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German Pages 896 [897] Year 2020
Axel Schildt Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik
Axel Schildt Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Behörde für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg
und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Neuordnung des intellektuellen Medienensembles in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1.
Sich Wiederfinden – die Rückkehr intellektueller Akteure
59
2. Westwärts – der Abstieg Berlins und die Neuordnung medien-intellektueller Zentren . . . . . 90 3.
Kommandohöhen – Intellektuelle im Radio . . . . . . . . . . 107
4. Schreiborte für Intellektuelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.1 Die Ordnung der Verlagslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.2 Alte und neue Blätter – das Feuilleton der Tages- und Wochenpresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.3 Vom Zeitschriftenfrühling zum Zeitschriftenmarkt der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
II. Einübung des Gesprächs – Intellektuelle in den Medien der frühen Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . 215 1.
Eine diskutierende Gesellschaft – Entfaltung und Begrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
Exkurs: Intellektuelle in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Orte des Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Dunkle Zeiten: Kulturkritik als Suchbewegung . . . . . . . . 256 2.1 Das »Christliche Abendland« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2.2 Kulturemphase und Krisenwahrnehmung . . . . . . . . . . . 278 2.3 Vision Europa – Menetekel Amerika . . . . . . . . . . . . . . 324
3.
Braune Schatten: Die Intellektuellen und der Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 3.1 »Der Fragebogen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3.2 Ernst Jünger und seine Entourage – anschlussfähig für scheinbar Unvereinbares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 3.3 Das allmähliche Vordringen der Aufklärung . . . . . . . . . . 402 3.4 »Das verlorene Gewissen« – die Kampagne des Kurt Ziesel
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4. Aufhellungen: Liberaler, moderner, kritischer . . . . . . . . . 453 4.1 Tendenzen der Liberalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 4.2 Modernisierung unter konservativen Auspizien . . . . . . . . 495 4.3 Politisierung des Nonkonformismus . . . . . . . . . . . . . . 529
III. Die Intellektuellen in der Transformation
der »langen 60er Jahre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 1.
Die Intellektuellen in der Fernsehgesellschaft . . . . . . . . . 611
2. Reformklima: Die Intellektuellen auf der Suche nach dem Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 3.
Linkswende: Intellektuelle Opposition gegen die Bonner Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 3.1 Die Protestkonjunkturen 1958-1965 . . . . . . . . . . . . . . 649 3.2 Von der Suche nach Internationalität zur »Suhrkamp Culture« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 4. Haltelinien: Konservative Beharrung und Erneuerungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720 5.
Fetisch Revolution: 1968 als Intellektuellengeschichte . . . . 760
IV Die Intellektuellen in der Spätphase der »alten
Bundesrepublik« der 1970er und 1980er Jahre 1.
Vanitas – lauter Endspiele: Das Verblassen der sozialistischen Hoffnungen
2. Backlash: Die Rekonstruktion des Konservatismus 3.
Grün schlägt rot und schwarz: Die Intellektuellen und das alternative Milieu
4. Spät geworden: Die intellektuelle Selbstanerkennung der Bundesrepublik
Ausblick: Die Intellektuellen auf dem Weg in die »Berliner Republik«
Nachwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Medienregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887 Institutionenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
Einleitung
Den Spott gibt es bis heute gratis: Ralf Dahrendorf charakterisierte den Intellektuellen als »Mann, der mehr Worte braucht als nötig sind, um mehr zu sagen als er weiss«.1 Und 2015 bemerkte der Journalist Jan Grossarth süffisant: »Früher sperrte man ihn weg, heute muss er in die Talkshows, wenn man ihn noch einlädt.«2 Das von Häme geprägte Bild, das der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer als eines erfahrenen Kapitäns zeichnete, der das Staatsschiff auf klarem Kurs hielt und dessen ruhige Fahrt nur vom übellaunigen Gekrächze der (intellektuellen) Möwen begleitet wurde,3 hält sich als zähes Vorurteil. Die Bonner Republik sei, zumindest bis zum magischen Jahr 1968, ein Land bleierner Zeiten ohne Ideen gewesen, bestätigen nach wie vor mit umgekehrter Wertung viele progressive Publizisten. Letztlich zählte allein die Ausbreitung einer Wohlstandsgesellschaft, die aus Sicht der meisten Zeitgenossen dem Geist per se abträglich sei. Auch die historische Forschung betont die enorme Bedeutung der Intellektuellen und ihrer Debatten für die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Bundesrepublik erst seit Kurzem.4 Aber mittlerweile ist doch ein Konsens hergestellt worden, dass Anregungen aus der Intellectual History die Zeitgeschichte wesentlich bereichern könnten.5 Die spürbare Aufwertung ist nicht zuletzt auf die gegenwärtige Verschiebung sozialer Forderungen in das Feld symbolischer Kämpfe zurückzuführen – ein strategisches Dauerthema nicht zuletzt im Diskurs der Linken. Dadurch emanzipiert sich die Intellectual History von einseitigem Kulturalismus.6
1 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, Bonn 2006, S. 176. 2 Jan Grossarth, Der arme Intellektuelle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7./8.2.2015. 3 Hans-Peter Schwarz, Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949-1957, Stuttgart/ Wiesbaden 1981, S. 448. 4 Selbst das neuere voluminöse Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen. Hrsg. von Helmut Reinalter und Peter J. Brenner, Wien u. a. 2011, enthält keinen Eintrag zum Intellektuellenbegriff oder der Intellektuellengeschichte, stattdessen einen – sachlich veralteten – Artikel »Ideengeschichte«. 5 Jan-Werner Müller, European Intellectual History as Contemporary History, in: Journal of Contemporary History, Jg. 46, 2011, S. 574-590. 6 Zur Parallelität der Finanzmarktkrise und dem Platzen der Theorieblase vgl. Marcel Lepper, Strukturalismus, ein frühes und ein spätes Ende, in: Hans-Harald Müller/Marcel Lepper/ Andreas Gardt (Hrsg.), Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975, Göttingen 2010, S. 357-370, hier S. 370.
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Gleichwohl existieren bisher lediglich Fragmente einer Geschichte der Intellektuellen und ihrer Debatten in der Bundesrepublik.7 Die Gründe für das Fehlen einer Gesamtdarstellung haben mit den Problemen der Einbettung des Themas in die gesamte historische Entwicklung und mit den Schwierigkeiten zu tun, die Intellektuellen als heterogene Gruppe von Akteuren zu definieren. Den roten Faden dieses Buches, so viel vorweg, wird die unauflösliche Verbindung von Medien und Öffentlichkeit auf der einen und der in ihnen und durch sie agierenden Intellektuellen auf der anderen Seite bilden. Dies stellt für mich die einzige erfolgversprechende Möglichkeit dar, das Thema gesellschaftsgeschichtlich zu erfassen, denn die rasche Rekonstruktion und Ausweitung des Ensembles von Printmedien, Rundfunk und Fernsehen war die Basis für den wachsenden Einfluss intellektueller Meinungsbildner. Und die diese Prozesse begleitende lebensweltliche Modernisierung drückte sich wiederum in den Produktionsbedingungen der Publizisten aus, hatten sie sich doch dem rascheren Diskurstempo anzupassen. Wer wöchentlich mehrere Beiträge für den modernen Schnellleser8 und Rundfunkhörer publizieren wollte, benutzte in den 1950er Jahren ein Diktiergerät im Taschenformat.9 Die Klagen über Terminstress und Überarbeitung begleiteten den intellektu7 Der neueste Stand der Forschung bei Alexander Gallus, Vier Möglichkeiten, die Intellectual History der Bundesrepublik zu ergründen. Überlegungen zur Erschließung eines Forschungsfelds, in: Frank Bajohr/Anselm Doering-Manteuffel/Claudia Kemper/Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 287-300; vgl. die Literaturberichte von Birgit Pape, Intellektuelle in der Bundesrepublik 1945-1967, in: Jutta Schlich (Hrsg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat (zugleich Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, SH 11), Tübingen 2000, S. 295-324; Roman Luckscheiter, Intellektuelle in der Bundesrepublik 1968-1989, in: ebd., S. 325-342; Daniel Morat, Intellektuelle in Deutschland. Neue Literatur zur Intellectual History des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 591-607; Dirk van Laak, Zur Soziologie der geistigen Umorientierung. Neuere Literatur zur intellektuellen Verarbeitung zeitgeschichtlicher Zäsuren, in: Neue Politische Literatur, Jg. 47, 2002, S. 422-440; Alexander Gallus, »Intellectual History« mit Intellektuellen und ohne sie. Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: Historische Zeitschrift, Bd. 288, 2009, S. 139-151; A. Dirk Moses, Forum: Intellectual History in and of the Federal Republic of Germany, in: Modern Intellectual History, Jg. 9, 2012, S. 625-639; europäisch vergleichend Hans Manfred Bock, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 51, 2011, S. 591-643; Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945-1972, Paderborn u. a. 2012, S. 8 ff. 8 Vgl. Bernhard Fischer/Thomas Dietzel, Deutsche Literarische Zeitschriften 1945-1970. Ein Repertorium, Bd. 1, München 1992, S. 14 f.; allgemein Hans Altenhein, Buchproduktion und Leseinteressen in Westdeutschland seit 1945, in: Walter Klingler/Gunnar Roters/Maria Gerhards (Hrsg.), Medienrezeption seit 1945. Forschungsbilanz und Forschungsperspektiven, Baden-Baden 1999, S. 51-60. 9 Angebot eines Diktiergeräts Minifon (Größe 17 mal 11 mal 3,5 cm, Gewicht 968 g für Batterie- und Netzbetrieb, Aufnahmedauer 2:30 Stunden); Goethe-Radio (Phono-Fachgeschäft Frankfurt a. M.) an Walter Dirks, o. D. (1952), in: AsD, Nl. Walter Dirks, 73.
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EINLEITUNG
ellen Diskurs im Wiederaufbau. Der Übergang zur elektrischen Schreibmaschine in den 1960er Jahren beschleunigte und erleichterte dann den Herstellungsprozess von Manuskripten enorm. Enzensberger, restlos begeistert, beschwor Alfred Andersch: »lieber fred, bitte geh sofort in die stadt und kauf dir eine elektrische schreibmaschine. wenn du auch nur einmal trouble mit deinem rücken gehabt hast, so bist du geradezu verpflichtet, keine risiken mehr einzugehen. die manuelle schreibmaschine ist ein ganz reales gesundheitliches risiko, in erster linie für die sehnenscheiden und für die bandscheiben. du hast keinerlei entschuldigung für deine alte olivetti: du hast geld genug, dir unverzüglich eine ibm 72 anzuschaffen. Bitte tu’s!«10 Die elektrische Schreibmaschine war das technische Instrument des Strukturwandels intellektueller Produktion in den 1960er Jahren, bald darauf flankiert von der »Explosion in der Produktion von Fotokopiergeräten im Westen«,11 die den Austausch von Texten erleichterte. Die Einführung des Personal Computer in den Schreibstuben der Intellektuellen Anfang der 1980er Jahre leitete dann eine qualitativ ganz neue Produktionsepoche ihrer Arbeit ein. Solche alltagsgeschichtlichen Dimensionen der Beschleunigung und praktische Fragen – Termine, Honorare – scheinen in der Kommunikation zwischen Redakteuren und freien Schriftstellern immer wieder auf.12 Sie verweisen Definitionen von Intellektuellen als »someone seriously and completely interested in the things of the mind«13 schlicht in den Orkus der Lächerlichkeit. Spürbarer als die Intellectual History hat die Beschäftigung mit den Medien in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erfahren.14 Allerdings ist es charak10 Hans Magnus Enzensberger an Alfred Andersch, 19.6.1966, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), A: Andersch. 11 Eric Hobsbawm, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 2002, S. 351; eben diese Entwicklung wurde in den osteuropäischen Ländern nicht mitvollzogen. 12 Besonders amüsante Beispiele in Marcel Reich-Ranicki – Peter Rühmkorf. Der Briefwechsel, Göttingen 2015. 13 Richard A. Posner, Public Intellectuals. A Study of Decline, Cambridge (Mass.) 2001, S. 41. 14 Vgl. Jürgen Wilke (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999; Daniela Münkel/Lu Seegers (Hrsg.), Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland, Europa, USA, Frankfurt a. M. 2008; Ute Daniel/Axel Schildt (Hrsg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln 2010; Forschungsberichte: Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 25, 1999, S. 5-32; Axel Schildt, Das Jahrhundert der Massenmedien. Ansichten zu einer künftigen Geschichte der Öffentlichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 27, 2001, S. 177-206; Frank Bösch, Mediengeschichte im 20. Jahrhundert. Neue Forschungen und Perspektiven, in: Neue Politische Literatur, Jg. 51, 2007, S. 409-423; ders., Mediengeschichte der Moderne. Zugänge, Befunde und deutsche Perspektiven, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, Jg. 51, 2011, S. 21-40; Annette Vowinckel, Mediengeschichte. Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010; Frank Bösch, Journalisten als Historiker: Die Medialisierung der Zeitgeschichte nach 1945, in: Vadim
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teristisch, dass in den zeitgeschichtlichen Arbeiten zu den Intellektuellen kaum je systematisch auf die Praxis in und das Verhältnis zu den Medien eingegangen wird, während wiederum die Intellektuellen und ihre Medien in der zeithistorischen Medienforschung weitgehend ausgeklammert werden, zum Beispiel das Feuilleton der Zeitungen nur selten Beachtung findet.15
1. Mediengeschichte – Intellektuellengeschichte Der Verfasser war zunächst der Ansicht, mit einer Geschichte der »Medien-Intellektuellen« zwar einen wichtigen, aber doch nur einen Teil der Intellektuellen erfasst zu haben. Entgegen der Selbststilisierung so mancher »Solitäre«16 erwies sich allerdings die Medienzentriertheit als zentrales Charakteristikum aller Intellektuellen, auch der scheinbar weltabgewandten »tiefen« Denker. Wenn etwa José Ortega y Gasset, der meistgelesene zeitgenössische Philosoph in der frühen Bundesrepublik, ausführte, man sei »ein Intellektueller für sich, trotz seiner selbst, ja gegen sich selbst« und zwar »unwiderruflich, durch unergründlichen und unerbittlichen Beschluß Gottes«,17 so hat man nur eine der unzähligen Aussagen vor sich, mit denen eine Prägung der eigenen Praxis durch gesellschaftliche Faktoren geleugnet wird. Es gibt aber keine intellektuellen »Solitäre«, keine Unterscheidung eines »öffentlichen« und eines »Privatintellektuellen«, sondern lediglich unterschiedliche Selbststilisie-
Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.), Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach a. Ts. 2009, S. 47-62; vgl. für die neueste Forschung vor allem Beiträge und Rezensionen in: Rundfunk und Geschichte, Jg. 1 ff., 1975 ff. und im Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Bd. 1, 2007 ff. 15 Zum Feuilleton instruktiv bereits Hans Jessen/Ernst Meunier, Das deutsche Feuilleton, Berlin 1931; zum – zeithistorisch – wenig entwickelten Stand der Forschung vgl. Kai Kaufmann, Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin 2000 (bes. zum 19. und frühen 20. Jahrhundert); ders./Erhard Schütz (Hrsg.), Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin 2000; Thomas Steinfeld (Hrsg.), Was vom Tage bleibt. Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland, Frankfurt a. M. 2004; Christina Prüver, Willy Haas und das Feuilleton der Tageszeitung »Die Welt«, Würzburg 2007, S. 17 ff.; Bernd SchmidRuhe, Fakten und Fiktionen. Untersuchungen zur Wissenschaftsberichterstattung im deutschsprachigen Feuilleton der Tagespresse des 20. Jahrhunderts, Würzburg 2007, S. 20 ff., 31, 59 ff., 98, 104, 108; Barbara Wildenhahn, Feuilleton zwischen den Kriegen. Die Form der Kritik und ihre Theorie, Paderborn 2008. 16 Erhard Schütz/Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservatismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009; dort das häufig herangezogene rechtsintellektuelle Quartett der »Solitäre« Carl Schmitt, Gottfried Benn, Martin Heidegger und Ernst Jünger, abgegrenzt von »Netzwerkern« in deren Interesse, wie Armin Mohler, Gerhard Nebel, Margret Boveri und Egon Vietta. 17 José Ortega y Gasset, Der Intellektuelle und der andere, in: Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.), Die Intellektuellen. Geist und Macht, Pfullingen 1982, S. 15-26, Zitate: S. 15, 17.
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rungen und Rollenzuschreibungen für das Wirken von Intellektuellen in und durch die Medien.18 Um die Praxis dort zu erfassen, dürfen aber auch die Medien nicht als selbstreferenzielles »System«, sondern nur in ihrer Verbindung mit der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet werden. Die Geschichte der »alten« Bundesrepublik ist in ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen, naturgemäß dichter für ihre Frühzeit, mittlerweile gut erforscht, und auch die geistigen Grundlinien des westdeutschen Staates sind in Umrissen bekannt. Intellektuelle Diskussionen von einigem Niveau prägten die Bundesrepublik von Anfang an.19 Allerdings wird dies häufig mit einer »pluralistischen Verfasstheit politischer Diskurse«20 bereits für die Gründerjahre der Bundesrepublik verwechselt. Zu betonen ist deshalb, dass die Grenzen dieses »Pluralismus« ganz anders verliefen als eine Dekade später; selbst der Begriff des »Pluralismus« war außerhalb politologischer Theoriebildung um 1950 nicht geläufig. Dass die politische Kultur der Bundesrepublik bereits zwei Jahrzehnte nach Kriegsende viel liberaler erschien als bei ihrer Gründung, ist als »Lernprozess« im weitesten Sinne zu bezeichnen.21 Die Intellektuellen und ihre Debatten, die diese Entwicklung beförderten, haben eine Geschichte, die sich im Rückblick geradezu rasant und ebenso dynamisch ausnimmt wie die Modernisierung von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik selbst.22 Mehr noch: Erst die materielle Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft, die nicht allein die Insignien des Wohlstandskonsums, sondern auch die Rekonstruktion von kultureller Bürgerlichkeit23 und schließlich darüber hinaus die Ausweitung des Bildungswesens und gehobener Bildung einschloss, erklärt den immer 18 Vgl. Dahrendorf, Versuchungen, S. 21; Henning Hillmann, Zwischen Engagement und Autonomie. Elemente für eine Soziologie der Intellektuellen, in: Berliner Journal für Soziologie, Nr. 7, 1997, S. 71-86. 19 Einen ersten Eindruck vermittelt die Dokumentation mit meist kürzeren Textauszügen von Eberhard Rathgeb (Hrsg.), Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945-2005, München 2005. 20 Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 9. 21 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2003, S. 7-49. 22 Vgl. von Christina von Hodenberg, Intellektuelle Aufbrüche und Generationen im Konflikt. Neue Literatur zum kulturellen Wandel der sechziger Jahre in Westdeutschland, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 677-692. 23 Vgl. Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005; Gunilla Budde/Eckart Conze/Cornelia Rauh (Hrsg.), Bürgertum nach dem Zweiten Weltkrieg. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010; zum gesamten Kontext Axel Schildt/ Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik. 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; zur Einordnung in längere historische Linien einführend Frank-Lothar Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert, München 2003; Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005.
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differenzierteren Resonanzboden für intellektuelle Diskurse in der alten Bundesrepublik.24 In diesem Zeitraum verwandelte sich der in der ersten Jahrhunderthälfte vornehmlich zur Stigmatisierung gebrauchte Begriff des »Intellektuellen«25 allmählich in eine positiv oder zumindest neutral gemeinte Bezeichnung. Der Verlauf zeitgenössischer intellektueller Diskurse wurde in hohem Maße politisch direkt und mittelbar durch die Nachkriegsordnung, den Kalten Krieg,26 und damit besonders durch die westliche Führungsmacht und das Konzept des »Konsensliberalismus« geprägt – sogar noch im kritischen Bezug darauf.27 Dies drückte sich in der realpolitisch zwar bald marginalisierten,28 aber in den Feuilletons der 1950er Jahre noch sehr häufig anzutreffenden Figur des Dritten aus, vor allem der geistigen, abendländischen Äquidistanz zwischen West und Ost, der gleichzeitigen Ablehnung amerikanischer Seelenlosigkeit und bolschewistischer Unterdrückung des Geistes. Das in der ersten Hälfte der 1960er Jahre um sich greifende Klima der Entspannung zwischen den Blöcken erklärt, warum viele Intellektuelle nach innerer Stabilisierung des Staates und an der Schwelle zu einer ungekannten Konsumgesellschaft das Einfordern von unbedingter Loyalität und die aggressiven antikommunistischen Sprachregelungen der Zeit um 1950 als überholt oder gar anachronistisch empfanden. Hierin liegt eine Spezifik der westdeutschen Intellektuellengeschichte, etwa im Vergleich zu Frankreich, die bis in die Gegenwart nachwirkt. Während sich der »antitotalitäre« Konsens in der Bundesrepublik zum Dualismus von Antifaschismus und Antikommunismus wandelte, führte der Weg vieler französischer Intellektueller seit den 1950er Jahren von der intellektuellen Faszination des Kommunismus zu einer starken »antitotalitären« Strömung.29 24 Vgl. Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005. 25 Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978. 26 Vgl. Bernd Greiner/Tim B. Müller/Claudia Weber (Hrsg.), Macht und Geist im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 5, Hamburg 2011; fokussiert auf Episoden der Wissenschaftsgeschichte und Politikberatung, nur am Rande kommen universale Intellektuelle und deren Ideologie vor. 27 Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; in engerem Sinne mit der These einer »langen Stunde Null« mit herausragendem Einfluss der USA als Besatzungsmacht, etwa für die Sozialwissenschaften, vgl. Hans Braun/Uta Gerhardt/Everhard Holtmann (Hrsg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007; für die Geschichtswissenschaften Ulrich Pfeil (Hrsg.), Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die »Ökumene der Historiker«. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München 2008. 28 Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945-1990, Düsseldorf 2001. 29 Ulrike Ackermann, Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000; zur Zeitgeschichte der französischen Intellektuellen vgl. Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003; für Großbritannien Stefan Collini, Absent Minds. Intellectuals in Britain, Oxford 2006.
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Zum Verständnis der Geschichte der Intellektuellen und des geistigen Lebens in der Bundesrepublik ist ihre gebrochene Kontinuität, also das Verhältnis zur ersten Jahrhunderthälfte, der Zwischenkriegszeit und der Zeit des NS-Regimes, einzubeziehen. »Rückblickend in die Zukunft«30 der Bonner Republik aufzubrechen war für die Intellektuellen schon biographisch konstitutiv. Die kulturpessimistische Gestimmtheit des ersten Nachkriegsjahrzehnts lässt sich als Requiem jener Intellektuellen lesen, die den Ausgang des Zweiten Weltkrieges vor allem als Zusammenbruch ihrer Ideale erlebten. Die Wendung vom radikalen politischen Aktivismus zum elegischen Kulturpessimismus, der dann von moderneren konservativen und liberalen Positionen und Haltungen abgelöst wurde, ist als typische Entwicklungsfigur von deutschen – und nicht nur deutschen – Intellektuellen über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hinweg zu verstehen.31 Allerdings ist dies nicht gleichzusetzen mit dem ominösen »Ende aller Ideologien«,32 von dem um 1960, in der Hochzeit der »Postmoderne« um 1980 und nach dem Ende der Blockkonfrontation des Kalten Krieges um 1990 immer wieder die Rede war. Deren Formen wandelten sich zwar grundlegend, aber sie verschwanden nicht.33 Die großen Ordnungsentwürfe der Moderne,34 deren Beginn in lebensweltlicher Perspektive auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zu datieren ist, überwölbten die dramatischen politischen Zäsuren, woraus sich in einer weiten Perspektive auch eine »Konvergenz von geschichts- und literaturwissenschaftlicher 30 Alexander Gallus/Axel Schildt (Hrsg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Hamburg 2011. 31 Vgl. Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 7. 32 S. Kapitel II.4.1. 33 Kurt Sontheimer, Von Deutschlands Republik. Politische Essays, Stuttgart 1991, behauptete z. B. ein Verschwinden der rechten Intellektuellen nach 1945 und verfehlte damit die Geschichte der Bundesrepublik gründlich; vgl. als Skizze zur Entwicklung des Konservatismus Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 211-252; für die Geisteswissenschaften konstatiert Eckel eine »Entradikalisierung und langsame Umorientierung«; Jan Eckel, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 89 ff.; für Kontinuitäten des rechten Ordnungsdenkens vor dem Hintergrund einer Verwissenschaftlichung des Sozialen vgl. Frieder Günter, Ordnen, gestalten, bewahren. Radikales Ordnungsdenken von deutschen Rechtsintellektuellen der Rechtswissenschaft 1920 bis 1960, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 59, 2011, S. 353-384; Kontinuitäten werden zudem durch die Charakterisierung der Moderne als permanenter Krisenwahrnehmung gestiftet; Thomas Mergel (Hrsg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a. M./New York 2012. 34 Zu betonen ist, dass auch die charakteristischen Praktiken des Social Engineering keineswegs als ideologiefern misszuverstehen sind; Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Lutz Raphael (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2012.
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Periodisierung«35 in den Themen und Fragestellungen ergibt. Folgt man der historiographischen Einteilung in drei »Zeitschichten«, dann ergibt sich nach einer Erschöpfung des liberalen Paradigmas um 1930 eine bis zur Mitte der 1970er Jahre reichende Vorherrschaft eines Denkens, in dem Ordnung durch geplanten Fortschritt hergestellt werden sollte, während seither eine Zurückdrängung und Marginalisierung von Strukturalismus und Modernisierungstheorie stattgefunden habe, wobei nicht mehr in Strukturen, sondern in Netzwerken gedacht werde.36 Auf diese Weise lässt sich die Geschichte der Bonner Republik in ihrer ersten Hälfte als Auslaufen einer längeren Entwicklungslinie interpretieren. Die Medialisierung37 war ein wirkungsmächtiger Strang innerhalb dieser gesellschaftlichen Entwicklung, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal eine qualitative Verstärkung erhielt. Er bestimmte nicht nur das Agieren im politischen Raum bis hin zu den Kirchen,38 sondern die gesamte Lebenswelt. Medialisierung meint mehr als das Medienensemble im engeren Sinne, mehr als den Verbund von Versammlungsöffentlichkeit, Printmedien, Rundfunk und Fernsehen.39 Medialisierung verweist auf ein spezifisches menschliches Verhalten, das sich an den Medien und deren Angeboten ausrichtet, von der Strukturierung und Zurichtung des Zeitbudgets bis zur Vorbildfunktion für den Stil des eigenen Le-
35 Wolfgang Hardtwig, Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 217; vgl. für unseren Untersuchungszeitraum Ludwig Fischer (Hrsg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986; Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 22006. 36 Anselm Doering-Manteuffel, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Etzemüller, Ordnung, S. 41-64; entscheidend ist für alle diese Prozesse die Transformation zu einer Öffentlichkeit, in der absolute Wahrheitsansprüche erodieren, (politische) Ideologien sich in einer Vielzahl von Diskursen zu behaupten haben; dies wurde bereits im letzten Jahrzehnt der Bonner Republik diskutiert; vgl. Friedrich Tenbruck, Christentum, Wissenschaft und Kommunismus – die drei großen Wahrheitsansprüche, in: Hermann Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundertwende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 243-259; zum »Fortschrittsglauben« als überwölbender Charakterisierung für Europa im 20. Jahrhundert etwas einlinig auch Bedrich Loewenstein, Der Fortschrittsglaube. Geschichte einer europäischen Idee, Göttingen 2009. 37 In der Kommunikationswissenschaft ist dagegen das synonym gemeinte, aber falsch gebrauchte »Mediatisierung« verbreitet. 38 Vgl. Bernd Weisbrod (Hrsg.), Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003; Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hrsg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004; Frank Bösch/Norbert Frei (Hrsg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006; Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hrsg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009; Nicolai Hannig, Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980, Göttingen 2010. 39 Vgl. als Überblick Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln u. a. 1999.
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bens.40 Darauf lassen sich etwa Konzepte der »Aufmerksamkeitsökonomie« gründen, die jene Zeit, die das Publikum mit medialen, warenförmigen Angeboten verbringt, als Äquivalent für Geldwert begreift.41 Auch wenn man systemtheoretischen Konzepten mit einiger Skepsis gegenübersteht,42 ist die Formel der »Selbsterhaltung durch Selbsterzeugung«, der Organisation des permanenten Sendens für die Zeitgeschichte der Medien immerhin sensibilisierend.43 Im engeren Sinne wird in der Publizistikwissenschaft von »Leitmedien«44 gesprochen, jenen Medien nicht unbedingt mit der größten Reichweite, die aber die öffentliche Meinung und vor allem die politisch-kulturelle Sphäre am intensivsten zu beeinflussen vermögen. Der britische Historiker Stefan Collini hat darauf hingewiesen, dass die »geistige Welt«, soziologisch ein »Aufmerksamkeitsraum, ein Raum intellektuellen Handelns« sei, der nach dem »Gesetz der kleinen Zahl« funktioniere, da der »Aufmerksamkeitsraum (…) nur eine kleine Zahl von Positionen gleichzeitig fassen kann«; in der Regel seien nicht mehr als drei bis fünf differente Positionen anzutreffen.45 Die Intellektuellen, deren Zahl sich mit der Ausweitung des Medienverbunds vervielfachte, hatten (und haben) den aus der Medialisierung abzuleitenden Imperativen der Öffentlichkeit bzw. spezifischer »Teilöffentlichkeiten«46 Rechnung zu 40 Vgl. als repräsentativen medienwissenschaftlichen Sammelband zur Rezeptionsforschung Klingler/Roters/Gerhards, Medienrezeption; vgl. zur verhaltensleitenden Wirkung auch Münkel/Seegers, Medien. 41 Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, Wien 1998; ders., Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, Wien 2005; eingewandt wurde, dass es sich bei der Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht um ein neues Phänomen des Informationszeitalters, sondern um ein viel älteres handle; Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation, Bd. 7, München 2001; vgl. zu diesem Konzept Axel Schildt, Die Ökonomie der Aufmerksamkeit als heuristische Kategorie einer kulturhistorisch orientierten Mediengeschichte, in: Christiane Reinecke/Malte Zierenberg (Hrsg.), Vermessungen der Mediengesellschaft im 20. Jahrhundert, Leipzig 2011 (= Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, Jg. 21, 2011, H. 4), S. 81-92. 42 Dies vor allem wegen des inhärenten autopoetischen Hermetismus, der für die Betrachtung der Medien ein vor einer abstrakten »Umwelt« weitgehend eigengesetzliches System suggeriert. 43 Niklas Luhmann, Die Beobachtung der Beobachter im politischen System. Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Öffentliche Meinung. Theorie, Methoden, Befunde. Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, S. 7786; vgl. Christoph Reinfandt, Systemtheorie und Literatur, Teil IV, Systemtheoretische Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, Jg. 26, 2001, S. 88-118; Matthias Eckoldt, Medien der Macht – Macht der Medien, Berlin 2007. 44 Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla (Hrsg.), Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, Bielefeld 2009. 45 Vgl. Collini, Absent Minds, S. 259, 261. 46 Karl Christian Führer/Knut Hickethier/Axel Schildt, Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in:
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tragen. Eine Bestimmung der modernen Intellektuellen, die den Einfluss des Journalismus und dessen Aufmerksamkeitsregime auf intellektuelle Reputationsstrategien47 nicht berücksichtigt bzw. die sich nicht auf ihr Agieren durch und in Medien beziehen lässt, bleibt grundsätzlich defizitär. Mannigfaltige Beispiele für solche Strategien bietet die Mischung von Konkurrenz und Kooperation im System der Auszeichnung mit Preisen. Für letztere waren die USA die modernen Vorreiter. Die Paraderolle behauptet der seit 1917 verliehene Pulitzer-Preis, der nach bescheidenen Anfängen mittlerweile 21 Sparten für die Preisträger berücksichtigt, von der Musik und Literatur bis zur Geschichtswissenschaft.48 Vor diesem allgemeinen Hintergrund sollen einige mehr oder weniger bekannte und anerkannte Konzepte der Geschichte der Intellektuellen und ihrer Definition auf ihre Tauglichkeit für eine Beschreibung des Verhältnisses von Intellektuellen und Medien geprüft werden, allerdings nicht in der Abfolge vom überhaupt nicht Brauchbaren zum Königsweg, sondern als Beschreibung von Anregungen und zugleich als Abgrenzung von anderen Möglichkeiten, die Geschichte von Intellektuellen zu schreiben. Zu beginnen ist mit der modernen Ideengeschichte, die sich nahezu parallel zur deutschen »Begriffsgeschichte« seit den 1960er Jahren als »Cambridge School« der politischen Ideengeschichte dort und in Princeton etablierte. Sie erweiterte die Höhenkammforschung anhand kanonisierter Schriften großer Geister, die im Übrigen immer noch ihr Publikum findet,49 durch die Beachtung der Texte auch weniger bedeutender Ideengeber, durch die Aufnahme von Anregungen aus der Linguistik und das Postulat, dabei die historischen Kontexte stärker zu beachten.50 Dies
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Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 1-38, hier S. 2-18; zu philosophiehistorischen Linien vgl. Volker Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012. Vgl. Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht. Hrsg. von Irene Dölling, Hamburg 1991, S. 57; zur Typologie von publizistischen Reputationsstrategien vgl. Adrian Hummel, Zur Analyse der »journalistischen Persönlichkeit«. Eine strukturalistische Herangehensweise, in: Wolfgang Duchkowitsch u. a. (Hrsg.), Journalistische Persönlichkeit. Fall und Aufstieg eines Phänomens, Köln 2009, S. 145-161, hier S. 158, mit der begrifflichen Unterscheidung von Eminenz, Exzellenz, Prominenz und Penetranz des Starruhms. Vgl. Heinz D. Fischer, The Pulitzer Prize Century. All Winners and their Merits 1917-2016, Wien/Zürich 2017. Vgl. etwa ein über tausendseitiges, bizarres Kompendium des britischen Historikers Peter Watson, Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI., München 2010; nicht zu kritisieren, aber zeithistorisch meist unergiebig sind Porträts großer Intellektueller des 20. Jahrhunderts, bei denen es vor allem um die Hervorhebung heutiger Bedeutung aus geistes- oder sozialwissenschaftlicher Sicht geht; vgl. etwa Henning Ritter, Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts, München 2008; Thomas Jung/Stefan Müller-Doohm (Hrsg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt a. M. 2009; Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010. Marcus Llanque, Politische Ideengeschichte – ein Gewebe politischer Diskurse, München 2008; klassische Texte in Martin Mulsow/Andreas Mahler (Hrsg.), Die Cambridge School
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gilt heute bereits als Mindeststandard – eine reine »Denkgeschichte von einem geschriebenen Buch zum anderen«51 verbietet sich also, nicht aber Geschichten über Bücher, die deren Hintergründe von Produktion und Rezeption aufhellen und damit Fehlgewichtungen des zeitgenössischen Einflusses von Intellektuellen vermeiden helfen. Denn gewöhnlich haben immer nur wenige Bücher, die gedankenreich variiert und ausgeschlachtet wurden, den zeitgeistigen Diskurs bestimmt. Zudem erweisen sich Überblicke zur Entwicklung von theoretischen Gedankengebäuden und ideologischen Strömungen an der Schnittstelle von Geschichts- und Politikwissenschaft nach wie vor als nützliche Orientierung.52 Der entscheidende Schritt von der Ideengeschichte und Diskursanalyse zur Intellectual History53 besteht in der Konzentration auf die Akteure, indem Ideen »als intellektuelles Resultat sozial eingebundener Tätigkeit von Literaten, Gelehrten und Wissenschaftlern einerseits, als Ausdruck von sozialen Lagen, politischen Konflikten und ökonomischen Interessen von Gruppen bzw. Klassen andererseits«54 verstanden werden. Impliziert wird damit aber auch, dass die Resultate der Arbeit von Intellektuellen, ihre Texte, nicht in schlichter Umkehrung klassischer Ideengeschichte hinter den historischen Umständen ihrer Hervorbringung einfach verschwinden dürfen. Zu untersuchen sind stets das Verhältnis der Akteure zu ihren eigenen – und zu anderen – Texten und das Produktionsumfeld im weitesten Sinne. Erst die Frage nach der »Vergemeinschaftung von Ideen« eröffnet den Weg zur »Analyse von Intellektuellengruppen« und erreicht ein »Mittelfeld«, in dem »Sozialität und Geistigkeit einen untersuchungsfähigen Zusammenhang bilden«.55
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der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a. M. 2010; Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Ideengeschichte, Stuttgart 2010; Helmut Reinalter, Ideengeschichte, in: Lexikon der Geisteswissenschaften, S. 951-955; einen Artikel »Intellektuelle« gibt es in diesem Band nicht. Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Eingel. und hrsg. von Kurt H. Wolff, Neuwied 21970, S. 409, zit. nach Alexander Gallus, Intellektuelle im Zeitalter der Extreme, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 20, 2008, S. 274-287, Zitat: S. 276. Vgl. etwa Walter Euchner/Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – katholische Soziallehre – protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 2000; Jan-Werner Müller (Hrsg.), German Ideologies since 1945. Studies in the Political Thought and Culture of the Bonn Republic, New York 2003; Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006; Michael Th. Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1945. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen 2007. Zur britischen Tradition, die in diesen Begriff auch die Ideengeschichte einschließt, vgl. Riccardo Bavaj, Intellectual History. Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.9.2010. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 157; vgl. ders. (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006. Wolfgang Eßbach, Intellektuellengruppen in deren Kultur, in: Richard Faber/Christine Holste (Hrsg.), Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 23-33, Zitat: S. 23.
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Erbitterte Debatten wurden periodisch um den Begriff des »Intellektuellen« und dessen semantisches Umfeld geführt. Aus der Analyse solcher Kämpfe lassen sich dahinter stehende grundsätzliche Positionen von Intellektuellen partiell entschlüsseln.56 Allerdings erscheinen sie ohne die systematische Einbeziehung der biographischen Hintergründe der Akteure, ihrer Interessen und ihrer Positionierung in den Medien lediglich als Textproduzenten, die sich vorzugsweise im Kreis drehen. Die Auseinandersetzung um die Definition des Intellektuellen und der permanente »Kampf um die Frage, wer ein ›wahrer‹ Intellektueller ist«, begleiten die Geschichte der Intellektuellen auf dem Markt »ihrer Distinktions- und Konkurrenzkämpfe«,57 auf dem nicht unbedingt derjenige Sieger bleibt, dem alle zustimmen, sondern der, der es versteht, im Mittelpunkt öffentlicher Diskussion zu stehen – nicht zuletzt mit Strategien einer Dramatisierung des Normalen, denn für Intellektuelle sind »normale Zeiten Zeiten einer gewissen Verlegenheit«;58 negativ ausgedrückt: »Wer nicht umstritten ist, gehört nicht dazu.«59 Eine lebendige Intellektuellengeschichte wird deshalb, im Unterschied zu einer reinen Ideengeschichte, auch die persönlichen Eigenheiten von Intellektuellen zu beachten haben, ihre performativen Fähigkeiten, Eitelkeiten und Schrullen, zudem schlichte Missverständnisse und andere kontingente Faktoren. Über der Begleitmusik dürfen aber keinesfalls die Themen der Auseinandersetzung vergessen werden. Ansonsten bliebe die Dynamik intellektueller Debatten, die sich primär durch die gesellschaftliche Entwicklung selbst entfaltet, unverstanden. Die Intellektuellen sind nicht nur reflektierende und kritisierende Begleiter, sondern zugleich Beförderer der gesellschaftlichen Entwicklung, die untereinander um Deutungshegemonie in diesem Horizont kämpfen.60 Die Konzentration auf 56 Allerdings berücksichtigt Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen (1892-2001). Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010, in seinem eindrucksvollen Werk nur Teile des semantischen Umfeldes; vgl. kritisch Georg Vobruba, Das Problem der Intellektuellen, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 21, 2011, S. 321-330. 57 Ingrid Gilcher-Holtey, Prolog, in: dies. (Hrsg.), Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 9-22, hier S. 11 f. 58 Dahrendorf, Versuchungen, S. 24. 59 Micha Brumlik, Der große Alexander. In diesen Tagen wäre Alexander Mitscherlich 100 Jahre alt geworden, in: Die Zeit, Nr. 39, 18.9.2008; vgl. Wolfram Burkhardt/Johan F. Hartle, Risse im Raum des Politischen. Über den Typus des streitbaren Intellektuellen, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 40, 2001, H. 4, S. 5-17; hier wäre allerdings das Verhältnis von Intellektuellen und (Medien-)Prominenz zu diskutieren. 60 Intellektuelle Auseinandersetzungen werden mitunter analog militärischer Strategie und Taktik beschrieben; vgl. Herfried Münkler, Der Wettbewerb der Sinnproduzenten. Vom Kampf um die politisch-kulturelle Hegemonie, in: Merkur, Jg. 60, 2006, S. 15-22; ders., Niederwerfen oder Ermatten? Vom Kampf der Intellektuellen um die Hegemonie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 3, 2009, H. 4, S. 5-46; diese militärische Metaphorik auch bei Dahrendorf, Versuchungen, S. 22; zum Strategiebegriff mit Blick auf das Feuilleton Gernot Stegert, Feuilleton für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse, Tübingen 1998, S. 37-56.
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die Intellektuellen und ihre mediale Praxis bedeutet keine Ignoranz gegenüber den Texten als ihren Produkten, sondern ermöglicht in einem Wechsel von distant und close reading erst deren besseres Verständnis. Der moderne Begriff des »Intellektuellen«, entlehnt aus dem Französischen, fand erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert in der Öffentlichkeit Verwendung.61 Er kennzeichnet einen anderen Typus als den für die Frühe Neuzeit identifizierten »Intellektuellen«, der mit dem »Gebildeten« und »Gelehrten« weitgehend gleichzusetzen ist.62 Abzuheben ist der Begriff des »Intellektuellen« des 20. Jahrhunderts aber nicht nur von prototypischen Phänomenen in früheren, weniger differenzierten Gesellschaften, sondern auch von einer marxistischen Begriffstradition, in der nicht von »Intellektuellen«, sondern von »Kulturschaffenden« und der Schicht der »Intelligenz« gesprochen wird, in der soziale Lage und staatlich zugedachte Funktion verschwimmen.63 Nicht die geistig Tätigen mit höherer Bildung bilden als statische Gesamtheit die Intellektuellen, sie sind lediglich der Humus, auf dem jene für ihre Sache in der Öffentlichkeit streitenden Akteure mit jeweiligen, historisch spezifischen Anliegen gedeihen. Das öffentliche Engagement als Charakteristikum der Intellektuellen ist nicht zuletzt von diesen selbst immer wieder hervorgehoben worden.64 Auch wenn sich die Intellektuellen immer neu an sich wandelnde politische, gesellschaftliche und mediale Rahmenbedingungen anzupassen hatten und insofern nicht als feste essentialistische Größe zu definieren sind – Michel Foucault formulierte einmal süffisant, er habe »noch nie welche getroffen«,65 aber viele, die über 61 Vgl. Andreas Franzmann, Der Intellektuelle als Protagonist der Öffentlichkeit. Krise und Räsonnement in der Affäre Dreyfus, Frankfurt a. M. 2004; Gangolf Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006. 62 Luise Schorn-Schütte, »Gelehrte« oder »Intellektuelle« im Europa des 16./17. Jahrhunderts? Untersuchungen zur Geschichte des frühneuzeitlichen Bürgertums, in: dies. (Hrsg.), Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 7-14; Isabella von Treskow, Geschichte der Intellektuellen in der Frühen Neuzeit. Standpunkte und Perspektiven der Forschung, in: ebd., S. 15-32. 63 Vgl. zu den Widersprüchlichkeiten und Aporien der Begrifflichkeit Siegfried Prokop, Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit. Die soziale Schicht der Intelligenz der SBZ/ DDR, Teil 1: von 1945-1955, Berlin 2010, S. 14-35; Wolfram Burkhardt, Intellektuelle und Politik. Jürgen Habermas – Martin Walser – Daniel Cohn-Bendit, Marburg 2002, S. 16 ff.; in der instruktiven Einleitung dieser Dissertation werden auch marxistische Traditionslinien gezeigt, die bewusst den Begriff des »Intellektuellen« bevorzugen; vgl. dazu Hans Speier, Die Intellektuellen in der Perspektive des Marxismus und der Wissenssoziologie, in: ders., Die Intellektuellen und die moderne Gesellschaft. Hrsg. und eingel. von Robert Jackall, Graz/Wien 2007, S. 37-139; Alex Demirovic/Peter Jehle, Intellektuelle, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 6/2, Hamburg 2004, S. 1267-1286. 64 Vgl. den Überblick zu soziologischen Forschungen zum intellektuellen Engagement von Hubert Wissing, Intellektuelle Grenzgänge. Pierre Bourdieu und Ulrich Beck zwischen Wissenschaft und Politik, Wiesbaden 2006, S. 15 ff. 65 Michel Foucault, Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien. Hrsg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 14.
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sie redeten –, lassen sich einige gewissermaßen idealtypische epochale Züge festhalten, die über die politischen Brüche des 20. Jahrhunderts hinweg intellektuelle Biographien kennzeichneten und auch im Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik auffallen. Sie charakterisieren nicht »den« Intellektuellen, sondern zeigen lediglich einige Statusbedingungen und Verhaltensformen, die für die Praxis von Intellektuellen auch nach dem Zweiten Weltkrieg typisch waren: Dazu zählen – in der Regel – das Fehlen direkter politischer Verantwortung und das Interesse für ein weites Spektrum von Themen,66 zu denen man sich in der Öffentlichkeit äußerte, ohne professionelle Expertise zu besitzen. Damit ging einher die Ausdifferenzierung einer »Profession« der Universal-Intellektuellen als Spezialisten für das Allgemeine, in der die Akteure ihre jeweiligen Doxa, »Produkte sozialen Glaubens«, als grundlegendes Meinungswissen zu Fragen der Politik und Gesellschaft über geeignete Medien der Öffentlichkeit zu vermitteln suchten.67 Damit werden die Intellektuellen als eine Instanz der Orientierung bestimmt, sie sind »als Deuter gefragt«.68 Die Figur des Universal-Intellektuellen als »das Gewissen aller« und eine von einem »ermatteten Marxismus übertragene Idee« sind keineswegs, wie Michel Foucault annahm, mit dem Hervortreten von Naturwissenschaftlern, die fachlich gegen atomare Waffen argumentierten, zugunsten des Experten bzw. »spezifischen Intellektuellen« von der Bühne der Geschichte verschwunden.69 Vielmehr ergaben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben der zunehmenden Bedeutung wissenschaftlicher Experten, deren Rolle sich selbst wiederum durch die Möglichkeit der Verknüpfung mehrerer Expertisen erweiterte,70 zugleich neue Konstellationen von wissenschaftlichen Experten und Universal-Intellektuellen in den Medien, deren scharfe Trennung zunehmend obsolet wird. Eine strikte begriffliche Unterscheidung würde zudem ein Verhältnis von Objektivität und Subjektivität suggerieren, das die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael) lediglich 66 Zugespitzt im Titel einer biographischen Skizze über die amerikanische Publizistin Susan Sontag: Ulrike Schmitzer, Jemand, der sich für alles interessiert. Die politische Denkerin, Kunsttheoretikerin und Schriftstellerin Susan Sontag, in: Elisabeth J. Nöstlinger/Ulrike Schmitzer (Hrsg.), Susan Sontag. Intellektuelle aus Leidenschaft. Eine Einführung, Wien 2007, S. 9-45. 67 Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009, S. 32 ff., Zitat: S. 34; hier wird der platonische Gegensatz von Epistemen als wirklichem, sicherem und Doxa als bloßem Meinungswissen bei Pierre Bourdieu entlehnt. 68 Ulrich Johannes Schneider, Intellektuellenverehrung, in: Martina Winkler (Hrsg.), WortEnde. Intellektuelle im 21. Jahrhundert, Leipzig 2001, S. 183-187, Zitat: S. 185. 69 Vgl. Michel Foucault, Die politische Funktion des Intellektuellen, in: ders., Schriften, Bd. III: 1976-1979. Hrsg. von Daniel Defert u. a., Frankfurt a. M. 2003, S. 142-152, Zitate S. 145, 147 f.; so auch Arne Schirrmacher, Nach der Popularisierung. Zur Relation von Wissenschaft und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 34, 2008, S. 73-95, hier S. 95; vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 359 ff. 70 Martin Carrier/Johannes Roggenhofer (Hrsg.), Wandel oder Niedergang? Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2007.
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als Entzauberung begreifen ließe und ihre dialektische Neuverzauberung71 ignorierte – das Grundthema nicht allein der Frankfurter Schule.72 Gerade angesichts einer zunehmend komplexeren und unübersichtlichen Gesellschaft wuchsen das Gewicht und der Professionalisierungsgrad der Universal-Intellektuellen. Ein gemeinsames, zu beachtendes Merkmal ist das Talent, in kurzer Zeit eine Position formulieren zu können und dabei den Unterschied von gesprochener und geschriebener Sprache zu berücksichtigen, kein Lampenfieber zu haben,73 sowie die »Fähigkeit zur pointierten Formulierung« und den dringlichen »Willen zur Vergrundsätzlichung« zu besitzen, als unabdingbare Ressourcen des Erfolgs beim Publikum.74 Diese Neigungen und performativen Talente waren und sind zunehmend wichtiger als die Frage, ob ein Sinndeuter sich wissenschaftlich als Scharlatan decouvriert, wie die Beispiele von Fritz J. Raddatz und Joachim C. Fest im Vergleich eindrücklich zeigen. Fritz J. Raddatz hatte – schlampig genug – dem 1832 verstorbenen Goethe eine Begegnung mit der erst einige Jahre später anzutreffenden Eisenbahn angedichtet und wurde deshalb als Feuilletonchef der Zeit entlassen und öffentlich demontiert. Dagegen gilt Joachim C. Fest, der dem nationalsozialistischen Minister Albert Speer seine lügenhaften Geschichten glaubte und seinen Darstellungen des NS-Regimes zugrunde legte, dem bildungsbürgerlichen Publikum immer noch als versierter Zeithistoriker. Ob jemand seine Reputation behielt, bestimmten vor allem die maßgeblichen Vertreter der Medien – auch dies ein Beleg für deren Zuschreibungsprimat. Das Publikum kann analog zur Definition des Universal-Intellektuellen, der seine Botschaften nicht als Experte verbreitet, als Ansammlung von intellektuell interessierten Nichtexperten mit einem Bedürfnis nach Orientierung verstanden werden, das mitunter geradezu religiöse Züge annehmen kann.75 Dabei wird in diesem Buch immer wieder deutlich werden, dass es sich selbstverständlich stets um die Orientierungsbedürfnisse einer zunächst schmalen bildungsbürgerlichen Schicht handelt, die erst allmählich breiter wurde. Die Aura der »Bürgerlichkeit« bestimmte auch die Intellektuellengeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ganz im Gegensatz zu intellektuellen Narrativen eines Niedergangs oder gar
71 Vgl. Veronika Lipphardt/Kiran Klaus Patel, Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Beispiel menschlicher Diversität, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 34, 2008, S. 425-454. 72 Vgl. kritisch etwa Zygmunt Bauman, Unerwiderte Liebe. Die Macht, die Intellektuellen und die Macht der Intellektuellen, in: Ute Daniel/Wolfram Siemann (Hrsg.), Propaganda. Meinungskampf, Verführung und politische Sinnstiftung 1789-1989, Frankfurt a. M. 1994, S. 172-200, hier S. 190 ff. 73 Alfred Grosser, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011, S. 15-18. 74 Stefan Müller-Doohm, Zur Soziologie intellektueller Denkstile. Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, in: Harald Bluhm/Walter Reese-Schäfer (Hrsg.), Die Intellektuellen und der Weltlauf, Schöpfer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945, Baden-Baden 2006, S. 12, 14. 75 Vgl. Schneider, Intellektuellenverehrung.
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des Verschwindens von »Bürgerlichkeit«.76 Erst der zumindest partiell gemeinsame soziale Erfahrungshintergrund schuf den Resonanzboden und die Anschlussfähigkeit für intellektuelle Diskurse in der Medienöffentlichkeit. Um der an ihn gerichteten Erwartung, orientierendes Meinungswissen zu vermitteln, genügen zu können, muss der Intellektuelle grundsätzlich nicht nur als originell, sondern auch als kritisch gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt erscheinen, und dies in zwei Dimensionen: Zum ersten wird der Anschein von bitterer Gesellschaftskritik und radikalem Nonkonformismus auch von Intellektuellen erweckt, die tatsächlich im affirmativen Mainstream schwimmen, weil sie ansonsten nicht ernst genommen würden. Der Publizist Axel Eggebrecht hat dieses Phänomen beschrieben: »Auch diejenigen Literaten, die mit Staat und Gesellschaft konform gehen, die irgendwelche anerkannten Ideen und Richtungen vertreten, wirken durch ihre Ungebundenheit, durch jenes anarchische Element. Sie können überhaupt nur Einfluß erlangen, wenn das so ist. Sie kommen nicht umhin, auf eigene Kappe zu formulieren, originell zu sein.«77 Letztlich werden damit jene Anforderungen formuliert, die in einer anderen als der bereits erwähnten marxistischen Traditionslinie sehr scharf markiert werden, nämlich in der von Bertolt Brecht in seinem Fragment gebliebenen Tui-Roman literarisch verarbeiteten78 und von Antonio Gramsci, dem vom faschistischen Regime in Italien eingekerkerten kommunistischen Parteiführer, politisch formulierten Funktionsbestimmung der Intellektuellen als »Gehilfen der herrschenden Gruppe« zur ideologischen Bemäntelung und Legitimierung von deren Macht.79 Damit wird zugleich die potentielle Nähe intellektueller Stellungnahmen zum Handwerk der möglichst effektiven »Anwendung von Weltbildern«80 – Anwendung meint hier Übersetzungen und mediale Sinnvermittlungsprozesse – thematisiert. 76 So erzählt etwa Reinhart Koselleck ausführlich von seiner bürgerlichen Sozialisation und betont zugleich das Verschwinden dieser Bürgerlichkeit als säkularen Prozess; Manfred Hettling/Bernd Ulrich, Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck, in: dies., Bürgertum, S. 40-60. 77 Axel Eggebrecht, Bangemachen gilt nicht. 28 Betrachtungen über den gesunden Menschenverstand, Düsseldorf 1969, S. 156. 78 Bertolt Brecht, Turandot oder Der Kongress der Weisswäscher. Der Tui-Roman (Fragment), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12. Hrsg. von Herta Ramthun und Klaus Völker, Frankfurt a. M. 1967; dort findet sich eine Fülle von stigmatisierenden Zitaten gegen die »Vermieter des Intellekts« (S. 611) und »Speichellecker« (S. 679); lesenswert ist der sich in die Brecht-Tradition stellende Roman des Philosophen und langjährigen Argument-Herausgebers Wolfgang Fritz Haug, Der Zeitungsroman oder Der Kongress der Ausdrucksberater, Basel 1980; vgl. Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken, zu Brechts Tuis S. 7. 79 Klaus Bochmann, Große und kleine, organische, vagabundierende, kristallisierte und traditionelle Intellektuelle. Der Begriff des Intellektuellen bei Antonio Gramsci, in: Winkler, WortEnde, S. 9-50. 80 Laak, Zur Soziologie, S. 432.
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Der Schein radikaler Gesellschaftskritik wird besonders meisterhaft inszeniert von jenen, die bevorstehende Umschwünge im öffentlichen »Klima« quasi seismographisch so früh erahnen, dass sie sich als Avantgarde ausgeben können. Hans Magnus Enzensberger ist – ob zu Recht oder zu Unrecht – in diesem Zusammenhang immer wieder als Beispiel für die deutschen Intellektuellen genannt worden. Dies trug ihm spöttische Charakterisierungen als »windig« (Peter Rühmkorf ) und chamäleonhaft ein. Der konservative Publizist Friedrich Sieburg nannte ihn ob seiner guten Witterung einen »scharfen Jungen«.81 Die diagnostische Sensibilität ist aber durch den Umstand bedingt, dass die Intellektuellen mit ihren Erfahrungen ein Teil dessen sind, was sie bekämpfen. Ihre Kritik wird jedoch nicht nur in Gestalt affirmativer Tendenz geduldet, sondern als Triebkraft der bürgerlichen Gesellschaft selbst geschätzt, wie auch manche Marxisten hervorheben.82 Daraus ergaben sich zugleich immer wieder Positionen, die den »Mächtigen« in Regierung, politischen Parteien, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften oder Kirchen überhaupt nicht gefielen, ein typisches Risiko intellektueller Kritik. Zudem erwiesen sich Intellektuelle immer wieder als anfällig für alle möglichen Integrationsideologien der Moderne,83 häufig allerdings nur zeitweise, wie das 20. Jahrhundert mit seinem Überreichtum an Umorientierungen zeigt.84 Die Inhalte der Integrationsideologien veränderten sich in der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft, ebenso wie die Ambivalenz von Kritik und Affirmation in der Bonner Republik gravierenden historischen Veränderungen unterlag. Zum zweiten gab (und gibt) es eine durchgängige Polemik von eher affirmativen gegen jene »progressiven« Intellektuellen, in den 1950er Jahren hießen sie noch »Nonkonformisten«, die ihrem Anspruch nach für Wahrheit und Gerechtigkeit eintraten, um sie als Ignoranten zu bedauern oder als Manipulateure zu entlarven.
81 Friedrich Sieburg, Zur Literatur. 1924-1956. Hrsg. von Fritz J. Raddatz, Stuttgart 1981, S. 28; vgl. die Psychogramme zu Enzensberger von Alfred Andersch, Martin Walser u. a. in: Rainer Wieland (Hrsg.), Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich, Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1999; zum intellektuell-antiakademischen Habitus des »Ironikers« vgl. Markus Joch, Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger, Heidelberg 2000, S. 305-413; Jens Hacke, Ironiker in der Bundesrepublik. Hans Magnus Enzensberger und Odo Marquard, in: Mittelweg 36, Jg. 17, 2009, H. 5, S. 39-51. 82 Vgl. Alex Demirovic, Führung und Rekrutierung. Die Geburt des Intellektuellen und die Organisation der Kultur, in: Walter Prigge (Hrsg.), Städtische Intellektuelle. Urbane Kultur im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 47-72, hier S. 61; allerdings wird dies auf die Selbstrevolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Aufstiegsphase bezogen. 83 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Propheten moderner Art? Die Intellektuellen und ihre Religion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40, 2010, S. 26-31. 84 Vgl. zur religionsgeschichtlichen Konversionsforschung Pascal Eitler, »Gott ist tot – Gott ist rot«. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a. M./ New York 2009, S. 43 ff.
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Eine definitorische Bestimmung des Intellektuellen lautet: »Er leidet an der Welt, er entwirft eine bessere.«85 Dies gilt es zu modifizieren. Es reicht aus, das Leid nur vorzugeben, um als Angebot für den bildungsbürgerlichen Komfort goutiert zu werden. Der intellektuelle Kritiker, der sich mitunter sogar als Anti-Intellektueller stilisiert,86 setzt hier an und bestreitet die Glaubwürdigkeit des Anspruchs auf Weltveränderung. Da sich die Positionen innerhalb intellektueller Biographien ohnehin vielfach änderten, angesichts immer neuer Anpassungsleistungen ändern mussten, taugt eine Definition, die normativen Vorgaben folgt, etwa in der Gegenüberstellung linker »Anti-Mandarine« und rechter »Anti-Intellektueller«, höchstens für eng begrenzte Themen der Intellektuellengeschichte.87 Wissenschaftlich unhaltbar ist auch Ralf Dahrendorfs Hervorhebung von »öffentlichen Intellektuellen als Zeugen des liberalen Geistes in Zeiten der Prüfung« als durch totalitäre Ideologien »unversuchbare Erasmier«; diese Konstruktion hat wenig mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun,88 das in großem Ausmaß von intellektuellen Konversionen bestimmt war.89 Es ist vorauszusetzen, dass die von Intellektuellen geführten symbolischen Anerkennungskämpfe jeweilige politische und soziale Interessen transportieren, auch dort, wo dies häufig den Protagonisten nicht bewusst ist und sie meinen, für die Wahrheit und das Wohl der Menschheit einzutreten. Mit purem eigenbrötlerischem Zynismus ließe sich eine intellektuelle Praxis zwar nicht erfolgreich betreiben, mit einer restlos naiven Sicht auf die Welt aber noch weniger. Das individualpsychologische Movens intellektueller Auseinandersetzungen ist häufig die Abneigung gegen renommierte Kollegen und Konkurrenten. Alfred Grosser bekannte: »Der eigentliche Gegner war und bleibt für mich der vielgerühmte, hochgeehrte Friedrich August von Hayek (…) Höhepunkt der herablassenden, kenntnis- und verständnislosen Verdammung des Sozialstaates«.90 85 Wolf Lepenies, Das Ende der Utopie und die Rückkehr der Melancholie, in: Martin Meyer (Hrsg.), Intellektuellendämmerung. Beiträge zur neuesten Zeit des Geistes, München 1992, S. 15-26, Zitat: S. 18. 86 Dem sitzen immer wieder Buchtitel auf, zum Beispiel Richard Faber/Uwe Puschner (Hrsg.), Intellektuelle und Antiintellektuelle im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2013. 87 Claus-Dieter Krohn, Intellektuelle und Mandarine in Deutschland um 1930 und um 1950, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 51-69; vgl. auch Laak, Persönlichkeit, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 13-22, hier S. 17. 88 Dahrendorf, Versuchungen, S. 25; zur »Societas Erasmiana«: Diese liberale Propagandaschrift konzentriert sich auf die Geburtsjahrgänge 1900-1910. Neben den Säulenheiligen Popper, Aron und Isaiah Berlin nennt Dahrendorf auch Theodor Eschenburg (ebd. S. 107), während Sartre, aber auch Havemann die Aufnahme verwehrt wird (ebd., S. 189, 219). 89 Zur zeithistorischen Konversionsforschung vgl. Eitler, Max Horkheimer, S. 43 ff.; der Schwerpunkt der Forschungen liegt allerdings eindeutig auf der religiösen Konversion der Frühen Neuzeit. Auch für das 20. Jahrhundert bleibt dieses Thema, neben der politischen Konversion, von einiger Relevanz. 90 Grosser, Freude, S. 27; an Hayek schieden (und scheiden) sich (bis heute) die Geister; so huldigte ihm Kurt Sontheimer, Von Deutschlands Republik, Politische Essays, Stuttgart 1991, S. 186 ff., als vorbildlichem realistischen liberalen Intellektuellen.
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Die grundsätzlichen Meinungen, die komplexe gesellschaftliche Interessenlagen spiegeln, entspringen nicht dem individuellen Hirn des Intellektuellen, dieser formt sie allerdings, das ist seine Qualifikation, zu möglichst originell und interessant erscheinenden individuellen Ansichten um. Doxa bilden sich vielmehr in »Denkkollektiven«, die zudem spezifische »Denkstile« ausprägen, die konkrete Inhalte verbinden.91 Nicht einsame Deuter, sondern »Sinnproduzenten« als »Deutungseliten«92 organisieren den permanenten Meinungsstrom, aber in ihrer Gesamtheit nicht als intentional steuerndes Kollektiv von »Edelfedern«, sondern als in einem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang stehende heterogene Gruppe von Interpretationsgemeinschaften, die sich in einem stetigen direkten, viel mehr aber noch in einem indirekten Gedankenaustausch befinden.93 Die Rede von den »Deutungseliten« hat im Übrigen zu berücksichtigen, dass es im ersten Nachkriegsjahrzehnt eine starke Konjunktur des Eliten-Masse-Diskurses gab,94 so dass zwischen Quellenbegriff – etwa der »abendländischen Verantwortungselite« – und heuristisch-analytischem Begriff zu unterscheiden ist. Ähnliches gilt für den besser in den Plural zu setzenden Begriff der Öffentlichkeit als empirisch zu operationalisierender Kategorie und den zeitgenössischen emphatischen Begriffen von Öf-
91 Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hrsg. und komment. von Sylwia Werner und Claus Zittel, Frankfurt a. M. 2011; vgl. Frank Henschel, Ideen im europäischen und globalen Wissenstransfer. Die Wissenschaftssoziologie Ludwik Flecks, in: Themenportal Europäische Geschichte, Clio-Online, Berlin 2010; die Studien des epistemischen Kontextualisten Fleck (1896-1961) zielten seit den 1930er Jahren auf die kultursoziologische Einbindung von (naturwissenschaftlichem und medizinischem) Wissen, sensibilisieren damit aber auch für die Relativität des Gegensatzes von dezidiert und scheinbar deutungsfreiem wissenschaftlichem auf der einen und dem subjektiven Meinungswissen auf der anderen Seite, befreien von der Illusion einer Reinigung der Wissenschaft von außerwissenschaftlichen Faktoren, die mit »Denkstilen« und »Denkkollektiven« einhergehen müssen; dass Verwissenschaftlichung im Übrigen nicht nur »Entzauberung«, sondern auch »Neuverzauberung« bedeutet, ist seit dem 20. Jahrhundert allgemein geläufig (vgl. Lipphardt/Patel, Neuverzauberung). 92 Vgl. den anregenden Aufsatz von Ulrich Prehn, Deutungseliten – Wissenseliten. Zur historischen Analyse intellektueller Prozesse, in: Karl Christian Führer/Karen Hagemann/ Birthe Kundrus (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert. Für Klaus Saul zum 65. Geburtstag, Münster 2004, S. 42-69. 93 Hinzuweisen ist auch auf den Ansatz der Konstellationsforschung als theoretisch vernichtend für die Vorstellung von solitären intellektuellen Denkern; Martin Mulsow/Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005. 94 Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ›Zeitgeist‹ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 306 ff.; ders., »Massengesellschaft und »Nivellierte Mittelschicht«. Zeitgenössische Deutungen der westdeutschen Gesellschaft im Wiederaufbau der 1950er Jahre, in: Führer/Hagemann/Kundrus, Eliten, S. 198-213. Ähnliches gilt im Verhältnis zu den zeitgenössischen Konzepten von Öffentlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren; vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Presseöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006, S. 31-86.
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fentlichkeit – auf der progressiven Seite besonders von Jürgen Habermas in seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift.95 Die Ordnung der Diskurse hat Michel Foucault eingehend untersucht, wenngleich vor allem für frühere Epochen. Verallgemeinern lässt sich seine Interpretation, dass der Diskurs die Macht sei, »worum und womit man kämpft«.96 Die Intellektuellengeschichte der Bonner Republik hält einiges Anschauungsmaterial dafür bereit, dass es neben dem Verbot im Diskurs – dieser betraf vor allem völkischrassistische Propaganda auf der einen und marxistische Positionen auf der anderen Seite – andere wirksame Mittel der Durchsetzung der Exklusion, des nicht Sagbaren, von Rede- und Schweigeordnungen durch partielle Inklusion und Grenzziehungen gab. Im Übrigen bildete die vorübergehende Inklusion des Marxismus ein wichtiges Spezifikum der Intellektuellengeschichte der 1960er und 1970er Jahre. Die vorstehenden Anmerkungen, die verdeutlichen sollten, welche Anregungen eine Geschichte der Medien-Intellektuellen aufnehmen kann, sind für die Konstruktion eines sich selbst historisch verändernden medien-intellektuellen Feldes zu berücksichtigen – nicht als Gesetzmäßigkeiten, sondern als zu beobachtende Tendenzen mit vielen Ausnahmen von der Regel: – die Analyse der Ideen als Sozialgeschichte der Ideen bzw. Intellectual History und damit die Einbeziehung der Akteure als heterogene, keineswegs »freischwebend«97 agierende Gruppe von relativer Autonomie mit zahlreichen politischen Schattierungen und differenten Denkstilen, deren gesamtes Funktionieren überhaupt nur in der Form stetiger öffentlicher Konkurrenz um Meinungshegemonie zu erhalten ist; die relative Eigengesetzlichkeit von Ideen darf dabei nicht ignoriert werden; – die Skepsis gegenüber essentialistischen, letztlich unhistorischen Charakterisierungen, was »den« Intellektuellen ausmache, gleichzeitig aber die Einbeziehung einiger – prosopographisch auffallender – idealtypischer Statusbedingungen und 95 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962; innerhalb des Veröffentlichungsjahres erfuhr die Habilitationsschrift von Habermas fünf Auflagen! Vgl. zuletzt ders., Ach, Europa! Kleine politische Schriften XI, Frankfurt a. M. 2008, S. 77-87: »Die Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung führt zur Entdifferenzierung und Angleichung von Rollen, die der inzwischen altmodisch gewordene Intellektuelle einmal auseinanderhalten musste« (S. 83). 96 Foucault, Botschaften, S. 55; die wechselnden, aber stets markanten Aussagen von Foucault haben mitunter dazu geführt, nicht nur die relative Autonomie von Ideen, sondern auch die Rückkoppelung zu gesellschaftlichen Trägern von Interessen zu vernachlässigen; vgl. Jürgen Ritsert, Ideologie. Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie, Münster 2002, S. 153-162. 97 Die klassischen Definitionen der Intellektuellen als »freischwebend« (Karl Mannheim) bzw. »aus allen Ecken und Enden der sozialen Welt« (Joseph A. Schumpeter) herkommend haben ihren einstmaligen heuristischen Wert einer Verortung der Intellektuellen jenseits der Klassenschemata längst verloren. Heute könnten sie eher die Suggestion einer gesellschaftlichen Autonomie der Intellektuellen bekräftigen.
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Verhaltensformen für die erfolgreiche Performanz des keineswegs verschwundenen Universal-Intellektuellen; – die Beachtung der Mannigfaltigkeit von Positionen der Intellektuellen in der modernen Gesellschaft im Spektrum absoluter Affirmation, immanent erwünschter und fundamentaler Kritik aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Begründungen, wobei strategische Motive selten offengelegt und auf den ersten Blick schwer zu durchschauen sind;98 die Geschichte der Intellektuellen in der Bundesrepublik ist in diesem Zusammenhang auch eine Geschichte ihrer erzwungenen Anpassungsleistungen und semantischen Umbauarbeiten;99 – das Ernstnehmen der Biographien, Erfahrungen und Wahrnehmungen der zeitgenössischen Akteure, die sich keineswegs ihrer Funktion bewusst sein mussten – im Gegenteil: Ihre Illusionen, als Vordenker der Welt den richtigen Weg zu weisen, können auch als Produktivkraft angesehen werden. Die Strukturen des medien-intellektuellen Feldes existieren nicht unabhängig von den Akteuren, sondern werden durch die Praxis der dort agierenden Intellektuellen konstituiert.
2. Das medien-intellektuelle Feld Eine wichtige Inspiration für eine Geschichte der Medien-Intellektuellen verdankt sich der kritischen Musterung von Konzepten Pierre Bourdieus, die unter den Stichworten »Habitus«, »Kapitalsorten« und »Feld« in der Geschichtswissenschaft diskutiert worden sind.100 Der »Habitus« wird von Bourdieu verstanden als eine »allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt – die zu systematischen Stellungnahmen führt«;101 Habitus wird im Laufe eines Lebens als »sozialisierte Subjektivität«102 erworben und ist nicht zu verwechseln mit einer aktuell 98 So klingen z. B. ganze Passagen aus Schriften zur kulturkritischen Diagnostik der 1950er Jahre von Seiten der Frankfurter Schule und konservativer Intellektueller zum Verwechseln ähnlich. 99 Vgl. Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch, Resonanzkonstellationen. Die illusionäre Autonomie der Kulturwissenschaften, Heidelberg 2004. 100 Zur anfänglichen Debatte in der Bundesrepublik vgl. Sven Reichardt, Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas Mergel/ Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 71-94; vgl. u. a. Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005. 101 Pierre Bourdieu, Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen, Berlin 1989, S. 25; vgl. ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993; ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998. 102 Pierre Bourdieu, zit. nach Lutz Raphael, Habitus und sozialer Sinn. Der Ansatz der Praxistheorie Pierre Bourdieus, in: Friedrich Jäger (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart u. a. 2004, S. 266-276, Zitat: S. 267; dort auch zum Folgenden; Alex-
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eingenommenen Position, die als eine von unendlich vielen situativen Möglichkeiten auf der habituell geprägten »Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmatrix«103 gedacht werden kann, dann aber selbst wieder an der Formung des Habitus mitwirkt, der insofern als aktiv und kreativ vorzustellen ist. Diese sozialwissenschaftliche Vermittlung dualistischer Konstruktionen von Individuum und Gesellschaft, Vernunft und Emotion, Struktur und Praxis vermag auch geschichtswissenschaftliche Untersuchungen des »sozialen Sinns« der Praxis von Akteuren zu sensibilisieren. Als Konkretisierung des Habitus-Konzepts können die Überlegungen zu den Kapitalsorten angesehen werden, die den Akteuren bei der Gestaltung ihrer Praxis zur Verfügung stehen oder eben nicht: ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital.104 Das ökonomische Kapital entscheidet nicht zuletzt über die Chancen, einen höheren Bildungsgang zu absolvieren und kulturelles Kapital zu akkumulieren, das soziale Kapital meint sowohl ererbte und dauerhafte familiäre wie durch die Mitgliedschaft in Vereinigungen erworbene Bindungen, auf denen sich Vertrauensvorschüsse aufbauen. Das kulturelle Kapital benennt – abgesehen von den Kulturgütern selbst und in institutioneller Form zu erwerbenden Bildungsdiplomen – die im familiären und schulischen Sozialisationsprozess gewachsenen kognitiven und ästhetischen Kompetenzen eines Individuums. Das »symbolische Kapital« schließlich ist keine zusätzliche Kapitalsorte, sondern die auf ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital beruhende Fähigkeit im Machtkampf um Anerkennung, Status und Prestige. Habitus und verfügbares Kapital wirken im sozialen Raum, der von Bourdieu in gesellschaftliche »Felder« von Politik, Ökonomie, Kultur aufgeteilt wird,105 wobei diese Felder zwar in einem kommunikativen Zusammenhang stehen, aber jeweils eigenen Regeln unterliegen, in der die Kapitalsorten einen unterschiedlichen Wert haben. Im kulturellen Feld, das gilt Bourdieu als Besonderheit, zählt ökonomisches Kapital für die Akteure wenig, symbolisches Kapital dagegen am meisten. Dies begründet die relative Autonomie des kulturellen Feldes. In den symbolischen Kämpfen geht es um normierende Deutungsmacht. Allerdings lässt Bourdieu, hier in der Tradition des Marxisten Gramsci, keinen Zweifel daran, dass der »Besitz von kulturellem – oder präziser: von informationellem – Kapital eine untergeordnete Kapitalform« betreffe, da Intellektuelle als »Beherrschte Teil der Herrschenden« ander Lenger/Christian Schneickert/Florian Schumacher (Hrsg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013; vgl. zum weiteren Zusammenhang Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2001. 103 Pierre Bourdieu, zit. nach Raphael, Habitus, S. 268. 104 Vgl. den knappen Überblick von Reichardt, Bourdieu, S. 75 ff. 105 Vgl. Anna Boschetti, Sozialwissenschaft, Soziologie der Intellektuellen und Engagement. Die Position Pierre Bourdieus und deren soziale Bedingungen, in: Gilcher-Holtey, Zwischen den Fronten, S. 201-230, hier S. 207 ff.; Catherine Colliot-Thélène/Étienne François/Gunter Gebauer (Hrsg.), Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2005; instruktive Beiträge aus der Literaturwissenschaft in Joch/Wolf, Text.
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seien.106 Die Vorstellung eines kulturellen Feldes, auf dem gestritten wird – hier ist eher eine militärische als eine landwirtschaftliche Metaphorik zu assoziieren –, ist deshalb von heuristischem Wert, weil damit nicht eine systemtheoretische Autopoesis von Kämpfen um Ideen suggeriert wird. Allerdings definiert Bourdieu im Zusammenhang mit seiner Feldtheorie den Intellektuellen normativ: »Der Intellektuelle ist ein bi-dimensionales Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen; zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usw. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld!) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes in engerem Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat.«107 Diese Trennung von kulturellem Feld und politischer Aktion ist in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen ist das kulturelle Feld nicht unpolitisch, äußern sich Intellektuelle als solche ja permanent zu Fragen von Politik und Gesellschaft. Wenn zum anderen von Aktionen außerhalb des kulturellen Feldes gesprochen wird und damit kollektive Manifeste gemeint sein sollten, die zu unterzeichnen wären, um den Ehrentitel »Intellektueller« zu »verdienen«, so sind damit in normativer Absicht nur eine bestimmte Form von Politik und eine Gruppe intellektueller Aktivisten angesprochen.108 Theodor W. Adorno, der sehr selten und ungern politische Aufrufe unterschrieb, oder Karl Jaspers, der sich dem grundsätzlich verweigerte, wären nach einer engen Auslegung der Definition von Bourdieu jedenfalls nur bedingt oder überhaupt keine Intellektuellen. Auch von einem intellektuellen Feld wäre im strengen Sinne nicht zu sprechen. Allerdings interessiert hier nicht die filigrane scholastische Diskussion um sozialwissenschaftliche Theorien. Bourdieu selbst hat seine idealtypische Feldtheorie als heuristisches Werkzeug für umfassende soziologische Untersuchungen aufgefasst, 106 Bourdieu, Satz, S. 31; »gegen die Vorstellung (Bourdieus), daß die Intellektuellensphäre auf einen simplen Mechanismus reduziert werden könne, der auf der Durchsetzung von Machtstrategien beruhe«, wendet sich François Beilecke, Konzeptionelle Überlegungen zur politischen Rolle eines zivilgesellschaftlichen Akteurs, in: ders./Katja Marmetschke (Hrsg.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, S. 49-65, hier S. 58. 107 Bourdieu, Die Intellektuellen, S. 42; eine Gemeinsamkeit von Bourdieu und Michael Walzer in der »Ambivalenz zwischen kultureller Autonomie und politischem Engagement« sieht Henning Hillmann, Zwischen Engagement und Autonomie. Elemente für eine Soziologie der Intellektuellen, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 7, 1997, S. 71-86, hier S. 73; vgl. auch Burkhardt/Hartle, Risse, S. 8 ff. 108 Die Genese von Bourdieus »kollektivem Intellektuellen« in Auseinandersetzung mit dem omnipotenten »Total-Intellektuellen« Jean-Paul Sartre skizziert Lothar Peter, Pierre Bourdieu – weder »totaler« noch »spezifischer« Intellektueller, in: Beilecke/Marmetschke, Der Intellektuelle, S. 67-88.
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eine Fülle gesellschaftlicher Bereiche empirisch untersucht und die Versuchsanordnung immer wieder modifiziert. Die folgende Konstruktion eines medien-intellektuellen Feldes als Folie für eine zeitgeschichtliche Darstellung profitiert nicht unbeträchtlich von der Vorstellung eines spezifischen sozialen Raums von relativer Autonomie und Eigengesetzlichkeit, in dem individuelle und kollektive Akteure mit jeweilig zur Verfügung stehenden habituellen Ressourcen, dem erworbenen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital, symbolische Kämpfe um die Deutungshoheit führen, die wiederum stets mit wirtschaftlichen und politischen Interessen interagieren. Um die Anordnung des Projekts zu erklären, liegt das Bild der Bühne im Verhältnis zum Theater nahe – und damit eine andere Analogie als die des Feldes.109 Im Zentrum der Betrachtung befinden sich die gegebenen Stücke und die Schauspieler, aber diese spielen nicht allein für sich, sondern für ein Publikum, dessen Geschmack, der differenziert und veränderbar ist, getroffen werden muss. Die Präferenzen des Publikums lassen sich am Verkauf von Eintrittskarten oder der Kündigung von Abonnements ablesen – und ganz unmittelbar am Applaus. Zwischen den Akteuren auf der Bühne und dem rezipierenden Publikum ergeben sich also vielfältige Interaktionen – nicht zuletzt durch Theaterkritiken. Die Schauspieler agieren auch insofern nicht autonom, als sie sich nach den Vorgaben der Regisseure, Intendanten, Direktoren zu richten haben, hinter denen wiederum private, kommunale oder staatliche Aufsichtsgremien stehen. Allerdings wird in der Regel nur der Schauspieler erfolgreich sein, der den Anschein von Selbstbestimmtheit vermittelt, seine Rolle individuell auszufüllen, und Originalität zumindest zu suggerieren versteht. Wer sich als Betrachter allein auf das Bühnengeschehen konzentriert, hat weder das Binnenleben des Theaters noch die Rolle der Schauspieler erfasst. Analog zu dieser Konstellation lässt sich die grundlegende Funktion des MedienIntellektuellen, Meinungswissen in den daran interessierten Teil der Öffentlichkeit zu vermitteln, zunächst idealtypisch und mit unscharfen Rändern in Abgrenzung zu benachbarten professionellen Rollen bestimmen: 1. In Abgrenzung zur Rolle des Wissenschaftlers im akademischen Feld – pointiert: Nicht jeder Professor ist ein Intellektueller. Er kann allerdings durchaus als Star der Reduktion von Komplexität in den Medien auftreten und wird dann auch in dieser Hinsicht einbezogen. So scheute sich der bekannte Soziologe Helmut Schelsky, der im Übrigen als witziger Vortragsredner galt, nicht, im ARAL-Journal über die »industrielle Gesellschaft von morgen« zu schreiben.110 Was geschieht, wenn ein Gelehrter vom medien-intellektuellen 109 Die folgenden Ausführungen lagen meinem Antrag an die Fritz-Thyssen- und die VolkswagenStiftung für die Gewährung eines Opus-Magnum-Projekts von 2010 zugrunde. 110 Das MS befindet sich im Nl. Schelsky in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster; vgl. zur Popularisierung von Wissenschaft Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Medienge-
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Feld weitgehend ausgeschlossen blieb, hat der Publizist Alfred Grosser mit einem kleinen Witz veranschaulicht: »Was ist ein Philosoph? Jemand, der einem, wenn man ihm eine Frage stellt, so antwortet, dass man die eigene Frage nicht mehr versteht.«111 Bei medialen Beiträgen von Autoren aus der Wissenschaft handelt es sich aber meist nicht um ein schlichtes trickle down wissenschaftlicher Erkenntnisse im Sinne einer Popularisierung von Wissenschaft112 bis zur »Pseudowissenschaft«113 bzw. eines Derivats der »Verwissenschaftlichung des Sozialen«,114 sondern um ein spezifisches mediales Produkt eigenen Rechts. In den Publikationsstrategien von Autoren aus der Wissenschaft und anderen Medien-Intellektuellen finden sich Gemeinsamkeiten, etwa der »Platzierungssinn«115, bei dem vielfältige, nicht zuletzt pekuniäre Interessen eine Rolle spielen. Wenig wissen wir zum Beispiel darüber, wer die Buchtitel jeweils findet, mit denen sich Wissenschaftler an ein breiteres Publikum wenden; die berühmt gewordene Formel von der »skeptischen Generation« hatte zum Beispiel nicht ihr Autor Helmut Schelsky, sondern dessen Verleger Ulf Diederichs vorgeschlagen.116 Augenscheinlich gab (und gibt) es eine Asymmetrie von Ansehen unter den Fachkollegen und in der allgemeinen Öffentlichkeit. Eine Umfrage der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaften ermittelte 1985 unter ihren Mitgliedern das Ansehen von Kolleginnen und Kollegen in der eigenen Gemeinschaft und fragte daneben, wer in der allgemeinen Öffentlichkeit die größte Reputation besitze. Kurt Sontheimer, der als unangefochtener Star in der Öffentlichkeit angese-
sellschaft, Weilerswist 2005; ders., Die Wissenschaft der Öffentlichkeit. Essays zum Verhältnis von Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Weilerswist 22006; zeitgeschichtlich: Riccardo Bavaj/Dominik Geppert, Jenseits des »Elfenbeinturms«. Hochschullehrer, Öffentlichkeit und Politik im Kalten Krieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 65, 2014, S. 133-145. 111 Vgl. Grosser, Freude, S. 21. 112 Dies wäre eher für das 19. Jahrhundert zutreffend; vgl. Andreas W. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, München 2002. 113 Dirk Rupnow u. a. (Hrsg.), Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2008. 114 Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 22, 1996, S. 165-193. 115 Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010, S. 407. 116 Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 50, 2002, S. 465-495; schon den provokativen Titel »J’accuse«, der den Beginn der modernen Intellektuellengeschichte symbolisiert, hatte der Chefredakteur der Zeitung L’Aurore und nicht Emile Zola geprägt; Müller-Doohm, Zur Soziologie, S. 259.
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hen wurde, landete nur auf Platz 10 unter den fachlich wichtigsten Vertretern.117 Wie in diesem Fall waren vor allem jene Professoren im medien-intellektuellen Feld erfolgreich, die eine Distanz zur Überspezialisierung ihrer – zumeist sozialund geisteswissenschaftlichen – Fächer hielten, damit auch dem speziellen Prozess der Vermittlung von wissenschaftlichen Positionen an eine breitere pädagogische Öffentlichkeit genügten118 und dafür nicht selten mit langfristigem Ansehensverlust in der eigenen Community bezahlten.119 Zudem sind Konjunkturen für jeweilige Disziplinen zu beobachten, aus denen Medien-Intellektuelle rekrutiert wurden. Die größten Chancen bestanden für die Zeit der Bonner Republik zunächst für Philosophen und Geisteswissenschaftler sowie Theologen, danach für Politikwissenschaftler und Soziologen, während Wirtschafts-, Rechts- oder Naturwissenschaftler durchgängig Nebenrollen besetzten. Auch der in den Medien betriebene Kult um Wissenschaftler, vorzugsweise Philosophen, als tiefe Denker, die als solitäre Existenzen stilisiert wurden bzw. sich 117 Vgl. Wilhelm Bleek, Kurt Sontheimer. Politikwissenschaftler als öffentlicher Beruf, in: Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 2: Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft, Marburg 1994, S. 27-43, hier S. 29; im Klassement der öffentlich besonders profilierten Kollegen folgten auf den Plätzen 2 bis 5 Theodor Eschenburg, Klaus von Beyme, Thomas Ellwein und Karl Dietrich Bracher. 118 Am Beispiel der Geschichtswissenschaft Olaf Blaschke, Rezeptheft für Studienräte oder Wissenschaftsforum? 60 Jahre »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« und die unbekannte Rolle ihres Gründers Gerhard Aengeneyndt, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 61, 2010, S. 555-579; hier kämpfen bis in die Gegenwart Historiker gegen die Enteignung ihrer Expertise durch Medien-Intellektuelle zu geschichtspolitischen Zwecken; Eric Hobsbawm hat das in dem ihm eigenen Pathos ausgedrückt: »Heutzutage wird mehr Geschichte denn je von Leuten umgeschrieben oder erfunden, die nicht die wirkliche Vergangenheit wollen, sondern eine, die ihren Zwecken dient. Wir leben heute im großen Zeitalter der historischen Mythologie. Die Verteidigung der Geschichte durch ihre Experten ist heute in der Politik dringlicher denn je. Man braucht uns.« (Hobsbawm, Zeiten, S. 337); vgl. auch Marcel vom Lehn, Kalter Krieger? Deutsche und italienische Historiker in der Frühphase des Ost-West-Konflikts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 65, 2014, S. 146-160. Bei der Behandlung geschichtswissenschaftlicher Themen spielen Fachhistoriker – mit wenigen Ausnahmen – heute vor allem die Rolle des Beraters und, im Fernsehen, mitunter des Beglaubigers von Seriosität durch kurze Statements (Bösch, Journalisten). Dies ist eine medienlogische Folge des Cultural Turn, durch den kanonisierte Standards obsolet wurden. Noch komplizierter wird das Verhältnis von Journalismus und Geschichtsschreibung durch den Umstand, dass viele der mit Geschichtsthemen erfolgreichen Publizisten selbst akademisch ausgebildete Historiker sind; am Beispiel von Joachim C. Fest, Volker Ullrich und Johannes Willms: Jürgen Wilke, Journalismus und Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Bd. 11, 2009, S. 5-24. 119 Das gleiche Phänomen der Selbstentfremdung ist nicht nur für den akademischen Bereich, sondern etwa auch für Vertreter von Kirchen zu beobachten. Allerdings gab es Ausnahmen, die gerade deshalb auch in den Medien erfolgreich wirkten, weil sie kaum terminologische Zugeständnisse an das Niveau ihres Publikums machten und diesem damit das Gefühl gaben, in die Aura höherer Geistigkeit einbezogen zu sein; als Beispiel wären Theodor W. Adorno und andere Vertreter der Frankfurter Schule zu nennen.
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selbst stilisierten, wie etwa Martin Heidegger oder Carl Schmitt, ist als Phänomen einzubeziehen; ebenso die Auswanderung von Universal-Intellektuellen in das Feld der universitären Wissenschaft und der Drang von Publizisten nach akademischen Titeln und Posten. Anfang der 1960er Jahre etwa erhielten der vormalige Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Eberhard (an der FU Berlin), der langjährige Chefredakteur von Christ und Welt, Klaus Mehnert (an der RWTH Aachen), der Chefredakteur des Rheinischen Merkur, Otto B. Roegele (an der LMU München), und der Feuilletonist und vormalige Aktivist des konservativ-revolutionären Tat-Kreises um 1930, Ernst Wilhelm Eschmann (an der Universität Münster), eine Professorenstelle. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Erich Welter, oder ihr Redakteur Friedrich Sieburg führten den Professor im Briefkopf und ließen sich gern mit Titel ansprechen. In einem Brief an Karl Korn, den Leiter des Feuilletons des Blatts, zeigte sich Kasimir Edschmid, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verärgert darüber, dass dort keine Notiz von einer ihm verliehenen Ehrendoktorwürde genommen worden war.120 Lediglich die engere Wissenschafts- und Universitätsgeschichte mit ihrem Typus des »GelehrtenIntellektuellen«121 soll weitgehend außerhalb der Betrachtung bleiben. 2. In Abgrenzung zur Rolle des politischen Funktionärs mit intellektuellem Hintergrund in Parteien, Gewerkschaften und anderen Verbänden. Der sogenannte Partei-Intellektuelle,122 in erster Linie ein Phänomen der Sozialdemokratie,123 soll vor allem Berücksichtigung finden, soweit er außerhalb der Parteiapparate mit allgemeinen intellektuellen Beiträgen in den Medien auftrat. Das Leiden und die Selbstdomestizierung des Intellektuellen im politischen Raum mit seinen die Unabhängigkeit des Denkens einschränkenden Erfordernissen, wie es Wolfgang Koeppen mit der Figur des Keetenheuve im »Treibhaus« (1953) literarisch gestaltet hat, werden am Rand der Untersuchung bleiben.124 Mehr Interesse 120 Kasimir Edschmid an Karl Korn, 24.10.1960, in: DLA, A: Edschmid. 121 Hübinger, Gelehrte, S. 9-28, 227-247. 122 Vgl. Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart u. a. 2000; Ulrich von Alemann u. a. (Hrsg.), Intellektuelle und Sozialdemokratie, Opladen 2000; Norbert Seitz, Intellektuellenpartei a. D. Die geistige Krise der SPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 55, 2010, S. 95104. 123 Als polemisch getönte Typisierung vgl. ders., Glotz und Eppler – Intellektuelle Antipoden, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 53, 2006, H. 11, S. 48-53: »Fürstenberater à la Günter Grass, der auf dem Vorhof der Macht moralisierend herum zu scharwenzeln pflegt«, die »programmatischen Lordsiegelbewahrer und Titel-Verteidiger vom demokratischen Sozialismus bis zur sozialen Gerechtigkeit à la Wolfgang Thierse« sowie der »Typus eines intellektuellen Devianzenhändlers, der (wie Peter Glotz …) mit seinen dissenting opinions stets für Anstöße in den eigenen Reihen sorgte« (S. 50). 124 Vgl. Tilman Ochs, Kulturkritik im Werk Wolfgang Koeppens, Münster 2004; Udo Wengst, Ein Zerrbild der jungen Bonner Demokratie. Wolfgang Koeppens Roman »Das Treibhaus« (1953), in: Johannes Hürter/Jürgen Zarusky (Hrsg.), Epos Zeitgeschichte. Romane des 20. Jahrhunderts in zeithistorischer Sicht. 10 Essays für den 100. Band, Mün-
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finden hingegen Medien-Intellektuelle, die von ihrem jeweiligen Parteibuch wenig Aufhebens machten, aber davon strategisch profitierten. Der »Partei-Intellektuelle« als spezifische Sozialfigur125 ist interessant, wird hier aber weitgehend ausgeblendet, soweit das Zentrum der intellektuellen Praxis vorwiegend nach innen gerichtet war. Analoges gilt für den »kirchlichen Intellektuellen«126 oder die Probleme von Intellektuellen in den Gewerkschaften.127 3. In Abgrenzung zu den Rollen von literarischen Schriftstellern und Künstlern. Ihr engeres kunstästhetisches Metier interessiert in unserem Zusammenhang lediglich in seinen politischen Bezügen. Erst dort, wo sie das medien-intellektuelle Terrain betraten, wie zum Beispiel im Rahmen der linken Politisierung seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre,128 werden sie in die Betrachtung einbezogen. Der Intellektuelle unterscheidet sich vom hier nicht betrachteten bloßen Künstler, indem er nicht allein ästhetisch, sondern über die Medien gesellschaftlich wirksam sein will. Allerdings spielt die Dimension des Ästhetischen eine untergründige, gleichwohl einflussreiche Rolle. Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat dazu eine Aussage seines Freundes Pierre Bourdieu überliefert: »Für mich steht das Le-
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chen 2010, S. 87-100; am Beispiel eines parteipolitischen »Versagers« vgl. Jens Hacke, Das politische Scheitern eines Hoffnungsträgers. Ralf Dahrendorf und die FDP, in: Kroll/ Reitz, Intellektuelle, S. 123-137, hier S. 123 ff., 128 ff.; vgl. auch den Nekrolog von Jürgen Kocka, Dahrendorf in Perspektive, in: Soziologische Revue, Jg. 27, 2004, S. 151-158; mittlerweile umfassend Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017, S. 146 ff. Vgl. Lars Tschirschwitz, Kampf um Konsens. Intellektuelle in den Volksparteien der Bundesrepublik, Bonn 2017; zum allgemeinen modernen Hintergrund vgl. Gangolf Hübinger, Die politischen Rollen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert, in: ders./ Hertfelder, Kritik, S. 30-44 (bes. die instruktive Graphik S. 39); vgl. auch die Porträts von »engagierten Intellektuellen« in der Aufsatzsammlung von Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010, Zitat S. 101. Vgl. Thomas Kroll, Der Linksprotestantismus in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann, in: Kroll/Reitz, Intellektuelle, S. 103-122, hier S. 115; in Absetzung von protestantischen »Religionsintellektuellen« (Friedrich Wilhelm Graf ); für das biographische Spektrum politisch einflussreicher evangelischer Theologen vgl. bereits Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart 1966; für das Phänomen katholischer Intellektualität vgl. das weite Spektrum in dem voluminösen, wenngleich qualitativ heterogenen Sammelband von Hans-Rüdiger Schwab (Hrsg.), Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts, Kevelaer 2009. Andrei S. Markovits/Andreas Hess, Intellektuelle und Gewerkschaften in der Bundesrepublik (1949-1989), in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 42, 1991, S. 473-485; interessant wird es da, wo Intellektuelle dezidiert auf das öffentliche Erscheinungsbild der Gewerkschaften Einfluss nahmen und deshalb vom Apparat ausgeschaltet wurden, wie Walter Fabian als Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte (1957-1970); s. Kapitel III.2. Vgl. Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 224 ff.
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ben des Intellektuellen dem des Künstlers näher als dem Universitätsalltag.«129 Die hohe Bedeutung des Ästhetischen für die Intellektuellen ist allgemein bekannt, etwa in der Tradition des radikal politisierbaren Ekels vor der Politik. In dieser Hinsicht ist der Schriftsteller sogar als Idealtypus des freischwebenden Intellektuellen aufgefasst worden.130 4. In Abgrenzung zur Rolle des medialen Organisators und Managers. Verleger, Lektoren, Chefredakteure, Programmchefs in den Medien mochten selbst einen intellektuellen Hintergrund besitzen, mitunter war dies für ihre Funktion sogar unabdingbar. Sie spielen aber eher eine Rolle aus der Perspektive der publizistischen Akteure, solange sie selbst keine eigenständig medial vermittelten Beiträge anboten. Allerdings hat es immer wieder Intellektuelle gegeben, die neben ihrer Managerposition als solche tätig waren, von Alfred Andersch als Programmchef im Süddeutschen Rundfunk und Walter Dirks im Westdeutschen Rundfunk bis zu den Verlegern und Herausgebern des Spiegel, der Zeit oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 5. In Abgrenzung zur Rolle des Journalisten. Die Abgrenzung der intellektuellen Publizistik vom Journalismus für ein breiteres Publikum – mitunter taucht die Metaphorik der »Edelfeder« auf, ist von »Kulturjournalismus«, »Elitenjournalismus« oder »Qualitätsjournalismus« die Rede131 – kann nur jeweils historisch konkret anhand von Publikationsorten und anderen Indikatoren erfolgen; auch im Blick auf einzelne Biographien bleiben die Grenzen fließend.132 Nicht einmal die Wertigkeit der Begriffe ist eindeutig, weil das negative Image des Journalisten erst neueren Datums ist. So hat z. B. der konservative Intellektuelle Joachim C. Fest für sich die Bezeichnung »Publizist« abgelehnt und 129 Hobsbawm, Gefährliche Zeiten, S. 338. 130 Georg Jäger, Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriss, in: Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende (Hrsg.), Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen 2000, S. 1-25. 131 Gunter Reus, Ressort: Feuilleton. Kulturjournalismus für Massenmedien, Konstanz 21999; Michael Haller (Hrsg.), Die Kultur der Medien. Untersuchungen zum Rollenund Funktionswandel des Kulturjournalismus in der Mediengesellschaft, Münster 2002; Lutz Hachmeister, Einleitung: Das Problem des Elite-Journalismus, in: ders./Friedemann Siering (Hrsg.), Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945, München 2002, S. 7-34, hier S. 13-19; Klaus Arnold, Qualitätsjournalismus. Die Zeitung und ihr Publikum, Konstanz 2009. 132 Vgl. Walter A. Mahle, Journalisten in Deutschland. Nationale und internationale Vergleiche und Perspektiven, München 1993; Kurt Koszyk, Publizistik und politisches Engagement, Lebensbilder publizistischer Persönlichkeiten, Münster 1999; Maren Gottschalk, Der geschärfte Blick. Sieben Journalistinnen und ihre Lebensgeschichte, Weinheim 2001; Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten; Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeit und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006; mit einigen zeithistorischen Schlaglichtern auch Duchkowitsch u. a., Journalistische Persönlichkeit.
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bestand auf »Journalist«.133 Vor diesem Hintergrund ist die »Verbindung einer intellektuellen- mit einer journalismusgeschichtlichen Perspektive«134 naheliegend. Analog zum Verhältnis zwischen Schauspielern auf der Bühne und Theaterbetrieb stehen Medien-Intellektuelle in ihrem praktischen Agieren und mit ihren spezifischen medialen Produkten im Zentrum der Darstellung, ohne dass die genannten benachbarten Akteure bzw. ihr eigenes Wirken in benachbarten Feldern und der sozial-kulturelle Hintergrund ignoriert würden. Angesichts des marktförmigen Rahmens für die mediale Vermittlung intellektueller Produkte und einwirkender politischer Machtinteressen kann kein hermetisch abgeschlossenes System intellektueller Diskurse konstruiert werden, ist stets die »Gesamtheit der kommunikativen Situation«135 zu berücksichtigen. Personelle bzw. soziale Netzwerke beschränkten sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf Medien-Intellektuelle um einzelne Medien herum, wie häufig noch in der Weimarer Republik.136 Der bereits erwähnte Eschmann aus dem Tat-Kreis etwa publizierte in etlichen nicht gerade befreundeten Medien, in Christ und Welt ebenso wie in den Frankfurter Heften und im Merkur, und schrieb Texte für verschiedene Rundfunkstationen. Darüber hinaus schlossen Netzwerke jeweils Personen der umliegenden Felder ein. Man versteht das Wirken von Klaus Mehnert, Chefredakteur von Christ und Welt, nicht, wenn man nicht seine außerpublizistischen Verbindungen, die Arbeitsgemeinschaft für Auslandsdeutsche (gegründet 1949), den Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD), die Studienstiftung des deutschen Volkes, später das Auswärtige Amt beachten würde. Schon das Deutschland-Jahrbuch 1949, einer seiner ersten publizistischen Erfolge, wurde über Eugen Gerstenmaiers evangelische Pressestelle vorfinanziert.137 Netzwerke überschreiten und relativieren insofern das medien-intellektuelle Feld.138 133 134 135 136
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Hanjo Kesting, Im Schatten des Untergangs. Zum Tode von Joachim Fest, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 53, 2006, H. 10, S. 59-62, hier S. 60. Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungssuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008, S. 14. Ebd., S. 13. Eine mustergültige Untersuchung, die ein »jungkonservatives« Netzwerk um die Zeitschrift Das Gewissen identifiziert und dabei zwischen einem äußeren und inneren Ring von Autoren unterscheidet, liefert Claudia Kemper, Das »Gewissen« 1919-1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011. Unterlagen in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Nl. Eugen Gerstenmaier, 91/210. Unbrauchbar ist für diese Studie die klassische soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007; demnach bilden ausdrücklich nicht allein Menschen Netzwerke, sondern ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Akteuren; letztere, Maschinen, besitzen, als von Menschen konstruiert, auch menschliche Züge; letztlich geht es um die Dispositive von Technik und Menschen als moderne Fassung der Systemtheorie; wenn in manchen medienwissenschaftlichen Arbeiten Bourdieu und Latour einträchtig zitiert werden, zeugt das von grotesker Unkennt-
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Für diese Studie ist keine systematische und aufwändige Netzwerkanalyse beabsichtigt, dafür wäre das Thema zu weit gesteckt.139 Aber der Anregungsgrad geht über die Aufnahme des Begriffs im metaphorischen Sinne hinaus. Er stellt vielmehr eine deskriptive hilfswissenschaftliche und heuristische Kategorie dar, wobei einige Vorsicht gegenüber ermittelten Netzwerkmustern und ihrer Suggestion von Repräsentativität angebracht ist. Netzwerkanalysen ersetzen nicht die qualitative Untersuchung, können dieser aber explorativ vorausgehen.140 Sie vermögen für die Stärke oft nur lockerer Verbindungen zu sensibilisieren, die als »semipermanent«, als »von mittlerer Dauer« und durch Vertrauen aufgrund von positiven Erfahrungen aus der Vergangenheit bestimmt werden können,141 also für den Prozess der Verdichtung intellektueller Strömungen zu Mikromilieus. Aber selbst statistische Erhebungen wären ohne Wert, wenn nicht bereits als Basis ein großes biographisches Wissen vorausgesetzt werden könnte. Hinzu kommt, dass das Wirken wichtiger Medien-Intellektueller ohne ihre Verbindungen zu Nichtautoren im medien-intellektuellen Feld, zu dem Verleger, Herausgeber, Lektoren, Redakteure und andere zählten, und außerhalb der Publizistik gar nicht erklärbar wäre – weder bei Walter Dirks, einem der beiden linkskatholischen Herausgeber der Frankfurter Hefte, mit blendenden Verbindungen zur katholischen Jugendbewegung und dem Laienkatholizismus insgesamt, oder bei Klaus Mehnert, dem Chefredakteur der protestantischen Wochenzeitung Christ und Welt, mit engen Kontakten zum nationalkonservativen Flügel der CDU um Eugen Gerstenmaier, aber auch zu diversen Diplomaten und zahlreichen staatlichen Stellen, um nur diese beiden Beispiele zu nennen. Auf die Konstruktion von nis der völlig unvereinbaren Ansätze; vgl. aus der umfangreichen Literatur Michael Schenk, Die ego-zentrierten Netzwerke von Meinungsbildnern (»Opinion Leaders«), in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 45, 1993, S. 254-269; Johannes Weyer (Hrsg.), Soziale Netzwerke. Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien 2000; Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; Christoph Boyer, Netzwerke und Geschichte. Netzwerktheorien und Geschichtswissenschaften, in: Berthold Unfried u. a. (Hrsg. im Auftrag der International Conference of Labour and Social History), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008, S. 47-58; Wolfgang Neurath/Lothar Krempel, Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse. Potenziale und Beispiele, in: ebd., S. 59-79; Morten Reitmayer/Christian Marx, Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in: Christian Stegbauer/Roger Häußling (Hrsg.), Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, S. 869-880; Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 23, 2012, S. 16-41. 139 Es gibt bisher nur wenige gelungene Beispiele von Studien für die jüngere Zeitgeschichte der Ideen, die überzeugend mit dem Instrumentarium des Ansatzes sozialer Netzwerke arbeiten; vgl. vor allem Blaschke, Verleger. 140 Lemercier, Formale Methoden, S. 20, spricht von einer »Art Facebook-Sicht der sozialen Wirklichkeit«. 141 Boyer, Netzwerke, S. 50.
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Netzwerken, letztlich ein guter Teil ihres sozialen Kapitals, waren die Medien-Intellektuellen existenziell angewiesen. Dies erklärt die vielfältigen Bemühungen, informellen Zusammenschlüssen wie der Gruppe 47 oder offiziellen Vereinigungen wie dem PEN-Zentrum oder dem Schriftstellerverband anzugehören.142 Das Renommee der Medien-Intellektuellen war und ist in erster Linie Resultat kollegialer und medialer Zuschreibung. Alfred Grosser hat in seinen Memoiren ein Instrument beschrieben: »Meine Unterstützung für die besonders Engagierten beschränkt sich oft auf das Schreiben von Vorworten zu ihren Büchern oder auf Beiträge zur Wertung ihrer Tätigkeit.«143 Über ein weites Netz von gegenseitiger respektvoller Zitation und Rezension – in den ersten Jahren der Bundesrepublik virtuos etwa im Dreieck von Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky gehandhabt –, Einladungen zu Vorträgen und Beiträgen in Printmedien bis zur Nobilitierung durch eine Vielzahl von Preisen für Intellektuelle reicht das Spektrum der symbolischen und materiellen Gratifikationen in den Netzwerken, die wiederum miteinander konkurrieren. Es gab mehr oder weniger deutliche Hierarchien im medien-intellektuellen Feld, die auf dem unterschiedlich verteilten kulturellen Kapital basierten, etwa hinsichtlich der performativen Kompetenzen in sprachlicher Ausdruckskraft und mediengerechtem Agieren.144 Dabei konfligierten mitunter die Potentiale des kulturellen und sozialen Kapitals. Man gewinnt einen Eindruck davon bei der Lektüre von Briefen gleichgesinnter Intellektueller über Dritte aus dem eigenen »Lager«, in denen intellektuelle Schwächen häufig gnadenlos benannt, aber gleichwohl in der Öffentlichkeit die Solidarität aufrechterhalten wird. Diese Diskrepanz von öffentlichem Agieren und dem »second stream« einer »Paraöffentlichkeit« (Alexander Gallus) eröffnet dem Historiker wichtige Erkenntnisse. Sigmund Freud charakterisierte in diesem Zusammenhang treffend die Arbeitsweise von Michelangelo: »Ich glaube, sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ›refuse‹ – der Behauptung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.«145
142 Vgl. auch so unterschiedliche Phänomene wie die zu Carl Schmitt pilgernden Akademiker (nicht nur) aus Münster oder Bielefeld, die Treffen katholischer Intellektueller auf den Tagungen der Abendländischen Akademie oder Zusammenhänge jugendbewegter Männer in der Nachfolge des George-Kreises: Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993; Schildt, Zwischen Abendland und Amerika; Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 22010. 143 Grosser, Freude, S. 139. 144 Ebd., S. 15-18; vgl. Reitmayer, Elite, S. 92 ff.; diesen Rahmenbedingungen unterlagen »generalistische und spezifische Intellektuelle« gleichermaßen; auch deshalb sollte die Differenz nicht überschätzt werden; vgl. Bluhm/Reese-Schäfer, Die Intellektuellen, S. 12 ff. 145 Zit. nach Horst Bredekamp, Michelangelo. Fünf Essays, Berlin 2009, S. 73.
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Welchen Marktwert einzelne Intellektuelle in den Medien hatten, lässt sich, einem empirischen Eindruck folgend, zunächst daraus erschließen, ob sie sich den Redakteuren und Redaktionen immer wieder selbst andienen mussten oder ob bzw. von welchen Medien sie auch für Themen angefragt wurden, für die sie (heute übliche Praxis) nicht die geringste Expertise hatten, und in welchem Ausmaß ihnen dabei geschmeichelt wurde, um sie zu gewinnen. Nicht zuletzt war die Höhe des angebotenen Honorars wichtig. Ein renommierter Intellektueller, dessen Name quasi zum Markenartikel geworden war, konnte selbstverständlich schwerer ersetzt werden als einer von vielen Newcomern. Die Preisgestaltung des intellektuellen Produkts vollzieht sich als Aushandlungsprozess zwischen dem Autor und dem Redakteur oder Verleger. Daraus resultierten nicht nur gewachsene Geschäftsbeziehungen und sogar vertrauensvolle Freundschaften, sondern auch schwere Verstimmungen und Zerwürfnisse. Die Geschichte der Medien-Intellektuellen ließe sich geradezu als eine Geschichte des Bruchs mit jeweiligen Medien schreiben. Pointiert: Ein Intellektueller zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass er mindestens einmal mit einem Verlag oder einer Redaktion gebrochen oder sich zumindest zeitweise zerstritten hat. Wirtschaftliche und politische Hintermänner der intellektuellen Medien waren für die allgemeine Öffentlichkeit normalerweise kaum sichtbar und tauchten meist nur im Moment existenzieller Krisen auf, wie etwa bei der Zeitschrift Merkur 1950 und 1962. Ansonsten waren es bei Zeitungen und Zeitschriften vor allem die Chefredakteure, die als gate keeper für intellektuelle Angebote fungierten,146 während bei den Buchverlagen neben den Verlegern selbst die Profession der Lektoren, die ihre Ausbreitung erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte,147 immer wichtiger wurde. Frank Benseler bei Luchterhand, Ernst von Salomon, Peter Rühmkorf und Fritz J. Raddatz bei Rowohlt, Martin Gregor-Dellin bei der Nymphenburger Verlagsanstalt, Klaus-Peter Kaltenbrunner bei Herder oder Hans Schwab-Felisch, Karl Markus Michel und Walter Boehlich bei Suhrkamp, sie alle hatten sehr großen Einfluss auf die Programme intellektueller Literatur. Vor allem der Suhrkamp-Verlag verstand es zudem, sich der Beratung wichtiger Intellektueller zu versichern, von Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger bis Niklas Luhmann. 146 Vgl. zu den Chefredakteuren immer noch den zentralen Sammelband von Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Chefredakteure. Publizisten oder Administratoren?, Düsseldorf 1980; zu Machtverhältnissen im Journalismus vgl. Irene Neverla/Wiebke Schoon, Die Macht im Journalismus. Überlegungen zum Verhältnis von Struktur- und Handlungsdimensionen im journalistischen Feld, in: Duchkowitsch u. a., Journalistische Persönlichkeit, S. 116-144; die Schwäche der intellektuellen Autoren in diesem Feld betont Lee Salter, Mediated Intellectuals. Negotiating Social Relations in Media, in: David Bates (Hrsg.), Marxism, Intellectuals and Politics, Basingstoke 2007, S. 205-220; vgl. auch Hauke Brunkhorst, Die Macht der Intellektuellen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40, 2010, S. 32-37. 147 Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Göttingen 2005, S. 165 ff., 170 ff.
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Einen Sonderfall bildete das Radio. Dieses Medium, das in den 1950er Jahren den Gipfel seiner Aufmerksamkeit erreichte, bot vielen Intellektuellen die Möglichkeit der Existenzsicherung durch gute Honorare. Allerdings war man angewiesen auf nur wenige Rundfunkredakteure bei maximal neun öffentlich-rechtlichen Stationen. Wer den dortigen Chefs vor allem der intellektuellen Nachtprogramme nicht genehm war, bekam keine Angebote. Immerhin gab es in den Rundfunkanstalten in der Regel mehrere Abteilungen, die als Abnehmer für medien-intellektuelle Produkte in Frage kamen. Beim Bayerischen Rundfunk z. B. gab es in den 1950er Jahren neun Hauptabteilungen, darunter drei, die intellektuelle Produkte aufnahmen: Politik und Zeitgeschehen, Kultur und Erziehung sowie Hörspiel.148 Die Suche nach den Ursprüngen von Netzwerken führt zu Konzepten der Generation und »Generationalität«. Über klassische Bestimmungen der Generationenerfahrung wie etwa der von Karl Mannheim hinausgehend, wird heute neben der wichtigen Rolle eines Zugehörigkeitsgefühls in einer Erzählgemeinschaft aufgrund kollektiver Erfahrungen auch die mediale Konstruktion und Formung von Generationen betont.149 Der Umstand, dass jeweils nur ein kleiner Teil einer Alterskohorte, vor allem bildungsbürgerlich und männlich bestimmt, sich überhaupt als generationell geprägt versteht, mag in allgemeiner sozialhistorischer Perspektive als Argument gegen den Generationenansatz verwandt werden – für die Geschichte der Intellektuellen gilt der Einwand nicht, denn sie stellten eben jene bewusste Minderheit dar.150 Für die Intellektuellen der Bonner Republik aus der Jahrhundertwende-Generation ist häufig die Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit prägend gewesen, für die noch älteren »Wilhelminer«, geboren im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die in der intellektuellen Publizistik der 1950er Jahre eine Rolle spielten, sogar noch der Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg. Im Freideutschen Kreis, in zahlreichen Städten nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, suchten die meisten, in der Regel männlichen Jugendbewegten nun das Gespräch. Professoren wie der Ökonom Alexander Rüstow, der Soziologe Helmut Schelsky, der Geisteswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps und viele andere vermittelten dort Erkenntnisse 148 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BHStA) München, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 261. 149 Für Konzepte und Diskussion von Generation und Generationalität vgl. Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Bernd Weisbrod (Hrsg.), Historische Beiträge zur Generationsforschung, Göttingen 2009; Beate Fietze, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009. 150 Für den Generationenansatz in der zeithistorischen Presseforschung vgl. Hodenberg, Konsens, S. 229-292; vgl. auch den Sammelband von Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifung 1955-1975; Stuttgart 2010; eine überzogene Ablehnung des Relevanzanspruchs generationeller Faktoren vom Standpunkt des Ideenhistorikers bei Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Opladen u. a. 2011, S. 27 ff.
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aus ihren Fachgebieten.151 Der Einfluss solcher Gesellung ist natürlich nicht messbar, zudem wurde nicht mehr um die Vereinheitlichung inhaltlicher Positionen gerungen. Vielmehr ging es um die Tradierung eines Habitus vor dem intellektuellen Hintergrund einer idealisierten Jugendbewegung,152 verbunden mit der Auffrischung bewährter Kontakte. Bei der Betrachtung von intellektuellen Netzwerken ist die »besondere Bedeutung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Intellektuellen einer Alterskohorte«153 und damit schon die Jugend und Kindheit als Begegnungsraum hervorzuheben. Am Beispiel des erwähnten Klaus Mehnert: Seine hervorragenden Beziehungen zu Eugen Gerstenmaier beruhten auf der Bekanntschaft bereits während der gemeinsamen Schulzeit am Eberhard-Karls-Gymnasium in Stuttgart. In diesem Zusammenhang ist auf die hohe Bedeutung elitärer Internate wie etwa Salem, Odenwaldschule oder Birklehof hinzuweisen, über deren Rolle als Stifter von Netzwerken wir wenig wissen. Wenn heute nach den genannten älteren Generationen meist die um 1930 Geborenen (als HJ-, Flakhelfer-, skeptische oder 45er-Generation154) und die um 1940 Geborenen (als 68er-Generation) als dominante Erlebnis- und Erzählgemeinschaften fungieren, ist darauf hinzuweisen, dass es sich hier nur um den gegenwärtigen Diskussionsstand handelt. Die intellektuellen Zeitgenossen haben permanent Generationen konstruiert und verabschiedet. So wurde Mitte der 1950er Jahre, nach dem Tod von Thomas Mann, Gottfried Benn, Ernst Robert Curtius in Deutschland, von Ortega y Gasset in Spanien und von André Gide sowie Paul Claudel in Frankreich der »Verlust der großen alten Männer« betrauert.155 Die damals etwa 30-Jährigen (um den Jahrgang 1925) herum bezeichnete der Schriftsteller Dieter Lattmann ein Jahrzehnt später als »gelenkige Generation«;156 unter diese Bezeichnung fallen auch die älteren Schüler der konservativen Freiburger Politologen151
Ann-Katrin Thomm, Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik, Schwalbach i. Ts. 2010, S. 79, 160; s. Kapitel I.1. 152 Winfried Mogge, Jugendrevolution als Geschichtsmythos. Friedrich Heer und die Jugendbewegungen, in: Richard Faber (Hrsg.), Offener Humanismus zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Über den Universalhistoriker, politischen Publizisten und religiösen Essayisten Friedrich Heer, Würzburg 2005, S. 211-230. 153 Beilecke, Konzeptionelle Überlegungen, S. 57. 154 Die von dem Literaturkritiker Joachim Kaiser geprägte Bezeichnung hebt auf die Öffnung des Horizonts zur Welt für die Jugendlichen 1945 ab; Joachim Kaiser, Ich bin ein Alt-45er. Eine Erinnerung an die bewegten und bewegenden Jahre, die dem Krieg folgten – unter besonderer Berücksichtigung des Jahres 1968, in: Süddeutsche Zeitung, 15.3.2008; kritisch zur Tendenz der Heldengeschichte dieser Generation Nina Verheyen, Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des »besseren Arguments« in Westdeutschland, Göttingen 2010, S. 239-243. Verheyen hebt vor allem darauf ab, dass die »Diskursivierung« der Bundesrepublik nicht das Verdienst dieser Generation war, sondern dass sie das Glück hatte, von den Alliierten als Träger ihrer Re-orientation-Maßnahmen ausgewählt worden zu sein. 155 Adolf Frisé, Der Verlust der großen alten Männer, in: HR, 5.8.1956, dok. in: ders., Spiegelungen. Berichte, Kommentare, Texte 1933-1998, Bern 2000, S. 151-156. 156 Dieter Lattmann, Zwischenrufe und andere Texte, München 1967, S. 170 ff.
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schule von Arnold Bergstraesser;157 einige der späteren Theoretiker der radikalen Linken wiederum bewegten sich als Jugendliche in den 1950er Jahren noch in bündischen, aus den 1920er Jahren tradierten Zusammenhängen.158 Ein immer wieder bemühtes Narrativ hebt auf die Auseinandersetzung zwischen jenen Alterskohorten ab, die noch die politische Kultur der Weimarer Republik als Erwachsene durchlebt hatten, jenen, die im »Dritten Reich« sozialisiert, und jenen, die in der Nachkriegszeit groß geworden waren. Vor allem die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wurde darauf bezogen.159 Jürgen Habermas nannte als wichtigsten generationellen Unterschied, ob sich Intellektuelle angesichts einer »totalitären Versuchung« zu verhalten hatten oder nicht.160 Dirk Moses spricht in seiner Studie über die intellektuellen »Forty-Fivers«, bei ihm die Jahrgänge von der Mitte bis zum Ende der 1920er Jahre umfassend, von der »Generation between Fascism and Democracy«.161 Die Dynamik wird in dieser Perspektive letztlich dadurch generiert, dass sich das Bild der westdeutschen Gesellschaft in starkem Maße auch aus vorher gemachten und generationell unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen zusammensetzte. Dies lässt die Hintergründe und Legitimationsmuster von Auseinandersetzungen oft deutlicher erkennen, stellt aber nicht den einzigen Erklärungsfaktor für die Konkurrenz medien-intellektueller Netzwerke dar. Eindeutig ist allerdings das kaum durch einzelne weibliche Intellektuelle irritierte Bild eines männlichen und männerbündlerischen Phänomens. Karin Hausen hat zwar kritisiert, dass Frauen in der Intellektuellengeschichte schlicht übersehen würden: »Die Annahme, auch Frauen könnten Intellektuelle gewesen sein, erlangte in der als wissenschaftliche Innovation etablierten Intellektuellengeschichte nicht einmal den Rang einer forschungsrelevanten Prämisse.«162 Das stimmt, wenn ein 157 Horst Schmitt, Die Freiburger Schule 1954-1970. Politikwissenschaft in »Sorge um den neuen deutschen Staat«, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 213-243, hier S. 223; zu den Schülern Bergstraessers zählten Hans Maier, Dieter Oberndörfer, Kurt Sontheimer und Hans-Peter Schwarz. 158 Claus-Dieter Krohn, Sozialisationsbedingungen Jugendbewegter in den 1960er Jahren, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, NF Bd. 4, 2007, S. 31-50. 159 Friedrich H. Tenbruck, Der Anfang vom Ende, in: Otthein Rammstedt/Gert Schmidt (Hrsg.), BRD ade! Vierzig Jahre in Rück-Ansichten von Sozial- und Kulturwissenschaftlern, Frankfurt a. M. 1992, S. 41-61. 160 Jürgen Habermas, Jahrgang 1929. Eine Oxforder Rede zum 80. Geburtstag von Ralf Dahrendorf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.2009. 161 A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007, S. 55; vgl. Wilhelm Hennis’ (Jg. 1923) Skizze des Schicksalsweges seiner »akademischen Generation« (Wilhelm Hennis, Politikwissenschaft als Beruf. Erzählte Erfahrung eines 75jährigen, in: Freiburger Universitätsblätter, Jg. 37, 1998, S. 25-48). 162 Karin Hausen, Eine eigentümliche Gewissheit … dass Intellektuelle im 20. Jahrhundert ausnahmslos unter Menschen männlichen Geschlechts zu finden seien, in: Gesa Dane/ Barbara Hahn (Hrsg.), Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhun-
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weiter Intellektuellenbegriff zugrunde gelegt wird. Soweit es sich aber um das hier betrachtete medien-intellektuelle Feld der Bundesrepublik handelt, also nicht um eine weite Definition, die den Bereich der Wissenschaften und der Künste ohne Einschränkungen einschließt, spricht die Empirie eine deutliche Sprache. Weder finden sich weibliche Intellektuelle in nennenswerter Zahl in den Rundfunkredaktionen, noch an den Schaltstellen der Printmedien, der Tagespresse, der Wochenzeitungen – mit Ausnahme von Marion Gräfin Dönhoff in der Zeit –, noch unter den Machern der politisch-kulturellen Zeitschriften. Die Zahl der Mitglieder im westdeutschen PEN-Zentrum stieg von 43 (1951) auf 407 (1989). Davon waren Anfang der 1950er Jahre drei und am Ende der alten Bundesrepublik 68 weiblich; mithin hatte sich der Anteil weiblicher Mitglieder von ca. 7 auf ca. 16 Prozent zwar mehr als verdoppelt, war aber immer noch sehr gering; zudem vollzog sich dieser Anstieg vor allem in der letzten Phase der alten Bundesrepublik. 1970 betrug der Anteil noch weniger als zehn Prozent.163 Unter den weiblichen Mitgliedern dominierten wiederum zu allen Zeitpunkten Schriftstellerinnen, die sich, abgesehen von ihrem literarischen Œuvre selbst, kaum öffentlich äußerten. Das Beispiel des PEN-Zentrums ist insofern treffend, als diese Vereinigung inhaltlich zwar einflusslos, die Mitgliedschaft aber mit hohem Prestige verbunden war. Dort wurden symbolische Kämpfe ausgetragen und vornehmlich männliche Netzwerke geknüpft, die für die berufliche Praxis sehr nützlich sein konnten. Die Zahl prominenter intellektueller Frauen mit einem breiteren Themenspektrum, genannt werden besonders häufig Hannah Arendt,164 Margret Boveri und Marion Dönhoff, war jedenfalls sehr klein und vergrößerte sich bis in die 1970er Jahre hinein kaum.165 Man wird der geschlechtergeschichtlichen Dimension der dert. Über Ricarda Huch, Göttingen 2012, S. 179-220, Zitat: S. 180; mit Bezug auf die Intellektuellen der 68er-Bewegung Regina Maria Dackweiler, Feministische Intellektuelle. Kollektive Gesellschaftskritik der 1960er Jahre, in: Kroll/Reitz, Intellektuelle, S. 87100; Spekulationen über die antifeministische Aufklärung und Moderne bei Barbara Vinken, Die Intellektuelle: gestern, heute, morgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40, 2010, S. 13-25. 163 Sven Hanuschek, Geschichte des bundesdeutschen PEN-Zentrums von 1951-1990, Tübingen 2004, S. 570. 164 Dass jüdische intellektuelle Frauen häufig außerhalb von Deutschland blieben (HannahVillette Dalby, German-Jewish Female Intellectuals and the Recovery of German-Jewish Heritage in the 1940s and 1950s, in: Leo Baeck Institute Yearbook, Bd. 52, 2007, S. 111-132), gilt auch für viele männliche jüdische Intellektuelle; vgl. Irmela von der Lühe/ClausDieter Krohn (Hrsg.), Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945, Göttingen 2005. 165 In einem – nicht wissenschaftlichen – Buch werden etwa genannt: Hannah Arendt (1906-1975), Hilde Domin (1909-2006), Lore Lorentz (1920-1994), Hildegard HammBrücher (*1921), Dorothee Sölle (1920-2003), Ulrike Meinhof (1934-1976), Rita Süßmuth (*1937), Christiane Nüsslein-Vollhard (*1942), Alice Schwarzer (*1942), Gesine Schwan (*1943), Petra Kelly (1947-1992), Angela Merkel (*1954) (Irma Hildebrandt, Frauen setzen Akzente. Prägende Gestalten der Bundesrepublik, München 2009); als Mitglied des medien-intellektuellen Feldes können davon nur wenige gelten; keineswegs als Buch einer
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Medien-Intellektuellen insofern nur gerecht, wenn man sich deren männlichen und männerbündlerischen Charakters bei der Auswertung der Quellen bewusst ist, wo etwa »die Frau an seiner Seite« vorkommt, die in Briefen lieb gegrüßt wird, deren Beratung in konzeptionellen Fragen Erwähnung findet und die bei Krankheit des Mannes dessen Korrespondenz übernimmt wie etwa die Frau von Walter Dirks, Marianne. Auch über die starken weiblichen Persönlichkeiten im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Gretel Adorno, Monika Plessner, Helge Pross oder Elisabeth Lenk, ist schon berichtet worden.166 Kommunikative Netzwerke von – vornehmlich – männlichen Intellektuellen in den Medien kristallisierten sich zwar häufig um bestimmte Zeitungen, Zeitschriften oder Rundfunkredaktionen, hier wäre statt von einem Feld vielleicht eher von einem Magnetfeld mit seinen Strahlungen, Anziehungs- und Abstoßungskräften zu sprechen. Ohnehin sollten Historiker so viel Phantasie besitzen, den Feldbegriff als metaphorischen zu verstehen und zuweilen auch andere Möglichkeiten zu nutzen. So bieten die früher vorherrschenden Landschafts- und Gartenbilder, die wegen ihrer organologischen Analogien von kritischen Historikern lange gemieden wurden, interessante Ausdrucksmöglichkeiten, vom Biotop mit seinen parasitären Existenzen, meteorologischen und anderen »natürlichen« Bedingungen und dem »Gärtner« (Zygmunt Bauman) als Akteur. Die meisten Medien-Intellektuellen, zumal jene, die ihr Brot dort eben nicht wie manche Professoren oder Künstler im »Nebenerwerb« verdienten, konnten es sich – im Wortsinn – nicht leisten, nur für ein Medium zu produzieren. Die Rede vom Intellektuellen im »Nebenerwerb«, die von Jürgen Habermas stammt, wurde formuliert aus der besonderen Perspektive des Wissenschaftlers, der postuliert, sich im intellektuellen Feld nicht mit dem Wahrheitsanspruch des Experten zu bewegen, die Wissenschaftlichkeit nicht zu verraten und sich nicht von der Politik vereinnahmen zu lassen.167 Für das medien-intellektuelle Feld in seiner Gesamtheit, auf dem – wie in der Landwirtschaft und anderswo – hauptberuflich Tätige und
Intellektuellen über eine Intellektuelle ist die peinliche Propagandaschrift von Alice Schwarzer, Ein widerständiges Leben, Köln 182002 zu verstehen; dagegen der langjährige Kollege Theo Sommer, den Dönhoff für die Zeit rekrutiert hatte: »Ich weiß gar nicht, ob sie eine Intellektuelle war; ihre Stärke waren fünf Schreibmaschinenseiten, 150 Zeilen.« (»Sie hat uns gewähren lassen«. Gespräch mit Theo Sommer, in: Dieter Buhl [Hrsg.], Marion Gräfin Dönhoff. Wie Freunde und Weggefährten sie erlebten, Hamburg 2006, S. 110-138, Zitat S. 123). 166 Regina Becker-Schmidt, Nicht zu vergessen – Frauen am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Gretel Adorno, Monika Plessner und Helge Pross, in: Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt – eine Rückkehr nach Deutschland, Göttingen 2009, S. 64-69; Theodor W. Adorno – Elisabeth Lenk. Briefwechsel 1962-1969. Hrsg. von Elisabeth Lenk, München 2001. 167 Interessant ist, dass diese Rollendifferenzierung und -distanz bei Habermas in den 1960er Jahren so noch nicht anzutreffen war; vgl. mit allen Nachweisen Biebricher, Intellektueller, S. 222 f., 227, 229.
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Nebenerwerbskräfte, die auch nicht alle aus der Wissenschaft kamen,168 nebeneinander arbeiteten, bliebe diese Definition defizitär. Zu fragen ist schließlich nach dem Ort der Intellektuellen. In einer weitgehend medialisierten Gesellschaft wie der Bundesrepublik lassen sich publizistische Präsenz wie Reichweite medien-intellektueller Netzwerke nicht auf einen geographischen Ort begrenzen. Politisch-kulturelle Zeitschriften und das Feuilleton von Tages- und Wochenzeitungen waren überregional ausgerichtet. Aber dennoch sind lokale Kristallisationspunkte für Medien-Intellektuelle zu erkennen. Höchste Attraktivität besaß eine Großstadt, die bestimmte Voraussetzungen aufwies: als Sitz einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkstation – in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten für viele Intellektuelle eine Voraussetzung ihrer materiellen Existenzsicherung –, als Verlagsort, als Ort für Vorträge, Diskussionsforen und unterschiedliche kulturelle Aktivitäten, etwa Buchmessen oder die Verleihung von Kulturpreisen. Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München, Stuttgart und West-Berlin waren Städte, für die diese Voraussetzungen galten, Städte, die zudem in der Regel eine – bis auf München – relativ junge Hochschule besaßen.169 Dies mag als Aspekt der – überschätzten – »Eigenlogik« von Städten gelten, verbindet jedenfalls die Medien- und Intellektuellengeschichte mit der stadthistorischen und stadtsoziologischen Forschung.170 Es wird davon ausgegangen, dass die föderale Ordnung – die sich auch im System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wiederfindet – zur Herausbildung medien-intellektueller Zentren mit regionaler Ausstrahlung und zu politisch-kulturell unterschiedlich geprägten Szenen geführt hat, was in der Literatur bisweilen angedeutet wird.171 Dies markiert eine wichtige Dif168 Reitmayer, Elite, S. 71, unterscheidet etwa Schriftsteller-Intellektuelle, WissenschaftlerIntellektuelle und Experten eines eng abgegrenzten Fachwissens. 169 Zur Auswahl dieser Zentren für Medien-Intellektuelle vgl. Axel Schildt, Großstadt und Massenmedien. Hamburg von den 1950er bis zu den 1980er Jahren, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Stadt und Medien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u. a. 2012, S. 249-263; s. Kapitel I.1.2. 170 Vgl. zum Verhältnis von Mediengeschichte und Stadtgeschichte Führer u. a., Öffentlichkeit, S. 18-27; Adelheid von Saldern, Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 2006; vgl. zur soziologischen Diskussion Walter Prigge (Hrsg.), Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992; Martina Löw/Helmuth Berking (Hrsg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege zur Stadtforschung, Frankfurt a. M./New York 2008; vgl. einschlägige Artikel in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, etwa Heft 2/2008 (Städtische Kulturförderung, hrsg. von Clemens Zimmermann). 171 Intellektuelle städtische Milieus werden mitunter erwähnt in Lokalstudien mit ansonsten sehr unterschiedlichen Schwerpunkten; vgl. etwa Marita Krauss, Nachkriegskultur in München. Münchner städtische Kulturpolitik, München 1985; Rainer Erd (Hrsg.), Kulturstadt Frankfurt, Frankfurt a. M. 1990; Martin Woestmeyer, Hamburg und Berlin. Kulturpolitik im Vergleich, Münster 2000; Dieter Breuer/Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.), Die Öffentlichkeit in der Moderne – die Moderne in der Öffentlichkeit, Essen 2000; Karl Christian Führer, Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten 1930-1960, Hamburg 2008.
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ferenz zur deutschen Medienkultur vor 1945, als Berlin eindeutig der zentrale Ort für intellektuelle Debatten war. Der westliche Teil der Stadt, formal nicht zur Bundesrepublik gehörig, aber mit dieser praktisch eng verbunden, als Teil der ehemaligen Kulturmetropole des Deutschen Reiches, fungierte nun als Sonderfall, auch wegen der Verbindungen zu Ostdeutschland und insgesamt als zentraler Schauplatz des auch auf dem Feld der Medienkultur geführten Kalten Krieges.172 Der Konzentration sehr vieler Intellektueller, vor allem jener, die sich um die Herstellung von Kontakten zu den Medien noch sehr bemühen mussten, in den genannten Städten standen oftmals arrivierte und nachgefragte Kollegen gegenüber, die sich entweder auf dem Lande niedergelassen hatten und sich auf ihre kommunikativen Netze – Brief, Telefon, gelegentliche Besuche – verließen oder gar die Bundesrepublik verlassen konnten, ohne Kontakte einzubüßen. Besonders viele Intellektuelle, von Alfred Andersch und Golo Mann bis zu Max Horkheimer, zog es ins Tessin. Um 1960 war es geradezu modisch, über das Leben in der provinziellen Bundesrepublik zu spotten. Jedenfalls ist Vorsicht geboten vor einer zu raschen Festlegung eines hegemonialen Ortes für das intellektuelle Geschehen. Das PEN-Zentrum erhob den Anspruch, ein moralisch besonderer Ort zu sein, und die Gruppe 47 leistete mit ihren Tagungen, die meist in ländlicher Idylle, später bisweilen im Ausland stattfanden, sogar programmatisch Verzicht auf ein lokales intellektuelles Zentrum. Der Raum der Intellektuellen als mental map von Zentren und Peripherien, die durch hegemoniale und gegenhegemoniale Gruppen von Intellektuellen gekennzeichnet waren, unterlag einem stetigen historischen Wandel.
3. Quellen Die empirische Grundlage dieses Buches bildet die Kombination verschiedener Quellen. An erster Stelle stehen Archivbestände, darin vor allem Nach- und Vorlässe von Medien-Intellektuellen mit zum Teil enorm umfangreicher Korrespondenz. Deren informativste werden vor allem in vier Archiven aufbewahrt: von Rüdiger Altmann und Walter Dirks im Archiv der sozialen Demokratie (Bonn), von Joseph Drexel, Thilo Koch, Ernst Niekisch und Rudolf Pechel im Bundesarchiv (Koblenz), von Alfred Andersch, Armin Mohler und Friedrich Sieburg im Deutschen Literaturarchiv (Marbach) und von Carl Améry sowie Erich Kuby in der Monacensia (München). Wichtige Nachlässe in anderen Archiven oder privater Aufbewahrung stammen u. a. von Theodor W. Adorno (als Depositum im Archiv der Akademie der Künste, Berlin), Gerd Bucerius (Archiv der Zeit-Stiftung, Hamburg), Axel Eggebrecht (in der Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg), Klaus Mehnert (Hauptstaatsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart), Ernst MüllerMeiningen (Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München), Otto B. Roegele (Bergisch 172 Vgl. zur unmittelbaren Nachkriegssituation Wolfgang Schivelbusch, Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948, München 1995.
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Gladbach), Helmut Schelsky (Universitäts- und Stadtbibliothek, Münster), Rolf Schroers (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Münster), Hans Georg von Studnitz (Unternehmensarchiv Axel Springer AG, Berlin) sowie Gerhard Szczesny (Institut für Zeitgeschichte, München).173 Angesichts der Brüche des 20. Jahrhunderts durch Diktaturen, Kriegszerstörungen, Exil und Flucht haben viele Nachlässe fragmentarischen Charakter, was allerdings für die vorliegende Arbeit, die sich auf die relativ ruhigen Zeiten der Bundesrepublik konzentriert, weniger gravierend ist. Auch sind sehr verschiedene Formen eines Nachlass-Bewusstseins in Rechnung zu stellen, die unterschiedlich konstruierte Zeugnisse bewirken. Noch im Blick auf ihre posthume Bedeutung huldigen viele Medien-Intellektuelle ihrer Neigung zur Selbststilisierung. Der Schriftsteller Peter Rühmkorf beantwortete einmal die an sich selbst gerichtete Frage, für wen er eigentlich schreibe: »Also im Zweifel immer noch für die Handschriftensammlung im Marbacher Literaturarchiv.«174 Von vielen Medien-Intellektuellen wiederum, von denen es zu wünschen wäre, gibt es keinen eigenständigen Nachlass, etwa von den Publizisten Giselher Wirsing, Karl Korn oder Rudolf Walter Leonhardt. Hier erwies sich die Anlage eines großen Samples als vorteilhaft, denn so finden sich viele Briefe an und von diesen Medien-Intellektuellen in etlichen anderen Nachlässen. Schon die zwischen 1910 und 1930 geborenen Zeitgenossen der 1950er und 1960er Jahre beklagten wehmütig das traurige Ende der Briefkultur.175 Tatsächlich liegt das Problem dieser Quelle im beginnenden Telefonzeitalter – 1960 verfügte etwa ein Achtel, 1970 ein Drittel aller privaten Haushalte in der Bundesrepublik über einen Anschluss – nicht allein darin, dass die Zahl überlieferter inhaltlich belangvoller Briefe bei jüngeren Medien-Intellektuellen abnimmt. Zugleich lässt sich die Dichte von Kommunikationsbeziehungen kaum mehr durch die Häufigkeit der gewechselten Briefe bestimmen. Aber nach wie vor sind die Erkenntnisse, die sich aus dieser »Paraöffentlichkeit« gewinnen lassen, unersetzlich. Mit perspektivischem Blick auf das medien-intellektuelle Feld lässt sich ein »second stream« beschreiben, die Erörterung der zu publizierenden oder bereits publizierten Texte, der diese tiefgründiger deuten lässt als die bloße Lektüre. Dafür bleiben Briefe eine zentrale Quelle. Zugleich berichten sie häufig über die Umstände der Produktion, persönliche Krisen, Erfolge, Krankheiten, ermöglichen also alltagsgeschichtliche Zugänge.
173 Der Nachlass von Eugen Kogon im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) war während des Zeitraums meiner Recherchen aus konservatorischen Gründen gesperrt. 174 Zit. nach Hanjo Kesting, In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Für Peter Rühmkorf zum 75. Geburtstag, in: Sinn und Form, Jg. 57, 2005, S. 127-132, Zitat S. 127. 175 Zwei Beispiele aus dem Hessischen Rundfunk (HR): Adolf Frisé, Über das Briefeschreiben, in: HR, 16.12.1956, dok. in ders., Spiegelungen, S. 158-161; Rüdiger Altmann, Die Notwendigkeit, Briefe zu wechseln, in: HR, 11.11.1965, in: AdsD, Nl Altmann, 1/ RAAC000033.
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Auf einer zweiten Ebene eröffnet Korrespondenz den Blick auf die Position von Akteuren im medien-intellektuellen Feld, erkennbar etwa am Spektrum der Briefpartner176 sowie der Intensität von Beziehungen. Bereits die Anrede verrät einiges, der Übergang von »Sehr geehrter« zu »Lieber Herr« und schließlich zum Vornamen und Spitznamen – für Freunde war Böll »Hein«, Rühmkorf »Rühmi« oder »Lüngi«, Andersch »Fred«, Enzensberger »Mang«, Mohler »Arminius«, Adorno »Teddie« und Kracauer »Friedel«. Dies gilt auch für die Grußformel, die sehr viele Differenzierungen aufweisen konnte und in der Regel umso blumiger ausfiel, je älter die Briefpartner waren. Für den hier betrachteten Zeitabschnitt jedenfalls deuteten die Grüße »von Haus zu Haus« eine engere Verbindung an als die nur »Herzlichen Grüße«. Aus Briefen erhält man gewöhnlich über die Position des Schreibenden deutlichere Aussagen als in den publizierten Texten und zudem sehr viele Überlegungen zum strategischen Handeln in den Medien. Dem dient auch das Urteil über das Verhalten von Dritten, das dem Korrespondenzpartner mitgeteilt wird, der wiederum häufig gelobt und mit Schmeicheleien bedacht wird. Besonders die Briefe von miteinander vertrauten Intellektuellen enthalten eine interessante Mixtur von Mitteilungen über inhaltliche Positionen, persönliche Angelegenheiten und berufliche Probleme. Im Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Karl Jaspers, der mit der Unterbrechung der NS-Zeit von 1926 bis 1969 reichte, bildete »das Geschäftliche« einen roten Faden. In unzähligen Briefen ging es dort vor allem um die Frage des Honorars und das möglichst erfolgreiche Marketing für die eigenen publizistischen Arbeiten.177 Interessant ist die Durchsicht von Korrespondenzen aber auch für die Frage, welche Medien-Intellektuellen nicht miteinander vernetzt waren. Wenig überraschend ist die Beobachtung, dass Redakteure von Christ und Welt kaum Kontakte mit Autoren der linken Zeitschrift Konkret hatten, aber auch zwischen manchen sich zumindest nicht feindlich begegnenden Medien gab es bisweilen kaum kommunikative Fäden. Neben der Korrespondenz und publizierten Texten in verschiedenen Entwurfsstadien enthalten Nachlässe oft weitere wichtige Unterlagen, Manuskripte von Rundfunksendungen,178 Verträge zwischen Autoren und Verlagen und Redaktionen, Anklageschriften und Urteilsbegründungen im Falle von Rechtsstreitigkeiten wegen einzelner Artikel, Todesanzeigen und Nekrologe. Zudem bilden Nachlässe bisweilen einen hervorragenden Ersatz für nicht vorhandene bzw. nicht zugängliche Redaktionsarchive. Über den Nachlass von Gerd Bucerius etwa erschließt sich zu einem großen Teil die interne Kommunikation der Wochenzeitung Die Zeit, 176 Vgl. Christine Fischer-Defoy (Hrsg.), Hannah Arendt – das private Adressbuch 19511975, Leipzig 2007. 177 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969. Hrsg. von Lotte Köhler und Hans Saner, München 31993. 178 Auf Grund der überragenden Bedeutung des Rundfunks in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten wird Manuskripten für dieses Medium, die in den Nachlässen reichhaltig überliefert sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
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über den Nachlass von Klaus Mehnert das Innenleben von Christ und Welt, über den Nachlass von Walter Dirks die Redaktionsarbeit der Frankfurter Hefte und über den Nachlass von Friedrich Sieburg der Dauerkonflikt im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In einigen Fällen wurden Verlags- und Redaktionsarchive konsultiert. Als besonders informativ erwiesen sich das Suhrkamp-Archiv im Deutschen Literaturarchiv sowie die dort befindlichen Bestände des Rowohlt-Archivs sowie des Redaktionsarchivs der politisch-kulturellen Zeitschrift Merkur. Die für intellektuelle Diskurse der 1960er und 1970er Jahre einschlägigen Unterlagen zur Reihe »rororo-aktuell« konnten im Verlagshaus Rowohlt in Reinbek eingesehen werden. Eine wichtige veröffentlichte Quelle waren politisch-kulturelle Zeitschriften, hinsichtlich ihrer Feuilletons markante überregionale Tages- und Wochenzeitungen sowie zeitgenössisch breit diskutierte Buchveröffentlichungen. Besondere Aufmerksamkeit erhalten zeitgenössische Reihen und Sammelwerke, häufig Produkte des Verbunds von Radio und Printmedien, weil sich hier Tendenzen intellektueller Wortergreifungen in besonders konzentrierter Form nachvollziehen lassen. Schließlich hat das wieder erwachte Interesse an der Biographie in der Geschichtswissenschaft179 eine Fülle von neueren biographischen Studien über Intellektuelle hervorgebracht, die als Mosaiksteine dieses Buches dienen konnten. Noch selten sind dagegen Arbeiten über intellektuelle Zusammenschlüsse um Institute, Zeitschriften und Zeitungen herum. Dass sich intellektuelle Wirksamkeit durch Medien herstellt und für die Arbeit von Intellektuellen darin kommunikative Strategien unabdingbar notwendig sind, wird zwar bisweilen betont,180 allerdings nur selten als professioneller Kern aufgefasst. Wo dies auch aufgrund der betrachteten Personen auf der Hand liegt, ergeben sich zwar wertvolle, wenngleich nur fragmentarische Hinweise auf kommunikative Netzwerke.
179 Zur Forschungsdiskussion über biographische Ansätze in der Zeitgeschichte vgl. Christian Klein (Hrsg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002; Simone Lässig/Volker R. Berghahn (Hrsg.), Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography, New York 2008; Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar 2009; zahlreiche einschlägige Beiträge in BIOS, Jg. 1, 1988 ff. 180 Vgl. Jochen Hörisch, Die Universität und das Radio. Zur medialen Präsenz (und Absenz) deutscher Intellektueller im 20. Jahrhundert, in: Moshe Zuckermann (Hrsg.), Medien – Politik – Geschichte (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31), Göttingen 2003, S. 208-230; Gangolf Hübinger, Intellektuelle im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871-1963), Bern 2008, S. 26-39; Thomas Ernst/Dirk von Gehlen, Vom universellen zum vernetzten Intellektuellen. Die Transformation einer politischen Figur im Medienwandel von der Buchkultur zum Internet, in: Müller/Ligensa/Gendolla, Leitmedien, S. 225-246.
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Die ersten, noch raren historiographischen Arbeiten hingegen, die explizit das Wirken von Intellektuellen in den Medien behandeln, beschränken sich meist auf ein einziges Medium, für die Geschichte der frühen Bundesrepublik vorzugsweise auf den Hörfunk.181 Mit solchen Fallstudien, die wichtige konkrete Informationen vermitteln können, wird aber wiederum – in doppelter Hinsicht – nur ein Ausschnitt des Verhältnisses von Medien und Intellektuellen erfasst. Zum einen zeigen vor allem biographische Studien deutlich, dass sich die Praxisfelder nur selten nach Einzelmedien aufteilen lassen, die Produktion für den Hörfunk etwa die notwendige Existenzgrundlage für als wichtiger erachtete Foren darstellen konnte. Zum anderen funktionieren die Medien nicht als einzelne Systeme, sondern bilden ein historisch-spezifisches Ensemble, in dem es zu Verbundstrukturen kommt, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem zwischen einzelnen Printmedien und dem Radio. Dies hatte eine für die Vermittlung intellektueller Produkte und für die materielle Lage der Intellektuellen interessante Doppel- und Mehrfachverwertung und multiplizierende Wirkung182 zur Folge. Vor diesem Hintergrund erhöhte sich auch die Sichtbarkeit von Kulturpreisen, Bestseller-Listen – zum Beispiel im Spiegel seit 1964 – und anderen Instrumenten der Verleihung von intellektuellem Prestige, die der öffentlichen Orientierung im marktförmigen Feld dienten. Die besondere Relevanz der Vermittlung intellektueller Positionen durch Massenmedien, also den Rundfunk oder große Tages- und Wochenzeitungen, als Kriterium für eine potentielle, aber prinzipiell nicht messbare Wirksamkeit heißt nicht, dass andere Orte der Vermittlung nicht wichtig wären, denn intellektuelles Prestige verliehen diese mitunter in weit stärkerem Maße. Ein stark diskutierter Vortrag in einer kirchlichen Akademie oder in einem Amerikahaus oder ein besonders markanter Artikel in einer renommierten politisch-kulturellen Zeitschrift mit gleichwohl geringer Auflage brachten kulturelles Kapital ein und mochten die Aufmerksamkeit des Redakteurs eines intellektuellen Programms im Rundfunk erregen, der daraus das Thema einer Sendung machte, Features, Gespräche mit dem Autor oder Diskussionsrunden organisierte. Aus intellektuellen Rundfunksendungen wiederum sind seit den 1950er Jahren immer wieder Bücher hervorgegangen. Ein Sonderfall sind intellektuelle Großereignisse wie Preisverleihungen, bei denen die prominent besuchten Festveranstaltungen mit Vorträgen der Laudatoren und Geehrten von den elektronischen Massenmedien übertragen und die Vorträge in der Presse abgedruckt wurden. Am Zugang zu den Massenmedien und meritokratischen Institutionen ist auch die historische Veränderung des medien-intellektuellen Feldes abzulesen. Linkssozialistische Stimmen etwa waren in den 1950er Jahren kaum, in den 1960er und 1970er Jahren häufig und dann wieder seltener zu vernehmen. 181
Vgl. etwa Peter Winterhoff-Spurk/Hans-Jürgen Koch, Kulturradio. Perspektiven gehobener Radioprogramme, München 2000. 182 Jakob Tanner, Multiplikationsprozesse in der Moderne – Plädoyer für ein Analysekonzept, in: Historische Anthropologie, Jg. 16, 2008, S. 2-7.
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4. Auf bau der Arbeit und Darstellungsweise Die Darstellung erfolgt in lockerer Chronologie mit jeweiligen systematischen Vertiefungen. Deren Periodisierung ergibt sich aus dem Verhältnis von allgemeinen gesellschaftlichen Phasen und medialen Umbrüchen. Unterschieden werden vier unterschiedlich lange zeitliche Blöcke: zum ersten die Besatzungszeit in den ersten vier Nachkriegsjahren, als in komplizierten Verbindungen von institutionellen Neuerungen und einem hohen Grad personeller Kontinuität das intellektuelle Medienensemble formiert wurde. Da bis zur Gründung der Bundesrepublik die Claims im Rundfunk, im Verlagswesen und Buchhandel, bei Tages- und Wochenzeitungen sowie politisch-kulturellen Zeitschriften für Intellektuelle abgesteckt worden waren, kann eine Geschichte der Medien-Intellektuellen nicht erst mit den Gründerjahren des Weststaates einsetzen. Besondere Aufmerksamkeit gilt zum einen der Intellektuellengeographie, denn mit dem Beginn der Zweistaatlichkeit veränderte sich die lokale Hierarchie der intellektuellen Zentren. Nicht nur Ost-, auch West-Berlin geriet in eine Nische der Aufmerksamkeit. Zum anderen werden die Machtverhältnisse im Rundfunk beleuchtet, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine zentrale Bedeutung für Medien-Intellektuelle erhielt; zum zweiten die 1950er Jahre, in denen sich intellektuelle Netzwerke in den Medien endgültig fanden und etablierten, welche mit teilweise elitärem Selbstverständnis die Agenda intellektueller Diskurse festlegten, die auf eine Orientierung in der neuen gesellschaftlichen Nachkriegsordnung zielten. Dieses ist das zentrale und umfangreichste Kapitel. Der verbreitete Eindruck einer bald erlangten Hegemonie progressiver »Nonkonformisten« hält der näheren Betrachtung nicht stand. Wenn man das Feuilleton der tonangebenden Tages- und Wochenzeitungen, die Buchproduktion führender Verlagshäuser sowie die zahlreichen politisch-kulturellen Zeitschriften einbezieht, wird man eher von einer diskursiven Vorherrschaft konservativer Positionen sprechen müssen. Insgesamt aber handelte es sich um ein stark umkämpftes und variantenreiches Feld intellektueller Medien mit Positionen, die von »links-katholisch« und »nationalrevolutionär« bis zu nationalkonservativprotestantisch und konservativ-katholisch reichten – unter Ausschluss völkisch-nationalsozialistischer und kommunistischer Positionen. Dass letztere Bestimmung sehr weitgehend zur Stigmatisierung sozialdemokratischer und linksunabhängiger Intellektueller funktionalisiert wurde, charakterisiert die Grenzen der Sagbarkeit in den Gründerzeiten der Bundesrepublik; zum dritten eine Phase der tiefgreifenden Transformation mit einer markanten gesellschaftskritischen Politisierung der Intellektuellen, verbunden mit generationellen Wandlungen, einem zunehmenden Pluralismus und einem Umbruch von der Radio- zur Fernsehgesellschaft – die »langen« 1960er Jahre. In dieser Phase erfolgen der Aufschwung linker Medien wie etwa der Zeitschrift Konkret, die erfolgreiche Wandlung zu linksliberalen Positionen bei der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit und beim Spiegel, die Profilierung führender Verlagshäuser, Suhrkamp, 53
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Rowohlt, Luchterhand, mit Angeboten »linker Theorie«, die Gründung neuer intellektueller Medien wie Kursbuch oder Argument; zum vierten die Zeit der 1970er und 1980er Jahre,183 in der sich intellektuelle Beiträge stärker als zuvor globalen Themen (etwa Frieden, Ökologie) zuwandten und die eigene Rolle neu reflektiert wurde. Die Rückabwicklung linker Programme in den Buchverlagen, Versuche konservativer Rekonstruktion und eine weitere Pluralisierung der Diskurse sind in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten; die Bestimmung von Hegemonie fällt schwerer als für die beiden vorhergehenden Zeitabschnitte. Interessant ist der Umstand, dass mit dem Übergang vom Radio- zum Fernsehzeitalter, das Anfang der 1970er Jahre anbricht, eine Diskrepanz zwischen Medien- und Intellektuellengeschichte angezeigt wird. Erstmals vermochten die Intellektuellen eine technische Entwicklung nicht zu ihrem Vorteil zu nutzen. Im Fernsehen regiert nicht das Wort, sondern das Bild. Aus medienlogischen Gründen ist eine ähnliche Präsenz von Intellektuellen wie zuvor im Radio im Fernsehen nicht möglich, in der Regel haben sich intellektuelle Plauderstunden am Kamin in Randbereichen der Sendezeit etabliert. Auf das Radiozeitalter folgte für die Medien-Intellektuellen kein Fernsehzeitalter, sondern eher die Rückwendung zum geschriebenen und gelesenen Text. Ob wir von einer Krise oder gar dem Ende der Intellektuellen mit dem Aufkommen digitaler Kommunikationsmedien und der damit einhergehenden »Entformalisierung der Öffentlichkeit« (Jürgen Habermas) sprechen müssen, wird in diesem Buch nicht beantwortet werden können; wohl aber lässt sich der intellektuelle Krisendiskurs als permanentes Kennzeichen auch für die Zeit der Bonner Republik belegen. Durchgängig soll die Darstellung so angelegt sein, dass die großen Linien mit Fallstudien verdichtet werden, die rund um das Ensemble von Rundfunkstationen, Hochschulen, Zeitungsverlagen und kulturpolitischen Aktivitäten in großen Städten die Differenziertheit medien-intellektueller Parallelwelten konturieren. Geht man von der Wahrnehmung der Akteure aus, wird man nicht fragen, zu welchen – aus heutiger Sicht – wichtigen Ereignissen der Geschichte der Bundesrepublik äußerten sich »die« Intellektuellen? Sondern: Was regte die zeitgenössischen »Tuis« jeweils auf ? Das war nicht identisch. Zudem werden die großen geistigen Auseinandersetzungen oft anhand kleiner Vorkommnisse ausgetragen – denen dadurch aber eine hohe symbolische Bedeutung zukommt. Insofern ist die gängige akademische Abwertung der Anekdote für die Intellectual History völlig unangebracht und zeugt eher vom Hochmut der Nachgeborenen, aus historischem Abstand sich über das erheben zu können, was intellektuelle Zeitgenossen für wichtig hielten, statt die Differenz für selbstverständlich zu halten. Stets soll in der Nachzeichnung von Kontroversen allerdings deutlich werden, welcher Sprecher mit welchem symbolischen Kapital in welchem Medium welche Position bezieht. Dabei wird in die 183 Dieser vierte Abschnitt liegt nicht vor, da Axel Schildt vor der Fertigstellung des Manuskripts verstarb. Die Herausgeber gehen im Nachwort auf die Genese und den Kontext der Publikation ein.
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Betrachtung des Dreiecks von intellektuellen Akteuren – Themen – Medien die Frage nach der Macht einzubeziehen sein. Das medien-intellektuelle Panorama der Bundesrepublik existierte nicht getrennt von deren politischer und Gesellschaftsgeschichte.
5. Anschlussmöglichkeiten und offene Fragen In den letzten Jahren ist unter Zeithistorikern die Frage diskutiert worden, ob eine nationale Geschichtsschreibung überhaupt noch möglich sei oder ob nicht prinzipiell eine transnationale Perspektive zu Grunde gelegt werden müsse.184 Die vorliegende Studie verstehe ich als dichte Beschreibung, die überhaupt nur in einer Fallstudie über einen Kommunikationsraum geleistet werden kann. In vergleichender Perspektive können makrohistorische Gemeinsamkeiten oder aber einzelne charakteristische Züge einer Sache beleuchtet werden. Die Verdienste einer transnationalen Vergleichsgeschichte sind hoch einzuschätzen, aber nicht Gegenstand dieser Studie. Beziehungsgeschichtliche Seiten einer transnationalen Intellectual History werden dagegen durchgängig, vor allem aus der Perspektive des Umgangs mit Ideenimporten, berücksichtigt. Dabei ist zu betonen, dass Vorstellungen einer transnationalen Öffnung erst nach dem Zweiten Weltkrieg völlig verfehlt wären. Nicht der Tatbestand von Ideenimporten ist zu klären, sondern die Frage nach deren historisch spezifischer Prägung und nach den Vermittlungsprozeduren und einflussreichen Akteuren, die darüber bestimmten, welche Importe für den nationalen Diskursrahmen akzeptiert wurden bzw. in welcher Weise sie zu platzieren seien.185 Auch diese Prozesse deuten auf charakteristische Konjunkturen hin, zum Beispiel auf das hohe Gewicht Frankreichs in verschiedenen Phasen. Kaum reflektiert worden ist auch die Frage einer Diskursgemeinschaft im deutschsprachigen Raum, also die Schweiz und Österreich einbeziehend. In der Schweiz sind mit Zeitschriften wie etwa Rencontre auf der linken Seite und Preuves, dem westlich-liberalen Organ des Kongresses für Kulturelle Freiheit, ähnliche Zeitschriften wie in der Bundesrepublik anzutreffen, wobei die starke Präsenz westlich-liberaler Positionen auffällt. Auf der konservativen Seite der Schweizer intellektuellen Szene ist insbesondere das Feuilleton der Zürcher Tat zu nennen. Aber insgesamt ist, nach Häufigkeit von Beiträgen Schweizer Publizisten in westdeutschen Medien, eine eher abneh184 Zum Forschungsstand vgl. Alexander Gallus/Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015 (Ergebnisse einer internationalen Tagung in der Royal Danish Academy of Sciences and Letters in Kopenhagen im Mai 2013); Lutz Raphael, Die Geschichte der Bundesrepublik schreiben als Globalisierungsgeschichte. Oder: die Suche nach deutschen Plätzen in einer zusammenrückenden Welt seit 1949, in: Bajohr u. a., Erzählung, S. 203-218. 185 Axel Schildt (Hrsg.), Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik, Göttingen 2016 (Abschlusstagung des Projekts »Medien – Intellektuelle« im Haus der Fritz-Thyssen-Stiftung in Köln im November 2013).
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mende deutsch-schweizerische Kooperation von Intellektuellen zu konstatieren.186 Hier kam es langfristig eher zu einer jeweiligen nationalen Abschließung. Dies gilt in noch weit stärkerem Maße für Österreich, das bald nach dem Krieg seine eigene nationale Identität immer stärker in den Vordergrund stellte. In der westdeutschen Öffentlichkeit viel diskutierte intellektuelle Beiträge erfolgten im ersten Nachkriegsjahrzehnt vor allem aus dem katholischen Raum, wobei neben dem linkskatholischen Friedrich Heer nahezu ausschließlich konservativ-abendländische Ideologen wie Alois Dempf, Otto von Habsburg oder Hans Sedlmayr zu nennen sind. Für eine Intellectual History wäre es angesichts der völlig anderen Öffentlichkeit ein müßiges Postulat, das uns allerdings in der allgemeinen zeitgeschichtlichen Diskussion begegnet, man könne deutsche Geschichte für die Zeit der Zweistaatlichkeit ausschließlich als wie auch immer asymmetrisch angelegte Vergleichs- und Beziehungsgeschichte konzipieren. Auch hier gilt die Frage, welche Beiträge in den westdeutschen Diskursrahmen integriert werden konnten. Die völlig unterschiedlichen Verhältnisse einer Diktatur mit ihrem eng begrenzten Raum für intellektuelle Debatten und einer von der Parteiführung gelenkten Medienöffentlichkeit, in der Intellektuelle als Sinndeuter keinen Platz hatten, lassen eine systematisch vergleichende Betrachtung nicht zu. Die Befriedigung der Bedürfnisse nach weltanschaulicher Orientierung hatte sich die kommunistische Führung selbst vorbehalten. Allerdings gab es retardierende und irritierende Phänomene, die jeweils dort ausführlicher dargestellt werden, wo sie Einfluss auf die intellektuellen Verhältnisse in der Bundesrepublik gewannen, etwa in einem Exkurs im Vorfeld der Flucht dissidentischer Marxisten vor 1961. Insofern handelt es sich auch um mehr bzw. um eine andere Ebene als die ominöse »Fußnote zur Fußnote«.187 Die Fragen nach dem Umgang mit Ideenimporten könnten Anschlussmöglichkeiten für ähnlich angelegte Untersuchungen zu anderen Ländern bieten, die es allerdings m. W. noch nicht gibt. Auch der deutsche Ideenexport und Re-Import, der zwar für das Themenfeld des Exils und wichtige Aspekte der sogenannten »Westernisierung« (Anselm Doering-Manteuffel) immer wieder untersucht worden ist, 186 Sibylle Birrer u. a. (Hrsg.), Nachfragen und Vordenken, intellektuelles Engagement bei Jean Rudolf von Salis, Golo Mann, Arnold Künzli und Niklaus Meienberg, Zürich 2000, S. 9-33; Undine Ruge, »Libre et engagé«. Der Intellektuelle als Person und Prophet im Denken Denis de Rougemonts, in: Bluhm/Reese-Schäfer, Die Intellektuellen, S. 211-229; Claude Hauser, Intellektuelle, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 6, Basel 2007; das Themenheft »Intellektuelle in der Schweiz im 20. Jahrhundert« der Zeitschrift Traverse vermittelt den Eindruck, dass in der Schweiz eine viel ungebrochenere Tradition der Intellektuellen als gouvernementale Berater vorhanden war: Damien Carron u. a. (Hrsg.), Les intellectuels en Suisse au 20e siècle, Traverse 2010, H. 2; Beatrice Sandberg, Max Frisch, Zeitgenossenschaft und persönliche Verantwortung in der Zeit nach 1945, in: Daniel de Vin (Hrsg.), Max Frisch. Citoyen und Poet, Göttingen 2011, S. 21-32; Carmen Richard, Die Schweiz als Aufgabe. Politische Interventionen von Intellektuellen und das Schweiz-Bild der 1950er Jahre am Beispiel der Streitschrift »achtung. Die Schweiz« (1955), unveröff. Hausarbeit, Universität Hamburg, Historisches Seminar, 2011. 187 Gallus, Vier Möglichkeiten, S. 297; s. auch das Kapitel I.2.
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wäre auszuweiten auf eine Jahrhundertperspektive, deren kulturpolitische Grundlagen mittlerweile von dem deutsch-amerikanischen Literaturwissenschaftler Frank Trommler für die erste Jahrhunderthälfte analysiert worden sind.188 Geschichtswissenschaftlich noch kaum zu deuten ist die jüngste Geschichte der Intellectual History. Der Abschluss 1990 ist denn auch nicht nur mit dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit verbunden, sondern mehr noch mit anderen weitgreifenden Veränderungen. Entscheidend ist ein neuerlicher, noch nicht abgeschlossener und zeitgeschichtlich bisher nicht untersuchter Strukturwandel der Öffentlichkeit. Zum einen existieren für unser Thema noch keine validen Untersuchungen zur Bedeutung digitaler Kommunikation, zu Formen der Vernetzung von Intellektuellen, zur Repräsentativität von Foren, zu den Geldgebern und politischen Einflussträgern im Hintergrund; auch das Verhältnis von herkömmlicher publizistischer und neuer Netzöffentlichkeit wird eher im Modus des vollständigen Übergangs vom einen zum anderen beklagt, aber nicht hinreichend empirisch erfasst. Zum anderen werden die theoretischen Fragen des Verhältnisses von hermeneutischen Ansätzen und des Einsatzes von Big Data zwar intensiv diskutiert, aber es gibt noch keine einzige überzeugende zeithistorische Studie der Anwendung für unser Thema. Die einzige Gewissheit, von der wir ausgehen können, obwohl auch die mancherorts für die »brave new world« bestritten wird, ist das sogar erhöhte Orientierungsbedürfnis des Publikums, das dem Universal-Intellektuellen ebenso wie dem »Experten«, freilich in neuen Formen, seine Zukunft sichern wird. Und das wird dereinst auch die Möglichkeit einer historiographischen Deutung eröffnen.
188 Frank Trommler, Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2014; mittlerweile existieren auch Studien zur Geschichte der Goethe-Institute und ähnlicher Institutionen; vgl. etwa Steffen R. Kathe, Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des Goethe-Instituts von 1951 bis 1990, München 2005.
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I. Die Neuordnung des intellektuellen Medienensembles in der Nachkriegszeit
1. Sich Wiederfinden – die Rückkehr intellektueller Akteure Nicht ohne eine gehörige Portion Selbstironie schrieb Karl Korn, Mitherausgeber und Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Frühjahr 1953 an einen alten Bekannten, den vormaligen Nationalrevolutionär Ernst Niekisch, der, von den Nationalsozialisten verfolgt und inhaftiert, nun SED-Mitglied geworden war und zu diesem Zeitpunkt noch als Professor der Philosophie an der Ost-Berliner Humboldt-Universität lehrte: »So sollen Sie die neueste Privatnachricht aus dem Hause Korn hören: Wir haben seit zwei Wochen einen Schrebergarten. Dort wühle ich die Erde um und pflanze. Wenn’s auch, offen gestanden, meine kulturkritischen Bedürfnisse nicht befriedigt, so verschafft es mir doch gesunde Ausgleiche gegen die reine Schreibtischarbeit.«1 Einige Monate später kam er nochmals darauf zurück: »Ich weiss, lieber Herr Niekisch, wie dieser mein Rückzug in die Laube Sie belustigt. Es geht mir ja nicht viel anders und wir wissen ja alle, was von solchen Idyllen zu halten ist. Immerhin ernte ich tatsächlich die Bohnen und Tomaten und es ist ungeheu(e)r komisch, auf diesem Weg das Glück des kleinen Mannes zu praktizieren.«2 Die Anmietung eines Schrebergartens mag als amüsantes Sinnbild für die Einrichtung auch der Intellektuellen im Alltag der bundesdeutschen Gründergesellschaft gelten. Anfang der 1950er Jahre hatten sie die Claims für ihre mediale Einflussnahme weitgehend abgesteckt. Die Goldgräberzeit rasch erworbener Zeitungslizenzen und Redakteursposten im Rundfunk war schon vor Entstehung der Bundesrepublik vorüber. Die Gründung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Herbst 1949, zu der Korn gekommen war,3 bildete gewissermaßen den Schlussstein des Wiederaufbaus der westdeutschen Medienlandschaft. Eine Geschichte der Intellektuellen in den Medien der Bundesrepublik muss deshalb bereits mit dem Kriegsende einsetzen, in der Zeit erzwungener höchster 1 Karl Korn an Ernst Niekisch, 9.3.1953, in: Bundesarchiv Koblenz (BAK), Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 2 Karl Korn an Ernst Niekisch, 3.8.1953, in: ebd. 3 Vgl. Payk, Geist, S. 132 ff.
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Mobilität und vielfältiger Risiken und Chancen professionellen Neubeginns. Und sie kommt nicht aus ohne Rückblicke auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der viele der maßgeblichen Akteure bereits professionell gewirkt hatten. In diesem Sinne ist der häufig gebrauchte Begriff der »45er« nicht nur als generationelle Zuschreibung für die politisch unbelasteten Jahrgänge um 1930 zu verstehen, denen sich 1945 ungekannte Horizonte öffneten, sondern als Chiffre neuer Möglichkeiten für alle, die sie zu ergreifen wussten. Das Kriegsende erlebten viele Publizisten und Schriftsteller als Unterbrechung der gewohnten beruflichen Kontakte, die möglichst rasch wieder aufgenommen werden sollten. Diese kommunikative Situation ist als »Stunde der Ersten Briefe« charakterisiert worden.4 Die Korrespondenz der Intellektuellen in den Nachkriegsjahren ist durchzogen von Erkundigungen, wie es dem Empfänger ergangen sei, welche Pläne er habe und ob er wisse, wo sich dieser oder jener Kollege befinde. In charakteristischer Umkehr eines bekannten Mottos hieß es nun für die Intellektuellen: »Wer bleibt, der schreibt.«5 So wandte sich der marxistische Romanist Werner Krauss, der die Kriegsjahre in einer Todeszelle des NS-Regimes überlebt hatte und gemeinsam mit Alfred Weber und Karl Jaspers die Wandlung herausgab, an einen befreundeten Ökonomen: »An Georg Lukács habe ich ein besonderes Interesse. Er ist auf dieser Ebene der Weltdeutung der profundeste Geist. Allerdings hält seine letzte Aufbauschrift nicht das Schrittmaß mit seinen viel dichteren früheren Arbeiten. Lebt er in Berlin? In welcher Stellung? Könntest Du mir seine Adresse erkunden? Ich möchte mich unbedingt mit ihm in Verbindung setzen.«6 Auch Verleger und Redakteure forschten emsig nach dem Verbleib von Autoren, die einen erfolgreichen Neustart versprachen. Kurt Desch, der eine Edition der »politischen, antifaschistischen Gedichte« Werner Bergengruens7 plante, wandte sich im Herbst 1945 an Max Stefl (1888-1973), der als Staatsbibliotheksrat in München hervorragend vernetzt war, und bat dringend: »Wenn Sie hören sollten, dass eine Verbindung mit Werner Bergengruen vorhanden ist oder gefunden wird, dann haben Sie bitte die Liebenswürdigkeit, mich zu verständigen.«8 Der gesuchte 4 Raulff, Kreis ohne Meister, S. 348; die hohe Bedeutung des Mediums Brief für die Wiederverknüpfung des »zerrissenen Kommunikationsnetzes in der Nachkriegszeit« betont auch Laak, Gespräche, S. 34. 5 Michael Jeismann, Wer bleibt der schreibt. Reinhart Koselleck, das Überleben und die Ethik des Historikers, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 3, 2009, S. 69-80. 6 Werner Krauss an Hermann Brügelmann, 16.12.1945, in: Werner Krauss, Briefe 1922-1976. Hrsg. von Peter Jehle (unter Mitarbeit von Elisabeth Fillmann und Peter-Volker Springborn), Frankfurt a. M. 2002, S. 187. 7 Vgl. Hans Sarkowicz/Alf Menzner, Schriftsteller im Nationalsozialismus. Ein Lexikon, Berlin 2011, S. 120-125. 8 Kurt Desch/Zinnen-Verlag München an Max Stefl, 6.9.1945, in: Monacensia, Nl. Stefl; der Zinnen-Verlag firmierte seit Ende 1946 als Zinnen-Verlag Kurt Desch und bald als Verlag Kurt Desch; Max Stefl (1888-1973) war neben seinem Beruf allgemein publizistisch tätig und wurde nicht zuletzt als Experte für Adalbert Stifter geschätzt; Bergengruen veröffent-
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Schriftsteller hielt sich zu dieser Zeit in Achenkirch/Tirol auf und hatte kurz zuvor in seinen Notaten festgehalten, seit dem Mai sei es »nur noch ein Unglück, ein Deutscher zu sein, aber nicht mehr eine Schande«.9 Mitunter kam es den Verfassern von Briefen vor, als verschickten sie eine Flaschenpost. Kurt Pritzkoleit, der in der NS-Zeit für wichtige Zeitungen, darunter das Berliner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung und Das Reich geschrieben und 1943 ein amerikafeindliches Buch veröffentlicht hatte, schickte noch aus französischer Kriegsgefangenschaft ein Manuskript an die Zeitschrift Deutsche Rundschau und stellte erst zwei Jahre später erfreut fest, dass sein Aufsatz tatsächlich im Januarheft 1949 veröffentlicht worden war.10 Karl Korn, nach der Entlassung aus französischer Kriegsgefangenschaft in seinem Geburtsort Wiesbaden gelandet, schrieb an Dolf Sternberger, den er aus den Tagen der 1943 eingestellten Frankfurter Zeitung kannte, er habe »einigermaßen respektlos den Weg über Alfred Weber gewählt«,11 um ihm ein Manuskript zu schicken, wohl in der Hoffnung, es könne publiziert werden, denn Korn fügte hinzu, er habe auch von Sternbergers Absicht gehört, eine Zeitschrift herauszubringen.12 Das Wiederanknüpfen durch Briefe setzte stets auf die Existenz von Freundschaften oder Bekanntschaften in Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse, die dem Briefempfänger in ein möglichst freundliches Gedächtnis gebracht werden sollten. Immer wieder drängten sich historisches Gepäck an Erfahrungen und damit zugleich vorgängige Zeitschichten auf: die NS-Zeit, die Zeit der Weimarer Republik und die Zeit des Kaiserreichs, die alle jene noch bewusst als erwachsene Menschen erlebt hatten, die bei Gründung der Bundesrepublik älter als 50 Jahre waren. Der Sammlung jugendbewegter bündischer Gruppen aus der Zeit seit der Jahrhundertwende diente ein Unternehmen, das besonders viele Akademiker anzog: der Freideutsche Kreis, der in einigen deutschen Städten seit dem zweiten Nachkriegsjahr Rundbriefe versandte und zu gemeinsamen Treffen über alle politischen Lager hinweg einlud. Empfänger solcher Rundbriefe waren sowohl der konservative protestantische Publizist Klaus Mehnert in Stuttgart als auch der linkskatholi-
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lichte zwar auch bei Desch, wandte sich aber bald der ebenfalls in München beheimateten Nymphenburger Verlagshandlung zu. Werner Bergengruen, Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940-1963. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll, N. Luise Hackelsberger und Sylvia Taschka, München 2005, S. 52. Kurt Pritzkoleit an Rudolf Pechel, 14.2.1949, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II, 6. Der Kultursoziologe und jüngere Bruder von Max Weber mag wissenschaftsgeschichtlich eine geringere Rolle spielen, als Brückenbauer zwischen den 1930er Jahren in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sowie als intellektuelle Schlüsselfigur und Vermittler zwischen akademischer Zunft und freier Publizistik war sein Einfluss beträchtlich; vgl. Eberhard Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920-1958, Düsseldorf 1999. Karl Korn an Dolf Sternberger, 11.12.1945, in: DLA, A: Sternberger.
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sche Intellektuelle Walter Dirks in Frankfurt am Main.13 Die rührigste Ortsgruppe bildete sich in Hamburg. Noch in den 1950er Jahren trafen sich dort regelmäßig die Mitglieder von Jugendbünden der Zwischenkriegszeit zu Vorträgen und Diskussionen über Themen der Geschichte, Gesellschaft und Kultur.14 Der Einfluss dieser Zusammenkünfte auf die Festigung von intellektuellen Netzwerken ist schwer abzuschätzen. Aber der gemeinsame Traditionshintergrund wird in der Korrespondenz von Intellektuellen über alle politischen Differenzen hinweg immer wieder erkennbar – zur Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit zählten neben Dirks und Mehnert so unterschiedliche Protagonisten wie der Sozialist Wolfgang Abendroth, der konservativ-revolutionäre Hans Freyer, der katholische Denker Romano Guardini, der ehemals nationalrevolutionäre Schriftsteller Ernst Jünger, der Emigrant Robert Jungk, der Kommunist Alfred Kurella und der linksunabhängige Publizist beim Bayerischen Rundfunk Gerhard Szczesny15. Der nationalsozialistische Verfassungsrechtler Ernst Rudolf Huber, ein Schüler von Carl Schmitt, hatte vor 1914 den Nerother Wandervogel mitgegründet. Er trat nun für die Schaffung eines Freideutschen Bundes ein.16 Neben dem Freideutschen Kreis waren es vor allem konfessionelle bündische Zusammenhänge, an die angeknüpft werden konnte. Die freundschaftliche Korrespondenz von Walter Dirks mit dem jungen Christdemokraten Rainer Barzel oder mit der Schriftstellerin Ida Görres basierte auf dem gemeinsamen Hintergrund des katholischen Jugendbundes Quickborn; man gab sich als gleichgesinnt zu erkennen und schuf Vertrauen, wie es in einem typischen Brief, Absender war ein bayerischer Absolvent der Staatswissenschaften, zum Ausdruck kommt: »Sehr geehrter, lieber Herr Dirks! Es wäre vermessen, wollte ich annehmen, dass Sie sich meines Namens erinnern würden – aber ich gehöre zu dem Bekanntenkreis von P. Kuhn/damals Augsburger Quickborn.«17 Für viele tonangebende Publizisten war ihre Tätigkeit bei der Frankfurter Zeitung in der Zeit der Weimarer Republik und des »Dritten Reiches« ein zentraler Erinnerungsort, der mit den Jahren eine geradezu mythische Aura gewann. Das Ende dieser Zeitung unterbrach viele Kontakte, die erst nach dem Krieg wieder aufgenommen wurden. Das gilt etwa für Jürgen Tern (1909-1975), zum Zeitpunkt der Einstellung der Frankfurter Zeitung bereits Gefreiter mit der Feldpostnummer 13 Rundbrief des Freideutschen Kreises Stuttgart, 23.9.1946, in: Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 5; Freideutscher Kreis/Werner Kindt an Walter Dirks, 8.5.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 37 A. 14 Thomm, Jugendbewegung. 15 Biographien über diese und weitere Angehörige der Jugendbewegung, die in unserer Geschichte eine Rolle spielen werden, in Barbara Stambolis (Hrsg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013. 16 Ernst Rudolf Huber, Idee und Realität eines Freideutschen Bundes, 1949, in: Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber, Briefwechsel 1926-1981. Mit ergänzenden Materialien. Hrsg. von Ewald Grothe, Berlin 2014, S. 504-519. 17 Dr. Kaspar Kemptner an Walter Dirks, 10.12.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 74 A; die Korrespondenz mit Rainer Barzel in ebd., 23, diejenige mit Ida Görres in ebd, 50.
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30839 C, später Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und seine Briefpartner Erich Welter, den er dort wiedertraf, sowie den jungen Hans Heigert, später beim Bayerischen Rundfunk und ab 1970 Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung.18 Die Einstellung der Frankfurter Zeitung als eines ehedem liberalen Blatts mit einem in den 1920er Jahren hochgeschätzten Feuilleton19 im Zuge des »totalen Krieges« 1943 wurde später als nationalsozialistische Repressionsmaßnahme, als direkt von Hitler erlassenes Verbot hingestellt; die Mitarbeit in deren Redaktion konnte mithin als widerständiger Akt gedeutet werden, ohne dass der Inhalt der jeweiligen Artikel betrachtet wurde.20 Das Zusammengehörigkeitsgefühl der ehemaligen Redaktionskollegen dieses Blatts war besonders hoch und man wusste sehr genau, was man jeweils voneinander zu halten hatte. 1953 gründeten einige ehemalige Redakteure der Frankfurter Zeitung sogar einen Stammtisch, der an jedem ersten Dienstag eines Monats im Café Ricardo in der Goethestraße zusammenkommen sollte.21 Die Frankfurter halfen sich gegenseitig, sie verfügten über vielfältige nützliche Kontakte. So vermittelte der sozialdemokratische Vorsitzende Kurt Schumacher ihrem Berliner Korrespondenten Fritz Sänger eine neue Stelle, die den Aufstieg zum Leiter der Deutschen Presseagentur (DPA) einleitete. Seinem ehemaligen Redaktionskollegen Jürgen Tern berichtete Sänger, er residiere nun im Pressebüro des hannoverschen Oberpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf; er »heule mit den Wölfen, wie ich es gelernt habe (…) das alte gute Nachrichtenbüro-Deutsch, alles wie einst im Mai. Auf eine Wiederauferstehung der Frankfurter Zeitung sei allerdings nicht zu hoffen.«22 Nur wenige der ehemaligen Redaktionsmitglieder dieses Blattes gerieten wegen ihrer NS-Belastung nach dem Krieg in Schwierigkeiten. Dazu zählte Friedrich Sieburg, der von den Behörden der französischen Zone ein Publikationsverbot wegen seiner hohen kulturpolitischen Funktion als Botschaftsrat in Brüssel und Paris während des Krieges erhielt. Anfang 1948 wandte sich Sieburg, der kurz darauf bei der von seinen FZ-Kollegen Dolf Sternberger und Benno Reifenberg herausgegebenen
18 Vgl. die Korrespondenz in BAK, Nl. Jürgen Tern, 3, 8. 19 Vgl. die Tübinger literaturwissenschaftliche Habilitationsschrift von Almut Todorow, Das Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung, Tübingen 1996. 20 Elisabeth Noelle-Neumann, Die letzte Kerze. Das Verbot der Frankfurter Zeitung im August 1943, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.6.2002; mit leicht verklärender Tendenz auch Günther Gillessen, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986; vgl. ähnlich zur Geschichte des Berliner Tageblatts Margret Boveri, Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler, Olten/Freiburg 1965. 21 Hans Bütow (Frankfurter Neue Presse) an Walter Dirks, 2.9.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 83 A. 22 Fritz Sänger an Jürgen Tern, 22.10.1945 (Durchschlag an Paul Sethe), in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 6.
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Zeitschrift Gegenwart unterkam23 und 1956 Leiter des Literaturblatts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde, an Walter Dirks, auch er ehemaliger Mitarbeiter bei der FZ und nun Mitherausgeber der auflagenstarken Frankfurter Hefte. Bitter beklagte er sich bei diesem über den »seltsamen Boykott« seiner Person. Niemand nenne mehr seinen Namen oder verspüre Lust, »nach mir zu fragen oder gar meinen Fall zu diskutieren«. Er sei ja lediglich ein »Angestellter des Auswärtigen Amtes gewesen«, habe aber keine regimetreuen Artikel geschrieben wie etwa Sternberger oder Reifenberg. Ihn habe in seinen Büchern lediglich die qualvolle »Sorge um das ewig kranke und seine Krankheiten liebende Deutschland« umgetrieben.24 Sieburgs Behauptung, seine Texte aus der Zeit des »Dritten Reiches« seien nicht zu beanstanden, setzte darauf, dass sich solche Aussagen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht immer überprüfen ließen; von den US-Behörden, die sich dabei auf die geheimen Dossiers von Carl Zuckmayer stützten, wurde er im Übrigen nachsichtiger als von französischer Seite beurteilt. Zuckmayer, der ein enges persönliches Verhältnis zu Sieburg unterhielt nach 1933, als er sich selbst bereits im Exil befand, und nach dem Zweiten Weltkrieg – ab 1949 –, hatte ihn in seinen Aufzeichnungen für die US-Behörden 1943 zunächst charakterisiert als einen »hochbegabten, brillianten (sic!), enorm befähigten, ehrgeizzerfressenen Menschen, der gegen seine Überzeugung und gewiss unter inneren Kämpfen nicht nur zum Nazischriftsteller, sondern zu einem ihrer gefährlichsten und erfolgreichsten Agenten und Promotoren geworden ist«. Er habe aus sicherer Quelle erfahren, dass Sieburg großen Anteil an der »Vorbereitungsarbeit der fünften Kolonne in Holland und Belgien« gehabt habe. In einem Nachtrag drehte Zuckmayer seine Bewertungen ins Gegenteil; es sei »da eine ganz überraschende – und bei Sieburgs flexibler Persönlichkeit sehr verständliche Wendung eingetreten. Sieburg scheint heute und schon seit geraumer Zeit zu den Enttäuschten und Abtrünnigen der Naziherrschaft zu gehören (ein ›echter‹ Nazi war er ja nie, wegen zu hohen Niveaus).«25
23 Zum publizistischen Wiedereinstieg Sieburgs vgl. Harro Zimmermann, Friedrich Sieburg – Ästhet und Provokateur. Eine Biographie, Göttingen 2015, S. 302 ff. 24 Friedrich Sieburg an Walter Dirks, 12.2.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 31 A. 25 Carl Zuckmayer, Geheimreport. Hrsg. von Gunther Nickel und Johanna Schrön, Göttingen 2002, S. 82, 86, 156; zur Beziehung zwischen Zuckmayer und Sieburg vgl. Gunter Nickel, Des Teufels Publizist – ein »höchst komplizierter und fast tragischer Fall«. Friedrich Sieburg, Carl Zuckmayer und der Nationalsozialismus. Mit dem Briefwechsel zwischen Sieburg und Zuckmayer, in: Ulrike Weiß (Hrsg.), Zur Diskussion: Zuckmayers Geheimreport und andere Beiträge zur Zuckmayer-Forschung (Zuckmayer-Jahrbuch 5), Göttingen 2002, S. 247-295; Joachim Szodrzynski, Der Nachrichtendienst und sein Dichter – Carl Zuckmayers Geheimreport. Überlegungen zu einem deutschen Intellektuellen, in: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hrsg.), Tübingen 2005, S. 335-351.
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Auch an Bekanntschaften aus Goebbels’ intellektueller Wochenzeitung Das Reich ließ sich mitunter anknüpfen. So bekundete etwa Karl Korn in einem Brief an Ernst Jünger: »Sie kennen mich noch als Feuilletonredakteur von Das Reich« – eine Aussage, die auch deshalb bemerkenswert ist, weil Korn als Leiter des dortigen Feuilletons schon nach wenigen Monaten abgesetzt und mit Schreibverbot belegt worden war.26 Aber einerlei, welche Medienwege Intellektuelle im NS-Regime auch gegangen waren, sehr häufig hatten sie wie im Falle Korns sowie auch bei Margret Boveri,27 beginnend beim Berliner Tageblatt zu der enorm erfolgreichen Wochenzeitung Das Reich geführt, deren Auflage sich seit der Gründung im Oktober 1940 auf annähernd 1,4 Millionen Exemplare im März 1944 verdreifachte. Der Reichspropagandaminister hatte für die erste Seite regelmäßig widerliche antisemitische Leitartikel verfasst, aber die Intellektuellen genossen dafür einige Freiräume im Feuilleton, das die Hälfte des Blattes ausmachte.28 Bei der Betrachtung publizistischer Biographien der Nachkriegszeit gewinnt man den Eindruck, dass die Mitarbeit an Goebbels’ Reich nicht nur keine Nachteile mit sich brachte, sondern für die Nachkriegskarriere mitunter von erheblichem Nutzen war, wie eine dort tätig gewesene Redakteurin, Helene Rahms, freimütig schilderte.29 Mitarbeiter der Zeitung wie Carl Linfert, seit 1949 Leiter des intellektuellen Nachtprogramms des Kölner NWDR, aber auch Karl Korn und Margret Boveri gingen nach Kriegsende bewusst zunächst zum Berliner Kurier im Französischen Sektor der Stadt, weil dort nicht besonders genau nach der beruflichen Vergangenheit gefragt wurde. Rahms gelangte schließlich zur Welt, andere kamen beim Nachtprogramm des Hamburger und des Kölner NWDR unter. Die Netzwerke von »Ehemaligen« aus der NS-Presse im Kulturjournalismus der Bundesrepublik funktionierten stillschweigend auf der Basis einer zeitgenössisch nicht thematisierten »kollegialen Zwangsgemeinschaft der wenigen Unbefleckten mit den vielen Halbverstrickten und Läuterungswilligen«,30 unter denen sich auch
26 Karl Korn an Ernst Jünger, 16.5.1946, in: Detlev Schöttker (Hrsg. unter Mitarbeit von Anja S. Hübner), Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945-1991, Göttingen 2010, S. 20 f.; Korn hat seine Zeit beim Reich anekdotisch – unter Auslassung eines antisemitischen Artikels zum Film »Jud Süß« (s. Kapitel II) – geschildert: Karl Korn, Lange Lehrzeit. Ein deutsches Leben, München 1979, S. 262 ff.; zu seiner journalistischen Karriere im »Dritten Reich« vgl. Payk, Geist, S. 34 ff. 27 Margret Boveri, Verzweigungen. Eine Autobiographie. Hrsg. und mit einem Nachwort von Uwe Johnson, München/Zürich 1977. 28 Viktoria Plank, Die Wochenzeitung »Das Reich«. Offenbarungseid oder Herrschaftsinstrument?, in: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, S. 309-328. 29 Helene Rahms, Die Clique. Journalistenleben in der Nachkriegszeit, Bern 1999; Hodenberg, Konsens, S. 126. 30 Norbert Frei/Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, S. 189 f.
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einige schwer belastete Publizisten befanden. Der Neubeginn der Presse vollzog sich weitgehend mit dem vorhandenen Personal.31 Bekannt sind die Wege der Mitarbeiter des »Gegnerforschers« des SD, Franz Six, Horst Mahnke und Georg Wolff, die in politische Ressorts des Spiegel führten;32 bekannt sind auch die Seilschaften, die aus der von Paul Karl Schmidt – er publizierte später unter den Namen Paul Carell und P. C. Holm – geleiteten Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in die Redaktionen von Christ und Welt, Zeit und der Organe des Springer-Konzerns reichten.33 Ein direkter Bezug auf die Zusammenarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus findet sich immer wieder bei den ehemaligen Mitgliedern des legendären Tat-Kreises aus der Endzeit der Weimarer Republik. Die Lebenswege dieser rechten Intellektuellen stehen für weitgehende personelle Kontinuitäten und die dafür notwendigen Anpassungsleistungen. Der Chefredakteur der Tat bis 1933, Hans Zehrer, der für eine »soziale Militärdiktatur« des Generals Kurt von Schleicher und gegen eine alleinige Machtergreifung der Nationalsozialisten optiert hatte, musste sich danach für einige Jahre aus der politischen Publizistik auf die Insel Sylt zurückziehen, machte aber seit 1938 eine steile Karriere im Oldenburger Stalling-Verlag. Ein fünfseitiges Gedicht, in dem er Zehrers religiöse Elaborate (s. u.) damit in Verbindung brachte, widmete ihm der langjährige Bekannte Ernst von Salomon zum 50. Geburtstag 1949. Der letzte der ironischen Verse lautete: »Er ging zu Stalling, der Zehrer, / Und verdiente dort sehr viel Geld, / Ein wahrer Geldvermehrer, / Ein Mensch in dieser Welt.«34 Als entscheidend für Zehrers journalistischen Weg nach dem Krieg sollte sich das Zusammentreffen mit dem 13 Jahre jüngeren Verlegersohn Axel Springer erweisen. Sie lernten sich 1941 auf der Nordseeinsel kennen. Springer war fasziniert von dem Hauptstadt-Intellektuellen, der später sein publizistischer Mentor wurde.35 Eine zweite wichtige Beziehung knüpfte Zehrer auf Sylt zum Verleger Ernst 31 Eine der wenigen genauen Untersuchungen zum biographischen Hintergrund von Journalisten und Publizisten hat am Hamburger Beispiel nachgewiesen, dass zwei Drittel der Redakteure vor 1900 geboren waren und der weit überwiegende Teil in der NS-Zeit in seinem Beruf gearbeitet hatte; Christian Sonntag, Medienkarrieren. Biografische Studien über Hamburger Nachkriegsjournalisten 1946-1949, München 2006. 32 Lutz Hachmeister, Ein deutsches Nachrichtenmagazin. Der frühe »Spiegel« und sein NSPersonal, in: ders./Siering, Die Herren Journalisten, S. 87-120. 33 Hodenberg, Konsens, S. 128 ff.; Wigbert Benz, Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945, Berlin 2005; Christian Plöger, Von Ribbentrop zu Springer. Zu Leben und Wirken von Paul Karl Schmidt alias Paul Carell, Marburg 2009. 34 MS in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 311/7; vgl. Zur Biographie Ebbo Demant, Von Schleicher zu Springer. Hans Zehrer als politischer Publizist, Mainz 1971, S. 124 ff. 35 Henno Lohmeyer, Springer. Ein deutsches Imperium. Geschichte und Geschichte, Berlin 1992, S. 81 f.; Springer trat 1943 als Gesellschafter in den Verlag Hammerich & Lesser ein; zur Beraterrolle von Zehrer vgl. die Erinnerungen von Hans-Georg von Studnitz, Menschen aus meiner Welt, Frankfurt a. M. 1985, S. 141 ff.; Gudrun Kruip, Das »Welt«-»Bild« des Axel-Springer-Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999, S. 100 ff.
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Rowohlt, der sich bei jenem 1943/44 für einige Monate einquartierte und ihm nach Kriegsende zurück nach Hamburg folgte, wo sie zunächst benachbarte Büros im stark zerstörten Broschek-Haus zugewiesen bekamen.36 Die Beziehungen zwischen Zehrer und Rowohlt blieben auch später – selbst nach dem Richtungswechsel Zehrers 1958 – ausgesprochen herzlich.37 Man frotzelte unter ehemaligen Nationalrevolutionären: »Lieber alter Mann! Der Ordnung halber möchte ich nur richtig stellen, dass, falls wir beide wieder zur Luftwaffe eingezogen werden sollten – Sie in diesem Falle als kümmerlicher Hauptmann unter meinem Kommando (…), ich Ihnen dann jeden Pfennig, den Sie mir entzogen haben, einzeln aus Ihrer dicken Schwarte herauspressen würde (…). Und zum Schluss würde ich Sie aufgrund Ihrer bolschewistischen Vergangenheit als wehrunwürdig entlassen.«38 Während Zehrer den Zusammenbruch des NS-Regimes ohne hinderliche Belastungen überstanden hatte, galten Giselher Wirsing, Ferdinand Fried (Pseudonym von Friedrich Zimmermann) und Ernst Wilhelm Eschmann aus dem inneren Kreis der Tat, aber auch zeitweilige Mitarbeiter wie Klaus Mehnert angesichts steiler beruflicher Aufstiege im »Dritten Reich« nach 1945 als nationalsozialistisch belastet. Wirsing, der seine SS-Mitgliedschaft 1933 erworben, aber bereits zuvor über gute Kontakte zum Braunen Haus verfügt hatte, übernahm im »Dritten Reich« die Chefredaktion der Tat und ein Jahr später, unter Protektion von Heinrich Himmler, auch jene der Münchner Neuesten Nachrichten; mit Ernst Wilhelm Eschmann, der zum Professor der Berliner Universität und Leiter der Frankreich-Abteilung des Auslandswissenschaftlichen Instituts aufgestiegen war, gab Wirsing dann ab 1939 die Nachfolgezeitschrift der Tat, das XX. Jahrhundert, und ab 1943 die für das besetzte und neutrale Ausland bestimmte Illustrierte Signal heraus. In diesen publizistischen Schlüsselstellungen knüpfte er wichtige Kontakte für die Nachkriegszeit.39 Obwohl er erst 1940 Mitglied der NSDAP wurde, kann der Mitarbeiter des SD und Berater des Außenministeriums, der neben zahlreichen Artikeln auch grundlegende Bücher gegen die Kriegsgegner veröffentlicht hatte, als einer der wichtigsten intel-
36 Walther Kiaulehn, Mein Freund, der Verleger. Ernst Rowohlt und seine Zeit, Reinbek 1967, S. 202 ff. 37 Vgl. den Nachruf Zehrers in: Die Welt, 31.12.1960, mit einigen Sylter Anekdoten; vgl. auch die geradezu liebevolle Würdigung zum 70. Geburtstag 1957 von Friedrich Sieburg, Der Verleger Ernst Rowohlt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.1957; sowie Fritz J. Raddatz, 100 Jahre Rowohlt, … sind 100 Jahre Literatur- und Buchgeschichte. Eine Erinnerung, in: Die Zeit, 7.8.2008. 38 Hans Zehrer an Ernst Rowohlt, 26.8.1950, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 311/24; die Anrede benutzte Zehrer in seinen Briefen immer wieder. 39 Vgl. Rainer Rutz, Alte Netze – neu gestrickt. Von der NS-Auslandspropaganda zur konservativen Nachkriegspresse. Die Netzwerker von »Signal«, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 167-184.
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lektuellen Propagandisten des Regimes gelten.40 Die auflagenstarken Weltkriegsbücher von Wirsing versuchten eine Sinngebung des globalen Geschehens in konservativer Tradition: Deutschland kämpfte demnach zunächst als führende Macht des Abendlandes gegen den Hauptfeind USA, in denen die jüdisch-demokratische Ostküste der Plutokraten herrschte – gegen die positiv bewertete Tradition der Baumwollfarmer des Südens. Während die USA und die Sowjetunion von Wirsing in der ersten Hälfte des Krieges als gleichwertiges Übel gezeichnet wurden, betonte er seit 1943/44 die Widernatürlichkeit von deren Allianz, drohte doch nun die Unterwerfung der gesamten Erde durch den Bolschewismus. Der Appell an die Westmächte am Kriegsausgang, einen Frontwechsel vorzunehmen und als abendländischer Westen gemeinsam gegen den kollektivistisch-dämonischen Osten zu kämpfen, folgte zum einen der propagandistischen Linie der SS, zum anderen wurde damit die dominante Ideologie des Kalten Krieges vorweggenommen. Die späteren semantischen Umbauten hielten sich in überschaubaren Grenzen.41 Klaus Mehnert stellte geradezu den Idealtypus des weltgewandten und hervorragend vernetzten Publizisten dar, der angesichts geheimer außenpolitischer Missionen und publizistischer Aktivitäten in rechtskonservativen und nationalsozialistischen Zeitungen und Zeitschriften als hervorragend informiert galt.42 Als Sohn einer deutschen Unternehmerfamilie in Moskau geboren und perfekt Russisch sprechend, war er zugleich, nach längerem Aufenthalt an Universitäten der USA und mit einer Amerikanerin verheiratet, mit der anglophonen Welt verbunden; und schließlich hatte er sich als Herausgeber der Propagandazeitschrift des Auswärtigen Amtes XX. Century in Schanghai während des Krieges auch fundierte Kenntnisse über den asiatischen Kontinent angeeignet. Mehnert avancierte in den 1950er Jahren zu einem wichtigen Berater der Adenauer-Regierung und stand im Zentrum der rechtskonservativen protestantischen Presselandschaft.
40 Vgl. Otto und Monika Köhler, Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler – und danach, Köln 1989, S. 164 ff.; Peter Köpf, Schreiben nach jeder Richtung. GoebbelsPropagandisten in der westdeutschen Nachkriegspresse, Berlin 1995, S. 69 ff. 41 Giselher Wirsing, Der maßlose Kontinent, Jena 1942 (91944); ders., Das Zeitalter des Ikaros, Jena 1944; Vindex (= Giselher Wirsing), Der Ölfleck, Berlin 1944; zur Interpretation der Weltkriegsbücher von Wirsing vgl. Axel Schildt, Deutschlands Platz in einem »christlichen Abendland«. Konservative Publizisten aus dem Tat-Kreis in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 344-369, hier S. 350 ff. 42 Vgl. zuletzt und den gesamten Forschungsstand einbeziehend Michael Kohlstruck, Klaus Mehnert. Ein Intellektueller für Nichtintellektuelle, in: Faber/Puschner (Hrsg.), Intellektuelle und Antiintellektuelle, S. 189-212; vgl. als Dossier aus geheimdienstlichen Unterlagen der DDR Anton Hiersche, Prof. Dr. Klaus Mehnert, ein Ultra der westdeutschen »Sowjetologie«, in: Gerhard Ziegengeist (Hrsg.), Wissenschaft am Scheidewege. Kritische Beiträge über Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung in Westdeutschland, Berlin 1964, S. 140-160.
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Wirsing, der durch seine Zusammenarbeit mit US-Geheimdiensten seit 1945 zeitweilig eine recht komfortable Haftzeit verlebte, Ferdinand Fried und für kurze Zeit auch Klaus Mehnert grüßten aus alliierten Internierungslagern. Nach seiner zügig erfolgten Entlassung aus dem Lager Ludwigsburg, er war zuvor in China, danach in Hohenasperg interniert gewesen, konnte Mehnert dem inhaftierten Wirsing und seiner Frau über drei Jahre hinweg behilflich sein. Sie unterhielten eine rege Korrespondenz. Wirsing, der es als »abgeschmackt und grotesk« empfand, ihn zum Nazi »stempeln zu wollen«, nachdem jeder wisse, »dass ich es nie war und auch nicht mit den Wölfen heulte«,43 verdankte Mehnert zudem einen »Persilschein«, der vor der Abgabe noch überarbeitet wurde. Hierin attestierte dieser seinem Kollegen, er sei »nicht in die SS gegangen, um ihren Zielen zu dienen, sondern um Einfluss auf eine der wichtigsten Kommandostellen innerhalb des nationalsozialistischen Regimes zu gewinnen«. Er habe sich dort stets für seine »politisch angegriffenen Freunde« eingesetzt.44 Nach der Entlassung aus dem Internierungslager vermittelte Mehnert den Kontakt zu dem führenden EKD-Repräsentanten und CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier und dem von ihm gegründeten und bis 1951 geleiteten Evangelischen Hilfswerk.45 Wirsing schrieb dem früheren Verleger der Tat und deren Nachfolgerin Das XX. Jahrhundert, Peter Diederichs,46 im August 1948, nachdem nun die Entnazifizierung ihrem »selig-unseligen Ende« zugehe, habe er »große Lust«, mit ihm »wie früher eng zusammenzuwirken«, auch wenn an eine Zeitschrift noch nicht zu denken sei. Diederichs schrieb zurück: »Damals im Kriege arbeitete ich mit Eschmann den Plan einer Europa-Bücherei aus, der als solcher überholt ist. Ich suche zur Zeit nach einem neuen Plane. Vielleicht können wir hier zu einer gemeinsamen Sache kommen.«47
43 Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 6.8.1947, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 2. 44 Klaus Mehnert, Eidesstattliche Erklärung, 6.5.1947, in: ebd.; Mehnert stellte etliche »Persilscheine« für Kollegen aus. 45 Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 28.8.1948, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 5; s. auch II.2.2. 46 Peter Diederichs war in Nordafrika in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten und im Februar 1946 entlassen worden. Er entschied sich dafür, nicht nach Jena zum Verlagssitz zurückzukehren, sondern in den Westzonen zu bleiben. Nachdem er in Düsseldorf, das zur Britischen Besatzungszone gehörte, am 9.11.1948 eine Verlagslizenz erhalten hatte, wurden auch die Reste des Diederichs Verlags in den Westen transferiert; vgl. Florian Triebel, Der Eugen Diederichs Verlag 1930-1949. Ein Unternehmen zwischen Kultur und Kalkül, München 2004, S. 276 ff. 47 Gieselher Wirsing an Peter Diederichs, 5.8.1948; Peter Diederichs an Giselher Wirsing, 26.8.1948, in: DLA, D: Diederichs; die Reihe konnte vor 1945 nicht realisiert werden, weil sie als zu wenig politisch galt und keine Papierzuteilung erhielt; restlos aufgeklärt sind die publizistischen Konkurrenzverhältnisse im NS-Regime noch nicht. So sah sich das XX. Jahrhundert vor allem durch Das Reich in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet; Peter Diederichs an Giselher Wirsing, 2.1.1941, in: ebd.
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Fried, der Ökonom des Tat-Kreises, hatte es 1934 zum Stabsleiter des Reichsbauernführers Richard Walter Darré und 1939 zur Professur im besetzten Prag gebracht. Wie Wirsing hatte Fried im Krieg die Propaganda des NS-Regimes mit grundlegenden Werken begleitet; ihm ging es dabei vor allem um den Wandel der Weltwirtschaft nach den geopolitischen Vorgaben des Nationalsozialismus. Dass seine Texte mit abendländischer Terminologie unterlegt waren, sollte sich nach 1945 als günstig erweisen.48 Während seiner dreijährigen Internierungszeit im Lager Regensburg unterhielt Fried vielfältige Kontakte. Er freundete sich dort mit dem Schriftsteller Werner Beumelburg an. An Ernst Jünger schrieb er, seine Gedanken hätten sich denen des Adressaten »gleichsam spiralenförmig immer mehr […] angenähert, so daß der Sprung ins immerhin noch undeutliche Zentrum gewagt werden muß«.49 Auch zu seinem früheren Chef Darré nahm er die »so jäh« unterbrochene Verbindung wieder auf. Bis zu dessen Tod 1953 riss die Korrespondenz nicht mehr ab; in agrarpolitischen Fragen, der Propagierung einer biologischen Landwirtschaft, bestand hohe Übereinstimmung, und Fried freute sich über das Lob Darrés, das dieser dem Allgemeinen Sonntagsblatt zollte, dessen Chefredakteur Hans Zehrer seinen Kollegen Fried bald nach der Entlassung als Redaktionsmitglied anstellte und dann 1953 zur Welt mitnahm. Als Fried aus dem Internierungslager Regensburg entlassen wurde, gratulierte der spätere Mitherausgeber und Kopf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Erich Welter, »zur Befreiung, hoffentlich ist sie gut ausgefallen«.50 Er vermittelte Fried eine vorübergehende Korrespondententätigkeit bei der Zürcher Tat. Der Vierte aus dem inneren Zirkel des Tat-Kreises, Ernst Wilhelm Eschmann, war in Heidelberg von Alfred Weber mit einer Arbeit über den italienischen Faschismus promoviert worden. Als Spezialist für die Jugendbewegung veröffentlichte Eschmann seine Beiträge meist unter dem Pseudonym Leopold Dingräve. Im »Dritten Reich« forschte und lehrte er als Leiter der Frankreich-Abteilung des Auslandswissenschaftlichen Instituts an der Berliner Universität und residierte während des Krieges zeitweise in Marseille. Über die gemeinsame Herausgabe der Tat und des XX. Jahrhunderts blieb er im engen Kontakt mit Giselher Wirsing; zugleich genoss er die Protektion des SS-Intellektuellen Franz Six, der 1942 vom Reichssicherheitshauptamt als Leiter der Kulturabteilung ins Auswärtige Amt gewechselt war.51 Das Kriegsende erlebte Eschmann in einem Baden-Badener Privatsanatorium. Dort unterhielt auch er eine intensive Korrespondenz mit seinem Verleger Peter Diederichs. Sie planten für das Verlagsprogramm zwei Reihen, zum einen die 48 Vgl. Schildt, Deutschlands Platz, S. 348 ff. 49 Friedrich Zimmermann an Ernst Jünger, 28.10.1946, in: BAK, Nl. Friedrich Zimmermann, 1; Jüngers Antwort an Frieds Frau war sehr herzlich (ebd.). 50 Erich Welter an Friedrich Zimmermann, 18.5.1948, in: BAK. Nl. Friedrich Zimmermann, 1. 51 Zur Biographie Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher: Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München 1998.
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erwähnten Europa-Bücher, die sich aber auch in den Nachkriegsjahren nicht realisieren ließen, zum anderen eine Reihe, die Philosophen wie Hegel und Leibniz vorstellen sollte, während Nietzsche, Lagarde und Fichte »Erholungsurlaub« erhalten müssten, weil sie »miss- und verbraucht« seien.52 Er beriet die französische Besatzungsmacht in kulturellen Fragen, folgte dann aber 1946 seiner Frau, die bereits vor Kriegsende mit dem 1941 geborenen Kind ins Schweizer Tessin ausgereist war. Dort vollzog er die wohl radikalste Metamorphose aller Tat-Kreis-Angehörigen. In den folgenden Jahren enthielt er sich aller politischen Veröffentlichungen und blieb gänzlich in den Gefilden der Philosophie und Literatur. Erst allmählich und später als seine Kollegen näherte er sich wieder den früheren Themen an. Gleichwohl warnte der Romanist Ernst Robert Curtius den Schweizer Publizisten Max Rychner, der sehr freundlich von einer Begegnung mit Eschmann berichtet hatte, eindringlich vor diesem: »Er ist ein widerwärtiger Mensch, Opportunist durch und durch, der Dich angelogen hat, wenn er behauptete, dass er mich verehre. In Baden-Baden hat er sich an die Franzosen herangemacht, von ihnen einen Posten im Radio zu bekommen, gab sich dort als Vertrauter von Valéry aus. Ich habe mich damals geweigert, ihn zu sehen. Daß die Schweiz solche Kreaturen beherbergt, ist ein Skandal. Näheres über seine Hitlertätigkeit kann Dir Sternberger mitteilen.«53 Der Zwang, als freier Publizist seinen Unterhalt zu sichern, führte Eschmann immer wieder in die Medien der 1950er Jahre, zum Merkur, zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zu Christ und Welt und in zahlreiche Rundfunksendungen. Obwohl er deutschen Boden erst 1951 wieder betrat, riss der Kontakt zu ›seinem‹ Verlag, Diederichs, und zu den ehemaligen Mitstreitern des Tat-Kreises zu keinem Zeitpunkt ab. Aber mit seiner konservativ-revolutionären Vergangenheit mochte er sich vorerst nicht auseinandersetzen.54 Hans Zehrer schließlich, auch in der Nachkriegszeit bei den ehemaligen Kollegen der unbestrittene Kopf des Tat-Kreises und bisweilen nicht nur ironisch als »Meister« tituliert,55 war nach wenigen Wochen im Februar 1946 – aufgrund einer 52 Ernst Wilhelm Eschmann an Peter Diederichs, zit. nach: M. Frederik Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987), Berlin 2007, S. 347 f. 53 Ernst Robert Curtius an Max Rychner, 10.10.1946, in: Ernst Robert Curtius/Max Rychner. Freundesbriefe 1922-1955. Hrsg. u. komm. von Frank-Rutger Hausmann in Zusammenarbeit mit Claudia Mertz-Rychner, Frankfurt a. M. 2015, S. 375-378, Zitat S. 376. 54 Eschmann begrüßte allerdings die Interpretationslinie einer strikten Trennung zwischen Konservativer Revolution und Nationalsozialismus von Armin Mohler, mit dem er seit 1944 bekannt war. In einem Telegramm (1.12.1949) und einem folgenden Gratulationsbrief lobte er dessen »ausserordentliche Dissertation« (DLA, A: Armin Mohler); gegen Kurt Sontheimers Arbeiten, dem er 1957 ein Interview gegeben hatte, verwahrte er sich gemeinsam mit den anderen Tat-Kreis-Mitgliedern ausdrücklich (Plöger, Soziologie, S. 363 ff.). 55 Vgl. etwa Fried(rich) Zimmermann, Hans Zehrer 60 Jahre, in: Die Welt, 20.6.1959; im Hintergrund stand dabei die Ausstrahlung der Mythenbildung um den Dichter Stefan
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Intervention aus sozialdemokratischen Kreisen – als designierter Chefredakteur der in Hamburg unter der Ägide der britischen Besatzungsmacht vorbereiteten Tageszeitung Die Welt abgesetzt worden. Der Vorwurf lautete, er habe mit seinen Artikeln in der Tat zur Zerstörung der ersten Demokratie beigetragen. Allerdings hatte sich die Redaktion während der Vorbereitung der Welt offenbar schon zuvor über die inhaltliche Konzeption zerstritten; während Zehrer eine deutschnationale Linie vorschwebte, sollte das Blatt laut einem Planungspapier von Richard Tüngel, dem späteren Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, durch eine kritische Betrachtung der deutschen Geschichte zur Westorientierung beitragen.56 Inwieweit mit der Ausschaltung Zehrers der deutschnationale Einfluss tatsächlich eingedämmt wurde, erscheint zweifelhaft. Jürgen Schüddekopf, der das Feuilleton von Goebbels’ Wochenzeitung Das Reich geleitet hatte, saß in gleicher Funktion in der Redaktion der Welt, bevor er Leiter des NWDR-Nachtprogramms wurde. In einem Brief an eine Bekannte aus Berliner Tagen, Ursula von Kardorff, entschuldigte er sich dafür, dass sie ihre von Zehrer bereits angenommenen Beiträge zurückerhalten habe. Selbstverständlich habe sie ein Recht auf deren Honorierung, außerdem sei er sehr interessiert, von Zeit zu Zeit Durchschläge ihrer Artikel zu erhalten, »von denen nur das Gerücht raunend Amüsantes und Erfreuliches zu berichten weiss«.57 Axel Springer, der die Welt 1953 kaufte und Zehrer umgehend als Chefredakteur installierte, tröstete diesen schon 1946 nach dem Hinauswurf, er werde »immer ein Propagandist für Hans Zehrer bleiben«.58 Zehrer beschritt in den beiden folgenden Jahren einen zugleich politisch und religiös anmutenden Weg. Zunächst engagierte er sich, vermittelt durch einen Freund, den ehemaligen DNVP-Politiker Otto Schmidt-Hannover, bei der programmatischen Arbeit für eine neue rechtskonservative Partei. Nachdem er diesem Projekt keine Erfolgsaussicht mehr einräumte, bereitete er ein Manuskript zum Druck vor, das er schon vor dem Krieg begonnen hatte. Unter dem Titel »Der Mensch in dieser Welt« erschien ein Teil bei Rowohlt Anfang 1948 im Rotationsdruck mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren, der gesamte Text dann im gleichen Verlag als Taschenbuch mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren.59 Das Buch,
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George, der stets als »Meister« angesprochen wurde, wobei dort eine »Herrschaftstechnik« vorgeherrscht hatte, »den Sinn meisterlicher Worte unbestimmt zu lassen«, wozu auch »der Bierernst, die absolute Humorlosigkeit« zählte, die eine Kritik des Meisters nicht zuließ; Raulff, Kreis ohne Meister, S. 241, 248. Hans B. von Sothen, Hans Zehrer als politischer Publizist nach 1945, in: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945, Berlin 2005, S. 125-178, hier S. 136-140. Jürgen Schüddekopf an Ursula von Kardorff, 27.5.1946, in: IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/6; dort der gesamte umfangreiche Briefwechsel zwischen beiden aus den Nachkriegsjahren. Zit. nach Hans-Peter Schwarz, Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008, S. 179. Hans Zehrer, Der Mensch in dieser Welt, Hamburg/Stuttgart 1948; der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje hatte ein Vorwort beigesteuert; zur Interpretation vgl. Schildt, Deutschlands Platz, S. 353; vgl. zu Zehrers religiösem Weltbild auch Gangolf Hübinger,
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das Zehrers Lesefrüchte der 1930er Jahre und das Erlebnis des Weltkriegs zu einer Sinngebung der Katastrophe bündelte, vermochte angesichts unerträglicher Verquastheit und quälender Redundanzen nicht zu reüssieren und erregte bei anderen Autoren des Verlags einigen Unwillen. Der frühere Mitarbeiter der Weltbühne, der noch in London lebende Kurt Hiller, quittierte die Zusendung des Buches durch den Cheflektor Kurt Marek mit der Bemerkung: »an der Zehrersendung, die ich heute abend von Ihnen bekam, hat mich nicht mal die seltene neue Achtzigpfennigbriefmarke, die draufklebte, interessiert – da sie leider zerrissen war. In Ihrem liebenswürdigen Begleitbrief legen Sie mir nahe, das Opus zu lesen. Ich habe aber Wichtigeres zu tun. (…) Ich bedaure von Herzen, daß es diesen reaktionären Querkopf noch gibt, und aufs lebhafteste, daß Ernst Rowohlt so schlecht beraten war, ihn zu drucken.«60 Zehrers hier vollzogener programmatischer Übergang zu christlich-konservativen Positionen, der Forderung eines vermeintlichen homo religius nach einer von geistigen Eliten durchzusetzenden Rückkehr zum Christentum war das Eintrittsbillet in die evangelische Pressewelt. Als Beauftragter des hannoverschen Landesbischofs Hanns Lilje, den Zehrer schon vor 1933 kennengelernt hatte, und als Chefredakteur des von diesem gegründeten evangelischen Sonntagsblatt in Hamburg konnte Zehrer 1948 seine publizistische Nachkriegskarriere beginnen. Die bereits zwei Jahrzehnte währende Bekanntschaft des nunmehrigen hannoverschen Landesbischofs mit dem ehemaligen Chefideologen der Tat erhellt schlaglichtartig, dass der Übergang in die protestantische Publizistik nicht einfach den Zufälligkeiten der Nachkriegssituation, sondern den schon länger bestehenden Verbindungen von rechtskonservativen Intellektuellen innerhalb und außerhalb der protestantischen Kirchenbürokratien entsprach. Über die Schlüsselpersonen ist allerdings immer noch wenig bekannt. Hinzuweisen ist etwa auf Hermann Ullmann, der in der Zeit der Weimarer Republik für die »volkskonservative« Richtung publizistisch tätig gewesen war. Er hatte auch in Zehrers Tat geschrieben und nach dem Zweiten Weltkrieg für das Genfer Sekretariat der Lutheran World Fe-
Religion und politische Streitkultur im »Jahrhundert der Intellektuellen«, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der Moderne, München 2009, S. 101-120, hier S. 115 ff. 60 Kurt Marek an Kurt Hiller, 14.9.1948; Kurt Hiller an Kurt Marek, 18.9.1948, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Rowohlt Verlag; die Kunst phantasievoller Beleidigung erprobte Hiller auch später, indem er Zehrer (1954) als »Klosettgewächs« verunglimpfte; Rüdiger Schütt (Hrsg.), Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf – Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953-1971, München 2009, S. 130; interessant ist der Umstand, dass eine Woche vor der Versendung des Zehrer-Buches dem linkskatholischen Publizisten Walter Dirks eine Absage erteilt wurde. Sein Manuskript für eine »Flugschriftenreihe« des Verlags könne nicht mehr veröffentlicht werden, weil die Währungsreform mittlerweile die Verkaufsbedingungen völlig verändert habe; Kurt Marek an Walter Dirks, 6.9.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 31 A.
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deration gearbeitet. In einem Rundbrief als Dank für Glückwünsche zu seinem 65. Geburtstag hieß es: »Der nationalsozialistische Kurzschluss hat viele praktische Anfänge zerstört; er war nicht zufällig, wie wir heute wissen. Denn es hatte keinen Sinn, von ›Volksgemeinschaft‹ zu sprechen, wenn die Völker sich nicht mehr als Träger einer göttlichen Sendung wissen, vielmehr zum Selbstzweck geworden sind.«61 Das Einladungsschreiben für eine Festschrift zum 70. Geburtstag, unterzeichnet von hohen Bonner Amtsträgern, war an einen Kreis von mehr als sechzig konservativen Intellektuellen gerichtet, darunter Bundestagspräsident Hermann Ehlers, den Vorsitzenden der Sudetendeutschen Landsmannschaft Rudolf Lodgman von Auen, Rudolf Pechel, August Winnig und auch an Zehrers Kontaktmann Hanns Lilje.62 Ob die – zeitweilige – Wandlung Zehrers vom politischen zum religiösen Schriftsteller eigenen Überzeugungen entsprach oder eher taktisch motiviert war, ist nicht die entscheidende Frage, denn in den Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit besaß die Parole der »Rechristianisierung« selbst eine eminent politische Bedeutung. Jedenfalls stand Zehrer seit 1949 – bereits vier Jahre vor dem Wechsel vom Sonntagsblatt zur Welt – auf der Honorarliste von Springer, mit dem er sich fast täglich in einem Café an der Hamburger Esplanade traf.63 Am Beispiel dieser Gruppe ehedem konservativ-revolutionärer Publizisten, deren Zusammenhalt bis in die 1960er Jahre reichte, lässt sich die Zielstrebigkeit ermessen, mit der berufliche Nachkriegsplanungen bereits aus der Lagerhaft heraus betrieben wurden. Die in der NS-Zeit geknüpften Netzwerke führten zunächst zur Besetzung der beiden großen Wochenblätter der evangelischen Kirche, des Sonntagsblatts in Hamburg 1948 mit Hans Zehrer als Chefredakteur und Ferdinand Fried sowie von Christ und Welt, der im selben Jahr gegründeten und bis 1963 auflagenstärksten Wochenzeitung der Bundesrepublik, durch Klaus Mehnert als Chefredakteur, Wolfgang Höpker als dessen Stellvertreter64 und Giselher Wirsing als zunächst verdeckt mitarbeitendem Redaktionsmitglied. 1954 löste er Mehnert als Chefredakteur ab und behielt die Funktion bis 1970. Die Erinnerung an frühere Kooperationsbeziehungen lässt sich auch in den Briefen von Hans Paeschke und Joachim Moras, mit denen sie Autoren für ihre Zeitschrift Merkur gewinnen wollten, als Einstieg in vielfältigen Variationen be61 Hermann Ullmann, September 1949, in: DLA, A: Armin Mohler. 62 Rundbrief, Bonn, 18.8.1954, in: DLA, A: Armin Mohler; zur Biographie von Ullmann von rechtskonservativer Seite W (= Karlheinz Weißmann), Ullmann, Hermann, in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.), Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996, S. 569. 63 Lohmeyer, Springer, S. 190. 64 Höpker kannte Wirsing aus der Redaktion der Münchner Neuesten Nachrichten; er wurde dessen Nachfolger als Chefredakteur und übte diese Funktion bis 1945 aus; gut bekannt war er auch mit Klaus Mehnert; Wolfgang Höpker an Klaus Mehnert, 31.3.1947, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 1.
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trachten. Paeschke und Moras, ein Schüler des einflussreichen Bonner Romanisten Ernst Robert Curtius, der als Berater im Hintergrund stand,65 waren die Verleger der seit 1947 erscheinenden Zeitschrift, die sich im Untertitel Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken nannte. Sie konnten auf eine große Kartei potentieller Autoren zurückgreifen, hatten sie doch bereits in der NS-Zeit – bis 1943/44 – zwei renommierte intellektuelle Zeitschriften herausgeben können: Paeschke die seit 1890 erscheinende Neue Rundschau des Fischer-Verlags, Moras (Redaktionsmitglied seit 1931; Herausgeber seit 1936) die seit 1925 existierende Europäische Revue des Prinzen Karl Anton Rohan.66 Die Redaktionen beider Zeitschriften befanden sich in Berlin in unmittelbarer Nachbarschaft. Noch näher kamen sich Paeschke und Moras in den letzten Kriegsmonaten in Sigmaringen. In diesem württembergischen Ort versammelten sich die französischen Kollaborateure, aber auch Frankreich-Kenner des NS-Regimes.67 Hier reifte der Plan einer gemeinsamen Zeitschrift nach Kriegsende. Wegen der Finanzierung der Europäischen Revue durch das Auswärtige Amt unter Ribbentrop musste sich Moras anfangs zurückhalten, bis Paeschke es durch seine guten Beziehungen zur französischen Besatzungsmacht Ende 1947 erreichte, dass sich Moras keiner Entnazifizierung unterziehen musste, aber, seit dem sechsten Heft des Merkur, als Mitherausgeber auftreten durfte. Paeschke und Moras haben ihre Arbeit im »Dritten Reich« kaum thematisiert, und wenn, dann in allgemeinen, raunenden Phrasen, die das eigene Tun in die Nähe des Widerstands rückten. In der Antwort von Hans Paeschke auf den Kondolenzbrief von Theodor Heuss zum Tod von Joachim Moras wurde dessen »Tapferkeit« hervorgehoben, sei er doch mit seiner Zeitschrift den »Zumutungen der damaligen politischen Bürokratie unmittelbar« ausgesetzt gewesen.68 Weniger zur politischen Skandalisierung als vielmehr zum Verständnis sowohl der ideengeschichtlichen Entwicklung als auch der personalen Netzwerke unter Intellektuellen nach 1945 lohnt sich angesichts nekrologischer Apologie die Durchsicht politisch-kultureller Medien des »Dritten Reiches«, zählten zu den Autoren des Merkur in den 1950er Jahren doch Dutzende Beiträger der beiden Vorgängerzeitschriften.69 65 Vgl. dazu etwa Ernst Robert Curtius an Joachim Moras, 31.1.1947, in: DLA, D: Merkur; abgedruckt in: Ernst Robert Curtius, Briefe aus einem halben Jahrhundert. Eine Auswahl. Hrsg. und komm. von Frank-Rutger Hausmann, Baden-Baden 2015, S. 479-481. 66 Ina Ulrike Paul, Konservative Milieus und die Europäische Revue (1925-1944), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hrsg.), Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1060), Bern u. a. 2003, S. 509-556. 67 Zur »Endzeitgroteske von Sigmaringen« vgl. Zimmermann, Friedrich Sieburg, S. 273 ff.; zum deutsch-französischen Feld intellektueller Mittler, das im Zeitraum seit der Niederlage Frankreichs 1940 über die deutsche Kapitulation 1945 hinweg bis in die frühe Bundesrepublik bestand, vgl. instruktive Beiträge in Patricia Oster/Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines transnationalen kulturellen Feldes, Bielefeld 2008. 68 Hans Paeschke an Theodor Heuss, 11.4.1961, in: DLA, D: Merkur. 69 Vgl. zur Neuen Rundschau und zur Neuen Revue in der NS-Zeit Kießling, Die undeutschen Deutschen, S. 40 ff.
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Die enge Verbindung zu Curtius70 nutzten die Merkur-Gründer umgehend, um auch Karl Jaspers zu gewinnen, der in den ersten Nachkriegsjahren für viele Intellektuelle eine moralische Instanz darstellte. Das Schreiben von Paeschke ist ein Musterbeispiel für den unterwürfigen Duktus, mit dem besonders Prominenten unter den umworbenen Autoren geschmeichelt werden sollte: »Sehr verehrter Herr Professor, darf ich den Aufenthalt von Herrn Prof. Curtius bei Ihnen zum Anlass nehmen, einige Worte ehrerbietiger Begrüßung an Sie zu richten. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass unsere von Dr. Moras, einem Ihrer früheren Schüler, und mir geleitete Zeitschrift ›Merkur‹ sich Ihrem Werk als einem hohen Kriterium des deutschen Geistes der Gegenwart besonders tief verpflichtet fühlt.«71 Dass sich Paeschke im Fortgang des Briefes – vergeblich – um den Abdruck von Jaspers’ Rede bei der Entgegennahme des Frankfurter Goethepreises 1947 bemühte, entbehrte nicht einer ironischen Pointe. Denn Jaspers’ kritische Betrachtung des Weimarer Dichterfürsten forderte Curtius zu einer heftigen Polemik heraus. Der Streit wurde einige Monate später öffentlich ausgetragen.72 Unter den ersten, die zur Mitarbeit eingeladen wurden, war Ernst Jünger, obwohl noch mit alliiertem Publikationsverbot belegt. Seinen Brief an den Schriftsteller ließ Paeschke durch Gerhard Heller überbringen, der dafür besonders geeignet erschien. Zum einen gehörte Heller, mit dem Paeschke nach Kriegsende die kurzlebige literarische Zeitschrift Lancelot geleitet hatte, zum Gründungsteam des Merkur, zum anderen kannte er Jünger sehr gut aus den Tagen der Pariser Besatzung, war er doch als »Sonderführer« für die Literaturpolitik zuständig gewesen. Er sollte das Konzept der Zeitschrift näher erläutern, bei dem Paeschke vor allem die beabsichtigte »Kontinuität« zu den beiden Vorgängerzeitschriften im »Dritten Reich« und das »Sich-Öffnen für die Welt« durch ausländische Kontakte hervorhob.73 Gleich nach Gründung des Merkur erinnerte Paeschke den italienischen Philosophen Ernesto Grassi, der von 1938 bis 1943 in Berlin residiert und das Kulturinstitut Studia Humanitatis gegründet hatte, an gemeinsame Tage in der Reichshauptstadt und betonte: »Ich würde mich außerordentlich freuen, durch Sie mit dem geistigen Kreis des heutigen Italien in eine enge Verbindung zu kommen.«74 70 Vgl. die Eloge zum 65. Geburtstag von Rudolf Alexander Schröder, Gruß an Robert Curtius, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 674-680. 71 Hans Paeschke an Karl Jaspers, 4.10.1947, in: DLA, D: Merkur. 72 S. Kapitel II.1. 73 Hans Paeschke an Ernst Jünger, 19.12.1946, in: Schöttker, Im Haus, S. 25 f. 74 Hans Paeschke an Ernesto Grassi, 15.1.1947, in: DLA, D: Merkur; dabei wies Paeschke auf den gemeinsamen Bekannten Ernst Wilhelm Eschmann hin; zu Grassis Aktivitäten bis 1945 Wilhelm Büttemeyer, Ernesto Grassi. Humanismus zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, München 22010; Grassi ging 1943 nach Italien, wechselte 1944 in die Schweiz und kehrte 1948 nach Deutschland zurück. Seither lehrte er an der LMU München; bekannt wurde er als Gründer und Herausgeber der Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« seit 1955 (s. Kapitel II.3).
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Bis in die frühen 1950er Jahre hinein kam Paeschke bei der Anknüpfung von Kontakten immer wieder auf die Bekanntschaft »seit Berliner Tagen« zurück, die eine Mitarbeit am Merkur »sehr erwünscht« erscheinen ließ.75 Die positive Resonanz sprach dafür, dass diese Herstellung von Vertrautheit ihre Wirkung nicht verfehlte. Dies galt etwa für die Journalistin Margret Boveri, die im »Dritten Reich« eine der typischen Karrieren vom Berliner Tageblatt über die Frankfurter Zeitung bis zum Reich gemacht hatte.76 Hans Paeschke bat sie vor allem darum, »für uns Verbindung zu geeigneten Persönlichkeiten, namentlich des Auslandes, die Sie von früher kennen«, herzustellen; gemeint waren damit vor allem ihre Kontakte zu Publizisten, die sie während ihrer Zeit als Korrespondentin in New York Anfang der 1940er Jahre, aber auch in Stockholm, Lissabon und Madrid geknüpft hatte. Der Brief schloss mit einer weiteren Frage: »Was macht eigentlich Korn? Ich schrieb ihm einmal, erhielt aber keine Antwort.«77 Karl Korn entschuldigte sich erst zwei Jahre später dafür, dass er zwei Briefe von Hans Paeschke von 1946, in denen er zur Mitarbeit am Merkur eingeladen worden war, nicht beantwortet hatte. Margret Boveri habe ihn daran erinnert: »Aber an Sie und Ihre ausgezeichnete Arbeit am Merkur brauchte ich eigentlich nicht eigens erinnert zu werden. Ich gehöre zu den Anhängern, was mehr als Leser ist. Grüssen Sie übrigens bitte Moras, den alten Kampfgefährten.«78 Die Anrede »Lieber Paeschke« drückte bereits die persönliche Bekanntschaft aus früheren Zeiten aus. An Moras wiederum schrieb Korn nach seiner endgültigen Übersiedlung von Berlin nach Wiesbaden: »Bald werde ich alle Wiederbegegnungen durchhaben. Ich freue mich, dass auch wir wieder in Kontakt sind.«79 Nicht immer gestaltete sich die Wiederanknüpfung so einvernehmlich. Als der Publizist Curt Hohoff dem Merkur einen Beitrag zum Abdruck anbot, antwortete Paeschke reserviert: »Ich freue mich, Ihrem Namen wieder zu begegnen. Ihre Beziehung zur ›Neuen Rundschau‹ ging wohl, wenn ich mich recht entsinne, vor allem über Dr. Korn (…) An Ihrer Skizze über Griechenland fesselte mich wiederum die klare und genaue Handhabung des Wortes. Leider steht das Ganze atmosphärisch doch zu sehr unter dem Eindruck eines, der Griechenland in der deutschen Besatzung erlebte. Da diese Dinge wegfallen müssen, fehlt für den Leser der konkrete Bezug.«80
75 Hans Paeschke an Klaus Mehnert, 22.5.1951, in: DLA, D: Merkur. 76 Vgl. Heike Görtemaker, Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri 19001975, München 2005, S. 63 ff., 130 ff. 77 Hans Paeschke an Margret Boveri, 13.5.1947, in: DLA, D: Merkur. 78 Karl Korn an Hans Paeschke, 1.5.1948, in: DLA, D: Merkur. 79 Karl Korn an Joachim Moras, 3.8.1948, in: DLA, D: Merkur. 80 Hans Paeschke an Curt Hohoff, 19.4.1947, in: DLA, D: Merkur.
