekannt. Und nicht jeder Aufenthalt im Indianergebiet wird eine Erfolgsgeschichte. Hermann Meyer (1871–1932), Völkerkundler aus Leipzig, bricht im Jahre 1896 zu seiner ersten und ein Jahr später zur zweiten Expedition in das Gebiet des Oberen Xingu auf. Weit ist er in beiden Reisen nicht gekommen. Obwohl finanziell und materiell optimal ausgestattet, geht bereits zu Expeditionsbeginn seine gesamte Ausrüstung in den Stromschnellen des Rio Ronuro (eines Quellflusses des Xingu) verloren. Indianischen Stämmen begegnet er in beiden Reisen en passant. Eine Gemengelage von Konflikten, wo es um das Wie des Umgangs mit der Begleitmannschaft und um das Was des Forschungsauftrages geht, führt zu Demoralisierung und Auflösung der Mannschaft und zwingt zur baldigen Umkehr. Meyer verlässt vorzeitig seine Truppe und kehrt allein zurück. Aus gescheiterten Expeditionen sollten sich Lernprozesse entwickeln. Meyer hingegen münzt im Reisebericht sein Scheitern in »heroische[r] Selbstinszenierung« um.160 Kurzum: Er war charakterlich problematisch, als Expeditionsleiter ungeeignet und als Forscher erfolglos – jedoch finanziell reich ausgestattet und daher als Mäzen und Forschungsförderer verdienstvoll! Einige Brasilienforscher der nachfolgenden Generation geraten schwer unter die Räder der Eingeborenen-Dominanz. Die verschiedenen, immer erneut aufgesuchten indigenen Stämme wissen zunehmend um ihren ›wissenschaftlichen Wert‹, den sie zum Beispiel gegenüber einer Zwei-Personen-Expedition im Jahre 1901, dem Juristen und Anthropologen Max Schmidt (1874–1950) und seinem brasilianischen Assistenten André, gnadenlos ausspielen. Wegen ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit haben sie mit den Besuchern leichtes Spiel. Ihre Handels- und Tauschwaren hätten sie am liebsten umgehend konfisziert, ohne die übliche Gegenleistung zu erbringen – was ihnen durchwegs 140
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auch gelingt. Verhandeln und feilschen sind erfolglos. Im Tauschgeschäft ist keinerlei Klarheit über den ›Wechselkurs‹ zu erreichen. Zu deutlich erweist sich die Unterlegenheit des Duos: zu stark ihre Abhängigkeit, zu gering ihre Akzeptanz, zu fragwürdig ihre Strategie. Güte, Freundlichkeit, Nachsicht allein, die Max Schmidt nachgesagt werden, zahlen sich bekanntlich nur auf der Ebene adäquater Begegnungen aus. Daher lebt er mit seinem Assistenten ständig unter dem Druck indianischer Willkür und erheblicher Bedenken, nichts für das Berliner Museum erreichen zu können. Auf der Flucht vor räuberischen Eingeborenen wird er mehrfach (mit dem Tode) bedroht. Die Vergeblichkeit seiner Expedition vor Augen und aller Forschungschancen verlustig, tritt Schmidt inmitten seiner Reise den ungeordneten, hastigen Rückzug an. Max Schmidt steht zunächst für eine Odyssee ethnographischen Misslingens. Nach drei weiteren, indes erfolgreichen Forschungsreisen qualifiziert er sich im Fach Völkerkunde an der Berliner Universität. Später verlässt er Deutschland für immer in Richtung Südamerika. Man mag von einer Ironie der Geschichte sprechen, dass Karl von den Steinen ausgerechnet Hermann Meyer und Max Schmidt ermutigt, im Xingu-Gebiet seine eigene Arbeit fortzusetzen. Empathie, beiderseitiges Vertrauen, wahrhaftiges Auftreten sowie die Zahl hinreichend ausgerüsteter Expeditionsteilnehmer führen in der Regel zu freundschaftlichen, Erfolg versprechenden Begegnungen. Im Wechselspiel des Erstkontaktes spielt empathisches Verhalten eine Schlüsselrolle. Es setzt nämlich jenes lebensweltliche Wissen voraus, dass Mitgefühle zu den natürlichen Wesensmerkmalen des Menschen gehören. Sie sind nicht identisch, aber vergleichbar. Insofern kann von einer gewissen Übereinstimmung menschlichen Mitgefühls ausgegangen werden, und zwar ungeachtet kultureller Differenzen. Auf dieser Basis können die Forscher der Xingu-Expeditionen unter Karl von den Steinens Leitung ergebnisorientierte Tauschgeschäfte, anthropologische und sprachliche Studien mit und an den Eingeborenen vornehmen.
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Intensität und Interaktion Ob jedoch Karl von den Steinens erstmalige Forschungsaufenthalte bei indianischen Waldvölkern repräsentative Aussagen zulassen, bleibt eine offene Frage. Es sind ethnographische Momentaufnahmen, die als kulturhistorische Episoden zutreffende Beobachtungen in größeren Zusammenhängen sichtbar werden lassen. Dies ist umso bemerkenswerter, als eine recht schmale Basis der Erkenntnisse unerforschter Regionen zu berücksichtigen war. Indessen brachten »die beiden allerersten Expeditionen unter Karl von den Steinen, die auch von der allergrößten Unkenntnis ausgingen, […] einen größeren Überblick als irgendeine spätere Forschungsreise, und viele ihrer Einzelergebnisse sind bis heute unübertroffen« – vermerkt Mark Münzel.161 Karl-Heinz Kohl, Ethnologe in Frankfurt a. M., ergänzt: »Beispielhaft stehen die von den Zeitgenossen [sc. Karl v. d. Steinens] als spektakulär angesehenen Einzelergebnisse für die Faszination, die von der Welt des Exotischen im Zweiten Kaiserreich nicht nur auf das Bürgertum ausgegangen ist, sondern sich auf nahezu alle sozialen Kreise erstreckt hat.«162 Zweimal nahezu sechs Monate Aufenthalt bei den Xingu-Indianern sind wohl kaum hinreichend, um zu gründlichen und differenzierten ethnographischen Ergebnissen zu gelangen. Von den Steinen selbst erkennt dieses Manko. In der Reise-Instruktion an seinen feldforschenden Schüler Theodor Koch-Grünberg (1872–1924) im Jahre 1903 bittet er: »[…] wollen Sie unter allen Umständen dem längeren Aufenthalt bei einem einzigen Stamm den Vorzug geben vor flüchtigem Besuch bei einer Anzahl von Stämmen.«163 Je länger der Aufenthalt, desto komplexer erscheint das Bild der zu studierenden Menschen und ihrer Kulturen. Dieser Forschungsdevise kann kein Ethnologe widersprechen. Andererseits trifft die Dauer des Zusammenlebens mit den Indianern keine Aussage über die Intensität der Interaktionen. Wer zum Beispiel indigene Sprachkenntnisse besitzt oder zuverlässige Sprachmittler an seiner Seite hat, wird 142