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Auch in den folgenden Jahren lehnten Paeschke und Moras etliche Texte von Hohoff ab, weil andere schon darüber geschrieben hätten, weil sie besser in ein Zeitungs-Feuilleton passen würden oder weil die Redaktion mit Beiträgen reichlich versehen sei. Erst seit Mitte der 1950er Jahre kam Hohoff häufiger zum Zuge. Auffallend ist generell der herablassende Umgang mit Autoren, die selbst an den Merkur herantraten im Vergleich zu denjenigen, um die mit schmeichelnden Formulierungen geworben wurde, die sich dann aber rar machten. Der Literaturwissenschaftler und spätere sozialdemokratische Kulturpolitiker Carlo Schmid, der sich in der Nachkriegszeit noch Karl Schmid nannte, war Ende 1946 unter den ersten, die zur Mitarbeit am Merkur eingeladen wurden. Immer wieder vertröstete Schmid, der die Zeitschrift als intellektuelle Nr. 1 lobte, die Herausgeber, publizierte seine Vorträge aber in der Wandlung, in der Deutschen Rundschau und in den Frankfurter Heften. Erst Mitte der 1950er Jahre bot er dem Merkur von sich aus einen Beitrag an.81 An Helmut Cron, der die in Stuttgart erscheinende Wirtschaftszeitung leitete, schrieb Paeschke: »Sollten Sie einmal Lust haben, sich in Erinnerung an Ihre früheren Beiträge in der ›Neuen Rundschau‹ bei uns zu betätigen, so wäre es schön.«82 Und noch zehn Jahre nach Kriegsende zeigte sich Paeschke von einem alten Text Crons sehr angetan: »Parvenü unserer Zeit, der ja heute noch weit mehr Schichten ergreift als im Dritten Reich: Vor einigen Tagen fiel mir zufällig Ihre Glosse über den Parvenü in die Hände, die Sie mir 1940 für die NEUE RUNDSCHAU gegeben hatten.«83 Hierbei handelte es sich nicht nur, wie beim ersten Blick, um ein neues soziologisches Thema der heraufdämmernden Wohlstandsgesellschaft, sondern er markierte zugleich eine grundsätzliche Denkkontinuität der Modernekritik. Dies gilt auch für ein sehr prominentes Beispiel, die Kritik des Jazz aus Theodor W. Adornos Feder, die 1953 im Merkur erschien. Im ersten Schreiben von Paeschke an Adorno in New York Ende 1946, in dem er den Merkur als »internationale Zeitschrift in deutscher Sprache« vorstellte, die die »beste europäische Tradition« der beiden Vorgängerzeitschriften vereine, bat er um 30 Seiten über ein Adorno bekanntes Thema: »Bei unseren Besprechungen fiel mehrfach Ihr Name und zwar in Erinnerung Ihres grossartigen Beitrages über die Psychologie des Jazz, den Sie 1933 in der ›Europäischen Revue‹ veröffentlichten. Dieses Thema ist heute zu der zentralsten (sic!) seelischen Angelegenheit der modernen Welt geworden.«84 Es sollte weitere sechs Jahre dauern, bis Paeschkes Wunsch erfüllt wurde: »Lieber Herr Professor, mit herzlichem Dank, grosser Freude und leider nicht geringerer Beschämung empfingen wir gestern Ihre Arbeit über den Jazz, auf die hin wir Sie – in Erinnerung an einen schon damals höchst bemerkenswerten Beitrag in der E. R. (Europäische Revue; A. S.) – bei Ihrer Rückkehr (schon vorher; s. o.; A. S.) anspre81 Carlo Schmid an Joachim Moras, 28.6.1954, in: DLA, D: Merkur. 82 Hans Paeschke an Dr. Helmut Cron, 9.5.1948, in: DLA, D: Merkur. 83 Hans Paeschke an Helmut Cron, 5.12.1955, in: DLA, D: Merkur; vgl. Helmut Cron, Der konfektionierte Parvenü, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 624-628. 84 Hans Paeschke an Theodor Wiesengrund-Adorno, 9.12.1946, in: DLA, D: Merkur.
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chen durften.« Paeschke zeigte sich hocherfreut »über diesen Essay, in dem Sie so scharf wie immer zupacken und mit dem Sie zum Schluss die sadomasochistischen Phänomene der Kultur hüben und drüben unvergleichlich hervortreten lassen (…) Gerade diese Analyse und diese Schärfe tun uns not.«85 Die heftige Invektive Adornos gegen den Jazz führte dann zu einer Kontroverse mit dem Kenner Joachim-Ernst Berendt, die im Merkur ausgetragen wurde.86 Ungeachtet biographischer Besonderheiten lassen sich vier Gruppen von Intellektuellen in ihrem Lebensweg unterscheiden, die um die attraktiven Posten im von den Alliierten etablierten Mediensystem konkurrierten: im Feuilleton der neu gegründeten Tages- und Wochenzeitungen, in den Redaktionen der zahlreichen Zeitschriften für Politik und Kultur und in den Literatur-Abteilungen der Rundfunkanstalten. Mit diesen Posten verbunden war wiederum die Regelung des Zugangs für frei schaffende Autoren sowie für prominente Professoren. Von den beiden größten Gruppen, die allerdings nur schwer auseinanderzuhalten sind, war bereits die Rede, also von jenen, die als belastet galten, weil sie hochrangige Positionen im nationalsozialistischen Mediensystem bekleidet oder sich mit antisemitischen Texten profiliert hatten, und jenen, die unspektakulär in den Feuilletons der NS-Presse oder kulturellen Nischen des Regimes gearbeitet hatten, ohne sich vollständig anzupassen.87 Darunter gab es einige Intellektuelle, die sich nach anfänglicher Begeisterung für die nationalsozialistische Bewegung enttäuscht zurückgezogen hatten. Diejenigen, die im »Dritten Reich« publiziert hatten, stellten insgesamt wohl vier Fünftel des Personals in den politisch-kulturellen Medien der unmittelbaren Nachkriegszeit, nach dem Wegfall der alliierten Restriktionen lag der Prozentsatz sogar noch höher. Nur wenige bekannten sich auch nach Kriegsende offen zum verflossenen »Dritten Reich«. Als Beispiel kann der katholische Priester und Kirchenrechtler Hans Barion gelten. Der Schüler von Carl Schmitt, NSDAP-Mitglied seit 1933, hatte 1945 den Verlust seines Bonner Lehrstuhls zu beklagen und musste wieder als Priester sowie als freier Publizist seinen Lebensunterhalt verdienen. Noch Ende 1944 hatte er in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Gustav Hillard-Steinbömer, »die Abstoppung des amerikanischen Vormarsches« als eine »unbegreiflich erfolgreiche Leistung unserer Wehrmacht« gefeiert und auf den Endsieg gehofft, ein Jahr spä85 Hans Paeschke an Theodor W. Adorno, 4.3.1953, in: DLA, D: Merkur. 86 Theodor W. Adorno, Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 537-548; Joachim-Ernst Berendt/Theodor W. Adorno, Für und wider den Jazz, in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 887-893. 87 Einer Auswertung sämtlicher von 1945 bis 1957 in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik vergebenen Literaturpreise zufolge erhielten »systemnahe Autoren« 12 Prozent, Autoren der »Inneren Emigration« 46 Prozent, im NS-Regime verbotene und emigrierte Autoren 28 Prozent und »Spätgeborene« 14 Prozent der Preise; Christian Adam, Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und Welt nach 1945, Berlin 2016, S. 14.
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ter sah er sich vom »Schnüffelkomité« seiner Universität verfolgt und spürte auch keine Neigung, sich als Publizist für »katholische Zeitschriften« zu betätigen, weil er nicht zur Anpassung tauge. »Rattenfänger« wie der kaholisch jugendbewegte Romano Guardini gingen ihm »auf die Nerven«.88 1947 fungierte Barion als Mitgründer der Düsseldorfer Academia Moralis, eines Gesellungsortes der Anhänger Carl Schmitts (s. Teil II), regelmäßige Aufträge erhielt er vom Brockhaus-Verlag, auch in Christ und Welt durfte er bald publizieren. Hillard wiederum, Major im ehemaligen Großen Generalstab, der mit Ernst Jünger gut befreundet war,89 gehörte zu den regelmäßig im Merkur vertretenen Autoren. Noch zu seinem 88. Geburtstag 1969 feierte ihn die Zeitschrift als »Senior der deutschen Essayistik«, der für die Nummer 250 des Merkur seinen 50. Beitrag abgeliefert habe.90 Als Beispiel für den strategischen Rückzug in die »Sicherheit des Schweigens« gilt gemeinhin Carl Schmitts Domizil in seinem westfälischen Heimatort Plettenberg, wo er nach der Entlassung aus amerikanischer Haft seit 1947 residierte und in den folgenden Jahrzehnten eine Vielzahl von Bewunderern empfing, außerdem mit Wissenschaftlern und Publizisten intensive Korrespondenzbeziehungen pflegte.91 Dass der einstige »Kronjurist des Dritten Reiches« sich der Entnazifizierung verweigerte und sich auch von seinen antisemitischen Schriften nicht distanzierte, schadete seiner Reputation in konservativen Kreisen und bei einigen linken Intellektuellen nicht;92 der erneute Ruf auf eine Professur kam allerdings für Schmitt, zum Zeitpunkt der Haftentlassung im 60. Lebensjahr stehend, nicht mehr in Frage. Nur wäre es ein Missverständnis, die Plettenberger Residenz deshalb als Verzicht auf mediale Öffentlichkeit zu verstehen. Bis in die Mitte der 1950er Jahre war das Gegenteil der Fall, vermochte der »esoterische Diskurs-Partisan« seine Kontakte zu wichtigen intellektuellen Medien vielmehr zu reaktivieren.93 Das Interesse fast aller NS-Aktivisten bestand allerdings darin, in der größeren Gruppe der »Mitläufer« aufzugehen und gegebenenfalls jeden Konflikt, den sie 88 Hans Barion an Gustav Hillard-Steinbömer, 5.12.1944; 16.11.1945; 17.2.1946, in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. 89 Die Korrespondenz zwischen Jünger und Hillard von 1954 bis zu dessen Tod im 92. Lebensjahr 1972 kreiste um die Kritik der Hohenzollern, den Wilhelminismus und die Kriegsführung im Ersten Weltkrieg aus konservativ-revolutionärer Sicht; s. DLA, A. Ernst Jünger. 90 DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. 91 Laak, Gespräche, S. 36 ff. 92 Die Literatur über Einflüsse von Schmitts Denken nach 1945 ist unüberschaubar; vgl. nur Jan-Werner Müller, A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought, New Haven 2003; Reinhard Mehring, Carl Schmitt, Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009. 93 Reinhard Mehring, Der esoterische Diskurs-Partisan. Carl Schmitt in der Bundesrepublik, in: Kroll/Reitz, Intellektuelle, S. 232-248, hier S. 234; vgl. Carl Schmitt und die Öffentlichkeit. Briefwechsel mit Journalisten, Publizisten und Verlegern aus den Jahren 1923 bis 1983. Hrsg., komm. und eingel. von Kai Burkhardt, Berlin 2013; zu den einzelnen Fällen s. Kapitel II dieses Buches.
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im »Dritten Reich« auszustehen hatten, als Nachweis für eine oppositionelle Position auszugeben,94 so dass es bald nur noch »innere Emigranten« gab, aber bis auf krasse Einzelfälle keine ehemaligen Nationalsozialisten mehr. Dieser Strategie kam entgegen, dass die konservativen Frondeure des 20. Juli 1944, von denen mehr als 100 hingerichtet worden waren, noch von zeitgeschichtlichem Dunkel umgeben waren. Jeder, der einen noch so marginalen Kontakt geltend machen oder erdichten konnte, wollte dabei gewesen sein. Das Geraune, das sich auf die angeblichen letzten Worte von Claus Schenk Graf von Stauffenberg – »Es lebe das geheime Deutschland« – bezog, galt nicht nur der Konstruktion einer Gloriole um den George-Kreis, sondern allgemein der Verknüpfung von Widerstand und »innerem Widerstand« in der Geschichtspolitik der frühen Bundesrepublik.95 Selbst der NSSchriftsteller Edwin Erich Dwinger gerierte sich bei seiner Entnazifizierung – er erreichte 1948 eine Einstufung als »Mitläufer« – als Angehöriger des Widerstands. 1950 wurde er bereits wieder auf seinen Lesereisen umjubelt; »die Leser sind mir alle treu geblieben und sechs Jahre vergingen wie ein Tag«.96 Ein weiterer Vertreter dieses ominösen Widerstands war der NS-Schriftsteller Werner Beumelburg, der Zugang zu den obersten Kreisen um Hermann Göring gehabt hatte und gleichwohl behauptete, er – wie die gesamte Wehrmacht – habe während der Kriegszeit keine Kenntnis von der Ermordung der Juden gehabt. Nach achtmonatiger Internierung und der Amnestierung im August 1946 gelang ihm eine zweite Karriere mit Romanen beim Oldenburger Stalling-Verlag, deren Auflage bis 1953 immerhin 25.000 verkaufte Exemplare betrug. Zugleich betätigte er sich eifrig in rechtsextremen politischen Zirkeln. Um 1960 war allerdings die Zeit seiner Erfolge endgültig vorbei, sogar sein Hausverlag trennte sich von ihm.97 Die Verdunkelung der eigenen NS-Karriere als Bedingung für den Erhalt notwendiger Reputation im professionellen Feld gelang den meisten – nur wenige wurden später von ihrer Vergangenheit eingeholt.98 Umgekehrt war es nicht einfach, konkret zu benennen, worin denn der Mut der vielen ›inneren Emigranten‹ bestanden haben sollte. Franz Josef Schöningh, er wurde 1945 Mitbegründer und -herausgeber der Süddeutschen Zeitung und im Jahr darauf auch der katholischen 94 Die ständigen Gruppen- und Cliquenkämpfe in der NS-Zeit, die sich auch in einigen spektakulären öffentlichen Diskussionen unter Intellektuellen ausdrückten (vgl. Ulrich Herbert, Intellektuelle im »Dritten Reich«, in: Hübinger/Hertfelder, Kritik, S. 160-177), konnten späterer Verdunkelung von Biographien dienen. 95 Zu älteren Traditionslinien vgl. Hans-Christof Kraus, Das Geheime Deutschland. Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee, in: Historische Zeitschrift, Bd. 291, 2010, S. 385-417. 96 Edwin Erich Dwinger an Jürgen Eggebrecht, 10.11.1950, in: Monacensia, Nl. Jürgen Eggebrecht, JE B 93. 97 Vgl. Florian Brückner, In der Literatur unbesiegt. Werner Beumelburg (1899-1963) – Kriegsdichter in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Berlin 2017, S. 423 ff. 98 Vgl. Kapitel II.4; bekannte Beispiele später Thematisierung lieferten zuletzt die sich über Jahre hinziehenden Diskussionen um die Publizisten Fritz Sänger und Peter Grubbe, den Historiker Theodor Schieder, den Politologen Theodor Eschenburg und weitere Intellektuelle.
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Zeitschrift Hochland, wandte sich im Auftrag seines Freundes, des Dichters Wilhelm Hausenstein, einigermaßen ratlos an Max Stefl mit der Bitte um Material über kritische Schriftsteller und Verleger in der NS-Zeit. Hausenstein plante einen Offenen Brief gegen Thomas Mann und dessen Angriffe auf die im Land gebliebenen Intellektuellen. Das Honorar: »drei gute Zigarren«.99 Der Offene Brief, den er schließlich abschickte und der in der Weihnachtsausgabe 1945 der Süddeutschen Zeitung erschien, enthielt 100 mehr oder weniger überzeugende Namen der sogenannten Inneren Emigration.100 Dieser Brief war Teil einer Kampagne von Schriftstellern, die sich gegen Thomas Manns abschätziges Urteil über die im »Dritten Reich« produzierte Literatur wehrten. Mann hatte, gleichfalls in der Süddeutschen Zeitung, formuliert: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.«101 Die erbosten Kritiker hielten dem Nobelpreisträger vor, er habe während des Krieges eine bequeme Position als ferner Beobachter eingenommen und weigere sich nun, an Ort und Stelle in Deutschland die Not zu lindern. Die Auseinandersetzung ist unter dem Namen »Große Kontroverse« in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen. Symptomatisch war das notorisch gute Gewissen, das Ursula von Kardorff, die während der gesamten Zeit des Krieges für das Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin geschrieben hatte, an den Tag legte. In einem Brief lobte der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, ihre Berichte über die Nürnberger Prozesse für die Süddeutsche Zeitung, vor allem die Invektiven gegen Kurt Tucholsky und andere für die Machtergreifung angeblich verantwortliche Linksintellektuelle: »Die besten der Deutschen, die Hitler nicht mit den Methoden der Massenwerbung an sich ziehen konnte, wurden ihm durch diese Gesellschaft zugetrieben. Denn was hatten schon Fritzi Schulenburg und ich mit diesen braunen Hetzern und Schwätzern gemeinsam. Aber dass die Neuen diesen dezidiert Ekelhaften 99 Franz Josef Schöningh an Max Stefl, 6.12.1945, in: Monacensia, Nl. Stefl, MSt B 413; Schöningh war nach Abbruch seiner akademischen Karriere als Nationalökonom 1935 Redaktionsmitglied der katholischen Zeitschrift Hochland und während des Krieges 1942-1944 stellvertretender Kreishauptmann im besetzten polnischen Teil von Galizien geworden; seine dortige Tätigkeit ist nicht restlos aufgeklärt. 100 Wilhelm Hausenstein, Bücher – frei von Blut und Schande, in: Süddeutsche Zeitung, 24.12.1945; vgl. ders. an Thomas Mann, in: Johannes F. G. Grosser (Hrsg.), Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg 1963, S. 62-75. 101 Thomas Mann, in: Süddeutsche Zeitung, 6.10.1945; vgl. aus der Perspektive des Mediums, in dem die Kontroverse hauptsächlich ausgetragen wurde, Knud von Harbou, Als Deutschland seine Seele retten wollte. Die Süddeutsche Zeitung in den Gründerjahren nach 1945, München 2015, S. 61 ff.
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der Eiterpublizistik und der Beschmutzung anständiger Instinkte durch die Zivilisationsliteraten ein Ende machen würden, hat uns diese brutalen Rabauken eine Weile sympathisch machen können. (…) Die Unterscheidung zwischen den antifaschistischen Lumpen und den anständigen Gegnern Hitlers wird einmal sonnenklar werden.«102 Kurz zuvor war Kardorff wegen eines Hinweises in der Ost-Berliner Weltbühne auf ihre antisemitischen Feuilletonartikel in der Kriegszeit von der Mitarbeit in der Neuen Zeitung ausgeschlossen worden. Der zuständige Kontrolloffizier teilte ihr mit: »Ich habe die Artikel genauestens gelesen und bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir im Hinblick darauf Ihre Dienste nicht weiter beanspruchen können. Ich gebe zu, daß dies für mich, vermutlich aber auch für Sie, peinlich ist, hoffe jedoch, daß Sie verstehen werden, wenn wir, eine Organisation der Militärregierung, bei der Auswahl unserer deutschen Angestellten hinsichtlich ihrer politischen und ideologischen Vergangenheit besonders vorsichtig sein müssen. Ich glaube, man hätte Ihnen einige Zugeständnisse machen können, wären Ihre Artikel im Anfangsstadium des Krieges geschrieben worden, aber zu meiner Überraschung erschienen sie 1944, sogar noch am 15. November.«103 Die Kündigung bei der Neuen Zeitung stand aber einer Karriere bei der Süddeutschen Zeitung nicht im Weg, wo Kardorff 1948 eine Festanstellung als FeuilletonRedakteurin erhielt. Antisemitische Sentenzen finden sich noch in der privaten Korrespondenz der 1960er Jahre. Das Erleben des Kriegs- und Regimeendes als Zusammenbruch einer Welt teilte der nationalsozialistisch belastete und zeitlebens auf dem äußersten rechten politischen Flügel beheimatete Hans-Georg von Studnitz wohl mit allen zumindest systemkonformen Berufskollegen: »1945 stürzte zum dritten Mal eine Welt zusammen, mit der ich auszukommen versucht hatte. Vier Jahrzehnte schlossen sich an, die durch Kampf um eine neue Existenz ausgefüllt waren.«104 Etliche der im »Dritten Reich« aktiven Publizisten erlebten zwar eine unfreiwillige berufliche Unterbrechung, aber der Kalte Krieg ließ die zuvor erworbenen Qualifikationen erneut 102 Rudolf Diels an Ursula von Kardorff, 26.7.1948, in: Institut für Zeitgeschichte (IfZ), Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/5; der Brief wurde in Nürnberg abgeschickt, wo der von 1946 bis 1949 internierte Diels als Zeuge auftrat. 103 Jack M. Fleischer (Die Neue Zeitung/Der Chefredakteur/Chief of Branch) an Ursula von Kardorff (im Hause), 20.3.1948, in: IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/7; Ursula von Kardorff beklagte sich noch am gleichen Tag über die Denunziation der »lieben Kollegen« und hob ihre – angebliche – Widerstandstätigkeit im Umkreis des 20. Juni 1944 hervor; Ursula von Kardorff an Jack M. Fleischer, 20.3.1948, in: ebd.; vgl. auch die Stilisierung als Widerständlerin in den nachträglich bearbeiteten Tagebüchern von Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen. 1942-1945, München 1992. 104 Hans-Georg von Studnitz, Menschen aus meiner Welt, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, S. 7.
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als karrierefördernd erscheinen, nicht zuletzt die, von antisemitischem Vokabular freilich zu reinigende, antikommunistische Ost-Expertise, die Studnitz, Mehnert und zahlreichen weiteren Publizisten als Eintrittsbillet in die gehobene westdeutsche Presselandschaft diente. Eine kleine Gruppe, auf die alle Siegermächte die größten Hoffnungen setzten, bildete die junge Generation, deren Angehörige aus den Kriegsgefangenenlagern zu Zeitungen geholt wurden, wie etwa Hans Werner Richter und Alfred Andersch,105 die zeitweise den legendären Ruf herausgaben. Auch ihr Nachfolger, Erich Kuby, zählte zu dieser Generation, ebenso Heinrich Böll und weitere Mitglieder der Gruppe 47. Rudolf Augstein, der sich in einer Propagandakompanie der Wehrmacht seine journalistischen Sporen verdient hatte, erhielt eine Lizenz für den Spiegel, Marion Gräfin Dönhoff, eine der wenigen Frauen in diesem Metier, zählte zu den jüngsten Redaktionsmitgliedern der Zeit. Der Journalist Claus Jacobi, dessen Weg von der Zeit über den Spiegel zu Springers Bild und Welt führen sollte, verbreitete sich im Rückblick über die »wunderbare Zeit«, die für junge Journalisten nach dem Kriegsende anbrach.106 Klein war auch die Gruppe der Remigranten. Nicht mehr als etwa 1.000 Intellektuelle kehrten aus dem Exil zurück, nach Schätzungen maximal ein Drittel der nach 1933 Geflohenen. Von insgesamt etwa 2.000 Journalisten im Exil waren in der Nachkriegszeit etwa 180 in den Printmedien tätig, dazu noch einmal 60 bis 70 in den Radiostationen.107 Zwar gelangten einige Remigranten auf wichtige Posten innerhalb der Medien – wie etwa Fritz Eberhard als Intendant des Süddeutschen Rundfunks –, aber insgesamt versuchten die Siegermächte den Eindruck zu vermeiden, sie beabsichtigten die Errichtung einer Fremdherrschaft über die Deutschen durch eine privilegierte Gegenelite.108 Hinzu kam in den westlichen Zonen der Argwohn, bei den Remigranten handle es sich um eine vorwiegend jüdische linksintellektuelle Gruppe. Das war zwar nicht völlig falsch, aber zum einen gab 105 Eine Dokumentation über die im US-Vernehmungscamp heimlich abgehörten Gedanken des jungen Alfred Andersch bei Felix Römer, Alfred Andersch abgehört, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 58, 2010, S. 563-598; vgl. Jérome Vaillant, Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945-1949). Eine Zeitschrift zwischen Illusion und Anpassung, München u. a. 1978, S. 3 ff.; vgl. »Uns selbst mussten wir misstrauen.« Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hrsg. von HansGerd Winter, München/Hamburg 2002; zur Geschichte der Gruppe 47 s. Kapitel II.3. 106 Buhl, Marion Gräfin Dönhoff, S. 74. 107 Die Zahlen beruhen auf Schätzungen von Marita Biller, Exilstationen. Eine empirische Untersuchung zur Emigration und Remigration deutschsprachiger Journalisten und Publizisten, Münster/Hamburg 1993; vgl. auch Hans Ulrich Wagner, Rückkehr in die Fremde? Remigranten und Rundfunk in Deutschland 1945-1955. Eine Dokumentation zu einem Thema der deutschen Nachkriegsgeschichte. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2000. 108 Vgl. die Beiträge über die vier Besatzungszonen in Claus-Dieter Krohn/Axel Schildt (Hrsg.), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002 (die quantitativen Angaben in der Einleitung).
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es auch eine Reihe von konservativen Professoren, Publizisten und Schriftstellern, die vor Hitler hatten fliehen müssen und ihre Auffassungen bewahrten, zum anderen wirkte die Anschauung zumal des US-Exils dahingehend, dass viele vormals sozialistische und kommunistische Remigranten sich vom Marxismus lösten und als Agenten »normativer Verwestlichung« nach Deutschland zurückkehrten.109 Die Planung der Nachkriegsbesatzung hatte in den USA spätestens mit der Gründung der School of Military Government in Charlottesville 1942 begonnen.110 Und sehr bald hatten die künftigen Sieger verstanden, dass es angesichts der langen Traditionen deutscher und europäischer Kultur kein Erfolgsrezept wäre, auf eine Umerziehung der Deutschen durch US-Ideen zu hoffen. So finden sich – hier für das Jahr 1949 – unter den vom Office of Military Government for Germany, US (OMGUS) deutschen Zeitschriften kostenlos und exklusiv zur Verfügung gestellten Beiträgen in deutscher Übersetzung zahlreiche Aufsätze von europäischen Geistesgrößen, darunter prominent Ortega y Gasset, die eben nichts »Amerikanisches« ausstrahlten.111 Viele Intellektuelle kamen – wie etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer – erst einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, manche auch erst viel später in die Bundesrepublik und sondierten zuvor sehr genau die Lage. Adorno, und nicht nur er allein,112 bekundete allerdings nach seiner Rückkehr, vom kulturellen Leben positiv überrascht zu sein, und versuchte dies auch theoretisch zu erklären: »Der Intellektuelle, der nach langen Jahren der Emigration Deutschland wiedersieht, ist zunächst von dem geistigen Klima überrascht. Draußen hat sich die Vorstellung gebildet, als hätte das barbarische Hitler-Regime Barbarei hinterlassen. (…) Davon kann aber keine Rede sein. Die Beziehung zu den geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne, ist stark. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdräng109 So wird Franz Borkenau, vor 1933 im Umkreis der »Frankfurter Schule« zu verorten, ein militanter Antikommunismus mit durchaus illiberalen Zügen attestiert; Mario Keßler, Kommunismuskritik im westlichen Nachkriegsdeutschland. Franz Borkenau, Richard Löwenthal, Ossip Flechtheim, Berlin 2011; zum Konzept im engeren, auf die Politikwissenschaft bezogenen Sinne vgl. Alfons Söllner, Normative Verwestlichung. Der Einfluss der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Heinz Bude/ Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 72-92; ders., »Agenten der Verwestlichung«? Zur Wirkungsgeschichte deutscher Hitler-Flüchtlinge, in: Peter Burschel/Alexander Gallus/Markus Völkel (Hrsg.), Intellektuelle im Exil, Göttingen 2011, S. 199-218; für eine weitere Fassung im Rahmen ideeller Verwestlichung vgl. Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? 110 Hans Braun/Ute Gerhardt/Everhard Holtmann, »Die lange Stunde Null«. Exogene Vorgaben und endogene Kräfte im gesellschaftlichen und politischen Wandel nach 1945, in: dies., Stunde Null, S. 7-26, hier S. 8 ff. 111 Unterlagen in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/5. 112 Vgl. Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, München 2006, S. 284291.
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ten die machtpolitischen Kämpfe alles andere. Zugleich besetzte eine industriell hergestellte und gelieferte Massenkultur die Freizeit und enteignete das Bewußtsein der Einzelnen. Heute ist das politische Interesse erschlafft, während der verwaltete Kulturbetrieb die Menschen noch nicht wieder ganz eingespannt hat. Sie sind auf sich selbst und die eigene Überlegung zurückgeworfen. Sie stehen gleichsam unter dem Zwang zur Verinnerlichung. Daher die intellektuelle Leidenschaft.«113 Bei diesem Befund, der sich wie eine Erwiderung auf Thomas Manns bittere Feststellung notorischer deutscher Verstocktheit liest, ist allerdings zu beachten, dass Adorno sich hier an ein bildungsbürgerliches Publikum wandte, das er nicht verprellen wollte. Auch ist in Rechnung zu stellen, wie sich Ludwig Marcuse an seine eigene Reise nach Deutschland aus dem US-Exil 1949 erinnerte, dass man nicht in die »deutsche Gegenwart« der Bundesrepublik fuhr, sondern »eher in das seltsam deformierte Land« der Jahrzehnte vor 1933, und dass man unter Umständen »mehr Stimmungen wahr(nahm) als politische Realitäten«.114 Aber selbst wenn solche projektiven Anteile vorhanden waren, scheint die Beobachtung, dass politische Weltanschauungskämpfe, wie sie um 1930 tobten, an ihr elegisches Ende gekommen seien,115 ebenso treffend wie die Beobachtung bedenkenswert, dass der »Kulturbetrieb« noch nicht die einstige Macht zurückerobert habe. Was Adorno aber im Gegensatz zu Hannah Arendt in ihrem kurz zuvor erschienenen Reisebericht nicht thematisierte, war die Weigerung der Deutschen, zurückzuschauen: »Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt.«116 Adorno reflektierte dieses »Phänomen der deutschen Regression« zwar durchaus, aber eben nicht öffentlich, sondern in einem langen Brief an Thomas Mann, der Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, S. 469-477, hier S. 469. 114 Ludwig Marcuse, Nachruf auf Ludwig Marcuse, München 1969, S. 66; der konservative Schriftsteller bekannte, dass er auf seinen Reisen nach Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren recht eigentlich erst zum Amerikaner geworden sei. 115 Axel Schildt, Auf neuem und doch scheinbar vertrautem Feld. Intellektuelle Positionen am Ende der Weimarer und Anfang der Bonner Republik, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 13-32. 116 Hannah Arendt, Besuch in Deutschland 1950. Die Nachwirkungen des Nazi-Regimes, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays. Hrsg. von Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 43-70, hier S. 43 f. (ursprünglich abgedruckt unter dem Titel: The Aftermath of Nazi Rule. Report from Germany, in: Commentary, Jg. 10, 1950, H. 4, S. 343-353); zum Kontext der Eindrücke von Adorno und Arendt vgl. Lars Rensmann, Das Besondere im Allgemeinen. Totale Herrschaft und Nachkriegsgesellschaft in den politisch-theoretischen Narrativen von Arendt und Adorno, in: Dirk Auer/Lars Rensmann/Julia Schulze Wessel (Hrsg.), Arendt und Adorno, Frankfurt a. M. 2003, S. 150-197. 113
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nicht auf Dauer nach Deutschland zurückkehren mochte und sich erst spät zur Remigration nach Europa, allerdings in die Schweiz, entschloss: »Man darf sich ja nicht darüber täuschen, daß die kollektive Energie der Deutschen wirklich in einem Maße wie nie zuvor in das faschistische Unternehmen eingegangen war, und das bedeutet ein Alles oder Nichts. Was zurückblieb, scheint im metaphysischen Sinn kaum weniger ein Trümmerfeld als im physischen, beschädigt im Ich, in der Autonomie, in der Spontaneität und oftmals geradezu die Erfüllung dessen, was der abscheuliche Spengler als das Heraufkommen des neuen Höhlenbewohners prophezeite.«117 Die Wahrnehmungen der Remigranten von der westdeutschen Gründergesellschaft, bei der als Hintergrund stets die Exilerfahrungen118 wirkten, waren ambivalent. Während Adorno und Horkheimer, bei aller Illusionslosigkeit ob der mentalen Nachwirkungen des NS-Regimes, sich zum dauerhaften Bleiben entschlossen, kam dies für Thomas Mann und Hannah Arendt nicht in Betracht. Der Schriftsteller Alfred Döblin, der als jüdischer Sozialist vor Hitler hatte fliehen müssen, in den 1930er Jahren zum katholischen Glauben konvertierte und in den Nachkriegsjahren als französischer Kulturoffizier in Baden-Baden und Mainz tätig gewesen war, er gab dort die Literaturzeitschrift Das goldene Tor heraus, kehrte der Bundesrepublik aufgrund der ihm trostlos erscheinenden restaurativen Zustände 1953 den Rücken und ging nach Frankreich zurück, weil das »geistige Leben« gehemmt sei, sich in der jungen Generation kaum wirkliche Begabungen zeigen würden.119 Der jüdische Publizist Kurt Hiller, unabhängiger Sozialist, revolutionärer Pazifist und Vorkämpfer für die Rechte der Homosexuellen120 sowie einer der wichtigsten Autoren der linksunabhängigen Zeitschrift Weltbühne vor 1933, beobachtete die deutsche Nachkriegsszene von London aus über Jahre hinweg und unternahm zunächst Reisen in die Bundesrepublik, bevor er sich schließlich nach einem Jahrzehnt zur Rückkehr entschloss. An den konservativen Publizisten Rudolf Pechel schrieb er Anfang 1952: »Meine Pläne sind noch unfest. Ich will unter allen Umständen zurück nach Deutschland – aus tausendundeinem Grunde. Aber ich kann den Sprung nicht wagen, bevor für die folgenden Jahre eine gewisse Hilfssumme dort für mich liegt; bei diesem Zustand unserer Presse kann ich ja vom Publizieren allein nicht leben. (…) Dies Pekuniäre ist nun aber auch der absolut einzige Grund, der mich noch immer zögern ließ. Ich bin (was Sie vielleicht wundern wird) irrationaliter 117 Theodor W. Adorno an Thomas Mann, 3.6.1950, in: Theodor W. Adorno/Thomas Mann. Briefwechsel 1943-1955. Hrsg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher, Frankfurt a. M. 2002, S. 59-66, hier S. 61. 118 Vgl. einige der Beiträge in: Auer/Schulze Wessel/Rensmann, Arendt und Adorno. 119 Vortrag vom 8.4.1951, in: Alfred Döblin, Kritik der Zeit. Rundfunkbeiträge 1946-1952, Olten/Freiburg 1992, S. 295-298, Zitat S. 297. 120 Vgl. Daniel Münzner, Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015.
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furchtbar national und fühle mich nur unter Deutschen wohl, unter Briten (so sehr ich sie auch schätze) als Fremder.«121 Wie für Hiller mussten für jede Rückkehr die materiellen Risiken bedacht werden, und diese hingen wiederum mit möglichen publizistischen Perspektiven eng zusammen. Im Laufe des Jahres 1952 setzte Hiller große Hoffnungen auf ein von den Gewerkschaften subventioniertes Zeitschriftenprojekt – er und Ludwig Rosenberg seien »seit 1940 Freunde«.122 Nachdem diese Pläne offenbar im Sande verliefen, entschied sich Hiller zwei Jahre später endgültig für Hamburg, weil er dort am ehesten unabhängige linksintellektuelle Geister vermutete, die er für sich zu gewinnen hoffte. Er meinte zum einen die von oppositionellen Sozialdemokraten herausgegebene Andere Zeitung,123 zum anderen einen jungen Kreis um Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf, die ein hektographiertes Blatt Zwischen den Kriegen redigierten124 und später den Studentenkurier, Vorläufer der Monatszeitschrift Konkret, herausbrachten. Die Exilanten hatten sich ihrer professionellen Umgebung – im Wortsinn – entfremdet. Sie wurden meist nur dann wieder integriert, wenn sie die schweren Jahre nach 1933 wenig oder überhaupt nicht denen gegenüber thematisierten, die in Deutschland geblieben waren und sich als die eigentlichen Opfer ansahen. Ihre Literatur war in der intellektuellen Öffentlichkeit um 1950 weitgehend ausgegrenzt.125 Die Verkapselung der biographischen Brüche bei denjenigen, die ins Exil getrieben worden waren, hat Günther Anders in einem aufschlussreichen Beitrag für den Merkur erst 1962 angesprochen: »Vitae, nicht vita«, lautete seine Erklärung. Den Exilanten fehle die Sicherheit einer ungeachtet verschiedener Phasen vorhandenen Lebenskontinuität. Die in Deutschland Gebliebenen könnten die Tiefe des Bruchs durch das Exil überhaupt nicht ermessen.126 Nur wenige Remigranten erzählten deshalb die Geschichte ihrer erzwungenen Ferne von deutscher Volksgemeinschaft derart früh und offenherzig wie Kurt Hiller, der allerdings erst 1955 aus London nach Hamburg umzog, gegenüber dem Verleger Ernst Rowohlt: 121 Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 27.1.1952, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II, 100. 122 Kurt Hiller an Friedhelm Baukloh, 29.9.1952, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Rosenberg (1903-1977) war im britischen Exil gewesen und gehörte seit 1949 dem Bundesvorstand des DGB an; 1962 wurde er Vorsitzender; vgl. für den biographischen Kontext Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 123 Gerhard Gleissberg (1905-1973) hatte Hiller im britischen Exil kennengelernt. Gleissberg zog Hiller auch zur Mitarbeit am Neuen Vorwärts heran, dessen Chefredakteur er seit 1948 war. Die von ihm 1955 gegründete Andere Zeitung, sie erschien bis 1968, wurde klandestin von der DDR subventioniert, weshalb es 1957 zum Bruch zwischen Hiller und Gleissberg kam; vgl. die dichte Korrespondenz im Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 124 Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 155, 221-223. 125 Georg Bollenbeck, Restaurationsdiskurse und die Remigranten. Zur kulturellen Lage im westlichen Nachkriegsdeutschland, in: Lühe/Krohn, Fremdes Heimatland, S. 7-38, hier S. 25 ff. 126 Günther Anders, Der Emigrant, in: Merkur, Jg. 16, 1962, S. 601-622.
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»Vor längerem erfuhr ich, dass Sie überlebten, und freute mich. Dann kam ein Gerücht, Sie domizilierten jetzt in Hamburg; Kinder, Kinder, dachte ich; da will ich ja auch hin! Und gestern nun teilte mir ein Freund Ihre Adresse mit; hoffentlich stimmt sie. (…) Sie wissen, dass die Raubaffen mich am 14. Juli 1933 fast totpeitschten? Aber nur fast. Ich hatte nur acht Tag lang schwarzen Urin, dann wurde er allmählich wieder heller, die Niere heilte. Nach rund einem Jahr KZ rettete mich eine doppelseitige Lungenentzündung. Ohne sie wäre ich nie entlassen worden und wäre zweifellos den Tod Mühsam’s, Litten’s oder Ossietzky’s gestorben. Ende Dezember 34 konnte ich nach Prag fliehen. Von da an galt: ›Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.‹«127 In diesem Fall hatte der Adressat selbst einen komplizierten Weg aus Deutschland heraus und schließlich zurück in das »Dritte Reich« zurückgelegt, so dass sich hier zwei Abweichler von der biographischen Norm verständigen konnten. Rowohlt schrieb zurück: »Kurz will ich Ihnen noch berichten, was mit mir los war. Ich wurde im August 1938 aus der Kammer rausgeschmissen und ging dann nach der Reichsscherbenwoche über die Schweiz, Paris, London, Rotterdam nach Montevideo, zusammen mit meiner Familie, wo ich im März 1939 ankam. Dann war ich bis Ende Oktober 1940 an verschiedenen Orten Brasiliens. Darauf fuhr ich als Matrose auf einem deutschen Blockadebrecher in 57tägiger Fahrt nach Deutschland zurück, erstens, weil ich nicht den Kontakt mit den deutschen Belangen verlieren wollte, zweitens aber, weil ich mich verrechnet hatte und den Zusammenbruch der Naziherrschaft viel früher erwartete.«128 Auf Rowohlt gemünzt soll Erich Kästner den Satz formuliert haben: »Die Ratten betreten das sinkende Schiff.«129
127 Kurt Hiller an Ernst Rowohlt, 8.12.1946, in: Kurt-Hiller-Archiv. 128 Ernst Rowohlt an Kurt Hiller, 23.12.1946, in: ebd.; Rowohlt erwähnte nicht seinen Beitritt zur NSDAP ein Jahr zuvor; zur Auseinandersetzung um die Biographie von Rowohlt in den Jahren in der Wehrmacht seit 1941, wo er es bis zum Leiter der Propagandastelle des »Sonderstabes F« brachte, der für die antisemitische Propaganda unter den arabischen Völkern zuständig war, vgl. David Oels, Rowohlts Rotationsromane. Markterfolge und Modernisierung eines Buchverlags vom Ende der Weimarer Republik bis in die fünfziger Jahre, Essen 2013, S. 7 ff. 129 So erinnerte sich Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, Prince Henry. Gespräch mit Alexander U. Martens in der Reihe »Zeugen des Jahrhunderts«. Hrsg. von Ingo Hermann, Göttingen 1992, S. 49.
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2. Westwärts – der Abstieg Berlins und die Neuordnung medien-intellektueller Zentren Die Gruppe der vom Nationalsozialismus Verfolgten und Exilanten unter den Publizisten war die einzige, aus der ein nennenswerter Teil, bei den literarischen Schriftstellern sogar »die mit weitem Abstand größte Zahl«,1 nach Ost-Berlin ging. Von Bertolt Brecht bis Anna Seghers – große Namen fanden sich hier ein. Damit war anfangs nicht unbedingt die Parteinahme für den ostdeutschen Staat gemeint, der noch gar nicht gegründet worden war. Meist waren es berufliche Angebote, die lockten. Mitunter ließ sich auch ein Wohnsitz in den Westsektoren mit dem Arbeitsplatz bei östlichen Medien vereinbaren. Wer dort einen Posten erhielt, versuchte wiederum, auch in Westdeutschland präsent zu sein. Die Kontakte verliefen ganz selbstverständlich über die innerdeutschen Grenzen hinweg. Alfred Kantorowicz, kaum aus dem US-Exil in Berlin angekommen, schrieb an seinen Kollegen Axel Eggebrecht in Hamburg, erzählte von seinem Weg nach 1933 und bekundete Interesse, an den Nordwestdeutschen Heften mitzuarbeiten, in denen vor allem interessante Wortbeiträge des Nordwestdeutschen Rundfunks abgedruckt wurden.2 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich das geistige Leben Deutschlands in Berlin, der Reichshauptstadt, konzentriert. Dort, in einer inspirierenden Atmosphäre mit einer pluralistischen Presselandschaft, mit Zeitungen, die zum Teil mehrmals täglich erschienen, mit modernen Illustrierten und Filmpalästen, mit Zirkeln von Künstlern und Schriftstellern jeglicher politisch-weltanschaulichen Provenienz, hatte sich das intellektuelle Zentrum der Nation befunden. Hamburg und Leipzig, Frankfurt und München, Stuttgart und Köln spielten hingegen über Jahrzehnte hinweg nur eine untergeordnete Rolle. Kurzzeitig schien Berlin nun seine angestammte Rolle als geistiges Zentrum Deutschlands wieder einnehmen zu können, weil die Alliierten ihren jeweiligen Sektor als Schaufenster eigenen kulturellen Gestaltungswillens arrangierten.3 Dazu diente etwa die Gründung des Aufbau-Verlags im August 1945 mit seiner Zeitschrift Der Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift, in der auf hohem Niveau von kommunistischen Intellektuellen wie Georg Lukács und Ernst Fischer, aber auch prominenten ›bürgerlichen‹ Schriftstellern wie Thomas Mann über politische Themen, vor allem aber über literarische Konzepte diskutiert wurde.4 1 Wilfried Barner, Im Zeichen des »Vollstreckens«. Literarisches Leben in der SBZ und in der frühen DDR, in: ders., Geschichte, S. 116-130, Zitat S. 116. 2 Alfred Kantorowicz an Axel Eggebrecht, 4.6.1946; Axel Eggebrecht an Alfred Kantorowicz, 9.8.1946, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, E 5; in den Nordwestdeutschen Heften (1946-1948) findet sich kein Artikel von Kantorowicz. 3 Schivelbusch, Vor dem Vorhang; vgl. zur literarischen Seite Ursula Heukenkamp (Hrsg.), Unterm Notdach. Nachkriegsliteratur in Berlin 1945-1949, Berlin 1996. 4 Vgl. Carsten Wurm, Der frühe Aufbau-Verlag 1945-1961. Konzepte und Kontroversen, Wiesbaden 1996.
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Es charakterisierte die frühe Bündniskonzeption der Sowjetunion und damit auch der deutschen Kommunisten, mit dem bereits am 4. Juli 1945 gegründeten Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands im Namen eines antifaschistischen »Humanismus« von Berlin aus das deutsche Bürgertum zu gewinnen. Die anfänglich auch im Westen, von Bremen bis Heidelberg, aufblühenden Ortsgruppen unter Beteiligung namhafter liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Intellektueller verloren mit der stalinistischen Gängelung im beginnenden Kalten Krieg viele ihrer Mitglieder, 1950 wurde der Kulturbund in der Bundesrepublik verboten.5 Für einen Moment mochte es auch scheinen, als ob eine Wiedergeburt der legendären Berliner Weltbühne gelingen könne. Sie erschien von Juni 1946 bis zur Insolvenz in den Wendejahren nach 1990. Bis zur Währungsreform hatte sie eine Auflage von ca. 100.000 Exemplaren. Anfangs schrieben dort neben kommunistischen auch liberale und linksunabhängige Autoren, darunter Erich Kästner, Axel Eggebrecht, Karl Korn und Lion Feuchtwanger.6 Die Redaktion stand zwar parteilich auf der östlichen Seite, aber das schlug sich weniger in Lobesartikeln für diese nieder als in scharfer Kritik gegenüber den Zuständen im Westen. Obwohl die dort lebenden Autoren schon mit dem zweiten Jahrgang ihre Mitarbeit allmählich einstellten, hatte Thomas Mann noch 1949 den Eindruck, »daß unter Jacobsohn und Ossietzky die Weltbühne auch nicht anders aussehen könnte, als sie sich eben unter den gegenwärtigen Weltumständen darstellt«.7 Anfang der 1950er Jahre war die Auflage auf ein Zehntel gesunken. Welche Rolle dabei die Ausrichtung der Weltbühne auf die stalinistische Parteilinie der SED einerseits und die allgemeine Zeitschriftenkrise nach der Währungsreform andererseits spielten, ist schwer zu ermessen. Jedenfalls hielten nur ständige Subventionen die DDR-Weltbühne über Wasser, bis sie seit Mitte der 1950er Jahre mit einer Auflage von ca. 30.000 Exemplaren wieder schwarze Zahlen schrieb. Aber sie blieb doch in Aufmachung und In5 Vgl. ebd., S. 115 ff.; Sean A. Forner, »Deutscher Geist« und demokratische Erneuerung. Kulturbünde in Ost und West nach 1945, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 221-237; ders., The Promise of Publicness. Intellectual Elites and Participatory Politics in Postwar Heidelberg, in: Modern Intellectual History, Jg. 9, 2012, S. 641-660; ders., German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal. Culture and Politics after 1945, Cambridge 2014, S. 197 ff.; zur Atmosphäre der Heidelberger akademischen Salon-Geselligkeit, in der – mit allen Freundschaften und Feindschaften – jeder jeden kannte, vgl. die Erinnerungen von Nicolaus Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, Heidelberger Reminiszenzen 1945-1951, Frankfurt a. M. 2000; Hubert Treiber, Salon-Geselligkeit und Vortragskultur im Nachkriegs-Heidelberg – oder, Über die Rückkehr der letzten »Bildungsbürger«, in: Jürgen C. Heß/Hartmut Lehmann/Volker Sellin (Hrsg.), Heidelberg 1945, Bd. 5, Stuttgart 1996, S. 255-269. 6 Schivelbusch, Vor dem Vorhang, S. 264 ff.; Forner, German Intellectuals, S. 32 ff. 7 Thomas Mann an Hans Leonard, 29.9.1949, dok. in Weltbühne, Jg. 4, 1949, Nr. 43, 26.10.1949, S. 1313; vgl. Fritz Klein, Die Neugründung der Weltbühne in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Michel Grunewald (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock), Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern u. a. 2002, S. 559-575.
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halt nur eine schlechte Kopie der einstigen Zeitschrift von Carl Ossietzky und Kurt Tucholsky. Die Witwe Ossietzkys, Maud, hatte die Rechte zur Verfügung gestellt, von den ehemaligen Autoren waren nur wenige Kommunisten wie etwa Hermann Budzislawski geblieben, die »das Blättchen« möglichst interessant und sprachlich anspruchsvoll, aber stets nach den Direktiven der Partei gestalteten.8 Als kultureller Vorbote und symbolischer Auftakt medialer Kulturpropaganda im Kalten Krieg gilt der Erste deutsche Schriftstellerkongreß, der Anfang Oktober 1947 in Berlin tagte, wobei die 300 Delegierten täglich den Sektor wechselten.9 Am Anfang standen versöhnliche Worte der biographisch untadeligen Ricarda Huch als Ehrenpräsidentin und von Günther Weisenborn als Präsident, der wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« seit 1942 in der Todeszelle gesessen hatte. Die von den Nationalsozialisten als »Halbjüdin« mit Schreibverbot belegte Elisabeth Langgässer hielt das Einleitungsreferat »Schriftsteller unter der Hitler-Diktatur«. Ihrer Rede folgten Ausführungen von Alfred Kantorowicz über »Schriftsteller im Exil«. Überlagert wurde dieser versöhnliche Beginn bald von polemischen Scharmützeln. Gegen den antifaschistischen Konsens stellte der 27-jährige amerikanische Schriftsteller und Journalist Melvin Lasky seine Charakterisierung der Sowjetunion als »totalitäre Diktatur«.10 Darauf folgte die Replik des sowjetischen Schriftstellers Valentin Katajew: »Ich bin sehr froh, dass ich endlich einen lebenden Kriegsbrandstifter zu Gesicht bekommen habe. (Beifall). Bei uns in der Sowjetunion gibt es solche Exemplare nicht.«11 Eine weitere Antwort erteilte Stephan Hermlin, der mit seinem Freund Hans Mayer im ersten Nachkriegsjahr über Frankfurt am Main in 8 Vgl. Simone Barck, »Ein altes und jederzeit junges Blatt«. Die »Weltbühne« in der DDR. Ein Gespräch mit Ursula Madrasch-Groschopp, in: Deutschland Archiv, Jg. 34, 2001, S. 258-271 (das etwas verklärende Zeitzeugengespräch); aus Zeitzeugenperspektive auch Ursula Madrasch-Groschopp, Die Weltbühne. Porträt einer Zeitschrift, Berlin (DDR) 1983; vgl. Stefanie Oswalt (Hrsg.), Die Weltbühne. Zur Tradition und Kontinuität demokratischer Publizistik, St. Ingbert 2003; unter der Kapitelüberschrift »Wege eines Wandlungsfähigen vom ›bürgerlichen Intellektuellen‹ zum marxistisch-leninistischen Scholastiker« liefert Alexander Gallus eine Skizze des Weltbühne-Autors Peter Alfons Steiniger; Alexander Gallus, Heimat »Weltbühne«. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 279 (ff.); zur Weltbühne der 1920er Jahre als Sehnsuchtsort bis in die 1970er Jahre vgl. ebd., S. 62 ff. 9 Vgl. Carsten Gansel, Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945-1961, Berlin 1996, S. 52 ff.; Hermann Haarmann, Wiedersehen in Berlin. Erster Deutscher Schriftstellerkongreß, Berlin 4. bis 8. Oktober 1947, in: von der Lühe/Krohn, Fremdes Heimatland, S. 39-56. 10 Manifest des Ersten Deutschen Schriftstellerkongresses, in: Ursula Reinhold/Dieter Schlenstedt/Horst Tannenberger (Hrsg.), Erster Deutscher Schriftstellerkongreß 4.-8. Oktober 1947, Berlin 1997, S. 298; die meisten Referate wurden in der Zeitschrift Ost und West abgedruckt, besonders ausführlich berichtete Carl Linfert im Feuilleton des Kurier im französischen Sektor; vgl. die Schilderung von Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. I, Frankfurt a. M. 1982, S. 387 ff.; vgl. Forner, German Intellectuals, S. 212 ff. 11 Originalprotokoll, zit. nach Gansel, Parlament, S. 82.
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die SBZ remigriert war. Er stellte die Verfolgung der Kommunisten und »fellow travellers« in den USA heraus. Bertolt Brecht etwa habe nicht in Berlin anwesend sein können, weil er sich auf das Verhör vor dem berüchtigten McCarthy-Ausschuss, dem Committee for Un-American Activities, in Washington vorbereiten musste.12 Die kommunistische Kritik an den USA sollte bald eine unfreiwillig ironische Note erhalten. Denn Remigranten aus dem westlichen Exil standen in Ostdeutschland mit Einsetzen des Kalten Krieges unter Generalverdacht, nicht nur politisch unzuverlässig zu sein, sondern im Dienst der feindlichen Westmächte zu stehen. Hinter den Westmächten stand das Prinzip der Weltoffenheit, des Kosmopolitismus, das bald zum politischen Widerpart deutscher Tradition erklärt wurde. Der kommunistische Kulturfunktionär und einstige Expressionist Johannes R. Becher stellte in einem Brief an den westdeutschen Schriftsteller Alfred Andersch als Erkenntnis seines Moskauer Exils heraus, »dass wir bereits im Exil in Deutschland selber lebten, bevor wir in die äussere Emigration gingen (…) weil die linke Literatur eine von den nationalen Problemen losgetrennte, ›avantgardistische‹ war. In der Emigration entdeckte ich Deutschland (…) entdeckte die deutsche Landschaft, deutsche Menschen und auch die grosse deutsche Lyrik (…) das Ideal der klassischen Aesthetik, wie es sich in der Form einer konkreten Bestimmtheit des Gegenstands ausdrückt.«13 Volkstümlichkeit, Klassik, Nation gegen Kosmopolitismus, Dekadenz und Moderne – diese Linie der Kommunisten mochte Anknüpfungspunkte für den Dialog mit Kulturkonservativen im Westen Deutschlands bieten.14 Aber die Zeit der offenen intellektuellen Diskussion über die Zonengrenzen hinweg lief noch vor Beginn der offiziellen Zweistaatlichkeit trotz aller Bemühungen einzelner Intellektueller allmählich aus. In der Presse dominierte nun ein schriller polemischer Ton, der mit einem eklatanten intellektuellen Niveauverlust einherging. Karl Korn konstatierte: »Was natürlich die Berliner Zeitungen beider Lager sich leisten, das hat nicht das Niveau der Beschimpfungen, mit denen die homerischen Helden sich kurz vor dem Handgemenge anzuwärmen pflegten.«15 Als letzte überparteiliche Äußerung kann ein »Berliner Manifest« gelten, das Günther Birkenfeld, Rudolf Pechel und Günther Weisenborn am 12. Juli 1948, gut drei Wochen nach der Währungsreform, der Öffentlichkeit übergaben. Die Vertreter dreier sehr unterschiedlicher politischer Positionen, alle wohnhaft in den West12 Ernst Niekisch, Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs, Bd. 2: Gegen den Strom 1945-1967, Köln 1974, S. 147; Niekisch selbst hatte auf dem Schriftstellerkongress die elitärindividualistischen Auffassungen des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset als »Spielart des Faschismus« bezeichnet (ebd., S. 146). 13 Johannes R. Becher an Alfred Andersch, 5.5.1948, in: DLA, A: Alfred Andersch. 14 Die rastlosen Bemühungen von Becher in dieser Richtung betont Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945-2000, Leipzig 2001, S. 25 ff. 15 Karl Korn an Ernst Niekisch, 22.4.1948, in: BAK, Nl. Niekisch, 21c.
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sektoren der Stadt, kannten nur noch eine Gemeinsamkeit, die Verhinderung des Dritten, atomaren Weltkriegs: »Wenn nicht die Friedensliebe der Völker der Entwicklung zur Katastrophe entschlossen in den Arm fällt, wird der dritte Weltkrieg Europa von der Karte blasen und unseren Kindern ein Höhlenzeitalter der Verzweiflung hinterlassen. Der Krieg zwischen Ost und West wurde von Hitler und seinem Blutregime herbeigesehnt und prophezeit. Soll Hitler Recht behalten? (…) Unsere Auffassungen über den Weg, der zu einer glücklicheren Zukunft führt, sind zum Teil radikal entgegengesetzt. Aber alle haben erfahren, dass Kriege niemals eine gerechte Lösung bringen. Im Atomzeitalter werden sie nur das Elend steigern bis zur unvorstellbaren Vernichtung.«16 Aber solche Appelle passten nicht mehr in die Zeit. Immer größer wurde der politische Druck, sich parteilich direkt zu einer Seite zu bekennen. Es gab eine ganze Reihe von Schriftstellern und Publizisten, die für den in ihren Augen besseren östlichen Teil Deutschlands votierten. Allerdings begnügten sich die dortigen Machthaber nicht mit kritischer Solidarität, die Entscheidung musste absolut sein, wie etwa in peinlichen Elogen zur Partei- und Staatsführung ersichtlich, die zahlreiche Intellektuelle zur Gründung der DDR ablieferten.17 Das Schicksal einer der bedeutendsten intellektuellen Zeitschriften nach dem Krieg spiegelt diese Zusammenhänge. Mitte 1947 hatte Alfred Kantorowicz, aus amerikanischem Exil zurückgekehrt, die Zeitschrift Ost und West mit dem Untertitel Kulturelle und politische Beiträge zur Zeit gegründet, die nur bis Ende 1949 überlebte.18 Kantorowicz, Spanienkämpfer, in Kreisen des literarischen Exils gut vernetzt, befreundet mit Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Agnes Smedley, Ernest Hemingway und vielen anderen Schriftstellern, Nachlassverwalter von Heinrich Mann sowie Herausgeber von dessen Werkausgabe in der DDR,19 hatte die Lizenz für die Zeitschrift – sie wurde nur für die SBZ erteilt – im Mai 1947 erhalten. In einem Brief an seinen Freund Maximilian Scheer in New York, den er als
16 Berliner Manifest und Anschreiben in: BAK, Nl. Pechel, Teil I, 25a; vgl. Forner, German Intellectuals, S. 233 f. 17 Vgl. Siegfried Prokop, Intellektuelle in den Wirren der Nachkriegszeit. Die soziale Schicht der Intelligenz der SBZ/DDR, Teil 1: 1945-1955, Berlin 2010, S. 169 ff. 18 Vgl. Barbara Baerns, Ost und West – Eine Zeitschrift zwischen den Fronten. Zur politischen Funktion einer literarischen Zeitschrift in der Besatzungszeit (1945-1949), Münster 1968, S. 75 ff.; Friedrich Albrecht, Ost und West. Eine Zeitschrift im Kalten Krieg, in: Michel Grunewald (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock), Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1945-1955), Bern u. a. 2001, S. 45-71; Dirk Klose, »Unser Sorgenkind ist uns ans Herz gewachsen«. Vor 60 Jahren gründete Alfred Kantorowicz die Zeitschrift »Ost und West«, in: Deutschland Archiv, Jg. 40, 2007, S. 613-621. 19 Mario Keßler, Die Grenzgänger des Kommunismus. Zwölf Porträts aus dem Jahrhundert der Katastrophen, Berlin 2015, S. 141-159.
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Chefredakteur gewinnen konnte, kam die große Hoffnung zum Ausdruck, die bei Remigranten in Ostdeutschland zu dieser Zeit noch herrschte: »Dieser Chefredakteur soll ein wirklich unabhängiger, welterfahrener, liberal gesinnter Mann sein; er muss hervorragende journalistische Fähigkeiten haben; er soll die Welt kennen (…) Du ahnst, dass Du dieser Mann sein sollst. (…) Es ist schwer, die Verantwortung dafür zu übernehmen, jemandem zuzureden, aus dem reichen Amerika hierher zurückzukehren. (…) Was mich betrifft, so habe ich meine Entscheidung keine Stunde lang bedauert. Ich bin froh, hier zu sein. Hier ist unser Platz und hier liegen unsere Aufgaben. Ich habe mich in diesen vergangenen Monaten trotz der horrenden materiellen Schwierigkeiten, die unsere Etablierung mitten in diesem allerschwersten Winter mit sich brachte, dennoch eher verjüngt; ich habe meine Spannkraft zurückgewonnen, ich bin voller Hoffnung.«20 Angesichts des grandiosen Anfangserfolgs, die Auflage des ersten Heftes von Ost und West im Juli 1947 wurde nur auf Grund der Papierknappheit auf 50.000 Exemplare begrenzt, die Vorbestellungen beliefen sich auf die doppelte Zahl, erschien der Optimismus verständlich. Kantorowicz konnte glauben, dass seine Mission einer gesamtdeutschen Kultur mit der offiziellen Linie der SED deckungsgleich war. Schon im März 1947 hatte er sich für Ost und West einen besonderen Coup überlegt, nämlich die Aufnahme des Dialogs mit ehedem nationalrevolutionären Kräften. Ernst von Salomon, den er über dessen kommunistischen Bruder Bruno gut kannte, versicherte er, er gehöre »zu denen, auf deren Wiedersehen nach den 1.000 Jahren ich mich gefreut hatte«,21 forderte er zur Mitarbeit an der Zeitschrift auf. Die Antwort des gerade glimpflich Entnazifizierten erscheint in doppelter Hinsicht interessant, zum einen als politische Selbstverortung Salomons, zum anderen hinsichtlich einer vielfach erprobten medialen Strategie: »Lieber Kanto (…) Was nun Ihr freundliches Angebot betrifft, so bitte ich Sie, davon abzusehen, daß ich Ihnen irgendetwas schicke, und wenn es Ihnen gefällt, bringen Sie es. (…) Ich möchte nicht zu irgendeinem Thema schreiben, sondern sagen Sie mir, zu was ich mich äußern soll. Darf ich einen Vorschlag machen? Nehmen Sie irgend ein Buch von mir (…) greifen Sie heraus, was Ihnen nicht gefällt, oder was Sie für geeignet halten und greifen Sie mich in Ihrer Zeitschrift öffentlich an, recht heftig und präzis, bitte, und dann geben Sie mir Gelegenheit, mich dazu zu äußern. Wenn meine Äußerung, wie leicht zu befürchten steht, Ihnen zu gefährlich erscheint, dann nehme ich es Ihnen von vorneherein nicht übel, wenn Sie es nicht bringen. (…) Annoncieren Sie mich getrost als das, was ich wirklich bin, als einen Vertreter des sogenannten Neuen Nationalismus der dreißiger Jahre. Ich habe keinen Grund, mich zu genieren, und ich geniere mich 20 Alfred Kantorowicz an Maximilian Scheer, 14.5.1947, in: AdK, Nl. Maximilian Scheer, 165. 21 Alfred Kantorowicz an Ernst von Salomon, 13.3.1947, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, I/S 1-2.
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nicht. Heute bin ich ein Vertreter der fünften Zone, der deutschen Zone, der Deutschen, die in der Zerstreuung leben«, der Mehrheit der Deutschen, die »heute stumm ist, abwartend, mißtrauisch, angegriffen, ohne sich verteidigen zu können, wo« der Einzelne »wirklich Verantwortung trug«.22 Der Plan wurde nicht realisiert, obwohl er durchaus auf der Linie der SED-Kulturpolitik lag. Zwar gab es eine ganze Reihe von Artikeln westdeutscher Publizisten, darunter Axel Eggebrecht, W. E. Süskind, Peter de Mendelssohn, Walter von Molo, Ulrich Noack und Rolf Schroers, sowie von Schriftstellern, die später – wie Alfred Kantorowicz selbst – in die Bundesrepublik und nach West-Berlin gingen: etwa Heinz Winfried Sabais, Theodor Plivier und Ernst Bloch. Der überwiegende Teil der Seiten wurde allerdings mit literarischen Beiträgen gefüllt, die dem Kanon der klassischen Moderne entstammten, von August Strindberg und Maxim Gorki bis zu Heinrich und Thomas Mann; neben Beiträgen von Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Anna Seghers, Agnes Smedley, Ilja Ehrenburg und Lion Feuchtwanger finden sich Texte kommunistischer Autoritäten, Karl Marx, Franz Mehring, Lenin, Stalin, Mao Tse Tung. Die positive Aufnahme von Ost und West bei prominenten Intellektuellen aller Zonen schützte die monatlich erscheinende Zeitschrift zwar vor behördlichen Repressalien in der SBZ und DDR, nicht aber vor dem wirtschaftlichen Ruin. Bis zur Währungsreform hatte die Auflage bei ca. 70.000 Exemplaren gelegen, im Oktober 1949 war sie auf 5.000 Exemplare für die gesamte Ostzone und weitere 1.000 in den Westzonen eingebrochen.23 In einer Stellungnahme für politisch verantwortliche Stellen konnte Maximilian Scheer auf Briefe und Äußerungen der Autoren Thomas und Heinrich Mann, Arnold Zweig, Bertolt Brecht, aber auch zahlreicher ausländischer Schriftsteller verweisen. Aus der Bundesrepublik führte er den Expressionisten und späteren Generalsekretär des PEN-Zentrums Kasimir Edschmid24 an, der in einem in der Oktobernummer 1949 abgedruckten Brief höchste Anerkennung zum Ausdruck gebracht hatte. Die KPD in der Bundesrepublik habe Veröffentlichungen der Zeitschrift nachgedruckt und als »Flugblatt an die westdeutschen Intellektuellen ausgewertet«; in Ostdeutschland wiederum seien die Beiträge in Ost und West »vielfach die Grundlage von Diskussionen bei Verbünden unserer Zone gewesen«, in der FDJ wie im Schriftstellerverband, der über einen Artikel Mao Tse Tungs Diskussionsabende durchgeführt habe. Neben dem Aufbau, der als Organ des Kulturbundes besondere Aufgaben erfüllen müsse und dessen Inhalt sich nicht überschneide, und der Zweimonatszeitschrift Sinn und Form sei Ost und West »das einzige literarisch-kulturpolitische Organ in unserer Zone«; es handle sich nicht 22 Ernst von Salomon an Alfred Kantorowicz, 17.6.1947, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, I/S 3. 23 Zur Auflagenentwicklung gibt es abweichende Angaben; vgl. dazu Baerns, Ost und West, S. 169. 24 Vgl. zur Biographie Hanuschek, Geschichte, S. 57 ff.
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nur um einen »Prestigeverlust«, wenn man Ost und West »jetzt eingehen ließe«.25 Dass die Partei- und Regierungsstellen sich nicht entschließen konnten, die Zeitschrift zu subventionieren, nach Aussage von Scheer hätte ein monatlicher Zuschuss von 5.000 Mark ausgereicht, deutet darauf hin, dass das Ende von Ost und West in der SED nicht nur als Verlust gesehen wurde. So waren etwa die Beziehungen zwischen dieser Zeitschrift und der Weltbühne restlos zerrüttet. Maximilian Scheer hatte in deren Auftrag im Frühjahr 1949 die Westzonen bereist, er sollte gegen Zahlung von 1.300 DM sechs Artikel für die Weltbühne und ein Buchmanuskript für den Verlag der Weltbühne abliefern. Scheer war der Meinung, dass die finanzielle Absprache nur zu zwei Dritteln eingehalten worden sei, lieferte nur vier Artikel und kein Buchmanuskript. Leonard wies dagegen auf das unüblich hohe Honorar und üppige Spesen hin. Der monatelange Streit wurde nicht beigelegt, aber letztmals auf Briefebene im August jenes Jahres ausgetragen. Leonard: »Es ist einfach unglaublich, wie Sie die nach meiner und vieler anderer Auffassung großartige Honorierung Ihrer Arbeit einschätzen und belohnen.« Die Replik von Scheer zeigte, dass die ostdeutschen Publizisten ebenso um ihre Entlohnung zu kämpfen hatten wie ihre Kollegen im Westen: »Zum Teufel, bin ich dafür verantwortlich, wenn Sie Honorarvorschläge machen, die Sie nicht erfüllen können? Sie haben den Sinn unserer Auseinandersetzung offenbar überhaupt nicht erfasst (…) dass es sich im Wesentlichen nicht um eine Honorar-, sondern um eine Prinzipienfrage handelt: die Frage nämlich, ob ein Verleger mit Autoren umspringen kann wie es ihm beliebt.«26 Kantorowicz berichtete Erich Kästner, der ihn zur Sitzung des PEN-Clubs eingeladen hatte, seine Zeitschrift befinde sich »in schwerer Seenot«, er wisse nicht, ob er sie am Leben halten könne. Maximilian Scheer sei bereits zum Deutschlandsender gegangen.27 Von Thomas Mann – dieser bedauerte »das Verschwinden aufrichtig« und sprach von einem »entschiedenen Verlust«28 – und von Walter von Molo, der sich »ganz entsetzt« zeigte, erhielt Kantorowicz Briefe, die deutlich machten, dass die gesamtdeutsche Botschaft seiner Zeitschrift auch im Westen Sympathie genossen hatte. Molo, der im großen Streit um Thomas Mann 1945 bereits das Exil im Namen einer ominösen »inneren Emigration« attackiert hatte,29 verzichtete auch in seinem Brief an Kantorowicz nicht auf eine Invektive gegen die »sinnlose Aus25 Briefentwurf von Maximilian Scheer (Adressat unbekannt), 21.10.1949, in: AdK, Nl. Maximilian Scheer, 1256. 26 Hans Leonard an Maximilian Scheer, 24.8.1949; Maximilian Scheer an Hans Leonard, 2.9.1949, in: AdK, Nl. Maximilian Scheer, 505. 27 Alfred Kantorowicz an Erich Kästner, 27.10.1949, in: DLA, A: Erich Kästner; vgl. dazu einige Briefe in Maximilian Scheer, Ein unruhiges Leben. Autobiographie, Berlin (DDR) 1975, S. 238 ff. 28 Thomas Mann an Alfred Kantorowicz, 11.2.1950, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, NL. Alfred Kantorowicz, K 8. 29 Vgl. Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 71 f.
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schliesslichkeit vieler Emigranten«, die dazu beitrug, »uns noch mehr zu schwächen«.30 Jedenfalls fruchteten die eindringlichen Mahnungen der Exilanten Heinrich Mann, der sich gerade auf die Remigration in die DDR vorbereitete, und Lion Feuchtwanger an die verantwortlichen Kulturfunktionäre, die Zeitschrift unbedingt zu erhalten, nichts mehr.31 Rückblickend verglich Kantorowicz das Ende von Ost und West mit dem Schicksal des Ruf in den Westzonen: »Kulturzeitschriften sterben in unsicheren Zeiten immer. Sie sind – ebenso wie ihre Produzenten und Mitarbeiter – der schwächste, ungeschützteste Winkel in der Gesellschaft.«32 Allerdings gab es doch einen wesentlichen Unterschied. Zwar mochten sich manche Phänomene des Zeitschriftensterbens in West- und Ostdeutschland nach den Währungsreformen ähneln. Aber in der Bundesrepublik überlebten viel mehr Foren des intellektuellen Austausches oder wurden von neuen Medien ersetzt, während in der DDR das geistige Leben durch den Wegfall einer einzigen interessanten Zeitschrift bereits existenziell getroffen war. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine schneidende Kritik an der Einstellung der Zeitschrift in der Täglichen Rundschau, der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration: »Handelte es sich bei dem Eingehen von ›Ost und West‹ nur um ein mehr privates, sich nicht lohnendes Verlagsgeschäft, könnte man stillschweigend zur Tagesordnung übergehen. Tatsächlich aber verliert die fortschrittliche deutsche Öffentlichkeit mit der Liquidation dieser Zeitschrift eines ihrer frischesten und lebendigsten Publikationsorgane von internationalem Rang. Niemand, der sich verantwortlich für die Wiederherstellung der deutschen Einheit fühlt, kann übersehen, daß ›Ost und West‹ (sein Name schon war ein Programm) ein wichtiger überparteilicher Mittler innerhalb der deutschen Länder war und daß in dieser Zeitschrift das Ost-West-Gespräch nie abriß. (…) Es erhebt sich die Frage, ob nicht eine der großen demokratischen Massenorganisationen der Zeitschrift ›Ost und West‹ hätte helfend und unterstützend beistehen können. Auch eine deutsche Bewegung wie die Nationale Front beispielsweise (und sie nicht allein) hätte die publizistische Aufgabe von ›Ost und West‹ als einen Teil ihrer eigenen Sache erklären können. Es gibt heute kein brennenderes Problem für die deutsche Situation. Der Vorzug dieser Zeitschrift war es, daß sie mit sauberen Waffen kämpfte und daß es ihr möglich war, das Vertrauen von Tausenden von Lesern in Ost und West zu gewinnen, die oft aus Indifferenz oder aus Abneigung das Stu-
30 Walter von Molo an Alfred Kantorowicz, 14.11.1949, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, NL. Alfred Kantorowicz, M 9-16. 31 Einige der Briefe dokumentiert Baerns, Ost und West, S. 176 ff. 32 Alfred Kantorowicz, MS ohne Überschrift (wohl für Europäische Ideen), Ende 1974, in: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg, NL. Alfred Kantorowicz, A:47.
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dium der Tagespresse ablehnen. (…) Es bleibt noch immer zu hoffen, daß sich ein Weg finden läßt, auf dem diese Zeitschrift wiederbelebt werden könnte.«33 Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, das Ende von Ost und West demonstrierte zugleich die mittlerweile durchgesetzte Disziplinierung der ostdeutschen Intellektuellen. Sie konnten sich in der DDR spätestens seit 1950 nicht mehr in politischer Unabhängigkeit äußern, es blieb vorerst nur der Rückzug in literaturästhetische und geisteswissenschaftliche Nischen. Dafür bot etwa die 1949 gegründete Zeitschrift Sinn und Form ein literarisches Forum, das gleichwohl im Laufe seiner Geschichte in Konflikte mit der Kulturpolitik der Partei geriet,34 ebenso wie die Phalanx unorthodoxer Geister an der Universität Leipzig. »Wer bürgerliche Intelligenz ist, der kann sich hier nicht wohlfühlen, muss im Gegenteil immer die Empfindung haben, gefährdet zu sein«, hatte Ernst Niekisch bereits die Flucht des Philosophen Max Bense aus Jena in den Westen kommentiert,35 der dort als mittelloser Flüchtling anfangs in bitterer Armut lebte.36 Es waren aber nicht nur »bürgerliche Intellektuelle« und ehemalige kommunistische Parteigänger wie Theodor Plivier, die in der Nachkriegszeit von Ost nach West wechselten, sondern auch dezidierte Marxisten, die sich in der SBZ bzw. DDR gefährdet sahen. Das ehemalige Mitglied der von den Stalinisten als Rechtsabweichung gebrandmarkten Kommunistischen Parteiopposition (KPO) Wolfgang Abendroth und der austromarxistische Autodidakt Leo Kofler sind wohl die bekanntesten Fälle jener linken Frühausreiser.37 Beide erklärten gleichwohl, für Kampagnen gegen die DDR nicht zur Verfügung zu stehen. Im Gegensatz zu Abendroth, der als Kriegsgefangener in die SPD eingetreten war und noch im Monat seines Weggangs von der Universität Jena, im Dezember 1948, eine Stelle an der gewerkschaftsnahen Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven-Rüstersiel erhielt und drei Jahre später ein politikwissenschaftliches Ordinariat in Marburg antreten konnte, verblieb Kofler, der die DDR 1950 nach heftiger par33 Abschied von einer Zeitschrift. »Ost und West« stellt sein Erscheinen ein (Ltz), in: Tägliche Rundschau, 5.1.1950. 34 Uwe Schoor, Das geheime Journal der Nation, Die Zeitschrift »Sinn und Form«, Chefredakteur: Peter Huchel, 1949-1962, Berlin 1992; Gustav Seibt, Das Prinzip Abstand. Fünfzig Jahre Sinn und Form, in: Sinn und Form, Jg. 51, 1999, Nr. 2, S. 205-219; Manfred Jäger, 50 Jahre »Sinn und Form«, in: Deutschland Archiv, Jg. 32, 1999, S. 177-180; Stephen Parker/ Matthew Philpotts, Sinn und Form. The Anatomy of a Literary Journal, Berlin 2009. 35 Ernst Niekisch an Karl Korn, 20.9.1948; Karl Korn an Ernst Niekisch, 6.11.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 36 Hans Paeschke, der ihn 1946 als Autor für den Merkur werben wollte (Hans Paeschke an Max Bense, 14.11.1946), konnte und wollte auf seine Bitten nach einem Kredit und Referenzen für universitäre Stellen nicht eingehen; dem Merkur gehe es selbst sehr schlecht (Hans Paeschke an Max Bense, 27.7.1948), in: DLA, D: Merkur. 37 Vgl. Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 2008, S. 106 ff.; Mario Keßler, Zwischen den Parteifronten auf dem »Dritten Weg«? Leo Kofler, Alfred Kantorowicz, Ossip Flechtheim, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 456-472.
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teiamtlicher Kritik an seinen Vorlesungen an der Universität Halle verließ,38 lange in materiell prekären Verhältnissen, arbeitete zeitweise als Nachtwächter und lebte von öffentlicher Unterstützung; er trat sofort in die SPD ein und siedelte von WestBerlin bald nach Köln über.39 Der ostdeutsche und Ost-Berliner geistige Aderlass führte nicht zur Stärkung des größeren westlichen Teils der ehemaligen Reichshauptstadt – im Gegenteil: WestBerlin, zwar nicht staatsrechtlich, aber praktisch ein Teil der Bundesrepublik, befand sich nun in einer Randlage, als Außenposten ohne Hinterland und umgeben von der SBZ/DDR. Die Rolle einer Kapitale von Medien und Kultur konnte von West-Berlin nicht ausgefüllt werden. Von der Westwanderung der Intellektuellen, die mit der Verfestigung des Kalten Krieges einsetzte, war deshalb auch WestBerlin betroffen. Rudolf Pechel, Herausgeber der traditionsreichen konservativen Zeitschrift Deutsche Rundschau, ließ in einem Brief an den wirtschaftsliberalen Exilanten Wilhelm Röpke in Genf erkennen, wie bitter er den Abschied empfand: »Sonst ist unser Herz schwer, da die Entwicklung in Berlin und das Im-Stich-gelassen-sein durch die Engländer bei der Papierlieferung mich gezwungen haben, die Berliner Position aufzugeben und mit einem großen Verlag in Stuttgart – Union Deutsche Verlagsgesellschaft – mich zusammenzutun, um das Weitererscheinen der ›Deutschen Rundschau‹ sicherzustellen. (…) Was es für mich persönlich bedeutet, die Zeitschrift, die seit ihrer Gründung mit Berlin verbunden ist, aus dieser Bindung zu lösen und mich selber ganz in eine andere Landschaft, in der auch eine ganz andere geistige Luft weht, zu versetzen, werden Sie verstehen. Irgendwie ist es so, als ob man bei der Auflösung des Archivs und aller anderer Dinge sich selber stückweise beerdigt.«40 Es waren nicht allein die ökonomischen Zwänge, die viele Intellektuelle zum Abschied von West-Berlin nötigten. So versuchte Margret Boveri ihren Kollegen Karl Korn Mitte Juli 1949 wieder in die Hauptstadt zurückzulocken; mittlerweile hätten sich die materiellen Verhältnisse doch sehr gebessert.41 Aber wer sich nicht wie Boveri als nationalneutralistische Gegnerin des entstehenden Weststaates verstand,42 auf den übte Berlin keine Anziehungskraft mehr aus. Die kurze Nachkriegsblüte hatte nur kaschiert, dass mit der einstigen medialen Infrastruktur auch die Menschen verschwunden waren, deren Wirken der Reichshauptstadt überhaupt erst ihre singuläre kulturelle Attraktivität verliehen hatte, darunter viele der vertriebenen und ermordeten jüdischen und linken Intellektuellen. Die Ära der großen Ver38 Vgl. Hans-Martin Gerlach, Ein »ideologischer Schädling«? Leo Kofler in Halle, in: Volker Gerhardt/Hans-Christoph Rauh (Hrsg.), Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern, Berlin 2001, S. 456-468. 39 Vgl. Christoph Jünke, Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (19071995), Hamburg 2007, S. 221 ff., 271 ff. 40 Rudolf Pechel an Wilhelm Röpke, 15.12.1948, in: BAK, Nl. Pechel, Teil I, 110. 41 Margret Boveri an Karl Korn, 3.7.1949, in: DLA, A: Korn. 42 Vgl. Görtemaker, Ein deutsches Leben, S. 242 ff.
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leger Leopold Ullstein, Samuel Fischer, Rudolf Mosse, der Theaterleute um Max Reinhardt, der Schriftsteller wie Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, Arnold Zweig und vieler mehr, der glänzend gemachten Weltbühne von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky, aber auch Leopold Schwarzschilds Tage-Buch war 1933 unwiderruflich beendet.43 Der konservative Radio- und Fernsehjournalist Thilo Koch, der sich selbst, wenig mehr als 30 Jahre alt, gern als publizistische Stimme West-Berlins feiern ließ und in seiner Personalakte als »eine der ausgeprägtesten Persönlichkeiten im Gesamt-NWDR« bezeichnet wurde,44 schilderte in einem Zeitungsartikel die geistige Situation der Teilstadt Mitte der 1950er Jahre. Ein West-Berliner Rundfunksender, der ein Gespräch über die Zonengrenze hinweg veranstalten wollte, eingeleitet von zwei prominenten Intellektuellen aus der BRD und aus West-Berlin, sei zwar in Westdeutschland rasch fündig geworden. Aber in West-Berlin habe sich niemand finden lassen; »ein Stern erster Ordnung, ein Name von Weltgeltung« war nicht da. »Man fand ihn nicht, den man brauchte, denn der einzige in Berlin gebliebene Große aus jener Glanzzeit der ehemaligen Reichshauptstadt, ein Lyriker, über den in Tokio und Harvard Dissertationen geschrieben werden, lebt zurückgezogen in seiner Schöneberger Etagenwohnung und war nicht bereit, den Hubschrauber seiner zynischen Kultur-Melancholie zum Zwecke eines aufbauwilligen Radiogesprächs zu verlassen. Dieses Beispiel zeigt, wie ausgeblutet Berlin ist.« Die »heimatlose Intelligenz«, so Koch, sei heute verstreut und arbeite »ohne den unmittelbaren Kontakt, ohne die harte, fördernde, spornende Konkurrenz in einer Metropole«. Berlin werde von den Westdeutschen »geistig im Stich gelassen«, sie kämen als Intellektuelle dort einfach nicht hin.45 43 1930 lebte z. B. nahezu die Hälfte aller Mitglieder (150 von 320) des Deutschen PEN-Zentrums, einer Vereinigung prominenter Schriftsteller und Publizisten, in Berlin, in den 1950er Jahren waren es weniger als zehn Prozent; Mitgliederverzeichnis des Deutschen PEN-Clubs 1930, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II, 64; vgl. Hanuschek, Geschichte; Helga Grebing, Jüdische Intellektuelle und ihre politische Identität in der Weimarer Republik, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Jg. 34, 2005, S. 11-23; zur Reflektion der Unwiederbringlichkeit des Berlins der Zwischenkriegszeit vgl. Adalbert Reif, »Das Papier singt«. Gespräch mit Wolf Jobst Siedler, in: Universitas, Jg. 55, 2000, S. 414-422. 44 Interimszeugnis für Thilo Koch, 11.9.1953, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 133. 45 Thilo Koch, Metropole »hinter der Landkarte«. Berlin lebt heute geistig über seine Verhältnisse, in: Handelsblatt, 10.6.1955; mit dem einzigen Berliner Großintellektuellen war Gottfried Benn gemeint, der ein Jahr später verstarb; über eine öffentliche Diskussion zwischen Benn, Hans-Joachim Schoeps u. a. über »Berlin im Brennspiegel der kulturellen Auseinandersetzung zwischen Ost und West« 1955 berichtet Holger Hof, Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie, Stuttgart 2011, S. 416; in einem anderen Artikel notierte Koch, dass unter etwa 100 in der Evangelischen Akademie Loccum versammelten renommierten Journalisten nur einer – er selbst – aus West-Berlin angereist sei;
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Der Nürnberger Verleger Joseph E. Drexel unterstrich den Eindruck intellektueller Provinzialität nach der Rückkehr von einer Reise nach West-Berlin noch 1960: »Berlin selber (Westberlin) bin ich versucht zu vergleichen mit einem großen Geschäftsmanager, der zwei Schlaganfälle erlitten und dem man obendrein (sagen wir wegen Zucker) beide Beine amputiert hatte (…) Die Pflegeschwester, die ihn im Rollstuhl herumfährt, ist die Bundesrepublik.«46 Axel Eggebrecht wiederum hegte ernsthafte Zweifel, ob die ehemalige Kulturmetropole, die nun eine »Riesenschaukel zwischen Fiktion und Realität«, eine »politische Realität und kulturelle Fiktion« geworden sei, je wieder die einstige Rolle spielen werde, der Bundesbürger habe sich »von Berlin weg entwickelt. Er ist geistig ein reicher Provinzler geworden, er weiß vermutlich oft gar nicht mehr, was eine Kulturmetropole ist und ihm schenken kann.«47 Erst seit Mitte der 1960er Jahre, nach dem Mauerbau, als die existenzielle Bedrohung durch den Kalten Krieg abnahm und sich der großstädtische Alltag normalisierte, stieg die Bedeutung West-Berlins im Verbund kultureller Zentren wieder an, vor allem für jüngere Intellektuelle und ohne erneut die frühere zentrale Rolle erlangen zu können.48 Zwar finden sich auch in den 1950er Jahren Stimmen, die wie Hans Werner Richter Berlin priesen als »die einzige Stadt, in der man leben kann«.49 Sebastian Haffner, zu diesem Zeitpunkt noch dezidierter Kalter Krieger, zog es 1954 aus politischen Gründen in die Frontstadt.50 Bisweilen wurde auch von der Besonderheit der geistigen Atmosphäre West-Berlins geschwärmt.51 Joachim C. Fest erinnerte sich gern an die Debattier-Nachmittage des Monat als intellektuelles Milieu zurück, an denen Robert Jungk, Richard Löwenthal, Raymond Aron, Melvin J. Lasky und andere Intellektuelle aus dem Umkreis des Kongresses für Kulturelle Freiheit teilnahmen.52 Thilo Koch veröffentlichte 1956 ein Tagebuch, das von Max von Brück
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Thilo Koch, Sorge und Hoffnung in Loccum. Über ein Journalistengespräch, in: Der Tagesspiegel, 25.6.1955. Joseph E. Drexel an Max von Brück, 19.4.1960, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 32. Axel Eggebrecht, Berlin als Kulturzentrum von einst und Berlins kulturpolitische Aufgabe heute. Vortrag gehalten am 29. November 1961 bei den Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Nauheim (Sonderdruck), Bad Nauheim u. a. 1961, S. 6, 7. Vgl. Matthias Bauer (Hrsg.), Berlin. Medien- und Kulturgeschichte einer Hauptstadt im 20. Jahrhundert, Tübingen 2007; Wilfried Rott, Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990, München 2009, S. 203 ff. Hans Werner Richter an Hans Schwab-Felisch, 15.1.1952, in: Archiv Adk, Nl. Hans Werner Richter. Jürgen Peter Schmied, Sebastian Haffner, Eine Biographie, München 2010, S. 173 ff. Paul Fechter, Geistiges Berlin heute, in: Zeitschrift für Geopolitik, Weltwirtschaft, Weltpolitik und Auslandswissen, Jg. 26, 1955, S. 261-277; die Zeitschrift erschien von 1924 bis 1944 und dann wieder von 1951 bis 1968. Joachim Fest, »Moral versteht sich von selbst«. Joachim Fest über seine Autobiografie, die Grass-Debatte und das Erbe der Nazis, in: Der Spiegel, 21.8.2006.
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in der Gegenwart als »kunstvoll-unaufdringliches Plädoyer für die Treue zur Stadt, die einst Deutschlands geistiger und politischer Mittelpunkt war und wieder werden muß«, gelobt wurde.53 Die politisch willkommene Werbung für die Frontstadt fand, wie die zahlreichen positiven Besprechungen des im Verlag Langen-Müller erschienenen Buches ausweisen, in der Bundesrepublik großen Widerhall. Das von Brück nur selten bemühte Pathos hinsichtlich Berlins als »Sinnbild des zerstückelten Deutschlands, zerrissenes Herz« wurde in der Presse immer wieder aufgegriffen.54 Der junge und viel schreibende Thilo Koch konzentrierte sich im Folgenden vor allem auf die Rolle als Propagandist der westlichen Moderne, für die das Hansa-Viertel der Interbau im Tiergarten-Bezirk stand.55 Die Frontstadt-Propaganda änderte allerdings nichts daran, dass sich fast alle Intellektuellen in den neuen politischen Rahmenbedingungen einrichteten und ihr Betätigungsfeld in die neue Bundesrepublik verlagerten. Der intellektuelle Braindrain der 1950er Jahre führte nicht einfach von Ost nach West – und schon gar nicht in das neue politische Zentrum Bonn.56 Kulturelle Gewinner der neuen geo-politischen Konstellation im Kalten Krieg waren vielmehr wenige westdeutsche Großstädte. Die urbane Vergesellschaftung von Intellektuellen ist zwar für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum erforscht. Aber einige Bedingungen lassen sich nennen. Zu neuen Zentren konnten nämlich nur Orte aufsteigen, die spezifische mediale Infrastrukturen aufwiesen. Erstens war die Existenz einer Rundfunkstation im ersten Nachkriegsjahrzehnt eine notwendige Bedingung, um ein medialer Knoten und kultureller Anziehungspunkt für Intellektuelle zu werden, die oft nur durch Aufträge der gut bezahlenden Sendeanstalten ihr Auskommen finden konnten. Allerdings war das Vorhandensein einer Rundfunkanstalt nur die notwendige, nicht aber bereits eine hinreichende Voraussetzung für künftige Kulturmetropolen. Hinzukommen mussten zweitens Presseunternehmen mit überregional wahrgenommenen Qualitätszeitungen, Buchverlage und eine Universität als akademischer Resonanzboden und personeller Kern für die Herausbildung eines größeren medialen Ensembles und einer intellektuellen Szene. Diese Kriterien erfüllten drei Großstädte in besonderem Maße, nämlich München, Frankfurt am Main und Hamburg; weit dahinter rangierten Stuttgart, Köln und West-Berlin.57 Die revolu53 Thilo Koch, Zwischen Grunewald und Brandenburger Tor, München 1956; Rezension von Max von Brück in: Die Gegenwart, Jg. 11, 1956, 8.9.1956. 54 Ein Konvolut von Artikeln in: BAK, Nl. Thilo Koch, 1456/10 und 1456/24. 55 Vgl. etwa Thilo Koch, Berlin wandelt sich schnell zum Besseren und Schöneren, in: RuhrNachrichten, 6./7.4.1957; ders., Das ist das Berlin der Zukunft, in: WamS, 2.6.1957; ders., Berlins größter Ausstellungserfolg. Interbau, Die Zuschauer loben, was aber sagen die Mieter, in: Die Zeit, 3.10.1957; vgl. zum politischen Kontext die solide Studie von Dieter Hanauske, »Bauen, bauen, bauen …!« Die Wohnungspolitik in Berlin (West) 1945-1961, Berlin 1995, S. 715 ff. 56 Vgl. dazu sehr pointiert Paul Noack, Deutschland, deine Intellektuellen. Die Kunst, sich ins Abseits zu stellen, Stuttgart u. a. 1991, S. 49. 57 Vgl. Schildt, Großstadt und Massenmedien.
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tionäre Veränderung des »Standortmusters der deutschen Kulturzentren«58 vollzog sich innerhalb eines Jahrzehnts, bis zur Mitte der 1950er Jahre. München besaß alte Traditionen als Stadt der Kunst, der Museen und Theater,59 die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer der Universität hatten einen blendenden Ruf, zahlreiche renommierte Verlage, Hanser, C. H. Beck, die Nymphenburger Verlagsanstalt, befanden sich in der Stadt. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten wurde der Verlag Kurt Desch zu einer ersten Adresse für Intellektuelle, nicht zuletzt der Gruppe 47. Die amerikanische Besatzungsmacht, die als Kulturzentrum ein »Amerika-Haus« unterhielt, gab eine eigene Tageszeitung, die Neue Zeitung, heraus. Die wichtigste Neugründung war die Süddeutsche Zeitung, die zu einer der drei bis vier führenden überregionalen »Qualitätszeitungen« der Bundesrepublik avancierte. Zahlreiche linksliberale Publizisten lebten in München,60 und der Bayerische Rundfunk galt als intellektuell besonders profilierte Sendeanstalt. Auch die Hamburger Medienlandschaft war in ihrer Vielfalt bemerkenswert.61 Die Hansestadt wirkte in der Nachkriegszeit geradezu magnetisch auf Intellektuelle.62 Dort landeten nach dem Krieg wohl die meisten der zuvor in Berlin wirkenden Publizisten. Überregional beachtet wurde die unter der Ägide der britischen Besatzungsmacht herausgegebene Tageszeitung Die Welt, die 1953 vom Axel-Springer-Konzern erworben wurde. Die große Zahl wöchentlich erscheinender Organe, Die Zeit, Der Spiegel, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, bildete ein Alleinstellungsmerkmal; vor allem der Rowohlt Verlag begründete die Position der Hansestadt als führender Verlagsort. Auch wenn er 1960 vor den Toren Hamburgs, in Reinbek, ansässig wurde, blieb er doch fest mit dem kulturellen Leben der Metropole verbunden. Die Radiostation der Hansestadt, der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR), hatte das größte Sendegebiet, nämlich die gesamte Britische Zone, die von Flensburg bis ins Rheinland reichte und eine Station im Britischen Sektor von Berlin einschloss, während die US-Behörden für die späteren südlichen Bundesländer und ihre Enklave Bremen jeweils eine eigene Station errichteten.63 Hamburg wurde Anfang der 1950er Jahre auch zum Ausgangspunkt des Fernsehens in der Bundesrepublik.
58 Detlef Briesen, Kultur in Köln nach 1945. Ein Forschungsbericht einschließlich einiger Forschungsfragen, in: Breuer/Cepl-Kaufmann, Öffentlichkeit, S. 101-111, Zitat: S. 105. 59 Vgl. Krauss, Nachkriegskultur. 60 Dieter Grossherr, Aufbruchzeit. München 1949-1962, Mammendorf 2005. 61 Vgl. als Überblick Daniel A. Gossel, Die Hamburger Presse nach dem 2. Weltkrieg. Neuanfänge unter britischer Besatzungsherrschaft, Hamburg 1993; für das Ensemble der Massenmedien insgesamt Führer, Medienmetropole. 62 Axel Schildt, Hamburg – eine Metropole des Geistes? Zur Intellektuellengeographie nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitgeschichte in Hamburg 2013. Hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, Hamburg 2014, S. 55-74. 63 Konrad Dussel, Hörfunk in Deutschland. Politik, Programm, Publikum (1923-1960), Potsdam 2002, S. 84 ff.
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Die führende Rolle unter den drei medien-intellektuellen Zentren kam eindeutig Frankfurt am Main zu. Die »Zeitungsstadt Frankfurt«64 war mit zeitweise gleich zwei gewichtigen überregionalen Blättern, der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, auf nationaler Ebene präsent. Mit politisch-kulturell profilierten Zeitschriften wie der Gegenwart und den Frankfurter Heften, den Verlagen S. Fischer und Suhrkamp, der Buchmesse mit ihrem national beachteten Friedenspreis des deutschen Buchhandels, der vor allem durch das Institut für Sozialforschung, der legendären Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer,65 und später auch durch die Psychoanalyse Alexander Mitscherlichs66 berühmten Universität galt die Mainmetropole als heimliche Hauptstadt der Intellektuellen, als »Freistatt unorthodoxer und origineller Geister«.67 In Frankfurt entfaltete sich, trotz der großen Auswanderungswellen von Displaced Persons nach Israel und in die USA und im Gegensatz zu allen anderen deutschen Städten, sehr früh wieder ein geistiges »jüdisches Leben«, das mit urbanen intellektuellen Szenen verbunden war.68 Dass der Regierungssitz unter dubiosen Umständen nicht an den Main, sondern an den Rhein nach Bonn gelangte, kann als symbolische Pointe des traditionellen Dualismus von Geist und Macht verstanden werden. Die Bedeutung Frankfurts, wo auch der Hessische Rundfunk beheimatet war, der sehr enge Kontakte zu den Intellektuellen der Stadt pflegte, erhöht sich noch, wenn man das benachbarte Darmstadt einbezieht, wo die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung sowie die Geschäftsstelle des westdeutschen PEN-Zentrums residierten. Zu den materiellen Rahmenbedingungen kam die Wahrnehmung des jeweiligen städtischen kulturellen ›Klimas‹, das bestimmte Städte für Intellektuelle besonders attraktiv erscheinen ließ.69 Allerdings gab es viele Publizisten und Schriftsteller, die 64 Dieter Bartetzko, Von der F. A.Z. zum »Pflasterstrand«, in: Rainer Erd (Hrsg.), Kulturstadt Frankfurt, Frankfurt a. M. 1990, S. 35-41; zu den kulturellen Traditionen Frankfurts vgl. Andreas Hansert, Bürgerkultur und Kulturpolitik in Frankfurt am Main. Eine historisch-soziologische Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 1992; Richard Faber, Das Frankfurter Feld. Versuch eines Überblicks, in: ders./Eva-Maria Ziege (Hrsg.), Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945, Würzburg 2008, S. 15-46. 65 Zu der seit 1947 vorbereiteten und 1949 vollzogenen Rückkehr des Instituts für Sozialforschung nach Frankfurt vgl. Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie, München 2003, S. 207 ff., 228 ff.; Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2003, S. 496 ff.; Wolfram Schütte (Hrsg.), Adorno in Frankfurt. Ein Kaleidoskop mit Texten und Bildern, Frankfurt a. M. 2003, S. 144 ff., 182 ff.; Boll/Gross, Frankfurter Schule. 66 Tobias Freimüller, Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, Göttingen 2007. 67 Zins und Zinseszins, in: Der Spiegel, 31.10.1966, S. 62-86, hier S. 78. 68 Vgl. Tobias Freimüller, Mehr als eine Religionsgemeinschaft. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 7, 2010, H. 3, S. 386-407; zur jüdischen Remigration vgl. auch Irmela von der Lühe u. a. (Hrsg.), »Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause«. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008. 69 Vgl. Marita Krauss, Hans Habe, Ernst Friedlaender, Hermann Budzislawski – Drei Zonen, drei Städte, drei Schicksale, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 245-266, hier S. 257 ff.
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überhaupt nicht in den urbanen Medienmetropolen wohnten. Je besser jemand vernetzt war, in der Regel, je länger er sich im medien-intellektuellen Feld aufhielt, desto weniger war er darauf angewiesen, physisch am Ort zu sein, wenn er nicht gerade einen festen Arbeitsplatz in einer Zeitungsredaktion oder Universität hatte. Angesichts der bald wieder hergestellten Kommunikationsmöglichkeiten zogen es viele Publizisten vor, auf dem Lande oder in einer Kleinstadt zu wohnen. Das Telefon, der Brief und gelegentliche Reisen zu Verlagen oder Rundfunkstationen reichten gerade den arrivierteren und prominenteren Intellektuellen völlig aus. Sogar aus dem Ausland konnte man die nötigen Verbindungen halten.70 Aber darin erschöpfen sich die räumlichen Bezüge nicht. Wie im Fall des Nachwirkens der Frankfurter Zeitung oder der Weltbühne lassen sich »intellektuelle Orte«71 als vergangene Sehnsuchtsorte beschreiben. Ebenso konnten die in der Gegenwart mit dem höchsten Renommee ausgestatteten Verlage oder Presseorgane zu positiv besetzten Räumen werden. Die subjektive Landkarte einzelner Publizisten deckte sich nicht mit dem materiellen medialen Standortmuster, sondern kombinierte Medien, die zwar politisch-kulturell den eigenen Neigungen entsprachen, aber geographisch sehr weit voneinander entfernt liegen konnten.72 Umgekehrt gab es kaum lokal bestimmte und zugleich lagerübergreifende intellektuelle Szenen. Die »Kantine des Rundfunks« zog zwar viele zumal jüngere Intellektuelle atmosphärisch an;73 aber es konnte durchaus sein, dass sich zwei Publizisten in derselben Großstadt über Jahrzehnte nicht persönlich begegneten. Der Herausgeber des Merkur, Hans Paeschke, beklagte dies rückblickend in einem Brief an den ehemaligen Chefredakteur und Herausgeber des Rheinischen Merkur, Otto B. Roegele, der seit 1962 an der Münchener Universität lehrte, und fuhr fort: »als Berliner darf ich wohl feststellen, daß München eine Königin der Kommunikation ist, aber nur unterhalb des Zerebralen. Der Kopf besteht aus soviel rezipierten Mosaik-Stückchen, daß man sich nur in Cliquen sieht, die untereinander nicht kommunizieren.«74 Insofern sind anhand von Kriterien bestimmbare mediale Zentren und subjektive Raumkonstruktionen von Intellektuellen gleichermaßen in Rechnung zu stellen. Gemeinsam ist, dass die Neuordnung der medialen Standortmuster als Prozess bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit begann und in den Gründerjahren der Bundesrepublik abgeschlossen wurde.
70 Eine erste Mitgliederliste des nach der deutsch-deutschen Spaltung 1951 gegründeten westdeutschen PEN-Zentrums verzeichnet unter 95 Mitgliedern neun mit Wohnsitz im Ausland. Die meisten (17) Mitglieder kamen aus München; BAK, Nl. Rudolf Pechel, II, 107. 71 Vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S. 116 ff. 72 Vgl. Burkhardt/Hartle, Risse. 73 Elisabeth Endres, Die Literatur der Adenauerzeit, München 1983, S. 114. 74 Hans Paeschke an Otto B. Roegele, 8.4.1970, in: DLA, D: Merkur.
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3. Kommandohöhen – Intellektuelle im Radio Der Rundfunk hatte sich als Massenmedium in der Zwischenkriegszeit durchgesetzt und avancierte in den 1950er Jahren zum ›Hegemon der Freizeit‹, bevor er seine zentrale Rolle zugunsten des neuen Leitmediums Fernsehen einbüßte. In der Ausnahmesituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Papierzuteilungen sehr knapp ausfielen und sich eine Presselandschaft erst allmählich entwickelte, war die Bedeutung des Rundfunks als partieller Ersatz für Zeitungen und Zeitschriften besonders hoch. Aber auch in der Phase des Wiederaufbaus in der frühen Bundesrepublik behauptete sich das Radio als Leitmedium, in dem auch intellektuelle Orientierungen vermittelt wurden. Insofern können die verbissenen Kämpfe, die um entscheidende Posten in den von den alliierten Mächten gegründeten und dann in deutsche Hand übergebenen Sendeanstalten tobten, als Zeichen dafür gesehen werden, dass die Zeitgenossen sehr genau um die mediale Macht wussten, die mit dem Zugang zum Mikrophon verbunden war. Für Intellektuelle, die beim »Funk« arbeiten wollten, war es nicht nur wichtig, wie die Direktionsebene besetzt wurde, sondern vor allem, wer die – unterschiedlich benannten – Abteilungen für »Wort«, »Politik und Kultur« oder »Literatur« leitete. Die jeweiligen Redaktionen wurden, entgegen mancher Legende, in der Regel weder von jungen Berufsanfängern noch von älteren Rundfunkmachern dirigiert. Bis auf wenige Ausnahmen1 handelte es sich vielmehr um Publizisten und Journalisten, die zuvor für Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet hatten und kaum über Erfahrungen mit dem auditiven Medium verfügten. Es waren also weniger die Angehörigen der »jüngeren Generation«, die sich das Medium erst experimentell erobern mussten,2 als bereits etablierte Publizisten, die neue »funkische« Formen, das »Feature«, den »Radio-Essay«, das Hörspiel kreierten.3 Einige der Älteren kannten allerdings den Rundfunk schon seit der Mitte der 1920er Jahre. So wurde der Publizist Willy Haas (1891-1973), der aus dem Exil 1948 nach Hamburg zurückkehrte, vom Nachtprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks als »Rundfunk-Diva höchsten Ranges« eingeladen, der keinen Gesprächspartner brauche und für den der »akustische Background« ausrei-
1 Dazu zählen der Intendant und der Leiter der Abteilung »Kulturelles Wort« beim Südwestdeutschen Rundfunk, Friedrich Bischoff und Hermann Bahlinger, die beide für die »Schlesische Funkstunde AG« in Breslau gearbeitet hatten; vgl. Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004, S. 109 ff. 2 Vgl. Ernst Tauber, Das Nachtprogramm. Eine Untersuchung dieser Sendereihe an Hand des Nachtstudios am Bayerischen Rundfunk, o. O. 1957, S. 31 (hekt. MS; Exemplare befinden sich im Archiv des IfZ in München [ED 386-3] und im Hans-Bredow-Institut in Hamburg). 3 Vgl. Christina Stroomer, Die Entwicklung des Features in der Nachkriegszeit, unter besonderer Berücksichtigung der Funkarbeiten von Axel Eggebrecht und Alfred Andersch, unveröff. Magisterarbeit Universität Hamburg 1990.
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che.4 Ähnlich war es bei dem Schriftsteller und Journalisten Heinrich Eduard Jacob, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil Anfang der 1950er Jahre etwa 100 Rundfunkbeiträge unterbringen konnte, weil er in den USA reichhaltige Erfahrungen mit dem Medium gesammelt hatte.5 Die sich im Rundfunk etablieren konnten, waren meist sehr früh gekommen, hatten die Alliierten doch nur Wochen, Tage oder sogar Stunden nach ihrem Einmarsch die meisten Sendeanlagen wieder technisch empfangsbereit hergerichtet.6 In den Konzepten zur Re-education bzw. Re-orientation kam dem Radio eine zentrale Bedeutung zu.7 Dies verband sich mit traditionellen deutschen Auffassungen aus den 1920er Jahren, wonach die Menschen durch den Rundfunk in erster Linie nicht unterhalten, sondern vor allem erzogen und kulturell »veredelt« werden sollten.8 In diesem Rahmen kam den Intellektuellen in den Sendeanstalten eine wichtige Funktion zu. Noch mehr aufgewertet wurde deren Bedeutung durch Sendungen, die speziell für ein bildungsbürgerliches Publikum konzipiert wurden. Da diese elitären Programme – ihr zeitlicher Anteil am gesamten Programm lag unter einem Prozent, beim Bayerischen Rundfunk waren es 1950 lediglich 0,7 Prozent9 – in der Regel zwischen 22 Uhr und Mitternacht ausgestrahlt wurden, wenn die übergroße Bevölkerungsmehrheit bereits schlief, bezeichnete man sie meist als »Nachtprogramm«. Verschiedene Erhebungen und Schätzungen ermittelten bis weit in die 1950er Jahre hinein Einschaltquoten von einem bis vier Prozent. Das war zwar nur ein Bruchteil des Radiopublikums. Aber selbst wenn man den unteren Wert annimmt, entsprach die Quote allein beim Nordwestdeutschen Rundfunk einer Hörergemeinde von mindestens 100.000 Menschen mit meist höherer Bildung. Beim Bayerischen Rundfunk wurden – bezogen auf das Jahr 1956 – ca. 80.000 ermittelt und damit etwa ein Drittel aller »geistig Interessierten«.10 Das war weit mehr, als die aufla4 Jürgen Schüddekopf/NWDR/Nachtprogramm an Willy Haas, 18.11.1952, in: DLA, A: Willy Haas; zur Biographie von Willy Haas nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Karin Sandfort-Osterwald, Willy Haas, Hamburg 1969, S. 33 ff.; Christoph von Ungern-Sternberg, Willy Haas 1891-1973. »Ein großer Regisseur der Literatur«, München 2007, S. 246 ff.; Prüver, Willy Haas, S. 85 ff. 5 Vgl. Anja Clarenbach, Finis libri. Der Schriftsteller und Journalist Heinrich Eduard Jacob (1889-1967), Phil. Diss. Universität Hamburg 1999, S. 340 ff. 6 Vgl. für Hamburg Horst Ohde, Das Haus an der Rothenbaumchaussee. Zur Geschichte des NWDR, in: Ludwig Fischer u. a. (Hrsg.), Dann waren die Sieger da. Studien zur literarischen Kultur in Hamburg, Hamburg 1999, S. 291-320. 7 Vgl. Jessica Gienow-Hecht, Zuckerbrot und Peitsche. Remigranten in der Medienpolitik der USA und der US-Zone, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 23-49; Florian Huber, Re-education durch Rundfunk. Die Umerziehungspolitik der britischen Besatzungsmacht in Deutschland am Beispiel des NWDR 1945-1948, Hamburg 2006. 8 Diese Kontinuität atmet etwa eine Denkschrift der Rundfunkschule des NWDR aus den frühen 1950er Jahren: Fritz Borinski u. a., Der Rundfunk im politischen und geistigen Raum des Volkes, Hamburg 1952; vgl. dazu Schildt, Zeiten, S. 237 ff. 9 Tauber, Nachtprogramm, S. 58. 10 Vgl. ebd., S. 174 f.
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genstärksten politisch-kulturellen Zeitschriften erreichten, in jenem Jahr waren das Die Kultur (Stuttgart) mit 56.000 und der Monat (West-Berlin) mit 25.000 Exemplaren. Hinzu kam, dass durch diese Sendung auch das Bildungsbürgertum in der Provinz angesprochen werden konnte.11 Das erste intellektuelle Nachtprogramm wurde vom NWDR am 3. November 1947 ausgestrahlt. In den folgenden Monaten wurden ähnliche Sendungen von fast allen deutschen Rundfunkstationen angeboten. Gemeinhin gilt das »Third Programme« der BBC als Vorbild dieser Programme, die sich bewusst nicht »an die Masse der Hörer«, sondern an eine intellektuelle Elite wandten, der zu später Stunde »beste Auswahl und höchste Leistung geboten werden sollte«.12 Die Aussagen zeitgenössischer Akteure zu den Zielen des Nachtprogramms klingen, politische Orientierungen überwölbend, erstaunlich ähnlich. Beim Bayerischen Rundfunk sprach man von einem »Problemstudio«, einem »Diskussionsforum für philosophische und politische Fragen, deren Lösung noch ausstehe«, das Nachtprogramm solle »ein Bild von der geistigen und kulturellen Situation der Gegenwart« vermitteln; dem Südwestdeutschen Rundfunk ging es um »Kulturkritik und Gegenwartsanalyse«, um »Fragen, die die Zeit selber aufwirft«, die »in Richtung auf eine Beantwortbarkeit« behandelt werden sollten; beim Hessischen Rundfunk sprach man von der »Auswahl der Themen allein nach geistigen Gesichtspunkten« und der »Pflege der Diskussion«.13 Diese Funktionsbestimmung ließ sich mit modernen konservativen Apologien des Rundfunks in den 1950er Jahren vereinbaren. So führte etwa das Publizistenpaar Rüdiger Altmann und Johannes Gross, später Berater des Bundeskanzlers Ludwig Erhard, in einer Kritik der elektronischen Massenmedien aus: »Der Rundfunk erfüllt in diesem Prozeß der stetigen Veröffentlichung eine große, vielleicht seine eigentliche Aufgabe: Den Menschen in einer erkalteten und versachlichten Welt als Menschen zu engagieren, inmitten verlorener Wertbeziehungen seine ständige Anteilnahme zu erwecken, eine Anteilnahme, die irgendwo wieder zur Tat und Teilnahme werden muß.«14 Für die bildungselitären Sendungen zur Nachtzeit existierten auch deutsche Vorbilder. Der junge Schriftsteller Wolfgang Frommel, der von Stefan George und sei11 Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 84 f. 12 Tauber, Nachtprogramm, S. 7; vgl. Silke Brandes, Literarische Kultur im Rundfunk. Zu den Anfängen des Dritten Programms im NWDR/NDR-Hörfunk, Hamburg 1989; Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 83 ff.; Boll, Nachtprogramm, S. 56 ff. 13 Zitate in Tauber, Nachtprogramm, S. 37 f. 14 Rüdiger Altmann/Johannes Gross, Die neue Gesellschaft. Bemerkungen zum Zeitbewußtsein, Stuttgart 1958, S. 81; vgl. bereits Rüdiger Altmann, Der Mensch als Hörer. Die magische Realisierung einer klassenlosen Gesellschaft, in: Rheinischer Merkur, 17.10.1952; Altmann, der in den 1950er Jahren wie sein Kollege Gross in der von ihnen gegründeten Zeitschrift Sonde des RCDS schrieb, war 1954 von dem Marxisten Wolfgang Abendroth mit einer Arbeit über Öffentlichkeit promoviert worden.
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nem Kreis geprägt worden war, gestaltete vom Herbst 1933 bis zum Frühjahr 1934 beim Südwestdeutschen Rundfunk Frankfurt und dann bis 1935 beim Reichssender Berlin unter dem Titel »Vom Schicksal des deutschen Geistes« eine Sendereihe für elitäre Geister um Mitternacht. Die Rundfunkvorträge wurden im Verlag »Die Runde« veröffentlicht, im selben Verlag, in dem unter dem Pseudonym Lothar Helbing 1932 bereits das Buch »Der dritte Humanismus« von Frommel erschienen war. Dieses Thema hatte er zum Radiovortrag verdichtet mit der These, Humanismus gründe nicht in bloßer Menschlichkeit, sondern sei als Erziehung, die »Stunde des Geistes« als Kampf der »Einzelseele« gegen die »Vermassung« zu verstehen.15 Frommel wurde 1935 entlassen, ging 1937 in die Schweiz, danach in die Niederlande und kehrte nicht nach Deutschland zurück. Er geriet vorübergehend in Vergessenheit, aber seine keineswegs nationalsozialistische, wenngleich elitäre konservative Weltanschauung prägte die Nachtprogramme der Nachkriegszeit vielleicht mehr als liberale Deutungsangebote aus dem Westen. Woher kamen die Schriftsteller und Publizisten zu den Rundfunkanstalten? Für den NWDR ist diese Frage recht gut zu beantworten:16 Peter Bamm, ein früher Mitarbeiter für das kulturelle Ressort des Senders, sprach von einer »Mayflower Crew« und mit Blick auf die Herkunft seiner Kollegen von einem »niedersächsischen Rundfunk in obersächsischer Besetzung«.17 Ein Mann der ersten Stunde war Axel Eggebrecht, bis 1933 Mitarbeiter der Weltbühne. Aus gutbürgerlichem Leipziger Elternhaus stammend, lebte er in den 1920er Jahren, bis 1925 Mitglied der KPD, in einer Berliner Künstlerkolonie. 1933 wurde er für einige Monate in ein Konzentrationslager eingeliefert und schlug sich in den folgenden Jahren, mit Schreibverbot belegt und deshalb unter Decknamen, mit Auftragsarbeiten für die Ufa und als Filmkritiker durch. Ihm konnte man den Ausruf der Erleichterung bei Kriegsende, er fühle sich zehn Jahre jün15 Lothar Helbing (= Wolfgang Frommel), Der dritte Humanismus als Aufgabe unserer Zeit, in: Wolfgang Frommel (Hrsg.), Vom Schicksal des deutschen Geistes. Erste Folge: Die Begegnung mit der Antike. Reden um Mitternacht, Berlin 1934, S. 125-140; vgl. Lothar Helbing, Der dritte Humanismus, Berlin 1932 (31935); Günter Baumann, Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995; Michael Philipp, »Vom Schicksal des deutschen Geistes«. Wolfgang Frommels Rundfunkarbeit an den Sendern Frankfurt und Berlin 1933-1935 und ihre oppositionelle Tendenz, Potsdam 1995. 16 Vgl. biographische Angaben bei Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 86 ff. 17 Peter Bamm, Eines Menschen Zeit, München 1972, S. 390, 391; der Arzt und Publizist Peter Bamm (Pseudonym für Curt Emmrich [1897-1975]) war noch in der Kriegsgefangenschaft 1945 für den britischen Militärsender in Hamburg, den Vorläufer des NWDR, angeworben worden; bereits in den 1920er Jahren hatte er vor allem für das Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Berlin) gearbeitet; im »Dritten Reich« hatte er nach der Entlassung Fritz Kleins aus der DAZ in dessen Wochenzeitung Die Zukunft geschrieben. Der weiteren Mitarbeit nach deren Fusionierung mit Goebbels’ Wochenzeitung Das Reich entzog er sich bald durch freiwillige Meldung zur Wehrmacht; vgl. Sarkowicz/Mentzer, Schriftsteller, S. 92-95.
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ger, abnehmen.18 Eggebrecht, der als einer der ersten bereits fünf Wochen nach Kriegsende im ostholsteinischen Eutin von der britischen Besatzungsmacht aufgespürt und zum Rundfunk gebracht wurde,19 prägte das Programm des NWDR mit seiner ruhigen und feinen hohen Stimme als moralische Instanz. Als Berichterstatter der ersten großen NS-Kriegsverbrecherprozesse blieb er vielen Zeitgenossen im Gedächtnis.20 Sein Kollege Peter von Zahn entstammte einem Chemnitzer Offiziershaushalt, hatte bis zum Ausbruch des Krieges Rechtswissenschaft, Zeitungskunde und Geschichtswissenschaft studiert und dann in einer Propaganda-Kompanie der Wehrmacht als Reporter gearbeitet. Er wurde von der britischen Besatzungsmacht direkt aus einem Gefangenenlager rekrutiert. Bis zu seinem Weggang aus Hamburg als Leiter des Düsseldorfer Studios und später als erfolgreicher Fernsehreporter21 hatte er die Hauptabteilung Wort geleitet und mit Axel Eggebrecht die Nordwestdeutschen Hefte herausgegeben, in denen intellektuelle Wortbeiträge des NWDR in gedruckter Form Aufnahme fanden, eine frühe Form des Medienverbunds von Radio und Zeitschrift.22 Die Nordwestdeutschen Hefte, deren Lizenz als Verleger – auf Vorschlag von Eggebrecht – Axel Springer erhielt, erreichten zeitweise eine Auflage von 100.000 Exemplaren und wurden nach der Währungsreform 1948 unter dem Titel Kristall als unterhaltende Illustrierte weitergeführt. Pläne einer direkten Herausgabe der Nordwestdeutschen Hefte durch den NWDR scheiterten in den Gremien des Senders endgültig 1951, sie passten nicht mehr in die Aufteilung zwischen einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und privaten Printmedien. Vielmehr setzten sich vielfältige Formen der Kooperation durch.
18 Forner, German Intellectuals, S. 1; dort auch weitere Stimmen von deutschen Intellektuellen zum Kriegsende. 19 Klaas Jarchow, Ein Gespräch mit Axel Eggebrecht. »Wiemann, wir setzen uns jetzt vor ein Mikrofon.« Einer der Allerersten beim NWDR berichtet, in: Fischer u. a., Dann waren die Sieger da, S. 325-329; zur Biographie von Eggebrecht vgl. Robert Neumann/Kurt W. Marek, Axel Eggebrecht, Hamburg 1969; Freie Akademie der Künste in Hamburg (Hrsg.), Axel Eggebrecht, Hamburg 2001; Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 185 ff.; für die Zeit seit den 1950er Jahren auch Thomas Berndt, Nur das Wort kann die Welt verändern. Der politische Journalist Axel Eggebrecht. Mit einem Vorwort von Peter von Zahn, Herzberg 1998, S. 151 ff. 20 Vgl. Christof Schneider, Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (1945-1948), Potsdam 1999. 21 Peter von Zahn, Reporter der Windrose. Erinnerungen 1951-1964, Stuttgart 1994; Peter von Zahn (1913-2001) hatte sich Anfang der 1950er Jahre mit Adolf Grimme, dem Generaldirektor des NWDR, überworfen. 22 Vgl. Vor den Toren der Wirklichkeit. Deutschland 1946-47 im Spiegel der Nordwestdeutschen Hefte. Ausgewählt und eingeleitet von Charles Schüddekopf, Berlin 1980; Anke Hüsig, Peter von Zahn als Rundfunkjournalist 1945-1951, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Hamburg 2000; Benjamin Haller, Die Zeitschriftenpläne des NWDR, Hamburg 2005.
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Zur intellektuellen Mannschaft des NWDR zählte auch der aus Zittau in Sachsen stammende Seemann und Schriftsteller Ernst Schnabel, der 1946 bis 1949 als Chefdramaturg und – nach einem Auslandsaufenthalt bei der BBC – als Intendant des Senders in Hamburg und für das neue, im Januar 1952 eingeweihte Funkhaus Hannover arbeitete, bevor er sich Mitte der 1950er Jahre als freier Schriftsteller niederließ.23 Am 2. November 1947 wurde vom NWDR erstmals – und dann in der Regel wöchentlich von 22.30 Uhr bis Mitternacht – ein Nachtprogramm ausgestrahlt. Eröffnet wurde die erste Sendung mit Hugo von Hofmannsthals programmatischer Rede über das »Schrifttum als geistiger Raum der Nation« (1927), die bereits für die »Konservative Revolution« der Weimarer Republik begriffsprägend geworden war. Die Wahl gerade dieses Textes zeigt, wie sehr die Redakteure beim NWDR der geistigen Welt der Zwischenkriegszeit verhaftet blieben. Auch in späteren Sendungen wurden immer wieder Gedichte dieses Schriftstellers zu Gehör gebracht. Zur hermetischen bildungsbürgerlichen Exklusivität der Sendungen trug zudem bei, dass in den musikalischen Teilen vorzugsweise die »klassische Moderne« gespielt wurde, am häufigsten Paul Hindemith und Igor Strawinsky, aber auch Arnold Schönberg.24 Die Konzeption für das intellektuelle Aushängeschild des NWDR hatte Ernst Schnabel entwickelt, die Redaktion leitete Jürgen Schüddekopf.25 Er stammte aus einer Weimarer Professorenfamilie und hatte nach Abschluss seines Studiums in Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie 1935 für das Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung und dann, wie viele der bereits erwähnten Publizisten, für die Wochenzeitung Das Reich gearbeitet, meist befasst mit Filmkritiken. Ende 1941 zur Wehrmacht einberufen, berichtete er als Angehöriger der Propagandakompanie 612 weiter für die DAZ und Das Reich. Bevor er seinen Posten im NWDR antrat, stand er beim Feuilleton der Welt unter Vertrag, hatte aber schon seit Sommer 1945 für Radio Hamburg, den Vorläufer des NWDR, einige Beiträge verfasst. Unterstützt wurde Schüddekopf im Nachtprogramm außer von Ernst Schnabel auch von Werner Oehlmann, der den gleichen Weg von der DAZ zum Reich genommen hatte und für den musikalischen Teil verantwortlich zeichnete. Er wechselte 1950 zum Berliner Tagesspiegel. Zu den besonders häufig herangezogenen Autoren zählte auch Jürgen Eggebrecht, ein promovierter Literaturwissenschaftler und Schriftsteller aus der Altmark, der im Büchereiwesen der Wehrmacht eine wichtige Rolle gespielt hatte und als ehemaliger Lektor bei der Deutschen Verlagsanstalt und 23 Zu Schnabel (1913-1986) vgl. Wolfram Wessels, Ernst Schnabel, in: Jörg Hucklenbroich/ Reinhold Viehoff (Hrsg.), Schriftsteller und Rundfunk (Jahrbuch Medien und Geschichte 2002), Konstanz 2002, S. 99-122. 24 Vgl. Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 90. 25 Vgl. zu Jürgen Schüddekopf (1909-1962) die Nekrologe von Siegfried Lenz, in: Die Zeit, 9.3.1962; Peter von Haselberg, Nachruf auf Jürgen Schüddekopf (1909-1962), in: Joachim Schickel (Hrsg.), Weltbetrachtung 10 Uhr abends. 19 mal Nachtprogramm, Hamburg 1962, S. 415-421; Schneider, Nationalsozialismus, S. 262.
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bei Piper hervorragend vernetzt war. 1951 wurde er Abteilungsleiter für das Kulturelle Wort. Seine Gedichte wurden in der Neuen Zeitung, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in der Zeit abgedruckt. 1952 war er erstmals bei der Gruppe 47 zu Gast, 1958 erfolgte seine Aufnahme in den PEN-Club.26 Immer wieder kam auch der Theaterschriftsteller Egon Vietta (1903-1959), der später Mitorganisator der »Darmstädter Gespräche« war, als Interpret der »modernen« Tendenzen des literarischen Betriebs mit Texten über die Entfremdung in Amerika, über T. S. Eliot oder Jean-Paul Sartre zu Wort. Schüler Heideggers, vom Nationalsozialismus anfangs begeistert und Mitglied der NSDAP, hatte auch Vietta mit Schüddekopf bereits über die gemeinsame Arbeit für Das Reich Kontakt gehabt. Carl Schmitt charakterisierte ihn als »eine originelle Mischung von Regierungsrat und Bohème, deutschem Vater und italienischer Mutter«.27 Mit seiner Kritik an der Technik als Ursache des Nihilismus und der Ablehnung des Massengeschmacks näherte er sich nach dem Krieg, ähnlich wie Gerhard Nebel, der kulturpessimistischen Linie Friedrich Georg Jüngers an. Vietta pflegte enge Kontakte zu Carl Schmitt, während er die religiös grundierte Abendland-Propaganda ablehnte. Das Christentum, aber auch schon die Antike bildeten für ihn erste Stufen eines verderblichen Rationalisierungsprozesses.28 Das wohl markanteste Beispiel für den Rundfunk als Broterwerb für junge Schriftsteller war beim NWDR Siegfried Lenz, der an der Hamburger Universität von 1946 bis 1950 – ohne Abschluss – Literaturwissenschaft und Anglistik studierte, zunächst als Volontär und 1950/51 als Redakteur beim Feuilleton der Welt angestellt war und immer wieder Beiträge als freier Mitarbeiter für den Rundfunk ablieferte. Seit 1951 arbeitete er als freier Schriftsteller in Hamburg, 1952 kam er erstmals zur Gruppe 47, verfasste bald auch größere Arbeiten für den NWDR. Fragmente seines später verfilmten Romans »Der Mann im Strom« (1957) waren hier zuvor ausgestrahlt worden.29 Die Intellektuellen im NWDR der ersten Nachkriegsjahre, dies lässt sich generalisierend feststellen, stammten in der Regel nicht aus Hamburg, wenn auch nicht alle aus »Obersachsen«, wie Peter Bamm pointiert behauptet hatte. Geboren meist 26 Vgl. Florian Welle, »Bei uns im Funk«. Jürgen Eggebrecht 1949-1959. Ein in Vergessenheit geratener Funkredakteur der frühen Bundesrepublik, in: Rundfunk und Geschichte, Jg. 36, 2010, H. 3/4, S. 3-16; zu seiner NS-Karriere s. Kapitel II.3.4. 27 Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart. Hrsg. von Martin Tielke, Berlin 2015, S. 45, Anm. 93. 28 Gregor Streim, Der Auftritt der Triarier. Radikalkonservative Zeitkritik im Zeichen Jüngers und Heideggers, am Beispiel von Gerhard Nebel und Egon Vietta, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 69-85. 29 Vgl. Siegfried Lenz, Das Rundfunkwerk. Hörspiele, Essays, Features, Essays, Feuilletons, Reisebilder, autobiographische Texte, Gespräche, Dokumente. Hrsg. von Hanjo Kesting, Hamburg 2006; Peter von Rüden/Hans-Ulrich Wagner, Siegfried Lenz. Der Schriftsteller und die Medien, Hamburg 2004; Erich Maletzke, Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung, Springe 22006, S. 38 ff., 55 ff.; für weitere biographische Angaben zu den Intellektuellen im NWDR vgl. Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 86 f.
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von der Jahrhundertwende bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs, kamen sie aus bürgerlichen, protestantisch-nationalen Elternhäusern, waren akademisch gebildet und hatten im »Dritten Reich« zwar publizistisch gearbeitet, aber entweder in temporär geduldeten Kulturnischen oder im Feuilleton der nationalsozialistischen Presse. Die NWDR-Intellektuellen bildeten offenbar eine nach außen abgeschlossene Gruppe, an die sich Rolf Italiaander, eine lokale Schriftstellergröße und Mitgründer der hamburgischen Freien Akademie der Künste, erinnerte: »da kam man schwer heran, da wurden auch nur gewisse Leute herangezogen und andere völlig vernachlässigt, das war also eine Clique.«30 Remigranten gab es nur wenige. Zu nennen sind Alexander Maaß, Leiter der 1947 gegründeten Rundfunkschule des Senders, der aus britischem Exil als Kontrolloffizier zurückkehrte,31 und KarlEduard von Schnitzler, der nur ein kurzzeitiges Gastspiel gab; auch er war aus dem britischen Exil zurückgekehrt und wechselte von Köln über Hamburg nach seiner Kündigung wegen kommunistischer Texte Anfang 1948 in die Sowjetische Besatzungszone.32 Die Entfernung kommunistischer Intellektueller aus dem Rundfunk befriedete die heftigen Auseinandersetzungen keineswegs. Beim NWDR folgte vielmehr eine über mehrere Jahre anhaltende Krise, in deren Mittelpunkt der 1948 zum Generaldirektor ernannte Adolf Grimme stand.33 Grimme hatte 1914 sein Lehramtsexamen absolviert und war während der Weimarer Republik in der Bürokratie des preußischen Bildungsministeriums bis zum Minister aufgestiegen. Allerdings wurde der Sozialdemokrat nach zwei Jahren im Rahmen des Papen-Staatsstreichs 1932 seines Amtes enthoben. In den letzten Kriegsjahren von den Nationalsozialisten inhaftiert, hatte Grimme vor seiner Ernennung zum NWDR-Generaldirektor als Kultusminister in Niedersachsen gewirkt. Ohne Erfahrungen mit dem neuen Medium, konzeptionell überfordert, autoritär und unfähig zu effektivem Management, beging er nach wenigen Monaten schon den ersten schweren Fehler, als er einen frü30 Klass Jarchow, »Es war keine große geistige Linie drin in Hamburg«. Ein persönliches Statement zu Autoren, Autorengruppen und Institutionen des literarischen Lebens in Hamburg, in: Fischer u. a., Dann waren die Sieger da, S. 169-175, Zitat S. 170. 31 Vgl. Huber, Re-education; vgl. zum Kontext Gabriele Clemens, Remigranten in der Kultur- und Medienpolitik der Britischen Zone, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 50-65. 32 Vgl. Karl-Eduard von Schnitzler, Der rote Kanal. Armes Deutschland, Hamburg 1992, S. 67 ff.; Huber, Re-education, S. 79 ff.; eine Skizze aus konservativer Sicht bietet Gunter Holzweissig, Ein roter Schmock – Karl Eduard von Schnitzler, in: Carsten Reinemann/ Rudolf Stöber (Hrsg.), Wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft. Festschrift für Jürgen Wilke, Köln 2010, S. 195-209. 33 Vgl. genregemäß positiv Walther Georg Oschilewski (Hrsg.), Wirkendes, sorgendes Dasein. Begegnungen mit Adolf Grimme. Gruß der Freunde und Weggefährten zum siebzigsten Geburtstag am 31. Dezember 1959, Berlin 1959 (im selben Jahr wurde Grimme auch in den PEN-Club aufgenommen); aus kritischer Zeitzeugenschaft dagegen Klaus-Peter Schulz, Adolf Grimme. Demontage einer Legende, in: ders., Authentische Spuren. Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte, Boppard am Rhein 1993, S. 245 ff.; vgl. auch Kai Burkhardt, Adolf Grimme (1889-1963). Eine Biografie, Köln u. a. 2007.
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heren Funktionär der NS-Dissidentengruppe Otto Straßers, Herbert Blank, kommissarisch zum Hamburger Intendanten des NWDR ernannte. Vielleicht war es weniger die Personalie selbst, die Anstoß erregte. Grimme hatte Blank im Konzentrationslager kennengelernt, wo dieser zehn Jahre verbringen musste. Auch hatte Blank nach dem Krieg etliche Artikel für die Nordwestdeutschen Hefte geschrieben. Aber Grimme hatte den vorherigen Inhaber des Postens, Eberhard Schütz, zum Programmdirektor herabgestuft. Dieser wiederum fachte die Proteste an, als er vor der Belegschaft von Abhöranlagen und Spitzelei beim NWDR sprach und dafür umgehend fristlos entlassen wurde.34 Den Grund der Unruhe unter den Mitarbeitern des Senders bildeten Pläne für einen radikalen Personalabbau, die beteiligten Akteure kämpften für ihre jeweiligen politisch-kulturellen Lager. Eine der ersten Maßnahmen Herbert Blanks als kommissarischer Intendant war die Kündigung von Axel Eggebrecht und 50 weiteren Mitarbeitern aus »Etatgründen«, ein Grund für die erwähnte Belegschaftsversammlung. Von dem Medienspezialisten und späteren sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Erich Klabunde war im Vorfeld sogar die Entlassung von mindestens 300 Mitarbeitern gefordert worden. Als Beispiel für die Verschwendung öffentlicher Gelder nannte er, auf Axel Eggebrecht anspielend, »eine Reihe von Persönlichkeiten«, die im Rundfunk »hoch bezahlt« würden, aber »ihre Arbeitskraft nur in begrenztem Ausmaß zur Verfügung« stellten.35 Mit der Kündigung von Gründerpersönlichkeiten des NWDR verband sich eine doppelte Zielstellung. Zum einen ging es um die politische Disziplinierung der selbstbewussten unabhängigen Intellektuellen, die von Blank als »Eggebrechtsche Knüppelgarde« diffamiert wurden, zum anderen richtete sich die Entlassung gegen fest angestellte, aber sich in der Praxis wie freie Mitarbeiter verhaltende Publizisten.36 Der Betriebsrat verweigerte schließlich die Zustimmung zu den Kündigungen in 35 von 51 Fällen, auch im Fall von Axel Eggebrecht. Dieser resümierte aus seiner Sicht einen Monat später die Geschehnisse, die sich nach der Übergabe des NWDR in deutsche Hand abgespielt hätten: »Eine Schicht ausgesprochener Manager, im Sinne von Burnham, ergriff die Verwaltungsmacht. Sie waren bestrebt, uns Gründer des Hauses an die Wand zu drücken, zu schwächen, schließlich zu diffamieren, so weit das ging. (…) Hinter dem Ganzen steckt politisch folgendes: Raus mit den ›Kollaborateuren‹, die den NWDR unter britischer Leitung aufgebaut haben; Einflussnahme der beiden grossen Parteien SPD und CDU (christ-soziale Union), die sich unsere beiden Hauptsender Hamburg und Köln aufteilen wollen; wer einen wirklich überparteilichen Funk will, muss weg; und das sind wir, die alten Leute, die den Versuch machten, übliche deutsche Methoden zu vermeiden.«37 34 35 36 37
Ebd., S. 292 f. Zit. nach Berndt, Wort, S. 145. Schulz, Adolf Grimme, S. 249. Axel Eggebrecht an Charlotte Stammreich, 3.6.1949, abgedruckt in: Petra Blödorn-Meyer/ Michael Mahn, Für Axel Eggebrecht (10.1.1899-14.7.1991), in: Auskunft. Mitteilungsblatt
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Zum öffentlichen Skandal machte den Fall der Schriftsteller Kurt Hiller. Wenngleich in London sitzend, wurde er von dem SPD-Mitglied Walter D. Schultz, mit dem er sich im Exil angefreundet hatte und der mittlerweile Leiter des Außenreferats des NWDR geworden war,38 gut informiert. Hiller warf sich sofort in den Kampf. Gegenüber Gerhard Gleissberg, dem Chefredakteur des sozialdemokratischen Neuen Vorwärts, bezeichnete er Herbert Blank als »eines der dreckigsten Nazi-Schweine«;39 Gleissberg war allerdings froh, dass Hiller seine Polemik zunächst nicht im Parteiblatt publizierte, der abgesprochene Artikel kam angeblich zu spät,40 sondern – am 9. April 1949 – in der Münchener Neuen Zeitung. Anfang Juni legte er dann im Neuen Vorwärts nach. Dabei stellte Hiller nicht etwa in Abrede, dass Blank im KZ gesessen habe, aber dies eben als überzeugter Nationalsozialist, und er fragte, ob denn der Verwaltungsrat Gregor Straßer oder Ernst Röhm auch für einen geeigneten Intendanten halten würde.41 Mittlerweile verhandelte Grimme, offenbar unter dem Druck der sozialdemokratischen Parteispitze in Hannover, hinter den Kulissen längst mit Walter Dirks von den Frankfurter Heften, dem er Blanks Posten anbot. Nach einem ausführlichen Gespräch im Hotel Rheingold-Bellevue in Rolandseck am Rhein sagte Dirks allerdings ab, weil er zum einen bei seiner Zeitschrift dringend gebraucht werde, zum anderen aber »nicht die Sicherheit gewinnen konnte, für Hamburg der richtige Mann zu sein«.42 Die besprochene Möglichkeit einer Kombination beider Pflichten wiederum, so Dirks in einem weiteren Brief nach erneuten Verhandlungen in Hamburg, sei »illusionär«, weil die Krise im NWDR »auf eine unabsehbare Zeit die volle und ungeteilte Kraft, Phantasie und Zeit des neuen Intendanten« erfordere. Und ebenso unrealistisch sei es wohl, die Krise zunächst zu bereinigen und ihn anschließend einzusetzen. Die Lösung der tiefen Krise, die sich auch auf die Generaldirektion beziehe, und die Einsetzung des neuen Intendanten seien nicht zu trennen, »weder zeitlich noch sachlich«.43 Dem offiziellen Schreiben legte Dirks ein weiteres bei, in dem er einen Grund deutlicher akzentuierte, der ihn bewog, nicht nach Hamburg zu gehen:
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39 40 41 42 43
Hamburger Bibliotheken, Jg. 19, 1999, H. 1, S. 7-15, hier S. 11; vgl. weitere briefliche Stellungnahmen von Eggebrecht in diesem Sinne – auch an Kurt Hiller – bei Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 185 f. Hans-Ulrich Wagner, »Unsere mit keiner andern meines Lebens vergleichbare Freundschaft«. Auf den Spuren von Walter D. Schulz, in: Begleitbuch zur Kurt-Hiller-Ausstellung 2010 aus Anlass des 125. Geburtstages am 17. August 2010, Fürth 2010, S. 111-123; vgl. Münzner, Kurt Hiller, S. 256 ff. Kurt Hiller an Gerhard Gleissberg, 23.3.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Gleissberg. Gerhard Gleissberg an Kurt Hiller, 14.4.1949; 28.5.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Gleissberg. Kurt Hiller, Der Blank-Skandal im NWDR, in: Neuer Vorwärts, 4.6.1949. Walter Dirks an Adolf Grimme, 12.4.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38. Walter Dirks an Adolf Grimme, 25.4.1949, in: ebd.
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»Mit dem Geist und der Sicht, die in den Darlegungen Professor Raskops sichtbar wurden, ist meiner Meinung nach die Krise im NWDR nicht zu lösen. (…) Sie ist auch eine Krise zwischen Raskop und dem Haus (…) Ich fürchte ein wenig, dass nicht nur Herr Blank, sondern auch Herr Raskop zwischen Ihnen und der Crew gestanden haben. Herr Blank sehr sichtbar, Herr Raskop vielleicht unsichtbar.«44 Diese vorsichtigen Andeutungen entbehrten nicht einer gewissen Pikanterie, richteten sie sich doch gegen einen »Parteifreund« von Dirks, der selbst der CDU angehörte. Heinrich Raskop, Vorsitzender des Verwaltungsrats des NWDR, galt als Kopf der konservativen Fraktion im Sender. Dirks wiederum fungierte als Hoffnungsträger der linken unabhängigen Intellektuellen und sollte gleichzeitig von sozialdemokratischen Funktionären für ihre Zwecke benutzt werden, eine Konstellation, die den Publizisten überforderte. Dirks’ Absage, Hamburger Intendant des NWDR zu werden, wird verständlich, wenn man die Informationen einbezieht, mit denen er während der Verhandlungsmonate stetig versorgt wurde. Die Intentionen und Motive, Dirks zu gewinnen, waren offenbar widersprüchlich. Der Redakteur Klaus-Peter Schulz berichtete eine Woche nach dem Abschluss der Verhandlungen von einem längeren Gespräch mit Grimme; dieser habe ihm versichert, »es sei einer der schmerzlichsten Augenblicke in seiner Laufbahn als Generaldirektor des NWDR gewesen«, als er den Absagebrief von Dirks erhalten habe; er bitte ihn, auch im Namen seines Freundes Axel Eggebrecht, sich doch noch positiv zu entscheiden.45 Ein anderer sozialdemokratischer Redakteur, Guntram Prüfer, dagegen hatte ihm am vorletzten Tag der Verhandlungen indirekt abgeraten, Grimmes Angebot anzunehmen. Dieser habe bewusst verfügt, dass er mit der »Opposition« im Sender nicht in Berührung kommen dürfe.46 Mittlerweile, so schrieb er zwei Wochen später, herrsche die »Restauration eines geistigen Terrors«, »brütet eine Atmosphäre aus, die an vergangene Zeiten erinnert«. Grimme scheine zu schwach, »um die Vorgänge klar zu erkennen «. Jedenfalls werde er, Prüfer, aus dem Sender ausscheiden.47 Auch Axel Eggebrecht kündigte nun sein Arbeitsverhältnis, weil er »keine Möglichkeit mehr (sehe), Geist und Haltung des NWDR zu beeinflussen«.48 In einem Brief an eine Jugendfreundin drückte er es deutlicher aus: »Der geistigen Linken ist eine wichtige Position verloren gegangen.«49 Diese Interpretation unabhängiger linker Intellektueller ließ sich auch der Überschrift eines Artikels von Erich Kuby in der Süddeutschen Zeitung entnehmen: »Der 44 45 46 47
Ebd. Klaus-Peter Schulz an Walter Dirks, 2.5.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 45. Guntram Prüfer an Walter Dirks, 24.5.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 43 A. Guntram Prüfer an Walter Dirks, 9.6.1949; Walter Dirks an Guntram Prüfer, 20.6.1949, in: ebd. 48 Axel Eggebrecht an Adolf Grimme, 27.5.1949, zit. nach Berndt, Nur das Wort, S. 149. 49 Axel Eggebrecht an Charlotte Stammreich, 3.6.1949, zit. nach Blödorn-Meyer/Mahn, Für Axel Eggebrecht, S. 12.
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Geist hat die Schlacht verloren.«50 Lediglich Fritz Sänger, der Kollege aus der alten Frankfurter Zeitung und mittlerweile Chef der Deutschen Presseagentur, bedauerte zwar sehr, dass die Verhandlungen mit Dirks fehlgeschlagen waren, nahm aber zugleich Adolf Grimme in Schutz, der nur ungeschickt und zu weich gewesen sei, um die ungeheuerliche Verschwendung im NWDR öffentlich zu machen.51 Anfang 1950 erhielt der Fall Grimme/Blank eine neue Wendung. Blank hatte in Zeitungsartikeln den NWDR als »kommunistisch durchsetzt« bezeichnet und den Vorsitzenden des Verwaltungsrats und CDU-Politiker Heinrich Raskop als Nachfolger Grimmes vorgeschlagen. Dieser entließ Blank umgehend.52 Axel Eggebrecht freute sich in einem Brief an Dirks: »Unsere Prognosen vom Mai 49 verwirklichen sich rascher als wir dachten: die quasi-Sieger von damals fressen einander auf. Man streckt allerlei Fühler nach uns aus. Ich habe den Eindruck, dass ich (vorsichtig gesagt) im kommenden Sommer diese und jene Sendung auch mal wieder über den NWDR gehen lassen kann, während ich bis jetzt eisern jegliche Verbindung abgelehnt habe.«53 Blank hatte ganz offensichtlich das nationalneutralistische Lager von Otto Straßer in Richtung der neuen Bonner Kanzlerpartei verlassen. Selbstironisch schrieb er an Klaus Mehnert. »Jetzt aber: möglichst alle Verbindungen abbrechen zu Leuten, die auf unsern guten dicken Otto schwören.«54 Hasserfüllt charakterisierte er wenig später seinen Nachfolger beim NWDR: »Alexander Maas, Kommune, Spanienkämpfer, Soldatensender Calais (pornographische Abteilung), BBC, Secret Service«.55 Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden großen politischen Parteien wiederum hatten sich längst verlagert. Die rechtskatholische Fronde im NWDR, hier spielte auch der Publizistikwissenschaftler Emil Dovifat im Verwaltungsrat eine Rolle,56 unterstützte insgeheim den Hardliner Raskop als Hoffnungsträger der 50 Erich Kuby, Der Geist hat die Schlacht verloren. Anmerkungen zu den Vorgängen beim NWDR, in: Süddeutsche Zeitung, 16.6.1949. 51 Fritz Sänger an Walter Dirks, 30.5.1949; Walter Dirks an Fritz Sänger, 13.6.1949, stimmte dem zu, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 44 A. 52 Blank vom NWDR fristlos entlassen, in: Die Welt, 31.1.1950. 53 Axel Eggebrecht an Walter Dirks, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 49 A. 54 Herbert Blank an Klaus Mehnert, 28.12.1950, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 12; Mehnert und Blank standen seit 1948 in engerem Kontakt. 55 Herbert Blank an Klaus Mehnert, 6.3.1951, in: ebd., Bü 13. Gemeint ist: Alexander Maaß. 56 Dovifat war in den 1920er Jahren im Zentrum und in der Presse der katholischen Gewerkschaften aktiv gewesen; mit dem Nationalsozialismus ließ er sich nicht weitergehend ein, aber das Regime wiederum sah keinen Grund, seine Lehrtätigkeit zu beanstanden; dies ergibt sich aus den umfangreichen Unterlagen zu seiner Entnazifizierung im ACDP, Nl. Emil Dovifat, 005/1; vgl. Otto B. Roegele, Plädoyer für publizistische Verantwortung. Beiträge zu Journalismus, Medien und Kommunikation. Hrsg. von Petra E. Dorsch-Jungsberger u. a., Konstanz 2000, S. 208-215; Sammelband aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der FU Berlin, das Dovifat von 1928 bis 1947 geleitet hatte; Bernd Sösemann (Hrsg. in Verbindung mit Gunda Stöber), Emil Dovifat. Studien und Dokumente zu Leben und Werk, Berlin/New York 1998.
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CDU. Gegenüber der Partei sei allerdings, wie der Chefredakteur des Rheinischen Merkur, Otto B. Roegele, festhielt, der »Argwohn nicht ganz überwunden«, dass sie »eines Tages weich wird und uns allein stehen läßt. (…) Wir müssen unbedingt mit dem NWDR Köln im Spiel bleiben und die Kandidatur Bausch betreiben.«57 Die parteipolitischen Auseinandersetzungen um den NWDR wurden im Übrigen begleitet von geheimdienstlichen Aktivitäten, hatte doch die Organisation Gehlen diesen Sender als ihren »Hauptfeind«58 ausgemacht. Im Hintergrund der Auseinandersetzungen stand bereits frühzeitig das Ziel, den NWDR aufzuteilen und damit ein angebliches sozialdemokratisches Monopol zu brechen. Die Trennung in NDR und WDR 1956 beendete die parteipolitischen Machtspiele allerdings nicht. Begrenzte Konflikte auf der Basis eines grundsätzlichen Konsensus der großen politischen Lager begleiteten den ursprünglich staatsfern konzipierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk über Jahrzehnte. Für Dirks, der sich Grimme gegenüber eines sehr freundschaftlichen Tons befleißigt hatte, endeten die Verhandlungen um den Hamburger Intendantenposten insofern sehr günstig, als Grimme ihm versicherte, er könne seine Gründe für die Absage gut verstehen. Er regte sogar, auch als Lehre aus dem »Fall Blank«, ein Rundtischgespräch mit Martin Niemöller, Alexander Mitscherlich und Annedore Leber über das »profane Paulus-Erlebnis« an;59 man blieb in freundlichem Kontakt, und Dirks hatte mit dem Hamburger Sender, bei dem mittlerweile Ernst Schnabel mit dem Posten des Intendanten betraut worden war, einen weiteren verlässlichen Abnehmer seiner Texte gewonnen. 1950 fragte ihn die Redaktion des »Nachtprogramms« für eine große Sendung über das Thema »Antisemitismus« an,60 seit Herbst 1952 sprach er im Hamburger NWDR auf UKW monatliche politische Kommentare, etwa über die neue nationalneutralistische Partei Gustav Heinemanns; für 70 Zeilen bezahlte der NWDR jeweils 80 DM.61 1955 wurde er für die Rundfunkschule des Senders zu einem gut bezahlten Vortrag eingeladen.62 Am Beispiel der Honorare von Walter Dirks lässt sich recht gut ermessen, wie lukrativ die Rundfunkarbeit für die intellektuellen Stars war. Seit Anfang der 1950er Jahre gab es kaum einen Monat, in dem bei ihm die Summe aller Honorare unter 3.000 DM lag, und mehr als 80 Prozent stammten von Rundfunkredaktionen; ein 57 Otto B. Roegele an Helmut Ibach, 27.1.1950, in: Nl. Otto B. Roegele, 1950 (G-L), Bergisch Gladbach, in privater Hand; der CDU-Rundfunkpolitiker Hans Bausch löste nach zwei vergeblichen Anläufen 1958 den Sozialdemokraten Fritz Eberhard an der Spitze des Süddeutschen Rundfunks ab. 58 Klaus-Dietmar Henke, Geheime Dienste. Die politische Inlandsspionage der Organisation Gehlen 1946-1953, Berlin 2018, S. 472; vgl. ff. dort ausführliche Informationen zur Strategie, den NWDR in Misskredit zu bringen. 59 Adolf Grimme an Walter Dirks, 24.6.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 44 A. 60 Redaktion Nachtprogramm an Walter Dirks, 11.2.1950; Walter Dirks an Jürgen Schüddekopf, 6.4.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 53 A. 61 Rüdiger Proske an Walter Dirks, 1.10.1952 und 17.11.1952 in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 76 B. 62 Albin Stuebs an Marianne Dirks, 9.2.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 110 A.
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einzelnes Honorar betrug bei ihm im Durchschnitt etwa 300 DM – das entsprach dem Monatslohn eines Facharbeiters.63 Die Dirks zugeschriebene Kernkompetenz war die Kennerschaft in Fragen von Religion und Kirche. So berichtete er exklusiv für alle Rundfunksender der ARD über den Katholikentag 1954.64 Und als er 1956 einen gegenwartsdiagnostischen Vortrag im Südwestdeutschen Rundfunk publiziert hatte, erfolgte eine Anfrage der DVA, ob er ein kleines Buch mit dem Titel »Die Krisis des Vertrauens in der industriellen Gesellschaft« liefern könne.65 Die Ausschaltung des politischen Einflusses der parteiungebundenen Intellektuellen im NWDR bedeutete nicht, dass man ihrer nicht mehr bedurft hätte, aber eben nur als Salz in der Suppe, als räsonierende, kommentierende Geister, die das Programm für tonangebende bildungsbürgerliche Schichten attraktiv machten. Axel Eggebrecht arbeitete schon bald wieder intensiv für den NWDR. Zum 1. April 1952 gelang es Schnabel, auch Alfred Andersch, der bereits zu einem intellektuellen Rundfunk-Star geworden war, zu verpflichten. Andersch hatte sich bereits im Frühjahr 1949 im Anschluss an eine Dienstreise nach Hamburg vom »aufregenden und anstrengenden« Hamburger Kulturleben im Unterschied zum »lieben, ruhigen« Frankfurt fasziniert gezeigt.66 Beim Hessischen Rundfunk hatte er als Redakteur in der Abteilung »Kulturelles Wort« eine monatliche Präsenzpflicht von einer Woche gehabt, die gleiche Anwesenheitszeit handelte er beim NWDR aus. In Hamburg sollte er für ein monatliches Salär von 1.000 DM eine Feature-Abteilung aufbauen, Reisekosten und eigene Texte wurden extra honoriert. Andersch, von Steuerschulden bedrückt, versuchte zeitweise beide Posten auszuüben, auch in Frankfurt war sein Monatsgehalt auf 1.000 DM angehoben worden.67 Er befand sich in der glücklichen Lage, von den Intendanten beider Sender umworben zu werden. In Frankfurt sagte man ihm einen Kredit von 10.000 DM für einen Grundstückskauf in Neu-Isenburg zu;68 in Hamburg konnte er mit Unterstützung des Wohnungsamtes zu günstigen Bedingungen ein norwegisches Holzhaus am nördlichen Stadtrand in Volksdorf mieten, »eine halbe Autostunde vom Zentrum entfernt, ganz im Freien, mit ganz großem Garten und herrlicher landschaftlicher Umgebung, für die Kinder ein Paradies, und für Gisela und mich als Arbeitsstätte 63 Vgl. die Aufstellung der Honorare von Walter Dirks 1949-1954, in: DLA, Nl. Walter Dirks, 2; eigene Berechnungen; die Bibliographie Walter Dirks, hrsg. von der Friedrich-EbertStiftung, bearbeitet von Ulrich Bröckling, Bonn 1991, weist 4.108 Veröffentlichungen und unveröffentlichte Manuskripte nach, davon drei Viertel aus der Zeit seit 1945. Höhepunkt seiner Produktivität waren die Jahre 1949-1956, also bis zur Festanstellung beim WDR. 64 Walter Dirks an Lokalkomitee Fulda des 76. Deutschen Katholikentages, 22.7.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 95. 65 Jürgen Rausch/DVA an Walter Dirks, 24.4.1956, 24.4.1956, 13.9.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 111A. 66 Alfred Andersch, Sartre erobert Hamburg. Kleiner Rundgang um eine Litfaß-Säule, in: Frankfurter Rundschau, 27.4.1949, zit. nach Stephan Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990, S. 170. 67 Ebd., S. 197. 68 Ebd., S. 201.
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einfach exzeptionell geeignet«.69 Der NWDR gewährte ihm dafür ebenfalls einen Kredit von 10.000 DM.70 Allerdings wurde die zunächst gute Zusammenarbeit von Andersch und Schnabel schon nach einigen Monaten getrübt. Schnabel, der Andersch insgeheim als seinen Nachfolger aufbauen wollte, er selbst trat 1955 von seinem Amt zurück und wurde freier Schriftsteller, hatte Kritik am Feature-Programm von Andersch geäußert.71 Die Verstimmung steigerte sich zum endgültigen Bruch einige Jahre später. Vor diesem Hintergrund ist ein längerer Text zu verstehen, den Ernst Schnabel an Hans Werner Richter schickte, verbunden mit seiner Absage der Teilnahme an der Tagung der Gruppe 47 in Rom 1954. Alfred Andersch möge dort seine »Ansprache eines Managers an zeitgenössische Schriftsteller« vorlesen. In diesem Text hob Schnabel die »große und höchst ehrenvolle Rolle« eines Mäzens für die Schriftsteller hervor. Ursprünglich sei dieser »ein Mann, der gefährlich lebt«, gewesen. Mittlerweile sei es ihm aber gelungen, »das Risiko abzuschieben, und zwar auf den Partner, auf den Rundfunk also«; mit großzügigen Vorschüssen bedacht, die zum Teil über 50 Prozent des endgültigen Honorars ausmachten, sei der Rundfunk geradezu gezwungen, die eingereichten Texte alle zu senden, er fürchte um die »Qualität«.72 Diese Sorge wurde aus entgegengesetzter Perspektive von dem Publizisten, Schriftsteller und liberalen Politiker Rolf Schroers, auch er Mitglied der Gruppe 47, geteilt. Er sah die Gefahr, dass Schriftsteller die von der Logik des Rundfunks als technischem Apparat »verlangte Normierung in opportunistischer Selbsttäuschung« gleichsetzen könnten »mit dem, was künstlerische Norm ist oder zumindest sein soll«.73 Die Arbeit beim Rundfunk empfand Andersch zunehmend als unerträgliche Belastung, so dass er schließlich in gleichlautenden Briefen an den Intendanten des HR, Eberhard Beckmann, und an Ernst Schnabel vom NWDR darum bat, ihm zum Ende des Jahres 1953 den Rücktritt von seinen redaktionellen Verpflichtungen zu gestatten. Gegenüber dem Hamburger Sender besaß die Kölner Anstalt des NWDR zunächst nur den Status einer Filiale; der dortige Intendant war gegenüber dem Hamburger Kollegen weisungsgebunden. Die Anfänge intellektueller Programme gestaltete Karl-Eduard von Schnitzler, der im Oktober 1945 die Leitung der Ab69 Alfred Andersch an seine Mutter Hedwig Andersch, 10.11.1952, in: Alfred Andersch, »… einmal wirklich leben«. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975. Hrsg. von Winfried Stephan, Zürich 1986, S. 75-79, Zitat S. 77. 70 Vertrag NWDR-Funkhaus Hamburg mit Alfred Andersch, 17.12.1952, in: DLA, A: Alfred Andersch. 71 Ernst Schnabel an Alfred Andersch, 8.2.1953; Alfred Andersch an Ernst Schnabel, 22.2.1953, in: ebd. 72 Ernst Schnabel an Hans Werner Richter, 27.3.1954, in: Hans Werner Richter, Briefe. Hrsg. von Sabine Cofalla, München 1997, S. 175-177. 73 Rolf Schroers, Verdirbt der Rundfunk die Dichter? (MS o. D. [ca. 1960]), in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Nl. Rolf Schroers, 239.
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teilung »Politisches Wort« übernahm. Er bat verschiedene Professoren der Kölner Universität um viertelstündige Vorträge mit staatsbürgerkundlichen Themen und achtete offenbar darauf, unterschiedliche Positionen möglichst ausgewogen zu präsentieren.74 Am 2. Mai 1946 nahm als weiterer Kommunist Max Burghardt die Arbeit als Intendant auf. Schon seine Antrittsrede, in der er sich nicht nur in die Tradition von Goethe und Schiller, sondern auch von Hegel und Marx stellte, wurde namentlich von Konrad Adenauer als »unchristlich« empfunden. Dem Druck der katholischen Kirche und christdemokratischer Kreise gaben die britischen Behörden schließlich nach, Burghardt musste Ende Februar 1947 gehen und wechselte in die SBZ; Schnitzler wurde nach Hamburg versetzt und ging ein Jahr später den gleichen Weg nach Osten.75 Kirchlich-konservative Positionen verfügten – im Unterschied zum Hamburger NWDR – schon früh über starke Positionen im Kölner Sender.76 Allerdings blieb die Intendanz in linksliberaler Hand, nachdem Hanns Hartmann, ein parteiungebundener Theaterexperte und Musikverleger, als neuer Intendant eingesetzt wurde. Linkskatholische Schriftsteller der Gruppe 47, von Anfang an Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre und Milo Dor, schrieben besonders viele Texte für den Kölner Sender. Als Hausautor war auch Paul Schallück von großer Bedeutung. Für alle Genannten galt das primäre Motiv des notwendigen Broterwerbs durch die gut dotierte Rundfunkarbeit.77 Das Nachtprogramm des NWDR Köln startete Anfang 1949, ein gutes Jahr nach dem Beginn in Hamburg, die Hälfte der Beiträge bestand aus Übernahmen von dort. Chefredakteur wurde, vom Feuilleton des Berliner Kurier kommend, Carl Linfert, der die Sendung bis zu seiner Pensionierung 1966 leitete.78 Durch seine Tätigkeit für die Frankfurter Zeitung und Das Reich hervorragend vernetzt, war er eine passende Besetzung für den Posten. Als Kunstkenner und Liebhaber des Expressionismus profilierte er sich vor allem mit philosophischen Themen. Seine eigenen Vorlieben offenbarte er in einer Literatursendung, in der er ein Werk des rechtskonservativen Gerhard Nebel, mit Ernst Jünger seit Pariser Besatzungstagen
74 Ingrid Scheffler, Literatur- und Kulturvermittlung des NWDR Köln im Prozess regionaler Identitätsbildung (1945-1955), in: Westfälische Forschungen, Bd. 52, 2002, S. 267-301, hier S. 274. 75 Vgl. Petra Witting-Nöthen, Der Nordwestdeutsche Rundfunk in Köln 1945/46, in: Geschichte im Westen, Jg. 10, 1995, S. 28-39. 76 Hans Ulrich Wagner, Auf der Suche nach der konkreten geschichtlichen Stunde. Die »Rundfunkarbeit von Christen« – am Beispiel des NWDR Köln, in: Thomas Pittrof/Walter Schmitz (Hrsg.), Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bedingungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts, Freiburg 2010, S. 465-478. 77 Vgl. für Heinrich Böll: Christian Linder, Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 348. 78 Vgl. Ingrid Scheffler, Schriftsteller und Literatur im NWDR Köln (1945-1955). Personen – Stoffe – Darbietungsformen, Potsdam 2005, S. 167-185; zu seiner positiven Besprechung des Films »Jud Süß« für die Frankfurter Zeitung 1940 vgl. Boll, Nachtprogramm, S. 220 ff.
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freundschaftlich verbunden, enthusiastisch lobte.79 Besonders häufig wurden im Nachtprogramm christlich-konservative Publizisten wie der immer polemische Rudolf Krämer-Badoni oder Bastian Müller beschäftigt: »Die in den fünfziger Jahren im Kölner Sender vertretene literaturästhetische Position der Innerlichkeit wurde also durch Linferts ›Nachtprogramm‹ sanktioniert.«80 Der Einfluss der ehemaligen Redakteure der Frankfurter Zeitung im Kölner Sender verstärkte sich, als dort Max von Brück Anfang der 1950er Jahre als fester freier Mitarbeiter begann. Seinen Kollegen Walter Dirks gewann er für eine Sendung »über den Bürgerstaat, also über die Demokratie«. Wie routiniert Dirks solche Aufträge anging, zeigt seine lapidare Rückfrage: »Wieviel Minuten? Termin? Manuskript oder Überspielung?«81 Durch Brück erhielt auch Dolf Sternberger, mit Brück Redakteur der Gegenwart, die Gelegenheit zum fürstlich honorierten Vortrag »Über die Nüchternheit«. Gezahlt wurden 200 DM für eine Viertelstunde. Ein Jahr später belief sich der durchgesetzte Honorarwunsch bereits auf 250 DM,82 ebenso wie für Friedrich Sieburg, der sich bei Brück für das »Vergnügen, mit Ihnen vor dem Mikrophon zu plaudern«,83 bedankte. Walter Dirks bedurfte allerdings keiner neuen Einladung mehr. Er hatte dem Kölner Sender bereits seit 1947 als freier Mitarbeiter und bald als Berater für theologische Themen gedient.84 Dirks galt als feste Größe für jede Diskussion, die das Verhältnis von Kirche, christlicher Soziallehre und Gesellschaft zum Thema hatte. Für das Nachtprogramm wurde er z. B. als »linker Gegenpart« zu einer Diskussion mit Wilhelm Röpke und Oswald von Nell-Breuning gebeten.85 Zudem besaß er das besondere Vertrauen des Intendanten Hartmann, der ihn bei internen Personalia gern um Rat fragte.86 Insofern erstaunte es niemand, als Walter Dirks 1956 79 Carl Linfert, Sammelbesprechung in der Sendung »Aus neuen Büchern«, 19.4.1949, 15.0015.30; vgl. Ernst Jünger/Gerhard Nebel, Briefe 1938-1974. Hrsg. von Ulrich Fröschle und Michael Neumann, Stuttgart 2003, S. 302 f., 762; Scheffler, Schriftsteller, S. 169; Streim, Auftritt, S. 71-77; aus rechtskonservativer Sicht Erik Lehnert, Gerhard Nebel. Wächter des Normativen, Schnellroda 2004. 80 Ebd., S. 171; insofern ist die Eloge des Publizisten Klaus Harpprecht, Schräges Licht. Erinnerungen ans Überleben und Leben, Frankfurt a. M. 2014, S. 248 f. auf die gegenüber anderen Sendern besonders unabhängige Intellektualität des Kölner Senders zu relativieren. 81 Max von Brück/WDR/Abteilung Kulturelles Wort an Walter Dirks, 16.2.1951; Walter Dirks an Max von Brück, 20.2.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 65. 82 Max von Brück an Dolf Sternberger, 7.7.1952; 25.6.1953, in: DLA, A: Dolf Sternberger. 83 Friedrich Sieburg an Max von Brück, 28.5.1954, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 84 Carl Linfert an Walter Dirks, 13.1.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 42 B. 85 Carl Linfert an Walter Dirks, 13.1.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 110 A. 86 Dabei ging es etwa um die heikle Frage der Nachfolge für Peter von Zahn als ständigen Kommentator, der wegen seiner Stellungnahmen zu politischen Fragen den Unwillen der Adenauer-Regierung und der Unternehmerverbände erregt hatte; Hartmann fragte nach der Qualifikation von Rüdiger Proske, der auch in den Frankfurter Heften Beiträge verfasst hatte. Dirks charakterisierte Proske als »tüchtig, fleißig, intelligent, ehrgeizig (nicht in schlechtem Sinn), clever«; allerdings sei er nur »tüchtigster Nachwuchs, aber noch nicht
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zum Leiter der Hauptabteilung Kultur des WDR avancierte und damit seine erste feste Stelle erhielt.87 Damit verbunden war allerdings die Aufgabe seiner lukrativen Einnahmen beim Südwestdeutschen Rundfunk, wo er 1948 als Mitarbeiter begonnen und seit 1949 die mitternächtliche »Aschermittwochspredigt« gehalten hatte.88 Sein »Honorar-Mitarbeiter-Vertrag« als »Kommentator der Abt. Politik« vom März 1954 hatte Dirks ein monatliches Pauschalhonorar sowie Unkostenpauschale von zusammen 1.000 DM gesichert; dafür hatte er alle Produktionen zuerst dem SWF anzubieten.89 Sowohl der Vorsitzende des SWF-Rundfunkrats und spätere ZDF-Intendant Karl Holzamer, der aus der Tradition des katholischen Zentrums der 1920er Jahre kam, als auch der Intendant des SWF Friedrich Bischoff, der vor 1933 die »Schlesische Funkstunde AG« geleitet hatte,90 bemühten sich intensiv um Dirks, den sie als Vertreter katholischer Intellektualität schätzten, wobei politische Differenzen offenbar in den Hintergrund traten.91 Dass dieser seine hervorragenden Verbindungen zu der konservativ geprägten Sendeanstalt im Südwesten gegen seine erste und einzige feste Stelle beim WDR eintauschte, belegt wiederum deren Attraktivität. Unter den vielen Kollegen, die Glück wünschten, war auch Alfred Andersch, der anmerkte, man solle wohl »dem Kölner Sender mehr als Ihnen gratulieren«; allerdings zeigte er sich wenig erfreut, dass Dirks den neuen Posten als Begründung anführte, warum er eine für Anderschs Sendung im Süddeutschen Rundfunk Monate zuvor vereinbarte Besprechung von Büchern zu religiösen Themen zurückgegeben hatte.92 Nach wie vor galt nämlich das verbreitete Selbstverständnis auch fest angestellter Rundfunkredakteure, sie seien in Wahrheit Publizisten und Schriftsteller. Alfred Andersch selbst sollte sich nur zwei Jahre später gänzlich von der Rundfunkarbeit zurückziehen. Walter Dirks dachte selbstverständlich gar nicht daran, seine sonstigen Aktivitäten zurückzustellen. Da er über Kontakte zu allen westdeutschen Rundfunkanstalten und zum RIAS in West-Berlin verfügte,93 war es für ihn mög-
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souverän« und als Nachfolger Zahns nicht geeignet; Hanns Hartmann an Walter Dirks, 20.10.1951; Walter Dirks an Hanns Hartmann, 29.10.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 65. Eine Persönlichkeit von Format, in: Kölnische Rundschau, 13.1.1956. Neue Verlagsgemeinschaft der Frankfurter Hefte an Reginald Kramer, 16.2.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 108 A. Vertrag vom 30.3.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 182 A. Vgl. das biographische Porträt von Friedrich Bischoff als »intellektuellem Klassenkämpfer von oben«, in: Schulz, Authentische Spuren, S. 275 (ff.). Die Netzwerke katholischer Medien-Intellektueller, die über die katholische Rundfunkarbeit zusammentrafen, sind noch nicht systematisch untersucht worden. 1954 hielt Dirks hier das Hauptreferat (Karl Becker an Walter Dirks, 30.8.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 91 A). Alfred Andersch an Walter Dirks, 14.9.1955, 23.9.1955; Walter Dirks an Alfred Andersch, 23.1.1956; Alfred Andersch an Walter Dirks, 2.2.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 98 A. Sein wichtigster Ansprechpartner war dort Reinhold Lindemann, der Abteilungsleiter »Kulturelles Wort«, der ihn von 1949 bis 1952 häufig um Beiträge bat (AdsD, Nl. Walter Dirks, 41, 77 A, 88 A).
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lich, dort weiterhin seine Beiträge zu platzieren, wenn auch nicht so problemlos wie vor der Festanstellung. Dass sich Dirks nicht ausschließlich auf seinen neuen Posten konzentrieren mochte, verärgerte den Intendanten. So verbrachte Dirks zum Beispiel – auf Einladung des Generalsekretärs des Deutschen Pavillons – längere Zeit bei der Brüsseler Weltausstellung 1958, üppig mit Spesen und Tagegeldern ausgestattet.94 Als Rundfunkadministrator offenbar nicht übermäßig erfolgreich,95 besaß er aber zum einen nun eine sichere materielle Basis für seine vielköpfige Familie und genoss es zum anderen, an einer Stelle zu sitzen, an der er über seine eigenen Texte hinaus publizistische Macht ausüben konnte. So förderte er seinen als linkskatholisch apostrophierten österreichischen Kollegen Friedrich Heer, der eine Reihe mit vier bis zehn Vorträgen über »Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten« vorgeschlagen hatte,96 während der gleichfalls österreichische rechtskatholische Intellektuelle Erik von Kuehnelt-Leddihn elegant zurückgewiesen wurde.97 Besonderes Vergnügen scheint es Dirks bereitet zu haben, den Chefredakteur der rechtskatholischen Bildpost immer wieder zu vertrösten, der sehr gern eine Botschaft an Heiligabend gesprochen hätte, aber auch an Rundfunktexten zum Abdruck in seinem Blatt Interesse bekundete.98 Allerdings ging die große Zeit von Dirks mit den 1950er Jahren zu Ende. In der Phase der intellektuellen Politisierung spielte er nur noch eine untergeordnete Rolle. Nach seiner Pensionierung 1966 blieb Dirks dem WDR, der von dem liberalen Protestanten 94 Vgl. die Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 118 A. 95 Hermann-Josef Große Kracht, »Ich kann’s nicht recht mehr glauben, dass wir durchkommen …« Zum 100. Geburtstag von Walter Dirks, in: Communicatio Socialis, Jg. 34, 2001, S. 467-473. 96 Friedrich Heer an Walter Dirks, 12.10.1957; Walter Dirks an Friedrich Heer, 19.11.1957, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 113 B; die im Folgenden übernommene Bezeichnung konnte zeitgenössisch aber auch schlicht als moderat bzw. »aufgeklärt« oder »vernünftig« konservativ übersetzt werden, wie es Heer bisweilen selbst tat; das Linkskatholische bezog sich auf die Gegnerschaft zum Obskurantismus der Abendland-Ideologen und historisch auf das sehr kritisch betrachtete Verhältnis der Amtskirche zum Nationalsozialismus; zur Biographie vgl. Evelyn Adunka, Friedrich Heer (1916-1983). Eine intellektuelle Biographie, Innsbruck 1995; Anton Pelinka, Friedrich Heer als intellektuelle Zentralfigur der Nachkriegszeit, in: Europäische Rundschau, Jg. 34, 2006, H. 2, S. 17-25; Josef P. Mautner, »Hingabe an die fremde Welt«? Friedrich Heer und der Linkskatholizismus, in: Richard Faber/Sigurd Paul Schleichl (Hrsg.), Die geistige Welt des Friedrich Heer, Wien 2008, S. 35-46 Wolfgang Ferdinand Müller, Friedrich Heer. Ein österreichischer Katholik, in: Hans-Rüdiger Schwab (Hrsg.), Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Kevelaer 2009, S. 487-512; zum Œuvre des enorm produktiven österreichischen Publizisten vgl. Adolf Gaisbauer, Friedrich Heer (1916-1983). Eine Bibliographie, Wien 1990. 97 Walter Dirks an Erik von Kuehnelt-Leddihn, 13.7.1957, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 114; Kuehnelt-Leddihn wurde 1909 als Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn geboren und nannte sich ab 1919 Erik Maria Kuehnelt-Leddihn; die ursprüngliche Namensgebung taucht aber auch nach 1919 in der Literatur auf und findet daher hier neben der neuen Verwendung. 98 G. Giese an Walter Dirks, 21.10.1959; Walter Dirks an G. Giese, 9.11.1959; G. Giese an Walter Dirks, 2.12.1959; Walter Dirks an Giese, 7.12.1959, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 119.
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Klaus von Bismarck geleitet und in den 1970er Jahren von konservativer Seite heftig angegriffen wurde, durch einen Beratervertrag verbunden.99 Bezieht man die großen Rundfunkstationen der US-Zone ein, den Hessischen, Süddeutschen und Bayerischen Rundfunk, erweitert sich das intellektuelle Spektrum. Während beim NWDR am Anfang vor allem Mitarbeiter zum Zuge kamen, die bei den »Qualitätszeitungen« im »Dritten Reich« publiziert hatten, vorzugsweise bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung oder der Frankfurter Zeitung und dem Reich, stellte sich die Situation beim Hessischen Rundfunk anders dar.100 Beim Vorläufer Radio Frankfurt arbeiteten drei deutsche Remigranten in führenden Positionen, Golo Mann als Kontrolloffizier der Besatzungsmacht sowie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer und der Schriftsteller Stephan Hermlin.101 Die Letztgenannten, beide Kommunisten, gingen bald in die SBZ, Golo Mann zog sich Ende 1946 wieder in die USA zurück. Aber der linke Einfluss beim Sender blieb. Das hing vor allem mit der starken Position von Alfred Andersch zusammen, der, empfohlen von Eugen Kogon, von Ende 1948 bis 1953 das kulturelle Programm für intellektuelle Hörer gestaltete und von Anfang an auch die Verbindung zu den Dioskuren des zurückgekehrten Instititus für Sozialforschung suchte.102 Er nannte die Sendung für Intellektuelle bewusst nicht »Nachtprogramm«, sondern »Abendstudio«, um die Sendung aus der Isolierung der späten Ausstrahlung herauszuholen. Tatsächlich begannen die Sendungen aber zunächst um 22 Uhr 30, erst mit der Einführung von Ultrakurzwelle (UKW) schon um 21 Uhr. Bis zum Oktober 1953, als Andersch die Doppelbeschäftigung für HR und NWDR löste und nach Stuttgart zum SDR ging, war der zweite Teil der Sendung stets der Aufführung moderner Musik vorbehalten.103 Für Andersch war die Rundfunkarbeit von Anfang an nur lästige Existenzsicherung, die ihn an der zügigen Fertigstellung seines autobiographischen Romans »Die Kirschen der Freiheit« und anderer selbstgewählter Projekte hinderte, war doch 99 Klaus von Bismarck an Walter Dirks, 23.5.1967, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 187 A; Josef Schmid, Intendant Klaus von Bismarck und die Kampagne gegen den »Rotfunk« WDR, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 349-381. 100 Boll, Nachtprogramm, S. 90; vgl. zum HR auch die Skizze von Jens Flemming, »Ein sauberes Programm, aus sauberer Gesinnung geboren.« Radio Frankfurt und Hessischer Rundfunk. In: Helmut Berding/Klaus Eiler (Hrsg.), Hessen. 60 Jahre Demokratie, Wiesbaden 2006, S. 345-367. 101 Vgl. Mayer, Deutscher I, S. 322 ff.; sein »erstes warmes Essen auf deutschem Boden« habe er im Oktober 1945 »beim Doktor Mitscherlich« genossen (ebd., S. 317); vgl. Helmut Peitsch, Hans Mayers und Stephan Hermlins Blick von Osten auf die Gruppe 47, in: Lühe/Krohn, Heimatland, S. 119-136; zu Golo Manns erneutem Abschied von Deutschland vgl. Jeroen Koch, Golo Mann und die deutsche Geschichte. Eine intellektuelle Biographie, Paderborn u. a. 1998, S. 161 ff.; Klaus Werner Jonas/Holger R. Stunz, Golo Mann. Leben und Werk, Chronik und Bibliographie (1929-2004), Wiesbaden ²2004. 102 Zur Ära Andersch vgl. Auszug aus dem Pressedienst des HR, 7/54 vom 14.1.1954, in: Andersch, »…einmal wirklich leben«, S. 92 f. 103 Vgl. Tauber, Nachtprogramm, S. 46.
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stetig die »gefräßige Funkmaschine mit Brotarbeit zu bedienen«. Schon sehr bald hatte Andersch ausgehandelt, nur noch eine Woche im Monat im Sender präsent zu sein. Weil er seine meldepflichtigen Radiotexte nicht beim Finanzamt angegeben hatte, erhielt Andersch allerdings unerwartet eine »hohe Steuernachforderung und eine ebenso schmerzhafte Steuerstrafe«. Um den finanziellen Nöten zu entkommen, einigte er sich mit dem Intendanten Beckmann im Januar 1951 auf eine Serie von zwölf Hörfolgen für das »Aktuelle Wort«.104 1956 begann beim Hessischen Rundfunk Adolf Frisé als Leiter des »Abend-Studios«. Er blieb dort bis zu seiner Pensionierung 1975. Auch diese Personalie zeigt, wie kräftig personelle Kontinuitäten wirkten. Frisé, in München 1932 promovierter Literaturwissenschaftler, hatte in der NS-Zeit als freier Mitarbeiter u. a. für die Frankfurter Zeitung, die Neue Rundschau, die Tat und, seit 1939, die Deutsche Allgemeine Zeitung gearbeitet; während des Krieges diente er bei der Nachrichtentruppe. Die unmittelbare Nachkriegszeit verbrachte Frisé als Redakteur der Neuen Hamburger Presse, einer britischen Heeresgruppenzeitung, die bis zum Frühjahr 1946 erschien; hier begrüßte er im Oktober 1945 das Wiedererscheinen von Gottfried Benn, dessen Bücher kurze Zeit später auf den Index gesetzt wurden.105 Im zweiten Nachkriegsjahr fungierte Frisé als Leiter des Feuilletons bei der christdemokratisch-konservativen Hamburger Allgemeinen Zeitung. Diesen Posten hatte ihm sein Kollege Karl Silex verschafft, vormals Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung, der nun das Hamburger Blatt der Christdemokraten leitete.106 Bevor er zum HR kam, hatte Frisé vor allem für die Zeit und das Handelsblatt geschrieben. Sein intellektuelles Renommee resultierte aus der Herausgeberschaft der Werke Robert Musils seit den frühen 1950er Jahren.107 Beim Merkur betrachtete man den Antritt von Frisé, mit dem Paeschke seit Anfang 1947 wieder in Kontakt war, wohl als Chance, die Beziehungen zum HR zu intensivieren, die Zahl der gewechselten Briefe, meist Bitten um die Überlassung von Manuskripten zur Prüfung der Eignung für den Merkur, stieg spürbar an. Der Süddeutsche Rundfunk in Stuttgart hatte sogar an der Spitze des Senders einen Remigranten aufzuweisen. Der sozialdemokratische Politiker Fritz Eberhard, ursprünglich Adolf Arthur Egon Hellmuth Freiherr von Rauschenplat, der im Exil für den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) aktiv gewesen war, leitete den SDR von 1949 bis 1958.108 Eberhard unterhielt anfangs recht gute Beziehungen 104 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 189; zur Honorarentwicklung bei Andersch ebd., S. 163 ff. 105 Vgl. Hof, Gottfried Benn, S. 340; Benn registrierte die Parteinahme für ihn sehr erfreut; Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 30.3.1949 und 2.4.1949, in: Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze. Briefwechsel 1932-1956, Bd. 3: 1949/50, Stuttgart/Göttingen 2016, S. 61 f., hier S. 62, respektive S. 62-64, hier S. 64. 106 Adolf Frisé, Wir leben immer mehrere Leben. Erinnerungen, Reinbek 2004, S. 208 ff. 107 Lebenslauf Adolf Frisé, 17.6.1950, in: DLA, A: Dolf Sternberger; DLA, Mediendokumentation Adolf Frisé; Ulrich Greiner, Adolf Frisé, in: Die Zeit, 8.5.2003. 108 Vgl. Konrad Dussel, Fritz Eberhard – vom ISK-Funktionär zum Rundfunkintendanten, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 343-365; Fritz Eberhard, Rückblicke auf Biographie und Werk. Hrsg. von Bernd Sösemann, Stuttgart 2001.
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zu dem noch im Londoner Exil befindlichen Kurt Hiller, der zu Ostern 1952 vom SDR ein »Dedikat« von 600 DM ohne Bedingungen erhielt. Zum 70. Geburtstag 1955, Hiller war gerade nach Hamburg gezogen, erreichten ihn Glückwünsche von Eberhard, der seinen »Kampfgeist in den kommenden Jahrzehnten erhalten«109 wissen wollte. Sowohl die Leitung als auch die intellektuelle Abteilung des Bayerischen Rundfunks in München waren im ersten Nachkriegsjahrzehnt linksliberal orientiert.110 Walter von Cube, aus märkischem Adelsgeschlecht stammend, der beim Berliner Tageblatt in den 1920er Jahren als Journalist begonnen und auch in der Frankfurter Zeitung geschrieben, aber den Beruf im »Dritten Reich« nicht mehr ausgeübt hatte, arbeitete nach der Rückkehr aus französischer Kriegsgefangenschaft für die Neue Zeitung und für Radio München, den Vorgänger des BR. Nach kurzer Tätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift Der Ruf übernahm er am 1. März 1948 die Leitung der Hauptabteilung Politik und Wirtschaft, 1957 die Programmkoordination und 1960 den Posten des Stellvertretenden Intendanten. Obwohl Cube sich um eine pluralistische Gestaltung des Programms bemühte und damit für Unmut unter linken Redakteuren sorgte, etwa, indem er den radikalen Rechtskonservativen Winfried Martini als Kommentator verpflichtete,111 machte er sich wegen seiner nonkonformistischen deutschlandpolitischen Kommentare in Bonner Regierungskreisen unbeliebt. Auch gegen ihn führte die Organisation Gehlen einen »Verleumdungsfeldzug«.112 1950 hatte er in der Süddeutschen Zeitung dafür plädiert, den Eisernen Vorhang endlich dicht zu machen, um wenigstens die Bundesrepublik gesund und immun gegen östliche Einflüsse zu halten.113 Enge Verbindung hielt Cube zum politischen Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Ernst MüllerMeiningen, der im BR von 1948 bis 1951 über 70 Rundfunkkommentare sprechen durfte.114 Als Cube 1972, ein Jahr eher als geplant, aus Protest gegen die Novellierung des Landesrundfunkgesetzes aus dem BR ausschied, wurde dieser Abschied eines »Umerziehers im linksliberalen Sinne« vom Bayernkurier mit Befriedigung zur Kenntnis genommen.115 In konservativen katholischen Kreisen wurde der BR von Anfang an als linker Fremdkörper wahrgenommen. Ein Artikel im Rheinischen Merkur unterzog das gesamte Personal einer politischen Sichtung. Neben Walter von Cube wurde der 109 110 111 112 113
Fritz Eberhard an Kurt Hiller, 15.8.1955, in: Kurt-Hiller-Archiv, Süddeutscher Rundfunk. Vgl. zu den Anfängen Krauss, Nachkriegskultur, S. 76 ff. Clemens Münster an Walter Dirks, 18.6.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 87 A. Henke, Geheime Dienste, S. 489. Eine Sammlung seiner frühen Rundfunkkommentare erschien im Verlag der Frankfurter Hefte: Walter von Cube, Ich bitte um Widerspruch. Fünf Jahre Zeitgeschehen kommentiert, Frankfurt a. M. 1952; für das Gesamtwerk vgl. Walter von Cube. Tondokumente, Filmdokumente und Manuskripte im Bayerischen Rundfunk 1947-1984. Hrsg. vom BR/ Historische Kommission, o. O./o. J. (München 1984); Ernst Müller-Meiningen, Orden, Spießer, Pfeffersäcke. Ein liberaler Streiter erinnert sich, Zürich 1989, S. 153 f. 114 Aufstellungen in BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 408. 115 Walter von Cube, in: Bayernkurier, Nr. 13, 25.3.1972.
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Einfluss des Sozialdemokraten Herbert Hupka, der beiden FH-Redakteure Clemens Münster und Walter Maria Guggenheimer sowie von Alfred Andersch hervorgehoben. Besondere Erwähnung fand der Leiter des intellektuellen Nachtprogramms, Gerhard Szczesny.116 Der mit 22 Jahren 1940 promovierte Ostpreuße hatte den Krieg an der Ostfront erlebt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war er einer jener jungen Publizisten, die in der Münchener Szene einen guten Namen hatten. Sein erstes Buch, »Europa und die Anarchie der Seele«, erschien 1946 im Verlag Kurt Desch. Szczesny, der sich selbst als Anhänger eines »liberalen Sozialismus«117 bezeichnete und Sympathien für anarchistische Individualisten wie Rudolf Rocker und den Anarchosyndikalismus hegte, war jugendbewegt – vor 1933 nach eigener Aussage fasziniert von der legendären Jungenschaft d. j.1.11 des linksbündischen Eberhard Koebel (tusk), aus der einige Mitglieder im Widerstand gegen das »Dritte Reich« aktiv gewesen waren.118 Gerhard Szczesny trat seinen Posten als Leiter des Nachtprogramms 1948 im Alter von 30 Jahren an. Die erste Sendung, »Arnold Toynbee – die westliche Welt ist noch im Werden«, wurde am 10. Dezember ausgestrahlt. Intensive Kontakte unterhielt Szczesny zu Walter Dirks und seinen Frankfurter Heften, deren Redakteur Clemens Münster 1949 zum BR wechselte und dort später zum Fernsehen ging. Kaum in München angekommen, verpflichtete Münster seinen Kollegen Dirks für die von ihm betreuten Sendungen. Walter von Cube schrieb an Dirks nur halb im Scherz, der Bayerische Rundfunk sei mittlerweile »ohnehin eine Art Filiale der ›Frankfurter Hefte‹«.119 Dirks trug sich deshalb mit dem Gedanken, den Gebrauchswert seiner Zeitschrift durch eine regelmäßige Rubrik zu erhöhen, die über interessante Rundfunksendungen informierte. Solche privilegierten Drähte spannten sich von allen Kulturredaktionen des Rundfunks zu Redaktionen von Zeitschriften und Zeitungsfeuilletons, wobei damit noch keine kulturpolitische Linie verbunden war. Gerade dem Rundfunk sollte vielmehr eine tragende Rolle bei der Pluralisierung der intellektuellen Diskurse in den 1950er Jahren zukommen. Auch beim Bayerischen Rundfunk besaßen die Frankfurter Hefte keinen exklusiven Zugang. So pflegte Klaus Mehnert enge Kontakte zu den Redakteuren Rudolf Mühlfenzl und Helmut Haselmayr und kom116 Wolfram Alfer, Rotgetupfter Bayernlöwe, in: Rheinischer Merkur, 5.8.1950; gegen diese Polemik eines »Parteibuchschnüfflers« verwahrte sich der Intendant des BR: Rudolf von Scholtz an Otto B. Roegele, 9.8.1950, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/1, 56; drei Monate später erlitt die CSU eine schwere Niederlage bei den Landtagswahlen und musste eine Große Koalition mit der SPD bilden, so dass der BR zunächst aus dem Blick geriet. 117 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 27.3.1950, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Bayerischer Rundfunk; vgl. Gerhard Szczesny, Vom Unheil der totalen Demokratie. Erfahrungen mit dem Fortschritt, München 1982, S. 9 ff. 118 Gerhard Szczesny, Als die Vergangenheit Gegenwart wurde. Lebenslauf eines Ostpreußen, Berlin 1990, S. 66 ff. 119 Walter von Cube an Walter Dirks, 25.11.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 34 A.
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mentierte von 1949 bis 1952 monatlich das außenpolitische Geschehen.120 Auch der Merkur verfügte über freundliche Kontakte zum Bayerischen Rundfunk. Clemens Münster empfahl Manuskripte zum Abdruck, und Paeschke bot bisweilen eigene Texte zur Verwertung an.121 Der öffentlich-rechtlichen Aufgabenstellung entsprach es, alle relevanten und aus dem politischen Diskurs nicht explizit verbannten Positionen zu berücksichtigen,122 was angesichts des Selbstverständnisses der politisch-kulturellen Redakteure wiederum das Austesten der Grenzen des Erlaubten einschloss.
120 Vgl. die Korrespondenz in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 9, Bü 15; hier auch Korrespondenz mit Ansprechpartnern in anderen Rundfunkanstalten. 121 Die Korrespondenz setzt ein mit einem Schreiben von Joachim Moras an Clemens Münster, 19.6.1950, in: DLA, D: Merkur: Bayerischer Rundfunk; im NWDR konnte Hans Paeschke einen Text über politisch-kulturelle Blätter im Ausland unterbringen; Hans Paeschke an Max von Brück, 22.1.1951, in: DLA, D: Merkur. 122 Eines der umfangreichsten Unternehmen des Medienverbunds Radio-Buch waren die Bände von Vortragsreihen des Heidelberger Studios im Piper-Verlag vom letzten Drittel der 1950er bis in die 1960er Jahre; vgl. auch Tauber, Nachtprogramm, S. 164 ff.
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4. Schreiborte für Intellektuelle Zwischen dem Radio und den Printmedien der Nachkriegszeit gab es gravierende strukturelle Unterschiede. Politisch war für den Rundfunk das öffentlich-rechtliche Prinzip bestimmend. Die Finanzierung erfolgte über Gebühren der Hörerschaft. Die auf dem Boden der Bundesrepublik befindlichen Rundfunkanstalten besaßen das Sendemonopol und hatten deshalb einen internen Pluralismus hinsichtlich des ausgestrahlten Meinungswissens zu beachten. Dieser Pluralismus unterlag allerdings selbst historischen Veränderungen, Verengungen und Erweiterungen und wurde in ständiger Diskussion von verschiedenen politischen Interessenten in den Redaktionen und in den aufsichtführenden Gremien ausgehandelt. Die Printmedien dagegen funktionierten seit dem Ende der Lizenzzeit als wirtschaftliche Einheiten, dort galt das Wort des Verlegers. Inwiefern er in die Gestaltung der Produkte, vor allem im Hinblick auf die politische Linie, eingriff, wurde häufig durch Absprachen mit dem Chefredakteur der jeweiligen Zeitung oder Zeitschrift geregelt, mitunter auch in alltäglicher Praxis modifiziert. Sinngemäß galt dies auch für die Machtverhältnisse in den Verlagen. Aus der privatwirtschaftlichen Verfassung der Printmedien ergab sich, dass politischer Pluralismus, obwohl nicht selten als Gütesiegel in Anspruch genommen, kein Wesenszug eines einzelnen Mediums sein konnte, sondern sich durch die Konkurrenz innerhalb des gesamten Medienensembles herstellen sollte. Tatsächlich war die pluralistische Bandbreite hinsichtlich der Gesamtheit der Printmedien größer als im Radio. Aber da sich die Printmedien auf dem Markt zu behaupten hatten, ergab sich auch eine höhere Abhängigkeit von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen. Insofern spielte die Währungsreform 1948 für das Radio keine große Rolle, für die Printmedien markierte sie einen tiefen Einschnitt. Gegenüber der vorhergehenden Phase der sogenannten Lizenzpresse, als die alliierten Mächte an Deutsche, die in ihren Augen vertrauenswürdig waren, die Erlaubnis zum Druck und Vertrieb von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften erteilt hatten – in der US-Zone durch internen politischen Pluralismus mit »licencee panels« unter den Verlegern, in der britischen Zone durch ein ausbalanciertes System von Parteirichtungsmedien –, herrschten nun die Gesetze des Marktes. Die unmittelbaren Auswirkungen der Währungsreform auf intellektuelle Printmedien sind nur in Umrissen bekannt. Die legendäre Vielfalt an Titeln insbesondere von politisch-kulturellen Zeitschriften wich festeren Marktstrukturen. Ob sich tatsächlich das bildungsbürgerliche Publikum plötzlich weniger für Hochgeistiges interessierte, wird kaum nachzuweisen sein. Aber ein genauer Blick auf das Ensemble intellektueller Printmedien zeigt doch eine Struktur, die sich auf das Gesetz der kleinen Zahl innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie beziehen lässt. Es waren nicht mehr als vier bis fünf Tages- und ebenso viele Wochenzeitungen sowie monatlich oder mehrfach im Jahr erscheinende politisch-kulturelle Zeitschriften und schließlich nicht viel mehr als ein halbes Dutzend wichtige Publikumsverlage, die in der Gründerzeit der Bundesrepublik mit ihren Texten tonangebend waren. Dass 131
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es daneben viele andere Printmedien gab, verstellt zwar den Blick auf diese Grundstruktur, aber diese fungierten häufig, auch wenn sie hinsichtlich der Auflage und der allgemeinen Beachtung in der Konkurrenz weiter hinten rangierten, als Scouts für neue Trends, als Schmiermittel im Ensemble der intellektuellen Medien. Dieses Ensemble erwies sich in der Geschichte der Bonner Republik als sehr elastisch, gab es doch stets Aufsteiger, während andere abstiegen oder vom Markt verschwanden. Schließlich ist neben den allgemeinen wirtschaftlichen Faktoren auch die politische Verlegermacht in Rechnung zu stellen, die dafür sorgte, dass manche intellektuelle Printmedien als defizitäre Unternehmen innerhalb insgesamt wirtschaftlich prosperierender Presseverlage dauerhaft subventioniert oder durch Mäzene außerhalb der Medien aus politischen Gründen unterstützt wurden.
4.1 Die Ordnung der Verlagslandschaft Der Grundton intellektueller Diskurse wurde in starkem Maße durch Buchverlage bestimmt, die ein bestimmtes Image, einen gewissen Marktwert und die Aufmerksamkeit für die eigenen Publikationen herzustellen vermochten. Am Produktionsprozess war neben dem Autor und dem Verleger die nach dem Zweiten Weltkrieg enorm expandierende Profession der Lektoren beteiligt, die Ausstatter und Illustratoren, Reisende, die das Werk in den Buchhandlungen anpriesen, Buchhändler, die es in der Auslage günstig platzierten, Rezensenten, die es in den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen, in Zeitschriften und im Radio lobend besprachen oder verrissen, aber in jedem Fall dadurch bekannt machten – oder es verschwiegen. Die Kriegsniederlage setzte diesen komplizierten Mechanismus eines Medienverbundes, der sich in Jahrzehnten entwickelt hatte, zunächst einmal außer Betrieb. Erst mit der Lizenzierung von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern gelangten neue Angebote an das interessierte Publikum, wobei man bis zur Währungsreform 1948 angesichts der besonderen Bedingungen – politische Restriktionen, Papierzuteilungen, fehlende Möglichkeiten der Auswahl für die Käufer – noch nicht von »normalen« Marktverhältnissen für intellektuelle Texte sprechen kann. Der Wiederaufbau des deutschen Buchhandels vollzog sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur langsam. Die Alliierten hatten zunächst ein striktes Publikations- und Distributionsverbot für alle Druckerzeugnisse erlassen. Verleger benötigten eine Lizenz, um wieder oder neu beginnen zu können. Politische Restriktionen angesichts der Verstrickungen vieler Verlage in die Politik des »Dritten Reiches« und die notorische Papierknappheit führten zu einer Situation, in der es eher um die Sicherung guter Startchancen für künftige »normale Friedenszeiten« als um die reale Produktion ging. Zwar wurden in den Westzonen bis zum Ende der Lizenzzeit annähernd 850 Verlage gegründet und 15.000 Titel publiziert, und nahezu jedes Exemplar fand einen Käufer, aber diese zahlten mit Reichsmark.1 Nach 1 Vgl. das voluminöse Grundlagenwerk von Ernst Umlauff, Der Wiederaufbau des Buchhandels, Frankfurt a. M. 1978; zahlreiche Hinweise bei Blaschke, Verleger, S. 76 ff.
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der Währungsreform 1948, die auch die noch bestehenden Marktverbindungen zwischen SBZ und Westzonen stark einschränkte, setzte eine vier Jahre dauernde Absatzkrise des Buchhandels ein, weil die potentiellen Konsumenten ihr Geld zunächst für dringend benötigte Gebrauchsgüter ausgaben. Der damit einhergehende Konzentrationsprozess führte dazu, dass von den 850 lizenzierten Verlagen 1955 ein Drittel bereits wieder verschwunden war, während die Zahl der neuen Titel höher lag als in der Zeit bis zur Währungsreform. Erst 1960 wurde mit annähernd 22.000 Neuerscheinungen der Vorkriegsstand (1938) übertroffen. Bis zum Ende der 1960er Jahre verdoppelte sich die Zahl nochmals. In welchem Maße diese allgemeinen Aussagen auch für das – wiederum nicht exakt zu bestimmende – Segment für intellektuelle Kunden zutreffen, ist kaum zu schätzen. In der Bonner Republik konkurrierten Dutzende von Verlagen mit intellektuellen Publikationen um die Gunst bildungsbürgerlicher Leser, viele von ihnen blickten auf weit zurückreichende Traditionen zurück. Dies gilt etwa für die konfessionell geprägten Verlage, im katholischen Raum für den Herder Verlag in Freiburg, auf protestantischer Seite für Bertelsmann in Gütersloh; von gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Seite wurde 1946 die Europäische Verlagsanstalt gegründet, die in den 1960er Jahren ein dezidiert linkes Programm entwickeln sollte.2 Einschlägige Titel für intellektuelle Diskurse wurden von traditionellen Verlagen angeboten, die in die Buchpolitik des Nationalsozialismus verstrickt gewesen waren, wie von dem ursprünglich jugendbewegten und konservativ-revolutionären Verlag Eugen Diederichs. Es gab Verlage, die »arisiert« worden waren wie Ullstein und nun wieder aufstiegen, aber auch kleinere und ursprünglich linksliberale Verlage, die in den frühen Jahren der Bundesrepublik gegründet wurden, wie Econ in Düsseldorf 19503 oder der Kindler Verlag. Helmut Kindler hatte zusammen mit Heinz Ullstein bereits 1945 eine Lizenz erhalten, nahm die Produktion aber erst 1951 in München auf. Alle diese Unternehmen und einige mehr bedienten in erster Linie allerdings nicht den Markt für Intellektuelle oder konnten diesbezüglich kein besonderes Image ausprägen. Gleiches galt für die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Fachverlage, deren Angebot sich an ein exklusives akademisches Publikum richtete. Letztlich waren es nur wenige Verlage, die hier über eine längere Zeit hinweg kontinuierlich einflussreich waren. Prägend für das intellektuelle Profil der jungen Bundesrepublik wurde der Rowohlt Verlag, der bereits vor 1933 Erfolge gefeiert hatte. Im »Dritten Reich« war zunächst ein großer Teil der Titel konfisziert worden. Der Verlag geriet unter den Einfluss des nationalsozialistischen Eher-Verlags, wurde 1940 der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart angegliedert und 1943 geschlossen. Nach Kriegsende gab es 2 Vgl. als hauseigene, aber nicht unkritische Darstellung Klaus Körner, Die Europäische Verlagsanstalt von 1946-1979, in: Sabine Groenewold (Hrsg.), Mit Lizenz. Geschichte der Europäischen Verlagsanstalt 1946-1996, Hamburg 1996, S. 35-121. 3 Vgl. lediglich die hauseigene Festschrift von Gerhard Beckmann (Hrsg.), 50 Jahre ECON. Die Erfolgsgeschichte eines Verlages, München o. J. (2000).
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zunächst zwei Standorte. Der Sohn Heinrich Maria Ledig-Rowohlt,4 der nach dem Weggang von Ernst Rowohlt seit 1938 den Verlag geleitet hatte, gründete bereits im November 1945 aus den Überresten in Stuttgart den Rowohlt Verlag neu, sein Vater folgte im März 1946 in Hamburg. Die erste innovative Idee des für alle vier Zonen lizenzierten Verlags galt der Lösung des schwersten technisch-wirtschaftlichen Problems. Aufgrund des Mangels an hochwertigem Papier druckte man Bücher auf Zeitungspapier. Rowohlts Rotations Romane (rororo), tatsächlich handelte es sich auch um Sachbücher, erschienen ungeheftet in halbem Zeitungsformat, gefaltet durch die Rotationsmaschine in Hunderttausenden von Exemplaren. Auf die gleiche Weise hatte Ledig-Rowohlt bereits ein Jahr nach dem Krieg die Jugendzeitschrift Pinguin und eine monatlich erscheinende Zeitschrift für Literatur unter dem Titel story vertrieben, letztere zum Preis von 60 Pfennigen und mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren. Aufgrund des schwierigen Verhältnisses zwischen Vater und Sohn kam es erst 1950 zur ökonomisch gebotenen Zusammenlegung in Hamburg.5 Im gleichen Jahr erschienen die ersten rororo-Taschenbücher, eine seit 1948 verfolgte Idee, mit der sich der Verlag eine führende Rolle auf dem Buchmarkt erwarb. Die Romane und Sachbücher, für 1,50 DM erhältlich, sollten nicht zuletzt den Weg zu breiteren Bevölkerungsschichten ebnen, damit diese das Buch als Konsumartikel schätzen lernten. Der Taschenbuch-Markt expandierte zwar enorm, weil viele Verlage Rowohlt folgten und von 1950 bis 1957 die Zahl der Titel (von 18 auf 311) und Exemplare (von einer auf 16,8 Millionen) stieg.6 Das Ziel, damit neue Schichten der Bevölkerung zu gewinnen, wurde aber verfehlt. Das Publikum war und blieb bildungsbürgerlich. Lediglich unter jungen Akademikern waren – auch durch kommerzielle Werbung im Mittelteil – billige Taschenbücher, die trotz bescheidener Aufmachung den gleichen Inhalt boten wie das herkömmliche Buch, sehr beliebt, und der Rowohlt Verlag genoss auf diesem Feld einen legendären Ruf. Dies erklärt den spektakulären Erfolg des wohl größten intellektuellen Unternehmens auf dem westdeutschen Buchmarkt der frühen Bundesrepublik, der von Ernesto Grassi herausgegebenen Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« (rde) – auch diese erschienen als Taschenbücher. Der Anspruch der für ein Jahrzehnt florierenden Reihe, über alle Gebiete der Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst nicht nur Meinungen, sondern unter dem Banner einer »Zweiten Aufklärung« zuverlässiges Expertenwissen zur Verfügung zu stellen, machte den Rowohlt Verlag zur ersten Adresse für Intellektuelle.7 4 Den Namenszusatz »Rowohlt« führte Ledig-Rowohlt, der 1931 in den Verlag eingetreten war, erst seit 1959. 5 Vgl. Ledig-Rowohlt, Prince Henry, S. 65 ff.; Corinna Küfner/Nikolaus Tiling, Ein Gespräch mit Heinrich Maria Ledig-Rowohlt. »Wenn man das Papier hatte, war die Währungsreform ja ein Wunder in der Tasche«. Der Neuanfang des Rowohlt-Verlages, in: Fischer u. a., Dann waren die Sieger da, S. 207-211; Sabine Krecker, Neuanfang in vier Zonen. Der Rowohlt Verlag nach 1945: Hamburg, Stuttgart, Baden-Baden, Berlin, in: ebd., S. 213. 6 Umlauff, Wiederaufbau, S. 741 ff. 7 S. Kapitel II.4.2.
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Als wichtige Orientierungsmarke für ein intellektuelles Publikum ist unter den Buchverlagen auch der heute weithin vergessene Verlag Kurt Desch in München zu nennen, der bei den gebildeten Lesern um 1950 zu einer festen Größe geworden war.8 Bei Desch, der am 17. November 1945 die erste Verlagslizenz für Bayern erhielt, veröffentlichten politisch sehr unterschiedlich eingestellte Autoren der Zwischenkriegszeit wie Theodor Plivier, Erich Kästner und Erich Maria Remarque, internationale Größen von Knut Hamsun, Pearl S. Buck und John Dos Passos bis zu Romain Rolland und Albert Camus, Exilanten und Remigranten wie Hermann Kesten, Arthur Koestler, Hans Habe, Bertolt Brecht, Anna Seghers und Kurt Hiller,9 Angehörige der sogenannten Inneren Emigration wie Ernst Wiechert und der Impresario der Gruppe 47, Hans Werner Richter. Dessen Nachkriegsromane erschienen hier, und zuletzt war es der Verleger selbst, der Richter die Herausgeberschaft für den Sammelband »Bestandsaufnahme« anbot, eine der wichtigsten Publikationen zur Kritik der Wiederaufbauzeit am Ende der Ära Adenauer.10 Damit stand der Verlag im Zenit seiner Geschichte; der Almanach der Autoren zum 60. Geburtstag von Kurt Desch 1963 liest sich als Heerschau prominenter Namen der intellektuellen Szene, von Hermann Kesten und Golo Mann bis Bertrand Russell.11 Dann allerdings setzte die Krise des Unternehmens ein, 1973 wurde der Verlag verkauft. Insgesamt dominierten die alten klingenden Namen jener Verlage, die zumeist um die Jahrhundertwende oder noch früher gegründet worden waren und den Markt der Zwischenkriegszeit dominiert hatten. Dies gilt auf dem belletristischen Feld etwa für den 1928 gegründeten Verlag Carl Hanser, der sich 1960 auch dem Verbund des Deutschen Taschenbuchverlags (dtv) anschloss,12 und noch mehr für den neuen Frankfurter S. Fischer Verlag, der seine Hausautoren aus der Zwischenkriegszeit zwar zum Teil an den Suhrkamp Verlag verlor (s. u.), aber mit Thomas 8 Zehn Jahre Verlag Kurt Desch. Berichte 1945-1955, München 1955; der Verlag Kurt Desch entwickelte sich aus dem 1935 gegründeten und 1938 »arisierten« Zinnen-Verlag, in dem Desch als Angestellter gearbeitet hatte; vgl. Bernd R. Gruschka, Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950, Frankfurt a. M. 1995, S. 97 ff.; Adam, Traum, S. 53 ff. 9 Der umfangreiche Briefwechsel von Desch und Hiller im ersten Nachkriegsjahrzehnt drehte sich vor allem um ein Aphorismenbuch von Hiller mit dem Titel »Aufbruch zum Paradies«, das ursprünglich bereits 1922 publiziert worden war und aktualisiert werden sollte. Ein Verlagsvertrag wurde 1949 geschlossen, das Buch aber erst 1952 veröffentlicht. Es wurde ein Flop, verkauft wurden von der Auflage von 5.000 bis 1955 lediglich 525 Exemplare. Andere Vorschläge von Hiller, etwa ein umfangreiches Manuskript über kantianische Philosophie, wurden vom Verlag abgelehnt; Hiller charakterisierte Desch als geschäftstüchtig, unzuverlässig und geldgierig; Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, 24.4.1950, in: Kurt-Hiller-Archiv, Verlag Kurt Desch. 10 Hans Werner Richter an Kurt Desch, 12.6.1961, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 4394. 11 Ein Almanach der Autoren des Verlages Kurt Desch, München 1963. 12 Vgl. Reinhard Wittmann, Der Carl-Hanser-Verlag 1928-2003. Eine Verlagsgeschichte, München/Wien 2005.
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Mann, Stefan Zweig, Franz Werfel, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka und einigen anderen immer noch über prominente Autoren verfügte, von denen auch Gesammelte Werke und Gesamtausgaben veröffentlicht wurden.13 Es fällt auf, dass bei S. Fischer nur wenige Schriftsteller der Gruppe 47 veröffentlichten, sondern eher Autoren, die in der Gruppe nicht heimisch wurden oder werden wollten, wie Arno Schmidt oder Paul Celan. Für die intellektuellen Debatten spielte der Verlag im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch keine große Rolle, sieht man einmal ab von der 1952 aufgelegten Reihe »Bücher des Wissens«, die ungekürzte philosophische und geisteswissenschaftliche Texte – von Platon bis Marx – zugänglich machen sollte. Ansonsten kreiste das zunächst noch schmale Sachbuchprogramm um technische und naturwissenschaftliche Themen. Erst im letzten Drittel der 1950er Jahre begann sich der Verlag stärker mit historisch-politischer Literatur zu profilieren.14 Nur für ein Jahr hatte der vor allem belletristisch und kunsthistorisch profilierte Piper Verlag seine Arbeit unterbrechen müssen.15 Als Glücksgriff erwies sich die Gewinnung von Karl Jaspers als Hausautor im zweiten Nachkriegsjahr. Nicht nur dessen philosophische, sondern auch seine zahlreichen politischen Schriften erschienen bei Piper, in manchen Jahren ein halbes Dutzend. Die Namen der belletristischen Autoren, Dostojewski (in einer Gesamtausgabe), Ludwig Thoma, Stefan Andres und Wilhelm Hausenstein, deuten auf bildungsbürgerliche Traditionsbezüge konservativer und liberaler Provenienz ebenso hin wie die als Autoren gewonnenen Wissenschaftler, Publizisten und Literaturkritiker, der Heidelberger Kultursoziologe Alfred Weber, der linkskatholische Mitarbeiter des BR Clemens Münster und Hans Egon Holthusen, dessen konservativer Antimodernismus zeitgenössisch viel Anklang fand. Er veröffentlichte bei Piper von 1949 bis 1976 elf Bücher.16 Die Edition des umfangreichen Briefwechsels zwischen Karl Jaspers und Hannah Arendt lässt Rückschlüsse auf das insgesamt gute, aber nicht spannungsfreie Verhältnis zwischen dem Verleger und seinen Autoren zu, wenn es um die Aushand13 Unter den Autoren standen von 1950 bis 1959 nach Häufigkeit an der Spitze Stefan Zweig (29), Manfred Hausmann (16), Thomas Mann (15), Arthur Schnitzler (13), Carl Zuckmayer (13), Thornton Wilder (11), Albrecht Goes (8), Franz Werfel (8), Anton Tschechow (7), Hugo von Hofmannsthal (7), Christopher Fry (6), Franz Kafka (6); eigene Auszählungen. 14 Vgl. den Überblick von Reiner Stach, 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886-1986. Kleine Verlagsgeschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 163 ff. 15 Vgl. für das Folgende Klaus Piper (Hrsg.), 75 Jahre Piper. Bibliographie und Verlagsgeschichte 1904-1979, München/Zürich 1979; Ernst Piper/Bettina Raab (Hrsg.), 90 Jahre Piper. Die Geschichte des Verlages von der Gründung bis heute, München/Zürich 1994. 16 Die Sekundärlitertur zu Holthusen ist wenig ergiebig; vgl. John Joseph Rock, Toward Orientation. The Life and Work of Hans Egon Holthusen, Diss. Pennsylvania State University 1980; vgl. restlos unkritisch Marina Marzia Brambilla, Hans Egon Holthusen. Eine Darstellung seiner schriftstellerischen Tätigkeit, Aachen 2006; mit gleicher Tendenz Mechthild Raabe, Hans Egon Holthusen. Bibliographie 1931-1997, Hildesheim 2000; in peinlicher Weise apologetisch selbst noch eine neuere Darstellung, in der Holthusen als Brückenbauer und letztlich liberaler Intellektueller konstruiert wird: Stephen Brockmann, Der Nullpunkt und seine Überwindung. Hans Egon Holthusen, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 135-146.
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lung von Honoraren ging. Nachdem Piper für die Veröffentlichung der »Vita Activa« von Arendt nur acht Prozent je verkauftem Exemplar geboten hatte, was diese ablehnte, schrieb Jaspers: »Piper ist ein trefflicher Verleger. Aber er muß wohl, wie jeder andere auch, Geschäftsmann sein. Ich mache dieselbe Erfahrung, habe wiederholt ›leise‹ Kämpfe gehabt. Ein wenig ärgere ich mich dann, zumal die Diskussion dabei sophistisch werden kann. (…) Aber es macht nichts. Piper ist ein trefflicher Verleger und persönlich ein Mann, den ich gern habe. Sie müssen nur freundlich auf Ihren 10 bestehen. – So schreibe ich statt über Plato über Verlegersachen.«17 Wie beim Piper Verlag begann die große Zeit des Suhrkamp Verlags zwar erst in den 1960er Jahren, aber er spielte auch schon im Gründungsjahrzehnt der Bundesrepublik eine nicht unwichtige Rolle. Der Verleger Peter Suhrkamp hatte als Mitarbeiter des S. Fischer Verlags seit 1932 zunächst die Neue Rundschau herausgegeben und wechselte dann in den Vorstand. Von 1935 bis 1944 leitete er den Teil des Verlags, der nicht ins Ausland transferiert worden war. Im April 1944 wegen Hoch- und Landesverrats verhaftet, blieb er bis Februar 1945 im KZ Sachsenhausen. Für seine Entlassung hatten sich prominente Kulturfunktionäre und führende Nationalsozialisten eingesetzt, von Arno Breker bis Albert Speer und Baldur von Schirach. Peter Suhrkamp erhielt am 8. Oktober 1945 die erste Verlagslizenz im britischen Sektor von Berlin. Nach dem Bruch mit Bermann Fischer 1950 gründete Suhrkamp den nach ihm benannten Verlag. Beide Verlage, der ebenfalls neu organisierte S. Fischer Verlag und der Suhrkamp Verlag, residierten seither in Frankfurt.18 Die Autoren des »Suhrkamp Verlags, vormals S. Fischer« aus der Zeit des »Dritten Reiches« hatten die Wahl, ob sie zu Suhrkamp oder Fischer gehen wollten. Die Mehrheit entschied sich für den Suhrkamp Verlag. Eine Brücke zum späteren Erfolg bildete die Gewinnung zahlreicher älterer, aber auch die Anwerbung neuer Autoren aus dem Grenzbereich von Belletristik, ästhetischer Theorie, politischer Philosophie und Gesellschaftskritik, von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, T. S. Eliot und Carl Zuckmayer, Max Frisch und Bertolt Brecht bis zu Martin Walser und Wolfgang Koeppen. 1951 erschien der erste Band der Bibliothek Suhrkamp, eine Schrift von Hermann Hesse, der mit Peter Suhrkamp befreundet war. In dieser Reihe, die bedeutsame literarische Arbeiten und geisteswissenschaftliche Texte präsentieren sollte, publizierten auch Theodor W. Adorno, Hans-Georg Gadamer, Alexander Mitscherlich und Hans Magnus Enzensberger.19 Allgemein ist festzuhalten: Die Bibliographie des Suhrkamp Verlags lässt deutlich das Bemühen 17 Karl Jaspers an Hannah Arendt, 7.7.1956, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 327 f.; der selbstkritische Nachsatz ließe sich auf weitere etwa drei Dutzend der Briefe beziehen, in denen es immer wieder um Honorare und ihre Modalitäten – nicht nur bei Piper – ging. 18 Vgl. die hauseigene Verlagschronik: Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages. 1. Juli 1950 bis 30. Juni 2000, Frankfurt a. M. 2000. 19 Wolfgang Schneider (Redaktion), Bibliothek Suhrkamp. Bibliographie. Band 1 bis Band 1000, 1951 bis 1989, Frankfurt a. M. 1989.
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erkennen, sowohl die Literatur als auch die Wissenschaft zu bedienen. Entscheidenden Anteil am Aufstieg des Verlags hatte Siegfried Unseld, der mit 27 Jahren 1952 eintrat, drei Jahre später Prokura erhielt, 1958 Gesellschafter und nach dem Tode von Peter Suhrkamp 1959 alleiniger Verleger wurde. Unseld, buchhändlerisch ausgebildet und literaturwissenschaftlich promoviert,20 schaffte es, obwohl ein kühl kalkulierender Rechner, dem Verlag eine elitäre Aura zu verleihen. Marcel ReichRanicki schildert in seinen Lebenserinnerungen ein erstes Treffen, das 1958 stattgefunden haben soll: »Unseld hatte schon damals alle Schriftsteller dieser Erde in zwei Gruppen eingeteilt: in die Suhrkamp-Autoren und die übrigen.«21 Der Verleger personifizierte ein bizarres Oxymoron von robustem Geschäftssinn und feingeistigem Diskurs, das viele Autoren in seinen Bann zog, zugleich aber zu heftigen Auseinandersetzungen führen musste, weil die Rollen unklar waren. Vom – ungewollt – quasi mäzenatischen Verhältnis zu Wolfgang Koeppen, der das erhoffte zweite große Werk nach seiner »Trilogie des Scheiterns« trotz hoher Vorschüsse nie ablieferte,22 bis zu bitteren Fehden mit Adorno23 oder Peter Weiss24 wegen der Höhe von Honoraren – die finanzielle Seite, das selbstverständliche verlegerische Gewinnstreben, spielte immer eine untergründige und bisweilen verdeckte Rolle in den Beziehungen zu den Autoren.25 Die daran aufbrechenden Konflikte sollten sich in den 1960er Jahren verschärfen. Von zentraler Bedeutung für die politische Positionierung der Intellektuellen in der Ära Adenauer war schließlich der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, der 1948 von Joseph Caspar Witsch mit einer Lizenz des Landes Nordrhein-Westfalen als Zweigbetrieb des Weimarer Verlags Gustav Kiepenheuer gegründet wurde.26 Witsch war in Köln 1933 wegen kommunistischer Aktivitäten entlassen worden, 20 Siegfried Unseld, Veröffentlichungen 1946 bis 1999. Eine Bibliographie zum 28. September 1999, Frankfurt a. M. 1999 (die Bibliographie umfasst mehr als 700 Vorträge und Veröffentlichungen); Peter Michalzik, Unseld. Eine Biographie, München 2002. Raimund Fellinger/Matthias Reiner (Hrsg.), Siegfried Unseld. Sein Leben in Bildern und Texten, Berlin 2014; mit Charakterisierungen durch Enzensberger, Habermas u. a. 21 Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 141999, S. 378 f. 22 Wolfgang Koeppen/Siegfried Unseld, »Ich bitte um ein Wort …«. Wolfgang Koeppen – Siegfried Unseld; der Briefwechsel. Hrsg. von Alfred Estermann/Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2006; Unseld und Koeppen kannten sich bereits aus der Zeit von Unseld im Verlag Scherz & Goverts, von wo aus er zum Suhrkamp Verlag wechselte. 23 Theodor W. Adorno/Peter Suhrkamp/Siegfried Unseld, »So müßte ich ein Engel und kein Autor sein«. Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Hrsg. von Wolfgang Schopf, Frankfurt a. M. 2003, S. 220 ff. 24 Siegfried Unseld/Peter Weiss, Der Briefwechsel. Hrsg. von Rainer Gerlach, Frankfurt a. M. 2007. 25 Siegfried Unseld, Briefe an die Autoren. Hrsg. von Rainer Weiss, Frankfurt a. M. 2004. 26 Birgit Boge, Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch. Joseph Caspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948-1959), Wiesbaden 2009, S. 17 ff.; vgl. jetzt umfassend Frank Möller, Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch, Köln 2014; neben dem Verlag Kiepenheuer & Witsch wäre in diesem Zusammenhang der Colloquium Verlag in West-Berlin zu nennen; vgl. Klaus Körner, »Stürmt die
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konnte aber durch den Eintritt in die SA bald wieder eine Anstellung finden. Seit 1936 arbeitete er als Leiter des Büchereiwesens in Jena, 1937 erfolgte der Eintritt in die NSDAP. Den Krieg erlebte Witsch als Soldat, zuletzt in Italien.27 Danach wurde er in der SBZ offenbar problemlos entnazifiziert, trat der SPD bei und wurde Leiter der Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen, bevor er 1948 in den Westen wechselte. Mit der Gründung geriet der Verlag Kiepenheuer & Witsch sofort in die Buchhandelskrise nach der Währungsreform, zudem starb Gustav Kiepenheuer im April 1949. In dieser Situation kam der aus dem Exil zurückgekehrte Verleger Fritz H. Landshoff gerade recht, der sich Witsch beratend zur Seite stellte.28 Gerettet wurde der Verlag durch den Propagandabedarf im Kalten Krieg, in den 1950er Jahren avancierte K & W zu einer der wichtigsten Agenturen zur Verbreitung westlich-liberaler Ideen.29
4.2 Alte und neue Blätter – das Feuilleton der Tages- und Wochenpresse Die Tagesversorgung mit anspruchsvollen kleineren Texten, nicht selten als Vermarktung von Produkten in Buchform, die zusammengefasst oder rezensiert wurden, aber darüber hinausgehend die Information über kulturelle Ereignisse und intellektuelle Tendenzen war schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder gesichert worden, galt doch Kultur als existenzielles moralisches Überlebensmittel und als entscheidender Faktor der geistigen »Gesundung« des deutschen Volkes. Um 1950 zeichnete sich ab, dass es nur wenige, durchweg neue Tageszeitungen sein würden, die – nicht zuletzt durch ihr Feuilleton – den Ton für das intellektuelle Publikum angaben. So war es schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik gewesen, als die Vossische Zeitung, der Berliner Börsencourier, die Deutsche Allgemeine Zeitung, das Berliner Tageblatt und die Frankfurter Zeitung für Intellektuelle attraktiv gewesen waren – im Falle der drei letztgenannten Blätter hatte das NSRegime gewisse Spielräume gewährt. Auch wenn es sich bei den Tageszeitungen nach dem Zweiten Weltkrieg durchweg um Neugründungen handelte, gab es doch zahlreiche personelle Kontinuitäten, schon weil es einer gewissen professionellen Wendigkeit bedurfte, um mit den Terminzwängen dieses Mediums umzugehen. Immer wieder trifft man auf Klagen über die »entsetzliche und unbeschreibliche
Festung Wissenschaft!«. Otto H. Hess und der Colloquium Verlag 1947-1992, in: Aus dem Antiquariat, Jg. 6, 2006, S. 415-431. 27 Vgl. Sabine Röttig, »… bleiben Sie wie bisher getrost in Dichters Landen und nähren Sie sich redlich«. Der Gustav Kiepenheuer Verlag 1933-1949, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens, Bd. 58, 2004, S. 1-135. 28 Vgl. Birgit Boge, Fritz H. Landshoff – ein nützlicher Mann. Die Zusammenarbeit von Joseph Caspar Witsch und Fritz H. Landshoff 1949-1952, in: Siegfried Lokatis/Ingrid Sonntag (Hrsg.), 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage, Berlin 2011, S. 224-245. 29 S. Kapitel II.4.1.
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Anspannung«, unter der der Tagesjournalist stehe.30 Sehnsuchtsvoll blickten diese auf Kollegen, die sich in anderen Medien mehr Zeit für ihre Beiträge nehmen durften. Allerdings begnügte sich auch kaum einer der führenden Feuilletonisten mit der Autorenschaft in Tageszeitungen, sondern nutzte fast immer auch andere Schreiborte. Welch hohen Stellenwert die alliierten Besatzungsmächte der kulturellen Re-orientation beimaßen, zeigt die frühe Herausgabe einer eigenen Tageszeitung, die den intellektuellen Ansprüchen der deutschen Bevölkerung genügen sollte. In der USZone war dies die Neue Zeitung – mit dem Untertitel Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung, deren erste Nummer in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1945 in der Schellingstraße in München gedruckt wurde – ein Symbol der Überwindung des Nationalsozialismus, lief doch der Andruck über die Rotationsmaschinen des Völkischen Beobachters;31 zudem wurden auch eine Berliner und zeitweise eine Frankfurter Ausgabe publiziert. Die Münchener Ausgabe wurde 1953, die Berliner ein Jahr später eingestellt.32 In der Neuen Zeitung begegneten sich renommierte Publizisten und Schriftsteller der Zwischenkriegszeit wie Erich Kästner (1899-1974), deren Feuilleton zum »key venue for postwar intellectuals«33 wurde: für Remigranten aus den USA wie Stefan Heym (1913-2001), Hans Habe (1911-1977) und Hans Wallenberg (1907-1977), für Literaten und Theoretiker wie Alfred Döblin und Erich Fromm und für jüngere Publizisten, die im »Dritten Reich« erste publizistische Erfahrungen gesammelt hatten wie Hans Schwab-Felisch (1918-1989) bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung34 oder als Berufsanfänger direkt aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft kamen wie Alfred Andersch (1914-1980), Walter Kolbenhoff (1908-1993) und Erich Kuby (1910-2005), die auch die Zeitschrift Der Ruf prägten und in der Gruppe 47 eine Rolle spielen sollten. Einer der Jüngsten, Wolf Jobst Siedler (1926-2013), der im Feuilleton der Berliner Redaktion der Neuen Zeitung arbeitete, später zum Tagesspiegel wechselte und einen Buchverlag aufbaute, erinnerte sich an Alleinstellungsmerkmale der Neuen Zeitung gegenüber anderen Blättern; hier trat »die westliche Welt aber sozusagen direkt vor die deutschen Le30 Karl Korn an Hans Paeschke, 16.6.1952, in: DLA, D: Merkur; vgl. Bruno Dechamps, Mobilität als Tugend (1963), in: ders., Schriften, Reden. Ein Lesebuch für Freunde, Mainz 1995, S. 57-62. 31 Hans Habe, Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte, Wien u. a. 1954, S. 492. 32 Vgl. Unterlagen zur Neuen Zeitung in Archiv IfZ, Nl. Hans-Joachim Netzer, ED 352/1; Netzer (Jg. 1923) war von Anfang an Redaktionsmitglied gewesen. 33 Forner, German Intellectuals, S. 34; vgl. Jessica Gienow-Hecht, Transmission Impossible. American Journalism as Cultural Diplomacy in Postwar Germany, 1945-1955, Baton Rouge 1999, S. 65 ff. 34 Der heute kaum mehr bekannte Publizist war eine Schlüsselfigur auf der Seite der westlich-liberal eingestellten Intellektuellen, der seit 1949 das Feuilleton der Neuen Zeitung leitete und später (1978-1983) Herausgeber des Merkur war; vgl. Rüdiger Altmann, Kritik als Konstruktion einer besseren Wirklichkeit, Hans Schwab-Felisch zum siebzigsten Geburtstag, in: Merkur, Jg. 42, 1988, H. 478, S. 1092-1095: Peter Bender, Ein freier Geist. Über Hans Schwab-Felisch, in: Merkur, Jg. 47, 1993, H. 532, S. 620-623.
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ser, und wir waren es, die das alles transportierten«.35 Tatsächlich war die Übersetzung von Kultur in Culture und zurück ein Spezifikum der Neuen Zeitung.36 Nirgendwo kamen die Vertreter einer westlich konnotierten ästhetischen Moderne so privilegiert zu Wort, etwa der Theaterkritiker Friedrich Luft (1911-1990) als Leiter des Feuilletons der Berliner Ausgabe oder der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt (1901-1988). Das Lob der Abstraktion in der Bildenden Kunst und moderner Neuer Musik sollte bald zum kulturellen Ausweis westlicher Freiheit avancieren. Das Feuilleton der Neuen Zeitung galt bis in die frühen 1950er Jahre hinein in Deutschland als führend. Es ist bezeichnend, dass Erich Kästner, der Feuilletonchef der Neuen Zeitung, seit Mitte 1946 von der Organisation Gehlen, der Vorläuferin des Bundesnachrichtendienstes (BND), als angeblicher sowjetischer Einflussagent, »Schlange am Busen« der US-Besatzungsmacht, systematisch überwacht wurde. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die damit beauftragten Spitzel lückenlos schon ein Jahr nach Kriegsende ihre NS-Praxis fortsetzen konnten, sondern auch der Umstand, dass sie offenbar gezielt von jenen Teilen der Militär-Administration eingesetzt wurden, denen die demokratische Ausrichtung der Medienpolitik der US-Besatzungsmacht nicht passte.37 In ähnlicher Weise charakterisierte der Geheimdienst den prominenten katholischen Überlebenden des KZ Buchenwald, Eugen Kogon, dessen zwar regierungskritische, aber nicht genuin linke Stellungnahmen in den Frankfurter Heften der Organisation missfielen. Er sei »hochbedeutend und fähig, charakterlich jedoch in keinerlei Weise einwandfrei«. Im Entwurf des Überwachungsberichts wurde Kogon sogar als charakterlich »vollkommenes Schwein« präsentiert.38 Wie die USA leistete sich auch die britische Besatzungsmacht eine eigene Tageszeitung mit intellektuellem Anspruch. Ein Unterschied bestand allerdings darin, dass die in Hamburg seit dem 2. April 1946 erscheinende Welt 1953 mit dem Verkauf an den Zeitungskonzern Axel Springer in deutsche Hände überging und bis heute existiert. Die Geschichte der Frühzeit des Blattes ist in Umrissen bekannt.39 Der als Chefredakteur vorgesehene konservative Hans Zehrer war zwar in letzter Minute durch den sozialdemokratischen Widerstandskämpfer Rudolf Küstermeier (19031977) ersetzt worden, aber die Linie des Blattes blieb konservativ und – geduldet von den Briten als Ausweis ihrer Toleranz – nicht frei von nationalneutralistischen Tönen. Das galt insbesondere für das Feuilleton und hing sicherlich auch damit zusammen, dass Willy Haas, der von 1925 bis 1933 im Rowohlt Verlag die Literarische 35 Wolf Jobst Siedler, Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen, Berlin 2004, S. 344. 36 Gienow-Hecht, Transmission Impossible, S. 79 ff. 37 Vgl. Henke, Geheime Dienste, S. 63 ff., Zitat S. 65. 38 Vgl. ebd. S. 78 ff., Zitat S. 80. 39 Karl-Heinz Harenberg, »Die Welt« 1946-1953. Eine deutsche oder eine britische Zeitung? Phil. Diss. Universität Hamburg 1976; Heinz-Dietrich Fischer, Re-Education- und Pressepolitik unter britischem Besatzungsstatus. Die Zonenzeitung »Die Welt« 1946-1950, Düsseldorf 1978.
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Welt herausgegeben hatte, anfänglich als britischer Kontrolloffizier für das Blatt fungierte.40 Nach dem Ausscheiden Küstermeiers 1950 wurde das Blatt unter den kurzzeitigen Nachfolgern zunächst als regierungsnah angesehen.41 Die intellektuelle Güte der Welt ist schwer zu ermessen, und man muss angesichts seiner sonstigen Invektiven nicht unbedingt Kurt Hiller folgen, der die Zeitung charakterisierte als »einschläfernde Kakophonie, halb von opportunistischen Streberchen, halb von Bählämmern aufgeführt!«42 Auch die Wahrnehmung der Welt-Mitarbeiterin Regina Bohne (Jg. 1915), sie sah sich als potentielles Opfer eines Rechtsschwenks des Blattes und sprach von einer »Refaschisierung«,43 ist wohl als Übertreibung tatsächlich vorhandener konservativer Tendenzen anzusehen.44 Ilse Urbach, die Chefin des sehr schmalen Feuilletons in den frühen 1950er Jahren – erst im Herbst 1954 erhielten die Kulturseiten den Titel »Die Welt des Feuilletons« –, hat den Ressortalltag so beschrieben, dass man sich in die Zwischenkriegszeit zurückversetzt fühlte, aber auch die Momente des Übergangs spürte: »Überhaupt waren eigentliche Redakteure in diesem Ressort kaum vorhanden, vielmehr geniale Originale, die gerne und gut schrieben. Doch sie beherrschten nicht das Handwerkliche, den Umbruch, die altruistische Kunst des Redigierens, die beim Feuilleton so notwendig ist und die sie wohl kaum einer besonderen Mühe wert erachteten. (…) Was mich als Frau bewegte, das Ressort zu übernehmen, war der Wunsch, den intellektuellen Kothurn des damaligen Feuilletons nicht etwa zu entfernen, ihn jedoch von durchbluteten Gliedmaßen tragen zu lassen. Die Mischung von Geist und – Gemüt (das altmodische Wort benutze ich bewußt) erschien mir notwendig. Nicht nur Nachtprogramm-Hörer, auch jene unbehausten Menschen, denen der Leseteil einer Zeitung Nahrung und Echo gibt, sollten als Leser gewonnen werden. Die kulturelle Situation jener Jahre der großen Veränderungen zu durchschauen und zu bewältigen, war die Aufgabe des Feuilletons.«45 Zur Steigerung des intellektuellen Renommees der Welt führte Zehrer, als er 1953 unter dem neuen Herausgeber schließlich doch den Posten des Chefredakteurs übernahm, als Sofortmaßnahme eine Beilage mit dem Titel »Die geistige Welt« ein. Zugleich präsentierte er Ende des Jahres eine interessante Personalie. Willy Haas, 40 Vgl. das Kapitel von Willy Haas, Wie ich die Anfänge erlebte, in: 25 Jahre »Die Welt«, Typoskript, 30.3.1971, in: DLA, Nl. Willy Haas, Typoskripte. 41 Markus Kiefer, Auf der Suche nach nationaler Identität und Wegen zur deutschen Einheit. Die deutsche Frage in der überregionalen Tages- und Wochenpresse der Bundesrepublik 1949-1955, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 18 f. 42 Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 17.12.1950, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. 43 Regina Bohne an Walter Dirks, 27.2.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 59. 44 Knapp die Hälfte der Redaktionsmitglieder zwischen 1946 und 1949 waren publizistisch in der NS-Zeit aktiv gewesen; vgl. Sonntag, Medienkarrieren, S. 99. 45 Ilse Urbach, Feuilleton an Elbe und Ruhr, in: Abteilung Information im Verlagshaus DIE WELT (Hrsg.), Die ersten Jahre. Erinnerungen aus den Anfängen eines Zeitungshauses, Hamburg 1962, S. 151-153, Zitate S. 151, 152.
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jüdischer Remigrant, der in der Weimarer Republik mit Ernst Rowohlt die Literarische Welt gegründet hatte, schrieb fortan wöchentlich eine Glosse von etwa 80 Zeilen, die er mit dem bei Shakespeare entlehnten Pseudonym »Caliban« zeichnete. Das breite thematische Spektrum – es reichte von der Frage, »warum die Frauen im Sonnenschein schöner sind«, bis zur Diskussion des »Schuldenmachens« in der Wiederaufbaugesellschaft – dokumentiert eine demonstrativ heiter-gelassene, gleichwohl aber durchgängig konservative, mitunter reaktionäre Kritik lebensweltlicher Moderne, die offenbar eine wohlig-melancholische Stimmung bei der Leserschaft erzeugte.46 Auch wenn Kurt Hiller schon einige Jahre zuvor in ätzendem Ton festgehalten hatte, Haas sei »erstens, zweitens und drittens feige, moralisch feige«, militaristisch, monarchistisch und vermutlich katholisch geworden,47 galt dieser wegen seiner Exilbiographie doch als honoriges progressives Aushängeschild für die bildungsbürgerliche Leserschaft. In einem Schreiben bedauerte es Hans Zehrer ausdrücklich, dass man nicht schon vor 1933 hatte zusammenarbeiten können, und inszenierte damit die Versöhnung unterschiedlich verlaufener Karrieren.48 Dafür war Haas offenbar die ideale Besetzung, weil er als »Remigrant unter NS-Journalisten« etwaige Berührungsängste in den Hintergrund drückte. So duzte er sich mit Georg Ramseger (1913-1996), dem Leiter des Feuilletons, den er liebevoll als »Ramses« ansprach.49 Zehrer hatte Ramseger, der nach elf Jahren Krieg und Gefangenschaft in Russland 1950 zurückgekehrt war und 1952 zur Welt gelangte, im Amt gelassen50 – erst 1965 kam es zum Bruch wegen konzeptioneller Differenzen, ein Jahr, nachdem man den Versuch mit einer vierzehntägigen umfangreichen Beilage unter dem ehrwürdigen, Willy Haas entlehnten Titel »Die Welt der Literatur« gestartet hatte, die sich als wenig erfolgreich erwies.51 Insgesamt kann man das Feuilleton der Welt als konservativ dominiert bezeichnen, wenngleich sich in den 1950er Jahren unter den Autoren – von Peter Rühmkorf bis Martin Walser – gelegentlich Namen fanden, die ein Jahrzehnt später unter den Boykottaufrufen gegen den Springer-Konzern standen. Als »die New York Times von Bayern« bezeichnete sich die Süddeutsche Zeitung später gern.52 Sie erscheint mit der bayerischen Lizenz-Nummer 1 seit dem 6. Oktober 46 Vgl. das Konvolut der Caliban-Glossen 1955-1960 im DLA., Nl. Willy Haas; vgl. Prüver, Willy Haas, S. 93 ff. 47 Kurt Hiller an Gerhard Gleissberg, 28.2.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Gleissberg. 48 Hans Zehrer an Willy Haas, 27.11.1956, in: DLA, A: Willy Haas. 49 Prüver, Willy Haas, S. 105. 50 Zehrers Arbeitszeugnis für Ramseger in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 27. 51 Ob bei der Trennung von Ramseger auch dessen antisemitisch durchtränkte literaturwissenschaftliche Dissertation von 1939 eine Rolle spielte, die Mitte der 1960er Jahre durch Joseph Wulfs Dokumentationen über Intellektuelle in der NS-Zeit bekannt wurde, lässt sich nicht klären; vgl. Prüver, Willy Haas, S. 73 f. 52 Herbert Heß, 50 Jahre Süddeutsche Zeitung. Eine Chronik, München 1995.
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1945.53 Herausgeber waren, gemäß der amerikanischen Lizenzierungspraxis, drei Publizisten mit unterschiedlichen politischen Positionen, Franz Josef Schöningh (19021960),54 von 1935 bis 1941 stellvertretender Chefredakteur und seit 1946 Herausgeber der katholischen Zeitschrift Hochland, der CSU-Politiker August Schwingenstein (1881-1968), ein Redakteur aus der bayerischen Provinz, und Edmund Goldschagg (1886-1971), ehemaliger leitender Redakteur der sozialdemokratischen Münchner Post; 1946 kam als vierter noch Werner Friedmann (1909-1969) hinzu, der das Blatt bis 1960 leitete – der Vertreter katholisch-konservativer Positionen55 galt dem Geheimdienst Gehlens in einem Bericht aus dem Jahr 1952 als mächtigster »Intrigant in Vollendung«, der insgeheim die linke Publizistik koordiniere.56 Auf Friedmann folgte für ein Jahrzehnt der vorherige Stellvertreter Hermann Proebst (1904-1970),57 danach entschied man sich für ein sechsköpfiges, zunächst von Hans Heigert (1925-2007) geleitetes Direktorium. Obwohl die Spitze des Blattes – Goldschagg, zunächst Chefredakteur, wirkte seit den 1950er Jahren eher repräsentativ – katholisch-föderalistisch und konservativ geprägt war, entwickelte sich die Süddeutsche Zeitung in den 1950er Jahren zu einem Blatt, in dem sich im politischen Teil liberale und linksliberale Positionen fanden.58 Das war nicht zuletzt Erich Kuby und Ernst Müller-Meiningen zu verdanken, die es etwa wagten, die extensive Verfolgung von Kommunisten zu kritisieren, womit sie in der deutschen Presselandschaft ziemlich alleine standen.59 Während die Süddeutsche Zeitung Anfang der 1950er Jahre – die Auflage betrug 1952 ca. 200.000 – eine ökonomische Krise durchmachte und die Gehälter der Redakteure gekürzt wurden, verdienten gerade diese beiden Journalisten recht gut.60 Kuby hatte 53 Vgl. ebd., S. 3 ff.; eine Skizze zur Süddeutschen Zeitung von Alfred Dürr, Weltblatt und Heimatzeitung. Die »Süddeutsche Zeitung«, in: Michael Wolf Thomas (Hrsg.), Porträts der deutschen Presse. Politik und Profit, Berlin 1980, S. 63-80. 54 Dessen Verstrickungen als stellvertretender Kreishauptmann in Ostgalizien in den Judenmord wurden nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch verdunkelt; dazu erstmals ausführlich Knud von Harbou, Wege und Abwege. Franz Josef Schöningh, Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung. Eine Biographie, München 2013, S. 93 ff. 55 Der Grund für Friedmanns Karriereende war seine Verurteilung wegen »Vergehens wider die Sittlichkeit«, Zusammenkünfte mit minderjährigen Mädchen, zu einer Haftstrafe auf Bewährung; vgl. Dürr, Weltblatt, S. 68 f.; Ernst Müller-Meiningen, Orden, S. 81 ff. 56 Vgl. Henke, Geheime Dienste, S. 75 ff., Zitat S. 77. 57 Proebst hatte seine Karriere 1929 beim Berliner Rundfunk begonnen und musste sie 1936 zunächst abbrechen; Nekrolog Hermann Proebst: Adolf Frisé, Nachmittags am Schreibtisch, in: Hessischer Rundfunk, 15.7.1970, dok. in: ders., Spiegelungen. Berichte, Kommentare, Texte 1933-1998. Festgabe der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft zum 90. Geburtstag von Adolf Frisé, Bern u. a. 2000, S. 227-229; eine Sammlung politischer Leitartikel und Kommentare aus den 1950er und 1960er Jahren bietet Hermann Proebst, Durchleuchtete Zeit. Politische und historische Betrachtungen eines Journalisten. Hrsg. von Hans Schuster, München 1969; die nationalsozialistisch-antisemitischen Artikel von Proebst während des Zweiten Weltkriegs wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod publik. 58 Vgl. Kiefer, Auf der Suche, S. 19 f. 59 S. Kapitel II.1. 60 Zur Gehaltskürzung vgl. die Briefe von Franz Josef Schöningh an Ursula von Kardorff, 1.4.1949, 16.5.1950, 16.8.1951, in: Archiv IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/7; zur Ho-
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sich bereits als »Top Flight Reporter« mit seinen frühen Reportagen zur Berliner Luftbrücke als junger Star des Journalismus profiliert.61 Der Kulturteil war in der Süddeutschen Zeitung nicht durch herausragende Intellektuelle repräsentiert; in der Regel handelte es sich um erfahrene Publizisten, die ihre Berufserfahrungen in der Zwischenkriegszeit gesammelt hatten. Einige Bekanntheit erlangten der konservativ-katholische Schriftsteller Wilhelm Hausenstein62 aus der ehemaligen Frankfurter Zeitung und der aus dem selben Blatt kommende W(ilhelm) E(manuel) Süskind (1901-1970), der 1957 gemeinsam mit Dolf Sternberger und Gerhard Storz die mehrfach wieder aufgelegte Untersuchung »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« veröffentlichte, eine Artikelauswahl über die Sprache des Nationalsozialismus, die ursprünglich in der Wandlung erschienen war. Süskind, der sich nach Abbruch seines Studiums als Schriftsteller versucht und seit 1928 für die Deutsche Verlagsanstalt als Lektor und Übersetzer gearbeitet hatte, von 1933 bis 1943 die Zeitschrift Die Literatur und für kurze Zeit das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung sowie bis kurz vor Kriegsende das der Krakauer Zeitung geleitet und auch für das Reich geschrieben hatte, war auf Empfehlung von Wilhelm Hausenstein zur Süddeutschen Zeitung gekommen. In den späten 1940er Jahren war auch der zeitgenössisch einflussreiche Publizist und Schriftsteller Hans Egon Holthusen häufig mit Artikeln vertreten. Wie dieser hatten auch die Redakteure, die in den 1950er Jahren das Feuilleton prägten, der Leiter dieses Ressorts seit 1950, Hans-Joachim Sperr (1915-1963), Gunter Groll (1914-1982), Karl Ude (1906-1997) und Karl-Heinz Ruppel (1900-1980), ihre Karriere als junge Leute in der NS-Zeit begonnen oder fortgesetzt und zum Teil systemkonforme Artikel geschrieben.63 Zwar ergibt sich der Eindruck einer Öffnung des Feuilletons für ›moderne‹ Positionen Anfang der 1950er Jahre wie insgesamt einer Liberalisierung unter der Ägide des Chefredakteurs Werner Friedmann, allerdings kam dem Kulturteil der Süddeutschen Zeitung keine Avantgarde-Rolle zu.64
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norierung von Kuby den Vertrag mit dem Süddeutschen Verlag vom 24.12.1949, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby; zur Gehaltsentwicklung von Ernst Müller-Meiningen, dem wegen eines unbotmäßigen Artikels gekündigt werden sollte, der aber als gewählter Betriebsrat nicht kündbar war, für den Zeitraum 1954-1971 s. Unterlagen im BHStA, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 403. Die Bezeichnung im amtlichen Schreiben der US-Besatzungsbehörden, als deren Berater er fungierte: »Request is made to grant air priority No 1 for Mr. Erich Kuby for a flight Frankfurt-Berlin and return. Mr. Kuby is the top flight reporter of the largest newspaper in the U. S. zone, published in Munich. Mr. Kuby is to report on the development of the situation in Berlin.« (OMGUS Bavaria/Ernst Langendorf, Chief Press Branch, 2.7.1948, in Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby (ungeordnet). S. Kapitel II.1. Vgl. Paul Hoser, Vom provinziellen Lizenzblatt zur »New York Times von Bayern«. Die Anfänge der »Süddeutschen Zeitung«, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 121-145, hier S. 134 ff. Vgl. Harbou, Wege, S. 259 ff.
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Unter den größeren neuen Zeitungen bildete hinsichtlich ihrer NS-Belastung die Frankfurter Rundschau, sie erschien erstmals am 1. August 1945 und erhielt 1947 eine Deutschland-Ausgabe, eine Ausnahme.65 Die Siebenergruppe, die eine Lizenz für das Blatt erhielt, bestand aus einem kritischen katholischen Zeitungsmann, Karl Gerst, drei Sozialdemokraten und drei Kommunisten. Zwei Jahre später, der Kalte Krieg war offen ausgebrochen, verloren letztere ihre Lizenz oder waren aus der Partei ausgeschlossen worden, Gerst war bereits 1946 von den Besatzungsbehörden, wohl auf Druck seiner Kirche, abgesetzt worden, die Sozialdemokraten hatten andere Aufgaben übernommen. Die Frankfurter Rundschau erhielt bald eine EinMann-Führung. Karl Gerold war 1946 in der Schweiz angeworben worden; von 1954 bis zu seinem Tode war er in »Dreieinigkeit« maßgeblicher Verleger, Herausgeber und Chefredakteur. Um die Unabhängigkeit des Blattes zu demonstrieren, trat Gerold 1949 aus der SPD aus. Die Frankfurter Rundschau verstand sich als eine »radikal-demokratische« bzw. »linke Zeitung«.66 In ihrem Feuilleton schrieben in den ersten Jahren einige namhafte Intellektuelle, etwa, seit 1947, Kurt Hiller, mit dem sich Karl Gerold im Kampf gegen den »geistigen Zustand hier, gegen den man angehen muss«, einig wusste.67 Aber Renommee konnte man mit Beiträgen für die FR kaum gewinnen, zumal konservative Intellektuelle das Blatt von Anfang an als tendenziöses Remigrantenblatt verunglimpften. Änliches galt mit Blick auf die politische Abstempelung auch für die links engagierten Nürnberger Nachrichten; Publikationen in der Rheinischen Post in Düsseldorf, im West-Berliner Tagesspiegel oder anderen in erster Linie lokal verankerten Blättern trugen Intellektuellen zwar ein Honorar, aber nur selten breite überregionale Aufmerksamkeit ein. Letztlich waren es, sieht man von der Frankfurter Rundschau und der Neuen Zeitung ab, die in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ihr Erscheinen einstellte, nur drei Tageszeitungen, die mit intellektuellen Beiträgen bildungsbürgerliche Diskurse in der Bonner Republik seit den 1950er Jahren immer wieder entfachten. Zwei dieser Blätter, Die Welt und die Süddeutsche Zeitung, standen dabei über längere Zeit im Schatten der erst Ende 1949, also nach dem Auslaufen der Lizenzzeit, erstmals erschienenen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die bereits im Untertitel ihren Anspruch geltend machte: Zeitung für Deutschland.68 Die Selbstdarstellung des Blattes als Zentralorgan der »klugen Köpfe«, so der unsignierte Leitartikel der ersten Ausgabe am 1. November 1949, betonte zwar, man 65 Bernd Gäbler, Die andere Zeitung. Die Sonderstellung der »Frankfurter Rundschau« in der deutschen Nachkriegspublizistik, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 146-164. 66 Werner Holzer, Frankfurter Rundschau, in: Fischer, Chefredakteure, S. 57-71, Zitate S. 61. 67 Karl Gerold an Kurt Hiller, 26.6.1950, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Frankfurter Rundschau. 68 Vgl. Rolf Martin Korda, Für Bürgertum und Business. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, in: Thomas, Porträts, S. 81-96; Dagmar Bussiek, Benno Reifenberg 1892-1970. Eine Biographie, Göttingen 2011, S. 418 ff.
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gedenke der legendären Frankfurter Zeitung mit großem Respekt, könne und wolle sie aber nicht kopieren. Während man explizit Zurückhaltung wahrte, demonstrierte schon die typographische Gestaltung Kontinuität.69 Die Zurückhaltung bei der Beanspruchung des Erbes wiederum hing mit den Verhandlungen zusammen, die im Vorfeld der Herausgabe mit dem Treuhänder der Frankfurter Societätsdruckerei und den Herausgebern der Gegenwart, die Rechte am Titel Frankfurter Zeitung besaßen, geführt worden waren. Aus einem fünfseitigen Memorandum, das wohl von Benno Reifenberg verfasst wurde, geht hervor, dass Erich Welter vorgeschlagen hatte, die Konkurrenz zwischen den FAZ-Gründern und jenen, die eine Wiederbelebung der alten Frankfurter Zeitung für die nahe Zukunft, schon 1950, planten, durch eine Hereinnahme einiger Publizisten der Gegenwart, darunter Reifenberg und Friedrich Sieburg, in die Redaktion der FAZ mittelfristig zu lösen; dagegen hielten die Gegenwart-Herausgeber vorläufig an ihren Plänen fest, für die sich offenbar auch maßgebliche Industrie- und Finanzkreise interessierten.70 Tatsächlich kamen drei der fünf Herausgeber, Erich Welter, Paul Sethe und Karl Korn, vom Frankfurter Traditionsblatt. Letzterer war allerdings nur Autor, nicht Redakteur gewesen. Eine Neugründung unter dessen Titel war von den US-Behörden verhindert worden, die stattdessen die Frankfurter Rundschau unterstützten; zudem gab es Differenzen unter den ehemaligen Redakteuren des Traditionsblattes, von denen ein Teil die vierzehntägig erscheinende Gegenwart herausgab. Tonangebend unter den Gründern der FAZ war Erich Welter (1900-1982).71 Aus der von ihm geleiteten Deutschland-Ausgabe der sehr erfolgreichen Mainzer Allgemeinen Zeitung72 ging die Frankfurter Allgemeine Zeitung hervor. Welter hatte mit einer kurzen Unterbrechung vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Einstellung des Blattes als Wirtschafts- und zuletzt als stellvertretender Chefredakteur bei der Frankfurter Zeitung gearbeitet, nebenbei in der NS-Zeit die Fachzeitschrift Wirtschaftskurve redigiert und seine akademische Karriere vorangetrieben, die ihm 1944 eine ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre in Frankfurt und 1948 an der Universität Mainz eintrug. Welter, promoviert von Alexander Rüstow, war gut be69 Allerdings gab es durchaus Publizisten, die eher die Neue Zürcher Zeitung als legitime Nachfolgerin der Frankfurter Zeitung ansahen; vgl. Kurt Seeberger, Am Zeitungsstand. MS einer Sendung des BR für die Deutsche Welle, 12.2.1957, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 251. 70 Zur »Frankfurter Zeitung«. Stand der Vorbereitungen Ende 1949 (Dezember 1949), in: DLA, A: Dolf Sternberger, Benno Reifenberg; Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 1.11.1949, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 32 b. 71 Vgl. Friedemann Siering, Zeitung für Deutschland. Die Gründergeneration der »Frankfurter Allgemeinen«, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 35-86, hier S. 44 ff.; vgl. jetzt auch Christiane Schäfer, Erich Welter – Der Mann im Hintergrund der FAZ, Phil. Diss. Universität Würzburg 2018. 72 Vgl. Sigrun Schmid, Journalisten der frühen Nachkriegszeit. Eine kollektive Biographie am Beispiel von Rheinland-Pfalz, Köln u. a. 2000, S. 70, 77-79; Chefredakteur des Blattes war der erfahrene Journalist Erich Dombrowski, der dann mit Welter zum Führungsgremium der FAZ gehörte.
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kannt mit Wilhelm Röpke, dem politisch konservativen Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft, dem er immer wieder die Spalten der Zeitung öffnete.73 Er fungierte mehrere Jahre als Vorsitzender des fünf-, später sechsköpfigen Herausgebergremiums der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach wechselte die Leitung jährlich.74 Politisch richtete sich das nach eigener Darstellung »liberal-konservativ«75 orientierte Blatt zunächst gegen die amerikanische Politik der Re-orientation und verstand sich, bis zur Frakturschrift für Titel und Artikelüberschriften, als Gegenentwurf zur Lizenzpresse.76 Die Auflagenentwicklung belegt eine Erfolgsgeschichte. 1950 wurden durchschnittlich 42.000 Exemplare verkauft, 1952 waren es 57.000, 1955 wurde die Marke von 150.000 übertroffen, am Ende des Jahrzehnts registrierte man 210.000 verkaufte Exemplare; der größte Teil ging an feste Abonnenten. Seit den 1960er Jahren verlangsamte sich zwar der Anstieg, aber bis zum Ende der Bonner Republik verdoppelte sich die Auflage noch einmal annähernd. Mit 59, meist recht jungen, Redakteuren, davon zehn im Feuilleton, beschäftigte die FAZ 1955 die größte Redaktion aller deutschen Tageszeitungen. Die Geschichte der FAZ-Redaktion zeigt ein von außen über weite Strecken nur schwer zu überblickendes Mit- und Gegeneinander einer heterogenen Schar von Individualisten, die sich mitunter, aber selten dauerhaft, verbündeten. Es herrschte allerdings Konsens in der Frage einer freundlichen Kommentierung der Unternehmerinteressen in wirtschaftlichen Angelegenheiten und der konservativen Prinzipien deutscher Politik, und das hieß zunächst der Regierungspolitik. Die Trägerschaft lag in den ersten Jahren bei der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e. V. (WIPOG), die am 9. August 1947 in den Räumen der Frankfurter Industrie- und Handelskammer gegründet worden war und eher diskret im Hintergrund agierte. Die Namen von deren Gründungsmitgliedern, etwa Otto Klepper, parteiloser Finanzminister in Preußen bis zum März 1933, Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister der 1950er Jahre und Nachfolger von Konrad Adenauer als Bundeskanzler, Kurt Pentzlin, Geschäftsführer der Bahlsen-Kekswerke, Richard Merton, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Frankfurter Metallgesellschaft, Robert Pferdmenges, Teilhaber des Bankhauses Salomon Oppenheim jun., später enger finanzpolitischer Berater von Konrad Adenauer und Hans-Christoph Seebohm, Spitzenfunktionär der Vertriebenenorganisation und langjähriger Bundesminister, 73 Vgl. den Brief von Wilhelm Röpke an Erich Welter, 11.3.1951, in: Wilhelm Röpke, Briefe. 1934-1966. Der innere Kompaß, Erlenbach (Zürich) 1976, S. 117. 74 Zu den hervorragenden Verbindungen Welters in die Industrie- und Finanzwelt vgl. Bussiek, Benno Reifenberg, S. 419 f.; zu den verschachtelten Besitzverhältnissen und Redaktionsstrukturen der FAZ, 1958 in Form der Fazit-Stiftung, vgl. Bruno Dechamps, Frankfurter Allgemeine Zeitung, in: Fischer, Chefredakteure, S. 91-110; einige Hintergrundinformationen in Hermannus Pfeiffer (Hrsg.), Die FAZ. Nachforschungen über ein Zentralorgan, Köln 1988; Payk, Geist, S. 180 ff. 75 Dechamps, Frankfurter, S. 101. 76 Hodenberg, Konsens, S. 188 f.
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wird man nicht unbedingt in einer Geschichte der Intellektuellen erwarten. Die WIPOG war ein nützliches Aushängeschild für die Förderer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Allerdings wäre es zu einfach, die WIPOG als Zentralkomitee des neu etablierten kapitalistischen Systems oder Instrument der Deutschen Bank hinzustellen, dafür war das Spektrum zu heterogen.77 Die WIPOG hatte nicht den Ehrgeiz, mehr zu sein als der finanzielle Förderer und Garant für eine »wirkungsmächtige Zeitung, die den Konservatismus im Ordnungsbegriff mit dem Liberalismus im Gesellschafts- und Ökonomiebegriff verband (…) ein deutschlandweites konservativ-wirtschaftsliberales Blatt«.78 Das verhinderte allerdings nicht das Zerwürfnis Anfang der 1950er Jahre wegen der Unterstützung der Kartellgesetzgebung der Bundesregierung durch die Wirtschaftsredaktion und Erich Welter, der zu den Gründern der WIPOG zählte und der wichtigste Verbindungsmann zwischen Trägerkreis und Redaktion war.79 Die FAZ ließ ihren Redakteuren große Spielräume, allerdings im Rahmen einer klaren Parteinahme für den militärischen und wirtschaftlichen Integrationskurs der Bonner Regierung – seit der Mitte des Jahrzehnts wurden Positionen eines »Dritten Weges« im Blatt nicht mehr geduldet,80 zumindest nicht im politischen und Wirtschaftsteil. Verantwortlich für das Feuilleton der FAZ war deren Mitgründer und Mitherausgeber Karl Korn, den Erich Welter im Sommer 1948 zur Mainzer Allgemeinen Zeitung geholt hatte. Seit dem 15. Juli redigierte er dort die Kulturseiten. An Ernst Niekisch schrieb er wenig später über seinen Eindruck vom deutschen Philosophenkongress. Dominiert gewesen sei er »von einer Invasion sehr geschickt und teilweise sogar sympathisch agierender Neuthomisten im schwarzen Priesterrock – geistige Restauration«.81 Die Charakterisierung von Karl Korn als »liberal« wäre zu oberflächlich, aber liberale Züge gehörten sicherlich zu seinem intellektuellen Habitus, er pflegte enge Kontakte zu Theodor W. Adorno und zu Schriftstellern der Gruppe 47. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war das Feuilleton der FAZ durch die bittere Fehde von Karl Korn und Friedrich Sieburg bestimmt, der seit seinem Eintritt in die Redaktion 1956 parallel das Literaturblatt redigierte. Sieburg wiederum war der Vorbote für die Aufnahme jener ehemaligen Redakteure der Frankfurter Zeitung, die die Halbmonatszeitschrift Die Gegenwart (s. u.) herausgaben. Die Gespräche waren im Herbst 1956 durch ein sehr prinzipielles, 77 Vgl. Astrid von Pufendorf, Mut zur Utopie. Otto Klepper – ein Mensch zwischen den Zeiten, Frankfurt a. M. 2015, S. 232 ff. 78 Siegfried Blasche, Die Gründungen der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947 e. V. und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1949). Vortrag am 20. Oktober 2004 in den Räumen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, S. 5 (URL: http://wipog.de/Vorträge/). 79 Peter Hoeres, Neoliberalismus und Soziale Marktwirtschaft in der FAZ. Vom Ordoliberalismus bis zu den Reformen Thatchers und Reagans, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, Jg. 29, 2017, S. 265-281. 80 S. Kapitel II.4.3. 81 Karl Korn an Ernst Niekisch, 9.8.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c.
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von Benno Reifenberg verfasstes Schreiben der Herausgeber der Gegenwart an die Herausgeber der FAZ wieder in Gang gekommen. Hier ging es nicht um kaufmännische Fragen, sondern um die große Linie einer künftigen Frankfurter Zeitung, in der sich »eine Gruppe freiheitlich Gesinnter« zusammenfinden könnten; es bleibe die Frage, »ob es bei uns noch die minimale Zahl von Menschen gibt, die imstande und entschlossen sind, gegenüber dem immer höher anschwellenden totalitären Andrang – der nicht zum geringsten vom Staat selbst herkommt – für die grossen Ideen Europas zu wirken und zu kämpfen. Ich könnte auch mit der einfachsten Frage schliessen: Wollen wir einander vertrauen?«82 Im Namen der Herausgeber der FAZ verwarf Karl Korn die Idee, über eine künftige gemeinsame Frankfurter Zeitung zu sprechen. Man werde am neu gefundenen Namen festhalten, aber gleichzeitig die Tradition pflegen. Das Gegenangebot lautete, Benno Reifenberg in den Herausgeberkreis der FAZ aufzunehmen, während Wilhelm Hausenstein und Dolf Sternberger ständige Mitarbeiter und Berater werden sollten. Die übrigen Redakteure der Gegenwart würden »eingeladen, von Fall zu Fall« mitzuarbeiten. Verpackt war das Angebot in die subtile Drohung, andernfalls werde man ganz auf Beiträge der ehemaligen Redakteure der FZ von der Gegenwart verzichten.83 Als diese schließlich das Angebot annehmen mussten, triumphierte Friedrich Sieburg: »Morgen findet in Frankfurt die erste große Redaktionskonferenz mit den neuen Herren statt. ›Welche Wendung durch Gottes Fügung!‹ würde König Wilhelm gesagt haben. Ich kann nicht ohne Ironie an die Kommentare denken, die die Herren der ›Gegenwart‹ machten, als ich in die Niederungen der FAZ abstieg. – Nun ja, das Wichtigste ist ja wohl, daß alle zufrieden sind und daß für die Zeitung etwas Ersprießliches dabei herauskommt.«84 Eine Linienänderung der FAZ durch die Aufnahme der neuen Kollegen war allerdings nicht erkennbar, auch wenn Ernst Niekisch als ferner Beobachter eine Zunahme der »Regierungsfrömmigkeit« des Blattes wahrzunehmen glaubte.85 Während sich das tagesaktuelle Angebot für Intellektuelle im Vergleich zur Zwischenkriegszeit eher verringert hatte und häufig Sehnsucht nach vergangener Qualität geäußert wurde, avancierten politisch-kulturelle Wochenblätter nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem neuen wichtigen Schreibort für intellektuelle Publizisten. In diesen spiele sich die »eigentliche Diskussion um die großen politischen 82 Abschrift des Schreibens vom 28.9.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 6; als Zeichen dieses Vertrauens plädierte Reifenberg für die Wiederaufnahme der Tradition des nicht signierten Leitartikels, konnte sich damit aber nicht durchsetzen; vgl. zur Schlussphase der Verhandlungen Bussiek, Benno Reifenberg, S. 422 ff. 83 Karl Korn an Benno Reifenberg, 11.12.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 4. 84 Friedrich Sieburg an Max von Brück, 5.1.1959, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 85 Ernst Niekisch an Karl Korn, 7.12.1959, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 22 c.
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und weltanschaulichen Zeitfragen ab«,86 meinte der Publizistikwissenschaftler Wilmont Haacke. Auch wenn diese Auffassung übertrieben erscheint und den Blick auf die Zusammenhänge des intellektuellen Medienverbundes verstellt, markierte doch die Herausgabe von Wochenzeitungen eine wichtige Neuerung. Hier gab es keine Vorbilder aus demokratischer Zeit, sondern – mit Goebbels’ Intelligenzblatt Das Reich – lediglich aus den letzten Jahren des NS-Regimes. Das Reich hatte, um intellektuelle Leser anzuziehen, vor allem auf ein hochwertiges Feuilleton gesetzt. Überblickt man die Szene der tonangebenden Wochenzeitungen, wie sie sich in der Frühzeit der Bundesrepublik präsentierte, fällt zunächst die wichtige Rolle konfessionell gebundener Blätter auf, die drei der vier um 1950 maßgeblichen Titel anboten. Zwei Jahrzehnte später führten diese nur noch ein Schattendasein, während das einzige laizistische Organ – Die Zeit – zum unumstrittenen Leitmedium in seinem Sektor geworden war. Auf katholischer Seite erhielt ein Kreis um den seit 1925 vor allem im westlichen Ausland als Korrespondent arbeitenden Franz Albert Kramer (1900-1950) in der französischen Zone die Lizenz für den Rheinischen Merkur.87 Ursprünglich als Tageszeitung konzipiert und dreimal in der Woche mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren in Koblenz erscheinend, diktierte der Papiermangel den Übergang zum Wochenblatt. 1950 siedelte die Zeitung nach Bonn über. Föderalismus, westeuropäische Integration unter christlichem Vorzeichen, kultureller Antimodernismus und, spätestens 1948 erkennbar, ein deftiger Antibolschewismus, der bei Kramer persönlich in die 1920er Jahre zurückreichte, kennzeichneten die Linie des Blattes. Joseph Kardinal Höffner, der als Trierer Bischof den Gründungsprozess begleitete, hat das Programm des Rheinischen Merkur rückblickend skizziert: »Er wurde zu einem Bollwerk gegen die zersetzenden Tendenzen, die lautstark ihre Stimme erheben und die Fundamente, auf denen unsere Gesellschaft und unser Staat gründen, aus den Angeln zu heben versuchen.«88 Letztlich sollte der »Kampf gegen die Ideen von 1789, gegen die egalitäre und pluralistische Massendemokratie (…) in einer moderneren, an den Westen angelehnten Form des Kampfes gegen Bolschewismus und radikaldemokratische Ideen weitergehen.«89 In den ersten Jahren erlebte die Redaktion zahlreiche Wechsel, weil es offenbar schwer war, sich gegen den autoritären und unnahbaren Kramer zu behaupten, der 86 Wilmont Haacke, Politik, Kultur und Wirtschaft in den Wochenblättern der Bundesrepublik, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung, Jg. 27, 1981, S. 154-171, Zitat S. 154; vgl. ders., Deutsche Wochenblätter der Gegenwart, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40, 1979, S. 3-27. 87 Schmid, Journalisten, S. 79 f. 88 Grußwort Joseph Kardinal Höffner, in: 40 Jahre Rheinischer Merkur. Auszug aus der Jubiläumsausgabe des Rheinischen Merkur, Nr. 12, 15.3.1986, S. 9. 89 Guido Müller, Der Rheinische Merkur. Ein militantes christliches, konservativ-liberales und westliches Medium in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland (19461950), in: Grunewald/Puschner, Konservatives Intellektuellenmilieu, S. 273-293, Zitat S. 293.
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Mitarbeiter selbst in ihrer Privatsphäre gängelte.90 Nach dem plötzlichen Tod Kramers folgte ein kurzes Zwischenspiel mit Konrad Legat als Herausgeber. Legat, der Schwager von Kramer, starb 1952. Danach avancierte Otto B. Roegele, der bereits seit 1948/49 den Posten des Chefredakteurs innehatte, zum unangefochtenen Chef der Zeitung und zu einem der bekanntesten und wichtigsten katholisch-konservativen Publizisten der Bundesrepublik. Seine intellektuellen Einflüsse hatte er im katholischen Jugendbund Neudeutschland empfangen, der in der Zwischenkriegszeit bis zu einem Drittel der katholischen Gymnasiasten organisiert hatte und zu einem »Männerring« für Erwerbstätige sowie einem »Hochschulring« für den akademischen Nachwuchs erweitert worden war. Roegele, der sich nach 1945 ebenso wie Walter Dirks mit dem jungen Rainer Barzel anfreundete, ging es gemäß der intellektuellen Ideale von Neudeutschland um die Bildung katholischer »Ordnungsinseln im Chaos der Gegenwart«.91 Nicht das Volk, sondern Gott sei oberste Instanz und Ausgang aller Staatsgewalt; es gelte, institutionelle Sicherungen gegen den Totalitarismus der Massen zu schaffen. Dafür aber, und das machte den mitunter eifernden Ton der rechtskatholischen Intellektuellen aus, waren besonders jene Publizisten innerhalb des eigenen katholischen Lagers zu bekämpfen, die Konzepte eines ökumenischen Ausgleichs oder gar des Dialogs von Katholizismus und Sozialismus vertraten. Aus der Lektüre des Rheinischen Merkur der frühen 1950er Jahre gewinnt man geradezu den Eindruck, dass die Frankfurter Hefte von Eugen Kogon und Walter Dirks als Hauptfeind angesehen wurden (s. II.2.1). Die Verbindung zur rechtskonservativen protestantischen Wochenzeitung Christ und Welt war nur lose,92 man wusste voneinander als Protagonisten unterschiedli90 Vgl. die Erinnerungen von Vilma Sturm, Barfuß auf Asphalt, Köln 1981, S. 198 ff.; Guido Müller, Der Kreis um Franz A. Kramer und die Gründung des Rheinischen Merkur, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 316-342; ders., Der Rheinische Merkur. 91 Maria Löblich, Das Menschenbild in der Kommunikationswissenschaft. Otto B. Roegele, Münster 2004, S. 29 ff. (zur Prägung durch »Neudeutschland«); Erhard Schreiber, Otto B. Roegele. Eine biographische Skizze, in: Erhard Schreiber/Wolfgang R. Langenbucher/Walter Hömberg (Hrsg.), Kommunikation im Wandel der Gesellschaft, Festschrift für Otto B. Roegele, Konstanz ²1985, S. 373-378; Eduard Verhülsdonk, Lieber Publizist als Administrator, 40 Jahre »Rheinischer Merkur« mit Otto B. Roegele, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 14, 1988, S. 245-250; Klaus Große Kracht, Neudeutschland und die katholische Publizistik. Konfessionelle Elitenbildung und kommunikative Netzwerke 1945-1965, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Hans Manfred Bock), Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871-1963), Bern 2006, S. 483-505, Zitat S. 487; ders., Von der ›Rechristianisierung der Gesellschaft‹ zur ›sauberen Bewältigung der Realität‹. Wandlungen im Selbstbewusstsein katholischer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik, in: Kersting/Reulecke/Thamer, Die zweite Gründung, S. 133-152, hier S. 137 ff.; eine Bibliographie dieser Schlüsselfigur der katholisch-konservativen Publizistik bietet Walter Hömberg, Otto B. Roegele. Auswahlbibliographie 1945-2005, in: Communicatio Socialis, Jg. 38, H. 4, 2005, S. 425-443. 92 Briefe an und von Klaus Mehnert, Eugen Gerstenmaier, Giselher Wirsing, Hans Zehrer und anderen Akteuren der protestantisch-konservativen Seite finden sich im Privatnachlass von Otto B. Roegele nicht.
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cher Flügel der regierenden Unionsparteien. Innerhalb der katholisch-abendländischen Bewegung begab sich der Rheinische Merkur in eine zurückhaltend koordinierende Position; briefliche Kontakte zu deren führenden publizistischen Akteuren unterhielt Roegele kaum, obwohl in der Wochenzeitung Adolf Süsterhenn, Freiherr August von der Heydte, Otto von Habsburg, Robert Ingrim, Franz Herre und andere Protagonisten der Abendländischen Aktion und Abendländischen Akademie93 häufig zu Wort kamen; privilegierter Verbindungsmann war offenbar sein vertrauter Redaktionskollege Helmut Ibach, der zugleich (1947-1957) für Wort und Wahrheit schrieb und zeitweise die Zeitschrift Neues Abendland leitete. Wichtige Korrespondenzpartner fand Roegele in Theo Rombach, Lektor des Herder-Verlags, und zahlreichen Vertretern von Diözesen und katholischen Verbänden. Theodor Eschenburg hat das Profil des Rheinischen Merkur in den 1950er Jahren schlüssig zusammengefasst: »ausgeprägt föderalistisch mit betonter Anerkennung hierarchischer Autoritätsstruktur in Schule, Familie und Wirtschaftsbetrieben, im Prinzip parteienunabhängig mit besonderem, wenn auch nicht unkritischem Verständnis für die CDU/CSU, für die katholische Dogmatik, im ganzen positiv zur Amtskirche eingestellt, konservativ und antisozialistisch, skeptisch gegenüber der liberalen Partei«.94 Ob der redaktionelle Stil des Rheinischen Merkur sich gegenüber den ersten Jahren wandelte, mag dahingestellt bleiben. Anton Böhm bewarb sich jedenfalls 1952 – erfolgreich – um die Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs bei Roegele mit der »Abneigung gegen slawisch endlose Diskussionen« und der Zusicherung »absoluter sachlicher Übereinstimmung«.95 Das Interesse für den Rheinischen Merkur erwuchs nicht aus dem Feuilleton, sondern aus den markanten föderalistischen Konzeptionen von Paul Wilhelm Wenger, der als Außenpolitiker des Blattes zugleich die offiziöse Bonner Wiedervereinigungspropaganda mit seinen Plänen störte, die letztlich auf die Propagierung eines westlichen Separatstaats hinausliefen. Wenger, der es auf ein Titelbild des Spiegel schaffte und häufig zu Diskussionsrunden im Rundfunk und im Fernsehen eingeladen wurde, überwarf sich später restlos mit seiner Zeitung. Der Rheinische Merkur repräsentierte in den 1950er Jahren eben jene konservative Schicht begüterter und gebildeter Katholiken, die die soziale Basis von Adenauers politischer Hegemonie bildeten. Trotz mancher Kritik an der Bonner Politik 93 S. Kapitel II.2.1. 94 Theodor Eschenburg, Die Jahre der Besatzung. 1945-1949, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 165; vgl. Alfred Pressel, Der »Rheinische Merkur« und »Die Zeit«. Vergleichende Inhaltsanalyse zweier Wochenzeitungen von verschiedener weltanschaulicher Orientierung, Berlin 1968, S. 26 ff. 95 Anton Böhm an Otto B. Roegele, o. D. (1952), in: Nl. Otto B. Roegele, 1952; Otto B. Roegele, Plädoyer für publizistische Verantwortung, in: Dorsch-Jungsberger/Hömberg/ Schütz, Beiträge, S. 231-234.
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blieb es doch in den Augen der Öffentlichkeit das Blatt des Kanzlers.96 In der internen Ausarbeitung des Redakteurs Helmut Ibach hieß es: »Der ›Rheinische Merkur‹ sieht in der Regierung Adenauer gewiß kein Ideal, das der Kritik nicht mehr bedürfe. Er sieht aber in ihr immerhin das Höchstmaß des zur Zeit Erreichbaren, also mindestens das kleinste der möglichen Übel.«97 Nach einer Erhebung von 1956, die zur Vorbereitung einer gezielten Werbestrategie dienen sollte, ergaben sich aus einer Druckauflage von 70.000 Exemplaren 340.000 Leserinnen und Leser; die überwiegende Mehrheit der Leserschaft rechnete sich zur Oberschicht und war besser mit modernen Konsumgütern ausgestattet als der Bevölkerungsdurchschnitt; wichtigstes regionales Verbreitungsgebiet der Wochenzeitung war Nordrhein-Westfalen, zwei Drittel der Leser waren Männer, und zwei Drittel besaßen eine höhere Schulbildung.98 Aber eben dieses bildungsbürgerliche katholische Milieu öffnete und pluralisierte sich im zweiten Nachkriegsjahrzehnt zunehmend. Vermehrt evangelische Leser zu gewinnen, die regionale Enge des Rheinlandes zu überwinden und für ein jüngeres Publikum attraktiv zu werden, gelang nicht. Über ein Fünftel ging der Anteil von Protestanten an der Leserschaft nicht hinaus. Aufschlussreich erscheint die jährliche Anfrage einer Pension im Bayerischen Wald an den Vertrieb des Wochenblatts: »Bitte schicken Sie uns jetzt wieder für drei Monate fünf Exemplare Ihrer Zeitung, weil die Rheinländer auf Urlaub kommen.«99 Die in den 1950er Jahren auflagenstärkste Wochenzeitung, die dezidiert intellektuelle Ansprüche erhob, nannte sich Christ und Welt, wurde im Frühjahr 1948 in der US-Zone lizenziert, residierte in Stuttgart in einer alten Flakbaracke unweit der Zentrale des Evangelischen Hilfswerks in der Stafflenbergstraße und erschien erstmals am 6. Juni, also kurz vor der Währungsreform, mit dem Untertitel Ein Informationsblatt. Im Hintergrund standen die evangelisch-lutherische Württembergische Landeskirche, ihr deutschnationaler Bischof Theophil Wurm und der Leiter des Hilfswerks der Evangelischen Kirche und spätere hochrangige CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier,100 der bald alleiniger Herausgeber wurde. Als erster Chefredakteur fungierte der erfahrene Zeitungsmann Ernst A. Hepp, vor dem Krieg als Presseattaché an der deutschen Botschaft in Washington, danach in der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin, einer Durchgangsstation vieler Journalis96 Eckart Klaus Roloff, 60 Jahre »Rheinischer Merkur«. Eine Wochenzeitung zwischen Wandel und beständigen Werten, in: Communicatio Socialis, Jg. 40, 2007, S. 38-49, hier S. 42 f. 97 Helmut Ibach, Der »Rheinische Merkur«, übersandt von Wacht. Zentralorgan des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, 28.1.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 80. 98 Zusammenstellungen der Leserschaftsforschung 1956 der Arbeitsgemeinschaft Leseranalyse e. V., in: Nl. Otto B. Roegele, 1957 (K-Z); vgl. Christof Lenhard, Die Marktstrategien des Rheinischen Merkur und des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes. Eine ökonomische und historische Betrachtung, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Jg. 6, 1993, S. 467-496. 99 Peter Hertel, »Die Wacht am Rhein?« Der »Rheinische Merkur«, in: Thomas, Porträts, S. 237-256, Zitat S. 238. 100 Vgl. Daniela Gniss, Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906-1986. Eine Biographie, Düsseldorf 2005.
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ten der Bonner Republik. Hepp zog sich, in undurchsichtige Geschäfte verwickelt, bald nach Chile zurück.101 Ein Artikel von Gerstenmaier zum 80. Geburtstag des Landesbischofs trug zugleich programmatischen Charakter im Blick auf Christ und Welt: »Wir haben in diesen Blättern einmal von der Metamorphose des nationalen Bewusstseins der Deutschen geredet. Hier ist ein Fall, hier ist eine lebendige Gestalt des öffentlichen Lebens, an der wir zeigen können, was damit gemeint ist. Wer die Proteste Wurms gegen eine Reihe von Urteilen und die Vollstreckung dieser Urteile in Dachauer und Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als unwilliges Wiederaufleben des ungewandelten deutschen Nationalismus abzutun versucht, der hat daneben geschossen. Gewiss: In den Worten und Gebärden dieses ehrwürdigen deutschen Bischofs drückt sich auch das nationale Bewusstsein aus. Aber es ist unzweifelhaft jenes gewandelte Bewusstsein, das sich nicht zuerst von nationalen Interessen und Empfindungen bestimmen lässt, sondern von dem nach Gottes Gebot für recht und wahr erkannten. Deutschland wird leben, nicht weil es unser Nationalgefühl unter allen Umständen so will, sondern weil es nach Gottes Ordnung leben darf und so weit es unter Gottes Gebot bleibt.«102 Die Mehrheit der Anteile am Wochenblatt gelangte 1951 in den Besitz des Holtzbrinck-Konzerns.103 Die Charakterisierung der führenden Redakteure von Christ und Welt, Klaus Mehnert und Giselher Wirsing, als »lebenslänglich Konservative«104 ist zutreffend, aber doch zu allgemein, weil sich der Konservatismus der Zeit vor 1933 und nach 1945 grundlegend unterschied. Wie erwähnt, kannten sich Mehnert und Wirsing aus ihrer Zeit als konservative Revolutionäre, die mit erheblichem Engagement publizistisch unter dem NS-Regime gewirkt hatten. Ihre Wendung zu einem christlich begründeten elitären Konservatismus war das Eintrittsbillet in das professionelle Feld der Nachkriegspublizistik, allerdings nur deshalb, weil sie von wichtigen protestantischen Kreisen, die selbst wiederum der Konservativen Revolution nicht fern gestanden hatten, willkommen geheißen wurden. Die kirchliche Publizistik geriet deshalb zu einer effizienten Entbräunungsanstalt für NS-belastete Intellektuelle. So empfahl etwa der einflussreiche rechtskonservative Hans Schome101 Harpprecht, Schräges Licht, S. 135. 102 Eugen Gerstenmaier, Gottesfurcht, Reife, Mannesmut. Zum 80. Geburtstag des Landesbischofs Theophil Wurm am 7.12.1948, zit. nach Typoskript, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 089/1. 103 Vgl. Wilmont Haacke/Günter Pötter, Die politische Zeitschrift 1665-1965, Bd. II, Stuttgart 1982, S. 93 ff.; Hausgeschichtsschreibung bietet Ulrich Frank-Planitz, Die Zeit, die wir beschrieben haben. Zur Geschichte der Wochenzeitung »Christ und Welt«, in: Bruno Heck (Hrsg.), Widerstand – Kirche – Staat. Eugen Gerstenmaier zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 1976, S. 146-169; wissenschaftlich seriös dagegen Klaus Große Kracht, »Schmissiges Christentum«. Die Wochenzeitung »Christ und Welt« in der Nachkriegszeit (1948-1958), in: Grunewald/Puschner, Evangelisches Intellektuellenmilieu, S. 505-531. 104 Haacke/Pötter, Zeitschrift, S. 95.
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rus, den amtsenthobenen Rechtswissenschaftler Ernst Forsthoff, der von Anfang an sporadisch für die Wochenzeitung geschrieben hatte, als ständigen Mitarbeiter zu gewinnen, »um die Redaktion unseres Blattes in einer bestimmten Richtung auszuweiten«. Dort unterstützte man den Vorschlag wärmstens, denn er habe seit seiner Amtsenthebung »seine ungewöhnlichen schriftstellerischen und journalistischen Fähigkeiten« unter Beweis gestellt. Er werde »den richtigen Ton für unser Blatt nicht aus trügerischem Fingerspitzengefühl, sondern aus seinem christlichen Glauben finden«.105 Nachfolger von Hepp wurde Klaus Mehnert. Er berichtet in seinen Lebenserinnerungen im Kapitel »Schmissiges Christentum«, die Kennzeichnung hatte Theodor Heuss gebraucht, von einem Besuch dreier Redakteure des Wochenblatts im Frühjahr 1949, die ihn baten, als Chefredakteur zu fungieren. Zwei der Besucher, Wolfgang Höpker und Helmut Link, waren ihm aus gemeinsamer Arbeit bei den Münchner Neuesten Nachrichten 1934 gut bekannt. Sie schilderten die Probleme von Christ und Welt mit den alliierten Behörden, innerhalb der Redaktion und mit dem Verlag.106 Die Redakteure waren gerade von einem amerikanischen Presseoffizier vorgeladen worden, der ihnen eröffnet hatte, dass der Zeitung bei weiterer Unbotmäßigkeit wegen militaristischer und nationalistischer Tendenzen die Lizenz entzogen werden könne.107 Noch vier Jahrzehnte später erinnerte sich der damalige stellvertretende Chefredakteur Wolfgang Höpker stolz, dass man das alliierte Konzept der »Umerziehung der Deutschen« unterlaufen habe. Die Redakteure hätten damals ohne Gruß den Raum verlassen.108 Die misstrauische Beobachtung von Christ und Welt durch alliierte Stellen wird auch in einem Schreiben von Karl Silex, dem späteren Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel, an Gerstenmaier deutlich: »Lieber Herr Dr. Gerstenmaier, unmittelbar vor meiner Abreise nach Heidelberg wurde ich am Montag plötzlich noch einmal zum I.S.D. gerufen. Dort wurde mir mitgeteilt, dass ernsthafte Bedenken gegen mich entstanden seien wegen meiner angeblichen nationalistischen Tätigkeit in ›Christ und Welt‹, wobei auch die Politik des Hilfswerks erwähnt wurde. Ich befand mich in einer unangenehmen Lage. Es blieb mir aber, wie Sie ja verstehen werden, nichts anderes übrig, 105 Paul Gerhardt an Eugen Gerstenmaier, 21.1.1949, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 035/02. 106 Klaus Mehnert, Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981, Stuttgart 1981, S. 327 ff. 107 Vgl. »Nationalismus und Militarismus«. Ein Wort in eigener Sache, in: Christ und Welt, Jg. 2, 1949, Nr. 1; Vgl. auch: Ist »Christ und Welt« nationalistisch?, in: Christ und Welt, Jg. 1, 1948, Nr. 18. 108 Wolfgang Höpker, Vorstoß in den Nebel hinein. Zeitungsgründung inmitten einer zertrümmerten Landschaft, in: Christ und Welt, Jg. 21, 1968, Nr. 24; ders., Als der Weltgeist aus Stuttgart kam, in: 40 Jahre Rheinischer Merkur, S. 13-16, Zitat S. 13; eine Bestätigung für diese Heldengloriole gibt es nicht, aber sie wurde häufig kolportiert; vgl. Frank-Planitz, Zeit, S. 148.
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als auf die direkte Frage wahrheitsgemäß zu erklären, dass ich niemals in dieser Zeitschrift etwas geschrieben habe und niemals weder direkt noch indirekt etwas mit ihr zu tun gehabt hätte, abgesehen davon, dass ich schon in einer von mir angeforderten Stellungnahme zur Probenummer die Zeitschrift kritisiert und abgelehnt hätte.«109 Aber eben die inkriminierte Richtung und ihr Wirkungserfolg, die mit nationalistischen und rassistischen Ressentiments jonglierte, etwa in einer mehrteiligen Serie über die Sowjetunion,110 hatten Christ und Welt aus den Existenzsorgen nach der Währungsreform befreit und die Auflage von anfänglich 30.000 auf 75.000 Exemplare im April 1949 gesteigert. 1952 betrug die Auflage 48.000 und überschritt dann bis zum Ende des Jahrzehnts die 100.000-Grenze. Mehnert war nicht unvorbereitet gewesen, den angetragenen Posten zu übernehmen. Bereits im Januar 1949 war er deshalb von Gerstenmaier gefragt worden. In zwei Briefen hatte Wirsing, der zuvor bereits resigniert bemerkt hatte, es gebe »eben Leute, die nicht die Nerven haben, wenn Kamerad Clay mit den Augenbrauen zuckt, in aller Ruhe weiterzumachen«, die Anfrage an Mehnert begeistert begrüßt und bei seinem Freund dafür geworben: »wir machen daraus ein wirkliches und echtes Sprachrohr dessen, was in Deutschland gesagt werden muß – so wie es begonnen wurde und schließlich auch nicht von ungefähr Erfolg hatte«;111 Gerstenmaier, so Wirsing, habe den »Fehler gemacht, daß er das Blatt ohne wirklichen Chef hat treiben lassen«; es gebe nur eine Möglichkeit der Korrektur, wenn nämlich »eine wirkliche Persönlichkeit, die wiederum mit uns eng verbunden ist, in den Mittelpunkt tritt. Das konnten nach Lage der Dinge nur Sie sein.« Andernfalls werde Christ und Welt »ein gehobenes Pfarrerblatt werden und die schnell erworbene Auflage bald wieder verlieren«.112 Mehnert nahm den Posten des Chefredakteurs schließlich an. Und tatsächlich gelang es ihm, die Beziehungen zur amerikanischen Besatzungsmacht positiv zu gestalten, ohne deshalb den ebenso selbstmitleidigen wie aggressiven Ton in der Beschreibung des Schicksals der deutschen Bevölkerung im Krieg und der Glorifizierung der Wehrmacht aufzugeben. Verbrechen des Regimes wurden fast nie angesprochen und fielen – wenn überhaupt – in die Verantwortung von Hitler als »dämonischem Führer« und seinen Satrapen.113 Klaus Harpprecht, als junger Volontär in die Redaktion von Christ und Welt gekommen, schilderte Mehnert im 109 Karl Silex/Carl Pfeffer Verlag, Heidelberg an Eugen Gerstenmaier, 4.5.1949, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 035/02. 110 Sowjetasien – Arsenal der Weltrevolution, in: Christ und Welt, Jg. 2, 1949, Nr. 15, 16, 17, 19, 21; diese mit »er« gezeichnete Serie stammte wahrscheinlich von Giselher Wirsing; vgl. Schildt, Deutschlands Platz, S. 367. 111 Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 28.1.1949, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 7. 112 Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 5.2.1949, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 7. 113 Große Kracht, Schmissiges Christentum, S. 515 ff.
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Rückblick als »alerten und zu jeder Tages- und Nachtstunde wie geölt funktionierenden Journalist der ersten Rangreihe«, der aber wenig liebenswürdig gewesen sei und ihm Angst gemacht habe.114 Den Atlantikpakt begrüßte Christ und Welt als »Bestätigung des Abendlandes« und als Ende aller Illusionen über die »Vereinten Nationen«.115 Vor der ersten Bundestagswahl rief die Wochenzeitung zur Wahl einzelner konservativer Kandidaten auf, da es aktuell nicht möglich sei, eine eigenständige konservative Partei ins Leben zu rufen: »Man muß warten, bis sich die Instinkte beruhigt und die Wogen geglättet haben, damit den Anruf einer Rechtspartei die Menschen hören, denen er gilt. Ihre Zahl ist nicht gering.«116 Damit platzierte sich die Redaktion am protestantisch-konservativen Rand der Christdemokraten, Vorbehalte gegen das Grundgesetz und Sympathien für elitäre und autoritäre Verfassungsideen finden sich auch noch in den späteren 1950er Jahren.117 Erst allmählich rückte Christ und Welt zur staatstragenden Mitte der Union, namentlich Mehnert wurde zum immer wieder gefragten Berater des gleichaltrigen Eugen Gerstenmaier, den er seit seiner Stuttgarter Gymnasialzeit kannte.118 Für Giselher Wirsing, der seit 1948 verdeckt in der Redaktion mitarbeitete und das Blatt als Nachfolger Mehnerts von 1954 bis 1970 leitete, kam angesichts seiner schweren NS-Belastung eine exponierte Mitgliedschaft in der CDU nicht in Frage. Seit 1950 bezog im Übrigen auch der aus dem Tat-Kreis vertraute Ernst Wilhelm Eschmann ein kleines monatliches Pauschalhonorar, größere Artikel von ihm wurden mit 100 DM entlohnt. Mehnert und Wirsing trugen an ihn die dann letztlich nicht realisierte Idee heran, eine Berliner Ausgabe von Christ und Welt mit dem Titel Die Freiheit zu konzipieren.119 Auch der NS-belastete Hans-Georg von Studnitz gehörte zu den frühen Autoren des Blattes; 1961 wurde er nach längerer Unterbrechung als Pressechef der Deutschen Lufthansa sogar stellvertretender Chefredakteur. Von den jüngeren Redaktionsmitgliedern ist der bereits erwähnte, aus einem schwäbischen Pfarrhaus stammende Klaus Harpprecht zu nennen. Sein Vater war gut mit Eugen Gerstenmaier bekannt gewesen. Harpprecht hatte als Volontär 1948 begonnen und berichtete seit 1951 als Korrespondent aus Bonn. Später positionierte er sich allerdings eher im Feld der liberalen Westernisierer um den Monat und gehörte zum Umkreis des Sozialdemokraten Willy Brandt. Anfang der 1950er Jahre gab es aus wirtschaftlichen Gründen Pläne zur Erweiterung des Wochenblatts, die mit einer Verlegung nach München und einer Arbeitsgemeinschaft mit einer kleineren Tageszeitung auf dem Gebiet der Anzei114 115 116 117 118 119
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Harpprecht, Schräges Licht, S. 135. Bestätigung des Abendlandes, in: Christ und Welt, Jg. 2, 1949, Nr. 12. Die fehlende Rechtspartei, in: Christ und Welt, Jg. 2, 1949, Nr. 28. Große Kracht, Schmissiges Christentum, S. 524 ff. S. Kapitel II.2.3. Wolfgang Höpker/CuW an Ernst Wilhelm Eschmann, 2.10.1950, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann; die Korrespondenz mit den Redakteuren von Christ und Welt umfasst Dutzende von Briefen im Zeitraum 1950-1968.
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gen-Akquise verbunden sein sollte.120 Trotz positiver Auflagenentwicklung und Resonanz von Christ und Welt, der allenfalls ein renommiertes Feuilleton fehlte, war seit Mitte der 1950er Jahre von notwendigen »umfangreichen Einsparungen, einschließlich Entlassungen« die Rede, wie der davon überraschte Mehnert in einem Brief an Gerstenmaier vermerkte.121 Im Hintergrund stand offenbar das Misstrauen von Holtzbrinck und Gerstenmaier gegenüber Wirsing, der angeblich dem Wochenblatt nicht sein ganzes Engagement widme. Dieser wies dagegen darauf hin, dass es sein Verdienst sei, innerhalb von fünf Jahren die Auflage auf 120.000 Exemplare verdoppelt zu haben, obwohl in konkurrierende Blätter viel mehr investiert würde.122 Zum Beispiel könne es sich Christ und Welt nicht leisten, den jungen publizistischen Star Johannes Gross fest unter Vertrag zu nehmen.123 Die Auseinandersetzungen eskalierten 1959, als Wirsing eine längere Ostasienreise unternahm und in der Redaktion fehlte.124 Klaus Mehnert versuchte zwar zu vermitteln, er wünschte sich das Verhältnis zwischen Gerstenmaier und Wirsing »persoenlicher und waermer«, aber dies gelang nicht.125 Als Holtzbrinck wieder einmal einen »ueblen Brief« an Wirsing verfasst hatte, in dem er ihn »wie einen Lausejungen« ansprach, mahnte Mehnert: »Wirsing leistet fuer CuW ausgezeichnete Arbeit. Solange man nicht weiss, durch wen man ihn ersetzen kann, darf man ihn nicht so behandeln, dass er die Freude an der Arbeit verliert. Er ist einer der besten Publizisten, die wir heute in Deutschland haben, und ich weiss, dass man ihm von dritter Seite Angebote gemacht hat. Ein Ausscheiden Wirsings bei CuW wuerde ich für eine Katastrophe halten.«126 Das zerrüttete Binnenverhältnis ließ sich zwar nicht mehr reparieren, aber gleichwohl leitete Wirsing das Wochenblatt durch die 1960er Jahre hindurch, nun allerdings mit schwindender Resonanz.
120 Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 16.3.1951 (beiliegend »Vorschlag einer Arbeitsgemeinschaft Christ und Welt und Münchner Allgemeine«), in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 13. 121 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 8.10.1955, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 23. 122 Giselher Wirsing an Eugen Gerstenmaier, 10.7.1959, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 42. 123 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 4.11.1959, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 42. 124 Eugen Gerstenmaier an Klaus Mehnert, 27.11.1959, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 42. 125 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 30.4.1959, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 42. 126 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, Datum unleserlich (1961), in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 52.
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Das norddeutsche Pendant von Christ und Welt war das im gleichen Jahr etwas früher – erstmals am 1. Februar 1948 – erschienene Sonntagsblatt,127 das vom hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje herausgegeben und von Hans Zehrer geleitet wurde. Der Sitz der Redaktion befand sich in Hamburgs feinem bürgerlichen Viertel Harvestehude, im Mittelweg 111. Wie bei Christ und Welt wurde im Impressum zunächst nur der Herausgeber, Hanns Lilje, genannt. Erklärtes Ziel der Wochenzeitung war eine evangelische Initiative im intellektuellen Raum in der »Tradition protestantischer Weltzuwendung«; von vornherein sollte das Blatt über den kirchenpublizistischen Bezirk hinaus wirken, als eine »Wochenzeitung neuen Typs«.128 Dazu setzte Lilje auf die Zusammenarbeit von Hans Zehrer als Chefredakteur und dem jungen Heinz Zahrnt (1915-2003), seit November 1951 religiöser Leiter der Zeitung.129 Aber zwischen den beiden führenden Redakteuren gab es Spannungen, zumal Hans Zehrer sich selbst für theologisch genug gebildet hielt und Heinz Zahrnt im Gegensatz zu Lilje und Zehrer theologisch eine eher liberale Linie vertrat.130 Offener Streit wurde allerdings nur ausnahmsweise ausgetragen; beide hätten einen Auftrag beim Sonntagsblatt, so Zehrer: »Lassen Sie uns also gemeinsam aus diesem Auftrag das Beste zur Ehre Gottes machen.«131 Das Redaktionsprogramm, das in seinen Grundzügen bereits ein Jahr vor dem erstmaligen Erscheinen festgelegt worden war, zeichnete sich im Gegensatz zu Christ und Welt durch eine scheinbar apolitische Haltung aus, die Zehrers religiösen Schriften entsprach. Sie konnte ebenso als Protest gegen die Machtlosigkeit der Deutschen nach dem Krieg wie als Plädoyer für die Notwendigkeit gelesen werden, 127 Seit 1967 erschien die Wochenzeitung unter dem Titel Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, bereits 1954 war der Untertitel Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Wirtschaft hinzugefügt worden. 128 Ronald Uden, Hanns Lilje als Publizist. Eine Studie zum Neubeginn der kirchlichen Nachkriegspublizistik, Hannover 1998, S. 85 ff., Zitate S. 88, 97; unergiebig dagegen die umfangreiche theologische Dissertation von Johannes Jürgen Siegmund, Bischof Johannes Lilje, Abt zu Loccum. Eine Biographie. Nach Selbstzeugnissen, Schriften und Briefen und Zeitzeugenberichten, Göttingen 2003. 129 Heinz Zahrnt, 1949 in Heidelberg mit einer Arbeit über Luthers Geschichtsauffassung promoviert, übte von 1946 bis 1951 das Amt des Hochschulpfarrers in Kiel aus; mit Wirkung vom 1.11.1951 erfolgte sein Übertritt zur hannoverschen Landeskirche und die Beurlaubung »für den Dienst bei der Redaktion des Sonntagsblatts in Hamburg« (Ev.-luth. Landeskirche Hannover/Landeskirchenamt an Heinz Zahrnt, 23.10.1951, in: Nordelbisches Kirchenarchiv (NEK), Nl. Heinz Zahrnt, 3; Zahrnt war ursprünglich nur als Zwischenlösung für den früheren Braunschweiger Domprediger Hans Schomerus gedacht, der bis 1951 in dieser Funktion bei der Christ und Welt wirkte, aber nicht wie gewünscht zum Sonntagsblatt kam, sondern den Posten des Leiters der Evangelischen Akademie der Badischen Landeskirche übernahm; zu Netzwerken der Evangelischen Akademien der 1950er Jahre vgl. Rulf Jürgen Treidel, Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung, Stuttgart 2001. 130 Uden, Hanns Lilje, S. 113 ff. 131 Hans Zehrer an Heinz Zahrnt, 27.5.1951, in: NEK, Nl. Heinz Zahrnt, 14.
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zunächst eine grundsätzliche Bestimmung der Gegenwart zu liefern, bevor man sich wieder dem Tagesgeschäft der Politik widme.132 Dazu passten die spärlichen Aussagen im internen Plan zu »Feuilleton und Roman«. Diese dürften »niemals zum blossen Unterhaltungsteil herabsinken. In ihnen muss der Wille zur Selbstbesinnung, Reinigung und geistiger (sic) Neuformung besonders spürbar sein. Hier wäre z. B. als erstes eine Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus zu führen. Vorschläge: Aufsatzreihe im Sinne oder von Ernst Jünger über Friedrich Nietzsche.«133 Das Sonntagsblatt hatte einen massiven Auflageneinbruch durch die Währungsreform hinzunehmen. Wenn Zehrer gegenüber Gerstenmaier behauptete, man steuere im Herbst 1948 wieder eine Auflage von 60.000 Exemplaren an, so entsprach dies nicht den Tatsachen.134 Tatsächlich hatte sich die Auflage vom Juni bis zum August 1948 auf 43.000 Exemplare halbiert. Die Talsohle war mit 38.000 Exemplaren erst 1950 erreicht worden.135 Ende 1950 kam es zu Gesprächen über eine Zusammenführung von Christ und Welt und Sonntagsblatt. Auf der württembergischen Seite saßen Mehnert und Gerstenmaier, auf der hannoverschen der Landesbischof Hanns Lilje und Hans Zehrer. Gravierende inhaltliche Differenzen lagen nicht vor. Allerdings unterschied sich der aggressive politische Stil von Christ und Welt deutlich vom scheinbar politisch abstinenten Duktus des Sonntagsblatts. Die Gespräche scheiterten letztlich, weil Lilje und Zehrer aus württembergischer Sicht das Konkurrenzblatt aufkaufen wollten, während Mehnert und Gerstenmaier an eine gleichberechtigte Fusion gedacht hatten, »von der wir uns eine starke publizistische Wirkung im deutschen Protestantismus und darüber hinaus erhofft hatten«.136 Dahinter stand allerdings mehr als ein publizistisches Konzept. Zehrer schwebte, wie er in einer Denkschrift offenbarte, eine Art elitärer evangelischer Männerorden als ordnendes Zentrum vor. Vorgeschrieben werden sollten für diese »Loccumer Kapitel« eine feste tägliche Gebetsordnung und vierteljährlich eine mehrtägige Klausur. Aus dieser Idee entstand später der Kronberger Kreis als informelles protestantisches Netzwerk.137 Dass man sich zwischen Hannover und Stuttgart offenbar über den Führungsanspruch nicht einig wurde, bedeutete keineswegs den Abbruch der Gespräche. Versuche zur ge132 Vgl. »=« (= Hans Zehrer), Das Ende des Politischen, in: Sonntagsblatt, Jg. 1, Nr. 1, 1.2.1948. 133 Zit. nach Uden, Hanns Lilje, S. 101. 134 Hans Zehrer an Eugen Gerstenmaier, 10.9.1948, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 036/2. 135 Uden, Hanns Lilje, S. 118. 136 Klaus Mehnert an Hans Zehrer, 21.1.1951, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 036/2; zu den Differenzen zwischen Lilje und Gerstenmaier vgl. Uden, Hanns Lilje, S. 88 ff. 137 Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises, München 1999, S. 74-76.
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meinsamen Strategiefindung durchzogen die gesamten 1950er Jahre, so lud Zehrer etwa Mehnert, Wirsing, Höpker und andere langjährig Bekannte in das noble Hamburger Restaurant des Hotels Vier Jahreszeiten zum Mittagessen, um ein ausführliches »Gespräch über die politische Linie fuer 1956« zu führen.138 Nach Zehrers Weggang zur Welt übernahm Axel Seeberg, der von Anfang an sein Stellvertreter gewesen war, 1953 die Chefredaktion des Sonntagsblatts bis zum Ende der 1960er Jahre. Zwar konnte er keine vergleichbaren Akzente setzen, aber die Auflage stieg zunächst von 46.000 im Jahr von Zehrers Weggang auf 58.000 schon zwei Jahre später.139 Es wäre naheliegend, aber dennoch irreführend, die Geschichte der Wochenzeitung Die Zeit, dem vierten Blatt in dieser Sparte um 1950, von der Gegenwart her als linearen Erfolgsweg zu beschreiben. Im Gründungsjahrzehnt der Bundesrepublik mit ähnlicher Auflage wie ihre christlich-konservative Konkurrenz ausgestattet, setzte die Zeit erst danach zum Höhenflug an, während Rheinischer Merkur, Christ und Welt und Sonntagsblatt seit den 1960er Jahren stagnierten, fusionierten und schließlich aufgegeben wurden. Dass die Erfolgsbahn erst Mitte 1950er Jahre beschritten wurde, als die konservative Ausrichtung zugunsten linksliberaler Tendenzen in den Hintergrund trat, ist in einer rückblickenden Darstellung aus dem Hause selbst betont worden. Allerdings waren die Anfänge noch viel weiter von dem liberalen Selbstbild entfernt, als lange kolportiert.140 Gedacht war das Blatt, das seit 1946 erschien, zunächst als Ersatz für die noch nicht wieder angelaufene Buchproduktion zur Befriedigung der Lesebedürfnisse der »gebildeten« Deutschen. Die Lizenz des lokalen Militärgouverneurs für die Wochenzeitung hatten vier Männer erhalten: Der älteste, Richard Tüngel (1893-1970), hatte vor 1933 als Oberbaudirektor in Hamburg gearbeitet und sich während der NS-Zeit als freier Journalist in Berlin über Wasser gehalten; Lovis H. Lorenz (1898-1976), studierter Kunsthistoriker, hatte bis zu deren Einstellung 1944 die Illustrierte Die Woche im Scherl-Verlag herausgegeben; Ewald Schmidt di Simoni (1898-1980), gelernter Verlagskaufmann, war im »Dritten Reich« als Vertriebsleiter im Frankfurter Societätsverlag sowie bei DuMont in Köln tätig gewesen; den Krieg hatte er als Marineoffizier erlebt; der Jüngste im Gründungsquartett war Gerd Bucerius, der als Anwalt während der 138 Klaus Mehnert an Wolfgang Höpker, 10.1.1956, sowie der Dank von Klaus Mehnert an Klaus Zehrer, 24.1.1956, beide in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 24. 139 Vgl. Uden, Hanns Lilje, S. 118. 140 Karl-Heinz Janßen, Die Zeit in der Zeit. 50 Jahre einer Wochenzeitung, Berlin 1995, S. 11; ders./Haug von Kuenheim/Theo Sommer, Die Zeit. Geschichte einer Wochenzeitung 1946 bis heute, München 2006; vgl. Matthias von der Heide/Christian Wagener, »Weiter rechts als die CDU«. Das erste Jahrzehnt der »Zeit«, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 165-184; Axel Schildt, Immer mit der Zeit. Der Weg der Wochenzeitung DIE ZEIT durch die Bonner Republik – eine Skizze, in: Christian Haase/Axel Schildt (Hrsg.), »DIE ZEIT« und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 9-27 (dort detaillierte Hinweise zur zeithistorischen Forschung); vgl. Frank Bajohr, Hanseat und Grenzgänger. Erik Blumenfeld. Eine Biographie, Göttingen 2010.
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NS-Zeit mit bemerkenswerter Courage bedrängte Juden verteidigt hatte. Er war der einzige, der einen wirklich »blütenweißen Fragebogen« vorweisen konnte.141 Die graphische Gestaltung der Zeit hatte unausgesprochen ein Vorbild, nämlich das ruhige Layout von Goebbels’ Wochenzeitung Das Reich, deren letzte Ausgabe gerade erst zwei Jahre zurücklag. Da diese sich aber ihrerseits am britischen Observer orientiert hatte, konnte das neue Blatt auch als Öffnung zu westlichen Pressetraditionen gelten. Die zunächst auf 25.000 Exemplare limitierte Auflage hatte sich bis zur Währungsreform verdreifacht. Als Organ des kulturprotestantischen Teils des deutschen Bildungsbürgertums stand das Blatt in Konkurrenz zu den evangelischen Sonntagszeitungen rechts von der Mitte, die Liberalität der Zeit war nationalliberal imprägniert nach Art der nur bedingt demokratischen Deutschen Volkspartei der Weimarer Republik. In diesem Sinne ist die rückblickend getroffene Aussage der Zeit-Redaktion einzuordnen: »Wir beschlossen, als wir die Zeit gründeten, deutsch zu sein.«142 Auf dieser nationalen Linie trafen sich die Redakteure der Zeit 1946/47 am Speersort im halbzerstörten Hamburger Pressehaus: die »Zeit-Familie«, darunter Josef Müller-Marein (1907-1981), Starreporter der 1930er Jahre, dessen kriegsverherrlichende Texte im »Dritten Reich« erst Jahrzehnte später öffentlich diskutiert wurden. Erwin Topf (1898-1981), ehemals Mitarbeiter des Berliner Tageblatts und der Weltbühne, wurde Leiter der Wirtschaftsredaktion. Ernst Friedlaender (18951973), Sohn einer jüdischen Arztfamilie aus Breslau, war nach abgebrochenem Studium mit seinen Eltern 1929 in die USA emigriert und hatte sich nach einer erfolgreichen Karriere als Wirtschaftsmanager in der Schweiz und Liechtenstein angesiedelt. Nur er konnte für sich beanspruchen, von Anfang an eine westlichdemokratische Orientierung vertreten zu haben.143 Allerdings resignierte der stellvertretende Chefredakteur bereits 1950, weil er mit seiner Position in der Zeit nicht durchdrang. Befreundet mit Friedlaender war die junge Volontärin Marion Gräfin Dönhoff, die sich als Frau unter den vielen älteren männlichen Kollegen rasch eine anerkannte Position eroberte. Aber Topf, der 1936 seinen Beruf aufgegeben hatte, Friedlaender, der aus dem Ausland zurückkehrte, und Dönhoff als Berufsanfängerin bildeten eine Minderheit. Von den Journalisten der Zeit in den Jahren 1946 bis 1949 hatte die Mehrheit (beide Chefredakteure, fünf von zehn Redakteuren, 11 von 19 Mitarbeitern) in nationalsozialistischen Blättern, meist in Berlin, geschrieben, sie gehörten in aller Regel den Geburtsjahrgängen der wilhelminischen Zeit an.144 141 Bucerius, selbst mit einer Jüdin verheiratet, hatte als Anwalt immer wieder jüdische Verfolgte verteidigt und seinem Freund Erik Blumenfeld, später Bürgermeister der Hansestadt (CDU), nach Stationen in Auschwitz und Buchenwald am Ende des Krieges zur Flucht aus dem Hamburger Gestapo-Gefängnis verholfen; vgl Bajohr, Erik Blumenfeld, S. 43 f. 142 Fünf Jahre Zeit, in: Die Zeit, 22.2.1951, zit. nach Schildt, Immer mit der Zeit, S. 15. 143 Ernst Friedlaender, Klärung für Deutschland. Leitartikel in der Zeit 1946-1950. Hrsg. von Norbert Frei und Franziska Friedlaender, München/Wien 1982. 144 Vgl. Sonntag, Medienkarrieren, S. 114 ff.
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Im Vergleich zu anderen Redaktionen war zwar ein geringerer Teil durch eine Mitgliedschaft in der NSDAP belastet. Aber schon den ersten Chefredakteur, Ernst Samhaber (1901-1974), holte seine braune Vergangenheit nach wenigen Monaten ein. Der Deutsch-Chilene, der bis 1944 als Südamerikakorrespondent für die Deutsche Allgemeine Zeitung und Das Reich fanatische Durchhalteappelle verfasst hatte, war mit dem letzten Schiff aus Buenos Aires in die Heimat zurückgekehrt. Als er von der britischen Besatzungsmacht abgesetzt wurde, folgte Richard Tüngel, dessen nationalistische Ausfälle gegen die Besatzungsmacht noch radikaler waren. Er bezeichnete die Absetzung Samhabers in seinem ersten Leitartikel als »blanken Willkürakt«.145 Der Anspruch, eine wahrhaftige freie Stimme im Deutschland nach Hitler zu erheben, bezog sich, ähnlich wie bei Christ und Welt, vor allem auf die Kritik aller Bemühungen der Besatzungsmächte um eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Die erste Nummer der Zeit enthielt »kein Wort von Hitler, vom Nationalsozialismus, von Verbrechen«.146 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass über elf der Nürnberger Nachfolgeprozesse für die Zeit und andere Blätter ausgerechnet Hans-Georg von Studnitz (1906-1993) berichtete. Zur Zeit des ersten Prozesses hatte er noch selbst in Haft gesessen. Studnitz, im »Dritten Reich« zuletzt Angehöriger der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes, SD-Mitarbeiter und Verfasser etlicher antisemitischer Artikel, focht in polemischem Ton für die Angeklagten und gegen die Ankläger.147 Die Kampagnen für eine Generalamnestie der deutschen Kriegsverbrecher wurden von der Zeit im Gleichklang mit Christ und Welt und anderen Presseorganen vorgetragen. Dass Marion Dönhoff sich mit Studnitz 1950 zerstritt, hatte andere Gründe, die nichts mit der Vergangenheitspolitik zu tun hatten.148 Der deutschnationale Ton der Geschichtspolitik reichte bis ins Feuilleton der Zeit, das von 1948 bis 1955 von Walter Abendroth (1896-1973) geleitet wurde. Vorgänger von Abendroth war Müller-Marein gewesen, der selbst unter dem Pseudonym Jan Molitor schrieb. Er hatte Abendroth für die Wochenzeitung gewonnen. Der durch antisemitische Artikel vorbelastete Musikkritiker argumentierte gegen den Faustus-Roman von Thomas Mann, dieser stigmatisiere die »sehr gesunde, starke und geistig nüchterne Musik« der Deutschen als »Heuchelei und Betrug«, 145 Richard Tüngel, Ohne Recht, in: Die Zeit, 15.8.1946; Samhaber berichtete seit 1949 wieder für die Zeit aus Lateinamerika; vgl. Schildt, Immer mit der Zeit, S. 17. 146 Janßen/Kuenheim/Sommer, Die Zeit, S. 92 ff., Zitate S. 93. 147 Hans-Georg von Studnitz, Seitensprünge. Erlebnisse und Begegnungen 1907-1970, Stuttgart 1975, S. 287; Nils Asmussen, Hans-Georg von Studnitz, Ein konservativer Journalist im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 45, 1997, S. 75-119; Jürgen Hagenmeyer, Hans-Georg von Studnitz und die Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse in der liberalkonservativen Presse der Nachkriegszeit, unveröff. Magisterarbeit Universität Hamburg 2000. 148 Hans-Georg von Studnitz an Gräfin Marion Dönhoff, 16.2.1950; Marion Gräfin Dönhoff an Hans-Georg von Studnitz, 23.2.1950, in: Axel Springer Unternehmensarchiv (ASU), Nl. Hans-Georg von Studnitz, 14.2.
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woraufhin dieser ihn als »gehässigen Esel« titulierte.149 Auch Paul Fechter, ein vormals begeisterter Hitler-Anhänger,150 gehörte zum Feuilleton, als häufiger Autor trat Friedrich Sieburg auf. Die Pointe bestand darin, dass ausgerechnet dieser 1954 mit einer »großartigen Rezension des Hochstapler-Romans ›Felix Krull‹ die Dinge wieder ins Lot« brachte.151 Sieburg wurde häufiger zur Blattkritik in die Redaktion geladen, er galt als enger Berater von Bucerius. Im Übrigen besaß das Feuilleton der Zeit keineswegs eine hermetische Grundtendenz. Neben vielen konservativen Publizisten konnte auch Kurt Hiller hier gelegentlich Texte unterbringen, etwa eine gewohnt witzige Sprachkritik des Grundgesetzes oder ausgewählte Aphorismen; 1958 kam es zum Bruch, weil einige seiner Verse vom neuen Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt als »ein bißchen zu einseitig polemisch« abgelehnt wurden.152 Der deutschnationale Kurs der Zeit wurde keineswegs nur von oben, von den Chefredakteuren Samhaber und Tüngel, vorgegeben, sondern von fast allen Redakteuren getragen, bis 1950/51 auch von Dönhoff, die sich nach dem Weggang Friedlaenders neutral verhielt. In der Deutschlandpolitik, dem großen Thema der frühen Bundesrepublik, gab es sicherlich Differenzen, etwa zwischen dem Adenauer-Anhänger Bucerius, der als Bundestagsabgeordneter für die Wiederaufrüstung eintrat, gleichwohl als Verleger seinen Chefredakteur Tüngel gewähren ließ, der sich 1950 gegen eine eigene Armee, aber für ein langfristiges Verbleiben der Amerikaner aussprach. Allerdings war Tüngel in seinen außenpolitischen Vorstellungen äußerst sprunghaft und vertrat keine konsistente Linie.153 Erst Mitte der 1950er Jahre befreite sich die Zeit von nationalliberalen Schlacken und wurde zu einem Zentralorgan der bundesdeutschen Westorientierung und später auch der gesellschaftlichen Liberalisierung (s. II.4.1). Die – zeitweise – linksliberale Linie verband sich mit einem großen geschäftlichen Erfolg. 1961, die Zeit nannte sich im Untertitel Das deutsche Weltblatt, gedruckt in Buenos Aires, Hamburg, Johannesburg und Toronto, wurde erstmals die Auflage von 1950 übertroffen, 1963 konnte Christ und Welt als Marktführer abgelöst werden. Die Zeit wurde damit – und blieb – unumstrittene Nr. 1 unter den Wochenzeitungen. Der Aufstieg der Zeit vollzog sich parallel zu dem eines weiteren Hamburger Presseorgans, des »Nachrichtenmagazins« Der Spiegel, der allerdings nur bedingt unter jene Medien zu rechnen ist, von denen sich bildungsbürgerliche Schich149 Janßen, Zeit, S. 91. 150 Vgl. die Charakterisierung bei Boveri, Verzweigungen, S. 306; zu Kurt Hillers Kampf gegen Fechters Nachkriegsaufstieg s. Kapitel II.3.3. 151 Janßen/Kuenheim/Sommer, Die Zeit, S. 94. 152 Kurt Hiller, Das Grundgesetz als Prosastück, in: Die Zeit, 16.6.1949 (das Honorar betrug 220 DM); Josef Marein an Kurt Hiller, 19.5.1949; Kurt Hiller an Marion Gräfin Dönhoff, 27.2.1951; Walter Abendroth an Kurt Hiller, 2.3.1951, 30.4.1951; Marion Gräfin Dönhoff an Kurt Hiller, 7.3.1951; Rudolf Walter Leonhardt an Kurt Hiller, 1.7.1958, in: Kurt Hiller Archiv, Nl. Kurt Hiller, DIE ZEIT. 153 Alexander Gallus, Deutschlandpolitische Querdenker in einer konservativen »Zeit« – die ersten beiden Chefredakteure Samhaber und Tüngel 1946-1955, in: Haase/Schildt, DIE ZEIT, S. 225-244.
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ten geistig-kulturelle Orientierung versprachen, und zu den Redakteuren zählten nur wenige dezidiert intellektuelle Publizisten. Der Anspruch von investigativem und regierungskritischem Journalismus, der auf boulevardeske Skandalisierung aus war, vertrug sich eigentlich nicht mit elaborierten differenzierten Beiträgen. Wichtiger als Inhalte waren pointenreiche, gekonnt vereinfachte und gut verpackte »Storys«.154 Gleichwohl pflegte der Spiegel von Anfang an einen intellektuellen Habitus, den vor allem der Besitzer, Verleger und Chefredakteur Rudolf Augstein verkörperte. Es waren der respektlose Ton, der saloppe Sprachstil und der nonkonformistische Duktus der Artikel, die den Spiegel zum erfolgreichsten Oppositionsblatt gegen die Bonner Politik und noch mehr gegen den obrigkeitsstaatlichen Regierungsstil der Adenauer-Ära machten.155 Augstein, der 1947 mit 24 Jahren die Lizenz für das Blatt erhielt, hatte von 1942 bis zum Kriegsende an der Ostfront als Soldat in der Wehrmacht gedient, journalistische Erfahrungen besaß er nicht, abgesehen von kurzen Volontariaten bei hannoverschen Zeitungen. Sein spezieller Part waren in den 1950er Jahren seine mit dem Pseudonym Jens Daniel gezeichneten Kommentare, die einen nationalneutralistischen Kontrapunkt gegen die Westorientierung Adenauers setzten.156 Dort war er dementsprechend herzlich unbeliebt.157 Allerdings wäre es ein Missverständnis, daraus zu folgern, der Spiegel sei in den 1950er Jahren links gewesen.158 Augstein, der 1955 in die FDP eintrat, war nationalliberal, in seiner Redaktion sammelte sich eine Reihe hochrangiger SS- und SDAngehöriger, die als Experten für die geschichtspolitischen Serien fungierten, die sehr zum Erfolg des Spiegel beitrugen.159 Das Kulturressort des Nachrichtenmagazins war klein, aber immerhin wurden, im Stil sonstiger »Storys«, auch große Literaten, Philosophen oder Wissenschaftler einem breiteren bildungsbürgerlichen Publikum vorgestellt. Als äußerst erfolgreich erwies sich die Einführung von Bestsellerlisten Anfang der 1960er Jahre.160 Anders als fast alle anderen Printmedien expandierte der Spiegel, der 1947 mit einer bescheidenen Auflage von 15.000 Exemplaren erstmals herausgekommen war, über die Währungsreform hinweg. 1952 wurden im Durchschnitt 112.000 Hefte verkauft, 1959 hatte sich die Auflage auf fast 330.000 Exemplare verdreifacht. Wer sich als Leser des Blatts zu erkennen gab, galt vielen als Intellektueller. 154 Vgl. Leo Brawand, Die Spiegel-Story. Wie alles anfing, Düsseldorf u. a. 1987. 155 Vgl. Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Biographie, München 2007. 156 Gesammelt in der Broschüre: Jens Daniel, Deutschland – ein Rheinbund? Kommentare zur Zeit, Darmstadt 1953; vgl. Rudolf Augstein, Schreiben, was ist. Kommentare, Gespräche, Vorträge. Hrsg. von Jochen Bölsche, Hamburg 2003. 157 Hodenberg, Konsens, S. 220 ff. 158 Vgl. bereits die frühe Kritik von Erich Kuby, Wie die Welt sich so spiegelt … Rudolf Augstein und sein Nachrichtenmagazin, in: Frankfurter Hefte, Jg. 8, 1953, S. 519-538. 159 Hachmeister, Nachrichtenmagazin; ders., Gegnerforscher, S. 316 ff.; ders. Heideggers Testament. Der Philosoph, der Spiegel und die SS, Berlin 2014, S. 97 ff. 160 Erstmals am 18.10.1961 und von Anfang an geteilt in »Belletristik« und »Sachbücher«.
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Das nonkonformistische Image des Spiegel war zum Markenzeichen geworden, wie ein Insider unumwunden zugab: »Nur wenn der Spiegel seinen Ruf als ›Blatt des militanten Nonkonformismus‹ (›Le Monde‹, Paris) behält und so eine bestimmte qualifizierte Schicht von Lesern immer wieder neu zum Kauf anreizt, bleibt er für die jetzt inserierende Wirtschaft interessant.«161 Die Aufdeckung politischer Skandale und die plumpe obrigkeitsstaatliche Reaktion der Regierung darauf, als sie im Oktober 1962 rechtswidrig die Besetzung der Hamburger Redaktion anordnete, sollten zum Fanal für den Kampf linker Intellektueller gegen die Bonner Politik werden (s. Kapitel III). Der Spiegel verstand es, wie der rechtskonservative Publizist Caspar von Schrenck-Notzing rückblickend notierte, »›Moniteur‹ des neuen Zeitgeistes und seiner Abräummanöver« zu werden.162 Festzuhalten bleibt gleichwohl: Im Segment der wöchentlich erscheinenden Blätter bestand in der Gründungsphase der Bundesrepublik eine noch eindeutigere konservative Hegemonie als bei den Tageszeitungen.
4.3 Vom Zeitschriftenfrühling zum Zeitschriftenmarkt der Bundesrepublik In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierte im intellektuellen Diskurs – neben dem Radio – zunächst nicht das Buch und auch nicht das Feuilleton der Tages- und Wochenpresse, sondern der »Typ der kulturpolitisch-literarisch-politischen Halbmonats-, Monats- oder Zweimonatsschrift«.163 Eine Fülle solcher Zeitschriften wurde bereits in den ersten beiden Nachkriegsjahren gegründet; um sie gruppierten sich namhafte Intellektuelle. Im November 1945 erschien erstmals Die Wandlung, in Heidelberg herausgegeben von Dolf Sternberger, Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber, ein wahrhaft pluralistisches Projekt;164 einen Monat später 161 Hans Dieter Jaene, Der Spiegel. Ein deutsches Nachrichten-Magazin, Frankfurt a. M. 1968, S. 10. 162 Caspar von Schrenck-Notzing, Der Spiegel. Sturmgeschütz der Demokratie?, in: Criticón 19 (107), 1988, S. 121-124, Zitat S. 122. 163 Wilfried Barner, Disziplinierung, Restauration, neue Freiheiten: Literarisches Leben im Westen (Westzonen, Bundesrepublik, Österreich, deutschsprachige Schweiz), in: ders., Geschichte, S. 3-30, Zitat S. 12. 164 Das betrifft nicht allein das politische Spektrum vom marxistischen Widerstandskämpfer Werner Krauss und dem Emigranten Karl Jaspers bis zum liberalen Gelehrten Alfred Weber, von dem einige konservativ-revolutionäre Intellektuelle promoviert worden waren, und dem im »Dritten Reich« publizistisch durchaus aktiven Dolf Sternberger; auch persönlich war die Beziehung zwischen Jaspers und Sternberger über Jahrzehnte hinweg nicht spannungsfrei, seit dieser 1931 Jaspers’ »Geistige Situation der Zeit« abschätzig rezensiert hatte; vgl. Karl Jaspers, Korrespondenzen. Politik. Universität. Hrsg. von Carsten Dutt und Eike Wolgast, Göttingen 2016, S. 621-815, bes. S. 629.
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folgte in Frankfurt Die Gegenwart, getragen von ehemaligen Redakteuren der Frankfurter Zeitung, Robert Haerdter, Benno Reifenberg, später Wilhelm Hausenstein, Friedrich Sieburg und wiederum Dolf Sternberger; im April 1946 wurden von Walter Dirks und Eugen Kogon die Frankfurter Hefte gegründet, im August erschien Der Ruf, für den zunächst Alfred Andersch und Hans Werner Richter, danach für kurze Zeit Erich Kuby verantwortlich zeichneten;165 im September 1946 erschien in der Französischen Zone das erste Heft der Zeitschrift Das goldene Tor, geleitet von Alfred Döblin. Anfang 1947 folgte der Merkur mit dem Untertitel Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken; 1948 kam der in West-Berlin erscheinende Monat hinzu, der sich im Untertitel als Eine internationale Zeitschrift vorstellte. Zahlreiche weitere Journale wären zu nennen. In der US-Zone zählte man im ersten Halbjahr 1948 insgesamt 602 Zeitschriften, in der Britischen Zone 305, in der Französischen Zone 184 und in der SBZ 244. Historiker und Literaturwissenschaftler sprechen von einem deutschen »Zeitschriftenfrühling« bzw. der »Zeit der Zeitschriften«. Diese präsentierten sich als Medien der moralischen Läuterung, hier wurde, häufig eingekleidet in literarische Formen und im Verbund mit Rundfunkredaktionen, über juristische und metaphysische Schuld, deutsche Irrwege seit dem Mittelalter, die Besinnung auf Weimarer Klassik, bürgerliche Tugenden, die Notwendigkeit abendländischer Verantwortungseliten, eine europäische Zukunft und christliche renovatio geschrieben. Als Kern einer Re-orientation von den Besatzungsmächten gefördert, handelte es sich vor allem um eine Selbstverständigung der deutschen Intellektuellen; diejenigen, die sich dort äußerten, hatten zum weit überwiegenden Teil auch in der Zwischenkriegszeit publiziert. Näher betrachtet, suggeriert die große Zahl dieser Zeitschriften angesichts der dominierenden inhaltlichen Gemeinsamkeiten eine nicht vorhandene geistige Fülle,166 außerdem überlebten nur wenige dieser Produkte die Währungsreform. Nur ein kleinerer Teil der Zeitschriften gehörte zum kulturpolitisch-literarisch-politischen Typ, aber gerade für diesen wirkte sich die Währungsreform besonders fatal aus. Der Ruf etwa, dessen Auflage zuvor 70.000 betragen hatte, befand sich danach mit etwa 8.000 ver-
165 Die Leitung der Zeitschrift war auch Karl Korn angeboten worden, der aber ablehnte; Karl Korn an Ernst Niekisch, 25.12.1947, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c; vgl. insgesamt Vaillant, Ruf; zur frühen Phase der Zeitschrift vgl. Alexander Gallus, »Der Ruf« – Stimme für ein neues Deutschland, in: APuZ, B 25/2007, S. 32-38; Sebastian Mrożek, Der Ruf als Vorläufer der Gruppe 47. Geschichte einer deutschen Nachkriegszeitschrift, in: Edward Białek/Marek Hałub/Eugeniusz Tomiczek (Hrsg.), Der Hüter des Humanen. Festschrift für Prof. Dr. Bernhard Balzer zum 65. Geburtstag, Dresden 2007, S. 185-202; Stefan Scheil, Transatlantische Wechselwirkungen. Der Elitenwechsel in Deutschland nach 1945, Berlin 2012, S. 17-26. 166 Vgl. als Standardwerk Ingrid Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. u. a. 1991; die Verfasserin analysiert ca. 1.800 Aufsätze von ca. 650 Autoren in ca. zwei Dutzend Zeitschriften; vgl. daneben Clare Flanegan, A Study of German Political-Cultural Periodicals from the Years of Allied Occupation, 1945-1949, New York 2000.
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kauften Exemplaren in einer letalen Krise, das letzte Heft erschien im März 1949.167 Auch die Wandlung überlebte in den neuen Zeiten nicht und stellte im gleichen Jahr ihr Erscheinen ein.168 Eine in etwa dem Währungsschnitt von 1:10 entsprechende Auflagenminderung hatten fast alle Zeitschriften für den Markt der Intellektuellen zu verkraften. Das Zeitschriftensterben und die Krise auf dem Büchermarkt führten intellektuelle Zeitgenossen mit einiger Bitterkeit auf die Ignoranz des Bürgertums gegenüber der Sphäre des Geistes zurück. Friedrich Sieburg, Redakteur der Gegenwart, vor der Währungsreform mit einer Auflage von 220.000 die größte aller politisch-kulturellen Zeitschriften, schrieb 1949 über deren Krise: »Das deutsche Bürgertum, dessen einzig mögliche Haltung der Liberalismus hätte sein sollen, hat für seine eigene Sache nie viel Geld übrig gehabt. Nur, wenn es sich darum handelte, der Sache seiner Henker auf die Strümpfe zu helfen, ließ es etwas springen. Man kann also für die Sache der ›Gegenwart‹ genau so zuversichtlich oder düster sein, wie man es für Deutschland ist.«169 1951 verkaufte die Gegenwart nur noch 12.000 Exemplare, 1958 wurde die Zeitschrift eingestellt, einige der Redakteure wechselten zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Karl Jaspers schrieb an Dolf Sternberger, dies sei »also die lange geplante Fusion mit der Frankfurter Allg. Zeitung, nur in einer Form, die ich mir für Sie etwas großartiger gewünscht hätte«. Er sei etwas traurig, aber nun werde ihm »nichts anderes übrig bleiben als die F. A.Z. zu abonnieren«.170 So wie die Bedeutung der politisch-kulturellen Zeitschriften vor der Währungsreform nicht über-, so sollte sie für die Zeit danach nicht unterschätzt werden. Zwar gingen die Auflagen dramatisch zurück, aber die Zeitschriften behielten ihre Funktion für die Willensbildung der politischen Funktionseliten, als »Verbindung zwischen der zum Widerstand geborenen, sozial ungesicherten ›Intelligenz‹ und den ›vergesellschafteten Mächtegruppen‹«.171 Die politisch-kulturellen Zeitschriften waren keineswegs »nur Inseln des Geistes«;172 vielmehr kam ihnen, vor allem in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, eine zentrale Scout-Funktion zu; zugleich fungierten sie als Verteilerzentrum zwischen Funk und Feuilleton. Dies er167 Umlauff, Wiederaufbau, S. 674 f.; vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S. 226 ff. 168 Dolf Sternberger bereitete im Namen der Redaktion eine Klage gegen den Verleger Lambert Schneider vor, weil zahlreiche Beiträge nicht mehr honoriert werden konnten. Karl Jaspers kritisierte dieses Vorgehen scharf; es folgte eine Pause von drei Jahren im Briefwechsel; Jaspers, Korrespondenzen, S. 748 ff. 169 Friedrich Sieburg, Zeitschriftenleben und Zeitschriftensterben, in: Süddeutsche Zeitung, 23.12.1949. 170 Karl Jaspers an Dolf Sternberger, 31.12.1958, in: Jaspers, Korrespondenzen, S. 771. 171 Peter Glotz, Kleine Gesprächskreise mit großen Zielen. Die politische Zeitschrift am Beispiel der »Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte«, in: Publizistik, Jg. 36, 1991, S. 175-182, Zitat S. 175. 172 Unter diesem Titel, versehen mit einem Fragezeichen, diskutierten Walter Höllerer, Alfred Andersch und Joachim Moras im Hessischen Rundfunk; HR/Redaktion Abendstudio an Joachim Moras, 14.8.1956, in: DLA, D: Merkur, Frisé.
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klärt auch, warum Strategien von Intellektuellen zur Verbreitung ihres Meinungswissens immer wieder um die Positionierung im Zeitschriftensegment kreisten. Die Herausgabe von Zeitschriften bildete »eine der gängigsten« Formen der Konstituierung intellektueller Vergesellschaftung.173 Deshalb gab es eine Vielzahl von Plänen, eine Zeitschrift neu aus der Taufe zu heben, die bereits in der Anfangsphase scheiterten. Eine konservative Zeitschrift, explizit rechts vom Merkur, schwebte den Brüdern Jünger, Gerhard Nebel und Martin Heidegger vor. Erst 1950 begruben sie das Projekt.174 Hans Barion, der ehemalige nationalsozialistische katholische Kirchenfunktionär und Vertraute Carl Schmitts, regte eine von Verlagen »völlig freie Zeitschrift« an, die zum Selbstkostenpreis arbeiten sollte.175 Rührig unterwegs in Sachen Zeitschriftengründung war der in New York lebende Nationalrevolutionär Karl Otto Paetel; der Verleger der Nürnberger Nachrichten, Joseph E. Drexel (1896-1976), den er wiederholt bedrängte, um ihn als Finanzier zu gewinnen, empfand ihn als »Landplage«.176 Drexel nahm in der westdeutschen Presselandschaft eine Sonderposition ein, die ihn zum Ansprechpartner für ehemalige Nationalrevolutionäre, aber auch unabhängige linke Intellektuelle machte. Seit Mitte der 1920er Jahre, als er dem rechtsextremen Bund Oberland angehört hatte, war er mit Ernst Niekisch befreundet. Im »Dritten Reich« hatte er zu dessen Widerstandsgruppe gehört, war 1937 verhaftet und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern inhaftiert worden. 1945 erhielt er eine der ersten Lizenzen der US-Zone für die von ihm gegründete Tageszeitung Nürnberger Nachrichten. Schon bald nach Kriegsende nahm er auch die Korrespondenz mit Niekisch wieder auf – der intensive Gedankenaustausch endete erst mit dessen Tod 1967. Eine rechtskonservative Zeitschrift plante Hans-Georg von Studnitz 1953; sie sollte den Titel Urbi et orbi tragen;177 im gleichen Jahr wollte Hugo Fischer beim Kohlhammer Verlag Synopsis. Zeitschrift für europäische Philosophie publizieren; als organisatorischer Sekretär war Armin Mohler vorgesehen. Der Verleger der Nürnberger Nachrichten, Joseph E. Drexel, der auch in diesem Fall um die Finanzierung angegangen wurde, riet davon ab, wohl auch, weil er eigene Pläne verfolgte.178
173 Michel Grunewald/Hans Manfred Bock, Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in: Grunewald, Linkes Intellektuellenmilieu, S. 21-32, Zitat S. 22. 174 Vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger, 1920-1960, Göttingen ²2007, S. 336 ff. 175 Hans Barion an Gustav Hillard-Steinbömer, 17.4.1951, in: DLA, A: Gustav Hillard. 176 Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 5.7.1949, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 32 b; vgl. Wolfgang Elfe, Von den Schwierigkeiten, ein »deutscher Patriot« zu sein. Karl Otto Paetel und Deutschland, in: Koebner/Sautermeister/Schneider, Deutschland, S. 190-198. 177 Hans-Georg von Studnitz an Robert Ingrim, 18.8.1953, in: ASU, Nl. Hans-Georg von Studnitz, 5.3. 178 Hugo Fischer an Joseph E. Drexel, 2.12.1953; Joseph E. Drexel an Hugo Fischer, 14.12.1953; Kohlhammer an Joseph E. Drexel, 3.2.1954, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 15.
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Auf der Seite der Linken lag die Orientierung an der Glanzzeit der 1920er und 1930er Jahre nahe. Im zurückgekehrten Institut für Sozialforschung dachte man an eine Neuherausgabe der renommierten Hauszeitschrift.179 Allerdings gab es Gründe, an der marxistischen Vergangenheit nicht zu rühren, so dass man das Projekt zugunsten der Planung von eigenen Buchreihen zurückstellte. Am stärksten wirkte auf der Linken im ersten Nachkriegsjahrzehnt die Sehnsucht nach der Weltbühne,180 wobei den unabhängigen Intellektuellen anderes vorschwebte als das Ost-Berliner Nachfolgeorgan. Otto Stolz, Redakteur der Neuen Zeitung in München, schrieb an Kurt Hiller: »Ich habe oft daran gedacht, ob es nicht möglich wäre, in diesem Lande so etwas wie eine wirkliche Weltbühne neu anzufangen, die nach rechts und links um sich schlägt. Aber ich fürchte, dass in ein solches Geschäft niemand auch nur einen Pfennig hineinsteckt.« Hiller antwortete umgehend, eben dieser »kerngesunde« Gedanke werde von ihm selbst verfolgt, er verhandle gerade mit einem »zufällig privatim gutbekannten Mäzen im Nordwesten«.181 Auch dem Journalisten Jürgen Neven du Mont schwebte die Wiederbelebung des »Blättchens« vor, wie er seinem engen Freund Michael Heinze-Mansfeld vortrug: »Mich lässt ein Gedanke nicht los: Man sollte ein eigenes kleines Ding herausgeben mit nur geringer Auflage, das man aber stur und regelmäßig an alle massgeblichen Leute schickt. Drucken könnte man hier. Nur einen Finanzier müsste man finden. Das wäre aber in diesem Falle nicht so schwer, weil man nicht viel Geld bräuchte. Was drin steht schrieben wir selber, oder unsere Freunde.« Einige Tage später hatte sich die Idee bereits konkretisiert – und verändert. Nun wollte Neven du Mont den Verleger Ernst Rowohlt dafür interessieren und eine Kalkulation für eine Auflage von 20.000 Exemplaren auf der Basis der »jetzigen (Ost)Weltbühnen« vornehmen lassen.182 Rowohlt wiederum hatte über eine neue Zeitschrift im Format der einstigen Literarischen Welt mit Willy Haas, dem ehemaligen Chefredakteur der seit 1925 bei Rowohlt herausgegebenen Zeitschrift, nachgedacht.183 Als Haas, 1948 der aus dem Exil nach Hamburg zurückgekehrt war, sich
179 Heinz Maus an Ernst Niekisch, 11.8.1951, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 d; vgl. MüllerDohm, Adorno, S. 515, 533, 563; s. auch II.4.3. 180 Vgl. Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 116 ff. 181 Otto Stolz an Kurt Hiller, 25.10.1949; vgl. Kurt Hiller an Friedhelm Baukloh, 29.9.1952, in: Kurt-Hiller-Archiv, Neue Zeitung und Friedhelm Baukloh. 182 Jürgen Neven du Mont an Michael Heinze-Mansfeld, 5.10.1954, 13.10.1954, in: BAK, Nl. Jürgen Neven du Mont, 1279/5; mit dem Druckort war Madsack (Hannover) gemeint. 183 Ernst Rowohlt an Willy Haas, 27.4.1951; Willy Haas an Ernst Rowohlt, 15.2.1952, in: DLA, Nl. Willy Haas.
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bald – seit 1955 als fester Redakteur – bei der Welt engagierte, war an eine Wiederanknüpfung allerdings nicht mehr zu denken. Alfred Andersch wandte sich an Hans Werner Richter; es gebe das Gerücht, er wolle den Ruf beim Verlag Kurt Desch neu herausgeben; er würde das sehr begrüßen. Richter wiegelte ab; zwar sei der Gedanke, die Zeitschrift als »politisches Oppositionsblatt gegen Ost und West« neu herauszugeben, nicht neu und er habe darüber mit Kurt Desch gesprochen, aber das sei »noch von geringer Bedeutung«.184 Worum es bei all diesen nicht weiter verfolgten Plänen ging, hat Peter Rühmkorf mit der für ihn typischen Leichtigkeit zum Ausdruck gebracht: »Leute wie wir müßten ne schöne eigene Zeitschrift haben: mit nem bischen Geld, um gute Texte zu bezahlen.«185 Hunderte von Intellektuellen schrieben für politisch-kulturelle Zeitschriften. Empirische Untersuchungen des Merkur, des Monat und der Frankfurter Hefte ergeben, dass in einem Jahrgang – Stichjahre 1950, 1955, 1960 und 1965 – zwischen ca. 70 und 100 Autoren für jeweils eine der Zeitschriften schrieben, wobei der Anteil der »Schriftsteller-Intellektuellen«, die sowohl »belletristisch, journalistisch und publizistisch« schrieben, gegenüber dem Anteil der »Wissenschaftler-Intellektuellen« bzw. Professoren klar überwog. Letztere waren vertreten beim Merkur mit 25,0 Prozent (1950), 31,8 Prozent (1955), 30,5 Prozent (1960) und 17,0 Prozent (1965); beim Monat mit 33,3 Prozent (1950), 20,9 Prozent (1955), 10,0 Prozent (1960) und 6,9 Prozent (1965); bei den Frankfurter Heften betrug der Anteil 13,8 Prozent (1950), 9,5 Prozent (1955), 7,1 Prozent (1960) und 9,6 Prozent (1965).186 Die Entwicklung belegt, dass Professoren gegenüber den »Schriftstellerintellektuellen« eine wichtige, aber tendenziell abnehmende Bedeutung hatten – ein Beleg gegen Foucaults These von der Ablösung der Universalintellektuellen durch die spezifischen Intellektuellen bzw. Experten. Um 1950 hatten sich die Strukturen schon fest herausgebildet. Ungeachtet einer Fülle von Zeitschriften187 waren es nur wenige, die den Markt beherrschten, nicht mehr im Sinne hoher Auflagen, dafür aber enger Vernetzung im Verbund intellektueller Medien. Letztlich waren es drei politisch-kulturelle Zeitschriften, die im Zentrum der Diskurslandschaft mit deutlich voneinander unterschiedenem Profil Kristallisationspunkte für jeweilige politische Strömungen bildeten und sich über viele Jahre halten konnten, weil sie sich als genügend flexibel für Veränderungen auf dem Meinungsmarkt erwiesen: die Frankfurter Hefte, der Merkur und der Mo184 Alfred Andersch an Hans Werner Richter, 3.2.1955; Hans Werner Richter an Alfred Andersch, 11.2.1955, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter. 185 Peter Rühmkorf an Karlheinz Deschner, 17.7.1957, in: DLA, A: Karlheinz Deschner. 186 Reitmayer, Elite, S. 72 f.; Reitmayer berücksichtigt auch die eher wissenschaftpopularisierende Zeitschrift Universitas, in der erwartungsgemäß Professoren sehr viel stärker vertreten waren. 187 Vgl. die Bibliographie von Hans Manfred Bock, Kulturzeitschriften von 1945-1955 im Kontext der Gesellschafts-, Kultur-, Verlags- und Intellektuellengeschichte, in: Grunewald, Europadiskurs, S. 425-449.
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nat. Um sie gruppierten sich, mitunter nur für kurze Zeit, weitere konkurrierende Zeitschriften, die auf das gleiche Publikum zielten. Die Frankfurter Hefte, seit 1946 von Walter Dirks (1901-1991)188 und Eugen Kogon (1903-1987) herausgegeben, hatten sich rasch einen geradezu legendären Ruf als Laboratorium zeitgenössischer Gesellschaftskritik erworben. In dieser Zeitschrift wurde das Schlagwort von der »restaurativen« Entwicklung der Bundesrepublik in immer neuen Variationen verbreitet.189 Besonders heftig umstritten war ein Artikel von Friedrich M. Reifferscheidt mit dem Titel »Der Hindenburg-Deutsche«,190 der zum Gerücht führte, der katholische Schriftsteller sei fellow traveller der Kommunisten. Am Anfang hatte der Versuch der Herausgeber gestanden, mit der Konzeption eines christlichen Sozialismus einen politischen Brückenbau von Traditionen der früheren Zentrumspartei und der Sozialdemokratie zu befördern, um auf diese Weise eine völlig neue ideenpolitische Landschaft entstehen zu lassen. Eine Koalition aus Kapital, Militär und Kleinbürgertum habe die erste deutsche Demokratie zerstört, die zweite sollte durch Proletariat und Christen geprägt werden.191 In diesem Sinne war Dirks ein »Religionsintellektueller«192 und weltlich agierender Publizist zugleich. Der politischen entsprach die weltanschauliche Konstruktion. Immer wieder wurde in den 1950er Jahren hervorgehoben, dass er als katholischer Christ ein »unmissverständliches Bekenntnis zu Marx«193 – genauer gesagt: zur Aussöhnung der humanistischen Teile des Marxismus mit christlichem Gedankengut194 – vertrete. Walter Dirks knüpfte damit an seine jugendbewegte Ideenwelt einer Verbindung von sozialdemokratischem Gedankengut, katholischer Soziallehre und pazifistischen Überzeugungen an. Aus einem Arbeiterhaushalt im Ruhrgebiet stammend, hatte er in Paderborn und Münster Theologie studiert und sich im katholischen 188 Zur Biographie von Walter Dirks vgl. Jean Yves Paraiso, Walter Dirks (1901-1991) – Christ und Linkssozialist, in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 31, 1995, S. 498-520; Große Kracht, »Ich kann’s nicht mehr recht glauben …«; ders., Das Pneuma der Kritik, oder: Linkskatholizismus als intellektueller Habitus bei Walter Dirks, in: Graf, Intellektuellen-Götter, S. 143-161; Ulrich Bröckling, Sozialist aus christlicher Verantwortung, in: Schwab, Eigensinn, S. 323-340. 189 Programmatisch Walter Dirks, Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, H. 9, S. 942-954. 190 Friedrich M. Reifferscheidt, Triumph des Hindenburg-Deutschen, in: Frankfurter Hefte, Jg. 6, 1951, H. 2, S. 90-100; Friedrich M. Reifferscheidt an Walter Dirks, 3.6.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 66. 191 Clemens Albrecht, Vom Konsens der 50er zur Lagerbildung der 60er Jahre: Horkheimers Institutspolitik, in: ders. u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999, S. 132-167, hier S. 134. 192 Große Kracht, Pneuma, S. 159. 193 MS des BR »Das Weltbild unserer Zeit«, gesendet 30.6.1954, 21.30-22.15, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 98 A. 194 Vgl. Jean Yves Paraiso, Walter Dirks und der junge Marx. Zu Walter Dirks’ Aufsatz »Marxismus in kritischer Sicht«, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Jg. 7, 1994, S. 319-335.
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Jugendverband Quickborn publizistisch engagiert. Dessen geistlichen und geistigen Mentor Romano Guardini lernte er bereits 1923 kennen, zeitweise arbeitete er als sein Sekretär, und lebenslang blieb Guardini sein großes Vorbild. Später versuchte er ihn immer wieder als Autor für die Frankfurter Hefte zu gewinnen. Seine journalistische Karriere begann Dirks 1924 bei der kurz zuvor gegründeten RheinMainischen Volkszeitung (RMV), dem Bistumsblatt von Limburg; die RMV galt als führendes theoretisches Organ linker Katholiken, das auch reichsweit vertrieben wurde. Anfang der 1930er Jahre vertiefte sich Dirks in das Studium marxistischer Schriften und bereitete eine Dissertation über Lukács’ »Geschichte und Klassenbewußtsein« vor, die allerdings angesichts der politischen Umstände nicht mehr eingereicht wurde. Nach der nationalsozialistischen Gleichschaltung der RMV 1934, ein Jahr später wurde das Blatt verboten, arbeitete Dirks als Musikkritiker für die Frankfurter Zeitung, 1938 wurde er dort stellvertretender Leiter des Feuilletons, erhielt 1943 Schreibverbot und arbeitete in den letzten beiden Kriegsjahren für den katholischen Herder-Verlag. Mit seinem Mitherausgeber bei den Frankfurter Heften, Eugen Kogon,195 hatte Dirks bereits Anfang der 1930er Jahre korrespondiert, persönlich lernte er ihn erst einen Monat nach Kriegsende kennen. Es sollte eine verlässliche Partnerschaft werden; Eugen Kogon, so empfand es Walter Dirks, habe sein »geistig-politisches Leben entscheidend mitbestimmt«; nur zweimal innerhalb von 42 Jahren hätten sie »heftig miteinander gestritten«.196 Kogon hatte sich früh auf dem rechtskonservativen, ständestaatlich orientierten Flügel des politischen Katholizismus profiliert und war 1927 von dem Wiener Nationalökonom und Soziologen Othmar Spann mit einer Arbeit über »Faschismus und Korporativstaat« promoviert worden. Im gleichen Jahr wurde er Redakteur der österreichischen katholischen Zeitschrift Schönere Zukunft, die zwar weit rechts stand und nicht frei von antisemitischen Tendenzen war, sich aber gegen den als gottlos angesehenen Nationalsozialismus wandte. Mehrmals von der Gestapo vorgeladen, wurde Kogon 1939 verhaftet und bis zum Ende des Krieges im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Zum Standardwerk wurde sein 1946 veröffentlichtes Buch »Der SS-Staat«, in dem er am Beispiel des KZ Buchenwald das »System der deutschen Konzentrationslager« be195 Vgl. zur Biographie Ansgar Lange, Eugen Kogon als christlicher Publizist, in: Die neue Ordnung, Jg. 58, 2004, S. 225-239; Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970), München 2005, S. 223 ff.; Walter Mühlhausen, Eugen Kogon – ein Leben für Humanismus, Freiheit und Demokratie, Wiesbaden 2006; Gottfried Erb, »Unsere Kraft reicht weiter als unser Unglück« (Ingeborg Bachmann). Eugen Kogon in der restaurativen Republik, in: Schwab, Eigensinn, S. 363-378; leider war dem Verf. der Nachlass von Eugen Kogon im AdsD aus konservatorischen Gründen nicht zugänglich. 196 Walter Dirks, Dioskuren … Eugen Kogon und die »Frankfurter Hefte«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 35, 1988, S. 4 f., Zitat: S. 5; vgl. ders., 1903-1945-1973. Eugen Kogon zum Geburtstag, in: Frankfurter Hefte, Jg. 28, 1973, S. 77-79; Peter Glotz, Der Frankfurter aus München. Eugen Kogon ist tot, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 35, 1988, S. 6.
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schrieb. Den Bruch mit seiner vormaligen Gedankenwelt scheint Kogon bereits in der Haftzeit vollzogen zu haben. In Buchenwald soll er mit Kurt Schumacher über die notwendige Synthese von Christentum und Sozialismus gesprochen haben. Als Mitglieder der CDU versuchten die »Dioskuren« Dirks und Kogon erfolglos, deren Programmatik auf die von ihnen propagierte »linkskatholische« Linie festzulegen.197 Die Frankfurter Hefte waren in erster Linie eine katholische Zeitschrift. Dirks steuerte zudem zahlreiche Artikel für die Zeitschrift Michael. Zeitung des jungen Volkes bei, im Laienkatholizismus besaß er seine Basis und fand beachtliche Anerkennung. Die Positionierung als »linkskatholisch« kennzeichnete eine Minderheits-, aber keine Randposition. So schrieb Ferdinand Dirichs, der kurz zuvor ernannte Bischof von Limburg, an den »lieben Freund Dirks« vor einer Reise nach Rom im Frühjahr 1948: »Ich möchte dem Heiligen Vater von den Frankfurter Heften und den drei leitenden Männern erzählen. Wäre es nicht gut, wenn Sie mir ein paar Zeilen der Ergebenheit schrieben, die ich dem Heiligen Vater überreichen kann. Vielleicht wäre Ihrer guten Sache damit recht gedient.«198 Im Rahmen der »katholischen Volksarbeit« für das Bistum Limburg organisierte Dirks 1948 einen Freiwilligen Arbeitsdienst, der deutliche Parallelen zu entsprechenden Initiativen der Jugendbewegung vor 1933 aufwies.199 Obwohl er wegen eines Herzinfarkts am 74. Deutschen Katholikentag in Passau 1950 nicht teilnehmen konnte, Dirks war speziell zur Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft »Katholische Publizistik« eingeladen worden,200 wurde er in das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken aufgenommen und befürwortete in dieser Funktion die Kooptation der explizit kulturkonservativ ausgerichteten Alois Hundhammer (CSU) und Adolf Süsterhenn in das Spitzengremium des Laienkatholizismus.201 Eine ausgedehnte Korrespondenz pflegte Dirks seit 1949 mit Eberhard Welty (1902-1965), dem Chefredakteur der seit 1946 erscheinenden Zeitschrift der Walberberger Bene-
197 Vgl. Karl Prümm, Entwürfe einer zweiten Republik. Zukunftsprogramme in den »Frankfurter Heften« 1946-1949, in: Koebner/Sautermeister/Schneider, Deutschland, S. 330343; zum Begriff des Linkskatholizismus unter Bezug auf die zeitgenössische Publizistik vgl. Martin Stankowski, Linkskatholizismus nach 1945. Die Presse oppositioneller Katholiken in der Auseinandersetzung für eine demokratische und sozialistische Gesellschaft, Köln 1974, S. 12 ff. 198 Bischof von Limburg an Walter Dirks, 2.4.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 24 A; mit den drei leitenden Männern war neben Dirks und Kogon auch Clemens Münster gemeint, der kurz darauf zum BR wechselte (s. o.). 199 Unterlagen in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 28 A. 200 Zentralkomitee der Deutschen Katholikentage/Erbprinz zu Löwenstein an Walter Dirks, 1.6.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 51. 201 Daneben empfahl er die Aufnahme eines Zentrumspolitikers, während ihm der Gedanke, auch ein SPD-Mitglied zu benennen, nicht in den Sinn kam; Walter Dirks an Franz Hengsbach, 6.3.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 62.
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diktiner Die neue Ordnung.202 Dem Sozialethiker fühlte sich Dirks in der sozialpolitischen Grundkonzeption verbunden. Auch Welty hatte nach dem Zweiten Weltkrieg auf die CDU gesetzt und sich ein Jahrzehnt später der Sozialdemokratie zugewandt. Dirks nahm also eine respektierte Position in seiner Kirche ein, die Charakterisierung als »katholischer Querdenker«203 trifft das nicht. Die Kritik an der 1948 immer deutlicher erkennbaren und vom Vatikan ausdrücklich begrüßten Weichenstellung, die Westdeutschland in die von den USA geführte atlantische Gemeinschaft gegen den Kommunismus führen sollte, wurde von zahlreichen Intellektuellen im katholischen Raum geteilt. In einem langen Schreiben lobte der junge Student Robert Spaemann (Jg. 1927), dass die Frankfurter Hefte nicht der Gefahr erliegen würden, »ziemlich unbesehen ins grosse amerikanische Wasser (zu) segeln«: »Gegen den Nationalismus der SED schreibt heute jeder Hanswurst. Aber jemand, der in Westblockpolitik macht, hat absolut kein Recht, über dieses Thema zu schreiben.«204 Nicht eine westliche Gemeinschaft, sondern ein miteinander versöhntes, föderales Europa mit Deutschland und Frankreich als geistigem Zentrum sollte die politische Zukunft bestimmen. Die Vorstellung von Europa als dritter Kraft, die »weder Vorposten von Atlantis noch Anhängsel von Eurasien«205 werden sollte, prägte die Vorstellungswelt nicht nur der Frankfurter Hefte, sondern eines großen Teils der zeitgenössischen Intellektuellen. Allerdings war diese Gedankenwelt sehr häufig national eingefärbt, während sie bei einigen Intelektuellen – namentlich bei Kogon – in besonderer Weise europäisch gedacht war, die zwar eine militärische Verteidigung »gegen die Gefahr der stalinistischen Sklaverei«206 einschloss, aber eben nicht durch eine nationale Armee. Insofern wandte er sich auch gegen die Wiederaufrüstung und Gründung der Bundeswehr. Das Engagement von Kogon für ein von den Supermächten unabhängiges Europa – von 1949 bis 1954 als Präsident der Europa-Union Deutschlands, von 1951 bis 1953 auch als Präsident des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung – verlieh den Frankfurter Heften einen weiteren wichtigen Orientierungspunkt. Bis zur Mitte der 1960er Jahre veröffentlichte Kogon in der Zeitschrift mehrere hundert Aufsätze zur europäischen Problematik.207 Genauer besehen waren die internationalen Verbindungen und das Bild von Europa, noch stärker wohl bei Walter Dirks, 202 Vgl. Damian van Melis, Europapolitik oder Abendlandideologie? Die Dominikanerzeitschrift Neue Ordnung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, in: Thomas Sauer (Hrsg.), Katholiken und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, Stuttgart 2000, S. 170-186, hier S. 175. 203 Kurt Koszyk, Publizistik und politisches Engagement. Lebensbilder publizistischer Persönlichkeiten, Münster 1999, S. 494 (ff.). 204 Robert Spaemann an Walter Dirks, 7.12.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 32 C. 205 Eugen Kogon, Der Haager Europäische Kongreß, in: Frankfurter Hefte, Jg. 3, 1948, H. 6, S. 481; vgl. Michel Grunewald, Die Frankfurter Hefte. Eine Stimme der europäischen Föderalisten, in: ders., Europadiskurs, S. 219-243. 206 Eugen Kogon, Die Verteidigung Europas, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, H. 12, S. 1274. 207 Vgl. ders., Die unvollendete Erneuerung. Deutschland im Kräftefeld 1945-1963. Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1964.
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sehr französisch geprägt. Eine besonders ausgeprägte Korrespondenz bestand mit dem Historiker und Publizisten Joseph Rovan (1918-2004), der aus einer deutschen jüdischen Familie stammte, und der Zeitschrift Esprit.208 Gute Kontakte existierten seit 1950 zur Redaktion der katholischen Zeitschrift La Vie Intellectuel.209 Fast alle nicht in deutscher Sprache verfassten Briefe im Nachlass von Walter Dirks waren auf Französisch geschrieben worden.210 Nicht zuletzt der deutsch-französische Journalistenaustausch war ihm ein besonderes Anliegen.211 Diese internationalen Verbindungen waren jedenfalls gänzlich andere als die der Zeitschrift Merkur. Die Redaktionsarbeit der Frankfurter Hefte wurde von hochkarätigen Intellektuellen bestimmt.212 Nachdem Clemens Münster, der 1948 sogar für einige Monate als Mitherausgeber fungierte, das Blatt verlassen hatte, nahm der Theaterkritiker und Übersetzer Walter Maria Guggenheimer (1903-1967), der im »Dritten Reich« verfolgt worden war und in den Reihen der Exil-Armee unter de Gaulle gedient hatte, eine Schlüsselposition ein,213 später stieß Hubert Habicht (1921-1983) hinzu, ab 1970 leitender Redakteur der Zeitschrift. Die Kontinuität des Blattes garantierten die beiden Herausgeber, wobei Eugen Kogon zwar unter seinen Kollegen keine große Beliebtheit genoss, aber dank Dirks unangefochten blieb. »Das Freundschaftsexperiment ›Clemens‹ ist nun zu Ende gegangen«, schrieb er nach Münsters Weggang an Dirks; für die Zeitschrift sei »kein Verlust eingetreten«, »solange wir beide als korrespondierende Schwerpunkte der Ellipse wirken«.214 Walter Dirks, Kogon gegenüber stets loyal, hatte bei Streitigkeiten öfter zu vermitteln. So warnte Münster, der auch nach seinem Weggang zum Bayerischen Rundfunk zunächst noch Mitglied der Redaktion geblieben war, vor einer »Fehlentwicklung« als »Folge der verkehrten Stellung (…), die Eugen in unserem Team einnimmt. Die besondere Stellung, die Eugen bei uns einnimmt, und die allmählich zu einer Art von Diktatur geführt hat, ist eine Folge der ihm seinerzeit gegebenen amerikanischen Lizenz. (…) Nun ist die Lizenz in Fortfall gekommen und es zeigt sich, dass jene Art von Diktatur weder dem Inhalt und der Linie der Zeitschrift noch der Lage des Unternehmens bekommt.«215 Auf diese Aufforderung zur Ausbootung des Kollegen mochte Dirks nicht eingehen, aber durch die Berufung von Kogon auf den neu geschaffenen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl an der TU Darmstadt ergab sich ohnehin eine gewisse Dis208 Vgl. Joseph Rovan, »Esprit« und die »Frankfurter Hefte«, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 50, 2003, H. 1/2, S. 76 f.; ders., Erinnerungen an Eugen Kogon und die Frankfurter Hefte, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 51, 2004, H. 9, S. 71 f. 209 AdsD, Nl. Walter Dirks, 53. 210 AdsD, Nl. Walter Dirks, 76 A, 83. 211 Liste von Einladungen für das Jahr 1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 85 A. 212 Vgl. Stankowski, Linkskatholizismus, S. 67 ff. 213 Diesen Eindruck vermitteln die Redaktionsunterlagen; in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 319 ff. 214 Eugen Kogon an Walter Dirks, 23.8.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 40 A. 215 Clemens Münster an Walter Dirks, 6.2.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 53 A.
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tanz. Zudem wurde Kogon zunehmend von seinem europapolitischen Engagement in Anspruch genommen. Die pluralistische Bandbreite der Autoren reichte von konservativen Katholiken und engagierten evangelischen Publizisten über kulturprotestantische Liberale der früheren Frankfurter Zeitung bis zu linkskatholischen Kreisen, aber auch Intellektuellen der Gruppe 47 – Alfred Andersch, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Rolf Schroers u. a. – und des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Namentlich zu Adorno unterhielt Walter Dirks einen engen und freundschaftlichen Kontakt. Dirks’ größte Sympathie galt dem potentiellen Nachwuchs aus linkskatholischen und linkssozialistischen Intellektuellenzirkeln. Engen Kontakt pflegte er zu dem jungen Theo Pirker (1922-1995), Mitarbeiter der gerade eingegangenen katholischen Zeitschrift Ende und Anfang,216 der Dirks im Frühjahr 1949 die Probenummer einer als Wochenblatt geplanten Deutschen Arbeiterzeitung zugeschickt hatte.217 Dirks, der neben Hans Werner Richter an der Planung beteiligt worden war, lieferte eine ausführliche und fundamentale Kritik, die darauf hinauslief, dass es sich um ein monotones Blatt für Intellektuelle handle, dem das »moralische Element« fehle.218 Gleichwohl äußerte er sich in einem Schreiben an F. J. Bautz, den Chefredakteur des Blattes, absolut solidarisch, als er von dem Verdacht hörte, dieses sei »ein Propagandaorgan der Sowjets«; es sei völlig richtig, weiterhin »mit den Kommunisten zu sprechen, Ihr betrachtet sie nicht als verfemt, Ihr beachtet und prüft, was sie sagen, – aber das alles bedeutet weder, dass Ihr von ihnen abhängig seid, noch auch, dass Ihr mit ihnen gemeinsame Sache macht. Ihr steht kritisch auch zu den Kommunisten. Ihr vermutet im Marxismus eine Menge Wahrheit und Richtigkeit. Ihr seid von der SPD unabhängig. (…) Ihr seid ehrlich und unabhängig.«219 Etliche Beiträge von Pirker wurden in den Frankfurter Heften veröffentlicht und im Herbst 1949 bot Dirks an, dass dieser oder der spätere renommierte Soziologe Burkart Lutz in die Redaktion eintreten könnten. Die beiden vereinbarten, dass Pirker diesen Schritt machen sollte. Der Plan wurde vor allem deshalb nicht realisiert, weil Pirker eine Reihe von Bedingungen stellte und durchblicken ließ, dass er gern mit 216 Vgl. zu Ende und Anfang Stankowski, Linkskatholizismus, S. 27 ff. 217 Pirker (1922-1995) war über die katholische Soziallehre zum Interesse am Marxismus gelangt und arbeitete 1953 an dem von Victor Agartz geleiteten Wirtschaftswissenschaftlichen Institut (WWI) des DGB. Nach dessen Ausschaltung und der Disziplinierung der Gewerkschaftslinken 1955 arbeitete Pirker als Journalist und Dozent, beriet Ende der 1950er Jahre die Nationale Befreiungsfront in Algerien und bereiste Israel und arabische Länder. 1972 erhielt er eine Professur am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin; aufschlussreich: Martin Jander, Theo Pirker über »Pirker«. Ein Gespräch, Marburg 1988, S. 149 ff.; vgl. auch die Nekrologe von M. Rainer Lepsius, Zum Tode von Theo Pirker, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 42, 1995, H. 11, S. 980 f.; Irmela Gorges, Theo Pirker, in: Soziologie. Forum der deutschen Gesellschaft für Soziologie, Jg. 25, 1996, H. 2, S. 85-87. 218 Walter Dirks an Theo Pirker, 28.3.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 43. 219 Walter Dirks an F. J. Bautz/DAZ, 19.4.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 34 A.
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Dirks, aber nur mit diesem, zusammenarbeiten wolle, was sich gegen Kogon richtete. Damit, so Dirks, »unterschätzt Du ganz wesentlich die Bedeutung, die sowohl als Arbeitsstätte und als Werkzeug als auch als équipe die Gruppe EK-WD für mich besitzt«.220 Es ist typisch für Dirks, dass er den Gesprächsfaden nicht abreißen ließ. Schon kurz darauf bot er Pirker an, einen gut honorierten zehnseitigen Artikel zum Thema »Was ist los mit der Bundesrepublik« für die von ihm mit herausgegebene deutsch-französische Zeitschrift Aussprache in Mainz zu verfassen.221 Eine enge Verbindung unterhielt Dirks auch zu den Werkheften katholischer Laien (1947-1963), die um einen Zirkel der Jugendbewegung, die Katholische Junge Mannschaft, herum als Organ linkskatholischer Selbstverständigung fungierten und auch von Heinrich Böll finanziell unterstützt wurden. Im Redaktionsteam übernahm seit Mitte der 1950er Jahre Gerd Hirschauer (1928-2007) die verantwortliche Position. Zunehmend öffnete sich die Zeitschrift gegenüber Themen der Gesellschaft und engagierte sich vor allem gegen die Pläne zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, was 1961 auch in einer Veränderung des Titels in Werkhefte. Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und des Katholizismus222 seinen Ausdruck fand. Die Zeitschrift Werkhefte, deren Auflage nur selten 2.000 Exemplare erreichte und keinen Einfluss über das eigene Milieu hinaus erlangte, wurde von Dirks und Kogon nicht als Konkurrenz, sondern eher als Pool zur Rekrutierung von Autoren für die Frankfurter Hefte empfunden. Ähnliches galt für die von kirchlicher Seite herausgegebenen Zeitschriften Hochland, Stimmen der Zeit, Die neue Ordnung und Herder-Korrespondenz. Zu den regelmäßigen Briefpartnern von Dirks gehörten die linkssozialistischen SDS-Studenten Peter von Oertzen (1924-2008) und Arno Klönne (1931-2015). Letzterer hatte schon an der 1951 für kurze Zeit von der Redaktion der Frankfurter Hefte wöchentlich herausgegebenen Zeitschrift Hier und heute mitgearbeitet,223 die aktuelleren Themen vorbehalten sein sollte. Der Marburger Student, der dann von Wolfgang Abendroth mit einer Arbeit über die Hitler-Jugend promoviert wurde, bot den Frankfurter Heften einen Artikel an, der sich kritisch mit Helmut Schelsky auseinandersetzte, und lud Dirks im Namen der SDS-Gruppe zu einem Vortrag über »Christentum und Marxismus« ein.224 An dem Begleitbrief zur Übersendung eines Manuskriptes über den Katholizismus in der Bundesrepublik von Heinz Theo Risse, Redakteur der kleinen linkskatholischen Zeitschrift Michael, in dem er Dirks als »anerkannten ›Chefzensor‹ des linkskatholischen Nachwuchses« bezeichnete, lässt sich dessen Autorität ungeachtet der freundlichen Ironie ablesen.225 220 Walter Dirks an Theo Pirker, 29.11.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 43. 221 Walter Dirks an Theo Pirker, 24.2.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 54. 222 Vgl. Stankowski, Linkskatholizismus, S. 137 ff.; Friedhelm Boll, Die Werkhefte katholischer Laien (1947-1963), in: Grunewald, Katholisches Intellektuellenmilieu, S. 507-536. 223 Vgl. Stankowski, Linkskatholizismus, S. 128 ff. 224 Arno Klönne an Walter Dirks, 9.7.1954, 7.12.1954, in: Nl. Walter Dirks, 95. 225 Heinz Theo Risse an Walter Dirks, 24.1.1958, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 117 A.
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Es fällt auf, dass Dirks eher den Kontakt zu linksunabhängigen Geistern als zu Parteigängern des sozialdemokratischen Mainstreams suchte. So nahm er eine Einladung von Wolfgang Abendroth, seinerzeit noch in Wilhelmshaven, über die Konzeption der Frankfurter Hefte zu sprechen, an.226 Dagegen zeigte sich Willi Eichler, der ehemalige ISK-Leiter, der den »ethischen Sozialismus« zur Grundlage der SPD machen wollte und großen Einfluss auf die im Godesberger Programm mündende Debatte hatte, über Kritik am mangelnden oppositionellen Engagement der SPD in den Frankfurter Heften verärgert; Dirks antwortete sehr prinzipiell: »Es ist der Schmerz und die Enttäuschung darüber, dass die grosse deutsche Sozialdemokratie, die einmal eine Partei der internationalen Solidarität mit allen Geplagten und Geschundenen der Erde war, ihr Herz verloren hat und zur deutschen Staatspartei geworden ist.« Das Versagen im August 1914 habe sie »bis zum heutigen Tag noch nicht selbstkritisch analysiert, aufgearbeitet, bereut, für ihre Theorie und Praxis fruchtbar gemacht.«227 Dagegen legte Leo Brandt (1908-1971), ein einflussreicher Reformer der SPD, Dirks sein »Büchlein« über die zweite industrielle Revolution, in dem die Zukunft als Synthese von friedlicher Nutzung der Kernenergie und modernem Bildungssystem skizziert wurde, ans Herz, weil dieses viel zur innerparteilichen Diskussion in der SPD beitrage.228 Der radikale Linkssozialist Kurt Hiller lobte anfangs die Frankfurter Hefte, beschwerte sich aber darüber, dass seine Abrechnung mit Kommunisten in der Spätphase von Weimar und im Exil, »Köpfe und Tröpfe«, totgeschwiegen werde.229 Mit Gerhard Gleissberg, Redakteur des Neuen Vorwärts, zeigte er sich dann 1953 einig, als dieser ihm schrieb: »Die ›Frankfurter Hefte‹, die ich in früheren Jahren doch zum Teil sympathisch und lesenswert fand, sind mir mit der Zeit immer unsympathischer und langweiliger geworden, so dass ich längst aufgehört habe, sie zu lesen.«230 Hiller selbst hatte eine Woche zuvor einen Rundbrief an 17 Intellektuelle verfasst, in dem er in furioser Polemik mit den Frankfurter Heften abrechnete: »Der Vatikanismus der FRANKFURTER HEFTE tarnt sich im allgemeinen gut. So gelangten sie beim Hans Naivus unsrer Linken in den Ruf, vornehmlich fortschrittlich zu sein. (…) Ein auf ›links‹ geschminkter Asphalt-Klerikalismus 226 Wegen Terminproblemen kam es nicht dazu; vgl. den ausgedehnten Briefwechsel 1949/50 in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 34, 34 A. 227 Willi Eichler an Walter Dirks, 7.7.1951; Walter Dirks an Willi Eichler, 21.7.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 60. 228 Leo Brandt an Walter Dirks, 7.10.1957, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 113. 229 Kurt Hiller an Walter Dirks, 14.2.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 62. 230 Gerhard Gleissberg an Kurt Hiller, 23.4.1953, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Gleissberg.
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ist aber weit gefährlicher als der deklarierte Nicht-Intellektualismus primitiver Wald- und Wiesenpfaffen.«231 Die Frankfurter Hefte öffneten ihre Spalten für das frühere Mitglied des Tat-Kreises Ernst Wilhelm Eschmann und die konservative, unangepasste Publizistin Margret Boveri, die die Arbeit von Dirks »mit grosser Achtung, oft mit intensiver Zustimmung«232 verfolgte, ebenso wie für den linken Publizisten Erich Kuby, für letzteren allerdings nur gelegentlich. Der Grund dafür war dessen kirchenkritische Tendenz. In einer Redaktionsnotiz von Walter Dirks an seine Kollegen Kogon, Guggenheimer und Habicht zu einem Manuskript von Kuby mit dem Titel »Die Schande von Trier«, das er glänzend geschrieben fand, bemerkte er: »Die Rechnung Katholizismus – Kuby – FH geht nicht auf. Die FH können nicht einen Nichtkatholiken (der das Sakrament aus dem Sakramentsaltar holen lässt) so über Katholiken schreiben lassen. (…) Schließlich gehören wir sub specie aeternitas in eine Front. Also: Mit Bedauern dagegen.«233 Auch eine Erzählung von Heinrich Böll mit dem Titel »Kerzen für Maria« wurde anfangs abgelehnt, weil sie nicht »den Ansprüchen der ›Frankfurter Hefte‹ genügen kann«.234 Und ein Essay von Alfred Andersch, »Der Humanist und die Parzen«, missfiel Walter Dirks wegen seiner religionskritischen Tendenz.235 Dirks und Kogon verstanden sich als Organisatoren des Gesprächs. Sie wollten ein Forum für freimütigen Meinungsaustausch initiieren, dabei aber weitere Kreise als das katholische Lager ansprechen. Die Bandbreite der Kontakte von Dirks ist beeindruckend; dabei ging es nicht nur darum, Autoren für die Frankfurter Hefte zu gewinnen; Dirks selbst wiederum wurde eingeladen, in der Frauenzeitschrift Constanze zu schreiben, für die Neue Ruhr Zeitung verfasste er allein 1953/54 fast drei Dutzend Artikel. Eine lange Adressenliste mit Telefonnummern diente der 231 Kurt Hiller an Friedhelm Baukloh und weitere 16 Personen, 16.4.1953, in: Archiv IfZ, Nl . Gerhard Szczesny, ED 386/1. 232 Margret Boveri an Walter Dirks, 5.11.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 48 A. 233 Walter Dirks an Hugo Habicht/Walter M. Guggenheimer/Eugen Kogon, 4.2.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 75; dort auch weitere interne Korrespondenz der Frankfurter Hefte zu und Briefe an Kuby. 234 Heinrich Böll an Schriftleitung Frankfurter Hefte, 8.7.1949; Walter M. Guggenheimer an Heinrich Böll, 20.7.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 35 A; die Erzählung »Kerzen« erschien dann in Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, H. 2, S. 166-174; hingehalten wurde anfangs auch ein anderer Schriftsteller, Wolfdietrich Schnurre, Gründungsmitglied der Gruppe 47; Wolfdietrich Schnurre an Walter Dirks, 28.8.1952; Walter M. Guggenheimer an Wolfdietrich Schnurre, 10.9.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 78 A; zu den Autoren der Frankfurter Hefte zählte in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auch Rolf Schroers, ebenfalls aus der Gruppe 47, der gegen Honorar auch gelegentlich lektorierte (s. LA NRW Münster, Nl. Schroers, 295). 235 Walter Dirks an Alfred Andersch, 3.12.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 58; das tat der Mitarbeit von Andersch an den Frankfurter Heften keinen Abbruch; im Jahrgang 1952 erschienen dort zwei Beiträge von ihm.
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Vorbereitung eines Besuchs in München, darin Romano Guardini ebenso wie Hildegard Hamm-Brücher.236 Zehn Personen luden die Frankfurter Hefte zu einer Zusammenkunft an einem Wochenende im Herbst 1953 nach Wiesbaden ein, auf der grundsätzlich über die Linie der Zeitschrift diskutiert werden sollte, darunter Alfred Andersch, die Publizisten Erich Kuby und Karl W. Böttcher, den sozialdemokratischen Fernsehjournalisten Rüdiger Proske, den Programmdirektor des SWF, Lothar Hartmann, Heinz Theo Risse von der Zeitschrift Michael und den in Frankreich einflussreichen deutsch-jüdischen Intellektuellen Joseph Rovan, der zum Katholizismus konvertiert war.237 In evangelische Richtung verband Dirks, wie erwähnt, eine freundschaftliche Zusammenarbeit mit Klaus von Bismarck, dem Intendanten des WDR, mit dem er bereits eine intensive Korrespondenz unterhielt, als Bismarck dem Jugendhof Vlotho in der Britischen Zone vorstand, in dem Leiter für eine demokratische Jugendarbeit ausgebildet wurden.238 Auch Georg Picht, der in den 1950er Jahren vor allem die Philosophie Platons propagierte und ein Jahrzehnt später zum wichtigsten Schulreformer im Umkreis der evangelischen Publizistik aufsteigen sollte, zählte in der Nachkriegszeit zu den Freunden von Dirks. Zwei Söhne von Walter Dirks, Florian und Michael, besuchten die von Picht geleitete Internatsschule Birklehof, eine von Hermann Josef Abs, Klaus von Bismarck und Carl Friedrich von Weizsäcker unterstützte Anstalt, die die Eltern durchaus einiges kostete; 1952 betrugen die Kosten jeweils 1.317 DM.239 Aus Dortmund meldete sich 1951 Friedhelm Baukloh bei Dirks, um ihm die grundsätzliche Zustimmung eines »evangelischen Christen« zu versichern. Das Ziel seiner Gruppe sei »eine Sammlung der republikanisch gesinnten intellektuellen Avantgarde des Ruhrgebiets«. Baukloh bot an, sich kritisch mit Hans Egon Holthusen zu befassen, »der in letzter Zeit ja über die Zeitschrift ›Merkur‹ stark in den Vordergrund der deutschen Publizistik trat«.240 Als Mitarbeiter bot sich 1952 auch Heinz-Joachim Heydorn (1916-1974) an, Mitgründer des SDS und sozialdemokratischer Bildungspolitiker. Als er Ende der 1950er Jahre nach Frankfurt berufen wurde, stärkte er dort die linkssozialistische Strömung, aus der SPD wurde er 1961 wegen Unterstützung des mittlerweile nicht mehr parteitreuen SDS ausgeschlossen. Dirks antwortete Heydorn umgehend, dass er sich nicht mehr eigens vorzustellen brauche. Es liege der Zeitschrift daran, »Bei-
236 AdsD, Nl. Walter Dirks, 87 A. 237 Redaktion der Frankfurter Hefte an Alfred Andersch, 28.9.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 81; aus den Akten geht nicht hervor, ob es zu diesem Treffen gekommen ist. 238 Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 35; vgl. zur Biographie von Georg Picht, der zur Gelehrtendynastie Curtius zählte, Julia Kurig, Bildung für die technische Moderne. Pädagogische Technikdiskurse zwischen den 1920er und 1950er Jahren in Deutschland, Würzburg 2015, S. 617 ff. 239 S. Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 70. 240 Friedhelm Baukloh an Walter Dirks, 7.4.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 58 A.
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träge zu einer modernen sozialistischen Theorie und einem erneuerten sozialistischen Bewusstsein zu veröffentlichen«, man werde dabei an ihn denken.241 Von manchen Lesern wurde eine allmähliche Linksdrift kritisiert. So verwahrte sich ein Religionslehrer aus Eschweiler gegen die Berufung auf das Christentum bei der Ablehnung der »sozialen Marktwirtschaft« und resümierte: »Es fehlt in so manchen Artikeln das Hoffnungsfrohe, Starke, welches das Gute – auch wenn es noch so klein ist – heraushebt und anerkennt und zur Entfaltung drängt. Ach, diese entsetzlich vielen Bedenken, Hemmungen, Wenn und Aber! Es ist nicht gut, immer wieder das Bild des Kranken, Zerfallenden, Auseinanderbrechenden zu schildern. Diese sezierende Geistigkeit zerstört soviel Lebenskraft. Die Jugend kann sie am wenigsten gebrauchen. Wir brauchen eine kraftvolle Bejahung des Guten und keine geistreiche Anhäufung von tausenderlei Bedenken.«242 Der konservative Widerständler und evangelische Christdemokrat Otto Heinrich von der Gablentz begründete in einem langen Schreiben an Dirks warum er das Abonnement der Frankfurter Hefte abbestellt hatte: »Ich lese sie nicht mehr, ausser Ihre kurzen Leitartikel, mit deren Grundhaltung ich nach wie vor einverstanden bin. Aber sonst finde ich in den Heften nicht mehr die alte Grundhaltung der besonnenen Reform von der Wurzel her, sondern jene krampfhafte ›Radikalität‹ um jeden Preis einer heimatlosen Linken, zu der ich nicht gehöre und die m. E. auch dem deutschen Volk nichts zu sagen hat.«243 Immer wieder gab es Anfang der 1950er Jahre Kritik an »linkslastigen« Artikeln, wenn sich etwa Emil Dovifat über einen den Spiegel lobenden Beitrag von Erich Kuby ereiferte.244 Von manchen konservativen Publizisten allerdings wurde die »antirestaurative« Linie nicht sofort bemerkt, weil sie Walter Dirks vor allem als gläubigen Katholiken im eigenen Lager wähnten. Dies galt etwa für den Österreicher Erik Maria Kuehnelt-Leddihn (1909-1999), der publizistisch zeitlebens auf der katholisch-konservativen Rechten aktiv war und sich zugleich antimodernistisch präsentierte. Sein Lebensthema war der von ihm empfundene tiefe Gegensatz zwischen Liberalismus und Demokratismus.245 Die über Jahre sich hinziehende Korrespondenz mit Walter Dirks zeigt, wie dieser sehr geschickt und hinhaltend Kuehnelt-Leddihn, der von 1937 bis 1947 in den USA, allerdings nicht als Hitler241 Heinz-Joachim Heydorn an Walter Dirks, 13.11.1952; Walter Dirks an Heinz-Joachim Heydorn, 18.11.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 73 A. 242 P. Hoffmann an Schriftleitung der Frankfurter Hefte, 31.10.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 39. 243 Otto Heinrich von der Gablentz an Walter Dirks, 21.4.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 84 A. 244 S. die Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 92 A. 245 S. N. (Caspar von Schrenck-Notzing), Kuehnelt-Leddihn, Erik Maria, in: ders., Lexikon des Konservatismus, S. 337-338. Zum Namensgebrauch von Kuehnelt-Leddihn s. Fußnote 97 in Kapitel I.3.
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Flüchtling, gelehrt hatte, aus dem Blatt heraushielt. Dirks teilte zwar nicht dessen Auffassungen, begegnete ihnen aber anfangs mit Respekt. Seine Entscheidung, eines der betont amerikakritischen Bücher von Kuehnelt-Leddihn nicht zu besprechen, begründete Dirks mit der vermuteten Rezeption der Leserschaft: »Am Antiamerikanismus stosse ich mich nicht. Aber man muss sich doch wohl überlegen, ob unser Care-Pakete akzeptierendes (und jetzt keineswegs Care-Pakete absendendes) zu jedem Ressentiment neigendes Publikum sich nicht ganz gegen Ihre Absicht in diesem Ressentiment bestärkt und gerechtfertigt fühlen könnte.«246 Ein Manuskript »Identität und Diversität« fand redaktionsintern keine Gnade. Ein »Wust gescheiter Fremdworte«, so Walter Guggenheimer, überkleistere »aufgepudelte Banalitäten« und »konservative Flachheiten«; er habe keine Zeit zu einer Überarbeitung. Walter Dirks gab zu bedenken, dass der Artikel trotz des »reaktionären Parfüms« zum Teil anregend sei und »die eine Seite unserer Position« ausspreche.247 In den folgenden Jahren sah er Kuehnelt-Leddihn zunehmend kritisch und »gar nicht mehr auf der früheren Höhe«, er produziere eine »mir nicht zusagende Mischung von Ernst und Feuilleton«.248 Wenn er wieder einmal einen Aufsatz ablehnte, versteckte er sich hinter seinen Kollegen: »Die anderen Mitglieder der Redaktion liessen sich leider nicht in gleichem Maße für den Aufsatz und seinen Abdruck interessieren.«249 Der Kontakt mit Rudolf Krämer-Badoni (1913-1989), einem Schriftsteller und Kulturkritiker, regelmäßiger Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den 1950er Jahren, endete dann allerdings in einem Eklat, weil ein von ihm eingereichtes Manuskript inhaltlich verunstaltet worden sei, von einem »geistigen Verbrecher«, dem er »die Pest an den Hals« wünsche; die Antwort kam dann von Eugen Kogon, der die Redaktion des Artikels besorgt hatte.250 Dirks’ älterer Kollege Wilhelm Hausenstein (1882-1957) aus der Frankfurter Zeitung251 bemerkte »nicht ohne Schmerz«, dass die Frankfurter Hefte, obwohl ebenso 246 Walter Dirks an Erik von Kuehnelt-Leddihn, 8.12.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 75. 247 Walter Guggenheimer an Walter Dirks und Eugen Kogon, 24.6.1953; Walter Dirks an Eugen Kogon, 15.6.1963, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 86 A; 248 Walter Dirks an Eugen Kogon, 6.8.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 86 A. 249 Walter Dirks an Erik von Kuehnelt-Leddihn, 13.7.1957, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 114. 250 Rudolf Krämer-Badoni an Walter Dirks, 16.5.1955; Eugen Kogon an Rudolf Krämer-Badoni, 20.5.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 108 A. 251 Hausenstein studierte Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität München, war als sozialdemokratischer Aktivist (1907-1919) aber an einer akademischen Karriere gehindert und betätigte sich in den 1920er Jahren als freier Schriftsteller für verschiedene Zeitungen, darunter auch die Frankfurter Zeitung. Von 1934 bis 1943 leitete er deren Literaturblatt und die Frauenbeilage. Aus der Reichsschrifttumskammer wurde er 1936 ausgeschlossen, weil er sich weigerte, die Namen jüdischer Künstler aus seiner »Kunstgeschichte« zu entfernen und moderne Werke als entartete Kunst zu bezeichnen. Nach der Einstellung der Frankfurter Zeitung arbeitete Hausenstein, der mit einer jüdischen Frau
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»von einem spezifischen Standort her geschrieben: dem katholischen«, seine letzten Bücher nicht wahrgenommen hätten.252 Immer wieder legte er Dirks zudem eine Besprechung von »Die Welt des Schweigens«, einer 1948 erschienenen antimodernen Programmschrift des Schweizer Kulturphilosophen Max Picard (1888-1965), ans Herz.253 Dirks ließ den Faden zu Hausenstein nicht abreißen und bestritt mit Vehemenz, dass es politische Vorbehalte gegen ihn gäbe: »Das, was Sie den konservativen Geist nennen, findet unsere und meine entschiedene Zustimmung.«254 Hausenstein wiederum betonte kurz vor seiner Ernennung zum ersten Gesandten der Bundesrepublik in Frankreich: »Es hat immer zu meinen Lieblingsvorstellungen gehört, dass wir vielleicht noch einmal an einer Frankfurter Zeitung zusammenarbeiten würden …«255 Zu dieser Zeit, im Gründungsjahr der Bundesrepublik, bahnte sich bereits eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Frankfurter Heften und katholischen Rechtsintellektuellen aus der Wochenzeitung Rheinischer Merkur sowie der Zeitschrift Neues Abendland um die geistige Vorherrschaft im katholischen Feld an,256 nachdem der einflussreiche katholische Verleger Johann Wilhelm Naumann (18971956) den Frankfurter Heften noch im März 1949 großes Lob gezollt und Walter Dirks zur Mitarbeit an der von ihm geleiteten Augsburger Tagespost eingeladen hatte: »Wir müssen kämpfen darum, daß die katholische Publizistik durch Qualität sich ihren Platz an der Sonne erobert.«257 Walter Dirks hängte es nicht an die große Glocke, dass er, obgleich von der CDU enttäuscht, weiterhin deren Mitglied blieb. Namentlich mit Rainer Barzel, einem Bekannten aus der katholischen Jugendbewegung, verband ihn Anfang der 1950er Jahre eine persönliche Freundschaft.258 Die wohl vor allem taktisch motivierte Aufrechterhaltung seiner Mitgliedschaft in der CDU hinderte Dirks nicht an einer fundamentalen Kritik der polizeistaatlichen Methoden im Kampf gegen den Kommunismus. In einem Brief des Ostbüros der CDU in West-Berlin war er davor
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verheiratet war, mit der er 1940 gemeinsam zur katholischen Kirche konvertierte, hauptsächlich an seinen Jugenderinnerungen Lux Perpetua (vgl. den eigenhändig verfassten Lebenslauf vom 6.5.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 51). bis 1950, als er zunächst als Generalkonsul, später Botschafter nach Paris ging, blieb Hausenstein freier Schriftsteller; wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid betätigte er sich als Übersetzer Baudelaires; vgl. Johannes Werner, Wilhelm Hausenstein, Ein Lebenslauf, München 2005, S. 135 ff.; Ulrich Lappenküper, Wilhelm Hausenstein. Adenauers erster Missionschef in Paris, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 43, 1995, S. 635-678. Wilhelm Hausenstein an Walter Dirks, 17.3.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38 B. Wilhelm Hausenstein an Walter Dirks, 12.7.1949, 16.6.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38 B. Walter Dirks an Wilhelm Hausenstein, 28.3.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38 B; kleinere Schriften von Hausenstein wurden 1949 und 1950 in den Frankfurter Heften rezensiert, die Publikationen von Picard blieben unberücksichtigt. Wilhelm Hausenstein an Walter Dirks, 7.6.1949, 16.6.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 51. S. Kapitel II.2.1. Johann Wilhelm Naumann an Walter Dirks, 18.3.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 42 A. Rainer Barzel an Walter Dirks, 22.6.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 48.
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gewarnt worden, einen ehemaligen persönlichen Referenten des Vorsitzenden der Ost-CDU, Gerald Götting, zu empfangen. Dirks antwortete umgehend: »Dass Herr Günter Wirth nicht Privatmann, sondern Funktionär ist, hat uns interessiert. Dass Sie wissen, dass er uns geschrieben hat, hat uns befremdet. Hat er es Ihnen mitgeteilt? Oder bespitzeln Sie seine Post? Das Briefgeheimnis ist durch das Grundgesetz, das auch für Sie gilt, und durch das ungeschriebene Gesetz der guten Sitten geschützt. Wir haben wenig Sympathie für die Ost-CDU. Aber wir glauben nicht, dass der Geist und das System des Ostens durch den Geist von Spitzeln und Denunzianten überwunden werden kann.« Auch die Antwort, dass angesichts des »bedenkenlosen Einschaltens sowjetdeutscher Stellen zur Infiltration« Westdeutschlands alle »demokratischen Kräfte, die noch einen Begriff von Freiheit haben«, gezwungen wären, »einen Riegel vorzuschieben«, befriedigte Dirks keineswegs: »Ich nehme die Sache so ernst, weil ich es für eine grosse und allgemeine Gefahr halte, dass man sich im notwendigen Kampf vom Geist und von den Methoden des Gegners anstecken lässt. (…) Und da ich selbst der CDU angehöre, wäre es mir schmerzlich, mir vorstellen zu müssen, dass diese Partei im Eifer des Gefechts dazu überginge, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.«259 Dirks und die Frankfurter Hefte ließen sich nicht vom Kurs gegen die militärische Westintegration und für eine Verständigung mit der östlichen Seite abbringen, was einigen Protest hervorrief. In einem langen Schreiben nahm zum Beispiel der Chefredakteur der Ost-Probleme, Fritz Loewenthal, Anstoß an einem Semjonow-Porträt von Clara Fassbinder und forderte, die Zeitschrift solle von der »oestlich verseuchten Frau Fassbinder klipp und klar abruecken«.260 Als Dirks Anfang 1955 das sogenannte Paulskirchen-Manifest gegen die Wiederaufrüstung unterschrieb, erntete er heftige Kritik des katholischen Landesvorsitzenden der hessischen CDU, Wilhelm Fay (1911-1980), die innerparteilich folgenlos blieb, weil Dirks ohnehin keine Funktionen bekleidete.261 Dafür schrieb Rüdiger Altmann, glühender Bewunderer von Carl Schmitt und promoviert von dem Linkssozialisten Wolfgang Abendroth in Marburg, – unter Pseudonym – in der Zeitschrift des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, Civis, einen Nachruf auf die Frankfurter Hefte; sie »weinen zu viel über die böse Zeit. Ihr aufgewärmter Intellektualismus der 20er Jahre ist unerträglich sentimental. Allmählich reicht das schöne Make-up ihrer 259 Walter Dirks an CDU-Ostbüro, 25.4.1952, 12.5.1952; CDU-Ostbüro an Walter Dirks, 9.4.1952, 10.5.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 70 A. 260 Dr. Fritz Loewenthal an Walter Dirks, 13.8.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 87: Loewenthal (1888-1956) war bis zu seiner Flucht 1947 hoher KPD/SED-Funktionär gewesen. 261 Wilhelm Fay an Walter Dirks, 5.2.1955; Walter Dirks an Wilhelm Fay, 9.2.1955; Wilhelm Fay an Walter Dirks, 17.2.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 105.
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Fortschrittsideologie nicht mehr aus, das frühzeitige Altern der Zeitschrift zu verbergen.«262 Die Frankfurter Hefte gerieten Anfang der 1950er Jahre in eine existenzielle Krise. Die Auflage fiel von etwa 12.000 verkauften Exemplaren 1951/52 (1947 waren es 75.000 gewesen) auf 7.100 Ende 1954.263 Ein notwendiger Büroumbau konnte nur durch Kredite von Kollegen der Frankfurter Neuen Presse, die Dirks noch aus den 1930er Jahren kannte, realisiert werden; die Rückzahlung sollte durch Dirks’ Honorare für Beiträge in dieser Zeitung geleistet werden.264 Der Schuldenberg von 1,5 Millionen DM, der auf dem Verlag der Frankfurter Hefte lastete, wurde schließlich von der dort erscheinenden renommierten Architekturzeitschrift Baukunst und Werkform und vom Verleger der Nürnberger Nachrichten, Joseph Drexel (18961976), mit Ausfallbürgschaften abgetragen, so dass die Herausgabe des Blattes zumindest für einige Monate gesichert war.265 Mitte der 1950er Jahre hatte Drexel sogar den Kauf der Frankfurter Hefte erwogen. Dies war ihm von Max von Brück nahegelegt worden, der auch die persönliche Bekanntschaft zu Walter Dirks vermittelte. Brück wiederum schwebte vor, ein Blatt zu gestalten, das Linkskatholiken, aber auch »Liberale wie mich« beschäftigen sollte.266 Nach Gesprächen mit Dirks musste er allerdings feststellen: »Nun hat also Dirks auch noch den Knoeringen mobilisiert. Seine Projekte sind aber doch nur dann interessant, wenn sie von Katholizismus im engeren Sinn neutralisiert werden können. Ich vermute, dass Sie sich für eine linkskatholische Zeitschrift ebenso wenig erwärmen könnten wie ich, weil wir eine Linkszeitschrift auf breiterer Basis brauchen, die also Katholiken wie Nichtkatholiken die Mitarbeit ermöglicht. (…) Man wird einräumen müssen, dass die Gruppe Dirks über gute Leute verfügt, die uns politisch zumindest benachbart sind. Soweit würde ich, von meinem subjektiven Standpunkt aus, eine ›Kollaboration‹ begrüssen. Allerdings habe ich, auch nach Dirks’ eigenen Äusserungen zu mir, den Eindruck, dass er wohl ein neues Geldpolster gerne hätte, aber im Verein mit dem geschäftigen Kogon die absolute Führung in jedem neuen Projekt nicht aus der Hand geben will.«267 262 Guido Sternberg (= Rüdiger Altmann), Die »Frankfurter Hefte«, in: Civis, Jg. 2, 1955, H. 8, S. 4; Rüdiger Altmann und Johannes Gross waren Gründer dieser Theoriezeitschrift des RCDS; eine Aufstellung der Pseudonyme von Altmann für Artikel in Civis, Stimmen der Zeit, Rheinischer Merkur und Frankfurter Allgemeine Zeitung in den 1950er Jahren in AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, 1/RAAC000029. 263 Detaillierte Zahlen für 1951/52 in einem undatierten Vermerk von Eugen Kogon, für 1954 in einem Vermerk der Redaktion vom 25.8.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 341. 264 Walter Dirks an Marcel Schulte, 8.9.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 83 A. 265 Joseph Drexel an Ernst Niekisch, 21.7.1954; 16.11.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b. 266 Max von Brück an Joseph Drexel, 14.5.1954, in: BAK, Nl. Joseph Drexel, 32. 267 Max von Brück an Joseph Drexel, 29.5.1954, in: BAK, Nl. Joseph Drexel, 32; gemeint ist der bayerische SPD-Vorsitzende Waldemar von Knoeringen.
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Tatsächlich galten die Frankfurter Hefte in den Augen ihrer Leserschaft als links und liberal. Die Auswertung einer Umfrage aus der Mitte des Jahres 1956, an der sich 812 Leser beteiligten (der Fragebogen hatte 7.900 gedruckten Exemplaren beigelegen), ergab ein politisch zwar nicht einheitliches Bild, aber doch eine linksliberale Grundierung. »Aktive Sympathie« für die SPD bekundeten demnach 33,5 Prozent gegenüber 25,8 Prozent für die CDU, 7,3 Prozent für die Gesamtdeutsche Volkspartei und 4,3 Prozent für die FDP. »Keine Sympathie« für eine Partei empfanden 24,8 Prozent. Eine breite Mehrheit bestand allerdings, offenbar über parteipolitische Präferenzen hinweg, im Eintreten für Verhandlungen mit »Moskau/Pankow« oder zumindest mit »Moskau« und einer Ablehnung der Aufrüstung. Jedenfalls blieb es beim Darlehen, das die Frankfurter Hefte vorläufig rettete. Nach dessen Auslaufen Ende 1955 konnten die Herausgeber wohl »andere Quellen flüssig« machen, wie Drexel vermutete.268 Die Auflage stagnierte in den folgenden Jahren auf niedrigem Niveau, so dass die Zeitschrift ein Zuschussgeschäft blieb.269 Der Merkur, von dem schon die Rede war, vertrat im ersten Jahrzehnt seiner Geschichte ein implizites Gegenprogramm: konservativ-elitär, europäisch-humanistisch und kirchenfern-kulturprotestantisch präsentierte man sich dem Bildungsbürgertum. Hans Paeschke, einer der beiden Herausgeber, skizzierte im zweiten Heft der Zeitschrift das Programm dahingehend, dass man nach dem »ungeheuren Ideologie-Verschleiß« des Nationalsozialismus von einer »systematische(n) Auszehrung aller nur möglichen Bekenntnisse« auszugehen habe. Eine Flucht »in den Halt programmatischer Ordnungen« sei nicht mehr möglich. Aufgabe sei es vielmehr, eine »möglichst erschöpfende und genaue Definition der Gegenwart zu finden, die nicht einfach Aktualität bedeutet …«270 Die Prämisse, dass der Nationalsozialismus als nihilistisch alle Ideologien gleichermaßen verzehrender Moloch fungiert habe – Paeschke erwähnte in diesem Zusammenhang den Stichwortgeber Hermann Rauschning –, enthob die in der NS-Zeit publizistisch tätigen Herausgeber der Zeitschrift einer analytischen Selbstkritik und ließ den Duktus eines radikalen Neuanfangs plausibel erscheinen. Dass dieser aber keineswegs voraussetzungslos war, sondern eine konservative Grundierung aufwies, bekräftigte Ernst Robert Curtius, der Mentor der Zeitschrift, in einem Schlüsseltext. Max Scheler zitierend, unterschied er die »vorwiegend liberale Demokratie ›kleiner Eliten‹« von der »herrschend gewordene(n) und auf Frauen und halbe Kinder erweiterte(n) Demokratie«, die eine »Feindin der Vernunft und der Wissenschaft« sei.271 268 Joseph Drexel an Ernst Niekisch, 31.1.1956, in: BAK, Nl. Niekisch, 34 a. 269 Vgl. Unterlagen für die 1960er Jahre in AdsD, Nl. Walter Dirks, 326. 270 Hans Paeschke, Verantwortlichkeit des Geistes, in: Merkur, Jg. 1, 1947, S. 100-110, Zitate S. 101, 102, 109. 271 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, in: Merkur, Jg. 1, 1947, S. 481-497, Zitat in Anm. 1; vgl. Frank-Rutger Hausmann, Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Sechzig Jahre danach, in: Klaus Garber (Hrsg.), Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Ihr Werk mit Blick auf das Europa der Frühen Neuzeit, München 2002, S. 77-88; Hans Manfred Bock, Kulturelle
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Aus dieser Perspektive einer konservativ eingehegten elitären Demokratie definierte Paeschke zwar politisch-kulturelle Zeitschriften als »seismographische Apparaturen des geistigen Lebens eines Volkes,«272, aber dies war nicht als passive Spiegelung von Tendenzen gemeint, sondern als deren aktive Beeinflussung durch publizistische Arbeit. Bewundernswert erscheint die geschickte redaktionelle Strategie von Paeschke und seinem Mitherausgeber Joachim Moras (1902-1961), der Erringung von Hegemonie durch Einbindung eines breiten politischen Spektrums unter dem Banner der angeblich allein maßgeblichen (selbstdefinierten) Qualität und der Zuweisung der Themen für die Autoren sowie deren Platzierung als Ausweis von Pluralismus, in Wirklichkeit als Organisation konservativer Hegemonie.273 Hier wurde kaum etwas dem Zufall überlassen, wie die umfangreiche Korrespondenz der Herausgeber mit den Autoren zeigt. Als Alleinstellungsmerkmal im Segment der »sog. Allgemeinen Kulturzeitschriften in Deutschland« beanspruchten die Herausgeber des Merkur, sich nicht allein auf Literatur und/oder Politik zu fixieren, sondern »die Verarbeitung streng wissenschaftlicher Themen und Probleme«, und sich dabei auch nicht auf ein »Nebeneinander von Beiträgen aus den verschiedensten Forschungsgebieten« zu beschränken, sondern im Heft eine »Art synoptischer Zusammenschau« zu liefern, die in eine »vergleichende Problemkunde« von Natur- und Geisteswissenschaften münden sollte.274 Tatsächlich verfolgte der Merkur eine differenzierte Strategie, in der nach politischer Relevanz hierarchisiert wurde. Im Reich der Ästhetik war bald sehr viel möglich, hier waren die Berührungsängste geringer als im explizit Politischen, und es herrschte eine größere Flexibilität. Allerdings beherrschten und prägten zwei junge Literaten, Hans Egon Holthusen (1913-1999) und Karl Krolow (19151999), mit ihrer lyrischen und essayistischen Produktion die Zeitschrift für ein Jahrzehnt.275 Beide hatten sich für das NS-Regime engagiert, beide zählten in den 1950er Jahren zu den wichtigsten Literaturkritikern der Bundesrepublik. Für den Merkur war Holthusen noch wichtiger, er besaß von Beginn an einen Beratervertrag mit einem monatlichen Fixum. Wählte Paeschke 1947 noch die Anrede »Lieber Holthusen«, »Mein lieber Holthusen« oder »Lieber Freund«, hieß es seit Mitte 1948 »Lieber Hans-Egon«, Moras schrieb den Schriftsteller mit »Lieber Holt« an. Holthusen, europaweit hervorragend vernetzt, wurde immer wieder eingespannt, wenn
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Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 61-122. Hans Paeschke, Der Geist des Auslandes im Spiegel seiner Zeitschriften, Teil 1, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 574-587, Zitat S. 574. Dies wird durch die Auswahl der Beiträge in der Jubiläumsschrift 1997 geradezu geschichtsklitternd übergangen; Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hrsg.), Die Botschaft des MERKUR. Eine Anthologie aus fünfzig Jahren einer Zeitschrift, Stuttgart 1997. Interne Darstellung der Position des Merkur (o. Titel, o. D.; ca. 1964/65), in: DLA, D: Merkur, Redaktionsarchiv, Mappe A-D. Vgl. Hanna Klessinger, Bekenntnis zur Lyrik. Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Heinz Piontek und die Literaturpolitik der Zeitschrift Merkur in den Jahren 1947 bis 1956, Göttingen 2011.
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schwierige Aufgaben zu lösen waren. So übernahm er es, beim Deutschlandbesuch des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset im Sommer 1949, um den ein regelrechter Starkult inszeniert wurde,276 einen Brief von Paeschke zu überreichen, in dem ein »beträchtliches Vermittlungshonorar« der DVA für einen Vortrag des Spaniers avisiert wurde.277 Im beiliegenden Schreiben an Ortega y Gasset erklärte Paeschke: »Was das Honorar anbetrifft, so darf ich mich schon jetzt mit ihrem Vorschlag einverstanden erklären. Eine Zahlung in DM wäre sofort möglich.«278 Dieser Überschwang war seinem Kollegen Moras, der während der NS-Zeit immerhin neun Beiträge des Spaniers in der Europäischen Rundschau publiziert hatte und damit als Garant einer Kontinuität der Rezeption fungierte,279 sogar etwas unheimlich. Nachdem die Mission von Holthusen gelungen war, schrieb er ihm: »Es war mir sehr lieb, daß Du mir so genau Auskunft gabst über Deine Eindrücke von und Deine Bemühungen um Ortega. Ich zweifele nicht, daß ich genau so gehandelt hätte. Ganz verstehe ich ja sowieso nicht den ewigen run auf die Berühmtheiten. Je mehr man sich um sie bemüht, umso weniger bemühen sie sich, umso schwerer ist es dann, nein zu sagen.«280 Bei anderer Gelegenheit erbat Paeschke von Holthusen eine mit Alfred Andersch abrechnende Glosse; der Merkur wünsche sich, er möge »anknüpfend an die sogenannte ›europäische Avantgarde‹ von Andersch’ Gnaden dessen Kriterien sogenannter Modernität einmal unter die Lupe nehmen. Man träfe damit nicht nur den Mann, der es kaum lohnt, sondern einen Typ. Das wäre gut.«281 Holthusen schrieb im Merkur auch gegen Paul Celan, dessen berühmte »Todesfuge« bei der Lesung der Gruppe 47 auf emotionale Ablehnung gestoßen war und die Moras nur als »dubios« bezeichnete.282 Der große Star des westdeutschen Literaturbetriebs der 1950er Jahre, Friedrich Sieburg, hielt sich mit Beiträgen für den Merkur zurück, weil er dort keine konzeptionelle Rolle wie Holthusen spielen sollte. Er war, damals noch Redakteur der Gegenwart, Mitte 1949 zur Mitarbeit am Merkur eingeladen worden, hatte freundlich reagiert und mehrfach betont, obwohl »über unseren literarischen Beziehungen« ein »Unstern zu schweben« scheine,283 dass man sich prinzipiell auf einer Linie
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S. Kapitel II.4.3. Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 25.8.1949, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an José Ortega y Gasset, 25.8.1949, in: DLA, D: Merkur. Zuletzt José Ortega y Gasset, Der Intellektuelle und der Andere, in: Europäische Revue, Jg. 19, 1943, S. 244-249; vgl. auch Einleitung, Fußnote 17. Joachim Moras an Hans Egon Holthusen, 15.9.1949, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 6.8.1951, in: DLA, D: Merkur. Joachim Moras an Hans Egon Holthusen, 12.4.1955, in: DLA, D: Merkur. Friedrich Sieburg an Joachim Moras, 2.5.1955, in: DLA, D: Merkur.
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befinde; aber dann gab es doch immer wieder Gründe, nicht für die Zeitschrift zu schreiben. Auch der Kreis um Ernst Jünger hielt Distanz zum Merkur. Dort dachte man an eine stärker politische Zeitschrift, als Paeschke sie konzipiert hatte: »Früher oder später müßte man indessen an eine Zeitschrift denken, sowohl um über ein eigenes Organ zu verfügen, als auch, um junge Kräfte heranzuziehen. Mit Ihnen und Friedrich Georg würde ich mir zutrauen, die Patres zu stellen, und die Fratres werden sich dann einfinden. (…) Die Zeitschrift ist notwendig, aber man kann das nicht mit Paeschke machen, für den nur die Kategorie des Literarisch-Interessanten besteht.«284 Große Mühe gaben sich die Herausgeber des Merkur, Gottfried Benn zu gewinnen, zu dem Hans Paeschke erstmals im Juli 1948 Kontakt aufgenommen hatte. Hier bedurfte es keines Vermittlers, zumal Benn gegenüber Holthusen eine leichte Skepsis bewahrte. Auch bei Benn handelte es sich um einen alten Bekannten aus den 1930er Jahren, der nun in West-Berlin als Arzt praktizierte und sich in der Rolle des nach wie vor politisch geächteten Außenseiters gefiel, während sich bereits alle Verlage und Redaktionen um ihn bemühten. Seine politische Position beschrieb er in einer ausführlichen und sehr freundlichen Antwort auf Briefe der Herausgeber: »Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zu Grunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.«285 Als aktuell inflationierte und missbrauchte Begriffe galten Benn »Demokratie«, »Humanität« sowie das »Abendland«.286 Gottfried Benn schätzte Paeschke offenbar als sympathischen Impresario und beschrieb ihn in einem Brief an seinen Verleger als »riesig langen jungen Mann, sehr nett, guter Unterhalter, der die ganze literarische Welt kennt«.287 Seinem Freund Friedrich Wilhelm Oelze beschrieb er Paeschke ähnlich: »Ein langer, dünner Jagdhund, ein Lackel fast, aber nett u. angenehm u. von guten Formen.«288 Gottfried Benn überließ dem Merkur in den folgenden Jahren einige seiner neuen literarischen Texte, weil er die Zeitschrift in ihrer Äquidistanz zur US-Orientierung 284 Ernst Jünger an Gerhard Nebel, 12.2.1948; Gerhard Nebel an Ernst Jünger, 17.2.1948, in: Jünger/Nebel, Briefe, S. 173 f.; vgl. auch Kapitel II.3.2. 285 Gottfried Benn an Hans Paeschke, 18.7.1948, in: Gottfried Benn, Hans Paeschke, Joachim Moras. Briefwechsel 1948-1956 (Gottfried Benn, Briefe, Bd. 7). Hrsg. und kommentiert von Holger Hof, Stuttgart 2004, S. 9-15, Zitat S. 11. 286 Ebd., S. 12 f. 287 Gottfried Benn an Max Niedermayer, 28.6.1950, in: Benn, Briefe, S. 77. 288 Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 27.6.1950, in: Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze. Briefwechsel 1932-1956, Bd. 3: 1949-1950, Stuttgart/Göttingen 2016, S. 311 f.
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des Monat und zur »östlichen Gegenbewegung« in Sinn und Form schätzte.289 Das Verhältnis zwischen Paeschke und Benn blieb ungetrübt. Wohl auch, um es nicht aufs Spiel zu setzen, wurde zweimal der Abdruck von Rundfunk-Essays Thilo Kochs für den SFB über Benn abgelehnt, obwohl oder weil dieser sich zu offenkundig als peinlicher Adept des Schriftstellers inszenierte.290 Die Bande zwischen dem Merkur und Holthusen – es wurden Hunderte von Briefen gewechselt – lockerten sich seit Mitte der 1950er Jahre. Einem Vertrauensbruch kam es gleich, als Hans Magnus Enzensberger von Joachim Moras in Kenntnis gesetzt wurde, dass Holthusen seine Lyrik habe rezensieren wollen – »HansEgon interessiert sich natürlich für Hans Magnus« –, man ihm aber nicht zutraue, dass er »unabhängig genug wäre (…) die antagonistischen Gefühle herauszuhalten«; außerdem gehe er nach New York und sei nicht mehr kontrollierbar.291 Der Kontakt zu Enzensberger war 1956 hergestellt worden, weil Paeschke sich von dessen politischer Lyrik »sehr intensiv angesprochen« fühlte, einige seiner Gedichte waren Ende der 1950er Jahre im Merkur abgedruckt worden.292 Holthusen wiederum zählte gekränkt auf, wie viele Texte er für die Süddeutsche Zeitung, den Monat und die Neue Zürcher Zeitung zu liefern habe. Nur für den Merkur habe er nichts. Dass er dann das Angebot, den neuesten Roman des PENClub-Generalsekretärs Rudolf Krämer-Badoni zu rezensieren, nicht annahm, war wenig verwunderlich, hielt er das Werk des politischen Gesinnungsgenossen doch für »hundsmiserabel, unglaublich schlecht«.293 Allerdings löste Holthusen die Verbindung zum Merkur nie vollständig.294 Seit Mitte der 1950er Jahre hatten die Merkur-Herausgeber auch die Möglichkeit, Manuskripte zu Themen der Kunst und literarische Texte an den vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e. V. herausgegebenen Jahresring, Untertitel Ein Schnitt durch Literatur und Kunst der Gegenwart, weiterzureichen. Das Jahrbuch erschien von 1954 bis 1988/89 in der Stuttgarter Deutschen Verlagsanstalt, wo auch – 289 Gottfried Benn an Hans Paeschke, 19.3.1949, in: Benn, Hans Paeschke, S. 22-25, hier S. 23. 290 Thilo Koch an Joachim Moras, 12.8.1952, 13.11.1956, in: DLA, D: Merkur; erst nach dem Tod von Moras nahm Paeschke wieder Kontakt zu Koch auf, der mittlerweile eine wichtige Funktion beim NDR und bald im PEN-Club einnahm; Hans Paeschke an Thilo Koch, 10.5.1966, in: DLA, D: Merkur. 291 Joachim Moras an Hans Magnus Enzensberger, 27.1.1961, in: DLA, D: Merkur; Holthusen ging als Programmdirektor des Goethe House nach New York; zu der dort skandalisierten SS-Vergangenheit s. Kapitel III. 292 Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 8.6.1956, in: DLA, D: Merkur; interessanterweise gilt Holthusen als Entdecker des jungen Lyrikers; vgl. Harry Pross, Memoiren eines Inländers, 1923-1993, München 1993, S. 236 f. 293 Hans Egon Holthusen an Hans Paeschke, 26.10.1962, in: DLA, D: Merkur; KrämerBadoni war mit eigenen Texten beim Merkur wegen mangelnder Qualität immer wieder abgelehnt worden. 294 Vgl. Hans Egon Holthusen, Kleines Divertimento über das Merkurische. Für Hans Paeschke zum siebzigsten Geburtstag, in: ders., Opus 19. Reden und Widerreden aus fünfundzwanzig Jahren, München/Zürich 1983, S. 211-215.
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bis 1962 – der Merkur verlegt wurde.295 Die seit 1955 alle zwei Jahre erscheinende Schrift enthielt hauptsächlich literarische Texte, vereinzelt aber auch kulturpolitische Essays. Der Jahresring berücksichtigte ein breites Spektrum von Autoren, von Ernst und Friedrich Jünger, Hans Egon Holthusen, Gerd Gaiser, Arnold Gehlen und Hans Freyer bis zu Theodor W. Adorno, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss.296 Ein von Böll eingesandter Text war allerdings 1949 von Paeschke besonders brüsk zurückgewiesen worden: »Als Ganzes ist Ihre Arbeit nicht viel mehr als ein gut geschriebener Bericht an Ihre vorgesetzte Behörde.« Erst 1955 nahm der Merkur dann, als Böll sich schriftstellerisch etabliert hatte, wieder den Kontakt auf.297 Auch der Schriftsteller Rolf Schroers erhielt von 1947 bis 1949 Absagen und wurde erst integriert, als er sich innerhalb der Gruppe 47 profilierte; Ende der 1950er Jahre änderte sich die Anrede, das »Herr« wollte Paeschke nun weglassen. Typisch war auch in diesem Fall die sorgfältige konstruktive Kritik, die Schroers als freundlichste Ablehnung bezeichnete, die er je erhalten habe.298 Ein ähnliches Kontaktmuster lässt sich bei Helmut Heißenbüttel beobachten. Die ersten Texte, die er 1951 an den Merkur sandte, wurden abgelehnt; interessant wurde er indes wieder, als er Assistent und dann Nachfolger von Alfred Andersch beim SDR geworden war. In den 1960er Jahren kam es zum Zerwürfnis. Auch der junge Schriftsteller Peter Rühmkorf, dessen Texte vom Merkur 1953 noch zurückgewiesen wurden, erhielt 1960 das Angebot, »Lyrik oder Prosa«, nicht für den Merkur, aber für den Jahresring zu liefern.299 Über Themen der Gesellschaft und politischen Kultur schrieben dagegen im Merkur anfangs fast ausschließlich konservative Intellektuelle.300 So wurden erste literarische Einsendungen des Publizisten Sebastian Haffner 1953 von der Redaktion abgelehnt, während man in seiner Phase als »Kalter Krieger« Ende der 1950er Jahre heftig um ihn warb.301 Ein gutes Beispiel bietet auch Theodor W. Adorno, der für ästhetische und vor allem musikästhetische Themen immer wieder ange295 1956 mit dem Untertitel »Ein Querschnitt durch Literatur und Kunst der Gegenwart« und seit 1958 mit dem Untertitel »Beiträge zur Literatur und Kunst der Gegenwart«; Joachim Moras bildete bis zu seinem Tod 1962 mit Rudolf de le Roi, Erhard Göpel, später Eduard Trier, und Hermann Rinn die Redaktion, die als »Bearbeiter« firmierte. 296 Zur Förderpraxis des Kulturkreises vgl. Werner Bührer, Der Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie und die »kulturelle Modernisierung« der Bundesrepublik in den 50er Jahren, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 583-595. 297 Hans Paeschke an Heinrich Böll, 25.2.1949, 5.10.1955, in: DLA, D: Merkur. 298 Hans Paeschke an Rolf Schroers, 16.6.1948, 2.11.1949, in: DLA, D: Merkur. 299 Redaktion Merkur an Peter Rühmkorf, 27.3.1953; Joachim Moras an Peter Rühmkorf, 15.2.1960, 3.5.1960, in: DLA, D: Merkur. 300 Vgl. Hans Manfred Bock, Die fortgesetzte Modernisierung des Konservativismus. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 1947 bis 1957, in: Grunewald, Europadiskurs, S. 149-185, hier S. 167 ff. 301 Hans Paeschke an Sebastian Haffner, 24.11.1953, in: DLA, D: Merkur; Jürgen Peter Schmied, Sebastian Haffner. Eine Biographie, München 2010, S. 231.
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fragt wurde, auch häufig im Jahresring veröffentlichte, aber nicht ein einziges Mal als Autor für politische und gesellschaftliche Themen in Erwägung gezogen wurde. Die Geschichte des Merkur war, wie die der Frankfurter Hefte, von existenziellen finanziellen Krisen begleitet, man kann die ökonomische Geschichte der Zeitschrift auch als Geschichte einer Krise in Permanenz schreiben. Der Auflagensturz nach der Währungsreform fiel noch krasser aus als bei der Frankfurter Konkurrenz. 50.000 Hefte waren zur Reichsmark-Zeit (1947) verkauft worden. In der Woche nach der Währungsreform druckte man 15.000 Exemplare, die Prognosen für den Verkauf beliefen sich auf 10.000 bis 14.000 Exemplare. In einem Brief an Holthusen beschrieb Paeschke die Lage mit pessimistischem Unterton: »Ein Zuschussgeschäft werden wir erst, wenn wir bis auf 5.000 oder weniger herunter müssten. Ich selbst bin sogar auf 5.000 vorbereitet. Die ›Neue Rundschau‹ hatte zu meiner Zeit 2.500. Niemand kann genau die Absatzmöglichkeiten voraussehen. Eins ist jedoch klar, unsere Intelligenz wird allerschwersten materiellen Krisen entgegengehen. Das ist nicht erstaunlich bei einer Geldform, wenn sie von einer Macht gesteuert wird, für die es den Begriff des Berufs geschweige denn der Berufung nicht mehr gibt, sondern nur den Job. Eine Unzahl von Halbbegabten wird versuchen, sich an den Journalismus anzuhängen, andere bei dem professionalen Beamtentum. Das gebildete Beamtentum, das bisher kein Geld hatte und das bischen Überschuss an Gehalt für den Schwarzmarkt opfern musste, ist fortan die einzige Hoffnung für unseren Absatz.«302 Sogar die pessimistische Prognose erwies sich als zu optimistisch, die Auflage befand sich im freien Fall. Der Tiefpunkt wurde mit 2.500 Exemplaren erst 1950 erreicht. Die traditionsreiche Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart, zu der man seit Februar 1948 gehörte – dort war auch die von Moras herausgegebene Europäische Revue erschienen –, war nicht bereit oder nicht in der Lage, die defizitäre Zeitschrift dauerhaft zu subventionieren, wenn nicht finanzielle Einschnitte erfolgen würden. Hinter den Kulissen fanden Gespräche mit dem Verlag Kurt Desch statt; sogar der Entwurf eines Verlagsvertrags lag bereits vor.303 Aber dieser einer Neuaufstellung blieb ergebnislos. Außerdem verhandelten die Herausgeber des Merkur mit dem zurückgekehrten Verlag S. Fischer, dessen Neue Rundschau Paeschke in der NS-Zeit geleitet hatte. Über die erfreulichen Aussichten berichtete er Holthusen: »Suhrkamp war gestern bei mir und sagte ernsthaft, dass er in der letzten Zeit über seine Kartei über Buchhändler und Leser wegen des ›Merkur‹ herumgefragt habe und ohne weiteres einen festen Kundenstamm von mindestens 8.000 Lesern binnen kurzem auf die Beine bringen könne. Jetzt vor Weihnachten würde er glatt 12.000 verkaufen können.«304 302 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 26.6.1948, in: DLA, D: Merkur. 303 Hans Paeschke an Kurt Desch, 5.10.1948, in: DLA, D: Merkur. 304 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 20.10.1948, in: DLA, D: Merkur.
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Die Gespräche mit Suhrkamp als Beauftragtem des S. Fischer Verlags im Herbst 1948 verliefen im Sande, wohl deshalb, weil die Möglichkeit, die traditionsreiche Neue Rundschau wiederzubeleben, als kostengünstiger angesehen wurde. Vor diesem Hintergrund erklärt sich ein ausführliches, sechsseitiges Schreiben von Paeschke an den »lieben Peter Suhrkamp«, in dem er sich gegen den Vorwurf verwahrte, er habe »in keineswegs loyaler Weise« seine frühere Stellung bei der Neuen Rundschau benutzt, um deren Hausautoren systematisch abzuwerben.305 Dass sich die Beziehungen zwischen Paeschke und Suhrkamp später wieder aufhellten, lag wohl daran, dass letzterer sich 1950 vom Fischer-Verlag getrennt hatte. Dort hatten im zweiten Halbjahr 1949, aufmerksam registriert von den Merkur-Herausgebern, unter Federführung von Dolf Sternberger die Planungen für einen Neubeginn der Neuen Rundschau auf dem deutschen Markt begonnen. An Holthusen schrieb Paeschke: »Sternberger wird die ›Neue Rundschau‹ machen. Nun ist das also die grosse Gegenkombination! Ein sehr respektabler Gegner, dem gegenüber wir alle Kräfte brauchen werden, zumal die NR natürlich über Bermann auch Devisenmöglichkeiten hat, wenn auch nicht so sehr wie der ›Monat‹. Immerhin: wie sollen wir an Original-Beiträge grosser Ausländer herankommen, wenn wir nicht zahlen können?«306 Dolf Sternberger, Mitherausgeber der Ende 1949 eingestellten Wandlung, wollte mit der Neuen Rundschau direkt an die Zeitschrift anknüpfen, wie er an Karl Jaspers schrieb, den er als Autor zu gewinnen versuchte,307 ebenso wie Hannah Arendt – ausgerechnet mit einer Kritik an Martin Heideggers Platon-Büchlein von 1947, das konnte nicht gelingen.308 An diverse Redaktionen und Verlage im In- und Ausland ging die Mitteilung, dass das erste Heft im Januar 1950 erscheinen werde. Glückwünsche erreichten ihn von Günther Anders aus New York, Wilhelm Hausenstein bot sofort seine Mitarbeit an, ebenso wie Alexander Rüstow und weitere Kollegen. Paeschke allerdings war mittlerweile weniger sorgenvoll gestimmt. Den in London lebenden Wolfgang von Einsiedel, Freund von Joachim Moras und um 1950 mit einem monatlichen Fixum von 200 DM beratend für den Merkur tätig, informierte er: »Ob dieser ehrenvolle Titel heute noch seinen Klang und seine Wirkung zu bewahren weiss? In den letzten 20 Jahren ist sie (die Neue Rundschau; A. S.) doch zu einer recht hübschen Hure heruntergekommen, die durch die Hände von so
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Hans Paeschke an Peter Suhrkamp, 29.12.1948, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 16.8.1949, in: DLA, D: Merkur. Dolf Sternberger an Karl Jaspers, 22.8.1949, in: Jaspers, Korrespondenzen, S. 738. Dolf Sternberger an Hannah Arendt, 19.8.1949, 13.9.1949, in: DLA, A: Dolf Sternberger; Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den »Humanismus«, Bern 1947.
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viel extrem verschiedenen Menschen, wie Suhrkamp, Sie, Karl Korn, ich (und neuerdings Sternberger) gegangen ist.«309 Der Merkur hatte Glück, denn nur Tage später zog sich Sternberger von dem Zeitschriftenprojekt zurück. In einem ausführlichen Brief an Rüstow nannte er die Gründe dafür, zum einen ungeklärte Verlagsverhältnisse zwischen dem deutschen und dem in Amsterdam ansässigen Teil, wo das Blatt verlegt und hergestellt werden sollte; dies erscheine ihm aus »geistigen, rechtlichen und endlich auch redaktionstechnischen Gründen hemmend und bedenklich«. Zum anderen wolle BermannFischer keine monatliche Erscheinungsweise riskieren.310 Hinter Steinbergers Absprung standen wohl auch Spannungen zwischen ihm und dem Verlagsleiter des S. Fischer Verlags in Amsterdam, Rudolf Hirsch (1905-1991), der 1950 in die Bundesrepublik remigrierte und seit 1952 als Chefredakteur der Neuen Rundschau fungierte. Obwohl die Zeitschrift einen universalen geistigen Horizont zu vertreten beanspruchte, verblieb sie doch weitgehend in literarischen Gefilden. Die Sanierung des Merkur gelang – unter dem Dach der Deutschen Verlagsanstalt – erst 1950. In einem Brief an den Philosophen Max Bense sprach Hans Paeschke seine Hoffnung auf eine Rettung der Zeitschrift an, verhehlte aber auch nicht seine ambivalenten Gefühle: »Die jetzige DVA ist Bosch, ist Bad Boll.«311 Das liberalkonservative Milieu um den Elektrokonzern und die nationalkonservativen Aktivisten der Württembergischen Landeskirche wurde durchaus nicht als identisch mit den eigenen Vorstellungen, sondern als provinzielle Beschränktheit erachtet. Allerdings machten sich die Merkur-Herausgeber offenbar falsche Vorstellungen von einer Einheit der einwirkenden Kräfte. So schrieb Wolfgang Höpker, der stellvertretende Chefredakteur von Christ und Welt, der vom Württembergischen Landesbischof Theophil Wurm herausgegebenen Wochenzeitung, an den ehemaligen Tat-Kreis-Publizisten Ernst Wilhelm Eschmann: »Von gut informierter Stelle wurde mir versichert, dass die Unterstützung des Herrn in Bonn lediglich moralischer und geistiger Art sei, was vor allem für Frankreich gälte. Den – zweifellos nicht geringen – Zuschuss, den das Blatt braucht, steure lediglich die Deutsche Verlagsanstalt bei.«312 Theodor Heuss, der hier angesprochene »Herr in Bonn«, war mit Paeschke und mehr noch mit Moras seit Langem bekannt. Von ihm war tatsächlich wohl keine finanzielle Hilfe erwartet worden, sondern seine Fürsprache in den laufenden Verhandlungen mit der DVA. In einem längeren Schreiben unterrichtete Moras den Bundespräsidenten von den Schwierigkeiten für eine Zeitschrift, die
309 Hans Paeschke an Wolfgang von Einsiedel, 22.12.1949, in: DLA, D: Merkur. 310 Dolf Sternberger an Alexander Rüstow, 24.2.1950, in: DLA, A: Dolf Sternberger. 311 Hans Paeschke an Max Bense, 17.5.1950, in: DLA, D: Merkur; tatsächlich besaß Bosch bereits seit 1920 die Mehrheit der Anteile an der DVA. 312 Wolfgang Höpker an Ernst Wilhelm Eschmann, 22.5.1950, in: DLA, A: Eschmann.
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»unabhängig von Unterstützungen, sei es alliierter (›Der Monat‹), kirchlicher (›Hochland‹, ›Stimmen der Zeit‹, ›Frankfurter Hefte‹) oder parteipolitischer Herkunft ohne ideologische oder konfessionelle Programmatik dem humanistischen Ideal Europas dienen will. In diesem Sinne ist der ›Merkur‹ eine der wenigen, wenn nicht die einzige freie geistige Zeitschrift Westdeutschlands geblieben.«313 Der Bundespräsident wurde auch darüber informiert, dass sich mittlerweile ein Kuratorium um Dr. Gerhard Stroomann, Chefarzt des Sanatoriums Bühlerhöhe bei Baden-Baden, gebildet habe. Dessen Ziel sei die Aufbringung eines Teils des erforderlichen Zuschusses für den Merkur, um die DVA finanziell zu entlasten, »durch einen Appell an einen engeren Kreis geistig interessierter Persönlichkeiten im Wege einer Stiftung aufzubringen«. Heuss wurde in diesem Zusammenhang gebeten, ein gutes Wort bei Direktor Walz vom Bosch-Konzern einzulegen, der auch die DVA kontrolliere. Er möge vermitteln, »dass man etwas Geduld mit uns hat und nicht übereilt aus kapitalistischen Gründen ein recht empfindliches geistiges Kapital gefährdet, das wir so kühn sind, angesichts der ideologischen Bedrohung – nicht nur aus dem Osten – für unersetzlich zu halten.«314 Mit ähnlichen Argumenten wurde auch José Ortega y Gasset, der in seine spanische Heimat zurückgekehrt war, gebeten, als Fürsprecher für den Merkur bei der DVA vorstellig zu werden.315 1952 erklärte Ortega y Gasset seine Bereitschaft, als Unterstützer des Merkur im international besetzten »Kreis der Freunde europäischen Denkens« mitzuwirken.316 An Gottfried Benn hatte Paeschke Anfang Mai 1950 geschrieben, die Herausgeber hätten sich entschlossen, einen »sofortigen Appell auf eine gewisse private Abstützung seitens der sogenannten freien Wirtschaft« zu starten: »An und für sich sind die erforderlichen Summen ein Rotz (30 Leute à 1000 oder 60 à 500 Mark würden unser Erscheinen garantieren, wobei vor allem auch an von der Steuer abzugsfähige und über Werbeetat zu verbuchende Anzeigen gedacht ist). Ob man mit der Tatsache, dass wir heute so ungefähr die letzte kulturelle Zeitschrift von Niveau sind, die ohne Unterstützung von alliierter oder katholisch-kirchlicher oder parteipolitischer Seite existiert, irgend jemanden dazu bewegen kann, ein solches Sümmchen zu uns statt in eines der neuen 38 Spielkasinos Deutschlands zu tragen, weiss ich nicht.«317 313 314 315 316
Joachim Moras an Theodor Heuss, 7.5.1950, in: DLA, D: Merkur. Ebd. Hans Paeschke an José Ortega y Gasset, 26.5.1950, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an José Ortega y Gasset, 24.4.1952, in: DLA, D: Merkur; hier finden sich auch Informationen zur Finanzierung der Zeitschrift durch den Schweizer Industriellen Emil Bührle. 317 Hans Paeschke an Gottfried Benn, 4.5.1950, in: Benn, Hans Paeschke, S. 50-52, Zitat S. 51.
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Die finanziellen Verhandlungen verliefen zunächst äußerst zäh und standen zeitweise am Rande des Abbruchs. Am Verhandlungstisch saßen neben den Vertretern der DVA und den Herausgebern auch Dr. Stroomann für den als Stiftung organisierten Freundeskreis des Merkur. Er erklärte sich in dessen Namen bereit, die Hälfte des jährlich benötigten Zuschusses von 60.000 DM beizutragen. Zudem sorgte die Stiftung für einen amerikanischen Geldgeber, der 20.000 DM, getarnt als unverzinsliches Darlehen, als Geschenk einbringen wollte – dieses Angebot sollte gegenüber dem Verlag geheim gehalten werden.318 Die DVA korrigierte unterdessen ihr ursprüngliches Angebot auf 16.000 DM laufenden Zuschuss und wollte zudem, bei gleichem Ladenpreis, den Umfang des Heftes von 112 auf 72 Seiten verringern und für Honorare insgesamt lediglich 1.000 DM zur Verfügung stellen. Damit, so Paeschke in einem Brief an Wolfgang von Einsiedel, näherte sich die Krise ihrem »Kulminationspunkt«. Die Annahme des Angebots von DVA »würde uns a) auf das Niveau eines Kulturmagazins herabdrücken, b) uns binnen kurzem in der Konkurrenz gegenüber dem ›Monat‹ und den katholischen Zeitschriften lahmlegen (…), c) würden solche Honorare uns den Kampf um führende Autoren unmöglich machen.«319 Noch Ende Juni kursierte unter Intellektuellen das Gerücht, der Merkur werde eingestellt. Karl Jaspers, der der Zeitschrift reserviert gegenüberstand, kommentierte in einem Brief an Hannah Arendt: »Trotz allem schade!«320 Erst im Juli 1950 konnte Paeschke endlich die freudige Mitteilung machen, dass man sich geeinigt habe und der Merkur nun »vorläufig gerettet (sei), wenn auch unter Opferung von 12 Seiten Umfang«.321 Ob der Bundespräsident sich aktiv in die Verhandlungen eingeschaltet hatte, ist nicht sicher, auch wenn wiederholte Dankesbriefe von Paeschke und Moras es vermuten lassen. 1950 und 1953 empfing Heuss die beiden persönlich. Nach der Einigung, seit 1952 residierte die Redaktion in München, erfolgte eine langsame Steigerung der Auflage auf 3.900 (1960). Aber der Merkur blieb ebenso wie die Frankfurter Hefte ein Zuschussgeschäft. Die politische Linie des Merkur hatte sich während der Suche nach einem Verlag deutlich herauskristallisiert. Man verortete sich in einer Äquidistanz zwischen der herrschenden katholischen Ideologie und der marxistischen Bedrohung. In einem Brief an den gut bekannten Stuttgarter Philosophen Max Bense, der den Merkur als reaktionär kritisiert hatte, argumentierte Paeschke prinzipiell: »Der Traditionsanspruch des ›Merkur‹ entspricht also notwendig der neutralisierenden und kritisierenden Funktion, die wir gegenüber den Ideologien ausüben, als den Entartungserscheinungen der europäischen Ideenwelt. Daß diese 318 Hans Paeschke an Wolfgang von Einsiedel, 5.6.1950, in: DLA, D: Merkur. 319 Hans Paeschke an Wolfgang von Einsiedel, 15.6.1950, in: DLA, D: Merkur. 320 Karl Jaspers an Hannah Arendt, 29.6.1950, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 188; vgl. auch S. 183, 189 f., 191. 321 Hans Paeschke an Max Bense, 22.7.1950, in: DLA, D: Merkur.
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Entartung bei allen abendländischen Ideen ausnahmslos angesetzt hat und wirkt, scheint mir nicht zweifelhaft. (…) Dies genau entspricht dem, was der ›Merkur‹ im Geistigen zu leisten versucht: Herauspräparieren der originalen Werte und Muster, womit unser Wertzeichen der Tradition wohl genügend legitimiert ist. (…) Soll ich wirklich ernst nehmen, wenn Sie uns befehden, damit die Katholiken und die Marxisten sich freuen? Sie können versichert sein: denen sind wir ein Dorn im Auge – sie würden sogar erleichtert sein, wenn wir ihnen gegenüber zum Kulturkampf blasen wollten, haben sie doch durch die Jesuiten einerseits, durch Marx andererseits stets den längeren Atem in puncto Dialektik.«322 In dieser Sicht stilisierten sich die »Merkuristen« – diese Anrede gebrauchte Margret Boveri in ihren Briefen an Paeschke und Moras regelmäßig – als elitäre Minderheit, die zudem selbst von der befreundeten Presse nicht genügend beachtet werde. Paeschke meinte – mit Blick auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »unsere wenigen guten Blätter, noch dazu im Feuilleton mit Bekannten besetzt, schweigen sich aus. Ich verstehe das nicht.«323 Mit Gelassenheit registrierte er allerdings die Gründung der Neuen Deutschen Hefte aus dem Hause Bertelsmann, die einen ähnlichen Untertitel wie der Merkur trugen: Beiträge zur europäischen Gegenwart. Einer der beiden Herausgeber, Joachim Günther (1905-1990), kündigte Paeschke die Konkurrenzgründung folgendermaßen an: »Lieber Hans (…) ich nehme an, dass Du und Jochen inzwischen ein Heft bekommen haben werden. Ich habe den Verlag veranlasst, Euch beiden eines zu senden und freue mich, wenn wir dies überhaupt auch in Zukunft so halten wollen, dass wir unsere Blättchen austauschen. Die Verkleinerungsform möchte ich in erster Linie auf das unsere angewandt wissen, haben wir doch nicht nur 20 Seiten weniger als Ihr, sondern werden wohl auch sonst ein wenig leichter wiegen als Ihr (…) Ich weiß nicht, was Du zu Nummer 1 sagen wirst, natürlich bemüht sich jeder um die drei Dutzend Namen derer, die in Deutschland heute einigermaßen schreiben können. (…) Sicher ist, dass unsere Zeitschrift durch den Generations- und Geistesunterschied der beiden Herausgeber wahrscheinlich einen weniger geschlossenen Eindruck als die Eure machen wird. Im Übrigen handelt es sich um ein Baby, das erst mal ein, zwei Jahre heranwachsen muss, ehe man viel darüber sagen könnte.«324 Zwar gewannen die Neuen Deutschen Hefte eine ganze Reihe von Autoren, die auch in anderen Zeitschriften, darunter im Merkur, publizierten, darunter Gottfried Benn, Ernst Wilhelm Eschmann, Romano Guardini, Gustav Hillard und Hans Egon Holthusen. Seit dem dritten Jahrgang lieferte auch Theodor W. Adorno Artikel. Aber trotz einiger jüngerer Autoren, etwa Günter Grass oder Iring Fetscher, 322 Hans Paeschke an Max Bense, 11.5.1950, in: DLA, D: Merkur. 323 Hans Paeschke an Margret Boveri, 7.8.1951, in: DLA, D: Merkur. 324 Joachim Günther an Hans Paeschke, 1.4.1954, in: DLA, D: Merkur.
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atmeten die Neuen Deutschen Hefte keineswegs den Geist des Aufbruchs, den Eschmann beim Merkur so vermisst hatte, an dem er »bei aller Anerkennung der Gescheitheit und Intelligenz in der Führung dieser Zeitschrift diese Massen von purer Intellektualität und diese enorme Feierlichkeit, diesen Mangel an Frische und Witz, kurz an dem eigentlich Zeitschriftenmässigen« schwer erträglich fand.325 Mustert man das Tableau genauer, schrieben in den Neuen Deutschen Heften eben vor allem die Edelfedern der Zwischenkriegszeit, für das jüngere Publikum ein eher unattraktives Programm; hinzu kam als Handicap die vielen bekannte nationalsozialistische Belastung ihres Mitherausgebers Paul Fechter,326 mit dem Joachim Günther die ersten Jahrgänge gestaltete. Nachdem der Merkur in den ersten Nachkriegsjahren vor allem ein Forum für Stellungnahmen kulturkonservativer Granden der Zwischenkriegszeit, Curtius, Heidegger, Jünger, Sedlmayr, geboten hatte, unterstützte die Zeitschrift später die Transformation des herkömmlichen Antimodernismus in einen sich ostentativ nüchtern und sozialwissenschaftlich stilisierenden technokratischen Konservatismus. So erfreute sich der junge Jürgen Habermas in den 1950er Jahren der besonderen väterlichen Sympathie der Merkur-Herausgeber (s. Kapitel II.4.2). Die hohe Bedeutung der Zeitschrift für die intellektuelle Diskussion in der Bundesrepublik kontrastierte besonders krass mit ihrer finanziellen Notlage als permanenter Begleiterin. Eine zweite, etwa drei Jahre dauernde Krise führte den Merkur um 1960 nahe an den Abgrund. Arnold Gehlen reagierte »sprachlos und entrüstet« auf die »schreckliche und beunruhigende Mitteilung«, dass die DVA den Merkur aufgeben wolle, fragte dann aber, ob er »als alter Autor der Zeitschrift« im Hintergrund helfen könne, und gab den Rat: »Gehen Sie doch zu Cotta und den Gewerkschaften! Da gibt es Geld genug. Das Wirtschaftswunder wird in den Fugen abgedichtet, scheints.«327 Hans Egon Holthusen berichtete von einem langen Gespräch mit Heimito von Doderer, der vorgeschlagen habe, den Merkur an die Akademie für Sprache und Dichtung zu binden. Diese könne einen Zuschuss von 15.000 DM geben, aber in diesem Falle müsse die Zeitschrift nach Berlin umziehen.328 Mit dem Wechsel von DVA zu K & W, der zugleich den neuen progressiven Anspruch des Merkur unterstrich, wurde die Krise 1962 – vorübergehend – beendet (s. Kapitel III.1), aber die Zeitschrift erhielt in den folgenden Jahren starke Konkur325 Ernst Wilhelm Eschmann an Joachim Günther, 29.3.1955, DLA, A: Eschmann; Eschmann hatte für die Neuen Deutschen Hefte eine Art Beraterfunktion. 326 Der promovierte Theater- und Kunstkritiker, Schriftsteller und Redakteur Fechter leitete von 1918 bis 1933 das Feuilleton der Deutschen Allgemeinen Zeitung und war – neben der Tätigkeit für andere Blätter – Mitherausgeber der Deutschen Rundschau gewesen. Von 1939 bis 1943 arbeitete Fechter wieder für die DAZ; 1943 fiel er trotz der Anbiederung an Hitler, dessen »Mein Kampf« er in der zweiten Auflage seiner »Geschichte der deutschen Literatur« (1941) als großes literarisches Werk pries, bei den Nationalsozialisten eigener Darstellung zufolge in Ungnade. 327 Arnold Gehlen an Joachim Moras, 8.7.1959, in: DLA, D: Merkur. 328 Hans Egon Holthusen an Hans Paeschke, 21.10.1959, in: DLA, D: Merkur.
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renz von links; ihre einstmalige Avantgardeposition unter den politisch-kulturellen Blättern gewann sie nicht mehr zurück. Das dritte intellektuelle Kraftfeld um eine politisch-kulturelle Zeitschrift bildete sich um den in West-Berlin seit Oktober 1948, also zur Zeit der Berlin-Blockade, erscheinenden Monat; gedruckt wurde er anfangs in München bei der Neuen Zeitung. Mit einer Startauflage von 60.000 Exemplaren und damit selbst im europäischen Rahmen führend, spielte der Monat gewissermaßen in einer anderen Liga als seine Konkurrenten. Die Gründung entsprang nicht deutscher Initiative, sondern der des amerikanischen Publizisten Melvin J. Lasky (1920-2004).329 Lasky hatte im New Yorker City-College zu einer trotzkistischen Gruppe gehört und war im Milieu der ›New York Jewish Intellectuals‹ sozialisiert worden. Er gelangte mit der USArmee nach Deutschland, arbeitete als Berliner Korrespondent linker Blätter wie New Leader und Partisan Review und hatte sich mit seinem Auftritt beim Schriftstellerkongress im Oktober 1947 den Ruf eines unerschrockenen Streiters für die westliche Freiheit erworben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit verschaffte er sich einen Überblick über die deutsche Intellektuellenlandschaft. Sein Tagebuch enthält Einschätzungen der deutschen Geisteselite, etwa von Martin Heidegger, Ernst Robert Curtius und Friedrich Meinecke; in Heidelberg besuchte er Karl Jaspers.330 Vernetzt mit zahlreichen Schriftstellern auch der sogenannten Inneren Emigration, Rudolf Pechel, Friedrich Luft, Rudolf Hagelstange, Günther Birkenfeld u. a. sowie dem Kreis um die Studentenzeitschrift Colloquium an der gerade neu gegründeten Freien Universität, konnte er die für die Re-orientation zuständigen amerikanischen Stellen, die ohnehin eine Operation ›Talk back‹ vorbereiteten, von der Notwendigkeit einer neuen Zeitschrift überzeugen, die als Flaggschiff im Ideenkampf gegen den Kommunismus und für die westliche liberale Demokratie fungieren sollte.331 Mit dieser inhaltlichen Ausrichtung unterschied sich der Monat grundsätzlich vom Merkur, aber auch von den Frankfurter Heften, die bei allen sonstigen Unterschieden programmatisch für ein europäisches Denken im Horizont einer dritten kulturellen Kraft zwischen Bolschewismus und Amerikanismus eintraten. Die publizistische Konkurrenz reagierte entsprechend auf den Monat. Karl Korn schrieb an Hans Paeschke, er stelle es sich nicht einfach vor, die »Konkurrenz von Organen auszuhalten, die wie ›Der Monat‹ über sämtliche Weltbeziehungen verfügen«.332 Und dieser konstatierte: »So geht’s halt, wenn man ein paar Schnösel als Redakteure hat, die den ersten Autoritäten der Welt Dollar-Telegramme schicken können«.333 Dass viele Exil-Autoren in den USA eher vom Monat als von den konkurrierenden Zeitschriften angezogen wurden, war ohnehin klar. So warb Lasky 329 Vgl. Siedler, Wir waren noch einmal davongekommen, S. 312 ff.; die intellektuelle Szene wird hier atmosphärisch dicht geschildert, allerdings mit zahlreichen sachlichen Fehlern. 330 Melvin J. Lasky, Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, Berlin 2014, S. 296 ff. 331 Vgl. Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, S. 68 ff., 139 ff.; Payk, Geist, S. 146 ff. 332 Karl Korn an Hans Paeschke, 4.1.1949, in: DLA, D: Merkur. 333 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 20.7.1949, in: DLA, D: Merkur.
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zum Beispiel heftig um Siegfried Kracauer, den er aus New York kannte: »I would be glad, as I have said before, to see any article that you write.«334 Für die Redaktion des Monat gewann Lasky, der bis 1955 als Herausgeber und Chefredakteur allein im Impressum genannt wurde, als wichtigsten Mitarbeiter Hellmut Jaesrich. 1908 in Berlin geboren, hatte Jaesrich dort sowie in Grenoble, Paris und Heidelberg Neuphilologie, Geschichte und Philosophie studiert, war von Ernst Robert Curtius mit einer Studie zur französischen Literatur 1939 promoviert worden und verbrachte die Kriegszeit im Innendienst der Abwehr. Mit dieser Biographie hätte Jaesrich auch beim Merkur landen können. Stattdessen arbeitete er zunächst als Redakteur in der von Alfred Kantorowicz herausgegebenen Zeitschrift Sie, ehe er dann von Lasky zum Monat geholt wurde. Vielleicht war es das Faible Jaesrichs für die amerikanische Literatur, er übersetzte Tennessee Williams, aber auch Nabokov, das ihn an der Aufgabe reizte. Außerdem handelte es sich um einen gut bezahlten und sicheren Arbeitsplatz. Der Radius des Monat, dafür stand auch Jaesrich, beschränkte sich nicht auf die schmale Elite westlich und international gesinnter Intellektueller. Dem Konzept der Re-orientation folgend wurden vielmehr auch Publizisten umworben, die nicht frei waren von europäischen Ressentiments gegenüber der modernen westlichen Zivilisation, wenn es sich nicht um offenen Antiamerikanismus handelte.335 Primäres Kriterium war eine strikte antikommunistische Haltung, ansonsten setzte man auf allmähliche Lernprozesse und eine Transformation deutscher geistiger Traditionsbestände in eine weltoffene liberale Position. Als Dolf Sternberger Karl Jaspers bittere Vorwürfe machte, dass er einen Artikel im Monat statt in der Wandlung, die sich in ihrer letalen Krise befand, publiziert hatte, antwortete dieser mit einer Eloge auf Laskys Zeitschrift: »Der ›Monat‹ ist die erste wirklich weltbürgerliche, nicht diktierte Zeitschrift, in der so viele Deutsche wie möglich mitarbeiten sollten wegen der Gesinnung, die das Ganze trägt.«336 Der Monat präsentierte sich, ähnlich wie der Merkur, als Forum freier Diskussion im genannten politischen und kulturpolitischen Rahmen. Dabei verschoben sich die Gewichte bei der Auswahl der Autoren. Stammten sie in den ersten drei Jahrgängen noch zu 27 Prozent aus den USA oder Deutschland, zu 18 Prozent aus Großbritannien, zu 7,5 Prozent aus Frankreich und ansonsten aus zehn weiteren Ländern, konzentrierte sich die Herkunft der Autoren, wenn man die Zeitschrift bis 1961 auswertet, auf die Bundesrepublik (40 Prozent), die USA (35 Prozent) und auf Großbritannien (15 Prozent). Unter jenen, die mindestens fünfmal im Blatt vertreten waren, sind zunächst die literarischen Größen der Zeit zu nennen, darunter T. S. Eliot, Thomas Mann, Thornton Wilder und Ernest Hemingway. Unter den Intellektuellen befanden sich auch Theodor W. Adorno, André Gide, George Or334 Melvin J. Lasky an Siegfried Kracauer, 20.1.1949, in: DLA, A: Kracauer. 335 Thomas Keller, Der Monat. Zwischen Verwestlichung und Europäisierung, in: Grunewald, Europadiskurs, S. 245-282. 336 Karl Jaspers an Dolf Sternberger, 24.2.1949, in: Jaspers, Korrespondenzen, S. 711 f., Zitat S. 712.
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well, Aldous Huxley und später Milovan Djilas, also bevorzugt Vertreter der Linken in der Zwischenkriegszeit, die nun als profilierte Antistalinisten hervortraten. Insofern gab es einige Überschneidungen im Autorenkreis des Monat mit demjenigen des Merkur und der Frankfurter Hefte.337 Vom europäischen Abendland war in den Anfangsjahren auch im Monat bisweilen die Rede. Wichtig waren bei dieser ›Bündnispolitik‹ lediglich die Generallinie und deren Kontrolle durch die Redaktion. Zudem kamen im Monat, anders als in allen anderen Zeitschriften, neben dem Inneren Exil zahlreiche Remigranten, vor allem aus den USA, zu Wort, die sich in den 1930er Jahren von der KPD gelöst und für eine jener kleinen linkssozialistischen Gruppen – Sozialistische Arbeiterpartei, Neu Beginnen, Internationaler Sozialistischer Kampfbund, Trotzkisten u. a. – engagiert hatten, die sich von der reformistischen Sozialdemokratie ebenso wie vom stalinistischen Kommunismus abgrenzten: Unter den häufig vertretenen Autoren befanden sich Arthur Koestler, Franz Borkenau, Theodor Plivier, Richard Löwenthal, Ossip K. Flechtheim, Ernst Fraenkel, Willy Brandt und etliche andere.338 Aus der biographischen Erfahrung speiste sich eine gemeinsame antitotalitäre Grundüberzeugung, die prägend für den Monat wurde. Spezifisch war für diese Zeitschrift schließlich die Bindung an den von Lasky initiierten Kongress für kulturelle Freiheit (CCF), der erstmals in West-Berlin vom 26. bis 30. Juni 1950 tagte und westliche Freiheit gegen die östliche Friedenspropaganda ins Feld führte (s. Kapitel II.4.1). Hatte die Anfangsauflage des Monat, wie gesagt, 60.000 Exemplare betragen, so fiel sie bis 1954 auf ca. 13.000 zurück. Das war immer noch mehr, als der Merkur und die Frankfurter Hefte zusammen vorweisen konnten. Die amerikanische HICOG hatte die Zeitschrift in der Anfangszeit mit bis zu 420.000 DM jährlich subventioniert, aber auch versucht, Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung zu nehmen. 1954 gelang es über Shepard Stone, die finanzstarke Ford Foundation als Mäzen zu gewinnen und den Monat damit zu privatisieren; den Rahmen bildete eine im August 1954 gegründete Gesellschaft für internationale Publizistik m. b. H. in Berlin, deren Stammkapital von 40.000 DM je zur Hälfte von Lasky und Jaesrich gehalten wurde. Seit Heft 85 (Oktober 1955) wurden sie als Herausgeber im Kopf der Zeitschrift genannt. Mit der Privatisierung intensivierten sich die auch zuvor bereits engen Beziehungen zum CCF, die Herausgeber des Monat nahmen seither auch an den Planungstreffen der europäischen Zeitschriften des CCF teil.339 1957 überstieg die Auflagenhöhe wieder die Grenze von 20.000 Exemplaren, wobei der feste Abon337 Sporadische Kontakte gab es zwischen dem Monat und den Frankfurter Heften, nicht aber zwischen Monat und Merkur. 338 Vgl. Michael Hochgeschwender, Remigranten im Umfeld der Zeitschrift Der Monat und des Congress for Cultural Freedom (CCF), in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 180-206. 339 Hochgeschwender, Freiheit, 162 ff.; vgl. Frances Stonor Saunders, Wer die Zeche zahlt …: Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg, Berlin 1999, S. 204 ff.
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nentenstamm bei nur etwa 10 Prozent lag.340 Ein Jahr später verließ Lasky die Redaktion und wechselte zur britischen Zeitschrift des CCF, dem Encounter. Zugleich stellte die Ford Foundation ihre Subventionierung ein, Hauptsponsor wurde der CCF selbst. Die Gesellschaft für internationale Publizistik bildete weiterhin den Rahmen. Gesellschafter und Herausgeber der Zeitschrift wurde neben Lasky und Jaesrich auch der Schweizer Publizist Fritz René Allemann, der seine Position allerdings 1964 unter nicht geklärten Umständen wieder aufgab. An seine Stelle trat der Schriftsteller Peter Härtling. Seit der Anbindung an den CCF 1958 flossen, zum Teil getarnt als Zuwendungen amerikanischer Gewerkschaften, Gelder der CIA an den Monat, jährlich ca. 50.000 DM. Die Zeitschrift verlor, für die Leserschaft allerdings nicht erkennbar, an Unabhängigkeit. Kritik an der amerikanischen Politik wurde nun bisweilen unterbunden. Publik wurde die Finanzierung durch die CIA erst Ende 1966, während des Vietnamkrieges. 1971 wurde der Monat nach langem Siechtum eingestellt. Der Überblick über die drei wichtigsten politisch-kulturellen Zeitschriften als medialem Kern intellektueller Gruppenbildung zeigt im Vergleich mit den Zeitschriften der Weimarer Republik eine Tendenz von der Richtungs- zur Forumszeitschrift,341 aber dies sollte nicht mit voraussetzungsloser Offenheit verwechselt werden. Die Organisation eines Forums und die informellen, immer neu austarierten Grenzen des Sagbaren zielten jeweils auf kulturelle Hegemonie im Sinne einer Generallinie. Dies gilt nicht nur für die Frankfurter Hefte, den Merkur und den Monat, sondern in verstärktem Maße für weitere Zeitschriften, die in den Gründerjahren der Bundesrepublik zum politisch-kulturellen Ensemble gehörten und von denen einige bereits vor deren Ende eingestellt werden mussten. Einige weitere Titel im Ensemble der politisch-kulturellen Zeitschriften des ersten Nachkriegsjahrzehnts gruppierten sich um das genannte Dreigestirn oder nahmen eine Position rechts davon ein. Dazu zählte vor allem Neues Abendland (19461958) auf der katholisch-konservativen Seite.342 Dass die Zeitschrift heute völlig vergessen ist, liegt an der Erosion katholisch-konservativen Einflusses seit den 1960er Jahren. Gegründet wurde sie von Johann Wilhelm Naumann (1897-1956), einem profilierten zentrumsnahen Publizisten, der 1932 mit einem umfangreichen Handbuch »Die Presse und der Katholik« hervorgetreten war. Im »Dritten Reich« war er für das Päpstliche Missionswerk in Freiburg tätig gewesen. Von den amerikanischen Behörden erhielt er im Herbst 1945 zusammen mit dem Sozialdemokra340 Ebd., S. 199. 341 Morten Reitmayer, Das politisch-literarische Feld um 1950 und 1930 – ein Vergleich, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 70-91. 342 Vgl. zu Neues Abendland: Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 21-82; Vanessa Plichta (= Vanessa Conze), »Die Erneuerung des Abendlandes wird eine Erneuerung des Reiches sein.« Europaideen in der Zeitschrift »Neues Abendland« (1946-1958), in: Grunewald, Europadiskurs, S. 319-343; Felix Dirsch, Individualisierung und Traditionsbewahrung. Das katholische Milieu der 1950er Jahre und die Zeitschrift »Neues Abendland«, in: Kroll, Kupierte Alternative, S. 101-124; Conze, Europa, 113 ff.
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ten Curt Frenzel eine Lizenz für die Schwäbische Landeszeitung in Augsburg und fungierte in den folgenden Jahren als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft deutscher Zeitungsverleger in der US-Zone. 1948 schied Naumann aus dem Verlag in Augsburg aus und gründete die Augsburger Tagespost, deren Deutschlandausgabe Deutsche Tagespost mit dem Untertitel Unabhängige Tageszeitung für abendländische Politik und Kultur 1951 nach Regensburg übersiedelte und seit 1955 in Würzburg herausgegeben wird. Neues Abendland, der Titel spielte auf die katholische Zeitschrift Das Abendland (1925-1930) an und lebte auch von den Beiträgen etlicher Autoren des Vorgängers, profilierte sich im allgemeinen Chor der Nachkriegszeitschriften zum einen durch eine besonders radikale Abendland-Apotheose. Als einzigen Ausweg aus dem »Nihilismus« der Moderne, auf den sich die Suchbewegung zahlloser Zeitschriften der Nachkriegszeit konzentrierte, propagierte Neues Abendland die konservative Utopie einer Rechristianisierung. Damit verbunden war die Ablehnung jedweden aufklärerischen Humanismus, der den bzw. die Menschen schon begrifflich in den Mittelpunkt stellte. Die Menschheit selbst habe mit der Abwendung von Gott, spätestens seit der Renaissance, jene unheilvolle Entwicklung der Säkularisierung in Gang gesetzt, die im Nihilismus, der Zerstörung aller christlichen Werte, enden musste und den modernen Dämonen, Nationalsozialismus und Bolschewismus, schließlich zur Macht verhalf. In der Konstruktion des Weges dorthin war bei Neues Abendland, im Unterschied zu zahlreichen konservativen Interpreten, die diese Sicht insgesamt teilten, allerdings eine spezifisch antiprotestantische Note enthalten. Das Unheil begann hier nämlich bereits mit Luther und setzte sich über den preußischen Nationalismus bis zu Hitler fort. Insofern erschienen in Neues Abendland in den ersten Jahren zahlreiche föderalistische und antiborussische Aufsätze. Eine antikommunistische Politisierung und Radikalisierung der Zeitschrift setzte schlagartig mit dem Kalten Krieg ein. Der verbliebene teuflische Dämon hieß nun Stalin, der Bolschewismus wurde zum Feind nicht der Demokratie, sondern des Christentums erklärt. Dies ging 1948 einher mit dem Antritt von Emil Franzel (1901-1976) als Chefredakteur.343 Nach dem Studium der Geschichte und Germanistik in Prag, München und Wien hatte Franzel nach der Promotion (1925) für sozialdemokratische Blätter gearbeitet, sich dann aber Mitte der 1930er Jahre der Bewegung Otto Straßers und zugleich der Idee des christlichen Ständestaats zugewandt. Dem Ausschluss aus der Sozialdemokratischen Partei kam Franzel 1937 mit dem Austritt zuvor. Danach engagierte er sich in der sudetendeutschen HenleinPartei und publizierte in der nationalsozialistischen Presse während der Besatzungszeit. Seine Karriere konnte Franzel nach dem Krieg in Bayern bruchlos fortsetzen, nun im konservativ-katholischen Milieu, im Umfeld der Vertriebenenverbände 343 Vgl. die posthum vom Sudetendeutschen Archiv herausgegebenen Erinnerungen von Emil Franzel, Gegen den Wind der Zeit. Erinnerungen eines Unbequemen, München 1983, S. 423 ff.; Vanessa Conze, »Gegen den Wind der Zeit«? Emil Franzel und das »Abendland« zwischen 1930 und 1950, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 181-199.