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schneller fremde Kulturen in ihrer Kompliziertheit erfassen und somit Forschungsziele erreichen als der sprachlich Unbedarfte. Dass ethnographische Forschungen vor Ort nur durch (Grund-)Kenntnisse der Eingeborenen-Sprachen erfolgreich betrieben werden können, hat von den Steinen bereits während der ersten Xingu-Expedition erfahren. Es sei außerordentlich schwierig, mit den Waldmenschen zu »conversieren«, hält er in Durch Central-Brasilien von 1886 fest. Umso nachdrücklicher weist er auf die »Führerrolle« der Linguistik hin. Abgesehen von den Wörterverzeichnissen in seinen Monographien, entfaltet er den ethnographisch-sprachlichen Schlüsselgedanken in dem 1892 erschienenen Buch Die Bakairi-Sprache. Grammatische und phonetische Analysen, demonstriert in mehr als fünfhundert übersetzten Beispielen, lässt die Intensität des systematischen Sprachvergleichs erahnen. Weil diese komplizierte, aber am Ende ertragreiche Aufgabe nicht alleine zu leisten war, sondern nur mit seinem treuen Begleiter und sprachlichen Gewährsmann Antonio, dankt von den Steinen, indem er dessen Portrait im Buch als dauerndes Andenken bewahrt. Michael Kraus betont in diesem Zusammenhang von den Steinens wissenschaftliche Fairness: »Zudem zeigt sich erneut die bereits mehrfach in dieser Studie [sc. Bildungsbürger im Urwald] benannte methodische Redlichkeit der frühen Ethnologen, was die Angabe von Gesprächspartnern, Kontaktdauer und Erhebungsumständen angeht.«164 Insgesamt ein knappes Jahr verweilt der Feldforscher unter Indianern – unbestritten eine schmale Zeitbasis des forschenden Kennenlernens einer fremden Kultur und deren Werdegang. Und doch legt der Xingu-Pionier der 1880er Jahre den Grundstein für künftige Ethnologengenerationen. Nachfolgenden Expeditionen der Amazonien-Forschung (H. Meyer, Th. Koch-Grünberg, F. Krause, K. Th. Preuss, M. Schmidt u. a.) steckt er richtungweisende Ziele ab, die gerne aufgenommen und weitergeführt worden sind. Längere Forschungsaufenthalte vor Ort führen in den Folgejahrzehnten zu Differenzierungen und Modifikationen der Erkenntnisse Karl von den Steinens, etwa die Bedeutung 143
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rechts-, wirtschafts- und sozialethnologischer Fragen bei indigenen Gesellschaften. Dennoch: Faktensammeln und Detailtreue stehen vor spekulativen Überlegungen und theoretischer Neubestimmung. Die kulturhistorische, rekonstruierende Methode des Berliner Gelehrten findet in Verbindung mit evolutionistischen Prämissen den nachvollziehbaren Zugang zum Forschungsgegenstand: dem unbekannten Menschen. Noch heute setzt ethnologische Forschung die Gewinnung der Daten und Fakten durch Feldarbeit vor Ort voraus. Viele der kostbaren Federornamente, Holzskulpturen und anderen indigenen Artefakte sind kunsthistorisch von unschätzbarem Wert. Vergleichbares ist bei den Indianern heute nicht mehr zu finden. Daher hat der Ethnologe Karl von den Steinen völkerkundliche Erkenntnisse ohne Verfallsdatum geliefert. Empirisch-naturwissenschaftliche Forschungswege und fachärztliches Grundlagenwissen sowie die ihm eigene Sprachbegabung versetzen den Berliner Ethnologen in die Lage, vor gelehrtem Publikum das Erlebte, Erforschte, Durchdachte überzeugend darzulegen. Mit vorgetragenen Notizen und Tagebuchaufzeichnungen gibt er sich nicht zufrieden. Er berichtet, erzählt, reflektiert, erklärt, kurzum: er literarisiert die unbekannte Welt der Indianer und stellt sie dem bekannten völkerkundlichen Wissen als Korrektur respektive Ergänzung zur Seite. Insofern betrachtet er sich auch als Schriftsteller, der ethnographische Forschungen nicht nur versteht und detailgenau beschreibt, sondern sie vor allem zu popularisieren weiß. Vor dem Hintergrund eines aufgeklärten Weltverständnisses interpretiert er die indianische Nacktheit als Beweis, dass die Grenzen des Schamgefühls ungleich weiter gezogen werden müssen als im Moralkodex des viktorianisch geprägten Preußen. Nicht alle Zeitgenossen sind bereit, seine rationale Haltung zu teilen. Insbesondere die detailgenauen Abbildungen nackter Indianer/ Innen stoßen in seinen Reiseberichten auf heftige Kritik. Die harte Realität seiner Augenzeugenschaft verwirrt das prüde Publikum. Es ist empört! Er zeigt distinkte Haltung: »Bald mit heiliger Entrüstung, 144
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bald mit freundschaftlicher Zartheit« sei ihm Kritik zuteil geworden. »Anscheinend gibt es solche, die so unvernünftig sind, sich zu schämen, und solche, die sich ein wenig schämen, so unvernünftig zu sein«, lesen wir im Vorwort der zweiten Auflage seiner Monographie Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens (1897). Jedoch in Fachkreisen finden die Bilder großen Beifall. Sie seien ja nicht »pikante Photographien«, sondern als anthropologische und kulturhistorische Dokumente zu interpretieren. Er wirbt bei Hörern und Lesern um Verständnis, will Zustimmung wecken: Warum »schickt es sich nicht, nackt zu sein?« fragt der Bakairi. Ich wünsche, »dass jeder denkende Mensch den nackten Körper wie in der Kunst ästhetisch genießen, so in der Wissenschaft anthropologisch und kulturgeschichtlich begreifen lerne.«165 Daher verbiete sich die Verwechslung von Exotik mit Erotik. Im Blick auf die fehlende Kleidung der Indianer resümiert der Ethnologe: »Ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervorgegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die Indianer […], die wir kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus schließe, dass sie keine solche Kleidung haben.«166 Ein entlegener Fundort zeigt, wie von den Steinen mit seinen Kritikern umgeht und sich humorvoll aus der Affäre zieht: »Der Forscher verliebt sich in seine Deutung, besingt sie in freudigen Tönen, aber schon lauert die Schlange im Gras am Ufer, die sie tötet. Mit allen Künsten gelingt es dem Armen nicht, sie aus dem Hades zu retten, sie verflüchtigt sich in den Lüften, und er wird zerrissen.«167
Ironie – Humor – Sprachwitz Auf Schritt und Tritt stolpern wir über humorvolle und ironische Äußerungen im Werke des Ethnologen. Wie ist diese Eigenschaft des humorvollen Rheinländers in seinem Schrifttum zu werten? Durchaus auffallend, jedoch in der Sekundärliteratur kaum thematisiert, finden sich 145