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und ihrer Presse (häufig unter Pseudonym) und im christlich-sozialen Lager, in späteren Jahren als enger Berater von Franz Josef Strauß.344 1950 geriet die Zeitschrift in eine schwere wirtschaftliche Krise. In einer öffentlichen Erklärung von Redaktion und Verlag hieß es, »das Wort vom Untergang des Abendlandes« sei »kein literarisches Schlagwort, sondern ein realer Alptraum« geworden; in einer Situation, in der es existenziell um die »Rettung und Erneuerung des christlichen Abendlands« gehe, bestehe die Gefahr, dass das Blatt »sein Erscheinen einstellen« müsse, mit der Folge, dass die »Christlich-Konservativen und Föderalisten Deutschlands ohne ein meinungsbildendes, repräsentatives und in der Welt beachtetes Organ« wären. Als Maßnahme wurde eine Halbierung des Heftpreises auf eine DM angekündigt, um die Leserschaft zu erweitern.345 Erst mit dem Verkauf der Zeitschrift an den begüterten Erich Fürst von Waldburg zu Zeil und Trauchburg (1899-1953)346 im April 1951 konnte sie in einer »Verlag Neues Abendland G. m.b.H.« saniert werden. Mit dem katholischen Fürsten, der im Impressum fortan als »Eigentümer« genannt wurde, trat Gerhard Kroll (1910-1963) als Herausgeber an die Spitze von Neues Abendland. Damit radikalisierte sich die Zeitschrift. Der in Breslau geborene promovierte Staatswissenschaftler und Volkswirt hatte vor 1933 der SPD angehört und von 1938 bis 1942 als Statistiker gearbeitet, danach als Soldat gedient. Nach Kriegsende gehörte er zu den Gründern der CSU in Bamberg, bekleidete hohe Ämter als Vorsitzender des Bezirksverbandes Oberfranken, Landrat in Staffelstein und Mitglied des Parlamentarischen Rates. Nach heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen hatte er sich bereits 1948 aus der aktiven Politik zurückgezogen. Von 1949 bis 1951 fungierte er als Geschäftsführer des Münchener Instituts zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit, des späteren Instituts für Zeitgeschichte. Als Kandidat für den Direktorenposten des Instituts scheiterte er an der heftigen Abwehr der protestantisch-nationalkonservativen Fraktion um den Historiker Gerhard Ritter.347 Kroll gehörte zu den bevorzugten Gesprächspartnern von Reinhard Gehlen, dem Leiter der nach ihm benannten Organisation, aus der später der Bundesnachrichtendienst hervorging. Die Abendland-Bewegung und deren Bemühungen, auf die Besetzung des neuen Instituts für Zeitgeschichte Einfluss zu nehmen, bildeten ein wichtiges Anliegen der Organisation Gehlen.348 Die kurze Geschichte von Neues Abendland als intellektueller Referenzraum für eine konservativ-katholische Strömung zeigt die allmähliche und zögerliche Annä344 Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften, S. 81 ff., 235. 345 Mitteilung von Redaktion und Verlag Johann Wilhelm Naumann, in: Neues Abendland, Jg. 5, 1950, S. 285. 346 Vgl. zur Geschichte dieser sehr wohlhabenden katholischen Adelsfamilie Andreas Dornheim, Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlichhistorische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt a. M. 1993; zur Verbindung mit der Zeitschrift Neues Abendland ebd., S. 358 ff. 347 Axel Schildt, Zur Hochkonjunktur des »christlichen Abendlandes« in der westdeutschen Geschichtsschreibung, in: Pfeil, Rückkehr, S. 49-70. 348 Vgl. ausführlich Henke, Geheime Dienste, S. 555 ff.
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herung des zugehörigen bildungsbürgerlichen Milieus an die liberale Demokratie. Es ist als »List der Geschichte« (Anselm Doering-Manteuffel) bezeichnet worden, dass der Antimodernismus und der religiös aufgeladene Antikommunismus dabei gleichwohl eine positive Rolle spielten, weil sie mit föderalistischen und antinationalistischen Ideen einhergingen. Die anfangs keineswegs von demokratischen Werten bestimmte Europakonstruktion einschließlich der Gloriole um die iberischen Diktaturen und antiliberalen Staats- und Gesellschaftsvorstellungen einer autoritären Ständeordnung ließen Teile des katholischen Bildungsbürgertums zunächst das »Behelfsheim« Grundgesetz und die transatlantische Orientierung realpolitisch akzeptieren. Es mag teleologisch klingen, aber als diese Mission erfüllt schien, war das Ende der Zeitschrift Neues Abendland besiegelt. Im ersten Heft von 1958 wurden die Leser darüber informiert, dass die Zeitschrift, obwohl die Auflage bis zuletzt höher gewesen sei als die zahlreicher anderer Periodika mit ähnlichem publizistischem Format, nach Ablauf des Jahres eingestellt werde. »Sehr gründliche Überlegungen und triftige Gründe« hätten den Herausgeber zu diesem Schritt veranlasst; die Leser wurden aufgefordert, stattdessen die Zeitschrift Dokumentation der Woche zu abonnieren, die vom Madrider Europäischen Dokumentationszentrum (CEDI), einem Intellektuellenzirkel im Dunstkreis des Franco-Regimes, herausgegeben wurde.349 Im konservativ-liberalen Spektrum überlebte die vor der Währungsreform mit 220.000 Exemplaren auflagenstärkste Zeitschrift, die Gegenwart, nicht die Gründerjahre der Bundesrepublik.350 Wie bei den konkurrierenden Erzeugnissen führte der Weg steil nach unten. Im September 1950 war die Auflage der »Halbmonatszeitschrift« bei 25.000 Exemplaren angelangt, im folgenden Jahr halbierte sie sich nochmals. Die Gegenwart, deren Verlag Erick Stückrath 1950 von Freiburg nach Frankfurt wechselte, wurde von dem ehemaligen politischen und 1938 ins Feuilleton gewechselten Redakteur der alten Frankfurter Zeitung, Benno Reifenberg (18921970), herausgegeben.351 Die einstigen Kollegen des kunstsinnigen Reifenberg, darunter Friedrich Sieburg, Dolf Sternberger, dieser allerdings erst seit 1950, als sich seine Pläne mit der Neuen Rundschau zerschlagen hatten, und Max von Brück, fungierten als Mitherausgeber und Mitarbeiter der Zeitschrift, die ihre Existenz überhaupt nur dem gescheiterten Versuch verdankte, die alte Frankfurter Zeitung neu herauszugeben. Dazu erteilten die amerikanischen Besatzungsbehörden keine Genehmigung; auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die von anderen ehemaligen Redakteuren gegründet worden war und auch in der Gestaltung an ihre Vorgän349 An unsere Abonnenten und Leser, in: Neues Abendland, Jg. 13, 1958, S. 1; vgl. zum Niedergang der Zeitschrift und der Abendländischen Akademie Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, S. 68 ff.; zum CEDI (1952-1970) vgl. Conze, Europa, 169 ff.; Johannes Großmann, Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014, S. 145 ff. 350 Vgl. Jens Flemming, »Neues Bauen am gegebenen Ort«. Deutschland, Europa und Die Gegenwart, in: Grunewald, Europadiskurs, S. 187-218. 351 Vgl. zum Folgenden Bussiek, Benno Reifenberg, S. 404 ff.
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gerin anknüpfte, hatte erst nach Ablauf der Lizenz-Zeit Ende 1949 gegründet werden können. Die Redaktion der Gegenwart, so die Hoffnung Reifenbergs, sollte als Kader einer zukünftigen Frankfurter Zeitung fungieren. Von einer Konkurrenz mit den Frankfurter Heften war kaum die Rede, dazu war die Leserschaft offenbar zu unterschiedlich. Walter Dirks, der Reifenberg aus alten Tagen bei der Frankfurter Zeitung gut kannte, bewahrte ihm gegenüber eine freundliche Zurückhaltung, gab ihm aber zu verstehen, er lese dessen »Texte mit Zustimmung«.352 Innerhalb der Redaktion tobten unter den ausgeprägten Individualisten heftige Grabenkämpfe; dabei ging es immer wieder um Geld. So erhielt Sternberger, der 1951 in die Redaktion eintrat, einen Sondervertrag und damit ein höheres Gehalt als seine Kollegen; »ein korruptiver Punkt«, wie Brück empört an seinen Kollegen Sieburg schrieb, und eine »unzumutbare Belastung«. Während ihm selbst nahegelegt worden sei, wegen der Sparnotwendigkeiten sein Gehalt von 900 auf 750 DM zu kürzen, erhalte Sternberger 1.200 DM ohne erkennbare »Mehrleistung«. Sollte das nicht rückgängig gemacht werden, werde er kündigen.353 Sieburg selbst resignierte bald darauf ohnehin. Es habe sich eine unaufhebbare »Starrheit« über die Gegenwart ausgebreitet, die Redaktion sei »als Ganzes nicht gerade mit der Zeitschrift zufrieden, aber doch für wirkliche Reformvorschläge unzugänglich«; dies sei »für die gemeinsame Plattform auf die Dauer verhängnisvoll«.354 1956 verließ Sieburg die Gegenwart, in der er den »Literarischen Ratgeber«, im Kern das Feuilleton, betreut hatte, und ging nach fast zweijährigen Verhandlungen zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung; hier übernahm er das neue »Literaturblatt«, eine Art Literary Supplement nach Art der Times; auch die Zusicherung einer hohen Alterspension lockte den konservativen Literaturpapst der 1950er Jahre zur Tageszeitung. Die Rettung schien in Gestalt des Nürnberger Verlegers Joseph E. Drexel zu nahen, der die Gegenwart, wie nahezu gleichzeitig auch die Frankfurter Hefte, kaufen und als eigenes Richtungsorgan nutzen wollte. Und wie in jenem Fall war es Max von Brück, der Drexel seit Beginn der 1950er Jahre mit den notwendigen Informationen versorgte, so dass dieser ihm Ende 1953 schrieb: »Nun bin ich ja schon lange auf der Suche nach einem seriösen Objekt und es sieht so aus, als ob ich mit zwei maßgebenden Leuten von der SPD zu einem Übereinkommen gelangen könnte. Eine Zeitschrift, oppositionell, SPD-nahe, anti-restaurativ. (…) Nun ist der Start einer neuen Zeitschrift immer schwieriger als die Fortsetzung bzw. der Umbau einer alten Zeitschrift. In diesem Zusammenhang ist mir ein ganz absurder Gedanke gekommen: Wir sprachen einmal über die Zukunft der ›Gegenwart‹ und Sie waren der Meinung, daß der jetzige Verleger nicht die rechte Lust für die Sache mehr habe und wahrscheinlich eines Tages die Zeitschrift abstoßen würde.« 352 Walter Dirks an Benno Reifenberg, 15.4.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 77 A. 353 Max von Brück an Friedrich Sieburg, 27.9.1951, 29.9.1951, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 354 Friedrich Sieburg an Max von Brück, 28.5.1954, in: DLA, A: Friedrich Sieburg.
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Für diesen Fall habe er, Drexel, Interesse am Kauf.355 Drexel und Brück hielten sich gegenseitig weiter auf dem Laufenden356 und letzterem gelang es sogar, ein persönliches Treffen des Nürnberger Verlegers mit Reifenberg zu arrangieren.357 Aber weitere Sondierungen verliefen im Sande. Dass die Auflage weiter sank, sah Reifenberg als Widerspruch zur steigenden Bedeutung der Zeitschrift für die politische Orientierung der verantwortlichen Eliten und »Gebildeten«. Am 20. Dezember 1958 teilte die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Einstellung der Gegenwart und die Übernahme von fünf ihrer Herausgeber in das Blatt mit, darunter Dolf Sternberger als ständiger Mitarbeiter und Benno Reifenberg als Mitherausgeber der FAZ. Wenige Jahre später endete die lange Geschichte der 1874 von dem jüdischen Publizisten Julius Rodenburg gegründeten Deutschen Rundschau, die seit 1919 und nach einer vierjährigen Unterbrechung vom April 1946 bis zu seinem Tod von Rudolf Pechel (1882-1961) herausgegeben wurde. In der Weimarer Republik hatte die Zeitschrift, ursprünglich als liberale Nationalrevue konzipiert, als Sprachrohr der Jungkonservativen gedient.358 1933 wurde Paul Fechter (1880-1958) Mitherausgeber. Pechel konspirierte nach der Ausschaltung der Jungkonservativen – Edgar Julius Jung, Berater und Redenschreiber Franz von Papens, wurde 1934 ermordet – mit Angehörigen des Widerstandes, darunter Carl Goerdeler. 1942 wurde er verhaftet, die Deutsche Rundschau wegen unbotmäßiger Artikel verboten. Nach dreijähriger Haft in Gefängnissen und Konzentrationslagern wurde er am 1. Februar 1945 von der Anklage wegen Landesverrats aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Nach dem Krieg engagierte sich Pechel zunächst für die CDU im sowjetischen Sektor von Berlin, aber auch für die lutherisch inspirierte, gleichwohl interkonfessionelle Erweckungsbewegung »Moralische Aufrüstung« von Frank Buchman, die ihren Sitz im schweizerischen Caux hatte.359 Im April 1946 erschien die Deutsche Rundschau wieder mit britischer Lizenz, 1948 erfolgte die Übersiedlung nach Stuttgart. Die besondere Note von Pechels Zeitschrift bestand zunächst in einem aggressiven Antikommunismus, der mit der persönlich bereits im »Dritten Reich« bezeugten widerständigen Haltung legitimiert wurde. Dafür stilisierte Pechel die Deutsche Rundschau zur Widerstandszentrale während des NS-Regimes:
355 Joseph E. Drexel an Max von Brück, 8.12.1953, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 32; wie aus der weiteren Korrespondenz hervorgeht, waren mit den beiden SPD-Vertretern Fritz Erler und Carlo Schmid gemeint. 356 Max von Brück an Joseph E. Drexel, 13.12.1953, Joseph E. Drexel an Max von Brück, 17.12.1953, Max von Brück an Joseph E. Drexel, 20.12.1953, 29.12.193, 5.1.1954, 1.2. 1954, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 32. 357 Max von Brück an Joseph E. Drexel, 1.2.1954, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 32. 358 Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die »Deutsche Rundschau«. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918-1933), Bremen 1971. 359 Unterlagen in BAK, Nl. Rudolf Pechel, I/29 und II/6.
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»… so wurde die ›Deutsche Rundschau‹ und mein Haus eine Art Zentrale des Vertrauens, zu der aus allen Widerstandskreisen einige Männer Zutritt suchten und fanden … Ich musste eine strenge Auswahl treffen, um meine Freunde zu schützen und den Gedanken des unbedingten Widerstandes ohne jede Konzession rein zu bewahren … Es war mir möglich, Verbindungen zwischen Widerstandskreisen herzustellen, die vorher nicht bestanden hatten.«360 Das Prinzip des »Widerstands« galt für Pechel auch im Kalten Krieg,361 nun nahm der bolschewistische »Totalitarismus« die Stelle des Hauptfeindes ein; die Diktatur der DDR, das »Land im Dunkeln«, galt Pechel im Vergleich zum »Dritten Reich« hinsichtlich der Methoden als ähnlich, aber letztlich als noch schlimmer, weil es sich um eine »Fremdherrschaft« handele.362 Differenzierte Artikel fanden sich zu diesem Thema in den frühen 1950er Jahren nicht, die Gleichsetzung von linkem und rechtem »Totalitarismus« war gewissermaßen das Markenzeichen der Zeitschrift. Die Schwarz-Weiß-Zeichnung im Ost-West-Vergleich und die Propaganda der gesamtdeutschen Alleinvertretung durch die Bundesrepublik trugen viel zum Image der Deutschen Rundschau als staatsnah bei. Hinzu kamen die radikale Ablehnung von neutralistischen Ideen und eine weitgehend regierungskonforme Vorstellung künftiger westeuropäischer Integration, wobei allerdings die Verbindung zu Frankreich im Vordergrund stand und der vorauseilende Gehorsam Adenauers gegenüber den USA in der Zeitschrift kritisiert wurde. Aber Pechel war kein konformistischer Schreiber, »Widerstand« als Haltung im Sinne des Eintretens für Gerechtigkeit mit sehr festen Ansichten ließ ihn zunehmend als starr und dogmatisch erscheinen. Den Kongress für kulturelle Freiheit begrüßte Pechel 1950 als Zeichen des entschlossenen Widerstands, wandte sich allerdings gegen dort vorhandene Tendenzen zu Kompromissen; hier folgte er jenen radikalen Protagonisten wie etwa Arthur Koestler, die für einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion warben. Pechel engagierte sich in den Gremien des CCF, im PEN-Zentrum (in das er im April 1933 aufgenommen worden war) und in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sein Nimbus als Hitler-Gegner war unbestritten, sein Sammelband »Zwischen den Zeilen« (1948) fand unter jüngeren Akademikern interessierte Aufnahme. Anders als allgemein üblich legte sich Pechel keine Zurückhaltung in der Kritik der Anpassung ehemaliger Kollegen aus der NS-Zeit auf. Mit Paul Fechter 360 Zit. nach dem MS von Marianne Regensburger, Aus Kultur und Wissenschaft. Zum 75. Geburtstag von Rudolf Pechel. RIAS. Sendung am 30.10.1957, RIAS I von 22.30-22.45 und RIAS II von 21.45-22.00, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, Teil I, 23. 361 Vgl. Rosemarie Schäfer, Rudolf Pechel und die »Deutsche Rundschau« 1946-1961. Zeitgeschehen und Zeitgeschichte im Spiegel einer konservativen politischen Zeitschrift. Eine Studie zur konservativen Publizistik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Wirtschafts- und sozialwiss. Diss. Universität Göttingen 1975, S. 201 ff.; Claudia Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundposition als Widerstand »mit dem Rücken zur Wand«, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 164-180. 362 Schäfer, Rudolf Pechel, S. 206 ff.
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etwa hatte er längst gebrochen. Die Deutsche Rundschau wandte sich gegen jegliche »Renazifizierung«, und Pechel fungierte als Ehrenpräsident des aus dem Grünwalder Kreis von Hans Werner Richter und anderen 1956 gegründeten Clubs republikanischer Publizisten, der sich gegen rechtsextreme Gefahren in der Bundesrepublik wandte.363 In den letzten Jahren seines Lebens war er in einen zähen Rechtsstreit mit dem ehemaligen Nationalsozialisten Kurt Ziesel verstrickt, einem Schriftsteller und politischen Publizisten, der seit den 1950er Jahren gegen alle Kollegen öffentlich polemisierte, die sich nicht zu ihrer Vergangenheit bekennen mochten und als Demokraten auftraten.364 Auch bemühte sich Pechel um deutsche Publizisten im Exil. Zu Kurt Hiller in London unterhielt er engen Briefkontakt, bemühte sich auch um Publikationsmöglichkeiten für dessen antikommunistische Abrechnungsschrift. Allerdings zerstritten sie sich, als Pechel, wie Hiller ihm nachtrug, ein Manuskript »mit ganz doofer, oberlehrerischer Begründung« verwarf; seither nannte er ihn stets den »ödelkonservativen Dr. Pechel«.365 Die angesehene Stellung Pechels wirkte sich nicht positiv auf seine verlegerische Tätigkeit aus. Im Blick auf das Renommee der Autoren und das Niveau der Aufsätze rangierte die Deutsche Rundschau weit hinter dem Merkur oder den Frankfurter Heften. Immerhin befanden sich unter den Redakteuren neben dem patriarchalisch auftretenden Pechel zwei bekanntere Namen: der später sehr aktive politische Publizist Helmut Lindemann (1912-1998) prägte die Zeitschrift im Übergang zur Bundesrepublik 1949/50 mit, und Harry Pross (1923-2010), der aus dem Heidelberger akademischen Milieu um Alfred Weber kam und dort 1949 mit einer wissenssoziologischen Arbeit über die Bündische Jugend promoviert worden war, trat 1955 auf Einladung von Pechel in die Redaktion ein und wurde zudem Mitherausgeber.366 1960 zerstritten sich die beiden – nicht zufällig war die radikale Kritik der Jugendbewegung Stein des Anstoßes. Von 1963 bis 1968 amtierte Pross als Chefredakteur von Radio Bremen, dann erhielt er eine Professur an der FU Berlin. Während Lindemann mit radikaler antikommunistischer Terminologie dem kompromisslosen Kurs der Zeitschrift im beginnenden Kalten Krieg Ausdruck verlieh,367 profilierte Pross das Blatt bereits mit einer Kritik des Antikommunismus, der ihm als »Verhinderung der Politik mit anderen Mitteln«368 erschien – in dieser Hinsicht spiegelte sich auch in der Deutschen Rundschau die Veränderung des intellektuellen Milieus um den Kongress für kulturelle Freiheit.
363 Ebd., S. 243 ff., 275 ff.; vgl. dazu Kapitel II. 364 S. Kapitel II.3.4. 365 Kurt Hiller an Werner Riegel, 26.1.1954, in: Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 101-104, Zitate S. 103; vgl. Kemper, Rudolf Pechels intellektuelle Grundposition, S. 174. 366 Vgl. Harry Pross, »Deutsche Rundschau« 1955-1960. Im Rückblick eines Redakteurs, in: Publizistik, Jg. 36, 1991, S. 156-167; ders., Memoiren, S. 233 ff. 367 Vgl. Schäfer, Rudolf Pechel, S. 204 f. 368 Pross, Deutsche Rundschau, S. 157.
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Seit 1948 befand sich Pechels Zeitschrift wie fast alle anderen auch in einer permanenten Krise. Es sei »ungewiss«, ließ er einen Autor Ende 1949 wissen, ob die Deutsche Rundschau »über das Ende des laufenden Jahres hinaus weiter geführt werden kann«. Neue Manuskripte könne er deshalb nicht annehmen.369 In den folgenden Jahren schaffte es die Zeitschrift gerade eben, eine in etwa ausgeglichene Bilanz vorzulegen, 1954 und 1956 mit leichten Verlusten, 1955 mit einem ebenso geringen Gewinn. Mitte der 1950er Jahre zählte man etwa 700 private Abonnenten. Immerhin glich die Zahl der Zu- die der Abgänge aus.370 Offenbar rettete nur die großzügige Subventionierung durch das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, die seit 1953 erfolgte und 1958 erhöht wurde, die Deutsche Rundschau. Pechel unterhielt mit dessen Minister Franz Thedieck eine ausgedehnte Korrespondenz. Für das dritte Quartal 1961, das letzte zu Lebzeiten Pechels, erhielt die Zeitschrift eine Beihilfe von 12.390 DM, um monatlich 2.500 Exemplare »an interessierte Personen in der sowjetischen Besatzungszone bzw. Ost-Berlin« zu schicken.371 Die reguläre Auflage lag bei maximal 6.000 (1960) und sank dann rasch auf 800 (1963),372 so dass die Zeitschrift eingestellt werden musste. Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegründeten linken sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Zeitschriften für ein intellektuelles Publikum, meist erreichten sie nur geringe Auflagen, teilten das Schicksal der genannten »bildungsbürgerlichen« Blätter. Die von Willi Eichler (1896-1971), der als Vater des Godesberger Programms von 1959 gilt, seit Dezember 1946 herausgegebene Zeitschrift Geist und Tat mit dem Untertitel Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur373 erschien in der Europäischen Verlagsanstalt.374 Sie verzeichnete, wie fast alle anderen derartigen Erzeugnisse, einen dramatischen Rückgang der Auflage, von 75.000 auf 6.500, durch die Währungsreform 1948. Das Ende von Der Monat, Neues Abendland, der Gegenwart und der Deutschen Rundschau kann als Abgesang von verschiedenen Chören des konservativen und 369 Rudolf Pechel an Reinhold Ungern-Sternberg, 19.11.1949, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, Teil II, 8. 370 Vgl. die Aufstellungen der geprüften Bilanz für jene Jahre, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, Teil III, 97. 371 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen an Rudolf Pechel, 27.6.1961, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, Teil III, 142 (das Schreiben ist »Vertraulich« gestempelt); Exemplare der Zeitschrift wurden schon seit 1948 in die SBZ, später in die DDR geschmuggelt; vgl. Schäfer, Rudolf Pechel, S. 209 ff. 372 In der regulären Auflage waren wiederum zahlreiche Abonnements von Bonner Stellen enthalten. 373 Vgl. Friedhelm Boll, Jugendbewegung, Widerstand und Exil, Marxismuskritik und Westorientierung. Der Kreis um die Zeitschrift Geist und Tat, in: Grunewald, Linkes Intellektuellenmilieu, S. 595-640; Katja Marmetschke, Soziale Demokratie und europäische Föderation. Europa-Konzeptionen in Willi Eichlers Zeitschrift Geist und Tat, in: Grunewald, Europadiskurs, S. 73-104. 374 Vgl. Klaus Körner, Europäische Verlagsanstalt, S. 40 ff.
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liberalen Bildungsbürgertums verstanden werden, ebenso wie auf der anderen Seite die Einstellung von Geist und Tat als Abschied einer älteren Generation sozialistischer Theoretiker. Obwohl der Merkur und die Frankfurter Hefte auch danach erschienen: In den 1960er Jahren wurden die Rollen für die intellektuellen Diskurse neu vergeben.
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II. Einübung des Gesprächs –
Intellektuelle in den Medien der frühen Bundesrepublik
Nachdem er einen Versandhauskatalog als »Bestseller des Jahres« vorgestellt hatte, fasste der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger das Ergebnis seiner Lektüre zusammen: »Die Mehrheit unter uns hat sich für eine kleinbürgerliche Hölle entschieden.«1 Der Essay, 1958 im Radio gesendet, später als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen, fasst eine immer noch dominierende Vorstellung zusammen: Die Gründerzeit der Bundesrepublik gilt als geistfeindlich. Im Wiederaufbau, so ein gängiges Narrativ, führten die Flucht aus der Armut der Nachkriegsjahre und die Erlangung bürgerlicher Sekurität breite Schichten der Bevölkerung in die Idiotie reinen Erwerbsstrebens und der Konsumfixiertheit. Der seit der wilhelminischen Zeit überkommene Dualismus von künstlerischem, kreativem Geist und politischer Macht schien neu befestigt. Dabei galt die Währungsreform als Zäsur, die die »schlechte Zeit« voller Hoffnungen von der materiell besseren, aber kulturell armen neuen Epoche trennte. Inmitten der Trümmerlandschaft habe man von einer idealen Ordnung träumen können. Danach sei es doch erneut auf die Wiederherstellung der grauen Normalität einer bürgerlichen Gesellschaft hinausgelaufen. Die Klage darüber gerierte sich nonkonformistisch, war aber zeitgenössisch äußerst populär. Sie brachte Sorgen angesichts der unsicheren Weltlage zum Ausdruck, Zweifel an der Unumkehrbarkeit des wirtschaftlichen Aufstiegs und ein unbehagliches Gefühl, der neue Wohlstand könne die geistige Substanz überwuchern und erodieren lassen. Wer als Intellektueller in der Öffentlichkeit reüssieren wollte, musste diese Gefühlslage berücksichtigen. Das Bild des Bundeskanzlers Konrad Adenauer als eines erfahrenen Kapitäns, der das Staatsschiff, dessen ruhige Fahrt nur vom Gekrächze der (intellektuellen) Möwen begleitet wurde, auf klarem Kurs hielt, besitzt eine hohe Plausibilität nicht nur deshalb, weil im größeren zeitlichen Abstand die Alarmrufe linker Kritiker in der Ära Adenauer als übertrieben erscheinen. Hinzu kommt, dass medial tonangebende Intellektuelle sich selbst in eine völlig isolierte Position gegenüber der politischen Macht, aber auch angesichts des trostlos erscheinenden Konformismus der Massen imaginierten und damit das traditionelle Bild des Intellektuellen als unbedeutendem Quertreiber und hilflosem Mahner beglaubigten.
1 Hans Magnus Enzensberger, Das Plebiszit des Verbrauchers (1960), in: ders., Einzelheiten I, Frankfurt a. M. 1962, S. 167-178, Zitat S. 168.
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Nachdem im ersten Kapitel dieses Buches die Wiederherstellung des intellektuellen Feldes seit Kriegsende vorgestellt wurde, skizziert das zweite Kapitel die intellektuelle Öffentlichkeit der 1950er Jahre, zentrale Themen und typische Diskurse, wichtige Protagonisten und ausgewählte mediale Foren. Die Grenzen des Pluralismus wurden rechts und links außen sehr strikt gezogen. Eine völkisch-deutschnationale und konservativ-revolutionäre Strömung, die in der Zwischenkriegszeit virulent gewirkt hatte, konnte aus verschiedenen Gründen keine neue Bedeutung erlangen. Die alliierten Siegermächte hätten dies unterbunden, zudem waren die hypertrophen Weltdeutungen der rechten Intellektuellen blutig widerlegt worden, die Erinnerung an ihre Blamage noch frisch. Die einstigen Repräsentanten dieser Strömung durften zwar nach kurzer Unterbrechung wieder den Ton angeben, aber dieser klang nun anders, christlich-abendländisch verbrämt und demokratisch domestiziert. Die Anerkennung der neuen Nachkriegsordnung war der Preis für die Fortsetzung unzähliger Karrieren konservativer Publizisten, die allerdings weiterhin auf ihre Netzwerke setzen konnten und die Entwicklung in ihrem Sinn zu beeinflussen versuchten. Betrachtet werden zunächst die dominanten intellektuellen Tendenzen der frühen 1950er Jahre: Hoffnungen auf abendländische »Rechristianisierung«, Empfindungen einer tief reichenden Kulturkrise und antimodernistische Kritik der neuen Gesellschaft am Ende fast aller utopischen Hoffnungen. Lediglich der Mythos Europa verhieß noch Rettung, aber verbunden wurde damit – je nach politischkultureller Position – sehr Unterschiedliches. Im zweiten Abschnitt geht es um Strategien der Intellektuellen, den Nationalsozialismus so umzudeuten, dass sie selbst, die zum weit überwiegenden Teil im NS-Regime publizistisch aktiv gewesen waren, als Opfer erschienen. Damit tauchten sie zugleich Belastungen ihres Publikums in ein milderes Licht. Waren es anfangs nur Einzelgänger, die sich dieser Entschuldungskonjunktur entgegenstellten, nahm die Kritik am Umgang mit dem Nationalsozialismus allmählich zu und war am Ende des Jahrzehnts längst kein Einzelphänomen mehr. Der dritte Abschnitt schildert die Durchsetzung einer – weit über ästhetische Bezirke hinausreichenden – westlichen Moderne und damit den Abschluss eines erbitterten Kampfes, der bereits die intellektuelle Szenerie der Weimarer Republik geprägt hatte, vor dem Hintergrund politischer Westorientierung. Diese nahm in den 1950er Jahren, ob es die Intellektuellen wollten oder nicht, praktische Gestalt an. Zugleich verbreiteten sich liberale Denkmuster, schwächten sich dezisionistische Zwänge und das Argumentieren in Freund-Feind-Kategorien ab. Eingeübt wurde die prinzipielle Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft und der Demokratie als ihrer staatlichen Form in einem neuen Zeitalter – scheinbar – ohne Ideologien. In diesem Rahmen modernisierte sich auch die konservative Grundströmung der frühen Bundesrepublik. Allerdings geriet die westliche Ideologie der Ideologielosigkeit, die am Ende der 1950er Jahre triumphierte, selbst unter Ideologieverdacht jener Intellektuellen, die sich ein Jahrzehnt zuvor als Nonkonformisten verstanden hatten und sich in der 216
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westdeutschen Gesellschaft allmählich nach links wandten. Zudem meldeten sich Vertreter einer jüngeren Generation zu Wort, deren politische Sozialisation erst nach 1945 begonnen hatte. Der Weg vom Nonkonformismus zum linksintellektuellen Engagement, etwa im Medium der Gruppe 47, verbreiterte sich am Ende der 1950er Jahre zur breiten Straße, auf der schließlich sogar Marxisten wandeln durften. Das Interesse am Marxismus nahm auch durch den Zustrom von Intellektuellen aus der DDR zu, von denen viele nach dem Ende des »Tauwetters« 1956 zwar ihre Hoffnungen auf eine Veränderung der Verhältnisse in Ostdeutschland begruben, nicht aber ihre sozialistischen Überzeugungen aufgeben wollten.
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1. Eine diskutierende Gesellschaft – Entfaltung und Begrenzung Ein Blick auf die intellektuellen Medien und Foren, die in der Wiederaufbaugesellschaft der 1950er Jahre den Ton angaben, von den Buchreihen und politisch-kulturellen Zeitschriften bis zu den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen und den Radioprogrammen für bildungsbürgerliche Eliten, lässt die Vorstellung langweiliger Eintönigkeit und bloßer Nörgelei der Intellektuellen in »bleiernen Zeiten« rasch zweifelhaft erscheinen. Das Themenspektrum war bunt, die Bereitschaft zur öffentlichen Äußerung groß, die Positionen waren sehr unterschiedlich, die Debatten lebhaft. Sie begleiteten eine rasante Modernisierung der gesamten Lebenswelt, in der eben nicht nur Altes wiederhergestellt wurde. Letztlich kreisten sie um das Spannungsfeld von Tradition und Moderne, um die Tendenzen einer »Modernisierung im Wiederaufbau«, um die Ambivalenz von herkömmlicher Kulturkritik und dem Aufbruch zu – westlichen – Ufern in den »janusköpfigen« 1950er Jahren.1 In einem glänzenden Essay veranschaulichte Norbert Muhlen mit architektonischer Metaphorik in der Zeitschrift Der Monat die Vermischung von Altem und Neuem »bis zur Unkenntlichkeit«. Oft sei »das Neue nur das wiedergekommene Alte«, oft sei es umgekehrt. Das Wort »wieder« sei zum Leitmotiv deutschen Lebens geworden, mit dem »Ziel (der) Wiederkehr des Zerstörten, ein Ziel, geboren aus dem Heimweh nach der verlorenen guten alten Zeit und aus der Sehnsucht nach der verschwundenen Sicherheit«. Dabei sei sogar »wiederaufgebaut worden, was vorher gar nicht da war«, wie die Bude auf einem Trümmergrundstück, auf dessen Mauer eine »mittelalterliche Schloßruine gepinselt war, und darüber leuchtete es in Neonbuchstaben: »Altdeutscher Keller«. Wie das Baugefüge der westdeutschen Städte habe die politische Ordnung des westdeutschen Staates ihren »Schwerpunkt in Tradition und Restauration, während noch Ruinen und schon Modernes dazwischen stehen«.2 Das Bild einer sich verändernden komplexen Bauordnung der Städte vermag die simple Vorstellung einer chronologischen Abfolge von Wiederaufbau und Modernisierung zu korrigieren, mit der eine ebenso schlichte Zweiteilung der 1950er Jahre verbunden wäre. Der Kampf um die Moderne, und das umschloss Dimensionen der Politik, der Lebenswelt und der Ästhetik gleichermaßen, stand in einer Kontinuität des gesamten 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit. 1 Schildt/Sywottek, Modernisierung; Anselm Doering-Manteuffel, Die Kultur der 50er Jahre im Spannungsfeld von »Wiederaufbau« und »Modernisierung«, in: ebd., S. 533-540; Payk, Geist, S. 219 ff.; Gerhard Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hrsg.), Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik, Bd. 3, Wiesbaden 2000. 2 Norbert Muhlen, Das Land der großen Mitte. Notizen aus dem Neon-Biedermeier, in: Der Monat, Jg. 6, 1953, H. 63, S. 237-244, Zitate S. 237, 238, 239; Norbert Muhlen bzw. Mühlen (1909-1981) hatte als Exilant 1947 die US-Staatsbürgerschaft erworben und arbeitete als Korrespondent für amerikanische und deutschsprachige Blätter.
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Das Bild der städtischen Bauordnung, dem das Historische notwendig innewohnt, erscheint zudem geeignet, die Tendenz zu beschreiben, die aus der Kontinuität des bereits Gewohnten, die man zu Beginn der 1950er Jahre empfand,3 mit der Rasanz des wirtschaftlichen Nachkriegsbooms in gesellschaftlich völlig ungekannte Gefilde führte, während gleichzeitig die Utopien der Zwischenkriegszeit an ihr Ende kamen.4 Der Modernismus siegte in den 1950er Jahren nach jahrzehntelangem Kampf gegen die traditionalistische Kulturkritik5 – im Modus des Antiutopismus. Es wurde nicht nur intensiv diskutiert, das Gespräch erhielt zugleich eine eigene Würde zugesprochen und wurde zum gesellschaftlichen Prinzip erhoben.6 Selbstverständlich heißt das nicht, dass jeder Intellektuelle mit jedem seinesgleichen redete. Pluralismus stellte sich in den 1950er Jahren in einer Kräftekonstellation ein, deren einzelne Gruppen bestrebt waren, ihr Deutungswissen als anerkannte Basis hegemonial durchzusetzen – und dies nicht nur mit diskursiven Mitteln, sondern über mediale Machtpositionen und unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Vom Gespräch unter Gleichgesinnten zur öffentlichen Diskussion zwischen den politisch-weltanschaulichen Lagern überzugehen und dabei andere Positionen als gleichberechtigt anzuerkennen und Kontroversen auszuhalten, war in der Gründerzeit der Bundesrepublik noch keineswegs selbstverständlich. Jede Darstellung der »Diskussionslust«, die nicht die Zwänge des Kalten Krieges reflektierte, würde ihren Gegenstand verfehlen. Die vielfältig differenzierte Integrationsideologie des Antikommunismus imprägnierte die westdeutsche politische Kultur der 1950er Jahre.7 Insofern kann sie auch nicht nur als Rahmen einmal benannt werden, sondern spielte in vielfältige Auseinandersetzungen hinein. An dieser Stelle soll nur ihr wesentlicher Kern knapp skizziert werden. Der offiziöse Antikommunismus der 1950er Jahre zielte vor allem auf sozialdemokratische und linksunabhängige Intellektuelle, die als fellow traveller der Kommunisten angefeindet wurden. Obwohl die sozialdemokratische Führung sich in antikommunistischer Radikalität kaum überbieten ließ und sich auch von linksun3 Gallus/Schildt, Rückblickend. 4 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 208 ff. 5 Vgl. Bernd Wirkus (Hrsg.), Die kulturelle Moderne zwischen Demokratie und Diktatur. Die Weimarer Republik und danach, Konstanz 2007; Philip Cassier, Der andere Weg. Deutschland und der Westen in den westdeutschen Debatten 1945-1960, Frankfurt a. M. 2010. 6 Verheyen, Diskussionslust, S. 207 ff. 7 Vgl. Axel Schildt, Der Zwang zur Parteinahme. Die Intellektuellen im Frontstaat des Kalten Krieges, in: Alexander Gallus/Sebastian Liebold/Frank Schale (Hrsg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2020; für ein breites Spektrum die Beiträge in Stefan Creuzberger/Dierk Hoffmann (Hrsg.), »Geistige Gefahr« und »Immunisierung der Gesellschaft«. Antikommunismus und politische Kultur in der frühen Bundesrepublik, München 2014; vgl. zum internationalen Kontext Norbert Frei/Dominik Rigoll (Hrsg.), Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, Göttingen 2017.
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abhängigen Intellektuellen abgrenzte,8 schützte das die Partei nicht vor dem Generalverdacht konservativer Kreise, vorsätzlich oder aus Naivität die kommunistische Agententätigkeit zu unterstützen. Das Gift des Verdachts konnte sich potentiell gegen jeden richten, der sich linksoppositionell äußerte.9 Einen nennenswerten Kreis von Sympathisanten um die Kommunisten gab es in der Bundesrepublik nicht, und die intellektuellen Parteimitglieder stellten nur eine kleine, schrumpfende Gruppe dar. Auf dem Höhepunkt ihres Ansehens hatten der KPD in den Westzonen 300.000 Mitglieder angehört, zehn Jahre später waren es, nach großzügigen Schätzungen, noch 70.000. In der Öffentlichkeit galt die KPD als »Russenpartei«. Ihre Mitglieder wurden bereits vor dem Verbot der Partei 1956 ausgegrenzt und verfolgt.10 Das Urteil gegen die KPD, dessen über 300-seitige Begründung auf einem Abriss der Parteigeschichte seit dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der KPD-Parteitage von 1951 und 1954, einer Exegese von Lenin- und Stalin-Zitaten sowie Ausführungen zur »Unvereinbarkeit des Staats- und Gesellschaftsbildes der Diktatur des Proletariats mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung«11 basierte, nahm den scholastischen Marxismus-Leninismus ebenso ernst wie die Kommunisten selbst. Beraten wurde die Bundesregierung beim Verbotsprozess von dem polnischen, in der Schweiz lehrenden Theologen und Philosophen Joseph M. Bocheński (1902-1995), der 1954 auch ein Gutachten erstellte, das zugleich von der Bundeszentrale für Heimatdienst für Zwecke der politischen Bildungsarbeit verbreitet wurde.12 Konservativen Zeitgenossen galt der Dominikaner als klügster Kri8 Vgl. Henning Scheck, Antikommunismus in der Ära Adenauer im Spiegel der Zeitschriften »Rheinischer Merkur« und »Vorwärts«, unveröff. Magisterarbeit Universität Hamburg 1998, S. 13 ff. 9 S. Kapitel II.4.3. 10 Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Frankfurt a. M. 1978; Till Kössler, Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1968, Düsseldorf 2005; Josef Foschepoth, Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 56, 2008, S. 889-909; die Exklusion betraf auch den Ausschluss kommunistischer Widerstandskämpfer von Wiedergutmachungsleistungen; vgl. Boris Spernol, Wiedergutmachung und Kalter Krieg. Der Umgang mit kommunistischen NS-Verfolgten in Westdeutschland, Phil. Diss. Universität Jena 2010. 11 Das KPD-Verbot. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17.8.1956, München 1973, S. 117. 12 Joseph M. Bocheński, Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit der Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Bonn 61963 (1954); Ende der 1950er Jahre wurde in der gleichen Reihe von politikwissenschaftlicher Seite auch ein konkurrierender Text verbreitet: Iring Fetscher, Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus, Bonn 41963; hier wurde vor allem betont, dass Unfreiheit im Osten nicht die Einschränkung von Freiheit im Westen rechtfertigen könne; zu Bocheński und Fetscher vgl. in diesem Zusammenhang Gudrun Hentges, Staat und Bildung. Von der »Zentrale für Heimatdienst« zur »Bundeszentrale für politische Bildung«, Wiesbaden 2013, S. 345 ff.; Rüdiger Thomas, Zur Auseinandersetzung mit dem deutschen Kommunismus in der Bundeszentrale für Heimatdienst. Eine kritische
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tiker des Marxismus-Leninismus, der dessen System mit den Mitteln messerscharfer thomistischer Logik sezierte. Seine Arbeiten wurden über ein Jahrzehnt hinweg immer wieder aufgelegt, weil Bocheński auch nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 keine wesentlichen Veränderungen des Kommunismus erkennen mochte.13 Die kulturpolitische Regierungspropaganda, die die repressiven Maßnahmen gegen die KPD begleitete, bewegte sich in problematischen Traditionen. Nicht allein die rassistische Ikonographie der Plakate wäre hier zu nennen. Noch 1957 riskierte der Außenminister Heinrich von Brentano, der selbst einer Dichterfamilie entstammte, den banausischen Vergleich der späten Lyrik Bertolt Brechts mit der des NS-Barden Horst Wessel.14 Zur systematischen Verbreitung antikommunistischen Gedankenguts war im Sommer 1951 unter maßgeblicher Beteiligung des Diplom-Politologen Hans Edgar Jahn (1914-2000) die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise (AdK) gegründet worden. Jahn versuchte aus konservativer Sicht für die zweite deutsche Demokratie zu werben, wobei er allerdings nicht anstand zu konzedieren: »Es wäre eine Vermessenheit, wenn ich behaupten wollte, daß die Demokratie, wie sie heute in ihrem Funktionalismus wirkt, ein Ideal wäre, das unsere Lebensinteressen restlos anspräche.«15 Finanziert aus dem Fonds des Bundespresse- und Informationsamtes, rekrutierte die AdK vor allem konservative Intellektuelle als Referenten für antikommunistische Aufklärungskampagnen, etwa Hans Asmussen, der bis 1948 zur Führung der EKD zählte, Freiherr August von der Heydte, Repräsentant der abendländischen Bewegung (s. u.), ebenso wie den rechtskatholischen Remigranten Erik Maria Kuehnelt-Leddihn und Klaus Mehnert, Ostexperte und Redakteur von Christ und Welt.16 Enge Verbindungen unterhielt die AdK zur Führung der »Dienstgruppen« als Vorläufer der Bundeswehr, eine gute Einnahmequelle für Antikommunismusexperten.17 Aus den trüben Quellen der AdK erfolgten manche Angriffe auf Linksintellektuelle, aber auch auf Neutralisten wie Wolf Schenke mit seiner Zeitschrift Neue Politik,18 wobei es eine enge Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für
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Sondierung im Umfeld des KPD-Verbots, in: Creutzberger/Hoffmann, »Geistige Gefahr«, S. 123-143. Vgl. Joseph M. Bocheński, Der sowjetrussische dialektische Materialismus (DIAMAT), Bern 1950 (41962). Vgl. Günther Rüther, Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945, Göttingen 2016, S. 84 ff. Hans Edgar Jahn, Demokratie oder was sonst?, in: Nachbarschaft. Eine Schriftenreihe (begründet von Artur Mahraun), Jg. 3, Folge 7, 1952, S. 193-199, Zitat S. 196. Eine Übersicht über die Vortragsaktivitäten 1953-1955, in: Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise Baden-Württemberg, Rundbrief, 15.6.1955, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 22. Vgl. umfangreiche Unterlagen in: ACDP, Nl. Hans Edgar Jahn, 024/2. Wolf Schenke erstattete 1958 Anzeige gegen Unbekannt wegen Beleidigung, weil er in einer Schrift »Material zur kommunistischen Infiltration in der Bundesrepublik«, die in der
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Heimatdienst, dem Verfassungsschutz und dem informellen Kreis um den Verleger Joseph Caspar Witsch in Köln gab. Diese antikommunistische Vernetzung richtete sich gegen eine Liberalisierung der politischen Kultur und damit gegen die Intellektuellen im Umkreis des Kongresses für Kulturelle Freiheit und liberaler Publizistik.19 Für die Geschichte der Intellektuellen sind diese Zusammenhänge insofern wichtig, als die Bundeszentrale als Koordinierungsstelle wichtige antikommunistische Schriften in hoher Auflage druckte.20 Mitte der 1950er Jahre wurden die Bemühungen verstärkt, die Bundeszentrale für Heimatdienst als Koordinationsstelle zur Bekämpfung des Kommunismus zu etablieren. Ihr erster Direktor, Paul Franken (1906-1984), war ein alter Bekannter Adenauers.21 Die sonstigen Aufgaben der Bundeszentrale sollten an andere Träger verteilt werden, die allgemeine staatsbürgerliche Bildung an die Landeszentralen, die Aufklärung des Antisemitismus an den Zentralrat der Juden in Deutschland, die Bekämpfung des Neonazismus an das Institut für Zeitgeschichte.22 Unter dem Betreff »Geistige und propagandistische Bekämpfung kommunistischer Bestrebungen« erklärte es Staatssekretär Otto Lenz zum »Hauptanliegen, für die wissenschaftliche Bekämpfung des Kommunismus eine zentrale, planmäßig arbeitende Leitung zu schaffen«, für die Leitung einer etwaigen Bundesakademie ließe sich »kaum eine bessere Kraft finden als Prof. Bochenski«.23 In einer Denkschrift der Bundeszentrale spielte der Verleger Joseph Caspar Witsch in Köln eine große und dubiose Rolle. Um ihn bildete sich ein »in Abständen zusammentretender Kreis«, der sich mit »praktischen Maßnahmen in dem Kampfe gegen das Vordringen kommunistischer, zersetzender Einflüsse in der Bundesrepublik« befasse.24 Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der ein dezidiert antikommunistisches Programm verfolgte,25 war nämlich einerseits zum »Hausverlag Bonner Ministerien und Behörden« geworden und bildete andererseits den Mittel-
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Bundeswehr zirkulierte, genannt worden war; Unterlagen dazu in BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 24; zu Schenke und dessen Zeitschrift vgl. Gallus, Neutralisten, S. 195 ff., 287 ff. S. Kapitel II.4.1. Josef Rommerskirchen an Paul Franken (im Hause), 3.12.1957 mit beigefügtem Gutachten, in: ACDP, Nl. Paul Franken, 003/5. Von 1932 bis 1936 war er Hauptgeschäftsführer des Kartellverbandes der Katholischen Studenten; 1933 Eintritt in die NSDAP, in Gestapo-Haft 1936/37 im Zusammenhang der Verfolgung katholischer Organisationen; vgl. Hentges, Staat, S. 76-92. Vgl. ebd., S. 349 ff. Staatssekretär I (Lenz) an Abt. I, Unterabt. I B, Abt. III, VI, Paul Franken (BfH) und Pressestelle, 10.10.1955, in: ACDP, Nl. Paul Franken, 003/5; vgl. Christoph Klessmann, Antikommunismus und Ostkolleg. Anmerkungen zur politischen Kultur der (alten) Bundesrepublik, in: Bajohr u. a., Erzählung, S. 83-95. Bundeszentrale für Heimatdienst an Bundesminister des Innern (vertraulich), 29.9.1955, in: ACDP, Nl. Paul Franken, 003/5; Hentges, Staat, S. 362 ff.; Möller, Buch, S. 527 ff. Vgl. die Erinnerungen der ehemaligen Lektorin Carola Stern, Politik im Dachgeschoß, in: Kiepenheuer & Witsch 1949-1974. Beiträge zu einer Geschichte des Verlages, Köln 1974, S. 50-64.
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punkt der Kölner Gruppe des CCF als einer Organisation, deren Strategie mit der Regierungspolitik nicht übereinstimmte.26 Die politischen Grenzziehungen durch den Antikommunismus des Kalten Krieges veränderten sich in den 1950er Jahren in nicht unerheblichem Ausmaß. Positionen, Tendenzverschiebungen und Richtungswechsel von Radioprogrammen, Zeitungen, Zeitschriften und Buchreihen gewinnen in diesem Zusammenhang als Ausdruck der intellektuellen Verhältnisse an Bedeutung, wobei es sich eben nicht um Veränderungen innerhalb eines autopoietischen Systems, sondern um Auseinandersetzungen unter Intellektuellen handelte, die nicht unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen agierten. Den Rahmen dafür bildete der sogenannte Konsensjournalismus der Ära Adenauer, verbunden mit vielfältigen Praktiken der Gratifikation und negativen Sanktionierung, gesteuert vom Bundespresse- und Informationsamt.27
26 Möller, Buch, S. 369, 433 ff. 27 Für die Leitung des Amtes war zeitweise der Doyen der konservativen Presseforschung, Emil Dovifat, im Gespräch; Herbert Blank an Klaus Mehnert, 11.12.1950, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 12; zur Ära des »Konsensjournalismus« vgl. Hodenberg, Konsens, S. 101 ff., 145 ff.
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Exkurs: Intellektuelle in der DDR »Wir fahren jetzt nach Deutschland. Da ist es feucht, da ist Nebel, sind Wolken. Es gibt noch die großen Wälder, durch den Feudalismus zum Teil erhalten. Es ist eine andere Natur da als in Italien, eben eine sozusagen raunende, und selbstverständlich der deutsche Mondschein und darunter viel Abend, das Haus, das Gemüt.«1 Was mochte Ernst Bloch zu gerade dieser Metaphorik bewogen haben, die er in seinen Leipziger Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance Anfang der 1950er Jahre für den Übergang der Darstellung von Giordano Bruno und Thomas Campanella zu Theophrast Paracelsus gebrauchte? Und was mochten die Studierenden im legendären, mit rotem Tuch ausgeschlagenen und bei Blochs Auftritten stets überfüllten Hörsaal 402 assoziiert haben? Enthielten seine Ausführungen ambivalente Partikel zur Beschreibung der enttäuschenden Realität des angeblichen »Arbeiter- und Bauernstaates« und seiner kleinbürgerlichen Suche nach schlichter Geborgenheit? Bloch selbst kokettierte zuweilen damit, eigentlich nur Lehrbuchwissen vermittelt zu haben. Wo er Neues gebracht habe, sei es nicht bemerkt worden und er habe sich »in diesem Incognito« wohlgefühlt. Originalität vermisste auch sein Kollege Adorno, der in einem Brief an Siegfried Kracauer über Bloch abschätzig notierte, es handle sich um nicht mehr als »eine illustrierte Philosophie«.3 Aber angesichts der ansonsten gebotenen kargen Kost der Parteikader hafteten Blochs Ausflügen in die Philosophiegeschichte im Verständnis seines Publikums von vornherein attraktiv-häretische Züge an, zumal er durchaus immer wieder Bezüge zum grauen Alltag der DDR herstellte, wie er an anderer Stelle konzedierte: »Bei dieser Gelegenheit konnte ich alles unterbringen, was ich wollte, freilich oft nur in Form einer Andeutung. Mich selbst habe ich dabei scheinbar immer völlig versteckt; dies war jedoch eine List, die auch von einem großen Teil meiner Zuhörer verstanden wurde.«4 1 Ernst Bloch, Vorlesungen zur Philosophie der Renaissance, Frankfurt a. M. 1972, S. 58; Teile der »Philosophie der Renaissance« hat Bloch 1962/63 in Tübingen wiederholt, die zitierten Sätze befinden sich in der Erstveröffentlichung 1972; die editorischen Notizen geben keine Anhaltspunkte zur näheren Eingrenzung des Vorlesungsdatums zwischen 1952 und 1956, zumal der Zyklus zur Geschichte der Philosophie mehrfach wiederholt wurde; vgl. auch das Vorwort der Herausgeber Ruth Römer und Burghart Schmidt, in: Ernst Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950-1956, 4 Bde., Bd. 2: Christliche Philosophie des Mittelalters. Philosophie der Renaissance, Frankfurt a. M. 1985, S. 5-8; s. auch Anm. 28. 2 Vgl. Mayer, Deutscher, Bd. II, S. 94 ff. 3 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 22.10.1952, in: DLA, A: Siegfried Kracauer; Adorno bezieht sich auf ein Buch »Verfremdungen«, das es nicht gab. 4 Zit. nach Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch – Leben und Werk, Moos/ Baden-Baden 1987, S. 194; zahlreiche Anekdoten zur Verbindung der Philosophiegeschichte mit einer Kritik der Gegenwart sind aus den – in freier Rede präsentierten – Tex-
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Dass es eine wie auch immer asymmetrisch konzipierte Parallel- und Beziehungsgeschichte der deutschen Intellektuellen in den beiden deutschen Staaten, in der Epoche der deutschen Zweistaatlichkeit, nicht geben kann, wurde prinzipiell mit der Nichtexistenz einer pluralistischen Öffentlichkeit in der DDR begründet.5 Selbst der »Meinungsstreit« auf dem Boden des Marxismus-Leninismus bedurfte der Erlaubnis der kommunistischen Parteiführung. Insofern war die Existenz von Intellektuellen mit ihrer spezifischen Funktion als Sinndeuter der sozialistischen Diktatur wesensfremd und nur folgerichtig, dass staatsoffiziell – auch in amtlichen Statistiken – meist von einer Schicht der »Intelligenz« gesprochen wurde, worunter alle geistigen Berufe gezählt wurden. Die Sinndeutung behielt sich die Partei mit den von ihr kontrollierten Akademien und Kader-Philosophen selbst vor, während es nur wenige zeitweise geduldete Nischen für unabhängige Diskurse gab. Seinen traurigen Eindruck von einer Reise in die neue DDR vermittelte Hans Paeschke in einem Brief an Karl Jaspers: »Kaum ein geistiger Mensch mehr, der nicht inzwischen nach dem Westen geflohen ist – kaum einer, der selbst im kleinsten Kreise geistigen Widerstand zu nähren noch die Kraft hat. (…) Was mir besonders auffiel, war der hohe Prozentsatz von Sachsen unter den dortigen Funktionären – ähnlich war es schon bei den Nazis.«6 Einem Befund von Alfred Andersch in den Frankfurter Heften zufolge gab es unabhängiges marxistisches Denken allenfalls noch im Brecht-Theater, an der Leipziger Universität und in der Literaturzeitschrift Sinn und Form.7 Spätestens zum Zeitpunkt der DDR-Gründung war die Öffentlichkeit nahezu vollständig diktatorisch reglementiert. Allerdings bleibt in diesem Kapitel für die Zeit der 1950er Jahre zu erklären, warum doch längst nicht alle und auch nicht alle nichtkommunistischen Intellektuellen umgehend aus der DDR in den Westen gingen, wie es bis 1961 durchaus möglich war. Dass die eigentliche Staatsgründung der DDR erst mit dem Bau der Berliner Mauer erfolgte, gilt partiell auch für das Feld der Intellectual History. Eine Reihe von Umständen sorgte dafür, dass es in den Gründerjahren der DDR klassische Intellektuelle gab, dass dies im Interesse des SED-Regimes lag und dass Intellektuelle durchaus Gründe dafür anführen konnten, nicht in den Westen zu wechseln. Zum ersten handelte es sich, zumal bei den prominenten Vertretern aus Literatur und Geisteswissenschaften wie Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz, Hans ten, die vom Tonband abgeschrieben wurden, für die spätere Druckfassung herausgestrichen worden; vgl. zur Leipziger Zeit auch Trautje Franz, Philosophie als revolutionäre Praxis. Zur Apologie und Kritik des Sowjetsozialismus, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Ernst Bloch, München 1985, S. 239-273; Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 160 ff.; Herzberg, Anpassung, S. 511 ff. 5 S. Einleitung 6 Hans Paeschke an Karl Jaspers, 16.11.1949, in: DLA: D: Merkur. 7 Alfred Andersch, In der Igelstellung, in: Frankfurter Hefte, Jg. 6, 1951, H. 3, S. 208-210.
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Mayer, Stephan Hermlin oder Anna Seghers, um Intellektuelle, die in der Weimarer Republik und im westlichen, häufig im US-Exil eng mit Kollegen vernetzt waren, die sich nun zum großen Teil in der Bundesrepublik niedergelassen hatten. Hans Mayer, der Historiker Ernst Engelberg und der Ökonom Henryk Grossmann hatten in der Exilzeit über gute Kontakte zur Frankfurter Schule verfügt.8 Weder Bertolt Brecht noch Ernst Bloch, die in der Zwischenkriegszeit eng mit Kommunisten kooperiert hatten, besaßen ein Parteibuch und unterlagen damit nicht der direkten Disziplin der KPD bzw. SED.9 Dies galt auch für einige Intellektuelle, die das »Dritte Reich« in Zuchthäusern, Konzentrationslagern, Zwangsarbeitseinsätzen und Strafbataillonen überstanden hatten, wie etwa Ernst Niekisch, Werner Krauss oder Victor Klemperer. Bei ihnen herrschte ein Gefühl der Dankbarkeit für die Befreiung durch die Rote Armee vor, sie schlossen sich der KPD bzw. SED erst nach 1945 an. Gemeinsam war allen, dass für sie der kleinere ›Arbeiterund Bauernstaat‹ trotz seiner materiellen Armut den politisch-moralisch besseren Teil Deutschlands darstellte. Vor den Verbrechen des Stalinismus, auch dies eine Gemeinsamkeit, hatten diese Intellektuellen die Augen verschlossen, hatten sie mitunter auch nicht geglaubt und mindestens keine öffentliche Kritik geäußert. Das galt selbst noch in der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Erst der XX. Parteitag ließ es nicht länger zu, die Wahrheit auszublenden. Hinzu kam in der Gründerzeit der DDR, dass niemand ahnen konnte, wie lange Deutschland geteilt sein würde. Im Mittelpunkt der Propaganda des SED-Regimes stand der Kampf gegen die »Bonner Spalter« als Marionetten des US-Imperialismus. Im Interesse des »Weltfriedenslagers« stünde dagegen die Herstellung der nationalen Einheit. Wie der immer noch andauernde Streit der Historiker um die sogenannten Stalin-Noten, mit denen ein Weg zur deutschen Vereinigung vorgeschlagen wurde, zeigt, gab es auf sowjetischer Seite starke Interessen (wie im Falle des österreichischen Staatsvertrags 1955 realisiert), den kleineren, ärmeren, östlichen Teil für die Erlangung eines neutralen Gesamtdeutschlands zu opfern. »Stalins ungeliebtes Kind« (Wilfried Loth) überlebte, weil weder die Westalliierten noch die Regierung der Bundesrepublik – ungeachtet der eigenen Parolen von der »Einheit in Freiheit« – oder die Sozialdemokratie ein Interesse an einem solchen Handel hatten und eher auf einen langfristigen Sieg in der Systemkonkurrenz setzten. Weil aber manche Intellektuelle noch vor der Staatsgründung in die SBZ gelangten und weil die längere Existenz zweier Frontstaaten des Kalten Krieges für die Zeitgenossen auch danach nicht absehbar war, empfanden viele Intellektuelle in der DDR, sofern sie nicht eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit der eigenen Person befürchteten, die Situation nicht unbedingt als Grund zur Flucht. 8 Vgl. Hendrik Niether, Intellektuelle aus dem Umfeld der Frankfurter Schule in der DDR. Hans Mayer, Ernst Engelberg und Henryk Grossmann an der Universität Leipzig in: Boll/ Gross, Frankfurter Schule, S. 218-227. 9 Gegen einen Beitritt zur SED, der ihm Anfang der 1950er Jahre offeriert wurde, entschied sich Bloch offenbar auf Anraten von Werner Krauss, der vor den Risiken der Parteidisziplin warnte; vgl. Karola Bloch, Aus meinem Leben, Pfullingen 1981, S. 200.
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Ernst Bloch hatte den Ruf auf den Leipziger Lehrstuhl des Hermeneutikers Hans-Georg Gadamer Anfang 1948 angenommen, nachdem dieser an die Frankfurter Universität gegangen war.10 Sein mit schönen Möbeln und Teppichen eingerichtetes, räumlich großzügig ausgestattetes Institut schuf eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Hinzu kam, dass der Aufbau-Verlag enorme Anstrengungen unternahm, das Werk von Bloch zu publizieren und zu popularisieren.11 Als intellektuelles Schaufenster der DDR auch im Westen gewann der Verlag Mitte der 1950er Jahre spürbar an Macht und Einfluss. 1955 wurde sogar die Einrichtung einer Filiale in Hamburg erwogen.12 Ernst Bloch wirkte im Übrigen nicht als Solitär, sondern war Teil eines akademischen Leipziger Milieus, zu dem der Romanist Werner Krauss, der Ökonom Fritz Behrens, der aus der SED ausgeschlossene Spezialist für die Französische Revolution Walter Markov und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer gehörten – jeweils erklärte Individualisten, die nicht bereit waren, sich in einen »Kuddeltopf« (Walter Markov) werfen zu lassen,13 sondern sich in einer Frontlinie gegen die marxistischleninistische Gleichschaltung sahen. Gerade jene, die wie Ernst Niekisch oder Alfred Kantorowicz nationalkommunistischen Neigungen nachhingen, erhielten im Propagandakampf zwischen Ost und West publizistische Ausdrucksmöglichkeiten. Nur auf den ersten Blick wirkten sie dabei linientreu, tatsächlich mischten sie sich in die internen kommunistischen Kämpfe ein,14 denn die Fraktion um Walter Ulbricht im SED-Politbüro war nicht bereit, den neuen Staat für ein neutrales Gesamtdeutschland zu opfern, und fand für diesen Standpunkt auch in der KPdSU-Führung Verbündete. Insofern ist es symptomatisch, dass zwei von glühendem Nationalismus beseelte Stellungnahmen von Kantorowicz zur Funktion der Intellektuellen in der Täglichen Rundschau, der Zeitung der Besatzungsmacht, nicht aber in einem Organ der SED erschienen. Gelobt wurde die »weise Kulturpolitik der bolschewistischen Partei und der Regierung der Sowjetunion unter Führung Lenins und Stalins«, während auf deutscher Seite Pieck und Grotewohl, nicht aber Ulbricht Erwähnung fanden. Tatsächlich hielt offenbar Wilhelm Pieck, als Präsident der DDR seit Oktober 1949 offiziell der erste Mann des Staates, seine schützende Hand über Kantorowicz. Selbst kein Mitglied der SED, hatte Kantorowicz sich hilfesuchend an Pieck gewandt und um
10 Ernst Bloch an Werner Krauss, 20.2.1948, in: Krauss, Briefe, S. 422-425; vgl. Henning Tegtmeyer, Exodus und Heimkehr, Ernst Bloch, Philosoph der Hoffnung, in: Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2013, S. 205-232. 11 Einen Eindruck vermittelt die umfangreiche Korrespondenz: »Ich möchte das Meine unter Dach und Fach bringen …« Ernst Blochs Geschäftskorrespondenz mit dem AufbauVerlag Berlin 1946-1961. Eine Dokumentation. Hrsg. von Jürgen Jahn, Wiesbaden 2006. 12 Vgl. Wurm, Aufbau-Verlag, S. 179 ff. 13 Walter Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert, Berlin 1990. 14 Vgl. Forner, German Intellectuals, S. 238 ff.
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eine einstündige Audienz gebeten, als er von Kritik aus dem Parteiapparat an seiner Zeitschrift Ost und West15 erfuhr: »Verehrter und lieber Genosse Wilhelm Pieck, in den vergangenen Wochen sind von verschiedenen Seiten, zuletzt in unabweisbarer, konkreter Form Nachrichten an mich gelangt, dass man in führenden Parteikreisen meine Arbeit und meine Person mit Abneigung und Misstrauen betrachtet.«16 Aus Hamburg meldete sich Axel Eggebrecht, nach seinem Weggang vom NWDR in einer ähnlichen Situation der Isolation, nach neuerlichen Attacken auf Kantorowicz im Sonntag, der Zeitschrift des Kulturbundes: »Da haben wir sie also wieder in krasser Form: die totale Unduldsamkeit. Das alte kommunistische Unvermögen, Freunde und Bundesgenossen zu dulden, zu respektieren. (…) Es scheint, dass unsere Isolierung im gleichen Maße wächst wie die völlige Entfremdung der beiden Welthälften.«17 Schon dass Kantorowicz in seinem Artikel den Begriff des »Intellektuellen« und der »Intelligenz« synonym benutzte, war bemerkenswert, auch die Hervorhebung einer spezifisch deutschen Tradition der »Hetze gegen die fortschrittlichen Intellektuellen« passte nicht zu den Sprachregelungen der Partei.18 Im zweiten Kapitel erfolgte die Aufgabenbestimmung für die Intellektuellen, die Förderung des deutsch-deutschen Gesprächs: »Nun, wir sprechen deutsch miteinander, diesseits und jenseits der künstlichen ›Zonen‹-Grenzen, in denen die Amerikaner uns wie Lämmerherden in Hürden zur Schur umzäunt halten wollen. (… Es handle sich um die) Einbeziehung Westdeutschlands in den Atlantischen Kriegsblock, zu deutsch die Zerreißung Deutschlands und die Vorbereitung eines Krieges, der von Beginn an zum selbstmörderischen Bruderkrieg werden würde. (…) Wer hat denn die Verwirklichung dieser friedlichen Entwicklung erschwert? Von welcher Seite kommen denn die wüsten Verleumdungen, die Mordhetze gegen jedweden, der der Verständigung, der Einheit und Unabhängigkeit aufrichtig das Wort redet? Wer übt denn diesen nachgerade schon nazigleichen Gesinnungsterror auf alle aus, die auf Deutsch mit Deutschen ins Gespräch zu kommen wünschen? Es ist doch nicht die Sowjetmacht, die dem deutschen Gespräch Hindernisse in den Weg legt. Sie fördert 15 S. Kapitel I.2. 16 Alfred Kantorowicz an Wilhelm Pieck, 23.3.1949, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, I/P 1-8; als indirekte Antwort mochte die Versicherung Piecks gelten, wie außerordentlich hoch er Kantorowicz’ Einsatz in den spanischen Interbrigaden schätze (ebd.). 17 Axel Eggebrecht an Alfred Kantorowicz, 8.2.1950, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, E 8. 18 Alfred Kantorowicz, Die Deutsche Demokratische Republik und die Intellektuellen, in: Tägliche Rundschau, o. D. (Februar oder März 1951), Typoskript, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, A: 416.
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es. Kein deutscher Intellektueller, der dieser Bezeichnung würdig ist, wird sich diesen Erkenntnissen verschließen können. Er wird, mit welchen Schimpfnamen man ihn auch bedenke, an diesem gerechten Kampf für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands teilnehmen. Wir haben ein gutes Gewissen und sind guten Muts.«19 Für die DDR-Führung stellten die prominenten Intellektuellen ein Problem dar. Zum einen funktionierte der wissenschaftliche und kulturelle Betrieb mit den notdürftig neu geschulten Parteikadern noch nicht, »bürgerliche« Experten waren unverzichtbar, dies galt für Zahnärzte und Naturwissenschaftler ebenso wie für Ingenieure und Architekten, aber auch für den Kulturbetrieb. So wurde zum Beispiel eine zentrale Ausbildungsstätte für Schriftsteller wie das Leipziger Johannes R.Becher-Institut erst 1955 gegründet, obwohl der Gedanke einer Lehr- und Erlernbarkeit ihrer Profession für Künstler und Schriftsteller bereits in der Sowjetunion der 1930er Jahre propagiert worden war.20 Dass aus Sicht der kommunistischen Führung die Eroberung der bürgerlichen Kulturzitadellen den klassischen Intellektuellen auf Dauer den Boden ihrer Existenz entziehen sollte, stand angesichts der ungewissen Dauer der DDR für diese zunächst nicht im Vordergrund. Hinzu kam die Notwendigkeit für den Staat, im internationalen und vor allem im deutschdeutschen Systemwettbewerb die Fahne der deutschen Kultur hochzuhalten, wie es an Feierlichkeiten zu Jubiläen von Bach, Goethe und Schiller ebenso demonstriert wurde wie an der Überhäufung Thomas Manns mit allen Ehren des Regimes. Hier präsentierte sich die DDR als dasjenige Deutschland, dem die nationalen Traditionen mehr am Herzen lagen als dem kosmopolitischen Weststaat. Zwei weitere Gründe kamen nicht zuletzt für viele Intellektuelle, die in der DDR blieben, hinzu. Zum einen waren die schmutzigen Seiten der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik – die Repression gegen linke Intellektuelle – nicht zu übersehen, hier bedurfte es keiner großen Propagandaanstrengungen. So entstand, wie auch bei vielen sich als nonkonformistisch verstehenden Publizisten im Westen, der Eindruck einer ähnlichen Unterdrückung des Geistes in beiden deutschen Staaten. Stephan Hermlin, Hans Mayer, Karl-Eduard von Schnitzler und andere Kommunisten wie deren Sympathisanten gingen gezwungenermaßen in den östlichen Teil Deutschlands, als sie zu Beginn des Kalten Krieges 1947/48 aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk entfernt wurden.21 Bertolt Brecht, vorgeladen vor den berüchtigten McCarthy-Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe, hatte keinen Grund, die westliche Freiheit zu rühmen, und Ernst Niekisch, der trotz guter Verbindungen in die Bundesrepublik und ungeachtet seines zunehmend dissi19 Alfred Kantorowicz, Die deutschen Intellektuellen im Kampf um die deutsche Einheit, in: Tägliche Rundschau, o. D. (Oktober 1951), Typoskript, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, A : 423. 20 Isabelle Lehn/Sascha Macht/Katja Stopka, Schreiben Lernen im Sozialismus. Das Institut für Literatur Johannes R. Becher, Göttingen 2018. 21 S. Kapitel I.2.
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dentischen Status in der DDR die Erfahrung machen musste, des Öfteren von Diskussionsrunden ausgeladen zu werden, wies voller Sarkasmus darauf hin, dass beide deutsche Staaten von demokratischer Freiheit gleich weit entfernt wären. Allerdings kritisierte Niekisch, nachdem er aus der SED ausgetreten war, mit spöttischem Unterton die angeblich weitgehende Anpassung Blochs an die Linie der Partei.22 Dass bei der systematischen Ausschaltung bürgerlicher Freiheiten in der DDR und sukzessiver Liberalisierungen in der Bundesrepublik, die den Rechtsstaat allmählich verankerten, die Konstruktion einer System-Äquidistanz der beiden deutschen Staaten zu einer ideal gedachten demokratischen Gesellschaft unangemessen war, bestimmte angesichts skandalöser Praktiken auch im westlichen Teil Deutschlands den Horizont vieler Zeitgenossen nicht. Zuletzt ist, neben vielen familiären Umständen, etwa der Pflege von Eltern oder der Bindung von Kindern an die Schule, ein wichtiger Grund zu nennen, in der DDR zu bleiben: die zum Teil exzellenten Arbeitsmöglichkeiten und materiellen Privilegien, die Intellektuellen weitaus bessere Bedingungen garantierten als den sonstigen ›Werktätigen‹. So schwärmte Ernst Niekisch im Herbst 1948 seinem Briefpartner Karl Korn gegenüber von der guten Versorgung im traditionsreichen Ostseebad Ahrenshoop auf dem Darß: »Ich war 3 Wochen in Ahrenshoop und habe mich dort abermals ausgezeichnet erholt. Wieder war ein großer Teil des intellektuellen Berlin dort versammelt. Angenehm ist in Ahrenshoop, dass man sich total abschliessen und einander ausweichen kann und dann doch wieder die Gelegenheit hat, einen interessanten Menschen zu finden, wenn man ihn sucht.«23 Zu den »interessanten Menschen« zählte auch Ernst Bloch, der seinen Urlaub mit Frau und Sohn gern dort verbrachte. Selbstverständlich standen Privilegien dieser Art, Villen, private Pkw, hochdotierte National-Preise, nur der Prominenz zu. Aber die Schicht der »Intelligenz« war insgesamt besser gestellt als der Durchschnitt der Bevölkerung. Nach einer vom Kulturbund initiierten »Erhebung über die Lage der Intelligenz«24 wurden zunächst die materiellen Sorgen benannt. Neben der miserablen Wohnsituation bedrückte das Fehlen von Klubräumen und Versammlungsstätten, gepflegter Gastronomie und von Fachliteratur. Im Frühjahr 1953, als die angekündigten zehnprozentigen Normerhöhungen für Arbeiter die Bevölkerung umtrieben, war in der DDR-Presse zu lesen, dass die Intelligenz bevorzugt mit Wohnraum und Konsumgütern zu beliefern sei und das Recht auf besonders qualifizierte kulturelle Veranstaltungen besitze. Es wurde versprochen, gegen alle intel22 Ernst Niekisch an Joseph Drexel, 27.1.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 c.; vgl. die leichte Distanz in: Niekisch, Gegen den Strom, S. 270 ff. 23 Ernst Niekisch an Karl Korn, 8.9.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 24 Siegfried Prokop, Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquete über die Lage der Intelligenz in der DDR. Analyse und Dokumentation, Schkeuditz 2003; die folgenden Ausführungen auf Basis von Guntolf Herzberg, Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin 2006, S. 66-121.
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lektuellenfeindlichen Stimmungen in der Partei vorzugehen, denn diese könne »die Führung unter der Intelligenz nur erringen, indem sie im freien Meinungskampf die Prinzipien der Wissenschaft« verteidige.25 Dass dies nur ein rhetorischer Trick war, um die Parteiführung selbst wieder als entscheidende Instanz zu installieren, mochte nicht für jeden sofort durchschaubar gewesen sein. Allerdings muss zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb der Schicht der »Intelligenz« unterschieden werden, die vom Veterinär bis zum Lehrer, vom Richter bis zum Theaterdirektor und Bibliothekar ein Konglomerat heterogener Gruppen bildete, unter denen die klassischen Intellektuellen nur einen Bruchteil ausmachten. Insgeheim sorgte die materielle Besserstellung der Intelligenz dafür, dass sie, zumal besonders unzufriedene Personen die DDR verlassen konnten, in den Krisenjahren der DDR insgesamt ruhig blieb, sich jedenfalls nicht an die Spitze des Aufbegehrens stellte. Aber selbst für die gesamte Intelligenz galt, dass ihre Unzufriedenheit nicht mit materiellen Zugeständnissen zu kompensieren war. Zunehmende Restriktionen bei Reisen, insgesamt die Abschnürung von Kommunikationsmöglichkeiten und die mangelnde Rechtssicherheit förderten eine Atmosphäre des Duckmäusertums. Es war nur zu offensichtlich, dass alle Versprechungen der tiefen Krise des Staates geschuldet waren und nicht aus einer Situation der Stärke heraus erfolgten. Das plumpe Kompensationsgeschäft – materielle Privilegien gegen Wohlverhalten – musste gegenüber den prominenten Intellektuellen, die ohnehin kaum von der sozialen Misere betroffen waren, wirkungslos bleiben. Ernst Niekisch kritisierte denn auch, es sei nötig gewesen, geduldig und vorsichtig vorzugehen, denn »die Atmosphäre, die einzig und allein der Intelligenz zuträglich ist, ist die Atmosphäre geistiger Freiheit«.26 Intellektuelle wie Kantorowicz machten sich keine Illusionen, dass der Tod von Stalin allein nicht ausreichte, um in der DDR demokratische Reformen zu erlauben, meinten aber immer noch Gründe für Hoffnungen zum Positiven hin behalten zu dürfen. In seinem Tagebuch notierte er: »Stalins Tod, das Ende einer Ära? Neubeginn ohne Zwangsjacke? Ohne Fronvögte? Ohne Knüppelschwinger? Ohne Rechtsbeugung? (…) Nicht mit dieser Garnitur von Liquidatoren. Und woher sollen die anderen kommen? Wo sind sie? Keine Bange, die finden sich. Die treten aus der Dunkelheit hervor, die kommen aus den Kerkern, aus der Verbannung, aus dem selbst gewählten Exil. Wenn der Druck aufhört, springen tausend Quellen.«27 Der 17. Juni 1953 mochte ein Arbeiter- und in Ansätzen sogar ein Volksaufstand gewesen sein. Eine Rebellion der Intellektuellen war er nicht.28 Die durch den Einsatz sowjetischer Panzer beendete existenzielle Gefährdung der DDR gab den in25 Unsere Aufgaben gegenüber der Intelligenz, in: Neues Deutschland, 7.6.1953, zit. nach Herzberg, Anpassung, S. 76. 26 Zit. nach Herzberg, Anpassung, S. 97. 27 Zit. nach ebd., S. 79. 28 Vgl. ebd., S. 80 ff.
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transingenten Kräften innerhalb der SED-Führung sogar die Möglichkeit, mit ihrer Konstruktion von einem abgewendeten faschistischen Putsch und dem gescheiterten Versuch einer imperialistischen Provokation die ursprünglich verfolgte harte Linie des »sozialistischen Aufbaus« mit einigen kleineren Korrekturen fortzusetzen. Die prominenten Intellektuellen kritisierten zwar die Verschleierung der schweren Fehler der Parteiführung, aber übernahmen doch – zumindest in der Medienöffentlichkeit – die vorgegebenen Sprachregelungen, wie die zahllosen Ergebenheitsadressen im SED-Zentralorgan Neues Deutschland hinlänglich belegten. Von einem faschistischen Putschversuch gingen auch Hans Mayer und Stefan Heym aus. Innerhalb des Schriftstellerverbandes herrschte dagegen eine teils bedrückte, teils auch rebellische Stimmung bei vielen Mitgliedern, die sich damit nicht zufriedengeben wollten und grundsätzliche Diskussionen forderten. Einige prominente Intellektuelle wie Ernst Bloch drückten diese Erwartung aus und formulierten – hier in einem offenbar nicht veröffentlichten Text – damit eine zwar vorsichtige, aber doch deutliche Opposition zur Linie der Parteiführung um Walter Ulbricht: »Nicht minder notwendig dürfte es sein, daß auf der Suche nach den Ursachen nicht fast ausschließlich die westlichen Agenten kenntlich gemacht werden. Sie haben ihr volles Maß von klarer Schuld und müssen exemplarisch bestraft werden, aber es darf durch sie nicht von den anderen, tiefer liegenden Ursachen der manifestierten Unzufriedenheiten abgelenkt werden. Denn es kommt darauf an, diese Ursachen so rasch und gründlich wie möglich zu beheben und zwar nicht durch bloße Ankündigung von Verbesserungen, sondern durch unmittelbar wirksame Handlungen selbst.«29 Scharfe Kritik an der Unterdrückung künstlerischer Freiheit in den Massenmedien der DDR übten Bertolt Brecht, Peter Huchel, Arnold Zweig, der Komponist Paul Dessau und andere Vertreter der Akademie der Künste in einer Diskussion mit den Abgesandten der Parteiführung Alexander Abusch, Johannes R. Becher, dem Intendanten des Berliner Rundfunks Kurt Heiss und weiteren Vertretern des Staatlichen Rundfunkkomitees im September 1953.30 Die Medienkritik erfolgte auf Basis einer Erklärung des Kulturbundes mit dem Titel »Schlussfolgerungen aus den Ereignissen«. Die dort genannten 14 Punkte hatte Johannes R. Becher verfasst. Zentral war das Versprechen, dass Meinungsfreiheit in Kunst und Wissenschaft durchgesetzt würde31 – ein indirektes Eingeständnis, dass diese in der DDR nicht vorhanden gewesen war. Die Strategie der Parteiführung setzte auf Zeitgewinn, auf »freimütige«, aber folgenlose Gespräche mit Intellektuellen in deren Verbänden, während gleichzeitig der versprochene Neue 29 Zit. ebd., S. 89; hier auch zu ähnlichen Ausführungen seiner Frau Karola in einem nicht veröffentlichten Leserbrief an das Neue Deutschland. 30 Das Protokoll des Gesprächs am 16.9.1953 dok. in Ingrid Pietrzynski, Der DDR-Rundfunk und die Künstler. Protokoll einer Diskussionsrunde im September 1953, in: Rundfunk und Geschichte, Jg. 26, Nr. 3/4, 2000, S. 139-158. 31 Vgl. Gansel, Parlament, S. 172 ff.
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Kurs immer mehr in den Hintergrund trat. In der Bundesrepublik war diese Strategie von Hans Schwab-Felisch schon sehr früh mit beißender Kritik kommentiert worden, wobei er zum einen das implizite Eingeständnis, dass es die zuvor behauptete künstlerische Freiheit nicht gegeben hatte, hervorhob. Zum zweiten richte sich die Polemik in der DDR meist gegen untergeordnete Funktionäre, nicht gegen die tatsächlich Verantwortlichen. Und schließlich seien ergebene »gute Stalinisten« wie Bertolt Brecht und andere, die plötzlich als »Eiferer der Freiheit« auftreten würden, nicht glaubwürdig.32 Tatsächlich erwiesen sich die Versprechungen des Kulturbundes als haltlos, aber vorübergehend mäßigte sich der Ton der Partei gegenüber den Intellektuellen.33 Zwei zentrale ideologische Kampflinien hatte die SED-Führung bereits im Vorfeld der DDR-Staatsgründung bezogen und immer weiter ausgebaut. Für den Bereich der Kunst und Kultur war es der Kampf gegen den westlichen »Kosmopolitismus«, gegen »Dekadenz« und »Formalismus«.34 Im Bereich der Philosophie und wissenschaftlichen Weltanschauung sollten an allen Hochschulen und Akademien der Marxismus-Leninismus und damit das Deutungsmonopol der Partei durchgesetzt werden. Diese beiden zentralen Auseinandersetzungen waren eng miteinander verbunden. Dabei setzten sich Positionen nicht im Meinungsstreit durch, sondern wurden ex cathedra durch Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht (SMAD), Beschlüsse der Parteitage, des Zentralkomitees und Politbüros verbindlich vorgegeben und über die Parteipresse verbreitet. Als Auftakt der Polemik gegen die westliche »dekadente« Kunst am Beispiel der Malerei von Picasso, Chagall u. a. gilt ein Artikel des SMAD-Kulturoffiziers Alexander Dymschitz in der Täglichen Rundschau.35 Eine weitere autoritative sowjetische Stellungnahme druckte die sowjetische Zeitung unter einem Pseudonym ab. Es sprach der Hohe Kommissar Semjonow.36 Sein Urteil über den Formalismus als Zersetzung und Zerstörung der Kunst wurde von der SED umgehend aufgegriffen. Nicht zuletzt Walter Ulbricht äußerte wiederholt sein Unverständnis über abstrakte Werke der Bildenden Kunst, die nur der Fäulnis der niedergehenden bürgerlichen Gesellschaft, nicht aber dem historischen Optimismus des Proletariats entsprächen. Das 5. Plenum des ZK der SED am 17. März 1951 dekretierte den »Kampf gegen Formalismus in Literatur und Kunst – für eine fortschrittliche deutsche Kultur«. Schließlich wurde der Begriff des »Sozialistischen Realismus« durch die Zweite Parteikonferenz vom 9. bis 12.Juli 1952, auf 32 Hans Schwab-Felisch, Der Trick mit der »Freiheit«. Zu neuen Kulturtaktiken der Ostzone, in: Die Neue Zeitung, 16.7.1953, dok. in: ders., Leidenschaft und Augenmaß. Deutsche Paradoxien. Hrsg. von Olaf Haas, München 1993, S. 182-187, Zitate S. 185 f. 33 Vgl. Eberhart Schulz, Zwischen Identifikation und Opposition. Künstler und Wissenschaftler der DDR und ihre Organisationen von 1949 bis 1962, Köln 1995, S. 110 ff. 34 Vgl. Prokop, Intellektuelle, Teil 1, S. 184 ff. 35 Tägliche Rundschau, 19.11.1949, 24.11.1949; tatsächlich handelte es sich nur um den plumpen Aufguss des Realismusstreits der 1930er Jahre, bei dem Georg Lukács gegen Brecht und Bloch auf der Seite der Antiformalisten gestanden hatte. 36 N. Orlow (= Wladimir S. Semjonow), Wege und Irrwege der Moderne, in: Tägliche Rundschau, 20./21.1.1951.
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der in Anlehnung an die sowjetische Formel seit den 1920er Jahren der »planmäßige Aufbau des Sozialismus« verkündet wurde, als verbindliche Norm verankert. Für die frühe DDR markierte sie eine »stalinistische Durststrecke der Literatur«,37 wobei, ganz im Gegensatz zur Leistungsideologie für die »Produktion« materieller Güter, Schriftsteller, denen unter diesen Bedingungen nichts mehr einfallen wollte, geduldet waren, je prominenter ihr Name war. Institutionen wie der Kulturbund dienten der diskursiven Normverdeutlichung, bei der aber Konfliktlinien nicht völlig eingeebnet werden konnten; Schriftsteller wie Arnold Zweig äußerten sich dort immer wieder kritisch.38 Rücksichten mussten auch im ostdeutschen PEN-Zentrum genommen werden, das sich nach der Spaltung PEN-Zentrum Ost und West nannte und bis zum Ende der 1950er Jahre auch einige westdeutsche Autoren zu seinen Mitgliedern zählte.39 Die enorme Reputation des im Westen politisch angefeindeten Bertolt Brecht in seinen letzten Lebensjahren kam in seiner Wahl zum Präsidenten dieser Institution zum Ausdruck.40 Die Auseinandersetzungen im Bereich der Künste, vor allem aber in der Philosophie vollzogen sich in der ersten Hälfte der 1950er Jahre anhand unterschiedlicher symbolischer Themenfelder. So wurde die Literatur- und Kulturzeitschrift Sinn und Form, die bis zu seiner spektakulären Absetzung 1962 von dem Lyriker Peter Huchel geleitet wurde, aus dem Parteiapparat immer wieder angefeindet. Allein der Umstand, dass die Zeitschrift auch von vielen unabhängigen Intellektuellen in der Bundesrepublik als interessantes Projekt des Ostens begrüßt wurde, so etwa von Alfred Andersch, Heinz Friedrich vom Hessischen Rundfunk, dem Schriftsteller Hermann Broch und von Kasimir Edschmid,41 machte sie verdächtig. Huchel geriet nicht zuletzt ins Visier der Parteikader, weil Ernst Bloch, den er 1928 kennengelernt hatte und mit dem er eng befreundet war, zu den Hauptautoren der Zeitschrift zählte; seine Beiträge in der »Form literarisierter Philosophie«42 kontrastierten auffällig mit der scholastischen Sprache der Kaderphilosophie. Ein weiterer Autor war der Romanist Werner Krauss, ebenfalls an der Leipziger Universität lehrend und mit Bloch verbunden. Die Strategie der Zeitschrift bestand darin, den parteiamtlichen »sozialistischen Realismus« nicht explizit zu kritisieren, sondern durch den 37 Barner, Im Zeichen des »Vollstreckens«, das erste Zitat dort S. 130, sowie ders., Aufbau, Tauwetter, »Kulturrevolution«: Literarisches Leben in der DDR der fünfziger Jahre, in: ders., Geschichte, S. 274-286, zweites Zitat dort S. 274 als Abschnittsüberschrift. 38 Vgl. als erstrangige Quelle die Protokolle des Kulturbund-Präsidialrats vom 3.7.1953 bis 13.9.1957: Magdalena Heider/Kerstin Thöns (Hrsg.), SED und Intellektuelle in der DDR der fünfziger Jahre. Kulturbundprotokolle, Köln 1990; zum Kontext Magdalena Heider, Politik – Kultur – Kulturbund. Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945-1954 in der SBZ/DDR, Köln 1993; sowie Forner, German Intellectuals. 39 S. Kapitel II.4.1. 40 Vgl. Dorothée Bores, Das ostdeusche P. E.N.-Zentrum 1951 bis 1998. Ein Werkzeug der Diktatur?, Berlin/New York 2010, S. 238 ff., 286 ff. 41 Vgl. die Sammlung von Stellungnahmen zur Zeitschrift von Schoor, Journal, S. 160 ff. 42 Ebd., S. 83.
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Abdruck von literarischen Beispielen, etwa Bertolt Brechts, zu hinterfragen – eine listige Form politischer Publizistik. Brachial kämpfte die Parteiführung auf dem Feld der Philosophie für die Durchsetzung des Marxismus-Leninismus als verbindlicher Leitlinie. Die Themen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre waren die Entlarvung der »spätbürgerlichen« Philosophie, das Verständnis von dialektischer Logik, der Philosophie Hegels, die Probleme der modernen Physik und Naturwissenschaft.43 Diese Streitthemen wurden in der Regel personalisiert und politisiert, um ein Feindbild zu generieren. So wurde dem jungen Philosophen Wolfgang Harich, der sich einmal positiv auf den westdeutschen Anthropologen Arnold Gehlen44 bezogen hatte, vorgeworfen, er versuche eine aberwitzige Verknüpfung faschistischer Anthropologie mit dem Marxismus. Georg Lukács, der mit seinem einflussreichen Werk »Die Zerstörung der Vernunft« mit dem Schlüsselbegriff »Irrationalismus« sehr grob den Verfall und Niveauverlust der Philosophie nach Hegel bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als Spiegel spätbürgerlicher Fäulnis interpretiert hatte, entsprach damit eigentlich der Parteilinie.45 Aber als er sich 1956 beim ungarischen Aufstand gegen die sowjetische Invasion stellte, wurde sein Werk in der DDR in haltloser Polemik als revisionistische Position verurteilt – natürlich ohne dass er die Chance gehabt hätte, dem in öffentlicher Diskussion zu widersprechen.46 Und zunehmend war es Ernst Bloch, der allein schon deshalb zum Hauptgegner wurde, weil er – unabhängig von konkreten Positionen – schon mit seinem Spott über den Klippschul-Marxismus der Parteiphilosophen auf diese als Provokation wirken musste und einen enormen Zulauf von Studierenden genoss. Von Parteiseite abschätzig als »Hoffnungsphilosophie«47 bezeichnet, waren es gerade die mitunter tagträumerischen und chiliastischen Gehalte seines Denkens, die das Bedürfnis nach weltanschaulicher Orientierung seines Publikums befriedigten. Bis zur Mitte der 1950er Jahre wurde er zumindest geduldet und wurden Versuche unternommen, ihn mit Ehren und Auszeichnungen für das Regime zu gewinnen, war er doch der einzige DDR-Philosoph, der internationale Reputation genoss. 43 Vgl. Norbert Kapferer, Das Feindbild der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR 1945-1988, Darmstadt 1990, S. 9-154; ders., Philosophie in Deutschland 1945-1995. Grundzüge und Tendenzen unter den Bedingungen von politischer Teilung und Wiedervereinigung Bd. I: Die Jahre 1945-1970, Hamburg 2008, S. 113-175; eine Fülle von einzelnen Aspekten zur Durchsetzung der marxistisch-leninistischen Philosophie präsentieren Gerhardt/Rauh, Anfänge. 44 S. Kapitel II.4.2. 45 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin (DDR) 1954; eine westdeutsche Taschenbuchausgabe erschien 1973 bei Luchterhand mit dem Untertitel »Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler«. 46 Vgl. den offiziösen Sammelband von Hans Koch (Hrsg.), Georg Lukács und der Revisionismus, Berlin (DDR) 1960; vgl. Kapferer, Feindbild, S. 120-154. 47 Der Begriff bezog sich vor allem auf das Werk »Das Prinzip Hoffnung«, geschrieben im US-Exil und teilweise im Aufbau-Verlag 1954 veröffentlicht und dann 1959 bei Suhrkamp publiziert.
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Diese Konstellation einer fragilen Balance für Intellektuelle, die in ihrer Funktion als geistige Repräsentanten des Staates im Systemwettbewerb als nützlich angesehen und zugleich angesichts ihrer Unbotmäßigkeit als Risiko misstrauisch beobachtet wurden, galt bis zum Beginn des dramatischen Jahres 1956, bis zum XX. Parteitag der KPdSU mit der Enthüllung der stalinistischen Verbrechen, die Illusionen und Hoffnungen auf eine humane Perspektive des sowjetischen Modells, auch dies schloss der zeitgenössische Begriff des »Tauwetters« ein, wie Schnee in der Frühlingssonne zerrinnen ließ. Eine triste Trauerfeier für Bertolt Brecht im Theater am Schiffbauerdamm im August 1956, auf der Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und andere hochrangige Funktionäre das Wort ergriffen, markierte das symbolische Ende aller Hoffnungen auf politisches Tauwetter. Angesichts der existenziellen Krise des »realen Sozialismus« fielen alle politischmoralischen Ummäntelungen fort, sahen sich die Intellektuellen der nackten Gewalt des SED-Regimes gegenüber. Symbolisch stand dafür das repressive Vorgehen gegen den informellen »Kreis der Gleichgesinnten« innerhalb des Aufbau-Verlags 1956/57. Zu dieser Gruppe gehörten der Verlagschef Walter Janka, der als junger Kommunist nach KZ-Haft im spanischen Bürgerkrieg und im mexikanischen Exil tätig gewesen und mit Anna Seghers und Paul Merker befreundet war, der junge Cheflektor Wolfgang Harich, der zusammen mit Ernst Bloch seit 1953 die Deutsche Zeitschrift für Philosophie herausgab, und einige weitere Intellektuelle aus dem Verlag und seinem Umfeld mit Verbindungen zu Johannes R. Becher und anderen Funktionären des SED-Apparats. Die vagen programmatischen Vorstellungen liefen auf den Abzug der sowjetischen Truppen, wirtschaftliche Reformen, freie Wahlen und eine Wiedervereinigung in einem neutralen, entmilitarisierten Deutschland hinaus – bewegten sich also auf der Linie der erst wenige Jahre zurückliegenden Stalin-Noten. Im Aufbau-Verlag wurde 1956 sogar die Herausgabe einer zweiten politischkulturellen Wochenzeitung mit dem Titel Die Republik vorbereitet, deren Startauflage 50.000 Exemplare betragen sollte.48 Zudem dachte man über eine Öffnung des Programms zur modernen sogenannten spätbürgerlichen nichtsozialistischen Literatur nicht nur nach. 1956 erschienen Werke von Ernest Hemingway, Jean-Paul Sartre und Alberto Moravia, eine Ausgabe von Marcel Prousts Romanzyklus »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« wurde vorbereitet.49 Als Verbrechen wertete die SED-Führung vor allem, dass die politische Plattform durch Harich in den Westen, zu Augsteins Spiegel, gelangt war. Das Gespenst einer nun offenen Opposition alarmierte die SED-Führung.50 Zur »Schlüsselfigur« der intellektuellen Parteikader wurde in dieser Situation Alfred Kurella, der dafür 1954 aus der Sowjetunion zurückgekehrt war, 1956/57 als Leiter der Kulturkommission 48 Wurm, Aufbau-Verlag, S. 187. 49 Ebd., S. 193 ff.; vgl. Gansel, Parlament, S. 187 ff. 50 Hans Schwab-Felisch, Einige Aspekte der SED-Kulturoffensive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.4.1958, dok. in: ders., Leidenschaft, S. 187-193.
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beim Politbüro des ZK der SED eingesetzt wurde und zahlreiche Funktionen im Kulturapparat der DDR bekleidete. Im Unterschied zu Johannes R. Becher besaß er das Vertrauen Walter Ulbrichts.51 Innerhalb des Kreises im Aufbau-Verlag, der in den Akten der Polizei- und Justizorgane sowie der Parteipresse auch als Harich-Gruppe bezeichnet wurde, entstand im Herbst 1956, noch vor der sowjetischen Intervention, der Plan, einen der wichtigsten Autoren und Berater des Aufbau-Verlags, Georg Lukács, zu retten. Lukács, geistiger Kopf des ungarischen Petöfi-Kreises, war in die nationalkommunistische Regierung von Imre Nagy als Bildungsminister eingetreten, womit nach der sowjetischen Intervention sein Leben gefährdet schien. Der Plan, Walter Janka nach Ungarn zu schicken, um Lukács in die DDR zu bringen, war sogar an führende Funktionäre der SED herangetragen worden, dort aber auf Ablehnung gestoßen. Walter Ulbricht persönlich verbot eine derartige Aktion. Stattdessen wurden prominente Intellektuelle bedrängt, die Niederschlagung des Aufstands öffentlich zu begrüßen. Kantorowicz entzog sich geschickt einer entsprechenden Aufforderung des Deutschen Schriftstellerverbandes. Er sei zwar »in der gegenwärtigen Situation für bedächtige und zugleich entschiedene Bekenntnisse für unseren sozialistischen Weg«, aber solange Personen im Verbandssekretariat säßen, die ihm immer wieder geschadet hätten, könne er keine Erklärung unterschreiben. Nicht einmal die in Aussicht genommene Nominierung für die Vorstandswahlen des Verbandes konnten ihn davon abbringen.52 Der weitere Fortgang ist verschiedentlich dokumentiert worden: Ende November 1956 wurden Janka, Harich und einige weitere verhaftet. In zwei Schauprozessen im März und Juli 1957 wurden sieben Angeklagte wegen »Boykotthetze« und weiterer Verbrechen zu Zuchthausstrafen verurteilt. Als Hauptangeklagter wurde Harich angesehen, dessen Straßmaß zehn Jahre betrug, Janka erhielt fünf Jahre mit »verschärfter Einzelhaft«. Während sich aber Harich beim Ministerium für Staatssicherheit dafür bedankte, dass sie ihn rechtzeitig unschädlich gemacht hätten, bestand Janka auf seiner Unschuld. Im zweiten Schauprozess gegen Janka stellte sich Harich dann als Hauptbelastungszeuge zur Verfügung – der Bruch einer Freundschaft und Beginn jahrzehntelanger Auseinandersetzungen um den »Verräter« Harich. Die Schauprozesse zerstörten nicht nur alle Hoffnungen auf die Möglichkeit demokratischer Reformen in der DDR, sondern blamierten das SED-Regime schon durch die äußeren Umstände des Verfahrens vor der Weltöffentlichkeit. So zwang man mit den Angeklagten gut bekannte Schriftstellerinnen und Künstler, Willi 51 Vgl. die faszinierende Skizze »eines deutsch-bürgerlichen Intellektuellen« von Mayer, Deutscher, Bd. II, S. 130 ff., Zitat S. 130 vgl. Siegfried Prokop (Hrsg.), Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956, Berlin 2006. 52 Alfred Kantorowicz an Max Zimmering/Sekretariat des Deutschen Schriftstellerverbandes, 8.12.1956, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, I/Z 2; zum Deutschen PEN-Zentrum Ost und West in diesem Zeitraum vgl. Bores, P. E.N.-Zentrum, S. 321 ff.
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Bredel, Anna Seghers, Helene Weigel, den Prozess von den Zuschauerbänken aus zu verfolgen. Als Generalstaatsanwalt fungierte Ernst Melsheimer, der sich nach dem Austritt aus der SPD 1933 dem NS-Regime angedient hatte und den Prozess im Stil von Roland Freisler führte.53 Zeitgleich wurde mit allen Mitteln der staatlichen Macht – unterhalb seiner Verhaftung – zum letzten Gefecht gegen Ernst Bloch geblasen. Immerhin hatte dieser noch zu seinem 70. Geburtstag 1955 den renommierten Nationalpreis, den Vaterländischen Verdienstorden, eine Festschrift, Glückwünsche des ZK der SED und einen Würdigungsartikel Kurt Hagers im Neuen Deutschland erhalten.54 Attacken dogmatischer Parteiphilosophen, sein lokaler Intimfeind hieß Rugard Otto Gropp, prallten angesichts seines internationalen Ansehens von Bloch ab. Aber Ende 1956 begann ein ideologischer Feldzug gegen ihn, der die Rückendeckung der SEDFührung hatte.55 Walter Ulbricht schrieb zwar noch im Februar 1957 persönlich an Bloch, kritisierte dessen Ansichten, betonte aber zugleich die Hochachtung gegenüber dem Philosophen.56 Die offizielle Linie der Partei dekretierte Kurt Hager, der Bloch nicht nur als philosophischen Idealisten, sondern auch als politisch unzuverlässig angriff.57 Im Januar 1957 wurde der Philosoph, im 72. Lebensjahr stehend, zwangsemeritiert. Höhepunkt der ideologischen Kampagne war eine Parteikonferenz in Leipzig mit dem Titel »Über Fragen der Blochschen Philosophie« am 4. und 5. April 1957, zu der Bloch selbst nicht eingeladen wurde.58 Diese Abrechnung bildete wiederum den Auftakt zu seiner Kaltstellung am Institut, das er nicht noch einmal betreten sollte. Es folgte eine Flut von Exmatrikulationen von Studierenden, Parteiverfahren und Entlassungen der Assistenten und Mitarbeiter Blochs. Diese wurden vor53 Vgl. Brigitte Hoeft (Hrsg.), Der Prozeß gegen Walter Janka und andere, Reinbek 1990; aus gegensätzlicher Perspektive der Protagonisten Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek 1989; ders., Spuren eines Lebens, Berlin 1991; ders., … bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers, Berlin/Weimar 1993; Wolfgang Harich, Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition in der DDR, Berlin 1993; zur Biographie von Harich vgl. als kritische Zeitzeugen Fritz J. Raddatz, Unruhestifter. Erinnerungen, Berlin 2003, S. 94 ff.; Gustav Just, Deutsch, Jahrgang 1921. Ein Lebensbericht, Berlin 2007, S. 138 ff.; vgl. zu dieser intellektuellen Szene Siegfried Prokop, Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs, Berlin 1997; Mittenzwei, Die Intellektuellen, S. 127 ff., 144 ff.; Herzberg, Anpassung, S. 489 ff.; vgl. auch Sven Sieber, Walter Janka und Wolfgang Harich. Zwei DDR-Intellektuelle im Konflikt mit der Macht, Berlin u. a. 2008. 54 Zum 70. Geburtstag Prof. Ernst Blochs. Glückwunschschreiben des ZK der SED, in: Neues Deutschland, 8.7.1955; Kurt Hager, Parteilichkeit oder politische Neutralität?, in: Neues Deutschland, 8.7.1955, dok. in: Michael Franzke (Hrsg.), Die ideologische Offensive. Ernst Bloch, SED und Universität, Leipzig 1995, S. 33-36. 55 Vgl. zu den Streitpunkten »Hoffnung kann enttäuscht werden«. Ernst Bloch in Leipzig. Dok. u. komm. von Volker Caysa u. a. (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1992. 56 Herzberg, Anpassung, S. 526 f. 57 Kurt Hager, Piraten unter falscher Flagge, in: Leipziger Volkszeitung, 27.2.1957. 58 Herzberg, Anpassung, S. 528 f.
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geladen und erhielten die Aufforderung, sich von dem Philosophen zu distanzieren. Erich Mielke kündigte intern die Ausweitung geheimdienstlicher Recherchen an, vor allem ging es ihm um den Nachweis von Verbindungen Blochs zur gerade abgeurteilten Harich-Gruppe. Bloch kannte Harich seit 1949 und war mit ihm seit 1950 freundschaftlich verbunden. Allerdings hatte sich das Verhältnis 1956 eingetrübt, weil Harich öffentlich Blochs Auffassungen kritisiert hatte. Von Ende 1956 bis 1961 wurde der Philosoph vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Rahmen des operativen Vorgangs »Wild« intensiv überwacht.59 Im gleichen Zeitraum verbesserte sich Blochs Verhältnis zu Adorno, der ihm wegen dessen parteikommunistischer Sympathien über zwei Jahrzehnte hinweg sehr reserviert begegnet war. 1958 kam es am Rande eines Kongresses der Internationalen Hegel-Gesellschaft in Frankfurt am Main zu einem Wiedersehen, das sehr herzlich ausfiel. Auch mit Siegfried Kracauer, der in diesen Jahren eine dichte Korrespondenz mit Adorno unterhielt, freundete sich Bloch wieder an.60 In der Krisensituation des Staates 1956/57 gerieten die letzten Nischen intellektueller, nicht restlos kontrollierter Diskurse in den Blick der Staatssicherheit. Nicht einmal zweifelsfrei parteitreue Kommunisten wie Jürgen Kuczynski durften ihre in einzelnen wissenschaftlichen Fragen individuell abweichenden Auffassungen noch vertreten. Geprägt von einer »eigentümlichen Mischung aus bildungsbürgerlichem Habitus und tiefer Loyalität gegenüber dem selbststilisierten ›Arbeiter- und Bauernstaat‹« bestand Kuczynski darauf, »dass wahrhafte Parteitreue ohne Meinungsstreit und intellektuelle Unabhängigkeit nicht möglich sei« – eine dem Selbstverständnis der führenden SED-Kader fremde Denkweise.61 Kuczynski hatte es gewagt, die Formel vom Verrat der SPD-Parteiführung bei der Bewilligung der Kriegskredite 1914 in Frage zu stellen und auf nationalistische Begeisterung auch an der Basis, bei den proletarischen »Massen«, hinzuweisen. Das genügte, um einen mehrjährigen polemischen Feldzug gegen den »Revisionisten« zu inszenieren, für den der Begriff »Historikerstreit« verharmlosend wäre.62 Die wenigen Nischen für unabhängige marxistische Intellektuelle wurden vom Regime offenbar als weitaus gefährlicher erachtet als das alltagskritische Feuilleton, wie es Heinz Knobloch in der 1953 gegründeten unterhaltenden Zeitschrift Wochenpost präsentierte. Dieses Blatt hatte eine Auflage von mehr als einer Million 59 Vgl. Jürgen Jahn, Ernst Bloch im Visier der Staatssicherheit, in: Prokop, Zwischen Aufbruch und Abbruch, S. 264-309. 60 Vgl. Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016, S. 543 ff. 61 Jürgen Kuczynski, Ein linientreuer Dissident. Memoiren 1945-1989, Berlin 1992; Axel Fair-Schulz, Parteitreue Unabhängigkeit? Jürgen Kuczynski als marxistischer Intellektueller in der DDR, in: Winkler, WortEnde, S. 27-37, Zitate S. 27, 29; vgl. Mario Kessler, Jürgen Kuczynski – ein linientreuer Dissident?, in: Utopie kreativ, H. 171, Januar 2005, S. 42-47; Jost Hermand (Hrsg.), Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland, Köln 2014, S. 77 ff. 62 Vgl. Horst Haun, Kommunist und »Revisionist«. Die SED-Kampagne gegen Jürgen Kuczynski (1956-1959), Dresden 1999.
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Exemplare.63 Näher untersucht werden müssten auch die Artikel in einigen weiteren politisch-kulturellen Zeitschriften.64 Einen Spezialfall bilden zudem staatlich nicht kontrollierte kirchliche Publikationen.65 Hier werden, auch hinsichtlich der jeweiligen Leserschaft, Randbereiche der Intellectual History berührt, das Nischen-Feuilleton als Ersatz für die Austragung politischer Konflikte in einer pluralistischen Öffentlichkeit66 sowie ein begrenzter »Paralleldiskurs im Umfeld der evangelischen Kirche«,67 dessen Wirksamkeit sich freilich erst in der Schlussphase des SED-Regimes zeigte. Aber dies ändert wenig am Gesamtbefund: Während die Stabilisierung der Bundesrepublik – »Bonn ist nicht Weimar« – mit der Durchsetzung einer kritischen Öffentlichkeit einherging, etablierte sich die DDR zunächst als deren Gegenentwurf.
63 Heinz Knobloch/Gunter Reus/Jürgen Reifarth (Hrsg.), »Lässt sich das drucken?«, Feuilletons gegen den Strich, Konstanz 2002. 64 Vgl. Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis (Hrsg.), Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999. 65 Martin Uhle-Wettler, Bilanz im Weitergehen, 50 Jahre »Zeichen der Zeit«, in: Die Zeichen der Zeit, Jg. 51, 1997, Nr. 1, S. 11-15; zur einflussreichen Evangelischen Verlagsanstalt als intellektueller Nische vgl. Annegret Braun, Die Evangelische Verlagsanstalt (eva) 1946-1961, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, Bd. 12, Wiesbaden 2003, S. 107-167. 66 Marianne Streisand, Das Feuilleton in Ost und West, in: Le langage et l’homme, Jg. 34, 1999, S. 321-343. 67 Wolfgang Bialas, Ostdeutsche Intellektuelle und der gesellschaftliche Umbruch der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 33, 2007, S. 289-303, Zitat S. 294.
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Orte des Gesprächs Dass die Bundesrepublik trotz der rigiden Grenzziehungen des Kalten Krieges allmählich eine diskutierende Gesellschaft wurde, in der das bessere Argument zumindest mehr Beachtung fand als in den weltanschaulich zerklüfteten und feindlich voneinander abgeschotteten intellektuellen Milieus vor 1933, war bereits mit der Lizenzpolitik der Besatzungsmächte eingeleitet worden. Darüber hinaus trugen nun zahlreiche neue Gesprächsforen die Tendenz einer Pluralisierung der politischen Kultur in sich1 und bildeten den Humus der breiteren Medialisierung durch Zeitschriften, das Feuilleton der Tages- und Wochenpresse, Buchbeiträge und Radiosendungen. Insgesamt handelte es sich zunächst um eine »außerordentlich exklusive, homogene und kohärente literarisch-politische Öffentlichkeit im Zentrum des intellektuellen Feldes«;2 denn nur etwa vier Prozent der Bevölkerung besaßen 1950 das Abitur und verstanden eine Fremdsprache. An exklusiven Orten gingen ökonomisches und kulturelles Kapital eine enge Liaison ein. Dazu zählte etwa die Bühlerhöhe, das Baden-Badener Kurhotel und die zugehörige Klinik. In der Korrespondenz arrivierter Intellektueller, von Friedrich Sieburg und Karl Korn bis zu Hans Paeschke, dem Herausgeber des Merkur, von Karl Jaspers bis Ernst Jünger, von Dolf Sternberger bis Alexander Rüstow, wird diese Kurklinik immer wieder erwähnt, ohne dass sie den Briefpartnern erklärt werden musste. Auch die konservativ-katholische Abendland-Fraktion kurte hier gern, wie etwa der Lizenznehmer der Süddeutschen Zeitung und Hochland-Herausgeber Franz Josef Schöningh,3 ebenso der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Erich Welter.4 Atmosphärisch an Thomas Manns »Zauberberg« erinnernd, ging es nicht nur um die Heilung der Rückenleiden und Erschöpfungszustände von prominenten Schriftstellern und Publizisten,5 sondern auch um geistigen Austausch und die Pflege von Netzwerken. Hier konnten maßgebliche Intellektuelle Angehörige der Finanzwelt, etwa Herren aus dem Vorstand des Bosch-Konzerns, bei der Kur treffen. Wer es sich leisten konnte, zog sich einmal im Jahr für einige Wochen auf die Bühlerhöhe zurück. Seit Mitte 1949 organisierte der umtriebige Chefarzt und Direktor des Sanatoriums, Dr. Stroomann, monatlich Vorträge über Vererbungslehre oder Soziologie, die Lesung eines Schriftstellers oder einen Klavierabend. Adolf Frisé berichtete mit sanfter Ironie von einem Auftritt Martin Heideggers in der Kurhalle im Oktober 1950: 1 2 3 4 5
Vgl. Schildt, Feld, S. 29 ff. Reitmayer, Elite, S. 562. Franz Josef Schöningh an Otto B. Roegele, 26.1.1951, in: Nl. Otto B. Roegele, 1951 (K-Z). Erich Welter an Alexander Rüstow, 6.4.1963, in: BAK, Nl. Alexander Rüstow, 136. »Mein Aufenthalt auf der Bühlerhöhe war dringend nötig und wie ich jetzt mit Genugtuung sehen kann, außerordentlich erfolgreich. Es ist Stroomann gelungen, den Schaden zu beheben, so daß ich (meiner Arbeit) in der nächsten Woche wieder mit alter Kraft nachgehen kann«; Friedrich Sieburg an Max von Brück, 28.5.1954, in: DLA, A: Friedrich Sieburg.
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»Man hatte bei dieser Begegnung mit Heidegger den Eindruck, daß niemand offen einzugestehen wagte, was ihm unverständlich geblieben war, ja, was ihm unverständlich bleiben mußte, und erst recht nicht nach den Gründen dafür zu fragen.«6 Aber darum ging es nicht, entscheidend waren vielmehr die Aura des Bedeutenden und das Privileg, dazuzugehören. Auf der Bühlerhöhe fanden Herausgebersitzungen von Zeitschriften statt, und Stroomann selbst organisierte den Freundeskreis der Zeitschrift Merkur.7 Ältere Traditionen der Begegnung von Geld und Geist wurden in den 1950er Jahren fortgeführt. Die Gesprächsforen exklusiver Klubs erwiesen sich gerade für konservative Intellektuelle, die bevorzugt als Vortragsredner eingeladen wurden, als lukrative Einnahmequelle. Das galt nicht nur für Heidegger, sondern auch für den Soziologen Arnold Gehlen, der besonders häufig bei Kulturveranstaltungen von Unternehmerverbänden auftrat. Einen speziellen Fall stellten die Vortragsabende der Siemens-Stiftung in München dar, die deren Geschäftsführer Armin Mohler in den 1960er Jahren organisierte, weil dieser sich an einem systematischen Gesamtprogramm rechtskonservativer Hegemoniebildung orientierte, das ansonsten exklusiven Zirkeln wie der Academia Moralis im Umkreis von Carl Schmitt vorbehalten war. Auch die kirchlichen Akademien, vor allem die evangelischen, versuchten in den ersten Jahren, das Gespräch auf elitärer Basis durch gezielte Einladungen zu organisieren. Erst später öffnete man die Veranstaltungen für ein breiteres Publikum. Die Diskussionen folgten dort zwar, mehr oder weniger zurückhaltend christlich imprägniert, den allgemeinen Linien der intellektuellen Öffentlichkeit, aber es wurde von Anfang an bei den Themen auf eine dialogische Form geachtet. Für die kirchlichen Akademien galt wie für andere wichtige Versammlungen intellektueller Geister, dass die Medien, Rundfunk, die Feuilletons der großen Blätter und die politisch-kulturellen Zeitschriften, sehr aufmerksam die Veranstaltungsprogramme registrierten und nach möglichen Beiträgen für ihre Verwendung durchforsteten. Im Übrigen verstanden sich die Akademien selbst als Dach für den Meinungsaustausch unter Journalisten und Publizisten.8 An einer Liste der vom hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje eingeladenen zwanzig Personen zu einer Tagung 6 Adolf Frisé, Bühler Höhenluft, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung (Stuttgart), 14.10.1950, abgedruckt in: ders., Spiegelungen, S. 126 f. 7 Alexander Rüstow an Prof. Dr. Stroomann, 20.10.1953, in: BAK, Nl. Alexander Rüstow, 58; eine Geschichte dieses »Zauberbergs« als intellektuellem Gesellungsort, in dem nahezu alle publizistischen Größen der frühen Bundesrepublik kurten, von Ernst Rowohlt bis zu Friedrich Sieburg, wäre ein reizvolles Thema; vgl. jetzt immmerhin einen historischen Kriminalroman, dessen Handlung in den frühen 1950er Jahren spielt: Brigitte Glaser, Bühlerhöhe, Berlin 2017 (22018). 8 Schildt, Abendland, S. 111-165; vgl. Treidel, Akademien; Elisabeth Eicher-Dröge, Im Dialog mit Kirche und Welt? Katholische Akademien in Deutschland. Identität im Wandel von fünf Jahrzehnten (1951-2001), Münster 2003; Thomas Mittmann, Kirchliche Akademien
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in Loccum im Sommer 1949 lässt sich gut ablesen, wen man miteinander ins Gespräch bringen wollte, darunter Walter Dirks, Ernst Friedländer, Ernst Rowohlt, Otto B. Roegele, Axel Springer, Richard Tüngel und Hans Zehrer. Von den Tagesund Wochenzeitungen waren Vertreter der Rheinischen Post, der Welt, der Zeit, des Sonntagsblatts, des Rheinischen Merkur und der Mainzer Allgemeinen Zeitung, der Vorgängerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, geladen, zudem ein Redakteur des NWDR.9 Ein viel beachtetes Format stellten die »Mittwoch-Gespräche« im Alten Wartesaal 3. Klasse des Kölner Hauptbahnhofs dar, die, von dem Buchhändler Gerhard Ludwig ausgerichtet, von 1950 bis 1956 wöchentlich stattfanden.10 Sie wurden zu einer überregional beachteten Institution und mitunter sogar im Fernsehen übertragen. Werner Höfer gab an, er sei durch die Bahnhofsgespräche angeregt worden, den »Internationalen Frühschoppen« zu konzipieren. Im Kölner Wartesaal traten prominente Größen auf, von Theodor W. Adorno bis zu Ernst von Salomon, der hier seinen Bestseller »Der Fragebogen«11 vorstellte. Das Programm war pluralistisch konzipiert. So sprachen 1954 der linke Schriftsteller Hans Henny Jahnn (»Die Frage nach dem Anlass«) ebenso wie der rechtskatholische Familienminister FranzJosef Wuermeling (»Können Gesetze die Moral heben?«), der sozialdemokratische Intendant des Süddeutschen Rundfunks Fritz Eberhard (»Rundfunk als Mittel und Gegenstand der Politik«) wie der christdemokratische nordrhein-westfälische Innenminister Franz Meyers (»Bürger und Behörde«).12 1956 beantwortete die spätere Fernsehgröße Bernhard Grzimek, der Direktor des Frankfurter Zoos, die Frage: »Sind wilde Tiere im Zoo glücklich?« Walter Meier, der Leiter des Manesse Verlags fragte: »Sind Klassiker nur noch Wandschmuck?«13 Dass sich zwischen 300 und 800 Menschen in einem Wartesaal drängten, Einlass war um 17 Uhr, die Veranstaltung begann um 18 Uhr 30, besaß einen demokratischen Anstrich, aber auch hier handelte es sich um ein bildungsbürgerliches Publikum. Zahllose lokale Foren, über die es nicht einmal einen ungefähren Überblick gibt, übernahmen eine ähnliche Funktion der Selbstverständigung. Dies galt nicht nur für Universitätsstädte. In Wuppertal war 1946 der »Bund« als bildungsbürgerliche Vereinigung zur »geistigen Erneuerung« gegründet worden. Zu den Initiatoren gehörten der Leiter der örtlichen Volkshochschule, aber auch der zeitgenössisch prominente Schriftsteller Gerhard Nebel aus dem Umfeld Ernst Jüngers. Die Liste der Vortragenden enthielt klingende Namen, darunter Rudolf Alexander Schrö-
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in der Bundesrepublik Deutschland. Gesellschaftliche, politische und religiöse Selbstverortungen, Göttingen 2011. Hanns Lilje an Walter Dirks, 1.3.1949, beigefügt Einladungsliste; Walter Dirks an Hanns Lilje, 10.3.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 41; zur Medienpolitik der evangelischen Kirche vgl. Hannig, Religion. Verheyen, Diskussionslust, S. 213 ff. S. Kapitel II.3.1 Vorschau vom April 1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 91. Vorschau vom April/Mai 1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 103.
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der, Carl Schmitt, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen, Jürgen Habermas, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll und Paul Celan.14 In Pforzheim, am nördlichen Rand des Schwarzwalds zwischen Stuttgart und Heidelberg gelegen, lud die 1957 gegründete Reuchlin-Gesellschaft prominente Vortragsredner ein, von Max Brod bis Ernst Bloch.15 Sowohl in Wuppertal als auch in Pforzheim profitierte man von nahe gelegenen Universitäten, Münster und Heidelberg, die jeweils einen großen Teil der Vortragenden stellten. Die Feier exklusiver Intellektualität wurde auch dort zelebriert, wo man es vielleicht nicht erwartet hätte, bei den Gewerkschaften. Als Forum dienten die »Europäischen Gespräche« in Recklinghausen, die Teil des Programms der Ruhrfestspiele waren. Die Gewerkschaften betonten stolz, dass »der Arbeiter als Mäzen« auftrete und »geistige Menschen als Bundesgenossen« gewinnen konnte.16 Während sich die DGB-Spitze in sozialwissenschaftlichen Fragen bevorzugt von Helmut Schelsky und dessen Mitarbeitern beraten ließ, hatte sie die Leitung der »Europäischen Gespräche« an Eugen Kogon und Walter Dirks delegiert und ließ ihnen bei der Zusammenstellung des Programms und der Auswahl der Referenten völlig freie Hand. Ein wichtiger Ansprechpartner beim DGB-Vorstand war der Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, Walther Pahl, der bereits in der ADGB-Zentrale vor 1933 die Fäden zu Vertretern des Tat-Kreises geknüpft hatte. Von Dirks und Kogon erhoffte er sich nun einen »wesentlichen Beitrag zu der Herausarbeitung eines neuen geistigen Leitbildes der Gewerkschaftsbewegung«.17 In der offiziellen Einladung renommierte Hans Böckler, der Vorsitzende des DGB, mit »berufenen Männern des europäischen geistigen Gesprächs«.18 Das Thema des ersten der »Europäischen Gespräche«, das von Eugen Kogon geleitet wurde, lautete: »Der Arbeiter und die Kultur der Gegenwart«. Walter Dirks beteiligte sich danach nur noch sporadisch an der Programmplanung.19 Einflussreich waren die beiden Frankfurter, schon auf Grund der geographischen Nähe, auch bei dem in den frühen 1950er Jahren wohl gehaltvollsten und öffent-
14 Vgl. Roman Yos, Der junge Habermas. Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens (1952-1962), Phil. Diss. Universität Potsdam 1996, S. 197. 15 Vgl. Axel Schildt, Die Ideenlandschaft der Wiederaufbau-Jahre zwischen Kulturpessimismus und Moderne und die Anfänge des Vortragsprogramms der Reuchlin-Gesellschaft, in: Christian Groh (Hrsg.), Neue Beiträge zur Pforzheimer Stadtgeschichte, Bd. 2, Heidelberg u. a. 2008, S. 125-141. 16 Johannes Jacobi, Wie steht die Arbeiterschaft zur Kultur?, in: Rheinische Post (Düsseldorf ), 13.7.1950; zu den Ruhrfestspielen im zeitgenössischen gewerkschaftlichen Kulturverständnis vgl. Stephan Pächer, Die Ruhrfestspiele Recklinghausen von 1946 bis 1965. Die theatergeschichtliche, politische und gesellschaftliche Funktion eines kulturellen Neuanfangs, in: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift des Vereins für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen, Bd. 94-96, 1995-1997, S. 503-590. 17 Walther Pahl an Walter Dirks, 19.7.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 50 A. 18 Hans Böckler an Walter Dirks, 22.5.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 54 A. 19 Walter Dirks an Wilhelm Reisige, 29.6.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 66.
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lich am meisten beachteten aller »Gespräche«.20 Die Protokolle des »Darmstädter Gesprächs«, das seit 1950 zunächst jährlich, dann in größeren Abständen stattfand, wurden jeweils als Buch veröffentlicht, die Presse berichtete ausführlich, und einzelne Beiträge und Diskussionen wurden vom Hörfunk übertragen.21 Das besondere Darmstädter Flair rührte nicht zuletzt daher, dass das Publikum zu einem guten Teil von den Studierenden der Technischen Hochschule, angehenden Architekten und Ingenieuren, gestellt wurde, die den Referaten und Diskussionen mit großem Ernst und Interesse folgten. Dolf Sternberger pries die Institution: »Mögen andere Städte ihre Messen abhalten und die Kaufleute aus aller Welt heranziehen: Du, glückliches Darmstadt, freust Dich der Disputationen und versammelst Philosophen, Schriftsteller, Baumeister und Künstler.«22 Die Darmstädter Gespräche wurden damit zum Vorbild der späteren Römerberg-Gespräche in Frankfurt. Fünf immer wieder beschworene Grundsätze waren zu beachten: Es sollte sich um ein internationales Forum für europäische Lebensfragen handeln; es sollten keine Fachgespräche, sondern Diskussionen für ein Laienpublikum geführt werden; es sollte ein permanenter Dialog von These und Antithese organisiert werden; man wollte keine parteipolitischen Auseinandersetzungen; am Ende sollten keine Entscheidungen gefällt oder Lösungen gefunden werden, sondern eine Verständigung über die Unterschiedlichkeit der Standpunkte.23 Neue Möglichkeiten intellektueller Wortmeldungen eröffneten staatliche Institutionen demokratischer Bildungsarbeit, von der 1952 gegründeten Bundeszentrale für Heimatdienst (seit 1963: für politische Bildung)24 über Einrichtungen der großzügig geförderten »Ostforschung«25 bis zur Bundeswehr und ihrer Inneren Führung mit dem Ziel, Soldaten zu mündigen Staatsbürgern zu erziehen. Zwar mussten hier bisweilen sprachliche Rücksichten genommen werden, aber das galt auch für andere intellektuelle Medien, die sich an ein breiteres Publikum wandten. 20 Vgl. Einladungen an Walter Dirks, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 70 A, 21 Hans Gerhard Evers (Hrsg.), Das Menschenbild in unserer Zeit (Darmstädter Gespräch 1950), Darmstadt 1950; Otto Bartning (Hrsg.), Mensch und Raum (Darmstädter Gespräch 1951), Darmstadt 1952; Hans Schwippert (Hrsg.), Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch (Darmstädter Gespräch 1952), Darmstadt 1952; Fritz Neumark (Hrsg.), Individuum und Organisation (Darmstädter Gespräch 1953), Darmstadt 1954; Egon Vietta (Hrsg.), Theater (Darmstädter Gespräch 1955), Darmstadt 1955; Erich Franzen (Hrsg.), Ist der Mensch messbar? (Darmstädter Gespräch 1958), Darmstadt 1959; Eugen Kogon/Heinz Winfried Sabais (Hrsg.), Der Mensch und seine Meinung (Darmstädter Gespräch 1960), Darmstadt 1961; in größeren Abständen fanden die Darmstädter Gespräche bis 1975 statt. Danach gab es vergebliche Versuche einer dauerhaften Wiederbelebung. 22 D.st. (= Dolf Sternberger), Das Darmstädter Drama, in: Die Gegenwart, Jg. 8, 1953, S. 665667, Zitat S. 665. 23 Vgl. Heinz Winfried Sabais (Hrsg.), Die Herausforderung. Darmstädter Gespräche, München 1963. 24 Hentges, Staat. 25 Corinna Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945-1975, Stuttgart 2007.
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Wichtiger war die Beachtung politischer Restriktionen angesichts des besonderen antikommunistischen Auftrags der politischen Bildung im Kalten Krieg, die den Pluralismus begrenzten. So führte es noch 1959 zu heftigen Protesten seitens des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen, weil der ansonsten eher regierungskonforme Journalist Thilo Koch in seiner regelmäßig ausgestrahlten Rundfunksendung »Gruß an die Zone« die Bezeichnung »DDR« gebraucht hatte.26 Unter den politischen Auspizien der Adenauerzeit galt die Beachtung korrekter Sprache besonders für die Innere Führung der neuen Bundeswehr, die ohnehin in den eigenen Reihen anfangs nicht unumstritten war. Hier waren Geschichtskonstruktionen gefragt, die eine Traditionslinie vom konservativen militärischen Widerstand zur Bundeswehr suggerierten und eine saubere Wehrmacht als Vorbild priesen.27 So bestand eine enge freundschaftliche Verbindung zwischen dem Bundeswehrgeneral Hans Speidel, der einen intellektuellen Stil pflegte, und seinem Stuttgarter Schulfreund Klaus Mehnert, der zum führenden »Kreml-Astrologen« aufgestiegen war und immer wieder von den Medien angefragt wurde. Er berichtete exklusiv für alle Anstalten der ARD vom XX. Parteitag der KPdSU in Moskau 1956.28 Im Auftrag und auf Kosten der Welt, des NDR und des Süddeutschen Rundfunks dehnte er seinen Aufenthalt in Russland und dann in China über einige Monate hinweg aus.29 Bekannt ist mittlerweile auch die Zusammenarbeit Speidels mit Ernst Jünger, den er seit der Besatzungszeit in Paris kannte, bei der Geschichtspolitik der Bundeswehr.30 Allerdings begegnen uns als Referenten und Publizisten auch einige kritische Geister, etwa Theodor W. Adorno.31 Zur Ausbreitung einer bildungsbürgerlichen Kulturszene in den Gründerjahren der Bundesrepublik trugen zahlreiche Institutionen bei. Dazu gehörte die Gründung einer eigenen Nationalbibliothek in den Westzonen, die zuvor seit 1912 als einheitliche Institution in Leipzig residiert hatte. Frankfurt am Main mit der Deutschen Bibliothek und Leipzig mit der Deutschen Bücherei entwickelten sich zu Or26 Franz Thedieck/Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen an Thilo Koch, 19.10.1959, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 133. 27 Repräsentativ: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung. Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung. Innere Führung, 6 Bde., Tübingen 19571961; bei den 61 Autoren handelte es sich zwar überwiegend um rechtskonservative Autoren, z. T. Protagonisten aus katholisch-abendländischem Umfeld, aber auch einige liberale und sozialdemokratische Publizisten finden sich in diesem Werk; vgl. Axel Schildt, »Schicksalsfragen der Gegenwart« (1957-1961). Ein Sammelwerk der Inneren Führung der Bundeswehr als Schlüsseldokument einer Sozialgeschichte der Ideen in der Bundesrepublik, in: Dagmar Bussiek/Simona Göbel (Hrsg.), Kultur, Politik und Öffentlichkeit. Festschrift für Jens Flemming, Kassel 2009, S. 410-427. 28 Fritz Eberhard an Klaus Mehnert, 16.12.1956, 15.3.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 28. 29 Klaus Mehnert an Hans Zehrer, 4.6.1956; Klaus Höpker/Die Welt an Klaus Mehnert, 25.2.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 28. 30 Dieter Krüger, Hans Speidel und Ernst Jünger. Freundschaft und Geschichtspolitik im Zeichen der Weltkriege, Paderborn 2016. 31 S. Kapitel II.4.3.
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ten mit jeweils eigener Nationalbibliographie und einer eigenen Buchmesse.32 Für die Main-Metropole bedeutete das eine weitere Stärkung ihrer bedeutenden Rolle im föderalen System der westdeutschen Kultur. Von vornherein als westdeutsche Institution firmierte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die in der mit Blumen und Fahnen geschmückten Frankfurter Paulskirche am 28. August 1949, dem 200. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes, der Öffentlichkeit feierlich vorgestellt wurde.33 Zur Geburtsstunde des Dichterfürsten zog unter viertelstündigem Glockenläuten der Oberbürgermeister Kolb, angetan mit goldener Amtskette, an der Spitze der Magistratsmitglieder in den Saal ein. Als Ehrengast begründete Albert Schweitzer, Goethepreis-Empfänger von 1928, die Entscheidung des Goethepreis-Kuratoriums für die Auszeichnung Thomas Manns und verlas ein Telegramm des abwesenden Laureaten. Nach der Verleihung der Goethe-Plaketten verkündete Adolf Grimme im Namen prominenter Schriftsteller die Gründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung als »Stiftung des deutschen Volkes«. Die Akademie nahm ihren Sitz in Darmstadt. Mit dem Anspruch, die deutsche Sprache zu hüten und zu pflegen und damit den »Notstand des Geistigen« aufzuheben, besaß die Deutsche Akademie eine nicht geringe kulturpolitische Bedeutung. Das kulturelle Kapital und der Marktwert von professoralen Germanisten, von Schriftstellern und Publizisten erhöhten sich durch die Aufnahme in die Akademie auf Lebenszeit, die meist im mittleren Alter erfolgte. Zwei Drittel der anfänglichen Akademiemitglieder war noch im 19. Jahrhundert geboren worden, das älteste 1878. Das jüngste Mitglied, der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, entstammte dem Jahrgang 1912. Der Vereinigung gehörten 1950 insgesamt 83 Mitglieder an, davon waren lediglich fünf weiblich,34 die Präsidenten und Ehrenpräsidenten wurden ausschließlich von Männern gestellt.35 Zu den ersten Mitgliedern zählten die Schriftsteller Stefan Andres, Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Hans Carossa, Leonhard Frank, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Hausenstein, Wolfgang Hildesheimer, Erich Kästner, Hermann Kasack, Karl Krolow, Wilhelm Lehmann, Reinhold Schneider und Frank Thiess. Mitglieder waren auch einige einflussreiche Medienmanager wie der sozialdemokratische Generaldirektor des NWDR Adolf Grimme und der konservative Intendant des SWR Friedrich Bischoff sowie die prominenten und durchweg liberalen oder gemäßigt konservativen Publizisten Günther Bir32 Christian Rauh, Nationalbibliothek im geteilten Land. Die Deutsche Bücherei 1945-1990, Göttingen 2018; nach dem Ende der Zweistaatlichkeit ist die Deutsche Nationalbibliothek als einheitliche Institution an zwei Residenzorten wieder zusammengeführt worden. 33 Vgl. Judith S. Ulmer, Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals, Berlin/New York 2006, S. 124 ff. 34 Marie Luise Kaschnitz (1901-1974), Elisabeth Langgässer (1889-1950), Ilse Langner (18991987), Gertrud von Le Fort (1876-1971), Oda Schaefer (1885-1950). 35 Vgl. die Liste der Mitglieder mit Eintrittsdatum in: Michael Assmann/Herbert Heckmann (Hrsg.), Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Göttingen 1999, S. 401-416.
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kenfeld, Eugen Kogon, Erik Reger, Benno Reifenberg, Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind. Namhafte Professoren wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer, der Historiker Hermann Heimpel, die Reformpädagogen Theodor Litt und Hermann Nohl, der Literaturwissenschaftler Fritz Martini, der Theologe Josef Pieper und der klassische Philologe Bruno Snell trugen zum hohen Ansehen der Deutschen Akademie bei. Mitglieder der Gruppe 47 stießen erst später hinzu, zuerst Heinrich Böll (1954) und Wolfdietrich Schnurre (1959). Als Präsident amtierte von 1950 bis 1952 Rudolf Pechel, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, ihm folgten kommissarisch Bruno Snell und seit 1953 für ein Jahrzehnt der Schriftsteller Hermann Kasack. Ehrenpräsidenten waren – bis zu ihrem Tod 1961 bzw. 1962 – Rudolf Pechel und Rudolf Alexander Schröder. Auch die Namen der ersten Ehrenmitglieder, Albert Schweitzer (1950), Alfred Weber (1951), Friedrich Meinecke (1952), Thomas Mann (1955), Peter Suhrkamp (1957) und Karl Jaspers (1958), geben Hinweise auf den öffentlichen Rang von Intellektuellen in den Gründerjahren der Bundesrepublik. Dass der Bundespräsident Theodor Heuss bereits 1950 Mitglied wurde, unterstrich den offiziösen Status der offiziell unabhängigen, aber überwiegend staatlich geförderten Deutschen Akademie. Ihren Anspruch der Unabhängigkeit betonte sie mit ihrer ersten Resolution, einem Plädoyer für die Freiheit der Schriftsteller und gegen ein Schmutz- und Schundgesetz der Bonner Regierung. Die halbjährlichen Tagungen dienten vor allem der Selbstbespiegelung. Die Reden der neu aufgenommenen Mitglieder wurden in einem seit 1954 herausgegebenen Jahrbuch publiziert. Die wichtigste Aktivität der Akademie bestand in der Vergabe des Georg-Büchner-Preises. In den 1960er Jahren kamen weitere Preise hinzu. Mit dem Büchner-Preis wurde an eine Darmstädter Tradition der Zwischenkriegszeit angeknüpft; er war dort seit 1923 verliehen worden. Erster Preisträger nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1951 Gottfried Benn; in den 1950er Jahren erhielten die Auszeichnung ausnahmslos literarische Schriftsteller, u. a. Marie Luise Kaschnitz (1955), Karl Krolow (1956), Erich Kästner (1957), Max Frisch (1958) und Günter Eich (1959). Die Liste der Preisträger, der Laudatoren und Jury-Mitglieder gibt Hinweise auf die Beschaffenheit der meritokratischen Literaturelite,36 aber darüber hinaus auch der politischen Kultur. So erregte die Entscheidung der Jury für Gottfried Benn als erstem Preisträger große öffentliche Aufmerksamkeit, hatte dieser doch als Leiter der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste 1933 die Hitler-Gegner und namentlich seinen Vorgänger Heinrich Mann auf üble Weise diffamiert und verspottet. Dass der Präsident der Deutschen Akademie, Rudolf Pechel, den umstrittenen Preisträger dann in seiner Rede am 21. Oktober 1951 als Repräsentanten Berlins vorstellte, das »heute nicht nur für das freie Deutschland, sondern für alle freien Völker zum Symbol des Kampfes für die 36 Dieter Sulzer/Michael Assmann (Hrsg.), Der Georg-Büchner-Preis. 1951-1987. Eine Dokumentation, München 1987; die Reden der Preisträger werden dokumentiert von Ernst Johann (Hrsg.), Büchner-Preis-Reden 1951-1971, Stuttgart 1981; eine umfassende Darstellung bei Ulmer, Geschichte.
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Freiheit des Geistes und des Gewissens geworden ist«, dürfte von manchen Intellektuellen als Provokation empfunden worden sein, aber die westdeutsche Presse berichtete durchweg freundlich.37 In der SBZ bzw. DDR erfuhr die Deutsche Akademie erwartungsgemäß strikte Ablehnung. Präsident Pechel und sein Stellvertreter Frank Thiess wurden als Propagandisten der amerikanischen Besatzer und der »kulturfeindlichen Bonner Banausenkamarilla« charakterisiert, die Akademie sei der lächerliche Versuch einer »Gruppe profaschistischer Snobs, verknorpelter Blut- und Boden-Poeten, verunglückter Feuilletonisten und weltfremder Mitläufer«, sich die repräsentative Vertretung der deutschen Dichtung anzumaßen.38 Am 1. Mai 1950 kam es in Ost-Berlin zur Gegengründung. Seit 1951 wurde im Rahmen der Frankfurter Buchmesse der Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels verliehen.39 Dieser Preis erhielt eine besonders hohe internationale Aufmerksamkeit, sollte doch eine Persönlichkeit geehrt werden, die sich mit ihrem Werk für die Erhaltung des Friedens eingesetzt hatte. Der erste Preisträger, der in Frankfurt geehrt wurde, war Albert Schweitzer (18751965), die Laudatio hielt der Bundespräsident Theodor Heuss. Auch die folgenden Preisträger – Romano Guardini (1952), Martin Buber (1953), Carl J. Burckhardt (1954), Hermann Hesse (1955), Reinhold Schneider (1956), Thornton Wilder (1957), Karl Jaspers (1958) und Theodor Heuss (1959) – passten in das Profil respektabler Männer. Geboren zwischen 1875 und 1903, waren sie durchgängig liberal mit konservativen Einschlägen bzw. als liberal geltende Konservative und allenfalls marginal nationalsozialistisch belastet.40 Komplettiert wurde das Arsenal der Nobilitierungen durch renommierte Preise, die von Städten verliehen wurden, die damit wiederum ältere Traditionen aufgriffen.41 Überregionale Beachtung fand die Verleihung des Goethepreises in Frankfurt am Main und des Lessing-Preises in Hamburg. Beide Preise waren bereits in den 1920er Jahren – 1927 bzw. 1929 – gestiftet und auch während der NS-Zeit ver37 Ebd., S. 140 ff., Zitat S. 150. 38 Zit. nach ebd., S. 131. 39 Bereits 1950 war der Preis von einer Gruppe von Verlegern in Hamburg an den jüdischen Schriftsteller Max Tau (1895-1976) vergeben worden, der im norwegischen Exil geblieben war und sich für die christlich-jüdische Aussöhnung und die Verbreitung deutscher Literatur in Skandinavien einsetzte; erst seit 1951 wird er vom Börsenverein verliehen; vgl. zu den Anfängen des Börsenvereins die Skizze von Monika Estermann, Der Börsenverein in den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland, in: Stephan Füssel u. a. (Hrsg.), Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1825-2000. Ein geschichtlicher Aufriß, Frankfurt a. M. 2000, S. 261-291. 40 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.), Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Reden und Würdigungen 1951-1960, Frankfurt a. M. 1961; als einzige Frau war Hannah Arendt als Laudatorin für ihren Freund Karl Jaspers 1958 führend beteiligt; im gleichen Jahr wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. 41 Vgl. Hanna Leitgeb, Der ausgezeichnete Autor. Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland 1926-1971, Berlin 1994, S. 313 ff.
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liehen worden. Die Preisträger der bald nach Kriegsende – in Frankfurt 1945, in Hamburg 1947 – wieder aufgenommenen Ehrung gehörten zur gleichen Gruppe, die auch für die nationalen Preise diskutiert wurde. Den Goethepreis erhielten zuerst Max Planck (1945), Hermann Hesse (1946), Karl Jaspers (1947), Fritz von Unruh (1948), Thomas Mann (1949) und Carl Zuckmayer (1952); beim Lessing-Preis in Hamburg waren es Rudolf Alexander Schröder (1947), Ernst Robert Curtius (1950) und der Naturlyriker Wilhelm Lehmann (1953). Als erste Frau wurde dort 1959 Hannah Arendt geehrt.42 Schließlich nahmen auch private Stiftungen und Unternehmen ihre Preisvergabe wieder auf. So wurden, auch in Hamburg, mit dem Hansischen Goethe-Preis der Alfred Toepfer Stiftung F.V. S. u. a. bedacht: Carl Jacob Burckhardt (1950), Martin Buber (1951), Eduard Spranger (1952), T. S. Eliot (1954), Alfred Weber (1958) und Theodor Heuss (1959).43 Dass schließlich – seit 1950 – auch die bewusst alternativ auftretende Gruppe 47 einen von Verlegern gestifteten Preis vergab, zeigt die hohe strategische Bedeutung, mit Preisen eine öffentliche Rangordnung für Intellektuelle zu schaffen, die immer auch politische Dimensionen aufwies. Idealtypisch lassen sich auf dem intellektuellen Feld der 1950er Jahre sechs Hauptströmungen unterscheiden, die über jene medialen Stützpunkte verfügten, die im ersten Kapitel skizziert wurden. Viele größere Medien, vor allem Rundfunksender, standen zwischen den Strömungen, fungierten nicht als exklusive Vertretung einer Position und bemühten sich explizit um ein pluralistisches Angebot, dessen Grenzen aber umstritten blieben. Auch die meisten intellektuellen Akteure mochten nicht auf eine bestimmte Position festgelegt werden. Aber so sehr sie sich, eine unabdingbare Voraussetzung ihrer Rolle, als individualistische, unabhängige oder gar einsame Denker inszenierten, ihre Texte zur Geschichte, gesellschaftlichen Gegenwart und Zukunftserwartung lassen sich doch jeweils, positiv wie negativ, auf eine oder mehrere der politisch-kulturellen Hauptströmungen beziehen, die sich nicht schematisch von links nach rechts darstellen lassen und auch nicht in eine vollständige Deckung mit dem Parteienspektrum zu bringen sind. An erster Stelle ist, eingebettet in eine allgemeine kulturpessimistische und antimodernistische Gestimmtheit und konservative Hegemonie unter den politischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges, die katholisch dominierte »christlichabendländische« Strömung zu nennen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für etwa ein Jahrzehnt eine tragende und integrative Rolle spielte. Von ihr lässt sich als zweite Strömung die jener früheren konservativen Revolutionäre absetzen, die nun in erster Linie die protestantisch-konservative Publizistik bestimmten. Auch hier war viel vom Abendland die Rede. Gemeinsam begleiteten diese beiden Strömungen, durchaus nicht immer unkritisch, aber prinzipiell loyal, die Bonner Regierungspolitik und unterstützten vor allem deren konservative Partei42 Willi Emrich, Die Träger des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main von 1927 bis 1961, Frankfurt a. M. 1963. 43 Susanne Hornfeck, Der Hansische Goethe-Preis 1949-1999, Hamburg 1999, S. 18 ff., 176.
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gänger, aber jeweils andere: katholische Hardliner aus Bayern oder dem Rheinland auf der einen und konservative Protestanten wie den schwäbischen Eugen Gerstenmaier auf der anderen Seite. Die Protagonisten bezogen sich zwar gleichermaßen positiv auf die Kanzler-Union, konfessionell und kulturell aber lagen Welten zwischen den Milieus. Die jeweils zugehörigen Medien und Foren, die Zeitschrift Neues Abendland, die Würzburger Deutsche Tagespost, der Rheinische Merkur, die um 1950 kurzzeitig bestehende Abendländische Aktion und die jährlichen Treffen der Abendländischen Akademie auf der katholischen und die Wochenzeitungen Christ und Welt und Allgemeines Sonntagsblatt sowie die Evangelischen Akademien auf protestantischer Seite pflegten nur wenige Kontakte und keinen regelmäßigen Austausch der Positionen untereinander. Das entsprach der immer noch hohen Relevanz konfessioneller Grenzen in der Frühzeit der Bundesrepublik, die trotz aller ökumenischen Bemühungen auch auf konservativer Seite und trotz des grundsätzlichen Gleichklangs erst allmählich persönliche Nähe und eine selbstverständliche Kommunikation zuließen. Eine dritte Strömung, die einen liberal geprägten Kulturdiskurs pflegte, sich aber hinsichtlich der Ordnungspolitik der frühen Bundesrepublik eher konservativ orientierte, war aus der liberalen Pressetradition der Zwischenkriegszeit erwachsen. Frankfurt am Main war die Hauptstadt dieser Strömung, die Ende 1949 gegründete Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Zeitschrift Die Gegenwart, die 1958 in der FAZ aufging, aber in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit sowie der Merkur in Stuttgart bzw. München bildeten ihr publizistisches Zentrum. Diese drei Strömungen, die gerade in der Bewertung von Phänomenen moderner Gesellschaften, vom Massenkonsum bis zur Bildenden Kunst, häufig nicht zusammenkamen, begleiteten gleichwohl den westdeutschen Weg der Option für den Westen, zwar nicht begeistert, aber als unumgängliche Anerkennung der Realität. Die Intellektuellen einer vierten Strömung lassen sich beschreiben als grundsätzliche Anhänger einer Übernahme westlicher liberaler Ideen, die in Deutschland lange stigmatisiert worden waren. Kritisch betrachteten sie die Diskrepanz von liberaler Idee und aktuellen Gefahren für die Freiheit in den westlichen Gesellschaften. Als mediale Zentren können die von der amerikanischen Besatzungsmacht gegründeten oder lizenzierten Presseorgane gelten, die Neue Zeitung und die Süddeutsche Zeitung in München sowie die Frankfurter Rundschau, die Zeitschrift Der Monat in West-Berlin, der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch und das internationale intellektuelle Netzwerk um den 1950 gegründeten Kongress für Kulturelle Freiheit. Diese Strömung, zu der vor allem sozialdemokratische, ex-kommunistische und unabhängige linke Remigranten, etwa der sogenannten Frankfurter Schule, aber auch liberale und einige konservative Intellektuelle zählten, bildete im Wiederaufbaujahrzehnt eine Art Modernisierungskoalition, die auch im Rundfunk mächtige Bastionen besaß. Die Wendung nach Westen sollte weniger zögerlich und mit einer Aufgabe kulturell grundierter antiamerikanischer und antiliberaler Ressentiments einhergehen, 251
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Westdeutschland sollte aus hinterwäldlerischer Provinzialität heraustreten und eine moderne Gesellschaft werden. Eben diesem Postulat folgte aber ohnehin die bei Gründung der Bundesrepublik allerdings noch nicht absehbare allgemeine Richtung, so dass aus einer anfangs minoritären Position im Laufe der 1950er Jahre die gesellschaftliche Mitte unter den gebildeten Eliten wurde, zumal gleichzeitig auch das konservative Denken sich von seinen antimodernistischen Schlacken befreite. Schließlich gab es zwei Strömungen, die den Weg der westdeutschen Gesellschaft als »Restauration« grundsätzlich kritisierten. Die eine war der Linkskatholizismus um die Frankfurter Hefte von Walter Dirks und Eugen Kogon, die sich gegen die konservativen rheinisch-bayerischen Abendländler wandten, aber zugleich von der kommunistischen Einheitspropaganda abgrenzten. Der Traum von einer Versöhnung des Christentums mit der Arbeiterbewegung und einer europäischen Union, die auch für die Länder des Ostens attraktiv wäre, ließ die Linkskatholiken vor einer raschen Westintegration, vor allem der Wiederaufrüstung im Rahmen einer NATO-Mitgliedschaft, warnen. Auch wenn diese Strömung keine eigene Tagesoder Wochenzeitung als organisierendes Zentrum besaß, war sie doch durch die exzeptionelle Vernetzung von Walter Dirks und Eugen Kogon medial sehr präsent, vor allem in den intellektuellen Programmen der Rundfunkanstalten. Die andere Strömung, die die politische Entwicklung der Bundesrepublik kritisch begleitete, war betont »nonkonformistisch« und nationalneutralistisch. Für sie warben etwa der Verleger Ernst Rowohlt und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein; in der ersten Hälfte der 1950er Jahre wurden ihr auch in den Redaktionen der Zeit, der Welt, hier noch einige Jahre länger, und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Sympathien entgegengebracht. Stellungnahmen, die den politischen Weg nach Westen und die Aufrüstung der Bundeswehr wegen der damit erschwerten Wiedervereinigung mit Skepsis begleiteten, verbanden sich mit der Abwehr moderner Entwicklungen kapitalistischer Kultur, die deutsche Traditionen und Werte zerstören könnten. Die Heterogenität dieser Strömung war besonders groß und umfasste als allgemeine Gestimmtheit unter den Intellektuellen weit mehr als ihren marginalen politischen Ausdruck in neutralistischen Konzepten. Vom rechtskonservativen Rand bis zu Sympathisanten deutscher Einheit unter sozialistischen Vorzeichen vereinigte diese Strömung zwar politisch letztlich Unvereinbares, aber repräsentierte zugleich ein unter Intellektuellen geschätztes Prinzip, sich nicht nur in eine Opposition schlichter Antithese zu begeben, sondern die Kämpfe der Zeit von einer höheren, »dritten« Position aus zu kommentieren. Diesen sechs Strömungen lassen sich zwar bestimmte Medien und intellektuelle Akteure nicht immer eindeutig zuordnen, aber sie konstituierten, begrenzten und ordneten ein Feld, in dem Deutungseliten konkurrierten. Dabei spielte das kulturelle Kapital, das eine Gewandtheit ermöglichte, die je eigene Position als oberhalb und quer zu den Strömungen darzustellen oder auch als Brückenbauer aufzutreten, eine entscheidende Rolle. Denn nur wer flexibel auf die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen reagierte, konnte sich langfristig halten. Die Wochenzeitung Die Zeit wäre nicht zum liberalen Leitmedium der Bonner Repu252
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blik geworden, wenn sie nicht 1955/56 ihre rechtskonservativen und nationalliberalen Positionen verlassen und eine linksliberale Richtung eingeschlagen hätte. Auch die Geschichte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war von dramatischen Auseinandersetzungen – etwa beim »Fall Sethe« Mitte der 1950er Jahre – begleitet. Beim Merkur, der sich geschickt als strömungsunabhängig gerierte, aber um 1950 organisierender Teil einer konservativen, allerdings nicht christlichen Hegemonie war, symbolisierte ein Verlagswechsel 1962 die Öffnung auch für linke Inhalte; bei der Welt vollzog sich zur gleichen Zeit die Wendung nach rechts und vorher schon die Abkehr von Ideen einer »Dritten Kraft«. Erst die Ordnung des intellektuellen Feldes erklärt die Präsenz der Intellektuellen in den zeitgeistigen Diskursen, jedenfalls zum großen Teil. Besonders deutlich lässt sich das für die führenden politisch-kulturellen Zeitschriften nachvollziehen. Für die Frankfurter Hefte schrieben im Zeitraum von 1948 bis 1957 die meisten Artikel die Herausgeber Walter Dirks (191) und Eugen Kogon (163) selbst; es folgten mit weitem Abstand Karl W. Böttcher (67), der viele Reportagen zu Reichen und Neureichen und anderen Themen beisteuerte, Rüdiger Proske (59), der bis zu seinem Wechsel zum NWDR 1952 Redaktionsmitglied der Frankfurter Hefte war, Walter Weymann-Weyhe (45), beschäftigt beim NWDR, der sich aus linkskatholischer Sicht mit theologischen und philosophischen Fragen, nicht zuletzt der Nietzsche-Rezeption befasste, Clemens Münster (38), Joseph Rovan (26; s. u.), das Redaktionsmitglied Walter M. Guggenheimer (23) und Erich Kuby (20). An zehnter Stelle findet sich mit Regina Bohne (17), Anfang der 1950er Jahre noch bei der Welt, später Redaktionsmitglied der Frankfurter Hefte, eine Frau; sie zählte sich zur zersplitterten schwachen Gruppe protestantischer Christen, die sich einer starken »konservativen restaurativen Front gegenübersehen«;44 eine zweite Frau, die kommunistische Dissidentin Ruth Fischer (9), belegt Platz 20. Große Namen – aus heutiger Perspektive – kommen vor: Alfred Andersch (7), Kurt Sontheimer (6), Romano Guardini (6), Martin Buber (5), Theodor W. Adorno (4), Heinrich Böll (4), Hildegard Hamm-Brücher (4), Robert Spaemann (3), Denis de Rougemont (2), Max Horkheimer (2), Jürgen Habermas (2), Luise Rinser (2) und mit jeweils einem Beitrag Ilse Aichinger, Margret Boveri, Elisabeth Langgässer und Else Lasker-Schüler.45 Ein völlig anderes Profil zeigt die Autorenschaft des Merkur, in dem sehr viel weniger, aber dafür längere Aufsätze publiziert wurden. Hier hielten sich die Herausgeber mit eigenen Beiträgen stärker zurück, finden sich auf den vorderen Plätzen sehr viel mehr prominente intellektuelle Namen, wobei bereits vier Aufsätze in die Top 20 führten. Im Zeitraum 1947-1956 lagen an erster Stelle mit je sieben Beiträgen der Schweizer Publizist Max Rychner, Theodor W. Adorno und Wolfgang Wieser. Es folgen mit jeweils sechs Beiträgen Arnold Gehlen, Günther Anders und Hans Egon Holthusen, mit jeweils fünf Beiträgen Ernst Wilhelm Esch44 Regina Bohne an Walter Dirks,Kapitel 25.10.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 48A. 45 Eigene Auszählungen; zu den Frankfurter Heften s. I.4.3 und II.2.1.
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mann, der Herausgeber Hans Paeschke, Helmuth Plessner und der Schriftsteller Rolf Schroers. Vier Beiträge lieferten der Biologe Adolf Portmann, Ernst Bloch, Hans Magnus Enzensberger, Hans Schuster, Helmut Kuhn, Hermann Wein, José Ortega y Gasset, Ludwig Marcuse, Martin Buber, Paul Valéry, Viktor Zuckerkandl und Werner Ross sowie als einzige Frau die franko-amerikanische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar. Auch beim Merkur sind einige weitere prominente Namen mit wenigen Beiträgen vertreten, wie etwa Alexander Mitscherlich, Erich Kästner und Hannah Arendt mit je drei, Denis de Rougemont, Dolf Sternberger, Ernst und Friedrich Georg Jünger, Georg Picht, Golo Mann, Karl Jaspers, Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf mit je zwei und Theodor Heuss, T. S. Eliot, Arnold J. Toynbee, Sebastian Haffner und Alfred Andersch mit jeweils einem Beitrag.46 Unter den zwanzig am häufigsten vertretenen Autoren des Monat 1948-1957 findet sich mit Karl Jaspers nur ein einziger, der auch im Merkur publiziert hatte. Angeführt wird die Liste der Top 10 von dem Schweizer Historiker Herbert Lüthy (21), dem gleichfalls aus der Schweiz stammenden Fritz René Allemann (20) und dem an der FU Berlin lehrenden sozialdemokratischen Remigranten Richard Löwenthal (16); es folgen der Schweizer Journalist Peter Schmid (14), der Schweizer Literaturkritiker und Essayist François Bondy (12), der amerikanische Herausgeber Melvin J. Lasky (12), der französische Publizist Raymond Aron (11), Arthur Koestler (11), der Ende der 1930er Jahre mit dem Kommunismus gebrochen hatte und in den 1950er Jahren als einer der prominentesten »Renegaten« galt. Auf den weiteren Plätzen finden sich Luigi Barzini (10), Norbert Mühlen (10), Sidney Hook (9), der Mitherausgeber Hellmut Jaesrich (9), Franz Borkenau (8), Peter de Mendelssohn (8), Manuel Gasser (8), Karl Jaspers (8), Joachim G. Leithäuser (8), Alan Moorehead (8) und Ignazio Silone (8). Das internationale Profil ergab sich schon aus dem Anspruch im Untertitel des Monat, eine »internationale Zeitschrift« zu sein. Fast alle der häufig vertretenen Namen finden sich im Umkreis der Bewegung des Kongresses für Kulturelle Freiheit. Erst unter den weiteren Autoren sind einige Intellektuelle anzutreffen, die auch für die Frankfurter Hefte, vor allem aber für den Merkur Beiträge geliefert hatten: darunter Denis de Rougemont und Hannah Arendt mit je vier, Theodor W. Adorno, Golo Mann und Arnold J. Toynbee mit je drei sowie Theodor Heuss, Ruth Fischer und Alexander Mitscherlich mit je zwei Beiträgen.47 Die Ranglisten der Zeitschriften zeigen unterschiedliche Profile, die den Eindruck stützen, dass es nicht ein allgemeines Gespräch gab, sondern diskursive Kreise mit einigen prominenten Brückenfiguren, auf die besonders zu achten ist. Für die Organisation des Gesprächs zwischen den Positionen waren dagegen vor allem der Rundfunk und zum Teil die Feuilletons der intellektuell maßgeblichen Tages- und Wochenpresse verantwortlich. Die Geschichte der Intellektuellen und ihrer Medien ist eine Geschichte von heftigen Auseinandersetzungen und Konflikten, sie kennt Sieger und Verlierer. Nach 46 Eigene Auszählungen; zum Merkur s. Kapitel I.4.3 und II.4.2. 47 Eigene Auszählungen; zum Monat s. Kapitel I.4.3 und II.4.1.
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einem Jahrzehnt bereits waren vier der sechs skizzierten Strömungen marginalisiert worden bzw. hatten sich in die verbleibenden aufgelöst, die wiederum mit neuen Deutungsangeboten, nun vor allem von links, konkurrieren mussten. Das galt für die konservativ-liberale Frankfurter und die westlich-liberale Strömung, die den Kampfplatz der 1950er Jahre als einzige gestärkt verlassen hatten. Die Propagierung eines »christlichen Abendlandes« spielte hingegen schon am Ende der 1950er Jahre im intellektuellen Feld kaum mehr eine Rolle, die Zeitschrift Neues Abendland wurde 1958 eingestellt, der Rheinische Merkur geriet in eine langfristige Krise; das Gleiche galt, leicht zeitversetzt, für die nationalkonservative protestantische Publizistik, vor allem Christ und Welt. Allerdings konnten sich zahlreiche Protagonisten der beiden christlich-konservativen Strömungen innerhalb der Medien des konservativ-liberalen Mainstreams behaupten. Auch die Bedeutung des »Linkskatholizismus« war zurückgegangen, das Konfessionelle und Religiöse stellte kein erstrangiges Konfliktfeld mehr dar. Über die »Dritte Kraft« des Nationalneutralismus war, nachdem die Bundesrepublik Teil der NATO und der EWG geworden war, die Zeit hinweggegangen, der Bau der Berliner Mauer beendete endgültig viele Träume der Aufrechterhaltung einer gemeinsamen nationalen Kultur.
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2. Dunkle Zeiten: Kulturkritik als Suchbewegung 2.1 Das »Christliche Abendland« Der Begriff »Abendland«, meist mit dem Adjektiv »christlich« verbunden, dominierte das erste Nachkriegsjahrzehnt.1 Die Omnipräsenz des »Abendlandes« in der intellektuellen Öffentlichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die frühe Bundesrepublik hatte drei wesentliche Gründe: Der Begriff war nicht neu, sondern den »Gebildeten« vertraut, hatte doch die damit verbundene Gedankenwelt, etwa in den humanistischen Gymnasien und geisteswissenschaftlichen Fakultäten, seit jeher eine wichtige Rolle gespielt. Das »Abendland« bot breite, wenngleich vage assoziative Anschlussmöglichkeiten. Es stand für den Reichtum antiker Tradition, für Hellas und Hesperien, aber noch mehr für die christlich-abendländische Kultur. Die intensiven Diskussionen um Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« (1918) hatten nichts daran geändert, dass der Bezug auf die abendländische Kultur den Weg der Rettung zu weisen schien. Die abendländische Vorstellungswelt war zwar in der Zwischenkriegszeit durch nationalistische Ideologien gleichsam überschrieben, aber doch nicht nur in einigen Kreisen katholischer Intellektueller aufbewahrt worden.2 Die offiziellen Stellungnahmen der katholischen und evangelischen Kirchen, mit denen der Überfall auf die Sowjetunion begrüßt worden war, hatten den Kampf gegen die »Pest des Bolschewismus« (Bischof Clemens August Graf von Galen in seinem Hirtenbrief am 14. September 1941) als Grund für die Unterstützung des NS-Regimes betont.3 Die kirchliche Legitimation der nationalsozialistischen Politik zeigt, dass es durchaus ideologische Brücken zwischen den meist nur als feindliche Lager betrachteten Kräften gab. In der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft war etwa Christoph Stedings Versuch einer Synthese von abendländischem Reichsdenken und völkisch-rassistischen Konstruktionen sehr populär, den er am Vorabend des Zweiten Weltkriegs präsentierte.4 Und die Nationalsozialisten selbst hatten ihre fanatische Durchhaltepropaganda nach der Niederlage von Stalingrad mit der Formel vom abendländischen Abwehrkampf Europas gegen die »plutokratischen« Westmächte und den »Bolschewismus« bestritten. Der Hitler-Tagesbefehl Ende Januar 1943 lautete: »Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten
1 Vgl. Jonas Jost, Der Abendland-Gedanke in Westdeutschland nach 1945. Versuch und Scheitern eines Paradigmenwechsels in der deutschen Geschichte nach 1945, Hannover 1994; Schildt, Abendland. 2 Vgl. Dagmar Pöpping, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900-1945. Mit einem Vorwort von Axel Schildt, Berlin 2002. 3 Vgl. Schildt, Abendland, S. 27. 4 Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 41942 (1938).
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Patrone und leistet durch ihr heldenhaftes Ausharren einen unvergeßlichen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und zur Rettung des Abendlandes.«5 Dass sich zudem Vertreter des konservativen Widerstands auf das »christliche Abendland« beriefen, erhöhte die Attraktivität für jene intellektuellen Eliten, die sich vom Nationalsozialismus, spätestens bei dessen Versagen im Krieg, abgewandt hatten. Zum zweiten beförderte der Begriff des »Christlichen Abendlandes« eine enorme Aufwertung der Kirchen angesichts der materiellen Not und moralischen Bedrückung nach der nationalsozialistischen Hybris. »Am Anfang waren die Kirchen – und kein Staat.«6 1945 schlug die Stunde der Kirchen, wobei sich ein triumphalistischer Stil auf der katholischen auffälliger als auf der evangelischen Seite ausprägte; aber grundsätzlich waren in die religiöse Hochstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg beide großen Kirchen einbezogen. Von allen Organisationen aus der Zeit des Nationalsozialismus erhoben sie allein den unangefochtenen Anspruch, eine positive Kontinuitätslinie durch das »Dritte Reich« hindurch zu repräsentieren, von der NS-Ideologie nicht vereinnahmt worden zu sein und sogar Widerstand gegen das Regime geleistet zu haben.7 Im Wort der Vorläufigen Kirchenleitung der schleswig-holsteinischen Landeskirche an die Gemeinden vom 24. August 1945 hieß es: »Jetzt liegen alle großen Ordnungs- und Gesittungsmächte zerschlagen im Schutt. Unwillkürlich richten sich die Augen auf die Kirche.«8 5 Tagesbefehl vom 24.1.1943, in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 19321945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. II/2, Wiesbaden 1973, S. 1974. 6 Martin Greschat, Die Kirchen in den beiden deutschen Staaten nach 1945, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 42, 1991, S. 267-284, Zitat S. 267. 7 Zur katholischen Kirche vgl. Vera Bücker, Die Schulddiskussion im deutschen Katholizismus nach 1945, Bochum 1989; konfessionell vergleichend dies., Die Schulderklärungen der (deutschsprachigen) Kirchen zwischen Gewissen und Politik, in: Kirchliche Zeitgeschichte, Jg. 11, 1998, S. 355-377; Rainer Bendel (Hrsg.), Kirche der Sünder – sündige Kirche? Beispiele für den Umgang mit Schuld nach 1945, Münster 2002. 8 Wort der Vorläufigen Kirchenleitung an die Gemeinden vom 24.8.1945, in: Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, Jg. 78, 1945, S. 10; vgl. Axel Schildt, »Jetzt liegen alle großen Ordnungs- und Gesittungsmächte zerschlagen im Schutt«. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« in Schleswig-Holstein nach 1945 – unter besonderer Berücksichtigung von Stellungnahmen aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Bd. 119, 1994, S. 261-276; zu den besonders weit rechts stehenden Landeskirchen von Schleswig-Holstein und Hamburg vgl. Rainer Hering, »Einer antichristlichen Dämonie verfallen«. Die evangelisch-lutherischen Landeskirchen nördlich der Elbe und die nationalsozialistische Vergangenheit, in: Bea Lundt (Hrsg.), Nordlichter. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe, Köln u. a. 2004, S. 355-372; Hansjörg Buss, »Entjudete« Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918-1950), Paderborn 2011; Stephan Linck, Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien, Bd. I: 1945-1965, Kiel 2013; zu den Diskussionen in Bayern vgl. Björn Mensing, »Weltanschauliche Sieger« oder moralisches Versagen. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Evange-
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Indem der Nationalsozialismus als teuflisches Resultat der Abwendung des Menschen von Gott und seiner natürlichen Ordnung in der Moderne verstanden wurde, schien allein eine umfassende »Rechristianisierung« den Ausweg zu weisen. Der Kampf gegen die Übel der Säkularisierung bildete den christlich-abendländischen Ausgangspunkt jeder Politik, wie Otto B. Roegele (1920-2006), der bekanntlich als junger katholischer Publizist in den 1950er Jahren eine zentrale Rolle als Chefredakteur und Herausgeber des Rheinischen Merkur spielen sollte, in einer Bekenntnisschrift postulierte.9 Sein Ziel war die Vermittlung der »DiasporaReife«, die Formung charakterlich fester christlicher Persönlichkeiten inmitten der weltlichen Gesellschaft als konservativem Haltepunkt.10 Ähnlich lautete das Diktum des protestantischen Publizisten Hans Zehrer, »daß das Konservative ohne das Christentum der Dame ohne Unterleib ähnelt«.11 Die Rede vom »klerikalen Jahrzehnt«12 zur Charakterisierung der 1950er Jahre übertreibt zwar leicht, weil sich die Gesellschaft bereits innerhalb des formativen Jahrzehnts der Bundesrepublik in raschem Tempo lebensweltlich modernisierte und den Kirchen entfremdete, aber zumindest die frühen 1950er Jahre atmeten noch den Geist konservativ-kirchlicher Autorität. Der liberale Soziologe René König hat das in seinen Memoiren kritisch beschrieben: »Wenn ich das alles überdenke, werde ich den Gedanken nicht los, daß im Nachkriegsdeutschland diese primitive Form der christlichen Religion als Ersatz an die Leerstelle getreten ist, wo vorher die nationalsozialistische Weltanschauung stand.«13 Zum dritten drückte die Rede vom »christlichen Abendland« den Triumph der katholischen Kirche aus, die sogar von kommunistischen Intellektuellen wie Georg Lukács als einzige noch moralisch intakte Instanz neben der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung anerkannt wurde. Die konfessionellen Auseinandersetzungen seit der Reformation, zuletzt der »Kulturkampf« im Kaiserreich, hatten antipreußische Affekte evoziert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende Preußens per alliiertem Kontrollratsbeschluss 1947 ihren publizisti-
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lisch-Lutherischen Kirche in Bayern, in: Antonia Leugers (Hrsg.), Zwischen Revolutionsschock und Schulddebatte. Münchner Katholizismus und Protestantismus im 20. Jahrhundert, Saarbrücken 2013, S. 285-310. Otto B. Roegele, Erbe und Verantwortung, Hamburg 21948; s. Kapitel I.4.2. Vgl. Klaus Große Kracht, Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920-1960, Paderborn 2016, S. 298 ff., 364 f.; Martina Steber, Die Hüter der Begriffe. Die Sprache des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, München 2017, S. 138 f. Hans Zehrer in seiner Rezension von Armin Mohlers »Die Konservative Revolution« (1950), in: Sonntagsblatt, 1.10.1950. Kristian Buchna, Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre, Baden-Baden 2014. René König, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie. Opladen 21999 (Frankfurt a. M. 1980), S. 184.
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schen Ausdruck fanden. Nach verbreiteter katholischer Lesart hatte der preußischmilitaristische Zentralismus Deutschland in den Abgrund geführt. Insofern passte die vor allem in katholischen Regionen Süddeutschlands vertretene Position des Föderalismus auch zu den alliierten Vorgaben einer Auflösung des preußischen Machtstaates. Anders als später in der etablierten Bundesrepublik fungierte ›Föderalismus‹ nicht als bloßer Beschreibungsbegriff für den Staatsaufbau,14 sondern war zuerst eine antiborussische Haltung und Weltanschauung.15 Dies verband sich zwanglos mit katholischem Supranationalismus. Die Überwindung nationalistischer Ideologie erschien nur durch den Zusammenschluss zur katholischen Aktion erreichbar, die von Rom bereits in den 1920er Jahren ausgerufen worden war und nun neue Impulse erhielt. Daraus ergab sich von vornherein eine westeuropäische und später transatlantische Öffnung über deutsche Grenzen hinweg zur katholischen Welt.16 Im ersten Nachkriegsjahrzehnt beherrschte vor allem ein Intellektueller die katholische Öffentlichkeit und beeindruckte über konfessionelle Grenzen hinweg den bildungshungrigen akademischen Nachwuchs: Romano Guardini (1885-1968). Eine Umfrage des Stuttgarter Kohlhammer-Verlags unter einigen hundert Studierenden ergab 1957 auf die Frage, welche Werke am meisten zur Klärung der geistigen Situation der Zeit beitragen würden, eine Rangliste, die von Guardinis »Ende der Neuzeit« (1950) angeführt wurde. Es folgten der »Verlust der Mitte« von Hans Sedlmayr, Ortega y Gassets »Aufstand der Massen« und Karl Jaspers’ »Ursprung und Sinn der Geschichte«.17 Auch wenn solche Umfragen kein repräsentatives Ergebnis, sondern nur den Eindruck eines vage beschriebenen Nimbus »großer« geisteswissenschaftlicher Werke vermitteln, der weniger von der Lektüre als vom Hörensagen lebt, bleibt es immerhin bemerkenswert, dass an führender Stelle der intellektuellen Orientierung das Werk eines katholischen Theologen genannt wurde, ein Indiz für die zeitspezifische Ausstrahlungskraft des Katholizismus. Der 14 Allerdings führte die Entscheidung zur Bildung des bikonfessionellen »Südweststaates« Baden-Württemberg zu heftiger Kritik des abendländischen Lagers; Paul W. Wenger/Otto B. Roegele, Das Volk ist gefragt. Zur Abstimmung in Baden und Württemberg, in: Rheinischer Merkur, 16.9.1950; hierüber und auch im Misstrauen gegenüber der CDU, die zu faulen Kompromissen neige, wusste sich Roegele mit dem jungen Hans Bausch (19211970), der als Redakteur beim SWF arbeitete und später Intendant des SDR wurde, einig; Otto B. Roegele an Hans Bausch, 6.5.1952; Hans Bausch an Otto B. Roegele, 13.6.1952, in: Nl. Otto B. Roegele, 1952 (A-K); auch der katholische Bischof von Freiburg, Wendelin Rauch, engagierte sich in dieser Sache auf Seiten der »Föderalisten«; Akten deutscher Bischöfe seit 1945. Bundesrepublik Deutschland 1950-1955. Bearb. von Annette Mertens, Paderborn 2017, S. 226 ff. 15 Peter Heil, Föderalismus als Weltanschauung. Zur Geschichte eines gesellschaftlichen Ordnungsmodells zwischen Weimar und Bonn, in: Geschichte im Westen, Jg. 9, 1995, S. 165-182. 16 Vgl. insgesamt Große Kracht, Stunde. 17 Werner Dettloff, Romano Guardini (1885-1968), in: Heinrich Fries/Georg Kretschmar (Hrsg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2, München 1983, S. 318-330, hier S. 318.
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Hörsaal war während Guardinis Vorlesungen über ethische Probleme an der Münchener Universität, wo er seit 1948 lehrte, notorisch überfüllt. 1952 erhielt Guardini den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Medienpräsenz des Sinndeuters, der sich zwischen den Disziplinen, theologische Fragen der Liturgie und der Religionsphilosophie bis zur Literaturwissenschaft integrierend, eingerichtet hatte, war enorm. Seine Vorlesungen an der Münchener Universität fanden im größten Hörsaal statt, er galt im ersten Nachkriegsjahrzehnt als geistiger Führer der Isar-Metropole.18 Zudem umgab ihn die Aura eines geistlichen und geistigen Führers der katholischen Jugend der Zwischenkriegszeit. Von 1927 bis 1933 hatte er der Bundesleitung des Quickborn angehört, bis 1939 die Jugendburg Rothenfels am Main geleitet. In den Jahren des »Dritten Reiches« hatte er Versuche einer mystischen Germanisierung des Christentums einer mutigen Kritik unterzogen und die Historizität eines christlich-jüdischen Jesus betont. Für den nationalsozialistisch belasteten Kirchenrechtler Hans Barion, enger Vertrauter Carl Schmitts, fiel Guardini deshalb, wie er Ende 1945 hasserfüllt schrieb, in die »Kategorie der Rattenfänger«.19 Walter Dirks kannte Guardini aus den jugendbewegten Zusammenhängen, war sogar für kurze Zeit sein Sekretär gewesen und begegnete ihm mit Bewunderung und Ehrerbietung.20 Vor allem in den ersten Nachkriegsjahren gewann er ihn einige Male für Beiträge in den Frankfurter Heften und popularisierte selbst dessen Positionen. Das gilt vor allem für die beiden zentralen zeitdiagnostischen Werke Guardinis, das erwähnte »Ende der Neuzeit« (1950) und »Die Macht« (1951), entstanden aus Tübinger Vorlesungen – hier hatte der Theologe von 1945 bis 1948 gelehrt. Beide Bücher erschienen im Würzburger Werkbund-Verlag. »Ende der Neuzeit« begründete retrospektiv seinen Ruhm als explizit postmodern argumentierender katholischer Gelehrter. Die Moderne, das war die von Guardini abgelehnte naturwissenschaftlich grundierte Fortschrittsanbetung im 19. Jahrhundert mit ihrer »Apotheose der menschlichen Subjektivität als autonomer Persönlichkeit«,21 die als ihren inhärenten Gegensatz den finsteren Kulturpessimismus im Ausgang der dadurch verursachten Katastrophen hervorgebracht habe. Gegen beide Extreme, also die Moderne gleichsam überholend, betonte Guardini die Chance, im Angerufensein Gottes zu leben. Aus der Masse heraus könne nun die Persönlichkeit des Menschen hervortreten.22 Der Folgeband »Die Macht« 18 Hanna-Barbara Gerl, Romano Guardini 1885-1968, Mainz ²1985, S. 330-368. 19 Hans Barion an Gustav Hillard-Steinbömer, 23.12.1945, in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. 20 Walter Dirks an Romano Guardini, 11.9.1948, 21.10.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 26. 21 Michael Theunissen, Falscher Alarm. Romano Guardini: »Das Ende der Neuzeit«, in: Günther Rühle (Hrsg.), Bücher, die das Jahrhundert bewegten. Zeitanalysen – wiedergelesen, München/Zürich 1978, S. 169-173, Zitat S. 170. 22 Zu Guardinis antikantianischer und antihistoristischer Kritik der Aufklärung der Neuzeit, die ihn zum katholisch-postmodernistischen Star der Theologie machte, vgl. aus der kaum mehr zu überschauenden Literatur Ludwig Watzal, Das Politische bei Romano Guardini, Percha am Starnberger See 1987, S. 43 ff., 91 ff.; Lina Börsig-Hover, Zeit der Entscheidung.
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konzentrierte sich auf die politische Konsequenz der menschlichen Überhebung, die zugleich seine Erfahrungen mit dem NS-Regime reflektierte. Hier ging es ihm um Möglichkeiten zur Bändigung unchristlicher staatlicher Machtpotentiale. Guardini bekannte Dirks gegenüber, seine Schrift »Das Ende der Neuzeit« sei ihm besonders »wichtig, denn sie bedeutet etwas in meiner eigenen Entwicklung, und ich glaube, daß sie auch anderen behilflich sein kann, sich zurecht zu finden, besonders solchen, die, wie ich, zwischen den Zeiten stehen«.23 Dirks versprach eine ausführliche Rezension des Buches, das er gerade gemeinsam mit seiner Frau Marianne lese, aber er wolle zunächst die von Clemens Münster angekündigte Besprechung in Hochland abwarten.24 Als er dessen scharfe Kritik am Antimodernismus vorab von Guardini erhielt, beeilte sich Dirks zu versichern: »CM’s Kritik hat Brillanz, aber sie ist im einzelnen kleinlich und im großen ohne Verständnis. Deine Antwort ist genau, sachlich und von einem schönen Ernst.«25 Die beiden Bücher Guardinis lösten vor allem in der katholischen Geisteswelt, etwa in der Zeitschrift Hochland, intensive Diskussionen aus.26 Der WerkbundVerlag organisierte deshalb 1953 eine Diskussion, an der sich Walter Dirks, Clemens Münster und Gerhard Krüger beteiligten; Guardini erhielt Gelegenheit zu einer ausführlichen Antwort.27 Bemerkenswert war der Respekt, mit dem die Diskutanten Guardini mit seinem Buch in die Reihe der neueren »Auguren« stellten, zusammen mit Alfred Webers »Abschied von der bisherigen Geschichte« (1946), Ernst Jüngers »Über die Linie« (1950) und Josef Piepers »Über das Ende der Zeit« (1950), mit Jaspers, Heidegger, Ortega y Gasset. In einzelnen Punkten wurde der Autor, vor allem von Clemens Münster, kritisiert. Guardinis Hochachtung des Mittelalters sei anachronistisch, seine Position sei die eines »unhistorischen Absolutis-
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Zu Romano Guardinis Deutung der Gegenwart, Fridingen a. D. 1990; Arno Schilson (Hrsg.), Konservativ mit Blick nach vorn. Versuche zu Romano Guardini, Würzburg 1994; Franz Henrich (Hrsg.), Romano Guardini. Christliche Weltanschauung und menschliche Existenz, Regensburg 1999; Karl-Josef Kuschel, Zwischen Modernismuskrise und Modernekritik, Romano Guardini, in: Theologische Quartalsschrift, Nr. 184, 2004, S. 158-184; die Bibliographie von Guardini umfasst 1.849 Nummern, die verdeutlichen, wie tief Walter Dirks von Guardinis Mixtur von Jugendbewegtheit und katholischem Glauben geprägt worden war, während Kogon offenbar davon nicht im mindesten affiziert war; vgl. Hans Mercker, Bibliographie Romano Guardini (1885-1968), Guardinis Werke, Veröffentlichungen über Guardini, Rezensionen, Paderborn 1978. Romano Guardini an Walter Dirks, 7.3.1951, AdsD, Nl. Walter Dirks, 61. Walter Dirks an Romano Guardini, 27.3.1951, 31.8.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 61. Walter Dirks an Romano Guardini, 21.11.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 61; die Rezension von Walter Dirks in Frankfurter Hefte, Jg. 7, 1952, H. 1, S. 26-35; vgl. ähnlich das Buch des Nachtstudio-Leiters beim Südwestdeutschen Rundfunk, Horst Krüger, Zwischen Dekadenz und Erneuerung, Frankfurt a. M. 1953, S. 19 ff., 69 ff. Clemens Münster, Ende der Neuzeit?; Romano Guardini, Erwiderung, in: Hochland, Jg. 44, 1951/52, S. 102-120; vgl. auch Karl August Horst, Zeitkritisches Purgatorium, in: Merkur, Jg. 6, 1952, S. 794-797. Unsere geschichtliche Zukunft. Ein Gespräch über »Das Ende der Neuzeit« zwischen Clemens Münster, Walter Dirks, Gerhard Krüger und Romano Guardini, Würzburg 1953.
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mus«, und die von ihm als Beleg angeführten Symptome für ein Ende der Neuzeit begleiteten die Moderne schon seit Jahrhunderten. Walter Dirks folgte der Interpretation Guardinis dagegen vollständig. Schon die Überschrift seines Beitrags wiederholte dessen grundlegende These, die fundamentalen katholischen Optimismus ausdrückte: »Das Ende der Neuzeit ist nicht das Ende der Menschen.« Dirks erklärte Guardinis Buch zum einzig geeigneten Gegenentwurf der bolschewistischen Herausforderung: »Der Bolschewismus bietet der Welt seinen Integrations-Entwurf an. Wir halten ihn für häretisch und verhängnisvoll. Aber seitdem dieses Angebot gemacht worden ist, können wir nicht zurück in die Zeit einer nationalstaatlichen oder imperialen Politik, die vor dem Hintergrund einer irrational erfahrenen Geschichte zu tun wäre. (…) Die Welt-Integration ist fällig.«28 Die Position Guardinis war nicht nur für linkskatholische Intellektuelle wie Walter Dirks anschlussfähig, sondern auch für konservativ-abendländische Positionen, wie sie in katholischen Regionen Süddeutschlands vertreten wurden. Der rechtskonservative Publizist Caspar von Schrenck-Notzing hat deren Akteure später folgendermaßen charakterisiert: »Abendländler sind süddeutsch-katholisch. Rekrutieren sich aus den mediatisierten Familien, ihren Hauskaplänen und Schulmeistern. Dazu stoßen »freischwebende« Intellektuelle aus der katholischen Aktion usw.«29 Gemeinsam war der Geist des Dezisionismus, der an das Entweder-Oder Kierkegaards erinnert, mit dem sich Guardini intensiv beschäftigt hatte. Die Unbedingtheit eines katholischen Aufbruchs wurde publizistisch vor allem von der Wochenzeitung Rheinischer Merkur und von der Monatszeitschrift Neues Abendland vertreten.30 In diesen beiden rechtskatholischen Organen, zwischen denen personelle Verbindungslinien bestanden, dominierten in den ersten Nachkriegsjahrgängen jeweils Artikel mit historischen und geschichtsphilosophischen Konstruktionen der ins Verderben führenden Moderne, als deren historische Ausdrucksformen preußischer Militarismus, liberaler Kulturprotestantismus, sozialistische Arbeiterbewegung, Massendemokratie, zentralistische Staatsvergottung und schließlich, als satanische Kumulation, die Dämonie des Nationalsozialismus erschienen. Der einzige Ausweg aus der Katastrophe, in welche die Moderne die Menschheit gebracht hatte, hieß: Rechristianisierung unter Führung verantwortungsbewusster Eliten. Mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit wurde dieses Programm mit Ausbruch des Kalten Krieges politisch zugespitzt, mutierte das »christliche Abendland«
28 Ebd., S. 31. 29 Caspar von Schrenck-Notzing an Armin Mohler, 24.9.1959, in: DLA, A: Armin Mohler. 30 S. Kapitel I.4.3.
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zum politischen Kampfbegriff in den ideologischen Auseinandersetzungen mit dem drohenden Bolschewismus. Vom Bolschewismus als »geistig-moralischem Phänomen«, so der in Neues Abendland häufig vertretene Autor Ernst von Hippel, könne »jeder Mensch innerlich mehr oder weniger befallen sein«, als »geistige Massenkrankheit und soziale Seuche« müsse er bekämpft werden.31 Das Grundgesetz drückte für die Autoren der Zeitschrift eben jene bindungslose »Quantitätsdemokratie«32 aus, die nicht dazu befähige, unter dem Banner der Freiheit gegen den atheistischen Kommunismus zu Felde zu ziehen. Das grundsätzliche Misstrauen gegen den Parlamentarismus äußerte sich in Johann Wilhelm Naumanns Formulierung, die Funktionäre des Teufels befänden sich »in allen Parteien, christliche nicht ausgenommen«.33 Der Jurist Freiherr Friedrich August von der Heydte, ein weiterer Autor der Zeitschrift, beklagte die norddeutsche Dominanz der Bundesrepublik, die mangelnde Berücksichtigung des Föderalismus im Grundgesetz als Palliativ gegen die »Triebhaftigkeit der Masse« und das »Fehlen des göttlichen Sittengesetzes«; dadurch bleibe der »Grundrechtskatalog tönende Phrase«.34 Die Demokratie sei nicht eine Frage des Wahlrechts, sondern »einzig eine Frage der Auslese«, schrieb Chefredakteur Emil Franzel.35 Die frühen 1950er Jahre waren gekennzeichnet von umtriebigem Aktivismus der rechtskonservativen katholischen Intellektuellen, der über die reine publizistische Sphäre hinausging. Am 25. August 1951 fand im Münchner Ärztehaus die Gründungsversammlung einer Abendländischen Aktion statt, zu der Gerhard Kroll36 das Hauptreferat beisteuerte, dessen Grundlage ein schriftlich fixiertes »Manifest der Abendländischen Aktion« bildete. Darin wurde festgestellt, dass die »freie Welt« unter der Führung der USA zwar »alle ihr verfügbaren Kräfte zusammenraffe, um sie dem Angriff des Bolschewismus entgegenzustellen«. Aber es sei nicht gelungen, »eine inhaltliche Bestimmung der Freiheit« vorzunehmen, die im Westen nur »formal verstanden« werde als eine »Freiheit für beliebige Inhalte« mit der politisch entsprechenden »Formaldemokratie«, von der »der Westen anscheinend nicht lassen (könne), auch wenn ihre Schwäche offenbar wird«, vor allem durch den Miss-
31 Ernst von Hippel, Der Bolschewismus, Duisburg 1948, S. 5, 9, 42, 46; das Buch war die Neuauflage einer Veröffentlichung unter dem Titel »Der Bolschewismus und seine Überwindung« (Breslau 1937). 32 Ders., Vom Wesen der Demokratie, Bonn 1947, S. 50. 33 Johann Wilhelm Naumann, Der »Fürst dieser Welt«, in: Neues Abendland, Jg. 3, 1948, S. 1-4, Zitat S. 2. 34 Friedrich August von der Heydte, Das Weißblaubuch zur deutschen Bundesverfassung und zu den Angriffen auf Christentum und Staatlichkeit der Länder, Regensburg 1948, S. 15, 131, 133. 35 Emil Franzel, Zur Verfassung des deutschen Bundes, in: Neues Abendland, Jg. 3, 1948, S. 257-260, Zitat S. 259. 36 S. Kapitel I.4.3.
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brauch »staatsfeindlicher Gruppen«.37 In einer weiteren programmatischen Schrift, die das Manifest in einigen Punkten konkretisieren sollte, verwarf Kroll den »Klassenkampf« und wollte das »Recht auf Aussperrung und Streik« abschaffen. Er forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Aufhebung des staatlichen Schulmonopols und die Bestimmung des Staates als »gottgewollte Ordnung« sowie daraus folgend die Ablehnung der »Lehre vom Gesellschaftsvertrag«.38 Auf der ersten öffentlichen Kundgebung der Abendländischen Aktion im großen Saal des neuen Münchener Kolpinghauses am 4. März 1952, die Reden wurden von den Darbietungen eines Blasorchesters eingerahmt, erklärte der Historiker Georg Stadtmüller, »daß das seit 1945 errichtete staatliche Gebäude mehr einem ›Behelfsheim‹ gliche, das nicht den Anspruch erheben könne, Abbild einer endgültigen Ordnung zu sein«.39 Der »pseudoreligiöse Charakter des Gegners«, so meinte ein junger Autor und späterer Zeithistoriker in Neues Abendland, könne »nur durch Religion überwunden werden«; »in der Herzkammer unserer Willensbildung muß der säkularisierte Begriff des Westens durch das Zukunftsbild eines erneuerten Abendlandes ersetzt werden«.40 Das staatliche und gesellschaftliche Wunschbild war nicht besonders originell, es handelte sich durchweg um Versatzstücke christlich-konservativer Konzepte zur Überwindung des Parlamentarismus aus der Zwischenkriegszeit, etwa aus den Verfassungsplänen der Regierung Franz von Papens 1932. Prinzipiell stellte Kroll fest, es werde »immer nur ein kleiner Kreis von Menschen sein, der in der Lage ist, ein Urteil darüber abzugeben, wer sich zum Träger der höchsten Macht eignet«. Anfang der 1950er Jahre registrierten Meinungsforschungsinstitute erhebliche Anteile der Bevölkerung, die sich für eine Monarchie erwärmten; nur wenige konservative Intellektuelle wie etwa der nationalkonservative jüdische Geistes- und Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps propagierten allerdings diese Option, die er als Heilmittel gegen den »Kalorienmangel der Seele« ansah, als realistische Alternative. Die vage bleibende Beschreibung der Einsetzung eines Quasi-Monarchen41 war verbunden mit der Forderung nach einer »berufsständischen Gliede37 Gerhard Kroll, Grundlagen abendländischer Erneuerung. Das Manifest der Abendländischen Aktion, München 1951, S. 7-10. 38 Gerhard Kroll, Das Ordnungsbild der Abendländischen Aktion, München 21953, S. 15, 1821, 24, 27, 31 f. 39 Zur ersten Kundgebung der Abendländischen Aktion am 4. März 1952 in München, in: Neues Abendland, Jg. 7, 1952, S. 242-245. 40 Hermann Graml, Das Nationalkomitee »Freies Deutschland«, in: Neues Abendland, Jg. 7, 1952, S. 676-680, Zitate S. 679 f.; wiederholt wurde der Bolschewismus bildlich auch mit einem Fieber verglichen, das sich in einem entkräfteten Körper, den säkularisierten westlichen Gesellschaften, widerstandslos ausbreiten könne; Rafael Calvo Serer, Revolution, Reaktion und Restauration, in: Neues Abendland, Jg. 7, 1952, S. 513-520. 41 Hans-Joachim Schoeps, Kommt die Monarchie? Wege zu neuer Ordnung im Massenzeitalter, Ulm 1953; vgl. Frank-Lothar Kroll, Geschichtswissenschaft in politischer Absicht. Hans-Joachim Schoeps und Preußen, Berlin 2010, S. 70 ff., 98 ff.; Hans-Christof Kraus, Eine Monarchie unter dem Grundgesetz? Hans-Joachim Schoeps, Ernst Rudolf Huber
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rung« der Gesellschaft und einer daraus erwachsenden Ständeversammlung, einer vom »Staatsoberhaupt« zu ernennenden Zweiten Kammer, die dem gewählten Parlament gleichberechtigt gegenüberstünde. Diese »Volkskammer« sollte aus »indirekten Wahlen« hervorgehen, »um die Qualität der Auslese zu verbessern«. Die »fähigsten Leute« aus der »Volkskammer« würden mit sachverständigen Vertretern der Berufsstände einen »Senat« bilden, der viel geeigneter sei, »Gesetze zu beraten oder zu verabschieden, als irgendein Parlament«. Im Konfliktfall entscheide ohnehin das »Staatsoberhaupt«.42 Die Linkskatholiken um Walter Dirks, die mit solchen kriegerischen Ambitionen nichts zu tun haben mochten, galten den Abendländlern um 1950 als Hauptfeind, weil es sich um Konkurrenten innerhalb des intellektuellen Katholizismus handelte. Während Dirks, wie Guardini, dem jugendbündischen Quickborn entstammte, kamen die maßgebenden Redakteure des Rheinischen Merkur meist aus dem Bund Neudeutschland, der seine Mitglieder vor allem in akademischen Kreisen rekrutierte. Gemeinsam war aber für maßgebliche Protagonisten beider Seiten die Herkunft aus dem katholischen intellektuellen Milieu. So waren sich Emil Franzel, Chefredakteur des Neuen Abendlandes, und Eugen Kogon, der Partner von Walter Dirks, in der austrofaschistischen Bewegung der 1930er Jahre begegnet. Otto B. Roegele, Chefredakteur des Rheinischen Merkur, und Walter Dirks wiederum kannten sich seit Kriegsende. Einer der Vertrauten von Roegele, Helmut Ibach, fasste in einer vierseitigen Ausarbeitung zusammen, worum es im Kern ging, nämlich den Verdacht, dass die Frankfurter Hefte mit ihren Ideen einer Verbindung von Arbeiterbewegung und Christentum aus der katholischen Front ausscheren würden: »Es besteht für uns keine Veranlassung, das Leben des Marxismus in einem falsch verstandenen Modernismus durch eine ›christliche Blutzufuhr‹ zu verlängern. Die soziale Frage ist vordringlich. Zur theoretischen Begründung der praktischen Lösungsmöglichkeiten bedarf es aber nicht des Sozialismus.«43 Wann die wechselseitige Polemik genau einsetzte, ist schwer zu bestimmen, aber sie eskalierte 1950. In der Deutschen Tagespost (Würzburg) war ein bösartiger Artikel gegen den 1949 aus Italien nach Deutschland zurückgekehrten katholischen Schriftsteller Stefan Andres (1906-1970) veröffentlicht worden, der sich für friedenspolitische Anliegen engagierte. Dieser Angriff wiederum hatte den Kreis um die Frankfurter Hefte empört.
und die Frage einer monarchischen Restauration in der frühen Bundesrepublik, in: ders./ Heinrich Amadeus Wolf (Hrsg.), Souveränitätsprobleme der Neuzeit. Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, Berlin 2010, S. 43-69. 42 Kroll, Grundlagen, S. 62-70. 43 Helmut Ibach, Der »Rheinische Merkur«, übersandt von Wacht. Zentralorgan des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, 28.1.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 80.
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Hans Otto Boehm, Chefredakteur der Deutschen Tagespost, wandte sich deshalb an Walther M. Guggenberger von den Frankfurter Heften, dessen redaktionelle Korrespondenz auch von Walter Dirks gelesen wurde: »Ich frage mich, was denn bloß dieser Kampf aller gegen alle im katholischen Lager soll? Statt daß wir uns gegenseitig die Bälle zuwerfen und eine offene Diskussion in Gang bringen, wird viel zu viel herumgestänkert und der eine hat immer Angst vor der Konkurrenz des Anderen.«44 Guggenberger wies den Vorwurf der unnötigen Schärfe umgehend zurück, der Artikel gegen Andres sei »das Schmutzigste (gewesen), was mir seit 1945 auf dem Gebiet des Journalismus begegnet ist«.45 Nachdem wiederum Eugen Kogon einen wenig freundlichen Nekrolog auf Franz Albert Kramer, den ersten Chefredakteur des Rheinischen Merkur, verfasst hatte und daraufhin in diesem Blatt die Frankfurter Hefte heftig kritisiert wurden, appellierte Dirks daran, die Gemeinsamkeiten nicht zu vergessen: »Lieber Otto Roegele! Es wird Ihnen auch so gehen, wie mir: dass Ihnen der schlechte (nicht der kritische) Zustand der Beziehungen unserer Zeitschriften das Herz bedrückt. Ich habe immer wieder überlegt, ob ich die Initiative zu einer Reinigung dieser Beziehungen ergreifen sollte. (…) Im übrigen wird der Sache und unseren Lesern guttun, wenn wir sodann mit vermehrtem Eifer und in voller Unbefangenheit unsere Sachen gegeneinander werden austragen können. Eugen Kogon billigt diesen Schritt. Es ist mein Schritt, aber Ihre Antwort wird Konsequenzen selbstverständlich auch für die Zeitschrift haben.«46 Roegele antwortete einigermaßen versöhnlich. Er habe bereits vorgehabt, einen ähnlichen Brief zu schreiben. Zu neunzig Prozent seien sie sich ja einig: »Vielleicht ist Ihnen auch aufgefallen, daß im ›Rheinischen Merkur‹ seit einigen Wochen ein milderes Klima probiert wird, ohne daß die grundsätzlichen Positionen sich geändert hätten (…) Sie wissen sicher so gut wie ich, daß auch in Zukunft noch genug Probleme zwischen uns liegen werden und daß wir beide unsere Sorgen mit unsren Zeitgenossen haben werden. Aber wir werden diese Probleme, diese Sorgen und auch die Zeitgenossen in einer Anstrengung anpacken können, die sich nicht im Gegeneinander halb verzehrt.«47
44 Hans Otto Boehm an Walther M. Guggenberger, 29.3.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 49 A. 45 Walther M. Guggenberger an Hans Otto Boehm, 3.4.1950, in: ebd. 46 Walter Dirks an Otto B. Roegele, 5.6.1950, in: Nl. Otto B. Roegele, 1950 (A-F). 47 Otto B. Roegele an Walter Dirks, 22.6.1950, in: ebd.; dass Roegele im Entwurf Dirks noch mit »Verehrter, lieber Herr« angesprochen, das »lieber« dann aber gestrichen und erneut eingefügt hatte, zeigt die Angestrengtheit der Korrespondenz, deren Fortgang durchaus versöhnliche Töne besitzt.
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Ungeachtet des gegenseitigen Angebots zur fairen Auseinandersetzung unter katholischen Intellektuellen radikalisierten sich die Auseinandersetzungen nur wenige Monate später erneut. Diesmal hießen die Kontrahenten Walter Dirks und Gerhard Kroll. Die Katholische Junge Mannschaft, eine aus der bündischen Jugend stammende Gruppe, hatte Kroll gewonnen, vor ihrem Führungskreis in Frankfurt ein Grundsatzreferat über den »Christlichen Staat« zu halten. Von Dirks oder Kogon erbat man ein Korreferat.48 Nachdem Dirks zugesagt hatte, erhielt er die schriftliche Fassung von Krolls Vortrag. Für die Kontrahenten war jeweils die gleiche Redezeit von zwei Stunden vereinbart worden. Kroll sollte am Vormittag des 9. Dezember 1950 sprechen, Dirks am Nachmittag. Allerdings ließ er kurzfristig ausrichten, dass er keine Gelegenheit haben werde, die mündlichen Ausführungen von Kroll zu hören, da er wegen einer Rundfunksendung unabkömmlich sei. Die Kontroverse vor der Katholischen Jungen Mannschaft, die ursprünglich mit den Auffassungen von Kroll geliebäugelt hatte, wirkte noch lange nach. Dieser hatte eine vierseitige Protokollnotiz über das Korreferat von Dirks angefertigt. Darin hielt er als dessen Auffassung fest, dass sich aus dem Evangelium keine christliche Staatslehre ableiten ließe, »jede Verquickung von politischem Bekenntnis und religiösem Tun« sei scharf abzulehnen; in der Gegenwart seien die FDP und der Unternehmerflügel der CDU die Feinde der Christen, Freunde hingegen der linke Flügel der Union, die SPD und die Gewerkschaften. »Erste Aufgabe des Christen sei es, für eine Versöhnung zwischen U.S.A. und der Sowjetunion Sorge zu tragen«, ansonsten ginge es um die Schaffung eines nicht näher beschriebenen »sozialistischen Vereinigten Europas«. »Praktisch bedeutet sein Verhalten, auch mit den Bolschewisten zu verhandeln.«49 Die Protokollnotiz schickte Kroll an die Organisatoren des Gesprächs, auch der Bischof von Limburg, Wilhelm Kempf, erhielt sie und bat daraufhin Dirks um eine Stellungnahme. Dieser schrieb empört, es gehe nicht an, dass der Kritisierte selbst in aller Voreingenommenheit ein Protokoll anfertige, in dem seine, Dirks’, Gedanken »nicht nur einseitig, sondern geradezu entstellend« wiedergegeben würden. Die Verbreitung des Protokolls sei »illoyal« und »denunziatorisch«.50 Zudem wandte er sich an den befreundeten Theologen Heinrich Kahlefeld, in den 1930er Jahren stellvertretender Vorsitzender und seit 1948 Leiter der Burg Rothenfels des Quickborn.51 Dirks zeigte sich auch in diesem Schreiben »fassungslos über die schweren und unverständlichen Missverständnisse und Entstellungen«, ohne dafür allerdings ein Beispiel zu liefern. Kahlefeld riet Dirks, sei48 Emil Martin (Katholische Junge Mannschaft) an Walter Dirks, 17.10.1950, 4.12.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 52. 49 Gerhard Kroll, Aktenvermerk über das Korreferat von Walter Dirks zu dem von mir vorgelegten Programm einer Christl. Aktion, gehalten auf der Tagung des Führungskreises der Kath. Jungen Mannschaft in Frankfurt a. M. am 9./10. Dezember 1950, 18.12.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 63. 50 Walter Dirks an Bischof Wilhelm Kempf, 21.2.1951, in: ebd. 51 Zum Verhältnis Guardinis zu Kahlefeld vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke. Berichte über mein Leben, Mainz 1995, S. 332.
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nem Kontrahenten Kroll, der ein »leidenschaftlicher, aber ein redlicher Kämpfer« und ein »aufrechter und sicher ein guter Mensch« sei, einen persönlichen Brief zu schreiben und »ihm offen zu sagen, was Dich bedrückt«.52 Dirks nahm den Rat an und beschwerte sich bei Kroll, dass das Protokoll »ganz und gar nicht« stimme. So habe er »nicht die scharfe Trennung von Eschatologie und profaner Politik verlangt, sondern ihre Ineinssetzung«; weitere Beispiele führte er nicht an. Die wichtigste Beschwerde war allerdings, dass der Bischof in Kenntnis gesetzt worden sei: »So geht es nicht, Dr. Kroll.«53 Dieser beharrte darauf, Dirks’ Äußerungen richtig wiedergegeben zu haben, allerdings sei er nicht der Absender des Protokolls an den Bischof.54 Kroll wiederum, der sich bei Emil Martin, dem Leiter der Katholischen Jungen Mannschaft, beschwert hatte, durch das Korreferat von Dirks überrumpelt worden zu sein, erhielt eine sehr distanzierte Rückmeldung, die deutlich machte, dass Dirks das Rednerduell für sich entschieden hatte. In der Frage der Zuordnung von Politik und Religion habe dieser den Zuhörerkreis von seiner Position überzeugt.55 Die Auseinandersetzung der Abendländler mit Dirks in den folgenden Jahren zeigte Unterschiede im Stil. Während Emil Franzel in Neues Abendland wiederholt denunziatorische Attacken gegen den kommunistischen fellow traveller Dirks ritt,56 trafen sich Otto B. Roegele und andere Redakteure des Rheinischen Merkur, vermittelt durch andere Medienvertreter, mit ihm zu sachlichen Diskussionen. Der Programmdirektor des Südwestfunks in Baden-Baden, Lothar Hartmann, schrieb an Walter Dirks: »Vor einiger Zeit sprach ich in Koblenz Herrn Dr. Rögele. Er hat viele Vorurteile und ist sehr schwierig. Ich habe ihn eingeladen, einmal die Südwestfunk-Zentrale in Baden-Baden zu besuchen. Darüber hinaus habe ich ihm vorgeschlagen, doch einmal mit Dir am Mikrofon zu diskutieren. Er war, was politische Themen angeht, über diesen Vorschlag gar nicht begeistert. Das kann ich verstehen, denn er würde dabei unzweifelhaft den kürzeren ziehen. Er war aber bereit, am Mikrofon Gespräche mit Dir zu führen zu den Themen ›Der Christ in dieser Welt‹, ›Laie und Kirche‹.«57
52 Walter Dirks an Heinrich Kahlefeld, 23.2.1951; Heinrich Kahlefeld an Walter Dirks, 24.2.1951, in: ebd. 53 Walter Dirks an Gerhard Kroll, 27.2.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 63 A. 54 Gerhard Kroll an Walter Dirks, 9.3.1951, in: ebd. 55 Emil Martin an Gerhard Kroll, 19.3.1951, in: ebd. 56 Emil Franzel, Walter Dirks und der Kommunismus, in: Neues Abendland, Jg. 7, 1952, S. 129-143; ders., Der deutsche Linkskatholizismus – kann man den Kommunismus taufen? in: Deutsche Monatshefte für Politik und Kultur, 2. Jg. 1960, (1/2), S. 6-12; dass zwischen diesen beiden Personen eine offene Feindschaft mit gegenseitigen Denunziationsvorwürfen bestand, zeigt ein sehr markantes Schreiben von Emil Franzel an Walter Dirks, 7.3.1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 60 A. 57 Lothar Hartmann (SWF) an Walter Dirks, 17.1.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 181.
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Für die öffentliche Präsentation eines innerkatholischen Dialogs in den 1950er Jahren waren die Medien auf die Dialogbereitschaft der Abendländler und Linkskatholiken gleichermaßen angewiesen. 1954 plante der SWF eine Diskussion über »Liberalismus – Klerikalismus« mit Dirks, Roegele und dem konservativen Hamburger Schulsenator Hans Wenke, einem Schüler Eduard Sprangers. Da Roegele aus Termingründen absagen musste, empfahl er seinen Kollegen Helmut Ibach, zu dieser Zeit Chefredakteur des Neuen Abendlands.58 Ein Jahr zuvor hatte die Redaktion des Rheinischen Merkur Dirks eingeladen, sich an einer Umfrage über die »Neuordnung der Gesellschaft auf berufsständischer Grundlage, wie sie insbesondere von der Enzyklika Quadragesimo Anno empfohlen wird«, zu beteiligen. Die Antworten von Dirks wurden mit überschwänglichem Dank quittiert: »Wir wollten ja nicht nur konformistische Meinungen einholen. Wäre das unsere Absicht gewesen, so hätten wir uns nicht an Sie wenden dürfen.« Man werde seinen Beitrag ohne Veränderung abdrucken.59 Selbst die katholisch-konservativen Blätter konnten sich, wollten sie ihre Leser an sich binden, nicht selbstgenügsam auf ihren Autorenstamm beschränken, sondern mussten dem ideologischen Gegner gelegentlich ein Forum bieten. Das schloss aber nicht aus, dass dieser von Zeit zu Zeit mit polemischen Artikeln überzogen wurde – auch das weckte das Interesse des Publikums und sorgte für die Fortsetzung der Debatten. Ob nun Paul Wilhelm Wenger vom Rheinischen Merkur gegen Eugen Kogon schrieb oder dieser mit gleicher Münze heimzahlte,60 damit wurde gleichermaßen der Erwartung des intellektuellen katholischen Publikums entsprochen. Das Problem der Streitenden lag eher darin, dass Aufmerksamkeit und Interesse für beide katholischen Parteien im Laufe der 1950er Jahre abnahmen. Einen mäßigenden Einfluss übten zudem die Gremien des Laienkatholizismus aus. Die Arbeitskreise des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zur Medienpolitik wurden in den 1950er Jahren von rechtskonservativen Ideologen beherrscht,61 die sich im Dominikanerkloster Walberberg 1948 in der Gesellschaft katholischer Publizisten zusammengeschlossen hatten. Als Vorsitzender amtierte seit 1957 Otto B. Roegele,62 der auch das Hauptreferat des Arbeitskreises Presse auf dem 77. Katholikentag 1956 gehalten hatte und dort die »geistige Auseinandersetzung mit dem totalitären Atheismus und seiner wechselnden Überwältigungstaktik« als Ausgangs58 Otto B. Roegele an Herbert Bahlinger (SWF/Kulturelles Wort), 1.6.1954, in: Nl. Otto B. Roegele, 1954 (A-F). 59 Anton Böhm (RhM) an Walter Dirks, 20.4.1953, 25.6.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 88 A. 60 Vgl. die Unterlagen zu dieser Fehde 1953/54 Unterlagen in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 322. 61 Vgl. Thomas Grossmann, Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken 1945-1970, Mainz 1991. 62 Die Phalanx prominenter rechtskatholischer Publizisten aus den Redaktionen von Tagesund Wochenzeitungen, Zeitschriften sowie von Rundfunk- und Fernsehsendern ist beeindruckend; s. eine undatierte Mitgliederliste (ca. 1961) mit über 300 Personen, in: ACDP, Nl. Josef Kannengießer (01/182), 035/01; Walter Dirks oder Eugen Kogon waren offenbar nicht Mitglied.
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punkt aller katholischen Öffentlichkeitsarbeit bestimmte.63 Zwei Aufgaben habe die Presse der Bundesrepublik: Zum einen müsse der Kampf gegen »übersteigerte Sensationsmache« geführt werden, die ein »falsches Weltbild« vermittle und den »östlichen Doktrinen die Tür öffnet«. Zum anderen müssten die unter Intellektuellen verbreitete »snobistisch-existenzialistische Haltung und zynisch-nihilistische Grundstimmung, oft auch im Überwiegen des Ästhetischen vor dem Wahrhaftigen«, überwunden werden, weil auch diese die »östlichen Maximen geradezu vorbereitet«.64 Beim 78. Katholikentag in West-Berlin 1958 durfte Roegeles Kollege Anton Böhm den zentralen Vortrag über die Presse halten, eine einzige Bußpredigt wider »unsere ganze Zivilisation«, die »auf unser leibliches Wohlergehen abgestellt« sei.65 So erbittert die Auseinandersetzungen im ersten Nachkriegsjahrzehnt innerhalb des intellektuellen Katholizismus geführt worden waren, so konziliant und werbend verhielten sich die katholischen Abendländler gegenüber rechtskonservativen Protestanten, mit denen man gemeinsam gegen den liberalen und sozialistischen Zeitgeist zu Felde ziehen wollte. Mit einigen anderen Geistlichen, dem bis 1952 amtierenden Oldenburger Landesbischof Wilhelm Stählin, dem Flensburger Probst Hans Asmussen, der in der Leitung der EKD bis 1948 eine einflussreiche Rolle gespielt hatte, und Kirchenvertretern aus Skandinavien und England gehörte Wolfgang Heilmann zu den intellektuellen protestantischen Aushängeschildern der abendländischen Bewegung.66 Allerdings handelte es sich durchweg um Figuren vom Rand der lutherischen hochkirchlichen Bewegung; im Kern repräsentierten die Abendländler ein rechtskonservatives katholisches Milieu. Im Neuen Abendland wurde zwar der Widerstand preußischer Offiziere am 20. Juli 1944 gewürdigt, und nationalkonservative Intellektuelle schrieben in der Zeitschrift über Preußen, ein Ausdruck für die als dramatisch empfundene Situation, in der die bolschewistische Gefahr ein Zusammengehen aller christlich-konservativen Kräfte erzwinge, aber solche Brückenschläge blieben die Ausnahme67 und die Motive durchsichtig, wie aus einem Brief von Emil Franzel an Paul Wilhelm Wenger hervorgeht:
63 Emil Dovifat an Otto B. Roegele, 13.7.1956, 25.7.1956; Otto B. Roegele an Emil Dovifat, 30.7.1956, Typoskript »Themen für die Tagung des Arbeitskreises Presse«, in: Nl. Otto B. Roegele, 1956 (A-G). 64 Typoskript »Themen für die Tagung des Arbeitskreises Presse« (3 S.), in: Nl. Otto B. Roegele, 1956 (A-G). 65 Anton Böhm, Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, o Herr! (Der verlorene Mensch) – Referat in der Öffentlichen Versammlung am Donnerstag, 14. August, nachmittags, in der Messehalle I (Ost), 78. Deutscher Katholikentag, Berlin 1958 (TS, 12 S.), in: ACDP, Nl. Karl Willy Beer (01/225), 002/2. 66 Axel Schildt, Ökumene wider den Liberalismus. Zum politischen Umkreis konservativer protestantischer Theologen im Umkreis der Abendländischen Akademie, in: Sauer, Katholiken und Protestanten, S. 187-205. 67 Schildt, Abendland, S. 52 f.
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»Aus taktischen Gründen – weil wir ohne eine Verständigung mit Konservativen preußischer Herkunft und Prägung der Übermacht der Nationalliberalen, Jakobiner und Staatssozialisten nicht standhalten können – müssen wir mit einigen preußischen Tabus pflegsam umgehen.«68 Nur jene protestantischen Intellektuellen, die sich auf die katholisch-abendländisch geprägte supranationale Agenda einließen, waren dauerhaft willkommen. Dagegen fühlte sich Wenger, Redakteur des Rheinischen Merkur seit 1948, der sich später auch mit Roegele und Franzel überwarf, zeitlebens durch angebliche Hetzaktionen verfolgt seitens des ehemaligen Tat-Kreises und wegen der Herabsetzung durch seinen ehemaligen sozialdemokratischen Kameraden Carlo Schmid, den er als opportunistischen George-Jünger mit Widerwillen aushielt.69 Die Abendländische Aktion schlief schon bald wieder ein, stattdessen trafen sich die Anhänger dieser Richtung, jeweils etwa 400 bis 500 deutsche und ausländische Intellektuelle, hohe katholische Würdenträger und namhafte Politiker der Bonner Regierungsparteien – mit Ausnahme der Liberalen – seit 1952 jährlich unter der Schirmherrschaft des dortigen Bischofs in Eichstätt zu einer Abendländischen Akademie. Die Vorträge wurden jeweils in einer Broschüre und in Neues Abendland publiziert. Hier begegnen uns auch einige jener konservativen Intellektuellen, die versuchten, auf dem katholischen Ticket zugleich in den Frankfurter Heften zu publizieren, dort aber freundlich auf Distanz gehalten wurden, wie Erik Maria Kuehnelt-Leddihn, oder auf konservativem Ticket den Kontakt zum Merkur suchten, wie Robert Ingrim – beide waren im US-Exil gewesen und konnten einerseits die Skepsis gegenüber der dortigen Demokratie aus eigener Erfahrung beglaubigen und andererseits als Brückenbauer zu einem konservativen Amerika dienen, etwa in Elogen auf den Kommunistenjäger McCarthy; dieser sei »wie eine gute Katze, die Ratten riecht und aufstöbert«.70 In den Diskussionen der Abendländischen Akademie dominierte eine gewisse intellektuelle Vornehmheit im Ton, und es wurden vor allem konservative Grundsatzfragen thematisiert.71 Im August 1952 sprach man über »Werte und Formen im Abendland«, ein Jahr später über »Der Mensch und die Freiheit«. Zum kulturellen Rahmen gehörte hier eine Dichterlesung von Werner Bergengruen. Einig war 68 Emil Franzel an Paul Wilhelm Wenger, 12.10.1956, in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 1332/55. 69 Zum Tat-Kreis vgl. Paul Wilhelm Wenger an Chefredakteur Die Tat/Zürich, 24.5.1958, in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 90; zu Carlo Schmid vgl. Paul Wilhelm Wenger an Otto B. Roegele, 28.12.1954, in: Nl. Otto B. Roegele, 1954 (A-K); Lebenserinnerungen (MS 1983), in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 10; zum jahrelangen Rechtsstreit, der 1983 mit einer Abfindung endete, wonach Wenger 33.000 DM erhielt und für 18 Monate jeweils 1.500 DM als freier Mitarbeiter des Rheinischen Merkur, vgl. Unterlagen in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 6. 70 Robert Ingrim, Das verzerrte Amerikabild, in: Neues Abendland, Jg. 8, 1953, S. 421-424, Zitat S. 422; vgl. für weitere Beispiele Schildt, Abendland, S. 59 f. 71 Zum Folgenden ebd., S. 58 ff.
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man sich über den Feind menschlicher Freiheit, die von Wilhelm Stählin beschworene liberalistische »höllische Trinität ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹«. Im Sommer 1954 trafen sich die Abendländler, um über »Staat, Volk, übernationale Ordnung« zu beraten. Der kulturellen Einstimmung diente ein als Freilichttheater inszeniertes mittelalterliches »Spiel vom Antichrist«. 1955 fand das Eichstätter Treffen unter dem Titel »Das Abendland im Spiegel seiner Nationen« statt. Obwohl die Eichstätter Zusammenkünfte nicht nur in der katholischen Presse, sondern auch in großen Zeitungen wie der Welt, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit eine respektvolle Kommentierung erhielten, geriet die Abendländische Akademie Mitte der 1950er Jahre in eine schwere Krise. Der Spiegel stellte in einer groß aufgemachten Story das Kuratorium der Abendländischen Akademie sowie prominente Teilnehmer der Eichstätter Treffen namentlich und im Bild vor, wobei vor allem das abendländische Engagement von Bundesministern, darunter Franz-Josef Wuermeling (CDU), Heinrich von Brentano (CDU) und von Hans-Joachim Merkatz (DP), sowie der Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Josef Wintrich, und des Bundesgerichtshofs, Hermann Weinkauff, Aufsehen erregte. Aufgedeckt wurde auch die Subventionierung der Treffen der Abendländischen Akademie mit Steuergeldern durch die Bundeszentrale für Heimatdienst. Ausführlich zitierte der Spiegel aus den erwähnten Programmschriften der Abendländischen Aktion, die allerdings bereits einige Jahre alt waren, um das antiparlamentarische Verfassungsverständnis des rechtskonservativen Zusammenhangs offenzulegen.72 Die politische Bedeutung der Abendland-Streiter wurde in einem Artikel des Historikers Imanuel Geiss, damals Student in München, später engster Mitarbeiter des Hamburger Historikers Fritz Fischer, im theoretischen Organ der Sozialdemokratie, der Neuen Gesellschaft, bewertet: »Die größere Gefahr geht weniger von den neofaschistischen Kräften aus als vielmehr von den Bestrebungen, die unter ›christlicher‹ Tarnung und unter dem Deckmantel einer antibolschewistischen ›Erneuerung des Abendlandes‹ ein autoritäres Regime errichten wollen – ähnlich dem, was unter Dollfuß in Österreich vor 20 Jahren bestand und heute noch in Franco-Spanien besteht.«73 Erst fünf Wochen nach der Veröffentlichung im Spiegel, offenbar nach langwierigen internen Diskussionen, publizierte der Vorsitzende der Abendländischen Akademie, Freiherr von der Heydte, eine Gegendarstellung, die betonte, dass diese Vereinigung nichts mit der Abendländischen Aktion und den Aussagen von Gerhard Kroll zu tun habe. Er sei jedenfalls ein Anhänger der Gewaltenteilung. Über diesen Versuch einer Absetzbewegung zeigte sich Kroll empört. In einer »Erklärung« wandte er sich sowohl gegen die Darstellung des Spiegel, in der mit »überwiegend aus dem Zusammenhang gerissenen Satzstücken« ein völlig verzerrtes Bild erzeugt werde, wie auch gegen die Bemühungen von der Heydtes, ihn zum Bauernopfer zu 72 Abendland, in: Der Spiegel, 10.7.1955. 73 Imanuel Geiss, Auf dem Wege zum »Neuen Abendland«, in: Neue Gesellschaft, Jg. 2, 1955, H. 6, S. 41-46, Zitat S. 41.
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machen. Dieser sei selbst im Vorstand der Abendländischen Aktion aktiv gewesen und habe Kroll nicht nur nicht widersprochen, sondern ganz ähnlich argumentiert. Und Kroll wiederum sei zu den Tagungen der Abendländischen Akademie als Redner eingeladen worden.74 Im Deutschen Bundestag griff der sozialdemokratische Abgeordnete Helmut Schmidt den Fall auf und richtete eine Anfrage an den Bundesinnenminister »betreffend die Mitarbeit von Kabinettsmitgliedern bei der Abendländischen Akademie«. Innenminister Gerhard Schröder (CDU) antwortete auf der Linie der Darstellung von der Heydtes, sagte aber eine umfassende Prüfung zu. Dieser Ankündigung folgten im Februar 1956 zwei weitere umfangreiche Artikel. In der Wochenendbeilage Zeit und Bild der Frankfurter Rundschau erhielt Hans Henrich eine ganze Seite, auf der er die »Revolutionäre der Reaktion« vorstellte. Inhaltlich gingen seine Recherchen nicht über die Spiegel-Story hinaus, aber die hohen Verfassungsrichter wurden mit peinlichen Nachfragen konfrontiert.75 Hansjakob Stehle wies wenige Tage später in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die Verbindungen zum »Centro Europeo de Documentationes« (CEDI) in Madrid und auf wirtschaftliche Verflechtungen der Abendländler mit der Presse der Sudetendeutschen Landsmannschaft hin und kennzeichnete die Abendländische Akademie als Zentrum des Antiliberalismus und einer »Ideologie, in der sich konservative Strömungen des Katholizismus, Monarchismus, Reichsmystik und Kreuzzugsphantasien verschwistern« würden. Allerdings mochte Stehle »kaum eine akute Gefahr für unsere Staatsordnung« entdecken, weil sich diese Kreise »im politisch-geistigen Nebel (…) selbst bisweilen zu verirren scheinen«; von einer solchen Bedrohung zu sprechen, »hieße die politische Phantastik redseliger Ideologen überschätzen«.76 Erwartungsgemäß stellte sich der Rheinische Merkur schützend vor die Abendländische Akademie. Paul Wilhelm Wenger startete einen Gegenangriff auf die »formaldemokratischen Kapitolswächter« der »Funktionsdemokratie«, die nur deshalb auf eine »lose Konfiguration« von konservativen Diskutanten einprügelten, um der Regierung Adenauer und ihrem Außenminister Heinrich von Brentano zu schaden.77 In einem Brief an Emil Franzel versicherte Wenger diesem seine unverbrüchliche Solidarität: »Mit großer Anteilnahme verfolge ich das Kesseltreiben un-
74 August Freiherr von der Heydte, Gegendarstellung, 14.9.1955; Gerhard Kroll, Erklärung vom 17.10.1955, in: Diösesanarchiv Eichstätt, Unterlagen zur Abendländischen Akademie und deren Jahrestagungen (o. Nr.). 75 Hans Henrich, Die Revolutionäre der Reaktion. Was sich gewisse Herren unter konstruktivem abendländischem Verfassungsschutz vorstellen, in: Frankfurter Rundschau, 4.2.1956. 76 Hansjakob Stehle, Nebel über dem Abendland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.2.1956. 77 Paul Wilhelm Wenger, Jakobinische Gespensterjagd. Zum Kesseltreiben gegen die Abendländische Akademie, in: Rheinischer Merkur, 10.2.1956.
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serer Formaldemokratie gegen Sie. Halten Sie mich bitte über die Dinge etwas auf dem Laufenden, damit ich gegebenenfalls rechtzeitig dazwischen funken kann.«78 Die Pressefehde griff noch einmal der Spiegel auf, der die Darstellung Krolls stützte, dass das »Gemisch aus monarchistischen und klerikal-faschistischen Zutaten« nicht dessen persönliche Marotte gewesen sei.79 Die Auseinandersetzung um die Abendland-Ideologen endete zunächst unentschieden. Der Verdacht, mit autoritären Politikvorstellungen außerhalb der Verfassung zu agieren, war von der Bundesregierung und der katholisch-konservativen Presse zwar zurückgewiesen, aber nicht gänzlich ausgeräumt worden. Vorstand, Kuratorium und Beirat der Abendländischen Akademie reagierten mit einer öffentlichen Erklärung gegen die vom Spiegel »eingeleitete Pressekampagne« und den »Vorwurf verfassungsfeindlicher Umtriebe«; die Erklärung schloss mit einem bemerkenswert deutlichen Bekenntnis »zu den Prinzipien des freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates, wie sie insbesondere im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« festgelegt seien.80 Zwei Tage später erklärte Friedrich August von der Heydte brieflich seinen Rücktritt als Vorsitzender. Die Abendländische Akademie sei zur »Zielscheibe linkstendierender Kräfte« geworden, und »um dieser Hetze mit genügendem Nachdruck und entsprechender Wirkung entgegentreten zu können«, hätte es der »Unterstützung durch Gesinnungsfreunde als auch ausreichender Zeit bedurft, um selbst antworten und jeder Verleumdung sofort entgegentreten zu können. Ich hatte weder das eine noch das andere.«81 Nach dem Rücktritt von der Heydtes übernahm Georg Fürst von Waldburg zu Zeil das Amt des Vorsitzenden. Im Juni 1956 traf man sich noch einmal in Eichstätt und debattierte über die Themen »Konservative Haltung in der politischen Existenz« und »Aufgaben und Möglichkeiten einer konservativen Politik«. Immerhin waren mehr als 250 Personen der Einladung gefolgt, darunter Otto von Habsburg,82 die Publizisten Walter Görlitz (Die Welt), Winfried Martini und Emil Franzel, der Dichter Werner Bergengruen und zahlreiche Politiker aus den Reihen der CDU/CSU und der Deutschen Partei. Der Andrang war sogar größer als im Vorjahr, was in einem Artikel der Würzburger Deutschen Tagespost auf das »Kesseltreiben, das die Morgenthau78 Paul Wilhelm Wenger an Emil Franzel, 18.2.1956, in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 1332/55. 79 Abendländische Akademie. Wo hört der Unsinn auf ?, in: Der Spiegel, 15.2.1956, S. 18 f., Zitat S. 18. 80 Ist die Abendländische Akademie verfassungsfeindlich? Erklärung vom 22.2.1956, in: Diösesanarchiv Eichstätt, Unterlagen zur Abendländischen Akademie und deren Jahrestagungen (o. Nr.). 81 August Friedrich von der Heydte an die Mitglieder der Abendländischen Akademie, des Kuratoriums und des Beirats, 24.2.1956, in: ebd.; welche Auseinandersetzungen diesem Schritt vorangingen, war nicht zu ermitteln. Nach eigenem Bekunden hatte von der Heydte sein Amt schon zu Beginn des Jahres aufgeben wollen. 82 Zur Biographie von Habsburg vgl. Conze, Europa, S. 99 ff.
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presse und ihre sorinistischen Hintermänner« entfesselt hätten, zurückgeführt wurde.83 Gegenüber dem Angriffsgeist vergangener Tagungen und der Publizistik des Neuen Abendlandes war, wenn man dem Presseecho folgt, eine Atmosphäre trotzigen Bekenntnisses eingezogen; kennzeichnend war die Aussage von Georg Waldburg zu Zeil, man beanspruche lediglich das »Grundrecht jeder freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, daß man in Freiheit forschen und sprechen darf«.84 Die abendländischen Publizisten inszenierten sich als von der linken öffentlichen Meinung verfolgte Querdenker. Paul Wilhelm Wenger mahnte, jetzt nicht »die Nerven (zu) verlieren und auf der Basis eines wertneutralen individualistisch-autonomen Freiheitsbegriffs sich zur demoralisierenden Koexistenz bereit(zu)finden«. Gefragt war eine widerständige Haltung, die Emil Franzel unter Beifall und Gelächter auf den Begriff brachte: »Dieses nicht mit den Wimpern zucken, auch wenn man in Gefahr ist, vom ›Spiegel‹ angeschossen zu werden. Das ist heute in Deutschland Zivilcourage.« Es ginge darum, dass zunächst »eine kleine Zahl von Menschen durchhält«, was nicht »auf dem Umweg über Parteipolitik« gelingen könne, wenngleich es eine »Tragik unserer jüngsten Entwicklung« gewesen sei, dass man nach dem großen Wahlsieg der CDU/CSU 1953 »diese Bewegung nicht durchdrungen (hatte) mit genügend viel konservativem Geist«, weil »zuwenig konservative Männer da waren«.85 Von Interesse war die intellektuelle Debatte um die zentralen Begriffe. Wilhelm Stählin hielt den »Weg von dem Begriff des christlichen Abendlandes zu dem Begriff der konservativen Haltung« für sinnvoll und notwendig, weil die »Spannweite unserer gemeinsamen Verantwortung« größer sei, als sie der Begriff des »christlichen Abendlandes« abdecken könne. Dies fand den energischen Widerspruch des jesuitischen Theologen Gustav Gundlach, der nicht nur am Begriff des »Abendlandes« festhalten, sondern damit zugleich die strikte Abgrenzung des Konservatismus vom Liberalismus signalisieren wollte.86
83 Konservative Politik, in: Deutsche Tagespost, 22./23.6.1956; Sorin war der erste sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik. 84 Georg Fürst von Waldburg zu Zeil, Aufgabe und bisherige Arbeit der Akademie, in: Konservative Haltung in der politischen Existenz. Vorträge und Gespräche der 5. Jahrestagung der Abendländischen Akademie 1956, München o. J. (1956), S. 9-11, Zitat S. 11. 85 Konservative Haltung, S. 69, 74, 75; für die Hervorhebung einer »konservativen Haltung« vgl. Emil Franzel, Versuch einer Deutung des Konservativen, in: Neues Abendland, Jg. 11, 1956, S. 153-168, Zitat S. 166; zum Einfluss der abendländischen Ideologie – zwischen Semantik und Rezeption – auf die CSU, die als zentrale Adresse galt, vgl. Konstantin Goetschel, Abendland in Bayern. Zum Verhältnis von Abendländischer Bewegung und CSU zwischen 1945 und 1955, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Jg. 69, 2017, S. 367-398. 86 Konservative Haltung, S. 12, 36 f., 39; zum Werk von Gundlach vgl. Joseph Höffner (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung in der modernen Gesellschaft. Festschrift für Gustav Gundlach, Münster 1962; in die gleiche Richtung argumentierte Erik von Kuehnelt-Led-
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Zweifel am Leitbegriff des »christlichen Abendlandes« waren allerdings schon in den Jahren zuvor auch in der katholischen Öffentlichkeit laut geworden. So mahnte der Publizist Robert Schmelzer in einer Vortragsveranstaltung des Bistums Münster: »Zuallererst: gehen wir doch bitte sehr sparsam und sehr vorsichtig mit dem Begriff des Abendlandes und der sogenannten abendländischen christlichen Kultur um. Dieses Abendland in seiner alten geographischen Zusammengehörigkeit besteht nämlich nicht mehr. Es war der Zusammenschluss der Romanen, Germanen und Slawen. Wenn heute tatarische Völker in Königsberg hausen, wenn Tausende deutscher Arbeiter – von den umgesiedelten Westdeutschen ganz zu schweigen – in Sibirien festgehalten werden, wenn fremde Wachtürme auf den Höhen des Böhmerwaldes stehen – so weit und so hoch, wie noch niemals seit dem zehnten Jahrhundert – dann ist das alte Europa in die Brüche gegangen. Dieses Europa lebt von dem Geld und der Gnade der Amerikaner. (…) Und unsere sogenannte abendländische Kultur? Wie war sie gefügt? Wo ist die klassische Schönheit, die Harmonie der Künste? Wenn tagtäglich die modernen Künstler die kranken Bilder ihrer kranken Seelen herausschleudern?«87 Bemerkenswert ist die selbstkritische Bilanz von Gerhard Kroll, einem der wichtigsten Ideologen der abendländischen Bewegung. Nachdem sich die Führung der Abendländischen Bewegung von ihm distanziert hatte, geriet er offenbar in eine persönliche Krise. Mit einer fünfseitigen Liste von Referenzen – darunter Romano Guardini, Constantin von Dietze, Richard Benz, Fritz Schäffer, Hans Ehard, Hanns Seidel, Richard Jaeger, Carl Orff, Ernst von Hippel, Theodor Maunz und Karl Buchheim – sowie einem 80-seitigen Lebenslauf bewarb er sich initiativ um eine Dozentur für politische Wissenschaften an einer der künftig zu errichtenden Militärakademien der Bundeswehr. Auch wenn man den Verwendungszweck des Lebenslaufs berücksichtigt, der passagenweise den Charakter einer Bekenntnisschrift trägt, handelt es sich doch um eine markante Abrechnung mit Organisation und Ideologie der Abendländler. Er habe den Glauben gehabt, »daß eine Besinnung auf die abendländischen Werte des Christentums allein in der Lage sei, der alles überschwemmenden Flut materialistischer und nihilistischer Strebungen erfolgreich entgegenzutreten«. Von einem jungen Redakteur des Rheinischen Merkur, Franz Herre, habe er dann gehört, dass die Zeitschrift Neues Abendland in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sei. Der begüterte Erich Fürst von Waldburg Zeil, dessen Ohr er mit seinen Ideen gefunden habe, erwarb die Zeitschrift im dihn, Neokonservatismus und Neoliberalismus, in: Neues Abendland, Jg. 11, 1956, S. 121134; vgl. zur Namensnennung von Kuehnelt-Leddihn Fußnote 97 in Kapitel I.3. 87 Robert Schmelzer, Der Christ und seine Zeit (Typoskript), in: ACDP, Nl. 01/848 (Robert Schmelzer), 007/3; Robert Schmelzer (1914-1996), im Zweiten Weltkrieg Redakteur der Brüsseler Zeitung, arbeitete danach zunächst als Redakteur der Westfalenpost in Olpe und wurde 1950 schließlich Chefredakteur der katholisch-konservativen Ruhr-Nachrichten in Dortmund; 1967 wechselte er zur Frankfurter Neuen Presse.
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Frühjahr 1951; er, Kroll, fungierte als Herausgeber. Neues Abendland, das 700 neue Abonnenten verzeichnete, die Abendländische Aktion und noch mehr die Abendländische Akademie »als ein geistiges Forum« hätten sich zunächst erfolgreich entwickelt. Allerdings habe er sich mit dem Fürsten, der infolge eines Autounfalls bald starb, überworfen, weil dessen Umgebung seine sozialpolitischen Auffassungen nicht teilte, vielmehr an einer »Restaurierung der alten Feudalordnung« interessiert gewesen sei. Die Ursachen seines Misserfolgs lägen allerdings tiefer: »Das Scheitern aller Bemühungen, eine Erneuerung des alten Abendlandes aus dem Geist christlicher Besinnung zu versuchen, stürzte mich in eine tiefe Krise. Es war billig, die Fehler bei den anderen zu suchen, ich selbst mußte mich in vielem grundlegend geirrt haben und zumindest die Kräfte gewaltig unterschätzt haben, die unserem Zeitalter ihr Gepräge geben. Weder der säkularisierte Geist des Liberalismus noch erst recht der Ungeist des massiven Materialismus und Atheismus ließen sich durch einen Handstreich überwinden. Aber damit ist noch nicht das Eigentliche gesagt. Die Verkettung einer angestrebten religiösen Erneuerung mit einer politischen Zielsetzung war an sich verkehrt. Zudem war mein Geschichtsbild falsch, dass das Mittelalter in einer romantischen Verklärung, die Neuzeit jedoch in einer nicht minder romantischen Verschwärzung erblickte. Es bleibt das Verdienst von Friedrich Heer, hier die Maßstäbe zurechtgerückt zu haben. Nahezu alle katholischen Christen, die ihren Glauben ernst nehmen, sind dem Geschichtsbild der Romantik, vor allem Novalis’ erlegen«, mittlerweile habe er den »geschichtsnotwendigen Untergang des Sacrum Imperium« ebenso verstanden wie das »Anliegen der französischen Revolution und der westlichen Demokratie«; auch halte er jetzt eine »saubere Trennung von Kirche und Staat« für richtig.88 Als Kroll drei Jahre später beim Verteidigungsministerium nachfragte, was aus seiner Bewerbung geworden sei, waren die Unterlagen unauffindbar; auch eine Bewerbung bei der neu gegründeten Politischen Akademie Tutzing verlief 1958, obwohl der bayerische Ministerpräsident Hanns Seidel seine Unterstützung zugesagt hatte, im Sande.89 In Eichstätt traf man sich nach der Tagung 1956 für einige Jahre nicht mehr; das Neue Abendland musste 1958 sein Erscheinen einstellen.90 Es handelte sich offenbar um die Krise und das Ende einer Phase katholisch-konservativer Politik und Ideologie, die angesichts der ausgebliebenen fundamentalen »Rechristianisierung« und in einer kritischer werdenden Öffentlichkeit in eine prekäre Defensive geraten war und schon bald nur noch als zeitspezifische Ideologie von mittlerer Reich88 Gerhard Kroll, Lebenslauf (15.9.1955), Zitate S. 68-75, in: ACDP, Nl. Gerhard Kroll, 001/1; besonders bemerkenswert ist der positive Bezug auf Friedrich Heer, der in Neues Abendland immer wieder als Häretiker angefeindet worden war. 89 S. Unterlagen in: ACDP, Nl. Gerhard Kroll, 001/2. 90 S. Kapitel I.4.3.
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weite erschien.91 Dass der Begriff des »christlichen Abendlandes« nicht mehr Aufbruchsstimmung und Offensivgeist ausdrückte, dass nach der Öffnung zu einer allgemeineren konservativen Haltung gesucht wurde, bedeutete nicht, dass die christlich-abendländische Position gänzlich verschwunden wäre. So gab es durchaus Ansätze einer Weiterarbeit der Abendländischen Akademie in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, die allerdings bald wieder zum Erliegen kamen.92 Zum einen wurde das abendländische Gedankengut von den intellektuellen Akteuren, von denen viele noch recht jung gewesen waren, in modernisierter christlich-konservativer Form weiterhin über die Medien der Bundesrepublik transportiert. Zum anderen hatten bereits die Eichstätter Treffen deutlich gemacht, dass es sich nicht um eine deutsche, sondern um eine transnational vernetzte Bewegung handelte, die in verschiedenen Formen weiterlebte. Otto B. Roegele hatte bereits 1954 an einer Tagung des Europäischen Dokumentations- und Informationszentrums in Madrid teilgenommen und über sein positives Bild von Spanien ausführlich im Rheinischen Merkur berichtet.93 Die Aufforderung der Redaktion von Neues Abendland, nach dessen Einstellung das Organ des Europäischen Dokumentations- und Informationszentrums in Madrid zu abonnieren, gibt einen Hinweis auf eine der wichtigsten verbleibenden Hochburgen der Abendländler, deren Gedankengut in europäischen Verbänden und einer »Internationale der Konservativen« bewahrt wurde, die wiederum ein Anziehungspunkt für katholisch-rechtskonservative Kreise in der Bundesrepublik darstellten.94
2.2 Kulturemphase und Krisenwahrnehmung Eine der ersten Bilanzen intellektueller Debatten der Nachkriegszeit erschien 1954 in der Deutschen Verlagsanstalt. Der von Joachim Moras und Hans Paeschke herausgegebene, ursprünglich als Sonderheft der Zeitschrift Merkur konzipierte Band
91 Vgl. Walter Dirks, Das christliche Abendland. Sein Nachwirken in den Konfessionen der Bundesrepublik, in: Klaus von Bismarck/Walter Dirks (Hrsg.), Christlicher Glaube und Ideologie, Stuttgart u. a. 1964, S. 118-125. 92 Für die »geistige und tatkräftige Pionierarbeit, die Sie für das Wiederaufleben der Abendländischen Akademie geleistet haben«, bedankte sich Alois Waldburg Zeil bei Otto B. Roegele, 15.2.1960, in: Nl. Otto B. Roegele, 1960; vgl. Hans Schomerus u. a. (Hrsg.): Pluralismus, Toleranz, Christenheit, Nürnberg 1961. 93 Gaupp-Berghausen an Otto B. Roegele, 28.6.1954, in: Nl. Otto B. Roegele, 1954 (A-K); Otto B. Roegele, Spanische Gespräche. Europa hört nicht an den Pyrenäen auf, in: Rheinischer Merkur, 24.9.1954. 94 Vgl. Conze, Europa, S. 169 ff., 321 ff.; Johannes Grossmann, Die Internationale der Konservativen. Transnationale Elitenzirkel und private Außenpolitik in Westeuropa seit 1945, München 2014, S. 323 ff.
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mit mehr als dreißig Beiträgen auf nahezu 500 Seiten95 war von der Rockefeller Foundation nicht nur finanziert, sondern selbst vorgeschlagen worden.96 Das thematische Spektrum war, gemäß dem Anspruch der Herausgeber, weit gespannt, von den gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen über die Wissenschaften bis zu den schönen Künsten. Es handelte sich um eine Bestandsaufnahme einer der erwähnten Hauptströmungen, nämlich des kulturprotestantischen Konservatismus und einiger liberaler Stimmen aus dem Milieu der ehemaligen Frankfurter Zeitung. Vertreten waren in dem zeitgenössisch erfolgreichen Band unter anderen Dolf Sternberger, Georg Picht, Hellmut Becker, Ernst Forsthoff, Michael Freund und Hans Egon Holthusen, die Crème der tonangebenden Intellektuellen der frühen Bundesrepublik. Wenig verwunderlich war der Umstand, dass manche der Autoren eine braune Vergangenheit aufwiesen, wie Karl Jaspers missbilligend anmerkte. Er erhielt von Joachim Moras eine Antwort, die von schlechtem Gewissen zeugte: »Ihre Kritik verpflichtet uns beide, sie wird uns noch lange beschäftigen. Denn von dem Missgriff Forsthoff (seine Vergangenheit hätte uns bekannt sein müssen) (…) abgesehen (…) trifft diese Kritik bei uns auf ein beklemmendes Gefühl des Ungenügens, das sich während der Arbeit an dem Buch ständig vertiefte.«97 Interessant ist der Sammelband als Dokument des düster getönten nationalhistorischen Horizonts der Gegenwartsdiagnostik, die vor allem die programmatischen Essays aus der Feder der Herausgeber und ihres mitwirkenden Kollegen bestimmte. Wolfgang von Einsiedel beantwortete seine verzweifelte Frage, ob »im Antlitz des nüchtern nach außen und aufs Nächstliegende blickenden, tatkräftigen, lebenstüchtigen Magiers noch die Züge des Grüblers und Suchers Faust zu erkennen wären«, mit der Feststellung des Widerspruchs »zwischen dem leuchtkräftigen Bilde wirtschaftlichen und dem mattfarbigen Bilde geistigen Daseins«. Einsiedel konstatierte Provinzialismus und »eine mittlere Linie der Gesinnung und des Geschmacks, auf der auch nur mittelmäßige, will sagen mühelos zugängliche und rasch verdauliche kulturelle Erzeugnisse willkommen sind«.98 Joachim Moras verglich die Lage nach dem Ersten mit der nach dem Zweiten Weltkrieg, und der Vergleich fiel »eindeutig zuungunsten des letzteren aus«: Verlust der Hauptstadt und die Gefahr, mit deren »Mittel- und Mittlerstellung seine Identität zu verlieren«.99 Hans Paeschke schließlich sah den Unterschied zwischen dem Ausgang des Ersten und des Zweiten Weltkriegs darin, dass 1918 »Formen zerbrochen und geistig vorbereitete Inhalte 95 Joachim Moras/Hans Paeschke (Hrsg. unter Mitwirkung von Wolfgang von Einsiedel), Deutscher Geist zwischen gestern und morgen. Bilanz der kulturellen Entwicklung seit 1945, Stuttgart 1954. 96 Hans Paeschke an Dolf Sternberger, 10.8.1953; 25.9.1953, in: DLA, A: Dolf Sternberger; vgl. auch das Vorwort. 97 Joachim Moras an Karl Jaspers, 15.2.1955, in: DLA, D: Merkur. 98 Wolfgang von Einsiedel, Land ohne Mitte, in: Moras/Paeschke, Geist, S. 433-440, Zitate S. 433, 434, 438. 99 Joachim Moras, Die Mitte Europas, in: ebd., S. 441-449, Zitat S. 447.
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freigelegt worden« waren, während 1945 »auch die Inhalte zerstört bzw. sich selbst entfremdet« erschienen. Die Folge wäre eine »deutsche Pseudomorphose«, bei der »vorerst noch gestaltlose Energien in vorgegebene Hohlformen einströmen. Auf diese Weise entstehen Gedanken- und Sozialgebilde mit mangelhafter Entsprechung von Form und Inhalt, Begriff und innerer Vorstellung.«100 Deutlich ist die Omnipräsenz von Weimar, die Obsession des Vergleichs mit den Kulturverhältnissen von erster und zweiter deutscher Demokratie in diesem bilanzierenden Band. Es sollte bis 1956 dauern, als der Schweizer Publizist Fritz René Allemann, ein ehemaliger kommunistischer Dissident, die viel kolportierte Entwarnung formulierte: »Bonn ist nicht Weimar.«101 Während in politischer Hinsicht aber stets das schmähliche Ende der ersten Republik 1933 gemeint war, barg die Erinnerung an das reiche geistige und kulturelle Leben, vor allem in Berlin, zugleich vielfältige nostalgische Sehnsüchte nach Unabgegoltenem. Viele Intellektuelle meinten damit auch nicht die Zeit bis zum Antritt des NS-Regimes, sondern die gesamte Zwischenkriegszeit, bis zu deren Ausgang ihnen schriftstellerische und künstlerische Nischen zur Verfügung gestanden hatten. Als vergangene Epoche wurde die Zwischenkriegszeit nicht begriffen, weil sie vor allem den älteren Intellektuellen noch anzudauern schien. Ihr Anfang wurde allerdings selten thematisiert, wie ausnahmsweise von Alfred Andersch in einem »Gedenkblatt« zum 40. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, zugleich seinem Geburtsjahr.102 Vor allem war es das Empfinden einer Ausdrucksanalogie, welche die Jahre um 1950 so nahe an die Zeit um 1930 heranrücken ließen, das Empfinden einer existenziellen Kulturkrise. In den öffentlichen Bibliotheken und den Bücherschränken bildungsbürgerlicher Haushalte, soweit sie den Bombenkrieg überstanden hatten, befand sich das geistige Rüstzeug, das zunächst zu Rate gezogen wurde, natürlich nicht in systematischer Weise, sondern inhaltlich eklektisch. Von dem 1936 verstorbenen Oswald Spengler, in der Zwischenkriegszeit ein geradezu europäisches Phänomen,103 war nicht viel mehr aufbewahrt worden als der missverständliche Titel seines Hauptwerks: »Der Untergang des Abendlandes«. Es taugte vor allem als Antithese zur im ersten Nachkriegsjahrzehnt dominanten Abendland-Idee. Bis in die frühen 1950er Jahre stand Spengler zwar noch auf der Liste irgendwie großer Denker, denen mit Respekt zu begegnen war. Zu seinem 70. Geburtstag 1950 100 Hans Paeschke, Der Januskopf, in: ebd., S. 450-466, Zitate S. 52, 453. 101 Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956, insb. S. 112-114; vgl. Sebastian Ullrich, Der lange Schatten der ersten deutschen Demokratie. Weimarer Prägungen der frühen Bundesrepublik, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 35-50. 102 Alfred Andersch, Ein Gedenkblatt, in: Frankfurter Hefte, Jg. 9, 1954, S. 575-579, abgedruckt unter dem Titel »Vor einem halben Jahrhundert« in: Alfred Andersch, Essayistische Schriften 2 (Gesammelte Werke, Bd. 9), Zürich 2004, S. 209-218. 103 Zaur Gasimov/Carl Antonius Lemke Duque (Hrsg.), Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Der Transfer der Kultur und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit 1919-1939, Göttingen 2013; zur Spengler-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988.
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widmete das NWDR-Nachtprogramm ihm eine eigene Sendung. Dort wurde er am Schluss von dem Mitarbeiter Max Niehaus zu einem der »bedeutendsten politischen Denker und Propheten unserer Geschichte« erklärt, dem die »Gerechtigkeit (…) neben der heißen Liebe zu Deutschland und der Sehnsucht nach einem höheren Menschentum sein fanatisches Ziel« geworden sei.104 Das war die Sprache der Zwischenkriegszeit und klang nicht nach aktueller Relevanz, hieß aber nicht unbedingt, dass damit das Denken in Kulturkreis-Zyklen schon an sein Ende gekommen war. Um 1950 wurde das Werk des britischen Historikers Arnold J. Toynbee, der seine Anregungen ursprünglich von Spengler bezogen hatte, als dessen moderne Fortsetzung gefeiert. Im Merkur intonierte Ernst Robert Curtius eine Hymne,105 dem Spiegel waren die enorme Resonanz Toynbees in der anglophonen Welt, aber auch die Übersetzung seiner »Study of History« im Claassen & Goverts Verlag 1949 einen Artikel von immerhin zwei Seiten wert.106 In Hamburg erlebte er im gleichen Jahr einen begeisterten Empfang. Etliche Amerikahäuser luden Toynbee zu Vorträgen ein, und das NWDR-Nachtprogramm veröffentlichte 1950 ein langes Interview, das verdeutlicht, warum Toynbee als Spengler-Nachfolger reüssierte: »Spengler ist meiner Meinung nach ein genialer Mensch, aber er neigt sehr zum Determinismus und zur Dogmatik. Das halte ich für seine Schwäche. Ich möchte sagen, daß der Hauptunterschied zwischen ihm und mir darin besteht, daß ich versuche, vom empirischen Standpunkt auszugehen und weniger im voraus meiner Sache sicher zu sein.«107 Anders als bei Spengler waren die Kulturen, von denen er 26 unterschied, nicht eigene Organismen, die notwendig ihrem Untergang entgegengingen, sondern Entitäten, die auf immer neue Herausforderungen flexibel zu antworten hatten und nur dann untergingen, wenn sie dazu nicht mehr in der Lage waren. Dass gerade die empirische Seite von Toynbees Arbeiten später viel Kritik auf sich zog, ist nicht entscheidend. Vor allem kam es darauf an, dass Toynbee seine Denkmuster vergleichender Kulturmorphologie mit der Sicht auf eine offene Zukunft des Westens zusammenbrachte und damit Intellektuellen die Begründung aktiver Einmischung 104 Sendung vom 1.6.1950, zit. nach Schildt, Abendland, S. 95. 105 Curtius, Europäische Literatur, S. 483. 106 Nach uns die Insekten, in: Der Spiegel, 26.3.1949, S. 21-22; vgl. auch Adolf Frisé, Zweimal Arnold J. Toynbee, in: Deutsche Zeitung, 12.11.1949, dok. in: ders., Spiegelungen, S. 195197. 107 Sendung vom 5.4.1950, zit. nach ebd.; in diesem Zusammenhang ist auch auf den als Anti-Spengler propagierten exilrussischen, in Harvard lehrenden Soziologen Pitirim A. Sorokin hinzuweisen. Er diagnostizierte zum einen eine geistige Krise des Westens, die Europa und Amerika gleichermaßen betreffe, zum anderen das Ende einer sinnenhaftmaterialistischen »sensoriellen« und gleichzeitig das Heraufziehen einer neuen rettenden Epoche, die an das Übersinnliche und Übervernünftige ideenhaft gebunden sei, als rettenden Ausweg. Heute ist der um 1950 viel gelesene Autor weitgehend vergessen; Pitirim A. Sorokin, Die Krise unserer Zeit. Ihre Entstehung und Überwindung, Frankfurt a. M. 1950; ders., Die Wiederherstellung der Menschenwürde, Frankfurt a. M. 1952.
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in die Zeitläufte – unter dem Vorzeichen eines christlich-humanistischen Ethos – ermöglichte. Das war nun gefragt, während Golo Mann einige Jahre später nur noch apodiktisch formulierte: »Wo es keine Nachfrage nach einem Spengler gibt, erscheint auch kein Spengler.«108 Die Wertschätzung von Toynbee liefert nur ein Beispiel für die Tendenz, die moralische Depression in Deutschland als europäisches Phänomen zu beschreiben. Wie schon im katholisch-abendländischen Denken wurde auch unter säkularen konservativen und liberalen Vorzeichen die Kulturkrise entnationalisiert bzw. europäisiert. Es gab wohl kein Buch aus den Jahren um 1930, das so sehr der intellektuellen Krisenwahrnehmung um 1950 entsprach wie Karl Jaspers’ als Band 1.000 der Göschen-Reihe veröffentlichter großer Essay »Die geistige Situation der Zeit« von 1931.109 Die dort diagnostizierte Dämonie der Technik, der bedrohlichen Vermassung und Entfremdung liest sich, als ob das Buch 1950 geschrieben worden wäre, und steht für Ähnlichkeiten der beiden Zeiträume. Wohl fast alle der tonangebenden Intellektuellen hatten das Jahrhundertbuch schon vor 1933 gelesen.110 Es war weiterhin präsent, weil man in der Kontinuität der Diskussion darüber lebte. So war die langjährige Verstimmung zwischen Jaspers und Dolf Sternberger, der das Buch 1932 kritisch besprochen hatte,111 erst in den letzten beiden Kriegsjahren allmählich verflogen, als man in der Korrespondenz wieder vom »sehr geehrten« zum »lieben Herrn« überging, was die gemeinsame Herausgeberschaft der Zeitschrift Die Wandlung wohl erleichterte. Der Eindruck einer weitgehenden Ähnlichkeit der Zeit um 1950 mit der um 1930 stellte sich nicht zuletzt im Blick auf die akademischen Geisteswissenschaften ein. Hier herrschte weitgehende Kontinuität des Personals, der Konzepte und Begriffe.112 Allerdings war es eine Ähnlichkeit, deren unterschiedliche Perspektiven erst allmählich deutlich wurden. Um 1930 handelte es sich um ein Denken in bedrohter, um 1950 in noch ungesicherter Ordnung, die viele Intellektuelle aber für ebenso bedroht hielten. Zudem ist bei allen intellektuellen Diskursen der ersten Nachkriegsjahre zu berücksichtigen, dass sie nicht nur in der Kontinuität kulturpessimistischer Begleitung der Weltläufte standen, sondern auch nach der Katastrophe 108 Golo Mann, Die deutschen Intellektuellen, in: Texte und Zeichen, Jg. 1, 1955, S. 486-503, Zitat S. 502. 109 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Leipzig 1931 (41932). 110 Vgl. etwa Karl Korn, Existenzielles Verhalten als Widerstand. Karl Jaspers: »Die geistige Situation der Zeit« (1931), in: Rühle, Bücher, S. 118-123. 111 Karl Jaspers an Dolf Sternberger, 21.4.1932, in: DLA, A: Dolf Sternberger; Sternberger hatte Jaspers vorgehalten, der Inhalt seines Buches bleibe dunkel und vage; es biete keine Anleitung zum Handeln in der Gegenwart; Jaspers war in seiner Antwort »nur traurig, dass jemand, der mich kennen könnte, nicht das hinzubringt, um über die Schwächen hinweg Sinn und Absicht dieses Büchleins« zu erkennen. 112 Vgl. Jan Eckel, Ambivalente Übergänge. Die Geisteswissenschaften in Deutschland 1950 und 1930, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 294-311; mit einem Schwerpunkt auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik ders., Geist; umfassend dazu die ausgezeichnete Untersuchung von Kurig, Bildung.
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bzw. unter dem Eindruck der Katastrophe geführt wurden.113 Häufig sprach man nun von einem »Zeitalter der Angst«114 – aber die Inhalte der Angstdiskurse veränderten sich von jenen einer Trümmergesellschaft im Ausnahmezustand mit ihren existenziellen Nöten und moralischem Katzenjammer zu jenen einer sich wieder einrichtenden bürgerlichen Gesellschaft unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Für die Zeitgenossen überlagerten und vermischten sich die jeweiligen Ängste. Die revolutionäre Hybris um 1930, ob als weltrevolutionäre Hoffnung oder – häufiger – als mittelständische »Revolution von rechts«, die Hans Freyer im gleichen Jahr, 1931, ausgerufen hatte, in dem Karl Jaspers seine Reflektion der geistigen Situation seiner Zeit publizierte, war einer elegischen, gedämpften Stimmung am katastrophalen Ausgang aller politischen Illusionen gewichen. Theodor W. Adorno konstatierte in positivem Sinne, dass das politische Interesse »erschlafft« sei,115 von einem bedenklichen »Erschöpfungszustand« sprach auf der anderen Seite des politischen Spektrums Hans Zehrer.116 Adorno führte die von ihm beobachtete überraschende »intellektuelle Leidenschaft« darauf zurück, dass sie einerseits nicht mehr wie vor 1933 von »politischen Machtkämpfen« überformt werde, zum anderen die nivellierende »Kulturindustrie« noch nicht wieder ihre einstmalige Macht erlangt habe.117 Wie auch immer begründet und besetzt, der Hunger nach wahrer humanistischer Bildung und kulturellen Höhen war allgegenwärtig, »Bildung und Kultur« als deutsches Deutungsmuster – in europäischer Perspektive – erlebte eine letzte Spätblüte. Diese »vorübergehende Reaktivierung des Deutungsmusters« lebte auch davon, dass damit das NS-Regime zur Unkultur erklärt werden konnte.118 Auf dem Hochaltar der Intellektuellen standen jene kulturellen Güter, die vermeintlich von den Nationalsozialisten nicht hatten verdorben werden können, an erster Stelle die Weimarer Klassik. Eine »Heimkehr zu Goethe«119 schien der Ausweg aus der Misere der neuen Zeit zu sein und enthielt zugleich eskapistische Züge. Nur auf den ersten Blick war die Goethe-Verehrung als Weg nationaler Ge113 114
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Mark Clark, Beyond Catastrophe. German Intellectuals and Cultural Renewal after World War II, 1945-1955, Oxford 2006. Hendrik de Man, Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951, S. 171; vgl. auch Krüger, Dekadenz; Axel Schildt, »German Angst«. Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Daniela Münkel/Jutta Schwarzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 87-99. Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, S. 469-477, Zitat S. 469. Hans Zehrer, Leben wir in der Restauration?, in: Sonntagsblatt, Jg. 6, Nr. 24, 14.6.1953. Vgl. Schütte, Adorno, S. 161 ff. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 21994, S. 301. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 64 f.; vgl. Karl Robert Mandelkow, Der »restaurierte« Goethe: Klassikerrezeption in Westdeutschland nach 1945 und ihre Vorgeschichte seit 1870, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung, S. 541-550.
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sundung eine urdeutsche Angelegenheit. Tatsächlich handelte es sich auch um einen Ideenimport. Seit 1947 war im amerikanischen Bundesstaat Colorado über eine große Goethe-Feier nachgedacht worden. Das neu gegründete ASPEN-Institut begann seine Tätigkeit 1949 mit einem dreiwöchigen »Goethe Bicentennial and Music Festival«. Es gelang den Organisatoren, nicht zuletzt durch ein großzügiges Honorarangebot, Albert Schweitzer als »International Figure« zu verpflichten, der dafür in die USA reiste und am 6. Juli 1949 eine große Rede hielt. Weitere prominente Intellektuelle, darunter Thornton Wilder und Ortega y Gasset, waren nach Colorado gekommen, aber die größte Aufmerksamkeit galt dem Urwaldarzt aus Lambarene, dessen Porträt sogar das Titelbild des Time Magazine schmückte. Die internationale Vermarktung seiner amerikanischen Rede erreichte sehr bald auch Deutschland.120 Albert Schweitzer passte als Goethepreisträger der Weimarer Zeit und gleichzeitig als amerikanischer Import in geradezu idealer Weise in die Diskurse der bundesrepublikanischen Gründerjahre. In diesem Zusammenhang erweist sich der Begriff der »Übersetzung« als Schlüsselbegriff für die Nachkriegszeit, ging es doch immer wieder darum, die eigene Ideenwelt nicht als deutsche Wagenburg und nationalhistorische Abgeschlossenheit, sondern durch die Beglaubigung aus dem Ausland durch entsprechende Arrangements als weltbürgerliche Angelegenheit zu präsentieren. Dass der Weimarer Dichterfürst nicht als nationaler Heros, sondern als europäischer Kulturträger und »höchstmögliche Vollendung des reinen Menschentums«121 herausgestellt wurde, zeigt auch eine umjubelte Vortragsreise von José Ortega y Gasset nach Hamburg und in andere deutsche Städte. Die Würdigung Goethes durch einen ausländischen Philosophen, der sozusagen von außen den eigenen Kult beglaubigte und um den die Medien selbst wiederum einen Kult inszenieren konnten, erwies sich als ideale Anordnung. Die Hamburger Universität hatte den populären spanischen Philosophen zu einer großen Rede eingeladen,122 das Nachtprogramm des NWDR erhielt eine Gesprächsaudienz, die Aufzeichnung wurde unter dem Titel »Um einen Goethe von innen bittend« gesendet. Schon mit seiner Ansage inszenierte Ernst Schnabel den Kult höchster Geistigkeit und individueller Unabhängigkeit: 120 Vgl. ausführlich Caroline Fetscher, Tröstliche Tropen. Der alte Mann und die Mehrheit: Albert Schweitzer, Lambarene und die Westdeutschen nach 1949. Studie zur Genese und Rezeption eines Mythos der Nachkriegsrepublik, Phil. Diss. Universität Zürich 2018, S. 69 ff. 121 Rudolf Pechel, Goethe in der Politik, in: Welt am Sonntag, 28.8.1949, dok. in ders., Gegenwart, S. 122 f., Zitat S. 123. 122 José Ortega y Gasset, Über einen zweihundertjährigen Goethe, in: Hamburger Akademische Rundschau, Jg. 3, 1948/49, S. 572-588; vgl. Birgit Aschmann, Der Kult um den massenphobischen spanischen Geistesaristokraten Ortega y Gasset in den 1950er Jahren, in: Schildt, Von draußen, S. 28-55, hier S. 42 f.; dieser aus den Quellen gearbeitete Aufsatz bietet einen hervorragenden Überblick über die Bedeutung von Ortega y Gasset in den frühen 1950er Jahren.
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»Ortega y Gasset ist in Hamburg mit Spannung erwartet, mit Freude begrüßt und mit großer Bewunderung gefeiert worden. Er hat einige Tage lang in der Hansestadt Hof gehalten. (…) Da war ein Grandseigneur unter uns erschienen, und jedermann huldigte ihm mit der freudigsten Selbstverständlichkeit. (…) Ortega hat einen unvergeßlichen Kopf. Keinen von der Sorte, die schon im Steckbett genialisch aussehen, sondern ein wunderbar zivilisiertes Gesicht, dem man beides ansieht, die aristokratischen Gedanken, die hinter ihm gedacht werden, und den frischen Wind, den es nicht scheut. (…) Manche meinen, es träfe nicht immer zu, was er sagt. Aber immerhin: Es trifft.«123 In einer weiteren Sendung über Ortega y Gasset knüpfte Kurt W. Marek, Lektor beim Rowohlt Verlag, an das Primat der körperlichen Statur völkerpsychologische Klischees: »Ortega ist Romane. Das heißt, daß er als Denker nicht starre Konstruktionen errichtet, sondern luftige Bauten, nicht die glatten Pfeiler der Logik liebt, sondern die zierlichen Säulen von reicher Ornamentik, daß er nicht linear denkt, sondern ausschweifend, daß er nicht schreibt, sondern causiert.«124 Wie in dieser ambivalenten Huldigung, in der das antirationalistische Wesen des Romanischen als markante Ausprägung der deutschen romantischen Ader erschien, führten alle intellektuellen Richtungen scheinbar fremde Stimmen ins Feld, die die eigene Position europäisch beglaubigten.125 Auch hier fungierte der Romanist Ernst Robert Curtius, der Ortega seit den 1920er Jahren kannte, als hilfreicher Brückenbauer. In einem Aufsatz für den Merkur begründete er, warum gerade Ortega so wichtig für den Wiederaufbau der Kultur sei: »Auch auf geistigem Gebiet bedarf es einer ungeheuren Reparaturarbeit. Die Verwüstung unserer Kultur hat nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt, sondern 1933. Die Folge davon ist, daß die Generation der heute Dreissigjährigen schon gar nicht mehr weiß, wie ein normal funktionierendes Kulturleben aussieht. Wie die Elektrizität braucht die Kultur Leitungen, Kontakte, Umschaltungen. Sie ist eine geistige Energie, aber sie bedarf eines Apparatesystems, das sehr kompliziert und empfindlich ist.«
123 Nachtprogramm des NWDR, Sendung vom 31.10.1949, zit. nach Schildt, Abendland, S. 94. 124 Nachtprogramm des NWDR, Sendung vom 18.11.1949, zit. ebd., S. 95. 125 Antisemitische Affekte evozierte das Auftreten von Ortega y Gasset offenbar bei Joseph Drexel, der als Eindruck mitteilte, dieser sehe aus wie ein »jüdischer Teppichhändler«; Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 31.1.1952, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 40a; dagegen zeigte sich Karl Korn sehr angetan von dem spanischen Philosphen; Karl Korn an Ernst Niekisch, 25.12.1947; Ernst Niekisch an Karl Korn, 3.1.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21c.
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Stattdessen blühe in Deutschland nur eine »amtlich organisierte Scheinkultur«. Genuine Intellektuelle wie Ortega, die quer zur Normalität ihre Gedanken formulierten, seien gerade deshalb »wieder sehr aktuell geworden«.126 Ortega y Gasset avancierte zum nachgefragtesten philosophischen Autor auf dem westdeutschen Buchmarkt der 1950er Jahre. Im Auftrag der Deutschen Buchgemeinschaft hatte das Allensbacher Institut für Demoskopie in einer repräsentativen Umfrage 1957 ermittelt, dass der »Aufstand der Massen« mit einem Viertel aller Nennungen an der Spitze einer Liste von Büchern stand, die mit der Frage vorgelegt worden war, welches man »gern einmal lesen« würde.127 In seinem Fall half auch der Wiedererkennungswert. Sein »Aufstand der Massen«, in deutscher Übersetzung 1930 erschienen, stand in bildungsbürgerlichen Bücherschränken neben den Schriften von Jaspers und Freyer. Hinzu kam, dass er seinen Ausgang von Studien zur Philosophie von Kant genommen und seine akademische Ausbildung über entscheidende Jahre hinweg in Deutschland absolviert hatte.128 Wann immer ausländische Intellektuelle in den Medien vorkamen, trugen sie nichts Unbekanntes vor und häufig wurde betont, dass mit ihnen deutsches Gedankengut zurückkehre. So wurde etwa Jean-Paul Sartre als französische Kopie des noch tieferen Denkers Martin Heidegger vermarktet.129 Eine solche Einverleibung von dem, was gut passte oder für die Übersetzung passend gemacht wurde, hatte wenig zu tun mit der Vorstellung eines kulturellen europäischen Pluralismus.130 Auch bei der besonders dreisten Zurichtung Sartres für eigene Zwecke ging der Merkur voran. So diente eine Besprechung der Aufführung von »Schmutzige Hände« in West-Berlin dazu, gegen den angeblich dominanten »Eskapismus« in England und das französische »Engagement« die höherwertige deutsche »Verantwortlichkeit des Geistes« zu setzen.131 Allerdings ist die passgerechte Umdeutung Sartres vor dem Hintergrund der geradezu fanatischen Ablehnung des Franzosen durch rechtskonservative Ideologen zu bewerten. So schrieb der Schmitt-Adept Barion an seinen Freund Hillard-Steinbömer: »Ich habe nichts von ihm gesehen, werde auch nichts von ihm lesen und begnüge mich mit Ihren stellvertretenden Erkenntnissen, die sicherlich richtig sind. Ich persönlich halte im übrigen den ganzen Existenzialismus für einen ziemlichen Schwindel und glaube, daß die Heideggersche Analyse des Nichts und Gewor126 Ernst Robert Curtius, Ortega, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 417-430, Zitate S. 417; vgl. auch peinliche Elogen von Carl J. Burckhardt, Begegnung mit Ortega, in: Merkur, Jg. 8, 1954, S. 1101-1109. 127 Schildt, Zeiten, S. 328. 128 Vgl. Aschmann, Kult. 129 S. Kapitel II.4.2. 130 Vgl. Axel Schildt, Ideenimporte als Teil einer transnationalen Intellectual History – Der Fall der Bundesrepublik, in: ders., Von Draußen, S. 9-27. 131 Jean-Paul Sartre, Die schmutzigen Hände, in: Merkur, Jg. 2, 1948, S. 528-553; Hanna Klessinger hat den Umgang mit Sartre an diesem Beispiel in einem Vortrag im DLA Marbach im November 2016 detailliert analysiert.
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fenseins inzwischen schon längst durch allzu breites Auswalzen um ihre Bedeutung gebracht worden ist.«132 Im Fall Sartres verband sich die Abneigung mit der Feindschaft gegen den Rowohlt Verlag, der ihn so erfolgreich als Zeugen seiner gegen den westlichen Liberalismus gerichteten Verlagspolitik nutzte, als Multifunktionswaffe im Bereich des gesellschaftskritischen Essays wie als Romancier und Dramatiker, die sich auch kaufmännisch lohnte.133 Große deutsche Namen des Feuilletons, die in den 1950er Jahren ihre Bewunderung für Sartre zum Ausdruck gebracht hätten, gab es dagegen nicht. Er blieb der Geheimtipp jüngerer Akademiker und selbst als Außenseiter am Rande des Betriebs stehender Intellektueller, etwa des jüdischen Schriftstellers Jean Améry.134 Hinzu kam die Nähe Sartres zur kommunistischen Partei Frankreichs. Erst seine Distanzierung von der PCF 1956 beseitigte diese Barriere.135 Für die konservativen deutschen Intellektuellen gab es nur eine noch größere Provokation als Sartre: seine Lebenspartnerin Simone de Beauvoir, die 1949 bei Gallimard den 750 Seiten starken Klassiker der modernen weiblichen Emanzipationsliteratur publizierte, der 1950 in deutscher Übersetzung bei Rowohlt erschien und in Hunderttausenden von Exemplaren immer wieder neue Auflagen erlebte.136 So ätzte Friedrich Sieburg über die »stürmische und manchmal blinde Aggressivität der Schrift«, die eine »bewußte und straff organisierte männliche Verschwörung« insinuiere und damit an die »Weisen von Zion« erinnere. »Gelehrte Pedanterie« sei mit »sexueller Kraßheit einen Bund eingegangen, der seit jeher einen leicht komischen Beigeschmack hat«.137 So differenziert man auch antimoderne und zeitgemäßere Versionen konservativen Denkens unterscheiden mag, die Ansprüche weiblicher Emanzipation bildeten einen Fixpunkt der Abwehr gegen die Zumutungen der Moderne. Als Hauptkampfarena der intellektuellen Auseinandersetzungen um die Orientierung in der Gegenwart und das Gesellschaftsbild der Zukunft diente im Jubilä-
132 Hans Barion an Gustav Hillard-Steinbömer, 7.11.1949, in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. 133 Vgl. etwa die Subskriptions-Einladung für Erzählungen von Sartre 1950, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 25. 134 Irene Heidelberger-Leonard, Jean Améry. Revolte in der Resignation, Stuttgart 2004, S. 159 ff. 135 Vgl. Alfred Schmit, in: Diskus, Jg. 6, Nr. 10, Dezember 1956, dok. in: Wolfgang Kraushaar (Hrgs.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Bd. 2: Dokumente, Hamburg (Ausgabe aller drei Bände als CD-Rom) 2003, S. 92. 136 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1950 (Le deuxième sexe, Paris 1949). 137 Friedrich Sieburg, Mann und Frau, in: Die Gegenwart, 1.4.1952; abgedruckt in: ders., Zur Literatur, S. 306-308.
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umsjahr 1949 die pathetische Anrufung Goethes.138 Erich Kästner setzte den Rummel um den Weimarer Dichterfürsten satirisch ins Bild: »Endlich ertönt der Startschuß! Die Federn sausen übers Papier. Die Rotationsmaschinen gehen in die erste Kurve. Die Mikrophone beginnen zu glühen. Ein noch gut erhaltener Festredner bricht plötzlich zusammen. Das Rennen hat begonnen: das Goethe-Derby über die klassische 200-Jahr-Strecke.«139 In der südwestdeutschen und schweizerischen Presse tobte eine heftige Fehde zwischen Ernst Robert Curtius und Karl Jaspers. Dieser hatte 1947 den Goethepreis der Stadt Frankfurt entgegengenommen und danach in verschiedenen Vorträgen und Artikeln140 Goethes Grenzen thematisiert, etwa im Blick auf dessen naturwissenschaftliche Expertise. Das passte nicht zum weihevollen Kult um den Weimarer Klassiker. Curtius fühlte sich sogar persönlich angegriffen, hatte er doch ein Jahr zuvor im Merkur einen zwanzigseitigen Aufsatz über Goethe veröffentlicht, in dem er gerade die Naturlehre des Klassikers als Schlüssel zu dessen Literaturtheorie hervorhob. Die »Vorherrschaft des Lichtes über das Trübe« in Goethes Werk sei gar nicht anders zu erklären. In der Vorausschau auf das Goethe-Jahr hatte er geschrieben: »Vielleicht wird es ein kritisches Jahr sein. Täuschen wir uns nicht darüber, daß Europa – dieses abbröckelnde Gebilde – sich in einem Stadium der Goetheferne befindet.«141 Jaspers’ Goethekritik schien Curtius eine Bestätigung seiner Prognose zu sein. Er nutzte die Gelegenheit zu einem Frontalangriff in der Rhein-Neckar-Zeitung.142 Curtius erklärte unumwunden, dass es ihm nicht um Fragen der Goethe-Philologie gehe. Vielmehr warf er Jaspers generell vor, er stelle sich gegen den großen Klassiker; außerdem vertrete er die Kollektivschuldthese und rede von einer »christlich-jüdischen Mischreligion«. Sieben Professoren der Heidelberger Universität, darunter Alfred Weber und Gustav Radbruch, solidarisierten sich daraufhin in
138 Vgl. Bettina Meier, Goethe in Trümmern. Zur Rezeption eines Klassikers in der Nachkriegszeit, Wiesbaden 1989, S. 86 ff. 139 Zit. nach Waltraud Wende, Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration – oder: Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära, in: Bollenbeck/Kaiser, Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 17-29, hier S. 25. 140 Vgl. Karl Jaspers, Unsere Zukunft und Goethe, in: Die Wandlung, Jg. 2, 1947, S. 559-578. 141 Ernst Robert Curtius, Goethe als Kritiker, in: Merkur, Jg. 2, 1948, S. 333-355, Zitate S. 338, 355. 142 Ernst Robert Curtius, Goethe oder Jaspers?, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 7.5.1949, dok. in Jaspers, Korrespondenzen, S. 498-502; in dieser Edition alle weiteren Artikel und Briefwechsel von Jaspers mit Radbruch, Sternberger, Hans Heinrich Schaeder u. a. in dieser Sache; vgl. Hans Saner, Existenzielle Aneignung und historisches Verstehen. Zur Debatte Jaspers-Curtius um die Goethe-Rezeption, in: Bernd Weidmann (Hrsg.), Existenz in Kommunikation. Zur philosophischen Ethik von Karl Jaspers, Würzburg 2004, S. 151166.
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der örtlichen Tageszeitung mit Jaspers, ein ungewöhnlicher Vorgang.143 Curtius wiederum reagierte spöttisch, weil es nur sieben wären, die sich auf die Seite des Kritisierten gestellt hatten.144 Deutlich wurde an diesem Beispiel, dass der Goethekult wenig mit der Weimarer Klassik zu tun hatte, umso mehr aber mit den politischen Positionen der Gegenwart. Goethe fungierte als Projektionsfläche für streitbare Geister. Die Vereinnahmung des Dichterfürsten war zumindest indirekt häufig zugleich eine Stellungnahme zu Thomas Mann, dem großen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der sich sowohl im Westen, in Frankfurt, wo Adolf Grimme die Gedenkrede in der Paulskirche hielt,145 wie im Osten, in Weimar, feiern ließ.146 Er hatte lange gezögert, diese Reise anzutreten, und betont, er besuche nicht einzelne Besatzungszonen, sondern Deutschland. In der westdeutschen Öffentlichkeit wurde er für seinen Auftritt in Weimar mit publizistischen Hassorgien bedacht, während die Medien der SBZ ihn propagandistisch ausschlachteten.147 Goethe bot in seinem Jubiläumsjahr, dem Jahr der Gründung der beiden deutschen Staaten, einen symbolischen Streitpunkt zwischen Tradition und Moderne ebenso wie zwischen Ost und West im Kalten Krieg.148 Um 1950 begann die öffentliche Karriere des Begriffs »Restauration«, der wiederum mehr umschloss als die westdeutsche Entwicklung.149 Besonders häufig zitiert wurde ein Aufsatz von Walter Dirks in den Frankfurter Heften, »Der restaurative Charakter der Epoche«: Der Autor meinte damit zum einen konkret das Ende aller Hoffnungen auf eine neue Synthese von Christentum, Demokratie und Sozialismus in einer föderalen europäischen Ordnung, zum anderen aber allgemein, dass es nicht gelungen sei, nach dem Zusammenbruch der alten eine bessere, neue Welt zu erschaffen. Die Angst vor dem Unbekannten, die Sehnsucht nach Sicher143 In: Rhein-Neckar-Zeitung, 10.5.1949. 144 Ernst Robert Curtius, Darf man Jaspers angreifen?, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 17.5.1949; Jaspers lehnte es ab, sich öffentlich dazu zu äußern, schrieb aber eine vertraulich Radbruch zugesandte Notiz zu den Vorwürfen; Jaspers, Korrespondenzen, S. 470 f. 145 Adolf Grimme, Goethe heute. Gedenkrede in der Paulskirche zu Frankfurt am 28. August 1949, Sonderdruck in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38; abgedruckt auch in Adolf Grimme, Die Sendung der Sendungen des Rundfunks, Frankfurt a. M. 1955, S. 123-142. 146 Vgl. Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, Frankfurt a. M. 1965, S. 134138; Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek 1995, S. 1730 ff.; Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999; Manfred Görtemaker, Thomas Mann und die Politik, Frankfurt a. M. 2005; Forner, German Intellectuals, S. 138 ff. 147 Kurzke, Thomas Mann, S. 541 ff. mit Beispielen für beide Seiten. 148 Vier Jahre später wurde Thomas Mann in Hamburg umjubelt, während seine Vaterstadt Lübeck zunächst kein Interesse an seinem Besuch gezeigt hatte; vgl. Rainer Nicolaysen, Auf schmalem Grat. Thomas Manns Hamburg-Besuch im Juni 1953, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 101, 2015, S. 115-162, hier S. 149 f. 149 Vgl. Helmuth Kiesel, Die Restauration des Restaurationsbegriffs im Intellektuellendiskurs der frühen Bundesrepublik, in: Carsten Dutt (Hrsg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 173-193.
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heit und die geistige Bequemlichkeit hätten gesiegt.150 Die Publizistik der Frankfurter Hefte, die auch auf andere Medien ausstrahlte, versuchte in den frühen 1950er Jahren immer wieder exemplarisch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Symptome dieser »Restauration« nachzuweisen.151 Als analytischer Begriff taugte die »Restauration« nicht, denn das Reden davon blieb vage sowohl in zeitlicher Hinsicht, ob also die 1920er oder 1930er Jahre gemeint waren, als auch bei der Bestimmung der Ebenen. Handelte es sich um eine »Restauration« der kapitalistischen Wirtschaftsweise, politischer Konzeptionen oder kultureller Sichtweisen? Aber das ändert nichts daran, dass die »Restauration« um 1950 in aller Munde war. Und das lag eben nicht primär am Scheitern einer erhofften neuen Sozialund Wirtschaftsordnung, sondern daran, dass »Restauration« als »realitätsgesättigter Enttäuschungsbegriff«152 lagerübergreifend einleuchtete. Enttäuscht waren nicht nur linke Katholiken und unabhängige Sozialisten, sondern ebenso rechtskatholische Abendland-Ideologen, die ihre Hoffnungen auf eine »Rechristianisierung« der westlichen Gesellschaften begraben mussten, und ganz allgemein alle Intellektuellen, die von einer ganz neuen Rolle ihrer Profession geträumt hatten. Im Unterschied zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als der Geist erwachte, sei die Zeit nach 1945 als »abendländische Erschöpfung« zu charakterisieren und ähnele der Metternich-Ära 1818-1848. Mit dieser Argumentation begründete Hans Zehrer im evangelischen Sonntagsblatt die Angemessenheit des Begriffs der »Restauration« und fügte warnend hinzu, die Weltlage lasse diesmal nicht die Zeit für dreißig Jahre Restauration.153 Solche Illusionen wurden durch die offenkundige Rückkehr zur »Normalität« im Verhältnis von Politik und Ideologie, von Macht und Geist zunichte gemacht. Als Zäsur galt die Währungsreform, die mit der Erfahrung des freien Falls der Auflagen für politisch-kulturelle Zeitschriften und anspruchsvolle Tageszeitungen einherging. Karl Korn interpretierte diesen »Restaurationskrampf«,154 in dessen Folge die Läden wieder eine unglaubliche Warenfülle präsentierten, als ökonomisch induzierte Vertreibung des Geistes: »All unser Raten und Prophezeien über ein gewisses vorhandenes Minimum echter geistiger Bedürfnisse ist ja doch an der Währungsreform ziemlich zuschanden geworden. Die Leute, die Geld haben, pfeifen meist auf den Geist oder haben einfach keine Zeit und Konzentrationsfähigkeit mehr – und die andern sind und bleiben arme Schlucker und wollen Freiexemplare.«155
150 Walter Dirks, Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, S. 942-954. 151 Vgl. Stankowski, Linkskatholizismus, S. 124 ff. 152 Bollenbeck, Restaurationsdiskurse, S. 25 ff., hier S. 30 f. 153 Hans Zehrer, Leben wir in der Restauration?, in: Sonntagsblatt, Jg. 6, Nr. 24, 14.6.1953. 154 Karl Korn an Ernst Niekisch, 11.9.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 155 Karl Korn an Hans Paeschke, 4.1.1949, in: DLA, D: Merkur.
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Dass die nachkriegsbedingte Gründungskonjunktur politisch-kultureller Publizistik durch die Währungsreform einen schweren Einbruch hinzunehmen hatte, bedeutete zwar nicht unbedingt einen allgemeinen Rückgang kultureller Aktivitäten und geistiger Interessen, wurde aber allgemein so empfunden.156 Nur wenige Publizisten rieten zur Gelassenheit, wie etwa Hans Schwab-Felisch, der bereits Ende 1949 in der Neuen Zeitung gegen »denkfaule Intellektuelle« polemisierte, die sich nicht den neuen Verhältnissen anpassen wollten. In der Tageszeitung Die Welt schrieb er in einer Bilanz der Literatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts: »Es ist in der letzten Zeit in Mode gekommen, von einer gewissen ›Literaturfeindlichkeit‹, gar ›Kulturfeindlichkeit‹ der Ära Adenauer zu sprechen. (…) Wenn die deutsche Kultur nach 1945 nicht jene Gipfel erreicht hat, die sie – nach dem Urteil der Auguren – hätte erreichen müssen, so muß das nicht unbedingt die Schuld der Regierung sein. Die Ursachen können tiefer liegen.«157 Gerade die in den Medien besonders privilegiert platzierten Intellektuellen gefielen sich in radikalen Verallgemeinerungen. Alfred Andersch schrieb an seinen Vorgesetzten beim NWDR: »ich finde das meiste, was heute in deutschland geschieht, grauenhaft. und ich leide keineswegs an verfolgungswahn – verglichen mit böll, arno schmidt, henze und anderen meiner freunde, mit denen ich mich über diese fragen im gespräch befinde, bin ich eher noch optimist.«158 Andersch’ Antipode auf konservativer Seite, der glänzende Stilist Friedrich Sieburg, hätte diesen Befund vermutlich unterschrieben. Gleichwohl trugen die beiden eine erbitterte Fehde aus, weil Sieburg eben vornehmlich die »konformistischen« Schriftsteller der Gruppe 47, »kriechende Leute«, die »literarischen Unfug« produzierten, weil ihnen die ästhetischen Mittel nicht zu Gebote stünden, für das grauenvolle Niveau des geistigen Lebens in der Bundesrepublik ursächlich verantwortlich machte.159 Andersch, von Hans Werner Richter um eine Replik auf Sieburg gebeten, lieferte in der Literatur eine herzhafte Polemik ab.160 Friedrich Sieburg, dessen von den Alliierten verhängtes Schreibverbot 1948 aufgehoben worden war, hatte nicht nur den publizistischen Wiedereinstieg als Re156 Zu den Einstellungen der Bevölkerung in den frühen 1950er Jahren vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 130 ff. 157 Hans Schwab-Felisch, »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«. Deutsche Literatur und Kunst in der Ära Adenauer – Ein Bericht (I), in: Die Welt, 18.1.1954. 158 Alfred Andersch an Ernst Schnabel, 3.2.1954, in: DLA, A: Ernst Schnabel; die konsequente Kleinschreibung als Ausweis des Nonkonformismus, der sich auch Hans Magnus Enzensberger befleißigte, legte Andersch bald wieder ab. 159 Friedrich Sieburg, Kriechende Literatur, in: Die Zeit, 14.8.1952; ders., Literarischer Unfug, in: Die Gegenwart, Jg. 7, 1952, H. 19 vom 13.9.1952; S. 594-597; vgl. Reinhardt, Alfred Andersch, S. 203. 160 S. Kapitel II.4.3.
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dakteur der Gegenwart – 1956 wechselte er als Leiter des Literaturblatts zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung – geschafft, sondern galt im Wiederaufbaujahrzehnt als führende Stimme des konservativen Feuilletons. Als feinsinniger Beobachter der westdeutschen Gesellschaft und ihrer Literatur traf er unnachahmlich den Ton, der seine elitäre und massenphobische Position der Zwischenkriegszeit aufgriff, diese aber den neuen politischen Rahmenbedingungen anpasste.161 Sein ironisches Lob der Langeweile der neuen Zivilität, das er von Anfang an kultivierte, war von unterschiedlicher Warte aus zu goutieren: »Endlich gab es wieder normale Nachrichten, gekenterte Boote auf dem Bodensee, zwei Typhusfälle in Württemberg, ein kleineres Eisenbahnunglück bei Hannover und die Entlarvung eines Heilgehilfen, der den Doktor gespielt hatte.«162 Sieburg wartete mit einem geistreichen Kulturpessimismus auf, der häufig eine sanft ironische Brechung enthielt, wenn er etwa diagnostizierte, die verbreitete »Weltuntergangsstimmung« werde durch »scharfsinnige Analysen ins allgemeine Bewußtsein« gehoben und gleichzeitig genossen; die »Geschwätzigkeit der westlichen Welt« sorge dafür, dass »jede Untergangsmöglichkeit gehörig ausgemalt wird. (…) Ein wesentlicher Reiz unserer Zivilisation besteht in der Reichhaltigkeit der Palette, mit der wir die Menschheit malen, wie sie dem Grabe zuwankt. (…) Niemand soll uns um unsere Krise bringen, wir haben ein Recht auf sie. Ohne Krise macht das ganze Leben kein Vergnügen.«163 Mit diesem amüsanten Bild einer Inklusion der existenziellen Krise in die Unterhaltungsbranche wollte Sieburg allerdings nicht nur den kulturpessimistischen Alarmismus der frühen 1950er Jahre glossieren, sondern, dem konservativen Main161 Vgl. Wolfram Knäbich, Solitär wider Willen. Wandlungen der Kulturkritik bei Friedrich Sieburg nach 1945, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 147-166. 162 Friedrich Sieburg, Nur für Leser. Jahre und Bücher, Stuttgart 1955, S. 37; die Bandbreite der Wertungen reicht von der Verehrung für den vielleicht besten »historischen Belletrist(en) unserer Zeit in deutscher Sprache« (Willy Haas, Ein Literat mit großen Möglichkeiten. Friedrich Sieburg wird heute 70 Jahre alt, in: Die Welt, 18.5.1963) über die Ansicht, Sieburg sei in Wirklichkeit liberal gewesen (Klaus Harpprecht, Vom Pathos der Anpassung. Über Friedrich Sieburg, in: Frankfurter Rundschau, 19.9.1963) bis zur Beweihräucherung eines großen Konservativen (Joachim C. Fest, Friedrich Sieburg. Ein Porträt ohne Anlaß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.7.1980; Hans Georg von Studnitz, Menschen aus meiner Welt, Frankfurt a. M. 1985, S. 70 ff.) sowie eines massenverachtenden elitären Großschriftstellers (Armin Mohler, Tabu-Verletzer Friedrich Sieburg, in: Christ und Welt, 14.12.1962; Karl August Horst, Innerer Dialog. Friedrich Sieburg wäre achtzig geworden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5.1973). Und nicht zu vergessen die äußerst kritische biographische Skizze von Martin Beltz, »Ein behauster Herrenreiter«. Der Schriftsteller Friedrich Sieburg wäre heute einhundert Jahre alt geworden, in: Frankfurter Rundschau, 18.5.1993. 163 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Hamburg 1954, S. 53, 55, 55 f.
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stream folgend, auf den nur dünnen Firnis aufmerksam machen, der die Gefährdung der Gesellschaft angesichts des Kalten Krieges überdeckte: »So bieten wir in der Bundesrepublik das Bild eines Volksteils, der nur an seine Motorräder, Rundfunkgeräte, Ferienreisen und Eigenheime denkt und gegen die europäische Ungewißheit mit allen Mitteln abzukapseln versucht. Auf diese Weise kommt das Paradox zustande, daß am gefährdetsten Punkte der Welt die unbekümmertsten Menschen zu hausen scheinen …«164 Der Reiz der Lektüre von Sieburgs Essays bestand nicht zuletzt in der Doppelbödigkeit solcher Passagen mit Anklängen von Melancholie, in denen sich der elitäre Gesellschaftskritiker der frühen Bundesrepublik erging. Er vermisste den feinen Stil und stilisierte sich selbst als stigmatisierter Außenseiter.165 Was er nicht nur der Gruppe 47, sondern den Schriftstellern seiner Zeit generell vorwarf, war ihre Neigung zur Aufgabe von Individualität, zum Zusammenschluss, zur Vereinsmeierei, eben weil der »radikale Künstler« keine »gesellschaftliche Entsprechung« mehr finde, nachdem die politischen Koordinaten »links« und »rechts« sich als »altmodische, fast gemütliche Vokabeln« erwiesen hätten. »Es gibt keinen radikalen Schriftsteller, es gibt den braven, ordentlichen, konformistischen, verbandsfrohen und massenseligen Schriftsteller, dessen künstlerische Mittel oft wertvoll, aber so gut wie niemals originell sind. Seine Kunst ist platt wie die Bundesebene, auf die sie gehört.«166 Schriftsteller hätten keine Größe mehr, sondern erreichten lediglich eine auf die Masse ausgerichtete »Prominenz«, wie Sieburg in unnachahmlicher Polemik ausführte: »Da die Masse alles glaubt, braucht sie nichts mehr zu glauben. Sie nimmt stumm und ohne Regung hin, was man ihr als wichtig oder aktuell anpreist, und hütet sich wohl, eine eigene Meinung zu haben. Nicht einmal Dummheiten gibt sie noch von sich. Für sie gilt nur noch ein Maßstab, die Prominenz. Wer zur Prominenz gehört, an dem ist etwas daran. Die Prominenz ersetzt die Größenordnung und läßt kein Urteil mehr zu. Vorbild, Leistung, Größe und Unantastbarkeit, das alles wird durch die Vorstellung von der Prominenz ersetzt, über deren Zustandekommen man sich keine Gedanken zu machen braucht. An der Prominenz zweifeln, heißt in unserer Zeit am Bau der Welt zu rütteln. (…) Die Masse dessen, was geschrieben wird, paßt ausgezeichnet zu dem gedankenlos 164 Ebd., S. 66. 165 Vgl. Eberhard Straub, Unbewältigtes Leben, unverstandenes Glück. Eine Gesellschaft emsiger Endverbraucher: Die junge Bundesrepublik im Blick Friedrich Sieburgs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.5.1993; Hubert Spiegel, Ein Zeitalter wird verachtet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.7.2010. 166 Friedrich Sieburg, Arme deutsche Literatur, in: Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, Nr. 31, 17.4.1954.
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organisationsfreudigen Lebensstil in der Bundesrepublik und entspricht genau dem, was man der CDU, der SPD, dem Einzelhandelsverband, den Hörerorganisationen oder sonstigen Gruppen und Verbänden bieten kann.«167 Sieburgs Animosität gegen den hohlen Kulturbetrieb machte ihn keineswegs zum Außenseiter, weil eben genau diese elegante Kritik vom konservativ gestimmten Bildungsbürgertum begeistert goutiert wurde. Sieburg war in der publizistischen Szene hervorragend vernetzt. Das Urteil seines Kollegen Max von Brück, der ihn seit der Zwischenkriegszeit kannte, lautete: »Er ist eitel und lässt keine Gelegenheit aus, für sich mittelbar die Trommel zu rühren.«168 Seine in apodiktischem Ton vorgetragene Übertreibung »Ich hasse die moderne Literatur seit Rilke«169 zeugt von einer virtuosen Strategie der Aufmerksamkeitserregung. Mit seiner realen Rezensionstätigkeit hatte sie weniger zu tun. Hier orientierte sich Sieburg an den dominanten Mustern seiner Zeit: Der große Dichter des 19. Jahrhunderts, Heinrich Heine, galt vielen Konservativen als verdächtig schon durch seine Begegnung mit Karl Marx und die Verehrung, die er in der DDR erfuhr, wo 1956 die erste Gesamtausgabe erschien; bestenfalls als romantischer Lyriker wurde er beiläufig erwähnt. Auch Sieburg hielt nichts von Heine. Unter den Zeitgenossen galt ihm Gottfried Benn als das Maß aller Dinge, Lob erfuhr der seinerseits hervorragend vernetzte Hans Egon Holthusen, Heinrich Böll wurde eher verhalten, aber nicht ohne Respekt beurteilt,170 der Publizist Erich Kuby als »zungenfertiger Conférencier« abgetan.171 Beinahe freundschaftliche Beziehungen unterhielt Sieburg zu dem jungen Schriftsteller und Publizisten Rudolf Krämer-Badoni, den er einlud, alle vierzehn Tage eine Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu schreiben,172 und zu dem alerten Berliner Rundfunkpublizisten Thilo Koch.173 Immer wieder polemisierte Sieburg gegen die Behauptung, »die Jugend unseres Landes komme nicht zum Sprechen und werde von der Rampe des geistigen Lebens mit List oder Gewalt ferngehalten«. Texte, die einem etwas zu sagen hätten, würden sofort gedruckt wer-
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Ebd. Max von Brück an Joseph E. Drexel, 24.10.1954, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 32. Friedrich Sieburg, Rilke, das Zeitsymptom, in: ders., Lust, S. 337. Sieburg, Leser, S. 104-106, 292-294, 318 f. Sieburg, Zur Literatur, S. 14. Friedrich Sieburg an Rudolf Krämer-Badoni, 10.4.1958, 30.6.1958, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 173 Friedrich Sieburg an Thilo Koch, 9.6.1953, 10.7.1962, 2.12.1962, in: ebd.; Koch wiederum war mit Krämer-Badoni zunächst eng befreundet, und man wusste sich einig in der Abneigung gegen die Gruppe 47; Koch öffnete ihm auch den Zugang zum NWDR; vgl. Scheffler, Schriftsteller, S. 214 f.; allerdings sandte Koch dem befreundeten Kollegen 1950 eine gnadenlose Kritik von dessen Roman »Der arme Reinhold«, dem er als positives Beispiel Gerd Gaiser entgegenhielt (MS, 1.12.1950, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 140), so dass Krämer-Badoni alle in Umlauf befindlichen Exemplare zurückzog (Rudolf Krämer-Badoni an Thilo Koch, 11.12.1950, in: ebd.). Zurück blieb eine gewisse Reserviertheit zwischen den beiden jungen konservativen Publizisten.
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den.174 Und schließlich meinte er im Rückblick auf die 1950er Jahre, die ersten großen Romane von Günter Grass und Martin Walser waren bereits veröffentlicht worden: »Ein Land kann sehr gut einmal ein Jahrzehnt ohne Meisterwerke existieren; aber sein Leben ist bedroht, wenn das geistige Mitleben unterbrochen ist. Wird das heutige Deutschland genannt, so klingt kein literarischer Wert mit.«175 Fritz J. Raddatz attestierte ihm »eine frappante Unkenntnis jeglicher Literaturtheorie – damit das wohl singuläre Nichtteilnehmen in den großen geistesgeschichtlichen Debatten der Zeit, Adorno, Lukács oder Horkheimer existieren nicht«.176 Aber deren Kenntnis gehörte nicht zur Voraussetzung, um in den 1950er Jahren als maßgeblicher Literaturkritiker anerkannt zu werden. Nur wenigen Intellektuellen der Bundesrepublik war es vergönnt, auf dem Cover des Spiegels abgebildet zu werden und eine sechsseitige Titelstory zu erhalten, die nicht einen kritischen Halbsatz aufwies. Das war freilich kein Zufall, Sieburg hatte dafür eifrig antichambriert. Im Oktober 1952 hatte er dem »lieben Herrn« Augstein mit »herzlichen Grüßen« geschrieben, er würde sich freuen, wenn das Nachrichtenmagazin »einmal seine Literaturspalten mir widmen würde. Ich könnte mir denken, dass man mit guten ›Spiegel‹Reportern etwas ganz Amüsantes über mich machen könnte.«177 Im Juni des folgenden Jahres erinnerte er noch einmal daran, und kurz darauf, Augstein hatte angebissen, fügte er hinzu: »Was die Story über mich angeht, so kann ich mir schon denken, dass sie journalistisch nicht leicht zu bewältigen ist. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie mir das Unreine des Textes senden lassen, sodass ich es mit Zusätzen versehen kann, die vielleicht ganz unterhaltend sein können.«178 Sämtliche seiner Bücher seit den 1920er Jahren wurden in dem Nachrichtenmagazin vorgestellt und mit Angaben von Seitenzahl und Ladenpreis beworben. Im Kern bestätigte der SpiegelArtikel, ein biographisches Porträt, die von Sieburg selbst kolportierte Auffassung, dass der frankophile »homme des lettres«, so die Kennzeichnung, »im Gefolge des Verständigungsbotschafters Abetz« in Paris tätig gewesen sei, von den Franzosen viel Undankbarkeit erfahren habe, was wiederum Rückschlüsse auf die kulturelle Erosion des westlichen Nachbarlandes erlaube.179 An Armin Mohler hatte Sieburg geschrieben: »Die Franzosen sind, besonders im geistigen Bezirk, inzwischen so weit gekommen, daß man nur durch die plumpesten Schmeicheleien ihr Wohlgefallen er174 175 176 177 178 179
Friedrich Sieburg, Es scheint an der Zeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.1958. Ders., Es ist ja nur Literatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.5.1960. Raddatz, Vorwort, S. 13. Friedrich Sieburg an Rudolf Augstein, 8.10.1952, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. Friedrich Sieburg an Rudolf Augstein, 4.7.1953, in: ebd. Sieburg. Im Spiegel und am Fenster, in: Der Spiegel, 17.2.1954; zur Biographie von Sieburg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vgl. vor allem Tilman Krause, Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewußtsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert. Berlin 1993; Klaus Deinet, Friedrich Sieburg (1893-1964). Ein Leben zwischen Frankreich und Deutschland, Berlin 2014 (entgegen des Titels ebenfalls vornehmlich über die Zeit vor 1948).
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regen kann. Jede Art von Diskussion, die diese Hofmacherei nicht als gegeben hinnimmt, ist ganz aussichtslos.«180 Sieburg wurde von Rudolf Augstein über Jahre hinweg umworben. Das Angebot, er könne regelmäßig im Spiegel mit einer Kolumne zu Wort kommen, wurde von Sieburg mit großem Bedauern angesichts seiner Bindungen an die Frankfurter Allgemeine Zeitung abgelehnt.181 Nicht nur Augstein bemühte sich um Sieburg, auch Hans Zehrer versuchte ihn, bevor er zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wechselte, mit dem nostalgisch verklärten Vorschlag nach Hamburg zu locken, mit der alten Mannschaft der konservativen Revolutionäre erneut Geschichte zu schreiben: »Lieber Sieburg! Das war eben ein spontanes Gefühl. Als ich Sie am Fernsehschirm sah und plötzlich wieder an unsere vielen Gemeinsamkeiten erinnert wurde. Ich sagte mir: da sitzt dieser Sieburg irgendwo, hält Vorträge und schreibt Bücher und gerät in einer gefährlichen Weltstunde an den Rand, anstatt an vorderster Front zu wirken. Und ferner: Ich mache seit 2 1/2 Jahren nichts anderes, als unter Einsatz meiner Kraft und Aufgabe meiner Person ein team zu schaffen, einen Kreis, der wieder zu einer Potenz wird und der, da er ein Bündel ist, nicht so leicht zu brechen ist. Und er muß vollzählig und geschlossen sein, weil es stürmisch wird und wir jeden brauchen werden. Und da gehört doch eigentlich auch Sieburg mit hinein. So dachte ich und denke ich noch. (…) Es wäre wirklich nicht nur für mich und die ›Welt‹, sondern vielleicht auch für Sie, sicherlich aber für die Sache eine großartige Angelegenheit, wenn Sie, wie auch immer, hier mitmachen könnten. Fried, Sethe, Wirsing, Borch, Pentzlin – auch Willy Haas –, wir sind hier gewiß aus den verschiedenartigsten Lagern und sehr konträren Vergangenheiten zusammengekommen. Trotzdem geht es gut und das team hat sich immer stärker erwiesen als die sachliche Verschiedenheit. Und persönliche Gegensätze räume ich aus. Zwischen uns beiden sehe ich alle diese Schwierigkeiten in keiner Weise.«182 Wie das Beispiel Sieburgs zeigt, wurde die Schuld an den als trübselig charakterisierten Zuständen, vor allem an der vermeintlichen Wirkungslosigkeit publizistischer Interventionen, nicht zuletzt bei den Intellektuellen selbst gesucht. Der Leiter des Nachtprogramms beim Bayerischen Rundfunk, Gerhard Szczesny, wies darauf in einem Brief an Kurt Hiller hin: »Das Desinteressement des Deutschen an der Literatur ist kaum noch zu überbieten, hat aber, meine ich, seine triftigen Gründe im Verhalten unserer Literaten 180 Friedrich Sieburg an Armin Mohler, 11.10.1953, in: DLA, A: Armin Mohler; Friedrich Sieburg an Armin Mohler, 13.3.1958, in: DLA, A: Armin Mohler. 181 Friedrich Sieburg an Rudolf Augstein, 6.2.1954, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 182 Hans Zehrer an Friedrich Sieburg, 11.4.1956, in: DLA, A: Friedrich Sieburg; im Überschwang zählte Zehrer seinen früheren Mitstreiter in der Tat, Giselher Wirsing, Chefredakteur von Christ und Welt, zu seinem »team«, die angedeuteten Probleme bezogen sich auf Willy Haas, von dem Sieburg meinte, jener würde ihn hassen.
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selbst. Die Mehrzahl der deutschen Dichter und Denker schreiben ja – nicht erst seit heute – im Grunde nur für sich selbst. Nachdem sie nun die ökonomischen Konsequenzen dieser Haltung tragen sollen, ist das Geschrei gross.«183 Dies zielte primär auf eine »Haltung« des Nichtengagements, der Politikferne mit der traditionellen Pflege des Dualismus von Geist und Macht und einer fehlenden gesellschaftskritischen Botschaft. Karl Korn beklagte dies in einem Leitartikel auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Wenn die Kulturellen in ihren Winkeln hocken und die Verbindung zu den Menschen und zur Arbeit verlieren, werden sie steril und im politischen Felde zu Anarchisten, Nihilisten oder zu versponnenen Abseitigen.«184 In dieser Situation galt die Wiedervereinigung mit der DDR Walter Dirks, wie er im Bayerischen Rundfunk 1957 ausführte, als »eine zweite, vielleicht die letzte Chance (…) das restaurativ erstarrte Sozialgefüge der Bundesrepublik zugleich mit dem ebenso starren System des Staatssozialismus in Bewegung zu bringen«.185 Gleichwohl gab es Anfang der 1950er Jahre einige Ansprechpartner, die vom Reich des Geistes in das Reich der Macht wechselten. An erster Stelle ist der Bundespräsident Theodor Heuss zu nennen, der über Jahrzehnte als Publizist gearbeitet und sich mit einigen Büchern einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte.186 Er unterhielt vor allem zu konservativen und liberalen Intellektuellen aus dem Stuttgarter und Frankfurter Umfeld gute Beziehungen. Seine Hilfsbereitschaft für den Merkur in dessen Finanzkrise 1949/50 wurde erwähnt. Zum 70. Geburtstag erhielt er dort eine ausführliche Würdigung als hochkarätiger Intellektueller,187 und noch während seiner Amtszeit adelte er die Zeitschrift mit einem Grundriss der neueren deutschen Geschichte.188 Auch zu Redakteuren der Gegenwart und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hielt der Bundespräsident engen Kontakt. Eugen Gerstenmaier, ein wichtiger Repräsentant der nationalkonservativen Strömung innerhalb der CDU, betonte immer wieder seine intellektuellen Ansprüche und wollte mit Christ und Welt Wirksamkeit erzielen. Das Grundsatzreferat von Gerstenmaier auf dem 5. Bundesparteitag der CDU 1954 in Köln mit dem Titel »Die politische Weltlage und Deutschland« war au183 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 24.4.1950, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Bayerischer Rundfunk. 184 Karl Korn, Geist – abseits, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.1950. 185 Walter Dirks, Was ist des Deutschen Vaterland?, in: Gerhard Szczesny (Hrsg.), Der Zeitgenosse und sein Vaterland. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks, München 1957, S. 131-155, Zitat S. 143. 186 Vgl. Reiner Burger, Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte, Münster 1999; allgemein Joachim Radkau, Theodor Heuss. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München 2013. 187 Carl J. Burckhardt, Begegnungen mit Theodor Heuss, in: Merkur, Jg. 8, 1954, S. 101-103. 188 Theodor Heuss, Deutscher Geist und deutsche Geschichte, in: Merkur, Jg. 11, 1957, S. 505-519; Heuss hatte diesen Artikel zuerst für ein amerikanisches Publikum geschrieben und im Atlantic Monthly publiziert.
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genscheinlich von Klaus Mehnerts Gedankengängen inspiriert.189 Dadurch wurde auch Adenauer auf diesen aufmerksam. Zu seinem 50. Geburtstag empfing er 1956 ein Glückwunschtelegramm des Kanzlers.190 Dass Mehnert als Intellektueller mit weltpolitischer Expertise ganz oben angekommen war, zeigen zahllose Einladungen von Amerikahäusern, Bundeswehr-Truppenteilen, Fachverbänden und Universitäten in diesen Jahren, ein Renommee, das auch auf Christ und Welt positiv abfärbte. Mehnert verstand sich allerdings nicht als Fachberater, sondern als Coach von Gerstenmaier, den er zum Nachfolger von Adenauer aufbauen wollte: »Lieber Eugen (…) Ich habe noch mehr über das Zentralthema unserer Spaziergänge, das Grundsatzreferat des Chefideologen Gerstenmaier, nachgedacht.« Dieses Zentralthema sei das problematische Verhältnis vieler Intellektueller zum Staat: »Jedenfalls haben sich betraechtliche Teile der Intelligentsia zu Kritikern am Bonner Staat geschlagen. Zum Teil war es ein Gang von ›rechts‹ nach ›links‹, der bisweilen sogar an Hand der Parteibuecher nachzuweisen ist, zum Teil ist wiederum das ›Nationale‹ zum Kriterium des inneren Widerstrebens gegen den neuen Staat geworden.«191 Zwei Jahre später kam Mehnert noch einmal eindringlich auf das schwierige Verhältnis der Intellektuellen zur Kanzlerpartei zurück. Nach einer abendlichen Gesprächsrunde beim Bundeskanzler schrieb er Gerstenmaier, er habe den Eindruck, Adenauer habe das Problem erkannt, aber keine Vorschläge, wie man ihm abhelfen könne. Er sei allerdings überzeugt, dass »der Linksdrall bei den Intellektuellen in Deutschland erst begonnen« habe, und schlage deshalb vor: »Ihr ladet hundert fuehrende geistige Koepfe der Bundesrepublik, darunter gerade Menschen des Typs, von dem hier die Rede ist (aber nicht ausschliesslich diesen Typ) nach Bonn ein, moeglichst in einem Rahmen, der sie beeindruckt; wenn es einen genuegend grossen Raum dort gibt, ins Palais Schaumburg. Der Bundeskanzler begruesst die Gaeste und fuehrt aus, dass dieses Zusammensein mit den Vertretern der deutschen Geistigkeit nicht der Politik, sondern dem Wechselspiel von Politik und Geist gewidmet sein soll. (…) Die blosse Tatsache, dass Ihr Euch um diese Menschen kuemmert, sie ernst nehmt und zu ihnen in ihrer Sprache sprecht, wird seinen Eindruck nicht verfehlen.«192 Bei aller Nähe zur Bonner Regierungspolitik widerstand Mehnert der Versuchung, sich parteipolitisch zu binden. Als Adenauer ihn im Beisein von Gerstenmaier dazu 189 MS (15 Bl.), in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 20. 190 Konrad Adenauer an Klaus Mehnert, 11.4.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 25; zuvor hatte sich Adenauer bei Gerstenmaier am 20.3.1956 für eine Analyse der Sowjetunion von Mehnert bedankt. 191 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 1.9.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 26. 192 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 31.3.1958, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 35.
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bewegen wollte, auf der Liste der CDU für den Bundestag 1957 zu kandidieren, schrieb er Gerstenmaier, nachdem er über seine erfolgreichen Auftritte vor jeweils Tausenden von Menschen, die in Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Göppingen und Bad Mergentheim eine DM Eintritt bezahlt hätten, um ihn zu hören, berichtet hatte: »Nach allem, was ich über die Psychologie unserer Landsleute weiss, nehme ich mit Sicherheit an, dass dieser Kontakt mit dem Publikum in dem Augenblick verschwinden wuerde, in dem man sich sagen wuerde: Der Mehnert sagt ja jetzt doch bloss noch, was die CDU haben will.«193 Offenbar waren auch viele Frauen besonders beeindruckt von seiner rednerischen Begabung. In der Einladung einer überparteilichen Karlsruher Frauengruppe an Mehnert wurde dem Ausdruck gegeben: »Gerade die Frauen, in der Übung politischer Urteilskraft noch hinter den seit längerer Zeit darin Bewanderten herhinkend, haben den starken Wunsch, die bisherige Politik und besonders die Aussenpolitik der eigenen Regierung von jemand, dem sie ein Urteil zutrauen, wertend und kritisch, ohne Zu- und Abneigung, dargestellt zu hören.«194 Bei den Sozialdemokraten gab es zwar eine ganze Reihe von Parteiintellektuellen in der Bundestagsfraktion und im Parteiapparat, aber als schöngeistiger und unabhängig denkender Intellektueller wurde in einer breiteren Öffentlichkeit vor allem Carlo Schmid wahrgenommen, dessen intime Kenntnis der klassischen französischen Literatur beim Bildungsbürgertum lagerübergreifend Respekt erzeugte. Sein Engagement für den Kongress für kulturelle Freiheit, das Netzwerk liberaler, sozialdemokratischer und linksunabhängiger Intellektueller, war allerdings von einigem Ungeschick begleitet.195 Schließlich ist auf Wilhelm Hausenstein hinzuweisen, der, ursprünglich eher linksliberal eingestellt und Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung, zunehmend antimodernistischen konservativen Bahnen folgte. Nach seiner Konversion zum Katholizismus 1940 bildete die konfessionelle Zugehörigkeit einen zentralen Punkt seines Koordinatensystems. So unterhielt er einen regen Briefwechsel mit seinem früheren Kollegen bei der Frankfurter Zeitung, Walter Dirks, dem er immer wieder nahelegte, sein »Lebensbuch« »Lux Perpetua« in den Frankfurter Heften besprechen zu lassen; er äußerte den Verdacht, dass der aus diesem Buch sprechende »konservative Geist« der Grund für die zurückhaltende Aufnahme sei. Zugleich beschwor er Dirks geradezu, die Schriften seines Freundes, des Schweizer Psychologen Max 193 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 29.1.1957, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 30; vgl. Mehnert, Ein Deutscher, S. 333. 194 Luise Riegger/Vorsitzende der Karlsruher Frauengruppe an Klaus Mehnert, 26.11.1956, in: HStA Stuttgart, Bü 26. 195 Petra Weber, Carlo Schmid. 1896-1979. Eine Biographie, München 1996; s. auch Kapitel II.3.
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Picard, in den Frankfurter Heften zu propagieren. Das war angesichts des geradezu fanatischen Antimodernismus von Picard eigentlich eine Zumutung, aber Dirks antwortete, dass das, was Hausenstein den »konservativen Geist« nenne, »unsere und meine entschiedene Zustimmung finde«.196 Enge Verbindungen hielt Hausenstein auch zu Otto B. Roegele vom Rheinischen Merkur,197 zu Dolf Sternberger, Friedrich Sieburg und Benno Reifenberg von der Gegenwart und zum Merkur. Als Hausenstein 1950 der für ihn überraschenden Bitte Adenauers folgte, als erster Gesandter der Bundesrepublik nach Paris zu gehen, erläuterte er Reifenberg198 ausführlich, dass ihm der Entschluss nicht leicht gefallen sei. In einem weiteren Brief berichtete er von Protesten des Künstlers Willi Baumeister, der in der Neuen Zeitung in einem Offenen Brief an Theodor Heuss Einspruch gegen seine Ernennung erhoben habe, weil damit die moderne Kunst beleidigt werde. Reifenberg und Max Picard reagierten unterstützend,199 weil sie offenbar ihre eigene Position durch die diplomatische Karriere von Hausenstein bestärkt sahen. Dass er aber schon nach fünf Jahren, nach eigenem Empfinden restlos gescheitert, seinen Posten aufgab, konnte nur als Bestätigung dafür gelten, dass Intellektuelle in der Politik nichts zu suchen hatten, auf welcher Seite auch immer. Öffentliche Wirksamkeit ließ sich für Intellektuelle in der Regel nur durch Verzicht auf direkte polische Stellungnahmen oder gar das Bekenntnis zu einer Partei erzielen. Politisches Engagement passte nicht zu den elitären geistigen Diskursen, die in den 1950er Jahren als einzig legitimes Feld für Intellektuelle galten. Eines der medial am meisten beachteten Foren ist bereits erwähnt worden: Die Darmstädter Gespräche fungierten als jährliche Leistungsschau derjenigen, die maßgeblich etwas zu sagen hatten. Die Zuhörer gewannen nicht zufällig den Eindruck, hier werde um die großen Fragen der Kultur gerungen. Die Themen folgten mit einer gewissen Logik dem Gang der Moderne-Diskussion seit der Zwischenkriegszeit, wobei die starke Stellung antimodernistischer Positionen am Anfang der 1950er Jahre nicht überrascht, gebrochen allerdings durch kritische Nachfragen vornehmlich vor naturwissenschaftlichem Hintergrund.200 Zuerst ging es um das Problem der Moderne allgemein, dann um das Problem der Technik, der Massen und schließlich um die Entfremdung in der modernen Welt, vor allem im Hinblick auf Konsumismus, Psychotechnik und mediale Überreizung. Diese Themen überlagerten sich in vielfältiger Weise, häufig wurden sie im Zusammenhang diskutiert. 196 Wilhelm Hausenstein an Walter Dirks, 12.7.1949; Walter Dirks an Wilhelm Hausenstein, 28.7.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38 A; vgl. die Briefe an Max Picard in: Wilhelm Hausenstein, Ausgewählte Briefe 1904-1957. Hrsg., eingel. und komm. von Hellmut H. Rennert, Oldenburg 1999, S. 240 f., 256, 274 f., 280 ff., 287 f. 197 Otto B. Roegele an Wilhelm Hausenstein, 2.11.1953, in: DLA, A: Wilhelm Hausenstein. 198 Wilhelm Hausenstein an Benno Reifenberg, 28.4.1950, 4.5.1950, in: DLA, A: Wilhelm Hausenstein. 199 Peter Matthias Reuss, Die Mission Hausenstein (1950-1955). Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Sinzheim 1995, S. 46 ff.; Lappenküper, Wilhelm Hausenstein. 200 Vgl. Schildt, Zeiten, S. 324 ff.
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Das erste Gespräch, gedacht als Aussprache über einige aktuell gezeigte Kunstausstellungen, kreiste um das »Menschenbild in unserer Zeit« und war bestimmt von einem heftigen Streit zwischen dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, Autor von »Der Verlust der Mitte«,201 des Bestsellers von 1948, und Willi Baumeister, der ein Jahr zuvor »Das Unbekannte in der Kunst« vorgelegt hatte.202 Sedlmayr skizzierte in seinem Vortrag »Die Gefahren der modernen Kunst« seine These, dass die Säkularisierung und Technisierung seit der Renaissance in der atheistischen Abstraktion der zeitgenössischen Bildenden Kunst kulminierten. Der Begriff der Kunst sei »in unglücklicher Weise ausgeweitet«, die »Vertauschung von Oben und unten« zum Programm erhoben worden. In der abstrakten Bildenden Kunst, in der Bauhausarchitektur und der atonalen Musik werde ein neues »Tausendjähriges Reich« eröffnet. In der Diskussion präzisierte Sedlmayr, damit falle die »große europäische Tradition des leiblichen Menschenbildes« der Zerstörung anheim.203 Das Referat von Baumeister präsentierte die Gegenposition, die »Verteidigung der modernen Kunst«, und richtete sich vor allem gegen die Behauptung, moderne Abstraktion sei gottlos. Der Protokollband weist beim Vortrag von Sedlmayr immer wieder »Widerspruch, Beifall«, »Bewegung, Trampeln«, aber auch »Pfui« und »Heil Hitler« aus. Der Kultursoziologe Alfred Weber widersprach der Behauptung einer »Enthumanisierung der modernen Kunst« ebenso deutlich wie Alexander Mitscherlich, der als Psychoanalytiker für sein Fach die Kategorien Oben und Unten als sinnlos bezeichnete. Auf die Seite von Sedlmayr stellte sich der katholische Philosoph Karl Holzamer, späterer Intendant des Zweiten Deutschen Fernsehens. Er beharrte auf der »einzigen Macht des endlichen Geistes, in der frei bewußten Hingabe an das Unendliche sich als Mensch zu gewinnen und zu bewahren«.204 In der Diskussion wurde deutlich, dass es nicht so sehr um ästhetische Fragen ging, sondern um weltanschauliche Bekenntnisse. Polemische Schärfe gewann die Debatte dann durch ein improvisiertes Referat von Willi Baumeister am folgenden Abend. Er hatte sich vorgenommen, nicht einfach über seine Existenz als moderner Künstler zu sprechen, sondern auf das von Sedlmayr Gehörte und auf eine Veröffentlichung von Wilhelm Hausenstein einzugehen. Baumeister stellte einleitend Parallelen zu den Angriffen auf die moderne Kunst von Seiten der Nationalsozialisten fest, bevor er merkte, dass sich weder Sedlmayr noch Hausenstein noch im Saal befanden. Daraufhin brach Baumeister seinen Vortrag ab. Im Protokollband fin201 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1948; das Buch ist als »militantes, doch zugleich leidenschaftlich-besorgtes Plädoyer gegen die moderne Kunst« bezeichnet worden, die als »Hauptschuldiger« für die Herausbildung einer »gottverlassenen Epoche« fungiere; Eduard Beaucamp, Der verlorene Gott und die Künste. Hans Sedlmayr: »Verlust der Mitte« (1948), in: Rühle, Bücher, 162-168, Zitate S. 162. 202 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947 (21960). 203 Hans Sedlmayr, Über die Gefahren der modernen Kunst, in: Evers, Menschenbild, S. 54, 59, 60, 107. 204 Zitate aus der Diskussion ebd., S. 69, 73, 86.
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det sich dann der Satz gegen die »Engros-Verurteilungen« moderner Kunst »durch Spengler, Rosenberg und Sedlmayr«; letzterer argumentiere nur »wattierter«.205 Die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Antimodernismus, für die Sedlmayr auch biographisch stand,206 wurde für lange Zeit bestimmend in Diskursen zur Kunst des 20. Jahrhunderts, war aber zu diesem Zeitpunkt noch kein etablierter mehrheitsfähiger Standpunkt. Trotz aller Anfechtungen, Sedlmayr blieb noch für einige Jahre oberste Autorität, seine gegenaufklärerische Formel vom »Verlust der Mitte« bündelte die tonangebende konservative Kulturkritik seiner Zeit und drückte zugleich deren religiöse Prägung aus.207 Der Eklat steigerte die Bekanntheit des Darmstädter Gesprächs und die Aufmerksamkeit der Medien. 1951 hieß das Rahmenthema »Mensch und Raum«, im Mittelpunkt standen Referate von Martin Heidegger, der mit den Stichworten »Bauen, Wohnen, Denken« einen Rahmen für die Entfaltung seiner existenzialphilosophischen Grundlinien erhielt, und von Ortega y Gasset, der dem »Mythus des Menschen hinter der Technik« nachspürte.208 Die exponierte Rolle von Heidegger209 und Ortega y Gasset entsprach dem düsteren »Zeitgeist«. Pessimistische Szenarien einer verselbständigten Herrschaft der Technik über den Menschen klangen angesichts des nicht weit zurückliegenden Krieges und der Tristesse der Nachkriegszeit plausibel. Technik wurde angesehen als »die eigentliche Form, in der und durch die das Dämonische die Zeit beherrscht«. Daraus folge das Paradox, dass die zunehmende Technisierung real den »Rückschritt zur Primitivität und Barbarei« bedeute.210 In ähnlicher Weise hatte Friedrich Georg Jünger vor jedweder Hoffnung auf den technischen Fortschritt gewarnt; dieser sei vielmehr »verbunden mit einer Vermehrung der Organisation, mit einem stets wachsenden Bürokratismus, der ein ungeheures Personal erfordert, ein Personal, das nichts hervorbringt, nichts erzeugt, und dessen Kopfzahl um so mehr wächst, je weniger an Erzeugtem und Hervorgebrachtem vorhanden ist«.211 Es lässt sich zwar kaum beurteilen, wie breit die Zustimmung zu solchen Auffassungen von Technik als Destruktivkraft um 1950 war, zumal sich deren Protagonis205 Willi Baumeister, Wie steht die »gegenstandslose« Kunst zum Menschenbild, in: Evers, Menschenbild, S. 147. 206 Sedlmayr war der NSDAP 1930 in Österreich und dann nach dem Anschluss 1938 noch einmal beigetreten. 207 Mitte der 1950er Jahre eröffnete Sedlmayr mit einem Band noch die Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« (s. Kapitel II.4.3.2) und der Merkur bot ihm ein Forum; Hans Sedlmayr, Die wahre und die falsche Gegenwart, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 430-448; danach war er kaum mehr gefragt. 208 Bartning, Mensch, S. 111-117. 209 Vgl. Kurig, Bildung, 387 ff. 210 Robert Dvorak, Technik, Macht und Tod, Hamburg 1948, S. 13, 17; vgl. mit zahlreichen weiteren zeitgeschichtlichen Beispielen Kurig, Bildung, S. 267 ff., 373 ff. 211 Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik, Frankfurt a. M. 21949 (1946), S. 15.
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ten gern als einsame Rufer gegen die modernen Zeitläufte inszenierten. So fügte der Schriftsteller Rudolf Hagelstange in einem Aufsatz für den Monat, nachdem er beklagt hatte, die Kunst sei durch den technischen Fortschritt »zu einem qualifizierten Haschisch unserer Tage verfälscht« worden, kokettierend hinzu: »Vielleicht klingt das schrecklich deutsch, konservativ oder pessimistisch.«212 Ein Indiz für die Breitenwirkung technikskeptischer Stimmungen war die Aufnahmebereitschaft der Gewerkschaftlichen Monatshefte für solche Positionen. Hier wurde beklagt, dass »der moderne Arbeitsmensch« zur »Verwechslung von materiell technischem Fortschritt und geistigem Fortschritt« und zur »Maßlosigkeit des Schaffens und Raffens, zu Unruhe und Hast, zur Mißachtung der Tradition« neige.213 Jedenfalls schien das Thema Technik, das schon das Darmstädter Gespräch 1951 dominiert hatte, so wichtig, dass man es auch im folgenden Jahr zum Rahmenthema machte. Der prominente katholische Philosoph Friedrich Dessauer, dessen Referat verlesen wurde, vertrat hier den katholischen, schöpfungsoptimistischen Part, am radikalsten wurde ihm von Wolfram Gestrich, einem protestantischen Kulturpessimisten aus der Entourage von Ernst und Friedrich Georg Jünger, widersprochen. Otto Krämer, Professor für Ingenieurwissenschaften in Karlsruhe, störte der Begriff »Dämon Technik«. Wie in der modernen Bildenden Kunst sah er »echte Frömmigkeit zutiefst in der Wissenschaft und Technik«;214 Hermann Schoszberger wiederum, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Architekten, rechnete in einem witzigen Beitrag mit dem »Kitsch der Moderne«, dem Hang zum »Stromlinienspiel« im Design ab und schloss mit der nicht ernst gemeinten Mitteilung, er habe den Entschluss gefasst, ein Theaterstück zu schreiben; »das sollte den jetzigen Zeitgeist, das sollte den jetzigen Stil wirklich ganz genau festhalten. Den Titel habe ich schon (…) ›Der Tanz um das verchromte Kalb oder die Diktatur des Glasermeisters‹«.215 Das vierte Darmstädter Gespräch »Individuum und Organisation«, das als weiterer Ausfluss der Technik-Debatte angesehen werden kann, eröffnete Theodor W. Adorno, der für Max Horkheimer eingesprungen war; das zweite Hauptreferat hielt Ortega y Gasset, der gerade seinen 70. Geburtstag begangen hatte216 und als Geistesfürst vom Oberbürgermeister Darmstadts als »Bote des Auslandes«, als »Vertreter der ausländischen Gesprächsteilnehmer und als einer der exzellentesten 212 Rudolf Hagelstange, Moderne Humanitas, in: Der Monat, Jg. 4, 1951, H. 38, S. 115-123, Zitate S. 117. 213 Theodor Pütz, Die Epoche des Arbeiters, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 7, 1956, S. 338-343, Zitat S. 342. 214 Schwippert, Mensch, S. 43, 46. 215 Ebd., S. 66; der Berichterstatter über die Tagung im Merkur ergriff eindeutig Partei für die Technikskeptiker; Wolfgang de Boer, Mensch und Technik. Gedanken zum dritten Darmstädter Gespräch (20.-22. September 1952), in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 83-87. 216 Ortega y Gasset. Zu seinem 70. Geburtstag, Stuttgart 1953; der schmale Band von 76 Seiten enthält zwei Würdigungen von spanischen Kollegen, eine Sammlung von Aphorismen Ortega y Gassets und eine knappe Bibliographie seiner Schriften.
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Repräsentanten des europäischen Geistes« begrüßt wurde. In der Diskussion sprachen Alexander Rüstow, Egon Vietta, Max Horkheimer, Alexander Mitscherlich und Robert Jungk. Und auch hier befand man sich in einem spannungsreichen Übergangsfeld zwischen tiefstem Kulturpessimismus und der Entfaltung moderner wissenschaftlicher Einsichten in die Gesellschaft, wobei das Wort von der »verwalteten Welt« über der Tagung lag. Adorno verstand es ausgezeichnet, in komprimierter Form die Sicht der Kritischen Theorie auf den »Werkzeugcharakter des Einzelnen für die Organisation und der Organisation für den Einzelnen« und die daraus entspringende »Entfremdung« und »Verdinglichung« zu umreißen. Nicht Organisation per se sei schlecht oder gut, sondern deren »objektiver Mangel an Vernunft und Durchsichtigkeit« und das »Mißverhältnis zwischen der Macht der Organisation und der des Einzelnen« sowie »zwischen der Gewalt dessen, was ist, und der Ohnmacht des Gedankens, der es zu durchdringen versucht«. Adorno knüpfte daran seine Hoffnung auf Widerstand außerhalb des verkrusteten Systems und brachte zugleich die Resignation angesichts der Macht des Systems zum Ausdruck: »Nur in den gleichsam rückständigen Bereichen des Lebens, die von der Organisation noch freigelassen sind, reift die Einsicht ins Negative der verwalteten Welt und damit die Idee einer menschenwürdigeren. Die Kulturindustrie besorgt das Geschäft, es dazu nicht kommen zu lassen, das Bewußtsein zu fesseln und zu verfinstern.«217 Der große Star Ortega y Gasset hatte nicht viel mehr einzuwenden bzw. zu ergänzen, als dass die Organisation für die Menschen lebensnotwendig sei. Ansonsten war es bemerkenswert, wie einvernehmlich Kritische Theorie und konservativer Kult der Individualität nebeneinander bestanden oder, anders ausgedrückt, wie gut sich die Kritische Theorie in die konservative Kulturkritik einfügen ließ.218 Der Gedanke nicht nur der Einschränkung, sondern der Veränderung der Menschen durch die Technik wurde zu einem Schwerpunkt der Kulturkritik der 1950er Jahre. Die herkömmliche Unterscheidung von technischer Zivilisation und geistiger Kultur wurde dabei immer häufiger durch einen neuen Akzent ergänzt: Das Gefährlichste am »Einbruch der Technik« sei die Psychotechnik, der »Einbruch der Technik in den Kern der menschlichen Persönlichkeit«, schrieb etwa der katholische Moraltheologe Werner Schöllgen.219 Und der in evangelischen Kreisen vielgelesene Psychiater Joachim Bodamer warnte in seiner »Phänomenologie der modernen Männlichkeit« davor, wer sich den »Instrumenten der technischen Zivilisation«, wie dem Film, Auto oder Radio, aussetze, werde durch deren »uniformen Gleichschaltungscharakter seelisch uniform«.220 In der Zeitschrift Universitas wurde prognostiziert: 217 218 219 220
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Neumark, Individuum, S. 9, S. 21, 23, 27, 33; vgl. Kurig, Bildung, S. 393 ff. S. Kapitel II.4.3. Werner Schöllgen, Aktuelle Moralprobleme, Düsseldorf 1955, S. 457. Joachim Bodamer, Der Mann von heute. Seine Gestalt und Psychologie, Stuttgart 1956, S. 21; vgl. ders., Der Weg zur Askese als Überwindung der technischen Welt, Hamburg 1955.
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»Wir werden uns wahrscheinlich noch mehr reglementieren lassen, werden noch weniger naturverbunden sein, mit künstlichem Licht und Klimaanlagen leben, mehr Konserven verzehren, unseren Geist in einem Maße entwickeln, das in keinem Verhältnis mehr zu unseren Fähigkeiten steht, und den Vater oder die Mutter unserer Kinder ganz jenen Idealen gemäß wählen, die sich aus einem solchen Leben ergeben.«221 Der Schriftsteller Frank Thiess schrieb in einem Sammelband des Herausgebers von Universitas, H. Walter Bähr: »Die Lebensgewohnheiten des modernen Menschen haben sich den durch die Technik geschaffenen Bequemlichkeiten angeglichen und einen wahren Glaubensfanatismus an das Künstliche, Synthetische, Erfundene und Erdachte erzeugt. Die Verkünstlichung unserer Existenz dürfte schwer zu überbieten sein …«222 Fluchtpunkt solcher Betrachtungen über den Verlust von Geborgenheit durch die moderne Welt war regelmäßig die »Massengesellschaft«, ein Dauerthema seit der Jahrhundertwende. »Masse« hatte Ortega y Gasset in seinem maßgeblichen Buch definiert als den »Durchschnittsmenschen«.223 Ein Publizist hatte dies in einem Taschenbuch bei Ullstein in das eingängige Bild des »Menschen von der Stange« übersetzt.224 Auf die Lage der Kirche bezogen wurde der Massendiskurs im rechtskonservativ-protestantischen Spektrum. Der Startheologe Helmut Thielicke – er schaffte es sogar auf das Titelbild des Spiegel 225 – band den »Begriff Masse« an eine »ganz bestimmte Qualität des Menschlichen (…) den sogenannten Massen-Menschen«, der in größerer Menge lebe und seinem »Herdentrieb« folge.226 Die besondere Eingängigkeit des Begriffs der »Masse« im gebildeten Bürgertum der 1950er Jahre basierte nicht allein auf traditioneller elitärer Klage gegenüber einer »wachsenden Herrschaft der Halbbildung« und einer »Zerbröckelung der Kulturpyramide«, wie der Ökonom und Publizist Wilhelm Röpke meinte,227 und dadurch auf der »Auflösung der geistig-seelischen Einheit der Person« als Signum des Massenzeitalters, wie Serge Maiwald, einer der wichtigsten Propagandisten der »Massen-Doxa«, im221 Charles A. Lindbergh, Das Dilemma des modernen Menschen, in: Universitas, Jg. 10, 1955, S. 113-117, Zitat S. 115 f. 222 Frank Thiess, Die Schlange lauert im Grase, in: H. Walter Bähr (Hrsg.), Wo stehen wir heute? Gütersloh 1960, S. 131-142, Zitat S. 133. 223 José Ortega y Gasset, Aufstand der Massen, Stuttgart 1957 (Neuausgabe), S. 9. 224 Eberhard Schulz, Deutschland heute. Der Mensch der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 1958, S. 95. 225 Der Spiegel, 21.12.1955. 226 Helmut Thielicke, Die Kirche im Zeitalter der Massen, in: Universitas, Jg. 7, 1952, S. 1-8, Zitate S. 1, 2. 227 Wilhelm Röpke, Die Massengesellschaft und ihre Probleme, in: Universitas, Jg. 12, 1957, S. 785-798, Zitat S. 787.
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mer wieder ausführte.228 Zugleich erinnerte sich das bürgerliche Publikum nämlich voller Schaudern an den Marschtritt der Kolonnen innerhalb und außerhalb des Landes in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, mitunter auch an die eigene frühere Begeisterung für diese Bewegungsform. Die Camping-Welle, die sich seit Mitte der 1950er Jahre ausbreitete, bot sich in diesem Sinne als Gegenstand einer besonders subtilen Massenkritik an. Zum einen wurde sie als Amerikanismus angesehen, zum anderen, darauf wies Erich Kuby in einem vom intellektuellen Nachtprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks ausgestrahlten Beitrag hin, lagen die Anfänge bereits in den Vorkriegsjahren des »Dritten Reiches«; Kuby betonte, dass es mitnichten um ein Zurück zur Natur ginge: »Die Reisenden wollen nicht aus dem Großstadtbetrieb in die Natureinsamkeit, sondern ganz im Gegenteil. Sie fliehen aus der Stadteinsamkeit in die Masse.« Der Campingbetrieb sei die »Perfektion der Volksgemeinschaft«. Wie die Massenaufmärsche der Nürnberger Nazi-Parteitage könnten die Zeltplätze als »Vernichtungslager für das Individuum« betrachtet werden, als »moderne Hölle«. Mit spürbarem Ekel beschrieb Kuby das sportliche Gemeinschaftselement des Camping-Lebens, die Badehose und den Trainingsanzug als »Mannschaftsuniform«. Der Beitrag endete im Gedanken an die Möglichkeit, die Massen würden sich nicht mehr mit den für sie bestimmten Plätzen begnügen, sondern selbstbestimmt die Natur aufsuchen: »Oh Gott, was für eine entsetzliche Vorstellung, wenn an jedem Waldrand Franz und Hilde ihr Motorrad parkten.« Insofern, so die Stimme eines Sprechers, sei es für wahre Naturliebhaber völlig widersinnig, die Masse über ihr Camping-Elend aufzuklären. Der gebildete Hörer mochte sich schmunzelnd zurücklehnen und sich seines elitären kritischen Bewusstseins erfreuen.229 Das Erscheinen der Bild-Zeitung als Organ für die Massen 1952 wurde von Intellektuellen mit einer Mischung von paternalistischem Anspruch und blankem Zynismus legitimiert. Hans Zehrer hatte auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Loccum 1951 ein Grundsatzreferat gehalten, für das er von den anwesenden Kollegen aus dem Journalismus überwiegend Zustimmung erhielt: »Der moderne Mensch sucht das Bild, das er sich mit einem Blick einprägen und das er mit einem Blick zu überschauen vermag. (…) Wenn der geistige Mensch nicht mehr die Kraft zur Führung besitzt, wozu eben gehört, daß die Kompagnie, vor der er steht, folgt, dann liegt das nicht an der Kompagnie, sondern daran, daß es um die Kraft des Geistes schlecht bestellt ist. (…) Geist heißt Führung und Schreiben heißt Vorschreiben.«230 228 Serge Maiwald, Der massensoziologische Hintergrund der heutigen Kulturkrise, in: Universitas, Jg. 4, 1949, S. 1167-1178, Zitat S. 1168; zu Maiwald vgl. Reitmayer, Elite, S. 104 f. 229 Erich Kuby, Camping 1953, gesendet im Nachtprogramm, 19.10.1953, in: NDR-Archiv, NP 37, zit. nach Schildt, Abendland, S. 93 f.; in Auszügen in Erich Kuby, Mein ärgerliches Vaterland, München 1989, S. 149-154. 230 Hans Zehrer, Presse zwischen gestern und morgen, in: Tage des Gesprächs für Journalisten und Verleger vom 15.-18.6.1951, zit. nach Schildt, Abendland, S. 146.
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Die intellektuellen Eliten hätten die Aufgabe, dem »modernen Analphabeten« mit seiner Fixierung auf das Einfache entgegenzukommen und ihn so zu leiten. Hans Zehrer, der von seinem Freund Axel Springer gebeten worden war, eine regelmäßige Blattkritik zu liefern, war begeistert von der Bild-Zeitung, sie sei in ihrer Entwicklung »gut und absolut richtig, und es sollte mich wundern, wenn Sie damit nicht die Million ansteuern sollten«.231 Diese Zielmarke wurde bereits ein Jahr später erreicht, 1960 betrug die Auflage des Blatts 4,2 Millionen. Allerdings war Zehrer bei der erwähnten Loccumer Tagung auch auf vereinzelte Kritik gestoßen, die Karl Korn besonders prägnant formulierte. Er wies in seinem Korreferat darauf hin, dass die seichte Yellow Press selbst für die »Entstehung der Massen und des Massenmenschen« mitverantwortlich gewesen sei.232 Aber einig war man sich im Schauder angesichts des heraufziehenden Massenzeitalters. Die Ängste vor einer gleichgeschalteten uniformierten Zukunft erklären den enormen Erfolg von George Orwells »1984«; der Roman erschien 1950 in Fortsetzungen im Monat und dann als Buch, von dem auf Anhieb 25.000 Exemplare verkauft wurden. Es ist kein Zufall, dass das ehemalige Tat-Kreis-Mitglied Ernst Wilhelm Eschmann das Buch von Orwell zusammen mit Aldous Huxleys Dystopie aus der Zwischenkriegszeit »Brave New World« im Merkur ausführlich würdigte, passten sie doch genau in die neue elegische Weltsicht der ehemaligen konservativen Revolutionäre.233 Das Menetekel eines techno- und bürokratisch restlos verwalteten Lebens gab Anlass für zahlreiche Erörterungen über den dort nur überlebensfähigen Menschentyp. Eine der bekanntesten Konstruktionen war Alfred Webers typologischer Gegensatz von »drittem« und »viertem Mensch«, die er als Achtzigjähriger vorlegte, die Summa seiner Kulturanthropologie in einem schmalen Band. Der »vierte Mensch«, nach Alfred Weber »nichts anderes als eben eine anlagemäßige Desintegrierung« vom ganzheitlichen »dritten Mensch« oder »abendländischen Typ«, war der in die »Gesamtverapparatung« als »Hauptzug der modernen Daseinsform«234 eingespannte »Funktionär, das gesichtslose Wesen«.235 231 Hans Zehrer an Axel Springer, 27.2.1953, in: Archiv FZH, Nl. Rudolf Michael; Michael war der erste Chefredakteur der Bild-Zeitung von 1952 bis 1958. 232 Karl Korn, Korreferat, zit. nach Schildt, Abendland, S. 146. 233 Ernst Wilhelm Eschmann, Neue Zukunftsbilder: 1984 und 2108, in: Merkur, Jg. 4, 1950, S. 111-117. 234 Alfred Weber, Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953, S. 43, 53, 80. 235 (Dolf ) St(ernberger), Nach Alfred Webers Begräbnis, in: Die Gegenwart, Jg. 13, 1958, S. 298-300, Zitat S. 299; vgl. Alfred von Martin, Ordnung und Freiheit. Materialien und Reflexionen zu Grundfragen des Soziallebens, Frankfurt a. M. 1956, S. 292 ff.; Eberhard Demm (Hrsg.), Alfred Weber als Politiker und Gelehrter. Die Referate des Ersten Alfred Weber-Kongresses in Heidelberg (28.-29. Oktober 1984), Wiesbaden/Stuttgart 1986, S. 178 ff.; Nicolaus Sombart, Aufruf zur Rettung des dritten Menschen. Alfred Weber: »Der dritte oder der vierte Mensch« (1953), in: Rühle, Bücher, S. 174-182; ders., Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, München/Zürich 1987,
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Aus der »dämonischen Technik« und der »Vermassung« der Gesellschaft folgte die »Entfremdung«, die Einsamkeit des Einzelnen in der »Masse«. Einfühlsam schrieb Friedrich Sieburg in der Gegenwart: »Es weht uns aus unserer Epoche eine Leere an, von der wir nicht wissen, ob sie auf den Zustand der Welt oder auf unsere innere Situation zurückgeführt werden muß.«236 Die besondere Einsamkeit des Menschen im »technischen Zeitalter« und der Zusammenhang von Vermassung, Einsamkeit und Langeweile bestimmten als Dauerthema die gehobenen publizistischen Diskurse während der gesamten 1950er Jahre; die Kontinuität solcher Deutungsmuster lässt sich bei Ortega y Gasset wieder besonders deutlich nachvollziehen, der 1951 umstandslos einen Vortragstext von 1939 im Merkur veröffentlichte: »Fast die ganze Welt ist sich selbst entfremdet, und in der Selbstentfremdung verliert der Mensch seine wesentlichste (sic!) Eigenschaft: die Fähigkeit, nachzudenken, sich in sich selbst zu sammeln, mit sich in Einklang zu kommen und sich klar darüber zu werden, was er glaubt und was er nicht glaubt, was er wirklich schätzt und was er verabscheut.«237 Die Konzentration der Diskussion auf die seelische Unruhe des Menschen stand hinter der beginnenden breiten Rezeption der Psychoanalyse,238 wobei sie sich zunächst im Modus der Abwehr und Propagierung traditioneller geisteswissenschaftlicher Tiefenpsychologie vollzog.239 Charakteristisch war die Verknüpfung von konservativer Zivilisationskritik, Gesundheitsdiskurs und Psychotherapie, etwa in den Schriften Bodamers, der durch die »technische Lebensform« vor allem die Männlichkeit als ordnendes Persönlichkeitsmerkmal in Gefahr sah.240 Die auf das Individuum bezogene Argumentation erweiterte sich dann regelmäßig zur gesellschaftskritischen Diagnostik: Krank seien »nicht nur einzelne Menschen, sondern
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S. 186 ff.; Hans G. Nutzinger (Hrsg.), Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte. Alfred Webers Entwurf einer umfassenden Sozialwissenschaft in heutiger Sicht, Marburg 1995; Eberhard Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920-1958, Düsseldorf 1999. Friedrich Sieburg, Die Langeweile als Lebensstil, in: Die Gegenwart, Jg. 8, 1953, S. 270272, Zitat S. 270. José Ortega y Gasset, Insichselbst-Versenkung und Selbstentfremdung, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 22-42, Zitat S. 26. Vgl. Michael Schröter, Zurück ins Weite: Die Institutionalisierung der deutschen Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Bude/Greiner, Westbindungen, S. 93-118; Tobias Freimüller, Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, Göttingen 2007; Werner Bohleber, Alexander Mitscherlich, die Psyche und die Entwicklung der Psychoanalyse in Deutschland nach 1945, in: Psyche, Jg. 63, 2009, H. 2, S. 99-128; Liliane Weissberg, Das Unbewusste der Bundesrepublik. Alexander Mitscherlich popularisiert die Psychoanalyse, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 5, 2011, S. 45-64; Anthony Kauders, Der Freud-Komplex. Eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, Berlin 2014. Vgl. die Hinweise auf zeitgenössische Literatur in Schildt, Zeiten, S. 328, 553 Vgl. Bodamer, Mensch, S. 9 ff.; von katholischer Seite Klemens Brockmöller SJ, Christentum am Morgen des Atomzeitalters, Frankfurt a. M. 1954, S. 14 ff.
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unsere ganze Zeit«.241 »Stress«, Mitte der 1930er Jahre von dem deutsch-kanadischen Nervenarzt Hans Selye als Begriff für eine Reihe unspezifischer Reaktionen des Organismus auf starke Belastungen verwendet, wurde in den 1950er Jahren zu einem geläufigen Begriff,242 und neben der »Zeithetze« wurden zunehmend der Lärm als Stressquelle243 und sogar das ansonsten unbestrittene städtebauliche Leitbild von Licht, Luft und Sonne problematisiert: »Das Zuviel an Helle und Licht, überhaupt an Eindringen der Welt in den Raum, ist dem Menschen ebenso unzuträglich wie das Zuwenig – es befördert nämlich seine Unruhe und Nervosität.«244 Das »Geschick der Entbergung«245 kumulierte in der Großstadt und in der industriellen Vorstadt, die der Soziologe Gunter Ipsen als eine »abschreckende Neubildung eines gepferchten Daseins« stigmatisierte.246 Die Entfremdung machte den Menschen nach dieser Logik »zum Durchgangspunkt fremder Interessen, fremder Meinungen, Tatsachen und Fiktionen« und führte zu »Pseudoanreicherungen und Subjektivismen«.247 Der amerikanische Soziologe David Riesman brachte diesen Vorgang auf den in der westdeutschen intellektuellen Öffentlichkeit populären Begriff des »außengeleiteten Menschen« (im Original: »other directed man«). Sein Buch wurde zum Rowohlt-Bestseller.248 Die Thematisierung der Entfremdung war keine Besonderheit konservativer Kulturskeptiker, sondern wurde, bis in die Terminologie, auch von den Vertretern der Kritischen Theorie vorgetragen. »Verwaltete Welt«, »Krisis des Individuums«, »bloßes Funktionieren innerhalb der ungeheuerlichen gesellschaftlichen Maschinerie, in die wir alle eingespannt sind« – alle diese Stichworte finden sich in einem Rundfunkgespräch von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Eugen Kogon im Hessischen Rundfunk 1950.249 Max Horkheimer folgte insgeheim sogar den
241 Arthur Jores, Der Mensch und seine Krankheit, Stuttgart 1956, S. 158. 242 Vgl. das Themenheft »Stress« von Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg. 12, 2014, H. 3. 243 Seit 1953 erschien auch das Fachblatt Zeitschrift für Lärmbekämpfung. 244 Vgl. Wolfgang de Boer, Mensch und Technik. Gedanken zum dritten Darmstädter Gespräch (20.-22. September 1952), in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 83-87; vgl. Roderich von Ungern-Sternberg, Vom Geist des Großstädters. Rechenhaftigkeit beeinträchtigt das Seelenleben, in: Sobrietas, Jg. 14, 1957, S. 66-70. 245 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 24 f. 246 Gunther Ipsen (Hrsg.), Industrielle Großstadt. Studien zur Soziologie und Ökologie industrieller Lebensformen, Bd. I: Daseinsformen der Großstadt. Typische Formen sozialer Existenz in Stadtmitte, Vorstadt und Gürtel der industriellen Großstadt. Bearbeitet von Rainer Mackensen u. a., Tübingen 1959, Vorwort, S. V. 247 Arnold Gehlen, Das Ende der Persönlichkeit, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 1149-1158, Zitat S. 1156 f. 248 David Riesman, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einführung in die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, Reinbek 1958 (121968); zur Rezeption vgl. Schildt, Zeiten, S. 561. 249 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949-1972, Frankfurt a. M. 1989, S. 121 ff.
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Klagen über den Verlust an männlich dominierter Gemeinschaft und wertete das Streben nach Gleichberechtigung der Geschlechter als perfide Herrschaftsstrategie: »Die ›Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe‹, das paßt den Herren von heute ausgezeichnet in den Kram. Das bedeutet nämlich, daß die Konkurrenz, die ›human relations‹, kurz die Entfremdung, auch in der sogenannten gesellschaftlichen Zelle noch die Menschen gegeneinander isolieren, daß es keine verwirklichte mikroskopische Utopie, keine verschworene Gemeinschaft, auch nicht im kleinsten mehr geben kann und der Mensch nackt vor der Maschinerie des Allgemeinen steht. Man sieht, wie wir bei unseren Nachhutkämpfen schon mit der Kirche gemeinsame Sache machen.«250 Auch der junge Student Jürgen Habermas, der noch vor seiner Promotion bei Erich Rothacker – seit 1952 – Artikel für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb und dort mit einer fundamentalen politischen Kritik Martin Heideggers für Furore gesorgt hatte,251 trat mit Auffassungen hervor, die bei den Herausgebern des Merkur das Missverständnis hervorriefen, er argumentiere zwar gebrochener, weil reflektierter, aber letztlich doch auf einer Linie mit Technikpessimisten wie Friedrich Georg Jünger.252 Das bezog sich zuerst auf seinen Artikel »Der Moloch und die Künste« in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem Habermas, sich auf das Darmstädter und Recklinghausener Gespräch beziehend, von der Perfektion der Technik den Verlust an menschlicher Kreativität und Phantasie ableitete: »Wir leben inmitten eines Überhangs von unechten Bedürfnissen, zunehmend unfähiger, kraft eigener Phantasie Zwecke zu schöpfen, Interessen zu erzeugen, Ziele zu entwerfen, die uns wesentlich sind, nahe genug, um ihre Verwirklichung als eigene Sache zu betreiben. (…) Die Herrschaft der Mittel ist Grund der Loslösung der Dinge vom Menschen und Grund zugleich für die Achtlosigkeit des Menschen gegenüber den Dingen.«253 Das Missverständnis, Habermas unter die traditionellen Technikkritiker einzuordnen, obwohl er von Anfang an dialektisch argumentierte und deren eskapistische Litaneien – mit positivem Bezug auf Arnold Gehlen – kritisierte,254 zeigt die hegemoniale Kraft des Kulturpessimismus in den frühen 1950er Jahren. 250 Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt a. M. 1974, S. 36 (Eintrag von 1956). 251 S. Kapitel II.3.2. 252 Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 6.5.1954, in: DLA, D: Merkur. 253 Jürgen Habermas, Der Moloch und die Künste. Gedanken zur Entlarvung der Legende von der technischen Zweckmäßigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.1953; unter diesem Titel auch in: Jahresring 54, Stuttgart 1954, S. 259-263; vgl. Yos, Habermas, S. 72 ff. 254 Jürgen Habermas, Die Dialektik der Rationalisierung, in: Merkur, Jg. 8, 1954, S. 701-724; diese Tendenz in den insgesamt 12 Artikeln, die Habermas zwischen 1954 und 1956 für das Handelsblatt schrieb; vgl. auch Daniel Horowitz, Continental Europeans Respond to
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Ein bisweilen thematisierter – lagerübergreifender – Konsens aller Gespräche bestand darin, sie als Selbstverständigung über die Verantwortung von »Eliten« zu verstehen. Dieser Begriff wurde im ersten Nachkriegsjahrzehnt ubiquitär verwandt, bevor sich schließlich eine immer differenziertere sozialempirische Forschung dazu entwickelte.255 Dreh- und Angelpunkt der zeitgenössischen Eliten-Konjunktur war die Konstruktion des Nationalsozialismus als kleinbürgerlicher oder kollektivistischer Herrschaft der Massen und daraus abgeleitet die Vorstellung paternalistisch eingehegter Demokratie-Modelle mit einer Tendenz zum Misstrauen gegenüber dem Demos. Den Eliten wurde in diesen Konzepten eine Mittlerfunktion zwischen der Führung und dem Volk zugewiesen. Gerade deshalb war der Angriff auf Sedlmayr beim Darmstädter Gespräch 1950 so provokant gewesen, störte er doch das Bild ungeistiger Herrschaft durch die Nationalsozialisten als Begründung elitärer Diskurse. So wie das NS-Regime die Geisteselite unter die Knute genommen hatte, sollten nun zum Besseren der Gesellschaft die Eliten ihre Verantwortung übernehmen und die Massen mit pädagogischen Mitteln »entkollektivieren«. Nicht nur rechtsintellektuelle Konzepte hoben das Primat von »Persönlichkeit« und »Charakter« hervor,256 der Kult des großen individuellen Denkers, den es natürlich auch zu anderen Zeiten gab, prägte ganz allgemein die postfaschistischen Diskurse um 1950, ohne dass problematisiert wurde, in welcher Weise das Denken in den Mustern von Führer und Gefolgschaft mit dem neuen Elitedenken zusammenhing. Dabei waren es längst nicht nur konservative Intellektuelle, die in den Kult um große Männer – und vereinzelt Frauen – einbezogen wurden. In einem großformatigen Fotoband des Jahres 1952 wurden nicht nur, erwartbar, Ernst Jünger, Hans Carossa,257 Hans Freyer, Martin Heidegger, Pascual Jordan, Ina Seidel, Frank Thiess, Werner Bergengruen und andere rechtslastige Literaten, Wissenschaftler und Publizisten porträtiert, sondern auch eher kritische Geister wie Peter Suhrkamp, Erich Kästner, Rudolf Pechel, Otto Dix, Karl Hofer, Carlo Schmid und Alfred Weber. Es ging nicht um eine politische Einteilung, sondern um die Hervorhebung der Persönlichkeit, mit der sich eine konservative Hegemonie im kulturellen Feld ergab: »Aber es kommt nie auf die vielen, sondern immer nur auf die Wenigen an – dort wo es
American Consumer Culture: Jürgen Habermas, Roland Barthes, and Umberto Eco, in: Hartmut Berghoff/Uwe Spiekermann (Hrsg.), Decoding Modern Consumer Societies, New York/Basingstoke 2012, S. 171-191. 255 Vgl. Reitmayer, Elite, S. 9 ff. 256 Laak, Gespräche, S. 105 ff. 257 Hans Carossa (1878-1956), der sich der NS-Propaganda im Zweiten Weltkrieg als präsidentielles Aushängeschild einer Europäischen Schriftsteller-Vereinigung zur Verfügung gestellt hatte (vgl. Frank-Rutger Hausmann, »Dichte, Dichter, tage nicht!« Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941-1948, Frankfurt a. M. 2004, S. 53 ff.), vermochte sich dennoch regimeübergreifend von den 1930er bis in die 1950er Jahre erfolgreich als unabhängige schriftstellerische Persönlichkeit zu inszenieren; vgl. zur NS-Zeit auch Sarkowicz/Mentzer, Schriftsteller, S. 190-195.
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um die Maßstäbe und das geistige Gesicht geht.«258 Adolf Frisé, der kurz darauf die Leitung des Abendstudios beim Hessischen Rundfunk übernahm, forderte 1954 zur »Offensive der Geistesarbeiter« auf, weil es ihn erbitterte, dass es die Gesellschaft diesen gegenüber an Respekt mangeln ließe. Dass es die Deutsche AngestelltenGewerkschaft (DAG) war, die ein Manifest gegen die »Unterbewertung der geistigen Arbeit« veröffentlichte, sprach zwar gegen die völlige Außenseiterstellung der intellektuellen Eliten als einer »sozial abgedrängten Minderheit«,259 aber die Distanz gegenüber dem »Aufstand der Spießer«, diesen Begriff bevorzugte Karl Korn gegenüber dem Begriff der »Masse«,260 wurde durchgehend aufrechterhalten. Hier sprach eher eine ältere Generation als eine politisch-weltanschauliche Strömung. So entfaltete auch Ernst Niekisch, immerhin ein Jahr zuvor Mitbegründer der Zeitschrift für Philosophie in der DDR, dem Freund Joseph E. Drexel seine Konzeption des Kommunismus als einer Herrschaft der Geistigen: »Die Zeit für den Durchbruch der geistigen Elite beginnt erst mit dem Zeitalter der Technizität. (…) Die Herrschaft dieser Elite ist auf die Masse angewiesen. Eine Masse muß vorhanden sein, die nivelliert ist (…) Die Elite muß freie Hand haben, große gesellschaftliche Planungen, Produktionspläne, Versorgungspläne zu entwerfen. (…) Die Masse muß vom Gefühl durchdrungen sein, daß ihre Lebenssicherung und ihre Wohlfahrt ganz in den Händen dieser geistigen Funktionäre liegt. (…) Daß eine Gesellschaftskonstruktion solcher Art die große Chance der geistigen Elite ist, wird von geistigen Menschen geahnt: so ist es etwa nicht zufällig, dass die französische und italienische Intelligenz heimlich dem Kommunismus zuneigt. (…) Der ›Kommunismus‹, wie ich ihn verstehe, ist die Form, in der sich die Herrschaft einer geistigen Elite verwirklichen kann.«261 Dass der Schriftsteller Alfred Andersch angesichts der von ihm wahrgenommenen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zum »Bündnis zwischen anständigen Eliten und einer kritischen, aber sich informierenden Masse« aufrief und in diesem Zusammenhang den Wunsch äußerte, »daß das Wort Masse nicht mehr mit Verachtung gebraucht wird und das Wort Elite nicht mehr mit Hochmut«, offenbarte dessen Unfähigkeit, der Überwindung elitärer Muster einen sprachlich angemessenen Ausdruck zu verleihen.262 In seinem in Rom spielenden Roman »Die Rote« 258 Das geistige Gesicht Deutschlands. Photographische Bildnisse von Erich Retzlaff u. a. Text von Erich Haack, Stuttgart 1952, S. 7. 259 Adolf Frisé, Die Intelligenz sprach nicht nur für sich, in: Handelsblatt, 9.4.1954, abgedruckt in: ders., Spiegelungen. Berichte, Kommentare, Texte 1933-1998. Festgabe der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft zum 90. Geburtstag von Adolf Frisé, Bern u. a. 2000, S. 105-110. 260 Karl Korn an Ernst Niekisch, 6.11.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 261 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 24.10.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 d. 262 Alfred Andersch, Aus der Klamottenkiste. Leiser Aufruf zu einer Verschwörung der Vernünftigen. Rundfunk-Feature, gesendet am 25.6.1952, zit. nach Reinhardt, Alfred Andersch, S. 200.
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(1960) legt er seiner Protagonistin Franziska die Aussage in den Mund, »es gibt nur zwei Möglichkeiten zu leben, ganz allein oder unter den Massen«.263 Unter konservativen Intellektuellen wurde die »Elite« zwar weiterhin hochgehalten, doch findet sich in einem programmatischen Vortrag des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, der – wie erwähnt – von Klaus Mehnert beraten wurde, einige Jahre später ein eher defensives Moment, begann er doch seinen Vortrag vor der Mitgliederversammlung des Kulturkreises des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) 1958 mit der Zurückweisung von linken Ansichten, es bedürfe in einer modernen Gesellschaft keiner Elite mehr, da die »Masse selbst Elite sein oder werden müsse«. Dies sei schon begrifflich ein Widerspruch in sich; Eliten seien in einer Demokratie, »ja gerade in ihr«, weiterhin notwendig, denn diese bedürfe einer »überlegenen Führung«, aber die Eliten basierten nicht mehr auf Privilegien, sondern auf »Gewissenskultur und persönlicher Spitzenleistung«. Unter Bezug auf Arnold Gehlen betonte Gerstenmaier, es handle sich um eine »Elite der Askese«; wahre Elite herrsche nicht, sondern diene.264 Askese lautete denn auch, nicht nur in der kirchlichen Publizistik, der vielfältig verwendete Ausgangsbegriff der Kritik lebensweltlicher Moderne, die sich im Wiederaufbau entfaltete. Konsum, Freizeit und Mediennutzung standen im Zentrum intensiver Erörterungen, die das Nachdenken über Technik, Masse und Entfremdung nicht modifizierten, sondern ausmalten.265 In der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten viele Ökonomen und Soziologen den »Mittelschichten« vorausgesagt, zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse zerrieben zu werden. Zwanzig Jahre später schien aber nur noch diese Mitte übrig geblieben zu sein.266 Helmut Schelsky erfand dafür den epochemachenden Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, der die von ihm behauptete gesellschaftliche Nivellierung auf einer Ebene der »unteren Mitte« ausdrückte. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg und der Wohlstandsentwicklung wurde die Signatur der Mittelstandsgesellschaft immer selbstverständlicher mit dem Durchschnittsbürger verbunden, »einer sehr breiten Gesellschaftsschicht« mit der Tendenz zur »Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen«.267 Diese Aussage widersprach zwar – wissenschaftlich eindeutig falsifiziert – der messbaren so263 Alfred Andersch, Die Rote (1960). Neue Fassung, Zürich 1974, S. 31. 264 Eugen Gerstenmaier, Vom Sinn und Schicksal der Elite in der Gemeinschaft. Vortrag anlässlich der 7. Ordentlichen Mitgliederversammlung des Kulturkreises im BDI am 7.9.1958 in Trier, in: Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts, S. 1, 2, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 01-210-072/2; der Abdruck ist sehr stark gekürzt; die Vortragsfassung in HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 35; Mehnert gratulierte Gerstenmaier zu der Rede und ging darauf auf der ersten Seite von Christ und Welt ein; Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 20.9.1958, in: ebd. 265 Vgl. Schildt, Zeiten, S. 351 ff. 266 Vgl. Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln/Hagen 1949, S. 176 ff. 267 Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953, S. 339 f.
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zialen Ungleichheit, aber sie gewann an Scheinplausibilität, weil sie Erfahrungen breiter Schichten beim »Abschied von der Proletarität« (Josef Mooser) in der entstehenden Konsumgesellschaft begrifflich zu fassen vermochte. Helmut Schelsky verstand sich hervorragend auf die »Attitüde, mit seiner Form der Wissenschaft Realität einzufangen, in Entwicklungstendenzen umzugießen und andere mit dem Idealismus-Vorwurf matt zu setzen«.268 Dass es sich bei der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« tatsächlich um einen antimarxistischen Kampfbegriff gehandelt hatte, räumte Schelsky einige Jahre später unumwunden ein.269 Aber in den zeitgenössischen Medien wurde die Rede von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft immer wieder popularisiert, schon deshalb, weil eine ganze Reihe von Journalisten bei Schelsky studiert hatte. Dazu zählten etwa Werner Hill (NDR), Hans Gresmann (Die Zeit), Reinhard Köster (ZDF), Luc Jochimsen (NDR/HR) und Freimut Duve (Rowohlt Verlag).270 Ferdinand Fried, vor 1933 im Tat-Kreis um Hans Zehrer aktiv, übersetzte im evangelischen Sonntagsblatt: »Die Reichen werden ärmer – die Armen werden reicher«.271 Und nicht nur der konservative Publizist Kurt Seeberger schwadronierte im Rundfunk über einen Artikel von Jürgen Eick in der FAZ unter dem gleichen Titel, in dem dieser feststellte, der kleine Mann sei »aus dem Modergeruch des Proletariats, der Armut, des tristen Taglöhnerdaseins zu einer Figur der Mitte geworden, deren Lebensgewohnheiten sich kaum noch wesentlich von denen der Oberschicht unterscheiden« würden.272 Eberhard Schulz, Redakteur der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung in Stuttgart, schrieb 1958 hintersinnig, natürlich gebe es eine »Unterschicht« und eine »Oberschicht«, und die Grenze verlaufe genau dort, »wo der Mann ein Auto besitzt und unabhängig von der Form eines Massenlebens wird«.273 268 Clemens Albrecht, »Soziale Wirklichkeit«. Helmut Schelsky und die Tragödie einer regulativen Idee, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 7, 2013, H. 2, S. 53-62, Zitat S. 57; vgl. ders., Reflexionsdefizit der Sozialstrukturanalyse. Helmut Schelsky und die »Nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, in: Alexander Gallus (Hrsg.), Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen 2013, S. 86-99. 269 Vgl. Gerhard Schäfer, Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Strategien der Soziologie in den 50er-Jahren, in: Bollenbeck/Kaiser, Die janusköpfigen 50er Jahre, S. 115-142; Axel Schildt, »Massengesellschaft« und »Nivellierte Mittelschicht«. Zeitgenössische Deutungen der westdeutschen Gesellschaft im Wiederaufbau der 1950er Jahre, in: Karl Christian Führer u. a. (Hrsg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 198-213. 270 Gerhard Schäfer, Soziologie ohne Marx. Helmut Schelsky als »Starsoziologe« und Intellektueller im Hamburg der 1950er Jahre, Hamburg 2015 (Supplement der Zeitschrift Sozialismus), S. 5. 271 Ferdinand Fried, Die Reichen werden ärmer – die Armen werden reicher, in: Sonntagsblatt, Jg. 6, 1953, Nr. 42, 18.10.1953. 272 Zit. nach Kurt Seeberger, Hoch klingt das Lied vom kleinen Mann. SWF-Nachtstudio, 30.7.1960 (TS, 19 S.), in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSeM91. 273 Schulz, Deutschland heute, S. 7 f.; das Ullstein-Taschenbuch beinhaltet eine Sammlung zeitgenössischer Reportagen aus dem Alltag der Bundesrepublik.
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Die Verwandlung sozialer Ungleichheit in kulturelle Gleichheit bot einen weiten Rahmen für die Diskussion gesellschaftlicher Themen, etwa das Verhalten der jungen Generation, die der Massenproduktion der Radio-, Kino- und Illustriertenkultur besonders ausgesetzt sei. Auch bei diesem Thema zeigte sich Schelskys Begabung, öffentlich eingängige Begriffe zu prägen. Sein Buch »Die skeptische Generation« beim alten Verlag des Tat-Kreises, Eugen Diederichs, wurde für viele Jahre zum geflügelten Wort. Eine Pointe lag hier allerdings darin, dass die Idee zu dem Titel vom Verleger stammte.274 Dem dominanten Deutungsmuster der nivellierten Mittelstandsgesellschaft folgte auch Friedrich Sieburg, der behauptete, die alte soziale Frage sei zwar obsolet geworden und man sei als »klassenlose Gesellschaft« der Tyrannei des Konsums ausgesetzt, aber dies werde nur noch von einigen Intellektuellen kritisiert. Anschließend vollzog er eine Kritik des Liberalismus, die nach 1945 erneut von den »uniformierten Pädagogen der Siegermächte« gelehrt worden sei. Diese Gesellschaftsdiagnose publizierte Sieburg im Jahresring, der Zeitschrift des Kulturkreises des BDI.275 Dass die Vorstellung einer weitgehenden kulturellen Nivellierung empirisch genauso anfechtbar war wie die der tendenziellen Entwicklung zu sozialer Gleichheit, beeinträchtigte die Plausibilität der Argumentation im Blick auf die immer größere Warenfülle in der Entfaltung des gesellschaftlichen Wohlstands kaum – zumindest in der Tendenz schien es ihr zu entsprechen, allgemein sah man ein »Zeitalter des Konsums« heraufdämmern. Dieser Epochenbegriff, der in der intellektuellen Öffentlichkeit bald ähnlich geläufig war wie die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, wurde von David Riesman geprägt.276 Heinrich Böll behauptete in den Gewerkschaftlichen Monatsheften apodiktisch: »Wir sind ein Volk von Verbrauchern.«277 Verbunden war diese Charakterisierung mit einem »Unbehagen in der Hochkonjunktur«, das der Schweizer Schriftsteller Walter Muschg in einer Sendereihe des Westdeutschen Rundfunks artikulierte: »Die Prosperität kommt nur dem Geschäftsleben zugute, sie geht auf Kosten des geistigen Lebens, das erschreckend verkümmert. (…) Das Bild unserer Zeit ist ein Krankheitsbild, das Bild einer allgemeinen Neurose. Unser Betrieb ist Fassade, unser Reichtum ein Phantom, unser üppiges Gedeihen eine ver-
274 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957; vgl. Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation«. 275 Friedrich Sieburg, Einige neue Formen der Tyrannei, in: Jahresring 57/58, Stuttgart 1957, S. 43-54, Zitate S. 44, 49. 276 Riesman, Einsame Masse, S. 23; vgl. für den säkularen Hintergrund Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt a. M./New York 2009. 277 Heinrich Böll, Hierzulande, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 12, 1961, S. 129-134, Zitat S. 130.
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dächtige Anomalie. Das beweisen die Ängste, die uns als ägyptische Plagen heimsuchen.«278 Die Steigerung des Konsums gerade an den Weihnachtstagen gab immer wieder Gelegenheit zu abfälligen Bemerkungen; 1953 schrieb Rudolf Schlichter an seinen Freund Ernst Jünger, diese »Orgie ehrgeizigen Geldausgebens«, der ganze »Aufbauismus« ginge ihm auf die Nerven,279 einige Jahre später sah der Publizist Paul Schallück die »Kurve des weihnachtlichen Profits« bereits in einer nicht mehr zu steigernden Höhe: »Das Auswählen der Geschenke wird von Jahr zu Jahr schwieriger, da wir ja bereits alles das schon besitzen, was wir uns gegenseitig schenken können, abgesehen von den obligaten Krawatten, Taschentüchern oder Parfümflaschen. Also verfallen wir zum hellen Entzücken der inspirierenden Geschäftswelt auf die ausgefallensten Dinge. Aber auch in diesen Bereichen gibt es Grenzen; was soll man mit zwei Swimming-pools anfangen, mit drei Fernsehapparaten, vier Autos oder mehreren Wochenendhäusern?«280 Auch in diesem Fall bemerkte der Verfasser offenbar nicht, wie absurd sein »wir« in Verbindung mit den Beispielen des Luxuskonsums der happy few war. Von der »Konsumentenmentalität«, die der Wiener Publizist Karl Bednarik in den Gewerkschaftlichen Monatsheften ausmalte,281 war es nur ein Schritt zum Befund »Konsumterror«, der nicht erst von der Studentenbewegung aufgebracht wurde. Er fand sich sinngemäß in den »Prismen« (1955) von Theodor W. Adorno und bei Friedrich Sieburg, hier als »Absatzterror«,282 oder bei Helmut Schelsky als »psychologischer Konsumterror«,283 der sich bis in den intimen Bereich der Sexualität erstrecken konnte. Die Amerikanisierung der »Sexualität als Konsum« bildete auch den Hintergrund für Schelskys radikale Kritik des »Kinsey-Reports«.284 Die Klage, dass sich in der Konsumgesellschaft der Eros verflüchtige, gehörte seit jeher zum Arsenal des konservativen Feuilletons. Der Publizist Willy Haas, der in 278 Walter Muschg, Das Unbehagen in der Hochkonjunktur. Vortrag auf einer Veranstaltung des WDR »Das Unbehagen in der Hochkonjunktur – Erstickt der Wohlstand den Geist?« in Aachen am 10.10.1957, gesendet in der Reihe »Umstrittene Sachen« am 19.2.1958, in: WDR. Jahrbuch 1957/58, in: DRA, WDR 1/001. 279 Rudolf Schlichter an Ernst Jünger, Dezember 1953, in: Ernst Jünger. Rudolf Schlichter. Briefe 1935-1955. Hrsg., komme. und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer, Stuttgart 1997, S. 265. 280 Paul Schallück, Nachruf auf Weihnachten (1960), in: ders., Zum Beispiel. Essays, Frankfurt a. M. 1962, S. 27-35, Zitat S. 28. 281 Karl Bednarik, Kultur und Massengesellschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 4, 1953, S. 571-577, Zitat S. 573. 282 Sieburg, Lust, S. 161. 283 Helmut Schelsky, Beruf und Freizeit als Erziehungsziele der modernen Gesellschaft, in: Die deutsche Schule, Jg. 48, 1956, S. 48-69, Zitat S. 63. 284 S. Kapitel II.4.2.
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Springers Welt unter dem Pseudonym Caliban von 1955 bis 1972 die moderne Lebenswelt glossierte, meinte dazu: »Alle Frauen und Mädchen sind im Durchschnitt gleich hübsch, gleich schick, gleich lauwarm begehrt oder lauwarm-unbegehrt, was im Grund das gleiche ist. Da also Eros ein mehr oder weniger standardisiertes Fach geworden ist, selbst in allen denkbaren oder minder denkbaren Exzentritäten, so ist alles anders geworden. Eros ist eigentlich gar nicht mehr der Traum des Einzelnen.«285 Nicht die elitären Untertöne der Konsumkritik waren es, die Stellungnahmen aus dem konservativen und dem linkskritischen Spektrum grundsätzlich unterschieden, Differenzen ergaben sich vielmehr in der Bestimmung dessen, was der Konsumismus gefährdete oder vernichtete. In Heinrich Bölls Roman »Ansichten eines Clowns« heißt es: »Die Nachbarhäuser durch zweispurige Einfahrten und breite Rabatten getrennt. Kränklich der Widerschein der Fernsehapparate. Da wird der heimkehrende Gatte und Vater als störend empfunden, wäre die Heimkehr des verlorenen Sohnes als störend empfunden worden; kein Kalb wäre geschlachtet, nicht einmal Hähnchen gegrillt worden – man wurde schnell auf einen Leberwurstrest im Kühlschrank verwiesen.«286 Während Böll die Gefährdung des Humanen, der Mitmenschlichkeit in der entfremdenden Konsumgesellschaft in den Mittelpunkt rückte, betonte Gerd Gaiser, den das konservative Feuilleton mit großen Anstrengungen, aber erfolglos als literarischen Nachwuchsstar in Konkurrenz zu Böll und der Gruppe 47 aufzubauen versuchte, zwar ebenfalls die Oberflächlichkeit der menschlichen Beziehungen durch den Konsumismus, zog aber andere Konsequenzen; in seinem wichtigsten Roman »Schlußball« findet sich der zentrale Satz, dass die Konzentration auf Geld und Konsum verhindere, »daß man ein Gefühl für oben und unten behält, vor allem in Zeiten, in denen alle schwimmen«.287 Unter den politischen Bedingungen des Kalten Krieges führe der Konsumismus schließlich dazu, so führte Klaus Mehnert aus, dass die vom Wohlstandsdenken beherrschte Gesellschaft »immer weniger geneigt (sei), den machtpolitischen Überlegungen die notwendige Aufmerksamkeit zuzuwenden«.288 Mehnerts Beitrag erschien in einem vom Universitas-Herausgeber 285 Willy Haas, Typoskript, o. D., ohne Überschrift, gedruckt unter der Überschrift »Sind wir schon erotisch »gleichgeschaltet«?«, in: Die Welt, 14.11.1960, in: DLA, Nl. Willy Haas, Konvolut: Feuilleton-Artikel für Die Welt 1955-1972; vgl. auch Deinet, Friedrich Sieburg, S. 545; vgl. zu dieser Tradition schon Sigmund Freud, Wir und der Tod (1915), in: Die Zeit, 20.7.1990. 286 Heinrich Böll, Ansichten eines Clowns, Köln 1963, S. 138. 287 Gerd Gaiser, Schlußball. Aus den schönen Tagen der Stadt Neu-Spuhl, München 1958, S. 120. 288 Klaus Mehnert, Die weltpolitische Situation, in: Bähr, Wo stehen wir heute?, S. 121-130, Zitat S. 129.
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im evangelischen Bertelsmann-Verlag publizierten Sammelband, in dem eine Auswahl diskursbestimmender Intellektueller präsentiert wurde, darunter Hans Freyer, Karl Jaspers, Wilhelm Röpke, Helmut Schelsky, Eduard Spranger und Helmut Thielicke. Der konservative Theologe Thielicke sah in seinem Beitrag durch die »ideologischen Tyranneien (…) nur das demonstrativ werden, was als Frage auch auf dem Grunde der westlichen Welt lauert. Nur ist es hier durch die trügerischen Kulissen des christlichen Abendlandes noch verstellt.«289 Tatsächlich seien nämlich die religiösen Grundlagen längst erodiert. Neben der Angst um das Humanum wie bei Böll und der Mahnung, durch konsumistische Fixierung die Frage der politischen Macht zu ignorieren, trat hier eine dritte Tendenz zutage, nämlich die Diagnose einer weit fortgeschrittenen Säkularisierung. Die damit einhergehenden Sorgen artikulierte auch der katholische Publizist Carl Améry in einem Feature für den Bayerischen Rundfunk. Die übliche Beobachtung des Widerspruchs eines »Überangebots« an Waren und der »zunehmenden seelischen Unreife des heutigen Menschen« verband er nicht nur mit der »Angst um die soziale Zukunft des Abendlandes«, denn diese könne für Christen nichts Letztes bedeuten: »Noch wichtiger muß für ihn die Sorge um das Heil der Mitmenschen sein; und dieses ewige Heil ist jede Anstrengung wert, die mit Gottes Hilfe unternommen werden kann.«290 In der Analyse der Konsumgesellschaft tauchten hier bereits Positionen auf, die später nicht allein im kirchlichen Raum im Werben um ökologisch nachhaltiges Wirtschaften eine Rolle spielen sollten. Mit dem Konsumzeitalter als gesellschaftlicher Krankheitsursache schlug die Stunde der Psychologisierung. Der Publizist Ulrich Sonnemann konstatierte in seinen »deutschen Reflexionen«, dass die »Frontlinien« der Moderne »jetzt nicht mehr in der Hauptsache zwischen den Menschen und Klassen, im Raum der Straßen und Zwingburgen, sondern quer durch die Seele, wahrer: durch die individuelle Existenz laufen …«291 Alexander Mitscherlich führte die stete Steigerung des Konsums darauf zurück, dass die »eigentlich erwarteten Befriedigungen ausbleiben«.292 Für besonders gefährlich hielt Helmut Cron im Merkur den »Hunger nach Sozialprestige«, denn »hinter der Gefahr des uniformen Massenmenschen« lauere »eine ganz andere, genauso bedrohliche Gefahr (…) die Gefahr, die Massenexistenz wenigstens nach außen zu kompensieren mit einem betonten Unterscheidungsbedürfnis«.293 289 Helmut Thielicke, Die Neuentdeckung der Welt, in: Bähr, Wo stehen wir heute?, S. 5566, Zitat S. 63. 290 Carl Amery, Die Fülle der Güter – Gefahr und Forderung, gesendet auf UKW des BR, 30.7.1955, 18.45-19.00, in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA M 161. 291 Ulrich Sonnemann, Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen, Reinbek 1963, S. 9. 292 Alexander Mitscherlich, Meditationen zu einer Lebenslehre der modernen Massen, in: Merkur, Jg. 11, 1957, S. 201-213, 335-350, Zitat S. 338. 293 Helmut Cron, Der Hunger nach Sozialprestige, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 1109-1122, Zitat S. 1112; vgl. zu Cron Kapitel I.4.3.
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Mit der äußerlichen Distinktion als Folge der Uniformität der Konsumgesellschaft fiel bereits ein Stichwort späterer Debatten. Bereits in den 1950er Jahren verlagerte sich aber der Schwerpunkt der Konsumdiskurse von den Objekten direkter Bedürfnisbefriedigung auf immaterielle Werte wie Prestige und Zeit. Ebenso wie von der »Konsumgesellschaft« wurde in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zunehmend von der »Freizeitgesellschaft« gesprochen.294 Wolfgang Höpker bemerkte in Christ und Welt, dieses neue Stichwort »verheißt eine neue Phase unserer Sozialordnung, in der Sinn und Rhythmus des Daseins immer mehr aus den Bereichen bestimmt wird, die außerhalb der Arbeit liegen«.295 Traditionelle konservative und elitäre Positionen, nicht zuletzt unter Pädagogen und Kirchenleuten, erkannte man an der Besorgnis, die Menschen seien für so viel freie Zeit nicht gerüstet, das Übermaß an Freizeit sei »Geschenk und Verderb« zugleich, wie der Herausgeber der Spranger-Werkausgabe, Hans Wenke, befand.296 Helmut Thielicke lamentierte in den Gewerkschaftlichen Monatsheften über die »paradoxe Tatsache«, dass »wir Angst vor der entstehenden Freizeit« haben, und sprach von der »Not mit dem Umgang der Freizeit«.297 Viele Menschen, so befand Helmut Schelsky, hätten deshalb nichts Besseres zu tun, als die Freizeit zu »vertreiben«.298 Dass es angesichts der überlangen Arbeitszeiten bis Mitte der 1950er Jahre mit durchschnittlich 50 Wochenstunden an sechs Werktagen in der Industrie barer Unsinn war, von einem »Freizeitproblem« zu sprechen, und das ausgerechnet in der Gewerkschaftspresse, zeigt sinnfällig die relative Autonomie der Intellektuellendiskurse, die empirischen Fakten nicht unbedingt entsprechen mussten. Die elitäre Grundierung des Redens über die problematische Freizeit, das ohne die Ideologeme der Masse und Entfremdung nicht zu verstehen wäre, zeigte sich auch in der Klage, der Zuwachs an Freizeit käme zwar den Lohnabhängigen zugute, nicht aber den Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur, wie etwa im Darmstädter Gespräch geäußert wurde: »Wer hat die Muße zuerst bekommen, die uns die Technik mit der Verkürzung der Arbeitszeit gebracht hat? Sie, Herr Senator? Herr Minister? Herr Professor? Nein! Die Unternehmer haben sie nicht, die Minister haben sie nicht, die Regierenden und alle Leitenden haben sie nicht. Die Muße hat der einfache Mann bekommen.«299 294 Vgl. Schildt, Zeiten, S. 363 ff. 295 Wolfgang Höpker, Mehr Freizeit – aber wozu?, in: Christ und Welt, 24.6.1956. 296 Hans Wenke, Über den Umgang mit der Freizeit, in: Die Sammlung, Jg. 14, 1959, H. 11, S. 535-539, Zitat S. 539. 297 Helmut Thielicke, Freiheit und Freizeit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 10, 1959, S. 336-342, Zitat S. 336. 298 Wie »vertreiben« wir die Freizeit?, in: Die Welt, 8.6.1956 (Bericht über einen Vortrag von Helmut Schelsky vor der Hamburger Joachim-Jungius-Gesellschaft). 299 Otto Kraemer, in: Schwippert, Mensch; vgl. ders., Mut zur Muße. Vortragsreihe des Deutschen Industrieinstituts, Nr. 44 vom 31.10.1955; Kraemer, Ingenieur und Professor an der TH Karlsruhe, meldete sich in den zeitgeistigen Debatten der 1950er Jahre häufiger als Verteidiger der Technik zu Wort.
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In einem vielgelesenen Aufsatz warnte der Journalist Jürgen Eick vor der »angina temporis«,300 die »allmählich eine der ernstesten Zivilisationskrankheiten dieses Jahrhunderts« zu werden drohe; sie sei ein Problem für alle, »die eine führende Rolle spielen« und dem Terror des Terminkalenders ausgesetzt seien. Hier wären die sozialen Privilegien geradezu umgedreht, denn die Arbeiter und Angestellten würden zur neuen »Freizeitbourgeoisie«;301 nur wenige Publizisten wie etwa Paul Schallück warnten allgemein vor ruheloser Arbeitswut »auf Kosten des Lebens, der Lebensart« im Wiederaufbau; der »Taumel maßloser Tüchtigkeit«, in Frankreich spreche man von »la Tüchtigkeit allemande«, stifte Unruhe »unter jenen Völkern, mit denen wir doch zusammenleben müssen und auch ehrlich wollen«.302 Der Begriff der »Freizeit-Bourgeoisie« war auch immanent irreführend, denn die Massen bestimmten eben nicht selbst über die Gestaltung ihrer Freizeit, wie es im Diskurs zum »außengeleiteten Mensch« gleichzeitig immer wieder betont wurde. Dabei wurden Manipulateure und deren Interessen nur selten angesprochen oder gar konkret benannt, es dominierte die Vorstellung eines anonymen technischen Apparats oder »der Kulturindustrie« als eines sich selbst steuernden Systems.303 In diesem Zusammenhang erhielten die modernen elektronischen Massenmedien, Radio und Fernsehen, größte Aufmerksamkeit. Die Kritik an der kulturnivellierenden Dauerberieselung durch den Hörfunk hatte bereits in der Zwischenkriegszeit eingesetzt und erreichte in den frühen 1950er Jahren, mit der rasanten Verbreitung des Mediums, ihren Höhepunkt. Viel zitiert wurde eine Schrift des Schweizers Max Picard, der dem Hörfunk vorhielt, dem Menschen »das Wort weggenommen« zu haben, der nicht auf das Gesendete antworten könne.304 Weil das Programm, um ein breites Publikum zu gewinnen, auf eine vermeintliche mittlere Hörfähigkeit zurechtgestutzt werde, treibe das Radio die gesellschaftliche Nivellierung voran. Es waren nicht zuletzt die Rundfunkverantwortlichen selbst, die sich als Volksbildner verstanden, die solche Argumente vortrugen. Der Intendant des Nordwestdeutschen Rundfunks, Ernst Schnabel, sprach von der Nivellierung der »Erlebnisfähigkeit seiner Hörerschaft« durch die Möglichkeit, mit dem Drehen des Knopfes am Empfangsgerät zu jeder Zeit billigste Unterhaltung geboten zu bekommen.305 Damit habe der moderne Mensch den »archimedischen Punkt 300 Jürgen Eick/Kurt Gauger, Angina Temporis. Zeitnot, die Krankheit unserer Tage Ein Wirtschaftler und ein Arzt zum Thema: Keine Zeit!, Düsseldorf 1955. 301 Robert Svoboda, Seelsorge zwischen Konjunkturglanz und Krisenschatten, in: Walter Baumeister/Hans Martin Lochner (Hrsg.), Der unbewältigte Wohlstand. Jahrbuch für Volksgesundung 1957, Hamm (Westf.) 1957, S. 38-45, Zitat S. 43. 302 Paul Schallück, Von deutscher Tüchtigkeit (1954), in: ders., Zum Beispiel, S. 7-11, Zitat S. 8, 9. 303 Vgl. Jürgen Habermas, Notizen zum Missverhältnis von Kultur und Konsum, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 212-228. 304 Max Picard, Die Welt des Schweigens, Erlenbach (Zürich) 1948 (Neuauflage Frankfurt a. M./Hamburg 1959). 305 Ernst Schnabel, Der Rundfunk und die Krisis des modernen Menschen, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 3, 1955, S. 149-157, Zitat S. 150.
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verloren, auf den gestützt allein er seine Welt, sein Leben und sich selbst ertragen könnte«.306 Edgar Stern-Rubarth, ein Pionier der Kommunikationstheorie, beklagte, dass die Menschen durch das Radio »zu Sklaven einer, wie man sich einbildet, veredelten Form der Neugier: des Hangs zum Dabeisein« geworden seien.307 Erich Kuby schrieb in den Frankfurter Heften: »Das Individuum will sich nicht begegnen, und es hat ein wirksames Mittel gefunden, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Furcht vor der Pause ist zum Motor unseres gesamten Lebens geworden.«308 In unzähligen Programmen des Radios, vor allem den elitären Diskursen der Abend- und Nachtstudios, wurde eben diese Kritik an der »Welt als Konsumartikel« verbreitet. In einer Sendung des Bayerischen Rundfunks konstatierte Kurt Seeberger, der »Geist der Zeit (sei) der Geist eines im Dienst der Massen stehenden Vervielfältigungsapparates mit hoher Tourenzahl« und mit der »Tendenz unserer Zeit, die Zivilisation zu enthumanisieren«.309 Wie die Kritik des Radios stand auch die des Fernsehens in der Tradition von Diskursen der Zwischenkriegszeit, die sich vor allem auf Illustrierte und den Film bezogen hatten. Die Gegenüberstellung von Kunst und »Kulturindustrie« (Theodor W. Adorno) bzw. »Populärkultur« (Leo Löwenthal) hatte darin bereits eine wichtige Rolle gespielt.310 Walter Benjamin hatte in seinem berühmt gewordenen Essay über das »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« auseinandergesetzt, dass durch die sich in der Geschichte immer weiter steigernden reproduktionstechnischen Möglichkeiten die »Aura« des Kunstwerks verkümmere, weil sich »das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab(löse)«.311 Hendrik de Man widmete in seinem Bestseller »Vermassung und Kulturverfall« dem Vordringen industriell gefertigter Bilder gegenüber der Schrift ein eigenes Kapitel. »Das Massenhirn« werde zur infantilen »Primitivierung der Empfindungen« und zur »Überschätzung des rein Quantitativen« neigen.312 Für den Publizisten Karl Korn war die »Inflation der Reize« eng mit dem Entstehen einer neuen Wahrneh-
306 Ebd., S. 154. 307 Edgar Stern-Rubarth, Gefahren der Aktualität, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 3, 1955, S. 1-6, Zitat S. 1. 308 Erich Kuby, Das pausenlose Programm, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, S. 51-57, Zitat S. 55. 309 Kurt Seeberger, Der große Ausverkauf oder: Die Welt als Konsumartikel (Typoskript, 18 S., Zitate S. 6, 16), gesendet im BR, September 1957, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 18. 310 Vgl. Michael Kausch, Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien, Frankfurt a. M. 1988, S. 38 ff.; der Begriff der »Kulturindustrie« wurde von Karl Korn, Die Kulturfabrik, Wiesbaden 1953, problematisiert. Denn es handle sich nicht um Kultur, sondern um billige Surrogate, die produziert würden. 311 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1934), in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1977, S. 136-169, Zitat S. 141. 312 Diesen Aspekt hob er hervor in: Das Massenhirn, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 905-922.
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mungsform verbunden, die er als »Fotoauge« bezeichnete.313 »Augen sind das Organ des optischen Zeitalters«, und »der moderne Mensch ist ein Augenmensch«, hieß es in einem Themenheft der Zeitschrift magnum. »Wir werden optisch überwältigt: in den Bilderhöhlen des Kinos, im Bilderwald der Straßen, im Bilderdschungel der Illustrierten, vor dem Bildschirm unserer Wohnung …«314 Theodor W. Adorno genügte für seine prinzipielle Ablehnung gegenüber dem »Fernsehen als Ideologie« von 1953 eine einzige Studie aus den USA über Fernsehspiele. Den Hinweis auf die dortigen Erfahrungen gebe er deshalb, weil »von Versuchen zur rechtzeitigen Aufklärung einiges zu erhoffen (sei), eine Art von Impfung des Publikums gegen die vom Fernsehen verbreitete Ideologie«.315 Der im George-Kreis sozialisierte Edgar Salin, Doktorvater von Marion Gräfin Dönhoff, veröffentlichte im selben Jahr »Amerikanische Impressionen«: »Lesen und Denken werden durch den Fernsehapparat überflüssig und illusorisch – Familienzusammenkünfte und gesellschaftliche Anlässe werden zu SehGenossenschaften – das Ich-Bewußtsein wird schwächer, und so wird der lebende Roboter gezüchtet, der keine Stimme des Himmels mehr hört, weil er hypnotisch dem Bild des Verführers folgt.«316 In seinem »Prolog zum Fernsehen« sah Adorno die neue Qualität des audiovisuellen Mediums vor allem darin, »als Verbindung von Film und Radio« das »Bewußtsein des Publikums« nun lückenlos »von allen Seiten zu umstellen und einzufangen«: »Die Lücke, welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig beherrschte, wird verstopft.«317 Das Fernsehen, Medium der Regression, stelle »archaische Bilder der Moderne zur Verfügung. Entzauberter Zauber, übermitteln sie kein Geheimnis, sondern sind Modelle eines Verhaltens, das der Gravitation des Gesamtsystems ebenso wie dem Willen der Kontrolleure entspricht.«318 Eine vorläufige Hoffnung auf die begrenzte ideologische Wirkung des Bildschirmgeschehens ergab sich für Adorno allein aus dem – damaligen – »Miniaturformat«, das vorläufig die »gewohnte Identifikation und Heroisierung« behindere: »Die da mit Menschenstimmen reden, sind Zwerge.«319 Immer wieder zu intellektuellen Foren eingeladen wurde auch der Philosoph und US-Remigrant Günther Anders mit seiner radikal pointierten Kritik des Fernse-
313 Korn, Kulturfabrik, S. 74. 314 Magnum, H. 23, 1959. 315 Theodor W. Adorno, Fernsehen als Ideologie, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 1, 1953, H. 4, S. 1-11, Zitat S. 11; publiziert auch in Frankfurter Hefte, Jg. 10, 1955, S. 25-33. 316 Edgar Salin, Amerikanische Impressionen, Tübingen 21953, S. 18. 317 Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen, in: Rundfunk und Fernsehen, Jg. 1, 1953, H. 2, S. 1-8, Zitat S. 1. 318 Adorno, Qualität, S. 6. 319 Ebd., S. 2.
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hens.320 Seine apokalyptischen Diagnosen einer »Welt als Phantom und Matrize«321 wurden überall diskutiert. Hans Paeschke, der sich als einen der Entdecker von Anders ansah, war wohl deshalb so begeistert, weil dessen Katastrophendiskurs einen dialektischen Kontrapunkt zur Entmystifizierung der Technikphobie setzte, indem neue moderne Phänomene, vor allem der Psychotechnik der Medien, problematisiert wurden.322 Eine Politisierung dieses Diskurses erfolgte in den Auseinandersetzungen um die Drohung atomarer Rüstung im letzten Drittel der 1950er Jahre.323 Für Anders war der »Typ des Massen-Eremiten« entstanden, »und in Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem anderen gleich, einsiedlerisch im Gehäus – nur eben nicht um der Welt zu entsagen, sondern um Gottes willen keinen Brocken Welt in effigie zu versäumen.«324 Der Bildschirm werde zum »negativen Familientisch« und löse die Familie auf, freilich so, dass diese Auflösung wie ein trautes Heim anmute. Das wirkliche Heim werde aber zum »Container« degradiert, »seine Funktion erschöpft sich darin, den Bildschirm für die Außenwelt zu enthalten«.325 Da die Menschen mit dieser Welt »beliefert werden, gehen wir nicht auf Fahrt, bleiben wir unerfahren«;326 »die Beziehung Mensch-Welt wird unilateral, die Welt, weder gegenwärtig noch abwesend, zum Phantom«.327 Eine Facette dieser neuen Ersatzwelt war die »gnadenlose Kamerajagd der Fotoreporter« auf die Prominenz der Medien, von Film und Fernsehen. In einer Sendung des Bayerischen Rundfunks sah sich Kurt Seeberger veranlasst, das gemeinste der technischen Mittel zu verurteilen, das »Fernbild, indem auf den Schaft eines Jagdgewehrs eine Fernbildkamera installiert werde. Früher sei das zum Fotografieren von wilden Tieren verwendet worden, heute gehe es damit auf »Menschenjagd«; seine Forderung lautete: »Schluß mit diesen skrupellosen Scharfschützen der Kamera.«328 In einer weiteren kulturpolitischen Glosse bezeichnete Seeberger den »Liebling des Publikums (als) Angestellten des Publikums«, das sich das Recht nehme, auch alle Schritte seines Lieblings in dessen Privatsphäre zu verfolgen, so
320 Vgl. z. B. den Bericht über eine Tagung über das Fernsehen, die die Akademie für Sprache und Dichtung in Hamburg abhielt; Schildt, Zeiten, S. 574; vgl. Kurig, Bildung, S. 401 ff. 321 Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 401-416, 533-549, 636-652; ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956 (71987); zur Rezeption vgl. Schildt, Zeiten, S. 574 f. 322 Vgl. Hans Paeschke, Moralia der Technik, in: Merkur, Jg. 11, 1957, S. 871-885. 323 S. Kapitel III.2. 324 Anders, Antiquiertheit, Bd. 1, S. 102. 325 Ebd., S. 104 f. 326 Ebd., S. 114. 327 Ebd., S. 129. 328 Kurt Seeberger, Jagt ihn – ein Mensch! Kritische Streifzüge (TS, 5 Bl., 7 Bl.), Sendung in: BR, 19.2.1950, 26.2.1950, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 93.
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dass dieser sogar zum »Sklaven des Publikums« werde.329 Damit betraten die »Massen« in moderner Maskierung wieder die Bühne.
2.3 Vision Europa – Menetekel Amerika Alle Zukunftsvorstellungen trugen im ersten Nachkriegsjahrzehnt einen europäischen Anstrich. Deutschland als autonomes nationales Projekt kam, darin waren sich – lagerübergreifend – fast alle Intellektuellen einig, nicht mehr in Betracht. In den Diskussionen der vielfältigen Phänomene einer tief empfundenen Kulturkrise fungierte Europa als rettender Ausweg. Europa konnte rundum positiv besetzt werden, weil die Umrisse einer europäischen Gemeinschaft in der Gründerzeit der Bundesrepublik noch wenig konturiert waren. Das Reden von Europa in den zeitgenössischen Diskursen drückte ein allgemeines Gefühl aus, dass die existenziell empfundene Kulturkrise nicht im nationalen Rahmen, sondern als ein Tatbestand der gesamten – europäischen – Zivilisation zu verstehen und nur gemeinsam zu überwinden sei.330 In einem programmatischen Aufsatz befand der schweizerische Publizist Denis de Rougemont im ersten Heft des Merkur 1947: »Europa sieht schlecht aus. Das muß man zugeben.«331 Hitler habe verloren, aber sein Geist wirke weiter. Dem folgte unvermittelt eine Eloge auf Europa als »Gedächtnis der Welt«,332 das bewahrt werden müsse. Dieses Nebeneinander sehr unterschiedlicher Perspektiven markierte den Übergang in den Kalten Krieg. Ende 1947 plädierte Carlo Schmid im Merkur für eine »Beschränkung auf den British Commonwealth und das freiheitliche Europa«333 in den Diskussionen über die Zukunft des Kontinents. Während die wirtschaftliche, politische und militärische Integration des westeuropäischen Kontinentalkerns voranschritt und gut ein Jahrzehnt nach Kriegsende mit den Römischen Verträgen entscheidende Etappenziele erreicht hatte, kaprizierte sich die gehobene Publizistik mit visionärem Gestus vielfach auf europäische 329 Kurt Seeberger, Die Gesellschaft von heute (TS, 7 Bl.), gesendet in: BR, 15.10.1958, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 82. 330 Axel Schildt, Der Europa-Gedanke in der westdeutschen Ideenlandschaft des ersten Nachkriegsjahrzehnts (1945-1955), in: Grunewald, Europadiskurs, S. 15-30; ders., Europe as a Visionary Idea. The European Discourse in West Germany in the Decade after the Second World War, in: Joachim Lund/Per Oergaard (Hrsg.), Return to Normalcy or a New Beginning. Concepts and Expectations for a Postwar Europe around 1945, Kopenhagen 2008, S. 129-139. 331 Denis de Rougemont, Die Krankheiten Europas, in: Merkur, Jg. 1, 1947, 17-26, Zitat S. 17. 332 Ebd., S. 25; vgl. mit etwas weichzeichnender Tendenz Kristina Schulz, Neutralität und Engagement. Denis de Rougemont und das Konzept der »aktiven Neutralität«, in: Gilcher-Holtey, Zwischen den Fronten, S. 153-178. 333 Karl Schmid (= Carlo Schmid), Europäische Union, in: Merkur, Jg. 1, 1947, S. 649-654, Zitat S. 654.
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Ideen, die kaum mit dem tatsächlichen Integrationsprozess verbunden waren und nur im Zusammenhang der deutschen Ideenlandschaft zu verstehen sind.334 Die strikte Gegenüberstellung von deutschem Nationalismus und Europa-Idee beruhte ohnehin auf der Unkenntnis der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Inhaltlich folgten die Europa-Diskurse bis zur Mitte der 1950er Jahre argumentativen Mustern, die in der Kontinuität der Zwischenkriegszeit standen. Auch im »Dritten Reich« war das Denken in geopolitischen Räumen, von denen Europa welthistorisch die entscheidende Rolle zukommen sollte,335 zu keinem Zeitpunkt unterbrochen, sondern in charakteristischer Weise – wie bereits vor und während des Ersten Weltkrieges – radikalisiert worden. Eine häufig gebrauchte Formel hieß »Raumverbundenheit« plus »Kulturgemeinschaft«336. Kontinentaleuropa unter deutscher Führung, angegliedert der Osten Europas als wirtschaftlicher Ergänzungsraum – diese Vorstellung eines Europa unter dem Hakenkreuz schien in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkriegs Realität zu werden.337 Dass in der nationalsozialistischen und vor allem der SS-Propaganda dabei immer wieder die kulturelle Vielfalt Europas als zu schützender Wert hervorgehoben wurde,338 ermöglicht es, publizistische Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg angemessen einzuordnen, denn der europäische Diskurs wurde, abgesehen von einer schmalen geistigen Gegenelite unter der Ägide der alliierten Besatzungsmächte, zu der einige Remigranten zählten,339 weitgehend von eben jenen Publizisten getragen, die auch zuvor in Deutschland über dieses Thema geschrieben hatten. Die Denkmuster geopolitischen Denkens wirkten fort, freilich »unter seltsam verstellten Vorzeichen«. Nicht mehr von »Raumbewältigung« oder »Raumaneignung« war die Rede, »sondern von der Bewahrung des Raums und dessen möglichst intensiver Nutzung« mit der Perspektive europäischer Gemeinsamkeit.340 Wer in der Zwischenkriegszeit über 334 Grunewald, Europadiskurs. 335 Besonders bekannt, aber nicht das einzige Projekt dieser Art war der Paneuropa-Zusammenhang des Grafen Coudenhove-Kalergi; zur Geschichte der Europa-Ideen im 20. Jahrhundert vgl. Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990; Oliver Burgard, Das gemeinsame Europa – von der politischen Utopie zum außenpolitischen Programm, Frankfurt a. M. 1999; Conze, Europa; für das literarische Feld Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Plädoyer für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915-1945, Frankfurt a. M. 1987; ders., Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, Baden-Baden 21998. 336 August Winnig, Europa. Gedanken eines Deutschen, Berlin 1937, S. 9. 337 Willi A. Boelcke, Die »europäische Wirtschaftspolitik« des Nationalsozialismus, in: Historische Mitteilungen, Jg. 5, 1992, S. 194-232. 338 Vgl. Werner Neulen, Eurofaschismus und der Zweite Weltkrieg. Europas verratene Söhne, München 1980; Jürgen Elvert, »Germanen« und »Imperialisten«. Zwei Europakonzepte aus nationalsozialistischer Zeit, in: Historische Mitteilungen, Jg. 5, 1992, S. 161184. 339 Vgl. Klaus Voigt (Hrsg.), Friedenssicherung und europäische Einigung. Ideen des deutschen Exils, Frankfurt a. M. 1988. 340 Dirk van Laak, Raum-Revolutionen. Geopolitisches Denken in Deutschland um 1930 und nach 1945, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 92-108, Zitate S. 92.
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volksdeutsche Minderheiten in Südosteuropa nachgedacht hatte, wurde nun zum Experten für Flüchtlinge und sprach mit nationalistischem Pathos von der geraubten »Heimat«,341 die gleichwohl nur im europäischen Zusammenhang zurückgewonnen werden könne. Die Kriegsniederlage war zugleich die Stunde der Beschwörung von Europa als einer unabhängigen »Dritten Kraft«342 gewesen, die wesentlich geistig und spirituell und nur in undeutlichen staatlichen und außenpolitischen Kategorien gedacht wurde. Vom Linkskatholizismus der Frankfurter Hefte um Walter Dirks und Eugen Kogon und dem Ruf von Alfred Andersch und Hans Werner Richter bis hin zu sozialdemokratischen Theoretikern wie Richard Löwenthal wurde in den ersten Nachkriegsjahren der Gedanke einer europäischen Dritten Kraft als Abwendung einer globalen Konfrontation der beiden größten alliierten Mächte propagiert, die nach ihrem von Hitler erzwungenen Zweckbündnis schon bald auf Konfrontationskurs gegangen waren. Wie wenig selbstverständlich die Identifikation mit dem westlichen Teilstaat innerhalb der westlichen Hemisphäre ausgeprägt war, zeigen die Antworten namhafter Intellektueller auf eine von Karl Korn initiierte Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Weihnachten 1951. Sie lautete: »Sind die Deutschen Westeuropäer?« Das Spektrum der Antworten hätte kaum breiter sein können. Ernst Robert Curtius problematisierte die Fragestellung, weil es »die Deutschen« gar nicht gäbe, die »deutschen Stämme« vielmehr über Jahrhunderte hinweg zum Teil in einer »deutsch-römischen«, zum anderen Teil in einer »deutsch-slawischen Lebenseinheit« existiert hätten. Abgesehen von konfessionellen Trennlinien hob er das »Rheintal von Basel bis Holland (als) Gebiet starker Einprägung« hervor. Alfred Weber beantwortete die Frage politisch; so gesehen seien »wir« ein »Teil des Westens und entscheiden uns für ihn«, beladen mit einem geistigen Reichtum, der nicht verloren gehen dürfe. Während diese beiden Stellungnahmen immerhin einen Teil Deutschlands in Westeuropa verorteten, beharrten alle anderen Teilnehmer der Umfrage auf der Position einer europäischen Mitte. Am heftigsten protestierte Margret Boveri: »Diese Frage hat mich in einen großen Zorn versetzt. Ich werde sie nicht beantworten, sondern erklären, warum ich sie für verderblich halte. Merken Sie – Redaktion – denn nicht, wie sehr Sie mit ihr der hypnotischen Wirkung des Eisernen Vorhangs verfallen sind?«343 341 Vgl. dazu die Biographie eines maßgeblichen Protagonisten von Ulrich Prehn, Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik, Göttingen 2013. 342 Wilfried Loth, Die Europa-Diskussion in den deutschen Besatzungszonen, in: ders. (Hrsg.), Die Anfänge der europäischen Integation 1945-1950, Bonn 1990, S. 103-128. 343 Sind die Deutschen Westeuropäer?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1951; abgesehen von den Genannten gab es Stellungnahmen von Max Bense, Wolfgang Hennig, Rudolf Pannwitz, Fedor Stepun und Ernst Niekisch; in der redaktionellen Vorbemer-
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Das selbstbewusste Festhalten an der Vorstellung von einem politisch eigenständigen Europa als Dritter Kraft trotz der weltpolitischen Entwicklung, die immer mehr auf eine Entscheidung zugunsten eines west-östlichen Blockdenkens hinauslief, verband sich mit »nationalneutralistischen Positionen«, die einen Vorrang der Wiedergewinnung deutscher Einheit vor der westlichen Integration behaupteten. Der deutsche Nationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, so könnte man überspitzt formulieren, fand sich eher auf Seiten der oppositionellen und durch die Entwicklung des weltpolitischen Gegensatzes geschwächten Linken als bei der konservativen Rechten, die ihn sich nach der Blamage und Katastrophe des illusionären Bündnisses mit der NS-Bewegung nicht mehr leisten konnte und wollte. So wurde der linksunabhängige Ruf, der im August 1946 erstmals unter der Herausgeberschaft von Alfred Andersch und Hans Werner Richter erschien, wegen scharfer, zunehmend nationalistisch getönter Angriffe gegen die alliierte Re-education von den zuständigen Stellen der US-Zone gemaßregelt.344 Alfred Andersch, der mit einem christlichen Abendland nichts anfangen konnte, präsentierte stattdessen eine intellektuelle »europäische Avantgarde«. Unter diesem Titel veröffentlichte er im Verlag der Frankfurter Hefte 1949 einen Band mit zwölf Beiträgen meist jüngerer Autoren, darunter Arthur Koestler, Denis de Rougemont, Ignazio Silone, Albert Camus und Jean-Paul Sartre.345 Damit sollte gezeigt werden, dass in anderen Ländern Intellektuelle ähnlich dachten wie man selbst in Deutschland. Der Band ging auf eine Konferenz in Genf Ende 1946 zurück, auf der einige der späteren Beiträger miteinander diskutiert hatten, wenngleich manche der dort Anwesenden im Sammelband nicht auftauchten, darunter der Marxist Georg Lukács und Karl Jaspers. Gemeinsam sei fast allen Teilnehmern der »Primat des Geistes« gewesen; Andersch hoffte, dass der »Kongreß europäischer Intellektueller« zu einer »permanenten Einrichtung« werden würde,346 was der beginnende Kalte Krieg allerdings verhinderte. Im Vorwort des Sammelbandes definierte Andersch den »europäischen Menschen« als den »Menschen, der sich zur Freiheit bekennt«. Die Intellektuellen wiederum seien die »Avantgarde Europas«, denn das »Schwert der neuen Ritter« kung hieß es, dieser habe »auffallend konziliant für die Position der in der Mitte« plädiert; angefragt worden waren auch Jean-Paul Sartre, Max Frisch, Ernst Jünger und José Ortega y Gasset; Karl Korn an Ernst Niekisch, 14.11.1951, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 344 S. Kapitel I.4.3. 345 Alfred Andersch (Hrsg.), Europäische Avantgarde, Frankfurt a. M. 1949; vgl. Christian Bailey, The European Discourse in Germany, 1939-1950: Three Case Studies, in: German History, Jg. 28, 2010, S. 453-478. 346 Alfred Andersch, Eine Konferenz des jungen Europa, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, Nr. 6, 1.11.1946, abgedruckt in: ders., Essayistische Schriften 1 (Gesammelte Werke, Bd. 8), Zürich 2004, S. 59-61, Zitate dort S. 59, 61; vgl. Uwe Puschner, Der Ruf. Deutschland in Europa (1946-1949), in: Grunewald, Europadiskurs, S. 105-119.
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sei das Wort. Die Verteidigung des Menschen sei »das gemeinsame Anliegen der Avantgarde Europas«, die Verteidigung gegen den »großen Roboter, der die Welt bedroht« und dessen apokalyptische Boten die Gaskammern und Atombomben gewesen seien. Das existenzielle Pathos verband sich mit dem Denken in militärischen Kategorien. Da war die Rede vom »vordersten Graben des Menschen« und dahinter von der »desorganisierten Etappe«, von der »Nacht geistigen Niemandslands«, in das sich »lauernde und prüfende Patrouillengänger einer leidenschaftlichen Objektivität vortasten würden«.347 Das programmatische Vorwort von Andersch fand enorme Aufmerksamkeit, vor allem durch gleichgesinnte Kritiker in den Rundfunkstationen,348 weil der Text ein breites Spektrum von Möglichkeiten des Verständnisses bot, vom allgemeinen Appell geistiger Unabhängigkeit bis zu politischer Kritik. Dem Schweizer Publizisten Denis de Rougemont gab Andersch das Wort zu einer Ironisierung der von den Vereinten Nationen proklamierten und in den USA gehandhabten Menschenrechte mit der Bemerkung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, soziale Sicherheit und Schutz vor äußerer Aggression genössen vor allem »die Sträflinge in amerikanischen Gefängnissen. (Man gönnt ihnen sogar Kino am Samstag-Abend)«. Wahre Freiheit werde nicht vom Staat, ob sowjetisch oder demokratisch, gewährt – »was wir brauchen, um frei zu sein, ist einzig und allein: Mut«.349 Die juvenil angestrichene Beschwörung einer europäischen Avantgarde, wie sie Andersch vorschwebte, führte nicht nur zur Betonung des überlegenen geistigen Kontinents als sogenannter Dritter Kraft neben, zwischen oder über den nuklearen Supermächten, sondern auch zur Ablehnung einer realpolitisch begründeten deutschen Westorientierung. Damit standen unabhängige Linke allerdings auch den – ohnehin gänzlich isolierten – Kommunisten fern, die ihr Klassenkampf-Vokabular vorzugsweise mit deutschnationalen Phrasen garnierten. Die Ideenwelt von Europa als Dritter Kraft war im intellektuellen Raum zumindest Anfang der 1950er Jahre durchaus noch lebendig und umfasste ein diffuses Spektrum unterschiedlicher Positionen. Dazu gehörte am rechten Rand die eurofaschistische Variante der »Nation Europa« als Überwindung des »Bruderkriegs« durch die Bildung einer »großen weißen Völkerfamilie«, wie sie der britische NS-Sympathisant Sir Oswald Mosley propagierte.350 Diese Strömung konnte an eine im Zeithorizont befindliche Mahnung von Oswald Spengler anknüpfen, der die weiße Rasse in den 1930er Jahren zur Ausbeutungsgemeinschaft der ko-
347 Alfred Andersch, Europäische Avantgarde (Februar 1948), abgedruckt in: ders., Essayistische Schriften 1, S. 259-267, Zitate S. 259, 260, 263 f., 266. 348 Der Text des Vorworts wurde, für den Funk bearbeitet und angereichert mit Zitaten aus anderen Beiträgen des Bandes, zuerst vom Nachtprogramm des NWDR am 18.8.1949 gesendet; vgl. Karl Korn, Geist als Wagnis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15./16.10.1949. 349 Zit. nach Schildt, Abendland, S. 99. 350 Oswald Mosley, Zur »Nation Europa« (1951), in: Nation Europa. Monatsschrift im Dienst der europäischen Erneuerung, Jg. 19, 1969, H. 2, S. 3-6.
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lonialen Gebiete hatte einen wollen.351 Der gleiche Gedanke findet sich in der Pan-Europa-Propaganda,352 in den sozialwissenschaftlichen Diskursen und in den Spalten der gehobenen Publizistik der frühen 1950er Jahre. Anders als in der Propaganda Oswald Spenglers für eine Zusammenarbeit der »weißen Rasse« in der Zwischenkriegszeit wurde nun allerdings bisweilen vor europäischem Egoismus und vor »Rassedünkel« gewarnt, der nur dem Bolschewismus in den Kolonien in die Hände spielte.353 Den »Schritt vom Nationalismus der letzten hundert Jahre zu einem Kulturkreis-Kosmopolitismus« mit den Franzosen, Briten, Italienern und anderen Westeuropäern forderte der Soziologe Leopold von Wiese auf einer anthropologisch-soziologischen Konferenz 1951.354 Dass die nur wenige Jahre zurückliegende Hakenkreuz-Herrschaft über den europäischen Kontinent in diesem Zusammenhang nicht angesprochen wurde, erscheint im zeitgenössischen Kontext fast selbstverständlich. In einem Artikel des Merkur, in dem der Schuman-Plan als eine »Hoffnung der Menschheit« begrüßt wurde, träumte der Verfasser von einem »fünften Imperium« »Eurafrika«, dessen Kern Frankreich und Deutschland bilden sollten. »Die Aufgabe aller progressiven Kräfte ist das Fünfte Imperium. Nur wenn sie Schritt für Schritt gelöst wird, wird Europa nicht mehr als ein Weltbalkan fremde Imperien durch seine provozierende Schwäche zu einer Aggression einladen, sondern diese verhindern.«355 Projekte wie »Atlantropa«, eine Kultivierung Nordafrikas durch eine Absenkung des Mittelmeeres als gesamteuropäisches wirtschaftliches Vorhaben, blieben zwar Randerscheinungen in der politischen Öffentlichkeit der frühen 1950er Jahre, galten aber durchaus als seriös.356 351 352
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Vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, Teil I: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933. Vgl. Richard Coudenhove-Kalergi, Die europäische Nation, Stuttgart 1953, S. 142; Paneuropa-Friedensbewegung. VI. Paneuropa-Kongreß Baden-Baden 1954, Frankfurt a. M./ Berlin o. J.; die paneuropäische Bewegung verfolgte ein veraltetes bzw. auslaufendes Europa-Modell der Zwischenkriegszeit; vgl. Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Zürich 2004. Vgl. den Beitrag von Fedor Stepun beim dritten Darmstädter Gespräch; Schwippert, Mensch, S. 164; Stepun, der von Paeschke 1948 für den Merkur rekrutiert worden war und während der gesamten 1950er Jahre zu den Autoren zählte, war es primär um seine Botschaft zu tun, dass der »Bolschewismus (…) nur der Sündenfall Rußlands in den Lehren des Westens« sei; Fedor Stepun an Hans Paeschke, 8.4.1949, in: DLA, D: Merkur; vgl. Holger Kuße (Hrsg.), Kultur als Dialog und Meinung. Beiträge zu Fedor A. Stepun (1884-1965) und Semen L. Frank (1877-1950), München 2008; Christian Hufen, Münchener Freiheit. Der Russlandexperte Fedor Stepun im Kalten Krieg, in: Schildt, Von draußen, S. 71-88. Zit. nach Karl Gustav Specht, Zweite anthropologisch-soziologische Konferenz in Mainz, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 72, 1952, S. 93-102, hier S. 101. Felix Stössinger, Der Schuman-Plan, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 409-428, hier S. 428. Vgl. Alexander Gall, Das Atlantropa-Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Herman Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt a. M./New York 1998; vgl.
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Einen interessanten, zugleich wirtschaftsliberalen und supranationalen Gedankengang entfaltete Wilhelm Röpke im Merkur. Es entspreche dem »Wesen der modernen Massendemokratie«, dass der neue Souverän, das Volk, in einer Weise umschmeichelt werde, die »auf Kosten der anderen Völker« gehe und »nationale Kollektiveitelkeit« und »infantile Massenleidenschaften« in der internationalen Politik hervorbringe. Eine europäische Zusammenarbeit im Zeichen der Marktwirtschaft sei das geeignete Gegenmittel.357 Die Bändigung des Anspruchsdenkens der Massen sprengte demzufolge per se nationale Grenzen. Die Anrufung Europas bot zudem die Möglichkeit, die Westdeutschen als Überwinder des Nationalismus und als Musterschüler europäischer Integration positiv hervorzuheben.358 Wilhelm Röpke machte 1954 den »Antigermanismus« der Nachbarländer als wichtigstes Hindernis für das »Schicksal der europäischen Integration« aus.359 Dem westlichen Ausland keine Anlässe zu geben, ein Wiederaufkeimen des Nationalismus in der Bundesrepublik zu entdecken, war ein gemeinsames Anliegen der meisten westdeutschen Medien; so spielte Dolf Sternberger in der Gegenwart sogar den triumphalen Titelgewinn bei der Fußball-WM 1954 herunter, um nicht das Misstrauen des Auslandes zu erregen.360 Der neoliberale Röpke war einer der wenigen Intellektuellen, die offen davon ausgingen, dass die Westintegration auf lange Sicht die deutsche Spaltung herbeiführen würde. Er hatte bereits im Frühjahr 1945 dafür plädiert, einen westdeutschen Staat im Rahmen eines freihändlerischen Westblocks zu schaffen mit einer »vollkommene(n) Scheidung der moralischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundsätze« entlang der Elbe-Linie.361 Zu Beginn des Kalten Krieges, 1948, lautete für ihn die existenzielle Frage, die er mit pessimistischem Unterton dem Verleger der Deutschen Rundschau, Rudolf Pechel, stellte: »gewinnen die Russen das Spiel um Deutschland oder nicht? Ihr Haupttrumpf ist dabei, dass es ihnen bereits gelungen ist, die Westdeutschen durch ihre Einheitsparole völlig zu verwirren, so dass kein Politiker mehr den Mut hat, seinem gesunden Menschenverstand zu folgen und die Wahrheit zu sagen, die da lau-
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Dirk van Laak, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte, Stuttgart 1999. Wilhelm Röpke, Die Nationalisierung des Menschen, in: Merkur, Jg. 4, 1950, S. 929-941, Zitat S. 934. Vgl. ders., Wie westlich dürfen die Deutschen sein?, in: Der Monat, Jg. 3, 1951, H. 32, S. 209 f. Ders., Antigermanismus, in: Der Monat, Jg. 6, 1954, H. 65, S. 534-538. Dolf Sternberger, Unter uns Weltmeistern gesagt … Untersuchung einiger Reaktionen auf den Berner Fußballsieg, in: Die Gegenwart, Jg. 9, 1954, S. 461-464; vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Weltmeister im Schatten Hitlers. Deutschland und die Fußballweltmeisterschaft 1954, Essen 2014. Zit. nach Loth, Weg, S. 111.
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tet, dass die politische Einheit Deutschlands heute den Sieg Russlands in ganz Deutschland und damit im restlichen Europa bedeutet.«362 Verbunden war der Antikommunismus bei vielen konservativen Intellektuellen mit einem ebenso fundamentalen Antimodernismus, der sich vor allem antiamerikanisch artikulierte. Auch wenn der in den 1920er Jahren gebräuchliche Begriff »Kulturbolschewismus« ausgedient hatte, äußerte sich der dominante Kulturpessimismus in einer grotesken Überschätzung der Stärke der Sowjetunion und gleichzeitiger Verachtung der USA. Er begegnet uns etwa in den Briefen des schweizerischen Kulturphilosophen und freien Schriftstellers Max Picard an seinen langjährigen Freund Wilhelm Hausenstein: »Mein lieber Wilhelm, es wundert mich, dass du es auch nur für möglich hältst, man könne mit der Ostzone eine Kombination machen, ohne dass man von ihr gefressen wird. (…) Helfen kann nur das eine: Wenn der Westen überhaupt nichts anderes tut als rüsten: Dann wird Russland bestimmt keinen Krieg machen, auch in 5 Jahren nicht. (…) Im übrigen muss ich dir sagen, dass mir die Russen menschlich, soweit sie nicht Teile des Polizeiregimes sind, lieber sind als die Amerikaner, die gar keine Menschen sind, sondern wahrscheinlich gezeugt durch die Begattung eines Staubsaugers mit einem Kühlschrank, überhaupt kein Volk, sondern ein aufgerissenes, durch Geheimpolizei zum Lächeln gezwungenes Maul.«363 Max Picard war von der ideologischen, aber auch menschlichen Überlegenheit »der Russen« und der Schwäche des Westens derart überzeugt, dass er tiefe Skepsis gegenüber Adenauers Rüstungsplänen hegte. Die Gratulation, die er zur Ernennung seines Freundes Hausenstein als erstem Gesandten der Bundesrepublik in Paris364 schickte, garnierte er mit dem sorgenvollen Gedanken: »Denn was kann geschehen, wenn die rearmierten Westdeutschen zu den Ostdeutschen übergehen?«365 Die jüngeren Westdeutschen seien pazifistisch kontaminiert und würden nicht kämpfen wollen. Aber solche Gedanken wurden, und selbst dort häufig verklausuliert, allein in katholisch-föderalistischen Richtungsorganen wie dem Rheinischen Merkur vertreten, der schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit für eine Schwerpunktverlagerung Deutschlands auf die kulturellen Kernländer des katholischen Westens 362 Wilhelm Röpke an Rudolf Pechel, 10.2.1948, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/110. 363 Max Picard an Wilhelm Hausenstein, 11.1.1950, in: DLA, A: Wilhelm Hausenstein; die zeittypische Trennung von realpolitischer Westorientierung und aufrechterhaltenen antiamerikanischen Ressentiments ließ sich für Picard offenbar problemlos mit der Bitte an Hausenstein vereinbaren, sein aktuelles Buch im Monat zu besprechen, obwohl er die internationale Richtung der Zeitschrift durchaus kannte; Max Picard an Wilhelm Hausenstein, 8.2.1950, in: DLA, A: Wilhelm Hausenstein. 364 S. Kapitel II.1. 365 Max Picard an Wilhelm Hausenstein, 22.8.1950, in: DLA, A: Wilhelm Hausenstein.
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plädiert hatte.366 Hier verbanden sich dann auch neoliberale und katholisch-konservative Ideologen in gegenseitiger Wertschätzung.367 Die Idee eines einigen Westeuropas, das dadurch als Großmacht nach außen, in die angrenzenden Kontinente hinein, agieren könne, wurde erst allmählich überlagert vom neuen Paradigma eines wirtschaftlich durch seinen Binnenmarkt und eigene technologische Anstrengungen starken Erdteils – Stichwort: »AtomEuropa«368 –, das nicht mehr kolonialistische, sondern kooperative Beziehungen zu den »afro-asiatischen Völkern« aufnehmen sollte. Dazwischen lag die Erfahrung des Dekolonialisierungsprozesses, der ein um 1960 heftig diskutiertes neues »Wertbewußtsein« evozierte.369 Letztlich hantierten die Protagonisten aller intellektuellen Strömungen der 1950er Jahre mit Europa als Chiffre für die Aushandlung allgemeiner, vor allem auf die eigene nationale Gesellschaft bezogener Ordnungsvorstellungen. Beim Ideenimport der frühen 1950er Jahre ist zu beobachten, dass von der politisch-kulturellen Publizistik immer nur jene ausländischen Angebote aufgegriffen wurden, die eigene Positionen autoritativ beglaubigten oder semantisch modifiziert in die jeweiligen eigenen diskursiven Muster übersetzt werden konnten.370 Am Beispiel der Goethe-Debatten war dies besonders deutlich geworden, aber die gleichen Mechanismen zeigten sich bei der Debatte um Europa. Ob es sich um den englischen Kulturtheoretiker Arnold J. Toynbee, den spanischen Philosophen José Ortega y Gasset oder den amerikanisch-britischen Schriftsteller T. S. Eliot handelte – stets entschieden deutsche Gatekeeper über die Aufnahme auf dem heimischen Markt der Intellektuellen. Für den Merkur füllte nicht zuletzt Ernst Robert Curtius diese Funktion aus. Sie wäre unvollständig erfasst, wenn man nur die Entscheidung sehen würde, ob ein Ideenimport passieren durfte. Ein Gatekeeper gab immer zugleich eine Empfehlung ab, wie nützlich und wichtig dieser sei und wie er aufgenommen werden sollte. So betonte Curtius in einem längeren Aufsatz 1949, Eliot besitze »als Kritiker wie als Dichter in den englisch sprechenden Ländern eine Autorität, für 366 Vgl. dagegen die frühe Kritik der Konstruktion einer Identität von Abendland und Europa als faktisches Abfinden mit der europäischen Spaltung bei Walter Dirks, Die Christenheit und Europa, in: Frankfurter Hefte, Jg. 6, 1951, S. 626-637, hier S. 635. 367 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es zumal in den ersten Nachkriegsjahren auch eine eher liberaldemokratische Variante europäisch-föderalistischen Denkens gab, die mit dem Vorbild der Schweiz und in expliziter Distanz zu paneuropäischen Konzeptionen von einer »Eidgenossenschaft« der europäischen Länder ausging; vgl. Otto LehmannRussbueldt, Europa den Europäern, Hamburg 1948, S. 90 f.; sowie die Schrift Der Kampf um den Frieden. Ein neuer Weltkrieg oder eine neue Ordnung? Führende Politiker und Wissenschaftler aus allen Ländern und allen Lagern fordern als Ausweg der Krisis der Gegenwart ein föderiertes Europa in einer föderierten Welt, Koblenz o. J. (1948), S. 105. 368 Vgl. Franz Etzel, Atom-Europa von morgen, in: Politische Meinung, Jg. 2, 1957/II, Heft 16, S. 203-227. 369 Vgl. Ruth Kadalie, Europa und die »Farbigen«, in: Frankfurter Hefte, Jg. 15, 1960, S. 261268, hier S. 262. 370 Vgl. Schildt, Von draußen.
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die es wenige Analogien gibt«, um dessen Bedeutung dann gehörig zu relativieren.371 In einem weiteren Aufsatz aus dem Merkur im gleichen Jahr würdigte Curtius auch Ortega y Gasset als europäischen Schriftsteller. Man kann diese Aufsätze als grenzpolizeiliche Stempel für die Einreise in die westdeutsche Ideenlandschaft verstehen. Und nur unter dieser Voraussetzung galt die These von Ortega, »unser geistiger Besitz« stamme zum großen Teil nicht aus dem jeweiligen »Vaterland«, sondern aus dem »gemeinsamen europäischen Fundus«.372 Bei allen Unterschieden in der Argumentation handelte es sich im Europa-Diskurs der gelehrten Foren und gehobenen Publizistik um eine bildungsbürgerlich geprägte Selbstverständigung, bei der explizit oder unausgesprochen über ein Europa der Eliten verhandelt wurde.373 Während sich die europäische Integration noch auf politische Diplomatie, militärische Bündnisse und Abkommen zur Ordnung des Marktes für einzelne wirtschaftliche Sektoren beschränkte, ging es hier um die kulturelle Aufgabe, »eine geistige Gemeinsamkeit zwischen den Eliten der europäischen Länder zu schaffen«.374 Dazu trugen zahlreiche Institutionen und Foren wie etwa das Collège d’Europe in Brügge oder der Aachener Karlspreis bei;375 noch wichtiger waren die schwer zu überblickenden Anregungen und Adaptionen im intellektuellen Transfer. Wenn in der intellektuellen Publizistik ausnahmsweise von der Bevölkerung anderer europäischer Länder gesprochen wurde, dann meist in den Mustern einer dilettierenden Völkercharakterologie, in der »dem Deutschen«, »dem Franzosen« oder »dem Engländer« als Kollektivsubjekt bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden,376 wobei dies häufig mit dem traditionellen, aber nun inflationär ge371 Ernst Robert Curtius, T. S. Eliot, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 1-23. 372 Dieses Zitat charakteristischerweise aus einem in Nation Europa abgedruckten Aufsatz von Ortega y Gasset, Die Nation Europa (Jg. 2, 1951, Heft 2, S. 3-9, hier S. 7). 373 Vgl. als typisches Beispiel Martin Göhring (Hrsg.), Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongreß, Mainz 1955, Wiesbaden 1956. 374 Max Beloff, Europa und die Europäer. Eine internationale Diskussion. Mit einer Einführung von Denis de Rougemont, Köln 1959, S. 385; es handelt sich hier um den Bericht über die Diskussionen einer vom Europarat angeregten internationalen Studiengruppe in den Jahren 1953 bis 1957; vgl. zu den einschlägigen Aktivitäten dieses Gremiums Judith Kruse, Europäische Kulturpolitik am Beispiel des Europarates, Münster/Hamburg 1993, S. 36 ff. 375 Vgl. Henry Brugmans, Erziehung zum Europäer, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, 1950, S. 801803 (der Holländer Brugmans, Träger des Aachener Karlspreises 1952 und führender Vertreter der europäischen Föderalisten, war Rektor des Brügger Europa-Kollegs); Probleme der Einigung Europas (Europäische Wochen in Hamburg). Schriftenreihe zur europäischen Integration. Organ des Europa-Kollegs in Hamburg, Düsseldorf o. J. (1957); die 1951 gegründete Vereinigung von europäischen Instituten (AIEE) zählte am Ende des Jahrzehnts 19 Mitglieder, darunter sieben in der Bundesrepublik, zwei in Österreich, vier in Frankreich, zwei in Italien, zwei in Spanien, eines in Belgien (Friedrich Schneider, Europäische Erziehung. Die Europa-Idee und die theoretische und praktische Pädagogik, Freiburg u. a. 1959, S. 30). 376 Vgl. etwa Harold Theile, Europäer-Spiegel, in: Frankfurter Hefte, Jg. 12, 1957, S. 247-250.
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brauchten Lob der europäischen Vielgestaltigkeit verbunden wurde, die allerdings »hinter der gemeinsamen Familienähnlichkeit zurücktrete«.377 Mit Beginn des Kalten Krieges veränderte sich der intellektuelle Europa-Diskurs zusehends. Wer sich in der Öffentlichkeit äußern wollte, hatte sich auf die neuen politischen Rahmenbedingungen einzustellen. Angesichts der bipolaren Welt des Kalten Krieges lautete die Gretchenfrage in allen Europa-Debatten am Ende: Wie hältst Du es mit Amerika? Die historische Pointe bestand darin, dass viele konservative und rechtsliberale Intellektuelle, die 1933 die »nationale Revolution« begrüßt hatten, sich nach dem Zerfall ihrer Illusionen aber als sehr viel anpassungsfähiger an die neuen Umstände erwiesen als sozialdemokratische, linksunabhängige und kommunistische Intellektuelle. Die Kritik rechter Intellektueller bezog sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt vor allem auf linksliberale Einflüsse der US-Besatzungsmacht. Robert Ingrim, auch er kam aus den USA nach Europa zurück, fasste seine Anklage im Merkur, der damit 1950 seinen vierten Jahrgung eröffnete, bündig zusammen: »Die deutsche Linke zu bevorzugen, das gehörte zur missionarischen Aufgabe, mit der die Militärregierung ihr Amt antrat.«378 Im Übrigen seien die USA schon nach dem Ersten Weltkrieg ein Werkzeug der britischen Politik gewesen und hätten die deutsche Opposition gegen Hitler im Stich gelassen. Am leichtesten fiel es den rechtskatholischen Abendland-Ideologen, ihre amerikaskeptische Haltung allmählich abzulegen. Vorbehaltlos begrüßten sie den Ausbruch des Kalten Krieges und den Kampf gegen den Bolschewismus als gefährlichsten Feind der Christenheit. Mit großer Genugtuung wurde in Neues Abendland registriert, dass die vatikanische Strategie nun endlich eine eindeutige Front mit den USA gegen den Bolschewismus vorsah.379 Wenngleich Ost wie West weiterhin als zwei dem Christen fremde Ideen galten und die USA und die Sowjetunion als gleich säkularisiert, unchristlich und atheistisch angesehen wurden, meinte man doch, das europäische Abendland könne nur mit Hilfe Amerikas der totalitären Bedrohung aus dem Osten standhalten. Die auf geistige Äquidistanz ausgerichtete Argumentation mündete in den Artikeln von Neues Abendland regelmäßig in einem realpolitischen Ausblick. Wenn auch die »Massen bindungslos und flach im Totalitarismus wie im Liberalismus« seien, so formulierte ein Autor der Zeitschrift, habe doch der Bolschewismus »zusätzlich zu allen negativen Erscheinungen, die ihn mit dem Liberalismus verbinden würden, noch etwas Teuflisches geboren: brutalste Versklavung aller Arbeitenden, 377 So die These des populären Buches des Spaniers Salvador de Maderiaga, Porträt Europas, Stuttgart 1952, S. 17 (de Maderiaga lehrte in den 1950er Jahren u. a. in Oxford und war Präsident des Brügger Europa-Kollegs); vgl. auch Heinrich Krieger, Gibt es zu viele Europa-Wege, in: Politische Meinung, Jg. 2, 1957/II, Heft 15, S. 47-52; Carlo Schmid, Der europäische Mensch, in: Thomas Raeler (Hrsg.), Europa, Zürich/Stuttgart 1960, S. 9-30; Denis de Rougemont, Europa – Vom Mythos zur Wirklichkeit, München 1962. 378 Robert Ingrim, Amerikas europäische Politik, in: Merkur, Jg. 4, 1950, S. 1-12, Zitat S. 8. 379 S. Kapitel II.2.1.
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physischen Terrorismus«, so dass sich West und Ost wie »geistige Zersetzung« zu »bewusstem Verbrechertum« verhielten. Und immerhin, dieser Hinweis fand sich seit den frühen 1950er Jahren häufig, gebe es in den USA doch – wie auch immer kritikwürdige – Formen des Christentums.380 Der Drahtseilakt zwischen Westoption und Antiliberalismus beinhaltete die ständige Gefahr offener Kritik amerikanischer Politik. Als zum Beispiel die Wasserstoffbombe in Neues Abendland 1950 als »totales geistiges und moralisches Armutszeugnis der USA« verurteilt wurde, beeilte sich Emil Franzel, in einem Nachwort diese »Einzelmeinung« zu relativieren.381 Die Trennung von kultureller Äquidistanz zum Liberalismus des Westens wie zum Bolschewismus des Ostens einerseits und der realpolitischen Einsicht andererseits, das europäische Abendland nur mit Hilfe der USA verteidigen zu können, markierte die wichtigste Integrationsideologie der Ära Adenauer als Angebot für das konservative Bürgertum, das seine Vorurteile und seinen Dünkel kultureller Überlegenheit Deutschlands und Europas gegenüber den USA behalten und dennoch für eine gemeinsame Welt des Westens optieren konnte. Emil Franzel entwarf auf dieser Basis Ende 1948 eine erste Skizze künftiger europäisch-abendländischer Politik unter den neuen Rahmenbedingungen, und das hieß, unter dem Schutz der USA. Der linke Sozialdemokrat Gerhard Gleissberg charakterisierte diese Konzeption. Sie reiche »von Adenauer über Frings und Pferdmenges bis nach Washington und Rom«.382 Vor diesem Hintergrund plädierten die Protagonisten von Neues Abendland für eine Achse Bonn – Paris – Madrid – Lissabon in Westeuropa, für eine gemeinsame europäische Armee und für eine deutsch-französische Verständigung. Diese rückte in den folgenden Jahren in den Mittelpunkt von Franzels Artikeln in Neues Abendland. Er sprach von einer »abendländischen Völkersymphonie«, zu der die »Italiener, Spanier, Slawen, die Skandinavier wie die Holländer oder die Portugiesen« und die Engländer gehören sollten: »die Motive in dieser Symphonie geben aber in den entscheidendsten Partien immer wieder Franzosen und Deutsche an«.383 Die Einigung Europas angesichts der existenziellen Auseinandersetzung mit dem Osten, dies wurde auch von manchen katholischen Abendland-Protagonisten her380 Wolfgang Heilmann, Christliches Gewissen zwischen Ost und West, in: Neues Abendland, Jg. 6, 1951, S. 597-606; zum Amerikabild vgl. etwa den Bericht über eine im Rahmen der Re-orientation finanzierte mehrwöchige Reise von Johann Wilhelm Naumann, Licht und Schatten aus USA. Gedanken zu einer Amerikafahrt, in: Neues Abendland, Jg. 4, 1949, S. 257-261, 289-292, 328-330, 364-366. 381 Heinz von Homeyer, Das Ultimatum der Wasserstoffbombe, in: Neues Abendland, Jg. 5, 1950, S. 177-180, Zitat S. 177; E. F. (= Emil Franzel), Ein notwendiges Nachwort, in: ebd., S. 181 f., Zitat S. 182. 382 Gerhard Gleissberg an Kurt Hiller, 13.9.1954, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Gerhard Gleissberg. 383 Emil Franzel, Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes, in: Neues Abendland, Jg. 5, 1950, S. 1-4, Zitat S. 4; vgl. zum Folgenden ausführlicher Schildt, Abendland, S. 42 ff.; Plichta, Erneuerung.
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ausgestellt, erforderte die Einbeziehung Englands, die im paneuropäischen Denken der Zwischenkriegszeit – unter Hinweis auf die überseeische Orientierung der britischen Inseln – noch als kaum lösbares Problem gegolten hatte. In den jesuitischen Stimmen der Zeit wurde demgegenüber 1960 in bilderreicher Sprache ausgemalt: »Seitdem haben sich die Dinge gewandelt: Großbritannien verlor sein Weltreich, und das Abendland ist in Gefahr, von Eurasien erdrückt, von den Wölfen und Bären der russischen Steppen zerfleischt zu werden. Da scheint die Zeit für beide, für England und seine festländischen Nachbarn, gekommen zu sein, wieder enger zusammenzurücken, die alten Familienbande zu erneuern, um in Gemeinschaft die neuen, schweren Aufgaben zu bestehen.«384 Dass aber die britischen Inseln in geistiger Hinsicht nur bedingt zum abendländischen Europa gehörten, stand für die rechtskatholischen Intellektuellen fest. Pointiert könnte man sagen, dass ihnen die geistige Überbrückung des Atlantiks leichter fiel als die des Ärmelkanals.385 In den frühen 1950er Jahren wurde der als übermächtig und aggressiv wahrgenommene Bolschewismus, der sich schon bis nach Deutschland verbreitet hatte, von konservativ-abendländischen Intellektuellen als aktueller Ausdruck des jahrhundertealten Anflutens der Massen aus dem asiatischen Raum interpretiert. Diese traditionsreiche Erzählung überschrieb die vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dominante Version eines »jüdischen Bolschewismus«, die von der russischen Konterrevolution propagiert worden war und in der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung zum zentralen Feindbild avancierte.386 Auf der Linie der nationalsozialistischen Weltkriegspropaganda, eine abendländische Abwehrschlacht gegen die russisch-asiatische Gefahr beschwörend, sprachen Konservative meist nicht von »Antikommunismus«, sondern von »Antibolschewismus«. Der Bolschewismus wurde nicht als radikalisierter oder auch stalinistisch pervertierter Marxismus angesehen, sondern als aktueller Ausdruck eines viel älteren Kampfes zwischen dem Prinzip der Freiheit im Westen und einem seelenlosen Kollektivismus in der Sowjetunion, der auf die osteuropäischen Länder und »Mitteldeutschland« übertragen worden sei. Mit dieser geschichtsmetaphysischen Überhöhung ließ sich zum einen an die blühende Abendland-Ideologie sowohl der Nationalsozialisten wie der Nachkriegszeit anknüpfen; zum anderen entsprach der antislawische Kern der revanchistischen Propaganda der einflussrei384 G. Friedrich Klenk SJ, Der englische Mittelweg und das Schicksal Europas, in: Stimmen der Zeit, Bd. 168, 1960/61, S. 173-185, hier S. 173. 385 Vgl. Jacobus Gijsbertus de Beus, Die Zukunft des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1956 (USA: 1953), S. 166 ff. 386 Mathias Vetter, Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917-1939, Berlin 1995; Ulrich Herbeck, Das Feindbild vom Jüdischen Bolschewiken. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009; André Gerrits, The Myth of Jewish Communism. A Historical Interpretation, Bern u. a. 2009.
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chen Vertriebenenverbände. Gegenüber Karl Korn hatte Ernst Niekisch auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise polemisiert, Hitlers Politik sei »als Antibolschewismus wiedererstanden«.387 Symbolischen Ausdruck fand die antibolschewistische Abendland-Anrufung in der Festrede des gerade ernannten Außenministers Heinrich von Brentano vor 70.000 Menschen im Augsburger Rosenau-Stadion. Anlass war die Erinnerung an die eintausend Jahre zurückliegende Schlacht auf dem Lechfeld 955: »Die Ähnlichkeit ist erschreckend. Damals standen vor den Toren des Abendlandes, vor den Toren dieser Stadt, in der wir weilen, die heidnischen Nomadenscharen des Ostens; Verderben und Untergang drohen. Jetzt stehen wiederum, nicht sehr viel weiter von dieser Stadt entfernt, die Massen des Ostens.«388 Die Einbettung der aktuellen bolschewistischen Gefahr in einen viel älteren Kampf zwischen Ost und West war keine Spezialität katholischer Abendland-Ideologen, sondern entsprach als Verallgemeinerung von Weltkriegserfahrungen dem geistigen Horizont breiter Teile der Bevölkerung und findet sich in zahllosen konservativen Deutungsangeboten. Besonders prominent geworden ist der nicht christlich, sondern – scheinbar abgeklärt – anthropologisch daherkommende Essay »Der gordische Knoten« (1953) von Ernst Jünger.389 In diesem Kommentar zum Ost-WestVerhältnis390 war nicht von »Antibolschewismus« die Rede; vielmehr wurde das Prinzip des Ostens dem Prinzip des Westens als Begegnung von Asien und Europa entgegengestellt. Bindung und »Schicksalszwang« des Ostens und Freiheit und Geist des Westens stünden sich nicht nur geographisch gegenüber, sondern repräsentierten überhistorisch »zwei Residenzen, zwei Schichten des menschlichen
387 Ernst Niekisch an Karl Korn, 8.9.1948, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c; vgl. auch die von Respekt getragene briefliche Diskussion um das Verhältnis von Nationalsozialismus und Bolschewismus zwischen Niekisch und Karl Jaspers 1953, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 b. 388 Zit. nach Abendland. Die missionäre Monarchie, in: Der Spiegel, 10.8.1955, S. 12-14, Zitat: S. 12; vgl. Schildt, Abendland, S. 38 (ff.); Matthias Pape, Lechfeldschlacht und NATO-Beitritt. Das Augsburger »Ulrichsjahr« 1955 als Ausdruck der christlichen-abendländischen Europaidee in der Ära Adenauer, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, Bd. 94, 2001/2002, S. 269-308; Conze, Europa, S. 163 ff.; der Bundespräsident sprach in Augsburg aus gleichem Anlass und deutete leise und indirekt Kritik an sowie seine »Sorge, wenn das Gewesene, aus bedrängten Zeiten dieser Gegenwart idealisiert, Wunschbilder erweckt, (…) um damit leicht zum Bedürfnis der Restauration, der Rückkehr zum Abgestorbenen, zu kommen.« Die von Brentano bemühte Analogie erwähnte er nicht einmal; Theodor Heuss, Augsburg in der deutschen Geschichte: Zur 1000-JahrFeier der Schlacht auf dem Lechfeld (1955), in: ders., Die großen Reden, München 1967, S. 229-235, Zitat S. 229. 389 Ernst Jünger, Der gordische Knoten, Frankfurt a. M. 1953. 390 Vgl. Heinz Ludwig Arnold, Von Unvollendeten. Literarische Porträts, Göttingen 2005, S. 38.
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Seins«, die deshalb auch in allen Menschen selbst verkörpert seien.391 Auf den ersten Blick erhob sich Jünger damit über den politischen Streit, genauer besehen aber stigmatisierte und denunzierte er »den Osten«, zumal die Gleichsetzung von Russland und Asien die rassistische Konstruktion der Nationalsozialisten tradierte. Seine Beispiele, vor allem antiken Stoffen und mittelalterlichen Mythen entnommen, konnten die Zeitgenossen nicht einmal ein Jahrzehnt nach dem Unternehmen »Barbarossa« nur an die Ostfront denken lassen: »Wiederum gehört zum Bilde der Untergang westlicher Heere in Wüsten, Steppen und Ebenen. Der Raum wird feindlich, Hitze und Frost treten als seine Bundesgenossen auf. Die Ordnung wird angegriffen, von Auflösung bedroht. Der Feind benutzt die Einöde als Netz, als Irrgarten. Oft bleibt er unsichtbar. Er kann auf die Entscheidungsschlacht verzichten und zieht Beunruhigung durch Reiterschwärme, Nachhutgefechte und Partisanen vor. Die Glut, der Frost, der Hunger, die Ungewißheit zermürben gründlicher als jede Strategie. Sich auf das Ungebahnte einzulassen, bedeutet für den westlichen Feldherrn ein größeres Wagnis als für den östlichen.«392 Letztlich setzte Jünger »westliche Mäßigung« dem »östlichen Blutrausch« entgegen.393 Der Schwertstreich durch den gordischen Knoten bestand für Jünger darin, den Weltbürgerkrieg zwischen Ost und West zu beenden und mit einem Vertrag eine Weltregierung zu etablieren, in der die gegensätzlichen Grundhaltungen als anthropologische Konstanten anerkannt und zu einem Ausgleich gebracht würden. Unabhängig von oder vielleicht auch wegen des utopischen Charakters dieses Ausgangs, den Jünger selbst einige Jahre später dementierte, als er die »planetarische Ordnung« mit den zwei Weltmächten USA und Sowjetunion als »bereits vollzogen«
391 Ebd., S. 24; daran anschließend die wohlwollende Interpretation von Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München 2010, S. 474; demnach habe Jünger »mitten im Kalten Krieg zwischen Ost und West zu vermitteln« versucht; politische Implikationen leugnend Wochciew Kunicki, Der gordische Knoten (1953), in: Matthias Schöning (Hrsg.), Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2015, S. 199-202; kritischer dagegen Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, Berlin 2009, S. 604, der bemerkt, dass der Hinweis auf den »metaphorischen Sinn« von Ost und West Jünger »nicht ganz entschuldigen« könne, weil das Geographische stets mitklinge; vgl. zur »Reduktion auf den anthropologischen Wesenskern« Martin Meyer, Ernst Jünger, München 1990, S. 394 ff., Zitat S. 397. 392 Jünger, Gordischer Knoten, S. 8 (Kursivierung im Text); allerdings finden sich auch etliche Passagen zur »Kriegführung nach östlichem Muster« im Zweiten Weltkrieg (ebd., S. 57), etwa die Kritik, die deutsche »Strategie der verbrannten Erde (habe) östlichen Macht- und Raumvorstellungen« entsprochen (ebd., S. 120) und deshalb kontraproduktiv gewirkt. 393 Eine exakte Textanalyse liefert Kai Köhler, Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten, in: Lutz Hagestedt (Hrsg.), Ernst Jünger. Politik – Mythos – Kunst, Berlin/New York 2004, S. 205-224, Zitat S. 209.
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erklärte,394 fand sein Essay beträchtliche Aufmerksamkeit; innerhalb von zwei Jahren wurde er viermal aufgelegt. In diesem Text war die Propaganda des Westens als Inkarnation individueller elitärer Freiheit gegen den Herdentrieb und kollektivistischen Zwang des Ostens, vornehm und nüchtern im Ton, zu einem überhistorischen Muster geworden. Die Warnung vor der bolschewistischen Gefahr beschränkte sich in den 1950er Jahren nicht auf Abwehrrhetorik, sondern präsentierte sich in Kombination mit revanchistischer Propaganda, die weit über eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hinausreichte und deren Kern die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs war. Dies zeigte sich etwa in der großzügig geförderten »Ostforschung«, aber auch in der Publizistik abendländischer Ideologen, in der sich Bedrohungsszenarien und offensive Töne abwechselten. Besonders markant liest sich eine Berechnung von Otto von Habsburg in einer weit verbreiteten Schrift 1953, der zufolge 231 Millionen Kontinentaleuropäer 230 Millionen Russen gegenüberstünden, während 100 Millionen versklavte Osteuropäer sich auf die Seite des Abendlandes schlagen würden. Europa werde »bis an die echten Grenzen Russlands« heranrücken.395 Aber auch in solchen abendländisch-europäischen Bekundungen wurde zwischen den Zeilen deutlich, dass es sich um globale Machtkonstellationen im Zeitalter einer Pax Americana handelte. Insgesamt wurde aber selbstkritisch festgehalten: »Der Westen hat es in den abgelaufenen 10 Jahren nicht vermocht, eine ideologische Gegenkonzeption zur geistigen und politischen Überwindung der kommunistischen Ideologie zu entwickeln.« Vorgeschlagen wurde eine »baldige Einberufung einer internen Tagung eines geschlossenen Kreises, auf der ideologisch klar ausgerichtete Menschen verschiedener Berufszweige sich gemeinsam über die neugeschaffene ideologische Kampfsituation klarwerden und grundlegende Richtlinien für die begonnene Auseinandersetzung entwickeln«.396 Diese Sitzung fand am 20. Oktober 1955 statt. Staatssekretär Ritter von Lex führte einleitend aus, die große Gefahr bestehe darin, dass sich der »Glaube an eine friedliche Koexistenz der beiden Hemisphären (…) im Vordringen« befinde. Dagegen sollte die »wissenschaftliche Durchdringung der marxistisch-leninistischen Lehre und des dialektischen Materialismus« intensiviert werden, am besten durch ein Bundesinstitut mit einem »Stamm von mindestens 30 bis 50 hauptamtlich tätigen Rednern«, der »regelmäßig geschult und einheitlich geistig ausgerichtet« werde. Es ist interessant, dass ein Ministerialrat Lüders »bei aller Anerkennung des Bedürfnisses einer solchen zentralen Einrichtung« auf die Risiken einer solchen Planung hinweisen durfte, wie sie ansonsten im Umkreis des CCF hervorgehoben wurden: »Die Demokratie dürfe nicht bei der Ab394 Ernst Jünger, Der Weltstaat – Organismus und Organisation, in: Bähr, Wo stehen wir heute?, S. 163-180, Zitate S. 179. 395 Otto von Habsburg, Entscheidung um Europa, Innsbruck u. a. 1953, S. 20 f. 396 Bundeszentrale für Heimatdienst an Bundesminister des Innern (vertraulich), 29.9.1955, in: ACDP, Nl. Paul Franken, 003/5.
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wehr des Kommunismus in Methoden verfallen, die in ihrer geistigen Uniformität der Kampfart der totalitären kommunistischen Weltanschauung entsprächen.«397 Im Zusammenhang der Planungen des Bundesministeriums des Innern mit der Bundeszentrale war 1956 auch eine Kampagne zur »Zurückdrängung des Einflusses linker Schriftsteller« vorgesehen. Namentlich erwähnt wurden Hans Werner Richter von der Gruppe 47, Alfred Andersch,398 Arno Schmidt und Günther Weisenborn.399 Offen bleibt, ob und welche Schritte zur Realisierung unternommen wurden. Radikale Eingriffe im Bereich der Kunst, wie der von Friedrich Torberg, einem österreichischen Remigranten und CCF-Funktionär, organisierte und über fünf Jahre durchgehaltene Boykott der Aufführung von Dramen Bertolt Brechts in Wien,400 gab es in der Bundesrepublik nur vereinzelt in der Provinz. Gegenüber dem klaren Kurs der rechtskatholischen Intellektuellen taten sich die ehemaligen »konservativen Revolutionäre« zwar schwerer mit konkreten politischen Handlungsanleitungen, sie erwiesen sich aber als ähnlich anpassungsfähig an die dezisionistischen Maximen der politischen Kultur. Der Soziologe Hans Freyer veröffentlichte 1948 eine voluminöse »Weltgeschichte Europas« in zwei Bänden. Er sah die Menschen am Ende der Revolutionen, geworfen in eine Welt, die von den globalen Mächten der Moderne, ob nun in sowjetischen oder amerikanischen Formen, beherrscht würde. Auch von ihm war der deutsche Machtstaat verabschiedet worden, fungierte der europäische Geist als rettender Halt. Aber Freyer ging einen Schritt weiter als die katholischen Abendland-Ideologen. Für ihn war ein kulturell unterscheidbares Europa kaum mehr sichtbar, man begegne Europa mittlerweile überall auf der Welt. So ergebe sich »eine Zukunft abendländischer Art – wenn wir nur wach bleiben«.401 Diese Konstruktion ebnete von vornherein die Differenz zwischen Europa und den USA ein und eignete sich damit für eine flexible Anpassung an den Lauf der Dinge, der sich von einer nationalen Perspektive entfernte, nicht zuletzt für eine Annäherung an die westliche Führungsmacht jenseits des Atlantiks im Rahmen supranationaler Strukturen. Hans Freyer, einer der wichtigsten Protagonisten eines »modernen« Konservatismus, hatte vor 1933 die jungen Redakteure der Zeitschrift Die Tat beeinflusst, die sich strategisch besonders wendig zeigten. Die Intellektuellen des Tat-Kreises, vor allem Hans Zehrer, Giselher Wirsing, Ferdinand Fried und Ernst Wilhelm Eschmann, die in der Nachkriegspublizistik eine erfolgreiche zweite Karriere starteten, 397 Vertrauliches Protokoll einer Besprechung zur Frage der Intensivierung des geistigen Impulses gegen den Kommunismus im Bundesministerium des Innern am 20.10.1955, in: ACDP, Nl. Paul Franken, 003/5. 398 Schon 1952 hatte Ernst Jüngers Sekretär Armin Mohler seinem Freund Alfred Andersch zur Veröffentlichung seines Romans »Kirschen der Freiheit« mit der Bemerkung gratuliert: »1946 wären Sie der große Mann gewesen damit; heute wird Ihnen McCarthy auf die Bude steigen. Und Sie haben einen schönen Rundfunkposten zu verlieren.« (Vgl. Mohler an Andersch, 31.10.1952, in: DLA, A: Armin Mohler, Alfred Andersch.). 399 Hentges, Staat, S. 348. 400 Vgl. David Axmann, Friedrich Torberg. Die Biographie, München 2008, S. 199 ff. 401 Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, 2 Bde., Wiesbaden 1948 (21954), S. 1011.
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hatten ihre Expertise auf diesem Feld bereits in der Kriegszeit ausgeweitet.402 Ferdinand Fried hatte in einem Buch mit dem Titel »Die soziale Revolution« sehr markant die Gesellschaften der USA und der Sowjetunion auf eine Stufe gestellt: »Beide sind als Sozialgebilde von durchaus ähnlicher Struktur, und beide sind daher auch von einem durchaus verwandten Geist durchseelt. In beiden hat sich die moderne Masse am stärksten ausgeprägt, quantitativ und qualitativ, denn in beiden ist die Masse auch am wenigsten gegliedert, weder sozial noch völkisch. In beiden Gebilden herrscht daher eine Vergottung der Technik. (…) Die bolschewistische Gottlosenpropaganda ist im Grunde vom gleichen Schlage wie die Propaganda des amerikanischen Vereinschristentums mit Schlagzeug und Schlagersänger.«403 In der amerikakritischen konservativen Literatur der Nachkriegszeit lassen sich unzählige Zitate finden, die nahezu wortgleich die kulturelle Äquidistanz Europas zur US-amerikanischen und sowjetischen Gesellschaft und Kultur ausdrücken. Nur wenige Wochen nach Hitlers Kriegserklärung an die USA erschien Wirsings Kampfschrift »Der maßlose Kontinent«, die hohe Auflagen erzielte. Wie Fried betonte Wirsing die »Normierung des gesamten Lebens und darüber hinaus auch des Denkens« in den USA, die »Kettenrestaurants«, das »Warenhaus mit seiner völligen Uniformierung der Kleidung«, die »unbeschränkte Diktatur der öffentlichen Meinung«, den »amerikanischen Jazz, die Filme aus Hollywood, den amerikanischen Slang«, die »amerikanische Konservenkultur«, die »ausdruckslosen Gesichter bei diesen Puppenparaden, die zum gegebenen Zeitpunkt jedes Kino und jede Zeitschrift zeigt«, usw.404 Wirsing bettete dieses Sittenbild der US-Gesellschaft in eine antisemitische Konstruktion. Danach hätte die liberale jüdische Ostküste die rassisch wertvolle Pflanzeraristokratie des Südens, in der europäische Werte bewahrt worden seien, von der Macht verdrängt. Der normierten sowjetischen und langfristig sogar gefährlicheren amerikanischen Gesellschaft und Kultur wurden während des Krieges von diesen maßgeblichen Ideologen des Regimes an keiner Stelle nationale, sondern europäische Werte entgegengestellt, auch der Antisemitismus verflüchtigte sich dabei am Ende. Wirsings Mitstreiter Eschmann beschwor in einem Sammelband das »Erlebnis Europas als Heimat« und feierte den Europäer als den »menschlichsten unter den Menschen«.405 In seiner Schrift »Zeitalter des Ikaros« (1944) verzichtete Wirsing dann sogar darauf, den Führungsanspruch Deutschlands in Europa auch nur zu erwähnen. Die Rede war von der »Herausbildung sozialer Völkergemeinschaften«, gegliedert nach »föderalistischem Prinzip«. »Chauvinismus« und »festgefressene 402 Vgl. Schildt, Deutschlands Platz, S. 350 ff. 403 Ferdinand Fried, Die soziale Revolution. Wandlung von Wirtschaft und Gesellschaft, Leipzig 1942, S. 41 f. 404 Wirsing, Kontinent, S. 78, 79, 341, 347, 423. 405 Ernst Wilhelm Eschmann, Die geistige Gemeinsamkeit Europas, Berlin 1944, S. 14, 35.
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Vorurteile« seien wie alles, was die Ausbildung europäischen Gemeinschaftsgefühls untergrabe, zu überwinden. Europa wurde als »geistiger Begriff« und »geschichtlich geprägte Kultureinheit« definiert, deren gemeinsames Ethos auf der Rolle der »schöpferischen und kämpferischen Persönlichkeit« beruhe. Die Überschreibung des Nationalismus mit einer europäischen Ideologie lag in der Konsequenz des Kriegsverlaufs, in dem Deutschland auf die Festung Europa zurückgeworfen worden war. Das erleichterte die Gleichsetzung des deutschen mit dem europäischen Schicksal: »Der Zweite Weltkrieg wird für Europa der Einigungskrieg werden, oder Europa wird nicht mehr sein.« Im Fall der Niederlage drohe das amerikanische Ideal des »Einheitsmenschen«, der »Mensch von der Stange«. Während dieses bedrohliche Szenario in der Logik konservativer Amerika-Betrachtung lag, wartete Wirsing mit einem neuen Gedanken auf. Im Falle eines alliierten Sieges werde Europa nicht als ungeteilte Einheit erhalten bleiben, sondern in seinen Teilen jeweils Anhängsel der beiden Supermächte werden. Der »furchtbare Ansturm des Nihilismus« gegen die »Substanz der europäischen Kultur« wurde zum zentralen Thema der publizistischen Kriegsbegleitung Wirsings.406 Den USA wurde vorgeworfen, an dem widernatürlichen Bündnis mit dem Bolschewismus festzuhalten. Dadurch hätten sie für den bereits begonnenen dritten Weltkrieg wichtiges Terrain aufgegeben. In seinem letzten Weltkriegsbuch, einer Kampfschrift gegen den »Sowjetimperialismus«, die unter dem Pseudonym »Vindex« erschien, vermied Wirsing jede Gleichsetzung der amerikanischen und sowjetischen Kultur.407 Den Übergang ins westliche Lager hatte er bereits konzeptionell ausgearbeitet, bevor seine Karriere für einige Jahre unterbrochen wurde.408 Hans Zehrer trat mit Thesen zur Weltlage an die Öffentlichkeit, die er vor und nach der Währungsreform im evangelischen Sonntagsblatt veröffentlicht hatte. Wie Ernst Jünger ging auch Zehrer davon aus, dass durch die Entwicklung der Technik, die Raum und Zeit schrumpfen lasse, »ein Weltstaat und eine Weltregierung« erzwungen werden würden. Und in der Terminologie Spenglers setzte er voraus, dass es sich dabei um einen »Weltcaesarismus« handeln würde, der durch ein Atomwaffenmonopol die Menschheit beherrschen werde. Der neue »Welt-Augustus« werde ein amerikanischer Präsident sein. Allerdings repräsentierten die Mächte im Ringen zwischen Ost und West nicht Freiheit und Zwang, sondern seien sich so ähnlich, dass es ohnehin nur die »Wahl zwischen einem bolschewistischen Amerikanismus oder einem amerikanischen Bolschewismus« gebe. Eine längerfristige Zweiteilung der Welt hielt Zehrer für unwahrscheinlich; noch hatte die Sowjetunion bei der Entwicklung der Wasserstoffbombe nicht nachgezogen. Aber entscheidend war dies für Zehrer angesichts der konstatierten Ähnlichkeit der Systeme nicht. Sein Übergang zu einem christlich-abendländischen Standpunkt bestimmte für ihn die 406 Wirsing, Zeitalter 1944 (31944), S. 28, 29, 31, 48, 52, 73 f., 76, 94, 95, 109, 113. 407 Vindex (= Giselher Wirsing), Die Politik des Ölflecks. Der Sowjetimperialismus im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1944. 408 S. Kapitel I.1.