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bei von den Steinen rhetorische Figuren von gewinnbringender Bedeutung: Ironie, Humor, Sprachwitz. Sie lockern und veranschaulichen den ethnographischen Stoff, den der Gelehrte einfühlsam erfasst und unverblümt beschreibt. Besonders in seinen umfangreichen Monographien über die Xingu-Expeditionen treten diese Topoi unübersehbar hervor. Worin liegt der Wert der rhetorischen Stilfiguren im Duktus vernünftigen Redens und Schreibens? Zunächst markieren sie einen Wesenszug Karl von den Steinens, ironisch, humorvoll, sprachwitzig zu kommunizieren. »Tabakkollegium« nennt er die Pfeife rauchende, abendliche Runde mit Indianern am Dorfplatz. In verschiedenen komischen Szenen heißt er die Indianer ironisch »Minnesänger«, »Droschkenkutscher«, »Professor«, »Herr Pfarrer und Frau Pfarrerin«, »Ehrwürden«, »Festherold«. Trägt ein junger Bakairi den Lodenponcho eines Forschers, wirkt er wie ein »Klosterschüler aus dem ›Ekkehard‹«168 – »Würdetitel«, die den Feldforscher zwar abgehoben und elitär erscheinen lassen; zugleich schafft er aber ein vertrautes, joviales Miteinander und zieht die Waldmenschen auf seine sprachbekannte Ebene. Beim Umgang mit Zahlen, wie oben gezeigt, ist der Indianer ein Totalausfall. Einer der Alten fragt, wie viel Tagereisen Cuiaba entfernt sei. Der Forscher fingert, beim Daumen beginnend, die linke Hand ab, dann die rechte und die Zehen dazu – dennoch, die Tage der Entfernung, also zwanzig, das definitive Ende indianischen Zählens, reichen nicht aus. Unverständnis! Irritation! Die Indianer, den Rechenkünsten hilflos ausgeliefert, reden alle durcheinander und »vereinigten sich schließlich in einem fröhlichen Gelächter bahren Unglaubens.«169 Narrative Szenen in humorigem Gewand wecken Interesse, erleichtern Umgang und Verstehen. Im Rahmen seiner ethnologischen Ausführungen dreht von den Steinen ironischerweise Pleiten, Pech und Pannen in ihr Gegenteil um, verbirgt also die Wahrheit, triumphiert jedoch über die Unbilden der momentanen Verhältnisse und freut sich am Lustgewinn des Überlegenen. Konkret: Der Mantel des Humors liegt über wiederholtem Schiffbruch: Kanu-Unfällen und Totalverlu146
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sten von Tausch- und Forschungsmaterial, Hunger und Krankheiten. Die humorige Bemerkung über den ungeschickt agierenden indianischen Begleiter Chico, der nach gekentertem Kanu rat- und hilflos im reißenden Fluss steht (»wie ein Dienstmann, der seinen fremden Gast verloren hat«), lässt in der Regel Ärger und Missgeschick schwinden. Seine Leute bleiben bei Laune: Er motiviert sie, das Schwere leicht und das Unabwendbare hin zu nehmen. Zudem stärken Bereitschaft und Wille des Gelingens, sich selbst distanzieren zu können, das Durchhaltevermögen des Forschers und seiner Truppe. Während der Tagesmärsche zu einzelnen Siedlungen geht Antonio, der indianische Übersetzer und Dschungelkundige, schnellen Schritts vorweg. An zweiter Stelle folgt Karl von den Steinen, in Marschordnung die übrige Begleitung. Der Vordermann erkennt und greift zuerst nach allem, was reif, saftig und süß ist. Sein Angebot an die Mannschaft bleibt jedoch aus. Der sonst löbliche Bakairi, ironisiert der Forscher, rafft die Früchte für sich zusammen und genießt sie in Selbstsucht umgehend. »Er kam, sah und saugte!«170 Selbstironie, jenes fein geschliffene Sprachspiel, drückt die überlegene Haltung gegen sich selbst aus: Defizite, Fehler, Schwächen einzugestehen. Wirkt Ironie, wenn unverstanden, oftmals herablassend, unversöhnlich, distanzierend, Humor hingegen motivierend, befreiend, stimulierend zu Freundschaft und Solidarität. Dabei kennt sein Humor keinen Sarkasmus, seine Ironie keine Aggressivität: »Als die Spanier einst nach Amerika kamen«, erklärt von den Steinen während eines Abschiedsabends, »brachten sie Bluthunde mit, wir dagegen verehrten den Wilden ein Schosshündchen […]. Ein Geschenk freilich, so unfruchtbar wie unsere Eisenwaren.«171 Seine Ironie ist voll Verständnis, Zuwendung und Mitgefühl. Allein jene Beschreibung der indianischen Nacktheit ist ein ironischer Sprachwitz ersten Ranges. Nach herkömmlichem Sprachgebrauch nennen wir unbekleidete Menschen nackt. Nach von den Steinen sind alle Indianer unbekleidet: Männer, Frauen und Kinder – aber 147
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nackt sind sie nicht! Dem irritierten Publikum erklärt der Redner seine dialektischen Ausführungen auf sprachinhaltliche Weise: Die Nacktheit korrespondiert, wie damals weithin angenommen, mit Wildheit, Dummheit, Dekadenz. Dagegen steht das Votum des Ethnologen: Allein die Verhüllung des weiblichen oder männlichen Geschlechts »kleidet« den Indianer im tropischen Urwald angemessen und aus seiner Sicht vollkommen. Nacktheit erweist sich als kulturelle, relative Größe. Wofür man sich zu schämen hat, liegt in moralischen, sozialen Normen. Die Hüllenlosigkeit der Naturvölker bleibt so lange gute Sitte, wie sie gemeinschaftliches Zusammenleben nicht stört. Auf unerwartetem Terrain beherrscht eines Abends blitzartig Schamgefühl die Szene: Von den Steinen, alleine unter den Bakairi weilend, werden zum Mahl kleine Fische gereicht. Während er sie nach Entgrätung sogleich in Gegenwart aller verzehren will, wenden sich die anwesenden Männer entsetzt von ihm ab. Sie schämen sich seiner! Was war geschehen? Der Forscher hat nicht wahrgenommen, dass die Indianer auf jeweils eigenem Platz allein speisen. Keiner soll den anderen mit seiner Gegenwart stören. Sie speisen zusammen, also zeitgleich, und doch isst jeder für sich, dem anderen abgewandt. Das Gemeinschaft stiftende Mahl kennen sie nicht. Fazit? Der Fremde hat gegen traditionelle gesellschaftliche Regeln verstoßen. Humorvolle Bemerkungen von den Steinens zum Regelverstoß kommen nicht an. Die Etikette verlange, dass jeder, vom anderen abgewendet, für sich esse. Wer dagegen verstoße, müsse sich den Spott der Übrigen gefallen lassen, lässt Ehrenreich, sein einfühlsamer, kompetenter Reisegefährte, ihn später wissen. Am darauffolgenden Abend, als es nochmals Fisch gibt, praktiziert von den Steinen die alte Bakairi-Regel: Bescheiden verzehrt er gegenüber einem dunklen »Baumgrund« seine Fischchen – ohne Anstoß zu erregen! Die Entstehung dieses Schamgefühls müsse aus vorgeschichtlichen Zeiten stammen, mutmaßt der Forscher, als stets hungrige Menschen zahlreich waren, Fleisch, Fisch und andere Naturalien indes knapp. 148
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Ein Stück des begehrten Fleisches oder Fisches, rechtmäßig oder unrechtmäßig erwischt, zog sich jeder in eine stille Ecke zurück, um es geschützt vor den Blicken anderer zu verzehren. Welche Verhaltensweise Menschen bei Hunger, Not und knappen Nahrungsmitteln entwickeln, offenbart jene aufschlussreiche Mitteilung von den Steinens: »Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als Schmalhals auf der Expedition Küchenmeister wurde, […] mit Gier und Neid die gegenseitigen Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat […] zusammenschrumpfte, war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein jeder sich […] sein Erfrischungsgetränk nach Belieben sparsam oder verschwenderisch herrichten konnte […]; und wir erhitzten uns in allem Ernst über die Entdeckung, dass die Soldaten, mit denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine [sc. Rapadura = Rohrzucker, U.v.d.St.] vorweg verschafft hatten.«172 Wahrscheinlich liegt der Brauch zurückgezogenen, oftmals erstrittenen Essens in der Nahrungsgier, die als Überlebenstrieb sowohl in der menschlichen Entwicklungsgeschichte als auch in der Tierwelt früh anzutreffen ist.