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Perspektive. Wir wissen, so schrieb er, »einer von beiden wird die Einheit der Welt vollenden und das Problem ihrer Führung bewältigen«, aber »wir kennen bereits die Leere und die Langeweile, den Ekel und das taedium vitae« dieser Zukunft. Aus dieser Sichtweise ergab sich für Zehrer auch die Trennung der Begriffe »Europa« und »Abendland«. Der politische Niedergang Europas, »zumindest seiner weltbeherrschenden Stellung«, sei besiegelt. In diesem Sinne könne man auch vom »Untergang Europas« sprechen, den Spengler mit seinem »Untergang des Abendlandes« recht eigentlich gemeint habe. Das christliche Abendland aber könne gar nicht untergehen, so dass sogar ein gleichzeitiger Untergang Europas und Aufstieg des Abendlandes denkbar sei. Diese Position entsprach der tiefen Skepsis Zehrers gegenüber der Aussicht auf ein politisch und wirtschaftlich vereinigtes Europa, das noch keine »geistige Renaissance« bedeute. Als historische Analogie bemühte er den »trockenen, ideenlosen Polizeistaat« des Metternich’schen Systems. Europa, so Zehrer, befinde sich nach dem Zweiten Weltkrieg »wieder in derselben Situation, in der es sich vor 160 Jahren befand. In dieser Lage schließen sich die führenden europäischen Mächte wieder zu einer Alliance zusammen. Und wieder bildet eine außereuropäische – nicht außerabendländische – Macht den großen Hintergrund: die Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Alliance hat den Sinn, die Revolution, die der Wind der Steppe von neuem entfacht hat, abzudämmen. Ihrem Funkenflug Einhalt zu gebieten und die glimmenden Brandherde im eigenen Gebiet zu ersticken. Heute genau so wie zur Zeit der Heiligen Alliance, die daraus ihren Auftrag herleitete.«409 Die Differenz zu den Eingangsthesen des gleichen Bandes, nach denen das Abendland von beiden Supermächten gleichermaßen bedroht werde und sogar von einem amerikanischen Weltcaesarismus die Rede war, markiert weniger einen logischen Widerspruch als die flexible Bandbreite abendländischer Selbstbehauptung. Im Zentrum stand die Aufgabe der geistigen Fundierung eines westlichen Bündnisses, die erstens nur von Europa ausgehen könne, denn »in Rom und Madrid, in Paris und London und vielleicht morgen in irgendeiner Stadt Mitteleuropas sehen wir immer noch mehr Walten des Geistes als sonst irgendwo in der Welt«, und zweitens in »christlicher renovatio« bestehen sollte, wie Zehrer nicht müde wurde zu wiederholen. Von hier aus war es unschwer möglich, einen Brückenschlag zum Nationalen vorzunehmen. Nachdem der Eiserne Vorhang als Zeichen des weltpolitischen Gegensatzes mitten durch das ehemalige Reich gehe, sei das deutsche Schicksal als Verhinderung eines kriegerischen Austrags dieses Konflikts bestimmt und auf geistigen Kampf verwiesen. Aus diesem Grund seien sich die Begriffe »Abendland« und »Deutschland« seit dem Mittelalter nicht so nahegekommen und fast identisch geworden. Zudem habe Deutschland zwölf Jahre lang mit den »Ideen von rechts
409 Hans Zehrer, Stille vor dem Sturm. Aufsätze zur Zeit, Hamburg/Stuttgart 1949, S. 12 f., 23, 24, 27, 29, 30.
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und links« blutigen Ernst gemacht und habe nun zur ausgleichenden Mitte gefunden. »Dieses Deutschland, mit allen Wassern gewaschen, mit allen Salben gesalbt und mit allen Giften infiziert, ist um einiges weiter als das übrige Abendland. (…) Es ist möglich, daß die Weltgeschichte immer einen Blutzeugen braucht, um der übrigen Welt etwas bewußt zu machen. Und wenn wir es gewesen wären und wenn an unserem Schicksal den anderen etwas bewußt geworden wäre, so würden die Gräber und Trümmer ihren Sinn erhalten.« Diese neuerliche Sinngebung des Krieges, in der die Opfer anderer Völker ungenannt blieben, verschob die abendländische Welt – zunächst – von der Ebene machtpolitischer Durchsetzung in den Bereich geistigen Kampfes. Dieser angesichts der Realität der Besatzungszeit unumgängliche Terrainwechsel barg mehrere Vorteile. Zum ersten erhöhte sich mit dem Primat des »geistigen Kampfes« die Bedeutung der intellektuellen Deutungselite; zweitens ließen sich so nationalkonservative Teile des Bürgertums ansprechen, die sich für ein supranationales katholisches Abendland nicht begeistern konnten; und drittens wurde mit der Verlegung des abendländischen Mittelpunkts in das Land der Reformation die evangelische Kirche aufgewertet, in deren Dienst Zehrer für einige Jahre getreten war. Der Katholizismus verkörperte für ihn zwar Hierarchie und Autorität, sei »Bollwerk gegen die Revolution«, die »ungeheure Aufgabe des Wortes«, also geistige Führung, könne aber nur von der »kahlen, nüchternen Kanzel des Protestantismus« aus wahrgenommen werden.410 Die Auffassung, dass nur die Lehre Jesu »in diesem zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs fragwürdig materialistischen Deutschland« ins Feld geführt werden könne, wurde zum festen Glaubenssatz konservativer protestantischer Publizisten in den 1950er Jahren.411 Die konfessionellen Differenzen fanden ihren politischen Ausdruck darin, dass die katholischen Abendland-Ideologen sich als kritische Stimmen am rechten Rand der Adenauer-Regierungen ansiedelten, während die ehemaligen konservativen Revolutionäre im Dienste der evangelischen Publizistik noch einige Jahre ein distanziertes Verhältnis zur Westintegration beibehielten und nationalneutralistische Neigungen erst später aufgaben, als letzter wohl Zehrer. Auch seine Kollegen Fried und Wirsing veröffentlichten Anfang der 1950er Jahre konzeptionelle Beiträge zum Thema. Im gerade wieder lizenzierten Diederichs-Verlag, in der die legendäre Tat und zahlreiche Bücher von deren Redakteuren erschienen waren, kam nun Frieds »Das Abenteuer des Abendlandes« heraus. Er sah die Position Europas »zwischen Ost und West« in Analogie mit der Stellung des antiken Griechenland zwischen Persien und Rom. Notwendig sei die Erfül410 Ebd., S. 28 ff. 411 Thilo Koch, Geschäftemacherei mit menschlichen Gefühlen. Der materialistische Atheismus auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges fordert klare christliche Antworten, in: Die Zeit, 31.7.1958.
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lung Amerikas »mit abendländischem Geist«. Gleichzeitig forderte Fried eine »gewisse Eigenständigkeit« des christlich erneuerten alten Abendlandes gegenüber den USA, um eine »öde amerikanische Weltzivilisation« zu verhindern – die Wortwahl aus den Publikationen der NS-Zeit konnte hier beibehalten werden. Neu war der Gedanke, der amerikanischen Führung die europäisch-abendländische Eigenständigkeit als bessere Strategie im gemeinsamen Kampf gegen den Bolschewismus zu empfehlen. Nur ein Europa als »unabhängige Einheit zwischen den Weltmächten«, das sich nicht auf sture Abwehr beschränke, sondern »durch seine Spannungen und Strahlungen anreizend auf den Osten« wirke, könne diesen allmählich »auch in das Kraftfeld des Westens einbeziehen, ohne daß er dabei das Gefühl hat, dem Westen zu unterliegen«. Dies sei die »wahre Mission der Mitte«, für das »auf sich selbst zurückgeworfene Europa als Mitte der Welt und für Deutschland als Mitte Europas«.412 Dieses Argument machte sich auch der Neoliberale Wilhelm Röpke zu eigen. Gegen den westlichen »Kultus mit dem Lebensstandard« stellte er den »Vorrang des Geistes«, weil man sonst »innerhalb der großen Abwehrfront« mit den USA gegen den kommunistischen Osten und in der »großen Auseinandersetzung mit der farbigen Welt, die sich mit den geistigen Waffen Europas gegen die weiße Rasse auflehnt«, nicht bestehen könne.413 1951 meldete sich Wirsing mit einem umfangreichen Werk zurück, das er unter dem Titel »Schritt aus dem Nichts« veröffentlichte. Auch hier fand sich die grundlegende Annahme, in einem 1945 keineswegs beendeten Zeitalter universaler Glaubenskriege zu leben. Das Weltkriegsende habe dabei keinen Gewinn bedeutet, habe doch die »westliche Welt« mit ihren »kollektiven Verurteilungen und Internierungen« die Vorgehensweise des Bolschewismus zunächst imitiert. Die von Amerika und Russland gleichermaßen ausgehende Gefahr für das Abendland, von Zehrer philosophisch allgemein in dem Bild der Polarität mit Tendenz zur Einheit gefasst, erläuterte Wirsing einerseits mit aus der Psychologie entlehnten Begriffen wie »Partnerverschränkung« und »Kontrastassimilierung«, andererseits durch den Versuch, einen gemeinsamen ideengeschichtlichen Ursprung amerikanischen und sowjetischen Weltstaatwahns zu bestimmen: »Wenn man die Fronten im Glaubenskrieg unserer Tage überschaut, muß es den tiefsten Eindruck machen, daß sowohl an der Wiege des Panslawismus, wie am Ursprung des Puritanismus, aus dem der angelsächsische Imperialismus hervorging, der Glaube steht, diese Völker seien die unmittelbaren Nachkommen des verlorengegangenen Stammes Israel.«
412 Ferdinand Fried, Das Abenteuer des Abendlandes, Düsseldorf 1950, S. 234, 237, 238, 239, 264. 413 Wilhelm Röpke, Europa – Einheit in der Vielfalt, in: Politische Meinung, Jg. 4, 1959/II, Heft 32, S. 13-24, hier S. 13 f.
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Kritik am »Traum vom Weltstaat« verband Wirsing mit einer konservativen Ablehnung der Utopie als »erträumter Perfektion der Gesellschaft«.414 Was ihm bereits wieder vorschwebte, war die Wiedergewinnung des östlichen Kontinentaleuropas als Vorbedingung einer wirklich souveränen europäischen Föderation und eines abendländischen Aufstiegs. Zu Beginn der 1950er Jahre verfügten Zehrer, Fried und Wirsing mithin über ein konservatives Gedankengerüst, das seine Anpassungsfähigkeit über das Kriegsende hinaus bewiesen hatte und bei aller individuellen Nuancierung doch erlaubte, die Entwicklung bundesrepublikanischer Politik und Gesellschaft von einem Standpunkt globaler Strategie zu begleiten und dann auch wieder zu beeinflussen. Die katholischen und protestantischen Abendland-Ideologen vertraten eine Trennung von Geisteswelt und Realpolitik, indem sie zum einen auf dem kulturellen Abstand und der Höherwertigkeit des abendländischen Europa gegenüber amerikanischer und sowjetischer Seelenlosigkeit beharrten, zum anderen aber angesichts der bolschewistischen Bedrohung im Kalten Krieg ein Bündnis mit den USA für unumgänglich hielten. In diesem Rahmen konnte es nur noch um die Verteidigung einer kulturellen Eigenständigkeit des abendländischen Europa im westlichen Rahmen gehen. Dies bildete den Hintergrund für einen breiten Strom kultureller Amerikakritik. Ferdinand Fried drückte die Reserven gegenüber den USA sehr bündig aus: »Amerika hat (…) etwas von jener selbstsicheren Jungenhaftigkeit und brutalen Unbekümmertheit an sich, die die unbelasteten Gemüter auszeichnet. So macht es sich in Europa breit wie in einem verlassenen Elternhaus. Es möchte erben, aber nur das Vermögen und nicht die Verantwortung, nur die Errungenschaften, aber nicht die Enttäuschungen, nur die materiellen Güter, aber nicht die geistigen Qualen, unter denen sie zustande kamen.«415 Bis zur Mitte der 1950er Jahre gab es zahlreiche Sendungen in dieser Tradition europäisch-abendländischer Amerikakritik. So wurde in einer Rundfunksendung José Ortega y Gasset bündig mit der Charakterisierung der Amerikaner als »ein Volk, das noch adoleszent ist«, zitiert; in einer anderen Sendung schwadronierte Egon Vietta von New York als »Ozean von Zahlen«, der keine »Mitte« aufweise. In einem Beitrag über den Kinsey-Report wurde in den USA die Liebe vermisst. Und in einem fiktiven Hörspiel, das Ende 1956 gesendet wurde, ging Thilo Koch noch von einer Gemeinsamkeit der beiden Supermächte aus: »Materialismus – Russland hat den finsteren, Amerika den freundlichen. Das amerikanische Plakat zum Beispiel kennt nur lächelnde Gesichter, das sowjeti-
414 Giselher Wirsing, Schritt aus dem Nichts. Perspektiven am Ende der Revolutionen, Düsseldorf/Köln 1951, S. 19, 23, 37, 40, 69. 415 Fried, Abenteuer, S. 254.
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sche nur trotzige, aber in diesem Trotz und Aktivistenfanatismus schlummert als geheimer Wunsch das amerikanische Lächeln.«416 Der Ordo-Liberale Alexander Rüstow, der den impliziten Analogien von Rom und Athen mit den amerikanischen Barbaren und europäischen Kulturträgern durchaus folgte, setzte aber bereits zu Beginn des Kalten Krieges die politische Pointe überraschend anders, denn bei ihm bot sich Amerika als Rettungsanker gerade deshalb an, weil der neuen Welt die belastenden kulturellen Traditionen Europas fehlten: »Unsere amerikanischen Freunde freilich sind von solchen Gefühlen noch ziemlich unangekränkelt, sind in dieser Entwicklung noch um einige Jahrzehnte hinter uns zurück – glücklicherweise, sonst wäre unsere weltpolitische Lage unter den gegenwärtigen Umständen schlechterdings verzweifelt. Hier in unserem alten Europa aber wüßte ich keinen Urteilsfähigen, der den augenblicklichen Zustand unserer Kultur (…) für verteidigungsfähig ansähe.«417 Dieser Gedanke wurde mit einigem Selbstbewusstsein auch von James Burnham, vormaliger Trotzkist in den USA und um 1950 in Westdeutschland in aller Munde, vorgetragen, er diente ihm zur geistigen Begründung des Führungsanspruchs der USA: »vielleicht ist die abendländische Kultur als Ganzes alt und dekadent – relativ alt, gemessen an dem gewaltigen Zeitmaß der Kulturgeschichte. (…) Dann aber sind die USA das jüngste Kind der abendländischen Kultur, ihr Benjamin, der nicht nur seine Mannesjahre vor sich hat, sondern auch die Kraft, der Mutter neues Leben einzuhauchen.«418 Allerdings dominierten in den frühen 1950er Jahren eindeutig Veröffentlichungen, in denen die Gesellschaft der USA angstbesetzte Bilder von der eigenen Zukunft lieferte.419 Die Vorstellung von Amerika als Chiffre für die moderne Gesellschaft, in der alles käuflich war, die Technik über den Menschen triumphierte, massenhafte Einsamkeit herrschte, die Entfremdung im Konsum und die »Außengeleitetheit« durch die elektronischen Medien einen hohen Grad erreicht hatten, besaß eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition und ließ sich gut mit der
416 Thilo Koch, Immer wieder Kolumbus. Hybris und Faszination Amerikas (Typoskript, 49 S), gesendet vom WDR-Nachtprogramm, 4.12.1956, 22.10-23.30, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 58. 417 Alexander Rüstow, Kulturtradition und Kulturkritik, in: Studium Generale, Jg. 4, 1951, S. 307-311, Zitat S. 311; vgl. ders., Das geistige Europa in der heutigen Welt, Sendung im WDR, 19.9.1952, und andere Manuskripte, in: BAK, Nl. Alexander Rüstow, 352, 355; ähnlich in der Argumentation Denis de Rougemont, Die Krankheit der europäischen Kultur, in: Der Monat, Jg. 3, 1951, H. 32, S. 115-123, Zitat S. 123. 418 James Burnham, Die Strategie des Kalten Krieges, Stuttgart 1950 (New York 1950). 419 Vgl. Schildt, Zeiten, S. 398-423.
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Vorstellung einer nicht nur deutschen, sondern europäischen Geistigkeit als kultureller Alternative vereinbaren.420 Die Publizisten, die ihr Amerikabild vermittelten, konnten sich zu Beginn der 1950er Jahre weitgehend darauf verlassen, dass ihr Publikum die USA nicht aus eigener Anschauung kannte, so dass ihre Erzählungen auf keine Korrekturinstanz durch eigene Erfahrungen stießen. Der Gedanke, dass das Bild von Amerika letztlich eine europäische Projektion sei, war zwar bereits in der Zwischenkriegszeit geäußert worden, drang aber erst allmählich durch und irritierte die Stellvertreterdiskussionen, in denen die Zukunft der Moderne mit der US-Gesellschaft identifiziert und die Modernisierung der eigenen Gesellschaft mit einer »Amerikanisierung« gleichgesetzt wurde, noch nicht grundlegend. Nur vereinzelt wurde um 1950 über eine »atlantische Zivilisation«, die von André Malraux und anderen propagiert wurde, diskutiert. In einem Beitrag für den Bayerischen Rundfunk kam Kurt Seeberger zu dem Ergebnis, das amerikanische Grundproblem sei das der Gleichheit, das europäische das der Freiheit; es gebe keine zwei Kontinente, die sich so wie diese beiden ergänzten: »Sicher ist, daß es ohne Europa dieses Amerika nicht gäbe. Aber noch sicherer, daß ohne dieses Amerika längst kein Europa mehr wäre.«421 Die US-Besatzungsmacht kannte sehr wohl die Skepsis gegenüber der amerikanischen Gesellschaft unter den westdeutschen Intellektuellen. Sie unternahm deshalb im ersten Nachkriegsjahrzehnt große Anstrengungen, Westdeutschland bzw. die Bundesrepublik nicht nur wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren, sondern auch die Mehrheit der Intellektuellen davon zu überzeugen, dass Amerika eine Kulturnation sei. Zur aufwändigen »Kulturoffensive« gehörten die Amerika-Häuser mit ihren Vortragsabenden und Büchereien, Auftritte von US-Symphonieorchestern und -Schriftstellern, spezielle Sendungen der Voice of America in deutschen Rundfunksendern und ein kostspieliges Besuchsprogramm, in dessen Rahmen vom Herbst 1948 bis 1953 etwa 10.000 Meinungsträger der Bundesrepublik, darunter viele Publizisten und Schriftsteller, für mehrere Wochen oder gar Monate in die USA reisten, um sich dort selbst ein Bild zu machen.422 Das Angebot nahmen 420 Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, München/Zürich 1986, S. 17 ff.; vgl. Winfried Becker, Aspekte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 71, 1989, S. 177-208; Frank Kelleter/Wolfgang Knöbl (Hrsg.), Amerika und Deutschland. Ambivalente Begegnungen, Göttingen 2006; Sebastian Schwark, Genealogie des modernen Antiamerikanismus in Deutschland, Baden-Baden 2008; Christoph Hendrik Müller, West Germans against the West. Anti-Americanism in Media and Public Opinion in the Federal Republic of Germany 1949-1968, Basingstoke u. a. 2010. 421 Kurt Seeberger, Gibt es eine »Atlantische Zivilisation«? (TS, 6 Bl.), gesendet im BR, 19.10.1948, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 83. 422 Vgl. Maritta Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945-1955, Köln u. a. 1996; zum strategischen Rahmen Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947-1991, Köln u. a. 2002.
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längst nicht nur ausgemachte Amerikafreunde wahr, sondern Vertreter aller Strömungen. Für Alexander Mitscherlich, der in seiner Jugend ein Bewunderer Ernst Jüngers und Anhänger von Ernst Niekisch gewesen war, mochte die Reise seine Wendung zur westlichen Demokratie nur bekräftigt haben. Zu seiner Lektüre an Bord des Schiffes gehörte 1951 die »Negative Dialektik« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. In New York, eine Mitscherlich tief beeindruckende Metropole, lernte er den amerikanischen Forschungsstand der Psychoanalyse kennen. Das half ihm bei der Überwindung überkommener Vorstellungen von den »Massen«, die Anfang der 1950er Jahre die deutsche und europäische Geisteswelt dominierten.423 Häufig war es erst die Reise selbst, die eine Umorientierung einleitete. Im Herbst 1951, im gleichen Jahr wie Mitscherlich, begab sich Otto B. Roegele für einige Wochen in die USA und zeigte sich sehr angetan. In katholischen konservativen Kreisen führte die unmittelbare Anschauung zur Relativierung der einst strikten Gegenüberstellung von abendländischem Europa und westlicher Gesellschaft.424 Die Bemühungen reichten bis in die Pädagogik mit der Propagierung der pragmatischen Philosophie von John Dewey für das Bildungswesen und der Betonung der Höherwertigkeit einer Verantwortungs- gegenüber deutscher Gesinnungsethik. Aber das Resultat dieser Bemühungen war aus der Sicht der Verantwortlichen doch unbefriedigend. Nach repräsentativen Umfragen im Auftrag des US-Hochkommissariats 1950 und der US-Botschaft 1956 hatte sich das Bild der Westdeutschen von Amerika als überlegener Zivilisation mit kümmerlicher kultureller Substanz nämlich kaum geändert. 1950 waren 18 Prozent aller Befragten der Auffassung, man könne von den USA kulturell etwas lernen, 1956 waren es 16 Prozent; hinsichtlich der Technologie und Industrie hatte sich der Prozentsatz derjenigen, die meinten, hier etwas von Amerika lernen zu können, dagegen von 58 auf 70 erhöht.425 Allerdings hatten die Amerikahäuser und Medien unter amerikanischer Ägide nicht allein auf die Hochkultur der USA gesetzt.426 Selbst in Zeitschriften wie Der Monat und Blättern wie der Neuen Zeitung überwog die Propagierung einer europäischen Elite die direkte Amerikabefürwortung. Als kleinster gemeinsamer Nenner galten nach dem Ausbruch des Kalten Krieges der Antikommunismus und bald auch, wie der Redakteur der Zeit Ernst Friedlaender hervorhob, die Entscheidung für das »Waffenbündnis mit Amerika«;427 ansonsten gab es keine Vorgaben. Dies galt auch für die Unterstützung von Wissenschaftlern, Publizisten und anderen Multiplikatoren durch großzügige Programme privater Stiftungen, die an Ak423 Martin Klüners, Mitscherlich in Amerika. Westernisierung am Beispiel eines Arztes und Intellektuellen, in: Luzifer-Amor. Zeitschrift für Geschichte der Psychoanalyse, Jg. 29, 2016, H. 58, S. 63-91. 424 Nl. Otto B. Roegele, 1951 (K-Z). 425 Vgl. Schildt, Zeiten, S. 405. 426 Vgl. Schildt, Abendland, S. 167 ff. 427 Vortrag von Ernst Friedlaender auf einer Tagung des European Movement in Hamburg, 21.-23.9.1951, in: BAK, Nl. Ernst Friedlaender, 20.
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tivitäten der Zwischenkriegszeit anknüpften. Transatlantische Mittler wie Shepard Stone, Journalist der New York Times, führender amerikanischer Kulturoffizier in der Besatzungszeit und seit 1954 Direktor der Abteilung Internationale Angelegenheiten der Ford Foundation, förderten von Wolfgang Abendroth auf der Linken bis zur Sozialforschungsstelle Dortmund, in der sich die Crème der einstigen NSSozialwissenschaftler eingefunden hatte, zahlreiche intellektuelle Aktivitäten.428 Der junge Armin Mohler bemühte sich noch 1960 um ein Stipendium bei der Rockefeller-Stiftung und erbat dafür Empfehlungsschreiben von Eric Voegelin, Hans Rothfels, Jacob Taubes, Golo Mann und Karl Jaspers.429 Die vielfältigen persönlichen Kontakte sorgten dafür, dass Amerika zumindest nicht länger als simple Projektionsfläche für beliebige Meinungen funktionalisiert werden konnte. Statt als bedrohliche Zukunft wurden die USA in der Vorstellungswelt gebildeter Schichten allmählich als gleichartige und lediglich modernere Gesellschaft rezipiert. In Hendrik de Mans »Vermassung und Kulturverfall«, einem Bestseller des Jahres 1951, parallelisierte der frühere belgische rechtsvitalistische Sozialdemokrat, der während des Krieges mit den deutschen Besatzungsbehörden kollaboriert hatte, zwar die Entwicklung der USA und der Sowjetunion; den europäischen Geist sah auch er als einziges Mittel gegen die katastrophale Entwicklung der Welt. Allerdings erblickte er eine Gefahr darin, dass der »gebildete Europäer« die »geistige Verflachung unserer Epoche überhaupt allzu ausschließlich als Amerikanisierung« sehe, tatsächlich sei aber die amerikanische Zivilisation, von chewing gums bis tabloids und Coca-Cola bis pin-up-girls im Grunde nichts anderes als die »modern-europäische in chemisch reiner Form«.430 Konsumkritische Schriften aus den USA in deutscher Übersetzung untermauerten den Eindruck gleicher Probleme diesseits und jenseits des Atlantiks. Das Amerika-Bild im konservativen deutschen Spektrum hellte sich nach dem Wahlsieg Eisenhowers spürbar auf.431 Arnold Bergstraesser, US-Remigrant, Mitbegründer und Vorsitzender der Deutsch-Amerikanischen Gesellschaft, fungierte in 428 Vgl. Volker R. Berghahn, America and the Intellectual Cold Wars in Europe. Shepard Stone between Philantropy, Academy, and Diplomacy, Princeton/Oxford 2001; ClausDieter Krohn, Ein intellektueller Marshall-Plan? Die Hilfe der Rockefeller Foundation beim Wiederaufbau der Wissenschaften in Deutschland nach 1945, in: Braun/Gerhardt/ Holtmann (Hrsg.), Stunde Null, S. 227-250; Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 340 ff. 429 Armin Mohler an Karl Jaspers, 3.10.1960, in: DLA, A: Armin Mohler; zur Biographie von Armin Mohler vgl. Axel Schildt, Armin Mohler und die konservativen Revolutionäre, in: Jörg Später/Thomas Zimmer (Hrsg.), Lebensläufe im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 187-204. 430 Man, Vermassung, S. 200 f.; politische Dimensionen eher weichzeichnend Matthias Oppermann, Zur Eschatologie des Sozialismus. Hendrik de Mans Beitrag zum Konzept der »säkularen Religion«, in: Historische Zeitschrift, Bd. 292, 2011, S. 61-123. 431 Hans Kohn, Europa und die Neue Welt. Die Einheit der atlantischen Kultur, in: Politische Meinung, Jg. 5, 1960, Heft 51, S. 55-63; vgl. Hinweise auf die einschlägige zeitgenössische Literatur in Schildt, Zeiten, S. 398 ff.
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diesem Zusammenhang als Schlüsselfigur. Als emsiger Netzwerker trat der »Windgott«, so lautete sein Spitzname, im Beirat Innere Führung der Bundeswehr und zahlreichen anderen Gremien für eine enge transatlantische Verbundenheit ein.432 Bergstraesser sah langfristig die Anbahnung einer »Konvergenz« amerikanischen und europäisch-abendländischen Geisteslebens, aber eben nicht in Richtung der pragmatischen Philosophie Deweys, sondern auf Basis europäischer Traditionen. Das Buch von David Riesman über die »Lonely Crowd« diente ihm als Beleg dafür, daß die amerikanischen Intellektuellen allmählich »in die Nähe der Problematik (vor)dringen, die dem deutschen Leser durch die Existenzphilosophie bekannt ist«.433 Europäisch-abendländischer Dünkel prägte zwar weiterhin den breiten Strom feuilletonistischer Beiträge. Die stereotype Beschreibung Amerikas und der Amerikaner als »schrecklich naiv«434 wurde aber nun meist in dualistischer Weise präsentiert: Auf dem positiven Pol standen Fortschrittsvertrauen,435 Gegenwartsoptimismus und heiteres Wesen, Höflichkeit und »demokratische Formlosigkeit«436 sowie eine bis zur »großen Narrenfreiheit« reichende Liberalität;437 auf der negativen Seite standen der Prestigezuwachs des weiblichen Geschlechts, die Schwächung männlicher Autorität durch eine missverstandene Psychoanalyse und ein »konformistisches Charakterideal«,438 das aus Amerika, wie Golo Mann betonte, nicht nur das »Land der großen Narrenfreiheit« machte, sondern zugleich das »Land der Konformität«.439 Konformität und »flacher Pragmatismus als Lebenshaltung«, eine Versachlichung aller menschlichen Beziehungen bis hin zum Erotischen galten als Zusammenfassung der negativen Seite »des Amerikaners«, kristallisiert im Begriff der »Außengeleitetheit«, die zum Leben in der Masse führe. Die zahlreichen Beiträge zum »amerikanischen Charakter« reproduzierten im Grunde immer das gleiche Bild des optimistisch-heiteren und etwas oberflächlichen, technisch versierten und kulturell unterbelichteten Freundes, eines sympathischen Gesellen, dessen Denkungsart man aber in Europa, so die meisten Intellektuellen, nicht übernehmen sollte. In diesem Diskurs ging es, bei allen Ressentiments und Vorurteilen, um das Verständnis des Partners, dessen positive Seiten durchaus Erwähnung fanden.
432 Sebastian Liebold, Ein konservativer Humanist? Arnold Bergstraesser in der frühen Bundesrepublik, in: ders./Frank Schale (Hrsg.), Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle in der Bundesrepublik, Baden-Baden 2017, S. 201-228. 433 Arnold Bergstraesser, Deutsche und amerikanische Soziologie, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 1, 1953, S. 222-242, Zitate S. 238, 242. 434 Fried, Abenteuer, S. 253. 435 Man, Vermassung, S. 111 f. 436 Gerhart H. Seger, Vereinigte Staaten von Amerika, München 1958, S. 143. 437 Golo Mann, Vom Geist Amerikas. Eine Einführung in amerikanisches Denken und Handeln im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1954, S. 6. 438 Ulrich Cürten, Europäische Amerikakritik seit 1945. Ihr Bild vom Wandel des amerikanischen Weltverständnisses, Phil. Diss. Universität Freiburg 1967, S. 112. 439 Mann, Geist, S. 6.
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Im Laufe der frühen 1950er Jahre mehrten sich die Zeichen einer Abschwächung amerikaskeptischer Ressentiments. Dies gilt auch für die wahrscheinlich am schwersten trennscharf zu separierende Strömung von liberalen und konservativen Geistern um den Merkur oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wie an deren Sethe-Affäre 1955, der Entlassung eines amerikakritischen Herausgebers, ersichtlich, wurde hier allgemein die realpolitische Unterstützung der Westintegration verbindlich gemacht, während kulturkritischer Dünkel weiter gepflegt werden durfte. In Christ und Welt findet sich erstmals 1953 ein Artikel, der ein freundliches Amerikabild vermittelte. Verfasser war Wolfgang Höpker, der die USA bereist hatte und von der Freundlichkeit der Menschen dort tief beeindruckt war, zumal die »Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Leute noch um einige Grade merklicher« gewesen sei, »wenn sie erfuhren, dass es sich um einen Deutschen handelte«.440 Der Fall von Höpker, der bald darauf zur Welt und von dieser als Chefredakteur Anfang 1956 zur Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wechselte, ist interessant, galt er doch nun als Parteigänger der Amerikaner und musste seinen neuen Posten schon nach drei Monaten wieder räumen, wie er seinem Kollegen Klaus Mehnert berichtete: »Mein Vorgänger, der im November gestorbene Halfeld, hatte das Blatt auf einen nationalistischen Neutralismus festgelegt, alle Erbitterung ging gegen den Westen, der Osten wurde ignoriert oder bagatellisiert. (…) Halfeld, Chefkommentator des Hbg. Fremdenblattes und offenbar auch innerlich stark an das NS-Regime gebunden, hatte nach 45 lange in der Quarantäne gelegen, Anbiederungsversuche an die Amis waren mißlungen, so daß speziell die USA sein Trauma waren …«441 Die Abgrenzung von einem prinzipiellen Antiamerikanismus war Ausdruck der Anpassungsfähigkeit ehemaliger konservativ-revolutionärer Publizisten, die sich nicht gegen die neuen Verhältnisse stellen wollten, sondern sie anerkannten, um sie dereinst wieder kontrollieren zu können, und dazu gehörte es auch, ein neues Verhältnis zur USA und zur amerikanischen Gesellschaft zu finden.442
440 Wolfgang Höpker an Ernst Wilhelm Eschmann, 21.1.1953, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann; Wolfgang Höpker, Vom Reisen zwischen zwei Ozeanen, in: Christ und Welt, 6.2.1953. 441 Wolfgang Höpker an Klaus Mehnert, 5.8.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 26; Adolf Halfeld war schon in der Weimarer Republik mit einer Schrift »Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers« (Jena 1927) hervorgetreten und zählte zu den gelegentlichen Autoren der revolutionär-konservativen Zeitschrift Die Tat. 442 Marcus M. Payk, Ideologische Distanz, sachliche Nähe. Die USA und die Positionswechsel konservativer Publizisten aus dem »Tat«-Kreis in der Bundesrepublik bis zur Mitte der 1960er Jahre, in: Jan C. Behrends/Árpád von Klimó/Patrice G. Poutrus (Hrsg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, S. 225249, hier S. 233 ff.
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Während sich die linkskatholische Strömung um die Frankfurter Hefte kaum auf die amerikanische Gesellschaft bezog – der Inhalt der Zeitschrift und die Korrespondenz von Walter Dirks zeigen den Primat des Austausches mit Frankreich, Eugen Kogon konzentrierte sich auf Europa443 –, blieb allein die nonkonformistischnationalneutralistische Strömung, wie sich etwa am Programm des Rowohlt Verlags nachweisen lässt, umfassend negativ auf Amerika und die Amerikanisierung fixiert. Dem tat auch die Tatsache keinen Abbruch, dass dort wichtige amerikanische Schriftsteller, von Ernest Hemingway bis Henry Miller, verlegt wurden. Dies zeigt nur, dass die Aufteilung in unterschiedliche Strömungen einen idealtypischen Charakter besitzt, der in diesem Fall etwa mit den Geschäftsinteressen eines Medienunternehmens konfligierte. Die Argumentation, die auf die Herstellung einer Dritten Kraft zwischen Moskau und Detroit zielte, war zudem nicht notwendig mit einer Geringschätzung der US-Kultur verbunden, jedenfalls keiner, die über das allgemeine Maß hinausging. Charakteristisch war vielmehr die Ablehnung einer realpolitischen Westoption, deren Befürworter das mit antiamerikanischem Dünkel durchaus zu vereinbaren wussten. So veröffentlichte der Merkur um 1950 noch etliche Artikel, in denen die Politik der USA und die Westorientierung der Bundesrepublik scharf kritisiert wurden. Anton Reithinger unterstellte dem Marshall-Plan, er werde »anstatt der erhofften Renaissance des Abendlandes einen völlig überschuldeten Teilkontinent als Ausgangspunkt einer neuen Weltkrise zurücklassen«.444 Antiamerikanische Klischees hatten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit Verbreitung gefunden. Margret Boveris »Amerikafibel«, eine Sammlung von Ressentiments, passierte 1946 die alliierte Zensur, wurde von Ernst Jünger – »höchst intelligente Schilderung der Vereinigten Staaten«445 – ebenso wie vom Neuen Deutschland in der SBZ gelobt und erlebte 1948 eine zweite Auflage.446 Bereits die Kapitelüberschriften des Büchleins von wenig mehr als 100 Seiten zeigten die geistige Tradition von Boveris Betrachtungen, die amerikanische Gesellschaft als Maschinerie zur Herstellung von Konformität darzustellen: »Conform or starve. Oder: Die Umerziehung zum neuen Menschentyp« lautete eine, und eine andere: 443 Kogon engagierte sich vor allem in der Union europäischer Föderalisten und fungierte von 1949 bis 1954 als erster Präsident von deren deutscher Sektion, der Europa-Union Deutschland. 444 Anton Reithinger, Die Bedeutung des europäischen Wiederaufbauprogramms für Europa, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 180-185, Zitat S. 185. 445 Ernst Jünger an Margret Boveri, 23.8.1946, in: Margret Boveri und Ernst Jünger. Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973. Hrsg. von Roland Berbig u. a., Berlin 2008, S. 40; Boveri an Jünger, 1.1.1948, lehnte auch brüsk den Vorschlag Jüngers ab, Melvin J. Lasky, den späteren Herausgeber des Monat, kennenzulernen; ebd., S. 60 f. 446 Margret Boveri, Amerikafibel für erwachsene Deutsche, Freiburg i. Br. 1946; vgl. Görtemaker, Ein deutsches Leben, S. 223 ff.; Michaela Hoenicke Moore, Heimat und Fremde. Das Verhältnis zu Amerika im journalistischen Werk von Margret Boveri und Dolf Sternberger, in: Arnd Bauerkämper u. a. (Hrsg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2005, S. 218-250.
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»Hollerith-Maschinen. Oder: Der Weg zum Fragebogen«. Besonderes Gewicht erhielten ihre Darlegungen durch den Umstand, dass Boveri bis zum Eintritt der USA in den Krieg als Journalistin in New York gearbeitet hatte und selbst eine amerikanische Mutter besaß, der sie ihr Buch widmete. In den frühen 1950er Jahren, als viele konservative Intellektuelle ihre traditionelle Skepsis überprüften, verstärkte sich auf der nonkonformistischen und neutralistischen Seite die offen politisch motivierte Amerikakritik. Robert Jungk, der seine Exilzeit in den USA verbracht hatte und mit den großen Reportagen »Die Zukunft hat schon begonnen« und »Heller als tausend Sonnen« eine große Leserschaft finden sollte,447 forderte beim Darmstädter Gespräch 1953 über »Individuum und Organisation«: »Dieses bißchen Freiheit aber, das wir hier wieder und noch besitzen, das wir zum Beispiel heute hier in Darmstadt in viel stärkerem Maße haben als weiter westlich, jenseits des Ozeans, das muß auch verteidigt werden, muß aktiv verteidigt werden.«448 Hans Paeschke, Herausgeber des Merkur, erkundigte sich bei Egon Vietta, der schon im Nordwestdeutschen Rundfunk mit einem amerikakritischen Beitrag aufgefallen war: »Inzwischen las ich, von Carl Schmitt aufmerksam gemacht, in den letzten Heften der Universitas ihre amerikanischen Skizzen – wohl Auszüge aus dem Buch, das Sie vorbereiten? Ich bin sehr angetan.«449 Der junge Sozialist Heinz-Joachim Heydorn folgte dem rechtskonservativen Vietta in einem Blatt junger evangelischer Christen mit sehr ähnlicher Kritik. Der Amerikaner sei »zwar emanzipiert, aber zu gleicher Zeit auch aus allen organischen Verbindungen entlassen«; »unter der Oberfläche der Konventionen« werde eine »ungekannte Einsamkeit fühlbar«, das Schreiben über die »überreizte Entfaltung sexueller Begierden«, den »einheitlichen Typus«, die »andauernde Gleichschaltung der Vorstellung«, die Nivellierung »des Gefühlslebens und der geistigen Bilder«, kurz: die Warnung vor einem entseelten neuen Menschen, ließ sich nicht nur einem politischen Spektrum zuordnen.450 Der Rowohlt Verlag veröffentlichte 1950 das Amerika-Buch von Simone de Beauvoir, in dem scharfe Kritik an der ansonsten
447 Robert Jungk, Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Stuttgart/Hamburg 1952 (91954); ders., Heller als tausend Sonnen, Stuttgart 1956; Mathias Greffrath, Diethart Kerbs, Robert Jungk, Berlin 1988; vgl. Hermand, Vorbilder, S. 191 ff. 448 Neumark, Individuum, S. 51. 449 Hans Paeschke an Egon Vietta, 26.4.1952, in: DLA, D: Merkur; zu den USA-Beiträgen Egon Viettas im NWDR s. Kapitel I.3. 450 Heinz-Joachim Heydorn, Reise in ein gelobtes Land (1953), in: ders., Konsequenzen der Geschichte. Politische Beiträge 1946-1974, Frankfurt a. M. 1981, S. 241-252, Zitate S. 242 f., 246.
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kaum thematisierten Rassensegregation und der Verfolgung von – angeblichen – Kommunisten geübt wurde.451 Ein vorläufiges Ende der amerikakritischen Konjunktur markierte das ebenfalls im Rowohlt Verlag publizierte Buch von Leo Lawrence Matthias. Dieser ging in seiner »Entdeckung Amerikas« wieder ganz auf traditionelle sozialkritische Muster zurück, bezeichnete die US-Gesellschaft als »ranglose Klassengesellschaft« und »reine Erwerbsgesellschaft«, in der das Geld alles regiere. Matthias beleuchtete die mangelhafte Hygiene in den Armenvierteln der Großstädte, Rassenprobleme und andere Schattenseiten, die nicht recht zum Bild von Wohlstand und Modernität passen mochten.452 Der Tenor seines Buches: Die Macht Amerikas werde überschätzt, sie sei nur finanziell groß, weniger groß schon industriell und »moralisch keiner Belastung auf längere Zeit gewachsen«.453 Ernst Rowohlt hatte große Hoffnungen auf den Erfolg gerade dieses Buches gesetzt. Matthias war ein alter Bekannter von ihm, der in den 1930er Jahren in den USA gewesen war.454 Auch die Lektoren im Verlag waren begeistert vom Manuskript und es gibt nur wenige Bücher, um die man sich dort mehr gekümmert hätte. Es muss im Dunkeln bleiben, warum das Buch kein Erfolg wurde. Anfangs tröstete Rowohlt den nach einem Verriss in der Neuen Zürcher Zeitung pessimistisch gestimmten Matthias, er »zweifle nicht daran, dass Dein Buch kein Schlag ins Wasser wird«. Der Autor schrieb zurück: »Lieber Rowohlt – ich glaube, wir dürfen nicht mehr im Zweifel darüber sein, dass die Presse das Buch tot schweigen wird. Es mag hier und dort eine Kritik erscheinen, aber das Buch wird keine breite Pressekritik erhalten. Die Frage ist also: Wie kann man diesen Schlag parieren?«455 Der Verleger tröstete noch einmal, für ihn sehr ungewöhnlich, mit einem vierseitigen, eng getippten Brief, in dem er zum einen meinte, dass nach seiner Erfahrung Verrisse wie in der NZZ in der Bundesrepublik nur die Nachfrage steigern würden; zum anderen versuche er »krampfhaft« Rudolf Augstein zu erreichen, damit er, Matthias, im Spiegel auf die Kritiken antworten könne, auch auf die aus dem Berliner Abend, »eigentlich keine Kritik, sondern eine Dreckschmeisserei«. Wenn der
451 Simone de Beauvoir, Amerika Tag und Nacht, Hamburg 1950; die Rezensionen zu diesem Reisetagebuch von 1947 fielen sehr unterschiedlich aus; wichtig war die positive Besprechung von Axel Eggebrecht im NWDR, 28.2.1951 in einer nachmittäglichen Kultursendung; Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Axel Eggebrecht, Ab:21. 452 L(eo) L(awrence) Matthias, Die Entdeckung Amerikas anno 1953 oder Das geordnete Chaos, Reinbek 1953. 453 Leo L. Matthias an Ernst Rowohlt, 15.1.1953, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Autorenkonvolute Matthias, Mappe 1/4. 454 Vor 1933 hatte L. L. Matthias für die Neue Rundschau des Fischer-Verlags als Korrespondent gearbeitet; Hans Paeschke, 18.12.1953, in: DLA, D: Merkur. 455 Leo L. Matthias an Ernst Rowohlt, 1.12.1953, in: ebd.
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Kontakt zu Augstein nicht zustande komme, wüsste er noch andere geeignete Orte für eine Replik.456 Die »schändlichste« Kritik, so Matthias, sei von Robert Jungk, direkter Konkurrent beim Thema USA, gekommen. Er habe verbreitet, dass das Buch seit 1950 verschiedenen Verlagen angeboten worden sei – tatsächlich habe der Verleger Goverts sein Buch ursprünglich veröffentlichen wollen; nur weil sich seine Beziehungen zu ihm verschlechtert hätten, wäre schließlich Robert Jungk dort zum Zuge gekommen.457 Margret Boveri verfasste als prominente Amerikakritikerin eine eher verhaltene Rezension.458 Der Herausgeber des Merkur, Joachim Moras, schrieb ihr zustimmend und fügte hinzu, »noch bestürzter« dürfte Matthias auf die Besprechung von Golo Mann reagieren.459 Diese Vermutung war naheliegend, war doch auch und gerade der Merkur ein Publikationsort für die Kritik der amerikanischen und damit modernen Gesellschaft gewesen. Golo Mann griff gleich zweimal zur Feder und lieferte einen totalen Verriss.460 Wolfgang Höpker, ursprünglich selbst nationalsozialistischer Antiamerikaner, der von Christ und Welt zu Zehrers Welt gewechselt war, versuchte Klaus Mehnert zu einer Kritik am »apokryphen Amerika-Buch« von Matthias zu bewegen, denn dahinter stehe »wahrhaft ein ›Fall Rowohlt‹«. Zehrer selbst wolle nicht tätig werden, da er Rowohlt-Autor sei.461 Immer wieder musste Matthias dementieren, dass er ein Amerikahasser sei. Einzig von Joseph E. Drexel, dem Herausgeber der Nürnberger Nachrichten, fühlte er sich verstanden.462 Die Heftigkeit des Streits gerade um sein Buch war, wenn auch nicht restlos aufgeklärt, offenbar nicht allein auf den Inhalt zurückzuführen. Vielmehr eignete es sich in einer Übergangszeit der klassischen geistesaristokratischen Kritik an der US-Gesellschaft zu einer differenzierteren Sicht offenbar auch für bisherige Amerika-Skeptiker zur Verdunkelung eigener publizistischer Vergangenheit durch die Abgrenzung von einem Autor, der nicht erwarten konnte, dass sein Buch zum einsamen Symbol unverständiger Kritik an den USA hingestellt werden würde. Zudem sollte es eben den Rowohlt Verlag treffen, dessen Besitzer mit Ernst von Salomon und Ernst Niekisch bereits in den 456 Ernst Rowohlt an Leo L. Matthias, 22.12.1953, in: ebd.; Rowohlt berichtete Matthias, 18.2.1954, es sei ihm zwar mittlerweile gelungen, die geheime Telefonnummer von Augstein zu erhalten, aber auch unter der habe er sich nicht gemeldet; in: ebd. 457 Leo L. Matthias an Ernst Rowohlt, 6.1.1954, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Autorenkonvolute Matthias, Mappe 2/4. 458 Margret Boveri, Amerika im Zerrspiegel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.1.1954. 459 Joachim Moras an Margret Boveri, 25.2.1954, in: DLA, D: Merkur; dass Matthias ein Autor des Merkur war, erwähnte Moras in seinem Brief nicht; vgl. L. M. Lawrence (= Leo Matthias), Wandlungen des Imperialismus, in: Merkur, Jg. 4, 1950, S. 593-601. 460 Vgl. Golo Mann, Urteil und Vorurteil, in: Merkur, Jg. 9, 1954, S. 390-394; ders., Auseinandersetzung über ein Amerika-Buch, in: Merkur, Jg. 9, 1954, S. 799 f. 461 Wolfgang Höpker an Klaus Mehnert, 25.3.1954, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 39. 462 Leo L. Matthias an Joseph E. Drexel, 28.1.1954, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Autorenkonvolute Matthias, Mappe 2/4.
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1930er Jahren eine gemeinsame Linie der Skepsis gegenüber den USA bei gleichzeitiger Sympathie gegenüber der Sowjetunion gefunden hatte.463 Prosowjetische Positionen hatten sich zwar in den 1950er Jahren verflüchtigt, aber zumindest eine skeptische Äquidistanz wurde aufrechterhalten, die Ernst Niekisch in der Gleichsetzung amerikanischen Managertums und sowjetischen Funktionärswesens zum Ausdruck brachte.464 Wenn der Streit um Amerika und die Amerikanisierung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre spürbar nachließ, also offenbar als Projektionsfläche für den Streit um die eigenen Ordnungsvorstellungen der modernen Gesellschaft ausgedient hatte, lag das neben der Verdichtung der Kommunikation durch Geschäfts- und Urlaubsreisen stärker noch an der Entmythologisierung durch die Medien. Regelmäßige Rundfunk- und Fernsehberichte aus der Neuen Welt von Redakteuren wie Peter von Zahn,465 später auch Thilo Koch, zeigten Ähnlichkeiten der europäischen und amerikanischen Gesellschaft und warben zugleich um Verständnis für die bestehenden Unterschiede. Ressentiments hielten sich, wenngleich abnehmend, auch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. So befand Ernst Jünger nach einer lange vermiedenen USA-Reise: »In New York gefiel es mir deshalb wenig, weil die Stadt auf metaphysische Bedürfnisse nicht antwortet. Nichts ist schön, nichts ist historisch, nichts ist tief.«466 Aber solche Bekenntnisse wurden nur mehr Gleichgesinnten mitgeteilt, so wie auch Wilhelm Röpke einem Kollegen gegenüber bekannte, glücklich sei er in den USA nur, »da ich wieder am Pier bin und das Schiff zur Heimreise betrete!« Den Streit mit amerikanischen Verlegern um die Übersetzung eines seiner Bücher verallgemeinerte er dahingehend, dass in keinem anderen Land der Welt »geistige Leistung weniger geachtet« werde als in den USA. Die Abspaltung des eigenen kulturellen Dünkels zugunsten eines vernunftgeleiteten positiven Verhältnisses zur westlichen Führungsmacht wird in dem darauf folgenden Bekenntnis deutlich, er, Röpke, tue sein Bestes, »um dem selbstmörderischen und horndummen Antiamerikanismus entgegenzutreten«.467 An den Reportagen Peter von Zahns ist nachzuvollziehen, dass sich die Kritik an den USA immer weniger am überkommenen Dualismus von Kultur und Zivilisation orientierte, sondern politische Phänomene wie den Rassismus thematisierte, den es auch in Europa gab. Ein nichtintendierter Nebeneffekt war die Vermittlung 463 Vgl. Kiaulehn, Mein Freund, S. 214. 464 Ernst Niekisch an Armin Mohler, 15.6.1954, in: DLA, A: Armin Mohler. 465 Peter von Zahn, Reporter der Windrose. Erinnerungen 1951-1964, Stuttgart 1994; vgl. Hüsig, Peter von Zahn; Reinhild Kreis, Peter von Zahn und die Anfänge der Amerikaberichterstattung im deutschen Rundfunk, in: Theresia Bauer u. a. (Hrsg.), Gesichter der Zeitgeschichte. Lebensläufe im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 211-226; Eli Nathans, Peter von Zahn’s Cold War Broadcasts to West Germany. Assessing America, Cham (Schweiz) 2017. 466 Ernst Jünger an Ernst Niekisch, 9.3.1958, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 1a. 467 Wilhelm Röpke an Helmut Schoeck, 17.10.1958, in: Wilhelm Röpke, Briefe 1934-1966. Der innere Kompaß. Hrsg. von Eva Röpke, Erlenbach (Zürich) 1976, S. 159 f.
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von kulturellen Ähnlichkeiten über den Atlantik hinweg. In Zahns Reportagen gelang dies auch deshalb besonders gut, weil seine Kritik eingebettet war in eine grundsätzliche Sympathie gegenüber den freundlichen, lebensbejahenden, hilfsbereiten und aufgeschlossenen Menschen in seiner Nachbarschaft und die Bewunderung gegenüber den Annehmlichkeiten der modernen amerikanischen Konsumgesellschaft. Während Zahn allerdings den McCarthyism von Anfang an radikal kritisierte, wandelte sich seine Anschauung von der Behandlung der schwarzen Bevölkerung erst allmählich »from Understanding to Indignation«.468 Theodor W. Adorno fühlte sich bemüßigt, das deutsche Publikum über den Unterschied von europäischer Kultur und amerikanischer Culture aufzuklären. Amerika empfinde man hinsichtlich der Warenfülle tatsächlich als »Schlaraffenland«, als »ein Stück der erfüllten Utopie«, eine »Art Durchdringung der Gesamtgesellschaft mit Humanität im unmittelbaren Verhalten, die recht wohl dafür zu entschädigen vermag, daß die betreffenden Leute die Namen Bach und Beethoven vielleicht nicht ganz so korrekt aussprechen, wie wir glauben, daß es zur Bildung nun einmal dazugehöre«. Adorno betonte, dass er nicht so naiv sei, nicht zu wissen, dass Amerika das »Land des Monopolkapitalismus« sei, in dem »genau wie sonstwo in der Welt und in einer noch viel durchorganisierteren und rücksichtsloseren Weise für den Profit produziert« werde und nicht für die Menschen, aber angesichts der Güterfülle für den einzelnen eben immer noch mehr abfalle als in Europa. »Dadurch kommt in das amerikanische Leben ein Moment von Friedlichkeit und Gutartigkeit hinein, das wir gerade nach der aufgestauten Bosheit und dem aufgestauten Neid aus den Jahren 1944 bis 1945 in Deutschland nicht leichtfertig nehmen und nicht leichtfertig verwerfen sollten.« Amerika sei jedenfalls vor der »Gefahr eines Umkippens zu totalitären Herrschaftsformen«, einer potentiellen Möglichkeit jeder modernen Gesellschaft, mehr gefeit als Europa. In der USGesellschaft gebe es eine »Freiheit der Diskussion«, die auf dem alten Kontinent noch längst nicht erreicht sei. Allerdings, so fügte Adorno hinzu und dementierte damit seine positive Sicht, gebe es »repressive Tendenzen des Konformismus (…) in dem gewaltigen System der amerikanischen Kulturindustrie, die eigentlich eine Art totales verdinglichtes System der Heteronomie darstellt. Es ist ein alles einbegreifender Mechanismus, der nichts, schlechterdings gar nichts draußenläßt, auch die geistige Organisation nicht.« Aber darin sei keine amerikanische Qualität zu entdecken, sondern lediglich ein krasser Ausdruck der Tendenzen auch der eigenen Gesellschaft.469 468 Nathans, Peter von Zahn’s Cold War Broadcasts, S. 239. 469 Theodor W. Adorno, Kultur und Culture. Vortrag, gehalten am 9. Juli 1958 bei den Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen (Sonderdruck), Bad Homburg v. d. H. 1958, S. 8, 9, 13; der Vortrag wurde, mit leichten Abwandlungen, öfter gehalten; vgl. Mehr Eiskreme, weniger Angst. Professor Adorno zur deut-
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Dass der Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Eberhard, im gleichen Jahr 1958 die Initiative ergriff, einen kleinen Kreis politisch sehr unterschiedlicher Politiker, Publizisten und Medienverantwortlicher, einschließlich derjenigen, die der transatlantischen Sache noch reserviert gegenüberstanden, zu einem deutschamerikanischen Treffen einzuladen, aus den USA sollte der Demokrat Hubert Humphrey anreisen, mag als eines der vielen Indizien gelten, dass die Kämpfe für und wider Amerika, die das erste Nachkriegsjahrzehnt bestimmt hatten, ihrem Ende entgegengingen.470 Das kulturelle Deutungsmuster einer europäisch-amerikanischen Wesensverschiedenheit sollte eine transatlantische Kooperation nicht mehr behindern, überlebte aber in seinem Kern dessen ungeachtet und zeigte sich sporadisch auch in den nächsten Jahrzehnten. Der ideengeschichtliche Clou der 1950er Jahre bestand darin, dass die Hegemonie konservativ-abendländischen Denkens nicht von der traditionellen Linken zerstört wurde, die in ihren nationalen und neutralistischen Positionen verharrte, sondern von jenen demokratischen und linksliberalen Intellektuellen, die sich ebenso gegen die rechtskonservativen Abendland-Ideologen wie gegen die linken Propagandisten des Neutralismus stellten. Sie forderten, sich vorbehaltlos als Teil der modernen, westlichen, transatlantischen Gemeinschaft zu bekennen, und dominierten seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die öffentliche Meinung.
schen und amerikanischen Kultur, in: Frankfurter Rundschau, 16.5.1957, dok. in: Schütte, Adorno, S. 233 f. 470 Fritz Eberhard an Klaus Mehnert, 19.5.1958, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 38; teilnehmen sollten u. a. Axel Springer, Hans Zehrer, Paul Sethe, Arnold Bergstraesser, Karl Silex (Tagesspiegel), Willy Brandt und Eugen Gerstenmaier.
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3. Braune Schatten: Die Intellektuellen und der Nationalsozialismus Die Auseinandersetzung der Intellektuellen mit dem Nationalsozialismus bildet ein kaum abgrenzbares Kapitel ihrer Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das NS-Regime und die deutschen Kriegsverbrechen warfen tiefe Schatten auf die Nachkriegszeit und den Wiederaufbau, die die gesamte politische Kultur der frühen Bundesrepublik verdunkelten. Naive Annahmen einer Ruhe- oder Latenzphase für das öffentliche Reden über die jüngste Geschichte können ebenso als widerlegt gelten wie scheinplausible Argumente gegenüber der These einer »Verdrängung«, die diese mit einem Schweigen über die braune Vergangenheit gleichsetzten und dagegen die exzessive Thematisierung des Nationalsozialismus in der zeitgenössischen Publizistik als Zeichen einer geradezu mustergültigen Aufklärung anführten. Die Verdrängung und Verdunkelung vollzog sich im Modus ausschweifender Erzählungen über das Vergangene, in denen der eigene Anteil an den Geschehnissen verklärt wurde oder wie mit einem Weichzeichner nur unscharf vorkam. Dies galt auch für den Umgang der Intellektuellen mit der braunen Vergangenheit.1 Von alliierten Bemühungen um eine Re-education, für die die Aufklärung über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zentrale Bedeutung besaß, zeugen Radiosendungen, Filme und die Berichterstattung über Prozesse gegen die »Hauptkriegsverbrecher« in der Lizenzpresse der ersten Nachkriegsjahre. Einzelne Intellektuelle erwarben sich hier große Verdienste, etwa der frühere Mitarbeiter der Weltbühne, Axel Eggebrecht, der mit dem sachlich kühlen Ton seiner Berichte von Prozessen gegen NS-Täter für den Nordwestdeutschen Rundfunk viele Menschen beeindruckte.2 Aber inhaltlich blieb die Aufklärung begrenzt, sie konzentrierte sich auf die politische Spitze des Regimes. Weitgehend ausgeklammert blieben deren Unterstützer und das gesamte gesellschaftliche Umfeld. Schon Mitte 1947 verringerte sich im Radio der Sendeumfang zu Themen des Nationalsozialismus, der seither im Übrigen auch nicht mehr, wie in den ersten beiden Jahren, als Faschismus, sondern meist als Totalitarismus bezeichnet wurde.3 Eine ähnliche Tendenz zeigte sich in der alliierten Tagespresse; die legendären »Trümmerfilme« über die NS-Zeit hatten beim Publikum ohnehin nur geringes Interesse gefunden.
1 Vgl. Axel Schildt, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: Wilfried Loth/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 19-54. 2 Thomas Berndt, Axel Eggebrecht – ein politischer Journalist (1899-1991). Biographische Entwicklung und »Vergangenheitsbewältigung« am Beispiel seiner Berichterstattung über den Bergen-Belsen-Prozeß (Herbst 1945), unveröff. Mag.-Arb. Universität Hamburg 1994, S. 89-140. 3 Vgl. Schneider, Nationalsozialismus; Edgar Lersch, Die Thematisierung des Nationalsozialismus im Rundfunk der Nachkriegszeit, in: Rundfunk und Geschichte, Jg. 29, 2003, S. 5-19.
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Bereits die sogenannte Schulddebatte der unmittelbaren Nachkriegszeit war von zwei Tendenzen bestimmt: zum einen der Konzentration allein auf die nationalsozialistische Führung, zum anderen einer penetranten Fixierung auf die deutschen Opfer.4 Ohnehin handelte es sich nicht um eine Debatte, sondern um ein Arsenal von Deutungsmustern für die »deutsche Katastrophe« (Friedrich Meinecke). Für deren Erfindung und Präsentation waren die Intellektuellen zuständig, wobei sich zunächst eine Gegenelite unter der Ägide der jeweiligen Besatzungsmacht artikulierte, aber zunehmend Publizisten den Ton angaben, die auch in der Zeit des Nationalsozialismus geschrieben hatten und sich in der neuen Zeit erst umorientieren und einige semantische Umbauarbeiten vornehmen mussten. Der Soziologe René König hat in seinen Lebenserinnerungen geschildert, dass er 1948 einem Vortrag seines langjährigen Freundes Alexander Mitscherlich in Zürich zuhörte, der mit den Worten begann: »Wir Deutschen haben schreckliche Dinge getan …« Da er, König, genau wusste, dass Mitscherlich nicht zu den Fürsprechern des NS-Regimes, sondern zum Widerstand gehört hatte, habe er sich lange gefragt, warum dieser denn lügen würde. Erst später sei ihm klar geworden, dass es sich nicht um eine »falsche Schuldphrase« gehandelt habe, sondern um die stellvertretende Übernahme von Verantwortung, die jene, die nationalsozialistisch belastet waren, nicht tragen mochten.5 Fast ausschließlich, das zeigen zahlreiche andere Beispiele, von Eugen Kogon bis Alexander Abusch, sprachen Verfolgte von ihrer »Schuld«. Das Thema der deutschen Schuld bzw. der Abwehr von Verantwortung äußerte sich in einer Flut von Broschüren und Aufsätzen in den zahlreichen politisch-kulturellen Zeitschriften, im Feuilleton der Lizenzpresse und in den kulturellen Nachtprogrammen der Rundfunksender. Über die Topoi dieser Schulddebatte und ihrer »Diskursgemeinschaften« sind wir umrissartig informiert.6 Im Exil diskutierte politisch-ökonomische Erklärungen im Kontext sozialistischer Theorie blieben randständig. Es dominierten die Präsentation von philosophischen Ahnenreihen, an deren Ende jeweils Hitler stand, zudem die Konstruktion eines für Demagogen besonders anfälligen – deutschen – Nationalcharakters. Sozialpsychologische Spekulationen über die vom Führer oral überwältigten Massen hatten Konjunktur. Das Abladen der Verantwortung auf die Massen bot den Vorteil, die elitäre Ordnung als Garant gegen eine erneute Diktatur auszugeben, die von der »Revolte der 4 Nachgewiesen wurde das etwa für den von Alfred Andersch und Hans Werner Richter redigierten Ruf; vgl. Kießling, Die undeutschen Deutschen, S. 130 ff. 5 König, Leben, S. 118. 6 Vgl. Barbro Eberan, Wer war schuld an Hitler? Die Debatte um die Schuldfrage 19451949, München 1985; Thomas Koebner, Die Schuldfrage. Vergangenheitsbewältigung und Lebenslügen in der Diskussion 1945-1949, in: ders./Sautermeister/Schneider, Deutschland, S. 301-329; Ingrid Laurien, Die Verarbeitung von Nationalsozialismus und Krieg in politisch-kulturellen Zeitschriften der Westzonen 1945-1949, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 39, 1988, S. 220-237; vgl. die differenzierte sprachwissenschaftliche Analyse von Heidrun Kämper, Der Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit, Berlin/New York 2005; ferner Carsten Dutt (Hrsg.), Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010.
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sinkenden Mittelklassen« drohe, die »aus dem Dunkel in entgötterter Zeit« ihren Cäsar gesucht und in Hitler gefunden hatten.7 Vor allem aber dominierte die Deutung des Nationalsozialismus als Kulminationspunkt jahrhundertelanger Säkularisierung. In einer gottlos gewordenen Welt, hieß es häufig, hätte ein zynischer Dämon die gutgläubigen Menschen über seine wahren Absichten täuschen können, und zwar gerade die Konservativen, deren Werte propagandistisch missbraucht worden seien.8 In einem Brief des ersten Chefs der Gestapo, Rudolf Diels, an die Publizistin Ursula von Kardorff, in dem er sich für deren Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse bedankte, rechtfertigte er seine anfängliche positive Sicht auf die Nationalsozialisten mit deren Terror gegen die Linke und, häufig jüdische, Linksintellektuelle: »aber dass die Neuen dem dezidiert Ekelhaften der Eiterpublizistik und der Beschmutzung anständiger Instinkte durch die Zivilisationsliteraten ein Ende machen würden, hat uns diese brutalen Rabauken sympathisch machen können.« Gegen den Terror, der in der »nationalen Revolution« gegen die vaterlandslose Linke angewandt wurde, gab es keinen Einwand; letztlich gestand Diels auch nur den zunächst begeisterten und später desillusionierten Parteigängern des NS-Regimes eine Kritik zu, hier gelte die strenge »Unterscheidung zwischen den antifaschistischen Lumpen und den anständigen Gegnern Hitlers«.9 Diese Sichtweise wurde nicht nur von ehemaligen GestapoBeamten geteilt. Von der »verhängnisvollen Rolle« einer »gewissen Schicht von Intellektuellen, (die eine) Verneinung alles Vaterländischen bekundeten«, war auch in der seriösen Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht die Rede; das Ausland habe Hitler zunächst unterstützt und dann im Zweiten Weltkrieg Bomben auf Deutschland abgeworfen. Die Deutschen, vom Terror des NS-Regimes niedergehalten, hätten von dessen Verbrechen, »bis in die Kreise der Reichsminister hinein«, erst nach 1945 erfahren.10 Zu den »anständigen« Gegnern zählte auch der im Wilhelmstraßen-Prozess angeklagte Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Ernst von Weizsäcker.11 Der Herausgeber des Merkur, Hans Paeschke, konnte Margret Boveri für einen Artikel über ihre Eindrücke bei diesem Prozess gewinnen. Ihm sei bewusst, dass es sich um ein »heisses Eisen« handle. »Als Zeitschrift können wir kein Plädoyer für einen Angeklagten veröffentlichen, bevor der Spruch vorliegt, andererseits brauchen wir nicht nur rein neutral zu berichten.«12 7 Walter Görlitz, Wie stehen wir heute zu Hitler?, in: Sonntagsblatt, Jg. 6, Nr. 7, 5.7.1953. 8 Vgl. Bücker, Schulddiskussion; Bendel, Kirche. 9 Rudolf Diels an Ursula von Kardorff, 26.7.1948, in: IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/5. 10 Heinrich Mohr, Die Schuldfrage im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 5, 1954, S. 282-297, Zitate S. 288 ff. 11 Vgl. Andreas Wirsching, Primärerfahrung und kulturelles Gedächtnis. Richard von Weizsäcker und die Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Bajohr u. a., Erzählung, S. 113128. 12 Hans Paeschke an Margret Boveri, 10.6.1948, in: DLA, D: Merkur.
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Die Schulddebatte lief 1948/49 allmählich aus, der Blick zurück galt nun vornehmlich der Feststellung, dass der Dämon Hitler tot war, Stalin dagegen lebte. Wer gegen diesen gekämpft hatte, dessen Kenntnisse wurden wieder gebraucht, ob im Auswärtigen Amt, bei der Kriminalpolizei, im Verfassungsschutz oder beim Aufbau des Militärs, aber ebenso an den Universitäten, in außeruniversitären Instituten, etwa für die »Ostforschung«, in Propagandamedien und Bildungsinstitutionen. Intellektuellen boten sich auf diesem Feld zahlreiche Möglichkeiten. Auf der Tagesordnung standen die Weichzeichnung und sprachliche Bemäntelung der Gründe für die terroristische Durchsetzung, aber auch der breiten Akzeptanz und Stabilität des NS-Regimes. Hannah Arendt konstatierte bei ihrem Besuch Westdeutschlands 1950 den »Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit«, der »Flucht vor der Wirklichkeit« und der »Flucht vor der Verantwortung«.13 Die Gründerzeit der Bundesrepublik geriet zur dunkelsten Phase öffentlicher Diskurse über den Nationalsozialismus, indem die Aufklärung und Moderne – mindestens seit der Renaissance – geradezu als dessen Ursachen behauptet wurden. Wenn man davon ausgeht, dass mindestens vier Fünftel der Intellektuellen, die in den bundesdeutschen Medien der 1950er Jahre zu Wort kamen, auch im »Dritten Reich«, und in der Regel nicht widerständig, publiziert hatten, liegt die Annahme nahe, dass sie vor allem über Möglichkeiten nachdachten, der Vergangenheit einen Sinn zu verleihen, der sie selbst als Akteure entlasten konnte. Darauf zielten differenzierte Strategien, von der Fälschung der eigenen Biographie über Rechtfertigungsargumente bis zur Konstruktion von angeblicher Widerständigkeit, wobei die Behauptung, der Nationalsozialismus sei geistlos gewesen, nahelegte, vor allem Intellektuelle hätten Gegner des Regimes sein können. Hinzu kam, dass die zeitgeschichtliche Forschung die Zeit des »Dritten Reiches« noch kaum erreicht hatte, Erzählungen der Zeitgenossen also häufig unwidersprochen blieben. Die Chuzpe, mit der sich auch jene zu Wort meldeten, die zur Elite des NS-Regimes gehört hatten und sich nun jede Kritik verbaten, störte mitunter sogar christlich-konservativ gewendete Publizisten. Klaus Mehnert schrieb einem Leser von Christ und Welt, der seiner Feststellung, dass die Ostforschung im »Dritten Reich« missbraucht worden sei, mit dem Argument begegnete, nie sei diese so großzügig gefördert worden wie dort: »Ich gehöre wirklich nicht zu denjenigen – und ebenso wenig gehört das von mir redigierte Blatt ›Christ und Welt‹ dazu – die, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, ›alles vor 1933 gut und schön – alles nach 1933 verbrecherisch und verwerflich‹ bezeichnen, aber ich muss gestehen, dass mir die aus Ihrem Brief sprechende Geisteshaltung unverständlich ist.«14 So wird in diesem Kapitel nun vor allem von kommunikativen Strategien die Rede sein, die eigene intellektuelle Biographie nicht nur zu rechtfertigen, sondern sich, 13 Arendt, Besuch, Zitate S. 44 f. 14 Klaus Mehnert an (Dr.) Mattiesen, 5.12.1949, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 9.
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immer auf die Nichtnachprüfbarkeit spekulierend, als immer schon oder zumindest sehr bald widerständig zu präsentieren. Elitäre Charakterisierungen des Nationalsozialismus als Sache kleinbürgerlichen Spießertums und die Aufrechnung der Verbrechen der NS-Diktatur mit der Härte der alliierten Besatzung trafen auf breite Zustimmung der Leserschaft. Die Behauptung, die Nationalsozialisten hätten das konservativ-revolutionäre Gedankengut enteignet und missbraucht, während die eigene Haltung untadelig und widerständig gewesen sei, kennzeichnete den Weg von Ernst von Salomon und Ernst Jünger in die bürgerliche Reputierlichkeit der Bonner Republik. Unter dem Mantel standhafter Verteidigung alter Positionen sind bei Jünger allerdings auch besonders gut die – nicht nur semantischen – Umbauarbeiten an seinen politischen Positionen zu beobachten, die ihn zu einem vor allem in konservativen Kreisen, aber auch darüber hinaus verehrten westdeutschen Schriftsteller werden ließen. Bei Ernst von Salomon wie bei Jünger spielten die tonangebenden Medien eine zentrale Rolle für den Erfolg, aber auch dafür, dass sie früher, in ersterem Falle schon sehr bald, oder, bei Jünger, später, nämlich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, keine große Faszination mehr in der Öffentlichkeit auslösten. Auch wenn ihre Gründerzeit vergangenheitspolitisch als dunkelstes Kapitel der Bundesrepublik anzusehen ist, bildeten sich in den 1950er Jahren, zunächst punktuell und aus einer Defensive heraus, dann häufiger und auf größere Aufmerksamkeit stoßend, intellektuelle Ansätze für eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit heraus. Ein wichtiges Beispiel war der 1956 gegründete Club republikanischer Publizisten, der die Bekämpfung von nationalsozialistischen Legenden und neofaschistischen Bewegungen als seinen Hauptzweck formulierte. Die weithin beschwiegene personelle Kontinuität führte zu einem interessanten Phänomen der Aufklärung, nämlich der in hämischem Ton vorgetragenen Enthüllung der Biographien gerade jener Publizisten, die im NS-Regime ebenso wie in der Bonner Republik geschrieben hatten bzw. schrieben, aber ihren Positionswechsel nicht thematisiert hatten. Getroffen werden sollten gerade demokratisch geläuterte Intellektuelle. Die hilflosen Reaktionen der durch ein spektakulär erfolgreiches Buch, »Das verlorene Gewissen« von Kurt Ziesel, ans Licht der Öffentlichkeit gezerrten Intellektuellen zeigen schlaglichtartig die Grenzen der Aufklärung über das NS-Regime und die eigenen Verstrickungen darin.
3.1 »Der Fragebogen« Der politische Bestseller des Jahres 1951 kam aus dem Hause Rowohlt. Autor des umfangreichen Buches von 806 Seiten war Ernst von Salomon. Das Buch trug den Titel »Der Fragebogen«. Der Titel zielte ins Zentrum deutscher Entrüstung. Die Zumutung alliierter Behörden, auf der Grundlage eines umfangreichen Fragebogens Rechenschaft über den eigenen Lebensweg im »Dritten Reich« abzulegen, hatte Ressentiments gegen die Entnazifizierung evoziert, die in der indignierten 364
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Behauptung mündeten, deutsche Biographien ließen sich nicht mit Fragen nach der Dauer der Parteimitgliedschaft, den Dienstgraden oder erworbenen Orden erfassen. Diese Kritik war nicht völlig falsch. Tatsächlich hatten die Alliierten, vor allem die Amerikaner, mitunter recht optimistische Vorstellungen von der Effizienz der Zwangsbefragung gehabt. In einer Reportage des US-Schriftstellers John Dos Passos, der Deutschland 1946 für Time Life bereiste, schwärmte ein Sergeant: »Der Fragebogen ist das Genialste, was es in Deutschland gibt. (…) Wenn sie diese Prüfung bestehen, können sie jeden Job haben, den Sie wollen. Und wenn nicht, dann dürfen sie keine Tätigkeit ausüben, in der sie Leute anstellen können und auch in keinem höherstehenden Beruf arbeiten, der eine besondere Ausbildung verlangt. Sie dürfen nichts anderes tun als graben und Steine schleppen … Und falls sie Lügen erzählen in ihrem Fragebogen, bringen wir sie vor Gericht, wo ihnen die Hölle heiß gemacht wird.«15 Die zeithistorische Forschung hat die Erfolge und Defizite der Entnazifizierung eingehend untersucht, ihren Beginn mit drakonischen Strafen und ihren Übergang in eine »Mitläuferfabrik« (Lutz Niethammer). Dafür sorgten vor allem die Deutschen selbst, die 1947/48 die Spruchkammern in eigene Verwaltung nehmen konnten. Die Gründung der Bundesrepublik fällt zeitlich zusammen mit dem Auslaufen der Entnazifizierung und einer schamlosen sozialen Integration auch schwerstbelasteter NS-Funktionäre. Aber so glimpflich die Entnazifizierung auch für die meisten ausfiel, zeitweilige Internierung, Schreibverbote, die Angst vor Strafe und einer ungewissen Zukunft hatten viele Intellektuelle vorsichtig werden lassen. Um 1950 konnte Entwarnung gegeben werden. Der einstige NS-Kulturfunktionär Hans Grimm veröffentlichte in jenem Jahr mit einigem Erfolg – und einer beachtlichen Auflage von 20.000 Exemplaren – seine »Antwort eines Deutschen« auf einen Aufruf des Erzbischofs von Canterbury nach Kriegsende. Der Text von Grimm wäre bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes zweifellos nicht zugelassen worden, handelte es sich doch um die Rechtfertigungsschrift eines unbelehrbaren NS-Intellektuellen, der nicht einmal von antisemitischen Sentenzen, etwa gegen die »Frechheit« der Ostjuden, Abstand nehmen wollte. Grimm sah die getäuschten Intellektuellen als eigentliche Opfer des »Dritten Reiches« an, dessen Kulturpolitik bildete den einzigen Kritikpunkt: »Gelitten haben in den sechs Jahren (bis zum Krieg; A. S.) wir empfindlichen Geistigen, Schaden genommen hat – wie wiederum in der Gegenwart – das Volksgewissen durch das aufgezwungene Schweigen und das erzwungene Hinnehmen. Aber wenn man absieht von diesem Schaden und der Judenangelegenheit, so geschah zwischen 1933 und 1939 im inneren Staatsleben mehr für die Ge-
15 John Dos Passos, Das Land des Fragebogens. 1945: Reportagen aus dem besiegten Deutschland, Reinbek 1999, S. 21 f.
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sundheit und mehr für Mutter und Kind und mehr für gegenseitige Volkshilfe als jemals, ja – man darf vielleicht sagen – als irgendwo.«16 Das Buch von Ernst von Salomon bot eine feinere Kost und war eher geeignet, vom gebildeten Publikum als stellvertretend vorgetragene eigene Stellungnahme empfunden zu werden. Es war allerdings kein, wie die Hausgeschichtsschreibung lobte, »freches und witziges (…) kühnes wie auch erschütterndes Unternehmen«,17 sondern markierte eine Position, die sich breiter Unterstützung sicher sein konnte und auch nicht besonders originell war. Als der »Fragebogen« 1951 erschien, war die Entnazifizierung bereits abgeschlossen und in großen Teilen revidiert worden. Ein Buch zum Beispiel mit dem Titel »Der Persilschein«, das die gegenseitige Bereitstellung von Alibis thematisiert hätte, wäre vermutlich weniger erfolgreich gewesen. Die Idee, über den »Fragebogen« zu schreiben, war Salomon durch einen Hinweis des Verlegers Ernst Rowohlt, wohl 1947, gekommen: »Rowohlt sagte mir, daß ich, wenn ich irgendetwas publizieren wolle, den großen Fragebogen ausfüllen müsse. Er gab mir so ein Ding und ich machte mich daran, die Fragen einzeln zu beantworten. Das begann vor ungefähr einem Jahr. Jetzt bin ich bei Frage 19. Nach meinen bisherigen Berechnungen werde ich mit der letzten Frage 131 und ›Bemerkungen‹ ungefähr zweitausend Seiten haben – in drei Jahren etwa. Ich gebe nämlich redlich Antwort, wenn man mich fragt.«18 Der Verlagsvertrag für den »Fragebogen« wurde am 14. September 1948 unterzeichnet. Darin verpflichtete sich Ernst von Salomon, beginnend mit der Vertragsunterzeichnung, monatlich 100 Manuskriptseiten abzuliefern; dafür sollte er jeweils 500 DM erhalten. Das Manuskript werde einen Umfang von etwa 700 Seiten haben. Der Anteil des Autors sollte ab dem 11. Tausend 15 Prozent betragen.19 Der Vertrag erlaubte Salomon, der seit Ende 1946 wieder auf Sylt lebte, die weitgehende Konzentration auf das Buchmanuskript. Allerdings war er nicht frei von finanziellen Sorgen. Seinen Hof in Oberbayern hatte er seiner früheren Lebensgefährtin Ille Gotthelft überschrieben und mittlerweile eine neue Frau gefunden, die er im Dezember 1948 heiratete und mit der er noch einmal eine Familie gründete, aus der von 1949 bis 1956 vier Kinder hervorgingen. Mit Lektoratsarbeiten für Rowohlt, dem Vorabdruck eines Teils des Manuskripts als Taschenbuch mit dem Titel »Boche in Frankreich« (1950) in dessen rororo-Reihe und etlichen, meist unter Pseudonym verfassten Artikeln für das Feuilleton des von Hans Zehrer geleiteten evangelischen Sonntagsblatts gelang ihm die Existenzsicherung. Es war kein Zufall, dass Rowohlt gerade Salomon verpflichtet hatte, war dieser doch schon vor 1933 mit seinen ersten Romanen im Verlagsprogramm vertreten 16 Hans Grimm, Die Erzbischofsschrift. Antwort eines Deutschen, Göttingen 1950, S. 38. 17 Kiaulehn, Mein Freund, S. 270. 18 Ernst von Salomon an Alfred Kantorowicz, 11.1.1948, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, S 4. 19 Autorenkonvolute Ernst von Salomon, in: DLA, Verlagsarchiv Ernst Rowohlt, Mappe 2/2.
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gewesen, ebenso wie Arnolt Bronnen und Hans Fallada, die wie Salomon aus dem nationalrevolutionären Lager kamen. Der Kreis der ehemaligen Nationalrevolutionäre hielt auch in der Nachkriegszeit enge Kontakte aufrecht. So trafen sich seit Juni 1947 Ernst von Salomon, Ernst Jünger, Ernst Rowohlt, Ernst Samhaber, Friedrich Hielscher und einige andere jährlich zu einer Moselfahrt, um »mit einigen klugen Leuten aus großer Zeit (…) Wein zu trinken«. Damit knüpfte man an eine Tradition an, die Rowohlt schon vor dem Krieg gepflegt hatte. Entscheidend war Salomons abenteuerliches Leben, das geeignet schien, die Entnazifizierung mittels Fragebogen ad absurdum zu führen.20 Geboren um die Jahrhundertwende (1902) und aufgewachsen in der Marinestadt Kiel und in Frankfurt am Main, der Vater diente dort als Beamter bei der Kriminalpolizei, schloss sich Ernst von Salomon Ende 1918 den Freikorps an. Er kam gegen den sogenannten Spartakus-Aufstand in Berlin 1919 zum Einsatz, im gleichen Jahr auch in Hamburg, kämpfte als Maschinengewehrschütze im Baltikum, nahm im März 1920 in den Reihen der »Brigade Ehrhardt« am Kapp-Lüttwitz-Putsch teil, engagierte sich 1921 bei den Kämpfen in Oberschlesien und wurde schließlich Mitglied der terroristischen Organisation Consul (OC). Salomon war führend beteiligt an den Vorbereitungen des Attentats auf den Außenminister Walther Rathenau. Vom Leipziger Staatsgerichtshof zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, hinzu kam 1926 eine weitere Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis wegen versuchten Fememords, wurde er Ende 1927 Nutznießer eines Gnadenaktes des Reichspräsidenten Hindenburg und auf Bewährung entlassen. Salomon, der in diesen Jahren seine schriftstellerische Ader entdeckt hatte, agierte in den folgenden Jahren doppelgleisig, politisch im Geflecht der nationalrevolutionären Gruppen, vor allem der schleswig-holsteinischen Landvolkbewegung, publizistisch im Milieu des konservativ-revolutionären Feuilletons. Der Literaturkritiker Paul Fechter vermittelte ihm 1928 die Veröffentlichung eines ersten Essays in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Sein autobiographisch geprägter erster Roman »Die Geächteten« erschien 1930 bei Rowohlt, ebenso wie 1932 sein zweiter, »Die Stadt«, der die Erfahrungen in der Landvolkbewegung verarbeitete. Wie zahlreiche seiner nationalrevolutionären Gesinnungsgenossen, darunter Ernst Jünger oder Ernst Niekisch, blieb Salomon auf Distanz zur NSDAP und SA, auf die er mit elitärem Dünkel herabsah. Sein dritter Roman »Die Kadetten«, 1933 bei Rowohlt publiziert, sang das hohe Lied des Preußentums.
20 Vgl. Markus Josef Klein, Ernst von Salomon. Eine politische Biographie. Mit einer vollständigen Bibliographie. Vorwort von Armin Mohler, Limburg a. d. Lahn 1994, S. 265 (ungeachtet hagiographischer und apologetischer Züge ist diese Arbeit durchaus informativ); vgl. die Skizze von Jost Hermand, Ernst von Salomon. Wandlungen eines Nationalrevolutionärs, Stuttgart/Leipzig 2002; als Teilbiographie Gregor Fröhlich, Ernst von Salomon und der Soldatische Nationalismus, Paderborn 2018; zur Werkbiographie Maciej Walkowiak, Ernst von Salomons autobiographische Romane als literarische Selbstgestaltungsstrategien im Kontext der historisch-politischen Semantik, Frankfurt a. M. u. a. 2007.
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Von Mitte 1931 bis zum Machtantritt Hitlers hielt sich Salomon in Österreich und Frankreich auf. Nach seiner Rückkehr entschied er sich für einen Rückzug aus der Politik zugunsten seiner schriftstellerischen Arbeit. Auch ein Angebot des ihm aus den frühen 1920er Jahren bekannten SA-Chefs Ernst Röhm, in seinen Führungsstab einzutreten, änderte daran nichts. Seine Arbeit an einer Geschichte der Freikorps im Auftrag eines »Leo-Schlageter-Museums« führte 1934/35 zu Konflikten mit Parteidienststellen, so dass sich Salomon dafür entschied, eine essayistische Vorstudie unter dem Titel »Nahe Geschichte« – wieder bei Rowohlt – herauszubringen; das Buch erschien 1936. Zwei Jahre später gab er das größere Werk »Das Buch vom deutschen Freikorpskämpfer« im Auftrag der Zeitschrift Der Reiter gen Osten heraus. Seit der Ausschaltung und Ermordung des SA-Führers Röhm wurde Salomon von Partei- und Gestapo-Stellen als Gefolgsmann von Otto Straßer verdächtigt. Sein älterer Bruder Bruno, ein Funktionär der KPD, befand sich im Exil; seine Lebensgefährtin, Ille Gotthelft, Tochter eines Zeitungsverlegers, die er, obwohl seit 1923 mit Liselotte Wölbert verheiratet, als seine Ehefrau ausgab, war als Jüdin existenziell gefährdet. Dies bewog ihn offenbar dazu, sich 1935/36 mit Ille Gotthelft für einige Monate nach Kampen auf Sylt zurückzuziehen, wo sich auch Ernst Rowohlt, Hans Zehrer und der junge Axel Springer aufhielten. Salomons Karriere im »Dritten Reich« prägten die üblichen Widersprüche eines nationalrevolutionären Intellektuellen. Auf der einen Seite Kontakte zu anderen Dissidenten, etwa Angehörigen der sogenannten Roten Kapelle sowie zu Bekannten in der militärischen Abwehr um Admiral Canaris, Geringschätzung der braunen Bewegung, aber nicht aus demokratischen, sondern konservativ-elitären Motiven, sowie eine Ablehnung des völkischen Antisemitismus; auf der anderen Seite weitgehende Akte der Anpassung. Anfangs protegiert von dem völkischen Barden Hans Grimm und als Lektor im Rowohlt Verlag beschäftigt, schrieb Salomon seit 1936 elf Drehbücher für die Ufa, neben solchen für Unterhaltungsfilme, die zum Teil erst nach 1945 Premiere hatten, das für den antibritischen, von Antisemitismus durchtränkten Kolonialfilm »Carl Peters«, der im September 1941 in die Kinos kam. Auch seine Bücher wurden in der Zeit des NS-Regimes immer wieder aufgelegt und sicherten ihm auskömmliche Tantiemen. Im Hintergrund des Zwiespalts von Gesinnung und Anpassung und diesen überhaupt erst ermöglichend stand der ausgeprägte Nationalismus, der Salomon die außenpolitischen Erfolge der Nationalsozialisten und vor allem die Angliederung Österreichs mit großer Begeisterung begleiten ließ. Vom Militärdienst war er, obwohl er sich sofort freiwillig gemeldet hatte, freigestellt. Auch das Drehbuch zum Film »Carl Peters« entsprach durchaus seinen eigenen Vorstellungen eines Krieges gegen die Westmächte, vor allem gegen das Land der Krämer, England, und zwar an der Seite der Sowjetunion. Den Hitler-Stalin-Pakt hatte Salomon begeistert begrüßt, die anschließende Wendung zum europäischen »Abwehrkampf« gegen den Bolschewismus abgelehnt. Das Kriegsende erlebte er, seit Ende 1944 in der Führung des örtlichen Volkssturms, mit seiner Lebensgefährtin auf seinem Anwesen in Siegsdorf/Oberbayern. 368
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Wegen aktiver Gegnerschaft zur Weimarer Republik und seiner Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie wurde er von der US-Militärregierung am 11. Juni 1945 in automatic arrest genommen. Dieses Schicksal traf auch Ille Gotthelft, der man nicht glaubte, als Lebensgefährtin von Salomon eine Jüdin zu sein. Sie wurde im März 1946 entlassen, Salomon blieb bis zum September des Jahres in verschiedenen Internierungslagern, zuletzt in Landsberg, so dass sich die Haftzeit in seinem Leben auf sechseinhalb Jahre addierte.21 Die Behandlung in den amerikanischen Lagern, wo Salomon, als er von Wachen verprügelt wurde, einige Zähne einbüßte, festigte sein antiamerikanisches Weltbild, das er mit den meisten gebildeten Deutschen teilte – die US-Gesellschaft galt ihm als kulturlos und geistesfeindlich, als modernes Phänomen der Degeneration. Die Bemühungen der Amerikaner, sich als Kulturvolk zu präsentieren, hätten nur zu einem »Philosophie-Pudding, übergossen mit einer Readers-Digest-Soße«,22 gereicht. Eine Lektüre des »Fragebogens« ist aufschlussreich für den Katalog der Empfindlichkeiten und der Selbstgerechtigkeit von rechten Intellektuellen, ihrer Sicht auf die jüngste deutsche Geschichte und die Gesellschaft der Gegenwart.23 Salomon beginnt mit der Generalkritik des »modernen Versuch(s), mich zu einer Gewissenserforschung zu bewegen«, die in Teilen »widersittlich« sei und »im Auftrag fremder Mächte« befohlen werde, die ihre Herrschaft nur ausübten wegen des »deutschen Zusammenbruchs«. Dieser »rechtskonservative Diskurs der ›Okkupation‹«24 war keine Erfindung Salomons, sondern ähnlich bei Margret Boveri, Ernst Jünger oder Carl Schmitt anzutreffen. Die Botschaft des Buches bestand in der Verbindung von drei Aussagen, die im »Fragebogen« verpackt in immer wieder neuen Anekdoten vorgetragen wurden: Die erste war der positive Bezug auf seine Welt der Kindheit und Jugend im Kaiserreich, die Legitimation der konservativ-revolutionären Bewegung, mit revolutionärer Methode das verhasste Weimarer System zu beseitigen und wieder ein moralisch höherwertiges autoritäres Regime zu installieren, konzentriert in dem Satz: »Ich bin Preuße.« Dazu passte die Aufmachung des Buches mit den Farben Schwarz-Weiß-Rot auf dem Schutzumschlag der gebundenen Ausgabe ebenso wie auf der Taschenbuchausgabe. Die Apologie der rechtsintellektuellen Welt vor 1933, die sich mit den Freikorps, putschistischen Geheimbünden wie der OC und terroristischen Taten verband, die Gloriole um militärische Männlichkeit, all das war um 1950 höchst populär. Die selbstkritischen Passagen, etwa zu seiner Beteiligung an der Ermordung Rathenaus, lassen sich als Erinnerung an eine aktivistische und 21 Vgl. Fröhlich, Soldat, S. 333 ff. 22 Zit. nach Klein, Ernst von Salomon, S. 256. 23 Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Reinbek 1951, die folgenden Zitate (nach der Taschenbuchausgabe) S. 2, 41, 43, 105, 123, 179, 242, 370, 378, 389, 520, 533, 534 f. 24 Gregor Streim, Unter der Diktatur des ›Fragebogens‹. Ernst von Salomons Bestseller ›Der Fragebogen‹ (1951) und der Diskurs der ›Okkupation‹, in: Gunther Nickel (Hrsg.), Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949 (Zuckmayer-Jahrbuch 7), Göttingen 2004, S. 87-115, hier S. 96 ff.
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»antibürgerliche« Generation lesen,25 die das Beste wollte, aber in jugendlichem Überschwang handelte. Selbst das Bekenntnis, »die ganze nationale Bewegung war antisemitisch in den verschiedensten Abstufungen«, stand im Kontext einer geistigen Position, von der aus keine Verbindungen zur Praxis nationalsozialistischer Judenpolitik gezogen werden konnten. Sie, die National-Revolutionäre, zitiert Salomon zustimmend Ernst Jünger, »lebten damals in der Idee«. Die zweite Aussage lautete, dass nicht die Demokratie der Gegensatz zum Nationalsozialismus gewesen sei. Die Frage 109 beantwortend, bekannte Salomon: »Ich habe auch im März 1933 nicht gewählt, (es) bestehen bei mir starke moralische und intellektuelle Hemmungen, überhaupt zu wählen.« An einer anderen Stelle heißt es, das NS-Regime als Massenbewegung sei selbst demokratisch und Hitler sei schwer zu widerlegen gewesen, wenn er behauptete, »seine ideologische Konzeption sei die Konzeption der Demokratie«. Die eigentlichen Feinde Hitlers, des »nichtpreußischen Reichskanzlers der nationalsozialistischen Regierung«, seien vielmehr die nationalrevolutionären Aktivisten gewesen. Hitler habe freilich als »stummer Gast« bei all deren Beratungen teilgenommen, er habe die Themen gestellt, die Methodik vorgeschrieben und die Richtung bestimmt. Das »Dritte Reich« habe die Ideale der Nationalrevolutionäre enteignet und besudelt, seine Herrschaft sei die des kleinbürgerlichen Spießertums gewesen, getragen von subalternen Charakteren, die schon in der Weimarer Republik funktioniert hatten und nach 1945 wieder staatstragend wurden. Letztlich waren es diese Kreaturen, die auch für den Antisemitismus verantwortlich gemacht wurden, etwa die Zumutung, einen sogenannten Ariernachweis zu erbringen. Salomon spricht die Verfolgung und Ermordung der Juden an, spätestens seit der sogenannten Reichskristallnacht hätte man gewusst, was mit ihnen geschehe. Dabei zitiert er sich selbst mit einer Aussage von 1938: »Das Entsetzliche ist, daß niemand ›den Juden‹ helfen kann, weil jede Hilfe sie noch mehr gefährdet. Das Entsetzliche ist, daß wir uns selber nicht helfen können, daß viel mehr noch als den Juden uns geschieht.« Leute wie er, Salomon, hätten vor dem Dilemma gestanden, feige oder dumm zu handeln. Das »Leben in der Lüge« auszuhalten, konnte nur gelingen, indem man sich an die anständigen Leute hielt, die einem schon aus konservativ-revolutionären Zusammenhängen vor 1933 bekannt waren, sie waren nun vor allem im »inneren Widerstand« zu finden, mitunter aber auch im nationalsozialistischen Herrschaftsapparat; nur so hätte man sich durch die Zeit des »Dritten Reiches« lavieren können. Über einen Dialog 1933 mit dem ihm bekannten Ernst Röhm, Stabschef der SA, berichtete Salomon ausführlich. Nachdem er das Angebot, als Standartenführer in seinen Stab einzutreten, abgelehnt habe, soll Röhm gesagt haben: »›Das ist ein Intellektueller. Mit denen ist nichts anzufangen!‹, und fügte zu mir gewandt mit dem Versuch verbindlich zu sein, hinzu: ›Ganz können wir nicht 25 Vgl. Ulrich Bielefeld, Die Nation als Geheimnis. Ernst von Salomon und das »angedrehte Wir« des Volkes, in: Günter Meuter/Henrique Ricardo Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 287-304.
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verzichten auf die Intellektuellen. Sie werden Regierungsrat und haben ansonsten die Schnauze zu halten!‹« Ingeheim habe Salomon Röhm bald recht gegeben, aber nicht »die leiseste Neigung« verspürt, ein Bürokratenleben zu führen. Immer wieder war es das Militärische, Soldatische, das ihn als antibürgerlicher Lebensentwurf fasziniert habe. Auch hier eignete sich Röhm als positiver Referenzpunkt, »ein Landsknecht und stur wie ein Landsknecht, von jener Sturheit, die leben und leben lassen wollte, er war von jener merkwürdigen Toleranz, welche den Gegner achtet, ihn aber desto hartnäckiger bekämpft.« Die dritte Aussage bezog sich auf die amerikanischen Sieger und lief darauf hinaus, dass diese mindestens ebenso dumm und kulturlos seien wie die Nationalsozialisten.26 Die letzten 150 Seiten des Buches, auf denen Salomon seine Verhaftung und Internierung beschreibt, bilden eine einzige Anklage der Dummheit und Brutalität der US-Besatzer. Schon das Kriegsende entbehrt bei Salomon jeder Zäsur. Den ersten Tag der US-Besatzung im bayerischen Siegsdorf kommentiert er: »Es war genau das gleiche Leben auf der Straße wie vor vierundzwanzig Stunden, es waren die gleichen Soldaten, die da mit der gleichen gelassenen Rücksichtslosigkeit auftraten, nur die Uniformen und die Wagentypen waren ein wenig anders …« Ausführlich beschrieb Salomon, wie die US-Soldaten Uhren und Ringe stahlen, Lebensmittel vor den Augen der hungernden Deutschen ausschütteten, kolportierte Gerüchte von Vergewaltigungen und geizte nicht mit rassistischen Anmerkungen zu schwarzen und chinesischen Soldaten unter den GIs. Die Gleichsetzung von Amerikanern und Nationalsozialisten kleidete er in einen Dialog mit seiner Frau, die er bewundernd sagen ließ: »Die Amerikaner wissen alles über uns!« Seine Antwort: »Sie wissen so viel wie die Nationalsozialisten über uns gewußt haben, und das ist bedeutend zu wenig.« Salomon fuhr fort: »In der Tat, mein Zorn über die Amerikaner wuchs täglich. Es war mir klar, daß es ein Zorn allein aus dem Gefühl und nicht aus der Vernunft heraus war. Es war ein echt deutscher Zorn über verpaßte Gelegenheiten, über die Diskrepanz zwischen der Proklamation und dem tatsächlichen Handeln.« »Heuchelei« wurde den Amerikanern immer wieder attestiert. Ihr wahres Gesicht zeigten sie für Salomon in den Internierungslagern. Hier erweckte er den Eindruck, die Zustände in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern seien nicht schlimmer gewesen. Immer wieder wurden die US-Bewacher bei brutalen Gewaltakten als Folterknechte gezeigt, aber auch als Bewunderer des Antisemitismus Hit26 Zum Motiv des Antiamerikanismus bei Salomon vgl. Richard Herzinger, Ein extremistischer Zuschauer. Ernst von Salomon: Konservativ-revolutionäre Literatur zwischen Tatrhetorik und Resignation, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F., Bd. 8, 1998, S. 83-96, hier S. 90 ff.
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lers präsentiert. Betont wurde die Kameradschaftlichkeit der Waffen-SS-Angehörigen in den Lagern. Und mit warmer Zuneigung wurde der später hingerichtete SA-Führer Hanns Ludin beschrieben, der wie Salomon aus nationalrevolutionärem Milieu stammte. Dieser Teil des Buches musste bei all jenen Betroffenen Beifall finden, die dort ihr eigenes oder das Schicksal von Verwandten und Freunden geschildert fanden. Das Buch kam mit der hohen Startauflage von 30.000 Exemplaren heraus. Etliche Male nachgedruckt und neben der gebundenen Ausgabe für 19,80 DM bald auch als »ungekürzte billige Ausgabe« für 6,80 DM erhältlich, waren Ende 1952 eine Viertelmillion Bücher verkauft worden. »Es war – im Verlagsjargon ausgedrückt – ein Schnelldreher.«27 Mitte der 1950er Jahre brachten der Europäische Buchclub und auch der Bertelsmann-Verlag eine weitere Ausgabe heraus, 1961 schließlich erschien bei Rowohlt eine rororo-Ausgabe, die mehrere Auflagen erlebte. Erfolgreich war der »Fragebogen« auch in Frankreich, Italien, USA und England, wo bald Übersetzungen in hoher Auflage erschienen. Zuletzt wurde die gebundene Ausgabe 1985 noch einmal aufgelegt, nachdem die ARD den Fernsehfilm »Ami go home« gezeigt hatte, in dem der Schauspieler Heinz Hönig Ernst von Salomon spielte.28 Der kaufmännische Erfolg, er sanierte nicht nur Salomon, sondern auch den Rowohlt Verlag endgültig, basierte nicht allein auf der interessanten Biographie und den skizzierten Inhalten und Tendenzen, sondern vor allem auf der provokativen und scheinbar riskanten Verletzung der Sagbarkeitsregeln einer Öffentlichkeit, in der es angesichts des Kalten Krieges nicht anging, die amerikanische Siegermacht anzugreifen. Tatsächlich wurde der »Fragebogen« in vielen Presseorganen heftig kritisiert. Als Salomon beim renommierten Mittwochsgespräch der Kölner Bahnhofsbuchhandlung auftrat, überwogen offenbar die kritischen bzw. skeptischen Kommentare. Auf seiner letzten Seite präsentierte Der Spiegel eine Fotostrecke von Salomon auf dieser zweistündigen Veranstaltung unter der Überschrift »Jetzt werde ich geschlachtet«. Im überfüllten Wartesaal, in dem sich mehr als 500 Menschen drängten, habe die Lesergemeinde das Buch wegen seiner jugendgefährdenden, weil antidemokratischen Tendenz zerfetzt, während Verleger Rowohlt, der zu Füßen seines Starautors kauerte, nur lächelnd eingewandt habe: »Wer hat denn heute 19.80 DM als unreifer Jüngling?«29 Ausgerechnet Ernst Glaeser, Jahrgangsgenosse von Salomon und selbst nach und wegen seiner Rückkehr aus dem Exil 1939 Vorzeigeschriftsteller der Nationalsozialisten, kritisierte in einem Bericht über die Veranstaltung, dass Salomon »den ethischen und pädagogischen Akzent der Literatur, 27 Adam, Traum, S. 117. 28 Ami go home oder Der Fragebogen von Ernst von Salomon, ausgestrahlt am 29.9.1984 (Drehbuch und Regie: Rolf Busch, produziert vom NDR). 29 Der Spiegel, Nr. 44, 31.10.1951; die Wirkung der Kölner Diskussion muss für Salomon, auch nach dem Zeugnis ihm wohlgesinnter Menschen, katastrophal gewesen sein; Armin Mohler an Carl Schmitt, 9.11.1951, in: Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem seiner Schüler. Hrsg. von Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen, Berlin 1995, S. 107.
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der heute notwendiger denn je ist, zugunsten eines streunenden Zynismus strikt verneint« habe.30 Dass Salomon auch eine Einladung zur Lesung in Leipzig annahm, bescherte ihm in der westdeutschen Presse kaum neue Freunde.31 Nicht die Verharmlosung des Nationalsozialismus war anstößig, da hatte der westdeutsche Buchmarkt Deftigeres zu bieten – von den Memoiren ehemaliger Nationalsozialisten und ihren Nutznießern bis zur Gloriole des Ostkrieges durch ehemalige Wehrmachts- und SS-Offiziere. Es war die geschichtspolitisch brisante Konstruktion einer nicht nur kulturellen, sondern auch politischen Äquidistanz zum NS-Regime und zur neuen amerikanischen Supermacht, die insgeheim von großen Teilen des bildungsbürgerlichen Publikums der frühen Bundesrepublik geteilt wurde. Dass sich Salomon, »alles andere als eine asketische Figur«, zudem als »ewigen Soldaten« und Anhänger des Preußentums stilisierte,32 erhöhte den Erfolg unterhalb der Öffentlichkeit publizistischer Leitmedien und machte sein Buch zu einem Erkennungszeichen, an dem sich gleichgesinnte Intellektuelle ebenso wie ihre Gegner erkannten. Mit der Vergangenheit wurde zugleich die politische Position in der jungen Bundesrepublik verhandelt.33 Auf die Seite von Salomon, der eine Fülle von zustimmenden Briefen erhielt, stellte sich die in jenen Jahren rechtskonservative Wochenzeitung Die Zeit, in der Jan Molitor das Buch als »ganz und gar deutsch« anpries.34 Begeistert äußerte sich Ernst Jünger,35 ebenso dessen Sekretär Armin Mohler,36 der das Buch als »anekdotische Rekapitulation« der konservativ-revolutionären Strömungen« der Zwischenkriegszeit in »spannenden Reportagen« begrüßte – dies könne »stilistisch als ein Ei des Kolumbus« gelten; allerdings seien seine antiamerikanischen Ausfälle nicht frei von »Ressentiments«, und die Position gegenüber dem »Osten« sei der »ganz große weiße Fleck«.37 Auch Salomons guter Bekannter Hans Zehrer geizte im Sonntags30 Ernst Glaeser, Die Literatur der Null und ihr Verfechter, in: Die Neue Zeitung, 27.10.1951. 31 In einer offiziösen ostdeutschen Reclam-Ausgabe wurde der »Fragebogen« noch in den 1960er Jahren als »antifaschistische Autobiographie« und als »Gegengewicht zur literarischen Aufrüstung« in Westdeutschland gewürdigt; Verfasserkollektiv (Hans-Georg Werner u. a.), Deutsche Literatur im Überblick, Leipzig 1965, S. 295. 32 Zitate in: Franz Schonauer, »Der Fragebogen« – ein Zeitzeugnis. Ernst von Salomons Entnazifizierungsroman von 1951 (Rowohlt Verlag), Sendung WDR 3, 18.7.1985, 22.30-23.00, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Mappe 2/2: Autorenkonvolute, Ernst von Salomon (19511992). 33 Vgl. Streim, Unter der ›Diktatur‹, S. 106 ff. 34 Jan Molitor, Die Antworten auf einen großen Fragebogen. Zu Ernst von Salomons neuem Buch, in: Die Zeit, 19.4.1951; vgl. auch Christian Lewalter, Lufthiebe gegen einen Unpolitischen. Ernst v. Salomons »Fragebogen«, seine Gegner und seine falschen Freunde, in: Die Zeit, 21.6.1951. 35 Vgl. Streim, Unter der ›Diktatur‹, S. 108, Anm. 64. 36 Ferngelenkter Reißer. Zu Ernst von Salomons »Der Fragebogen«, in: Tat (Zürich), 4.8.1951. 37 Armin Mohler, Zeitgeschichte als Drehbuch und als Katechismus, in: Der Monat, Jg. 5, 1952, H. 1, S. 84-90, Zitate S. 85, 86, 88, 90.
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blatt nicht mit Lob; wie viele der Gleichgesinnten ließ Zehrer erkennen, dass er den persönlichen Mut Salomons bewunderte, der mit seinem Buch das Risiko einginge, wieder im Gefängnis zu landen: »Salomon schreibt mit 50 Jahren ein Buch, das genauso gefährlich ist, wie das, was er vor 30 Jahren und in diesen 30 Jahren tat und schrieb, weil er eben zur Kategorie der Sprengkörper gehört.«38 Begeistert waren rechte Intellektuelle besonders darüber, dass es seit dem »Fragebogen« nicht mehr möglich sei, »die konservative Revolution mit der NSDAP in einen Topf zu werfen«. Auf der Seite der Kritiker standen, wenig verwunderlich, die Medien unter amerikanischer Ägide. Im Feuilleton der Neuen Zeitung bezeichnete Friedrich Luft das Buch als »peinliche Stinkbombe« und den Autor als »literarischen Ernst Remer«, Führer der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei, die wenig später vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde.39 Im Monat richtete sich die Kritik ebenso gegen Salomon wie gegen den Rowohlt Verlag und dessen Nähe zu nationalrevolutionären Autoren seit den 1930er Jahren.40 Die schärfste Kritik äußerte dort Alfred Polgar, der Salomon vorwarf, er sei ein »Winkeladvokat des Faschismus« und mache mit seinem Buch »in selbstgefälliger Breite (…) Stimmung für Faschismus und Hitlerei«.41 Auch die unter britischer Kontrolle gegründete und in Hamburg erscheinende Tageszeitung Die Welt warnte vor der antidemokratischen Wirkung des Buches.42 Interessant ist die Aufnahme des Buches im intellektuellen Feld zwischen den Polen der rechtsintellektuellen Kritiker der Entnazifizierung und der Publizistik unter amerikanischer und britischer Ägide. Denn hier verlief die Grenze der Meinungsfronten. Dem einstigen Nationalrevolutionär Ernst Niekisch fiel das Urteil über den »Fragebogen« besonders schwer. Ihm habe das Buch »durch seinen Zynismus, seine Frivolität, seine Schnoddrigkeit und Kaltschnäuzigkeit« zunächst gut gefallen, aber der letzte Teil zeige doch, dass »Salomon dem Wesen nach Nazi« sei. Die »Freude daran, wie er es den Amerikanern gibt, wird völlig getrübt durch die Offenbarung des nazistischen Wesens seines Buches«.43 Auffällig war die Schärfe, mit der die Frankfurter Intellektuellenszene um die Frankfurter Hefte, die Gegenwart und die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf Distanz ging. Am wenigsten verwunderte das noch bei den Frankfurter Heften. Christian Ferber attestierte Salomon, er sei »im Grunde der Dynamitero aus der Lichterfel38 H.Z-r. (= Hans Zehrer), Sprengstoff, in: Das Sonntagsblatt (Hamburg), 22.4.1951. 39 Friedrich Luft, Ein literarischer Remer. Zu Ernst Salomons »Fragebogen«, in: Die Neue Zeitung, 27.10.1951. 40 Vgl. den Offenen Brief eines Berliner Schriftstellers an Ernst Rowohlt: Gerhart Pohl, Die großen Tips, in: Der Monat, Jg. 4, 1951/52, H. 40, S. 439-443. 41 Alfred Polgar, Eine gespenstische Erscheinung, in: Der Monat, Jg. 3, 1950/51, H. 36, S. 654656, Zitate S. 654. 42 Gert H. Theunissen, Der Fragebogen des Herrn von Salomon. Ein blendendes, aber gefährliches Buch, in: Die Welt, 19.4.1951. 43 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 5.2.1952, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 40a.
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der Kadettenanstalt geblieben, dessen Intelligenz seinen primitiven Kampfgenossen ebenso unangenehm und unheimlich war wie den Handlangern und Oberen der Hitlerschen Norm«. Eben damit verfehlte der junge Journalist und Schriftsteller allerdings die Konstruktion Salomons, der die Nationalrevolutionäre als intellektuelle Elite vom Nationalsozialismus abhob.44 Der Feuilletonist Friedrich Sieburg dagegen lehnte Salomons »Fragebogen« radikal ab, weil er »in ihm diejenige Gesinnung witterte, aus der heraus das deutsche Verhängnis seinen Lauf genommen hatte«.45 In einem Rundfunkvortrag gleich nach Erscheinen des Buches räumte Sieburg ein: »Jeder steckt voll Groll und Gereiztheit, Groll gegen die Alliierten, Groll gegen die Entnazifizierung, Groll gegen die Demokratie, Groll gegen diese wahrlich nicht beneidenswerte Bundesregierung, Groll gegen die Parteien, Groll gegen uns selbst.« Aber nun erscheine ein Buch in schwarzweißrotem Umschlag, und die Leser, die eben dabei waren, »aus dem trostlosen Loch der Ressentiments herauszuklettern, lassen sich mit Wonne wieder hineinplumpsen«. Der Verfasser sei selbstverständlich kein Nationalsozialist, aber er gehöre »zu jenen Geistern, die das nötige Vakuum geschaffen hätten, das Hitler brauchte, um sich durchzusetzen«. Der »skeptisch und müde gewordene Putschist« biete als seine Lebensbilanz nur »die humoristische Ablehnung aller Möglichkeiten, überhaupt noch zu einem anständigen politischen Zusammenleben zu kommen«. Solches »Amüsement« könne sich Deutschland nicht leisten, und »eigentlich ist ja die Literatur zu schade dazu, aus der Demokratie ein Schimpfwort zu machen«.46 Die Trennlinie zwischen Sieburg und Salomon lässt sich genau markieren. Es ging nicht um die nationalsozialistische Belastung selbst, die ja auch Sieburg aufzuweisen hatte, sondern um die Bereitschaft, die neuen politischen Verhältnisse, die Demokratie der jungen Bundesrepublik, als Basis aller Diskurse anzuerkennen. Dass Sieburg dabei eine Demokratie meinte, die sich mit elitären Grundauffassungen vertrug, steht auf einem anderen Blatt. Sein Kollege Karl Korn konnte in dem Buch von Salomon nur die »Geschichte eines verpfuschten Lebens« erkennen.47 Robert Haerdter, einer der Mitbegründer der Gegenwart, gestand zunächst wie fast alle Kritiker ein, dass der Fragebogen der US-Militärregierung politisch dumm und menschlich infam gewesen sei, aber das gelte auch für Salomons »Fragebogen«.
44 Christian Ferber, Zynischer Landsknecht zwischen den Stühlen, in: Frankfurter Hefte, Jg. 6, 1951, H. 7, S. 510-511, Zitat S. 510. 45 Deinet, Friedrich Sieburg, S. 547. 46 Friedrich Sieburg, Demokratie als Schimpfwort. Rundfunkvortrag 1951, in: ders., Zur Literatur, S. 255-259, Zitate S. 257, 258. 47 Karl Korn, Bilanz Katzenjammer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.5.1951.
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Der Autor sei »ein guter« Schriftsteller, »aber ein Zyniker«, und er habe eine »unredliche Art, die Dinge ironisch zu behandeln«.48 Auch die rechtskatholische Presse wandte sich gegen Salomon, wobei zu fragen wäre, ob sich die Reserviertheit gegenüber dem »Fragebogen« auf die Kritik an der Entnazifizierung bezog oder nicht doch eher gegen die nationalrevolutionäre, eher in protestantischen Milieus vertretene Position richtete, die in der jungen Bundesrepublik bald in die Isolation geraten sollte.49 Dies gilt auch für den jungen Redakteur der Wochenzeitung Christ und Welt, Klaus Harpprecht, der Salomon in seiner Kritik an dem »papierenen Ungeheuer der politischen Inquisition«, dem »Fragebogenmonstrum«, folgte, aber zum einen dessen Abstand von der Religion und unchristlichen Zynismus monierte, zum anderen befürchtete, dem Leser fehle die »politische Reife«, und er werde dem im Buch vorhandenen Gift nicht standhalten können.50 Theodor Eschenburg markierte in einer insgesamt sehr wohlwollenden Kritik des Buches eben diesen Punkt. Das Buch sei glänzend geschrieben, Salomon ein »literarisch hochbegabter Chronist«, aber »der unpolitische Deutsche mit seinem Hang zum Nationalismus und seiner Antipathie gegen alles Demokratische« könne der Gefahr der Identifikation gerade deshalb erliegen, weil der »Fragebogen« im Gegensatz zu vielen anderen Büchern mit entsprechenden Botschaften »ohne schwülstiges Pathos und ohne heroisierende Pose« auskomme. Kritisch gelesen, sei das Buch allerdings eine Lektion, »eine höchst wirksame Warnung für alle diejenigen, die jetzt glauben, das alte Spiel wieder anfangen zu sollen, selbst wenn es dem Autor an dieser Einsicht fehlt«.51 Indem Salomon in den großen Schriftsteller und den politisch naiven Heißsporn zerlegt wurde, konnte der Bestseller des Jahres 1951 in den Kanon erbaulicher und zugleich – gegen die Intentionen des Autors – pädagogisch nützlicher Literatur aufgenommen werden.52 Der spektakuläre Bucherfolg Salomons beruhte darauf, dass er den Deutschen und besonders den Intellektuellen das gute Gefühl gab, dass sie sich für ihren frü48 r. h. (= Robert Haerdter), Die alten Geschichten, in: Die Gegenwart, Jg. 6, Nr. 130, 1.5.1951, S. 20 f., Zitat S. 21. 49 Gert H. Theunissen, Rache der Enterbten. Eine nihilistische Selbstentblößung, in: Rheinischer Merkur, 27.7.1951; im Erscheinungsjahr des »Fragebogens« wurde neben zahlreichen kommunistischen Organisationen auch die Schwarze Front Otto Straßers verboten; vgl. zum Gesamtkomplex Gallus, Neutralisten. 50 Klaus Harpprecht, Salomonisches. Ein »Fragebogen«: Aufschlüsse, aber keine Antworten, in: Zeitwende, Jg. 23, 1951/52, S. 249-254, Zitate S. 250. 51 Theodor Eschenburg, Ernst von Salomon. »Der Fragebogen« (Typoskript, 7 S.; Zitate: S. 7), in: BAK, Nl. Wilhelm Rüstow, 61, Bl. 341-347; vermutlich handelte es sich um den Text für Eschenburgs Besprechung im Südwestdeutschen Rundfunk, mit der wiederum der Rowohlt Verlag warb; vgl. ähnlich ders., Ernst von Salomon, Der Fragebogen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 2, 1951, S. 617-620. 52 Diese List der Vernunft betont in einem freilich zum Teil fehlerhaften Essay Hermann Graml, Ein unfreiwilliger Helfer der Entnazifizierung Deutschlands. Ernst von Salomon und sein »Fragebogen«, in: Hürter/Zarusky, Epos, S. 73-86.
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heren Nationalismus nicht zu schämen brauchten, eine edle Gesinnung, die von den Nationalsozialisten nur missbraucht worden sei. Selbst diejenigen, die im »Dritten Reich« den Machthabern willig folgten, hätten das im besten Gewissen für Deutschland getan, seien anständig geblieben, abgesehen lediglich von einigen willfährigen beamteten Kreaturen, Spießerseelen, die in jedem Regime funktionierten. Dass deshalb das brutale Vorgehen der amerikanischen Besatzungsmacht nicht nur ungerecht, sondern auf derselben Ebene wie die nationalsozialistischen Untaten anzusiedeln sei, passte genau zum geistigen Komfort jener Intellektuellen, die nicht mit gesenktem Haupt in die Bonner Republik gehen mochten. Dass sich Ernst von Salomon später gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung engagierte und Anfang der 1960er Jahre sogar in die von der DDR gelenkte Deutsche Friedensunion (DFU) eintrat und deren Wahlaufruf unterstützte,53 zeigt sehr gut die zwischen rechts- und linksaußen fluktuierende nationalrevolutionäre Position vieler Intellektueller.
3.2 Ernst Jünger und seine Entourage – anschlussfähig für scheinbar Unvereinbares Ernst Jünger, der wie Ernst von Salomon aus jenem nationalrevolutionären Lager kam, in dem Hitler wegen seines parlamentarischen Weges zur Macht als Demokrat kritisiert worden war, und der sich vom Regime indigniert in das Offiziersmilieu des Kommandostabes der Wehrmacht in Paris zurückgezogen hatte, um dies später als geistige Widerständigkeit zu interpretieren, war mit seinem Werk nachhaltiger erfolgreich als der Autor des »Fragebogens«. Das lag vor allem daran, dass Jünger der produktivere und gehaltvollere Schriftsteller war. Die literarische Qualität erklärt seinen Erfolg freilich nicht hinreichend, zumal diese unter den Zeitgenossen umstritten war. In einem Brief an Thomas Mann zur Jahreswende 1949 ließ sich Theodor W. Adorno aus über »die höchst sonderbare Rolle des Herrn Ernst Jünger, eines elend schlechten und verkitschten Schriftstellers, der sich vom übel Stählernen zu einem womöglich noch übleren second hand-George mit bronzenem Laub, bunten Schuppen und lauter falscher Konkretion gewandelt hat und dem jener Teil der Jugend, der sich selber so nennt, anzuhängen scheint. Zum Glück hat er so wenig Talent, daß in seinem Erfolg die positive Negation schon mitgesetzt ist.«54 Für Karl Jaspers war Jünger, wie er 1953 an Golo Mann schrieb, »ein ewiger Primaner« geblieben, »der wie damals nach Afrika durchbrechen möchte und heute mit etwas komischen Prophetien« aufwarte; Jünger sei »voll Romantik und voll pom53 Klein, Salomon, S. 274 ff. 54 Zit. nach Schütte, Adorno, S. 158.
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pöser Aspekte«.55 Golo Mann, der zuvor eine recht wohlwollende Besprechung von Jünger veröffentlicht hatte, musste sich rechtfertigen: »Natürlich haben Sie völlig Recht. Die Sache war die, dass Jünger mir leid tat. Er kann nicht von seinem hohen Propheten-Pferd herunter, kann aber auch unmöglich oben bleiben; seine Traktate werden zur Parodie. Erzählen kann er überhaupt nicht.«56 Es waren nicht allein linke und liberale Intellektuelle, die mit Jüngers Prosa nichts anzufangen wussten. Eines der schärfsten Urteile fällte ausgerechnet Gottfried Benn, der wegen seiner anfänglichen Hochschätzung des Nationalsozialismus und daraus folgenden Karriereproblemen nach Kriegsende häufig in einem Atemzug mit Jünger genannt wurde. Gerade dieser Umstand störte ihn, wie er seinem Freund Friedrich Wilhelm Oelze nach seiner Lektüre der »Strahlungen« schrieb: »Da ich immer wieder mit dem zusammen genannt werde, interessierte er mich allmählich. (…) Ich las Satz für Satz (…) u. ich muss sagen: katastrophal! Weichlich, eingebildet, wichtigtuerisch u. stillos. Sprachlich unsicher, charakterlich unbedeutend.«57 Solch abschätzigen Urteilen stand die Bewunderung zahlreicher, auch namhafter Schriftsteller entgegen, die Ernst Jünger als begnadeten Stilisten und noch mehr wegen seiner aufrechten »Haltung« verehrten; von Jünger und seiner Entourage wiederum vernahm man immer wieder Invektiven gegen Thomas Mann und andere »Geister (…), deren Stimme man aus dem Ausland hörte, wenn wieder eine deutsche Stadt in Flammen stand«.58 Ihren Höhepunkt erreichte die rechtsradikale Hetze gegen den Nobelpreisträger 1950, als Gerhard Nebel (Spitzname Hoch-Nebel), ein Weggefährte Jüngers, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine »Laudatio« zum 75. Geburtstags Manns publizierte: »Er tritt uns als Exponent einer bis zur Dummheit gehenden Abneigung gegen Deutschland entgegen und diesem Affekt, der ihn zu verzehren scheint, antworten aus dem Volk, dem er einmal angehörte und von dessen Schicksal er sich nicht 1933, sondern 1945 trennte, Verachtung und Wut. Dieser Schriftsteller ist eine Linse, die die Strahlen der Partisanen-Bosheit sammelt – aber freilich einer 55 Karl Jaspers an Golo Mann, 23.3.1953, in: DLA, A: Karl Jaspers; Jünger und sein Sekretär Armin Mohler hatten Jaspers einen Monat zuvor ein Glückwunschtelegramm zum 70. Geburtstag geschickt; in: ebd. 56 Golo Mann an Karl Jaspers, 9.2.1953, in: Golo Mann, Briefe 1932-1992. Hrsg. von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi, Göttingen 22006, S. 116-120, Zitat S. 117. 57 Gottfried Benn an Friedrich Wilhelm Oelze, 7.1.1948, in: Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze. Briefwechsel 1932-1956, Bd. 2: 1942-1948. Hrsg. von Harald Steinhagen u. a., Stuttgart/Göttingen 2016, S. 287-289, Zitat S. 288. 58 Ernst Jünger an Joachim Günther, 3.2.1966, in: DLA, A: Joachim Günther.
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besonders gearteten (…) er rührt im Blutbrei der tuberkulösen Lunge mit demselben Eifer wie im gelben Matsch des syphilistischen Gehirns, und ganz besonders haben es ihm die Inzeste angetan – sie verbürgen ihm, so scheint es, daß er auf der erwünschten Spitze der Aktualität balanciert.«59 Es ist nicht verwunderlich, dass Thomas Mann angesichts solcher Anwürfe Anfang der 1950er Jahre eine Faschisierung der Bundesrepublik erwartete.60 Zu erklären ist der Streit um Jünger, der unmittelbar nach Kriegsende einsetzte, nicht als Auseinandersetzung um ästhetische Präferenzen, sondern nur als politischer Kampf um die Hegemonie im intellektuellen Feld. Letztlich war Jünger nach dem Zweiten Weltkrieg der heimliche Antipode, die »Konkurrenz- und Gegenfigur zum streitenden und umstrittenen Exilautor Mann«.61 Bereits dessen apodiktische Verurteilung jedweder Publikation im »Dritten Reich« in der sogenannten Großen Kontroverse mit Walter von Molo und Frank Thiess hatte implizit auch Jüngers Rückzug in die Innerlichkeit verworfen; in der privaten Korrespondenz war Mann noch viel deutlicher geworden, Jünger blieb für ihn der Wegbereiter Hitlers. Jüngers listige Strategie, sich eine intellektuelle Spitzenposition zu erkämpfen, setzte mit seinem anspielungsreichen Buch »Auf den Marmorklippen« (1939) ein.62 Mit dem daraus gewonnenen Renommee unter Intellektuellen konnte er, in seinem 50. Lebensjahr stehend, unmittelbar nach Kriegsende rechnen, also lange vor Aufhebung des gegen ihn verhängten alliierten Publikationsverbots; dieses fiel erst 1949 – in den Westzonen. Schon 1945 stand Jünger auf der schwarzen Liste der US-Militärbehörden, die verzeichnete, wer nicht mehr publizieren sollte. Zudem weigerte sich der Schriftsteller, sich einem Entnazifizierungsverfahren zu unterziehen; er füllte auch keinen Fragebogen aus. Damit erhöhte Jünger seinen Nimbus als über den Zeitläuften stehender Schriftsteller.63 Diese Stilisierung zu kommunizieren, bildete den ersten Schritt der weiteren Karriereplanung. Jünger wandte sich im Juli 1946 mit einem Rundbrief »An die Freunde«. Er rechnete damit, dass seine Anhänger das vierseitige Schreiben vervielfältigten und weitergaben, so dass seine zunächst prekäre Existenz und seine »aufrechte« Haltung durch eine Art Para-Öffentlichkeit bekannt würden. In selbstgefälligem Ton rechtfertigte er hier sein Ein59 Gerhard Nebel, Thomas Mann zu seinem 75. Geburtstag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.6.1950. 60 Vgl. Günther Rüther, Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis?, Göttingen 2013, S. 86 ff. 61 Lothar Bluhm, Entwicklungen und Stationen im Streit um Jünger, in: Matthias Schöning/ Ingo Stückmann (Hrsg.), Ernst Jünger und die Bundesrepublik. Ästhetik – Politik – Zeitgeschichte, Berlin/Boston 2012, S. 205-220, Zitat S. 207. 62 Matthias Schöning, Auf den Marmorklippen (1939), in: ders., Ernst Jünger-Handbuch, S. 138-151. 63 Vgl. Horst Seferens, »Leute von übermorgen und von vorgestern«. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945, Bodenheim 1998, S. 77 ff.
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treten für deutsche »Rüstung« gegen Versailles und betonte die Kontinuität seiner lauteren Gesinnung, die von den Nationalsozialisten verraten worden sei: »Im Augenblick, als ich erkannte, dass sich Verbrecher zu Anwälten der guten Sache machen wollten, wandte ich mich auch gegen sie. (…) Es leuchtet ein, dass das gerade den Intelligenzen, die versagten, ein Dorn im Auge ist. (…) Wer heute die Deutschen in Bausch und Bogen ablehnt, von dem erwarte ich auch für mich keine Ausnahme. (…) Ich glaube, dass heute durch hohe Intelligenz und grossen Mut ein Friede ohne Sklaven gesichert werden kann.«64 Der Hauptstoß richtete sich weiterhin gegen die »alten Liberalisten, (die; A. S.), nachdem sie dem Dritten Reiche gegenüber jämmerlich versagten, zu Unterdrückern der geistigen Freiheit geworden sind und Denunzianten par excellence«.65 Hier klangen bereits jene Motive an, die Jünger in seinem Kriegstagebuch »Strahlungen« bemühte, das in seinem Hausverlag Heliopolis 1949 mit 20.000 Exemplaren aufgelegt und zu seinem ersten großen Nachkriegserfolg wurde. Gegenüber jenen, die im »Dritten Reich« versagt hatten, positionierte sich der »Anarch« als kühler Interpret der Zeitläufte, der sich deshalb auch jegliche Anwürfe verbitten durfte und zur Selbstkritik keinen Anlass hatte. Für die Argumente seiner Kritiker hatte er nur Verachtung übrig: »Nach den Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein.«66 Die häufig zitierte Formulierung findet sich übrigens in ähnlicher Form bereits in Briefen Jüngers aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, etwa an Ernst Niekisch. Nachdem dieser namentlich Carl Schmitt angegriffen hatte, verteidigte Ernst Jünger ihn: »Man darf schließlich die Seismographen nicht verantwortlich machen für ein Erdbeben.«67 Die Annahme, dass sich seine Nachrichten an die Freunde in einer nur scheinbar klandestinen Teilöffentlichkeit rasch verbreiten würden, erwies sich als richtig. Schon wenige Wochen später ließ Jünger einen zweiten Brief und kurz darauf noch einen dritten kursieren.68 Weiterhin lehnte er eine Selbstkritik ab. Über die 64 Ernst Jünger: Rundbrief, 15.7.1946, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 1; zu den »Kommunikationsstrategien der Verschwiegenheit« der Brüder Jünger nach 1945 vgl. Morat, Tat, S. 314 ff. 65 Ernst Jünger an Gerhard Nebel, 17.12.1947, in: Jünger/Nebel, Briefe, S. 157; in diesem Zusammenhang wurde Benno Reifenberg als Mann der Amerikaner bezeichnet; auch zu Dolf Sternberger war die zuvor sehr dichte Korrespondenz mit dem Ende der FZ für viele Jahre unterbrochen worden. 66 Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 1949, Vorwort. 67 Ernst Jünger an Ernst Niekisch, 17.3.1946, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 1a; Niekisch hatte zuvor betont, es habe »keinen würdigeren Ort« gegeben als das Zuchthaus, um das »Dritte Reich« moralisch sauber zu überstehen; Ernst Niekisch an Ernst Jünger, 20.2.1946, in: ebd.; Jünger widersprach ihm; er hätte wie Lenin in die Schweiz gehen sollen, um von dort den deutschen Widerstand zu organisieren. 68 Vgl. Daniel Morat, »Die Zeitschriftenfrage ist recht kompliziert«. Politische Haltung und publizistische Praxis bei Ernst und Friedrich Georg Jünger um 1930 und um 1950, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 128-146, hier S. 130 f.; Matthias Schöning, Kriegserfahrung und
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formelhafte Beteuerung, von den Nationalsozialisten geistig enteignet und missbraucht worden zu sein, ging er nicht hinaus, die Frage, welche Anknüpfungsmöglichkeiten die konservativ-revolutionäre Gedankenwelt dafür geboten hatte, stellte er nicht, stattdessen beharrte er auf der Berechtigung des nationalen Kampfes gegen Weimar.69 Von Salomon unterschied sich Jünger nicht im grundlegenden Argument, dass die Ideen der konservativ-revolutionären Intellektuellen von Hitler enteignet worden seien, man sich deshalb rasch auf Abstand zum NS-Regime begeben hätte, so dass man sich nichts vorzuwerfen habe und alle Repressalien der alliierten Besatzungsbehörden ungerecht seien. In einem Punkt allerdings unterschied sich Jünger von Salomon. Während dieser seine vormalige nationalrevolutionäre Gesinnung zunächst trotzig weiter pflegte, hatte Jünger schon seit seinem Roman »Auf den Marmorklippen« (1939) den Weg in eine Innerlichkeit angetreten, die religiöse Züge trug. Der junge Mediziner Alexander Mitscherlich, der aus dem nationalrevolutionären Widerstandskreis von Ernst Niekisch stammte, schrieb an die Frau Jüngers, Gretha, die er aus Jugendtagen kannte: »Wenn er nun – in diesem Augenblick des Jahres 1945 – an der Notleine des Christentums zieht, dann muss ich einfach lachen. Wer nichts als die christliche Heilsbotschaft in dieser traurigen Welt zu offerieren hat, der wird keine Peripetie erzwingen. Der subtile Zynismus, der den gôut des Jünger’schen Stils ausmacht, wird durch die Attitüde der Gläubigkeit auf peinliche Weise verdorben.«70 Eben dieser taktische Terrainwechsel vom kämpferischen Aktivismus in die Gefilde elegisch gestimmter Religiosität, die der junge Mitscherlich richtig erspürt hatte, machte aber keine Schwäche aus, sondern zeigte sich als rettender Ausweg und wurde geradezu zum Kennzeichen des westdeutschen Nachkriegskonservatismus. Allerdings vollzog Jünger seine Wende weniger radikal als etwa die Vertreter des vormaligen Tat-Kreises Hans Zehrer und Giselher Wirsing, die zu rechtskonservativen Publizisten im Dienste evangelischer Landesbischöfe mutierten. So pflegte Jünger zum Beispiel weiterhin Kontakte zu nationalrevolutionären Mitstreitern und siedelte sich bewusst am publizistischen Rand an, um von dort hegemoniale politische Autorschaft, in: ders., Ernst Jünger-Handbuch, S. 5-29, hier S. 18 f. (allerdings die Inhalte ausklammernd). 69 Vgl. dazu noch Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, 9.8.1954: »Vieles von dem, was wir in unserer politischen Zeit gesagt und geschrieben haben, wurde später von ihnen stellvertretend durchexerziert und ad absurdum geführt. Ich spreche derartiges nicht öffentlich aus, weil heute wieder neue Formen des Massenwahnes herrschen, und etwa die ungeheuerliche Provokation des Versailler Vertrages, gegen die nicht nur wir, sondern auch die Nationalsozialisten mit Recht die Jugend zu mobilisieren versuchten, in der Versenkung verschwunden, und nur die Replik Gegenstand der Replik geblieben ist.« (Ernst Jünger. Friedrich Hielscher. Briefe 1927-1985. Hrsg., komm. u. mit einem Nachwort von Ina Schmidt und Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S. 250-252, Zitat S. 252). 70 Alexander Mitscherlich an Gretha Jünger, 18.3.1946, in: Schöttker, Im Haus, S. 15-18, Zitat S. 15.
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Deutungsmacht zu gewinnen. Seine Position, die er bewusst in der Schwebe hielt – »übrigens hat das 20. Jahrhundert seine Karten noch nicht aufgedeckt«71 – und die über den Kontroversen seiner Zeit angesiedelt schien, war so für unterschiedliche Strömungen anschlussfähig. Jüngers Strategie zielte darauf, auf dem intellektuellen Feld den Eindruck der Standhaftigkeit und Kontinuität zu erwecken, um nicht seinen Kredit als souveräner Deuter seiner Zeit zu verlieren, und gleichzeitig behutsame Anpassungsleistungen zu erbringen.72 Der liberale Publizist Peter de Mendelssohn, nach 1945 Kontrolloffizier in britischen Diensten, hat in einer luziden Analyse von Jüngers Werk festgehalten, dass der in den »Marmorklippen« obwaltende Stil, durch die Zensur angeblich verfeinert, später beibehalten worden sei; »aus notgedrungener Pose« raunender Anspielungen sei ein »naturgemäßer Habitus« entstanden, der gegenüber der demokratischen Gesellschaft die gleiche Distanz wahrte wie zuvor gegenüber den Zumutungen des NS-Regimes.73 Jünger drängte es, noch bevor seine publizistischen Beschränkungen aufgehoben wurden, mit Macht in die Öffentlichkeit. Seit Februar 1948 betrieb er mit seinem Bruder Friedrich Georg, seinem treuesten Gefolgsmann in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Gerhard Nebel, dem Philosophen Martin Heidegger und dem Stuttgarter Verleger Ernst Klett die Gründung einer Zeitschrift, die den Titel Pallas tragen sollte.74 Neben den Brüdern Jünger und Heidegger sollten auch Carl Schmitt und der Physiker Werner Heisenberg als Herausgeber auftreten. Nachdem diese sich zurückgezogen hatten, nahm auch Heidegger von dem Projekt Abstand. Als Jünger ihm versicherte, dass auch er Bedenken gegen die exponierte Position habe, in die man sich durch die Gründung einer Zeitschrift begeben würde,75 fasste Heidegger noch einmal die gemeinsamen prinzipiellen und taktischen Argumente zusammen: »Der Wille, das Eigene der abendländischen Überlieferung ursprünglicher zu entdecken und sichtbar zu machen, die Wartenden zu sammeln, Suchende zu stärken, muss bezaubern. Aber dies alles geht, wie ich heute deutlich sehe, nur auf dem Wege eines Rückfalls in die abgenützte Form der Zeitschrift. Die Diktatur der Öffentlichkeit lässt sich innerhalb ihrer nicht brechen. Das geeinte Auftauchen unserer Namen, wenn auch nur in der Form einer ständigen Mitarbeiterschaft, würde zu einem Politikum, das vielleicht unsere letzte gewährte Position erschütterte oder doch endgültig verwirrte. (…) Darum meine ich, 71 Ernst Jünger an Armin Mohler, 20.4.1947, in: DLA, A: Armin Mohler. 72 Vgl. Schöning, Kriegserfahrung, S. 23-25. 73 Peter de Mendelssohn, Der Geist in der Despotie. Versuche über die moralischen Möglichkeiten der Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft, Berlin-Grunewald 1953, S. 173 ff., Zitat S. 187. 74 Morat, Zeitschriftenfrage, S. 128; vgl. Peter Trawny, Martin Heidegger, in: Schöning, Ernst Jünger-Handbuch, S. 368-370. 75 Martin Heidegger an Ernst Jünger, 11.6.1949, in: Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949-1975. Hrsg., komm. u. mit einem Nachwort von Günter Figal, Stuttgart 2008, S. 9.
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wir sollten das Vorhaben zurücknehmen und seine Bestimmung erst noch länger wachsen lassen. Wir dürfen der fortbestehenden, aber inzwischen schlauer gewordenen Rachsucht nicht das Letzte zum Frass vorwerfen; wir müssen im eigentlichen unangreifbar bleiben.«76 Ob der ursprünglich vorgesehene Herausgeberkreis sich nicht bald entzweit hätte, bleibt ohnehin offen, wenn man etwa die abschätzigen Einträge in Carl Schmitts »Glossarium« jener Jahre über Ernst Jünger liest, dessen »Arbeiter« »Sprachstil, nicht Denkstil« offenbare, »naturwissenschaftliche genaue insektenforscherische Beobachtung, keine Spur von Ontologie«; Don Capisco, so Schmitts von Jünger verliehener Spitzname, bezeichnete diesen als eine »ihre Einfälle restlos verwertende Vollmonade« und »ärmste, engste Stimme, die ich in meinem Leben gehört habe«. Er hegte wenig mehr als Verachtung gegenüber der vielleicht sogar drogensüchtigen »Primadonna« mit ihrer marktschreierischen »Verwertungsmethode« des eigenen Werks.77 Dass man gleichzeitig durchaus engen privaten Umgang pflegte, kurz vor Weihnachten 1951 besuchte Schmitt Ernst Jünger zusammen mit seiner Tochter Anima, ließ sich damit offenbar vereinbaren78 und zeigt anschaulich die Ambivalenz der Kooperation im Geiste prinzipiell verbundener, aber jeweils eitel von sich eingenommener Intellektueller. Auch Heidegger hielt Jünger nicht für einen tiefen Denker.79 Zwar war seine Strategie intellektueller Rehabilitierung ähnlich, allerdings ging er nicht so weit, seine existenzialphilosophische Position für missbrauchbar zu halten. In der Diskussion um Heideggers Position war es vielmehr um dessen Freiburger Rektorat und die damit einhergehende Rede von 1933 gegangen, in der er dem NS-Regime seine Hochachtung bezeugt hatte. Deshalb hatte er in der französischen Besatzungszone 1947 Lehrverbot erhalten. Seit 1949 hielt er gut dotierte Vorträge, vorzugsweise im Kurhotel Bühlerhöhe von Baden-Baden80 und im »Club zu Bremen«
76 Martin Heidegger an Ernst Jünger, 23.6.1949, in: Schöttker, Im Haus, S. 38 f.; vgl. auch Morat, Tat, S. 335 ff. 77 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951. Hrsg. von Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, Einträge vom 3.7.1949, 6.11.1949, 15.11.1949, 16.11.1949, 21.12.1949, 5.2.1950 (S. 252, 277, 278, 284, 293); der Vorwurf der reklamehaften Vermarktung bezog sich wahrscheinlich darauf, dass Jüngers Verleger Ewald Katzmann seinen Tübinger Furche-Verlag in Heliopolis-Verlag umbenannte, in dem dann Jüngers gleichnamiger Roman 1949 erschien; die privaten Aufzeichnungen stehen im Kontrast zum Ton der freundlichen Vertrautheit in der Korrespondenz, die über viele Jahre hinweg reicht; Ernst Jünger – Carl Schmitt: Briefe 1930-1983. Hrsg., komm. und mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 294 f. 78 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt, 27.12.1951, in: Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corinna und Werner Sombart. Hrsg. von Martin Tielke, Berlin 2015, S. 50 f., hier S. 51. 79 Vgl. mit Hinweisen auf die Forschungsliteratur Manfred Weinberg, Über die Linie (1950), in: Schöning, Ernst Jünger-Handbuch, 183-185. 80 S. Kapitel II.1.
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vor den lokalen Großhandelskaufleuten.81 1951 wurde Heidegger mit vollen Bezügen emeritiert und konnte bis 1967 lehren. Heidegger hat wie nahezu jeder Gefolgsmann der braunen Diktatur nach 1945 behauptet, seine Aktivitäten im »Dritten Reich« seien erforderlich gewesen, um die Autonomie seines Schaffens abzusichern, das man nur als widerständig begreifen könne. Dass Heidegger nicht nur ein Opportunist gewesen war, sondern lebenslang ein verstockter, unbelehrbarer und verlogener Antisemit bleiben würde, deutete sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren an. Im Januar 1948 schrieb er an seinen Schüler Herbert Marcuse, dessen Vorwürfe gegen das judenmörderische Regime seien berechtigt, allerdings habe statt »Juden« eben »Ostdeutsche« zu stehen; dieses unter Zeitgenossen geläufige Ablenkungsargument relativierte – oder dementierte – er mit der zusätzlichen Behauptung, der »blutige Terror« der Nationalsozialisten sei vor dem deutschen Volk geheimgehalten worden, während die Verbrechen an den Vertriebenen sich vor der Weltöffentlichkeit vollzogen hätten.82 Die bodenlose Bösartigkeit und Intransigenz Heideggers enthüllte sich erst Jahrzehnte später. In den 1950er Jahren strahlte sein Ruhm umso heller. Der Merkur ließ es sich zur Ehre gereichen, dass der raunende Meister die Frage beantwortete, was Denken heiße. Nicht der Inhalt war bedeutsam, sondern das Faktum des Publizierens in der führenden Zeitschrift der Intellektuellen.83 Selbst der Leserschaft der Friseursalons und Zahnarzt-Wartezimmer wurde Heidegger von der Illustrierten Quick vorgestellt.84 Dem jungen Studenten Jürgen Habermas gebührt fast allein das Verdienst, der populären Vergangenheitsverdunkelung Heideggers mutig entgegengetreten zu sein. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte Habermas, dass dieser nicht als Philosoph interessiere, »sondern in seiner politischen Ausstrahlung, in seiner Wirkung (…) auf die Willensbildung entzündbarer und begeisterungsfähiger Studenten. Das Geniale ist zwielichtig …« Es ginge eben nicht allein um die berüchtigte Rektoratsrede, sondern um das »Problem der faschistischen Intelligenz (…) als das Problem der Vorgeschichte des Faschismus«. Habermas schloss seinen Artikel mit den Fragen: »Läßt sich auch der planmäßige Mord an Millionen Menschen, um den wir heute alle wissen, als schicksalhafte Irre seinsgeschichtlich verständlich machen? Ist er nicht das faktische Verbrechen derer, die zurechnungsfähig verübten – und das böse Gewissen eines ganzen Volkes?«85 81 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 449 ff. 82 Zit. nach Florian Grosser, Revolution denken. Heidegger und das Politische 1919 bis 1969, München 2011, S. 337. 83 Martin Heidegger, Was heißt Denken?, in: Merkur, Jg. 6, 1952, S. 601-611. 84 Daniel Morat, Esoteriker des Mainstreams. Martin Heidegger in der Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 57, 2009, S. 723-738. 85 Jürgen Habermas, Mit Heidegger gegen Heidegger denken – Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.7.1953, S. 4; der provokante Titel stammte von Karl Korn, der auch für die hervorgehobene Platzierung
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Noch größere Abneigung als gegenüber dem »Heldenjüngling Habermas« empfand Carl Schmitt, wie er an seinen Schüler und Kollegen Ernst Forsthoff schrieb, gegenüber Habermas’ Mentor, dem Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Korn,86 der eine fehlende Antwort von Heidegger mit einem Artikel »Warum schweigt Heidegger?« einklagte, nachdem wiederum Christian E. Lewalter in der Zeit »Heideggers Ankläger« Habermas mit scharfen Worten als Neomarxisten, in jenen Jahren ein Totschlagargument, diffamiert hatte. Aber Heidegger ließ sich nur zu einem Leserbrief an die Hamburger Wochenzeitung herab, in dem er auf die angeblich gefahrvolle Widerständigkeit seiner Vorlesungen verwies.87 Der Verzicht auf eine eigene Zeitschrift, Traum der meisten Intellektuellen, sollte sich für Jünger als kluger Schritt erweisen, denn dadurch konnte er seine geistige Unabhängigkeit wirkungsvoller inszenieren und seine Attraktivität für die Medien erhöhen. Im Zusammenhang mit seinen Zeitschriftenplänen hatte Jünger nach einem befähigten Sekretär gesucht, der das Management seiner Öffentlichkeitsarbeit übernehmen könnte und zugleich als Redakteur fungieren sollte. Diese Stelle bot er schließlich Armin Mohler aus Basel an, der seit 1946 seine Nähe gesucht hatte. Der junge Schweizer, der sich nach illegalem Grenzübertritt in Deutschland 1943 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte, knüpfte nach dem Krieg ein enges Kontaktnetz zu Angehörigen der konservativ-revolutionären Gruppen der 1920er Jahre, um sie für sein Promotionsprojekt zu diesem Thema zu befragen. Mohler ging im April 1949 mit Freude auf Jüngers Angebot ein, als sein Sekretär zu fungieren.88 Mit Mohler hatte Jünger einen – zunächst – loyalen Mitarbeiter gewonnen, der wesentlichen Anteil daran hatte, dass sich der Schriftsteller als großen, dem intellektuellen Tagesbetrieb entrückten Geist inszenieren konnte, um den die Medien deshalb umso begehrlicher warben.89 Allerdings ließ Mohler seinen »lieben Chef«, so die Anrede in der dichten Korrespondenz der frühen 1950er Jahre, nicht darüber im Zweifel, dass er über die Einhaltung dieser Marketing-Strategie mit großer Strenge wachen werde: »Sie laufen mit mir als Famulus eine gewisse Gefahr, auf die ich Sie vorbereiten will: ich werde immer sauer auf alles reagieren, was die Tendenz hat, aus
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des Artikels sorgte; vgl. Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie. Berlin 2014, S. 73 ff.; Yos, Habermas, S. 80 ff. Carl Schmitt an Ernst Forsthoff, 3.9.1953, in: Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926-1974). Hrsg. von Dorothee Mußgnug u. a., Berlin 2007, S. 97. Christian E. Lewalter, Wie liest man 1953 Sätze von 1935? Zu einem politischen Streit um Heideggers Metaphysik, in: Die Zeit, 25.7.1953; Karl Korn, Warum schweigt Heidegger? Antwort auf den Versuch einer Polemik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.8.1953; Martin Heidegger, Leserbrief, in: Die Zeit, 24.9.1953. Armin Mohler, Ravensburger Tagebuch. Meine Jahre mit Ernst Jünger. Meine Zeit bei Ernst Jünger 1949/50. Mit einem Nachtrag »In Wilflingen 1950-1953« von Edith Mohler, Wien/Leipzig 1999. Vgl. Morat, Tat, S. 423 ff.; Karlheinz Weissmann, Armin Mohler. Eine politische Biographie, Schnellroda 2011, S. 77 ff.
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Ihnen den Gerhart Hauptmann der zweiten Republik zu machen. Der Augenblick, wo Sie an einem Kongress teilnehmen, wird Sie Ihre besten Leser kosten. Dafür werden Sie eine Hekatombe hysterischer Weiber und weicher Literaten mehr gewinnen.«90 Zu Jüngers Strategie gehörte es, dass er sich immer wieder als Opfer des linken Feuilletons ausgab. An seine gute Bekannte, die Journalistin Ursula von Kardorff, schrieb er: »Sie haben recht darin, daß es zum guten Ton gehört, mich überlegen abzufertigen. Es muß eine besondere Art der Selbstbefriedigung und Wahrnehmung der eigenen geistigen Importanz damit verbunden sein.«91 Einige Wochen später ergänzte er: »Was das Feuilleton von mir denkt, ist mir ziemlich gleichgültig. Die deutschen Intellektuellen zählen mich nicht zu den ihren, das ist nun mal mein Pech und kostet mich manchen Anhänger. Sie mögen sich ausmalen, was das für die Lokomotive zu bedeuten hat.«92 Nun hatte es zwar einige linke Attacken auf Jünger gegeben, die sich vor allem auf dessen rechtsextreme Aktivitäten vor 1933 bezogen.93 So war ihm durchaus zu Ohren gekommen, dass Kurt Hiller im Londoner Exil gegen ihn wütete, aber Hiller war ein Außenseiter.94 Wie dünn der Firnis dabei über dem traditionellen Kulturantisemitismus lag, kam in einem Schreiben Jüngers an den Verleger Ernst Klett zum Ausdruck: »Ich halte Hiller für einen der Hauptschuldigen an den Judenpogromen, er war es, der durch jahrzehntelange Beschmutzung alles Deutschen dem Stürmer das Material lieferte. Hiller und Streicher, das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, und ich halte es für überflüssig, daß Sie einem solchen Menschen mit Argumenten antworten.«95
90 Armin Mohler an Ernst Jünger, 18.6.1949, in: DLA, A: Armin Mohler. 91 Ernst Jünger an Ursula von Kardorff, 3.12.1949, in: IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/5; Kardorff hatte Jünger mit diesem Brief zu einer häuslichen Faschingsfeier eingeladen. 92 Ernst Jünger an Ursula von Kardorff, 22.1.1950, in: IfZ, Nl. Ursula von Kardorff, ED 348/5. 93 Vgl. zur Debatte in den ersten drei Nachkriegsjahren Karl Otto Paetel, Ernst Jünger. Weg und Wirkung. Eine Einführung, Stuttgart 1949, S. 223 ff.; Norbert Dietka, Ernst Jünger nach 1945. Das Jünger-Bild der bundesdeutschen Kritik 1945-1985, Frankfurt a. M. 1987, S. 58 ff. 94 Hiller hatte in verschiedenen Publikationen gegen Jünger Stellung bezogen und das Publikationsverbot gegen ihn ausdrücklich begrüßt. In einem Brief an die Redaktion der Zeit, die sich um eine Rehabilitierung Jüngers bemühte, schrieb er, »erst in ruhigeren Zeiten mit gesicherter Freiheit« könne die »Redefreiheit auch für Barbaren, Scheiterhaufenschichter, Verfolger der Freiheit (…), für Ausrotteriche aller Art« gelten; Kurt Hiller an Josef Marein, 8.3.1948, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Die Zeit. 95 Ernst Jünger an Ernst Klett, 11.6.1949, in: Ernst Jünger – Martin Heidegger, S. 10 f., Zitat S. 11.
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Das alte Weimarer Feindbild, Juden und Linke, stellte sich in solchen Wutausbrüchen umstandslos wieder ein.96 Der Maler Rudolf Schlichter schrieb Jünger: »Am meisten geärgert haben mich die ebenso albernen wie infamen Anrempeleien, die von gewissen linken Schlieferln kamen, von jenen ewig Gestrigen, die glauben, durch Aufwärmung einer abgestandenen ideologischen Phraseologie dem zusammengebrochenen Gaul wieder auf die Beine helfen zu können.«97 Jünger antwortete postwendend mit der ihm eigenen herablassenden Verachtung: »Die Presse-Campagne, die Sie erwähnen, hat mich wenig berührt. Zeitweilig durfte ich mir schmeicheln, dass die gesamte deutsche Presse gegen mich Stellung nahm. Derartiges wirkt aber nur beunruhigend, wo der Genick-Schuss noch funktioniert.«98 In diesem Gestus, Fragen zur politischen Verantwortung schneidend abzuweisen und sich dabei als Opfer der Pressemeute zu stilisieren, war Jünger mit allen, die es ähnlich anging, eng verbunden. Gottfried Benn schrieb ihm, was er einem Journalisten entgegnet hatte: »über mich können Sie schreiben, dass ich Kommandant von Dachau war oder mit Stubenfliegen Geschlechtsverkehr ausübe, von mir werden Sie keine Entgegnung vernehmen.«99 Tatsächlich aber überwog in der Debatte um Jünger in Deutschland zum einen von Anfang an Respekt und Bewunderung – ausgegrenzt wurden vom Bildungsbürgertum eher Thomas Mann und andere Exilschriftsteller –, zum anderen wurde 1949 längst nicht mehr nur über Jünger diskutiert, sondern dieser selbst wurde immer wieder zu medialen Auftritten eingeladen und von Zeitungen, Zeitschriften und Radiostationen umworben. Jünger brauchte die kritischen Stimmen ihm gegenüber in Westdeutschland für seine elitäre Stilisierung als von den Zeitläuften unanfechtbarer exzeptioneller Intellektueller; allzu einmütige Akklamation hätte zum Image statuarischer Langeweile geführt. Jedenfalls standen die intellektuellen Medien Schlange, um eine Stellungnahme des großen Dichters oder die Erlaubnis zu erhalten, einen seiner Texte veröffentlichen zu dürfen. Dass die regelmäßigen Anfragen, er möge doch mitteilen, welches Buch ihn am stärksten beeindruckt habe, was er an der modernen deutschen Literatur vermisse und wie man das Buch in breiteren Leserschichten populär machen könne, von ihm abschlägig beschieden wurden, versteht sich von selbst.100 Damit
96 Vgl. Schöning, Kriegserfahrung, S. 13 f. 97 Rudolf Schlichter an Ernst Jünger, 22.6.1949, in: Ernst Jünger – Rudolf Schlichter, S. 226-228. 98 Ernst Jünger an Rudolf Schlichter, 25.6.1949, in: ebd., S. 230. 99 Gottfried Benn an Ernst Jünger, 26.12.1949, in: Schöttker, Im Haus, S. 41 f., Zitat S. 42. 100 Adolf Frisé (Feuilleton der Hamburger Allgemeinen Zeitung) an Ernst Jünger, 26.11.1949, Rudolf Walter Leonhardt (Die Zeit) an Ernst Jünger, 14.9.1961, jeweils in: DLA, A: Jünger.
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hätte er sich nur einer Reihe anderer Stellungnahmen begeben, was seiner elitären Position nicht entsprochen hätte. Verlassen konnte sich Ernst Jünger auf seine konservativ-revolutionären Gesinnungsgenossen, die unter Ausblendung und Weichzeichnung ihrer publizistischen Produkte wie er selbst ihre geistige Widerständigkeit im »Dritten Reich« betonten und ähnlichen Beschränkungen durch die Besatzungsbehörden ausgesetzt gewesen waren. Viele von ihnen gehörten in der frühen Bundesrepublik wieder zur intellektuellen Prominenz. So betätigte sich Margret Boveri, deren Buch über den »Verrat im 20. Jahrhundert« ein Bestseller der Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie« (rde) wurde, schon sehr früh als Propagandistin für Ernst Jünger. Sie hatte in amerikanischer Internierung, in Ellis Island, 1941 Jüngers zwei Jahre zuvor veröffentlichtes Buch »Auf den Marmorklippen« gelesen, dann auch frühere Schriften, die ihr »wie Erleuchtungen und Bestätigungen« erschienen.101 Seit 1946 korrespondierte Boveri mit ihrem bewunderten Idol, anfangs sehr intensiv.102 Dass der persönliche Draht nach ihrem Besuch in Kirchhorst 1950 nicht recht funkte, Jünger das »sehr geehrte Fräulein Boveri« in seinen Briefen etwas von oben herab behandelte, änderte nichts daran, dass er mit ihr eine stets hilfreiche Rezensentin seiner Bücher gefunden hatte, die diese gemäß ihrer ausgeprägten Abneigung gegenüber den USA und der parlamentarisch-demokratischen Bundesrepublik vor allem nationalneutralistisch interpretierte.103 Ausgesprochene Förderer besaß Jünger auch in Joachim Günther, der im Berliner Tagesspiegel immer wieder lobend über ihn schrieb, und in den Antipoden des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Korn104 und Friedrich Sieburg. Wenngleich diese beiden Großkritiker eine entgegengesetzte Sicht auf die deutsche Gegenwartsliteratur hatten, Korn als Freund und Sieburg als Gegner der Gruppe 47, so stimmten sie doch in der Wertschätzung Jüngers überein. Auf Korn hatte der Roman »Auf den Marmorklippen« (1939) »in der geistigen Stumpfheit der Diktatur wie ein Elexier« gewirkt, schrieb er Mitte der 1950er Jahre rückblickend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.105 Korn hatte sich bereits in den Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit vehement für Jünger eingesetzt und dessen apologetischer Seismographen-Metaphorik akklamiert. Allerdings verblasste die Faszination bei Korn rascher als bei Sieburg. Das hatte keine literarischen, sondern politische Gründe – der im »Gordischen Knoten« (1953) zwar nicht religiös, aber geopolitisch abendländisch-atlantisch gewandelte Jünger ließ für ihn keine inter101 Margret Boveri an Armin Mohler, 15.6.1950, in: DLA, A: Armin Mohler. 102 Margret Boveri und Ernst Jünger; ihre Rezension von »Der Waldgang« (1952) in der FAZ unter dem Titel »Brevier für den geistig-politischen Partisanen« (6.10.1951) war überhaupt die erste in einer überregionalen Zeitung; vgl. Roland Berbig, »Ich stelle Ihr Bändchen in meine Bücher ein«. Zur Begegnung von Margret Boveri und Ernst Jünger, in: Schütz/ Hohendahl, Solitäre, S. 87-103, hier S. 97. 103 Vgl. Görtemaker, Leben, S. 264 ff. 104 Vgl. Payk, Geist, S. 196 ff. 105 Karl Korn, Ernst Jünger und der Jugendstil, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1955.
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essante intellektuelle Orientierung mehr erwarten.106 Das tat der literarischen Präsenz Jüngers in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den folgenden Jahrzehnten allerdings keinen Abbruch. Sieburg hatte mit Jünger schon im Zweiten Weltkrieg, den beide als deutsche Kulturfunktionäre zeitweise im besetzten Paris verbrachten, in Kontakt gestanden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand eine Freundschaft zwischen Sieburg und Jünger, die beide »sehnsüchtig darauf warteten«,107 dass das alliierte Publikationsverbot gegen sie aufgehoben würde und ihre Karriere erfolgreich fortgesetzt werden könne. Die Zeit dafür war 1948 gekommen und Sieburg schrieb, er freue sich, »daß die so feige wie neidische Verketzerung Ihrer Person in Deutschland sich allmählich lockert«.108 Auch Sieburg sorgte in den 1950er Jahren dafür, dass Jünger in der Gegenwart und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung immer wieder positive Erwähnung fand. Noch weiter ging nur Hans Zehrer, der nach der Übernahme der Chefredaktion bei der Welt Jünger anbot, regelmäßig in der Rubrik »Geistige Welt« auf der ersten Seite zu schreiben.109 Ernst Jünger war bereits 1946 nicht nur bereits vor Erscheinen der Zeitschrift vom Merkur, sondern auch von Ernst Rowohlt umworben worden, der »kurz und bündig« angefragt hatte, ob er »sich schon verlegerisch gebunden« habe.110 Überhaupt fällt auf, dass es eben nicht nur, wie erwartbar, die konservative Presse war, die ihn hofierte. Erich Kuby, Nachfolger von Hans Werner Richter und Alfred Andersch in der Zeitschrift Der Ruf, wandte sich Anfang 1948 an Armin Mohler. Der Ruf trage »sich seit langem mit der Absicht, die Gestalt Juengers hierzulande wieder sichtbar zu machen, nachdem sie eine Weile hinter Fragebogen und im Nebel politischer Denazifizierungsgase verschwunden war (und ist)«.111 Mohler erhielt das Angebot, bis zu sieben Schreibmaschinenseiten zu Jüngers »Strahlungen« zu liefern.112 Überraschend war auch das große Interesse der linkskatholischen Frankfurter Hefte an Jüngers Kriegstagebuch. Deren Redakteur Walter Guggenheimer forderte eine Auseinandersetzung mit den »Strahlungen«, die nicht so oberflächlich 106 Das Buch vergab Karl Korn zur Rezension an seine alte Bekannte Margret Boveri, die zwar konzedieren musste, es klinge wie »ein Hohes Lied auf den Westen«, das Arthur Koestler und Bertrand Russell vom Kongress für Kulturelle Freiheit begeistert aufnehmen würden, wenn Jünger etwa behaupte, Rio de Janeiro liege heute »tiefer im Abendland als etwa Prag«; der implizite Schluss Jüngers, eine pax americana werde die Zukunft bestimmen, wurde von Boveri übergangen; immerhin deute Jünger zumindest an, welche Qualitäten der Osten einmal in eine neue Weltordnung einbringen werde; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.1953, dok. in Margret Boveri und Ernst Jünger, S. 266-275. 107 Deinet, Friedrich Sieburg, S. 552. 108 Friedrich Sieburg an Ernst Jünger, 28.4.1948, in: Schöttker, Im Haus, S. 35 f. 109 Hans Zehrer an Ernst Jünger, 25.11.1953, in: DLA, A: Ernst Jünger. 110 Ernst Rowohlt an Ernst Jünger, 3.6.1945, in: DLA, A: Ernst Jünger. 111 Erich Kuby an Armin Mohler, 22.1.1948, in: Monacensia, Nl. Erich Kuby. 112 Zwei Jahre später schrieb Kuby selbst einen Verriss von Jüngers Kriegstagebuch, mit dem dieser gezeigt habe, dass er »provinziell geworden« sei; dok. in Kuby, Vaterland, S. 77-80, Zitat S. 80.
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sein dürfe wie jene von Erich Kuby: »Wir können fünf Jahre Jünger-Arbeit und den mit Abstand grössten deutschen Bucherfolg nicht länger ignorieren, falls unser Kritikteil überhaupt einen Sinn haben soll.«113 Zu den Bewunderern von Jünger zählte auch der junge Siegfried Unseld, der Jünger zum Geburtstag einen Aufsatz von sich schickte mit dem ausdrücklichen Wunsch, »daß Ihre Werke nun endlich auch bei uns in Deutschland veröffentlicht werden«.114 Der zum glühenden Antikommunisten konvertierte vormalige Marxist und Emigrant Franz Borkenau stellte sich als Mittelsmann von Melvin J. Lasky und der Zeitschrift Der Monat, einer »amerikanischen Zeitschrift in deutscher Sprache«, vor, an der sich – wie erwähnt – namhafte Intellektuelle aus verschiedenen Ländern, Sartre, Silone, Toynbee und andere beteiligten. »Wir moechten Sie einladen, an dieser internationalen Diskussion teilzunehmen.«115 Ernst Jünger war also keineswegs von einer Ausgrenzung aus den intellektuellen Diskursen bedroht, auch prowestlich gestimmte konservative Publizisten bemühten sich um ihn. Golo Mann bedankte sich für den ihm von Jünger als Weihnachtsgabe übersandten »Waldgang«, den er mit großem Lob bedachte, um dann doch einen Einwand vorzubringen: »Es gibt einen E. J., der helfen will. Es gibt einen anderen, älteren E. J., der schauen will, der ästhetisiert«, und von diesem sei noch etwas im »Waldgang« vorhanden.116 Golo Mann war es erkennbar darum zu tun, Ernst Jünger endgültig ins westliche antibolschewistische Lager zu führen. In den folgenden Jahren trennten sich die politischen Wege von Ernst Jünger und Ernst Niekisch, dem nationalbolschewistischen Gefährten vor 1933. Niekisch betonte, dass er seinen Widerstand gegen die »Überfremdung durch den westlichen, vor allem auch amerikanischen Imperialismus« und dessen Verbindung mit der römisch-katholischen Kirche ebenso weiterhin aufrechterhalte wie den Grundgedanken eines Bündnisses mit der Sowjetunion. »Der Lärm der Westzone gegen die Ostzone kann gedeutet werden als das Keuchen derjenigen, deren Atem nicht ausreicht, mit dem Gang der Entwicklung in der Ostzone weiterhin Schritt zu halten.«117 Der Kalte Krieg sei die »Auseinandersetzung zwischen der absterbenden bürgerlich-kapitalistischen westlichen und der aufsteigenden planwirtschaftlichen östlichen Welt«.118 Jüngers Replik klang defensiv; er könne Niekisch gegenüber gar keinen »westlichen« Standpunkt einnehmen, weil er ihn nicht vertrete. Nach wie vor hege er große Sympathien für die Russen und halte den »ungeheuren Hass gegen die Russen (…) für unheilvoll«; freilich sei die Vorbedingung für einen echten Frieden die Rückgabe der deutschen Ostgebiete »an unser Vaterland«; die »Oder-Neisse-Linie« sei jedenfalls keine »Friedensgrenze«. »Einmal muss der Hass aufhören, und es wäre gut, wenn wir damit anfingen. Mit der Einbehaltung der 113
Walter Maria Guggenheimer, Notiz für W(alter) D(irks), 28.10.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 320 A. 114 Siegfried Unseld an Ernst Jünger, 20.4.1949, in: Schöttker, Im Haus, S. 37. 115 Franz Borkenau an Ernst Jünger, 7.5.1949, in: ebd., S. 37 f., Zitat S. 38. 116 Golo Mann an Ernst Jünger, 28.12.1951, in: Mann, Briefe, S. 109. 117 Ernst Niekisch an Ernst Jünger, 15.2.1950, in: DLA, Nl. Ernst Niekisch, 15.2.1950. 118 Ernst Niekisch an Ernst Jünger, 17.6.1950, in: ebd.
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entvölkerten Provinzen aber fängt eine neue Rechnung an, die noch grösseres Unheil herbeizuführen droht als der Versailler Vertrag.«119 Ein Jahr später, nach dem Erscheinen des Essays »Der Waldgang«, schrieb Karl Korn an Niekisch, dass die »dritte Figur« um den »geistigen Partisanen zwischen allen Fronten« ihm »wenigstens sympathisch« klinge.120 Aber Niekisch war davon nicht mehr zu überzeugen. Für die breite öffentliche Beachtung Jüngers sorgte nicht zuletzt der Spiegel. Dessen Herausgeber und Chefredakteur Rudolf Augstein war geradezu ein Fan des Schriftstellers.121 Der neutralistisch gestimmte Nationalliberale Augstein besuchte Jünger im Juli 1950, man badete gemeinsam, der Gast erhielt sogar eine Badehose ausgeliehen;122 die Artikel über Jünger im Spiegel der frühen 1950er Jahre gerieten zu Homestories, die den Dichter erfreuen konnten, vor allem die Titelgeschichte aus Anlass des Erscheinens von »Heliopolis«, eine völlig unkritische Eloge auf das Leben des Dichters. Noch vier Jahrzehnte später lud Augstein den verehrten Schriftsteller ein, einen »Beitrag über Adolf Hitler aus Ihrer heutigen Sicht«123 zu schreiben. Interessant ist die Hervorhebung der Rolle von Armin Mohler, der sich als einziger im Werk Jüngers perfekt auskenne, zum gegenseitigen Nutzen: »›Arminius‹ führt die Korrespondenz, empfängt Besucher und Adoranten, sammelt Zeitungsausschnitte und tut alles, was sonst noch seines Amtes. (…). Dazu gehört, jeden Donnerstag früh den ›Spiegel‹ links neben die Schreibmappe zu legen.«124 Der junge Spiegel-Herausgeber ging Anfang der 1950er Jahre auch auf Carl Schmitt, den einstigen »Kronjuristen« des »Dritten Reiches«, zu. Er besuchte ihn in Plettenberg, um eine Rechtsberatung wegen der Beschlagnahmung einer Nummer des Nachrichtenmagazins zu erhalten125 – im Wissen darum, dass Schmitts jüngste 119 Ernst Jünger an Ernst Niekisch, 3.4.1950, in: ebd.; Niekisch gewann bei einem Besuch in Jüngers Wilflinger Domizil den Eindruck, seine Frau Greta und sein Sekretär Mohler betätigten sich als aggressive antikommunistische Einflüsterer des Schriftstellers; vgl. Niekisch, Erinnerungen, Bd. 2, S. 184 ff.; jedenfalls ließ Jünger die Korrespondenz auch in den folgenden Jahren nicht abreißen, versprach, sich um einen Verlag für Niekisch in der Bundesrepublik zu bemühen, wenn dieser nur nicht ganz so »antiwestlich« eifern würde (vgl. Korrespondenz in BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 16); an Niekisch schrieb Jünger, 9.6.1961, in BAK, Nl. Ernst Niekisch, 1a, aufgeräumt von einem Abend mit Ernst von Salomon und Richard Scheringer, an dem man sich der »alten Berliner Zeiten« erinnerte. 120 Karl Korn an Ernst Niekisch, 1.10.1951, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 121 Vgl. Ulrich Greiwe, Augstein. Ein gewisses Doppelleben. München 2003, S. 46 ff. 122 Rudolf Augstein an Ernst Jünger, 22.7.1950, in: DLA, A: Ernst Jünger. 123 Rudolf Augstein an Ernst Jünger, 23.1.1989, in: DLA, A: Ernst Jünger. 124 Der Traum von der Technik, in: Der Spiegel, 26.1.1950; das Titelbild des Blatts zeigt Jünger unter der Überschrift »Dreißigtausend Käfer« bei seinem Hobby; ein Jahr später folgte eine ganze Seite zu den Essays »Der Waldgang« und »Über die Linie«; Schweigen im Walde, in: Der Spiegel, 31.10.1951. 125 Lutz Hachmeister/Stefan Krings, Rudolf Augstein rief Carl Schmitt zu Hilfe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.8.2007; 1959 bat Augstein Carl Schmitt um einen Artikel
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Versuche eines publizistischen Comebacks einige Diskussionen ausgelöst hatten. Schmitt hatte noch energischer als Jünger jegliche Verantwortung für die Durchsetzung der Nationalsozialisten zurückgewiesen, sich als von den Siegermächten verfemter Denker stilisiert und ins sauerländische Plettenberg zurückgezogen, wo er seine Anhänger und Schüler, bisweilen ganze soziologische Seminare, etwa das von Helmut Schelsky, und philosophische Zirkel, etwa den von Joachim Ritter, beide von der nahen Universität Münster, zu ausführlichen Gesprächen empfing. Zudem pflegte er eine umfangreiche Korrespondenz. Es waren nicht nur rechtskonservative, sondern auch liberale und linke Zeitgenossen, die von Carl Schmitt fasziniert waren, und Schmitt pflegte den Kontakt gerade zu diesen sorgfältig, brachten sie doch das Renommee einer intellektuellen Unabhängigkeit über den Meinungsfronten. Der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes, der liberale Rolf Schroers und einige andere taten ihm den Gefallen.126 Als früher »Links-Schmittianer« ist auch der Marxist Leo Kofler zu erwähnen, der die SBZ verlassen hatte.127 Offenbar übten die Attitüde radikaler Verweigerung gegenüber der neuen demokratischen Ordnung und die ätzende Kritik an liberalen Ideen durch einen – scheinbar – Ausgeschlossenen und Verfemten erhebliche Anziehungskraft über das rechtsintellektuelle Spektrum hinaus aus. Allerdings gehörten linke Bewunderer nicht zum engsten Kreis um Carl Schmitt, der sich seit 1948 als »Academia Moralis« um den Meister sammelte, der erst 1951 eine Pension erhielt. Es ging darum, Schmitt zu unterstützen sowie ihm und seinen Getreuen ein Forum zu geben, »das Recht der Persönlichkeit im Massenzeitalter zu vertreten« und ihn auch materiell durch Zuwendungen von Unternehmerseite zu fördern.128 Die Academia Moralis organisierte auch die aufwändige Feier zum 65. Geburtstag Carl Schmitts 1953, bei der ihm eine Festschrift überreicht wurde.129 Gegenüber den Gleichgesinnten, meist ebenfalls nationalsozialistisch belasteten Intellektuellen, legte sich Schmitt wenig Zurückhaltung in der Polemik gegen seine »Feinde« auf, noch weniger in seinen privaten Notizen – gegen die Juden mit ihren »kolossalen Entschädigungsansprüchen und Rückzahlungen«, gegen die »zu-
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zum Reichstagsbrand 1933, was dieser ablehnte, und noch 1982 plante er ein Spiegel-Gespräch, das dann nicht mehr stattfand. Laak, Gespräche, S. 251 ff.; zu dem links- und rechtsradikal irrlichternden »Ideenhändler« Taubes vgl. Henning Ritter, Der Mann, der zuviel wusste, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.1.2008; Jerry Z. Muller, Reisender in Ideen. Jacob Taubes zwischen New York, Jerusalem, Berlin und Paris, in: Boll/Gross, Ich staune, S. 40-61. Stefan Dornuf, 2 + Carl Schmitt. Ein unbekannter Fall von Schmitt-Rezeption in der SBZ/DDR (1948-50) und ein unbekannter Fall von Schmitt-Boykott in den Gründerjahren der BRD (1955-58), in: Piet Tommissen (Hrsg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. 8, Berlin 2003, S. 241-260. Aus einer Selbstdarstellung der Academia Moralis, o. D. (1951), in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. Laak, Gespräche, S. 52 ff.; Wilhelm Schmitz, Zur Geschichte der Academia Moralis, in: Piet Tommissen (Hrsg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. 4, Berlin 1994, S. 119-156.
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rückkehrenden Emigranten, die ihre Rache genießen«, gegen die alliierte »Entrechtung des Besiegten«: »Wenn mir nichts bleibt als die Alternative zwischen einem besiegten Teufel und einem siegreichen Teufel, so entscheide ich mich für den besiegten.«130 Zahlreiche Wutausbrüche gegen Emigranten wie Golo Mann und Günther Anders, gegen den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, gegen Ernst Niekisch durchzogen seine Briefe an den lieben »Arminius«, Armin Mohler, mit dem er sich auf einer Wellenlänge wusste.131 Carl Schmitt weigerte sich noch Ende der 1950er Jahre, seinen Frieden mit der neuen Demokratie zu machen. In Anspielung an Fritz René Allemanns »Bonn ist nicht Weimar« beklagte er die Machtvergessenheit der Politik: »Bonn ist nicht einmal Bonn selbst, Bonn ist Karlsruhe.«132 Allerdings säße man Schmitts medialer Strategie auf, würde man ausschließlich diese »Gespräche in der Sicherheit des Schweigens« wahrnehmen. Seit 1953 befand sich Carl Schmitt, der seinen Lehrstuhl verloren hatte, ohnehin im Pensionsalter. Aber in den Gründerjahren der Bundesrepublik, ihrer geschichtspolitisch dunkelsten Zeit, drängte es auch ihn, sich publizistisch zu betätigen. Der Organisator der Academia Moralis, Hans Barion, schrieb an einen Freund, Schmitt sei »natürlich allmählich finanziell sehr in der Klemme, aber ich habe den Eindruck, daß er es auch nicht erträgt, einmal nicht bei der Partie zu sein«.133 Carl Schmitt knüpfte intensive Kontakte zu ihm verbundenen Redakteuren von Rundfunk und Presse, um als Intellektueller in der Öffentlichkeit zu wirken;134 das Image des Weisen vom (Pletten-)Berge konnte ihm dabei nützlich sein, das vermeintliche Schweigen sollte als Protest verstanden werden.135 Wenn er immer wieder larmoyant von einer »Pseudoöffentlichkeit«136 sprach, in der seine Argumente manipulativ verfälscht würden, widersprach das seinem tatsächlichen Zugang zu wichtigen intellektuellen Medien. Margret Boveri, Winfried Martini, Giselher Wirsing, Hans Zehrer und andere tonangebende Publizisten auf der konservativen Seite suchten seine Nähe und schrieben in ihren Blättern stets positiv über den Plettenberger.137 Carl Schmitt veröffentlichte Artikel und Rezensionen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Welt, in der Zeitschrift des Dominikanerordens
130 Schmitt, Glossarium, Einträge vom 12.1., 4.2. und 8.2.1950, S. 290, 292, 296. 131 Carl Schmitt – Briefwechsel, S. 128, 130, 249, 264 f., 348; zur Freundschaft Mohler – Schmitt vgl. Weissmann, Armin Mohler, S. 141 ff. 132 Carl Schmitt an Armin Mohler, 25.5.1958, in: Carl Schmitt – Briefwechsel, S. 247. 133 Hans Barion an Gustav Hillard-Steinbömer, 1.2.1950, in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer. 134 Vgl. Laak, Gespräche, S. 138 ff. 135 Vgl. ebd., S. 126 ff. 136 Carl Schmitt an Rudolf Augstein, 7.7.1957, zit. nach Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, S. 30. 137 Vgl. zahlreiche Hinweise ebd.; Christian Tilitzki, Margret Boveri und Carl Schmitt – ein lockerer Briefkontakt, in: Piet Tommissen (Hrsg.), Schmittiana. Beiträge zu Leben und Werk Carl Schmitts, Bd. 7, Berlin 2001, S. 281-308.
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Die neue Ordnung und in Das Historisch-Politische Buch, der von nationalsozialistisch belasteten Historikern gegründeten Ranke-Gesellschaft.138 1952 hatte er sogar den neuen Jahrgang der Zeitschrift Merkur mit Anmerkungen zur bipolaren Welt eröffnen können, aus denen eine tendenzielle Gleichsetzung der beiden Supermächte und ihres Fortschrittsbegriffs herauszulesen war. Freilich würden die Massen Zweifel daran nur noch »als sophistische Zerredungen einer dekadenten Intelligenz« empfinden.139 Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk stand Schmitt offen. Alfred Andersch etwa umwarb den »sehr verehrten, lieben Herrn Professor«,140 mit dem er Ende 1952 im Abend-Studio des Hessischen Rundfunks ein Gespräch geführt hatte und seither im freundlichen Kontakt blieb. Der publizistische Auftakt im Merkur war lange geplant. Bereits im Sommer 1949 hatte der Verleger Hans Paeschke Schmitt in Plettenberg besucht, um zu überlegen, »in welcher Weise der Merkur schon jetzt ein schriftstellerisches Mitwirken von Ihnen einfädeln könnte«.141 Allerdings war Paeschke nicht besonders wohl zumute, als die Veröffentlichung näher rückte. An den befreundeten Publizisten Wolfgang von Einsiedel schrieb er nach London: »Die große Unbekannte der Rechnung ist die Frage, ob man grundsätzlich C. S. überhaupt veröffentlichen soll und darf, oder nicht.«142 Unter Pseudonym hatte Schmitt bereits für die Zeitschrift Universitas seines Schülers Serge Maiwald geschrieben, der allerdings 1952 im Alter von 36 Jahren starb. Auch für das von den jungen Rechtsintellektuellen Rüdiger Altmann und Johannes Gross in Marburg gegründete studentische Journal Civis lieferte er – unter dem Pseudonym Erich Strauß – Gedichte und Parodien, ein Kontakt, der über Jahrzehnte aufrechterhalten wurde und sich für Carl Schmitt angesichts der steilen publizistischen Karrieren von Altmann und Gross als sehr nützlich erweisen sollte. Allerdings galt Schmitt sehr früh als Indikator, wie weit nationalsozialistisch belastete Intellektuelle bereits wieder Macht gewonnen hatten. Während unzählige Publizisten der NS-Zeit sich bereits wieder als »Edelfedern« der jungen Bundesrepublik etabliert hatten, konzentrierte sich eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit auf den Alten vom Plettenberg – auch eine Folge der Selbststilisierung als unbeugsamer Geist. Bereits die Veröffentlichung des Aufsatzes im Merkur war bei 138 Vgl. Mehring, Carl Schmitt, S. 470 ff., 495 ff.; eine ausführliche Darstellung der Gründung und frühen Aktivitäten der Ranke-Gesellschaft bei Arnt Goede, Adolf Rein und die »Idee der politischen Universität«, Berlin/Hamburg 2008, S. 230-272. 139 Carl Schmitt, Die Einheit der Welt, in: Merkur, Jg. 6, 1952, S. 1-11. 140 Alfred Andersch an Carl Schmitt, 19.3.1953, in: DLA, A: Alfred Andersch. 141 Hans Paeschke an Carl Schmitt, 1.7.1949, zit. nach Carl Schmitt und die Öffentlichkeit, S. 82; dort auch weitere Briefe zwischen Paeschke und Schmitt im Vorfeld der Veröffentlichung; mit Paeschkes Kompagnon Joachim Moras war Schmitt bereits in den 1930er Jahren bekannt gewesen; allerdings veröffentlichte die Zeitschrift auch eine kritische Besprechung von Schmitts »Nomos der Erde« (1950) von Jürgen von Kempski, Carl Schmitts Mythos der Landnahme, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 491-495. 142 Hans Paeschke an Wolfgang von Einsiedel, 23.1.1950, in: DLA, D: Merkur.
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einem Teil der Autoren und Leser auf Protest gestoßen.143 Darunter waren wichtige Intellektuelle wie der Romanist Ernst Robert Curtius, der »peinlich berührt« war, dem Schweizer Publizisten Max Rychner »sträuben sich die Haare«, der Soziologe Alfred Weber sei erbost, teilte Paeschke dem Kollegen Wolfgang von Einsiedel mit. Der Merkur werde das nun »befleckte Wappenschild (…) zu putzen haben«.144 Carl Schmitts bittere Erfahrung mit dem medienintellektuellen Mainstream der Bundesrepublik Mitte der 1950er Jahre blieb Ernst Jünger erspart. Wie jener erfreute er sich der Bewunderung und des Respekts, der ihm von Schriftstellern entgegengebracht wurde, die auf den ersten Blick politisch nicht gegensätzlicher denken konnten. So wurde zum Beispiel erst 2005 bekannt, dass der jüdische Dichter Paul Celan, der anlässlich der Vorstellung seiner später berühmt gewordenen »Todesfuge« bei den jungen Autoren der Gruppe 47 durchfiel, Hilfe für die Veröffentlichung eines Lyrik-Bandes ausgerechnet bei Jünger gesucht hatte.145 Jünger hatte einflussreichere Fürsprecher im intellektuellen Betrieb als Carl Schmitt. In der frühen Bundesrepublik war an erster Stelle Alfred Andersch zu nennen, Mitgründer der Gruppe 47 und – neben Walter Dirks – wohl der einflussreichste Intellektuelle im Rundfunk. Er pflegte zu Jünger über Jahrzehnte hinweg ein freundschaftliches Verhältnis, das auch dessen Sekretär Armin Mohler einschloss.146 Auch bei Andersch stand das Erweckungserlebnis durch die »Marmorklippen« am Anfang seiner Faszination; er trug das Werk im Wehrmachtstornister und dann im Seesack in die Kriegsgefangenschaft in den USA.147 Mohler hatte Andersch Ernst Jüngers Begeisterung über das Hörspiel »Heliopolis« mitgeteilt – der Beginn einer bis 1979 dauernden Korrespondenz.148 Ungeachtet der Kritik an der hermetischen Schreibweise würdigte Andersch ausdrücklich die »Haltung« Jüngers. Zwei Jahre später hatte er in den Frankfurter Heften auch die »Strahlungen«, Jüngers Kriegstagebücher, als zeitgenössisches »Logbuch« gerühmt.149 Andersch schrieb an dessen Sekretär, Armin Mohler,150 er habe die Absicht, den von ihm bewunderten Aufsatz Jüngers »Über die Linie« an die »Spitze des Programms« im letzten Vierteljahr 1950 zu setzen. Für die Lesung eines Textdrittels durch den Autor und eine viertelstündige Zusammenfassung der bei143 Vgl. Laak, Gespräche, S. 150, Anm. 68. 144 Hans Paeschke an Wolfgang von Einsiedel, 31.1.1952, in: DLA, D: Merkur. 145 Vgl. Joel Golb, Dichtung und Politik im Nachkriegsdeutschland: Die Kontroverse um einen Brief von Paul Celan an Ernst Jünger, in: Boll/Gross, Ich staune, S. 87-125. 146 Vgl. Klaus R. Scherpe, Ästhetische Militanz. Alfred Andersch und Ernst Jünger, in: Hans-Harald Müller/Harro Segeberg (Hrsg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 97-124. 147 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 68 f., 108, 126, 160; vgl. Hans-Ulrich Treichel, Alfred Andersch und Ernst Jünger. Zur Problemgeschichte einer Anziehungskraft, in: Wirkendes Wort, Jg. 39, 1989, S. 418-427. 148 Armin Mohler an Alfred Andersch, 23.11.1949, in: DLA, A: Armin Mohler. 149 Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 551. 150 Zu Mohler als Sekretär von Jünger vgl. Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben (erweiterte und aktualisierte Neuausgabe), Stuttgart 2014, S. 473 ff., 500 ff.
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den anderen Drittel durch ihn, Mohler, könne er 800 DM anbieten.151 Ernst Jünger hielt allerdings zu dieser Zeit noch Distanz zum auditiven Medium. Bereits im September 1946 war es, vermittelt durch Peter von Zahn und Walther von Hollander, zur wohl ersten – kontroversen – Diskussion über Ernst Jünger nach dem Krieg im Radio gekommen. Einig war man sich darin, dass Jünger ein großer »Sprachkünstler sei«; während aber Hollander Jünger als bedeutenden Schriftsteller und Gegner des Nationalsozialismus bezeichnete, kritisierte ihn Axel Eggebrecht als »Wegbereiter des Nazismus«, von dem poetisch nichts mehr zu erwarten sei.152 Jünger war über die Sendung gut informiert, scheint aber kein Bedürfnis verspürt zu haben, sich zu erklären.153 Gegenüber dem Werben von Karl Schwedhelm, Redakteur des Süddeutschen Rundfunks, nannte er bei anderer Gelegenheit die Gründe für seine Absenz. Er teilte nicht dessen Ansicht, heute gebe es nur wenige Menschen, »die ein Bedürfnis danach haben, den Zugang zum Buch zu gewinnen«. »Auch kann der Rundfunk dem Leser das private Lesen nicht abnehmen. Und warum überhaupt den Zugang erleichtern? Dabei kommt für den Menschen wie für die Sache nie viel heraus.«154 Während Jünger sich gegenüber den Avancen von Andersch zurückhaltend zeigte, ergriff dessen Sekretär Armin Mohler gern die Chancen, die sich ihm damit boten. So lud Andersch den bekennenden konservativ-revolutionären Ideologen ein, im Abendstudio ein »freies Gespräch« über die Begriffe »konservativ« und »revolutionär« mit dem Gewerkschafter Franz Josef Furtwängler und mit Theo Pirker »aus dem extremen linkskatholischen Lager« zu führen.155 Auch über den Schriftsteller Hans Henny Jahnn ließ er ihn zu Wort kommen. Mohler wiederum revanchierte sich mit freundlichen Rezensionen von Andersch’ Schriften, und dieser lobte immer wieder Ernst Jünger.156 Auch hier würde man fehlgehen, vor allem eine ästhetische Nähe zu vermuten. Vielmehr ging es um die generelle Konstellation einer politischen Elite. Andersch versuchte Mohler 1951 von seiner bizarren Konstruktion der Gemeinsamkeit von Theodor W. Adorno und Ernst Jünger zu überzeugen: »Und wenn Sie einmal daran gehen würden, die ›Dialektik der Aufklärung‹ zu le151
Alfred Andersch an Armin Mohler, 27.6.1950, in: DLA, Nl. Armin Mohler; Ernst Jünger, der Andersch verschiedentlich seine Wertschätzung versicherte, fand sich dazu nicht bereit. 152 Debatte über Ernst Jünger, in: Nordwestdeutsche Hefte, Jg. 1, 1946, H. 7, S. 13-15; weitere Teilnehmer am Gespräch waren Zahn, der Sozialdemokrat Heinz-Joachim Heydorn und der spätere kurzzeitige Intendant des Hamburger NWDR, Herbert Blank, ein ehemaliger Anhänger von Otto Straßer. 153 Gerhard Nebel an Ernst Jünger, 6.11.1946, in: Jünger/Nebel, Briefe, S. 106-108. 154 Ernst Jünger an Karl Schwedhelm, 5.8.1948, in: DLA, Nl. Ernst Jünger; später hatte Jünger durchaus nichts gegen die Präsenz seiner Texte im Rundfunk einzuwenden. 155 Alfred Andersch an Armin Mohler, 1.6.1951, in: DLA, Nl. Armin Mohler. 156 Vgl. etwa die Erwähnung einer freundlichen Rezension, die Jüngers »Über die Linie« galt und in den Frankfurter Heften publiziert worden war und die Andersch an Jünger mit einem Brief zusandte, 20.3.1953, in: DLA, A: Alfred Andersch.
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sen, dann würden Sie mit Erstaunen feststellen, dass hier Ergebnisse geliefert werden, die mit den Deskriptionen Jüngers haargenau zusammenfallen.«157 Mohlers Antwort hätte nicht gröber ausfallen können: »Adorno markiert haargenau den Punkt, wo die Gescheitheit, von der er enorm viel hat, mittels seiner geliebten Dialektik in Dummheit umschlägt. Es gibt keine blinderen Leute als die, welche heute noch die Aufklärung durch einen ungeheuren Aufwand an Hirnrinde künstlich am Leben zu halten suchen. Sie täten besser daran, Augen und Ohren aufzumachen. Dies zu Ihrem Motterich.«158 Es ist schwer nachzuvollziehen, warum Andersch nach dieser klaren Feindbestimmung, die Jünger sicherlich teilte, an seinen Bemühungen festhielt, ein Bündnis unvereinbarer Größen zu schmieden. Zwei Jahre später radikalisierte er sein Konzept sogar noch. Vielleicht ging es ihm aber auch nur darum, noch einmal seine Grundauffassung zu Protokoll zu geben, denn an ein Bündnis von Thomas Mann, Ernst Jünger und Theodor W. Adorno unter dem Banner des Geistes gegen die »totalitären Systeme« des Kalten Krieges konnte er wohl kaum glauben, obwohl er behauptete: »Da ich also lesen kann, kann ich nur feststellen, dass für mich die letzten Konsequenzen des ›Waldgangs‹ und der ›Minima Moralia‹ in einer Linie liegen; und wenn Thomas Mann nach Amerika zurückkehrt und Jünger den Nationalismus aufgibt, dann beweist das für mich, dass sehr verschiedene Wege auf einen Punkt zusammenlaufen, der Aufstand heißt. Aufstand alles dessen, was Geist oder Kunst oder ›Sein‹ heißt (…) gegen den ideologischen Wahnwitz der totalitären Systeme, die den Vordergrund der Epoche beherrschen.«159 Im gleichen Brief lud Andersch sowohl Mohler als auch Jünger zur Mitarbeit an seiner neuen Zeitschrift ein, die dann mit dem Titel Texte und Zeichen 1955 erscheinen sollte.160 Im ersten Jahrgang finden sich gleich zwei – allerdings nicht besonders belangvolle – Texte von Armin Mohler, Rezensionen von de Gaulles Memoiren und Arnolt Bronnens Lebensbeichte.161 Andersch ließ es sich wiederum nicht nehmen, Jüngers »Gordischen Knoten« insgesamt sehr positiv zu rezensieren. Er fragte allerdings, ob man hier die »Wendung des Hauptes der konservativen Schule zum Rationalismus« konstatieren könne, deutete leise Zweifel an der geopolitischen Konstruktion Jüngers an; wie Margret Boveri stieß er sich an der Formulierung, Rio de Janeiro zähle heute eher zum Abendland als Prag, und meinte, die
157 Alfred Andersch an Armin Mohler, 29.4.1951, in: DLA, A: Alfred Andersch und A: Armin Mohler. 158 Armin Mohler an Alfred Andersch, 22.6.1951, in: DLA, A: Armin Mohler. 159 Alfred Andersch an Armin Mohler, 20.3.1953, in: DLA, A: Alfred Andersch. 160 S. Kapitel II.4.3. 161 Vgl. dazu Reinhardt, Alfred Andersch, S. 235.
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»Hybris Stalins wird nur für eine Weile die Tatsache verdecken, daß die russische Revolution, ebenso wie die französische, eine westliche Revolution war, die Leistung eines sehr ›westlichen‹ Bewußtseins, eben jenes Bewußtseins, das Jünger mit vollem Recht als ›freien Geist‹ bezeichnet«.162 Aber die Auseinandersetzung mit der antikommunistisch-abendländischen Kampfschrift blieb insgesamt doch auf der Ebene respektvoller Literaturkritik. Jünger war Mitte der 1950er Jahre endgültig in der intellektuellen Szene der Bundesrepublik angekommen. Ein Ausdruck der verbreiteten Wertschätzung war die Festschrift – ungewöhnlich genug für einen Schriftsteller und zu einem doch noch frühen Wiegenfest – zum 60. Geburtstag Jüngers 1955, die Armin Mohler sorgfältig geplant hatte. So hatte er Carl Schmitt bewegen können, sich darin mit dem »Gordischen Knoten« auseinanderzusetzen, während Martin Heidegger auf Jüngers ihm gewidmete Schrift »Über die Linie« antwortete, jeweils höfliche, aber in der Sache radikale Kritiken.163 Allerdings war nicht zu verkennen, dass nur eine überschaubare Schar Jünger die Ehre gab. Gottfried Benn hatte lediglich fünf halbe Zeilen beigesteuert, Hans Speidel stellte Briefe aus der Pariser Zeit und aus dem Kaukasus zur Verfügung; Jüngers Bruder erinnerte an die Eltern. Mohler hatte sich bei Margret Boveri, die »nicht zu einer Geburtstags-Trine werden«164 wollte, ebenso eine Absage eingehandelt wie beim früheren Mitglied des Tat-Kreises Ernst Wilhelm Eschmann, der den »Gedanken einer Festschrift für einen Schriftsteller nach unseren deutschen Verhältnissen ungewohnt, ja befremdlich«165 empfand. Zudem hatten die Autoren der Festschrift »fast durchweg eine befleckte Weste«.166 Die Würdigung Jüngers in den intellektuellen Medien fiel gedämpft aus, so gelang es etwa dem Herausgeber des Merkur, Hans Paeschke, nicht, den jungen, aber bereits selbstbewussten Jürgen Habermas für einen Artikel zu gewinnen.167 Aber wichtiger noch, wer auch immer sich äußerte: Jüngers Biographie wurde letztlich als abgeschlossen betrachtet. Er stand für den Umgang mit der Vergangenheit, für die Zukunft wurde von ihm nichts erwartet. So schwelgte Friedrich Sieburg in einem langen Artikel von den gemeinsamen Pariser Besatzungszeiten mit dem scheinbar unnahbaren Kollegen, der doch in Wirklichkeit am Leben der Menschen 162 Alfred Andersch, Kann man ein Symbol zerhauen?, in: Texte und Zeichen, Jg. 1, 1955, S. 378-384, Zitate S. 380, 382; auch in ders., Essayistische Schriften 1, S. 359-368. 163 Armin Mohler (Hrsg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1955; zur Kritik von Carl Schmitt vgl. Stefan Martus, Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001, S. 194 ff.; außerdem hatte Jüngers Secretarius biographische Stationen des Jubilars zusammengefügt: Die Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger. Zusammengestellt von Armin Mohler, Zürich 1955. 164 Margret Boveri an Hans Paeschke, 9.1.1955, in: DLA, D: Merkur. 165 Ernst Wilhelm Eschmann an Armin Mohler, 23.11.1954, in: DLA, A: Armin Mohler. 166 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 4.3.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b. 167 Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 12.1.1955; DLA, D: Merkur; Habermas schlug Margret Boveri vor, die »in Sachen Jünger ja kompetent« sei, auch wenn sie dessen »Gordischen Knoten« gefeiert habe.
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teilnehmen wolle.168 Im Bayerischen Rundfunk porträtierte ihn Kurt Seeberger als Vertreter eines »metallischen Heroismus« und »Vorbereiter der nationalsozialistischen Mentalität«, als antihumanistischen Schriftsteller, dem nicht die geringste Kleinigkeit entgehe, der aber den Menschen übersehe; nun befinde er sich »auf dem Rückzug vor der Welt«, »staunend und beklommen« stehe man »vor Jünger wie vor einem eisigen Feuer«.169 Der in den 1950er Jahren einflussreiche Literaturkritiker Hans Egon Holthusen fügte eigens ein Kapitel zu Jünger in die dritte Auflage seines Erfolgsbuches »Der unbehauste Mensch« ein.170 Darin kennzeichnete er Jünger als »Autor ersten Ranges«, als Meister des Essays, der »mit sinnlichem Weltstoff gesättigten Reflexion«, während er »bekanntlich kein Erzähler« sei.171 Aber gerade für die Domäne des Meisters, die Reflexion, fand Holthusen, den einige Jahre später seine SS-Zugehörigkeit einholte, kritische Worte. Als übliche Weichzeichnung konnte noch die Wendung verstanden werden, Jünger habe sich »in seiner Jugend gewissen Einflüsterungen des politischen Zeitgeistes gegenüber gelegentlich allzu nachgiebig gezeigt«;172 aber an anderer Stelle wurde er deutlicher: Die »unerträgliche Absolutsetzung« des Fronterlebnisses, die »amoklaufende Antibürgerlichkeit«, mit der er einen »geistreichen Edelfaschismus« bedient habe, seien nicht einfach zurückzunehmen.173 Dennoch setzte er Jünger, der bis zuletzt »als freier Geist der deutschen Tragödie standgehalten« hatte, moralisch positiv ab von Thomas Mann, der »in Kalifornien mit dem Rooseveltschen Antifaschismus gemeinsame Sache macht«.174 Der junge Berliner Rundfunkredakteur Thilo Koch mochte sich in der Zeit gar nicht festlegen, ob Jünger ein großer Schriftsteller sei, angesichts des nur kurzen Weges des »geheimnisreich-düsteren Jamben-Gewabres« vom »Erhabenen zum Lächerlichen«. Etwas gönnerhaft bescheinigte er Jünger immerhin, dass er, »wenn man Strecken der Sterilität überschlägt«, dem geneigten Leser »immer wieder eine fruchtbare Aufregung bescheren« könne.175 Aus dem ehemals konservativ-revolutionären Jünger war, so empfand es Ernst Niekisch, ein »versteinerter« Konservativer geworden, der diese Rolle als Selbstdarsteller ganz ausfüllte:
168 Friedrich Sieburg, Die gute Himmelsrichtung, in: Die Gegenwart, 26.3.1955, dok. in: ders., Zur Literatur, S. 439-448. 169 Kurt Seeberger, Ernst Jünger 60 Jahre, BR-Tageschronik, 29.2.1955 (Typoskript, 3 Bl.), in: Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 102. 170 Hans Egon Holthusen, Ernst Jünger und das deutsche Verhängnis, in: ders., Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 31955 (1951), S. 151-159. 171 Ebd., S. 152. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 155. 174 Ebd. 175 Thilo Koch, Ein ganzes Gebäude von Allegorien. Ernst Jünger wurde am 29. März 60 Jahre alt, in: Die Zeit, 31.3.1955.
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»Diese Tendenz ist so aufdringlich, daß sie mitunter gegen den guten Geschmack verstößt. Ich empfand die Manieriertheit so aufdringlich, daß ich gewissermaßen zuweilen darunter litt: Jünger schauspielert förmlich sich selbst.«176 Ernst Jünger war im juste milieu der bundesdeutschen Kultur angekommen, hatte seinen Frieden mit dem neuen Staat gemacht, galt als respektabel. Selbst wenn die Medien ihn zum 60. Geburtstag bereits zu einer Art Denkmal stilisierten, hatte doch der Besuch des Bundespräsidenten in Wilflingen im Oktober 1955 die höchste staatliche Anerkennung demonstriert,177 was so gar nicht mehr zur angeblichen Existenz eines Verfemten passte. Glückwünsche erhielt er auch von Carlo Schmid. Bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises für sein Reisetagebuch »Am Sarazenenturm« im folgenden Jahr trug Jünger zum dunklen Anzug stolz seinen Orden Pour le Mérite;178 auch die Stadt Goslar verlieh dem ehemaligen Mitbürger 1956 einen Literaturpreis. Es war kein Zufall, dass sich sein früherer Sekretär Mohler, der ihm bis 1953 gedient hatte und dann als Korrespondent verschiedener Blätter nach Paris gezogen war, zunehmend von ihm entfernte. Gerüchte über eine Entzweiung kursierten bereits Anfang 1957, und Ernst Niekisch meinte nicht unzutreffend, »jedermann, der der Entstehung der Jüngerlegende nicht erwartungsgemäß dient, läuft Gefahr, sich mit ihm zu verzanken«.179 Worum es ging, wurde erst allmählich klar. Dem Merkur-Herausgeber Joachim Moras gegenüber betonte Mohler ausdrücklich, ihn störten nicht Jüngers »politische Stellungnahmen«, seine Kritik richte sich »mehr und mehr gegen E. Jüngers Denkvorgang«, eine kryptische Formulierung, die er mündlich erläutern wolle. In einem Aufsatz über die Brüder Jünger für den Merkur versuchte Mohler dann einen »Weg zwischen Hagiographie und Entmythologisierung« zu finden.180 Stein des Anstoßes war für Mohler, dass Ernst Jünger seine frühen Texte für die – von 1960 bis 1965 erscheinende – zehnbändige erste Werkausgabe »überarbeiten« und zum Teil vorenthalten wollte. Eben dies war für Mohler ein Verrat an den konservativ-revolutionären Idealen und der erfolgreichen Strategie der Indolenz gegenüber der Verantwortung für den Nationalsozialismus.181 Seine Abrechnung mit Jünger in der Wochenzeitung Christ und Welt trug Mohler heftige Proteste der Gefolgschaft Jüngers ein, etwa seines rechtskatholischen Apo-
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Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 30.4.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a. Schwilk, Ernst Jünger (in der Ausgabe von 2010), S. 496 ff. Vgl. Arnold, Von Unvollendeten, S. 7 f. Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 18.1.1957, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 d; andererseits freute sich Joseph E. Drexel (in einem Brief an Niekisch), 20.3.1957, in: ebd. 180 Armin Mohler an Joachim Moras, 8.8.1959, in: DLA, A: Armin Mohler. 181 S. Carl Schmitt – Briefwechsel, S. 298 ff.; vgl. auch die späteren umfänglichen Erklärungen seines »Vatermords«; Armin Mohler an Alfred Andersch, 29.3.1975, in: DLA; A: Armin Mohler; Barbara Hahn, Die Werkausgaben 1960-1965 und 1978-2003, in: Schöning, Ernst Jünger-Handbuch, S. 285-293.
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logeten Curt Hohoff.182 Jahrzehnte später näherte sich Mohler seinem einstigen Chef und Idol wieder an.183 Für Ernst Jünger war die Distanz zum Jugendwerk das Eintrittsbillet zur Walhalla der Dichtung. Thilo Koch kommentierte die Wandlung von Ernst Jünger treffend, als er in der Zeit schrieb, nach dem Zweiten Weltkrieg seien »aus den heißen pommes frites, an denen sich so mancher den Mund verbrannte, milde Kartoffelklöße geworden, die runder aussehen, als sie sind«.184 Zum Eintritt Ernst Jüngers ins Rentenalter plädierte Golo Mann im Monat: »Immerhin, akzeptieren wir ihn.« Jünger zeige zwar »für demokratische Politik noch immer jenen völligen Mangel an Interesse«, der literarisch produktiv sein könne, aber politisch bedenklich sei, werte aber persönliche Freiheit ganz anders als vor 1933. Jünger spreche jetzt zu Einzelnen, wolle keine Gruppen mehr führen. »Einer neuen Jugend könnte er das alte Lied nicht singen, selbst wenn er wollte; sie würde da nicht hinhören.«185 1965 wurde ihm die Mitgliedschaft im deutschen PEN-Klub angetragen, die er höflich ablehnte. Er müsse sich auf die eigentliche Arbeit konzentrieren, die Zeit fliehe dahin.186 Jünger freute sich darüber, dass ihm auch in den 1960er und 1970er Jahren jüngere Intellektuelle ihre Reverenz erwiesen. Die militaristische Sprache zeigte, dass dies geradezu ein Jungbrunnen für ihn war. So ließ er Wolf Jobst Siedler herzlich grüßen. Er freue sich, »ihn in Positionen einrücken zu sehen, die seiner Begabung das nötige Feld geben«187 Fast immer war die Nähe zu Jünger auch eine zu Carl Schmitt, und dabei ging es nicht um Literatur und nicht um das Verhältnis von Politik und Recht, sondern um große Geister als denkmalhafte Projektionsfläche für die Stilisierung der eigenen »heroischen« Opposition gegen die als erbärmlich und gar nicht erhaben empfundenen Zeitläufte. Das gilt für Wolf Jobst Siedler188 ebenso wie für Joachim C. Fest oder Johannes Gross und einige weitere Rechtsintellektuelle, die Spitzenstellungen in den Medien der Bundesrepublik einnahmen. Aber auch einige treue Fürsprecher Jüngers auf der linksintellektuellen 182 Armin Mohler, Ernst Jünger, in: Christ und Welt, 29.12.1961; Curt Hohoff an Armin Mohler, 7.1.1962, in: DLA, A: Armin Mohler; zu Hohoffs literarischer Begleitung Jüngers vgl. Dietka, Ernst Jünger, S. 31 f.; begeistert über die Abrechnung mit Jünger war dagegen Carl Schmitt an Armin Mohler, 29.12.1961, in: Carl Schmitt – Briefwechsel, S. 313. 183 Vgl. Seferens, Leute, S. 233 ff. 184 Thilo Koch, Der Zauber des Nein war größer. Eine jüngere Generation steht Ernst Jüngers Werk heute sehr kritisch gegenüber, in: Die Zeit, 31.3.1961; Kursivierung im Artikel. 185 Golo Mann, Der »stoische« Ernst Jünger, in: Der Monat (1960), zit. nach ders., Wir alle sind, was wir gelesen. Aufsätze und Reden zur Literatur, Frankfurt a. M. 1989, S. 291-302, Zitate S. 299, 301. 186 Ernst Jünger an Herbert Nette/PEN, 23.5.1965, in: AdK, Archiv PEN-West; eine kleine Spitze gegen einen alten Bekannten, der daran wohl nicht gern erinnert werden mochte, enthielt der Brief dann doch: »Bitte grüßen Sie auch Dolf Sternberger von mir. Ich entsinne mich noch gern des Abends, an dem er als Gast beim Pariser Stabe war.« 187 Ernst Jünger an Joachim Günther, 19.8.1963, in: DLA, A: Ernst Jünger. 188 Vgl., Wolf Jobst Siedler/Adalbert Reif, »Das Papier singt.« Gespräch mit Wolf Jobst Siedler, in: Universitas, Jg. 55, 2000, S. 1209-1219; ders., Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen, Berlin 2004, S. 134 ff.
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Seite hielten an ihrer Position fest. Als Jean Améry seinem Freund Alfred Andersch sein politisches und explizit nicht ästhetisches Unverständnis über dessen JüngerStudien189 mitteilte, das Lob einer Position als mutig angesichts eines Schriftstellers, der nicht die Größe zur Selbstkritik aufbrachte, rechtfertigte Andersch Jünger nicht nur, sondern behauptete: »Der Mann war ganz schlicht und einfach ein Widerstandskämpfer«, Jünger habe 1933 »ganz links« gestanden, der von ihm und den Nationalbolschewisten propagierte »deutsche Bürgerkrieg« gegen den Faschismus sei leider versäumt worden.190 Für ihn blieb Jünger, »in exemplarischer Weise, ein Autor nach dem Ende der bürgerlichen Freiheits-Illusionen«, auf der stetigen Suche nach »wirklicher Freiheit«.191 Die Vergabe des Frankfurter Goethepreises an Ernst Jünger 1982, gegen die die Stadtratsfraktionen der Grünen und der Sozialdemokraten protestierten, erlebte Alfred Andersch nicht mehr.192
3.3 Das allmähliche Vordringen der Aufklärung Die Geschichte des Wandels der intellektuellen Diskurse zur nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1950er Jahren ist noch nicht umfassend geschrieben.193 Auffällig ist allerdings der Vergleich des Anfangs mit dem Ende des Jahrzehnts im Blick auf die mediale Öffentlichkeit. Konnte es in den Gründerjahren gar nicht schnell genug gehen mit dem Abbruch der Entnazifizierung und der Integration selbst schwerstbelasteter NS-Verbrecher, wurde ein Jahrzehnt später bereits über die Folgen dieser Politik nachgedacht, häuften sich die von der Presse mit ausführlichen Reportagen begleiteten Prozesse gegen NS-Täter und antisemitische Straftäter. Tonangebend waren auch unter den Intellektuellen um 1950 jene gewesen, die nicht die NS-Belastung ihrer Profession oder gar ihre Rolle thematisierten, sondern den Skandal darin erblickten, dass Emigranten und »Verräter« sich als Widerständler aufspielten. Der zu jener Zeit einflussreiche rechtskonservative Literaturkritiker Hans Egon Holthusen sprach in einer umfangreichen und mit zahlreichen boshaften Anmerkungen zur Person gespickten Kritik von Alfred Andersch’ Buch »Kirschen der Freiheit«, das über seine Desertion in Italien berichtete, dem Autor das 189 Alfred Andersch, 1. Amriswiler Rede, in: Frankfurter Rundschau, 16.6.1973, dok. in: ders., Essayistische Schriften 3 (Gesammelte Werke, Bd. 10), Zürich 2004, S. 392-405. 190 Jean Améry an Alfred Andersch, 21.6.1973; Alfred Andersch an Jean Améry, 23.6.1973, in: DLA, A: Jean Améry. 191 Alfred Andersch an Ernst Jünger, 10.11.1974, in: DLA, A: Alfred Andersch. 192 Vgl. den Kommentar im WDR, 7.8.1982, in: Schwab-Felisch, Leidenschaft, S. 124 f.; hier finden sich noch einmal in Kurzform die Argumente der linken und linksliberalen Jünger-Anhänger; ausführlich Lutz Hagestedt, Ambivalenz des Ruhmes. Ernst Jüngers Autorschaft im Zeichen des Goethepreises (1982), in: ders., Ernst Jünger, S. 167-180. 193 Für die Zeit vom Kriegsende bis 1953/54 vgl. die vorzügliche Darstellung von Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
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Recht ab, sich als Angehöriger des Widerstands auszugeben. Diese Ehre gehöre, insistierte Holthusen unter Berufung auf Ernst Jünger, allein den Frondeuren des 20. Juli 1944: »Die Verschwörer des 20. Juli waren eine konservative Elite, zusammengewachsen aus Angehörigen der Generalität, des Adels, der Kirche, der Intelligenz und des Bürgertums, vermehrt um einige wenige konservative Sozialisten. Es waren keine Anarchisten und keine Kommunisten, sondern Männer, denen das Gewicht des Fahneneides wohl bewußt gewesen ist, aber auch die satanische Eidbrüchigkeit des ›Führers‹ vor Gott und den Menschen.«194 Am weitesten ging in der Konstruktion eines Antagonismus von Konservatismus und Nationalsozialismus Winfried Martini, der in seinem Buch »Das Ende aller Sicherheit« behauptete, die Wähler hätten das NS-Regime gewollt, und von einem »Dolchstoß des Wählers« und von Hitler als »Konsequenz der Demokratie« sprach.195 Hans Paeschke zeigte sich von dem für den Abdruck im Merkur bestimmten dritten Kapitel »Braune Demokratie« begeistert und empfahl seinem neuen Autor nur, seine These, »der Nationalsozialismus (sei) die konsequente Entwicklung der extremen demokratischen Formen«, noch etwas zu nuancieren.196 Wieweit antidemokratisches Gedankengut, für das sich – wenig überraschend – Carl Schmitt sehr interessierte,197 in die Mitte der westdeutschen Publizistik vorgedrungen war, zeigen eine recht freundliche Rezension des Buches in der Zeit198 sowie ein Bericht von Thilo Koch über eine Diskussion zwischen Martini und Erich Kuby in der Evangelischen Akademie Loccum. Der West-Berliner Journalist kritisierte nicht Martini, sondern seinen linken Intimfeind Kuby, der sich gegen die Wiederaufrüstung ausgesprochen hatte.199 Allerdings sorgte der streitlustige Martini immer wieder für Querelen im eigenen Lager. Mit der Redaktion der konservativen Politischen Meinung geriet er aneinander. Als er gegen eine Verfälschung seiner Artikel protestierte, verwahrte sich Chefredakteur Karl Willy Beer, der sich 194 Hans Egon Holthusen, Reflexionen eines Deserteurs, in: ders., Ja und Nein. Neue kritische Versuche, München 1954, S. 207-218, Zitat S. 215; (s. zu den Invektiven Sieburgs auch Kapitel II.2.2). 195 Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1956, S. 85, 94. 196 Hans Paeschke an Winfried Martini, 21.5.1954, in: DLA, D: Merkur; kleinere Einwände auch von Joachim Moras an Winfried Martini, 10.4.1954, in: ebd.; vgl. Winfried Martini, Der überfragte Wähler, in: Merkur, Jg. 9, 1954, S. 632-647. 197 Carl Schmitt an Ernst Forsthoff, 19.11.1954, in: Briefwechsel Forsthoff – Schmitt, S. 108. 198 Gottfried Salomon Delatour, in: Die Zeit, 4.11.1954. 199 Thilo Koch, Sorge und Hoffnung in Loccum – Über ein Journalistengespräch, in: Der Tagesspiegel, 25.6.1955; ders., Der Bischof in der Mitten. Lebensfragen und Stilfragen der Demokratie, in: Die Zeit, 7.6.1955; in diesem Sinne würdigte der Journalist auch den Rechtsaußen der EKD, Otto Dibelius, als wahrhaft »unabhängige Persönlichkeit«; Thilo Koch, Ein Christ ist niemals außer Dienst. Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Bischofs Dr. Otto Dibelius, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.5.1955.
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immer wieder um Martinis Mitarbeit bemüht hatte. Die von diesem vermuteten Tabus gebe es nicht, die Zeitschrift habe eine »politische Grundlinie, aber keineswegs Komplexe, an die wir aus irgendwelchen Gründen nicht rühren wollen«.200 Und als sich Martinis Fürsprecher Carl Schmitt darüber beklagte, dass Martinis Buch »Freiheit auf Abruf« (1960) von der linken und linksliberalen Presse niedergemacht worden und sogar im eigenen Lager ungünstig weggekommen sei, schrieb ihm Johannes Gross: »Aber ich glaube wirklich, dass Martini den Misserfolg seines Buches selbst verschuldet hat. Er hat zu viele seiner Freunde, zu denen ich mich mit gewisser Einschränkung durchaus zähle, durch schwer erträgliche Eitelkeiten und die vielen sachlich bedeutungslosen und ärgerlich falschen obiter dicta verdriesslich gemacht. Martini ist eben, wie die Amerikaner mit einem hübschen Wort sagen, ein wenig zu ›opiniated‹.«201 Dass auch den von den Nationalsozialisten verfolgten und eingekerkerten Intellektuellen keine Wiedergutmachungsleistungen zustanden, wenn sie als Kommunisten oder Linkssozialisten vom NS-Regime verfolgt worden waren, war nur die Konsequenz der exklusiven Inanspruchnahme des Widerstands von konservativer Seite. Dem Verleger der Nürnberger Nachrichten, Joseph E. Drexel, der als Anhänger von Ernst Niekisch 1937 inhaftiert worden war, wurde eine Wiedergutmachung mit der Begründung verweigert, dessen »Widerstands«-Bewegung sei dem Nationalsozialismus »nicht wesensfremd« gewesen.202 Das Wiedergutmachungsverfahren des – 1955 aus der SPD ausgeschlossenen – Sozialdemokraten Gerhard Gleissberg, der im Londoner Exil gewesen war, kann nur als schikanös bezeichnet werden. So sollte er zunächst eine Geburtsurkunde vorlegen, aus der die Religionszugehörigkeit der Eltern hervorgehe. Ernst Niekisch bemühte sich über zwei Jahrzehnte hinweg nach seinem Bruch mit dem SED-Regime, eine Wiedergutmachung für die in den Zuchthäusern des »Dritten Reiches« erlittenen Qualen zu erhalten. Ähnliche Erfahrungen musste Alfred Kantorowicz machen, als er 1957 aus der DDR in die Bundesrepublik floh.203 Erst Mitte der 1960er Jahre änderte sich diese Praxis allmählich zugunsten der ehemals Verfolgten.204 200 Karl Willy Beer an Winfried Martini, 17.4.1959, in: ACDP, Nl. Karl Willy Beer; zur Biographie des heute weitgehend vergessenen Beer vgl. Winfried Mogge, Zeitungsmann aus Berufung und Leidenschaft. Karl Willy Beer (1909-1979), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 12, 1980, S. 147-154; vor 1933 Sozialdemokrat, kam er nach 1945 vom NWDR über die Mitarbeit bei Welt und Zeit zur Politischen Meinung, die er für die Konrad-Adenauer-Stiftung jahrelang herausgab. 201 Johannes Gross an Carl Schmitt, 23.10.1960, in: DLA, A: Johannes Gross. 202 Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 13.7.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b. 203 S. Kapitel III.2. 204 Stadt Bonn/Amt für Wiedergutmachung an Gerhard Gleissberg, 12.4.1957, in: AdsD, Nl. Gleissberg; zu den Wiedergutmachungsverfahren von Niekisch und Kantorowicz s. Kapitel II.3.
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Die zitierte Polemik des Rechtskonservativen Holthusen gegen Andersch konnte sich auf die staatsoffizielle Totalitarismus-Doktrin berufen, die in großer Schlichtheit auf eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus hinauslief.205 Und eben diese Gleichsetzung ermöglichte es wiederum, die konservativen Züge der NS-Ideologie als taktische Finte abzutun: »Je länger der Nationalsozialismus währte, desto mehr streifte er die konservative Haltung ab«, behauptete etwa der liberale französische Soziologe Raymond Aron in seinem für ein französisches Publikum geschriebenen, aber gerade von westdeutschen Intellektuellen viel gelesenen Buch »Opium für Intellektuelle«, eine gern aufgenommene Entlastung der Konservativen.206 Wie der Erfolg von Ernst von Salomons »Fragebogen« und die anhaltende Popularität Ernst Jüngers zeigen, trafen aber auch jene rechten Intellektuellen in den 1950er Jahren noch auf Resonanz, die sich dem antitotalitären Konsens entzogen und neben Hitler und Stalin die »westlichen Kolonialisten« in ihr Feindbild aufnahmen, um die »Weiterherrschaft des Bösen nach seinem äußeren Ende« zu behaupten.207 Ob der entlassene katholische Kirchenrechtler Hans Barion, ein Vertrauter Carl Schmitts, gegen Nordrhein-Westfalen als das ultramontane »kulturelle KZ« wetterte208 oder der prominente evangelische Theologe und Publizist Helmut Thielicke mit drastischen Worten von seinem Bekannten, dem Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, forderte, sich für eine Freilassung der deutschen Kriegsverbrecher aus alliierter Haft einzusetzen und endlich den Alliierten zu drohen, im Falle einer »solchen Schweinerei gegenüber der früheren Wehrmacht« wie 205 Zur Diskussion um den geschichtswissenschaftlichen Gehalt totalitarismustheoretischer Ansätze, die ihren Höhepunkt um 2000 erlebte, vgl. Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999; für einzelne Aspekte vgl. Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996; Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Achim Siegel (Hrsg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln u. a. 1998; Hans Maier (Hrsg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 2003; Leonid Luks, Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen, Köln u. a. 2007; von konservativer Seite vgl. Klaus Hornung, Die offene Flanke der Freiheit. Studien zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2001; Friedrich Pohlmann, Deutschland im Zeitalter des Totalitarismus. Politische Identitäten in Deutschland zwischen 1918 und 1989, München 2001; für eine positive Rezeption der Begrifflichkeit auf der Linken vgl. Wolfgang Kraushaar, Linke Geisterfahrer. Denkanstöße für eine antitotalitäre Linke, Frankfurt a. M. 2001; zur linken Kritik vgl. Michael Schöngarth, Die Totalitarismusdiskussion in der neuen Bundesrepublik 1990 bis 1995, Köln 1996; kursorisch Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997. 206 Raymond Aron, Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung, Köln/ Berlin 1957, S. 27. 207 Kurt Ziesel, Das verlorene Gewissen. Hinter den Kulissen der Presse, der Literatur und ihrer Machtträger von heute, München 21958 (1957), S. 11 f. 208 Hans Barion an Gustav Steinbömer, 24.9.1952, in: DLA, A: Gustav Hillard-Steinbömer.
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im Malmedy-Prozess für eine westliche Armee nicht zur Verfügung zu stehen209 – rechtskonservative Kräfte wähnten sich moralisch in der Offensive. Die schamlose Integration der nationalsozialistisch belasteten Eliten, darunter auch maßgebliche Intellektuelle, vergiftete die politische Kultur der frühen 1950er Jahre. Es dauerte bis zum zehnjährigen Jubiläum 1954, als der Bundespräsident in einer großen Rede den Widerstand des 20. Juli 1944 würdigte und damit den Erinnerungskampf endgültig symbolisch beendete, der von den NS-Parteigängern mit Phrasen wie dem »Fahneneid« und der »Verteidigung des Vaterlandes« geführt worden war. Theodor Heuss betonte, dass der Versuch, dadurch »das Vaterland vor der Vernichtung zu retten«, trotz der Erfolglosigkeit »nicht nur Recht, sondern Pflicht« gewesen sei.210 Allerdings blieb es eine sehr exklusive Würdigung elitärer Schichten, geradezu als »Erfindung des 20. Juli als Geschichtszeichen aus dem Geist Stefan Georges«,211 zu dessen Bewunderern der Attentäter Graf Stauffenberg gehört hatte. Für linke Intellektuelle war diese Gloriole des konservativen Widerstands schwer erträglich. In einem Brief an seinen Freund Joseph E. Drexel bezeichnete Ernst Niekisch etwa den Historiker Gerhard Ritter wegen dessen Huldigung des konservativen Widerständlers Carl Goerdeler schlicht als »Schwein«.212 Erst nach vier Jahrzehnten wurde mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker die Würdigung auf den gesamten Widerstand gegen Hitler ausgeweitet. Immerhin trug der Erinnerungskampf um den Widerstand zur allmählichen Erweiterung publizistischer Spielräume für die Auseinandersetzung mit ehemaligen NS-Intellektuellen bei, wenngleich es nicht sehr viele waren, denen Aufmerksamkeit gezollt wurde. Kurt Hiller, der sich noch im Londoner Exil befand, protestierte energisch gegen den Wiederaufstieg des Schriftstellers und Literaturkritikers Paul Fechter. Der Redaktion der Neuen Zeitung in München, die gerade seinen Artikel gegen den neuen Intendanten des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg, den Gefolgsmann von Otto Straßer, Herbert Blank, gebracht hatte, drückte er sein Missfallen aus, weil das Blatt einen Aufsatz Fechters über C. G. Jung veröffentlicht hatte:
209 Helmut Thielicke an Eugen Gerstenmaier, 14.12.1949, in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, 036/2. 210 Theodor Heuss, Dank und Bekenntnis. Gedenkrede zum 20. Juli 1944, Tübingen 1954, S. 8, 24. 211 Raulff, Kreis, S. 420; die elitäre Konstruktion sei maßgeblich von dem Schweizer Professor Edgar Salin und seiner Doktorandin Marion Gräfin Dönhoff entwickelt worden (ebd., S. 420 ff.); vgl. Eckart Conze, Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 51, 2003, S. 483-509; ders., Marion Gräfin Dönhoff, die Westbindung und die transatlantische Rezeption des deutschen Widerstandes, in: Christian Haase/Axel Schildt (Hrsg.), DIE ZEIT und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung, Göttingen 2008, S. 173-185. 212 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 21.3.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b.
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»Fechter ist ein um keinen Grad erfreulicherer Zeitgenosse als etwa Blank. Schon in der Weimarzeit durch nationalistisch-antisemitische Beschränktheit und Überheblichkeit auffallend, hat er 1941 eine Geschichte der deutschen Literatur veröffentlicht (Verlag Th. Knaur), die ich Ihnen nur deshalb zur Lektüre nicht empfehle, weil ich durch meine Sympathie für Sie gehindert bin, zu wünschen, daß sich Ihnen der Magen umdreht. Das Machwerk ist nazi durch und durch. Sollte Herr Fechter nachweisen können, daß er nie Nazi im Parteibuchsinn war – umso übler dann.«213 Als er keine Antwort erhielt, wandte sich Hiller beschwerdeführend an den Controler des Blattes, Kendall Foss. Er wiederholte nicht nur seine Polemik gegen Fechters »Literaturgeschichte«, sie sei durch und durch »völkisch, nazistisch, judenhetzerisch, barbarisch«, sondern empörte sich zudem über eine »lächerliche Lobhudelei« anlässlich dessen 70. Geburtstags. Er wolle »nicht ohne Einspruch lassen, daß gutgetarnte und polierte SS die Amerikanische Zeitung in Deutschland zu ihrem Schlupfwinkel macht«.214 Der Fall Fechter war nicht der einzige, erschien aber Hiller, wie er an Gerhard Gleissberg einige Jahre später schrieb, »paradigmatisch«.215 Immer wieder kam er darauf zurück. Gegenüber Rudolf Pechel, mit dem er Anfang der 1950er Jahre noch eine freundliche Korrespondenz unterhielt, bekannte er: »Ich käme über dieses Buch hinweg; worüber ich nicht hinwegkomme, ist: daß die Ullschweinchen der Neuen Zeitung in München diesen Fechter wieder und wieder drucken – der heute am Ende so tut, als sei er ein Verfolgter des NaziRegimes, weil er stets nur in jüdischer Atmosphäre gelebt habe.«216 Paul Fechter, Mitherausgeber der bei Bertelsmann seit 1954 erscheinenden Neuen Deutschen Hefte,217 erhielt ein Jahr später nicht nur das Bundesverdienstkreuz für sein Werk, sondern von seinem Verlag eine Festschrift, herausgegeben von Joachim Günther, an der zahlreiche Edelfedern mitwirkten, darunter Peter Bamm, Romano Guardini, Gottfried Benn, Eduard Spranger, Agnes Miegel, Karl Silex, Max Brod, Gustav Hillard, Heinz Hilpert und viele weitere, in der Regel Alterskollegen aus der Zwischenkriegszeit.218 Harry Pross, der Rudolf Pechels Deutsche Rundschau redigierte, nahm sich der Festschrift und der Person Paul Fechters an, der ihn allerdings nur interessiere »als Exemplar einer Gattung, die in der Zeitgeschichte häufig vorkommt«. Indem er aus den Festschriftbeiträgen und danach ausgiebig aus Fechters Literaturgeschichte 213 Kurt Hiller an die Leitung der Neuen Zeitung, 12.6.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 214 Kurt Hiller an Kendall Foss, 23.9.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 215 Kurt Hiller an Gerhard Gleissberg, 10.2.1953, in: ebd. 216 Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 5.8.1950, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. 217 S. Kapitel I.4.3. 218 Joachim Günther (Hrsg.), Dank und Erkenntnis. Paul Fechter zum 75. Geburtstag am 14. September 1955, Gütersloh 1955.
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von 1941 zitierte, stilisierte er diesen, aber mehr noch seine Gefolgschaft zu Repräsentanten des »neuen deutschen Quietismus«.219 Dass die Kritik von Pross in dem zwar kleinen, aber viel diskutierten Journal von Alfred Andersch erschien, zeigte, dass sich die Zeit der unangefochtenen Kumpanei von konservativen, häufig nationalsozialistisch belasteten Intellektuellen ihrem Ende zuneigte. Giselher Wirsing, ehemaliges Mitglied des konservativ-revolutionären Tat-Kreises, gehörte zu der kleinen Gruppe, die wegen ihrer NS-Aktivitäten immer wieder in der Presse auftauchten. Sein Weg hatte nach der Entlassung aus alliierter Internierungshaft in die Redaktion der protestantischen Wochenzeitung Christ und Welt in Stuttgart geführt, die er seit 1954 leitete.220 Die ersten Hinweise auf seinen Wiederaufstieg veröffentlichte der SPD-Pressedienst im Oktober 1950, gleichzeitig mit der Erwähnung seines Kollegen Klaus Mehnert. Der Herausgeber der Wochenzeitung, Eugen Gerstenmaier, habe mit Klaus Mehnert einen Ostexperten und mit Giselher Wirsing einen Westexperten eingestellt; beide hätten »in den Nazi-Jahren und eben leider auch im Nazi-Geist« an prominenter Stelle mitgearbeitet.221 In seiner Antwort betonte Wirsing – eine Antwort von Mehnert ist nicht erhalten –, er habe wie viele seiner Freunde in der Illusion gelebt, »man könne eine böse Kraft dahin bringen, daß sie – gegen ihre Absichten – Gutes bewirkt«. Von ihrem sozialdemokratischen Parteigenossen Fritz Sänger, der ihm aus jener Zeit gut bekannt sei, könnten sie sich über die Zwangslagen der Publizisten im »Dritten Reich« informieren lassen.222 Dass sich ein führender Ideologe des NS-Regimes hier als machtloses Opfer von Illusionen ausgab, war zwar offensichtlich, fußte aber wohl auf einer Projektion; denn zugleich bekannte er, sich »bewußt und mit voller Überzeugung auf die tragenden Grundsätze der Bundesrepublik gestellt« zu haben. Die Unterstützung der neuen Ordnung, wie begrenzt Wirsings konservative Vorstellungen von Demokratie auch sein mochten, wurde sozusagen vorverlegt und färbte auf die eigene Deutung seiner intellektuellen NS-Karriere ab. Zwei Jahre später thematisierte der Spiegel erneut Wirsings Rückkehr in die publizistische Öffentlichkeit, wobei die Besprechung seines neuen Buches »Schritt aus dem Nichts« mit zumeist bekannten Fakten zu seiner NS-Karriere vermengt war. Er wurde als »hochempfindlicher Seismograph für alle geistigen Schwingungen und Schwankungen der Epoche« porträtiert, um daraus seinen Opportunismus abzuleiten. Neu war nur der Vorwurf, er habe im Internierungslager den »amerikanischen Besatzern« vorgeschlagen, »aus Westdeutschland ein US-Kondominium zu machen«, ein Vorwurf, der in der Öffentlichkeit weit schwerer wog als seine NS-Karriere. Der Vorschlag Wirsings sei selbst den Amerikanern abwegig erschienen, so dass sie ihn zu den Briten in das Lager Bad Nenndorf überstellt hätten, 219 Harry Pross, Der neue deutsche Quietismus. Das Exemplarische an der Affäre Fechter, in: Texte und Zeichen, Jg. 2, 1956, S. 321-333. 220 S. Kapitel I.4.2. 221 Hintergründige Hintergründe, in: Sozialdemokratischer Pressedienst (Hannover), 19.10.1950, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 12. 222 Giselher Wirsing an SPD-Pressedienst, 26.10.1950, in: ebd.
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wo »nachts in den Zellen die Häftlinge unter den Riemenschlägen ihrer Bewacher aufheulten und die angetrunkenen Wächter sadistisch jaulten«.223 An seinen TatKreis-Kollegen Ernst Wilhelm Eschmann, der ihn trösten wollte, schrieb Wirsing über den Artikel: »Er steckt voller böswilliger und hämischer Verleumdungen, Verdrehungen und Unwahrheiten. Keines der mir in den Mund gelegten Worte ist jemals gefallen. Und mir gegenüber den Amis Opportunismus vorzuwerfen ist schon ein starkes Stück. Die Sache kommt von ehemaligen SS-Leuten! Ecke Six. Eine Berichtigung haben sie mit einem pflaumenweichen Brief abgelehnt. Klagen ist wohl sinnlos. Man ist in solchen Fällen schutzlos.«224 Während Wirsing auf eine Klage gegen den Spiegel verzichtete, ging er gerichtlich gegen den Redakteur der Süddeutschen Zeitung, Ernst Müller-Meiningen, und den Münchener Gewerkschaftsangestellten Max Wönner wegen Beleidigung und übler Nachrede vor. Nach der Ausstrahlung der Sendung »Internationaler Frühschoppen« des WDR anlässlich der Genfer Viermächtekonferenz hatte der Bayerische Rundfunk eine kurze Presseerklärung herausgebracht, dass die Sendung künftig nicht mehr übernommen werde, weil Giselher Wirsing daran teilgenommen habe, »der zu jenen Publizisten gehöre, die ihre Begabung und ihr Talent dazu hergegeben hätten, Hitler in den Sattel zu helfen«.225 In einer beigefügten Zeugenaussage wurde die Aussage Müller-Meiningens bei einer öffentlichen Sitzung des BR-Rundfunkrats zitiert: »Dr. Wirsing hat im Internierungslager 1947 ausgeführt, dass man Deutschland den Status einer amerikanischen Kolonie geben solle. Solche Typen sind gefährlicher als die Streichers. Wir sind heute verpflichtet, trojanische Pferde nicht mehr in unsere Demokratie hineinzulassen.«226 Und Wönner hatte ergänzt: »Für mich ist Giselher ein Ausbund an Charakterlosigkeit.«227 Müller-Meiningen hatte sich bei seiner Aussage auf den Spiegel-Artikel von 1952 gestützt, der juristisch nicht angefochten worden war. Dass auch er dabei die kolportierte Negation der deutschen Nation offenbar schlimmer fand als die antisemitische Agitation in Wirsings Texten der NS-Zeit, wirft ein Schlaglicht auf die politische Kultur der Zeit. Offen bleibt, ob Müller-Meiningen selbst dieser Auffassung anhing oder auf die vermutete öffentliche Meinung spekulierte. Wirsings Anwälte verstiegen sich zu der Aussage, dieser habe 223 Intelligenz hat Seltenheitswert, in: Der Spiegel, 30.4.1952, S. 31-33. 224 Giselher Wirsing an Ernst Wilhelm Eschmann, 17.5.1952, in: DLA, Nl. Ernst Wilhelm Eschmann. 225 Strafantrag von Giselher Wirsing an das Amtsgericht Stuttgart, 23.8.1955, in: BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 30. 226 Ebd. 227 Ebd.
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»während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aktiven Widerstand geleistet und sich mit seiner eigenen Person dafür eingesetzt (…), im Bereich des Möglichen Unheil zu verhüten und Terrormaßnahmen weitgehendst zu mildern«.228 Müller-Meiningen erhielt in dieser Auseinandersetzung viel Zuspruch. So schrieb der »Kronjurist« der SPD, Adolf Arndt, er sei »völlig im Recht« und die Klage gegen ihn »eine Frechheit«.229 Zu einer Verhandlung kam es nicht, weil das Amtsgericht Stuttgart, wo Wirsing den Prozess führen lassen wollte, die Klage im November 1955 wegen örtlicher Nichtzuständigkeit abwies. Wirsing musste sich damit abfinden, in einem charakterlichen Zwielicht zu verbleiben, von den einen als NSFunktionär in einem christlich-konservativen Blatt, von den anderen als opportunistischer Wendehals beargwöhnt, der dem neuen System genauso vorbehaltlos diente wie dem alten.230 Zu betonen ist, dass die Kritik an der NS-Belastung einzelner Publizisten nur einen kleinen Teil des betroffenen Personenkreises in den Blick nahm, vor allem jene, die in der Öffentlichkeit an exponierter Stelle standen. Viele ehemalige intellektuelle NS-Kader hatten es vorgezogen, sich in die Lektorate angesehener Verlage und andere weniger beobachtete Positionen zurückzuziehen. So wusste Hannah Arendt nicht, dass der für sie zuständige Lektor beim Piper Verlag, der Literaturwissenschaftler Hans Rößner, als Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt (Abteilung Ahnenerbe) Dienst getan hatte. Nach der Internierungshaft war er 1948 zunächst vom Stalling Verlag als Lektor angestellt worden.231 Dort hatte er ein aufwändiges Unternehmen betreut, eine von seinem Vorgesetzten beim RSHA, Wilhelm Spengler, mit einem Literaturwissenschaftler Hans Schwerte herausgegebene Übersicht über das geistige Leben in zahlreichen europäischen Ländern.232 Dass letzterer ebenfalls ein Kamerad aus dem RSHA war, der es vorgezogen hatte, seinen Namen Hans Schneider abzulegen, sorgte erst vier Jahrzehnte später für einen öffentlichen Skandal, hatte es Schwerte alias Schneider doch inzwischen zum Rektor der RWTH Aachen gebracht.233 228 Ebd. 229 Adolf Arndt an Ernst Müller-Meiningen, 27.10.1955, in: BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 446. 230 Rudolf Pechel an Max Stefl, 18.12.1958, in: Archiv der Monacensia, Nl. Max Stefl, MSt B 335. 231 Michael Wildt, Exkurs: Korrespondenz mit einem Unbekannten. Hannah Arendt und ihr Lektor, SS-Obersturmbannführer Dr. Hans Rößner, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 238-261. 232 Hans Schwerte/Wilhelm Spengler (Hrsg.), Denker und Deuter im heutigen Europa, Oldenburg/Hamburg 1954; die dort gewürdigten Denker stammten zwar überwiegend aus dem kulturpessimistisch-konservativen Spektrum, integriert wurden aber auch liberale Intellektuelle (vertreten waren Spengler, Heidegger, Jaspers, Benn, Ernst Jünger, C. G. Jung, Hendrik de Man, Hamsun, Eliot, Toynbee, Gide, Claudel, Ortega y Gasset und Berdjajew). 233 Helmut König (Hrsg.), Der Fall Schwerte im Kontext, Opladen 1998.
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Die Kritik an der Integration ehemals nationalsozialistischer Publizisten, Schriftsteller und Künstler konzentrierte sich nicht zufällig vor allem auf den Antisemitismus, stützte man sich hier doch auf die offizielle symbolische Abgrenzung vom »Dritten Reich«. »Wiedergutmachung« und Aussöhnung mit Israel234 waren »von oben« gesetzte Themen in einer Gesellschaft, in der es nur noch wenige Juden gab, deren Presse in einer Nische der Öffentlichkeit erschien.235 Die »Metamorphose« des Anti- in Philosemitismus als »politischer Stil« und »geistig-kulturelle Brücke« vom »Dritten Reich« in die Ära Adenauer236 besaß für die politische Kultur eine hohe Bedeutung. Zahlreiche Intellektuelle machten sich das Projekt einer »christlich-jüdischen Zusammenarbeit« zu eigen. Rudolf Pechel konstruierte dabei bereits 1950 den bis heute immer wieder bemühten Zusammenhang eines christlich-jüdischen Abendlandes: »Zum Wesen des Abendlandes gehört integrierend die jüdische Komponente. Dem Abendland muß sie erhalten bleiben.«237 Dieser Gedanke begegnet einem ansonsten in der zeitgenössischen dominant katholischen Abendland-Ideologie nicht, während sich Pechel in der Gleichsetzung der bolschewistischen »Prediger des fanatischen Hasses« mit den Antisemiten wiederum mit den Abendland-Ideologen einig wusste.238 Es waren vor allem religiös gestimmte Intellektuelle, die sich für den christlich-jüdischen Dialog engagierten. Während sich im Nachlass von Walter Dirks, dem Herausgeber der Frankfurter Hefte, eine umfangreiche Korrespondenz zu dieser Frage findet – Dirks war mit Heinrich Böll im Kuratorium der Kölner Gruppe239 – spielte dieses Thema zum Beispiel beim Merkur keine Rolle. Während der gesamten 1950er Jahre konnte man in großen, tonangebenden Presseorganen, in der Zeit wie im Spiegel, vereinzelte glaubwürdige Verurteilungen des Antisemitismus und programmatischen Philosemitismus finden, aber ebenso
234 Eine der ersten Initiativen ging aus vom ersten Chefredakteur Rudolf Küstermeier und dem Senatspressesprecher Erich Lüth, Die Friedensbitte an Israel 1951. Eine Hamburger Inititative, Hamburg 1976. 235 Andrea Sinn, Jüdische Politik und Presse in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2014. 236 Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991, S. 343. 237 Rudolf Pechel, Judentum, Christentum, Abendland, in: Vierteljahrsschrift für das Gespräch zwischen Christentum und Judentum, H. 2/3, 1950, abgedruckt in: ders., Deutsche Gegenwart. Aufsätze und Vorträge 1945-1952, Darmstadt/Berlin 1953, S. 160-174, Zitat S. 173; vgl. Esther Braunwarth, Interkulturelle Kooperation in Deutschland am Beispiel der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, München 2011. 238 Rudolf Pechel, Zur »Woche der Brüderlichkeit«, in: Deutsche Rundschau, März 1952, abgedruckt in ders., Deutsche Gegenwart, S. 273-277, Zitat S. 276. 239 Rundbrief der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, 3.12.1958, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 116; wiederholt schrieb Dirks programmatische Artikel für die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland (Düsseldorf ); frühe organisatorische Initiativen existierten neben Düsseldorf seit 1949 auch in Frankfurt am Main; Unterlagen in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 38.
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immer wieder Artikel, die antijüdische Vorurteile und Klischees transportierten.240 Dieser Befund gilt für den Großteil der überregionalen Presse. Lediglich die ursprünglich von der amerikanischen Militärbehörde lizenzierte Frankfurter Rundschau, in der zum Beispiel Michael Mansfeld über rechtsextreme Bestrebungen hervorragend informierte, war offenbar weitgehend frei von dieser Ambivalenz und wurde deshalb von belasteten Kollegen anderer Blätter als »Schundschau« bezeichnet.241 In diesem Zusammenhang war es immerhin ungewöhnlich, dass ein großer Pressekonzern wie der Axel Springer Verlag sich unzweideutig auf philosemitische Prinzipien verpflichtete. Zwar wurde die prinzipielle Unterstützung Israels als redaktionelle Leitlinie für alle Blätter erst Mitte der 1960er Jahre formuliert,242 aber schon 1957 schrieb Axel Springer an den Chefredakteur der Bild-Zeitung: »ich habe auf meiner Dampferfahrt nach Amerika in Ruhe noch einmal Erich Lüths ›Deutschland und die Juden nach 1945‹ gelesen. Ich bitte Sie herzlich, sich die Mühe zu machen, dies auch zu tun. (…) Es kommt mir nur darauf an, daran zu erinnern, dass das Judentum aus unseren Zeitungen so lange nicht verschwinden darf, bis in Deutschland auch in diesem Punkt eine Selbstbesinnung auf breiter Basis stattgefunden hat.«243 Der Philosemitismus, wie berechnend er auch eingesetzt werden mochte, evozierte zwingend Fragen nach der biographischen Glaubwürdigkeit der Intellektuellen in den Medien und provozierte symbolisch hoch aufgeladene Skandale. Durch das gesamte Jahrzehnt zog sich der öffentliche Streit um den Regisseur des antisemitischen NS-Films »Jud Süß«. Veit Harlan war in zwei Prozessen vor dem Hamburger Schwurgericht 1949/50 vom Anklagepunkt »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« freigesprochen worden und arbeitete an einer Fortsetzung seiner Karriere. Der Hamburger Senatspressesprecher Erich Lüth hatte auf eigene Verantwortung zum Boykott seines neuen Films aufgerufen. Tumultartige Szenen vor deutschen Kinopalästen waren die Folge, Sympathisanten von Veit Harlan, unter ihnen viele Studierende, trafen auf Gegendemonstranten, auch unter ihnen nicht zuletzt Akademiker.244 Harlan verklagte Lüth wegen Geschäftsschädigung, der Fall ging bis vor das Bundesverfassungsgericht. Dieses stellte in einem berühmt gewor240 Vgl. David Heredia, Zum Judenbild nach Auschwitz. Die frühe Berichterstattung in der Zeitschrift »Der Spiegel«, Freiburg 2008, S. 126-160; Monika Halbinger, Das Jüdische in den Wochenzeitungen ZEIT, SPIEGEL und STERN (1946-1989), München 2010, S. 147162. 241 Bernd Gäbler, Die andere Zeitung. Die Sonderstellung der »Frankfurter Rundschau« in der deutschen Nachkriegspublizistik, in: Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, S. 146-165, Zitat S. 147. 242 Gudrun Kruip, »Welt«-»Bild«, S. 182 ff. 243 Axel Springer an Rudolf Michael, 19.11.1957, in: Archiv FZH, Nl. Rudolf Michael, Bd. 2. 244 Werner Schwier, Das wollen nun Akademiker sein? Veit Harlan und die Folgen, in: Die Zeit, 7.2.1952.
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denen Urteil 1959 fest, der Meinungsfreiheit komme Vorrang vor Geschäftsinteressen zu.245 Im gleichen Jahr wurde übrigens auch die Klage von General a. D. Bernhard Ramcke, dem Kommandanten der bis zuletzt verteidigten Festung Brest, gegen Erich Kuby und Rüdiger Proske abgewiesen. Ramcke hatte sich durch ein Hörbild, das vom NDR gesendet worden war, beleidigt gefühlt. Auf die Frage am Schluss der Sendung, ob Ramcke »ein Schwein« wäre, war geantwortet worden: »Er war eben ein Landsknecht.« Kuby hatte in seinem Schlusswort erklärt, der »immer auf Selbstreklame« bedachte Ramcke sei »so etwas wie die Brigitte Bardot der großdeutschen Generalität«; der Freispruch erregte die Kritik neofaschistischer Kreise und des bayerischen Landesministers Werner Stain, der kritisierte, dass damit junge Bundeswehrsoldaten verwirrt werden könnten, »wenn sie sehen müßten, daß alte verdiente Soldaten mit Schmutz beworfen würden«.246 Die Boykottbewegung gegen Harlans Filme verbreitete sich in der gesamten Bundesrepublik und bewegte die Intellektuellen. In Frankfurt am Main fand am 12. Juni 1951 eine Diskussionsveranstaltung des universitären Seminars für Politik mit 200 Teilnehmern statt. Die Organisatoren wandten sich daraufhin an prominente Frankfurter Intellektuelle, darunter Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, den Verleger der Frankfurter Rundschau Karl Gerold, Eugen Kogon und Paul Sethe. Die Sympathiekundgebungen für Veit Harlan vor deutschen Kinos seien ein »Alarmsignal zu pronationalsozialistischen und antisemitischen Entwicklungen«. Nun gelte es zu zeigen, »daß sich die aufmerksamen und echten Demokraten nicht in die Defensive drängen lassen«.247 Für den 19. Juni wurde zu einer weiteren Versammlung eingeladen. Der Rechtswissenschaftler Franz Böhm und der Direktor des Instituts für Sozialforschung Max Horkheimer lieferten Entwürfe einer Resolution, die in der Forderung eines Boykotts übereinstimmten und auch darin, die Mitwirkung von Intellektuellen im »Dritten Reich« als schändliche Tat zu geißeln. Franz Böhm formulierte: Veit Harlan sei »mitschuldig, wenn die deutschen Künstler und Intellektuellen in den Verruf gekommen sind, daß sie sich zu jeder politischen Schandtat hergeben, bloß um eine Rolle zu spielen und im Vordergrund zu stehen«.248 Horkheimer attestierte: »Die Verächtlichsten der Verführer waren die Federhelden.«249 In einem Punkt allerdings gab es eine charakteristische Differenz. Böhm hatte gefragt:
245 Vgl. Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2005. 246 Günstige Entwicklung, in: Münchner Merkur, 2.3.1959; weitere Pressestimmen in: BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen, 155. 247 Ulla Illing/Horst Siebcke an Max Horkheimer, 15.6.1951, in: Kraushaar, Frankfurter Schule, Bd. 2, S. 59. 248 Ebd., S. 60. 249 Ebd., S. 61.
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»Was mögen die Hinterbliebenen der Ermordeten und die Überlebenden der Judenfolterungen empfinden, wenn in Deutschland schon wieder Filme eines Menschen gezeigt werden, der vor wenigen Jahren als deutscher Künstler zum grauenvollen Massenmord an Millionen unschuldiger und wehrloser Menschen die filmische Begleitmusik gemacht hat?«250 Horkheimer dagegen betonte die Opfer auch der Polen und der – nichtjüdischen – Deutschen – und verstieg sich zu der bekannten These: »Die Juden wurden vor allem deshalb verfolgt, um im Volke den schleichenden Schrecken zu verbreiten. Wie es im Sprichwort heißt, den Sack schlägt man und den Esel meint man.«251 Inwiefern die funktionalistische Erklärung Horkheimers vor allem einer Strategie geschuldet war, in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Bevölkerung nicht zu viel zuzumuten, muss offen bleiben. Einer der seltenen Proteste gegen rechtsextreme Politiker richtete sich 1955 gegen den gerade ernannten niedersächsischen Kultusminister Leonhard Schlüter (FDP; 1921-1981), dessen Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik fast ausschließlich rechtsextremes Schriftgut, nicht zuletzt Bücher von amtsenthobenen nationalsozialistischen Professoren, verbreitete.252 Proteste der Göttinger Universität, der Rücktritt der Professoren von allen Ämtern der akademischen Selbstverwaltung, der Rücktritt des Allgemeinen Studentenausschusses, ein Vorlesungsboykott und Fackelzug, an dem sich die Hälfte der etwa 5.000 Studierenden beteiligte, trugen dazu bei, dass Schlüter sich nach wenigen Tagen beurlauben ließ und dann zurücktrat; ein halbes Jahr später trat er auch aus der FDP aus. Man kann die Affäre Schlüter, als die sie in die Zeitgeschichte eingegangen ist, als Vorbote der Studentenbewegung der 1960er Jahre verstehen. Aber es handelte sich hier nicht um nationalsozialistische Belastungen: Die Mutter von Schlüter war von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt worden, einige ihrer Verwandten hatten den Holocaust nicht überlebt. Vielmehr ging es um aktive rechtsextreme Betätigungen. Schlüter hatte, bevor er der in Niedersachsen weit rechts positionierten FDP beitrat und es bis zum Vorsitzenden ihrer Landtagsfraktion brachte, im rechtskonservativen und neonazistischen Spektrum gewirkt und selbst eine Organisation, die Nationale Rechte, gegründet. Die Konstellation, dass es sich bei Schlüter um einen halbjüdischen Outsider der Universität handelte, der 1944 das juristische Rigorosum nicht bestanden hatte und nun auf der rechtsextremen Seite agierte, mag die Breite des Protestes in Göttingen erklären. Einige Aufmerksamkeit, allerdings weniger in der allgemeinen Öffentlichkeit als unter Intellektuellen, erregten die antisemitischen Untertöne in der konservativen Literaturkritik der 1950er Jahre. Der Lyriker Paul Celan mühte sich als Betroffe250 Ebd. 251 Ebd. 252 Heinz-Georg Marten, Der niedersächsische Ministersturz. Proteste und Widerstand der Georg-August-Universität gegen den Kultusminister Schlüter im Jahre 1955, Göttingen 1987.
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ner nach Kräften, befreundete Kollegen für diese Problematik zu sensibilisieren. Erst Jahrzehnte später wurde unter Literaturwissenschaftlern über Vorkommnisse in der Gruppe 47, die Celans »misslungene« Lesung der »Todesfuge« begleiteten, gestritten.253 Aber stärker noch als in der Gruppe 47 hielt sich ein geradezu instinktiver Antisemitismus im zeitgenössischen Feuilleton der Tages- und Wochenpresse. Celan nannte explizit Curt Hohoff, der, »obwohl er dies durch da und dort eingestreute Lippenbekenntnisse kaschiert, ein ausgesprochener Nazi und Antisemit« sei. »Die Juden in der deutschen Literatur, deren trauriges Schicksal er zu bedauern geruht, bleiben die ›Artfremden‹.«254 Dass der Briefpartner von Améry, der Schriftsteller Rolf Schroers aus der Gruppe 47, entgegnete, Hohoff sei »wohl kein Antisemit, sondern nur ein stockkonservativer Katholik«,255 beruhigte Celan nicht. Immer wieder kam er in den folgenden Jahren auf den auch unter Intellektuellen tiefsitzenden Antisemitismus zurück, stets verbunden mit der Klage, dass diesem nicht energisch entgegengetreten werde. Entsetzt reagierte er auf die Zumutung, gemeinsam mit dem nationalsozialistisch belasteten FAZ-Redakteur Friedrich Sieburg den Preis des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) entgegenzunehmen. Heinrich Böll beschwor ihn, nachdem er mit Walter Dirks darüber gesprochen hatte, das Geld anzunehmen, obwohl die Zusammenstellung eines Opfers und eines nationalsozialistisch belasteten Literaturkritikers »sicher (…) kein Zufall« gewesen sei. Bei einer Absage werde es aber »Beifall von der falschen Seite« geben; ob sich dies auf etwaige Kommentare in der DDR bezog, wurde nicht deutlich.256 In einem Brief an Rolf Schroers wenige Tage später, als er vom Treffen mit dem »völlig niedergeschlagenen« Celan berichtete, hielt Böll ein intentionales Handeln des BDI allerdings für wenig wahrscheinlich. Er habe Celan geraten, Sieburg einen Brief zu schreiben und ihn mit einer antisemitischen Pariser Rede direkt zu konfrontieren. Jedenfalls werde Sieburg »immer penetranter«.257 Die Konzentration der Öffentlichkeit auf den polarisierenden konservativen Literaturkritiker258 und auf dessen publizistische Aktivitäten in der NS-Zeit hatten gerade zu einem öffentlichen Eklat geführt, der Ablehnung einer Aufnahme von Friedrich Sieburg in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. 253 Klaus Briegleb, »Re-Emigranten«, die Gruppe 47 und der Antisemitismus, in: Lühe/ Krohn, Heimatland, S. 93-118; Stephan Braese, Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47, Berlin 1999. 254 Paul Celan an Rolf Schroers, 6.3.1955, in: Paul Celan. Briefwechsel mit den rheinischen Freunden. Heinrich Böll, Paul Schallück und Rolf Schroers. Hrsg. und komm. von Barbara Wiedemann, Frankfurt a. M. 2011, S. 75-77, Zitate S. 76 f.; die Aussage Celans bezog sich auf Curt Hohoff, Geist und Ursprung, München 1955, S. 232: Teilabschrift in Paul Celan. Briefwechsel, S. 78-80. 255 Rolf Schroers an Paul Celan, 10.3.1955, in: ebd., S. 83. 256 Heinrich Böll an Paul Celan, 21.9.1957, in: ebd., S. 352-354, Zitat S. 352. 257 Heinrich Böll an Rolf Schroers, 24.9.1957, in: Landesarchiv NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 577. 258 S. Kapitel II.1.
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Der katholisch-konservative Intendant des Südwestdeutschen Rundfunks, Friedrich Bischoff, hatte ihn zur Aufnahme vorgeschlagen. Daraufhin hatte Rudolf Pechel Einspruch erhoben, der von Fritz Bondy aus der Schweiz Zeitungsartikel erhalten hatte, in denen auch die Rede Sieburgs in Paris 1941 zitiert wurde, die ganz im nationalsozialistischen Geist gehalten worden sei. Der Bitte des Präsidenten der Akademie, Hermann Kasack, den Antrag auf Aufnahme zurückzunehmen,259 mochte Bischoff nicht nachkommen; Kasack, dem es allein darauf anzukommen schien, einen öffentlichen Skandal zu vermeiden, unterstützte ihn deshalb im weiteren Verlauf. Der Bundespräsident, den Rudolf Pechel für die Ablehnung einer Mitgliedschaft Sieburgs gewinnen wollte, mochte sich nicht festlegen und schrieb nur: »Ich kann mir nicht helfen, ich halte ihn im sprachlichen Vermögen für den besten deutschen Publizisten.«260 Walther von Hollander nahm im Namen der Vereinigung Deutscher Schriftstellerverbände Stellung: »Nach meiner Ansicht müssen die Vorwürfe schon sehr schwerwiegend sein, wenn sie heute – 11 Jahre nach dem Zusammenbruch – noch Geltung haben sollen. Im Ganzen stehe ich in politischer Beziehung auf dem Standpunkt, dass man jetzt endlich verzeihen sollte oder wenigstens das Leintuch der Barmherzigkeit ausbreiten müsste, über Dinge, die einmal geschehen sind.«261 Als der Antrag auf Aufnahme schließlich doch abgelehnt wurde, kritisierte Josef Müller-Marein in der Zeit nicht so sehr die »verspätete Spruchkammertätigkeit der Akademie« als den Umstand, dass der Beschluss, obwohl in vertraulicher Sitzung gefasst, an die Presseöffentlichkeit gelangt war. Einen Zusammenhang mit der Wahl von Sieburg zum ordentlichen Mitglied der Berliner Akademie der Künste kurz darauf vermochte Müller-Marein nicht zu sehen. Tatsächlich zeigt die Affäre, dass die nationalsozialistische Belastung in den Literaturkämpfen der 1950er Jahre zunehmend als Argument eingesetzt wurde. Mehr noch als Hohoff und Sieburg erregte der konservative Literaturkritiker Günter Blöcker, der häufig für die Welt, die Zeit und den Tagesspiegel schrieb und dort die »Todesfuge« »zu zerstören versucht« hatte, Celans Abscheu.262 Auch in diesem Fall versuchte Schroers zu beschwichtigen, aber Celan empörte sich, nicht der Kritiker Blöcker habe »zur Feder gegriffen, um ein Stück (oder ein Stückchen) Literatur herunterzumachen, sondern der Antisemit Blöcker hat ein jüdisches Grab und damit alle jüdischen Gräber, auch das Grab Kafkas, geschändet«.263 Zustimmung fand Celan bei dem Kölner Publizisten Paul Schallück. Dieser schrieb, er habe die Kritik von Blöcker einigen Freunden vorgelesen, sie sei »ers259 Hermann Kasack an Friedrich Bischoff, 4.1.1956, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/30. 260 Theodor Heuss an Rudolf Pechel, 11.4.1956, in: ebd. 261 Walther von Hollander an Harry Pross, 16.4.1956, in: ebd.; weitere umfangreiche Korrespondenz in dieser Akte. 262 Paul Celan an Rolf Schroers, 25.10.1959, in: Paul Celan. Briefwechsel, S. 149 f., Zitat S. 150. 263 Paul Celan an Rolf Schroers, 30.10.1959, in: ebd., S. 153 f., Zitat S. 153.
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tens dumm (…), was ihre literarische Qualität betrifft«, und zweitens »wirklich und wahrhaftig mit der Tinte des Goebbels geschrieben (…), unbewußt vielleicht, meinetwegen; aber das ist keine Entschuldigung«. Schallück kündigte an, er werde versuchen, im WDR auf den Fall einzugehen, ein Leserbrief an den Tagesspiegel, der nur in West-Berlin gelesen werde, sei dagegen wenig sinnvoll«.264 In die zweite Hälfte der 1950er Jahre fällt das Scheitern aller Bemühungen, die nicht zuletzt von Ernst Jünger und seinem Kreis ausgingen, den durch unsägliche NS-Kriegslyrik belasteten Schriftsteller Gerd Gaiser – gegen die Stars der Gruppe 47 – zum Dichterfürsten der deutschen Gegenwartsliteratur aufzubauen. Seine beiden bekanntesten Romane »Die sterbende Jagd« (1953) und »Schlußball« (1958) erschienen im Carl Hanser Verlag und erhielten viele positive Besprechungen, vor allem im konservativen Feuilleton fand Gaiser zahlreiche Lobredner, etwa den erwähnten Curt Hohoff, der Jüngers Empfehlungen stets folgte.265 Auch MerkurHerausgeber Joachim Moras war sehr angetan. Er hatte Gerd Gaiser in den Kreis der Autoren geladen, nachdem er das »Jagdflieger-Buch mit aufrichtiger Bewunderung« gelesen hatte; allerdings legte sich die Begeisterung bald. Schon ein Jahr später schrieb Hans Paeschke, sich damit von seinem Kollegen distanzierend, an Gaiser, dass ihm dessen »überaus reiche Bilderwelt im Ornamentalen befangen« erscheine. Das in Aussicht gestellte Gespräch mochte der Autor nicht wahrnehmen, danach lief die Korrespondenz allmählich aus.266 Alfred Andersch antwortete auf den Vorschlag Armin Mohlers, sich in seiner Zeitschrift Texte und Zeichen mit Gaiser zu befassen: »Mit der ondulierten Prosa dieses schwäbischen Kunstgewerblers können wir uns aber nur polemisch befassen. Oder gefällt der Ihnen vielleicht? Besonders bezeichnend sind die nazistischen Einschübe in seinen Büchern, die er ganz sorgfältig und scheinbar unauffällig hineinarbeitet.«267 Dennoch, Gaiser galt als ein Autor der vorderen Reihe deutscher Gegenwartsliteratur, war hoch respektiert, und es erschien den liberalen und linken Intellektuellen möglich, dass er tatsächlich die Nummer 1 der westdeutschen Literatur werden könnte. Marcel Reich-Ranicki erinnerte sich in einem Interview 1989: »Wir, die wir zu Bölls Ruhm beigetragen haben, sahen keinen anderen Ausweg. Es gab keinen anderen. Die konservative Kritik wollte Gerd Gaiser zur Galionsfigur der Literatur machen. Den antisemitischen, exnazistischen Schriftsteller. Das konnten wir nicht zulassen. Wir haben uns auf Böll als Gegenkandidaten 264 Paul Schallück an Paul Celan, 15.11.1959, in: Paul Celan. Briefwechsel, S. 286-288, Zitate S. 287; ob Schallück seine Ankündigung realisierte, ist nicht überliefert (sein Nachlass ist mit dem Stadtarchiv Köln im Rhein verschwunden). 265 Ernst Jünger an Armin Mohler, 7.2.1957, in: DLA, A: Armin Mohler. 266 Joachim Moras an Gerd Gaiser, 6.11.1953; Hans Paeschke an Gerd Gaiser, 16.6.1954, in: DLA, D: Merkur. 267 Alfred Andersch an Armin Mohler, 23.11.1955, in: DLA, A: Armin Mohler.
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geeinigt. Es gab andere, die besser waren. Aber sie waren nicht geeignet. (…) Böll hatte das Schicksal eines durchschnittlichen Deutschen, der Soldat gewesen war. Und er stellte etwas dar. (…) Aber außer Böll kam für diese moralische Position niemand in Frage.«268 Vor diesem Hintergrund ist die vernichtende, nicht nur die zahllosen Stilblüten des »Ernst-Jünger-Adepten« aufspießende, sondern auch den politisch-weltanschaulichen Kern benennende Kritik anlässlich Gaisers neuem Roman »Am Paß Nascondo« (1960) von Walter Jens in der Wochenzeitung Die Zeit zu lesen: »Gerd Gaiser als unbelehrbaren Nationalsozialisten zu denunzieren, wäre (…) nicht minder abwegig, als zu leugnen, daß sein Gesamtwerk im Zeichen einer romantisch-völkischen Betrachtungsweise steht, die, antisemitisch getönt, im Namen des ›Reinen‹ und ›Echten‹ argumentiert.«269 Danach war Gaiser erledigt und fand kaum mehr Resonanz, wie er rückblickend selbst resümierte.270 Die allmähliche Sensibilisierung für einen fortdauernden latenten271 und nur sporadisch öffentlich aufbrechenden Antisemitismus wurde begleitet von dessen Funktionalisierung in den Auseinandersetzungen auch unter Intellektuellen, die keineswegs durch eigene Texte einen Anlass dafür boten. So beklagte sich der unglaublich eitle Hermann Kesten, der sich selbst als »Stilist von hohem Rang« bezeichnete und empört darüber war, dass das in den Besprechungen seiner Publikationen nicht wie noch in den 1920er Jahren genügend hervorgehoben werde.272 Vor diesem Hintergrund muss seine über Jahre hinweg andauernde persönliche Kampagne gegen Erich Kuby als schlecht schreibenden geheimen Antisemiten und Bewunderer von »Judenschlägern« gedeutet werden. Kuby hatte es gewagt, Kestens Roman »Casanova« (1952), eine anspruchslose Biographie, die der Verlag Kurt 268 Gespräch mit Herlinde Koelbl (1989), zit. nach Mariusz Koperski, Die Kritik mit Eigenschaften. Über Marcel Reich-Ranicki und seine Rolle in der Literaturkritik der Bundesrepublik, in: Studia Niemcoznawcze (Warschau), Bd. 22, 2001, S. 535-546, Zitat S. 544; die Erinnerung wird gestützt durch den Nekrolog zu Gaiser von Marcel Reich-Ranicki, Am Ende der Jagd, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.1976. 269 Walter Jens, Gegen die Überschätzung Gerd Gaisers. Nicht alles, was zur Klampfe gesungen wird, ist Dichtung, in: Die Zeit, 25.11.1960. 270 Gerd Gaiser an Armin Mohler, 18.1.1975, in: DLA, A: Armin Mohler. 271 In der Korrespondenz miteinander gut bekannter Intellektueller ist die Obsession der Betrachtung von Juden als besonderer menschlicher Spezies auch dort greifbar, wo es sich nicht um aggressiven Antisemitismus handelt. So attestierte Joseph E. Drexel Hermann Kesten »wirklich unerfreuliche jüdische Eigenschaften« (an Ernst Niekisch, 29.11.1956), äußerte sich aber sehr positiv über den jüdischen Linkssozialisten Fritz Lamm, der »einer von den ganz wenigen Juden (sei), die nicht aufdringlich wirken« (an Ernst Niekisch, 3.1.1957), und über Günther Anders, obwohl er »unverkennbar Jude« sei; in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 d, e. 272 Hermann Kesten an Christian Lewalter/Die Welt, 28.5.1951, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 3290.
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Desch mit erotischen Illustrationen ausgestattet hatte, in der Süddeutschen Zeitung negativ zu rezensieren und die gezielt eingesetzte Pornographie zu rügen.273 Werner Friedmann schrieb dem aufgebrachten Kesten: »Sie sollten seine literarischen Eskapaden nicht so tragisch nehmen, er ist ein hochbegabter Mann, aber ein berüchtigter Anecker. Ein Mann Ihres Formats sollte dafür auch ein kleines Lächeln übrig haben. Es war doch ziemlich hart und ernst, wie Sie im ›Münchner Merkur‹ das Unternehmen Kuby gebrandmarkt haben. (…) Jedenfalls darf ich Ihnen versichern, dass Sie im Feuilleton der ›Süddeutschen Zeitung‹ natürlich jederzeit hochwillkommen sind.«274 Kesten, der sich im Umkreis des Kongresses für Kulturelle Freiheit engagierte, hatte mit dem Antisemitismus-Verdikt eine Strategie gewählt, die insofern politische Dimensionen annahm. Eine erbitterte Auseinandersetzung mit ähnlichem Hintergrund spielte sich 1957 ab. Golo Mann hatte in der Deutschen Rundschau einen Artikel über Heinrich Heine publiziert, in dem er diesen als nur »zeitgebundenen Dichter« darstellte, der zwar »Artist, Virtuos, Meister der Form« gewesen sei, »aber eben für den Tag« geschrieben habe.275 Diese sehr anfechtbare Charakterisierung wurde von dem streitbaren Kurt Hiller in der linken Anderen Zeitung empört als antisemitisches Machwerk abgefertigt. In seiner unnachahmlichen Polemik verstieg er sich zu einigen Injurien: »Golo Männchen also contra Heinrich Heine; dieser dürftig-matte BeinaheNiemand gegen die stärkste, reichste, funkelndste Persönlichlichkeit, die die Geschichte der deutschen Literatur aufweist. Peinlich genug! Doch peinlicher noch die Argumente, aus dem Gefühlsschlamm des neudeutschen Geheimnazismus destilliert, dem rüllügiös getranten und getarnten Völkischtum aus der Seele. Keine stinkenden Pogromismen, bewahre; Blubo in Cellophan (…) antisemitische Terminologie (…) edel-deutschvölkische Hetze gegen Heine bedeutet im Grund Hetze wider den Geist – wider den Geist bei allen Rassen. Es wäre besser, Golo, Sie schwiegen fortan«.276 Die folgende Auseinandersetzung zeigt die Kalamitäten, in die Hiller die Andere Zeitung mit seiner wilden Polemik gestürzt hatte. Harry Pross, der leitende Redakteur der Deutschen Rundschau, wandte sich zunächst an den Verantwortlichen des Feuilletons, Walter Gallasch. Er bezeichnete den Angriff von Hiller als »unfair« und 273 Hermann Kesten, Casanova, München 1952; Hermann Kesten an Werner Friedmann, 26.12.1952; in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 1651; die Korrespondenz zu diesem »Fall« ist sehr umfangreich und verdiente eine eigene Darstellung. 274 Werner Friedmann an Hermann Kesten, 12.2.1953, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 293. 275 Golo Mann, Über Heines Gedichte, in: Deutsche Rundschau, Jg. 78, 1956, S. 1300-1309, Zitate S. 1300, 1302 f. 276 Kurt Hiller, Heinehetze, in: Die Andere Zeitung, 10.1.1957.
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beschloss seinen Brief mit dem Bedauern, dass in einer Zeit, in der sich die Sieburgs und andere »wieder mausig machen, Ihre Zeitung offenbar nichts Gescheiteres zu tun weiß, als einem verstopften Giftzwerg Gelegenheit zu geben, sich auf Kosten rechtschaffener Schriftsteller Luft zu verschaffen«.277 Die Antwort erfolgte vom Herausgeber Gerhard Gleissberg. Er schlug vor, eine sachliche Antwort zu verfassen, die auf der Diskussionsseite, das meinte offenbar die Leserbriefrubrik, veröffentlicht würde. Pross’ Brief sei dafür allerdings keine Basis, weil man nicht »öffentlichen Beleidigungen« der eigenen Mitarbeiter Raum geben könne. Für eine Polemik gegen Hiller stehe ihm ja seine eigene Zeitschrift zur Verfügung.278 Nachdem es Gleissberg dann ablehnte, eine knappe und scharfe, aber sachliche Gegendarstellung von sechs Zeilen ins Blatt zu nehmen,279 reichte Harry Pross eine Klage beim Landgericht Hamburg ein, die allerdings mit der Begründung abgewiesen wurde, die Äußerungen Hillers seien als »erlaubte kritische Meinungsäußerung« anzusehen. Seine Zeitschrift, die Deutsche Rundschau, sei im Übrigen über jeden Verdacht, antisemitisch zu sein, erhaben, dafür bedürfe es keiner Verhandlung.280 Auch danach sorgte dieser Fall für anhaltende Verärgerung bei Rudolf Pechel, der sich von Hiller indirekt als »Antisemit« beleidigt fühlte und in privaten Briefen öfter darauf zurückkam. Dass Hiller tatsächlich auch Pechel hatte treffen wollen, mit dem er einige Jahre zuvor noch eine sehr freundliche Korrespondenz unterhalten hatte, ist nicht unwahrscheinlich. Zudem entfernten sich auch die Redakteure der Anderen Zeitung zunehmend von Hiller, dessen Manuskripte sie nun vorsichtig prüften und bisweilen ablehnten. Hiller wiederum sorgte für einen Eklat, als er seine Mitarbeit an diesem Blatt wegen angeblicher finanzieller Unterstützung durch die DDR einstellte.281 Ob der Artikel von Golo Mann eine Rolle bei der gescheiterten Berufung auf einen Lehrstuhl der Universität Frankfurt 1963 spielte, die von Adorno und Horkheimer hinter den Kulissen mit dem Vorwurf des Antisemitismus torpediert wurde, muss offen bleiben. Die Stimmung unter den linken Intellektuellen Mitte der 1950er Jahre war eher düster. Es war nicht allein Thomas Mann, der eine Faschisierung der Bundesrepublik für möglich hielt. Im Hessischen Rundfunk fragte Eugen Kogon: »Könnte die Bundesrepublik faschistisch werden?«282 Die Antwort war nur verhalten optimis-
277 Harry Pross an Walter Gallasch, 12.1.1957, in: BAK, Nl. Pechel, II/100. 278 Gerhard Gleissberg an Harry Pross, 18.1.1957, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. 279 Harry Pross an Gerhard Gleissberg, 22.1.1957; Gerhard Gleissberg an Harry Pross, 28.1.1957, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. 280 Harry Pross an Staatsanwaltschaft Hamburg, 4.4.1957; Leitender Oberstaatsanwalt beim Landgericht Hamburg an Harry Pross, 4.7.1957, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. 281 S. Kapitel II.4.3. 282 Eugen Kogon, Könnte die Bundesrepublik faschistisch werden? MS einer Sendung im HR, ausgestrahlt am 18.8.1955, 20.45, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 108 A.
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tisch. Überall seien die Ewiggestrigen auf dem Vormarsch, auch die neue Armee müsse als Risiko gelten. Allerdings böten die Gewerkschaften Anlass zur Hoffnung. So bemühte sich Walter Fabian, der neue Chefredakteur ihres intellektuellen Forums, der Gewerkschaftlichen Monatshefte, von Beginn an, das Thema Judentum und Antisemitismus zu behandeln. Von Rudolf Küstermeier erbat er einen Reisebericht aus Israel, ließ die Bücher von H. G. Adler über Theresienstadt rezensieren, und Heinz-Joachim Heydorn veröffentlichte in den Gewerkschaftlichen Monatsheften einen umfangreichen Text zur Geschichte und Geistesgeschichte des deutschen Judentums sowie zum Antisemitismus bis zur Endlösung, für die auch die Wehrmacht verantwortlich gewesen sei. Zitiert wurden u. a. Schriften von Hannah Arendt, Eva G. Reichmann, Léon Poliakov/Joseph Wulf und Gerald Reitlinger.283 Wie alle diese Namen zeigen, wurden die ersten Studien über die nationalsozialistische Judenpolitik und den Holocaust von Verfolgten publiziert. Das Interesse des deutschen Publikums blieb, zurückhaltend formuliert, zunächst begrenzt.284 Die mit der großzügig gehandhabten Integration ehemaliger Nationalsozialisten, so empfanden es kritische Publizisten, einhergehende zunehmende Dreistigkeit öffentlicher Auftritte und Bekundungen rechtsextremer Gesinnung bildete einen frühen Grund für die Politisierung von Intellektuellen seit Mitte der 1950er Jahre. Sie ging nicht zuletzt von der legendären Literatengruppe 47, genauer: von ihrem Impresario, Hans Werner Richter aus. Schon 1952 berichtete er von einem Plan: »Wir sind hier jetzt doch zu der Ansicht gekommen, dass wir eine Organisation gebrauchen. So geht es nicht mehr. Deshalb werden wir im Februar die ›Republikanische Liga‹ gründen, die antifaschistische Kräfte zusammenwachsen lassen und aktivieren soll.«285 Die Gründung einer Art »demokratischer Feuerwehr«,286 sie sollte gleichzeitig in München, Frankfurt am Main und West-Berlin vonstatten gehen, erfolgte erst vier 283 Heinz-Joachim Heydorn, Judentum und Antisemitismus, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Juni 1958, abgedruckt, in: ders., Konsequenzen, S. 274-291; der Briefwechsel zwischen Fabian und Heydorn in: Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt a. M., Nl. Walter Fabian; Heydorn zitierte u. a. Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945, Berlin 1956, die erste, aus dem Englischen übersetzte Darstellung des Holocaust, aus der Feder eines Exilanten. 284 Vgl. exemplarisch Klaus Kempter, Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, Göttingen 22014, S. 173 ff. 285 Hans Werner Richter an Hans Schwab-Felisch (Neue Zeitung, Berlin), 15.1.1952, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1940; dass diese Idee sozusagen in der Luft lag, zeigt die von dem Kölner Verleger Joseph Caspar Witsch zwei Monate zuvor, am 25.11.1951 vorgenommene Gründung einer »Arbeitsgemeinschaft gegen rechtsextreme Aktivitäten«, an der auch seine Freunde Otto Klepper, Mitgründer und Geschäftsführer der FAZ, und der sozialdemokratische Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Erich Brost, mit einigen weiteren einflussreichen Personen aus dem Rundfunk, beteiligt waren; allerdings verebbten die Aktivitäten noch vor der Eintragung als »Arbeitsgemeinschaft Demokratische Aktion« in das Vereinsregister; Möller, Das Buch Witsch, S. 563. 286 Pross, Memoiren, S. 219.
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Jahre später, am 4. Februar 1956. Der Name klang nun allerdings weniger profiliert als ursprünglich vollmundig angekündigt: »Grünwalder Kreis«287 verwies auf den Ort des ersten Treffens in der Sportschule München-Grünwald, zu dem sich etwa 50 Interessierte einfanden, darunter Heinrich Böll und Martin Walser aus der Gruppe 47 sowie führende bayerische Sozialdemokraten wie Hans-Jochen Vogel und Waldemar von Knoeringen. In den folgenden Monaten gründeten sich Regionalgruppen in Berlin, Frankfurt, Hamburg, München, Köln und Stuttgart. Die neue Gruppierung war Hans Werner Richter sehr wichtig. In einem Brief an Heinrich Böll, der ebenso wie Alfred Andersch und Martin Walser Mitglied wurde, legitimierte er den Ausfall der Frühjahrstagung 1956 der Gruppe 47 mit seinem Engagement für den Grünwalder Kreis: »Ich meine, das Politische, so wie wir es auffassen, muss im Augenblick den Vorrang vor dem Literarischen haben.«288 Dahinter stand die Vorstellung einer strikten Trennung von Literatur, für die nach wie vor die Treffen der Gruppe 47 standen. Diese sollten von Politik freigehalten werden, aber zugleich das Rekrutierungsfeld für jene Kollegen abgeben, die sich politisch engagieren wollten. Das galt nicht zuletzt für Heinrich Böll, der sich parallel zu seinem belletristischen Werk mit Essays, Glossen und Kommentaren immer stärker als »notorischer Intellektueller«289 profilierte. Die mediale Unterstützung war gesichert durch zahlreiche Redaktionen der Rundfunkanstalten, von Zeitungen und Zeitschriften, in denen die Mitglieder des Kreises tätig waren. Paul Schallück konnte berichten: »Der Westdeutsche Rundfunk, nunmehr der stärkste in unserm Bereich, steht auf jeden Fall an unserer Seite, mit Walter Dirks, mit Intendant Hartmann und anderen Leuten.«290 Für eine Tagung des Grünwalder Kreises übernahm das Verkehrsamt der Stadt Köln die Organisation der Einladungen und Quartiersbeschaffung, es gab einen Empfang beim Oberbürgermeister, der WDR spendete 500 DM und übernahm die Reisekosten einiger Schriftsteller, der sozialdemokratische Ministerpräsident Steinhoff spendete 5.000 DM, und auch vom Kölner Stadtanzeiger sowie von der Neuen Illustrierten gingen Spenden ein.291 Das Engagement von Politikern der Sozialdemokratie, unter ihnen Waldemar von Knoeringen, der auf der Gründungsversammlung anwesend war, Hans-Jochen Vogel, Herbert Hupka und Heinrich Landahl, führte allerdings bald zu Unfrieden. Andersch und Walser verwahrten sich gegen eine Vereinnahmung durch die SPD,
287 Vgl. Johannes Heesch, Der Grünwalder Kreis, in: Gesine Schwan u. a. (Hrsg.), Demokratische politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich, Wiesbaden 2006, S. 35-69. 288 Hans Werner Richter an Heinrich Böll, 6.5.1956, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 2778-2880. 289 Heinrich Vormweg, Der andere Deutsche, Heinrich Böll, Eine Biographie, Köln 2000, S. 211. 290 Paul Schallück an Hans Werner Richter, 8.6.1956, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 3037. 291 Paul Schallück an Hans Werner Richter, 25.9.1956, in: ebd, 3038.
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Richter, kein Mitglied der Partei, musste sich rechtfertigen.292 Nicht er lasse sich von der SPD instrumentalisieren, sondern es sei umgekehrt. Zudem fühlte er sich selbst im Hauptzweck des Grünwalder Kreises, des Kampfes gegen rechts, von den sozialdemokratischen Funktionären gebremst. Die erste Aktion der Vereinigung, ein Strafantrag gegen den rechtsextremen DruffelVerlag am Starnberger See, war zwar nur durch die Hilfe von Vogel und anderen sozialdemokratischen Juristen zustande gekommen, aber die SPD achtete sehr darauf, nicht durch eine zu radikale Kritik der nationalsozialistischen Belastung der Bundesrepublik potentielle Wähler zu verärgern. Aber auch linke Sozialdemokraten wie Wolfgang Abendroth hielten Abstand. Schon habituell konnte er mit den Schriftstellern der Gruppe 47 wenig anfangen.293 Hans Werner Richter ging es vor allem um die Schaffung einer eigenen publizistischen Plattform. An den Münchner Verleger Kurt Desch wandte er sich mit dem Vorschlag,294 zu diesem Zweck die Zeitschrift Die Kultur295 umzugestalten. Neben den bisherigen Herausgeber Johannes-Matthias Hönscheid würden er selbst und Jesco von Puttkamer, »heute einer der wichtigsten Leute des Grünwalder Kreises«, treten. Die Zeitschrift sollte alle vierzehn Tage erscheinen und in München publiziert werden. Die Kosten für Redaktion und Honorare bezifferte Richter auf monatlich 2.500 DM, also 30.000 DM pro Jahr.296 Auf diesen Vorschlag mochten Desch und Hönscheid nicht eingehen, aber man vereinbarte eine »enge Arbeitsgemeinschaft«, die sich darin ausdrückte, dass Hans Werner Richter, Erich Kuby und andere Mitglieder des Grünwalder Kreises verstärkt redaktionell mitarbeiteten. In einer programmatischen Rede auf der Tagung des Grünwalder Kreises in Köln am 13./14. Oktober 1956, die er danach auch vor den Regionalgruppen in anderen Städten, in München, Frankfurt, Hamburg, Stuttgart und West-Berlin hielt, nannte Hans Werner Richter vier Punkte, die den Zusammenschluss bestimmten: »(den) Prozess der Demokratisierung in Deutschland mit allen Mitteln und auf allen Gebieten voranzutreiben (…) Alle faschistischen und kommunistischen oder sonstigen extremistischen Strömungen zu bekämpfen (…) Dafür zu sorgen, dass mit der Wiederaufrüstung nicht die Armee wieder zu einem Staat im 292 Dominik Geppert, Alternativen zum Adenauerstaat. Der Grünwalder Kreis und der Gründungskonsens der Bundesrepublik, in: Michael Hochgeschwender (Hrsg.), Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011, S. 141152, hier S. 146-148. 293 Vgl. Hans Manfred Bock, Ein unangepasster Marxist im Kalten Krieg. Zur Stellung Wolfgang Abendroths in der Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik, in: ders./FriedrichMartin Balzer/Uli Schöler (Hrsg.), Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker. Biobibliographische Beiträge, Opladen 2001, S. 216-267, hier S. 233-235. 294 Hans Dollinger (Die Kultur) an Walter Dirks, 15.12.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 112. 295 S. Kapitel II.4.3. 296 Hans Werner Richter an Kurt Desch, 21.6.1956, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 2697.
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Staate wird (…) Sich überall und auf allen Gebieten für die Meinungsfreiheit einzusetzen. (…) Dies heißt jedoch nicht, dass wir auch für die Meinungsfreiheit jener eintreten, die sie zum Kampf gegen die Demokratie missbrauchen. Im Gegenteil, für sie gilt diese Freiheit der Meinung nicht.«297 Richter bestimmte den Grünwalder Kreis als »strikt überparteilich« und als ein defensives Bündnis ohne Zukunftspläne, das sich zudem auf die Innenpolitik beschränke.298 Vor diesem Hintergrund differenzierte er die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus in seinen einleitenden apodiktischen Thesen: »Ich glaube, dass das Schlagen nach beiden Seiten mit den gleichen Methoden und mit der gleichen Taktik falsch ist! (…) Ich meine, mit dem Faschismus gibt es keine ideologische Auseinandersetzung, hier gibt es nur Ablehnung und Kampf, mit dem Kommunismus aber ist die ideologische Auseinandersetzung um so mehr notwendig, je differenzierter die Strömungen nicht nur theoretisch innerhalb des Marxismus, sondern auch real im sowjetischen Machtbereich (sind).«299 Diese Differenzierung war zumindest von Richter nicht als »Aufweichen des antitotalitären Konsenses«300 gemeint. Tatsächlich gab es aber innerhalb des Grünwalder Kreises nur ein Thema, das einen Zusammenhalt stiften konnte, und das war der Kampf gegen rechte Umtriebe. Auch wenn man sich von den Kommunisten unmissverständlich abgrenzte und dafür von der SED-Presse kritisiert wurde, den Kampf gegen alle Regungen links von der SPD und innerhalb der SPD betrieb die Bundesregierung mit offenem Visier und zugleich zweifelhaften indirekten Methoden ohnehin. Demokratische Antikommunisten, die sich als Linksliberale oder unabhängige Sozialisten verstanden, hätten das moralisch nicht unterstützen können, schon weil sie selbst oft genug das Ziel antikommunistischer Kampagnen waren. Die Grünwalder fühlten sich vielmehr durch wütende Reaktionen auf der rechten Seite des politischen Spektrums bestätigt. So übernahm die von Bonner Behörden subventionierte Kulturpolitische Korrespondenz, herausgegeben vom Verband der Landsmannschaften und dem Ostdeutschen Kulturrat, einen mit Halb- und Unwahrheiten gespickten Offenen Brief der Soldatenzeitung an Hans Werner Richter, in dem vor allem die nationalsozialistische und kommunistische Belastung einzelner Mitglieder herausgestellt wurde. Kurt Desch wurde seine Tätigkeit in der Werbeabteilung eines NS-Gauverlags vorgehalten, Jürgen Eggebrecht, der allerdings mit Axel Eggebrecht verwechselt wurde, 297 Hier zitiert nach Hans Werner Richter, Rede vor dem Grünwalder Kreis, West-Berlin, 30.3.1957 (Typoskript, 15 Seiten), in: ebd., 2619. 298 Allerdings gab der Grünwalder Kreis durchaus kritische Stellungnahmen zur Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung ab und äußerte sich zur Notwendigkeit einer Aussöhnung mit Frankreich und Polen. 299 Archiv Adk, Nl. Hans Werner Richter, 2619. 300 Geppert, Alternativen, S. 143.
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die Leitung der Wehrmachtsbibliotheken; Arthur Koestler, der die Fraktion der striktesten Antikommunisten innerhalb des CCF anführte, seine KPD-Mitgliedschaft in den 1930er Jahren; er sei zwar Antistalinist, aber vielleicht den Titoisten oder Trotzkisten zuzurechnen; Eric A. Peschler wurde beschuldigt, »Zeitschriften rechtsstehender Jugendorganisationen« bestellt und nicht bezahlt zu haben, über die er dann in der prosowjetischen Anderen Zeitung geschrieben habe; Erich Kuby habe die »These vom ›Todfeind‹ Rußland« kritisiert usw.301 Als wichtigste Gründung unter dem Dach des Grünwalder Kreises erwies sich der Club republikanischer Publizisten (CrP), dessen Münchener Gruppe sich im März 1956 konstituierte und der Mitte 1956 in Hamburg öffentlich vorgestellt wurde. Er bezeichnete die Bekämpfung von Neonazismus und Antisemitismus als seine Aufgabe.302 Ein erstes internes Rundschreiben begründete dies: »Solange der Linksradikalismus von offizieller Seite unter Kontrolle gehalten wird, richtet sich unser Augenmerk besonders auf neonazistische und militaristische Erscheinungen.«303 Der Club republikanischer Publizisten solle einen »möglichst vollständigen Überblick über die Tätigkeit neonazistischer Gruppen«304 gewinnen, deren Einfluss in der Öffentlichkeit bekämpfen und einen Rechtshilfefonds für bedrohte Antifaschisten aufbauen. Von der Mitgliedschaft ausgeschlossen sollten alle jene bleiben, die der NSDAP oder nach 1945 der KPD angehört hatten. In München beschloss man, alle neonazistischen und militaristischen Periodika zu abonnieren, in einem vierzehntägig erscheinenden Literatur- und Pressespiegel sollten diese dokumentiert und ausgewertet werden. Während der Grünwalder Kreis sich bereits im November 1957 wieder auflöste, bestand der Club bis 1961. Der dreiköpfige Vorstand, Erich Kuby, Jesco von Puttkamer und Klaus Stephan – bei der ersten Sitzung war der vorläufige Sprecher Eric A. Peschler, ein ehemaliger Redakteur der Neuen Zeitung, abgewählt worden – residierte in München. Im November 1956 zählte man 90 Mitglieder, darunter drei Frauen. Die Zahl bekannter Namen hielt sich in Grenzen. Aber immerhin befanden sich darunter Walter Dirks, Axel Eggebrecht, Gert Kalow, Carl Linfert, Alfred Neven DuMont, Rudolf Pechel, Harry Pross, Paul Schallück, Hans Schwab-Felisch und Gerhard Szczesny. Etwa die Hälfte der Mitglieder (43) kam aus München, fünfzehn aus Köln und acht aus Hamburg; es fällt auf, dass sich aus Frankfurt nur drei Interessenten meldeten und aus West-Berlin nur ein einziger.305 Insofern konnten sich,
301 »Grünwalder Kreis« unter der Lupe, in: Kulturpolitische Korrespondenz, Nr. 42/43, 21.3.1957, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/108. 302 Hans Werner Richter an Alfred Andersch, 2.5.1956, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 2783-2784. 303 Internes Schreiben des Münchner Vorstands, 31.3.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Neven du Mont, 8/9. 304 Ebd. 305 Mitgliederliste des Clubs republikanischer Publizisten, November 1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 112 A.
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mit Ausnahme von München306 und eingeschränkt Köln, zwar kaum lokale Aktivitäten entfalten, für die bundesweite Wirkung des CrP sorgte aber die von München aus betriebene rege Öffentlichkeitsarbeit. Eine der ersten Aktionen war ein Brief des Vorstands, der sich gegen eine Verfügung des Verteidigungsministeriums richtete, wonach ehemalige SS-Offiziere im Rang eines Majors und Oberstleutnants in die Bundeswehr übernommen werden konnten. Dadurch werde die »Unterscheidung zwischen anständigen Soldaten und militanten Funktionären der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unmöglich gemacht«. Argumentiert wurde mit der Unzumutbarkeit für »deutsche Bürger jüdischer Abkunft (und) überzeugte Christen«, in einer Armee zu dienen, »die von höheren SS-Offizieren durchsetzt ist«. Dabei ginge es ausdrücklich nicht darum, »ein Kollektivurteil über alle Angehörigen der WaffenSS zu fällen«.307 Der Club realisierte sein zentrales Ziel, regelmäßig über rechtsextreme Aktivitäten zu informieren, mit einem hektographierten, seit August 1956 monatlich erscheinenden CrP-Informationsdienst, dessen Redaktion zunächst in München saß.308 Der Vorstand siedelte 1958 nach Köln über. Jesco von Puttkamer gehörte ihm weiter an, neu traten Hans Schwab-Felisch (Frankfurt) und Dieter Thoma (Köln) ein. Rudolf Pechel übernahm den Ehrenvorsitz des Clubs. Mit dem Ortswechsel war der Versuch eines Neuaufbruchs verbunden, denn der Vorstand stellte fest, dass die Aktivitäten des Clubs »in auffallender Weise in der letzten Zeit zurückgegangen«309 seien, obwohl die Zahl der Mitglieder sich auf etwa 110 erhöht hatte. Neu beigetreten waren etwa Wilhelm Alff, Leo Bauer, Peter Bender, Max Bense, Erich Franzen, Wolfgang Hildesheimer, Walter Kolbenhoff, Rolf Schroers und sogar Matthias Walden, ein extrem antikommunistischer Publizist.310 Den Weg zur Aktivierung der zwar zahlreicheren, aber müde gewordenen Mitgliedschaft sah der Vorstand im Übergang von der »abwehrenden« zur »aufbauenden« Tätigkeit. Die Bekämpfung des »Rechts- und Linksextremismus, so notwendig sie bleibt, erscheint als alleinige Aufgabe zu dürftig«, der Club dürfe sich nicht als »Ventil eines politisch ortlosen Unbehagens« verstehen. Es bestehe hingegen das Bedürfnis, »jenseits der differierenden parteipolitischen Zielsetzungen ein Forum zu schaffen, das für ein sauberes demokratisches Kräftespiel wirkt«. Zum einen sollten nicht mehr nur Publizisten, sondern künftig auch »Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft« Mitglied und der Name Republikani-
306 Ein Konvolut von Rundschreiben etc. in Archiv Monacensia, Nl. Jürgen Eggebrecht, JE B 70. 307 Vorstand des Clubs republikanischer Publizisten, 15.9.1956, in: ebd. 308 Die Ausgaben bis Ende 1957 in: LA NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 925; die Ausgaben 1958-1959 in: ebd., 926. 309 Vorstand CrP, Rundschreiben Nr. 3, 15.7.1958, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 117 A. 310 Mitgliederliste, Sommer 1958, in: ebd.; die regionale Verteilung der Mitglieder hatte sich verändert; weniger Mitglieder (37) gab es nur in München, eine beträchtliche Steigerung in Köln (24), West-Berlin (20) und Frankfurt am Main (13).
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scher Club (RC) sein.311 Beschließen sollte dies eine Mitgliederversammlung, die zuletzt Ende 1957 getagt hatte. Aber erst Ende 1960 gelang es, sie einzuberufen. Ob der Abschied von einer ausschließlich antifaschistischen Aktivität der Weg der Konsolidierung gewesen wäre, lässt sich deshalb nicht sagen. Jedenfalls hieß es im dort abgegebenen Bericht des Vorstands über die letzten drei Jahre, dieser komme dem »Eindruck eines ärztlichen Bulletins über den schwachen Gesundheitszustand eines prominenten Kranken« gleich. Die Aktivität sei »beklagenswert gering« und auf den Raum Köln/Bonn beschränkt geblieben, wo etwa 40 der noch 100 Mitglieder lebten. Bis 1958 habe es noch drei Clubabende der Münchener Gruppe gegeben, seit der Übersiedlung des Vorstands nach Köln keinen einzigen.312 Bis Ende 1961 erschien der CrP-Informationsdienst weiter monatlich in der Kölner DuMont Presse, an dem zahlreiche Intellektuelle mitarbeiteten, darunter Jean Améry, Walter Dirks, Erich Kuby, Joachim C. Fest und Hildegard Hamm-Brücher – ein sorgfältig gemachter Nachrichtendienst über die gesamte rechtsradikale Szene mit einem Personen- und Sachregister. In der Juli-Nummer 1961 findet sich dort eine ausführliche Dokumentation zum Jerusalemer Eichmann-Prozess.313 Wie so häufig unterscheidet sich der zeitgenössische Erwartungshorizont von der Rückschau aus historischer Distanz. Denn tatsächlich begannen sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre die politischen Rahmenbedingungen zu verändern, und davon blieb die politische Kultur nicht unberührt. Der Kalte Krieg verlor allmählich seinen unmittelbar bedrohlichen Charakter, das demokratische System stabilisierte sich, das zeitgeschichtliche Wissen nahm zu, und die mediale Öffentlichkeit pluralisierte sich im anstehenden Generationswechsel.314 Zwei Positionen standen sich in der zeitgenössischen Publizistik gegenüber. Auf der einen Seite sorgten sich viele angesichts der Prozesse gegen NS-Täter und Propagandisten des Antisemitismus, die 1957/58 gegenüber früheren Jahren einen auffälligen Anstieg aufwiesen, über aktuelle Gefahren, die anderen rieten zur Gelassenheit, etwa die Teilnehmer einer Umfrage der Zeit im April 1959, die von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier apodiktisch beantwortet wurde: »Einen Antisemitismus nennenswerten Ausmaßes gibt es in der Bundesrepublik nicht.«315 Nahezu zeitgleich erschien der berühmt gewordene Text »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« von Theodor W. Adorno. Hier war nicht von bestimmten Ereignissen die Rede, sondern von Strukturen, ein Text, der Anfang der 1950er 311
Vorstand CrP, Rundschreiben Nr. 4, 9.9.1958, in: ebd.; der Plan zur Umwandlung des CrP in einen RC bestand offenbar schon länger, jedenfalls propagierte ihn bereits Rolf Schroers an Robert Jungk, 4.1.1958, in: LA NRW, Nl. Rolf Schroers, 981. 312 Bericht des Vorstands des CrP über die Aktivitäten 29.11.1957-3.12.1957, in: ebd., 958; die Mitgliederliste vom Sommer 1960 weist ca. 120 Mitglieder auf; Mitgliederliste, Sommer 1960, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/108. 313 Sämtliche Ausgaben des CrP-Informationsdienstes 1960/61 in: AdsD, Nl. Ansgar Skriver, 1/ASAF 000110. 314 Schildt, Umgang, S. 45 ff. 315 Gibt es bei uns einen neuen Antisemitismus?, in: Die Zeit, 10.4.1959.
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Jahre vom Autor – noch – nicht publiziert worden wäre.316 »Daß der Faschismus nachlebt«, konstatierte Adorno einleitend, liege daran, »daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten.« Primär seien nicht die »subjektiven Dispositionen« in Rechnung zu stellen, sondern die »ökonomische Ordnung« und die »ökonomische Organisation« sorgten nach wie vor für die »Unmündigkeit« und den »Verblendungszusammenhang« der Majorität. Adorno konzedierte, das »Düstere übertrieben« zu haben, um überhaupt gehört zu werden, und meinte, der wachsende Wohlstand lasse die zweite deutsche Demokratie stabiler erscheinen als die gescheiterte Weimarer Republik, und seine Schlussfolgerung lief auf eine vertiefte politische Bildung hinaus, für die »freilich eine Erziehung der Erzieher« unabdingbar sei.317 Aber dennoch stand damit der Zusammenhang von kapitalistischer Gesellschaft und Faschismus wieder auf der Tagesordnung, der ein Jahrzehnt lang als kommunistische Propaganda aus dem Osten stigmatisiert und illegalisiert worden war. Der Text von Theodor W. Adorno, noch vor der Schändung der Kölner Synagoge an den Weihnachtstagen verfasst, kann als Auftakt einer sich radikalisierenden »Faschismusdiskussion« in den 1960er Jahren verstanden werden.
3.4 »Das verlorene Gewissen« – die Kampagne des Kurt Ziesel Gemeinhin gilt das letzte Drittel der 1950er Jahre als Beginn der kritischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der Aufdeckung belasteter Biographien und der Prozesse gegen Täter, die sich längst als geachtete Bürger in der Wiederaufbaugesellschaft eingerichtet hatten.318 Die zunehmende Thematisierung der NS-Vergangenheit wird vor allem mit einer Ausweitung kritischer Öffentlichkeit, nicht zuletzt infolge eines generationellen Wandels in den Redaktionen der Zeitungen, des Rundfunks und Fernsehens, in Zusammenhang gebracht.319 Ein wichtiger Aspekt bei der Sichtbarmachung von nationalsozialistisch belasteten Biographien wird allerdings in der Regel ausgeklammert, obwohl er bis in die Gegenwart immer wieder mediale Aufmerksamkeit geschaffen hat, nämlich die Skandalisierung der Karriere jener Schriftsteller und Publizisten im »Dritten Reich«, die mittlerweile nicht nur ihren Frieden mit der Bundesrepublik gemacht hatten, sondern sogar liberale Positionen vertraten, ohne allerdings ihre früheren Überzeugungen je zu erwähnen und ihre Lernprozesse zu erklären. Ein prominenter Traditionsbewahrer konservativ-revolutionären Erbes, Armin Mohler, argumentierte rückblickend: 316 Zit. nach Eberhard Rathgeb, Deutschland kontrovers. Debatten 1945-2005, Bonn 2005, S. 110 f. 317 S. Kapitel II.4.3. 318 Vgl. mit Hinweisen zur Forschungsliteratur Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 208 ff. 319 Hodenberg, Konsens.
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»Wenn es heute in der Bundesrepublik keine konservative Presse von Belang gibt, so ist daran in erster Linie ein Schlag von Publizisten schuld, die zu den Nutznießern des Dritten Reiches zählten und das dann nach 1945 durch eine kriecherische Willfährigkeit gegenüber den Parolen und Reizwörtern der Reeducation wettzumachen suchten.«320 Das polemische Argumentationsmuster der feigen Anpassung an den »Zeitgeist« tauchte in den vergangenheitspolitischen Debatten seit Ende der 1950er Jahre immer wieder auf. Wer sich hingegen intransigent weigerte, seine »Gesinnung« der neuen Zeit anzupassen, dem wurde in der dominant konservativ geprägten Öffentlichkeit der Wiederaufbaujahre meist Respekt gezollt, wie etwa Carl Schmitt und Martin Heidegger. Das Motiv konservativer Publizisten, die NS-Belastung einiger Intellektueller zu enthüllen, speiste sich nicht aus dem Drang nach vollständiger Aufklärung über den Nationalsozialismus oder der Skandalisierung von menschlicher Charakterschwäche, sondern aus dem Kampf gegen den Liberalismus, den publizistische Beobachter in der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft auf dem Vormarsch sahen. Insofern wurde von konservativer Seite die NS-Vergangenheit gerade jener Intellektuellen grell ausgeleuchtet, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im publizistischen Mainstream bewegten oder gar als liberal bzw. linksliberal galten. Solchen »Heuchlern« und »Opportunisten« begegnete man mit tiefer Verachtung. Für diesen Strang der öffentlichen Thematisierung biographischer Belastungen steht am Anfang und exemplarisch das Buch »Das verlorene Gewissen«321 von Kurt Ziesel (1911-2001). Der junge Nationalsozialist Ziesel hatte im »Dritten Reich« nicht nur eine steile publizistische Karriere absolviert – sein Lieblingsthema war der deutsche Abwehrkampf gegen jüdische Einflüsse in der Kultur –, sondern gehörte mit erfolgreichen Romanen und Gedicht-Editionen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zur Elite der jüngeren NS-Schriftsteller. In späteren autobiographischen Einlassungen beschrieb er sich als zwar jugendlich verführten, aber bald zum moralisch aufrechten Streiter gegen das NS-Regime gewandelten Schriftsteller, der aber nach 1945 aus dem intellektuellen Feld systematisch ausgegrenzt worden sei, und zwar von jenen, die sich in der NS-Zeit konformistisch verhalten hätten und nun als wachsame engagierte Demokraten gerierten: »Ich richte mich in meinem öffentlichen Kampf gegen alle jene Leute, die in einem unversöhnlichen Haß unentwegt gegen Menschen losgehen, die einmal geirrt haben, dabei aber haargenau jene Nazimethoden des geistigen und
320 Armin Mohler, Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 155. 321 Ziesel, Gewissen; zur Biographie und Strategie Ziesels vgl. ausführlich Axel Schildt, Im Visier. Die NS-Vergangenheit westdeutscher Intellektueller. Die Enthüllungskampagne von Kurt Ziesel in der Ära Adenauer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 64, 2016, S. 37-68.
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wirtschaftlichen Terrors und der anonymen Verleumdung anwenden wie die Nazis.«322 Seinen von ihm empfundenen Ausschluss aus den intellektuell tonangebenden Medien sah er nicht allein darin begründet, dass deren Schlüsselpositionen durchweg von jenen besetzt worden seien, die sich unter Hitler opportunistisch als Nationalsozialisten aufgespielt hätten und nun ähnlich opportunistisch die demokratische Fahne hissen würden. In Ziesels Sicht bildeten sie zugleich die Basis eines linken Meinungskartells und die »Gefahr, in der die freie Welt durch die innere Fäulnis der westdeutschen Demokratie in ihrer Gesamtheit verstrickt ist«.323 Immer wieder betonte er »die Fragwürdigkeit unserer heutigen Pressefreiheit«, den »Terror dieser entarteten Freiheit«, die »systematische Zerstörung von Glaube, Werten, Nationalgefühl und sauberer Staatsgesinnung«, die durch die »Meinungsgangster« in der »Lizenzpresse« begonnen worden seien.324 Diese Leute, die ihre Überzeugungen verraten hätten und ihn nach Kriegsende systematisch boykottierten, wollte er öffentlich bloßstellen und damit empfindlich treffen.325 Seine Kampagne begann Ziesel mit dem Enthüllungsbuch »Das verlorene Gewissen«. Das Buch erschien im Münchner J. F. Lehmanns Verlag im Dezember 1957, eine zweite Auflage wurde nur sechs Wochen nach der ersten ausgeliefert, die fünfte im Herbst 1958, die achte nach weiteren zwei Jahren. Das sprach für ein beträchtliches öffentliches Aufsehen.326 In seinem voluminösen Werk über die politische Rechte in der Bundesrepublik schrieb der amerikanische Historiker Kurt P. Tauber, gemessen an der Zahl öffentlicher Kontroversen stehe Ziesel ganz oben in der Rangliste rechter Publizisten, sein Buch habe eingeschlagen »like a bombshell«.327 Es war kein Zufall, dass Ziesel in seinem Enthüllungsbuch als ersten, und zwar noch in relativ respektvollem Tonfall, Rudolf Pechel anging. Der 76-jährige Pechel
322 Kurt Ziesel an Max Stefl, 23.5.1955, in: Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek, Nl. Max Stefl, MSt B 480. 323 Salzburger Volksblatt, 6.3.1959, zit. nach Bamberg, Deutschland-Stiftung, S. 364. 324 Vgl. den Nachweis dieser Zitate aus dem Europäischen Kulturdienst, der Deutschen Zeitung (Stuttgart) und der rechtskatholischen Deutschen Tagespost (Würzburg) in ebd., S. 365, 368. 325 Vgl. Norbert Frei/Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 42011, S. 195. 326 Ziesel, Gewissen (dort vorhandene Kursivierungen wurden bei Zitaten übernommen); zum Lehmanns Verlag, der eine beträchtliche Belastung aus dem »Dritten Reich« aufwies und in dem eine ganze Reihe ehemals nationalsozialistischer Schriftsteller publizierten, vgl. Sigrid Stöckel (Hrsg.), Die »rechte« Nation und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J. F. Lehmanns Verlag 1890-1979, Berlin 2002. 327 Kurt P. Tauber, Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism since 1945, 2 Bde., Middletown (CT) 1967, S. 563; s. dazu Kapitel I.1 und I.4.3.
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galt als Symbolfigur des verdeckten Widerstands gegen Hitler328 und saß im deutschen Exekutivkomitee des 1950 gegründeten Kongresses für Kulturelle Freiheit.329 Geoutet wurde Pechel in Ziesels Enthüllungsbuch als konservativ-revolutionärer Befürworter der NS-Machtergreifung – mit der Pointe, dass dessen Artikel in der Deutschen Rundschau »uns jungen Nationalsozialisten auch die letzten Zweifel an Hitler und der nationalsozialistischen Revolution genommen« hätten.330 Mit einem Zitat Pechels aus dem Aprilheft 1933, das den überschwänglichen Geist der nationalen Revolution transportiert und Genugtuung über den Untergang der linken und jüdischen Literaten ausgedrückt hatte,331 legitimierte Ziesel seine eigene Karriere. Ausdrücklich verteidigte Ziesel die Position Pechels gegenüber dem Nationalsozialismus. »Ihm schwebte wohl vor, durch sein publizistisches Wirken, in kritischer Bejahung und zu stets mahnender Anteilnahme bereit, seinen Beitrag zu leisten zu einer idealen Entwicklung des neuen nationalen Staates im Sinne der seit eh und je verfochtenen Ideale. Er hat dies auch jahrelang bis weit in die Kriegsjahre hinein getan, immer mutig gegen Mißstände und Gefahren der Entwicklung ankämpfend, aber grundsätzlich das Ganze bejahend.«332 Aber gerade dieser Opfermut lasse ihn, Ziesel, nicht verstehen, warum Pechel nun auf der Seite jener Opportunisten stehe, die aufrechte Männer in den Dreck zögen: »Weder ein Kolbenheyer oder Hans Grimm, weder Zillich, Johst, Agnes Miegel, Alverdes, Ina Seidel, weder Carossa noch Jünger noch Benn haben irgendwo und irgendwann Verbrechen Hitlers verherrlicht oder selbst Verbrechen begangen. Sie haben an Hitler geglaubt, haben bestenfalls, nachdem der Weg, den er nahm, selbst für die politisch ja meistens etwas unreifen Poeten nicht mehr zu verkennen war, weiter geschwiegen oder sich eingeredet, nach dem Krieg würde man alles ändern, aber kein einziger von ihnen war ein bewußter Barbar, Kriegshetzer oder Mörder.«333 328 Die Texte von Pechel in der Deutschen Rundschau während der NS-Zeit sind exemplarisch für die zeitgenössische »verdeckte Schreibweise« analysiert worden von Heidrun EhrkeRotermund/Erwin Rotermund, Zwischenreiche und Gegenwelten. Texte und Vorstudien zur ›verdeckten Schreibweise‹ im »Dritten Reich«, München 1999, S. 25 ff. 329 S. Kapitel II.4.1. 330 Ziesel, Gewissen, S. 17. 331 Dieser Text fehlt in der Aufsatzsammlung von Rudolf Pechel, Zwischen den Zeilen. Der Kampf einer Zeitschrift für Freiheit und Recht. 1932-1942, Wiesenheid 1948; sein »kultureller« Antisemitismus, der auch in anderen Texten aufschien, ging einher mit der Unterstützung der jungkonservativen Koalitionskreise im Hitler-Kabinett um Franz von Papen und Edgar Julius Jung, die 1934 ausgeschaltet und in einigen Fällen ermordet wurden; vgl. Volker Mauersberger, Rudolf Pechel und die »Deutsche Rundschau« 19191933. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik (1918-1933), Bremen 1971. 332 Ziesel, Gewissen, S. 127. 333 Ebd., S. 102.
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Diese Schriftsteller seien nun »aus ihren Häusern verjagt, in Lager gesteckt«, ihre »Bücher verboten« worden; »die feilen Opportunisten der Presse haben sie in der niedrigsten Weise beschimpft, minderwertige Literaten, deren Tätigkeit sich hauptsächlich auf pornographische Machwerke und Modebücher erstreckt«,334 hätten sie straflos verfolgen dürfen. Dass dies schlicht falsch war und schon gar nicht für die Medienstars Jünger und Benn galt, und dass auch die übrigen Genannten bald wieder ihr – meist nun älteres – Publikum fanden, störte Ziesel nicht. Die für ihn typische Zusammenziehung mehrerer Begriffe zu einer Aussage, hier der »bewußte Barbar, Kriegshetzer oder Mörder«, folgte seiner Montagetechnik von Fakten, Lügen und Halbwahrheiten. Dass unter den von ihm verteidigten Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein Mörder gewesen wäre, hatte niemand behauptet, auch nicht, dass sich jemand von ihnen als Barbar stilisiert hätte; aber den Führer als genialen Feldherrn und die Schönheit seines Krieges hatten einige von ihnen – wie auch Ziesel selbst – sehr wohl besungen.335 Unter die schlimmsten Opportunisten reihte Ziesel, in diesem Fall wohl nicht ganz unzutreffend, Hans Friedrich Blunck ein, den ersten Vorsitzenden der Reichsschrifttumskammer, der in der Zeit 1957 Gelegenheit erhalten hatte, sich von seiner politischen Verantwortung rein zu waschen.336 Er sei aber nur ein Beispiel für all jene Schriftsteller, die »Freundschaft, Treue, Charakter und Gewissen« nur als »Zweckbegriffe« ansehen würden.337 Aufgedeckt wurde u. a. die Karriere des Literaten Jürgen Eggebrecht, der für das intellektuelle Nachtprogramm des NWDR und das Dritte Programm des NDR arbeitete; 1958 wurde er in den PEN-Club aufgenommen. Mit ihm wollte Ziesel sogar eng befreundet gewesen sein, als er selbst im Krieg in einer Propagandakompanie der Wehrmacht diente und Eggebrecht dort der »oberste Zensurpapst des OKW«338 gewesen sei. Dieser habe freilich ein Buch von ihm, den Roman »Der Vergessene«, bewusst nicht für die Truppe genehmigt und nach dem Krieg als einflussreicher Rundfunkredakteur dafür gesorgt, dass über seine Publikationen nicht berichtet wurde. In diesem Zusammenhang eines angeblichen Schweigekartells wurden auch Walter Hilpert, vor 1945 beim Reichssender Königsberg, nach 1945 ebenfalls beim NWDR und 1956 der erste Intendant des NDR, sowie Wolfgang Weyrauch genannt, der ihn im Reich 1941 hymnisch rezensiert339 und sich nach dem Krieg als 334 Ebd. 335 Vgl. Ernst Loewy, Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und seine Dichtung. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1990, S. 161 ff.; Uwe-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, Schernfeld 1992, S. 172 ff.; Eva Horn, Literatur und Krieg, in: Wilhelm Haefs (Hrsg.), Nationalsozialismus und Exil 1933-1945, München 2009, S. 287-309; Sarkowicz/Mentzner, Schriftsteller. 336 Allerdings handelte es sich lediglich um einen Leserbrief: Hans Friedrich Blunck, Leserbrief (Überschrift: Blunck stellt klar), in: Die Zeit, 16.5.1957; vgl. bereits seine Memoiren: Unwegsame Zeiten, Mannheim 1952. 337 Ziesel, Gewissen, S. 27. 338 Ebd., S. 29. 339 Ebd., S. 31.
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Lektor beim Rowohlt Verlag und im Grünwalder Kreis als »Neudemokrat« geriert habe. Einige Feuilletonchefs der größten deutschen Blätter wurden dem Publikum als vormals geradezu fanatische Parteigänger Hitlers vorgestellt, darunter Bruno E. Werner vom Tagesspiegel, der über ein Jahrzehnt hinweg und fast bis zum Schluss den Kulturteil der Deutschen Allgemeinen Zeitung geleitet hatte und »einer der treuesten und eifrigsten Diener der nationalsozialistischen Kulturpolitik« gewesen sei, so treu, »daß er trotz seiner nicht rein arischen Abstammung seinen Posten behalten durfte«;340 Paul Hühnerfeld, zunächst bei der Zeit, dann bei der Welt, war zwar 1945 noch zu jung für publizistische Jugendsünden, aber sein »diktatorisches Regiment« sei »vermutlich noch ein letzter Rest aus den Jahren der Hitlerjugend«;341 der ZeitRedakteur Josef Müller-Marein wurde als »ein Star unter den Kriegsberichtern der Luftwaffe«,342 sein Kollege Walter Abendroth (1896-1973) als »besonders betonter Fanatiker von Rasse und Volkstum im Bereich der Musik« vorgestellt. Von diesem zitierte Ziesel aus einem Aufsatz in der Zeitschrift Deutsches Volkstum 1939, in dem es um die Geschichte der Intellektuellen in ihrer Beziehung zum Volk ging: »Allein von diesem berechtigten Selbstbewußtsein des wahrhaft Überlegenen bis zur anmaßenden Lostrennung des Denkfatzken’ von jeder natürlichen Bindung von Blut, Art und Schicksal seines Volkes, bis zur snobistischen Uninteressiertheit an der Arbeit und den Kämpfen, die doch seiner eigenen Erhaltung und Seinsmöglichkeit dienten, ist noch ein weiter Schritt. Viele ›Intellektuelle‹ haben ihn in entscheidenden geschichtlichen Augenblicken zu tun sich nicht entblödet. Sie waren dabei, ob mit oder ohne eigenes Wissen, willkommene Opfer der jüdischen Strategie. Dem Juden selbst ist Intellektualität ein wirksames Zersetzungswerkzeug, ein Sprengstoff zur Aufteilung der beherrschten Völker in machtlose Klassen.«343 Porträtiert wurde schließlich ein besonders prominenter Intellektueller, Karl Korn, der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der in Goebbels’ Wochenzeitung Das Reich für kurze Zeit bereits die gleiche Funktion ausgeübt habe; dort sei gut gezahlt worden, man habe in vornehmem Ton schreiben können und sei vom Dienst an der Front befreit gewesen: »Und so eilten sie also alle herbei, die ganze ›innere Emigration‹: Herr Korn, Herr Süskind, Herr Petersen, Herr Weyrauch, Herr Schüddekopf und wie sie sonst alle heißen, die heute behaupten, Widerstandskämpfer gegen Goebbels und Hitler gewesen zu sein.«344
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Ebd., S. 34. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Zit. ebd., S. 113; der sich durch die Texte Abendroths ziehende Antisemitismus ist in den letzten Jahren des Öfteren thematisiert worden. 344 Ebd., S. 115.
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Den Gipfel der Heuchelei erblickte Ziesel in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, wo die karrieristischen Opportunisten der NS-Zeit das Terrain beherrschten, wie deren Präsident Hermann Kasack oder Kasimir Edschmid, die sich im Nachhinein als Verfolgte des »Dritten Reiches« stilisierten, was angesichts ihrer wirklichen Rolle grotesk wirke.345 Ziesels Anschuldigungen, seine Gegenüberstellung von meist klar belegten und markanten Zitaten vor und nach 1945, die Verachtung gegenüber dem Opportunismus von Konvertiten, die vor- wie nachher ihre mediale Macht missbrauchten, das hohe Lied auf charakterfeste Geister, die nicht abgeschworen hatten, erregten nicht nur die Aufmerksamkeit des Publikums, sondern sorgten auch für Unruhe unter den Beschuldigten, die sich im ersten Nachkriegsjahrzehnt daran hatten gewöhnen dürfen, dass nicht nach ihren Biographien gefragt wurde. Es begann ein mehrjähriger publizistischer und juristischer Krieg. Die öffentlichen Reaktionen darauf dokumentierte Ziesel umgehend in einem weiteren Buch im gleichen Verlag auf über 200 Seiten.346 Daraus lassen sich, dem Titel »Die Geister scheiden sich« folgend, unschwer die Meinungsfronten rekonstruieren. Im ersten Teil präsentierte Ziesel Briefe, die an ihn gerichtet waren.347 Dabei fällt auf, dass die Zuschriften von Politikern ausnahmslos von Funktionären der CDU/CSU und der FDP stammten, darunter die Freidemokraten Franz Blücher, Max Becker, Ewald Bucher und Hermann Schwann, sowie von der Union Walter Becher, Werner Dollinger, Freiherr Karl Theodor zu Guttenberg und Franz Josef Strauß. Dieser gratulierte Ziesel, und damit brachte er die allgemeine Auffassung der akklamierenden Zuschriften zum Ausdruck, »zu dem Mut, in ein Wespennest hineinzustechen. Von der Redlichkeit Ihres Wollens bin ich schon deshalb überzeugt, weil Ihnen das Buch angesichts der von Ihnen selbst geschilderten Situation in der deutschen Presse und Literatur sicher nicht nur Freunde einbringen wird …«; die Gratulation wiederholte Strauß zur zweiten Auflage, die das Bild abrunde und noch einmal zur vierten Auflage, die beweise, »daß Ihre mutige Schrift in allen Kreisen Anklang und gute Aufnahme gefunden hat«.348 Unter den Schriftstellerbriefen dominierten Lobeshymnen von Angehörigen der Literaturelite des »Dritten Reiches«; Manfred Hausmann schrieb: »Ich beneide Sie 345 Die Invektiven Ziesels gegen diese beiden Autoren waren völlig überzogen: Beide waren 1933 in Ungnade gefallen, die Bücher von Edschmid wurden verbrannt, Kasack verlor seinen Posten beim Rundfunk und damit seine Haupteinnahmequelle; vgl. Sarkowicz/ Mentzner, Schriftsteller, S. 218 ff., 373 ff.; der Angriff gegen die Darmstädter Akademie sollte im Übrigen wohl indirekt auch Pechel treffen, der Anfang der 1950er Jahre deren Präsident gewesen war. 346 Kurt Ziesel, Die Geister scheiden sich. Dokumente zum Echo auf das Buch »Das verlorene Gewissen«. Eine Auswahl aus über 3.000 in- und ausländischen Pressestimmen und aus Tausenden von Briefen an den Verfasser. Die Reaktion der Betroffenen, München 1959. 347 Im Inhaltsverzeichnis heißt es: »Eine auszugsweise Auswahl von Tausenden von Briefen an den Verfasser und den Verlag«. 348 Franz Josef Strauß an Kurt Ziesel, 18.2., 9.5. und 30.5.1958, in: Ziesel, Geister, S. 21.
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nicht um die Herkules-Arbeit im Augias-Stall«;349 Bernt von Heiseler gebrauchte das gleiche Bild: »Aber der Mut des Verfassers verdient Bewunderung und Dank. Denn die Stallhüter bei Augias bringen es ja so heraus, als sei alles in bester Ordnung, und es gehört etwas dazu, ihnen ins Gesicht so deutlich zu sagen, wie es im Stall aussieht.«350 Erwin Guido Kolbenheyer sprach von einer »mutigen Kampfschrift wider die Korruption«,351 Bruno Brehm, Hans Grimm und einige andere zeigten sich ebenso begeistert. Wohl um die Ausgewogenheit der Dokumentation zu demonstrieren, wurde auch Hans Werner Richter von der Gruppe 47 das Wort erteilt: »Ihr Buch habe ich gelesen. Ich werde in nächster Zeit ausführlich darauf antworten. (…) Es geht mir dabei um die Klärung all der Dinge, die Sie in Ihrem Buch aufgegriffen haben. Sie schreiben z. B. von der ›verkommenen Mißwirtschaft‹ der Linksintellektuellen. Aber wenn ich mir die Namen jener Publizisten ansehe, die Sie in Ihrem Buch angreifen, so handelt es sich fast ausschließlich um konservative Kräfte, zumindest um Leute, die 1933 im konservativen Lager standen. Die ›Links-Intellektuellen‹ verschwanden damals fast ganz von der Bühne. Sie kamen auch nach 1945 niemals wieder voll zum Zuge, jedenfalls nicht in einem ›herrschenden und machtausübenden Sinn‹. Oder wollen Sie vielleicht sagen, daß Leute wie Zehrer, Wirsing, Süskind, Sperr, Korn usw. ›Linksintellektuelle‹ sind?«352 Es ist auffallend, dass Ziesel zwar Briefe von konservativen und nationalliberalen Politikern, Vertriebenenfunktionären, rechtskatholischen Publizisten wie Emil Franzel oder Herbert Grabert, Herausgeber der Deutschen Hochschullehrerzeitung, des Organs der nach 1945 »amtsverdrängten« Personen, erhielt, aber kaum ein namhafter Intellektueller oder Gegenwartsschriftsteller, sieht man von Hans Werner Richter ab, an ihn schrieb. Die zweite überraschende Ausnahme war Kurt Hiller.353 Der Zuspruch dieses Linksintellektuellen, der als radikaler Pazifist, unabhängiger Sozialist und maßgeblicher Mitarbeiter der Weltbühne in der Weimarer Republik prominent geworden war, stellte für Ziesel eine besonders wertvolle Trophäe dar. Er veröffentlichte Hillers Brief unter der Überschrift »Emigrant, Jude, Linkssozialist«: »Sehr geehrter Herr Ziesel. Sie und ich arbeiten von diametralen Denkpunkten aus. Das hindert mich nicht, viererlei zu erkennen: Ihren Willen zur Wahrheit, 349 350 351 352 353
Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 34 (Brief vom 24.2.1958). Kai-Uwe Scholz, Hiller und Ziesel – oder »Zu allererst antikonservativ«?, in: Rüdiger Schütt/Wolfgang Beutin (Hrsg.), Zu allererst antikonservativ. Kurt Hiller (1885-1972), Hamburg 1998, S. 132-153; zur Biographie Hillers vgl. Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 80 ff.
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die Fundiertheit und Redlichkeit Ihres Hasses, Ihre (wie Sie die Dinge nun mal sehen) wirkliche Vaterlandsliebe und Ihre Ausdruckskraft. Ich bin Ihr Gegner, nicht Ihr Feind. Und eine besondere Freude machten Sie mir durch die wuchtige Sachlichkeit, mit der Sie einige Herren entlarvten, die mir schon immer – teils kraft Wissen, teils per Witternase – Brechmittel waren.«354 Hiller warf sich, wie es seine Art war, sogar für Ziesel ins Kampfgetümmel. Dem Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Werner Friedmann, der ihm gegenüber Ziesel als »Verleumder« bezeichnet hatte,355 schrieb er, dass er den angekündigten Strafprozess gegen Ziesel begrüße. Verliere dieser, sei er erledigt, aber daran glaube er nicht: »Der Schmock, welcher schreiben kann rechts und schreiben kann links, je nach dem Bezahler, ist ja ein seit Gustav Freytag nicht etwa ausgestorbener Typus. Beschert uns das Schicksal morgen eine klerikalfaschistische Diktatur, so wird der Völkischquasselnde von vorgestern und seriöse Liberaldemokrat von heute morgen klerikalfaschistisch phrasieren; und kommt übermorgen ein neuer Nazismus, dann wird er wieder Nazikotz produzieren; davon zu schweigen, daß, falls Ulbricht übermorgen ganz Deutschland beherrschen sollte (was UNO oder Juno verhindern möge), besagter Typ natürlich linientreu-kommunistisch husten wird. Er widert mich heftiger an als: Hitler mit Ulbricht multipliziert, das Ganze hoch Adenauer.«356 Den Brief Friedmanns hatte Hiller an Ziesel weitergegeben, so dass nun Friedmann zur Vermeidung einer Anzeige vom Begriff »Verleumder« abrücken musste.357 Seinen Vorwurf an Hiller, es sei nicht loyal gewesen, den Brief Ziesel zugänglich zu machen, beantwortete dieser mit Beschimpfungen, die als Ergänzung der bemerkenswerten Philippika gegen den Opportunismus der Intellektuellen verstanden werden kann. Er halte zu seinem »Freund Ziesel«, »von welchem mich politisch einiges trennen mag, ethisch enorm viel verbindet. (…) Ein rechter Charakter ist mir erheblich lieber als ein linkes Schwein.«358 Im Falle der Liaison Ziesel – Hiller, die ausweislich der Korrespondenz immerhin ein Jahrzehnt andauerte, hatten sich zwei markante Quertreiber unterschiedlicher politischer Lager gefunden. Seit der Kontaktaufnahme durch Hiller im Februar 1958 tauschten sich die beiden immer wieder aus. Bereits im zweiten Brief lud Hiller zu einem Meinungsaustausch über die Frage nach Hamburg, »ob zwischen den Anständigen rechts und den Anständigen links jenseits des nur Charakterli-
354 Ziesel, Geister, S. 25 (Brief o. D.). 355 Ebd., S. 200 (Brief vom 4.3.1958). 356 Kurt Hiller an Werner Friedmann, 1.4.1958, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Süddeutsche Zeitung. 357 Werner Friedmann an Kurt Hiller, 22.7.1958, in: ebd. 358 Kurt Hiller an Werner Friedmann, 23.7.1958, in: ebd.
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chen, das sie verbindet, wohl auch eine ideologische Brücke möglich sei«.359 Das Hamburger Gespräch, das im Frühjahr stattfand, hatte Ziesel wiederum »sehr bewegt«, und für die Einsichtnahme in den Brief von Friedmann an Hiller revanchierte er sich mit der Bemühung, Hillers Broschüre »Rote Ritter«, eine Abrechnung mit Kommunisten im Exil, in einer aktualisierten Ausgabe bei Lehmanns erscheinen zu lassen.360 Außerdem bot er an, dass Hiller kleine Glossen für seinen Europäischen Kulturdienst schreiben dürfe, allerdings könne er kaum ein Honorar dafür zahlen.361 Im März 1961 stellte er sogar in Aussicht, dass Hiller als dezidierter Linker in einem »großen neuen deutschen Nachrichtenmagazin«, für das er, Ziesel, als Chefredakteur vorgesehen sei, regelmäßig eine Kolumne schreiben könne. Dieses Nachrichtenmagazin, das er für den Mai 1961 ankündigte, kam nicht zustande. Noch einmal unterstrich Ziesel seinen Standpunkt, in dem er sich mit Hiller einig wusste: »Ich möchte (…) die Anständigen in allen Parteien und allen Richtungen ermutigen und die Schweine von Links und Rechts skalpieren.«362 Ein überraschendes Forum bot sich Ziesel, wahrscheinlich auf Vermittlung Hillers, in der von vielen Intellektuellen gelesenen Monatszeitschrift Konkret, die in Hamburg erschien und – bis 1964 – klandestin aus der DDR subventioniert wurde.363 Ziesel zeigte sich sehr erfreut, gerade in dieser Zeitschrift zu Wort zu kommen, deren »Tendenz vielfach in Widerspruch zu meinen eigenen kulturellen und politischen Auffassungen« stehe; er sehe darin »eine in der heutigen Publizistik selten gewordene Fairneß und Redlichkeit, dem Andersdenkenden Raum zur Vertretung seiner Ansichten zu geben. Das erfüllt mich mit Hochachtung.«364 Allerdings erschienen in der Konkret begleitend Rezensionen zu Ziesel, die ihn in »seinem braunen Mantel« zeigten.365 Genauer betrachtet war das Presseecho auf das »Verlorene Gewissen«, ungeachtet überraschender Coups wie des Artikels in der Konkret, auch wenn Ziesel es nicht zugeben mochte, enttäuschend. Zunächst war von vielen Blättern nur berichtet worden, auf Grund einer einstweiligen Verfügung werde es keine zweite Auflage geben. Dadurch sollte der Eindruck erweckt werden, der ganze Text sei unseriös, und man müsse sich nicht damit befassen. Aber es handelte sich um eine voreilige 359 Kurt Hiller an Kurt Ziesel, 15.2.1958, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Kurt Ziesel. 360 Kurt Ziesel an Kurt Hiller, 7.5.1958, in: ebd.; vgl. Kurt Hiller, Rote Ritter. Erlebnisse mit deutschen Kommunisten, Gelsenkirchen 1951 (Neuausgabe West-Berlin 1980). 361 Kurt Ziesel an Kurt Hiller, 13.11.1958, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Kurt Ziesel. 362 Kurt Ziesel an Kurt Hiller, 14.3.1961, in: ebd. 363 Vgl. Alexander Gallus, Zeitschriftenporträt: »konkret«, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 13, 2001, S. 227-249; Frederik Obermaier, Sex, Kommerz und Revolution. Vom Aufstieg und Untergang der Zeitschrift »konkret« (1957-1973). Marburg 2011. 364 Kurt Ziesel, »Den Schmutz beim Namen nennen«, in: Konkret, Nr. 3, 1958 und Nr. 5, 1958. 365 Rezension: Kurt Ziesel, Das verlorene Gewissen, in: Konkret, Nr. 5, 1958; in Nr. 7, 1958, darin wurde an Ziesels »Krieg und Dichtung« (1940) als »agitatorisches NS-Schrifttum« erinnert.
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oder falsche Meldung, wenige Wochen später erschien die zweite Auflage. Ziesel behauptete, das Buch sei von 70 Prozent der deutschen Zeitungen positiv besprochen worden, allerdings nicht von den großen Blättern.366 Tatsächlich lag aber außer einer wohlwollenden Rezension von Walter Görlitz in der Welt, die auf den Inhalt von Ziesels Buch kaum einging,367 nichts vor, das Ziesel hätte dokumentieren können. Darüber täuschte auch nicht der Abdruck zahlreicher Artikel aus zweit- und drittrangigen Blättern hinweg. Weder die Süddeutsche Zeitung, die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Tagesspiegel, der Rheinische Merkur noch der Spiegel, der sich ansonsten ungern einen Skandal entgehen ließ und sogar die Fahnen erhalten hatte, wollten sich mit dem Buch befassen. Zudem beklagte sich Ziesel über die »Funkstille des Meinungsmonopols«368 der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, von denen allein Radio Bremen eine Besprechung gebracht hatte. Einige Blätter, deren Redakteure Ziesel persönlich angegriffen hatte, wie etwa den Kulturredakteur Wilhelm Westecker von Christ und Welt, brachten abfällige Artikel,369 ansonsten galt Ziesel als eitler Angeber und Denunziant. Nicht einmal die sozialdemokratische Presse mochte die Angriffe gegen konservative Kollegen instrumentalisieren. Rolf Schroers, Mitglied der Gruppe 47, nannte Ziesels Buch im Neuen Vorwärts »eine Denunziation« und »Schmähschrift«, die einen »pathologischen Defekt des Autors« zeige, im Hamburger Echo war von einem »SASchläger-Ton« Ziesels die Rede.370 Selbst die Ost-Berliner Weltbühne bekundete, kein »Kapital schlagen zu wollen aus dem Zieselschen Pamphlet«, wandte sich allerdings gegen die Strategie des »Totschweigens« und fragte in einem weiteren Artikel auf Grund einer Zuschrift von Rudolf Pechel, der die Zurückhaltung der »anständigen Presse« gelobt hatte, warum denn die »anständige Presse« geschwiegen habe; doch wohl, weil man sich über peinliche Tatsachen nicht äußern mochte.371 Das Verteidigungskartell derjenigen, die das »Verlorene Gewissen« entweder nicht erwähnten oder auf den wesentlichen Punkt, die biographischen Fakten der westdeutschen publizistischen Crème, nicht eingingen, war nahezu geschlossen. Aber die tonangebenden Medien konnten nicht verhindern, dass das Buch insgeheim eben doch, zumal in intellektuellen Kreisen, gelesen wurde. Hans Werner Richter reichte die Verschweigestrategie deshalb bald nicht mehr aus; er setzte darauf, Kurt Ziesel inhaltlich zu widerlegen. Dieser hatte sich bei Richter, in dem er den verantwortlichen Redakteur der Kultur372 vermutete, darüber beschwert, dass »Das verlorene Gewissen« dort durch einen – ausgerechnet – wiederum NS-belasteten Redakteur, Josef Winckler, verrissen worden war, der schon seinen Roman »Daniel in der Löwengrube« niedergemacht habe: 366 367 368 369 370 371 372
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Ziesel, Geister, S. 76. Vgl. ebd., S. 78-80. Ebd., S. 142. Ebd., S. 170. Ebd., S. 166, 176. Ebd., S. 179-182. S. Kapitel II.4.3.
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»Sollte jedoch diese Mentorschaft oder Verantwortlichkeit nicht mehr bestehen, so glaube ich, dass es an der Zeit wäre, dass ein Mann wie Sie endlich aufstünde und gegen diese verkommene Misswirtschaft der Links-Intellektuellen unseres bundesrepublikanischen Konsumvereines ein Wort sagen würde, das die anständigen Menschen auch auf Ihrer politischen Seite längst erwarten.«373 Nachdem Richter in freundlichem Ton bestätigt hatte, mit der Kultur seit einem Jahr nichts mehr zu tun zu haben, das Buch Ziesels gelesen zu haben, und eine ausführliche Antwort ankündigte, hatte dieser erneut von der Notwendigkeit geschrieben, »einen Aufstand der Anständigen über alle politischen Fronten hinweg« zu organisieren.374 Die Antwort darauf bestand in der Einladung zur gemeinsamen Diskussion über Ziesels Buch, die dieser ebenso annahm, wie er die Bedingungen akzeptierte: »Sie ist privat und nicht öffentlich. Weder von Ihrer, noch von unserer Seite sollte sie publizistisch verwertet werden. (…) Es werden etwa 20 bis 30 von mir eingeladene Angehörige des Grünwalder Kreises daran teilnehmen. (…) Nochmals bitte ich Sie, daß wir in diesem Fall vorerst jeden publizistischen Tam-Tam vermeiden. Ich werde alle Teilnehmer darauf verpflichten.«375 In einem Brief an Jürgen Eggebrecht, den Ziesel besonders radikal angegriffen hatte, unterbreitete Hans Werner Richter seine Strategie und ließ subtil seine Kritik am bisherigen Umgang mit den Vorwürfen des Schriftstellers erkennen: »Lieber Jürgen, nach längerer Überlegung bin ich nun doch zu der Ansicht gekommen, daß ein längeres Schweigen zu Ziesel nicht mehr möglich ist. Da von der Seite der unmittelbar Betroffenen keine Antwort kommt, werde ich nun antworten. Das Buch wird überall gelesen, nicht nur in den Kreisen der Rechten und findet leider, leider sogar auf der Linken oft ein positives Echo. Es ist also gefährlich. Vorläufig sind folgende Überlegungen da. 1. Ich werde hier im bayerischen Rundfunk eine Entgegnung von etwa 30 Minuten bringen. Frage: Willst Du sie für den NDR übernehmen? (…) 2. Im Club der Publizisten376 wurde beschlossen, daß es unbedingt notwendig sei, einen ›Anti-Ziesel‹ zu schreiben. Kuby spricht deshalb bereits mit Ullstein, es ist aber auch bei Desch möglich. Diesen ›Anti-Ziesel‹ würde ich ebenfalls selbst schreiben, natürlich mit Unterstützung von allen Seiten. Mein Mitarbeiter wäre Theo Pirker. 373 Kurt Ziesel an Hans Werner Richter, 11.2.1958, in: Akademie der Künste, Berlin (AdK), Hans Werner Richter Archiv, 3665. 374 Kurt Ziesel an Hans Werner Richter, 26.2.1958, in: ebd., 3665. 375 Hans Werner Richter an Kurt Ziesel, 4.3.1958, in: ebd., 3670; vgl. Stefan Busch, »Und gestern, da hörte uns Deutschland«. NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel, Würzburg 1998, S. 222 f. 376 Gemeint ist der Club republikanischer Publizisten.
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3. Ziesel hat mir geschrieben. Er will sich dem Grünwalder Kreis zu einer Diskussion stellen. Es ist möglich, daß ich darauf eingehe. Die Diskussion wäre hier in München in einem geschlossenen Kreis (wahrscheinlich in den nächsten vierzehn Tagen). Hast Du Lust daran teilzunehmen?«377 Eine Einladung zu diesem Treffen, das am 12. März 1958 um 20 Uhr im Hotel Platzel stattfand, erhielten vor allem die Münchener Publizisten aus Richters politischem Bekanntenkreis, darunter Erich Kuby,378 aber auch Rudolf Pechel, dem sich Richter ähnlich wie gegenüber Eggebrecht erklärte: Er sei doch zu der Ansicht gekommen, »daß man den Ziesel anfassen muß, wenn auch mit der Kneifzange«.379 In einem weiteren Schreiben an Pechel, der sich nicht dazu bereit fand, der Einladung Folge zu leisten und persönlich mit Ziesel zu sprechen, betonte Richter: »Weiter bin ich der Meinung, daß nach dieser ›Diskussion‹ der publizistische Angriff gegen Ziesel erfolgen muß, aber nicht aus der Defensive heraus, sondern offensiv und zwar von allen Seiten. Wir kommen nicht darum herum, die Methode seiner Diffamierung nun auf ihn anzuwenden, und zwar in voller Schärfe. Was ich in dieser Hinsicht tun kann, werde ich tun. Auch mir ist bewußt, daß Ziesel durch seine Angriffe ins öffentliche Gespräch kommen will, aber er ist es bereits. Sein Buch wird nicht nur überall gelesen, sondern leider, leider auch geglaubt. (…) Er ist ein Schwein, eine Art Freisler der Publizistik, aber er richtet Unheil an, verheerendes Unheil.«380 Über den Ausgang des Gesprächs mit Ziesel am 12. März 1958 finden sich keine weiteren Quellen; offenbar wurde die vereinbarte Vertraulichkeit eingehalten. Auch danach begegnete man sich bisweilen auf Veranstaltungen in der Stadt, und Max Stefl hielt den brieflichen Kontakt aufrecht. Nach einem Vortrag Ziesels schrieb er ihm in einem eng betippten sechsseitigen Brief, warum er hinterher nicht mit ihm Kaffee trinken mochte. Er habe eine »Sportpalastrede en miniature« gehalten, »Intellektuelle« kämen bei ihm nur als Schimpfwort vor; die Kritik an seinen Gegnern bestehe nicht darin, ihnen »Nazismus« vorzuwerfen, sondern nur darin, »den Nazismus verraten zu haben«; seine Angriffe auf linke Intellektuelle seien unehrlich, denn er definiere nicht, was »links« sei. »Ist Herr Korn links? Herr Süskind? Herr Weyrauch? Ist die Süddeutsche Zeitung links? Ist die SPD links?« Er, Ziesel, greife die »Afterlinke« an, »um die Linke zu treffen«.381
377 Hans Werner Richter an Jürgen Eggebrecht, 2.3.1958, in: AdK, Hans Werner Richter Archiv, 3442-3443. 378 Hans Werner Richter an Erich Kuby, 4.3.1958, in: ebd., 3666-3667. 379 Hans Werner Richter an Rudolf Pechel, 4.3.1958, in: ebd., 3669. 380 Hans Werner Richter an Rudolf Pechel, 10.3.1958, in: ebd., 3669. 381 Max Stefl an Kurt Ziesel, 29.2.1960, 9.4.1960, in: Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek, Nl. Max Stefl, MSt B 225.
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Mit Diskussionen ließ sich angesichts restlos verhärteter Meinungsfronten offenbar nichts mehr erreichen, die Auseinandersetzungen verlagerten sich in den folgenden Jahren auf das juristische Feld. Im letzten Kapitel seiner Dokumentation »Die Geister scheiden sich« hatte Ziesel die Reaktion der wichtigsten Betroffenen kommentiert: Rudolf Pechel, Hermann Kasack, Bruno E. Werner, Karl Korn, W. E. Süskind und Werner Friedmann, deren Rechtfertigungsversuche er genüsslich sezierte. Allein Pechel hatte sich öffentlich – in seiner Deutschen Rundschau und in einem Schreiben an die Weltbühne in der DDR – zur Wehr gesetzt. Nicht nur dies bot eine Vorlage für Ziesel. Auch die Argumente aus der Deutschen Rundschau vom Februar 1958 waren leicht zu widerlegen. Dass Pechel das »giftige Buch« als ein »Omelette aus faulen Eiern mit der Wiederholung einiger längst widerlegter Vorwürfe« bezeichnete und dafür als Beweis anführte, dass er bereits 1922 bei Begegnungen mit Hitler »einen so nachhaltigen Eindruck von der Minderwertigkeit dieses Mannes« verspürt habe, »daß ich auch nicht einen Augenblick irgendwelche Sympathien für diese Bewegung« entwickeln konnte,382 kann nur als ein von Hilflosigkeit bestimmtes Ablenkungsmanöver bezeichnet werden. Denn Pechels Behauptung gab Ziesel die Gelegenheit, auf dessen Artikel in der Deutschen Rundschau aus dem Frühjahr 1933 hinzuweisen, der vor Begeisterung für den nationalen Aufbruch sprühte und die Ausschaltung der jüdischen Intellektuellen begrüßte. Mit besonderer Bitterkeit registrierte Pechel, dass ausgerechnet Joachim Günther, Chefredakteur der Neuen Deutschen Hefte, den er seit den 1930er Jahren gut kannte, sich in dieser Auseinandersetzung auf die Seite Ziesels stellte. Dies spreche »nicht nur gegen seine Urteilsfähigkeit, sondern auch gegen seinen Charakter und bedeutet für mich den völligen Bruch mit ihm«.383 Pechels letzte Lebensjahre waren überschattet von dem Rechtsstreit, den er mit Ziesel führte. Dem Bundespräsidenten Theodor Heuss, den er gut kannte, kündigte er, nicht frei von wehleidigem Selbstmitleid, seine baldige Übersiedlung in die Schweiz an. »Gerade Sie werden mich verstehen, daß ich nach der langen Zeit, während der ich wirklich in vorderster Linie gegen die Strömungen gekämpft habe, in deren Ablehnung ich mich mit Ihnen immer verbunden fühlen durfte, nun mich aus der Front zurückziehen und mehr Distanz zu allen den Beschimpfungen und Verleumdungen, die mir im letzten Jahre zuteil geworden sind, gewinnen will. Im Grunde berührt mich aller dieser Schmutz nicht. Es ist nur lästig, daß bei dem langsamen Gang der Gerichte dieser Schmutz zunächst einmal in der Öffentlichkeit unwiderlegt da ist und ich zur Vermeidung des Verdachts, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen, gehandikapt bin, publizistisch allen diesen Blödsinn zu widerlegen. Es kommt hinzu, daß die Strafanzeige gegen Ziesel und den Verlag Lehmann(s; A. S.) an die Staatsanwaltschaft in München von der hiesigen Staatsanwaltschaft 382 Zit. nach Ziesel, Geister, S. 184. 383 Rudolf Pechel an Wolfdietrich Schnurre, 10.4.1960, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/7.
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weitergeleitet wurde und daß die Münchner Staatsanwaltschaft (…) wenig geneigt scheint, gegen ehemalige Nazis vorzugehen. Denn es ist schon länger als ein halbes Jahr her, daß die Entscheidung der Münchner Staatsanwaltschaft aussteht. Ich versuche, ohne Bitterkeit jetzt Deutschland zu verlassen und will dabei in Kauf nehmen, der Welt abhanden zu kommen …«384 Mit keinem Satz rechtfertigte oder erklärte Pechel seine Publikationen zur »nationalen Revolution« von 1933, die Ziesel die Gelegenheit für seine Invektiven geboten hatten. Den Rechtsstreit gegen Ziesel gewann Pechel nicht. Am 29. Dezember 1960 erging schließlich die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft München zur Beleidigungsklage. Schon zuvor hatte sein Rechtsanwalt ihm geraten: »Bitte, regen Sie sich nicht zu sehr auf, es hat keinen Zweck und Ziesel ist es nicht wert. Eines Tages wird ihm in irgendeiner Form das Genick gebrochen, und ich möchte versuchen zu erreichen, dass er als lästiger Ausländer ausgewiesen wird.«385 Ein Jahr später starb Pechel in der Schweiz. Sehr betroffen reagierte auch Karl Korn auf die Enthüllungen, obwohl sie in seinem Fall wenig konkret waren. Dass er »einstiger literarischer Star« von Das Reich gewesen und zum »Kulturpapst« der FAZ geworden war,386 wusste man; in seinem Fall führte Ziesel die Auseinandersetzung indirekt, indem der Jahrgang 1942 des NS-Organs betrachtet wurde; zu diesem Zeitpunkt war Korn allerdings nicht mehr für dessen Feuilleton verantwortlich gewesen.387 Ansonsten wurden ihm die Mitarbeit an einer Schulungsreihe der Wehrmacht und sein Rang als Sonderführer der Wehrmacht vorgehalten. Insofern fand seine Kollegin Margret Boveri,388 die ihn als Volontärin beim Berliner Tageblatt 1934 kennengelernt hatte, es »sehr betrübend«, dass Korn gegen Ziesel den Rechtsweg beschreiten wollte: »Hat er denn ausser seinem Buch noch etwas gegen Sie gemacht? Das Buch (Exemplar von Heuss) habe ich fast ganz gelesen, und da er Sie immer nur als Kulturpapst angreift, ohne etwas von Ihnen zu zitieren, fand ich das nicht so schlimm. Anfang September war ich in München mit Fracklers zusammen, und
384 Rudolf Pechel an Theodor Heuss, 25.5.1959, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, I/73. 385 RA Werner Hennemann an Rudolf Pechel, 25.11.1960, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/78; in dieser Akte weitere Unterlagen zum Rechtsstreit mit Ziesel. 386 Ziesel, Gewissen, S. 41, 114, 115, 165 f. 387 Vgl. die Darstellung von Korn, Lehrzeit, S. 260 ff. 388 Vgl. Görtemaker, Leben, S. 286 ff.; Boveri fühlte sich auch durch die Affäre Ziesel, in die sie wegen einer eidesstattlichen Aussage zugunsten Korns verstrickt war, animiert zu eigenen Recherchen über die publizistische Landschaft Berlins im »Dritten Reich«, die gerade eine kritische Darstellung gefunden hatte: Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Berlin 1959; dagegen Boveri, Wir lügen alle.
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er erzählte mir, dass Süskind nichts gegen Ziesel unternommen habe. Und der hätte ja doch wohl mehr Grund gehabt, wenn überhaupt.«389 Auch Theodor Heuss, dessen Amtszeit als Bundespräsident wenige Wochen später endete, informierte Korn von seiner Absicht, gegen Ziesel gerichtlich vorzugehen, und bat, »mir in einem Brief zu bestätigen, was Sie von dem Journalisten Karl Korn im ›Dritten Reich‹ wissen«. Heuss tröstete Korn: »Ich bin selber wegen der etwa drei Aufsätze, die ich im »Reich« veröffentlicht habe und wegen einiger Buchrezensionen oft genug in der sowjetzonalen Presse und später in dem billigen Nationalismus, der sich in einigen deutschen Zeitschriften wieder bemerkbar macht, als Mitkämpfer von Goebbels angeprangert worden.« Er selbst, Heuss, sei von Korn und Margret Boveri zur Mitarbeit aufgefordert worden, habe sich aber zurückgezogen, als Goebbels anfing, das Reich zu seiner Tribüne zu machen.390 Unter ungeklärten Umständen gelangte Heuss’ Brief an Korn in Ziesels Hände und wurde in seinem Europäischen Kulturdienst veröffentlicht.391 Ohne den Namen Ziesel zu erwähnen, drückte Kasimir Edschmid, Generalsekretär des PEN-Zentrums der Bundesrepublik, der nicht gerade zu den guten Bekannten Korns zählte, aber in Ziesels Enthüllungsbuch ebenfalls Erwähnung gefunden hatte, seine Solidarität aus, indem er die gemeinsame Situation als Schriftsteller im »Dritten Reich« beschwor, die niemand beurteilen könne, der nicht dabei gewesen sei: »Denn sehr vielen Menschen ist es ja heute schwer klar zu machen, dass gewisse Dinge, die zur Selbsterhaltung oder zur Tarnung nötig waren, damals jedermann als solche begreiflich waren. Man wusste ja, wen man vor sich hatte und wer es 389 Margret Boveri an Karl Korn, 15.11.1958, in: DLA, A: Karl Korn. 390 Das Zitat aus dem Brief von Korn an Heuss, 1.8.1959 und der Abdruck der Antwort, 5.8.1959, in: Theodor Heuss. Der Bundespräsident. Briefe 1954-1959. Hrsg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker u. a., Berlin/Boston 2013, S. 581 f.; zur Mitarbeit von Heuss am Reich vgl. Burger, Theodor Heuss, S. 329 ff.; Goebbels veröffentlichte seine antisemitischen Leitartikel, stets auf der ersten Seite, seit Dezember 1940, Heuss’ letzter Artikel im Reich erschien am 2.2.1941. 391 Die Legende vom Reich, in: Europäischer Kulturdienst, Jg. 8, 1959, Nr. 8; vgl. Heuss, Bundespräsident, S. 581; in einem weiteren Artikel seines Blattes setzte sich Ziesel auch mit der Mitarbeit von Heuss am Reich auseinander. Der Artikel wurde vom Reichsruf, dem Zentralorgan der Deutschen Reichspartei, einer Vorgängerin der NPD, über zwei Nummern hinweg dokumentiert; Kurt Ziesel, Heuss: »unbewältigte Vergangenheit«, in: Reichsruf, Nr. 5, 30.1. und Nr. 6, 6.2.1960; Heuss wandte sich daraufhin mit einem längeren Schreiben an dessen Herausgeber Adolf von Thadden, das wiederum im Reichsruf, Nr. 8, 20.2.1960, veröffentlicht wurde; vgl. Theodor Heuss. Privatier und Elder Statesman. Briefe 1959-1963. Hrsg. u. eingel. von Frieder Günther, Berlin/Boston 2014, S. 161168.
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war, der schrieb. Aus dem Klima der damaligen Umstände herausgerissen, wirken die Sätze natürlich ganz anders auf diejenigen, die bösen Willens sind.«392 Auch der ehemalige Nationalrevolutionär Ernst Niekisch, unter den Nationalsozialisten inhaftiert und wegen seiner Zugehörigkeit zur SED nach 1945 im Westen weithin boykottiert,393 spendete Trost und riet zur Gelassenheit: »Ich kenne Ihre Sensibilität und fürchte, daß Sie sich durch die Ziesel’sche Aktion tiefer berühren ließen, als es nötig war.«394 In seiner Antwort gab Korn zu, »dass diese ekelhafte Geschichte mit dem Ziesel an mir nagt. (…) Mit meinen Freunden bin ich der Ansicht, dass hier nicht meine Person gemeint ist – die ist uninteressant. Es soll eine erste Bresche geschlagen werden, und dann soll es an ein Aufräumen gehen. Man will an die Leute heran, die den Nationalsozialismus jung und unerfahren erlebt haben und für immer kuriert sind. Was Sie mir schrieben, hat mir wohlgetan. Wenn ich auch kein Held war, so war ich auch kein Lump.«395 Zugleich bestätigte Korn in seinem Antwortschreiben die Sorge von Niekisch, sein Einfluss bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung könne wegen der Affäre zurückgehen. Nur gegen biographische Unrichtigkeiten wehrte sich Korn mit einer Unterlassungsklage beim Landgericht München, aber dieser wurde nur zum kleineren Teil stattgegeben; die meisten Behauptungen von Ziesel beträfen nachweisbare Tatsachen.396 Der Lehmanns Verlag verbreitete das Urteil, gegen das Korn umgehend Berufung einlegte, sogleich in der Öffentlichkeit. Als erste Zeitung informierte Die Welt über Ziesels Sieg gegen Korn vor Gericht.397 Nur mühsam ließ sich Korn von seinem Mitherausgeber bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Erich Welter, davon überzeugen, dass eine Gegendarstellung sinnlos sei, weil die öffentliche Aufmerksamkeit damit nur gesteigert werde. Allerdings übernahmen bald auch andere Blätter die Meldung. Korns juristisches Vorgehen barg zugleich das Risiko, dass man sich näher mit seinen Texten aus dem Reich beschäftigte. Im Herbst 1959 zirkulierte in Kollegenkreisen sein Artikel »Der Hofjude«, der wegen seiner antisemitischen Tendenz kaum zu entschuldigen war. In einer Besprechung von Harlans ›Jud Süß‹-Film hatte Korn alle einschlägigen Klischees bemüht, von der »fremden Rasse«, die in 392 Kasimir Edschmid an Karl Korn, 27.10.1959, in: DLA, A: Kasimir Edschmid; Edschmid, der ebenso wie Korn von Ziesel belastet worden war, empfing wiederum von Rudolf Krämer-Badoni zwei Jahre später einen Trostbrief, dessen Argumente mit seiner eigenen Argumentation gegenüber Korn nahezu identisch waren; Rudolf Krämer-Badoni an Kasimir Edschmid, 7.12.1951, in: DLA, A: Kasimir Edschmid. 393 S. Kapitel II.4.3. 394 Ernst Niekisch an Karl Korn, 25.11.1959, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 22 c. 395 Karl Korn an Ernst Niekisch, 25.11.1959, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 22 c. 396 Vgl. zum Fortgang der juristischen Streitigkeiten Payk, Geist, S. 319 ff. 397 Der Streit Karl Korn – Kurt Ziesel, in: Die Welt, 13.10.1959.
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»das Gefüge des deutschen Wirtschaftskörpers« eindrang, gesprochen, von der »Rachelust einer Unterwelt, die das Sendungsbewußtsein des ›auserwählten‹ Volkes in talmudischen Nihilismus verkehrt hatte«, so dass es zum Bündnis von »jüdischer Machtgier und dem talmudischen Haß« mit einem »volksfremden Fürsten« kommen konnte; und in einer Zeit des beginnenden Massenmordes an den Juden formulierte Korn: »Man spürt und erkennt aus diesem Film, daß das jüdische Problem in Deutschland innerlich bewältigt ist.«398 In großer Sorge sandte Korn eine Kopie an den gerade aus dem Amt geschiedenen Theodor Heuss, der sich allerdings nach seiner Hilfe in Sachen Mitarbeit beim Reich der Bitte, nun auch diesen Artikel wohlwollend zu begutachten, verweigerte: »Aber auf die ›Jud Süß‹-Sache kann ich mich nicht einlassen«; bei aller Hilfsbereitschaft »gegen subalterne Amokläuferei« wolle er dafür nicht in eine »Kronzeugenschaft« geraten.399 Von seinem Freund Walter Dirks erhoffte sich Karl Korn mehr Zuspruch. Um Rat gebeten, antwortete Dirks: »Ich sage Ihnen aufrichtig, daß mich der Text doch erschreckt hat. Es hat sich nichts in meiner Haltung zu Ihnen und zu dem Problem geändert, aber ich sehe nach der Lektüre des Artikels die Schwierigkeit um einige Grade größer. Ich bleibe bei meiner Meinung, daß man in dieser Sache nur mit offenen Karten spielen kann, was für Sie freilich eine Einschränkung erfahren muss, soweit es den forensischen Bereich betrifft, in dem Sie sich mit Klauen und Zähnen wehren müssen. Es würde aber, glaube ich, auch Ihrem berechtigten Kampf dienen, wenn Sie eine Form fänden, indirekt zu erkennen zu geben, daß Sie von dem Artikel abrücken. (…) Ich überlege ständig, wie ich Ihnen am besten Flankenhilfe geben möchte, zu der ich mich in der dreifachen Solidarität der Demokratie, des Berufs und der Freundschaft genötigt fühle. Ob in irgendeinem Stadium der Sache ein ›Offener Brief‹ an Sie denkbar wäre? Zu publizieren in der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹? In den ›Frankfurter Heften?‹«400 Dirks mochte zwar erschrocken gewesen sein, aber er konzentrierte sich ganz darauf, wie mit diesem zusätzlichen Problem von Korn strategisch in dessen Rechtsstreit mit Ziesel und in der Öffentlichkeit umzugehen sei. Offenbar war die generationelle Kollegialität, Dirks und Korn kannten sich seit den 1930er Jahren gut, in diesem Fall ausschlaggebend. Korn war Dirks für den Rat dankbar, wollte aber vor einem bevorstehenden Berufungstermin im einstweiligen Verfügungsverfahren »Herrn Ziesel die bloße Flanke« nicht darbieten.401 Überdies versuchte er sich an einer Interpretation seines Artikels, der »juristisch nicht unter die schrecklichen Dinge der sogenannten Endlösung gestellt werden kann und darf«. Vielmehr habe 398 Karl Korn, Der Hofjude. Veit Harlans Film »Jud Süß« im Ufa-Palast am Zoo, in: Das Reich, Nr. 19 vom 29.9.1940. 399 Theodor Heuss an Karl Korn, 28.10.1959, in: Heuss. Privatier, S. 114 f. 400 Walter Dirks an Karl Korn, 9.11.1959, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 120 A. 401 Presseerklärung des J. F. Lehmanns Verlags vom 22.10.1959 zum Urteil des Landgerichts München vom 12.10.1959, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 22 c.
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er damals »subjektiv ehrlich geglaubt, mit ein paar zweideutigen Wendungen eine Gesamtbetrachtung des Films anbringen zu können, die für die Verfolgten regelrecht hilfreich gedacht war«, indem der Eindruck erweckt wurde, dass sie doch längst erledigt waren.402 Einen Monat später erreichte Korns Artikel die Presseöffentlichkeit. Nachdem er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Schändung der gerade eingeweihten Kölner Synagoge an Weihnachten 1959 durch Neonazis angeprangert hatte, zitierte die anfangs zweimal wöchentlich, Ende der 1950er Jahre täglich in Stuttgart erscheinende Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, die sich in »verbissener Rivalität«403 mit der FAZ als legitime Erbin der ehemaligen Frankfurter Zeitung profilieren wollte, einige Sätze aus Korns Artikel im Reich. Darauf antwortete Korn in der DZ mit der gleichen Argumentation, er habe Schlimmeres verhüten wollen, wie gegenüber Walter Dirks. Es folgten wiederum eine Replik der Redaktion und der Abdruck von Leserzuschriften, darunter – gekürzt – auch eine von Walter Dirks.404 Die Presse stieg ansonsten nicht darauf ein, aber die Fakten waren damit doch in der intellektuellen Öffentlichkeit. Der verärgerte Erich Welter machte Karl Korn den Vorwurf, er habe mit seiner Reaktion den Chefredakteur des Stuttgarter Blatts, Hans Hellwig, »diesen Schmierfinken, hoffähig gemacht«.405 In der zweiten Nummer des Jahrgangs 1960 der Frankfurter Hefte dokumentierte Walter Dirks den Fall, indem er Korns Artikel zur Schändung der Synagoge und seine eigene Zuschrift an die Deutsche Zeitung vollständig abdruckte. Dirks’ Position kann man als christliche Barmherzigkeit auffassen. Er wolle nicht »jene Sätze von 1940« verteidigen oder entschuldigen, »sich aber trotzdem mit dessen Verfasser und mit jedem, der damals, obwohl Nazi-Gegner, Fehler gemacht hat, im Bewußtsein der Schuld und Reue solidarisch« erklären. Den Kritikern warf er vor, das Maß zu verlieren, »wenn Sie einen Journalisten, der einmal entgleist ist, mit den moralischen Urhebern des Antisemitismus der Nazijahre identifizieren«. Mit einer solchen »Hexenjagd« und »pharisäischen Attacken auf Mitschuldige« werde »unsere Verstrickung in jene Schuld« nur verfestigt, anstatt »uns von ihr zu befreien«.406 402 Karl Korn an Walter Dirks, 19.11.1959, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 120 A. 403 Payk, Geist, S. 320; vgl. zur Konkurrenz der beiden Blätter auch Deutsche Zeitung. Schillernde Feder, in: Der Spiegel, 20.1.1960. 404 Karl Korn, Die Untat in Köln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.12.1959; Moralische Urheber, in: Deutsche Zeitung, 30.12.1959; Karl Korns verdeckter Widerstand (Leserbriefe), in: Deutsche Zeitung, 8.1.1960; Korn bedankte sich bei Dirks, 8.1.1960, für dessen Beitrag, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 123 A. 405 Erich Welter an Karl Korn, 9.1.1960, zit. nach Payk, Geist, S. 321. 406 Walter Dirks, Wie wir unsere Vergangenheit bewältigen. Bericht in fremder, eigener und allgemeiner Sache, in: Frankfurter Hefte, Jg. 15, 1960, S. 81-84; in diesem Sinne konkretisierte Dirks an die Redaktion der Deutschen Zeitung, 25.4.1960: »Ich kann nur den Rigorismus nicht mitmachen, mit dem Sie Herrn Korn auf eine Sünde festlegen, die er vor fast 20 Jahren begangen hat. Ich gebe Ihnen aber auch Recht, wenn Sie voraussetzen, daß zur notwendigen Klärung auch gehört, daß nichts verborgen wird.« In: AdsD, Nl. Walter Dirks, 122 A.
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Korn empfand Dirks’ Unterstützung als »wichtig und wohltuend«:407 »Ich habe Ihre noble Bekundung der Solidarität mit großer Freude gelesen und wiedergelesen. Das ist alles so durchdacht und hilfreich und richtig, daß es mir auch für die jetzt kommenden prozessualen Auseinandersetzungen überaus willkommen und nützlich ist. Der ganze Fall ist ja eigentlich ohne mein Zutun so merkwürdig exemplarisch, wie auf einmal ein vollkommen vereinzelter Schriftsatz unter die Schatten von Auschwitz gerät und wie sich die Jahre gleichsam rückwärts drehen!«408 Post erhielt Dirks auf seinen Artikel hin auch von Theodor W. Adorno, dem es ein Bedürfnis war, »Ihnen zu sagen, daß ich jedem Ihrer Worte bis in die Nuancen hinein zustimme«. Er glaube auch, dass sie sich einig seien in einem Punkt, den Dirks wohl aus »strategischen Gründen« nicht genannt habe: »daß die Leute, die hinter derartigen Dingen stehen, die unbelehrbaren Nazis sind, die einem bis ins Innerste anständigen Menschen wie Korn die Sünden vorwerfen, die sie selber begingen, weil sie nicht ertragen können, daß er besser ist als sie«.409 Seinen Brief an Dirks schickte Adorno auch Korn zu, weil er ihm vielleicht »ein wenig Freude« bereiten könne: »Und wenn Sie meinen, daß ich in Ihrer Angelegenheit öffentlich etwas tun kann, dann lassen Sie es mich wissen. Der Sache nach ist dem, was Dirks schrieb, nichts hinzuzufügen; vielleicht könnte aber irgendwo, Gott sei’s geklagt, mein Name in abstracto einigen Einfluß üben.«410 In seinem Dank betonte Korn, das Schlimmste sei »diese ekelhafte moralische Anrüchigkeit«,411 unter der er leide; zudem dürfte er davon Kenntnis gehabt haben, dass sich das Herausgebergremium der FAZ schwer damit tat, ob das Blatt über den Ausgang des Prozesses schweigen sollte, was Dolf Sternberger für »verhängnisvoll« hielt, der sich gegen eine »kurzsichtige Loyalität« gegenüber Korn aussprach.412 Einen Monat später konnte dieser endlich aufatmen. An Dirks schrieb er voller Freude: »Vorläufig ist die Schlacht geschlagen! Immerhin hat das Oberlandesgericht München dem Ziesel acht Infamien untersagt.« Lediglich als »Handlanger des Antisemitismus« durfte Korn wegen der Filmkritik im Reich weiterhin bezeichnet werden, wobei das Gericht andere seiner Artikel relativierend herange407 Karl Korn an Walter Dirks, 21.1.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 123 A. 408 Karl Korn an Walter Dirks, 12.2.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 123 A. 409 Theodor W. Adorno an Walter Dirks, 15.2.1960; Walter Dirks an Theodor W. Adorno, 23.2.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 122. 410 Theodor W. Adorno an Karl Korn, 15.2.1960, in: AdK, Theodor W. Adorno Archiv. 411 Karl Korn an Theodor W. Adorno, 22.2.1960, in: AdK, Theodor W. Adorno Archiv. 412 Dolf Sternberger an Benno Reifenberg, 21.2.1960, in: DLA, A: Dolf Sternberger.
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zogen hatte. Nun aber sei er »mit den Nerven ziemlich strapaziert« und müsse ausspannen.413 Auch in den frühen 1960er Jahren vermochte Ziesel weiterhin die von ihm gesuchte öffentliche Aufmerksamkeit der gesamten Bundesrepublik zu erreichen, etwa mit seinem Buch »Der rote Rufmord«, einer hemmungslosen Polemik gegen alle Kritiker des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Theodor Oberländer, einen »alten Kämpfer« der nationalsozialistischen Bewegung und Teilnehmer des Hitler-Putsches 1923, der in der Öffentlichkeit, vor allem auf Grund von Dokumenten aus der DDR, mit Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht wurde.414 Auch die Veröffentlichung des »Roten Rufmords« zog juristische Auseinandersetzungen nach sich. Der prominenteste Prozessgegner war Rudolf Augstein vom Spiegel. Er erwirkte ein Verbot des weiteren Vertriebs wegen der Aussage, Augstein tarne sich »als einen armen verfolgten Juden, der sich mit seinem Blatt für die an ihm begangenen Verbrechen der Deutschen räche. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, bediene er sich zuweilen des Pseudonyms Jens Daniel oder für die Arbeiten der Redaktion des Namens Moritz Pfeil, was dem Blatt das Ansehen gebe, zwei Juden als publizistische Stars zu beschäftigen …«415 Als rechter Polemiker genoss Ziesel durchaus die überregionale Aufmerksamkeit der Medien; so war er 1963 sogar im Gespräch für die Nachfolge des fanatischen Antikommunisten William S. Schlamm als regelmäßiger Kolumnist der Illustrierten Stern gewesen, deren Chefredaktion sich davon verkaufsträchtiges Aufsehen versprach.416 Vor diesem Hintergrund ging die erbitterte Auseinandersetzung um Ziesels »Verlorenes Gewissen« in die letzte Runde. So intensiv auch die juristischen Kämpfe ge413 Karl Korn an Walter Dirks, 28.3.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 123 A; beiliegend ein ausführlicher Bericht von Karl Korn über den Prozessausgang an den hessischen Kultusminister Ernst Schütte; Schützenhilfe hatte Ziesel auch in diesem Prozess von Kurt Hiller erhalten, der Korns Artikel als »völlig eindeutiges Stück Judenhetze, absolut hitlersch, zwar gewiß nicht im porno-rabaukigen Streicherstil, aber sozusagen Pogromismus mit Schleiflack, gepflegtes Goebbelsdeutsch, giftrosa« charakterisiert hatte; Kurt Hiller an Kurt Ziesel, 5.12.1959; Kurt Ziesel an Kurt Hiller, 9.12.1959, 30.3.1960, in: Kurt-HillerArchiv, Nl. Kurt Hiller, Kurt Ziesel. 414 Kurt Ziesel, Der rote Rufmord. Eine Dokumentation zum Kalten Krieg, Tübingen 1961; das Buch schrieb Ziesel in Zusammenarbeit mit Oberländer; zu dessen Biographie vgl. Philipp-Christian Wachs, Der Fall Oberländer (1905-1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt a. M./New York 2000. 415 Landgericht Hamburg, 17.7.1961 (Aktenzeichen 15 Q 316/61), in: Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Nl. Gerd Bucerius, 527 a; ein ähnliches Urteil erstritt auch Bucerius vor dem Landgericht Hamburg, 26.7.1961 (Aktenzeichen 15 Q 302/61). 416 Vgl. Hermann Schreiber, Henri Nannen. Drei Leben, München 1999, S. 86; zur ideologischen und konzeptionellen Verwandtschaft von Schlamm und Ziesel vgl. Susanne Peters, William S. Schlamm. Ideologischer Grenzgänger im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 474 f.
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führt worden waren, so mager und matt war doch, sieht man von der christlichen Argumentation von Walter Dirks ab, die inhaltliche Kritik an Ziesel ausgefallen. Ansonsten war das Problem biographischer NS-Verstrickungen mittlerweile hoch angesehener Publizisten in der Demokratie der Bundesrepublik nicht einmal angesprochen worden. Die Auseinandersetzung war über die Freude an der Entlarvung von Opportunisten auf der einen und hilflose Leugnung und Abwehr der Fakten durch die Diskreditierung Ziesels auf der anderen Seite nicht hinausgekommen. Eine Bereitschaft zu einer offenen Reflektion und Diskussion der NS-Belastung eines großen Teils der westdeutschen Publizisten und Schriftsteller, die nun zur intellektuellen Deutungselite der Bundesrepublik zählten, aber auch ihrer Neuorientierungen nach dem Zweiten Weltkrieg, war nicht gewollt. Eben deshalb fiel die Antwort auf Ziesels Invektiven über weite Strecken so hilflos aus. Auch Hans Werner Richter hatte seine Ankündigung einer ausführlichen Replik von 1958 nicht wahrgemacht. Ende 1960 entspann sich deshalb eine rege Korrespondenz zwischen Heinrich Böll und Hans Paeschke, dem Herausgeber der Zeitschrift Merkur, der Bölls Vorschlag, einen Artikel zu schreiben, aufgriff: »Der Ziesel-Vorschlag ist sehr verlockend, wir haben in der ganzen Ziesel-Affäre bisher geschwiegen, etwas nach der Devise des Sprichworts: nur die Kälte bändigt den Kot. Aus einer gewissen Distanz, nachdem die schiefen Affären verraucht sind, könnte man natürlich anhand Ziesels allerlei Wichtiges im Sinne einer deutschen Symptomatologie sagen.«417 Als aber Böll den vereinbarten Aufsatz schickte, meinte Paeschke, er bedürfe einer »Reinigung der Gedanken«.418 Worum es bei diesem Einwand eigentlich ging, wurde bald deutlich. Böll hatte auch den Schriftsteller Ernst Jünger und den Literaturkritiker Friedrich Sieburg, der in der FAZ als Antipode von Karl Korn wirkte, im Zusammenhang ihrer NS-Karrieren erwähnt; Paeschke sah ein, dass »Sieburg nicht eliminierbar ist, weil die entscheidenden Prämissen für den Standpunkt, von dem aus Sie über den Dreckfinken Ziesel reden, dem SieburgBeispiel verbunden sind. Meine zermürbenden Verhandlungen mit meinem Verlag machen es aber einfach unmöglich, in der nächsten Zeit Sieburg in dieser Weise im ›Merkur‹ zu apostrophieren.«419 Der Beitrag erschien schließlich, wieder ein Jahr später, in der Zeit, ohne jede Erwähnung Jüngers oder Sieburgs. Eine herzhafte Polemik, in der Ziesel als Manipulateur vorgeführt und ihm die Fälschung von Fakten nachgewiesen worden wäre, war allerdings Bölls Sache nicht. Seltsam unkonkret, die Namen von Korn, Pechel 417 Hans Paeschke an Heinrich Böll, 10.11.1960, in: DLA, D: Merkur. 418 Paeschke hatte das MS von Böll zur Begutachtung an Hans Egon Holthusen gegeben, der es »nicht sehr doll, ziemlich verworren« fand; mindestens müsse die »reichlich haltlose Invektive gegen Jünger raus«; Hans Egon Holthusen an Hans Paeschke, 16.7.1961, in: DLA, D: Merkur. 419 Hans Paeschke an Heinrich Böll, 2.7.1961, in: DLA, D: Merkur.
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und anderen Ziesel-Geschädigten tauchten nicht einmal auf, kritisierte Böll einerseits, dass »seriöse« Zeitungen »schamhaft oder aus Geschmacksgründen« dessen Buch übergangen hätten, andererseits charakterisierte er Ziesel als unglaubwürdig: Dieser steche in »die Wunde, die der Heilung bedarf; nur sind leider Stichel und Stecher nicht so rein, wie sie sich geben«. Ziesel könne ihn erst überzeugen, wenn er auch die angreife, die sein literarisches Werk gelobt hätten, denn letztlich ginge es ihm doch nur um sich. »Schlimm ist, daß Ziesel in seinen politischen Thesen partikelchenweise recht hat, daß aber, wer diese Partikel finden möchte, ein ganzes Kilo Unsinn mitschlucken muß. Seine wilden Vereinfachungen haben faschistische Züge (…) Nichts wird durch Ziesel geheilt oder bereinigt.«420 Bölls Beitrag war zwar nicht das Schlusswort zur Debatte, aber die jahrelangen Nachspiele fanden nur noch mäßiges Interesse. Ziesel sandte Marion Dönhoff im folgenden Jahr eine Fotografie aus dem Jahr 1933 zu, die sie bei einem Appell des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps mit dem Grafen Helldorff, dem damaligen SA-Führer von Berlin, zeigte. Die damit einhergehenden Unterstellungen lauteten, sie habe es damals also für richtig befunden, »sich in dieser Form zu einer militanten NS-Formation zu bekennen«; außerdem gebe es Hinweise, dass sie den ostpreußischen Gauleiter Koch, »einen der übelsten Nazibonzen«, zu einem Wohltätigkeitsfest eingeladen habe. Er wolle dies in seinem nächsten Buch erwähnen und bitte um Aufklärung.421 Zur Überraschung Ziesels erklärte ihm Dönhoff, seinen Brief mit ihrer Antwort in der Zeit zu veröffentlichen. Die schneidende Entgegnung auf Ziesel, der in einem »flegelhaften Ton« geschrieben habe, hob darauf ab, dass es diesem »gar nicht um Wahrheitsfindung, sondern in erster Linie um Einschüchterung« gehe. Abgesehen davon, dass nicht sie für die Einladung Kochs, Ziesels Arbeitgeber, verantwortlich gewesen sei, sondern ihre nationalsozialistischen Verwandten, könne sie nur jedem raten, auf Briefe von Ziesel mit der »Zauberformel« zu antworten: »Wir verweigern jede Aussage und machen Sie für alle Nachteile haftbar, die uns aus Ihrer Veröffentlichung erwachsen.«422
420 Heinrich Böll, Der Schriftsteller und Zeitkritiker Kurt Ziesel. Versuch eines Beitrages zur sogenannten Bewältigung der Vergangenheit, in: Die Zeit, 16.3.1962; vgl. zur Auseinandersetzung darum Kurt Ziesel, Die Meinungsmacher, München 21988, S. 215 ff. 421 Vgl. Kurt Ziesel, Der deutsche Selbstmord. Diktatur der Meinungsmacher, Recklinghausen/Gelsenkirchen 1965, S. 309; im Zentrum der Angriffe dieser »Dokumentation« stand der Spiegel, die NS-Vergangenheit spielte allerdings keine zentrale Rolle mehr. 422 Antwort an Ziesel. Ein Briefwechsel, der für sich selber spricht, in: Die Zeit, 9.8.1963; die Bezeichnung von (Erich) Koch als Ziesels Arbeitgeber bezieht sich auf dessen kurzzeitige Tätigkeit als Redakteur für die Preußische Zeitung in Königsberg, die der Gauleitung unterstand. Nach dem gleichen Muster bildlicher Konfrontation druckte die Deutsche National- und Soldatenzeitung, Nr. 8, 21.2.1964, Fotos des Zeit-Chefredakteurs Josef MüllerMarein mit den Fliegerhelden Mölders und Galland und brachte in diesem Zusammenhang ein antisemitisches Zitat von Müller-Marein, das seine Position in der
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Der vorletzte Akt im juristischen Streit zwischen Ziesel und der Zeit, der er vorwarf, »systematisch Rufmord« gegen ihn zu betreiben, spielte 1964; Ziesel warf dem Wochenblatt vor, es mache sich in seiner »Lügenberichterstattung« zur »Handlangerin linksradikaler Verleumdungen«.423 Der Streit der Parteien endete schließlich in einem »Nichtangriffspakt« bzw. »Nichterwähnungspakt«.424 Ohnehin war für Ziesel die Zeit, in der er mit Enthüllungen als Überraschungseffekt aufwarten konnte, vorbei. Hans Werner Richter riet in einem Brief an Fritz J. Raddatz zur Gelassenheit: »Über Ziesel würde ich mich nicht aufregen. Ich glaube nicht, daß der Faschismus österreichischer Natur noch eine Chance hat.«425 Die seit Mitte der 1960er Jahre tonangebenden Linksintellektuellen thematisierten zwar auch mitunter die NS-Vergangenheit prominenter staatstragender Personen, interessierten sich aber bald mehr für die Strukturen von Macht und Herrschaft im »Dritten Reich« als für dessen Personal. Im Zenit seiner Karriere stand Ziesel, als er zum Generalsekretär der 1967 gegründeten Deutschland-Stiftung wurde, die Konrad Adenauer als Ehrenpräsident gewinnen konnte und einen nach ihm benannten Preis verlieh.426 Aber diese Stiftung repräsentierte eben nur einen minoritären Teil des konservativen Spektrums, angesiedelt am rechten Rand der Union. Auch das seit 1969 von Ziesel als zentrales Organ der Stiftung herausgegebene Deutschland-Magazin, die Auflage betrug zeitweise 100.000 Exemplare, war nur eine Stimme im Segment der konservativen Medien. Ziesels schrillen Attacken, etwa gegen den linken Meinungsterror und »pornographische Literaten«,427 fehlte das lagerübergreifend aufregende Element seiner NS-Enthüllungen am Ende der 1950er Jahre; sie erreichten nur seine rechtskonservativen Anhänger, lösten aber keine größeren öffentlichen Irritationen mehr
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Gegenwart unglaubwürdig mache. Die daraufhin erwirkte Richtigstellung hob darauf ab, ob die mit den Fliegern abgebildete Person Müller-Marein wäre; DNSZ, Nr. 17, 24.4.1964. Kurt Ziesel an die Rechtsabteilung der ZEIT, 14.8.1964, in: Marion Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 0537. Die internen juristischen Erwägungen in: Marion Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 0537; vgl. Janßen, Zeit, S. 204 ff. Hans Werner Richter an Fritz J. Raddatz, 17.1.1964, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 494. Der erste Preisträger war im Gründungsjahr 1967 im Bereich Publizistik Armin Mohler; zur Deutschland-Stiftung vgl. die umfassende Untersuchung von Bamberg, Deutschland-Stiftung. Ziesel erreichte 1969 gegen Günter Grass ein in der Öffentlichkeit heftig kritisiertes Urteil des Oberlandesgerichts München, nach dem dieser als »Verfasser übelster pornographischer Ferkeleien und Verunglimpfungen der katholischen Kirche« bezeichnet werden durfte; vgl. die Erklärung des Deutschen PEN-Zentrums der Bundesrepublik vom 1.8.1969, in: AdK, Archiv PEN West, 92; die Dokumentation des J. F. Lehmanns Verlags wurde in der Zeit rezensiert; Gert Heidenreich, Parteipropaganda als Dokumentation. Wie ein Schriftsteller zum Ferkel erklärt wird, in: Die Zeit, 13.6.1969; den Artikel nahm Ziesel wiederum zum Anlass, wegen Verletzung des »Nichterwähnungspaktes« mit einem Prozess zu drohen; Unterlagen in Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Nl. Gerd Bucerius, 527 b.
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aus.428 Die Methode Ziesels, die er in seiner Enthüllungskampagne angewandt hatte, überlebte allerdings den Urheber – das zeigen zahllose Veröffentlichungen zu einer tatsächlichen oder angeblichen NS-Belastung von liberalen oder sozialdemokratischen Publizisten und Schriftstellern. Noch posthum vermag die Skandalisierung der Biographien gerade jener Schriftsteller und Publizisten, die sich in jungen Jahren für den Nationalsozialismus begeistert hatten, aber später, ohne ihre Verstrickungen zu thematisieren, zur meinungsbildenden Elite in der Bundesrepublik zählten, gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. So ist die Methode Ziesels – bis in die Gegenwart – in das Arsenal der Rezepte zur Funktionalisierung der NS-Vergangenheit von Intellektuellen eingegangen.
428 Für eine Auswahl seiner Schriften aus den 1970er und 1980er Jahren vgl. Kurt Ziesel, Wider den Zeitgeist. Die Demokratie auf dem Prüfstand, Herford 1992.
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4. Aufhellungen: Liberaler, moderner, kritischer Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Ideenlandschaft allmählich aufhellte, war die Zunahme von respektlosem Witz, den sich einige jüngere Intellektuelle Mitte der 1950er Jahre gegenüber dem offiziösen abendländischen Pathos herausnahmen. Der junge Schriftsteller Peter Rühmkorf verhöhnte in Artikeln für den linksoppositionellen Studentenkurier 1955 »jene kategoriale Immobilität, die bereits ein Synonym des Systems geworden ist«, und »von den Verwaltungswürstchen und Schalterbeamten des Abendlandes« in »Bonn-Byzanz« verwaltet werde.1 Das wäre noch wenige Jahre zuvor nicht möglich gewesen. Neu war aber nicht die Kritik am hohen Ton der geistigen Granden, die hatte es vereinzelt auch schon um 1950 gegeben. Neu war die allenthalben spürbare Ironie der Gewissheit, dass eine Ära einer politischen Kultur zu Ende ging, obwohl sie sich im Zenit ihrer hegemonialen Macht befand. Zur gleichen Zeit begann die Konjunktur des politischen Kabaretts. 1957 strahlte die ARD erstmals ein Programm der Münchener »Lach- und Schießgesellschaft« aus, das folgende Jahrzehnt stand im Zeichen dieser Kunstform, der Silvesterabend wurde regelmäßig mit Programmen dieser Truppe oder der Berliner »Stachelschweine« eingeleitet. Der Wahlslogan »Keine Experimente«, den die Kanzler-Union 1957 ausgab, als sie erstmals und singulär eine absolute Mehrheit im Bundestag erhielt, drückte zwar die konservative Grundbefindlichkeit der Gesellschaft aus. Man wollte das bereits Erreichte, die Einrichtung in wieder oder neu errungener Sekurität, nicht aufs Spiel setzen, man vertraute den politischen Eliten, man wollte sich führen lassen. Aber bewahren wollte die Bevölkerung nicht geistige Traditionen, sondern das, was in der beispiellosen Geschwindigkeit des Wiederaufbaus geschaffen worden war. Die Menschen richteten sich in neuer Häuslichkeit ein, die Ausweitung des Konsums stand im Zentrum der Bedürfnisse, etwa die Anschaffung einer Waschmaschine, eines Fernsehgeräts oder eines Pkw. Der kulturkonservative Ton passte nicht mehr zur neuen Lebenswirklichkeit. Die ordnungspolitischen Grundsatzentscheidungen waren bis Mitte der 1950er Jahre gefallen – die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederaufrüstung im Rahmen des NATO-Bündnisses und die wirtschaftliche und politische Integration im westeuropäischen Rahmen. Die dramatische Blockkonfrontation in der Gründerzeit der Bundesrepublik, als die Menschen einen bevorstehenden dritten Weltkrieg fürchteten, wich allmählich der Routine des Kalten Krieges in Europa. Der sowjetische Block wurde nun eher als Konkurrent im technischen Wettlauf und langfristig gefährlicher Rivale auf dem Weltmarkt wahrgenommen. Die innere Stabilisierung der Gesellschaft im erfolgreichen Wiederaufbau, die Durchsetzung der zentralen ordnungspolitischen Grundentscheidungen und die allmähliche Ausbreitung internationaler Entspannung wirkten zusammen als atmo1 Peter Rühmkorf, Die Jahre, die ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen, Reinbek 1972, S. 57, 60.
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sphärische Aufhellung der gesamten politischen Kultur. Die düstere Endzeitstimmung, Technikfeindschaft, Massenphobien und Elitedenken wurden nun in den Medien zunehmend von nüchternen, ›modernen‹ Stellungnahmen abgelöst, eine Frage nicht nur der Inhalte, sondern des gesamten Stils. So persiflierte Alexander Mitscherlich in einer Veröffentlichung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung das hohle Pathos bei der Beschwörung der Gefahr durch die »Massen«, die nur durch bildungsbürgerliche Eliten eingehegt werden könnten: »Politische Großversammlung, die Arena gefüllt bis zum letzten Platz, ein Teppich von Menschen und Gesichtern in den aufsteigenden Reihen, der Redner in vollem Zug. Er sagt: ›Die Vermassung ist an allem Schuld.‹ Orkanartiger Applaus.«2 Die neue Tendenz nüchterner Ablehnung der raunend-weihevollen Rhetorik konservativer Kulturkritik äußerte sich öffentlichkeitswirksam in den Radiosendungen für Intellektuelle. Bis in die frühen 1950er Jahre hinein hatten vor allem Positionen, die sich gegen eine angebliche Diktatur des Rationalismus wandten, hohe Wertschätzung genossen. Ein Redakteur des NWDR-Nachtprogramms resümierte die Sendungen des Jahres 1949 dahingehend, dass darin offenbar geworden sei, »in wie erschreckender Weise der gesellschaftlichen Krise eine geistige Krise entspricht«; sie rühre aus dem Verlust gemeinsamer Orientierung, und dieser wiederum müsse zurückgeführt werden auf die »anfangs naive, später ignorante Anmaßung des Menschen der Neuzeit, er könne die Welt allein durch die sinnliche Erfahrung und den Verstand, durch das Experiment, schließlich durch Zahlenformeln begreifen und mit Hilfe der Technik unterwerfen«.3 Mit den Erfolgen des Wiederaufbaus und den zwar immer noch kargen, aber sich verbessernden Lebensbedingungen geriet diese herkömmliche Kulturkritik zunehmend in Erklärungsnöte. So wandte sich Jürgen Schüddekopf im Manuskript für die Auftaktsendung einer großen Reihe unter dem Titel »Die Spürhunde der Zukunft. Versuch einer Bestandsaufnahme Europas und seiner Wirkung als Virus im geistigen Leben der Welt«, die vom NWDR-Nachtprogramm im März 1953 gesendet wurde, der Frage zu, »ob die kulturpessimistischen Behauptungen stimmen, dass Europa nur noch ein Museum sei, dass das geistige Leben Europas – im Ganzen oder partiell – impo-
2 Institut für Sozialforschung. Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt a. M. 1956 (Neuausgabe Hamburg 1991), S. 70; mit ähnlicher Stoßrichtung Dolf Sternberger, Grund und Abgrund der Macht. Kritik der Rechtmäßigkeit heutiger Regierungen, Frankfurt a. M. 1962, S. 243 ff. 3 Redaktionsansage zur Sendung am 15.2.1949, zit. nach Schildt, Abendland, S. 90.
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tent geworden sei, dass der mittlere europäische Schwachsinn und der schnelle Prozess der Verdummung ungehemmte Fortschritte machen«.4 Konservative Klischees wurden zwar nicht restlos überwunden, traten aber doch in den Hintergrund, etwa durch die Entsendung von Korrespondenten, die jeweils für mehrere Jahre in die USA gingen und von dort differenziert ebenso über politische und wirtschaftliche Themen wie über den Alltag der Bürger berichteten. Bekannt geworden sind besonders Peter von Zahn5 und danach – allerdings mit etlichen Rückfällen in alte Denkmuster – Thilo Koch. Die intellektuellen Rundfunkprogramme der 1950er Jahre wurden deshalb ein Forum mit einer erheblichen Meinungsspanne, weil die Hörerschaft per se als minoritäre Elite angesprochen wurde, die sich bei aller Unterschiedlichkeit der Meinungen vom Massenpublikum abhob, das den hochgeistigen Sendungen wegen fehlender Bildungsvoraussetzungen nicht folgen konnte. Vor diesem Hintergrund fanden in den Nachtprogramm- und Abendstudio-Sendungen alle wesentlichen intellektuellen Diskurse zur bildungsbürgerlichen Selbstverständigung ihren Ausdruck.6 Die allmähliche Ablösung dominanter antimodernistischer Kulturkritik und Abendland-Beschwörung durch einen nüchterneren Ton sachlicher Expertise, der Bedeutungsverlust tiefsinniger Philosophen und Theologen zugunsten von – jüngeren – Soziologen7 und Psychologen und die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Phänomenen des eigenen Landes und außerhalb der Grenzen waren ein genereller Trend, wobei die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael) nicht mit einer Erhöhung des Anteils von Professoren einherging. Beim BR betrug er im Durchschnitt der Jahre 1949 bis 1956 ca. 15 Prozent mit sinkender Tendenz.8 Eher handelte es sich um einen Wechsel der Referenzdisziplinen von den Geisteszu den Sozialwissenschaften und gleichzeitig um eine Erweiterung der Expertise aus dem außeruniversitären Raum. Der Typ des Nachtprogramm-Intellektuellen wurde als »ideale Kreuzung zwischen einem Wissenschaftler und einem Journalisten« beschrieben.9 Ende 1956 starteten NDR und WDR nach vorangegangenen Versuchsphasen zur Jahreswende 1954/55 und 1955/56 mit Dritten Programmen im UKW-Empfangsbereich, die das vordem auf die späten Abendstunden eingegrenzte Angebot für Intellektuelle zeitlich erweiterten; nun gab es beim NDR auf UKW an jedem Abend eine Sendung von 20.15 bis 22.30 Uhr; gegenüber dem vorherigen Nachtprogramm 4 Das Exposé ging mit der Bitte um rasche Prüfung von Jürgen Schüddekopf an Walter Dirks, 2.2.1953, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 87 A. 5 Peter von Zahn, Reporter; vgl. Eli Nathans, Peter von Zahn über Rassismus in den USA, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2009, H. 1/2, S. 20-26. 6 Vgl. etwa die Anthologie des NWDR-Nachtprogramm-Redakteurs Schickel, Weltbetrachtung. 7 Vgl. Tauber, Nachtprogramm, S. 90 ff.; Boll, Nachtprogramm, S. 163 ff. 8 1950 betrug der Anteil der Sendung, an denen Professoren beteiligt waren, 22 Prozent, 1956 nur noch 7 Prozent (Tauber, Nachtprogramm, S. 71). 9 Ebd., S. 73.
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wurde dabei vor allem der musikalische Anteil erhöht.10 Wie bei der Einführung der hochgeistigen Nachtprogramme – beim BR hieß es »Sonderprogramm« – folgten bald darauf die anderen Sendeanstalten. Gerhard Szczesny sicherte sich für den Auftakt mit Erich Kästner einen besonders prominenten Autor, um den intellektuellen Anspruch zu markieren: »… aber ich fände es doch außerordentlich nett von Ihnen, wenn Sie mir zumindest für den Anfang unseres Unternehmens irgendeinen Beitrag zur Verfügung stellen könnten, den zu verfassen Sie vielleicht gerade Zeit und Lust haben.«11 Daraufhin sandte Kästner seine Rede zur Verleihung des Büchnerpreises. Sie wurde zum Start des Sonderprogramms am 24. Oktober 1957 ausgestrahlt, das Honorar betrug 800 DM. Der Zuhöreranteil des neuen Programms, man ermittelte sechs bis zehn Prozent, das entsprach allein beim BR bis zu 600.000 Hörern, hatte sich damit gegenüber dem vorherigen Nachtprogramm beträchtlich erhöht.12 Das aufkommende Fernsehen sahen die Rundfunk-Intellektuellen weniger als Bedrohung denn als Chance,13 weil nun die wirklich Berufenen übrig blieben für Sendungen, die »nach Inhalt, Anlage und Umfang ein schon vorhandenes Interesse des Hörers am Thema und überdies seine Bereitschaft voraussetzen, sich auf das Programm zu konzentrieren«.14 Die Verantwortlichen der Rundfunk-Kulturredaktionen bemühten sich programmatisch um eine pluralistische Gesprächsanordnung. Alfred Andersch beschrieb sein Selbstverständnis als Rundfunkredakteur in einem Brief an Martin Walser: »Ich möchte sachliche, faire und anständige Rundfunk-Arbeit leisten. Der Rundfunk ist keine Zeitung oder Theater, er ist ein Monopolinstrument, das auf eine, in höchstem Sinne, unparteiische Weise geleitet werden muss.«15 Der pluralistischen Bandbreite der eingeladenen Experten – von Konrad Lorenz und Alexander Mitscherlich bis zu Carl Schmitt und Karl Schiller – entsprach das weite thematische Spektrum der von Andersch konzipierten Sendungen: Verhaltensforschung, Psychoanalyse, die aktuelle Wirtschaftsentwicklung oder die Geschichtsphilosophie – alles wurde diskursiv aufbereitet. Ausgrenzungen nahm er selten vor.
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Vgl. Schildt, Abendland, S. 109 f. Gerhard Szczesny an Erich Kästner, 5.8.1957, in: DLA, A: Erich Kästner. Tauber, Nachtprogramm, S. 23. Gerhard Szczesny, Einführung in das Sonderprogramm des BR, gesendet auf UKW II, 30.9.1957, 20.15-20.30, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/2; vgl. in dieser Akte auch das MS einer Sendung, in der Hörerbriefe verlesen wurden, vom 21.10.1957, 21.1521.45. 14 Gerhard Szczesny, Die anspruchsvolle Sendung und ihr Publikum, gesendet im BR, 26.3.1960, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/2, Bl. 293. 15 Alfred Andersch an Martin Walser, 16.3.1955, in: DLA, A: Alfred Andersch.
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Dass Andersch zugleich eine eigene Ideenpolitik betrieb, in der zum einen der Imagination einer bizarren Querfront Thomas Mann – Ernst Jünger – Theodor W. Adorno und zum anderen der Gruppe 47 hohe Bedeutung zukam, führte allerdings zu einigen Problemen.16 Schon bei seiner Planung des Abend-Studios im Hessischen Rundfunk hatte Andersch von Anfang an Walter Dirks, Eugen Kogon, Clemens Münster und Theo Pirker berücksichtigt, also Vertreter des linkskatholischen Milieus um die Frankfurter Hefte. Das entbehrte insofern nicht einer gewissen Pikanterie, als er selbst 1947 aus deren Redaktion ausgetreten war, weil er sich nicht von erotischen Passagen in seiner Erzählung »Die Treue« distanzieren wollte. Ein Textauszug erschien im Januar 1948 unter dem Titel »Intimität« in der Nullnummer des Skorpion, der von Hans Werner Richter geplanten Nachfolgezeitschrift für den Ruf, aus der dann stattdessen die Gruppe 47 entstand.17 Kogon hatte sich über die Erzählung von Andersch sehr verärgert gezeigt, ein Indiz für die engen Moralauffassungen auch des sogenannten Linkskatholizismus.18 Dennoch erhielt die linkskatholische Gruppe um Walter Dirks den roten Teppich ausgerollt. Typisch war das Angebot an seinen Kollegen, dessen Buch »Die Antwort der Mönche«, das der Orientierung der Menschen in der Gegenwart aus christlicher Sicht dienen sollte, im Hessischen Rundfunk mit Walter M. Guggenheimer, Karl Korn und Rudolf Krämer-Badoni zu diskutieren. Aber selbstverständlich, so Andersch, könne Dirks auch andere Gesprächspartner vorschlagen.19 Die bevorzugte Heranziehung seiner Kollegen der Gruppe 4720 für den Frankfurter Sender und für das gleichzeitig von ihm geleitete Kultur-Ressort des NWDR begründete Andersch wiederum arrogant damit, dass für »wirklich erstklassige Feature-Manuskripte (…) nur ein ganz eng gezogener Kreis von Autoren infrage« käme, »in Deutschland höchstens 6-8 Leute«; mit diesen zu arbeiten sei produktiv, stattdessen werde seine Zeit von überflüssigen Konferenzen und bürokratischen Hindernissen aufgezehrt.21 Mit dem eng gezogenen Kreis waren Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer,22 Hans Werner Richter, Wolfgang Weyrauch und einige weitere Schriftsteller aus dem Umkreis der Gruppe 47 gemeint, die Andersch als Autoren für den Rundfunk verpflichten konnte. Mitte der 1950er Jahre befand er sich im Zenit seiner Karriere. Im April 1955 verpflichtete Fritz Eberhard den damals wohl einflussreichsten Rundfunk-Intel16 S. Kapitel II.3.2. und II.4.3. 17 Alfred Andersch, Intimität, in: Der Skorpion. Hrsg. von Hans Werner Richter. Reprint. Mit einer Dokumentation zur Geschichte des »Skorpions« und einem Nachwort zur Geschichte der Gruppe 47 von Heinz Ludwig Arnold, Göttingen 1991, S. 29. 18 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 157. 19 Redaktion Abendstudio des HR an Walter Dirks, 11.7.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 73 A. 20 S. Kapitel II.4.3. 21 Alfred Andersch an die Intendanten Eberhard Beckmann und Ernst Schnabel, 21.11.1953, zit. nach Reinhardt, Alfred Andersch, S. 157. 22 Zu dessen ersten Rundfunk-Kontakten Anfang der 1950er Jahre vgl. Stephan Braese, Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie, Göttingen 2016, S. 174 f.
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lektuellen für den Süddeutschen Runfunk.23 Im August 1955 zog Alfred Andersch als »fester freier« Mitarbeiter nach Stuttgart. Er residierte nun mit seiner Frau Gisela und drei Kindern sehr nobel in einem Haus, das sich über drei Stockwerke erstreckte und einen schönen Ausblick auf das Feuerbacher Tal bot.24 Andersch’ Sendung »Radio-Essay«, für die er seine Beziehungen zu den neuen Stars auf dem publizistischen Markt ausbaute, erhielt geradezu hymnisches Lob, von einer »Genietruppe« war die Rede.25 Er konnte seine Kontakte, die er zuerst beim Hessischen Rundfunk, dann auch beim NWDR geknüpft hatte, intensivieren, und es flossen üppige Honorare. So erhielt sein Kollege Hans Werner Richter für eine 90-minütige Sendung über die »Sowjetzone« 2.000 DM zuzüglich Fahrtkosten, Übernachtungskosten und Spesen für drei Wochen, die Richter bei seinen Verwandten in der DDR verbrachte. Der abgelieferte Text, der schließlich unter dem Titel »Lenin in Mecklenburg« gesendet wurde, musste zudem von der Redaktion unter hohen Kosten zu einem Rundfunk-Essay umgearbeitet werden.26 Andersch lud ins Stuttgarter Funkhaus und wurde selbst häufig eingeladen, benutzte für Reisen nun auch das Flugzeug. Der Schriftsteller Arno Schmidt bezeichnete ihn ironisch als »praeceptor germaniae«.27 Aus dessen Briefwechsel mit Andersch spricht große Dankbarkeit für die finanzielle Förderung durch Andersch, dem er sogar ein Buch widmete.28 Auch Wolfgang Koeppen und Axel Eggebrecht, der nach seinem Ausscheiden aus dem NWDR als freier Publizist lebte, hielten sich mit Beiträgen für das »Radio-Essay« über Wasser.29 Hinter dem Rücken von An23 Alfred Andersch an Fritz Eberhard, 5.4.1955, in: DLA, A: Alfred Andersch, SDR. 24 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 242. 25 Ein vollständiges Verzeichnis aller Sendungen mit einer Einleitung von Edgar Lersch und einem Interview mit Helmut Heißenbüttel aus dem Jahr 1981 bietet: Dokumentation und Archive. Historisches Archiv und Wortdokumentation SDR: Radio-Essay 1955-1981. Verzeichnis der Manuskripte und Tondokumente, Stuttgart o. J.; vgl. Anthony Waine, Literatur und Radio nach dem Krieg. Ein Porträt des Süddeutschen Rundfunks, in: Studienkreis Rundfunk und Geschichte. Mitteilungen, Jg. 13, 1987, S. 122-146. 26 Alfred Andersch an Hans Werner Richter, 8.7.1955; 9.11.1955, in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 2371-2372. 27 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 246. 28 Es handelte sich um den Kurzroman »Aus dem Leben eines Fauns«, der 1953 im Rowohlt Verlag erschien; Andersch hatte das Manuskript zunächst der Frankfurter Verlagsanstalt empfohlen (Alice Schmidt, Soviel Geld? Dann schule ich um auf Hörspiel. Drei deutsche Schriftsteller in den Anfängen der Bundesrepublik. Vor fünfzig Jahren besuchte Arno Schmidt Martin Walser und Alfred Andersch in Stuttgart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2002), aber dessen Verleger und Cheflektor Eugen Kogon hatte sich an der antireligiös getönten Kritik des deutschen Bürgertums in der Zeit des NS-Regimes gestoßen; zum Verhältnis der beiden Schriftsteller vgl. Arno Schmidt. Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. Mit einigen Briefen von und an Gisela Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel und Alice Schmidt. Hrsg. von Bernd Rauschenbach, Zürich 1985; vgl. Jörg Magenau, Martin Walser. Eine Biographie, Reinbek 2005, S. 85 ff. 29 Ansgar Warner, »Kampf gegen Gespenster«. Die Radio-Essays Wolfgang Koeppens und Arno Schmidts im Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks als kritisches Gedächtnismedium, Bielefeld 2007, S. 75-181; Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 187; ähnlich verhielt
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dersch gab es natürlich auch offenbar von Neidgefühlen gesteuerte Bemerkungen wie die des Schriftstellers Rolf Schroers an seinen Kollegen Paul Celan: »Alfred Andersch ist ein tüchtiger Manager, aber doch wohl ein Banause. Ich jedenfalls ertrage ihn kaum. Sympathisch ist seine Unverhohlenheit.«30 Beim Süddeutschen Rundfunk arbeitete Andersch anfangs eng mit Martin Walser zusammen, der bereits seit 1949 für den Sender tätig war.31 Schon im Oktober 1955 wurde er Assistent von Andersch beim »Radio-Essay«. Nachdem Walser und der Redakteur Martin Jedele, mit dem sich Andersch auch angefreundet hatte, innerhalb des SDR zum Fernsehen wechselten, übernahm der gerade 26-jährige Hans Magnus Enzensberger am 1. Oktober den Posten des Assistenten für ein monatliches Pauschalhonorar von 600 DM. Andersch hatte ihn bewusst als »zornigen jungen Mann«32 in der intellektuellen Öffentlichkeit platziert. Seine Tätigkeit ließ Enzensberger genügend Freiraum, weiter politische Gedichte und seine später auch in Zeitschriften und Büchern gedruckten Analysen der Konsum- und Mediengesellschaft zu schreiben. Zu seinen Abnehmern gehörten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Spiegel, deren Texte er zugleich mit feiner Ironie kritisierte.33 Nahezu das gesamte Frühwerk von Enzensberger war zunächst, nicht nur beim Süddeutschen Rundfunk, im Radio zu hören.34 Dennoch beklagte er sich Ende 1956: »Neben der Rundfunkredaktion habe ich einen Lehrauftrag in Ulm angenommen und verzettele mich nebenbei mit einer zu großen Zahl gelegentlicher Arbeiten für die verschiedensten Sender. So kann es nicht weitergehen.«35 Bald darauf verabschiedete sich Enzensberger von Andersch, um konzentrierter schreiben zu können. Nach einiger Suche gewann dieser Helmut Heißenbüttel, der zu dieser Zeit als Lektor und Werbeleiter im Hamburger Claassen Verlag arbeitete,
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es sich mit den Beziehungen von Ingeborg Bachmann zum BR; Sabine Rittner, »… und kein Manuskript ist gekommen«. Ingeborg Bachmanns Schriftwechsel mit dem Bayerischen Rundfunk, in: Literatur in Bayern, Nr. 88/89, 2007, S. 20-23. Rolf Schroers an Paul Celan, 8.11.1952, in: Paul Celan. Briefwechsel, S. 30. Zu den Anfängen von Walser beim Stuttgarter Sender vgl. Edgar Lersch/Reinhold Viehoff, Rundfunk, Politik, Literatur. Martin Walsers frühe Erfahrungen beim Süddeutschen Rundfunk zwischen 1949 und 1957, in: Hucklenbroich/Viehoff, Schriftsteller, S. 213-259; Wolfram Burckhardt, Intellektuelle und Politik. Jürgen Habermas – Martin Walser – Daniel Cohn-Bendit, Marburg 2002 (Microfiche-Ausgabe), S. 193 ff.; Arnold, Von Unvollendeten, S. 210 ff.; Rhys W. Williams, Alfred Andersch, Martin Walser and the Süddeutscher Rundfunk, in: German Monitor, Bd. 60, 2004 (Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective. Hrsg. von Stuart Parkes und Fritz Wefelmeyer), S. 35-47. Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999, S. 48 f. Vgl. das Sende-MS »Die Sprache des SPIEGEL«, der im SDR am 8.2.1957 gesendet wurde, in: AdsD, Nl. Fritz Eberhard, 1/FEAC 000004; s. II.4.3. Vgl. Lau, Enzensberger, S. 40 f.; vgl. auch Alasdair King, Hans Magnus Enzensberger. Writing, Media, Democracy, Oxford 2007. Hans Magnus Enzensberger an Joachim Moras, 20.11.1956, in: DLA, D: Merkur.
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als Nachfolger. Nach zwei Jahren, Anfang 1959, übernahm Heißenbüttel selbst die Leitung des Radio-Essays, bis die Sendung 1981 eingestellt wurde.36 Markante feuilletonistische Beiträge zur Kritik der elitären Massenverachtung lieferte der junge Jürgen Habermas. Im Handelsblatt wies er auf jene Nähe von faschistischer Ideologie und elitärem Denken hin, die ansonsten meist unerwähnt blieb. Hitler habe die Masse keineswegs geschätzt, sondern vielmehr »als einen sozial, charakterlich und intellektuell minderwertigen Haufen« verachtet. Dennoch grassiere die Vorstellung eines prinzipiellen Gegensatzes von Massenfeindlichkeit und Nationalsozialismus nach wie vor. »Sie muß endlich als eines der gefährlichsten Instrumente der Menschenverachtung erkannt werden.« Es gehe um die Aufklärung darüber, dass »jeder Apparat auf jeder seiner Stufen die Bereitschaft zum Massenverhalten« erzeuge. An der Veränderung dieser Bereitschaft sei zu arbeiten.37 Die Kritik der noch recht vage als apersonales System verstandenen technokratischen Apparate erschien in einer sich rapide modernisierenden und differenzierenden Gesellschaft jedenfalls ungleich plausibler als die traditionellen Masse-EliteDichotomien.38 Auch wenn sich intellektuelle Diskurse in relativer Autonomie entwickeln und keine simple Widerspiegelung gesellschaftlicher Tendenzen darstellen, die allgemeine Aufhellung der Ideenlandschaft bewirkte doch – in drei Richtungen – gravierende Diskursverschiebungen, die auf einen politischen Kern zurückzuführen sind. Zum ersten liberalisierte sich das Feld intellektueller Debatten. Liberalisierung steht dabei als Sammelbegriff für die Aufgabe eines antikommunistischen Frontstaatdenkens, in dem die Intellektuellen entweder als geistige Erfüllungsgehilfen oder unzuverlässige Kantonisten eingestuft wurden. Die Protagonisten dieser als »konsensliberal« oder demokratisch zu bezeichnenden Strömung strebten eine Modernisierung der Bundesrepublik an, für die die liberalen westlichen Gesellschaften das Vorbild darstellten. Wenn das gelänge, so wurde gefolgert, habe der Kommunismus keine Chance mehr. Dass dabei »der Westen« ähnlich verklärt wurde wie »das Abendland«, stellte sich ein Jahrzehnt später heraus. Zum zweiten erneuerte sich der Konservatismus, reinigte sich von antimodernistischen Schlacken und stellte sich in ostentativ nüchterner Sachlichkeit auf den Boden der modernen Gesellschaft. Die Abgrenzung von den dunkel raunenden Granden des Kulturkonservatismus fiel dabei kaum weniger radikal aus als bei den 36 Heißenbüttel erhielt als Leiter des »Radio-Essay« monatlich 1.250 DM und ein 13. Monatsgehalt, musste sich aber zugleich verpflichten, »seine ganze Arbeitskraft dem Süddeutschen Rundfunk zur Verfügung zu stellen«; Vertrag zwischen SDR/Dr. Hans Bausch und Helmut Heißenbüttel, 1.1.1959, in: AdK, Nl. Helmut Heißenbüttel, 590; nach drei Jahren erhöhte sich das Gehalt auf 1.700 DM. 37 Jürgen Habermas, Die Masse – das sind wir. Bildung und soziale Stellung kein Schutz gegen den Kollektivismus? Das Gift der Menschenverachtung, in: Handelsblatt, 29.10.1954. 38 Vgl. ders., Für und Wider: Der Mensch zwischen den Apparaten, in: Süddeutsche Zeitung, 6.9.1958.
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Protagonisten westlicher Liberalität, etwa bei den modernen Konservativen wie Hans Freyer oder Arnold Gehlen. Zum dritten politisierten sich die anfangs »nonkonformistischen« Intellektuellen, ein Vorgang, der etwa in der Gruppe 47 zum Ausdruck kam. Am Ende kam sogar der ausgeschlossene Marxismus im Gepäck der aus der DDR in den Westen geflüchteten Dissidenten wieder zurück und belebte die intellektuelle Szene.
4.1 Tendenzen der Liberalisierung Die Zunahme an Toleranz und die Erosion obrigkeitsstaatlicher Mentalität, die Mitte der 1950er Jahre erkennbar wurden, sind zusammenfassend als Liberalisierung charakterisiert worden.39 Allerdings wäre es ein Missverständnis, diese Liberalisierung mit der ideologischen Strömung oder gar dem Theoriegebäude des politischen Liberalismus gleichzusetzen. Es gab zwar deutsche Traditionen liberalen Denkens, die bei den Beratungen zum Grundgesetz im Parlamentarischen Rat zum Ausdruck gekommen waren. Die Gründung der Bundesrepublik erfolgte insofern – auch – »aus dem Geist des Liberalismus«.40 Aber dafür standen nicht nur die Liberalen, sondern ebenso die Sozialdemokratie und die Christdemokraten. Parteipolitisch oder als liberale Ideologie ist die Tendenz mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen, von zunehmender Toleranz beim Gespräch der christlichen Konfessionen mit weltlichen Partnern im Rahmen kirchlicher Akademien, der liberalen Wende der Wochenzeitung Die Zeit bis zu Konzepten der neuen Bundeswehr für den »Staatsbürger in Uniform«, nicht leicht zu greifen und in ein enges Liberalismus-Konzept einzupassen. Die Profilierung einer liberalen Partei ließ sich vor diesem Hintergrund kaum mehr bewerkstelligen; davon zeugten die divergenten Positionsbestimmungen für die Freie Demokratische Partei. Während die »Altliberalen« in den süddeutschen Ländern die FDP bei prinzipieller Koalitionstreue und Übereinstimmung in Fragen der Wirtschaft als bürgerliches Korrektiv zu klerikal-konservativen Kulturvorstellungen der CDU/CSU präsentieren wollten, versuchten »Rechtsliberale« ihrer Partei mit dem Zusammenklang von Kapitalismus, Nationalismus und Antisozialismus einen Platz rechts von der Union zuzuweisen, um für nationalkonservative bzw. nationalliberale Wähler attraktiv zu werden. Sozialliberale Ansätze gab es in der FDP kaum.41 Insgesamt ist von einem »theoriearmen Jahrzehnt der Liberalen« zu sprechen, auf Intellektuelle übte der politische Liberalismus in den 1950er Jah39 Programmatisch: Herbert, Liberalisierung. 40 Jens Hacke, Die Gründung der Bundesrepublik aus dem Geist des Liberalismus, in: Anselm Doering-Manteuffel/Jörn Leonhard (Hrsg.), Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 219-238. 41 Vgl. Jacob S. Eder, Liberale Flügelkämpfe. Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 64, 2016, S. 291-325.
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ren keine sonderliche Anziehungskraft aus.42 Der Liberalismus stand in den Gründerjahren der Bundesrepublik nicht im Schatten des Demokratiebegriffs, sondern einer antikommunistischen Freiheitspropaganda, die im abendländisch-konservativen Denkraum selbst illiberale Züge angenommen hatte.43 Liberalismus als akademische Denkströmung, wie sie um 1950 von Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek, Walter Eucken oder Alexander Rüstow in der internationalen Diskussion vertreten wurde, schien nicht viel mehr als »angewandte Nationalökonomie«44 zu versprechen. Und wenn sich ausgewiesene Liberale wie Wilhelm Röpke zu gesellschaftspolitischen Fragen öffentlich äußerten und zum Beispiel ländliche Siedlerstellen als Zukunftsmodell propagierten,45 waren sie nur noch für Kenner von konservativen Ideologen zu unterscheiden.46 Insofern wundert es nicht, dass der Liberalismus als eigenständiges Phänomen kaum im intellektuellen Feuilleton verhandelt wurde. Ausnahmen bildeten die Artikel des Publizisten Jürgen von Kempski, der wiederholt darauf hinwies, dass sich der Liberalismus als politische Ideologie in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Phase der Neuformierung befinde. Im Merkur erklärte er: »Der Liberalismus ist soviel Verbindungen eingegangen, daß weder Freund noch Feind mehr zu sagen weiß, was er selbst ist.«47 Seine ursprüngliche Tendenz, eine Harmonie der Menschen untereinander vorauszusetzen, sei wie die gesamte Aufklärung ein Irrtum gewesen, aber deshalb sei der Liberalismus keineswegs tot. Seit mehr als einem Jahrzehnt erlebe er vielmehr eine »politische und geistige Regeneration«, man pflege diese Bewegung als »Neoliberalismus« zu bezeichnen. Dieser wende sich nach wie vor gegen eine »kollektive Planung«, propagiere aber kein Laissez-faire, keinen rechts42 Lothar Albertin, Das theoriearme Jahrzehnt der Liberalen, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung, S. 659 43 S. Kapitel II.2.1. 44 Rolf Steltemeier, Liberalismus. Ideengeschichtliches Erbe und politische Realität einer Denkrichtung, Baden-Baden 2015, S. 295; vgl. zur Ideengeschichte des Neoliberalismus Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012. 45 Vgl. Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017, S. 70. 46 Vgl. (apologetisch) Roland Hahn, Die sozialphilosophischen Grundlagen des Ordoliberalismus und der geistige Einfluss Wilhelm Röpkes und Alexander Rüstows auf die Anfänge des deutschen Nachkriegsliberalismus, Phil. Diss. FU Berlin 1988; ders., Wilhelm Röpke, Sankt Augustin 1997; Josef Mooser, Liberalismus und Gesellschaft nach 1945. Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus am Beispiel von Wilhelm Röpke, in: Hettling/Ulrich, Bürgertum, S. 134-163. 47 Jürgen von Kempski, Zur Regeneration des Liberalismus, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 199203, Zitat S. 199; vgl. ders., Über den Liberalismus, in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 301-318; Jürgen von Kempski (1910-1998) studierte 1930-1935 (ohne Abschluss) Mathematik, Philosophie, Jura und Wirtschaftswissenschaften (u. a. bei Martin Heidegger und Carl Schmitt), betätigte sich bis 1939 als freier Schriftsteller, wurde Referent für Völkerrecht am Deutschen Institut für außenpolitische Forschung; nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und Publizist und wurde 1951 von Theodor W. Adorno promoviert.
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freien Raum.48 Dieser »Neoliberalismus«, verstanden als Lernprozess zur Abgrenzung vom klassischen Liberalismus vor 1933, der für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde, besaß eine positive Konnotation. Auf Hintergründe wie die Organisierung der akademischen Ideologen in der Mont Pèlerin Society ging Kempski nicht ein. Dort, auf einem Berg bei Vevey am Genfer See, trafen sich 1947 zahlreiche Experten zur Diskussion. Gemeinsame Basis bildete die Propagierung eines freien Unternehmertums und eines von staatlichen Gängeleien befreiten Wettbewerbs; der unparteiische Staat sollte die Funktion übernehmen, die darauf aufbauende gesellschaftliche Ordnung zu garantieren.49 Abseits der wirtschafts- und staatstheoretischen Diskussionen führte der Liberalismus als Gedankengebäude eine Randexistenz. Das gilt auch für die akademische politisch-philosophische Diskussion der 1950er Jahre, etwa das vor einigen Jahren als Zentrum liberalen Denkens entdeckte Collegium Philosophicum der Universität Münster, das von Joachim Ritter geleitet wurde. Aber hier handelt es sich doch um eine nachträgliche Erfindung liberalen Einflusses. Selbst in seinem Fach wurde der Hegel-Spezialist Ritter erst spät durch die Herausgabe des »Wörterbuchs der Philosophie« (seit 1971) bekannt. In den 1920er Jahren Marxist und befreundet mit Günther Anders, war er von Ernst Cassirer in Hamburg promoviert worden. Als Kern seiner Überlegungen in den 1950er Jahren und als eine seiner »wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten, wenn auch inhaltlich umstrittensten Leistungen«50 gilt die sogenannte Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften, die ihre Legitimation gegenüber der von den Naturwissenschaften geprägten Moderne durch den Aufweis der »Möglichkeit eines Wissens von seinem nicht mit der Gesellschaft identischen Sein« erhalten sollte.51 So wie die moderne Kunst seien die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften nicht auf Verwertbarkeit gerichtet, sondern trügen ihren Wert in sich selbst, nicht als Relikte einer vorindustriellen Epoche, sondern als notwendige Kompensation naturwissenschaftlich-technischen Denkens. Diese Denkfigur oszillierte zwischen liberalen und modernen konservativen Ideen, zumal Ritter die Verabsolutierung des Emanzipationsprinzips verwarf. Die Anerkennung der Aufklärung, wenn diese eine Balance zwischen Traditionskritik und -bewahrung einhalte, bot Ritters bunter Zuhörerschaft52 zahlreiche politische 48 Kempski, Regeneration, S. 200 f. 49 Vgl. Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der »Mont Pèlerin Society«, Stuttgart 2008; Philip Mirowski/Dieter Plehwe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009; Philipp Ther, Der Neoliberalismus, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte 5.7.2016. 50 Mark Schweda, Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt, Freiburg/München 2014, S. 154. 51 Zit. ebd., S. 163; vgl. Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, Münster 1963. 52 Das Collegium war aus Ritters Oberseminar 1947/48 hervorgegangen; mit zwölf bis zwanzig von ihm ausgewählten Studierenden und Doktoranden sollte hier auf der Basis gemeinsamer Lektüre klassischer Texte ein philosophisches Gespräch in Gang gebracht wer-
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Anknüpfungsmöglichkeiten. Die feine Differenz zu konservativen Positionen, die letztlich die Traditionsbewahrung in der technisch-industriellen Welt den Geisteswissenschaften überantworteten, wurde vor allem durch seine drei prominentesten Schüler – Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann – verwischt, die sich seit den späten 1960er Jahren als Vertreter einer Rekonstruktion des Konservatismus hervortaten.53 Ob Ritters Ansatz eine »liberalkonservative Begründung« enthielt oder ob es sich dabei gar um eine »selbständige, moderat liberale Position« handelte,54 ist schwer zu entscheiden. Festzuhalten ist aber, dass es sich bei der »Ritter-Schule« um eine Einrichtung handelte, die einigen Einfluss auf die Sozialisation später in der medialen Öffentlichkeit tonangebender Intellektueller gehabt haben mag, aber unter den Zeitgenossen nur Kennern des philosophischen Betriebs bekannt gewesen war.55 Geographisch lag sie in der Nähe von Plettenberg, dem Ort Carl Schmitts. Ritter und Schmitt unterhielten ein freundliches Verhältnis. Dieser wurde in Ritters Collegium eingeladen, um »mit einem Vortrag zu erfreuen, dessen Thema natürlich ganz Ihrer Wahl überlassen bleibt, wenn uns auch alles, was mit dem Umkreis ›Nomos‹ zu tun hat, besonders willkommen sein würde«.56 Es waren nicht Parteigänger einer theoretisch fundierten liberalen Gedankenwelt, die zu einer Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft beitrugen, sondern einige engagierte Publizisten und Schriftsteller, die mehr Offenheit für Kritik einforderten, weil sie die Kultur der Bundesrepublik als Ausdruck einer nachgerade hinterwäldlerischen Zurückgebliebenheit in der modernen Welt empfanden. Eine überraschende Pointe bestand darin, dass die politische Liberalisierung auf verschlungenen Wegen ihre Schubkraft aus dem Antikommunismus des Kalten Krieges bezog, der zu Beginn der 1950er Jahre als integrative Abwehrideologie gegen »den Osten« eher illiberale Züge aufwies.57 Aber neben diesem staatlich-offiziösen
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den, das sich durch geistige Offenheit auszeichnete; vgl. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 35 ff.; Mark Schweda, Freiheit und Bewahrung. Joachim Ritters philosophischer Liberalismus in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, Jg. 26, 2014, S. 393-425, hier S. 417. Ulrich Dierse, Joachim Ritter und seine Schüler, in: Philosophie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Bd. 1: Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzphilosophie und Kritische Theorie. Hrsg. von Anton Hügli und Paul Lübcke, Reinbek 1992, S. 237-278, hier S. 248 ff.; Schweda, Entzweiung, S. 163. Hacke, Philosophie, S. 14; zur philosophiehistorischen Kritik vgl. mehrere Rezensionen, darunter Herbert Schnädelbach und Hauke Brunkhorst, in der Zeitschrift für Philosophie, Jg. 55, 2007. In dieser Hinsicht könnte man den Einfluss mit dem Rothacker-Seminar an der Bonner Universität vergleichen, an dem sich Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel kennenlernten; Guillaume Plas, Die Schüler Erich Rothackers. Ableger historistischen Denkens in der deutschen Philosophie der Nachkriegszeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 54, 2012, S. 195-222. Joachim Ritter an Carl Schmitt, 6.1.1957, zit. nach Laak, Gespräche, S. 197; zum RitterCollegium dort S. 192-200. S. Kapitel II.2.1.
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Antikommunismus mit seinen Bindungen an die konservative Abendland-Ideologie artikulierte sich unter Intellektuellen Anfang der 1950er Jahre eine zweite, anfangs nicht leicht unterscheidbare antikommunistische Strömung. Gespeist wurde sie aus der frühen liberalen und sozialdemokratischen Kritik des Kommunismus in der Weimarer Republik, angereichert durch Exilerfahrungen, vor allem in der USGesellschaft. Eine Beglaubigung erfuhr der »linke« Antikommunismus durch biographische Erfahrungen früherer Mitglieder und Anhänger der KPD. Liberale und sozialdemokratische Intellektuelle agierten nicht weniger radikal gegen den Kommunismus als die Akteure konservativer Provenienz. In der 1948 gegründeten Zeitschrift Der Monat, ihrem wichtigsten Sprachrohr, war sogar ein präventiver Atomwaffeneinsatz gegen die Sowjetunion erwogen worden, bevor diese zu einem eigenen Angriff in der Lage sei.58 Die unversöhnliche Antikommunismus ehemals linkssozialistischer Remigranten zeigte sich nicht zuletzt im Bereich der Kultur. Erhebliches Aufsehen erregte im Bach-Jahr 1950 die Weigerung Fritz Eberhards, Intendant des Süddeutschen Rundfunks (SDR), die Ausstrahlung der Kantaten des Komponisten in einer Aufführung vom Leipziger Sender für den SDR zu übernehmen, obwohl die dortigen Verantwortlichen zugesichert hatten, die Aufnahme ohne propagandistische Zusätze zu liefern. Alle anderen Sender der ARD, zum Teil mit konservativer Intendanz, hatten das Angebot aus Leipzig akzeptiert, zumal die Kirchenleitungen darauf gedrängt hatten. Das ehemalige Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes erklärte den Hörerinnen und Hörern dagegen: »Wer dem Sender Leipzig die Hand reicht, der reicht sie dem unmenschlichen totalitären System, mit seiner Unterdrückung, seiner Polizei, seinen KZ’s. Für die klugen Propagandisten dieses Systems ist Bach’sche Musik in diesem Fall nur eine Geräuschkulisse für ihre Einheitspropaganda. Und wir wissen doch alle: Sie meinen die Einheit in Unfreiheit. Sie wollen letzten Endes ein grosses einheitliches bolschewistisches KZ für das ganze deutsche Volk.«59 Die bis zur Absurdität eifernde Polemik, für die spiegelbildlich Propaganda-Tiraden aus der DDR anzuführen wären, zeigt die spezifische Prägung des alle politischen Lager überwölbenden Antikommunismus in der Frühzeit der Bundesrepublik. Er markierte eine Grenze jedweder intellektuellen Kritik, schuf eine Atmosphäre des Dezisionismus und der Intoleranz. Wie aus der Stellungnahme Fritz Eberhards ersichtlich, wurde der Kampf gegen den Kommunismus auch von linken und libe-
58 Bertrand Russell, Der Weg zum Weltstaat, in: Der Monat, Jg. 1, 1949, H. 1, S. 4-8; vgl. zu dieser Kampagne Hochgeschwender, Freiheit, S. 205 f. 59 Erklärung des Intendanten Fritz Eberhard, SDR, gesendet am 1.3.1950, 21.50-22.00, in: AdsD, Nl. Fritz Eberhard, 1/FEAC000011; vgl. zum Kantatenstreit auch Konrad Dussel, Die Interessen der Allgemeinheit vertreten. Die Tätigkeit der Rundfunk- und Verwaltungsräte von Südwestfunk und Süddeutschem Rundfunk 1949-1969, Baden-Baden 1995, S. 314 ff.
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ralen Intellektuellen als totaler kultureller und geistiger Krieg angesehen, in dem den Medien eine überragende Bedeutung zukam. Intellektuelle wirkten in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt beim Rundfunk, auch als Lobbyisten in eigener Sache. Mit dem Argument, man dürfe kein Vakuum entstehen lassen, in das kommunistische Propaganda einströmen könne, und der Notwendigkeit aufklärerischer Programme für die Bewohner der »Zone« wurde regelmäßig der technische Ausbau des Sendebetriebs begründet. Adolf Grimme führte bei der Einweihung des NWDR-Funkhauses Hannover aus, dass von dort aus der »Geist der Freiheit und der freien Meinungsäusserung unseren Brüdern drüben«60 mitgeteilt werden würde. Wie rabiat die Ausgrenzung auch derjenigen Intellektuellen erfolgte, die in der DDR nur noch eine Außenseiterrolle spielten, zeigt die Behandlung des einstigen Nationalrevolutionärs Ernst Niekisch. Während seiner Haftzeit von 1937 bis 1945 war er misshandelt worden und nahezu erblindet. Der Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls der Ost-Berliner Humboldt-Universität korrespondierte mit zahlreichen westdeutschen Intellektuellen, von Ernst Jünger bis Karl Korn. 1955 trat er aus der SED aus, 1963 siedelte er nach West-Berlin über. Gerhard Szczesny musste 1949 eine Diskussion über Karl Marx im Bayerischen Rundfunk absagen, weil die als Kontrahenten von Niekisch vorgesehenen Franz Borkenau, ein früherer Kommunist und Remigrant, sowie Carlo Schmid, maßgeblicher sozialdemokratischer Kulturpolitiker, sich nicht mit ihm an einen Tisch setzen mochten. Dies wäre nach Aussage von Borkenau erst dann möglich gewesen, »wenn in der Ostzone kein kommunistisches Terror-Regime mehr herrsche«. Sowohl Borkenau als auch Schmid zählten zu jenen Intellektuellen, die man als Vertreter einer westlich-liberalen Öffnung der Bundesrepublik ansehen kann. Szczesny betonte, er könne sich den »beiden Herren nicht anschließen«, verstehe ihren Standpunkt aber gleichwohl.61 Am 17. Juli 1953 hatte Niekisch eine Einladung zum Darmstädter Gespräch erhalten, dessen Thema »Individuum und Organisation« lautete. Nach seiner Zusage erhielt er am 17. September eine höflich verklausulierte Ausladung; es seien bereits zu viele Referenten vorgesehen, so dass der Zeitrahmen seine Beteiligung nicht zulasse. Niekisch antwortete mit bitterer Ironie: »Da ich liberal genug bin, keine Diskussion zu scheuen und jedem, der seinen Standpunkt qualitativ zulänglich vertritt, aufmerksam zuzuhören, entschloß ich mich seinerzeit, Ihre Einladung anzunehmen. Es ist für mich nicht ohne Reiz festzustellen, daß ich, der Mann, welcher dem Umkreis des deutschen Ostens 60 Rede zur Einweihung des NWDR-Funkhauses Hannover von Adolf Grimme, Entwurf von Jürgen Eggebrecht, Januar 1952, in: Archiv Monacensia, Nl. Jürgen Eggebrecht, JE M 88; die schließlich gehaltene Rede vom 20.1.1952 ebd., JE B 344; zur Begründung mit der Systemkonkurrenz beim Ausbau des Rundfunks vgl. Schildt, Zeiten, S. 253, 260. 61 Gerhard Szczesny an Ernst Niekisch, 6.9.1949, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 a; Clemens Münster an Walter Dirks, 16.9.1949, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 42 A.
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angehört, die Veranstalter des ›Darmstädter Gesprächs‹ an Liberalität des Geistes übertreffe.«62 Obwohl Niekisch unter Eingeweihten bereits als Dissident galt, wiederholte sich 1954 die Ausladung von einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, diesmal war es das Fernsehstudio des NWDR. Er war von Klaus Besser nach Hamburg eingeladen worden, um mit dem Redakteur Rüdiger Proske über sein bei Rowohlt erschienenes Buch »Das Reich der niederen Dämonen«, Charakterporträts der führenden Nationalsozialisten, zu sprechen. Die Sendung sollte am 20. Januar 1954 von 20.25 bis 20.40 Uhr ausgestrahlt werden, um 18.00 Uhr war eine Vorbesprechung vorgesehen. Als er im Studio erschien, wurde ihm eröffnet, Proske, mit dem er noch zwei Stunden zuvor telefoniert hatte, sei erkrankt, die im Programm angekündigte Sendung müsse ausfallen. Die Antwort auf Niekisch’ Brief an den Generaldirektor des NWDR, Adolf Grimme, bestätigte nur den Verdacht einer Intervention in letzter Minute. Grimme bedauerte darin die plötzliche Absage, nachdem man Niekisch nach Hamburg gebeten hatte, er sei aber schon lange gegen die Einladung gewesen. Beigelegt hatte er einen Brief an einen Cousin von Niekisch, den Marburger Theologieprofessor Georg Wunsch, der sich über die Absetzung der Sendung beschwert hatte. Hier hatte sich Grimme zu der Aussage verstiegen, es sei nicht die Aufgabe des NWDR, »dies Instrument einer freien Publizistik einem ausgesprochenen Verfechter des Systems der Unfreiheit zur freien Benutzung zur Verfügung zu stellen«.63 Die Freiheit der jeweils anderen, bezog sich Niekisch in einem zweiten Brief auf Rosa Luxemburg, werde in Westdeutschland »ebenso wenig geachtet« wie in der DDR. In Deutschland habe man offenbar nur noch die Wahl, »entweder Amerikaner oder Russe« zu sein, wer »mit Entschiedenheit noch eine eigentliche deutsche Position wahren will, verfällt über kurz oder lang hoffnungsloser Vereinsamung«. Mit einiger Bitterkeit hielt Niekisch fest: »Es war dem NWDR vorbehalten, mir die schäbige Behandlung zuteil werden zu lassen, die ich ungeachtet meines schwerbeschädigten körperlichen Zustandes im Studio des Sehfunks des NWDR erfuhr. (…) Ich weiß authentisch, daß an jenem Abend des 20. Januar zur angegebenen Stunde der Ministerpräsident Grotewohl vor dem Sehfunk saß. Der Umstand, daß die Sendung einfach abgesetzt und die Programmänderung überhaupt nicht bekanntgegeben worden war, war Wasser auf die östlichen Mühlen.«64 Wie an der Behandlung von Niekisch ablesbar, bildete die von den Regierungen und staatlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Institutionen beider Seiten betriebene hermetische Abschottung von West- und Ostdeutschland einen wichtigen Aspekt 62 Darmstädter Gespräch an Ernst Niekisch, 17.7.1953, 17.9.1953; Ernst Niekisch an Darmstädter Gespräch, 22.7.1953, 22.9.1953, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 b; vgl. Niekisch, Gegen den Strom, S. 258 f. 63 Zit. nach ebd., S. 259. 64 Ernst Niekisch an Adolf Grimme, 22.1.1954, 8.6.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 b.
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der Intellektuellengeschichte der frühen 1950er Jahre. Es gehörte zum weitgehend geteilten antikommunistischen Konsens der bundesrepublikanischen Intellektuellen, das Gespräch mit ostdeutschen Schriftstellern und Publizisten, die sich im Kalten Krieg gegen die westliche Seite stellten, zu beenden. Diese Position nahmen auch jene Intellektuellen ein, die mit der konservativ-abendländischen Propaganda nichts anzufangen wussten. Die DDR galt ganz allgemein als eine russische Satrapie: »Sowjet-Zone«, »Pankow«, »Ulbricht-Regime« oder »russisches KZ-System« waren gebräuchliche Bezeichnungen, geographisch durfte in der Öffentlichkeit nicht von »Ost-«, sondern nur von »Mitteldeutschland« gesprochen werden. Der Abbruch aller Gesprächsbeziehungen, der der Logik des Kalten Krieges folgte und von beiden Seiten – ungeachtet der ostdeutschen nationalen Einheitspropaganda – betrieben wurde, ließ sich allerdings nur allmählich durchsetzen, kannten sich doch viele der nun in getrennten Staaten lebenden Schriftsteller noch aus der Zwischenkriegszeit oder aus dem Exil und sprachen die gleiche Sprache. Eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen der literarischen Prominenz aus Ost- und Westdeutschland tobte im zunächst gesamtdeutschen PEN-Zentrum, dessen Spaltungsprozess sich über einige Jahre – von 1948 bis 1951 – hinzog.65 Als Hauptakteure auf westlicher Seite traten besonders Günther Birkenfeld, Rudolf Pechel und Theodor Plivier hervor. Plivier, der aus sowjetischem Exil 1945 in die SBZ gekommen war und in Weimar wichtige Funktionen im Kulturbereich innehatte, wechselte im Oktober 1947 nach München. Auf dem Zweiten Deutschen Schriftstellerkongress in Frankfurt am Main am 18. und 19. Mai 1948, zu dem keine Teilnehmer aus der SBZ anreisten, hatte er einen gefeierten Auftritt.66 Auch Birkenfeld hatte seine Zusammenarbeit mit dem kommunistisch geleiteten Kulturbund erst mit dem beginnenden Kalten Krieg aufgegeben. Sie argumentierten gemeinsam, dass ein kommunistischer Schriftsteller seine Ideologie gar nicht mit den auf dem hohen Gut der Meinungsfreiheit basierenden Statuten des PEN vereinbaren könne.67 Das zielte vor allem auf den ehemaligen Expressionisten und nunmehrigen SED-Kulturfunktionär Johannes R. Becher, der im November 1949 neben Hermann Friedmann und Erich Kästner zum Mitpräsidenten gewählt worden war. Becher war nicht nur für Pechel ein rotes Tuch.68 Ernst Jünger bezeichnete ihn in einem Brief an Alfred Andersch als »bezahlten Zuhälter des Bolschewismus«,69 in 65 Hanuschek, Geschichte; Bores, P. E.N.-Zentrum. 66 Waltraud Wende-Hohenberger (Hrsg.), Der Frankfurter Schriftstellerkongreß im Jahre 1948, Frankfurt a. M. u. a. 1989; Forner, German Intellectuals, S. 226 ff. 67 Zur führenden Rolle Pechels auf der westdeutschen Seite vgl. Hanuschek, Geschichte, S. 45 ff. 68 Vgl. Christine Malende, Zur Vorgeschichte eines öffentlichen Briefwechsels zwischen Johannes R. Becher und Rudolf Pechel im Dezember 1950, in: Hanuschek/Hörnigk/Malende, Schriftsteller, S. 197-234. 69 Ernst Jünger an Alfred Andersch, 17.12.1949, in: DLA, A: Ernst Jünger; ein langjähriger Streitpunkt zwischen Jünger und Andersch lag in der Frage, ob die Kommunisten von Anfang an, so Jünger, oder erst im Laufe ihrer Geschichte korrumpiert wurden.
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einem Schreiben an Gottfried Benn meinte er: »Es beleuchtet den Pen-Club, dass er in ganz Eurasien keinen anderen Praesiden finden konnte, als diesen geistigen KZ-Vorstand.«70 Karl Korn äußerte sich gegenüber Ernst Niekisch indigniert über den DDR-Barden, der im »Simpelstton« vom Frieden rede.71 Rudolf Pechel drückte in einem Artikel in der Deutschen Rundschau im März 1950, in dem das düstere Terror-Regime in der Ostzone mit dem »Dritten Reich« gleichgesetzt wurde, auch seine Verachtung der dortigen Intellektuellen aus: »Wie einst im Kampf gegen Hitler versagen allen anderen voran wiederum die Intellektuellen, die zu schwach sind, um entweder ganz böse oder ganz gut zu sein. Das Gefühl der eigenen Unfreiheit versuchen sie, soweit sie willige Diener Moskaus sind, zu verbergen – entweder durch krampfige Unverschämtheit oder durch hilfloses Gestammel. Es ist schwer, mit Menschen im Gespräch zu bleiben, die auf ihre geistige Unabhängigkeit verzichtet haben. Wir verstehen ihr Schweigen, obwohl Schweigen zu Verbrechen mitschuldig macht. Trotzdem halten wir die Tür für sie offen, weil einfach eine Plattform gerettet werden muß, auf der geistige Menschen sich noch treffen können außerhalb der politischen Sphäre.«72 Diese Stellungnahme war typisch im noch nicht restlos vollzogenen Trennungsprozess der west- und ostdeutschen Schriftsteller. Man mochte nicht zugeben, dass man selbst die Absicht hatte, das Gespräch gänzlich aufzukündigen. Dass es sich um eine taktische Äußerung handelte, zeigt ein Schreiben, das Pechel zur gleichen Zeit verschickte. Darin wandte er sich energisch gegen eine Einladung ostdeutscher Kollegen nach München, um über die »Ziele des Nationalsozialismus und seiner Stellung zur Freiheit des Geistes« zu diskutieren. Hier gebe es nur »ein klares Nein zu jeder Verbindung mit Vertretern der Gewalt, der geistigen Unfreiheit und des Terrors«.73 In einem Offenen Brief am Jahresende sagte er Becher offen »Lebewohl«, eine »endgültige Abschiednahme«.74 Becher machte es seinen Gegnern im PEN-Zentrum leicht, indem er sie in einem Artikel »Die gleiche Sprache« im Aufbau mit wüster Polemik und einer Hasstirade bedachte: »Wir hassen diese Leute nicht nur, die sich zu den Schreibern der Kriegshetzer erniedrigt haben, wir empfinden auch Abscheu und Ekel vor diesem antibol70 Ernst Jünger an Gottfried Benn, 19.12.1949, in: Gottfried Benn – Ernst Jünger. Briefwechsel 1949-1956. Hrsg., komm. und mit einem Nachwort von Holger Hof, Stuttgart 2006, S. 14. 71 Karl Korn an Ernst Niekisch, 24.2.1951, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 72 Rudolf Pechel, Land im Dunkel, in: Deutsche Rundschau, März 1950, zit. nach ders., Deutsche Gegenwart. Aufsätze und Vorträge 1945-1952, Darmstadt/Berlin 1953, S. 174-182, Zitat S. 178. 73 Rudolf Pechel an Max Stefl, 25.3.1951, in: Archiv Monacensia, Nl. Max Stefl, MSt B 335. 74 Rudolf Pechel, Die Entscheidung des freien Geistes, in: Die Neue Zeitung, 31.12.1950, zit. nach ders., Deutsche Gegenwart, S. 213-217.
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schewistischen Gesindel, widerwärtig ist uns das Geschwätz dieser kriminellen Clique von der Freiheit der Persönlichkeit (…). Wir wollen nichts mehr wissen von Euch, Euch weder sehen, noch hören.«75 Es waren gerade Ex-Kommunisten, die einerseits besonders radikalen Auffassungen im antikommunistischen Spektrum anhingen und andererseits von der SED-Propaganda als kriminelle Verräter moralisch stigmatisiert und zum verächtlichen Feind gestempelt wurden; dass Becher mit Arthur Koestler und dessen Familie eng befreundet gewesen war, fand keine Erwähnung. Letztlich hatte Becher mit seiner Suada selbst bestätigt, dass es eine Intellektuellenorganisation wie das gesamtdeutsche PEN-Zentrum, in dem Kommunisten und Antikommunisten miteinander diskutierten, nicht mehr geben sollte. Nachdem Theodor Plivier Ende 1951 mit großem Aplomb ausgetreten war, gerieten die vermittelnden Kräfte, darunter Erich Kästner, unter öffentlichen Druck. Letztlich ging es nur noch um die Frage, wem die Schuld an der Spaltung des PEN zugeschoben werden könne. Dabei griff sogar das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen 1951 mit einer Broschüre ein. Sie trug den Titel: »Die Freiheit fordert klare Entscheidungen. Johannes R. Becher und der PEN-Club« und war eine plumpe, mit zahlreichen Falschbehauptungen gespickte Propaganda-Attacke.76 Die Antwortbroschüre aus der DDR, ebenso grobschlächtig, wurde vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands verantwortet und hieß: »Standort des deutschen Geistes. Oder: Friede fordert Entscheidung. Johannes R. Becher und der PEN-Club. Eine Antwort«.77 Die Titelgebung im Broschürenkrieg signalisierte, worum es ging: um das antagonistische Verständnis von Frieden und Freiheit im Kalten Krieg und damit um einen Stellvertreterstreit, den die Literaten beider Seiten ausfochten; zugleich ging es aber auch um die restlos unterschiedliche Rolle der Intellektuellen in der Bundesrepublik und der »Intelligenz« in der DDR, die nach marxistisch-leninistischer Lehre keine »Seele«, kein »unveräußerliches, individuelles Bewußtsein (habe), das sich im Gewissen manifestiert«. Die Intelligenz des Ostens, so sah es Rolf Schroers, ein Angehöriger der Gruppe 47, sei nicht »frei schweifend, spekulativ und selbstherrlich, sondern streng zweckgebunden«, sie sei zu charakterisieren als »Meisterleistung progressiver Anpassung an ein kollektives Bewußtsein« und verfüge über keinen »offenbaren Humor«; der »westliche Intellektuelle lebt ja mit Liebe und Abscheu hier, in dieser freien, westlichen Welt, und nicht drüben, wo es keinen Abscheu mehr außer diesem vor dem Westen gibt«.78 75 Zit. nach Bores, P. E.N.-Zentrum, S. 87 f. 76 Zu den Unrichtigkeiten vgl. Jens-Fietje Dwars, Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie, Berlin 2003, S. 206 ff. 77 Bores, P. E.N.-Zentrum, S. 124 ff. 78 Rolf Schroers, Rote Dialektik. Zur psychologischen Situation der Intelligenz hinter dem Eisernen Vorhang (MS, 16 Seiten für »Abendstudio«, o. D., ca. 1952/53), in: LA NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 73; in diesem Text wird »sowjetisch« und »kommunistisch« synonym gebraucht und auch nicht zwischen der Situation in der Sowjetunion und der DDR unterschieden.
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Angesichts solcher Betonung der wesensmäßigen Verschiedenheit der Intellektuellen hinter dem Eisernen Vorhang, denen definitorisch jede Individualität abgesprochen wurde, erscheint es müßig, darüber zu streiten, wer nun im Einzelnen die Spaltung des PEN-Zentrums wie energisch beförderte, das bis dahin 74 Mitglieder, darunter 14 aus Ostdeutschland, zählte. Zur letzten gemeinsamen Sitzung in Düsseldorf am 23. Oktober 1951 kamen von diesen etwa die Hälfte, aus Ostdeutschland unter anderen Stephan Hermlin, Johannes R. Becher, Peter Huchel, Hans Mayer und Arnold Zweig. Der Generalsekretär des PEN-Zentrums hatte »durch eindringliche Interventionen bei den Behörden die Einreise in das Bundesgebiet sowie den Aufenthalt in Düsseldorf erwirkt«.79 Schon dieser Umstand zeigt die aufgeladene Stimmung des Kalten Krieges. Wenn man dem Bericht eines namentlich nicht genannten »angesehenen Mitglieds« des PEN über diese letzte gemeinsame Sitzung folgt, ergaben die vielen Abstimmungen immer sehr knappe Mehrheiten, weil die westdeutschen Autoren im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl »kläglich schwach vertreten« waren: »Ein beschämendes Bild. Auf der einen Seite strammste militärische Disziplin; jeder steht mit weltanschaulich gepacktem Tornister bereit und tritt an. Auf der anderen (westlichen; A. S.) Seite Indolenz, Lauheit oder Schwanken.«80 Am Ende wählten die Delegierten Johannes R. Becher zum Präsidenten. Die westdeutschen »Sezessionisten« erklärten anschließend auf einer Pressekonferenz, sie würden nun ein eigenes PEN-Zentrum gründen. Dieses konstituierte sich im Darmstädter Haus der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 3. und 4. Dezember 1951 und wählte Erich Kästner zu seinem Präsidenten, Kasimir Edschmid wurde Generalsekretär, im Beirat saßen unter anderen Hermann Kasack und Rudolf Alexander Schröder; diese personelle Konstellation blieb die 1950er Jahre über konstant.81 Sollten sich mit der Spaltung aber Hoffnungen verbunden haben, der westdeutsche PEN-Club würde nun zu einer staatsloyalen Institution, so wurden diese rasch enttäuscht. Der rechtskonservative Publizist und spätere Generalsekretär der Vereinigung, Rudolf Krämer-Badoni, hatte häufig Anlass, gegen jene »Club-Genossen« zu polemisieren, »die immer nur nach rechts blicken und Wolken sehen, im Osten dagegen eine wenn auch vorläufig verdunkelte Sonne aufgehen zu sehen glauben«.82
79 Protokoll der Tagung des PEN-Zentrums Deutschland in Düsseldorf, 23./24.10.1951, in: Archiv AdK, PEN West, 86. 80 Die Sezession im deutschen PEN-Club, in: Neue Zeitung, 27./28.10.1953. 81 Martin Gregor-Dellin/Elisabeth Endres (Hrsg.), P. E.N. – Schriftstellerlexikon Bundesrepublik Deutschland, München 1982, S. 178; Kästner war auf der letzten gemeinsamen Sitzung der beiden PEN-Zentren nicht anwesend; Hans Mayer vermutete in seinen Erinnerungen, er habe mit der Spaltung nicht in Zusammenhang gebracht werden wollen; Mayer, Deutscher II, S. 69 f. 82 Rudolf Krämer-Badoni an Kasimir Edschmid, 5.11.1956, in: DLA, A: Kasimir Edschmid.
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Zugleich hielt die kommunistische Seite den propagandistischen Anspruch aufrecht, eine gesamtdeutsche Organisation zu führen; auf ihrer geheimen Mitgliederliste, die Erich Kästner zugespielt wurde, standen 29 Namen von Schriftstellern aus der DDR und 30 aus der Bundesrepublik, darunter allerdings eine ganze Reihe von Personen, die sich entweder nachweislich zum West-PEN bekannten, wie Carl Zuckmayer, Gustav Regler, Walter Mehring und Ludwig Marcuse, oder gänzlich unbekannt waren. Gerungen wurde von den beiden Zentren um die Hamburger Gruppe, Hans Erich Nossack, Axel Eggebrecht und Günther Weisenborn, der Kästner aufsuchte, um über einen möglichst unspektakulären Übertritt zum WestPEN zu beraten.83 Der nach der Abspaltung des West-PEN verbliebene, nun ostdeutsch dominierte PEN-Club, der 1953 in Deutsches PEN-Zentrum Ost und West umbenannt wurde, um seinen gesamtdeutschen Anspruch zu betonen, traf sich zu Tagungen in Hamburg, West-Berlin oder München. Die für Anfang 1953 anberaumte Generalversammlung in München wurde allerdings im Vorfeld von den Behörden verhindert. Im gleichen Jahr wurde Bertolt Brecht als Bechers Nachfolger gewählt, 1957, nach Brechts Tod, folgte ihm Arnold Zweig. Letzte namhafte Mitglieder aus der Bundesrepublik verließen Ende der 1950er Jahre das Deutsche PEN-Zentrum Ost und West. In den 1950er Jahren lief die Produktion von klandestin jeweils über die Grenze expedierten propagandistischen Kleinschriften, deren Zahl zusammen mindestens 5.000 Titel umfasste, auf hohen Touren.84 Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass die Geschäftsbeziehungen zwischen einzelnen Verlagen beider Seiten aufrechterhalten wurden und zumindest im Bereich der Belletristik ein rudimentärer Literaturaustausch erhalten blieb.85 1956 erschienen Heinrich Bölls »Wo warst du, Adam?« und Wolfgang Koeppens »Der Tod in Rom«, ein Jahr später auch das Gesamtwerk Wolfgang Borcherts als Lizenzausgaben in der DDR. Anna Seghers’ »Das siebte Kreuz« kam 1950 bei Rowohlt und im Verlag von Kurt Desch heraus. Bertolt Brecht stand bei Suhrkamp unter Vertrag. Westdeutsche Buchhändler und Leser, die sich für Texte aus der DDR interessierten, setzten sich allerdings nicht selten polizeilicher Überwachung aus, mitunter auch staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen.86 Der Abgrenzung vom kommunistisch beherrschten Ostdeutschland entsprachen die Ausgrenzung und Unterdrückung der kommunistischen Partei im eigenen 83 Hanuschek, Geschichte, S. 36, 99; leider sind die literaturhistorischen Arbeiten zu Kästner für diesen Abschnitt seiner Biographie unergiebig. 84 Klaus Körner, Politische Kleinschriften der Adenauer-Zeit (1945-1967), in: Aus dem Antiquariat, Jg. 5, 1988, S. 197-209. 85 Julia Frohn, Literaturaustausch im geteilten Deutschland 1945-1972, Berlin 2014, S. 51 ff. 86 Vgl. Helmut Peitsch, Nachkriegsliteratur 1945-1989, Göttingen 2009, S. 117 ff.; die Begrenzung kultureller Freiheit durch polizeiliche und geheimdienstliche Restriktionen ist erst in den letzten Jahren verstärkt thematisiert worden; vgl. Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012; Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013.
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Land, die als fünfte Kolonne des Feindes angesehen wurde. Dass die Gefahr durch die KPD aus durchsichtigen Interessen krass übertrieben wurde, ist bereits dargestellt worden.87 Kritik an der Zweckmäßigkeit des Verbots, das der KPD half, ihren Erosionsprozess zu verbergen, blieb wenigen politischen und juristischen Experten vorbehalten, darunter Wolfgang Abendroth, damals Mitglied der SPD, der seine Generalkritik in der Zeitschrift für Politik Ende 1956 apodiktisch einleitete: »Das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands entsprach keiner politischen Notwendigkeit. Es widersprach der politischen Vernunft.«88 In der ersten Hälfte der 1950er Jahre gab es aber nur wenige Publizisten, die die Verfolgung der Kommunisten kritisch kommentierten und dabei Verbindungen zum McCarthyismus in den USA herstellten. Einer der profiliertesten war Ernst Müller-Meiningen jr. von der Süddeutschen Zeitung.89 Scharf kritisierte er das rechtsstaatlich fragwürdige Strafrechtsänderungsgesetz, das sogenannte Blitzgesetz von 1951, auf dessen Basis etwa 125.000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden.90 Das Urteil – fünf Jahre Zuchthaus – gegen Jupp Angenfort wegen illegaler Arbeit für die verbotene kommunistische Jugendorganisation FDJ verglich er in der Süddeutschen Zeitung mit der Terrorjustiz von Hilde Benjamin in der DDR.91 Das KPD-Verbot war für Müller-Meiningen ein »Anachronismus«; er wies darauf hin, dass die Bundesrepublik der einzige demokratische Staat in Europa sei, in dem die Kommunisten nicht mehr legal existierten, wies auf ihre Verfolgung durch das NS-Regime hin und forderte eine »baldige großzügige Amnestie für die bisherigen kommunistischen Mitläufer«. Vor allem aber dürften jetzt 87 S. Kapitel II.2.1. 88 Zit. nach dem Abdruck in: Wolfgang Abendroth, Gesammelte Schriften, Bd. 3: 1956-1963. Hrsg. von Michael Buckmiller, Hannover 2013, S. 109-132; Abendroth begründete diese Aussage nicht zuletzt damit, dass die Verfolgungsbehörden mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt waren, die bereits im »Dritten Reich« gegen kommunistische Widerstandskämpfer vorgegangen waren; in der sozialdemokratischen Publizistik wurde ansonsten nur darauf hingewiesen, dass die Kommunisten als legale Partei besser zu bekämpfen wären. Leichte Zweifel an der politischen Zweckmäßigkeit des Urteils für den Kampf gegen den Kommunismus ließen auch Kommentare der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erkennen, in denen zugleich die verfassungsrechtliche Legitimität gegen jede Kritik verteidigt wurde; Hans Baumgarten, Ein Urteil, das kommen mußte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.8.1956; Hanns Schmidt, Kurzes Ende eines langen Prozesses, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.8.1956. 89 Ernst Müller-Meiningen jr., Kommentare von gestern und heute, München 1966, S. 124141. 90 Vgl. dazu den Briefwechsel mit einem empörten FDP-Politiker; Thomas Dehler an Ernst Müller-Meiningen, 6.9.1951; Ernst Müller-Meiningen an Thomas Dehler, 11.9.1951, in: BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen jr., 446. 91 Die langandauernde gerichtliche Auseinandersetzung auf Grund einer Anzeige wegen Beleidigung des Präsidenten des Bundesgerichtshofes, Josef Weinkauf, eines fanatischen Abendland-Ideologen, endete 1957 mit einem Vergleich, in dem Müller-Meiningen jr. den kränkenden Vergleich mit Hilde Benjamin bedauerte; vgl. die Unterlagen in BHStA München, Nl. Ernst Müller-Meiningen jr., 32, 33, 402.
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nicht »Unbequeme kurzerhand als Kommunisten diskriminiert und unter Verfolgung« gestellt werden.92 Diese kritische Stimme blieb im liberalen Spektrum eine Ausnahme. Selbst der bereits erwähnte Club republikanischer Publizisten, eine Ausgründung des Grünwalder Kreises,93 die Hans Werner Richter 1956 initiiert hatte und in dem sich linksliberale und linke Intellektuelle sammelten, um die Bürgerrechte gegen autoritäre und neonazistische Tendenzen zu verteidigen, mochte sich nicht zu einem Protest entschließen.94 Zu Beginn des Jahrzehnts konnten sich die meisten Intellektuellen immerhin noch darüber verständigen, dass man den Kommunismus als gefährlichen Feind sah, der den dämonischen Nationalsozialismus beerbt hatte. Aber es gab von Anfang an keine Einigkeit darüber, ob es sich bei der Gegenposition des Antikommunismus um eine »Position, Haltung oder Ideologie«95 handeln sollte. Während die zunächst tonangebende konservative Seite immer wieder betonte, man müsse der Ideologie des Ostens eine ebenso kraftvolle westliche Ideologie gegenüberstellen, mit der implizit autoritäre Ordnungsmuster gemeint waren, wandten sich liberale Intellektuelle gegen diese Vorstellung, weil man sich damit mit dem Feind auf eine Ebene begeben würde. Allein die Entfaltung einer freien, demokratischen Gesellschaft ohne verbindliche Ideologie werde die westliche Überlegenheit erweisen. Insofern leitete letztlich der »optimistische Glaube an die umfassende Vernunfthaftigkeit des Menschen«96 die freiheitlich-liberalen Positionen. Diese Verweigerung einer einheitlich ausgerichteten Kampfgemeinschaft ergab sich schon aus der Deutung des Kommunismus als totalitärer Macht.97 Mit einer kohärenten Gegenideologie würden bei der Bekämpfung des Feindes nur dessen totalitäre Methoden übernommen. Nicht das Überbieten des Gegners in der Radikalität seiner Kampfesweise erweise die Überlegenheit des Westens, sondern dessen Wirkung als Konsumgesellschaft mit wachsendem Wohlstand für breite Massen und als stabile Demokratie. Der Schriftsteller Theodor Plivier drückte diesen immer wieder propagierten Gedanken sehr einfach aus: »Nur mit den gleichzeitigen Bemühungen um die Hebung des Lebensstandards kann der Kampf für die kulturelle Freiheit 92 Ernst Müller-Meiningen jr., Vor Hexenjagd wird gewarnt, in: Süddeutsche Zeitung, 18.8.1956. 93 S. Kapitel II.3.3. 94 In der Nummer vom August 1956 des CrP-Informationsdienstes gab es stattdessen einen Artikel über die »KP-Tarnpresse« in der Bundesrepublik, und in der Nummer vom September wurde das Ergebnis einer Allensbach-Umfrage abgedruckt, wonach 55 Prozent der Bundesbürger das Verbot begrüßten; in: LA NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 925. 95 Bernd Faulenbach, Erscheinungsformen des »Antikommunismus«. Zur Problematik eines vieldeutigen Begriffs, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Bd. 19, 2011, S. 1-13, Zitat S. 1. 96 Hochgeschwender, Freiheit, 71. 97 Für die extensive Thematisierung der totalitären Gefahr des Kommunismus und des dagegen kaum beachteten totalitären Nationalsozialismus vgl. Joachim Gmehling, Kritik des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus in der Zeitschrift »Der Monat«, WiSo. Diss. Universität Hamburg 2010.
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erfolgreich sein.«98 Der Westen war überlegen, weil er modern war und über eine plausible Modernisierungstheorie verfügte.99 Diese Botschaft sollte ausreichen. Auch im künstlerischen Bereich verwandelte sich die einstmals von Konservativen als »Kulturbolschewismus« stigmatisierte internationale Moderne damit in ein antikommunistisches Argument.100 Es gab wohl keinen Zeitraum, in dem das Eintreten für eine Liberalisierung der politischen Kultur der eigenen Gesellschaft so eng mit der Verklärung eines liberal imaginierten Westens zusammenfiel wie in den Gründerjahren der Bundesrepublik. Die Verteidigung individueller Freiheit gegenüber den totalitären Ansprüchen des Stalinismus stand im Mittelpunkt ihres Denkens. Von der Dramatik des Antikommunismus jener Zeit zunächst verdeckt, ging es vielen Intellektuellen aber nicht allein darum, gegen einen äußeren Feind zu kämpfen, sondern insgesamt wachsam gegenüber freiheitsgefährdenden Tendenzen in der modernen Gesellschaft zu sein. Während sich die Annäherung rechtskonservativer Publizisten an die USA in der Ära Truman/Eisenhower gerade im Beifall für die dortige politische Illiberalität, die Kommunistenjagd der McCarthy-Ausschüsse, zeigte, wurden diese antikommunistischen Aktivitäten von den prowestlichen Anhängern der Kongressbewegung scharf kritisiert. Robert Jungk, der seine Exilzeit in den USA verbracht hatte, forderte beim Darmstädter Gespräch 1953 über »Individuum und Organisation«: »Dieses bißchen Freiheit aber, das wir hier wieder und noch besitzen, das wir zum Beispiel heute hier in Darmstadt in viel stärkerem Maße haben als weiter westlich, jenseits des Ozeans, das muß auch verteidigt werden, muß aktiv verteidigt werden.«101 Die deprimierenden Zustände der politischen Kultur angesichts der Kommunistenhatz und dem Zwang zur Denunziation in den USA, die Hannah Arendt gegenüber ihrem väterlichen Freund Karl Jaspers beklagte,102 wurden allerdings, wohl auch angesichts der näher liegenden illiberalen Tendenzen in der Bundesrepublik, zwar kein breites öffentliches Thema, bildeten aber angesichts des Widerspruchs von Anspruch und Wirklichkeit der westlichen Welt einen permanenten Quell politischen Unbehagens.
98 Theodor Plivier an Japanisches Komitee für kulturelle Freiheit, 12.7.1952, in: DLA, A: Theodor Plivier 99 Vgl. Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, München 2015, S. 69 ff. 100 Vgl. zur Durchsetzung der westlich konnotierten Moderne in den 1950er Jahren Schildt/ Siegfried, Kulturgeschichte, S. 152 ff. 101 Neumark, Individuum, S. 51. 102 Hannah Arendt an Karl Jaspers, 13.5.1953, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 245-253; die McCarthy-Zeit herunterspielend dagegen Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt a. M. 1980, 111 ff.
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Diese Strömung eines zugleich um die eigenen Freiheiten besorgten Antikommunismus aus dem Geist dieser Westorientierung fand ihren markanten organisatorischen Ausdruck in der internationalen Bewegung des Kongresses für Kulturelle Freiheit (CCF), die mit amerikanischen Geldern aus der Taufe gehoben wurde. Die Gründung ging auf den Redakteur des Monat Melvin J. Lasky zurück. Offenbar bedurfte es eines kräftigen Anstoßes und nachhaltiger Unterstützung von außen. Die Wahl des Ortes zeigte zudem das zentrale Ziel, ein Zeichen gegen die kommunistische Bedrohung zu setzen. Als sich vom 26. bis 30. Juni 1950 118 hochkarätige Intellektuelle und weitere 1.800 geladene Gäste im West-Berliner Titaniapalast versammelten,103 überwogen martialische Töne – wenig verwunderlich, hatte doch am Tag vor der Eröffnung des Kongresses der Koreakrieg begonnen. Die in West-Berlin anwesenden Intellektuellen aus der gesamten westlichen Welt, mehrheitlich aus linksliberalem, sozialdemokratischem, linksunabhängigem Umfeld kommend, aber unter Einbeziehung einiger konservativer Publizisten, etwa Rudolf Pechel, hoben vor allem die Notwendigkeit hervor, dass die Intellektuellen klar gegen den Kommunismus Stellung nehmen, der die freie Welt bedrohe. Dem Internationalen Komitee gehörten u. a. Raymond Aron und André Gide aus Frankreich, Benedetto Croce, Ignazio Silone und Carlo Levi aus Italien, John Dewey, Upton Sinclair und Sidney Hook aus den USA, Bertrand Russell, Herbert Read und Arthur Koestler aus Großbritannien sowie die Deutschen Karl Jaspers, Alfred Weber und Eugen Kogon an. Als führender Repräsentant der SPD war Carlo Schmid vertreten.104 Auch am deutschen Vorbereitungskomitee beteiligte er sich zusammen mit Theodor Plivier, Adolf Grimme, Alexander Mitscherlich, Dolf Sternberger und Franz Borkenau. Das örtliche Organisationsgremium, das Lasky als Generalsekretär koordinierte, wurde von führenden Sozialdemokraten WestBerlins, Ernst Reuter, Otto Suhr und Edwin Redslob, besetzt. Zu den Teilnehmern der 25-köpfigen deutschen Delegation zählten neben den bereits genannten unter anderen Günther Birkenfeld, Margarethe Buber-Neumann, der Intendant des Süddeutschen Rundfunks Fritz Eberhard, Eugen Kogon, Karl Korn von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Chefredakteur des West-Berliner Kurier Carl Linfert, Hans Paeschke vom Merkur, die Schriftstellerin Luise Rinser, Franz Josef Schöningh von der Süddeutschen Zeitung, Jürgen Schüddekopf vom Hamburger Nachtprogramm des NWDR, die sozialdemokratische Bildungspolitikerin Anna Siemsen und Ernst Tillich, einer der Gründer der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, die militante Aktionen wie etwa Sabotageakte gegen die DDR organisierte. Einige deutsche Intellektuelle gehörten der US-Delegation an: die Schriftsteller Hermann Kesten und Walter Mehring, der Totalitarismustheoretiker Carl J. Friedrich, der Politologe Franz L. Neumann und der Publizist Golo Mann.