Ethnographie im Reich der Fakten Der Berliner Gelehrte bleibt zeitlebens ein praxisnaher Wissenschaftler, ein Phänomen an Motivation, Geduld und Arbeitskraft. Dabei lässt er sich durch die anwendungsorientierte Feldforschung leiten. Er müsse es deshalb für nützlicher halten, der praktischen Forschung zu dienen als der Lehre, teilt er in seinem Demissionsschreiben dem Königlichen Curatorium der Marburger Philipps-Universität 1892 mit. Seine nach zweijähriger Lehrtätigkeit gereifte Erfahrung besagt, dass er ohne Demonstrationsmaterial eines Museums (das Marburg nicht besaß) keine wissenschaftlich-sachgerechte Ethnologie treiben könne. Seine Feldforschungen hatten ihn zur Einsicht gebracht: Ethnologisch angemessenen Zugang zum Menschen findet man nur durch 149
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Begegnung mit Menschen und ihrer geistigen und materiellen Kultur. Anita Hermannstädter ergänzt: »Das Innovative an Karl von den Steinen steckte aus heutiger Perspektive weniger in seinen theoretischen Interpretationen, sondern vielmehr in seiner methodischen Herangehensweise […]. Nur im Kontakt zu den Menschen und der praktischen Erfahrung ihrer Lebenswelten sah Karl von den Steinen eine Chance, fremde Kulturen zu verstehen und damit die Ethnologie auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen.«173 Es sei unumgänglich, von den Fremden selbst zu erfahren, was sie bedeuten und wie sie Leben. »Ich meinerseits bin außerordentlich bescheiden im Deuten geworden, halte es auf der anderen Seite aber für sehr oberflächlich, Figuren, die wir nicht verstehen, als Schnörkel abzufertigen.«174 Im zeitlichen Abstand von mehr als einhundertzwanzig Jahren halten wir fest: Karl von den Steinens Interesse für das physische und psychische Sein des Menschen, seiner geistigen und materiellen Kultur, ist von der medizinisch-psychiatrischen Grundausbildung bestimmt und der Forschung am unbekannten Menschen, seiner Herkunft und Kultur, getragen. Wie sein Lehrer Bastian sieht er »den Menschen als Verursacher der Kultur. Für alle Fragen nach ihrem Ursprung sucht er eine Antwort in der geistigen Veranlagung des Menschen.«175 Ferner war von den Steinen »der erste, der systematische völkerkundliche Forschungen in Brasilien durchführte, [daher] gilt er als einer der Begründer der Ethnologie Südamerikas.«176 Bis heute zählen seine Forschungsreisen zu den großen ethnographischen Pionierleistungen. Zeitgenössische Berliner Völkerkundler, etwa Alfred Vierkandt, von den Steinens Nachfolger an der Universität, sind an angewandter Ethnologie kaum interessiert. Sie arbeiten rekonstruierend: Kolonialverwaltungen, Missionare, Handelsreisende und Abenteurer versorgen die Wissenschaftler mit dem nötigen ethnologischen Material. Praktische Feldforschung betreiben sie nicht. »In seiner Forderung nach ethnologischer Forschung vor Ort, die teilnehmende Beobachtung und Interview mit einschloss, bahnt 150
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der Berliner Gelehrte bereits in den 1890er Jahren den Weg für eine moderne Methodik der Ethnologie, die sich nach dem ersten Weltkrieg allgemein durchsetzen sollte.«177 In seinen Monographien und Abhandlungen erleben wir ihn als Protagonisten der internationalen Ethnologie um die Jahrhundertwende. Er studiert das ursprüngliche Leben der indigenen Stämme entlang des Xingu bis zur Mündung in den Amazonas, vornehmlich deren Sprachen, frei von amerikanischen oder europäischen Einflüssen. Heute werden derartige Großexpeditionen nicht mehr durchgeführt. Die Völker Südamerikas sind ethnographisch erschlossen. Auch die evolutionistische Theorie wird in der modernen Ethnologie hinterfragt. Kontinuierliche Entwicklungsstufen verlieren insofern ihre Bedeutung, als man im Zuge globaler Vernetzung zivilisatorische Einflüsse modernen Lebens auf fremde Gesellschaften nachweist, die alles Ursprüngliche konterkarieren. Wer sich jedoch heute für die Welt der Xingu-Indianer interessiert: ihre Sprachen, Religion, Sozialisation, Verwandtschaftsverhältnisse, Werte, Zähl-, Zeichen- und Handwerkskunst, kurzum: ihre geistige und materielle Kultur, der wird nicht umhin können, auf das Schrifttum Karl von den Steinens zurück zu greifen. Noch heute sind seine Bücher Standardwerke der frühen ethnographischen Brasilienforschung. Mit der Ausarbeitung der polynesischen Tattoo- und Mythenforschung, der er sich, wie oben ausgeführt, in den 1920er Jahren vorrangig widmet, beschließt er sein ethnologisches Lebenswerk. Die Amerikaner danken es ihm später durch einen großzügigen Zuschuss für den Druck seiner dreibändigen Monographie über die Marquesaner und ihre Kunst, die er mit eigenen Mitteln nicht bestreiten kann. Was war geschehen? »Muss ich es aussprechen, wie verhängnisvoll die Zeitverhältnisse auf die Veröffentlichung eines kostspieligen Werkes eingewirkt haben?«178 Mit Hilfe seines Kollegen aus alten Berliner Zeiten, Franz Boas, Vater der amerikanischen Anthropologie, und der »Emergency Society for German and Austrian Science an Art« in New York, kann 151
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22 Karl von den Steinen, undatiert, um 1925.
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die Marquesas-Trilogie (1925–1928) erscheinen. Noch einmal würdigt ihn die ethnologische Welt: Anlässlich seines 70. Geburtstages, 1925, ernennt ihn sowohl die Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte als auch, im darauffolgenden Jahr, die Societe des Americanistes de Paris zu ihrem Ehrenmitglied. Die Folgen des Krieges und Inflation schmälern das Familienvermögen derart, dass er sein Berliner Anwesen verlässt und mit der Familie in Kronberg/Taunus Wohnung nimmt. Am 4. November 1929 endet das oszillierende Leben Karl von den Steinens. Fast erblindet stirbt er 74jährig den Infarkttod. Seine Urne ruht im Kolumbarium der verwandten Familien Vohsen/von den Steinen auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde zu Berlin. Die Monographien über zwei Xingu-Expeditionen sowie die Marquesas-Trilogie und seine ethnographischen Sammlungen gehören nicht zuletzt zum kulturellen Gedächtnis Deutschlands. Der Arzt, Abenteurer und Ethnologe Karl von den Steinen hat wahrhaftig seinen Fußabdruck im ethnologischen Boden der Geschichte hinterlassen.
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Anmerkungen
1 2
Virchow, H., 1929, 401. Sein Vater hatte nach dem Tod der Mutter (1857) im Jahre 1862 Julie Vorster (1829–1905) geheiratet. 3 Nach Hermannstädter, 2002, 46. 4 Kohl, 2008, 39. Zur Diskussion über das vermeintliche Verschwinden der indigenen Bevölkerung vgl. besonders Münzel, 2004, 439ff. 5 Steinen, 1905, 243. 6 Steinen, 1925, 45. 7 Deutsche Ausgabe 1978, 240. 8 Steinen, 1894, 32. 9 Steinen, 1894, 103. 10 Steinen, 1894, 307. 11 Hermannstädter, 2002, 53. 12 Steinen, 1886, 192. 13 Steinen, 1886, 192. 14 Kraus, 2004, 250f. 15 Steinen, 1894, 179. 16 Vgl. 1981, 648. 17 Steinen, 1885, 96. 18 Steinen, 1894, 176. 19 Steinen, 1894, 34. 20 Steinen, 1886, 167. 21 Steinen, 1894, 88, 141. 22 Steinen, 1886, 6. 23 Steinen, 1894, 140, 143. 24 Brief an Wilhelm Reiß vom 14.07.1886; im selben Brief kündigt er einen Vortrag »Die
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Bedeutung des Schingu für die Ethnologie des nördlichen Südamerika« an, vermutlich, um auf seine potentiellen Geldgeber einzuwirken; zu den Einzelheiten der Geldbeschaffung s. auch Hermannstädter, 2002, 73f; Kraus, 2004, 57f, der das Grundproblem der Expeditionsfinanzierung ausführlich behandelt, vgl. 2004, 108ff. Steinen, 1894, 134. Steinen, 1894, 26. Steinen, 1894, 74. Kraus, 2004, 303f. Vgl. Steinen, 1885, 97. Ehrenreich, 1890, 97. Kraus, 2004, 307. Steinen, 1894, 331. Steinen, 1888, 381. Forster, 1983, 519f. Steinen, 1894, 106. Steinen, 1894, 193. Hermannstädter, 2002, 78; vgl. auch 1996, 211. Hermannstädter, 2002, 45. Hermannstädter, 2002, 46. Steinen, 1905, 244. Steinen, 1886, 203. Steinen, 1889, 3. Darwin, 1875, Bd.II, 366. Steinen, 1889, 4. Ehrenreich, 1890, 89.
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Anmerkungen
46 Steinen, 1889, 18. 47 Forum Teilhardianum, www. teilhard.de. 48 Steinen, 1886, 326f. 49 Steinen, 1894, 201. 50 Steinen, 1894, 205. 51 Steinen, 1894, 399. Im Original gesperrt. 52 Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871). 53 Steinen, 1889, 11. 54 Steinen, 1889, 5. 55 Steinen, 1889, 5. 56 Steinen, 1889, 7. 57 Steinen, 1894, 251. 58 Steinen, 1885, 95. 59 Steinen, 1888, 22. 60 Steinen, 1894, 64. 61 Steinen, 1894, 194f. 62 Lévi-Strauss, 1978, 279. 63 Steinen, 1894, 177. 64 Zit. n. Kraus, 2004, 463. 65 Steinen, 1886, 240. 66 Lévi-Strauss, 1978, 275. 67 Steinen, 1894, 337. 68 Steinen, 1894, 337. 69 Steinen, 1894, 344f. 70 1978, 225. 71 Steinen, 1889, 9. 72 Steinen, 1894, 351. 73 Steinen, 1894, 351. 74 Steinen, 1894, 354. 75 Steinen, 1889, 10. 76 Steinen, 1888, 23. 77 Steinen, 1894, 331. 78 Steinen, 1888, 25. 79 Steinen, 1889, 11. 80 Steinen, 1894, 350.
81 Steinen, 1889, 13, vgl. auch 1894, 516. 82 Steinen, 1889, 15. 83 Steinen, 1888, 27. 84 Steinen, 1888, 27. 85 Steinen, 1888, 28. 86 Steinen, 1888, 28. 87 Steinen, 1894, 408. 88 Steinen, 1889, 16; vgl. auch 1894, 412f. 89 Steinen, 1889, 15. 90 Steinen, 1886, 288. 91 Steinen, 1892, Vorwort, III. 92 Steinen, 1892, Vorwort VI. 93 Steinen, 1894, 80. 94 Steinen, 1889, 16. 95 Steinen, 1889, 17. 96 Steinen, 1889, 17. 97 Steinen, 1905, 220. 98 Der Spiegel, 9. 11. 2009, 170. 99 Steinen, 1889, 17. 100 Fischer, 2002, 9. 101 Brief v. 24. Mai 1888, Acta Steinen/Ehrenreich 623. – Die familiäre Zukunft leitet er durch Verlobung mit Rosa Leonore Herzfeld (1867–1944) im Mai 1889 und Eheschließung im August 1889 ein. Vier Söhne und vier Töchter werden bis 1906 geboren. Der Zweitgeborene, Wolfram, zeichnet sich als Mediävist an der Universität Basel aus, die Tochter Marianne heiratet den bekannten Heidelberger Archäologen Karl Schefold. 102 Steinen, 1894, Vorwort VI. 103 Vgl. Schlenther, 1959/60, 70. 104 Rebok, 2002, 375. 155
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anmerkungen
105 Steinen, 1900, 1. 106 Vgl. Steinen, 1900, 1. 107 Steinen am 3. März 1892 an das Königliche Curatorium der Philipps-Universität Marburg. Hessisches Staatsarchiv Marburg, »Akten betreffend die Privatdozenten«, Vol III, 1884 – 1898« (Bestand 310, acc. 1920/30 II, 139). Abgedruckt in »Karl von den Steinen«, Wikepedia. 108 Steinen, 1925, Vorwort. 109 Steinen, 1898, 492. 110 Steinen, 1925, 37. 111 Forster, 1983, 517. 112 Steinen, Brief v. 07. 12. 1897, zit. n. Lichtenstein, 2007, 105. 113 Steinen, 1898, 499. 114 Steinen, Brief v. 7. 12. 1897, zit. n. Lichtenstein, 2007, 106. 115 Steinen, 1934, 232f. 116 Steinen, 1892, 209f. 117 Steinen, 1898, 499. 118 Steinen, 1925, 65. 119 Steinen, 1925, 46. 120 Steinen, 1898, 493. 121 Lichtenstein, 2007, 55. 122 Steinen, 1925, 47. 123 Steinen, 1925, 48. 124 Steinen, 1925, 84. 125 Steinen, 1925, 62. 126 Steinen, 1898, 511. 127 Mückler, 2002, 16. 128 Lichtenstein, 2007, 78. 129 Steinen, 1925, 48. 130 Steinen, 1898, 495. 131 Steinen, 1925, 51. 132 Steinen, 1925, 69. 133 Harms, 2001, 449.
134 Klein, 2002, 73. 135 Klein, 2002, 98. 136 Zum einzelnen: Oettermann, 1994. 137 F.A.Z., 03. Juli 2006, 36. 138 WAZ, 07. Juli 2006, 10. 139 Schlenther, 1959/60, 70. 140 Zeitschrift für Ethnologie, 37,1905, 435. 141 Hermannstädter, 2002, 84; Rebok, 2009, 205; vgl. vor allem Kraus, 2004, 30ff, 68, 85f, 100 u. ö. 142 Kraus, 2004, 99. 143 Steinen, 1886, 8. 144 Steinen, 1894, 387 – 404. 145 Vgl. dazu Rebok, 2002, 388. 146 Kraus, 2002, 105. 147 Rebok, 2002, 391. 148 Vgl. Steinen, 1888, 22. 149 So z. B. Christoph Antweiler, »Heimat Mensch«. Was uns alle verbindet, Hamburg 2009. 150 2002, 80. 151 2002, 116f. 152 Hermannstädter, 2002, 112. 153 Hermannstädter, 2002, 52f. 154 Vgl. Kraus, 2004, 125ff. 155 Steinen, 1894, 69. 156 Münzel, 2001, 5. 157 Nach Hermannstädter, 2002, 78. 158 Steinen, 1894, 520. 159 Steinen, 1894, 520. 160 Vgl. dazu Kraus, 2004a, 483f. 161 2004, 444. 162 2004, 43. 163 Acta Koch I, E 190/03. Ethnologisches Museum, Berlin, 164 Kraus, 2004, 410. 156
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anmerkungen
165 Steinen, 1897, VIII. Vgl. auch 1894, 68. 166 Steinen, 1894, 173. 167 Steinen, 1915, 279. 168 Vgl. Steinen, 1886, 131, 175, 177, 214, 240, 266; 1894, 91, 174 u. ö. 169 Steinen, 1894, 70. 170 Steinen, 1894, 32.
171 Steinen, 1894, 137. 172 Vgl. Steinen, 1894, 67. 173 2002, 84. 174 Steinen, 1894, 269. 175 Westphal-Hellbusch, 1969, 160. 176 Hermannstädter, 1996, 211. 177 Hermannstädter, 2002, 84. 178 Steinen, 1925, Vorwort.
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Dank Die Anfänge meines ethnologischen Interesses an Karl von den Steinen gehen auf das Jahr 2003 zurück. Nach anderweitigen Publikationspflichten habe ich in den letzten Jahren diesen biographischen Essay geschrieben. Viele Menschen haben das Buchprojekt wohlwollend begleitet und unterstützt. Zunächst danke ich den Angestellten der Bibliotheken und Archive, die mir ihre Bestände und Dokumente zugänglich gemacht haben: insbesondere dem Archiv der Stadt Mülheim an der Ruhr, seinem Leiter Herrn Dr. Kai Rawe, sowie der Staatsbibliothek und deren Handschriftenabteilung, dem Ethnologischen Museum und dem Iberoamerikanischen Institut, alle in Berlin. Dem ersten Leser des Textes, meinem theologischen Kollegen und Freund Arnulf Linden, sei für die Manuskriptbearbeitung herzlich gedankt. Ein hilfsbereiter Partner bei der Herstellung der Abbildungen war Herr Bernd Brinkmann; mit ihm verbindet mich der Dank für spontane Kooperation und das gemeinsame Interesse der Geschichte unserer Stadt – in der Karl von den Steinen geboren wurde. Persönliche Hinweise zur Familie habe ich von Frau Georgine von den Steinen, Basel, erhalten. Das Gespräch mit der hoch betagten Dame ist mir lebhaft gegenwärtig und ich verbinde es mit herzlichem Dank. Sie ist die Witwe des Mediävisten Wolfram von den Steinen (1892–1967), des zweiten Sohnes Karl von den Steinens, die letzte lebende Person aus der Kindergeneration. Die Verbindung zu ihr hat Prof. Dr. Reimar Schefold, Leiden, hergestellt, Sohn der Marianne von den Steinen und Ehefrau des klassischen Archäologen Karl Schefold. Ulrich von den Steinen
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Literaturverzeichnis Anmerkung: Um der besseren Lesbarkeit willen, wurden Orthographie und Interpunktion aus älteren Publikationen und unveröffentlichen Quellen der heutigen Schreibweise angepasst.
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Literaturverzeichnis
----Die Völkerkunde an der Jahrhundertwende, in: Julius Lohmeyer, Das goldene Buch, 1900, S. 2 – 3. ----Der Paradiesgarten als Schnitzmotiv der Payagua-Indianer, in: Ethnologisches Notizblatt, Berlin 1901, S. 1 – 6. ----Über den XII. Internationalen Amerikanisten-Kongress in New York und die ethnologischen Museen im Osten der Vereinigten Staaten , in: Zeitschrift für Ethnologie 35 1903, S. 80 – 92. ----Gedächtnisrede auf Adolf Bastian, in: Zeitschrift für Ethnologie, 1905, S. 236 – 249. ----Proben einer frühen polynesischen Geheimsprache. Sonderdruck, aus: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Band LXXXVII, Nr. 7, vom 23. Februar 1905a, S. 119 – 121. ----Neuseeländisches Heitiki und Nephritbeil. Sonderdruck Archiv für Anthropologie NF, Bd. IX, Braunschweig 1910, S. 43 – 49. ----Orpheus, der Mond und Swinegel, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde zu Berlin, Heft 1 und 2, Berlin 1915, S. 260 – 279. ----Die Marquesaner und ihre Kunst. Studien über die Entwicklung primitiver Südseeornamentik nach eigenen Reiseerlebnissen und dem Material der Museen, Bände 1 – 3, Berlin 1925 – 1928. ----Marquesanische Mythen, in: Zeitschrift für Ethnologie Jahrgang 65 (1933), S. 1 – 44 u. S. 326 – 373; Jahrgang 66, 1934, S. 232ff.
2. Unveröffentlichte Dokumente, Autographen Akten des Hessischen Staatsarchivs Marburg; betreffend die Privatdozenten an der Universität Marburg, Vol III, 1884 – 1898. Ethnologisches Museum Berlin: Acta Steinen/Ehrenreich (623/88, 853/87). Ethnologisches Museum Berlin: Acta Koch I (E 190/03). Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Bolte, 1893.
Abteilung Handschriftensammlung der Staatsbibliothek zu Berlin Sammlung Darmstädter, Amerika 1884 (4), u. a. Curriculum vitae ohne Jahr, nach 1888 verfasst. Nachlass Hirsch, 1914. Nachlass Levin, 1896. Nachlass Luschan, 1886 – 1921. Nachlass Mommsen, 1896. Nachlass Reiß, 1886 – 1887. Nachlass Schalow, 1890 – 1892. 160
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3. Sekundärliteratur Antweiler, Ch., »Heimat Mensch«. Was uns alle verbindet, Hamburg 2009. Assmann, A., u. a. (Hg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a. M. 2004. Bastian, A., Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen und seine Begründung auf ethnologische Sammlungen, Berlin 1881. Bois-Reymond, E., Bericht über die Wirksamkeit der Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, XXI 1888, S. 473 – 476. Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, 2 Bde., 3. Aufl. Stuttgart 1875. Ehrenreich, P., Mittheilungen über die zweite Xingu-Expedition in Brasilien, in: Zeitschrift für Ethnologie 22 (1890), S. 81 – 98. Feest, Ch., Kohl, K.-H. (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001. Fischer, H., »Völkerkunde«, »Ethnographie«, »Ethnologie«. Kritische Kontrolle der frühesten Belege, in: Zeitschrift für Ethnologie 95 (1970), S. 169 – 182. Fischer, H., (Hg.), Ethnologie: Einführung und Überblick, Berlin, 4. Aufl. 1998. Fischer, H., (Hg.), Feldforschungen. Erfahrungsberichte zur Einführung, Neufassung Berlin 2002. Forster, G., Reise um die Welt, Frankfurt a. M. 1983. Forum Teilhardianum, www.teilhard.de. Harms, V., »Karl von den Steinen«, in: Feest/Kohl (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001, S. 446 – 450. Hartmann, G., Xingu. Unter den Indianern in Zentral-Brasilien. Zur einhundertjährigen Wiederkehr der Erforschung des Rio Xingu durch Karl von den Steinen. Katalog zur Sonderausstellung Xingu, 14. Mai bis 31. August 1986, Berlin 1986. Hauschild, T., Kultureller Relativismus und anthropologische Nationen. Der Fall der deutschen Völkerkunde, in: Positionen der Kulturanthropologie, hg. Assmann, Aleida u. a. Frankfurt/Main 2004, S. 121- 147. Hermannstädter, A., Karl von den Steinen und die Xingu-Bevölkerung. Zur Wahrnehmung und Darstellung fremder Kulturen in der Ethnographie des 19. Jahrhunderts, in: Baessler-Archiv, N. F. Bd. XLIV, 1996, S. 211 – 241. Hermannstädter, A., Abenteuer Ethnologie. Karl von den Steinen und die XinguExpeditionen, in: Deutsche am Amazonas. Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800 bis 1914, Hg. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ethnologisches Museum, 2002, S. 67 – 85.
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Literaturverzeichnis/Bildnachweis
Virchow, H., Festsitzung zur Feier des 60jährigen Bestehens der Gesellschaft am 16. November 1929, in: Zeitschrift für Ethnologie 66, 1929, S. 401f. Virchow, R., Buchbesprechung Karl von den Steinen, Durch Central-Brasilien, in: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 18, Berlin 1886, S. 233 – 234. Verne, M., Promotion, Expedition, Habilitation, Emigration. Franz Boas und der schwierige Prozess, ein wissenschaftliches Leben zu planen, in: Paideuma, 50, 2004, S. 79 – 99. Wegener, Gustav., Karl von den Steinen zu seinem 70. Geburtstag, in: Voss’sche Zeitung vom 7. März 1925. Westphal-Hellbusch, Sigrid, Hundert Jahre Ethnologie in Berlin, unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entwicklung an der Universität, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1869 – 1969, Berlin 1969, S. 157 – 183.
Bildnachweis Abb. 1: Archiv der Stadt Mülheim an der Ruhr, Slg. K. von den Steinen. Abb. 2: Privatbesitz. Abb. 3: Karl von den Steinen, Durch Central-Brasilien, 1886. Abb. 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14: Karl von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, 1894. Abb. 8: www.weltkarte.com/suedamerika/brasilien Abb. 15: Diercke Weltatlas, 1925. Abb. 16, 17, 18, 19: Karl von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst, Bd. 1, 1925. Abb.: 20: Jörg »Monte« Klein, Mana. Die Geheimnisse der marquesischen Tätowierung, Paderborn 2002. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages House of Poets, Paderborn. Abb. 21: Karl von den Steinen, Die Bakairi-Sprache, 1892. Abb. 22: Archiv der Stadt Mülheim an der Ruhr, Slg. K. von den Steinen.
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Literaturverzeichnis/Bildnachweis
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Bildnachweis Abb. 1: Archiv der Stadt Mülheim an der Ruhr, Slg. K. von den Steinen. Abb. 2: Privatbesitz. Abb. 3: Karl von den Steinen, Durch Central-Brasilien, 1886. Abb. 4, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 14: Karl von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens, 1894. Abb. 8: www.weltkarte.com/suedamerika/brasilien Abb. 15: Diercke Weltatlas, 1925. Abb. 16, 17, 18, 19: Karl von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst, Bd. 1, 1925. Abb.: 20: Jörg »Monte« Klein, Mana. Die Geheimnisse der marquesischen Tätowierung, Paderborn 2002. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages House of Poets, Paderborn. Abb. 21: Karl von den Steinen, Die Bakairi-Sprache, 1892. Abb. 22: Archiv der Stadt Mülheim an der Ruhr, Slg. K. von den Steinen.
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Personenregister Antweiler, Christoph 156 Amstrong (Missionar) 98 Aristoteles 53
Gehlen, Arnold 134 Haeckel, Ernst 57 Harms, Volker 156 Hermannstädter, Anita 44, 134, 149, 154, 156f Herzfeld, Rose Leonore 155 Humboldt, Alexander von 2, 6, 9, 27, 126 Huxley, Thomas Henry 57
Bastian, Adolf 5-9, 28, 42, 46f, 50f, 91f, 95, 124, 127, 131, 136 Batovy, Baron de 29 Beckham, David 121 Boas, Franz 89, 93, 127, 151 Brinkmann, Bernd 160 Celan, Paul 82 Claudius, Matthias 28 Clauss, Otto 1, 10-13, 28 Cook, James 40, 99, 101
Joest, Wilhelm 9 Jolie, Angelina 121 Kissenberth, Wilhelm 134f Kiepert, Richard 92 Klein, Jörg “Monte” 120 Klimt, Gustav 57 Klinger, Max 57 Koch-Grünberg, Theodor 69, 89, 127, 142f Kohl, Karl-Heinz 142, 154 Kretzschmar, Stephan 121 Kraus, Michael 4, 127, 132, 154-157 Krause, Fritz 143 Krusenstern, Johann Adam von 99 Kubin, Alfred 57
Dali, Salvador 82 Danckelmann, Bernhard von 26 Darwin, Charles 51, 57, 59 Dilthey, Wilhelm 92f Dobritzhofer, Martin 86 Dom Pedro II. 12, 28 Dupetit-Thournars (Admiral) 100 Ehrenreich, Paul 31, 36f, 49, 52, 61, 136, 148, 154 Ernst, Max (Maler) 82 Fischer, Hans 155 Forster, Georg 9, 40, 99, 101 Forster, Johann 99 Frings, Torsten 121f.
Langsdorff, Georg Heinrich von 100 Levi-Strauss, Claude 12, 22, 70, 72, 90, 94, 127, 155 Lichtenstein, Burgl 113, 156 Linden, Arnulf 160 Lopez (Missionar) 86
Gauguin, Paul 97 165
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personenregister
Luschan, Felix von 127
Schefold, Reimar 160 Schlenther, Ursula 155f Schmidt, Max 34, 140f, 143 Sellow, Friedrich 2 Spencer, Herbert 57 Spix, Johann Baptist 2, 127, 137 Steinen, Auguste von den 5 Steinen, Carl von den 5 Steinen, Ernst von den 5 Steinen, Georgine von den 160 Steinen, Marianne von den 160 Steinen, Samuel von den 1 Steinen, Wilhelm von den 1, 10-13, 28, 31, 39 Steinen, Wolfram von den 160, 155
Martius, Carl Friedrich von 2, 88, 127, 137 Melville, Hermann 97 Meier, Hermann 140, 141, 143 Mendana, Alvaro de 98 Mendoza, Marques de 98 Merton, Robert 59 Mückler, Hermann 156 Münzel, Mark 142, 154, 156 Natterer, Johann 2, 127 Nossack, Hans Erich 82 Oettermann, Stephan 156 Odonkor, David 121
Teilhard de Chardin, Pierre 53 Tilesius, Wilhelm Gottlieb 100, 106
Pitt, Brad 121 Plessner, Helmuth 134 Preußen, Prinz Adelbert von 10 Preuss, Karl Theodor 143
Virchow, Hans 154 Virchow, Rudolf 8, 28f, 31, 42 Vogel, Peter 26, 31 Vorster, Julie 154
Rawe, Kai 160 Rebok, Sandra 131, 155f Reiß, Wilhelm 31, 154 Richthofen, Ferdinand von 92 Rohde, Richard 18, 135 Rousseau, Jean Jacques 45
Wallace, Alfred Russel 59 Westphal, Carl 5 Westphal-Hellbusch, Sigrid 157 Wied, Prinz Max zu 2 Williams, Robbie 121 Winehouse, Amy 122
Schefold, Karl 160 ,155
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Theodor Koch-Grünberg (1872–1924) zählt zu den Pionieren der Völkerkunde Südamerikas. Seine ersten Erfahrungen in Brasilien sammelte er als Teilnehmer einer Expedition in das Gebiet des Xingu-Flusses. Mit der Edition seines Tagebuches wird diese Forschungsreise erstmals ausführlich dokumentiert, wobei vor allem die sozialgeschichtlichen Hintergründe beleuchtet werden. Neben Informationen über Zentralbrasilien und Darstellungen des Expeditionsalltags gewährt dieser Band Einblicke in frühe Forschungsmethoden. Zugleich ist er ein Beitrag zur Geschichte der Ethnologie im Deutschen Kaiserreich sowie zur wissenschaftlichen Wahrnehmung und Konstruktion fremder Völker. Ergänzt wird das vorgelegte Material durch zahlreiche, zumeist unveröffentlichte Fotografien aus Südamerika sowie weiterführende Aufsätze zur biografischen und historischen Orientierung. (ERAUSGEGEBENÖVONÖ-ICHAELÖ+RAUS ÖÖ3ÖÖSW !BBÖAUFÖÖ4AFÖÖ3KIZZENÖUÖÖ+ARTEÖÖ 'EBUNDENÖ)3".Ö
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ERICH KR ÄUTLER ANGELIK A MEUSBURGER (HG.)
MENSCHEN AM XINGU EINE DOKUMENTARISCHE AUTOBIOGR APHIE. IM AUFTR AG DES FORSCHUNGSINSTITUTES BRENNER ARCHIV & IN VERBINDUNG MIT DEM FR ANZ-MICHAEL-FELDER-VEREIN
Erich Kräutler (1906–1985) erzählt aus seinem Leben als Missionar in den Jahren 1934 bis 1965 am größten Nebenfluss des Amazonas. Dieses Leben ist geprägt von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Ein scheinbar undurchdringlicher Urwald mit einem riesigen Strom ist die Welt der Gummisammler, die in bitterer Armut und Abhängigkeit ihr Leben fristen. Er ist aber auch und ursprünglich die Welt der Kayapó-Indiander, deren Lebensraum durch das Eindringen der Weißen immer kleiner wird. Auf zahllosen, oft gefährlichen Reisen lernt Erich Kräutler die Nöte der Gummisammler kennen, die schwierige Situation der Indianer zwischen ursprünglicher Lebensform, Anpassung und Untergang. Er begegnet der Brutalität mancher Gummibarone, die vor keiner Gewalttat zurückschrecken, und der Ignoranz und Untätigkeit staatlicher Behörden. Er ist konfrontiert mit widrigen äußeren Umständen, Krankheit und Schiffbruch. Trotz aller Schwierigkeiten gelingt es dem Missionar, den Siedlern das Christentum wieder näher zu bringen, Kirchen und Schulen aufzubauen und die ärgste soziale Not zu lindern. Er knüpft Kontakte zu den Indianern und lernt ihre Kultur kennen. 1997. 412 S. GB. 57 S/W-ABB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-98763-5
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Seit dem 19. Jahrhundert tragen Frauen als Reisende in abgelegene Teile der Welt, als Forschende, Zeichnerinnen und Fotografinnen zur ethnographischen Kenntnis des Fremden sowie zur Entwicklung des Faches Völkerkunde/Ethnologie bei. Dieses Handbuch stellt die Werdegänge aller deutschsprachigen Ethnographinnen und Ethnologinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammen. In Einzelportraits werden ihre persönlichen Hintergründe und wissenschaftlichen Leistungen vorgestellt. Reisten sie allein oder zu zweit? Was zog sie in die Ferne? Hatten sie Familie? Machten sie Karriere? Darüber hinaus werden die Bedingungen aufgezeigt, unter denen Frauen zur Ethnologie beitrugen: als »höhere Töchter« oder Abenteuerinnen, durch Berichte, Zeichnungen oder Fotografien. Sie leisteten Beiträge zur theoretischen Diskussion und zur institutionellen Etablierung des Faches. Vor allem in Ausnahmesituationen – etwa in der Kriegsund Nachkriegszeit – übernahmen sie die Sicherung von Instituts- und Museumsbeständen. Diese bisher kaum wahrgenommenen Leistungen von Frauen sichtbar zu machen, ist ein Anliegen des Handbuchs. Dennoch ist es nicht nur Nachschlagewerk der »weiblichen« Fachgeschichte, sondern ein wichtiger Baustein der Geschichte der deutschsprachigen Ethnologie überhaupt. ÖÖ3ÖÖ37 !""Ö5.$ÖÖ4!"Ö'"Ö)3".Ö
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