103 Vgl. zu Hintergründen, Vorbereitung und Verlauf der West-Berliner Konferenz Hochgeschwender, Freiheit, S. 204-264. 104 Vgl. Schmid, Erinnerungen, S. 484 ff.
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Auf dem Kongress standen die »Agenten der Verwestlichung«, vor allem ehemalige US-Emigranten, im Vordergrund.105 Zwar hatten sich etliche kommunistische und marxistische Intellektuelle für die DDR entschieden und publizierten dort amerikafeindliche Artikel, und auch einige konservative Remigranten sahen sich in ihrer Skepsis gegenüber der US-Gesellschaft eher bestätigt,106 aber die meisten US-Remigranten waren vom Wohlstand, der Modernität einer Konsumgesellschaft und der Liberalität ihres Gastlandes nachhaltig beeindruckt. Die unausgesprochene Gleichsetzung vom Westen und liberaler Demokratie erlaubte zugleich, auch andere Projektionen auf die USA zu richten, die sogar das konservative Gegenteil meinen konnten.107 Vor allem ehemalige Kommunisten rückten als »Renegaten verstärkt in die Frontlinien der Medien«.108 Ihre durch eigenes Erleben beglaubigte Expertise sollte zur schlagkräftigen Waffe im Kalten Krieg werden, wobei die sogenannte Renegatenliteratur schon während der 1930er Jahre, der Zeit der Moskauer Schauprozesse und des spanischen Bürgerkriegs, eine erste Konjunktur erlebt hatte.109 Zu den »Renegaten« zählten Franz Borkenau, ehemals Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Ruth Fischer, Anfang der 1920er Jahre kurzzeitig Vorsitzende der KPD, die allerdings aus Sicherheitsgründen nicht erscheinen mochte, und Richard Löwenthal, kommunistischer Studentenführer am Ende der Weimarer Republik.110 Allerdings handelte es sich auch bei diesen linksintellektuellen Exilanten keineswegs um eine Gruppe mit homogenen Ansichten. 105 Vgl. Alfons Söllner, »Agenten« der »Verwestlichung«? Zur Wirkungsgeschichte deutscher Hitler-Flüchtlinge, in: Burschel/Gallus/Völkel (Hrsg.), Intellektuelle, S. 199-218; Jasper M. Trautsch, The Invention of the » West«, in: Bulletin of the German Historical Institute, Washington D. C., Nr. 53, 2013, S. 89-102. 106 Axel Schildt, Reise zurück aus der Zukunft. Beiträge von intellektuellen USA-Remigranten zur atlantischen Allianz, zum westdeutschen Amerikabild und zur »Amerikanisierung« in den 50er Jahren, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9, München 1991, S. 23-43. 107 Vgl. für lange Linien der Auseinandersetzung Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?; Axel Schildt, Westlich, demokratisch. Deutschland und die westlichen Demokratien im 20. Jahrhundert, in: Anselm Doering-Manteuffel (Hrsg.), Strukturmerkmale der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 225-239; Riccardo Bavaj/Martina Steber (Hrsg.), Germany and ›The West‹. The History of a Modern Concept, New York/Oxford 2015. 108 Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, S. 10, 30; vgl. Daniela Muraca, Die Rolle der exkommunistischen Intellektuellen beim Kongress für kulturelle Freiheit, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Bd. 18, 2011, S. 155-176. 109 Dazu und zur Funktionalisierung dieser Literatur durch das NS-Regime vgl. ebd., S. 101 ff. 110 Vgl. Keßler, Kommunismuskritik; ders., Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961), Köln u. a. 2012; Oliver Schmidt, »Meine Heimat ist – die deutsche Arbeiterbewegung«. Biographische Studien zu Richard Löwenthal im Übergang vom Exil zur frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 288 ff.; Borkenau und Löwenthal kannten sich aus der linkssozialistischen Gruppe »Neu Beginnen« und hatten
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Die beeindruckende Prominenz zeigte gleichwohl, dass es sich um ein Treffen von hauptsächlich linksliberalen und sozialdemokratischen Teilnehmern handelte. Einige der wenigen Konservativen machten zudem aus ihrer Skepsis gegenüber der westlich-liberalen Grundtendenz keinen Hehl. Das gilt etwa für Hans Paeschke – schon wegen der Konkurrenz zum Monat. Karl Korn missfiel der fanatische Ton der antikommunistischen Propaganda.111 Auch Dolf Sternberger hatte, wie Paeschke und Korn nur intern, scharfe Kritik an der Berliner Veranstaltung geübt.112 Und längst nicht alle prominenten Intellektuellen wurden eingeladen oder waren geneigt, auf dem Kongress zu erscheinen. Dass Jean-Paul Sartre und der Gaullist André Malraux keine Einladung erhielten, erscheint plausibel. Der eigenwillige Kurt Hiller erhielt sie auch nicht, fühlte sich allerdings bemüßigt, zu erklären, warum er ohnehin nicht gekommen wäre: »Nein, zu jenem Kongreß, auf dem Hegelianer und Jesuiten sich mit einigen Manchestermen treffen, um unter dem Vorwande eines Kampfes für die ›kulturelle Freiheit‹ Moskau auf eine Art zu bekämpfen, daß es nur Honig daraus saugen wird, erscheine ich nicht.«113 Mit umgekehrter Stoßrichtung lehnte Gottfried Benn, einer der wenigen hochkarätigen Schriftsteller in West-Berlin, die Veranstaltung ab: »Gut, dass ich mit diesem Kongress nichts zu tun habe! Die Teilnehmer sind im Grunde alles Kommunisten, nur wollen sie nicht, dass er gerade auf ihr Privatleben angewendet wird, das sie gerne weiter im bequemen Abendlandstil weiter führen möchten. Diese Intellektuellen sind tatsächlich die Kartoffelkäfer jedes geordneten, einigermassen ausgerichteten Staats, sie sind wirklich zersetzend, weil sie im Grunde alle Genüsslinge und eitle Schwätzer sind.«114 Es fehlten nicht nur alle maßgeblichen katholisch-konservativen und nationalkonservativ-protestantischen Publizisten, sondern auch jene Vertreter der Gruppe 47, die, wie etwa Alfred Andersch, durchaus bereits öffentliche Resonanz gefunden nach dem Zweiten Weltkrieg die von amerikanischen Stellen subventionierte Zeitschrift Ost-Probleme herausgegeben. 111 Vgl. Payk, Geist, S. 155 ff. 112 Hochgeschwender, Freiheit, S. 323. 113 Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 21.6.1950, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100; diese despektierlichen Äußerungen hinderten ihn allerdings nicht, ein Jahr später eine Einladung des CCF nach West-Berlin anzunehmen; Günter Birkenfeld an Kurt Hiller, 28.8.1951, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 114 Gottfried Benn an Max Niedermayer, 28.6.1950, in: Gottfried Benn. Briefe an den Limes-Verlag 1948-1956. Hrsg. und komm. von Marguerite Valerie Schlüter, Stuttgart 2006, S. 77-79, hier S. 78; der Begriff »Kartoffelkäfer« spielte auf die DDR-Propaganda an, die mit einer großen Propagandakampagne die Ernteausfälle 1950 auf den heimlichen Abwurf von Kartoffelkäfern durch US-Flugzeuge zurückführte; Benn nahm im Übrigen ein Jahr später an einem exklusiven Treffen von Intellektuellen des CCF teil; ebd., S. 96.
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hatten, aber als Nationalneutralisten beargwöhnt wurden. Es fehlten wohl aus diesem Grund auch maßgebliche Verleger wie Ernst Rowohlt und Peter Suhrkamp. Warum die Dioskuren der Frankfurter Schule Theodor W. Adorno und Max Horkheimer fehlten, obwohl gerade sie einen wichtigen Beitrag zu den Lernprozessen ehemals marxaffiner Remigranten hätten leisten können, ist unklar. Für Horkheimer hieß die neue Formel, zum Anliegen des Kongresses durchaus passend, Antifaschismus = Antikommunismus. Auch Adorno, der noch 1944 antikommunistische Tendenzen in den Radiokommentaren von Thomas Mann als »schiere Dummheit« empfunden hatte, hatte sich zu Beginn der 1950er Jahre zu Horkheimers Auffassung durchgerungen. Von den »Frankfurtern« hielt allein Herbert Marcuse, der in den USA geblieben war, daran fest, dass die kommunistischen Parteien als einzige Kraft zumindest potenziell in der Lage seien, den Marxismus in der Praxis durchzusetzen.115 Warum Walter Dirks die Einladung »mit größtem Bedauern« ablehnte, muss ebenfalls offen bleiben.116 Anders als der Mitherausgeber der Frankfurter Hefte, Eugen Kogon, war er allerdings kein Freund dieser Art von Massentreffen. Zudem reichten seine Kontakte nach links jedenfalls weiter als das CCF-Spektrum. Kogon wiederum war eher als Repräsentant der Europa-Bewegung denn als Publizist begehrt.117 Offen brachte Karl Jaspers in seinem Grußtelegramm zum Ausdruck, dass für ihn eine Massenversammlung zur Verteidigung der individuellen Freiheitsrechte gegen kollektivistische Bedrohung einen Widerspruch darstellte.118 Umstritten war auf dem Kongress 1950 die prinzipielle Frage, ob man angesichts der dramatischen sowjetischen Bedrohung und des damit konstituierten Ausnahmezustandes im Westen die individuellen Freiheitsrechte zumindest zeitweise einschränken müsse, um der Auseinandersetzung gewachsen zu sein. In diese Richtung argumentierte etwa Franz Borkenau.119 Er begrüßte »lauthals und mit sich überschlagender Stimme« die soeben bekannt gewordene US-Intervention in Südkorea. Den Historiker Hugh Trevor-Roper ängstigte weniger Borkenaus Rede als der »hysterische deutsche Applaus, der sie begrüßte. Es war ein Echo von Hitlers Nürnberg. (…) Die deutschen Nationalisten im Publikum waren antirussisch, vielleicht einstmals nationalsozialistisch und hysterisch mit einer Grenz-Hysterie.«120 Borkenau bedauerte in seiner Rede über eine »Rückkehr zu den alten Werten« im Übrigen das »vollkommene Fehlen einer konservativ-christlichen Gruppe«121 115 Jäger, Adorno, S. 204 f., 211 ff. 116 Walter Dirks an Melvin J. Lasky, 26.6.1950, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 52. 117 Eugen Kogon musste 1952 aus dem internationalen und aus dem deutschen Führungsgremium des CCF ausscheiden; Hintergrund war die bei ihm vermutete Sympathie für neutralistische Gedankengänge; vgl. Hochgeschwender, Freiheit, S. 330. 118 Grußtelegramm von Karl Jaspers, in: Der Monat, Jg. 2, 1950, H. 22/23, S. 339. 119 Vgl. Keßler, Kommunismuskritik, S. 48 f. 120 Der Artikel aus dem Encounter wurde im Monat nachgedruckt; zit nach Keßler, Kommunismuskritik, S. 48 f. 121 Franz Borkenau, Rückkehr zu den alten Werten?, in: Der Monat, Jg. 2, 1950, H. 22/23, S. 411-417.
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auf dem Berliner Kongress. Eine prinzipielle Abgrenzung zum abendländischen Antibolschewismus nahm er nicht vor. Es mochte Borkenau und anderen auch nicht gefallen, dass die Versammlung eine Erklärung gegen die Franco-Diktatur annahm, die bei den Abendland-Freunden in hohem Ansehen stand, und dass Alfred Weber mahnte, nicht nur über die Bedrohung der Kultur durch die Sowjetunion zu reden, sondern auch die eigene nationalsozialistische Vergangenheit nicht zu vergessen. Als Star des Kongresses galt Arthur Koestler, den bei seinen Auftritten eine charismatische Aura umgab. Er inszenierte sich als Haupt einer radikalen antikommunistischen Fraktion, zu der neben Borkenau unter anderen Raymond Aron, James Burnham und Manès Sperber gehörten.122 Sie warben für eine rücksichtslose Offensivstrategie gegen den kommunistischen Totalitarismus, für die zeitweilige Einschränkungen der Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen wären. Vor dem Hintergrund des Koreakrieges setzte sich diese Position, die in einem von Koestler entworfenen, aber dann abgemilderten »Manifest« in 14 Punkten formuliert wurde, schließlich weitgehend durch.123 Der Kongress endete mit einer großen öffentlichen Kundgebung, an der 15.000 Menschen teilnahmen, und dem Entschluss, die Kongressbewegung auf Basis nationaler Sektionen unter einem internationalen Dach zu institutionalisieren. Insgesamt wurde der Kongress in der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen.124 Allerdings zeigte sich der fraktionelle Dissens über die grundlegende Frage der Einschränkung von Freiheitsrechten auch in den publizistischen Stellungnahmen. Pechel hob in einem Artikel über den Kongress in der Deutschen Rundschau ausdrücklich Arthur Koestlers Beitrag positiv hervor, der die Intellektuellen ermahnt hatte, sie müssten bereit sein, »im Interesse des wirksamen Kampfes auch ihrerseits für eine zu begrenzende Zeit auf bestimmte Rechte der persönlichen Freiheit zu verzichten«.125 Das war aber das Gegenteil der Aufgabenstellung, die Hans Schwab-Felisch dem Kongress vor dessen Beginn gegeben hatte: »Es geht, um es auf eine Formel zu bringen, in erster Linie um die Abgrenzung der staatlichen Befugnisse dem Individuum gegenüber und darum, in welchem Grade der Autonomieanspruch des schöpferischen Geistes in unserer gesellschaftlichen Situation noch berechtigt und noch möglich ist und wie er gegebenenfalls wiederhergestellt werden kann.«126 122 Hochgeschwender, Freiheit, S. 242. 123 Den Wortlaut dokumentiert Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress für Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe, New York 1989, S. 249 f. 124 Vgl. das Pressecho in: Der Monat, Jg. 2, 1950, H. 22/23, S. 484-487. 125 Rudolf Pechel, Freiheit im Angriff, in: Deutsche Rundschau, Juli 1950, in: ders., Deutsche Gegenwart, S. 198-205, Zitat S. 202. 126 Hans Schwab-Felisch, Im Zeichen des Zeitenwandels. Zu dem »Kongreß für kulturelle Freiheit«, in: Die Neue Zeitung, 28.5.1950, dok. in ders., Leidenschaft, S. 177-181, Zitat S. 180.
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Unter den Delegierten des Kongresses hatte sich eine ganze Reihe namhafter Publizisten befunden, die dessen Linie, ohne mit einem eigenen Beitrag hervorzutreten, zum Teil sehr skeptisch beurteilten, darunter Eugen Kogon von den Frankfurter Heften, er vertrat die europäischen Föderalisten, Carl Linfert vom Kölner und Jürgen Schüddekopf vom Hamburger NWDR-Nachtprogramm, Hans Paeschke vom Merkur, Franz Josef Schöningh vom katholischen Hochland und Karl Korn von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der in mehreren Artikeln die »bloßen Offensivparolen« der westlichen Freiheitspropaganda als undifferenziert und intellektuell wenig überzeugend kritisierte.127 Allerdings blieb es ihm vorbehalten, in einem umfangreichen Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu bestreiten, dass es auf dem Kongress überhaupt Fraktionen gegeben habe.128 Freiheitsrechte im Kampf gegen den Kommunismus zu suspendieren – diese Position verlor zunehmend an Akzeptanz und erwies sich bald nicht mehr als mehrheitsfähig. Der in seinem antikommunistischen Furor fanatisch wirkende Arthur Koestler sah sich innerhalb des CCF zunehmend isoliert.129 Diese Entwicklung hing sicherlich damit zusammen, dass in den USA selbst mittlerweile maßgebliche politische Eliten und Sponsoren der Kongressbewegung, aber auch Intellektuelle wie Hannah Arendt die Chance sahen, die McCarthy-Ära zu beenden. Sie hatten für Eiferer vom Typus Koestler keine Verwendung mehr.130 In diesen Auseinandersetzungen entfernten sich auch die beiden maßgeblichen Strömungen voneinander, die entweder die politische oder die wirtschaftliche Freiheit höher veranschlagten. Das Votum für einen rücksichtslosen, individuelle Freiheitsrechte in den Hintergrund drängenden Kampf gegen den Kommunismus traf sich inhaltlich mit den Vorstellungen eines auf die Wirtschaft fokussierten Neoliberalismus.131 Wilhelm Röpke etwa, der als einer der ersten Publizisten den »freien Westen« begrifflich bemühte,132 sich selbst aber als zugleich konservativ-abendländisch und liberal charakterisierte,133 aber auch der Ökonom Alexander Rüstow134 gehörten dem CCF nicht an. Sie verfügten über eigene transatlantische Netzwer-
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Payk, Geist, S. 155 ff. Karl Korn, Der Freiheit eine Gasse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.7.1950. Vgl. Coleman, Liberal Conspiracy, S. 16 ff. Vgl. Berghahn, Kulturkriege, S. 70 ff. Vgl. Bernd Löffler, Ökonomie und Geist. Ludwig Erhard, die Intellektuellen und die Ideengeschichte des europäischen Neoliberalismus, in: Hochgeschwender, Epoche, S. 74102. 132 Wilhelm Röpke, Marktwirtschaft ist nicht genug. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Hans Jörg Hennecke, Waltrop 2009; vgl. Hans Jörg Hennecke, Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005; ders., Streiten für diesen Staat. Wilhelm Röpke und die Bundesrepublik, in: Dominik Geppert/Jens Hacke (Hrsg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008, S. 23-45. 133 Wilhelm Röpke an Otto von Habsburg, 30.6.1959, in: Röpke, Briefe, S. 165 ff. 134 Kathrin Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993.
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ke.135 Wie weit der Einfluss dieser Neoliberalen in den CCF-Umkreis reichte, ist bisher nicht näher untersucht worden, Raymond Aron wäre wohl eine Schlüsselperson.136 Mit amerikanischen Geldern wurden CCF-Sekretariate in West-Berlin, Frankfurt und Stuttgart eingerichtet.137 In Berlin setzte man zunächst vor allem auf die Rekrutierung sogenannter Junger Gruppen für die Freiheit der Kultur aus dem Umkreis der Studentenzeitschrift Colloquium der Freien Universität.138 1951 konnte man sogar ein eigenes Haus anmieten. Die örtliche Sektion ließ sich als Verein registrieren, Gründungsmitglieder waren Melvin J. Lasky, Ernst Reuter, der junge Journalist François Bondy, Hellmut Jaesrich vom Monat, Ernst Tillich und der Kunsthistoriker und Rektor der Freien Universität Edwin Redslob. Allerdings zeigt die weitere Entwicklung des CCF, dass Intellektuelle, die davon lebten, ihre individuelle Position zu betonen, nicht das geeignete Personal für eine festgefügte Organisation stellten. Heftige Fraktionskämpfe und zahlreiche personelle Intrigen auf europäischer Ebene, die Zentrale befand sich in Paris, zwischen den europäischen und deutschen Gremien und innerhalb des deutschen Ausschusses erschienen wenig anziehend. In den Auseinandersetzungen, bei denen man sich gegenseitig »Gangstermethoden« und die Anbiederung an amerikanische Behörden und private Sponsoren vorwarf, vermischten sich politische und persönliche Differenzen. Für die Geschichte der Intellektuellen erweist sich das publizistische Umfeld des CCF als interessanter als die Organisation selbst, denn die meisten Intellektuellen der linksliberalen Strömung beteiligten sich nicht an den Cliquenkämpfen, sondern betätigten sich als Publizisten, die auf ihre Unabhängigkeit bedacht waren. Als offizielle Zeitschrift des CCF für ein breiteres Publikum im deutschsprachigen Raum sollte das unter Führung von Friedrich Torberg seit 1954 in Wien herausgegebene Forum fungieren, das auf der Linie der radikalen Koestler-Fraktion mit besonders schrillen antikommunistischen Artikeln aufwartete.139 Torberg war der maßgebliche Organisator des sogenannten Wiener Brecht-Boykotts, mit dem die Aufführung von Stücken des Schriftstellers in allen Theatern der Landeshauptstadt von 1953 bis 1963 verhindert wurde. Unterstützt wurde er auch von führenden Sozialdemokraten. Vereinzelte Kritiker wie der katholische Publizist Friedrich Heer wurden als Kryptokommunisten diffamiert. Zwar hatte es auch in Westdeutschland vereinzelt ähnliche Akte kultureller Kriegsführung gegeben, etwa im Fall der Weigerung, Bach-Konzerte aus Leipzig zu übernehmen. Aber ein derartiger Fall 135 136 137 138 139
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Vgl. Plickert, Wandlungen; Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonialtheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004. Vgl. Matthias Oppermann, Ein transatlantisches Vital Center? Raymond Aron und der amerikanische Liberalismus (1945-1983), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 63, 2014, S. 161-175. Vgl. für das folgende Hochgeschwender, Freiheit, S. 299 ff. Vgl. ebd., S. 376 ff. Vgl. Anne-Marie Schuffels, L’Image de l’Europe à ombre de la guerre froide. La revue »Forum« de Friedrich Torberg à Vienne (1954-1961), Paris 2001.
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systematischen und über ein Jahrzehnt durchgehaltenen offen politisch begründeten Boykotts gegen einen der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler gab es in der Bundesrepublik nicht. Das österreichische Forum fand hier kaum ein Publikum, kontrastierte dessen repressive Intoleranz doch mit der Idee einer glaubwürdigen geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Die wichtigste publizistische Unterstützung erhielt der CCF durch den Monat.140 Die intellektuelle Zeitschrift war zwar kein offizielles Organ der deutschen Sektion des Kongresses, arbeitete aber eng mit dieser zusammen. Sie publizierte programmatische Diskussionsbeiträge, darunter die Dokumentation der großen Kongresse. Wolf Jobst Siedler, der seit 1953 als Nachfolger von Günther Birkenfeld das WestBerliner Sekretariat des CCF leitete, schrieb in seinen Memoiren: »Der Kongress und der ›Monat‹ gehörten so eng zusammen, dass sie mir in der Erinnerung durcheinander gehen.«141 Zwar verheimlichte der Monat nicht seine Sympathie für die Ideen liberaler westlicher Freiheit, aber die Zeitschrift war kein Propagandaorgan der US-Regierung oder gar der McCarthy-Ausschüsse, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt die amerikanische Politik vor der intellektuellen Weltöffentlichkeit diskreditierten. Die Freiheit, so sahen es viele Autoren der Zeitschrift, konnte gegen den Kommunismus glaubwürdig nur verteidigt werden, wenn man sich auch gegen undemokratische Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften wandte. Im Zeichen der antikommunistischen Paranoia der McCarthy-Ausschüsse in den USA, die auch für die Säuberung der Bibliotheken der Amerika-Häuser von Werken Stefan Heyms oder Jean-Paul Sartres in der Bundesrepublik gesorgt hatte,142 erschien die Gefahr eines Abgleitens in einen Totalitarismus des Westens mitunter als gleichgewichtig gegenüber der Drohung des östlichen Totalitarismus. Insofern erhöhte es die intellektuelle Glaubwürdigkeit des Monat, als McCarthy seit 1952 gegen Lasky wegen dessen trotzkistischer Vergangenheit ermitteln ließ. Der ausgezeichnet vernetzte Publizist wurde immer wieder in Werner Höfers »Internationalen Frühschoppen« eingeladen, den der WDR seit 1952 im Hörfunk und die ARD ein Jahr später an jedem Sonntag im Fernsehen ausstrahlte. Diese legendäre Sendung wirkte meinungsbildend für große Teile des – männlichen – Bildungsbürgertums der Bundesrepublik. Dem Spiegel war 1954 der Auszug des nunmehr privatisierten Monat aus der Behörde des US-Hochkommissars eine ausführliche und sehr wohlwollende Würdigung des Blattes und seines Herausgebers wert.143 140 S. Kapitel I.4.3. 141 Siedler, Wir waren noch einmal davongekommen, S. 328; diese Erinnerung war geprägt durch seine eigene parallele Tätigkeit für den Tagesspiegel, die Neue Zeitung und den Monat; 1963 wechselte er zur Ullstein-Verlagsgruppe und gründete 1980 den Siedler-Verlag. 142 Vgl. Hansjörg Gehring, Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945-1953. Ein Aspekt des Re-Education-Programms, Stuttgart 1976, S. 92 ff.; Maritta Hein-Kremer, Die amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945-1955, Köln u. a. 1996, S. 400 ff. 143 Umzug ins Privatquartier, in: Der Spiegel, 13.10.1954.
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Wie der Monat als informelle Zeitschrift des CCF der linksintellektuellen Strömung ein Forum bot, profilierte sich auf dem Buchmarkt vor allem der Verlag Kiepenheuer & Witsch mit einem vornehmlich linksliberalen Programm. Auch K & W verdankte seinen Aufstieg amerikanischer Unterstützung. Joseph C. Witsch schien mit seinem 1948 neu gegründeten Verlag den amerikanischen Stellen der richtige Mann zu sein, die Produkte des Kongresses für Kulturelle Freiheit zu vermarkten.144 Zahlreiche Veröffentlichungen von K & W wurden vom CCF finanziert und vertrieben. US-Gelder aus klandestinen Quellen flossen insbesondere für die Übersetzung amerikanischer Autoren. Witsch, der am West-Berliner Kongress teilgenommen hatte, leitete zeitweise die Kölner Gruppe.145 Bei den Publikationen handelte es sich nicht zuletzt um zahlreiche Erfahrungsberichte ehemaliger kommunistischer Intellektueller. Die wichtigste Veröffentlichung erschien 1955: »Die Revolution entlässt ihre Kinder« von Wolfgang Leonhard, der als junger Kommunist 1949 aus der DDR nach Jugoslawien geflohen war und nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik ein Jahr später bei K & W mit Hilfsarbeiten beschäftigt wurde. Leonhards Bestseller, von dem mehr als 200.000 Exemplare abgesetzt wurden, unterschied sehr genau zwischen dem Stalinismus und der kommunistischen Idee. Mit seinem Programm wurde Kiepenheuer & Witsch zu einem der wichtigsten Verlage der kulturellen Offensive der USA gegen den Kommunismus und der Propagierung liberaler Westlichkeit. Der Verlag erhielt zudem die Unterstützung von Bonner Regierungsstellen. So finanzierte das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen Propagandaaktionen gegen die DDR, etwa die Publikation von Broschüren der von US-Diensten gegründeten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Aber trotz der zeitweiligen Einbindung in Arbeitszusammenhänge des gouvernementalen Antibolschewismus146 gehörte er doch nicht ins Lager der Bonner Abendland-Ritter. Der Verlag betonte dies etwa durch öffentliche Stellungnahmen gegen die konservativen Vorstöße zum Verbot von Schmutz und Schund, später auch durch seine Unterstützung einer neuen Ostpolitik und linker Gesellschaftskritik. Von Anfang an haftete ihm etwas Doppelgesichtiges an. Bücher von Bertolt Brecht, Karl Marx, Erich Kästner, Erich Maria Remarque, Max Bense, Frank Thiess und anderen namhaften Autoren standen für die seriöse intellektuelle Seite des Verlags.147 Auf der anderen Seite – deshalb spricht man auch im Plural von den Kiepenheuer-Verlagen – wurden in Nebenverlagen, alle 1950 gegründet und finanziert aus geheimen Fonds, antikommunistische Propagandatraktate dubioser Herkunft vermarktet. Diese Verlage trugen die Namen »Rote Weißbücher«, »Verlag für Politische Publizistik« und »PZ-Archiv«, koordiniert durch ein »Publizistisches Zent144 145 146 147
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Vgl. Möller, Buch Witsch, S. 291 ff. Ebd., S. 433 ff. S. Kapitel II.2.1. Vgl. Boge, Anfänge, S. 149 ff.; Klaus Körner, Kiepenheuer & Witsch und der Kalte Krieg in Deutschland, in: Lokatis/Sonntag, 100 Jahre, S. 248-263; ein Gesamtverzeichnis der Verlagsveröffentlichungen bietet Kiepenheuer & Witsch 1949-1974, Köln 1974, S. 121 ff.
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rum für die Einheit Deutschlands«, in dessen Vorstand neben Witsch auch Eugen Kogon saß als Mitherausgeber der Frankfurter Hefte und Präsident der EuropaUnion sowie Ernst Tillich, der Leiter der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit.148 Auch die Ost-Probleme und das SBZ-Archiv, später umbenannt in Deutschland-Archiv, wurden bei K & W herausgegeben. Aushängeschild des Verlags war Heinrich Böll, der seit 1953 in jedem Jahr ein Buch veröffentlichte. Zu den Autoren gehörten immer wieder Hermann Kesten, Erich Maria Remarque (sechsmal zwischen 1952 und 1963), Max Bense (fünfmal in den 1950er Jahren), Erich Kästner (viermal), mehrfach Carola Stern, zeitweise Lektorin des Verlags, Wolfgang Leonhard, Fritz René Allemann, René König, Rolf Schroers, Ignazio Silone, Raymond Aron, Karl August Wittfogel, Manès Sperber und Siegfried Lenz. Nur wenige der Verlagsautoren zählten nicht zum Umkreis des CCF, Böll war Mitglied der Kölner Ortsgruppe.149 Im letzten Drittel der 1950er Jahre löste sich der Verlag endgültig von der offiziösen antikommunistischen Propaganda der Bonner Regierungsstellen. Die Möglichkeit einer totalitären Ansteckung der westlichen Welt wurde zum zentralen Thema des zweiten Kongresses für Kulturelle Freiheit auf deutschem Boden, der vom 23. bis 26. Juni 1953 in Hamburg stattfand. Die Ereignisse in der DDR eine Woche zuvor hätten vermuten lassen, dass die Diskussionen wiederum von der Dramatik des Kalten Krieges überschattet gewesen wären. Stattdessen standen die totalitären Gefahren durch die Technisierung, Rationalisierung und Entfremdung, die das Individuum in den westlichen Gesellschaften bedrohten, im Zentrum; sie wurden der äußeren Gefahr durch den Kommunismus tendenziell gleichgewichtig an die Seite gestellt.150 Diese Schwerpunktsetzung signalisierte nicht nur die Überwindung des Freund-Feind-Denkens, das den Gründungskongress 1950 bestimmt hatte, sondern eine Akzentverschiebung in der Betrachtung der totalitären Gefahren im Westen. Nicht mehr die Gefahr einer Übernahme östlicher Methoden in der politischen Bekämpfung des Gegners, nicht mehr die Möglichkeit eines westlichen Leviathans wurde beschworen, sondern es waren die Tendenzen der Gesellschaftsentwicklung jenseits der Politik, die beunruhigten. Auf der Hamburger Veranstaltung wurde das intensiv und auf hohem Niveau von Experten diskutiert. Die Zeit kämpferischer Propaganda war offenbar abgelaufen. Der sozialdemokratische Hamburger Bürgermeister Max Brauer, der selbst aus dem US-Exil kam, hatte sogar vorgeschlagen, sowjetische Wissenschaftler in die Diskussion einzubeziehen, eine Idee, die dann doch nicht realisiert wurde. Angesichts der wissenschaftstheoretischen Ausrichtung nahmen zahlreiche prominente Naturwissenschaftler teil. Als großer Gewinn galt zudem die Anwesenheit des katholischen Theologen Romano Guardini. Die öffentliche Resonanz aber beschränkte sich insgesamt doch 148 Körner, Kiepenheuer & Witsch, S. 250. 149 Vgl. die vollständige Liste der Veröffentlichungen in Kiepenheuer & Witsch 1949-1974, S. 121 ff. 150 Vgl. Hochgeschwender, Freiheit, S. 412 ff.
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weitgehend auf die lokale Berichterstattung. Eine Dokumentation wurde erst nach quälenden Rechtsstreitigkeiten zwischen den beteiligten Professoren publiziert. Auf die Hamburger Szene hatte der Kongress eine belebende Wirkung. Am 21. Februar 1955 wurde in der Hansestadt eine CCF-Ortsgruppe gegründet, um die sich einige namhafte Professoren, Politiker und Publizisten scharten, darunter Bruno Snell, die Sozialdemokraten Erich Lüth und Heinrich Landahl sowie der liberale Kultursenator Hans-Harder Biermann-Rathjen. Sie bildete von der Mitte der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre einen Kern des linksliberalen Intellektuellenmilieus. Man setzte hier, gegen die Intentionen der Pariser Zentrale und im Gegensatz zu den anderen Ortsgruppen, etwa in West-Berlin und Köln, eher auf die Kraft des Dialogs als auf bloße Propaganda. Typisch dafür der Titel einer Veranstaltung: »Darf man mit Kommunisten sprechen?«151 Der Hamburger Kongress hatte zudem die Vernetzung reformbereiter Professoren vorangetrieben. Anfang Januar 1954 trafen sie sich auf Initiative von Bruno Snell in der Evangelischen Akademie der Landeskirche Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar.152 Gleichwohl verschärfte sich unmittelbar nach der Tagung in der Hansestadt die Krise auch der deutschen Sektion. Auseinandersetzungen entzündeten sich vor allem an Carlo Schmid, der als Vorsitzender des deutschen Ausschusses im Pariser Büro vertreten war. Seine deutschen Kollegen warfen ihm Inaktivität sowie persönliche Beleidigungen seiner Kritiker vor und versuchten ihn zum Rücktritt zu zwingen. Schmids Genosse Willy Brandt, auch er Mitglied des deutschen Ausschusses, zeigte Verständnis für die Frondeure.153 Jenseits der persönlichen Animositäten ging es um eine strategische Differenz. Das Pariser Büro hatte auf Anregung von Carlo Schmid dem Berliner CCF-»Nachrichtenblatt« Kontakte die finanzielle Unterstützung entzogen und es damit zur Einstellung verurteilt. Dahinter stand Schmids Ansicht, es gebe in der Bundesrepublik keine kommunistische Gefahr mehr; deshalb könne die Finanzierung publizistischer Basisaktivitäten eingestellt werden. Der »Fall C. S.«154 beschäftigte über Monate hinweg die CCF-Gremien. Weil Schmid, unterstützt von der Pariser Zentrale, nicht zurücktreten wollte, erklärte Rudolf Pechel schließlich im Namen des Deutschen Ausschusses dessen Selbstauflösung.155 Die Geschehnisse erinnern an die heftigen Konflikte zwischen unabhängigen Linken und der SPD ein Jahrzehnt später. Nach dem Ende des Deutschen Ausschusses gab es in der Bundesrepublik zwar immer noch lokale Zentren mit CCF-Aktivitäten, aber keine legitimierte Vertretung zur Koordination von Aktivitäten mehr. Die Folge war eine noch stärkere Abhängigkeit von finanziellen Zuwendungen seitens der Pariser Zentrale. In diese 151
Bruno Snell an Paul Wilhelm Wenger, 16.7.1962, in: BAK, Nl. Paul Wilhelm Wenger, 110. S. auch Kapitel III.2. 152 Hochgeschwender, Freiheit, S. 430 ff. 153 Günther Birkenfeld an Rudolf Pechel, 17.8.1953, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/98. 154 Rudolf Pechel an Rudolf Hagelstange, 14.4.1953; Carl Linfert an Rudolf Pechel, 31.5.1954, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/98. 155 Rudolf Pechel an Nicolas Nabokov, 7.7.1954, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/98.
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Zeit fiel auch der Beginn der Subventionierung des CCF und der Zeitschrift Der Monat durch den CIA. Man kann die desolate Situation der Organisation auch als Anzeichen dafür werten, dass sich die Position eines nüchternen liberalen Antikommunismus mit auf die eigene Gesellschaft bezogenen selbstkritischen Elementen in der intellektuellen Öffentlichkeit weitgehend durchgesetzt hatte. Das sowjetische »Tauwetter« nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 hatte sogar die Frage aufgeworfen, ob es einen »liberalen Kommunismus« geben könne. Bis zum Ende der 1950er Jahre organisierte der CCF etwa zwanzig große Konferenzen unter lebhafter Beteiligung prominenter Intellektueller – ihre Referate wurden fürstlich honoriert.156 Dabei wurde der Verzicht auf eine geschichtspolitische Sinngebung oder gar anthropologische Überhöhung des Kalten Krieges deutlich. Ähnlichkeiten ergaben sich bei einigen der liberalen Protagonisten mit konservativen Intellektuellen allenfalls in der Zukunftsperspektive. War es bei Ernst Jünger der nur vage vorgestellte Weltstaat unter amerikanischer Suprematie, so bestand der auch in Deutschland viel gelesene James Burnham (1905-1987), trotzkistischer Intellektueller der 1930er Jahre, der zu einem der führenden amerikanischen Ideologen des Kalten Krieges geworden war, auf einer »nichtkommunistischen Weltkonföderation« als »amerikanischem Imperium«.157 Als Konsens galt Ende der 1950er Jahre die Auffassung unter den Intellektuellen im Umkreis des CCF, man sei am »Ende der Ideologien« angelangt. Der Topos, dessen genealogische Ursprünge in den Diskussionen der französischen Intellektuellen Raymond Aron und Albert Camus liegen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Verzicht auf revolutionäre Illusionen plädierten, wurde in den 1950er Jahren in den USA von Daniel Bell und anderen liberalen Theoretikern aufgegriffen. Raymond Aron hatte diese Begriffswelt seit 1955 auf Veranstaltungen des CCF popularisiert und in seiner wohl bekanntesten Schrift 1957 die marxistische Ideologie als »Opium für Intellektuelle«, aber auch die Forderungen nach einer Gegenideologie als »Sucht nach Weltanschauung« kritisiert.158 Bei einer Tagung des CCF 1960 präsentierte er ein Papier, in dem er nach einer Bestandaufnahme der weltweiten Lage der Demokratie diese prinzipiell an den westlichen Liberalismus binden wollte.159 In der Bundesrepublik fand die liberale Ideologie der Ideologielosigkeit wohl auch deshalb viele Anhänger, weil sie anschlussfähig war für ältere Traditionen, dem Gegner ideologisches und parteiliches Denken zu unterstellen, sich selbst aber wahres, überparteiliches, unverstelltes und rationales bzw. pragmatisches Denken zu attestieren. Tatsächlich meinte der Verzicht auf eine Gegenideologie das 156 Vgl. Coleman, Liberal Conspiracy, S. 253 ff. 157 Burnham, Strategie, S. 343; spätestens seit »Suicide of the West« (1964), das von einer antiliberalen Polemik durchzogen wird, galt Burnham dann auch als Führungsfigur des USKonservatismus. S. dazu auch Kapitel II. 2.3. 158 Aron, Opium. 159 Ders., Situation der Demokratie. Die politischen Institutionen des Westens in der Welt des XX. Jahrhunderts. Arbeitsgruppe I der Generalkonferenz des CCF, 16.-22. Juni 1960, in: AdsD, Nl. Ansgar Skriver, 1/ASAF 000108.
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Gegenteil, nämlich eine Hyperideologie, welche die westliche Moderne in allen ihren, auch ästhetischen, Ausprägungen als rational und vernünftig voraussetzte und jeden, der daran zweifelte, als ideologisch verblendet abtat.160 Die sichtbare Überlegenheit der atlantisch-westlichen Wohlstandsgesellschaften gegenüber der Armut der sozialistischen Länder war die wichtigste Beglaubigung dieser Ideologie der Ideologielosigkeit. Die Kehrseite dieser westlichen Überlegenheit beklagte der Publizist Thilo Koch in einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit: »Die Deutschen westlich der Elbe wenden sich längst gelangweilt ab, wenn jemand das kommunistische System attackiert. Propaganda und Antipropaganda führen sozusagen Monologe, die ungehört verhallen.«161 Die Ideologie vom »Ende der Ideologien« blieb nicht unumstritten. Konservative Intellektuelle beobachteten die liberale Verweigerung einer einheitlichen Gegenideologie und, schlimmer noch, die Transformation der Kritik des Kommunismus in die Kritik der eigenen Verhältnisse mit einigem Misstrauen. Hans Bausch, der spätere Intendant des Süddeutschen Rundfunks, schrieb an den Herausgeber des Rheinischen Merkur, Otto B. Roegele: »Aber ich werde in letzter Zeit etwas empfindlich für die Aktivität jener Art von Journalisten, die langsam, planmäßig und nicht ohne Verbindung untereinander ihren liberalen Linksdrall erkennen lassen. Gestern Abend habe ich beispielsweise im Bayerischen Rundfunk in einer Aufnahme des NWDR eine einstündige Sendung ›McCarthy oder Der Aufstand der Tugendhaften‹ oder so ähnlich von Peter von Zahn gehört. So nett antikatholisch und demokratisierend, so nett europäisch und antiamerikanisch und – außerordentlich gekonnt. Ich bin beigott kein Freund McCarthys, aber weißt Du: diese publizistischen Äußerungen von der Süddeutschen Zeitung über den Bayerischen Rundfunk bis zum NWDR verraten doch eine Linie, die von uns zu wenig gesehen wird – und in Bonn größtenteils hoffähig ist. Das ist der Jammer!«162 Erik Reger, Chefredakteur des West-Berliner Tagesspiegel, selbst ein Parteigänger der radikalen Richtung des CCF, brachte es auf die Formel, es gebe zu viel Aufmerksamkeit für die extreme Rechte, zu wenig Beachtung der Kommunisten.163 Wer am Radio auf das neue Jahr 1956 eingestimmt werden wollte, hörte im Sendebereich des Süddeutschen Rundfunks die Ansprache des Intendanten Fritz Eber160 Vgl. Axel Schildt, Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: Schildt/ Sywottek, Modernisierung, S. 627-635; zur Diskussion um dieses Konzept in den USA um 1960 vgl. Tim B. Müller, Das Ende vom Ende der Ideologie. Ideengeschichte aus dem Kalten Krieg, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 3, 2009, H. 3, S. 113-117; ders., Krieger, S. 567 ff. 161 Thilo Koch, Ist Deutschland doch teilbar? Die skeptische Abkehr der jungen Generation vom Westen – Eine Bilanz zum 17. Juni 1958, in: Die Zeit, 12.6.1958. 162 Hans Bausch an Otto B. Roegele, 19.8.1954, in: Nl. Otto B. Roegele, 1954 (A-K). 163 Erik Reger an Peter de Mendelssohn, 7.4.1953, in: Archiv Monacensia, Nl. Peter de Mendelssohn, PdM B 758.
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hard, in der er eine Bilanz des ersten Nachkriegsjahrzehnts zog und auf dessen entscheidende politische Rahmenbedingung einging: »Gewiss, manche wollen den Kalten Krieg gar nicht wahrhaben. Manche halten ihn für eine böse Erfindung amerikanischer Politiker. Sowjetagenten möchten uns das weismachen. Aber der Kalte Krieg ist eine Tatsache. Er wird von den Sowjets mit allen Mitteln der Wirtschaft und Propaganda, des Terrors und der List geführt. Auch mit Lächeln und Händedrücken und Blumenüberreichen, Durch all das dürfen wir uns nicht täuschen lassen, wenn wir den Kampf um Einheit und Freiheit gewinnen wollen. (…) Den Kampf gegen den Osten können wir nie gewinnen, wenn unser Ausgangspunkt die Sorge um den etwaigen Verlust materieller Güter und der nach 1945 neu geschaffenen bürgerlichen Existenz ist. Der Ideologie des Materialismus kann nicht wirksam entgegentreten, wer de facto, tatsächlich, dem Materialismus verfallen ist.«164 Dies richtete sich vor allem gegen jene Intellektuelle des CCF, die westlichen Wohlstand als geeignetes Vakzin gegen kommunistische Indoktrination ansahen. Aber je mehr Informationen aus dem Imperium hinter dem Eisernen Vorhang publik wurden, desto mehr wurde dessen Charakter entdämonisiert. In der Bundesrepublik war das Wissen über die Diktaturverhältnisse jenseits der Elbe durch die Massenflucht aus der DDR ohnehin ständig konkretisiert worden, aber das galt auch für das Kernland des kommunistischen Feindes, die Sowjetunion. Die Vorstellung gleichgeschalteter Massen, die roboterhaft den ideologischen Maximen des Regimes folgten, wichen allmählich dem Blick auf eine diktatorische, aber keineswegs dämonische, sondern differenzierte Gesellschaft, deren Antriebskräfte rationaler Analyse zugänglich waren. Schon sehr früh hatte auch der konservative Russland-Experte Klaus Mehnert darauf hingewiesen, warum die »Forderung, der Ideologie des Ostens eine Ideologie des Westens entgegenzustellen (…) eine leere Phrase« sei; das Leben der Menschen im Sowjetreich werde nämlich nicht durch Ideen bestimmt, sondern durch die »jeweilige Generallinie des Kreml«; der Westen wiederum leide nicht an einem »Mangel an Ideen«, sondern an »Schlamperei«.165 Mit der sich entfaltenden wirtschaftlichen Überlegenheit und inneren Stabilität des Westens und der Bundesrepublik als seines Wunderkinds schwand die dramatische Bedrohungslage. Dass man an der Schwelle eines dritten Weltkrieges stehe, befürchtete die Mehrheit der Bevölkerung seit Mitte der 1950er Jahre nicht mehr. Die Darstellung des Bolschewismus als grauenhafter Gefahr verlor seit dem XX. Parteitag der KPdSU zusehends an Glaubwürdigkeit. 164 Fritz Eberhard, Kampf um Einheit und Freiheit. Silvesteransprache des Intendanten Dr. Fritz Eberhard am 31.12.1955, SDR, I. und II. Programm, 22.00, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 24. 165 Klaus Mehnert an Redaktion Süddeutsche Zeitung, 10.1.1951, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 13.
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Ein Jahr später wurde die Vorstellung von der zivilisatorischen, kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens durch den sogenannten SputnikSchock, der ersten erfolgreichen – unbemannten – Weltraum-Mission der Sowjetunion 1957, erschüttert.166 Der Sputnik-Erfolg symbolisierte allerdings lediglich, was in den Jahren zuvor des Öfteren thematisiert worden war. Schon 1952 hatte der Schriftsteller Alfred Döblin in einer moderaten Kritik am kommunistischen System der Sowjetunion festgestellt, sie ermögliche wissenschaftliche Höchstleistungen, freilich um den Preis einer Begrenzung des freien Geistes.167 Im Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts wurde 1956 die technische Überlegenheit der Sowjetunion konstatiert und auf die Ausschöpfung aller Begabungsreserven zurückgeführt.168 Insofern war es längst keine Provokation mehr, sondern bewegte sich im intellektuellen Mainstream, wenn Eugen Kogon im Hessischen Rundfunk anlässlich des Sputnik-Fluges mit den »paradoxen Vorstellungen von den Sowjetrussen« abrechnete: »Wir halten sie für primitiv, unter dem kommunistischen Regime für ernstlich nicht entwicklungsfähig und sehen sie doch – im übrigen keineswegs nur naturwissenschaftlich – an der Spitze des gleichen Fortschritts, den man auch bei uns in aller Praxis für den Inbegriff von Zivilisation ansieht. Wir werden uns allmählich (…) darauf einzurichten haben (….), dass die Produktivität also mitnichten ein Vorzug freiheitlicher Demokratien ist.«169 Daraus entwickelte sich ein Diskurs, der um den damit verbundenen Paradigmenwechsel im Kalten Krieg kreiste. Nicht mehr die Gefahr eines baldigen Weltkrieges, wohl aber der wissenschaftlich-technische Systemwettbewerb, der langfristig die globalen Gewichte verschieben könne, galt nun als realistisches Zukunftsszenario. Die wohl wichtigste mediale Unterstützung erfuhr die westlich-liberale Intellektuellenströmung durch die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.170 Bekannt ist das Engagement der führenden Redakteurin des Blatts, Marion Gräfin Dönhoff, für den CCF und andere transatlantische Gremien des intellektuellen Gesprächs. Die westlich-liberale Wende der Zeit Mitte der 1950er Jahre,171 die entscheidend zur Durchsetzung dieser intellektuellen Strömung beitrug, entstand bei Dönhoff aus zunehmender Antipathie gegenüber den Bemühungen des Chefredakteurs Richard Tüngel, nationalsozialistisch belastete Publizisten als Mitarbeiter des Wochenblatts zu gewinnen. Dönhoff schrieb ihm: 166 Vgl. Radkau, Geschichte, S. 95 ff., 216 ff. 167 Alfred Döblin, Kritik der Zeit: Rundfunkbeiträge 1946-1952. Hrsg. von Alexandra Birkert, Olten u. a. 1992, S. 318 ff. 168 Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts, Köln, Nr. 29, 19.7.1956, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 28. 169 Eugen Kogon, Politische Psychologie um den Erdsatelliten, in: Hessischer Rundfunk, 7. Oktober 1957, Kurzkommentar um 19.53, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 114. 170 S. Kapitel I.4.2. 171 Schildt, Immer mit der Zeit, S. 19 f.
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»Wer den Geist des Nationalsozialismus gepredigt hat oder die Sprachregelung der Presse gelenkt hat, der soll für alle Zeiten von der Mitarbeit an einer politischen Zeitung ausgeschlossen werden. (…) Ich weigere mich zuzugeben, dass wir Deutschland einen Dienst erweisen, wenn wir den Verrätern am Geist und Nihilisten mit Bügelfalten wieder die Möglichkeit geben, politische Betrachtungen anzustellen.«172 Zum casus belli wurde ein Gastartikel von Carl Schmitt, der von Chefredakteur Richard Tüngel, sorgfältig vorbereitet, ins Blatt gehoben wurde.173 Seit 1950 hatte er mit Schmitt korrespondiert und ihn in Plettenberg gemeinsam mit dessen Schüler Walter Petwaidic (1904-1978) besucht. Petwaidic, der unter dem Pseudonym »Fredericia« publizierte, gehörte der Redaktion der Zeit seit 1949 an und fungierte dort als Vertrauensmann Schmitts. 1933 war er in die NSDAP eingetreten, hatte hohe Funktionen in der Presseabteilung des Auswärtigen Amtes bekleidet und eine NS-Zeitung geleitet; später ging er zur Deutschen Zeitung.174 Als Autor folgte ihm bald sein ehemaliger Chef Paul Karl Schmidt (1911-1997), der in der Zeit unter dem Pseudonym P. C. Holm die jüngste Zeitgeschichte deutete. In einem Artikel »Düsteres September-Gedenken« (1954) behauptete er, Hitler habe den Krieg nicht gewollt und sei ein Opfer Stalin’scher Kriegstreibereien geworden.175 Die absolute Zuspitzung der redaktionsinternen Auseinandersetzungen ergab sich allerdings erst aus dem Artikel von Carl Schmitt, weil sein Erscheinen, mehr als der Inhalt, zum Symbol im Machtkampf um die Linie des Blattes wurde, der auch außerhalb der Redaktion große Aufmerksamkeit fand. Während Karl Korn die »impertinente Absicht einer Rehabilitation« des NS-Kronjuristen nur privat beklagte,176 brach Schmitt, ebenso wie Armin Mohler, seine Beziehungen zur Zeit nach der Kritik von Marion Dönhoff ab. Sie habe seinen Artikel im Machtkampf mit Tüngel nur benutzt – »da werden Gräfinnen zu Hyänen«.177 Schmitt verfolgte Dönhoff in den folgenden Jahren mit geradezu obsessivem Hass. Sie wurde, ne-
172 Der undatierte Brief findet sich im Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 76; er ist in Auszügen dokumentiert in »Ein wenig betrübt, Ihre Marion«. Marion Gräfin Dönhoff und Gerd Bucerius. Ein Briefwechsel aus fünf Jahrzehnten. Hrsg. von Theo Sommer und Haug von Kuenheim, München 2005, S. 23. 173 Carl Schmitt, Der Vorraum der Macht, in: Die Zeit, 29.7.1954; der Artikel basierte auf einem Gespräch mit Carl Schmitt im Hessischen Rundfunk, das dieser am 22.6.1954 gesendet hatte. 174 Die Todesanzeige »Für alle, die ihm nahestanden«, wurde auch von den Schmitt-Adepten Rüdiger Altmann und Johannes Gross unterzeichnet (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.8.1978); s. zu diesen Kapitel II.4.2. 175 Vgl. Benz, Paul Carell, S. 67 ff. 176 Karl Korn an Ernst Niekisch, 8.11.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c; Niekisch hatte im gleichen Jahr Carl Schmitt wegen angeblicher antisemitischer Vorträge im »Dritten Reich« angegriffen, konnte dies aber nicht belegen; Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 21.7.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b. 177 Carl Schmitt an Armin Mohler, 2.6.1955, in: Carl Schmitt – Briefwechsel, S. 199 f.
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ben Bucerius und dem »NS-Wendehals Müller-Marein«,178 dafür verantwortlich gemacht, dass aus der Zeit ein »Konformisten-Blättchen«, ein »trauriges BuceriusBlättchen« geworden sei.179 Sogar ein Spottlied auf die Gräfin dichtete Schmitt: »Die Jräfin dröhnt in alter Weise/mit neu-atlantischem Jefiehl …«180 Mit dem ganzseitigen Artikel von Schmitt war für Dönhoff eine Linie überschritten. Sie brach ihren Urlaub ab, verließ nach einer kurzen Aussprache mit Tüngel die Redaktion und begann nach einem USA-Aufenthalt ein mehrmonatiges Praktikum beim Londoner Observer. Tüngels Hoffnungen, damit werde Ruhe einkehren, erfüllten sich allerdings nicht, zumal in vielen Briefen gegen die Trennung von Marion Dönhoff protestiert wurde. Der Hamburger Hochschullehrer Bruno Snell schrieb an Bucerius: »Hier ist allgemein grosse Trauer, Bestürzung und Entrüstung, welchen Weg ›Die Zeit‹ nimmt.«181 Die Mannesmann AG schrieb, sie halte den »Wechsel in Ihrem Redaktionsstab für so schwerwiegend, daß wir uns zur Zeit nicht in der Lage glauben, Ihre Zeitung mit zusätzlichen Anzeigen zu unterstützen.« Bucerius wiederum erhöhte den Druck auf Tüngel: »Was ich befürchtet habe, ist also eingetreten: die Entlassung von Marion Dönhoff wird die Redaktion auseinanderbrechen lassen. Sie meinten neulich, nur noch eine kleine Adelsclique interessiere sich für Marion Dönhoff. Bei mir sammeln sich aber die Stimmen von Freunden der ›Zeit‹, die das Gegenteil beweisen. (….) Wir können Jupp nicht verlieren und müssen Marion wiederholen.«182 Marion Dönhoff blieb während ihrer Londoner Zeit mit Bucerius in Verbindung. Bereits im November 1954 nannte sie ihm ihre Bedingungen für eine Rückkehr, nämlich ein Gespann mit Müller-Marein zu bilden. Bucerius akzeptierte diese Bedingungen.183 Währenddessen gingen die Auseinandersetzungen in der Redaktion der Zeit weiter, eine feindselige Atmosphäre machte sich breit. Friedrich Sieburg sah sich veranlasst, seine Mitarbeit aufzukündigen, da er »solchen Metzeleien, wie sie in der Redaktion vor sich gehen«, nicht gewachsen sei: »Ich bin auf eine normal arbeitende Redaktion angewiesen und kann mich in einem wenn auch noch so genialen Irrenhaus nicht zurecht finden.«184 Als Müller-Marein im Januar 1955 einen Artikel geschrieben hatte, der sich kritisch mit den McCarthy-Methoden in den USA auseinandersetzte, wurde er von 178 179 180 181
Ebd., Anm. 197. Carl Schmitt an Armin Mohler, 31.5.1957, 25.7.1957, in: ebd., S. 237, 241. Carl Schmitt an Armin Mohler, 15.7.1962, in: ebd., S. 319 f. Bruno Snell an Gerd Bucerius, 4.10.1954, in: Marion Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 0541. 182 Gerd Bucerius an Richard Tüngel, 20.9.1954, in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 76. 183 Vgl. »Ein wenig betrübt, Ihre Marion«, S. 25 ff. 184 Friedrich Sieburg an Gerd Bucerius, 15.12.1954, in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 576.
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Tüngel beurlaubt. Nach fruchtlosen Vermittlungsversuchen setzte Bucerius seinen Chefredakteur und Mitgesellschafter ab. Einen letzten »Vergleichsvorschlag«, der Tüngels Macht wiederherstellen sollte, unternahm Walter Petwaidic im Sommer 1955. Er sah vor, dass Tüngel »unwiderruflich, unkündbar und unabsetzbar« mit einem Vertrag bis Ende 1958 Chefredakteur sein sollte, während Dönhoff und Müller-Marein in den »Redaktionsverband« zurückkehren dürften, sich aber Tüngel zu unterstellen hätten und von diesem ohne Nennung von Gründen gekündigt werden könnten. Werde dieser Vorschlag nicht angenommen, so Petwaidic, werde er die Zeit verlassen.185 Dies war keine wirksame Drohung; Dönhoff kehrte wie auch Müller-Marein im Sommer 1955 zurück, Tüngel hingegen blieb ausgesperrt. Der Versuch, auch Ernst Friedlaender erneut für das Blatt zu gewinnen, schlug allerdings fehl. Er mochte sich nicht offen gegen Tüngel stellen, zudem betrachtete er die Zeit noch nicht als stabilisiert.186 Dönhoffs Rückkehr wurde, davon zeugen zahlreiche Glückwunschschreiben, allgemein begrüßt. Friedrich Sieburg freute sich, »daß nun einige Aussicht besteht, dem Blatt auch vom Politischen her wieder einige Gesundheit zu geben«.187 Es war kein Zufall, dass sich auch Konrad Adenauer nun für Dönhoff interessierte und einen Artikel von ihr über die sowjetische Politik zum Anlass nahm, sie zu einem persönlichen Gespräch nach Bonn einzuladen.188 Das langwierige Schiedsgerichtsverfahren zwischen Bucerius auf der einen und Tüngel sowie Schmidt di Simoni, die sich mittlerweile die Unterstützung von Rudolf Augstein als möglichem neuen Verleger gesichert hatten,189 auf der anderen Seite endete 1957 mit einem vollständigen Sieg von Bucerius, der zum alleinigen Besitzer der Zeit wurde. Insofern kann man das Jahr 1957 als das zweite Gründungsjahr des Blattes verstehen. Seither wandelte sich die Zeit, verbunden mit einer Verjüngung der Redaktion, allmählich zu einem liberalen Leitmedium. Chefredakteur wurde – bis 1968 – Müller-Marein. Marion Dönhoff fungierte als leitende politische Redakteurin. Kurze Zeit später stießen die frisch examinierten Theo Sommer (geb. 1930) und Hans Gressmann (1928-2006) zur Zeit, sie kamen, auf Empfehlung Theodor Eschenburgs, von der Universität Tübingen.190 Eschenburg, der hervorragende Be185 Walter Petwaidic an Gerd Bucerius, 12.7.1955, in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 69; Petwaidic ging dann zur Deutschen Zeitung, hinter der die Dresdner Bank und der Flick-Konzern standen; als diese 1964 vom Handelsblatt (Holtzbrinck) aufgekauft wurde, setzte sich Hans Georg von Studnitz in einem Brief an Franz Josef Strauß, 19.2.1964 vor allem für Petwaidic ein, in: Axel Springer Unternehmensarchiv, Nl. Hans Georg von Studnitz, 6.1. 186 Ernst Friedlaender an Marion Gräfin Dönhoff, 2.8.1955, in: Marion Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 0043/1. 187 Friedrich Sieburg an Marion Gräfin Dönhoff, 22.8.1955, in: ebd., F 0057. 188 Konrad Adenauer an Marion Gräfin Dönhoff, 22.9.1955, in: ebd., F 0042/1. 189 Der heftige Streit zwischen Bucerius und Augstein fand seinen Niederschlag in einem Briefwechsel, in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 76, 525. 190 Gespräch mit Theo Sommer S. 110 f.
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ziehungen zu Marion Dönhoff unterhielt, ging bei der Zeit ein und aus und konnte sich eines launigen Tons befleißigen, wenn er sich von Zeit zu Zeit darüber beschwerte, dass er zu wenig Beachtung fände oder nicht genug herausgestellt werde: »Ich schicke Euch nicht meine Bücher in einer Vielzahl von Exemplaren, damit Ihr sie auf Euren Datschen als Toilettpapier verwendet, sondern damit Ihr sie besprecht. (…) Warum wählt Ihr eigentlich für meine guten Artikel immer meine schlechten Bilder aus? Ihr habt so viele Bilder von mir, daß Ihr eine Ausstellung machen könnt. Es liegt also nicht an den Bildern, sondern an Euch.«191 Recht jung war auch der neue Leiter des Feuilletons, Rudolf Walter Leonhardt (1921-2003),192 der das Ressort von dem gleichfalls jungen Literaturkritiker Paul Hühnerfeld übernahm, der es zwei Jahre geleitet hatte und dann zur Welt ging. Leonhardt, ein Schüler des einflussreichen Romanisten Ernst Robert Curtius, war bereits 1955 als politischer Redakteur eingestellt worden, nachdem er sieben Jahre an der Universität Cambridge studiert und als Journalist in England gearbeitet hatte. Mit der Übernahme des Feuilletons durch Leonhardt erfolgte zugleich eine personelle Erweiterung des Ressorts mit jungen Nachwuchskräften, darunter Dieter E. Zimmer. Leonhardt gelang es, das heruntergewirtschaftete Feuilleton193 der Zeit für kurze Zeit auf Augenhöhe mit jenem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu bringen, nicht zuletzt durch die Heranziehung von Angehörigen der Gruppe 47. In den 1960er Jahren avancierte er zu einem der erfolgreichsten und profiliertesten Redakteure der Zeit, der sich in der Gunst des Verlegers sonnen durfte: »Leo’s Temperament hat das Feuilleton zu einem ganz besonders anregenden Teil der ›Zeit‹ gemacht. Viel der Auflagensteigerung der letzten beiden Jahre verdanken wir ihm; da bin ich ganz sicher.«194 Die internen inhaltlichen Auseinandersetzungen der frühen 1950er Jahre waren mit einer schweren ökonomischen Krise der Zeit einhergegangen. Die Auflage war 1951 gegenüber dem Vorjahr von 82.000 auf 45.000 Exemplare abgestürzt. Nur ein großzügiger Kredit von Bucerius, der damit seinen Anteil von 25 auf 67,5 Prozent erhöhte und Mehrheitsgesellschafter wurde, hielt das Blatt am Leben;195 erst seit Mitte der 1970er Jahre schrieb es dauerhaft schwarze Zahlen. Den Hintergrund der seit 1957 günstigen Auflagenentwicklung bildete sicherlich der beginnende Boom höherer Bildung, der für die Vermehrung eines akademisch gebildeten potentiellen Publikums sorgte. Nach Erhebungen zum Leserprofil aus dem gleichen Jahr ging hervor, dass 70 Prozent der Leser Abitur hatten und etwa 191 Theodor Eschenburg an Politische Redaktion der Zeit, 4.8.1961, in: Marion Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 1583. 192 Janßen/Kuenheim/Sommer, Die Zeit, S. 157 ff. 193 Gerd Bucerius an Rudolf Walter Leonhardt, 2.9.1957, in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 204. 194 Gerd Bucerius an Josef Müller-Marein, 12.8.1959, in: ebd., 202/1. 195 Zur Entwicklung der Beteiligung von Bucerius am Zeit-Verlag s. Unterlagen in: Archiv der Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 158.
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die Hälfte Hochschulbildung besaß. Zudem konnte ein Wochenblatt, das auf die politische und gesellschaftliche Liberalisierung der Bundesrepublik drängte, angesichts der durchgängig konservativen Konkurrenz eine Marktlücke besetzen. Das Eintreten für eine reformfreudigere Politik wurde zum erfolgreichen Geschäftsmodell, Hamburg galt in doppeltem Sinne als publizistische Hochburg der neuen Zeit, die das Ende der konservativen Hegemonie einleitete.196
4.2 Modernisierung unter konservativen Auspizien Die Briefe von Arnold Gehlen an den Herausgeber des Merkur, Hans Paeschke, bieten eine Fundgrube für die tiefe Verachtung des kulturpessimistischen Lamentos namhafter Intellektueller durch einen der nüchternen »modernen Konservativen«. Sie richtete sich einmal gegen Toynbee, der mit seiner Schwärmerei »in der Linie Thielicke – Weizsäcker – Pascual Jordan« mit ihrer »Beerdigungslitanei« liege.197 Ein anderes Mal berichtete er, »da man immer etwas zu lachen haben muss«, von einer persönlichen Einladung durch den hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje zu einer Tagung in Loccum über »Intellektuelle und Kirche«; er sollte dort in einer Podiumsdiskussion mit Carl Friedrich von Weizsäcker und Erich Kuby diskutieren, das sei ihm »geradezu surrealistisch« erschienen, aber er habe höflich abgesagt.198 In der Radikalität seiner Ablehnung kulturpessimistisch eingeordneter Intellektueller, zumal wenn sie fromm waren, ließ sich Gehlen von linken Publizisten nicht übertreffen. Aber es handelte sich bei Gehlen nicht um aufklärerische Intentionen, sondern um den »bösen Blick des indignierten Konservativen«,199 der eine Aner-
196 Frank Bajohr, Hamburg, DIE ZEIT und die Liberalisierung der Bundesrepublik, in: Haase/Schildt, DIE ZEIT, S. 84-99. 197 Arnold Gehlen an Hans Paeschke, 19.5.1957, in: DLA, D: Merkur; der Theologe Thielicke, der Physiker Jordan und der Philosoph Weizsäcker waren prominente Professoren der Hamburger Universität, die beiden erstgenannten christlich-konservativ, Weizsäcker liberal; vgl. Axel Schildt, Einen Adorno hatten wir nicht. Hamburger Professoren als Public Intellectuals in den 1950er und 1960er Jahren, in: Rainer Nicolaysen/Eckart Krause/Gunnar Zimmermann (Hrsg.), 100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1, im Erscheinen (Göttingen 2020); das evangelisch-konservative Netzwerk um Hanns Lilje erschließt sich im Blick auf die Autoren von Heinz Brunotte/Erich Ruppel (Hrsg.), Gott ist am Werk. Festschrift für Landesbischof D. Hanns Lilje zum 60. Geburtstag, Hamburg 1959. 198 Arnold Gehlen an Hans Paeschke, 2.12.1958, in: DLA, D: Merkur. 199 Helmut F. Spinner, Erkenntnis und Entlastung. Zu Arnold Gehlens Verständnis von Wissenschaft und Technik im unausgearbeiteten Bezugsrahmen der Klassischen Wissensordnung, in: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1994, S. 19-56, Zitat S. 20.
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kennung der Wirklichkeit mit einer Kritik der humanistischen Gehalte der Aufklärung verband. Die »Suche nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit«200 als Durchsetzung eines zeitgemäßen, modernen Konservatismus, so die retrospektive Bezeichnung, gehört gleichwohl zur Geschichte der Aufhellung politischer Kultur und intellektueller Diskurse. Denn es ließ sich einfach nicht übersehen, dass der schrullige Antiurbanismus, das Massenphobische, die Klage über die zerstreuenden elektronischen Medien, über die Säkularisierung und Sexualisierung, über die Auflösung der Ehe und Familie sowie die Gefährdung der Jugend, kurz: der gesamte überkommene antimodernistische Konservatismus, durch die gesellschaftliche Entwicklung in eine schwere Krise geraten war. Gegen Mitte der 1950er Jahre sah man allmählich eine neue, ungekannte Konsumgesellschaft heraufdämmern, eine neue Lebensweise um Eigenheim, Automobil und Fernsehgerät,201 auf die sich die intellektuellen Deuter einzustellen hatten. Insofern war eine Kritik des überkommenen Kulturkonservatismus aus dem Geist konservativer Erneuerung überfällig. Man kann das als »Selbstkorrektur des Konservatismus im Medium der Technikkritik« beschreiben. Technik sollte nicht mehr als Mittel, sondern als System gelten.202 Dass deren Protagonisten sich dabei als isolierte Minderheit präsentierten, gehörte zur Stilisierung als theoretische Avantgarde. Es entsprach keineswegs der Realität, dass die konservative Presse Hans Freyer mit dem Argument den Kampf angesagt hatte: »Was will man denn, es ist doch alles in bester Ordnung und das Abendland gerettet.«203 Vielmehr standen den maßgeblichen Protagonisten einer Modernisierung des Konservatismus sämtliche Medien offen, von einer Isolation konnte keine Rede sein, um die Mitte der 1950er Jahre waren sie tonangebend. Ziel der konservativen Modernisierer war es im Unterschied zu den Intellektuellen um den CCF und den Monat nicht, Teil einer liberal ausgemalten westlichen Welt zu werden, sondern durch die Anerkennung der Wirklichkeit konservative Hegemonie neu zu begründen und zu festigen. Die dafür entwickelten theoretischen Versatzstücke sind – vor allem in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie – untersucht worden, in erster Linie fand das reichhaltige Œuvre der zentralen Figuren Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky große Beachtung.204 Es umspannt die Zeit der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik der 1970er 200 Helmut Schelsky, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965; s. auch Kapitel II.2.2. 201 S. Kapitel II.2.3. 202 Kurig, Bildung, S. 421. 203 Arnold Gehlen an Helmut Schelsky, 11.5.1955, in: ULB Münster, Nl. Schelsky, Kapsel 23.974. 204 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Hans Freyer (1887-1969), Arnold Gehlen (1904-1976), Helmut Schelsky (1912-1984), in: Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens, München 52007, S. 72-104; Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens, Frankfurt a. M./New York 2010; Gallus, Helmut Schelsky.
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Jahre. Den wiederum traditionsreichen Begriff der »Wirklichkeitswissenschaft« hatte Hans Freyer bereits 1930 geprägt, und die Bemühungen um ein modernes theoretisches Fundament zur Festigung konservativer Herrschaft besaßen einen langen Vorlauf aus den 1930er Jahren, als den zuvor konservativ-revolutionär gestimmten Jugendbewegten allmählich klar geworden war, dass die Potentiale einer »Revolution von rechts« erloschen waren. So erklärte Helmut Schelsky 1955 in einem ganzseitigen Artikel in der FAZ das Restaurative der Epoche »zur Sehnsucht nach dem, was wir fraglos einst besessen haben, und was, wie wir immer besser spüren, Fundamente des Daseins enthielt, auf die wir allzu unwissend und leichtfertig verzichtet haben«. Mit dieser Feststellung erhob sich Schelsky über die Naivität derjenigen Publizisten von links und rechts, die die »Restauration« als simples Faktum beklagten und nach »Sicherheit in veralteten sozialen Leitbildern« suchten, indem er diese Suche historisch erklärte. Zugleich wertete er die Einrichtung in restaurativen Verhältnissen als anthropologisch zu verstehende Sehnsucht der Menschen nach Stabilität und zitierte Arnold Gehlen, dass Stabilisierung nur als »Neuanlegen von Traditionen oder ein Wiederanknüpfen an abgebrochene« verstanden werden könne.205 Erfassen lässt sich die Bedeutung der konservativen Modernisierer nicht im engen wissenschaftshistorischen Rahmen, sondern nur im weiteren intellektuellengeschichtlichen Zusammenhang. Zwar wäre es unangemessen, einen Generalplan zur Gewinnung öffentlicher Hegemonie zu unterstellen, schon weil Freyer, Gehlen und Schelsky keine jederzeit geschlossene Formation bildeten. Anders als die liberalen Modernisierer um den CCF und den Monat besaßen die modernen Konservativen kein politisches Feldzeichen, der Begriff des Konservatismus wurde weithin vermieden. Auch fehlte eine steuernde Organisation, und es gab kein exklusives Medium für den Transport des eigenen Meinungswissens. Aber da es sich um eine Tendenz handelte, die in vielen Medien, von der Zeit bis zum Spiegel, von der FAZ bis zur Welt, Aufnahme fand, ergab sich der Vorteil, dass der moderne Konservatismus nicht als ideologische Strömung, sondern als allgemeiner Zug zur Unvoreingenommenheit, Nüchternheit und Klarheit erscheinen mochte. Und wenn diese ideologische Strömung zwar vor allem kulturprotestantischen und kirchenfernen Milieus entsprang, so gab es doch auch auf katholischer Seite Intellektuelle, die ähnlich dachten. So plädierte der österreichische Publizist und Historiker Friedrich Heer ausdrücklich für einen vernünftigen und antireaktionären Konservatismus.206 Zwei Foren waren als Schreiborte für die konservativen Modernisierer besonders wichtig: die maßgebliche intellektuelle Zeitschrift Merkur und das erfolgreichste intellektuelle Verlagsprojekt der 1950er Jahre, Rowohlts deutsche Enzyklopädie (rde). Die exzellente Vernetzung sowohl der Zeitschrift als auch des Rowohlt Verlags trugen dazu bei, dass die Gedankenwelt der modernen Konservativen sich im 205 Helmut Schelsky, Über das Restaurative unserer Zeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.1955. 206 Friedrich Heer, Der Konservative und die Reaktion, in: Die Neue Rundschau, Jg. 69, 1958, S. 490-527.
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gesamten medialen Feld der Intellektuellen ausbreitete und popularisiert wurde. Zudem waren Freyer und mehr noch Gehlen und Schelsky in Presse, Funk und sogar im Fernsehen sehr präsent. Gehlen mochte mit seinen soziologisch-anthropologischen Texten »ein Schriftsteller für wenige«207 gewesen sein – obwohl auch das nicht ganz stimmte –, als populärer Vortragsredner und Diskutant war er omnipräsent. Er wusste genau um die Konkurrenz auf dem Markt der intellektuellen Deuter, die er in einem Aufsatz nüchtern analysierte. Gehlen ging von der Definition Schumpeters aus, nach der die Intellektuellen sich gegenseitig für Klasseninteressen bekämpften, die nicht ihre eigenen seien, aber eine so große Gruppe bildeten, dass sie selbst ein spezifisches Verhalten entwickelten, das mit dem Begriff der sozialen Klasse verbunden werden könne. In der »modernen industriell-bürokratischen Gesellschaft« bestehe eine steigende Nachfrage nach Intellektuellen, ihren Berufen und Diensten. Gehlen unterschied die »Fachakademiker« und die »Künstler und Publicity-Berufe«, darunter zählte er auch die Journalisten. In einer prekären Situation befände sich letztere Gruppe. So werde der »Schriftsteller von der Konkurrenz der im Nebenberuf Publizierenden eingeengt«, alle Künstler unterlägen zudem der »Konkurrenz der Toten«, weil das Bildungsbürgertum eher Texte aus dem 19. Jahrhundert als aus der Gegenwart lese, und einem »Konformitätsdruck derart, daß der Produktionsauftrag umso unwahrscheinlicher wird, je eigenwilliger und origineller die Leistung ist«. Aus der »unterprivilegierten Lage« von großen Teilen der Intellektuellen ergebe sich wiederum deren »tiefer gehende Unzufriedenheit«.208 Mit dieser souveränen Beschreibung aus der Sicht eines Mitglieds der akademischen Gruppe, mit der er sich zugleich in die Reihen der Intellektuellen stellte und von oben auf ihr Prekariat herabblickte, lieferte Gehlen ein eingängiges Narrativ für die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wachsende Besorgnis über die zunehmende Unzufriedenheit und Aufsässigkeit der Intellektuellen. Die Merkur-Herausgeber fuhren gemäß ihrer Dialog-Strategie zunächst zweigleisig. Einerseits umwarb man die kulturkonservativen Heroen von Ortega y Gasset bis Ernst Robert Curtius,209 auf der anderen Seite erhielten schon um 1950 prominente Intellektuelle ein Forum, die vom christlichen Abendland und vor allem von der Verteufelung moderner Technik nichts wissen wollten. Gottfried Benn konstatierte zum einen spottlustig, es gehe »eine neue große Woge von Frömmigkeit über den Erdteil«, er nannte Alfred Döblin, T. S. Eliot, Toynbee und Jünger, zum anderen aber stand für ihn fest: »Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein. Montagekunst.«210 Es gehe nicht darum, das zu begrüßen, sondern es heroisch auszuhalten – eine bekannte Denkfigur revolutionärer Konservativer. Konzeptionell 207 Armin Mohler, Arnold Gehlen und die Malerei, in: Klages/Quaritsch, Bedeutung, S. 671-706, Zitat S. 681. 208 Arnold Gehlen, Was wird aus den Intellektuellen?, in: Wort und Wahrheit, Jg. 13, 1958, S. 607-615, Zitate S. 607, 609, 610. 209 S. Kapitel II.2.2. 210 Gottfried Benn, Phase II. Antworten auf ein Interview über meine neuen Bücher, in: Merkur, Jg. 4, 1950, Zitate S. 25, 26.
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bedeutsam waren die Beiträge des aus der SBZ in den Westen gewechselten Philosophen Max Bense, der allerdings nicht als konservativ zu verstehen ist. Seinen Aufsatz »Über die spirituelle Reinheit der Technik« leitete er mit den Sätzen ein: »Wir bewohnen eine technische Welt. Eine Welt, die wir machten, deren Veränderung in unseren Händen liegt und deren Vollkommenheit wesentlich von unserer Vernunft und unserer Einbildungskraft abhängt. (…) Auf die Dauer kann man keine Welt bewohnen, deren Prinzipien und Kräften man mißtraut.«211 Eine Aussage, die Freyer und Gehlen sicherlich unterschrieben hätten. Bense war der erste, der dem Publikum der Zeitschrift die neue Wissenschaft von der Kybernetik vorstellte, die um 1950 in der Bundesrepublik noch nahezu unbekannt war.212 Der frühere Kommunist und Intellektuelle aus dem Umkreis der Frankfurter Schule Franz Borkenau betonte, die »höchsten geistigen Güter« des Abendlandes seien »mit der Technik untrennbar verknüpft«. Seine Kritik richtete sich gegen Spengler, Toynbee, Ortega y Gasset, Paul Valéry und die Gebrüder Jünger.213 Und auch Theodor Heuss hatte einen sinnvollen Umgang mit der Technik angemahnt, die den Menschen – räumlich und zeitlich – eine »Verkürzung« ermögliche.214 Insofern war die Verteidigung der Technik kein Alleinstellungsmerkmal der modernen Konservativen, hier standen sie mit Liberalen und manchen katholischen Abendland-Ideologen in einer Reihe. Was die Merkur-Herausgeber schon seit den frühen 1950er Jahren interessierte, waren Perspektiven jenseits des eingefahrenen konservativen Antiamerikanismus. Begeistert äußerten sich die Herausgeber über die Berichte aus der Neuen Welt von Robert Jungk, den sie immer wieder aufforderten, für den Merkur zu schreiben;215 Jungk lieferte zunächst Artikel über die atomaren Gefahren, später zur Zukunftsforschung.216 Gegenüber aggressiven Protagonisten einer westlichen Politik der Stärke wie dem Remigranten Robert Ingrim (1897-1964), der anfangs als Autor wohlgelitten war, gingen die Herausgeber des Merkur seit 1951 ebenso auf Abstand wie gegenüber dem Kulturpessimisten Ludwig Marcuse, dessen Glosse über den Kinsey-Report 211 Max Bense, Über die spirituelle Reinheit der Technik, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 767-780. 212 Ders., Kybernetik oder Die Metatechnik einer Maschine, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 205218; vgl. Radkau, Geschichte, S. 97 ff. 213 Franz Borkenau, Technik und Fortschritt, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 625-637. 214 Theodor Heuss, Über die Bewertung der modernen Technik, in: Jahresring 55/56, Stuttgart 1956, S. 101-111; das Stichwort der »Problemverkürzung durch Technik« geht zurück auf Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949; vgl. Kurig, Bildung, S. 412 ff.. 215 Joachim Moras an Robert Jungk, 18.11.1952; Hans Paeschke an Robert Jungk, 3.12.1952, 19.5.1961, in: DLA, D: Merkur. 216 Robert Jungk, Super – Materialien zur Entstehungsgeschichte der Wasserstoffbombe (I und II), in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 471-485, 566-577; ders., Göttingen: Geburtsstunde der Atomphysik, in: Merkur, Jg. 10, 1956, 900-912; ders., Zukunftsforscher und Zukunftsverhinderer, in: Merkur, Jg. 23, 1969, S. 495-496.
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1953, obwohl von der Redaktion bestellt, wegen mangelnder Qualität abgelehnt wurde.217 Auch dem rechtskatholischen Erik Maria Kuehnelt-Leddihn verschloss sich der Merkur seit Mitte der 1950er Jahre. Letzterer erhielt die Empfehlung, es doch lieber bei Wort und Wahrheit, beim Hochland oder der Zeitenwende zu versuchen218 – Ratschläge, die ihm schon Walter Dirks erteilt hatte. Von den rechten Denkern blieb einzig Armin Mohler über zwei Jahrzehnte, von 1947 bis 1971, mit dem Merkur verbunden.219 Allerdings zählte er nicht zu den alten antimodernistischen Konservativen, sondern stilisierte sich seit seiner Dissertation über die sogenannte Konservative Revolution vor 1933 als radikaler Nationalrevolutionär. Maßgeblich für die neue moderne Richtung wurde Hans Freyers »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters«, veröffentlicht 1955 bei DVA. Der Vorlauf dieses Buches ist mindestens bis zum 65. Geburtstag des Autors drei Jahre zuvor zurückzuverfolgen. Ein Symposium, an dem unter anderen Carl Schmitt, Arnold Gehlen und Hans Barion teilnahmen, galt dem Thema »Konservatismus«. Schmitt schwärmte von dem »aufregenden Gespräch«, bei dem offenbar die Notwendigkeit der Erneuerung rechten Denkens im Zentrum stand.220 Freyer legte mit diesem Schlüsseltext gewissermaßen den theoretischen Grundstein eines zeitgemäßen Konservatismus. Die Stichworte des intellektuellen Diskurses – »Vereinzelung des einzelnen«, »Tendenz zum Totalitären«, »Entfremdung, Masse und Anpassung« – werden schon im Inhaltsverzeichnis genannt. Für Freyer hatte die Gesellschaft gewissermaßen ihre Geschichte verloren. Die »Industriegesellschaft« des »technischen Zeitalters« war, zur modernen Struktur geronnen, vollendet und stillgestellt. Fortschritt vollzog sich nur noch innerhalb des für immer gesetzten Rahmens. Diese Auffassung war für sich noch nicht originell, sie verallgemeinerte Erfahrungen einer ehemals völkischen und konservativrevolutionären Intellektuellengeneration und findet sich etwa in der Sozialgeschichte als »Strukturgeschichte« des Heidelberger Historikers Werner Conze, mit dem Freyer eng kooperierte.221 In der allgemeinen Medienöffentlichkeit wurde die »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters« häufiger als übliche Kulturkritik missverstanden und gelobt. »Es mag sein, dass man diesen Themen schon öfter begegnet ist. Aber es ist selten, dass sie so übersichtlich und anschaulich und als wesentliche Eigenschaften un217 Joachim Moras an Ludwig Marcuse, 27.10.1953, 13.11.1953, in: DLA, D: Merkur. 218 Hans Paeschke an Erik von Kuehnelt-Leddihn, 4.5.1955, in: DLA, D: Merkur. Vgl. zum unterschiedlichen Namensgebrauch von Kuehnelt-Leddihn die Fußnote 97 im Kapitel I.3. 219 Armin Mohler an Hans Paeschke, 8.8.1947, in: DLA, D: Merkur; der Bruch erfolgte 1971, als Mohler der Zeitschrift vorwarf, sich schäbig gegen Arnold Gehlen verhalten und Jürgen Habermas Gelegenheit gegeben zu haben, diesen im Merkur zu kritisieren. 220 Carl Schmitt an Armin Mohler, 16.8.1952, in: Schmitt, Briefwechsel, S. 132. 221 Vgl. Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Lehre, Köln 1957; vgl. Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Ulrich Bielefeld, »Die Ausgangslage, von der aus nur noch nach vorn gedacht werden kann.« Hans Freyer und die Bundesrepublik Deutschland, in: Hettling/Ulrich, Bürgertum, S. 164-184.
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seres Zeitalters dargestellt werden«, schrieb ein Journalist im Münchner Merkur.222 Entscheidend war aber weit darüber hinausgehend der Gedanke, dass dem unausweichlichen, vor allem psychologischen Druck »der sekundären Systeme« im »technischen Zeitalter« nicht allein mit Anpassung begegnet werden dürfe, sondern grundsätzlich »über die Möglichkeit, der Entfremdung gewachsen zu sein«, nachgedacht werden müsse. Freyer schloss sein Buch mit dem Satz: »Nur wenn sich aus dem Erbe der Geschichte Kräfte erschließen lassen, hart genug, um ihm gewachsen zu sein, gelöst genug, um sich ihm einzuflößen, wird sich das sekundäre System als ein Jahresring, durch den hindurch sie wachsen wird, an die Geschichte der Menschheit anlegen.«223 Freyer betonte in seinen zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen immer wieder, dass seine Position insofern nicht als kulturpessimistisch misszuverstehen sei, sondern selbst eine Kritik der überkommenen Kulturkritik darstelle, und warnte vor der Verwendung von Klischee-Begriffen wie dem der »Entfremdung«.224 Damit konnte er sich, von manchen als Kulturkritiker missverstanden und deshalb affirmiert, innerhalb der intellektuellen Diskurse als Anhänger der Moderne und einer letztlich doch »optimistischen Ideologie«225 profilieren. Das Buch wurde umgehend von Arnold Gehlen, seinem vormaligen Assistenten, im Merkur besprochen. Dieser betonte, dass die von Freyer zuletzt genannten Kräfte nichts anderes seien als die Konservativen selbst, die einzigen Gegenspieler der schwachen Anpasser: »Der Konservatismus dagegen will ein gewachsenes geschichtliches Erbe von Maßstäben und Haltungen festhalten und bewahren.« Allerdings, so Gehlen, sei diese »Haltung« in der ideologisch befangenen Gegenwart nicht politisch organisierbar.226 Gehlen stimmte mit Freyer völlig darin überein, dass es letztlich um eine Persönlichkeit gehe, die über einen Realitätssinn verfüge, der es ihr ermögliche, sich der Wirklichkeit zu stellen, statt aus ihr zu flüchten.227 222 Kurt Seeberger, Dieses Zeitalter! Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, in: Münchner Merkur, 23.5.1955, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSe M 247. 223 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 260. 224 Vgl. Hans Freyer, Leben aus zweiter Hand, in: Jahresring 59/60, Stuttgart 1960, S. 30-41; der Jahresring wurde vom Kulturkreis des BDI bei der DVA herausgegeben und von Paeschke und Moras redigiert. 225 Günter Maschke, der proletarische Büger. Hans Freyer: »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters« (1955), in: Rühle, Bücher, S. 183-191, Zitat S. 183. 226 Arnold Gehlen, Zu Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 578-582, Zitat S. 580; die konservative Stoßrichtung Freyers verkennt Volker Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt a. M. 1994, S. 184, der seine Intention, ausgehend von den Werten der »Freiheit, Menschlichkeit und Selbstentfaltung der Persönlichkeit«, als »soziologische Aufklärung« missversteht. 227 Vgl. Klaus Barheier, Arnold Gehlens Theorie des technischen Zeitalters im Kontext der »Leipziger Schule«, in: Klages/Quaritsch, Bedeutung, S. 89-111, hier S. 106 f.; vgl. KarlSiegbert Rehberg, Zurück zur Kultur? Arnold Gehlens anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hrsg.), Kultur, Be-
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Dieser Gestus des realistisch-heroischen Aushaltens der Moderne passte hervorragend zur weltanschaulichen Gestimmtheit der intellektuellen Diskurse. Immer wieder betonte Gehlen unter Bezugnahme auf Freyer, die dominierende »Erfahrung aus zweiter Hand« müsse dazu führen, dass Entscheidungen, auch wenn sie »nicht ganz einleuchtend sind«, durchgesetzt werden müssten, ein »anscheinend ›autoritäres‹ Verhalten (ein) in Wirklichkeit gar nicht vermeidbares Verfahren« sei.228 Einige skeptische Aufsätze zur Verfasstheit der Öffentlichkeit flankierten Freyers Analyse. So betonte der konservative Publizist Helmut Cron, der den Herausgebern seit den 1930er Jahren bekannt war, die öffentliche Meinung werde nicht von der Zahl, sondern von der »Qualität der Meinungen« bestimmt, und sei »niemals anonym«.229 Die Skepsis gegenüber dem Demos und die Suche nach der Persönlichkeit, die sich souverän in der Medienflut der Gegenwart bewegte, aber auch deren Suche nach Gleichgesinnten, nach einem Team, grundierten eine Fülle von Diskussionen, etwa die Darmstädter Gespräche Ende der 1950er Jahre. So diskutierte man unter dem Titel »Ist der Mensch messbar?« 1958 über die Möglichkeit, eine »Persönlichkeit in spezifischer Aufgabenerfüllung innerhalb unserer arbeitsteiligen, großräumigen Massengesellschaften« zu schaffen, und in diesem Zusammenhang über die Gefahren psychologischer Testverfahren.230 Arnold Gehlen war der am häufigsten vetretene Autor der konservativ-modernen Strömung im Merkur. Die Verbindung hatte Paeschke 1949 nach einem Gespräch bei Carl Schmitt in Plettenberg geknüpft, bei dem Gehlens Name gefallen war, zudem schätzte er Gehlens Bücher zur Anthropologie aus den 1930er Jahren,231 deren Kernthesen dieser in der Zeitschrift immer wieder entfalten durfte. Eben aus der Anthropologie, so führte er dort aus, in der der Mensch als »Mängelwesen« in jeder »natürlichen Umwelt lebensunfähig« wäre, ergab sich zwingend die Angewiesenheit auf die Technik, die den Menschen nicht nur umgebe, sondern »in sein Blut« eindringe.232 Im »Zeitalter der Technik« konnten nur noch die »Institutionen« selbst die Stabilität des menschlichen Zusammenlebens sichern: »Diese Institutionen sind so riskiert wie der Mensch selbst, und sehr schnell zerstört, die Kultur unserer Instinkte und Gesinnungen muß von jenen Institutionen von außen her versteift, hochgehalten und hochgetrieben werden, und
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stimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 276-316; vgl. auch Jens Hacke, Konservatismus des Standhaltens. Arnold Gehlens Analyse der modernen Industriegesellschaft, in: Schütz/Hohendahl, Solitäre, S. 121-134. Arnold Gehlen, Mensch trotz Masse. Der Einzelne in der Umwälzung der Gesellschaft, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur 1952, S. 574-594, Zitate S. 595. Helmut Cron, Verkümmerte öffentliche Meinung, in: Merkur, Jg. 12, 1958, S. 1097-1099, Zitat S. 1098. Franzen, Ist der Mensch messbar?, S. 28 (das Zitat stammt von Eugen Kogon); zwei Jahre später befasste man sich mit der öffentlichen Meinung: Kogon/Sabais, Der Mensch. Hans Paeschke an Arnold Gehlen, 15.7.1949, in: DLA, D: Merkur. Arnold Gehlen, Die Technik in der Sichtweise der philosophischen Anthropologie, in: Merkur, Jg. 7, 1953, S. 626-636, Zitate S. 627 f., 634.
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wenn man diese Stützen wegschlägt, dann primitivisieren wir sehr schnell, dann vernatürlicht sich der Mensch und wird zurückgeworfen auf die konstitutionelle Unsicherheit und Ausartungsbereitschaft seines Antriebslebens.«233 Gehlens anthropologische Überlegungen fanden in seinen Vorträgen mitunter eine politische Übersetzung, etwa im Lob der »Spannungspartnerschaften« von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften als zentralem Element gesellschaftlicher »Selbststabilisierung«. Der »soziale Frieden (sei) zum gemeinsamen Produktionsmittel für alle« geworden.234 In seinen Merkur-Aufsätzen verzichtete er auf solche politischen Implikationen. Mit einer dialektischen Volte vereinbarte Gehlen die von ihm konzedierte »Seelenuniformierung« der modernen Gesellschaft mit den künstlerisch-ästhetischen Aufbrüchen der Moderne, die ein neues Selbst- und Weltverhältnis des Subjekts thematisierten. Zugleich habe es nämlich »in der Welt noch nie so viel ausdifferenzierte und ausdrucksfähige Subjektivität wie heute« gegeben, denn »heutzutage trage man die Uniform bewußt, und ebenso bewußt seine Subjektivität«.235 Diese These begründete, warum Gehlen sich in seinen Aufsätzen häufig mit der modernen Kunst, vor allem der modernen Lyrik und Malerei beschäftigte. In der Sphäre der Ästhetik fand er ein »entlastetes« Verhalten.236 Bedeutsam waren für ihn die moderne Malerei und Lyrik deshalb, weil »das Bildbedürfnis der Massen heute durch Photo und Film erfüllt werde«. Das sei die Kunst, die am genauesten der »modernen Mentalität« entspreche. Aber gerade dadurch gewinne die »moderne, zumal die gegenstandslose Malerei« eine enorme »industriegesellschaftliche Substanz«. Durch ihre »Kommentarbedürftigkeit« erzeuge sie eine »ungeheure Menge von Literatur über die Kunst, von Büchern, Zeitschriften, Vorträgen; täglich berichten Zeitungen, eröffnen Ausstellungen, der Rundfunk bringt Gespräche und Interviews«. Die Diskurse um die moderne Kunst lägen, so Gehlen, »wie ein zweiter Rahmen um die Bilder herum«, der Kommentar gehöre »zur Substanz der neuen Kunst«.237 Die Geschichte der Bildenden Kunst seit dem 19. Jahrhundert galt ihm als Transformation vom populären Bild zu einer stets in kommentierende Diskurse eingebundenen Malerei, die »nicht mehr unter dem unbeugsam konven233 Ders., Natur und Faktenwelt, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 16-24, Zitat S. 24. 234 Ders., Die gesellschaftliche Situation unserer Zeit, in: Unser Standpunkt – unser Standort. Ansprachen und Vorträge auf der erweiterten Mitgliederversammlung der Landesvereinigung der industriellen Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalen e. V. am 11. März 1960 in Düsseldorf, Düsseldorf 1960, S. 43-55, Zitate S. 46. 235 Ders., Das Ende der Persönlichkeit?, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 1149-1158, Zitate S. 1151. 236 Ders., Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens, in: Studium Generale, Jg. 3, 1950, S. 54-60; dieser Ansatz wurde vom jungen Habermas dahingehend modifiziert, dass die moderne Kunst als Heilerin der unpersönlichen Technik fungierte; Habermas, Moloch; s. auchKapitel II.2.2. 237 Arnold Gehlen, Soziologischer Kommentar zur modernen Malerei, in: Merkur, Jg. 12, 1958, S. 301-315, Zitate S. 302, 304; ders., In die Freiheit verstrickt. Zur Situation der modernen Kunst, in: Merkur, Jg. 14, 1960, S. 301-307.
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tionellen Geschmack des Publikums« zu leiden habe, sondern eine Sache der geistigen Eliten geworden sei. Dadurch, dass »jede ursprüngliche Naivität aufgehört« habe, sei Mitteilbarkeit »auf engste Kreise von Virtuosen eingeschränkt, auf diejenigen, die zuerst merkten, was fällig wurde«.238 Als Pionier dieser Entwicklung würdigte er des Öfteren Max Ernst.239 Die Vereinbarkeit von moderner, und das hieß zeitgenössisch: unsinnlicher, abstrakter Kunst wurde von ihm als Möglichkeit gesehen, die konservative Meinungsführerschaft in der ästhetischen Moderne-Debatte zu erlangen, die am Ende der 1950er Jahre mit einem Sieg der Modernisten ein – vorläufiges – Ende gefunden hatte.240 Als Hausautor des Merkur konnte Gehlen bei der Bestellung von Rezensenten seiner eigenen Bücher mitreden. Für »Urmensch und Spätkultur« (1956), das Jürgen Habermas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der »dort jetzt üblichen Gereiztheit besprochen«241 habe, riet er zunächst von Freyer ab, verwies auf Schelsky, dieser auf seinen Assistenten Rudolf Tartler; schließlich übernahm Hans Freyer die Aufgabe doch.242 Gehlen wusste sehr genau zu unterscheiden, dass seine Polemik gegen den überkommenen Kulturkonservatismus der Kritik der Denkfaulheit des eigenen Lagers galt, während feindliche Positionen stets auf der Seite der intellektuellen Linken ausgemacht wurden. Das waren für ihn vor allem die Frankfurter Dioskuren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, deren Kulturkritik wiederum Züge der von Gehlen kritisierten antimodernistischen Konservativen zu tragen schien.243 In einem Brief an Helmut Schelsky zog er unverblümt über Horkheimers »Regression in die embryonalen Frühstadien des Marxismus« her,244 und mit Adorno kreuzte er im Rundfunk immer wieder die Klingen.245 Aber auch in dem jungen Habermas witterte er den Feind, dessen »Gewinsel über die Entfremdung« war ihm zuwider, wie er an Paeschke schrieb.246 Das belastete bald auch die gute Verbindung zur Redaktion des Merkur, hatten deren Herausgeber doch Habermas unter ihre besondere Obhut genommen. Im 238 Ders., Über die gegenwärtigen Kulturverhältnisse, in: Merkur, Jg. 10, 1956, S. 520-531; dem Beitrag von Gehlen folgten hier neue Gedichte von Ingeborg Bachmann. 239 Ders., Kommentar, S. 310 ff.; ders., Max Ernst 70 Jahre alt, in: Jahresring 61/62, Stuttgart 1961, S. 33-37. 240 Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 172 ff.; Kießling, Undeutsche Deutsche, S. 318 ff. 241 Arnold Gehlen an Joachim Moras, 7.4.1956, in: DLA, D: Merkur; in diesem Zusammenhang äußerte Gehlen zur FAZ, man müsse »sich zuerst von diesem Blatt distanzieren, das überall da, wo sie nicht vor Bonn kuschen müssen, revolutionär tut«. 242 Arnold Gehlen an Joachim Moras, 29.7.1956, in: DLA, D: Merkur. 243 S. Kapitel II.4.2. 244 Arnold Gehlen an Helmut Schelsky, 22.9.1953, in: ULB Münster, Nl. Helmut Schelsky, Kapsel 23.091. 245 S. Kapitel II.4.3. 246 Arnold Gehlen an Hans Paeschke, 22.6.1957, in: DLA, D: Merkur.
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Redaktionsarchiv des Merkur finden sich 240 Briefe der Herausgeber an Habermas, 149 Briefe von ihm an Paeschke und Moras. Man spürt geradezu den pädagogischen Impetus, mit dem die Herausgeber erste Einsendungen von Habermas 1953 abwiesen, aber gleichzeitig das Gespräch mit ihm suchten. Zur Promotion bei Erich Rothacker ein Jahr später erhielt er ein Glückwunschschreiben von Moras und es war wohl einmalig in der Geschichte der Zeitschrift, dass der Leserschaft die Promotion eines 24-Jährigen mitgeteilt wurde.247 Seither war Habermas als Hausautor aufgenommen. Kurz darauf wurde sein Text »Mensch – Maschine – Monotonie« begeistert begrüßt. Hans Paeschke war besonders davon angetan, dass Habermas nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch »innerhalb des Konsumvorgangs eine entsprechende Entfremdung« nachgewiesen habe. Dabei kann man von einem charakteristischen Missverständnis des Merkur-Herausgebers sprechen: »ich irre mich wohl nicht, wenn ich den ganzen Aufsatz auf die gleich unbedingte, nun praktisch nach allen Seiten hin abgesicherte Negation zusteuern sehe, die F. G. Jünger vom mehr Weltanschaulichen her ausspricht. Gleichzeitig aber wehrt sich etwas in Ihnen gegen diese Negation. Sie bäumen sich immer wieder mitten in Ihren durchaus logischen Deduktionen dagegen auf.«248 Die Briefe an Habermas umfassten nicht selten drei Seiten, mit engem Zeilenabstand getippt. Seine Texte in der Zeitschrift wurden besonders gründlich redigiert. Kritische Rückmeldungen über die Sprache von Habermas, die »unter dem Einfluß des substantivierenden Jargons einer Reihe unserer Soziologen und Technologen in Gefahr« sei, selbst vom kritisierten Gegenstand angesteckt zu werden, wurden von der Bitte begleitet, »um Gottes Willen nicht für Schulmeister« gehalten zu werden.249 Habermas war für solche Kritik durchaus empfänglich, befand er sich doch, wie er schrieb, in einer Krise und sei an seiner »ganzen Journalistik etwas irre geworden«.250 Adorno hatte Habermas, er war Mitte 20, inzwischen an sein Frankfurter Institut geholt, aber für diesen war die akademische Laufbahn noch längst nicht ausgemacht, er hielt seine Lage für »fatal«: »Ich kam mit grossen Hoffnungen her und wurde auch mit grossen Hoffnungen erwartet (die Erwartungen seitens des Instituts bestehen auch jetzt noch, daran mangelt es nicht). Ohne irgendeiner Seite, es sei denn meiner mangelnden Anpassungsbereitschaft in gewissen Dingen, die Schuld zulegen zu können, hat sich für mich herausgestellt, dass ich hier kaum längere Zeit bleiben kann. Behandeln Sie dieses Bekenntnis, wenn sich meine Situation nicht noch verschärfen soll, bitte so, als sei es unter vier Augen gesprochen. Meine Frage, meine Bitte an Sie: ich würde gerne einige Jahre praktische Arbeit auf einer Feuilletonredaktion oder an ähnlicher Stelle tun; haben Sie eine Ahnung, wo man mich gebrau247 248 249 250
Rubrik »Notizen«, in: Merkur, Jg. 8, 1954, S. 800. Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 6.5.1954, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 30.3.1955, in: DLA, D: Merkur. Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 5.5.1955, in: DLA, D: Merkur.
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chen könnte? Sie sind einigermassen branchenkundig und können mir vielleicht einen Tip geben.«251 Paeschke wurde sofort tätig, fragte beim Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, bei Dolf Sternberger von der Gegenwart und bei Arnold Bergstraesser an, der ein Institut für Politik und Wirtschaft in Frankfurt gründen wollte. Bei der Süddeutschen Zeitung hatte man kurz zuvor einen neuen Mann eingestellt und Paeschke war bekümmert, zu spät von Habermas’ Plänen zu hören, die beiden anderen Angesprochenen äußerten großes Interesse,252 aber es folgte daraus keine berufliche Perspektive. Vielleicht erhielt also nur ein Zufall Jürgen Habermas der Wissenschaft. Ein Jahr später, 1957, war diese Phase vorüber; Paeschke und Moras, die vergeblich versuchten, Aufsätze des kritischen Theoretikers aus dem Merkur als Buch bei DVA oder Rowohlt publizieren zu lassen, äußerten sich immer wieder begeistert über Habermas’ Marxismus-Studien und seine Kritik der modernen Konservativen, die das Autoritäre als anthropologische Konstante gegen das Humane als Utopie setzten.253 Auch hier agierten die Herausgeber des Merkur mit einer Doppelstrategie. Zum einen wurde Gehlen bis in die 1960er Jahre als anspruchsvoller Theoretiker angefragt, der es gegen den linken »Zeitgeist« aufnehmen könne. So versuchte ihm Paeschke zum Beispiel eine Rezension von Ernst Jüngers Buch »An der Zeitmauer« (1960) mit dem Argument anzudienen: »Angesichts der immer exzentrischer werdenden Philosophie des Utopischen, wie sie aus dem marxistischen Lager kommt, sich jetzt in Ernst Blochs ›Prinzip Hoffnung‹ aussagt und selber fast überschlägt, schien mir aber das am Gegenpol stehende Buch Jüngers aufmerksamer Behandlung wert. Das könnte aber nur jemand wie Sie, der den echten, phänomenologischen Konservativismus, den Jünger hat, und den romantischen, den er auch hat, auseinanderzulegen wüßte.«254 Zum anderen bekniete Paeschke Habermas über Jahre hinweg, einen prinzipiellen Artikel gegen Arnold Gehlen im Merkur zu veröffentlichen.255 Habermas weigerte sich zunächst grundsätzlich: »Ich habe unter gar keinen Umständen Lust, mich mit verstaubten Ressentiments gegen Intellektuelle auseinanderzusetzen. Dieses dumme Zeug, das Ernst Jünger und Konsorten im Jahre 1930 schon mit reichlicher Verspätung produziert haben, kann doch heute niemand mehr ernstnehmen.«256 251 252 253 254 255 256
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Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 5.4.1956, in: DLA: D: Merkur. Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 12.4.1956, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 17.8.1958, 27.1.1960, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Arnold Gehlen, 23.1.1960, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Jürgen Habermas, 30.4.1964, 10.6.1964, in: DLA, D: Merkur. Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 15.6.1964, in: DLA, D: Merkur; dies bezog sich auf Arnold Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat (Heft 195, 1964), abgedruckt in: Bohrer/Scheel, Botschaft, S. 170-180.
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In den beginnenden 1960er Jahren hatte sich das Verhältnis zwischen dem Merkur und Habermas umgekehrt; aus dem Schüler war der umworbene Autor geworden, der nun auch den Inhalt diktieren konnte. Aber immerhin hielt er dem Merkur in den 1960er Jahren die Treue, und 1970 kam er dann endlich dem Drängen von Paeschke nach und lieferte eine fundamentale Kritik, die eine weitere Zäsur in der Entwicklung der Zeitschrift signalisierte. Aus dem männerbündlerischen Verbund der modernen Konservativen Freyer, Gehlen und Schelsky gehörte auch letzterer seit 1949 zum Kreis der Merkur-Autoren. Begonnen hatte er mit einer, auf Bitten von Paeschke freilich entradikalisierten, Kritik des rechtskonservativen Schriftstellers Gerhard Nebel aus dem Umkreis Ernst Jüngers.257 Dessen technikfeindlichen Romantizismus wies er als intellektuell ärmlich zurück, diene doch »ein als Attrappe zurechtgestellter Gegner wie die abgründige Bösartigkeit und Zerstörungswut der modernen Technik« als leicht zu besiegender Gegner.258 In den 1950er Jahren profilierte sich Schelsky mit glänzenden Studien als Interpret einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« und ihrer jungen »skeptischen Generation« sowie als Kritiker der negativen Folgen weiblicher Emanzipation. 1955 bot er einen Vorabdruck aus seinem bei rowohlts deutscher enzyklopädie erschienenen Buch »Soziologie der Sexualität« an, der auch veröffentlicht wurde.259 Allerdings kam es zum irreparablen Bruch, als Paeschke einen Aufsatz über das Thema der Öffentlichkeit nicht akzeptieren mochte, den aber Schelsky für zentral hielt, wollte er damit doch gegen die von ihm beobachtete zeitkritische »Gesprächsmanie« als eine Form der »Verhüllung der Wirklichkeit heute« angehen.260 Der Aufsatz, der nur im engeren Sinne religionssoziologisch gemeint war und von der Diskursivität der modernen Gesellschaft handelte, fand dann Aufnahme an eher entlegenem theologischem Ort.261 Schelsky ließ sich die tiefe Verletzung zwar zunächst nicht anmerken, kam aber später immer wieder auf den großen Erfolg gerade dieses Aufsatzes zurück. Auch Gehlen, der sich als der sieben Jahre Ältere zu dieser Zeit noch als Mentor Schelskys empfand, beklagte sich bei Paeschke über die unkluge Zurückweisung des Aufsatzes. Er kenne zwar dessen Einwände nicht,
257 S. Kapitel II.3.2. 258 Helmut Schelsky, Das Elementare und das Künstliche. Betrachtungen zu den Essays Gerhard Nebels, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 1138-1144, Zitat S. 1141. 259 Helmut Schelsky an Hans Paeschke, 1.7.1951, 26.5.1955, in: DLA, D: Merkur; Helmut Schelsky, Die gelungene Emanzipation, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 360-370. 260 Helmut Schelsky an Hans Paeschke, 28.11.1956, in: DLA, D: Merkur. 261 Helmut Schelsky, Ist die Dauerreflektion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, Jg. 1, 1957, S. 153-174; dass ein Jahr später auch noch ein Verriss von Schelskys Werk »Skeptische Generation« erschien, trug nicht zur Entspannung der Beziehung bei; Eduard Rosenbaum, »Die skeptische Generation«. Eine soziologische Fehlanlage, in: Merkur, Jg. 12, 1958, S. 1077-1081; gleichwohl regte er offenbar die Diskussion der evangelischen Kirche über das Verhältnis zur Öffentlichkeit beträchtlich an; vgl. Treidel, Evangelische Akademien, S. 79; Hannig, Religion, S. 98; Mittmann, Kirchliche Akademien, S. 14.
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aber »Sch. erzählte mir, dass Sie von Zynismus geredet hätten«.262 Das war insofern pikant, als der Merkur-Herausgeber als Grund seiner Ablehnung angegeben hatte, Schelsky befinde sich mit seinem Text konträr zu den Auffassungen von Gehlen, und seine Formulierungen lägen »einzig in der Gegenwendung gegen unsere Konsumwelt und im Aufruf zur Askese«.263 Tatsächlich hatte sich Schelsky auch in diesem für ihn zentralen Aufsatz als Popularisierer von Gehlens konservativen Thesen zur Stabilität durch Institutionen betätigt, die auf den Begriff des »Sachzwangs« hinausliefen.264 Erst später kritisierte Schelsky die Starrheit der Institutionenlehre als »neuralgischen Punkt«, der das konservative vom liberalen Denken trenne.265 Aus der Zurückweisung seines Aufsatzes resultierte jedenfalls ein Bruch, der auch in späteren Jahren nicht mehr repariert werden konnte. Zwischen 1960 und 1973 herrschte in der Korrespondenz von Paeschke mit Schelsky Sendepause. Der Duktus ostentativer Nüchternheit, den die Herausgeber des Merkur anstrebten, bezog sich auch auf die Analyse des politischen Systems. Dies hatte Hans Paeschke bewogen, Ende der 1950er Jahre den jungen Rüdiger Altmann anzuwerben, der in der Folgezeit etliche Artikel beisteuerte. Altmann, von dem Marxisten Wolfgang Abendroth 1954 mit einer Arbeit über den Begriff der Öffentlichkeit promoviert, bildete zusammen mit dem zehn Jahre jüngeren Johannes Gross über ein Jahrzehnt hinweg ein intellektuelles Gespann, das posthume Berühmtheit als Beraterteam des Bundeskanzlers Ludwig Erhard im Bundestagswahlkampf 1965 erhalten sollte.266 Ihre publizistische Karriere begann mit Artikeln in der von ihnen gegründeten Zeitschrift Civis, die von der Studentenorganisation der CDU/CSU, dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), herausgegeben wurde.267 Altmann und Gross, die darin unter Pseudonym schrieben, zeigten keine taktische Zurückhaltung gegenüber konservativem Traditionalismus, etwa den in den 1950er Jahren akademisch einflussreichen Burschenschaften. Schon als junger Student entwarf Gross ein Flugblatt gegen deren Antisemitismus und bezeichnete deren rechtsradikale Führer in einem Brief als »Schweinepriester«.268 Auf der anderen Seite, von dem konservativen Kollegen Joachim C. Fest beifällig zitiert, wartete Gross immer wieder selbst mit Sentenzen auf, die antisemitisch gedeutet werden konnten, 262 263 264 265 266
Arnold Gehlen an Hans Paeschke, 22.11.1956, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Helmut Schelsky, 6.11.1956, in: DLA, D: Merkur. Zum Verhältnis Gehlen-Schelsky vgl. differenziert Wöhrle, Metamorphosen, 206 ff. Hacke, Philosophie, S. 147. Zur Biographie von Altmann vgl. Laak, Gespräche, S. 262 ff.; aus rechtskonservativer Sicht die Würdigung als »schneidend kalter Analytiker der Bundesrepublik« von Ansgar Lange, Autorenporträt, Rüdiger Altmann, in: Criticón, Jg. 32, 2002/3, Nr. 176, S. 30-34; sowie So (= Gunnar Sohn), Altmann, Rüdiger, in: Caspar von Schrenck-Notzing (Hrsg.), Lexikon des Konservatismus, S. 28-30. S. Kapitel III.3. 267 Vgl. Ansgar Lange, Die Wiege stand in Marburg – Altmann und Gross proben die intellektuelle Durchlüftung der Adenauer-Partei, in: Civis, Jg. 50, 2004, H. 3, S. 30-34. 268 Flugblatt des Christlich-demokratischen Hochschulrings Marburg, November 1952; Johannes Gross an Reg.rat H. K. Fritzsche, 22.7.1957, in: DLA, Nl. Johannes Gross.
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wenn er etwa das Diktum von Adorno, nach Auschwitz könne kein Gedicht mehr geschrieben werden, mit der Bemerkung kommentierte, dass »Adorno auch vor Auschwitz kein Gedicht schreiben konnte«.269 Provokation war lebenslanges Leitmotto von Gross. Altmann und Gross erhofften sich politische Orientierung an erster Stelle von Carl Schmitt, den sie häufig besuchten und, ebenfalls unter Pseudonym, als Autor für Civis gewinnen konnten. Der Alte aus Plettenberg war restlos begeistert von der Zeitschrift, die Aufsehen erregen müsste, wenn es in der Bundesrepublik »noch so etwas wie Öffentlichkeit« gäbe. Dass in der CDU, »hinter der Fassade muffigsten Honoratiorentums«, solche »beunruhigenden Intelligenzbestien ihr Wesen treiben«, hielt er für eine »bemerkenswerte Angelegenheit«.270 Worum es den beiden jungen Intellektuellen ging, war, ganz im Sinne der Wirklichkeits-Soziologen um Freyer, Gehlen und Schelsky, das Einlassen auf die Gegenwart, um diese geistig zu formen. Aus diesem Grunde wandte sich Johannes Gross grundsätzlich gegen die »Faszination von Weimar«, die nach seiner Beobachtung in den 1920er Jahren grassierte. Die »hemmungslose Problemoffenheit der Intellektuellen mündete in den Verfall aller verpflichtenden Wertvorstellungen«. Letztlich handelte es sich um eine Absage an alle utopischen Illusionen der Vergangenheit zugunsten eines Einlassens auf die Gegenwart.271 Der ostentativ kalte und zynische Ton der jungen Intellektuellen brachte nicht nur den politischen Gegner auf, etwa den Chefredakteur der neu gegründeten sozialdemokratischen Neuen Gesellschaft, der sich beschwerte, Gross’ Analyse seiner Zeitschrift sei »formal-intellektualistisch« und entbehre »zudem jedes menschlichen Anstandes«.272 Souveräner reagierte der linksunabhängige Kurt Hiller, der in einer Glosse von Gross in Civis kritisiert worden war. Auf einer Postkarte an die Redaktion mit der Anrede »Sehr geehrte Gegner« lobte er die Glosse, sie sei zwar »dumm, aber anständig«, weil im Unterschied zur Linkspresse »zutreffend und sauber zitiert werde«. Gross antwortete postwendend, um wieviel angenehmer es doch sei, »intelligente Gegner als dumme Freunde zu haben«.273 Die gegenseitige Respektbekundung siedelte den gepflegten Diskurs der intellektuellen Eliten oberhalb der parteilichen Orientierung an – eine Haltung, die Gross lebenslang kultivierte. Seinem Freund Altmann vertraute er einmal an, dass ihn das »Gewinsel um den Prozentsatz der studierenden Arbeitersöhne« abstoße.274 Aber nicht nur sozialkritische Positionen stießen ihn ab. Auch der Anti-Intellektualismus der Christdemokraten wurde von Gross immer wieder abfällig glossiert. Unter dem 269 Joachim C. Fest, Begegnungen. Über nahe und fremde Freunde, Reinbek 2004, S. 62; vgl. auch so (= Gunnar Sohn), in: Schrenck-Notzing, Lexikon, S. 222 f. 270 Carl Schmitt an Armin Mohler, 25.7.1957, in: Schmitt, Briefwechsel, S. 241. 271 Typoskript »Sehnsucht nach Weimar« (o. D., ca. 1956), in: DLA, Nl. Johannes Gross. 272 Ulrich Lohmar an Eberhard Amelung/Redaktion Civis, 17.8.1955, in: DLA, Nl. Johannes Gross. 273 Kurt Hiller an RCDS/Redaktion Civis, 5.9.1957; Johannes Gross an Kurt Hiller, 8.12.1957, in: DLA, Nl. Johannes Gross. 274 Johannes Gross an Rüdiger Altmann, 28.5.1956, in: DLA, Nl. Johannes Gross.
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Pseudonym Jochen Teuto kommentierte er den Kieler Parteitag der CDU 1958 als »Parteitag der Freude, ein Parteitag zwischen den Siegen, Tanderadei«.275 Dabei ging es Gross und Altmann nicht darum, die Partei mit einer kohärenten Ideologie auszustatten. Sie verwarfen die liberale These vom »Ende der Ideologien«276 mit einer anderen Begründung. Ideologien seien ein Kind der Philosophie der Aufklärung, sie gingen mit jeweiligen partiellen Interessen einher und atmeten den Geist des 18. und 19. Jahrhunderts. Daraus ergebe sich aber das Problem, dass in einer Demokratie ohne Ideologien die Parteien sich kaum mehr unterscheiden würden. Die CDU wäre gut beraten, keine Ideologie zu formen, aber auch der ethisch fundierte Pragmatismus reiche nicht aus. Vielmehr sei ein »Plan« zur Bewältigung der Gegenwart zu entwickeln, um zur integrativen Partei einer »action de tous les jours« zu werden.277 In Umrissen zeichnete sich hier bereits das Konzept der »formierten Gesellschaft« ab, das Gross und Altmann ein Jahrzehnt später ausarbeiteten. Neu war die Unbekümmertheit, mit der sich Altmann und Gross eines zentralen Problems der konservativen Ideologie annahmen. In ihrem stark beachteten Erstling »Die neue Gesellschaft«, womit sie den Titel der neuen sozialdemokratischen Theoriezeitschrift entlehnten, setzten sie sich gewohnt respektlos mit der Begründung der Elitetheorien auseinander, die in den 1950er Jahren die intellektuellen Diskurse bestimmten, obwohl sie letztlich mit dem Anspruch der demokratischen Verfassung konfligierten. Ortega y Gasset, der die Eliten aus dem »Affekt gegen Masse und das Massenhafte« entspringen ließ, wurde vorgehalten, er erhebe »das Ressentiment zur Realität«. Auch der sozialdemokratische Soziologe Otto Stammer, der Eliten als »notwendige Strukturelemente« der Demokratie gewertet wissen wollte, wurde abgetan. Eliten, so Altmann und Gross, seien in der Mehrzahl »Ausdruck einer labilen Verfassung – je labiler, desto mehr Eliten. Sie repräsentierten nicht das Volk, sondern eine oft gefährliche Interessenanarchie«. Die beiden Autoren folgerten, man brauche weniger Eliten als neue Werte: »Um die Eliten brauchte uns dann nicht bange zu sein.«278 Diese »Lösung« des Problems war zumal unter konservativen Intellektuellen umstritten. 1954 hatte das bei der DVA erschienene Buch »Das Ende aller Sicherheit« von Winfried Martini eine heftige Diskussion entfacht.279 In seiner »Kritik des Westens«, so der Untertitel, hatte er in polemischer Form das NS-Regime als demokratisch und dem Volkswillen entsprechend dargestellt und daraus eine scharfe Kri275 MS (o. D.), in: DLA, Nl. Johannes Gross. 276 S. Kapitel II.4.1. 277 Friedrich Grund (= Rüdiger Altmann), Brauchen wir eine Ideologie?, in: Civis, Jg. 3, 1956, Nr. 16, S. 158-160. 278 Rüdiger Altmann/Johannes Gross, Die neue Gesellschaft. Bemerkungen zum Zeitbewußtsein, Stuttgart 1958, S. 14-15; es handelt sich nicht um eine Monographie, sondern eine Sammlung von Aufsätzen der beiden Autoren aus Civis ohne Nachweis von Erscheinungsdatum und jeweiligem Autor. 279 Martini, Ende.
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tik der westlichen Demokratie abgeleitet. Der Merkur hatte sein Buch, wohl nicht zuletzt deshalb, weil es bei DVA erschienen war, wenngleich verhalten, so doch positiv aufgenommen, und Martini durfte den Kern seiner demokratiefeindlichen Thesen in der Zeitschrift vorstellen.280 Dolf Sternberger rechnete daraufhin in der Gegenwart mit Martini ab, den er als schlichten Adepten Carl Schmitts abkanzelte. In seiner Antwort verteidigte Martini ohne Einschränkung sein großes Vorbild und hob dessen Parteinahme für eine autoritäre Präsidiallösung 1932/33 hervor, die vor allem vom »tobsüchtigen Volkssouverän« zunichte gemacht worden sei.281 Der Streit um Martini wiederholte sich 1960 beim Erscheinen seines Buches »Freiheit auf Abruf«. Dass es bei K & W erschien, zeigt noch einmal, dass die Schreiborte für die unterschiedlichen intellektuellen Positionen nicht starr festgelegt waren.282 Wieder hatte Martini mit der liberalen Demokratie abgerechnet, aber die strikte Entgegensetzung von gefährlicher Demokratie und verantwortungsvoller Elite passte nicht mehr recht in die veränderte Ideenlandschaft. Die grobschlächtige Denunziation des Volkssouveräns offenbarte Differenzen innerhalb des konservativen Modernisierungslagers, die nur mühsam zu kaschieren waren. Als Carl Schmitt die Angriffe auf Martini aus dem eigenen Lager bedauerte, zu denen auch eine kritische Rezension von Gross zählte, antwortete ihm dieser freundlich, aber deutlich, Martini habe den Misserfolg seines Buches selbst verschuldet.283 Der Dissens schadete der freundschaftlichen Beziehung zu Carl Schmitt in den folgenden Jahren nicht. Er war ein Randgeplänkel einer steilen Karriere, die Gross zu einem der einflussreichsten konservativen Publizisten aufsteigen ließ. 1959 hatte er einem jungen Adepten des Meisters, den er in Plettenberg kennengelernt hatte, mitgeteilt, dass er sich nun endgültig für den Journalismus entschieden habe. Er werde als Korrespondent der Deutschen Zeitung nach Bonn gehen.284 Zur gleichen Zeit, Ende der 1950er Jahre, änderte sich die redaktionelle Linie des Merkur. Moderne, klug und nüchtern argumentierende Konservative waren zwar weiterhin willkommen, aber nun eingebunden in einen erweiterten Pluralismus. Ein internes »Expose zur Situation des MERKUR«, das vor dem Hintergrund der schweren Finanzkrise der Zeitschrift entstand, offenbarte die Suche der Herausgeber nach einem geeigneten Konzept, um die gefährdete intellektuelle Meinungsführerschaft zurückzugewinnen.285 Die Zeitschrift habe von Anfang an eine »Haltung« vertreten, die drei Stränge verbinden wollte, »im weltanschaulichen« einen 280 Martini, Der überfragte Wähler, in: Merkur, Jg. 9, 1954, S. 632-647. 281 Dolf Sternberger, Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Lehren und Irrtümer eines aufrechten Defaitisten der Demokratie, in: Die Gegenwart, Jg. 9, 1954, S. 687-690; Winfried Martini, »Das Ende aller Sicherheit«. Ein Brief, in: ebd., S. 722-724. 282 Winfried Martini, Freiheit auf Abruf. Die Lebenserwartung der Bundesrepublik. Köln 1960. 283 Das wörtliche Zitat findet sich auf S. 404 dieses Buches; vgl. dazu Johannes Gross an Carl Schmitt, 23.10.1960, in: DLA, A: Johannes Gross. 284 Johannes Gross an Nicolaus Sombart, 2.4.1959, in: DLA, Nl. Johannes Gross. 285 Expose zur Situation des »MERKUR« (o. D., ca. 1960), in: DLA, D: Merkur; die folgenden Zitate aus diesem Dokument.
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»geistigen Konservativismus, der durch bewußte Pflege der echten Traditionen über den Bruch der Zeiten hinweg die Brücke schlagen half«; im Politischen und Kulturpolitischen eine »Distanz gegenüber den Prinzipien der tabula rasa und der Herrschaft und der bloßen Aktualitäten«; im Künstlerischen »die Pflege von Form und Qualität« als oberste Kriterien, an denen sich »neue Experimente« zu bewähren gehabt hätten. Die Nachkriegsentwicklung mache es aber notwendig, diese Positionen »zu überprüfen und schärfer zu präzisieren«: »Der allgemeine geistige Prozeß verlief nämlich, in Reaktion auf die Hochspannung der Hoffnungen wie der Ängste der ersten Nachkriegsjahre, in rückläufigem Sinne. In der Form der sogen. Restauration entwickelte sich ein falscher, ein Pseudo-Konservativismus«, ein »Pseudoästhetizismus (…) in der Form eines immer abstrakter werdenden Formalismus.« Die selbstkritische Rückschau spielte nicht zuletzt auf kunstsoziologische Positionen von Arnold Gehlen an, eine geradezu seismographische Reaktion darauf, dass die Gloriole der modernen Abstraktion, zumal in der Bildenden Kunst, Mitte der 1950er Jahre bereits etwas weniger hell strahlte und unter jüngeren Intellektuellen eine Kritik der gesellschaftlichen und politischen Zustände im Lande einsetzte. Rüdiger Altmann hat rückblickend, in einem fünfseitigen Brief zu Paeschkes 70. Geburtstag 1981, diesem sehr treffend auf den Kopf zugesagt, welche Funktion ihm in diesem Konzept zugedacht gewesen war: »Sie wollten mich gern eine konservative Rolle spielen lassen, ein bißchen hegelianisch, mit Carl Schmitt-Herkunft und Wolfgang Abendroth-Erfahrung, aber auf keinen Fall einen Stil mit polemischer Ausstattung. Im MERKUR sollten sich die Autoren nicht gegenseitig die Augen aushacken. Andererseits auch keine einseitige Orientierung, sondern ein breites Spektrum, Toleranz, Bereitschaft zum Dialog, die Tugend des Verstehens und Verständnisses. Mir war das manchmal ein bißchen zu verbindlich, zu wenig bewaffnete Position.«286 Neben der Richtungsverschiebung des einflussreichen Merkur war es das Programm der Taschenbücher von »rowohlts enzyklopädie«, das den Übergang zum »modernen Konservatismus« maßgeblich beeinflusste. Dieses Programm bestimmte den Lektürekanon des akademischen Nachwuchses im zweiten Nachkriegsjahrzehnt,287 also der sogenannten 45er, der HJ- bzw. Flakhelfergeneration – so wie die »edition suhrkamp« ein Jahrzehnt später der intellektuelle Leitstern der 68er-Bewegung wurde. Gegründet wurde die Buchreihe von Ernesto Grassi, der für dieses Projekt das Ohr des Verlegers Ernst Rowohlt fand. 286 Rüdiger Altmann an Hans Paeschke, 9.2.1981, in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, RAAC 000020. 287 Vgl. ausführlich Axel Schildt, Der Humanismus der ›zweiten Aufklärung. Ernesto Grassis rowohlts deutsche enzyklopädie, in: Matthias Löwe/Gregor Streim (Hrsg.), ›Humanismus‹ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, Berlin/Boston 2017, S. 309-329.
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Grassi, ursprünglich liberal, seit 1933 Mitglied der italienischen Faschistenpartei, hielt sich von 1928 bis 1938 in Freiburg auf, hörte Vorlesungen bei Martin Heidegger, nahm Lehraufträge wahr und wirkte als Lektor für Italienisch. In dieser Zeit festigte sich sein Ruf als profunder Kenner der Geschichte des Humanismus. 1938 bis 1943 residierte er in Berlin als kulturpolitischer Repräsentant des faschistischen Regimes. In den letzten Kriegsjahren hielt er sich in Norditalien und in der Schweiz auf, 1943/44 übernahm er einen Lehrauftrag der Universität Zürich. Von dort gelangte er an die Universität München, wo er 1948 das »Centro italiano di studi umanistici e filosofici« gründete. Seine langjährige Gastprofessur in München wurde 1961 in ein Ordinariat umgewandelt. 1970 wurde Grassi emeritiert.288 Grassi hatte Rowohlt als Romanautor kennengelernt. In einem Hamburger Restaurant, so berichtet es der Freund des Verlegers, Walter Kiaulehn, seinerzeit Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, sprachen die beiden und Rowohlts Sohn Ledig-Rowohlt viele Stunden über die Möglichkeit, wissenschaftliche Taschenbücher zu produzieren. Als Rowohlt beklagte, dass die Wissenschaftler zu unverständlich schrieben, um eine nennenswerte Auflage zu erreichen, wandte Grassi ein, man solle nicht von den Fächern, sondern von den aktuellen Problemen her denken, nur das gebe eine tragfähige Basis her:289 »Nein, es muessen solche Themen gewaehlt werden, die es vom sachlichen Standpunkt aus gestatten so zu schreiben, dass ein jeder es auch verstehen kann: so wie die Englaender es tun.«290 Diese Darstellung der Konzeption, aus allen Wissensgebieten »wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher sehr guter Autoren« zu publizieren, wird von Ledig-Rowohlt bestätigt.291 Die politisch-weltanschauliche Grundidee Grassis, die »abendländische Auffassung von Bildung«292 vom vordringenden amerikanischen Geist abzusetzen, musste Ernst Rowohlt gefallen. Allerdings verstand er, wie er selbst betonte, nichts von Wissenschaft und überließ die Entscheidung seinem Sohn. Warum explizit von einer »deutschen« Enzyklopädie die Rede war – erst 1984 wurde daraus Rowohlts Enzyklopädie293 – ist nicht zu ermitteln, aber es darf vermutet werden, dass auch hinter der Namensgebung die gewollte Distanz zur angelsächsischen Welt stand. Den von Grassi zusammengestellten internationalen »Wissenschaftlichen Beirat« schmückten zahlreiche Namen zeitgenössischer rechtskatholischer 288 Vgl. zu Grassis Lebensweg bis 1945 Büttemeyer, Ernesto Grassi. 289 Kiaulehn, Mein Freund, S. 263 f. 290 Ernesto Grassi, Erinnerungen an Ernst Rowohlt, MS o. D. (1968), in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe o. Nr. 291 Ledig-Rowohlt, Prince Henry, S. 81; den Anteil des Rowohlt-Erfolgsautors und Lektors Kurt Marek hat hervorgehoben David Oels, C. W. Ceram plant rowohlts deutsche enzyklopädie. Ein Fundstück, in: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, Jg. 1, 2006, S. 3346. 292 Ernesto Grassi an Hintermayer (Rowohlt Verlag), 17.8.1955, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 1/3; Ernesto Grassi an Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, 21.11.1955, in: ebd. 293 Vgl. Hermann Gieselbusch u. a., 100 Jahre Rowohlt. Eine illustrierte Chronik, Reinbek 2008, S. 203.
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und nationalkonservativer Größen, von Alois Dempf und Hans Sedlmayr bis zu Percy Ernst Schramm, gemischt mit einigen liberalen Geistern wie Alexander Mitscherlich sowie jüngeren Konservativen wie Helmut Schelsky, bei Gründung der Reihe 43 Jahre alt. Die Abmachung im Vorvertrag 1954 besagte, dass Grassi für die Vorbereitung der Reihe monatlich 1.500 DM erhielt. Angesichts seiner Bezüge als Gastprofessor an der Münchener Universität, etwa 2.000 DM zuzüglich 600 bis 700 DM Hörergelder für das Sommersemester 1956, war das ein ansehnlicher Betrag. Über den endgültigen Vertrag wurde seit Frühjahr 1955 verhandelt.294 Vereinbart wurden schließlich für seine Herausgebertätigkeit eine monatliche Mindesttantieme von 3.000 DM und von 1.500 DM für seine Frau als »Mitarbeiterin«, ansonsten zwei Prozent bzw. ein Prozent vom Ladenverkaufspreis.295 Rowohlt konnte großzügig sein, denn der Erfolg der Reihe, deren erste Bände im Herbst des Jahres präsentiert wurden, übertraf alle Erwartungen. Ledig-Rowohlt berichtete begeistert von der Frankfurter Buchmesse: »rowohlts deutsche enzyklopädie war die Sensation der Messe, daran gibt es gar keinen Zweifel. Alles sprach über sie, die Presse fand ihren ›Aufhänger‹ und viele Journalisten versprachen noch ausführlich über Ihre Arbeit und die enzyklopädie zu berichten. Immer wieder wurden wir beglückwünscht. (…) Der Buchhandel hat sich der Reihe sehr gut angenommen. Ganz überraschend ist auch der Verkauf im Bahnhofsbuchhandel und in den Warenhäusern. (…) Aus vielen Zuschriften ist ferner ersichtlich, daß der Verkaufspreis von DM 1,90 wesentlich zur schnellen Verbreitung beigetragen hat. Auch in der Presse wird immer wieder auf die Preiswürdigkeit hingewiesen. (…) Fischer platzt übrigens vor Neid …«296 Einige Tage später teilte Ledig-Rowohlt mit, dass die ersten beiden Auflagen der ersten Bände bereits verkauft seien und Tausende von Vorbestellungen für die dritte Auflage vorlägen.297 Die Startauflage hatte für die ersten 40 Bände bei 44.000 bis 55.000 gelegen. Bis März 1957, also innerhalb von maximal 18 Monaten, lag der zweite Band, Helmut Schelskys »Soziologie der Sexualität«, mit einer verkauften Auflage von 102.000 Exemplaren an der Spitze, gefolgt von Band 1, Hans Sedlmayrs »Revolution der modernen Kunst«, mit 88.000 und Ortega y Gassets »Aufstand der Massen« (Bd. 10) sowie Werner Heisenbergs »Naturbild der heutigen Physik« (Bd. 8) mit jeweils 78.000 Exemplaren.298 Die enormen Verkaufserfolge, die wohlwollende Presseberichterstattung und eine emsige Öffentlichkeitsarbeit 294 Ernesto Grassi an RA Dr. Kurt Runge (Köln), 27.3.1955, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 2/2. 295 Herausgebervertrag vom 16.2.1956, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe ohne Nr. 296 Heinrich Maria Ledig-Rowohlt an Ernesto Grassi, 20.10.1955, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 1/3. 297 Heinrich Maria Ledig-Rowohlt an Ernesto Grassi, 25.10.1955, in: ebd. 298 Die Aufstellung vom April 1957 in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Mappe 2/2.
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des Verlags beflügelten sich gegenseitig und führten zu einer dynamischen Auratisierung der Marke rde. Wer am intellektuellen Diskurs teilnehmen wollte, musste die Bände der Reihe zur Kenntnis nehmen. Rowohlt, in dessen Verlag einige markante amerikakritische Bücher erschienen, scheute sich auch nicht, bei den Amerikahäusern anzufragen, ob sie eine größere Anzahl der Bände übernehmen wollten. Die Werbetrommel wurde überall gerührt. Sogar das Verteidigungsministerium wurde bearbeitet, einen Teil der Auflage für die Offiziersausbildung der Bundeswehr zu erwerben.299 Grassi selbst verdiente zusätzlich durch die Zweitverwertung von Manuskripten für den Rundfunk sehr gut an rde300 und profitierte insgesamt durch seine Reputation als Herausgeber der Reihe. Als er Ende 1960 mit einem monatlichen Gehalt von etwa 4.000 DM brutto als Angestellter im Verlag beschäftigt wurde, entsprach dies seinen durchschnittlichen vorherigen Honoraren.301 Zudem wurde er in den ersten Jahren von dem freien Schriftsteller Wolfgang von Einsiedel, der in London lebte und auch der Zeitschrift Merkur zuarbeitete, als Lektor unterstützt. Einsiedel erhielt als Honorar anfangs 750, dann 1.300 DM im Monat. Allerdings zerstritten sich Grassi und Einsiedel bald. Dessen Begründung, die schlechte Qualität von Grassis Texten, wirft ein Schlaglicht auf die Probleme eines philosophischen Schriftstellers, der zum Manager seiner Reihe geworden war und seine bohemienhaften Neigungen auslebte: »Allerdings läuft nun praktisch jede Umarbeitung eines Ihrer Manuskripte auf eine Neufassung hinaus, d. h. darauf, dass Sie jeweils die Hauptbürde des Schreibens im eigentlichen Sinne einem anderen aufladen – womit Sie selbst sich die Sache sehr viel leichter, Ihren Mitarbeitern dafür aber umso schwerer machen. (…) Und wenn Sie noch obendrein verlangen, dass bei jeder Umarbeitung, nämlich Neufassung, Ihr persönlicher Tonfall gewahrt bleibe, so kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie selbst sich über den Grad Ihrer Zumutung ganz im klaren sind.«302 Nach den ersten 75 Bänden kam Grassi der von Seiten des Verlags schon lange geäußerten Bitte nach, das Programm der Reihe anhand einer ersten Bilanz ausführlich zu erläutern. Als Band 76 unter dem Titel »Die zweite Aufklärung« 1958 erschien,303 stand die Reihe im Zenit ihres Erfolges. Zugleich konnte Grassi in seinem programmatischen Text bereits auf die Veränderungen der intellektuellen 299 Hintermeier/Rowohlt Taschenbuch Verlag an Ernesto Grassi, 11.11.1955, 19.12.1955, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 2/3. 300 Eine vermutlich nicht vollständige Sammlung von vertraglichen »Verpflichtungsscheinen« des NWDR/NDR/WDR weist für die Jahre 1955-1958 Honorare von ca. 20.000 DM aus, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 1/2. 301 Aktennotiz, 31.10.1960, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 2/4. 302 Wolfgang von Einsiedel an Ernesto Grassi, 31.12.1956, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 1/2. 303 Ernesto Grassi, Die zweite Aufklärung: Enzyklopädie heute. Lexikalisches Register zu Band 1-75, Reinbek 1958; alle Zitate im Text mit der Seitenzahl.
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Landschaft seit Mitte der 1950er Jahre reagieren, als die Moderne im intellektuellen Raum – von den Bildenden Künsten bis zur politischen Ideologie – ihren Siegeszug abschloss, eine deutliche Differenz zum Zeitraum der Konzipierung der Reihe 1954/55.304 Grassis programmatischer Text umfasst lediglich 55 Seiten. Er sollte nicht nur die bisherigen Bände charakterisieren, sondern auch für die Zukunft der Reihe maßgeblich sein. Der zentrale Begriff der »Zweiten Aufklärung« sollte signalisieren, dass man sich »heute in der Tat in einer ähnlichen Aufbruchs-Situation wie das 18. Jahrhundert« (S. 10) befinde; durch die »bestürzenden neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften« (S. 10) und die »fast unheimlichen Fortschritte der Technik auf nahezu allen Lebensgebieten« (S. 10) erscheine der traditionelle Bildungsbegriff obsolet. Das 20. Jahrhundert stehe vielmehr im Zeichen einer »Masse der Bildungssuchenden« (S. 10), die als ambivalentes Phänomen zu verstehen sei. Einerseits seien die Universitäten von einer immer »bedrohlicher werdenden Überfüllung« (S. 11) gekennzeichnet, drohe ein »akademisches Proletariat« (S. 11). Grundsätzlich bleibe die »triebhaft handelnde, anonyme Masse« (S. 13) gefährlich, und »alle Disziplinen, deren Interesse dem Menschen als Einzelwesen wie als Glied der menschlichen Gemeinschaft gilt, können daher die Untersuchung der Voraussetzungen nicht umgehen, die zur Entstehung einer Masse führen, die aus dem verantwortlichen Individuum den anonymen, trieb- und gefühlsbestimmten, nichtverantwortlichen Massenmenschen machen« (S. 13). Andererseits aber wachse die »Zahl derer, die an der Kultur teilhaben wollen, und damit zugleich derer, die, an rationales Denken noch nicht gewöhnt und seiner nicht fähig, gefühlsmäßig auch auf kulturelle Fragen reagieren« (S. 14). Damit antwortete Grassi auf die medialen Herausforderungen der Moderne. Das »Buch der Masse« (S. 62), das Taschenbuch zu einem Preis von 1,90 DM, war vielen kulturkonservativen Bildungsbürgern ein Gräuel. Dass Bildung, für Grassi die Fähigkeit, die Welt zu deuten, »nur aus der Grundsituation des Menschen heraus verstanden werden« (S. 16) könne, wurde in einer längeren Passage ausführlich begründet, in der es um die Abgrenzung zum Tier ging. Der Dualismus von »Weltoffenheit« (S. 18) und instinktgebundener Umweltbedingtheit sollte in der Buchreihe ausführlich diskutiert werden. Der zweite Band, Helmut Schelskys »Soziologie der Sexualität«, wurde von Grassi besonders gewürdigt, um darzulegen, dass eben sämtliches und damit auch sexuelles Verhalten des Menschen »als Ausdruck eines kulturellen Verhaltens« (S. 20) anzusehen sei – und wiederum: Menschliche Bildung sei die »Wurzel der Menschwerdung, des Sichzum-Menschen-Bildens« (S. 21). Der Prozess des Deutens der Welt vollziehe sich in einem steten Wechsel von praktischem Experiment und dessen theoretischer Durchdringung, und eben dieses Theorie-Praxis-Verhältnis definiere seine moderne Enzyklopädie. Die Einheit der Bildung als deren Kennzeichen könne nicht mehr »als eine Einheit von Kenntnissen« (S. 23) aufgefasst werden, sondern liege 304 Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 172 ff.
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»in jenem Vorgang begründet, aus dem heraus Bildung und Wissen erst entstehen« (S. 23). Ausführlich grenzte sich Grassi von der französischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrer Konzentration auf die exakten Wissenschaften und ihrer »positivistischen Verherrlichung der menschlichen Autonomie« (S. 30), aber auch von den enzyklopädischen Werken der englischen und spanischen Tradition ab. Erforderlich seien ein neuer Versuch der »Systematisierung des gewaltig angeschwollenen Wissensstoffes und eine neue geistige Orientierung« (S. 27); der »abendländische Geist« (S. 28) werde nur dann lebendig bleiben, wenn er die »Spannung zwischen Überlieferung und steter Infragestellung der Überlieferung« (S. 28) aushalte. Typisch für die moderne Wissenschaft sei das »Einbeziehen des Irrationalen in die theoretische Besinnung« (S. 29), die Beschäftigung mit dem Mythos, der Tiefenpsychologie, der Sexualität, der Sozialbindungen und der Sozialtechnik. Auch dies sollte einen Schwerpunkt der Reihe bilden. Schließlich betonte Grassi, es komme darauf an, »den Bildungshungrigen nicht mit fertigem Wissensstoff anzufüllen, der schon morgen überholt sein kann, sondern ihn teilnehmen zu lassen an dem einzigen, das in der Flut der sich überstürzenden und überholenden Entdeckungen von Dauer ist: an dem Prozeß, in dem der menschliche Geist die Wirklichkeit auslegt und sich jenen Auslegungen der Wirklichkeit immer neu stellt« (S. 31). Der zweite Teil von Grassis Programmschrift ist überschrieben mit »Die großen Probleme unserer Zeit« (S. 33). Dabei geht es zunächst um den Wandel des naturwissenschaftlichen Weltbildes: »Wir können eine solche Auffassung der Naturwissenschaften ›humanistisch‹ nennen in dem heute von Werner Heisenberg vertretenen Sinne, er betont, daß der Mensch in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis vor allem sich selbst begegne.« (S. 36) Es gehe also nicht um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehungen zur Natur. Der Wandel des naturwissenschaftlichen Weltbildes werde begleitet und befördert von der »Entdeckung des Unbewussten« (S. 38), die einen weiteren wichtigen Schwerpunkt bilden solle, etwa in der Diskussion der Psychoanalyse. Im folgenden Abschnitt legt Grassi seine »idealistische Lösung der Probleme der Bildung« (S. 43) dar; darin bezieht er sich auf den »dialogischen Prozeß, der bei Hegel an die Stelle des biologischen tritt« und in dem sich die »Bildung der sich offenbarenden Wirklichkeit als ein Sichentfalten des menschlichen Bewußtseins« (S. 45) vollziehe und dabei auch die Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften überwinde. Allerdings, dies unterscheide die Gegenwart von der Zeit noch des 19. Jahrhunderts, habe Bildung mittlerweile eine völlig andere Bedeutung als im idealistischen Denken, nämlich einen existentiellen Charakter erhalten: »Der Existentialismus bestimmt unser Dasein als schlechthin problemhaft. Existieren heißt, die Problemhaftigkeit der Beziehung des Menschen zu sich selbst und zur Welt auszuhalten, ohne der ständig geforderten Entscheidung auszuweichen.« (S. 46) Dem Abschnitt über den existentialistischen Bildungsbegriff folgt unmittelbar, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, die »Auseinandersetzung mit 517
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dem atheistischen Existentialismus« (S. 47). Für Jean-Paul Sartre folge die »NichtExistenz Gottes aus der existentialistischen Deutung des Menschen« (S. 48). Bei ihm trete das Ich »als solches erst im Akt der Entscheidung auf« (S. 50). Aber ausschließlich »auf der Problemhaftigkeit der Existenz zu beharren, bedeutet, auf halbem Wege stehenzubleiben, denn die Problemhaftigkeit selbst ist kein Letztes, sondern weist auf ein Ursprünglicheres zurück« (S. 50). Dieses ist für Grassi im Reich des Religiösen beheimatet. Zwar könne »religiöse Wirklichkeit« (S. 50) nicht im Sinne einer die Menschen als Objekte leitenden Instanz verstanden werden; es sei »die wirkende, fortwirkende Gegenwart jener Idee zu ergründen, die, außerhalb der Geschichte stehend, sich als Ursprung unserer Geschichte bekundet« (S. 50). Auch das »Ahistorische und Außerzeitliche – die eigentliche Domäne der Religion« (S. 51) – sollte einen Schwerpunkt der rde konstituieren, etwa in den Betrachtungen sakraler Kunst; die Profangeschichte habe »mit den wirklich geschichtsbildenden mythischen Faktoren gar nichts zu tun« (S. 54). Man befinde sich in einem »grundsätzlichen Irrtum, wenn wir etwa in einem Museum ein sakrales Werk vom ›künstlerischen‹ Standpunkt aus betrachten und begreifen wollen« (S. 56 f.). Es ginge nicht um die Wissensvermittlung über solche Werke, sondern um ein »Aktualisieren der in ihnen ursprünglich wirksamen Kräfte« (S. 57). Grassis »zweite Aufklärung« bot zunächst nur eine marktübliche Dramatisierung. Indem er die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Analogie zur französischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts inszenierte, wurde die Gegenwart in ihrer Bedeutung überhöht, ein letztlich enthistorisierendes Verfahren, in dem sich große Zeiten über geschichtsleere Räume hinweg etwas zurufen. Die als Argument bemühten neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und die Expansion der Bildung, die Bedrohung gar durch ein »akademisches Proletariat«, hatten schon hundert Jahre zuvor als Begründung tiefgreifender Paradigmenwechsel gedient. Auch dass die Herausforderungen der Moderne immer neue Formen der Wissensvermittlung erforderten, war kein taufrischer Gedanke, sondern eine intensiv diskutierte epochale Gegebenheit. Die neuen Formen konzentrierten sich letztlich auf die Entauratisierung der Buchkultur durch das billige Taschenbuch, das zwar von Rowohlt besonders erfolgreich vermarktet wurde, aber durchaus einige prototypische Vorläufer aufwies, etwa die Bände von Reclam oder Göschen. Das Taschenbuch wiederum konnte als geeignetes Medium für die als dringend erforderlich erachtete neuerliche »Systematisierung« erscheinen. Zum einen, so Grassi, präsentiere sich die moderne Enzyklopädie nicht mehr als »Einheit von Kenntnissen«, zum anderen könne und müsse das Lernen für die Massen der Bildungshungrigen als Dialog organisiert werden – in diesem Zusammenhang bemüht Grassi die Dialektik Hegels, obwohl seine Konzeption viel mehr an das elitäre platonische Gespräch erinnert. Der Erkenntnis des Prozesshaften des Lernens jedenfalls sollte rde Rechnung tragen. Der Begriff »Pluralismus« tauchte in diesem Zusammenhang im Text Grassis übrigens nicht auf, er spielte in den Diskursen der 1950er Jahre allenfalls in politikwissenschaftlichen Spezialistenkreisen eine Rolle. 518
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In Grassis Programmschrift zeigt sich die spezifische Zeitgebundenheit, der »Zeitgeist« der frühen 1950er Jahre, repräsentiert schon durch die »progressive« Kleinschreibung des Reihentitels. Gegen die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrer »positivistischen Verherrlichung der menschlichen Autonomie« führte Grassi als nicht widerlegbare Autorität die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften ins Feld. Die Naturwissenschaften, zumindest in ihrer deutschen und europäisch-abendländischen Richtung, hätten belegt, dass es bei den Beziehungen der Menschen zur Natur in erster Linie um die »Selbstbegegnung der Menschen« gehe. Dieser Trend zur Subjektivierung wurde von Grassi mit Hinweisen auf die »Entdeckung des Unbewussten« untermauert und mündete in der von ihm programmatisch verfochtenen Aufhebung der Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften. Keinerlei Erwähnung fand die Kritische Theorie mit ihrem Anspruch eines Zusammendenkens von Marxismus und Psychoanalyse, ebenso unerwähnt blieben die humanistischen Frühschriften von Karl Marx. Besonders auffällig zeigt sich die Zeitgebundenheit von Grassis »zweiter Aufklärung« in der Ablehnung von Sartres Existenzialismus. Einerseits akklamierte Grassi der Hervorhebung der »Problemhaftigkeit« der Gegenwart, die Entscheidungen erfordere. Auf der anderen Seite widersprach er der Hypostasierung der Entscheidungssituation selbst, die auf eine transzendente Instanz als »Ursprünglicheres« zurückweise. Mit dieser Argumentation schloss sich Grassi der vehementen westdeutschen Sartre-Ablehnung an, die nicht zuletzt von Martin Heidegger – auch er reklamierte bekanntlich den Humanismus-Begriff für seine elitäre Philosophie – munitioniert wurde. Kritiker wurden nicht müde darauf hinzuweisen, dass die wenigen bedenkenswerten Momente in Sartres Werk schon in der deutschen lebensphilosophischen Tradition aufzufinden seien.305 Auch Grassi diente als Fluchtpunkt seiner »zweiten Aufklärung« die Vertiefung in die existenziellen Probleme der Religion und ihren ästhetischen sakralen Ausdruck. Explizit verwahrte er sich dagegen, sich religiösen Kunstwerken mit historisierenden Methoden zu nähern. Das repräsentierte für ihn das überkommene Denken des 19. Jahrhunderts. Festzuhalten bleibt allerdings ein wesentlicher Unterschied zu Heidegger, der einen hermetischen Jargon pflegte, um seine von der Masse abgeschiedene elitäre Denkhaltung als Markenzeichen zu inszenieren. Während Heidegger wohl kein Taschenbuch für rde geschrieben hätte, ging es Grassi darum, konservative Doxa in leicht rezipierbarer Form an neue bildungshungrige Schichten zu vermitteln. Grassi konkretisierte die Argumentation in seiner Programmschrift mit Hinweisen auf die Titel der ersten 75 Bände. Und tatsächlich lässt die Betrachtung der Produktion der Jahre 1955-1958 die ungefähre Richtung gut erkennen, die Grassi als jeweils letztes Wort der Wissenschaft anpries, ungeachtet der Tatsache, dass es ihm zum einen außerhalb seines philosophiehistorischen Fachgebiets jeder eigenen 305 Vgl. Heidegger, Platons Lehre; ders., Über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1947 (Auszug aus zuvor genanntem Werk); Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie, Stuttgart 1943.
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Expertise ermangelte und er zum anderen nicht immer die von ihm gewünschten Autoren verpflichten konnte. Die ersten Jahre der rde erscheinen gleichwohl als Schnittpunkt von zwei Denkströmungen, die sich zur Mitte der 1950er Jahre hin ablösten: einem antimodernen, kulturkritischen und massenphobischen Konservatismus, der sich auf abendländische Überlieferung und göttliche Ordnung berief, und einer anpassungsfähigeren säkularen konservativen Variante. Diese reklamierte in einem ostentativ nüchternen Ton neue Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und der Sozialpsychologie für sich, erklärte die moderne Zivilisation für irreversibel und erst die Anerkennung von deren Existenz als Chance, die Gesamtrichtung wieder in konservativem Geist zu lenken. Diese beiden idealtypisch zu beschreibenden Richtungen sind nur schwer in generationellen Mustern zu erfassen und ebenso wenig in Disziplinen aufzuteilen. Lediglich als Tendenz lässt sich feststellen, dass die damals neue Soziologie eher einen Ausgangspunkt für den »modernen Konservatismus« darstellte, während sich in den Philologien überkommene Positionen besonders hartnäckig hielten. Eröffnet wurde die Reihe mit dem Buch »Die Revolution der modernen Kunst« des Wiener Ordinarius Hans Sedlmayr, dessen antimodernistischer, katholisch imprägnierter Fanatismus ihn zum Lieblingsfeind der modernen Kunstszene in Westdeutschland avancieren ließ. Zur Mitte des Jahrzehnts hin überwog zwar bereits die intellektuelle Kritik an Sedlmayrs Abendland-Apotheose, aber im Bildungsbürgertum genoss er immer noch ein hohes Ansehen. Grassi konnte bei Sedlmayr mit einiger Sicherheit auf einen Erfolgsautor setzen. Grassi, der seit seinen Berliner Tagen über gute Kontakte zu Hans Paeschke und Joachim Moras verfügte und bereits Anfang der 1950er Jahre zu den Autoren des Merkur zählte, erhielt Gelegenheit zu einer ausführlichen Vorstellung der rde, der unmittelbar im Anschluss ein Aufsatz von Sedlmayr folgte.306 Auch dieser hatte bereits zuvor in der Zeitschrift publiziert. Die Publizistin Margaret Boveri schrieb Moras, sie habe als Schulmädchen für Sedlmayr geschwärmt, wundere sich nun aber, dass mit dem Kunsthistoriker, aber auch mit dem Soziologen Schelsky »durchaus rückwärts gewandte Köpfe« für die Reihe verpflichtet würden, während Grassi doch angeblich »auf das Kommende abziele«.307 Moras antwortete ihr, für ein endgültiges Urteil über rde sei es noch zu früh, charakterisierte aber die intellektuell wenig anspruchsvollen Argumente Sedlmayrs als »logisch nicht immer saubere Dum-Dum-Geschosse«.308 Zu Schelsky, mit dem es ein Jahr später zum Bruch kam, äußerte er sich nicht. Hier lag Boveri im Übrigen nicht richtig, denn dieser gehörte gerade nicht zu den »rückwärts gewandten Köpfen«. Außerdem hatte Sedlmayr seine abendländische Niedergangser306 Ernesto Grassi, Begegnungen mit der unhistorischen Natur, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 136152; ders., Apokalypse und Neugier. Historie als Verständnis der Gegenwart, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 416-430; Hans Sedlmayr, Die wahre und die falsche Gegenwart, in: ebd., S. 430-448. 307 Margaret Boveri an Joachim Moras, 19.11.1955, in: DLA, D: Merkur. 308 Joachim Moras an Margaret Boveri, 6.12.1955, in: DLA, D: Merkur.
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zählung im rde-Eröffnungsband dahingehend modifiziert, dass die moderne Kunst auch der Durchgang zu etwas völlig Neuem sein könne.309 Die Kontinuität eines elitären kulturkritischen Denkens verkörperte auch der Spanier José Ortega y Gasset. Sein Bestseller über den »Aufstand der Massen« von 1930 wurde als Band 10 der rde neu aufgelegt. Und auch er war unter den ersten 75 Bänden gleich zweimal vertreten. Auch im Falle Ortega y Gassets ging Grassi kein Risiko ein, der prominente und von den Medien hofierte Spanier galt als Garant für Bestseller.310 Die »modernen« Konservativen sind unter den rde-Autoren in der ersten 75erKohorte reichlich vertreten. An erster Stelle ist Helmut Schelsky mit seinem Band zur »Soziologie der Sexualität« zu nennen. In diesem meistverkauften soziologischen Werk der Nachkriegszeit kam das Programm des modernen Konservatismus besonders prägnant zum Ausdruck.311 Das öffentliche Sprechen über Sexualität war in katholischen Kreisen so unüblich, dass etwa die Frankfurter Hefte verzweifelt nach einem seriösen Rezensenten suchten und das Buch deshalb beim Verlag noch nicht bestellt hatten: »Es ist eine alte Sache, dass ich (…) die sexualpsychologischen und sexualsoziologischen Themen in der Kritik nicht besetzen kann. (…) Ich kenne einfach niemanden von den ganz seltenen Leuten, die mit publizistischer Qualifikation über die Themen FH-gerecht schreiben könnten …«312
309 Hans Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst (rde 1), Reinbek 1955; drei Jahre später folgte ders., Kunst und Wahrheit – Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte (rde 71), Reinbek 1958. 310 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen (rde 10), Reinbek 1956; ders., Über die Jagd (rde 42), Reinbek 1957; vgl. Kapitel II.2.2. 311 Helmut Schelsky, Soziologie der Sexualität. Über die Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral und Gesellschaft, Reinbek 1955 (die Zitation nach der ersten Auflage, einem schmalen Band von 148 Seiten); mit der 17. Auflage vom Juli 1967 war eine Gesamtauflage von 168.000 erreicht, erst danach schwand das Interesse allmählich; vgl. Patrick Wöhrle, Schelskys »Soziologie der Sexualität« zwischen Geschlechterkonstruktivismus und Soziologiefolgenabschätzung, in: Gallus, Helmut Schelsky, S. 170-183; Axel Schildt, Helmut Schelsky. Soziologie der Sexualität (1955) oder: Grenzen eines »modernen Konservatismus«, in: Olaf Stieglitz/Jürgen Martschukat (Hrsg.), race & Sex. Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Berlin 2016, S. 181-187; auch international war das Buch ein großer Erfolg, es gab Übersetzungen ins Niederländische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Französische und Griechische; vgl. Volker Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung. Helmut Schelsky. Leben – Werk – Aktualität, München 2012, S. 88 ff.; eine Übersetzung ins Englische kam nicht zustande, die Übersetzung ins Spanische ist einer südamerikanischen Lizenz zu verdanken, denn Franco-Spanien verweigerte eine Genehmigung; Rowohlt-Verlag an Helmut Schelsky, 27.6.1958, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, rde. 312 Redaktionsinterne Mitteilung von WG (= Walter Guggenheimer) an HH (= Hubert Habicht), 9.1.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 99.
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Schelsky benannte im Vorwort explizit das Paradox aus konservativer Sicht: Einerseits halte er »jene altmodische Ansicht für die einzig richtige« (7), nach der die Erörterung von Sexualität den Fachleuten vorbehalten sein sollte, andererseits lege er ein Buch für ein breiteres Publikum dazu vor. Aber die »Tabuierung des Geschlechtlichen im öffentlichen Gespräch« (7) sei nicht mehr zeitgemäß, nachdem die »Psychoanalyse zum interessanten gesellschaftlichen Gesprächsstoff, ja schon zu einem Gesellschaftsspiel geworden ist« (7). Mit der »Emanzipation der Sexualität seit der Jahrhundertwende« sei das »Kind mit dem Bade ausgeschüttet« (8) worden.313 Bei der Grundlegung seines Themas stützt sich Schelsky vor allem auf »die sozial-anthropologischen Grundlagen der menschlichen Sexualität« (8), bei denen Margaret Mead und Arnold Gehlen die kulturell überformende Standardisierung und Institutionalisierung der Rollen von Mann und Frau betont hatten, die sich im Verlaufe der Geschichte weiter differenzierten.314 Die Ehe als soziale Regulierung der Geschlechterbeziehungen gründe nicht direkt auf der Sexualität, sondern stabilisiere die Gesellschaft als solche. Die Regelung der vorehelichen Sexualität skizziert Schelsky in ihrer Varianzbreite als kulturhistorischen Möglichkeitsraum, die Prostitution wird als »Komplementär-Institution des spezifischen Sexualhabitus der patriarchalisch-monogamen Ehe der abendländischen Traditionen« in einen legitimen Status überführt. Allerdings widerspricht Schelsky vehement dem Missverständnis einer daraus zu folgernden Relativierung aller sexuellen Verhaltensformen, denn er halte »Normenabschwächungen für unberechtigt und gefährlich« (48). Diese Positionierung – funktional zentrale Rolle der Ehe, relative Liberalität im Blick auf voreheliche Sexualität und die Prostitution als »Komplementär-Institution« – entsprach ganz offensichtlich den weltanschaulichen Komfortbedürfnissen einer Leserschaft, die eine nüchterne sozialwissenschaftliche Sicht den kirchlichen Normen vorzog, deshalb aber noch längst nicht in Kategorien sexueller Emanzipation dachte. Der Kinsey-Report, der in den USA erstmals demoskopisch die Meinungen über sexuelle Verhaltensformen in breitem Maßstab erhob, war der Text, gegen den Schelsky vor allem anschrieb. Er bezweifelte nicht, dass die empirische Erhebung die Realität der US-Gesellschaft widerspiegele, in der scheinbar abnorme sexuelle Praktiken viel 313
Zum zeitgenössischen Stand der Sexualforschung und ihrem Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit vgl. jetzt Moritz Liebeknecht, Sexualität im Fokus der Wissenschaft. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, Hans Giese und der Wandel der westdeutschen Sexualkultur von 1950 bis in die 1970er Jahre, Phil. Diss. Universität Hamburg 2018, S. 113 ff. (jüngst erschienen als: Wissen über Sex. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung im Spannungsfeld westdeutscher Wandlungsprozesse, Göttingen 2020; die Hrsg.). 314 Dass Margaret Mead und Arnold Gehlen selbst wiederum zu den Autoren der ersten 75 Bände zählten, weist beispielhaft auf selbstreferenzielle Züge der rde hin: Margaret Mead, Mann und Weib – Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt (rde 69/70), Reinbek 1958; Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter – Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (rde 53), Reinbek 1957.
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weiter verbreitet waren als gedacht. Er stimmte Kinsey auch zu, dass die »Vielfältigkeit und Plastizität der Sexualbetätigung natürlich« (51) sei. Aber zwei Punkte griff er scharf an: zum ersten die These, aus der »biologisch natürlichen Variabilität des Sexualverhaltens« (51) ergebe sich auch die entsprechende moralische Erlaubnis für das eigene Verhalten. Diesen liberalen Schluss interpretierte Schelsky als »reformsüchtige Opposition« gegen den »übertriebenen Moral-Perfektionismus puritanischer Tradition« (52) in den USA. Aber noch bedenklicher erschien ihm der Umstand, dass die Kenntnis der empirischen Variabilität der Sexualität selbst eine normierende Wirkung entfalte. Diese Kritik zielte auf das grundsätzliche Problem einer sexuellen Informalisierung, durch die jede gesellschaftliche Stabilisierung gestört werde. Von allen »sexuell abnormen Verhaltensweisen der Sexualität« (117), die durch die Untersuchungen von Kinsey legitimiert werden könnten, hielt Schelsky die Homosexualität für die gefährlichste und polemisierte gegen Vorschläge von liberaler Seite, die Homosexualität »von der gesellschaftlichen Diskriminierung zu befreien und ihr als einer geschlechtlichen Minderheitenhaltung die soziale Anerkennung zu gewähren« (86). Dies könne die »sozialen, kulturellen und geistigen Grundordnungen unserer geschichtlichen Tradition in noch viel stärkerem Maße« erschüttern als ohnehin schon durch die »Wandlungen im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander« (86) geschehen. Das Buch von Schelsky eignet sich sehr gut, um die Grenzen bzw. die Relativität des Modernen im »modernen Konservatismus« zu beleuchten. In dieser Richtung sind weitere wichtige Texte der rde zu interpretieren: Arnold Gehlen trat in dem bereits erwähnten Band »Seele im technischen Zeitalter« dafür ein, in der irreversibel modernen industriellen Gesellschaft mit zunehmendem Spezialistentum und dem Vordringen der Abstraktion – nicht zuletzt in der Bildenden Kunst –, eine neue Kultur heraufzuführen. Günter Schmölders war mit seinem Ansatz, einer Kombination von Ökonomie und Sozialpsychologie, vertreten, mit dem er das Wirtschaftsgeschehen erklärte; in der heraufziehenden Konsumgesellschaft erzielte er mit der Ablösung sozialwissenschaftlicher Empirie durch subjektive Wahrnehmung ähnliche Plausibilitätserfolge wie einige Jahre zuvor Helmut Schelskys ominöse »Nivellierte Mittelstandsgesellschaft«.315 Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang auch Peter R. Hofstätters »Gruppendynamik«.316 Seine Abrechnung mit der überkommenen kulturkritischen Massenpsychologie, deren prominenter Vertreter Ortega y Gasset ja ebenfalls, zweimal, in der Reihe vertreten war, kann als ein zentrales Argument des »modernen Konservatismus« gelten, das auch von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky geteilt wurde.317 Es gab in der modernen Gesellschaft keine amorphe Masse und einen daraus abzuleitenden Gegensatz von Masse und Elite mehr; vielmehr konstituierte und bewährte sich Elite in der 315 Günter Schmölders, Konjunkturen und Krisen (rde 3), Reinbek 1955. 316 Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik – Kritik der Massenpsychologie (rde 38), Reinbek 1957; dieses Buch verkaufte sich bis zum Anfang der 1970er Jahre mehr als 200.000 Mal. 317 Gehlen, Schelsky und Hofstätter, Hans Freyer ist als ältere Bezugsperson hinzuzuzählen, bildeten in den 1950er Jahren ein gut eingespieltes Zitationskartell.
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Verdeutlichung der gesellschaftlichen Komplexität und ihrer dadurch möglichen Lenkung. In diesem Zusammenhang wurde die US-Gesellschaft nicht mehr als der europäischen wesensfremd vorgestellt, sondern lediglich als in der entfremdenden Modernität vorauseilend. Der einflussreiche Band von David Riesman, der den »außengeleiteten« (»other directed«), konsumistisch manipulierten und entseelten Menschen darstellte, war für rde von Helmut Schelsky mit einer Einführung versehen und von seiner Schülerin Renate Rausch übersetzt worden.318 Zwar gab es auch einzelne Bände und Autoren, die sich nur schwer in die große Koalition von altem, antimodernem, und neuem Konservatismus einfügten, etwa der katholisch-jugendbewegte Postmodernismus von Romano Guardini;319 aber katholische Positionen waren ansonsten eindeutig randständig. Unter den politischen Propagandisten gegen den Bolschewismus ist allenfalls noch der Jesuit Gustav A. Wetter erwähnenswert.320 Zur sozialdemokratischen Linken zählte der Exilant und Zukunftsforscher Fritz Baade.321 Und schließlich ist festzuhalten, dass auch Jean-Paul Sartre in der deutschen Enzyklopädie mit einem Band vertreten war, allerdings nicht zu seinen politisch-philosophischen Thesen, sondern zur Literaturtheorie.322 Aber Hegemonie erweist sich in der Anordnung der Themen und Autoren, die zentralen Aussagen entstammten dem Kern bildungselitärer konservativer Positionen, an denen bei aller Anpassung an die Modernisierung der Lebenswelten festgehalten werden sollte. In einigen Bänden der rde werden neuhumanistische Einflüsse deutlich, die Einsicht in das Wesen des Humanen durch die Vertiefung in antike, bei Grassi vor allem römische Schriften als elitäre Veranstaltung. Allerdings verfocht er nicht das Primat der Geistes- gegenüber den Naturwissenschaften, sondern präsentierte sich als Anhänger einer einheitlichen Wissenschaft. Ähnlich wie mittlerweile die Intellectual History dazu tendiert, Intellektuelle nicht an normativen Kriterien zu messen, sondern nach ihrer Funktion für die Öffentlichkeit moderner Gesellschaften zu fragen, können auch die Doxa des spezifischen Bildungsprogramms von Grassis rde untersucht werden, wie es am Beispiel einiger Bände angedeutet wurde. Die rde sind demnach als Angebot für neue bildungshungrige Schichten zu verstehen, denen ein durchaus elitäres konservatives und religiöses Weltverständnis nahezu318 Riesman, Die einsame Masse (rde 72/73); im Kontrast dazu in der gleichen Reihe Geoffrey Gorer, Die Amerikaner – Eine völkerpsychologische Studie (rde 9), Reinbek 1956 (Erstausgabe im Züricher Verlag Manesse 1949). 319 Romano Guardini, Der Tod des Sokrates – Eine Interpretation der platonischen Schriften: Euthyphron, Apologie, Kriton und Phaidon (rde 27), Reinbek 1956. 320 Gustav A. Wetter, Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion (rde 67), Reinbek 1958. 321 Fritz Baade, Welternährungswirtschaft (rde 29), Reinbek 1956; ders., Weltenergiewirtschaft. Atomenergie – Sofortprogramm oder Zukunftsplanung (rde 75), Reinbek 1958. 322 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, Reinbek 1958; symptomatisch ist nicht das Erscheinen des Bandes an sich, sondern eher der späte Zeitpunkt, war Rowohlt doch seit 1949 der westdeutsche Hausverlag für die Dramen, Romane und Essays des französischen Schriftstellers.
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bringen war, das aber zugleich dazu befähigen sollte, gesellschaftliche Mechanismen zu steuern. Grassis Angebot versprach, zum kleinen Preis, zugleich den Aufstieg des Lesers in die illustre Gemeinschaft der Wissenden. Wer das Programm von rde absolvierte, befand sich im juste milieu moderner westdeutscher Intellektuellen-Diskurse. Rde feierte zwar enorme Erfolge beim gebildeten Publikum und wurde in vielen Feuilletons gelobt, aber einige hochkarätige Linksintellektuelle der 1950er Jahre zeigten sich von Anfang an reserviert oder kritisierten das Unternehmen sogar radikal als »scharlatanerie«; im Gegensatz zum »kombinatorischen begriffsspiel« in der Rechtfertigungsschrift von Grassi handle es sich eben auch bei rde um eine Buchreihe mit einer planlosen »willkür der titel- und themenwahl«, urteilte Enzensberger.323 Während ihm die Konzeptionslosigkeit missfiel, störten Adorno, um den Grassi seit 1959 warb, der konservative Zuschnitt der Reihe und die NS-Belastung etlicher Autoren, wie er Grassi wissen ließ: »Daß kein Mißverständnis entstehe: Ich habe gar nichts gegen die Form der Enzyklopädie – wie sollte gerade ich es. (…) Meine Bedenken richten sich vielmehr gegen die Tendenz – oder, genauer vielleicht, gegen eine gewisse Belastung der Reihe durch Namen, die ich wirklich für bedenklich halte. Ich denke dabei in erster Linie an Sedlmayr, gegen den ich besonders allergisch bin, weil er mit dialektischen Motiven meines eigenen Denkens Mißbrauch treibt, indem er sie isoliert, und für Dinge einspannt, die allem entgegengesetzt sind, was ich für wahr halte. (…) Kurz, es ist mir in der Reihe zuviel Gegenaufklärung, und in der Situation eines Deutschland, das weder mit dem nazistischen Erbe fertig geworden ist, noch der geistigen Restauration von innen her sich zu erwehren vermag, halte ich das für besonders gefährlich.«324 Selbstverständlich bestritt Grassi die von Adorno diagnostizierte Tendenz der Reihe; als Italiener wolle er eben die Diskussion anregen, und mit dem Band von Sedlmayr sei ihm dies offenbar gelungen.325 Dass viele der in der Reihe vertretenen deutschen Autoren im »Dritten Reich« publizistisch im Geiste des Regimes tätig gewesen waren, mochte Grassi weder abstreiten noch tadeln: »Wollen wir weiter politische Urteile walten lassen? Dann muessen wir die Haelfte unserer Mitarbeiter hinausschmeissen. Ich kann mich nur um die Qualitaet der Autoren interessieren und dies ist wohl auch Ihr Standpunkt. Dass wir
323 Hans Magnus Enzensberger an Joachim Moras, 6.12.1958, in: DLA, D: Merkur. 324 Theodor W. Adorno an Ernesto Grassi, 26.1.1959, in: Theodor W. Adorno Archiv/Archiv der Akademie der Künste; erst 1967 verfasste Adorno die Einführung in einen Band über Musiksoziologie in der rde. 325 Ernesto Grassi an Theodor W. Adorno, 31.1.1959, in: ebd.
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keine Nazi sind, dass unsere Enzyklopaedie in ausgerechneter Richtung geht, brauche ich nicht zu unterstreichen.«326 Grassi hatte mit seiner Aussage eher untertrieben. Unter den deutschen Autoren stellten ehemalige Nationalsozialisten eindeutig die Mehrheit, dazu zählten etwa Sedlmayr (rde 1), Helmut Schelsky (rde 2), Günter Schmölders (rde 3), über die Rolle von Werner Kemper (rde 4) in der Zeit des »Dritten Reiches« wird immer noch diskutiert, Franz Altheim (rde 5) gehörte zeitweise der SA an, usw. usf. – von Gehlen bis Hofstätter. Mit feinem Gespür für die politisch neuralgischen Texte der Reihe hatte Jürgen Habermas einen heftigen Angriff auf Margret Boveris »Verrat im 20. Jahrhundert« vorgetragen, in dem der »Verrat« als epochaler Schlüsselbegriff vor allem hinsichtlich seiner Funktion unterschieden wurde, indem der Verrat am Vaterland, etwa durch Knut Hamsun, dem Verrat für das Vaterland im Falle des Widerstands vom 20. Juli 1944 gegenübergestellt wurde.327 Ihr Buch sei ein Konstrukt aus dem Geist der konservativen Revolution, eine Gloriole des konservativen Widerstands als Repräsentanz einer »militanten Gegenaufklärung«.328 Grassi selbst hatte zwar schon zuvor die Sorge gehabt, dass die NS-belastete Autorin, die ihm von Joachim Moras, Mitherausgeber des Merkur, vermittelt worden war, einen Skandal auslösen würde. Aber auch in diesem Fall empfand er es als mutig, das Buch zu veröffentlichen, wie er Ledig-Rowohlt wissen ließ: »Die Margaret Boveri wird uns wieder Skandale verursachen. Alle Juden von Ascona sind mir schon am Kragen gegangen (…) Die Boveri sei selbst Kollaborationistin gewesen und solchen Bloedsinn. (…) denn selbst die Reaktion der Juden zeigt in welcher vergifteten Atmosphaere wir leben.«329 Der große Erfolg von Boveris Werk, mit ganzseitigen Vorabdrucken in der Zeit, der Welt und etlichen anderen Zeitungen befördert sowie nicht zuletzt im Merkur vermarktet, ließ die Kritiken aber in den Hintergrund rücken.330 Der Niedergang von rde verlief allmählich, ohne spektakuläre Brüche, aber mit einigen deutlichen Signalen. Die Zahl der Originalausgaben sank, stattdessen wurde die Jagd auf erfolgreiche, bereits anderswo verlegte Titel eröffnet. Dies bezog sich in starkem Maße auf geistreiche revisionistische Marxisten wie Roger Garaudy aus Frankreich, Adam Schaff aus Polen, Milovan Djilas aus Jugoslawien, Ernst Fi326 Ernesto Grassi an Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, 10.8.1955, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Mappe 1/3. 327 Margret Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert. Zwischen den Ideologien. Zentrum Europa I (rde 23), II (rde 24), III (rde 58), Reinbek 1956/57. 328 Jürgen Habermas, Der Verrat und die Maßstäbe. Wenn Jungkonservative alt werden, in: Deutsche Universitätszeitung (DUZ), H. 11, 15.10.1956, S. 8; zur zeitgenössischen Kritik vgl. Görtemaker, Leben, S. 279 ff. 329 Ernesto Grassi an Heinrich Maria Rowohlt, 21.8.1956, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 3/3. 330 Vgl. Görtemaker, Deutsches Leben, S. 246 ff.
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scher aus Österreich und Georg Lukács aus Ungarn. Diese »humanistische« Richtung dissidenter Kommunisten wurde besonders von Fritz J. Raddatz, Cheflektor und stellvertretender Verlagschef von Rowohlt seit Beginn der 1960er Jahre, empfohlen und befördert.331 Nur wenige Jahre zuvor hatte Grassi nicht einmal einen Halbsatz auf den Gedanken verschwendet, marxistische Autoren in rde zu berücksichtigen, und er unternahm auch keine Anstrengungen, die nun erfolgende Öffnung zu begründen. Dass es sich dabei um ein Primat des Kaufmännischen handelte, geht aus der Verlagskorrespondenz hervor. Ledig-Rowohlt regte zum Beispiel Anfang 1960, als die gesamte Aufmerksamkeit der westdeutschen Öffentlichkeit sich auf die Schändung der gerade eingeweihten Synagoge in Köln und Hunderte von antisemitischen Nachfolgetaten richtete, einen Band zum Thema »Antisemitismus« an: »Du wirst ja auch in der Presse die Diskussion über den läppischen Antisemitismus verfolgt haben. Ich hatte schon daran gedacht, ob man hier nicht im Rahmen der rde etwas tun sollte, womöglich gar als Schnellschuss ausserhalb der Reihe.«332 Grassis Position war uneindeutig. Einerseits machte er in Briefen an Vertraute keinen Hehl aus seinen eigenen antisemitischen Neigungen. Als es um die Aufnahme von Werken Theodor W. Adornos ging, die bei Suhrkamp verlegt worden waren, schrieb er an eine Verlagsmitarbeiterin: »Nebenbei bemerkt: ihre Lektüre hat mein Urteil über Adorno bestätigt und ein (sic) Antisemitismus in mir entfacht. Es ist wirklich ein Pech, dass man nicht mehr Antisemit sein kann: wenn nicht damit so viele Tragödien verbunden wären, würde man sagen, es sei der letzte semitische Trick.« Adornos Einführung in die Musiksoziologie sei keine: »negativ, unkonstruktiv, völlig subjektiv in seinem Urteile, witzig und verdammt sprühend. (Beinahe hätte ich den Ausdruck ›zersetzend‹ gebraucht, der aber zu sehr eine Naziterminologie geworden ist.)«333 Die Invektiven änderten nichts daran, dass Adornos Einführung bei rde erschien (s. o.) – die Zeitläufte hatten sich eben geändert. Bereits 1964 hatte Grassi mit dem in Leipzig lehrenden prominenten Romanisten Werner Krauss korrespondiert, der sich interessiert gezeigt hatte, einen Band über Literatur und Aufklärung in rde zu publizieren.334 1966 wandte sich Grassi sogar an den SED-Kulturfunktionär Alfred Kurella, um ihn für eine Freistellung von Helmut Klein und Wolfgang Reischock von ihren universitären Pflichten zu gewinnen, zwei Erziehungswissenschaftler, die 331
Dies belegt die Korrespondenz zwischen Grassi, Raddatz und Ledig-Rowohlt von 1962 bis 1966, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe o. Nr., Mp. 3-5. 332 Heinrich Maria Rowohlt an Ernesto Grassi, 22.1.1960, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe o. Nr. (1959-1962). 333 Ernesto Grassi an (Allo) Becker-Berger (»Sehr liebe Be-Be«), 19.10.1966, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe o. Nr. 334 Vgl. Werner Krauss, Briefe 1922-1976. Hrsg. von Peter Jehle (unter Mitarbeit von Elisabeth Fillmann und Peter-Volker Springborn), Frankfurt a. M. 2002, S. 798 ff., 830 ff.
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bereits einen Band, »Polytechnische Erziehung in der DDR«, bei Rowohlt veröffentlicht hatten und die er nun für ein Buch »Grundpositionen der Pädagogik der sozialistischen Länder« verpflichten wollte: »Bände, die einen solchen Erfolg haben, sind ja die beste Propaganda für die kulturellen Bemühungen der DDR.«335 Ein Jahr später wiederum wandte sich Hans Mayer an Ledig-Rowohlt, um sich heftig über Grassi wegen einer »tollen und peinlichen« Geschichte zu beschweren. Mittlerweile hatte nämlich Krauss einen Band für rde geliefert, den Verlagsvertrag unterzeichnet und das Honorar erhalten. Inzwischen habe aber Ulbricht bekanntlich ein Gesetz veranlasst, das unerwünschte Publikationen von Autoren der DDR im Westen verhindern sollte. Grassi habe an Krauss geschrieben, dass er »natürlich das Manuskript zuerst zur Prüfung jener Kommission der DDR vorlegen müsse«. Ohne Krauss zu fragen, habe es der Rowohlt Verlag nach Ost-Berlin geschickt. Krauss sei empört über diese »Schweinereien des Rowohlt Verlages«.336 In einem verlagsinternen Rechtfertigungsschreiben, in dem der Gang der Dinge dokumentiert wurde, letztlich eine Bestätigung von Mayers Darstellung, vermutete der Schreiber eine »indiskrete Schweinerei«.337 Die zeitgeistigen Versuche einer Anreicherung der Reihe mit marxistischen Autoren verstärkten die Inkohärenz von rde und konnten die Krise nicht abwenden. 1960 wurde die Hamburger rde-Redaktion aufgelöst, die Geschäfte wurden nun ausschließlich von München aus betrieben.338 Ende 1961 war das garantierte Honorar für die Autoren von 2.800 auf 2.100 DM herabgesetzt worden.339 1964 wurde vermerkt, dass »der Umsatz bis nahe an die Grenze der Rentabilität gesunken ist«. Außer der weiteren Reduzierung der Honorare wurde eine Auflagensenkung ins Auge gefasst. Als Ursachen für den Niedergang wurden die Konkurrenz und veränderte Leserbedürfnisse ausgemacht: »Wenn der Umsatz bei Fischer und dtv ebenfalls mangelhaft sein mag, so haben diese Reihen doch wohl unseren Umsatz stark geschädigt. Der Herausgeber ist der Ansicht, daß dabei die Qualität von Papier und Druck eine ganz wesentliche Rolle spielt. Ein großer Teil der Käufer betrachtet das Taschenbuch offenbar nicht mehr als reines ›Konsum‹-Buch, sondern möchte sich in Wissenschaft und klassischer Literatur eine kleine Bibliothek von bleibendem Wert aufbauen.«340 335 Ernesto Grassi an Alfred Kurella, 15.12.1966, in: Archiv AdK, Alfred Kurella Archiv; Kurella gab die Bitte weiter, der aber nicht entsprochen wurde. 336 Hans Mayer an Heinrich Maria Rowohlt, 9.5.1967, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe o. Nr. 337 Eginhard Hora an Allo Becker-Berke, 11.5.1967, in: ebd. 338 Aktennotiz rde-Redaktion, 22.12.1960, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 2/4. 339 Ernesto Grassi an Heinrich Maria Rowohlt, 15.4.1961, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 3/4. 340 Promemoria zur Besprechung vom 16.3.1964 in Reinbek zwischen den Herren Ledig-Rowohlt, Busch, Friederichsen, Hintermeier und Prof. Grassi, Prof. Hess, in: DLA, Verlagsarchiv Rowohlt, Komplex rde, Mappe 1/4.
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1968 trennte sich der Rowohlt Verlag schließlich von Ernesto Grassi, der mit einer stattlichen Abfindung ausschied. Die Reihe wurde nun von Verlagsmitarbeitern weiter betreut, ein neues Profil gewann sie nicht mehr. Bei der Modernisierung konservativen Denkens ist die gleiche Beobachtung wie bei seinem liberalen Konkurrenten zu machen. Aus einer dezidierten Position, die sich gegen veraltete Muster und Stile durchsetzen musste, war eine weithin konsensuale Strömung geworden, die sich in den zeitgeistigen Diskursen unauffällig immer weiter ausbreitete, aber dadurch kaum mehr als eigenständig und originell wahrgenommen werden konnte.
4.3 Politisierung des Nonkonformismus Dass jeder Intellektuelle sich als Nonkonformist inszenieren muss, um die für ihn existenzielle mediale Aufmerksamkeit zu erhalten, kennzeichnet den Begriff des Nonkonformismus als berufliches Erfolgskriterium, das politisch-weltanschauliche Positionen seit jeher überwölbte. Die Spezifik der 1950er Jahre ergab sich aus den besonders rigiden Bekenntniszwängen des Kalten Krieges. Eine Position der Äquidistanz zu den Antipoden der Ost-West-Auseinandersetzung wurde als entweder perfide oder aber naive Unterstützung des totalitären Feindes verdächtigt. Viele linksintellektuelle Kritiker der politischen Kultur der Adenauer-Ära begaben sich deshalb, wie in Heinrich Bölls berühmtem Roman, in die Rolle eines Clowns, dessen gesellschaftskritische Ansichten aufklärerisch wirken sollten. Die damit verbundene spielerische Erweiterung diskursiver Freiräume fand ihren sinnfälligen Ausdruck im »Nonkonformismus als literarische(r) Strategie«,341 dem Markenzeichen der Gruppe 47 (s. u.). Der sozialdemokratische Parteiintellektuelle Carlo Schmid hielt den ostentativen Nonkonformismus der Intellektuellen dagegen für eine Übertreibung, zu erklären aus den historischen Erfahrungen seit dem 19. Jahrhundert. In einem Grundsatzartikel des SPD-Zentralorgans schrieb er: »Die deutsche Geschichte ist charakterisiert durch einen verhängnisvollen Abstinenzialismus der deutschen Intelligenz. Sie war entweder obrigkeitsgläubig oder nihilistisch, oder sie war, vor allem in der Gründerzeit (der 1870er Jahre; A. S.), konformistisch, nämlich erfolgskonformistisch.«342 Wenn auch nur implizit, hatte Schmid hier die besondere deutsche Tradition des Autoritarismus als einen wichtigen Faktor für die begriffliche Konjunktur des Nonkonformismus angedeutet. Sehr viel früher, klarer und radikaler hatte dies Erich 341 Otto Lorenz, Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstrategien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter, Tübingen 1998, S. 72 ff. 342 Carlo Schmid, Der Intellekuelle ist das Schicksal der Demokratie, in: Vorwärts, 22.11.1957, S. 10.
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Kästner im Merkur formuliert: »Wir stehen vor jeder Autorität stramm. Auch vor dem Größenwahn, auch vor der Brutalität, auch vor der Dummheit – es genügt, daß sie sich Autorität anmaßen.«343 Das traf offenbar die Empfindung nicht weniger und keineswegs nur linker Intellektueller, in dieser Hinsicht besonderen deutschen Autoritätsverhältnissen ausgeliefert zu sein. Der Rundfunkjournalist Adolf Frisé setzte in einem Brief an Dolf Sternberger als Konsens voraus: »Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, wie bedauerlich es für unser politisches Leben ist, daß in Deutschland die jeweilige Regierung als sakrosankt gilt und irgendein Versuch, ihre Autorität anzufechten oder einzugrenzen, sogleich als Vergehen gegen das Nationalgefühl betrachtet wird.«344 Den Konsens mit Sternberger hatte Frisé allerdings fälschlich vorausgesetzt, denn jener betrachtete die intellektuelle Reklamation des Nonkonformismus als linke Mimikry. Einen Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete Sternberger mit dem geschichtsträchtigen Satz ein: »Ein Gespenst geht um in der Bundesrepublik – das Gespenst des Nonkonformismus.« Da aber niemand gezwungen sei, den Auffassungen der Regierung zu folgen, handle es sich nur um eine »unpassende Redensart«.345 Der einflussreiche Publizist Horst Krüger (1919-1999), er leitete seit 1952 das Literarische Nachtstudio des Südwestfunks in Baden-Baden, hatte zuvor im gleichen Blatt sogar einen »Offenen Brief« an einen Nonkonformisten gerichtet. Subsummiert wurden von ihm unter diese Kategorie Nationalneutralisten, Linkssozialisten, Antiklerikale, Pazifisten, utopistische Literaten u. a., denen als Gemeinsamkeit ihre Missachtung der realen Demokratie vorgehalten wurde: »Sie suchen eine Utopie, den vollkommenen Staat, und da sie ihn nicht finden, bekämpfen sie die Bundesrepublik.«346 Diametral entgegengesetzt sah es Walter Dirks, der allerdings in seiner Argumentation noch weiter ging als Frisé, weil er nicht die Regierung für die Isolation der nonkonformistischen Linksintellektuellen verantwortlich machte, sondern das »beklagenswert hartherzige deutsche Publikum, (…) das auf die beiden Positionen Adenauer und SPD fixiert ist«.347 In der Kritik an linken Positionen bürgerte es sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre jedenfalls ein, Nonkonformismus als modische Attitüde zu denun343 Erich Kästner, Von der deutschen Vergesslichkeit. Zum 10. Jahrestag des 20. Juli 1944, in: Merkur, Jg. 8, 1954, S. 601-603, Zitat S. 601. 344 Adolf Frisé/Handelsblatt an Dolf Sternberger, 20.1.1956, in: DLA, Nl. Dolf Sternberger, Frisé. 345 Dolf Sternberger, Eine unpassende Redensart, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.4.1959; abgedruckt in ders., Ekel an der Freiheit? und fünfzig andere Leitartikel, München 1964, S. 27-30. 346 Horst Krüger, Das Nein ist kein Programm. »Offener Brief« an einen Nonkonformisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.1.1958. 347 Walter Dirks an Regina Bohne, 14.11.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 70.
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zieren, was Ernst Niekisch wiederum vom Angriff »schnöseliger« Konformisten sprechen ließ.348 Dies galt etwa für die stereotypen Angriffe gegen jeden, der sich als unabhängiger Geist nicht für einen der beiden deutschen Staaten entscheiden mochte. So wurde etwa ein großformatiger Fotoband von Jürgen Neven du Mont und Michael Mansfeld bei Kurt Desch, der Wiederaufrüstung, nationale Hybris und die Politikerkaste in Ost und West mit einer gewissen Äquidistanz kontrastreich ins Bild gesetzt hatte, von Klaus Harpprecht in der Zeit mit hämischem Unterton verrissen.349 Harpprecht war es auch, der die gegen West- und Ostdeutschland gleichermaßen gerichtete Kritik von Erich Kuby in der Zeit als »konformen Non-Konformismus« glossierte.350 Strategisch klügere konservative Intellektuelle hielten Erich Kubys Definition, nur der nonkonformistische Oppositionelle könne Intellektueller sein, für so gefährlich, dass man darüber nicht mit Spötteleien hinweggehen könne. Der Spitzenbeamte in der bayerischen Staatskanzlei, wichtigster Redenschreiber des Ministerpräsidenten Hans Ehard und einflussreiche Publizist Ernst Deuerlein mahnte mit Blick auf den »Chronisten« Erich Kuby: »Den Zeitgenossen aber stellt sich die Aufgabe, die Intellektuellen nicht als literarische Narren abzutun, sondern sich mit ihren Ansichten auseinanderzusetzen; denn nur dadurch kann verhindert werden, daß die Intellektuellen wiederholen, was sie schon einmal versucht haben: nämlich den ideologisch leeren Raum des Westens mit der Ideologie des Ostens anzufüllen.«351 Kuby galt geradezu als Personifikation dieser linksintellektuellen Gefahr. Rückblickend wurde der Doyen der linken Publizistik – zu seinem 90. Geburtstag – präsentiert als der ausgestorbene »Phänotyp des hochgebildeten musischen Großbürgers, welcher vehement gegen seine eigene Klasse ficht«.352 Rund um die Person 348 Ernst Niekisch an Joseph Drexel, 27.8.1957, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 e. 349 Jürgen Neven du Mont/Michael Mansfeld, Denk ich an Deutschland. Ein Kommentar in Bild und Wort, München 1956; zur Rezeption vgl. Artikel in BAK, Nl. Jürgen du Mont, 10. 350 Erich Kuby, Das ist des Deutschen Vaterland – 70 Millionen in zwei Wartesälen, Stuttgart 1957; Klaus Harpprecht, Vom Konformismus der Nonkonformisten. Erich Kubys Avantgarde – eine Nachhut, die in verkehrter Richtung marschiert, in: Die Zeit, 23.1.1958; Unterstützung erhielten Krüger und Harpprecht durch einen Grundsatzartikel von J(osef ) O(thmar) Zöller, Heimatlose Kritik. Versuch einer Begriffsbestimmung des Intellektuellen, in: Die Politische Meinung, Jg. 41, 1959, S. 43-50; gegen Zöller wiederum, der die Intellektuellen als »eine Art schwärmerischer Sektierer« verunglimpfte, richtete sich der junge Schriftsteller und Journalist Paul Noack, Die Intellektuellen, München 1961, S. 93. 351 Ernst Deuerlein, Müssen die Intellektuellen so sein? Die »heimatlose Linke« in Deutschland, in: Politische Meinung, Jg. 1, 1958, S. 35-50, Zitate S. 44, 50; ein umfangreiches Konvolut von Rezensionen vornehmlich von konservativer Seite zu »Das ist des Deutschen Vaterland« in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby. 352 Claus Heinrich Mayer, Ein befreiter Mann. Erich Kuby, Journalist und Schriftsteller, wird 90 Jahre alt, in: Süddeutsche Zeitung, 28.6.2000; vgl. Heinrich Senfft, Erich Kuby, in:
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des Münchener Publizisten ließe sich eine Miniatur des hasserfüllten Kampfes gegen den linken Nonkonformismus der 1950er Jahre schreiben. Man gewinnt den Eindruck, dass der »Nestbeschmutzer von Rang« (Heinrich Böll) für viele rechte Intellektuelle eine besondere Provokation darstellte, die sich nicht in anstößigen politischen Positionen erschöpfte.353 Sicherlich konnte man dem ehemaligen Kriegsteilnehmer, der seit Kriegsende für amerikanische und deutsche Medien schrieb und als Berater fungierte, vorhalten, dass seine Kritik an den politisch-kulturellen Zuständen in der Bundesrepublik mitunter überzogen war, wenn er etwa die von ihm wahrgenommene Domestizierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der Ersetzung der Kritik durch »Kunstbetrachtungen« im »Dritten Reich« verglich.354 Das musste gerade jene konservativen Intellektuellen ärgern, die über Macht und Einfluss in den Radiogremien verfügten. Aber man konnte Kuby nicht vorwerfen, er habe sich vor den Karren der ostdeutschen Propaganda spannen lassen. In einer von dem liberalen Journalisten Ernst Müller-Meiningen moderierten Veranstaltung hatte er 1954 in München die Klingen mit dem SED-Kulturfunktionär Johannes R. Becher gekreuzt. Die kommunistische Regionalzeitung musste konstatieren, Kuby habe »keinen Hehl daraus (gemacht,) daß er Gegner des politischen Systems in der DDR ist« und die angebliche »künstlerische Freiheit« dort bezweifle.355 Kritisieren konnte man allenfalls, dass Kuby forderte, die sozialpolitischen Errungenschaften des ostdeutschen Regimes zur Kenntnis zu nehmen. Für die Recherche zu seinem Buch über die beiden deutschen Gesellschaften erhielt er 1956 keine Einreisegenehmigung in die DDR, worüber er sich bei Alfred Kurella, einem anderen SED-Kulturfunktionär, zu dem er private Kontakte unterhielt, heftig beschwerte: »Das ist wirklich die groesste Albernheit, die mir je vorgekommen ist – na, sagen wir eine der groessten. Eine der grossen. Eine grosse …ja, aber letzteres jedenfalls.«356 Die einhellige Ablehnung von Kubys Buch in den konservativen Medien verweist darauf, dass offenbar jenseits der politischen Auseinandersetzung eine ästhetische Dimension für eine geradezu instinktive Ablehnung sorgte. Golo Mann warf Kuby vor, ihn treibe »ein begieriges Sammeln alles Deprimierenden und Auslassen alles dessen, was zur Hoffnung Anlaß geben könnte; ein Exhibieren der eigenen Intelligenz und ungewöhnlich kräftigen Eitelkeit; den deutschen Selbst-Ekel, in den sich Scha-
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Utopie kreativ, Nr. 168, 2006, S. 293-298; Henning Ritter, Er traute nur sich selbst. Ein Wanderer zwischen den Meinungen. Zum Tode von Erich Kuby, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2005. Vgl. kritisch Noack, Die Intellektuellen, S. 55 ff. Kuby, Vaterland, S. 165. Johannes R. Becher in München, in: Bayerische Volksstimme, 20.7.1954, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby (ungeordnet). Erich Kuby an Alfred Kurella, 22.1.1957, in: AdK, Nl. Alfred Kurella.
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denfreude mischt darüber, daß es mit Deutschland und Europa ganz gewiß wieder ganz furchtbar schief ausgehen wird.«357 Gerade dass es sich bei Kuby nicht um einen Kommunisten handelte, steigerte die Abscheu, die in der Wortwahl, unter Weglassung antisemitischer Anteile, durchaus Erinnerungen an die nationalsozialistischen Sprüche bei den Bücherverbrennungen wachrufen mochte. In der rechtskatholischen Deutschen Tagespost hieß es: »Wir müssen uns daran gewöhnen, daß es im Westen Materialisten, Feinde des Christentums, Nihilisten und Relativisten gibt, die keine Kommunisten sind. Die gar nicht fähig sind, Kommunisten zu sein. Weil ihnen selbst das primitive Glauben-Können, das ein Kommunist braucht, abgeht. Kubys Zynismus kennt keine Grenzen.«358 Die inhaltlich dürftige Kritik von Golo Mann, Klaus Harpprecht und tutti quanti mit der Frage, wo denn das Positive bliebe, verdeutlichte aber nur, dass Kubys Kritiker nicht über dessen stilistische Fähigkeiten verfügten. Der Verdacht, dass Neidmotive eine Rolle spielten, erhärtet sich, wenn man den ganzseitigen Verriss von Kubys dokumentarischem Roman »Das Mädchen Rosemarie«, der Milieus und Kulturverhältnisse an der Schwelle zur westdeutschen Konsumgesellschaft thematisierte, von Thilo Koch in der Zeit liest. Kubys Gesellschaftskritik komme »aus der Retorte«, er werde mit seinem Buch »wieder um einen Zug deutlicher zum Don Quixote der Bundesrepublik, der gegen die Windmühlenflügel seiner Abstraktionen anrennt«.359 Dass Kuby eine große Zahl von studentischen Einladungen zu Vorträgen erhielt, steigerte die Wut konservativer Kollegen nur. Als er 1958 bei einer Veranstaltung des AStA der Berliner Freien Universität die Namensgebung der FU kritisiert hatte, weil dadurch eine »innere antithetische Bindung an die andere, an die unfreie Universität jenseits des Brandenburger Tores fixiert« werde,360 führte das zu einem Aufschrei in der Presseöffentlichkeit. Sieben Jahre später, im Mai 1965, untersagte der Rektor der FU einen erneuten Vortrag von Kuby auf dem Gelände der Universität. Das Redeverbot gegen den Publizisten wirkte als eine Initialzündung der studentischen Protestbewegung.
357 Golo Mann, Neue Deutschlandbücher, in: Merkur, Jg. 11, 1957, S. 1200-1204, Zitat S. 1201. 358 Erwin Stindl, Das ganz andere Deutschland. Zu Erich Kubys »Das ist des Deutschen Vaterland, in: Deutsche Tagespost, 31.7.1957, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby (ungeordnet). 359 Erich Kuby, Rosemarie. Des deutschen Wunders liebstes Kind, Stuttgart 1958 (Nachdruck Berlin 2010); Thilo Koch, Die Unheilige und ihre Narren. Da haben wir nun also die Bescherung für des deutschen Wunders liebstes Kind, in: Die Zeit, 6.11.1958. 360 Auszug aus dem Referat von Erich Kuby, gehalten auf dem Politischen Forum des AStA im Sommersemester 1958, 12.6.1958, zum Thema »Die Wiedervereinigung Deutschlands«, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby (ungeordnet).
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Die zentrale literarische Auseinandersetzung der 1950er Jahre drehte sich um Wolfgang Koeppens »Treibhaus«. Die ostentative Distanz der Intellektuellen zum Bonner Geschehen ließ dieses Buch zum zentralen »Parlaments- und Intellektuellenroman der 1950er Jahre« werden, weil die subtile Darstellung sowohl als Kritik der Bonner Verhältnisse wie als generelle Distanzierung von der Politik rezipiert werden konnte. Die Hauptfigur, der todunglückliche Abgeordnete Keetenheuve, der sich als sozial völlig isoliert in einer ihm fremden Atmosphäre empfand, zeigte, dass Intellektuelle im politischen Betrieb nicht froh werden konnten. Bonn stand für das altersschwache restaurative System: »Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus (…) Üppigkeit ohne Mark und Jugend, es war alles morsch, es war alles alt, die Glieder strotzten, aber es war eine Elephantiasis arabum.«361 Von Politikern wurde »Das Treibhaus« intuitiv abgelehnt. Immerhin bezeichnete der Bundespräsident das Buch, das er gar nicht gelesen hatte, als »literarisch minderwertig«. Es werde von der gesamten Presse »um seiner rein boshaften Einstellung willen abgelehnt«.362 Mit diesem vorschnellen Urteil lag er zwar falsch, hatte aber zugleich ein zählebiges Vorurteil in die Welt gesetzt. Seit den 1970er Jahren gehen Literaturwissenschaftler, wiederum ohne jede Rezeptionsanalyse, selbstkritisch von einem Versagen des Rezensionswesens aus, weil sich das Feuilleton, mit Ausnahme von Karl Korn, einhellig gegen Koeppen gestellt und den Roman ignorant abgetan habe. Aber das entspricht nicht den Tatsachen. Zum einen befassten sich 1953/54 ca. 80 Rezensionen mit dem »Treibhaus«; bereits im Auslieferungsmonat, im November 1953, waren es mehr als zwei Dutzend. Insgesamt lag die Zahl der Rezensionen sogar etwas höher als bei der vielgerühmten autobiographischen Erzählung »Kirschen der Freiheit« von Alfred Andersch, die ein Jahr zuvor erschienen war.363 Koeppen kam im Süddeutschen Rundfunk und bei den prominenten Kölner Mittwochsgesprächen zu Wort, über mangelnde Beachtung konnte er sich nicht beklagen. Es gab auch keine einhellige Ablehnung, wohl aber eine diskursive Frontenbildung. Auf der Seite derjenigen, die das Buch lobten, befanden sich unter anderen Hans Zehrer, Karl Korn,364 Alfred Andersch und, für manche überraschend, Ernst von Salomon; viel Lob kam auch aus der DDR. Für negative Besprechungen sorgten unter anderen Friedrich Luft, Golo Mann, Fritz René Allemann und nicht zu361 Wolfgang Koeppen, Das Treibhaus (1953). In einer Ausgabe der gesamten »Trilogie des Scheiterns«, zu der noch »Tauben im Gras« und »Der Tod in Rom« zählen, Frankfurt a. M. 1986, S. 272; vgl. Wengst, Zerrbild; kritisch dagegen Benedikt Wintgens, Der Bundeskanzler im Treibhaus. Wolfgang Koeppens Bonn-Roman und die Literatur der Adenauerzeit, in: Hochgeschwender, Epoche, S. 153-180; zur literaturgeschichtlichen Einordnung Tilmann Ochs, Kulturkritik im Werk Wolfgang Koeppens, Münster 2004; Jürgen Egyptien, Wolfgang Koeppen. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2009. 362 Zit. nach Wintgens, Treibhaus, S. 299 f. 363 Eine instruktive tabellarische Auflistung der Rezensionen mit Erscheinungsort, Alter des Rezensenten und der Tendenz der Besprechung bei Wintgens, Treibhaus, S. 530. 364 Karl Korn, Satire und Elegie der Provinzialität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.1953; Korn hatte sogar einen Vorabdruck in der FAZ prüfen lassen, zu dem es dann aber nicht kam.
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letzt Klaus Harpprecht, der wie im Fall Kuby als eine Art politischer Gesinnungspolizist auftrat und einen hasserfüllten Verriss ablieferte. Er schwadronierte von einer »unaufgeräumten Waschküche voller verschwitzter Hemden und Socken«, durchsetzt »von nach-nazistischem Mief« in den Mustern einer »spätexpressionistischen Erregungsprosa«.365 Dass politische Positionen – Harpprecht war mit Allemann befreundet, und mit Friedrich Luft und Golo Mann gehörte er zum Umfeld der westlich eingestellten Zeitschrift Der Monat – auch literarische Werturteile beeinflussten, verwundert nicht, wenn auch für gewöhnlich nicht ganz so plump vorgegangen wurde wie von Harpprecht. Ausgerechnet Erich Kuby demonstrierte, dass man auch differenziert argumentieren konnte. Er erklärte, sich politisch durchaus an der Seite Koeppens zu wissen, könne ihm aber nur »gute Gesinnung« mit voraussichtlich fehlender Wirkung attestieren, da die Hauptfigur Keetenheuve nicht sympathisch auftrete, sondern »fürchterlich ratlos, zaghaft und kaputt« daherkomme.366 Hier wird sehr gut der Übergang von nonkonformistischer und engagierter politischer Haltung spürbar. Wohl kaum ein anderes Phänomen vermag die Transformation des Nonkonformismus in politisches Engagement besser zu veranschaulichen als der Aufstieg der Gruppe 47, zu der Koeppen Abstand hielt. Bereits an der Wiege des legendären Zusammenschlusses stand die Suche von Intellektuellen und Schriftstellern nach öffentlicher Wirksamkeit. Alfred Andersch und Hans Werner Richter hatten sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft kennengelernt, wo sie eine Lagerzeitung mit dem Titel Der Ruf redigierten – eine kongeniale politische Partnerschaft im formativen Nachkriegsjahrzent. Beide verfügten über politische Erfahrungen in der kommunistischen Bewegung vor 1933, beide hatten im »Dritten Reich« ihre ersten Schreibversuche unternommen und sich als Buchhändler betätigt.367 Beiden fehlte der akademische Hintergrund, der gemeinhin einen wichtigen Teil des kulturellen Kapitals von Intellektuellen darstellt. Gemeinsam gaben sie 1946 in der US-Zone erneut eine Zeitschrift mit dem Titel Der Ruf heraus, ein unbotmäßiges, besatzungskritisches Blatt.368 Nach dem Hinauswurf durch die Militärbehörde versammelten sie junge Schriftsteller, um eine Nachfolgezeitschrift mit dem Titel Skorpion zu konzipieren.369 Aus diesem personellen Kern entstand stattdessen die Gruppe 47. Dass einer lockeren Gesellung von Literaten wie der Gruppe 47 ein Platz, und sogar ein exponierter Platz, in der westdeutschen Intellektuellengeschichte zukommt,370 bedarf einer Begründung, zumal sich Historiker bisher wenig für 365 Klaus Harpprecht, Die Treibhausblüte, in: Christ und Welt, 17.12.1953. 366 Erich Kuby, Wer selbst im Treibhaus sitzt, in: Süddeutsche Zeitung, 7./6.11.1953. 367 Vgl. Rhys W. Williams, Der Wiederaufbau der deutschen Literatur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, H. 25, S. 12-18. 368 S. Kapitel I. 369 S. Kapitel II.3.2. 370 Der Begriff des »Intellektuellen« wurde als Eigenbezeichnung und Fremdzuschreibung der Gruppe 47 erst um 1960 geläufig; Vgl. Dietz Bering, »Intellektueller« bei der frühen
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diese Vereinigung interessiert haben.371 Dies beginnt sich allerdings langsam zu verändern, denn die Motive der Prosa der 1950er Jahre, die Romane von Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Martin Walser oder Günter Grass drücken die Bewusstseinsformen und Zeitgefühle derart markant aus, dass Zeithistoriker nicht mehr darauf verzichten, sie in ihre Darstellung zu integrieren und ihnen sogar besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Aber das würde noch nicht ausreichen, einen Zusammenschluss von Literaten auch intellektuellengeschichtlich zu würdigen. Der eigentliche Grund ist, dass es sich bei der Gruppe 47, zumindest bei den Organisatoren und den Protagonisten des engeren Kreises, um Schriftsteller handelte, die zunächst als Intellektuelle mit einer politischen Biographie und Botschaft eine Position in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit suchten, dann auf das Feld der Literatur wechselten, das sie wiederum bald politisch bestellten. In dieser Verpuppung blieb der programmatische Kern durchaus erhalten, ähnlich wie bei der religiösen Camouflage der ehemaligen konservativen Revolutionäre im protestantischen Raum oder der katholischen Abendländler vor ihrer offenen Politisierung im Zuge des Kalten Krieges. Dabei ist es auch hier zweitrangig, zu welchen Anteilen dieser Terrainwechsel strategisch geplant oder eher intuitiv erfolgte und welche Rolle Elemente von Kontingenz dabei spielten. Späteren Erklärungen Hans Werner Richters, der Glaube an eine »neue Art von demokratischem Sozialismus« habe sich schnell als trügerisch erwiesen und »aus Ohnmacht und frühzeitiger Resignation habe man sich freiwillig« auf das Terrain der Literatur begeben,372 ist jedenfalls mit Vorsicht zu begegnen, setzte ein solcher Entschluss doch bereits ein einmütig handelndes Kollektiv voraus, das es auch Richter zufolge nicht gab. Es finden sich keine nennenswerten Spuren eines Diskussionsprozesses zu diesem Schritt. Beobachtbar ist vielmehr die als Avantgarde-Anspruch kommunizierte Anpassungsleistung selbst, mit der sich linksunabhängige Intellektuelle literarisch inszenierten und als betont individualistisch sich gerierende »Nonkonformisten«373 einen oppositionellen Gegenpol Gruppe 47. Sprachgeschichtliche Spurensuche, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 32, 2007, S. 192-226; ders., Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010, S. 332 f. 371 Hinzuweisen ist allerdings auf Ingrid Gilcher-Holtey, »Askese schreiben, schreib: Askese«. Zur Rolle der Gruppe 47 in der politischen Kultur der Nachkriegszeit, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 25, 2000, S. 134-167; Dominik Geppert, Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement. Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik, in: ders./Hacke, Streit, S. 46-68; ders., Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die »Stunde Null«, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 203-220. 372 Hans Werner Richter (Hrsg.), Almanach der Gruppe 47. 1947-1962, Reinbek 1962, S. 11; vgl. Bering, Epoche, S. 331. 373 Zurecht ist die Differenz von Nonkonformismus und Engagement hervorgehoben worden von Helmut Peitsch, Die Gruppe 47 und das Konzept des Engagements, in: Stuart Parkes/John J. White (Hrsg.), The Gruppe 47 Fifty Years on: A Re-Appraisal of its Literary and Political Significance, Amsterdam/Atlanta (GA) 1999, S. 25-52.
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mit starken medialen Stützpunkten in der Adenauer-Ära etablieren konnten, der weit über den engeren Literaturbetrieb hinausreichte. Dass sich dabei gerade die anfänglich puristische Beschränkung auf die fiktionale Produktion als erfolgreich erwies, Richter soll darauf mit Argusaugen geachtet haben, mag als dialektische Pointe erscheinen. Aber der Zuschnitt des literarischen Programms – in seinen Abgrenzungen von der Prosa der Zwischenkriegszeit und des Exils – wies eben selbst programmatische Implikationen außerhalb der Literatur auf und sollte politisch wirken. Die Abgrenzung erfolgte vielmehr gegenüber dem sich herausbildenden Bonner politischen Betrieb, der als restaurativ angesehen wurde. Zur Inszenierung des »Nonkonformismus« gehörte dabei auch die »hartnäckige Leugnung einer konkreten sozialen Existenz der Gruppe 47«.374 Die folgende intellektuellengeschichtliche Einordnung der Gruppe 47 befasst sich nicht mit der literaturwissenschaftlichen Interpretation der von ihren Teilnehmern vorgetragenen belletristischen und lyrischen Texte,375 sondern konzentriert sich auf die erfolgreiche Konstruktion der Gruppe als Instanz oppositioneller Sinndeutung in der Wiederaufbaugesellschaft, ihre Vernetzung und ihren medialen Erfolg.376 Diese Elemente sind in einem Zusammenhang zu sehen, die öffentliche Aufmerksamkeit galt nicht allein der Inszenierung, sondern hatte auch mit dem Inhalt der dargebotenen literarischen Texte und dem programmatischen Rahmen der Gruppe 47 zu tun, der bei aller zur Schau getragenen Individualität und Voraussetzungslosigkeit durchschien. Der Anspruch eines Neuanfangs durch eine saubere, klare, nüchterne Sprache wurde mit dem pathetischen Gestus der Avantgarde vorgebracht. Dass Programme zur Heilung der Gesellschaft durch Verfahren linguistischer Logik bis ins 20. Jahrhundert hinein selbst eine lange Tradition aufwiesen, zuletzt etwa im Wiener Kreis um Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und Otto Neurath, war den Protagonisten der Gruppe 47 vielleicht nicht bewusst. Dennoch hätten sie zumindest über die Frage diskutieren können, inwiefern das Primat einer sprachlichen Inventur nicht simpler Idealismus und eine Kompensation für politisches Engagement darstellte. Aber es wurde bei der Gruppe 47 in den ersten Jahren ihrer Existenz eben nicht über Fragen »außerhalb« der Literatur diskutiert, sondern es wurden Texte vorgelesen und nach immanenten Kriterien sprachlich seziert. Helmut Heißenbüttel hat im Kursbuch 1965, bereits rückblickend, die literarisch über weite Strecken hohle Diskussion persifliert: »Walter Höllerer findet sehr viel an subtiler Substanz Walter Jens findet weder Theologie noch Libretto Alexander Kluge findet eine sehr interessante Abkehr 374 Friedhelm Kröll, Die »Gruppe 47«. Soziale Lage und gesellschaftliches Bewußtsein literarischer Intelligenz in der Bundesrepublik, Stuttgart 1977, S. 127. 375 Vgl. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß, München 2004, S. 52 ff., 80 ff.; Helmut Böttiger, Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, München 2012. 376 Die Spaltung der Gruppe entlang der Frage, welche Position man zur Sozialdemokratie einnehmen sollte, und ihr Ende im Aufbruch der aktionistischen außerparlamentarischen Opposition der zweiten Hälfte der 1960er Jahre werden in Kapitel III dargestellt.
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von der Rhetorik Günter Grass findet das nun einmal eine pausbäckige Angelegenheit Hans Mayer findet den Text sehr schön.«377 Die Methode des »heißen« bzw. »elektrischen Stuhls«, auf den sich jeweils ein Teilnehmer des Treffens zu setzen hatte, um sich nach der Lesung eines noch unveröffentlichten Manuskriptes, später wurden auch bereits veröffentlichte Texte besprochen, der Kritik der Gemeinde zu stellen, ohne selbst antworten zu dürfen – Richter hatte diese Methode bei einem Treffen des konservativen Stahlberg-Verlags kennengelernt –, symbolisierte die Zusammengehörigkeit einer auf das gemeinsame Gespräch konzentrierten egalitären Gemeinde. In späteren Jahren, als sich die Kritik professionalisierte und vor allem die Feuilleton-Größen von Walter Jens und Walter Höllerer bis zu Marcel Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz in den ersten Reihen saßen und das Wort ergriffen, verlagerte sich das Interesse auf die Schaukämpfe dieser Literatur-Gladiatoren. Ohnehin verfügte die Gruppe 47, die es angeblich gar nicht gab und die Hans Werner Richter immer wieder als »ein Kollektiv von krassesten Individualisten«378 beschrieb, durchaus über eine »eigentümliche Form informeller Hierarchisierung«.379 Das fing damit an, wem Richter die Einladung – per Postkarte – zum Treffen zukommen ließ,380 und zeigte sich bei den Treffen daran, wer zur Lesung aufgefordert wurde und wer in der Diskussion wann das Wort ergreifen durfte.381 Hier bestätigte die Gruppe 47 nur das soziologische Gesetz der informellen Hierarchie in angeblich lockeren, antiautoritären und egalitären Gruppen. Seine programmatische Stoßrichtung gewann der Anspruch einer radikal neuen Literatur durch die Bindung an eine generationelle Zusammengehörigkeit. Sowohl Andersch, der bei seiner Konstruktion einer jungen europäischen Avantgarde als politische Richtung die Synthese von Freiheit und Sozialismus andeutete,382 postulierte dies wie auch Hans Werner Richter in der Zeitschrift Der Ruf. Letzterer konnte es allerdings mit dem Pathos von Andersch nicht aufnehmen und kam über
377 Helmut Heißenbüttel, Gruppenkritik, abgedruckt in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, H. 25, S. 3. 378 Gespräch mit Hans Werner Richter, in: BR/Schulfunk/Kollegstufe, BR 2, 1.10.1974, 15.00-15.30, in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA M 174. 379 Kröll, Gruppe 47, S. 133. 380 Die schriftliche Einladung wurde bald vor allem für junge Schriftsteller zu einem heiß ersehnten Dokument, das zum Eintritt in den Literaturhimmel zu berechtigen schien; vgl. zur Einladungspraxis Sabine Cofalla, Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters. Zur Korrespondenz des Leiters der Gruppe 47, Berlin ²1998, S. 57 ff. 381 Vgl. die Aufstellung aller Tagungen, der jeweiligen Teilnehmer und Vorlesenden sowie des zeitgenössischen Presseechos bei Artur Nickel, Hans Werner Richter – Ziehvater der Gruppe 47. Eine Analyse im Spiegel ausgewählter Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Stuttgart 1994, S. 331-407. 382 S. Kapitel II.2.3.
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die Behauptung einer tiefen »geistigen Kluft zwischen zwei Generationen« kaum hinaus.383 In der Konstruktion einer jungen literarischen Generation bedienten sich Andersch und Richter mehr oder weniger bewusst aus dem Arsenal des Jugendmythos vor 1933, als sie, Jahrgang 1914 und 1908, tatsächlich jung gewesen waren. Jugend bestimmte sich nun als Nichtverantwortung für den Nationalsozialismus und konstituierte einen impliziten und unreflektierten antifaschistischen Anspruch. Aus dem Arsenal der Jugendbewegung der 1920er Jahre stammte vor allem die durchgängig bemühte Figur des Dritten, der dritten Sache, der dritten Kraft, um sich der geforderten Entscheidung in einer dualistisch verstandenen Welt zu entziehen bzw. sich über die vorgegebenen Fronten zu stellen. Politisch hieß dies in den 1950er Jahren, sich der klaren Parteinahme für die westdeutsche Politik und ihre christlich imprägnierte Abendland-Ideologie zu verweigern und zugleich eine klare Distanz gegenüber kommunistischen Vereinnahmungsversuchen zu bewahren. Tatsächlich handelte es sich nicht um eine Äquidistanz. Man empfand sich als Stachel im westlichen System, aber diesem damit prinzipiell zugehörig. Literarisch ließ sich die Position des Dritten als überlegene Position gegenüber der älteren Generation deuten, ob diese im »Dritten Reich« produktiv gewesen war und sich nun als »Innere Emigration« inszenierte oder tatsächlich im Exil befunden hatte. Ob Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer, Ernst Wiechert und Ernst Jünger oder Bertolt Brecht und Thomas Mann, sie alle hätten der jungen Soldaten-Generation der Gruppe 47 nichts mehr zu sagen, das Feld war damit freigeräumt für die eigene Literatur.384 Das war die Botschaft des Grundsatzreferats, das Alfred Andersch beim zweiten Treffen der Gruppe in Herrlichen bei Ulm im November 1947 hielt.385 Es blieb der einzige programmatische Vortrag, der vor der Gruppe jemals gehalten wurde. Im Übrigen machte Andersch bei Ernst Jünger und Thomas Mann, die er glühend verehrte, in den folgenden Jahren eine Ausnahme, stand aber damit in seinem Umkreis allein. Die Abgrenzung gegenüber den Exilautoren war sicherlich die heikelste geschichtspolitische Operation der Gruppe 47, stellten sie doch eine »latente Bedrohung«386 der eigenen Legitimation dar. Aus – relativ wenigen – Äußerun383 Hans Werner Richter, Warum schweigt die junge Generation?, in: Der Ruf, Jg. 1, 1946, H. 2, 1.9.1946. 384 Vgl. am Beispiel einiger Artikel im Ruf Torben Fischer, Kollektivschuld und Kalligraphie. Der Blick auf das Exil in Zeitschriftenprojekten der ›jungen‹ Generation, in: Michael Grisko/Henrike Walter (Hrsg.), Verfolgt und umstritten! Remigrierte Künstler im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 2011, S. 119-135. 385 Alfred Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation, Karlsruhe 1948. 386 Cofalla, Sozialer Sinn, S. 19; allerdings würde jeder einzelne »Fall« eine gesonderte Betrachtung erfordern, nicht jede Ablehnung eines Exilschriftstellers ist auf diesen politischen Aspekt einzuengen; vgl. exemplarisch das Scheitern von Hermann Kesten bei der Niendorfer Tagung 1952; Albert M. Debrunner, Zuhause im 20. Jahrhundert. Hermann Kesten – Biographie, Zürich 2017, S. 239 f.
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gen ergibt sich ein bedrückendes Bild. Letztlich übernahm man das bereits 1933 von Gottfried Benn im nationalsozialistischen Rundfunk gebrauchte Argument gegen die literarischen Emigranten, sie könnten schon aufgrund ihrer geographischen Distanz kein Urteil über Deutschland abgeben. Nach 1945 hieß es, es sei ein Leichtes gewesen, mit internationalem Renommee ausgestattet ins Exil zu gehen, anstatt im Land zu bleiben und dort insgeheim gegen das Regime zu wirken. Eine »emotionale Mischung aus Klassenbewußtsein, Sozialneid und ungebrochenem Patriotismus«387 bestimmte die Abgrenzung von den Exilautoren. Es waren diese, die zuerst auf die Gruppe 47 zugingen. Große Exilverlage stifteten 1950 den René Schickele-Preis, der nach langen Verhandlungen erstmals an Hans Werner Richter verliehen wurde. Thomas Mann, der in der Jury saß, hatte nur zögernd zugestimmt, hielt er doch vom Gründer der Gruppe 47 sehr wenig.388 Zwei Jahre später kam es beim Treffen in Niendorf zum großen Eklat bei der Lesung des jüdischen Autors Paul Celan, dessen Vortrag der »Todesfuge« manchen Teilnehmer stimmlich – ausgerechnet – an Joseph Goebbels erinnerte, Hans Werner Richter sprach es aus. Ingeborg Bachmann notierte später, sie habe abreisen wollen, weil sie dachte, sie sei »unter deutsche Nazis gefallen«.389 Das ungehörige Verhalten gegenüber Celan blieb kein Einzelfall. Ein Jahr später in Bebenhausen leitete Richter das Gespräch nach der Lesung des aus den Niederlanden angereisten Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen mit den Worten ein, was man eben gehört habe, sei »Emigrantendeutsch«. Andersch unterbrach ihn mit der Ermahnung, er solle sich zusammennehmen, und lobte den Text. Richter blieb – auch in der folgenden Korrespondenz mit Rolf Schroers – bei seiner Wertung.390 Dass in der Gruppe 47 ein verklemmter Antisemitismus aus dem »Untergrund von Mißachtung, Desinteresse und Verdrängung«391 vorhanden war, verwundert nicht – hier unterschied sich die soldatische Generation der Literaten in ihren Einstellungen nicht von der übrigen Bevölkerung. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass eine gleichsam kompensatorische philosemitische Aktivität auszumachen 387 Cofalla, Sozialer Sinn, S. 19. 388 Ebd., S. 21. 389 Zit. nach Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?«, Berlin/Wien 2003, S. 195; vgl. Cornelia Epping-Jäger, »Diese Stimme mußte angefochten werden«. Paul Celans Lesung vor der Gruppe 47 als Stimmereignis, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.), Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München 2012, S. 263-280; zur Außenseiterstellung von Ilse Aichinger vgl. Vivian Liska, Sofies Engel. Die Gruppe 47 und Ilse Aichingers Poetik des Widerstands, in: Frank Stern/Maria Gierlinger (Hrsg.), Die deutsch-jüdische Erfahrung. Beiträge zum kulturellen Dialog, Berlin 2003, S. 147163. 390 Cofalla, Sozialer Sinn, S. 23. 391 Briegleb, Mißachtung, S. 13; vgl. ders., »Neuanfang« in der westdeutschen Nachkriegsliteratur – die »Gruppe 47« in den Jahren 1947-1951, in: Sigrid Weigel/Birgit Erdle (Hrsg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 119163; ders., »Re-Emigranten«.
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ist, das Engagement von Hans Werner Richter, Heinrich Böll und anderen Mitgliedern der Gruppe 47 etwa im Rahmen der christlich-jüdischen Zusammenarbeit seit 1952, auf Veranstaltungen des Kongresses für kulturelle Freiheit, für den Antikommunismus und Anti-Antisemitismus eine Einheit bildeten, und in den evangelischen Akademien.392 Verklemmter Antisemitismus und demonstrativer Philosemitismus formten im Wiederaufbaujahrzehnt einen eigentümlichen Zusammenhang.393 Die nur mühsam literarisch begründete Abgrenzung gegenüber der schriftstellerischen Tradition des Exils, die zu manchen Peinlichkeiten führte, zog sich durch die Geschichte der Gruppe 47. Aber der Abschottung nach außen entsprach keine innere Gemeinsamkeit. Die Gruppe stand, wie das Gründungsmitglied Rolf Schroers rückblickend betonte, »für kein innerliterarisches Kennzeichen«, prägte »keinen gemeinsamen Stil«, erwies sich ästhetisch als »erstaunlicher Vielfraß«.394 Das Gefühl der Zusammengehörigkeit ergab sich – zumindest bei den Gründern – aus einem vage bestimmten gemeinsamen Erfahrungsraum. Die Konstruktion der Gruppe 47 als intellektueller junger Avantgarde, die in demonstrativer Distanz zum verabscheuten politischen Betrieb eine völlig neue Literatur bot, erwies sich als Erfolgsmodell. Allerdings musste man sich gar keine große Mühe geben, die Aufmerksamkeit der Medien zu erlangen, weil die Gründungsväter der Gruppe 47 dort selbst über einflussreiche Positionen verfügten. So unterhielten etwa Gerhard Szczesny, Leiter des Nachtprogramms beim Bayerischen Rundfunk, und Hans Werner Richter, beide lebten in München, zeitlebens eine enge Verbindung.395 Noch wichtiger für die Gruppe war deren Gründungsmitglied Alfred Andersch in seiner Funktion als einflussreichster Intellektueller im Rundfunk.396 Bereits am 26. Juli 1949 widmete Andersch im Hessischen Rundfunk der Gruppe 47 eine eigene Sendung und stellte sie ausführlich als lockeren »Arbeitskreis« vor, der eine »Avantgarde des guten Willens« verkörpere. In langen Zitaten wurde Hans Werner Richter das Wort erteilt, Günter Eich und Wolfdietrich Schnurre lieferten O-Ton. 392 Helmut Peitsch, Philosemitismus in der Gruppe 47, in: Irene A. Diekmann/Elke-Vera Kotowski (Hrsg.), Geliebter Feind. Gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps, Berlin 2009, S. 597-622. 393 Vgl. Frank Stern, Am Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991. 394 Rolf Schroers, »Gruppe 47« und die deutsche Nachkriegsliteratur (zuerst in Merkur 1972), in: ders., Meine deutsche Frage. Politische und literarische Vermessungen 1961-1979, Stuttgart 1979, S. 128-144, Zitate S. 130; zur Biographie von Schroers vgl. Helmut Peitsch, 1949, Beruf: Schriftsteller. Rolf Schroers und die deutsche Nachkriegsliteratur, in: Monika Fassbender/Klaus Hansen (Hrsg.), Feuilleton und Realpolitik. Rolf Schroers: Schriftsteller, Intellektueller, Liberaler, Baden-Baden 1984, S. 49-60. 395 Gerhard Szczesny an Artur Nickel, 2.9.1989, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/25. 396 S. Einleitung zu Kapitel II.4.
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Bei aller Betonung der eigenen Manifestlosigkeit wurde die Positionierung zwischen den »ästhetizistischen, pseudo-innerlichen Elfenbeinturm-Bewohnern« und den lauten »Posaunisten eines angeblich neuen Realismus« in programmatischem Stil vorgetragen: »Kein Wort über Politik. Keine Spur von forciertem Aktualismus. Aber auch kein ästhetisches Theoretisieren.«397 Die Selbstkonstruktion der Gruppe als eines »Kollektivs von krassesten Individualisten«, das bis zum Ende der 1950er Jahre kaum Beachtung gefunden hätte,398 gehörte selbst zum Markenkern und beförderte den avantgardistischen Habitus. Die Verbindung zum Radio verdankte die Gruppe nicht nur ihren eigenen Leuten im Sender, sondern auch der Teilnahme von Rundfunkredakteuren an ihren Treffen; für den NWDR sicherte etwa Ernst Schnabel als regelmäßiger Gast die Verbindung und übernahm 1952 die Kosten des Bustransports der Teilnehmer nach Niendorf an der Ostsee; als Novize las hier erstmals auch ein langjähriger Mitarbeiter des Nachtprogramms des NWDR, Siegfried Lenz;399 der NWDR finanzierte auch die Anreise von Paul Celan aus Paris.400 Zwei Jahre später sah Schnabel allerdings bereits Anlass, sich darüber zu beschweren, dass die Rundfunkanstalten nicht mehr Mäzene seien, sondern von den Autoren regelrecht erpresst würden. Diese erhielten hohe Vorschüsse, und schon deshalb müssten deren häufig schlechte Texte gesendet werden.401 Die lukrativen Honorare der Rundfunkanstalten, das ist von Zeitgenossen oft bestätigt worden, sicherten vielen Schriftstellern in den 1950er Jahren ihre materielle Existenz. Die Rundfunkanstalten zahlten Richter seit 1952 zudem 3.000 DM für die Erlaubnis, die Tagungen mitzuschneiden. Das Geld wurde zur Unterstützung junger Autoren verwendet, damit diese zu den Treffen reisen konnten. Allerdings wurde die Verlagerung der Produktion vom Papier auf das Tonband – einige Tagungen der Gruppe standen ganz im Zeichen des Hörspiels – bald kritisch gesehen. Vom »Reiz des schnellen Geldverdienens« und dem damit einhergehenden literarischen Qualitätsverfall war die Rede.402 Wichtiger noch als das Protektorat der Rundfunkanstalten war die Verbindung zu den Buchverlagen. Die jährlichen Treffen in der Abgeschiedenheit ländlicher Gasthöfe, die unterschwellig suggerierten, es gebe keine kulturelle Metropole wie ehedem Berlin, der Neuanfang gehe von provinziellen Nicht-Orten aus, gerieten 397 Alfred Andersch, Gruppe 47. Fazit eines Experiments neuer Schriftsteller, in: ders., Essayistische Schriften 1, S. 227-252, Zitate S. 227, 233, 235. 398 Gespräch mit Hans Werner Richter, in: BR/Schulfunk/Kollegstufe, BR 2, 1.10.1974 und 4.10.1974, in: Monacensia, Nl. Carl Amery, CA M 174; vgl. Jürgen Schutte, Literarische Restauration – literarische Opposition. Vom Spielraum realistischer Literatur am Anfang der 50er Jahre, in: Parkes/White, Gruppe 47, S. 53-68. 399 Erich Maletzke, Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung, Springe 2006, S. 52 f. 400 Vgl. Maren Joost/Juliane Sauer, Die Gruppe 47 und der Rundfunk, in: Peter Gendolla/ Rita Leinecke (Hrsg.), Die Gruppe 47 und die Medien, Siegen 1997, S. 14-33; zahlreiche Hinweise auf die Verbindungen der Gruppe 47 zum Radio auch bei Braese, Bestandsaufnahme. 401 Ernst Schnabel an Hans Werner Richter, 27.3.1954, in: Richter, Briefe, S. 175-177. 402 Arnold, Gruppe 47, S. 227.
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bald zur Literaturmesse. Engagierten sich zunächst nur kleine Verlage, interessierten sich sehr bald auch die führenden Häuser. Den Verleger Kurt Desch kannte Hans Werner Richter sehr gut aus München, in dessen Verlag erschienen einige seiner frühen Romane. Auch Ernst Rowohlt beobachtete die Gruppentreffen mit großer Sympathie, hielt sich allerdings zunächst mit Vertragsangeboten zurück. Er übernahm lediglich mit generöser Geste die Kosten von 1.200 DM für das traditionelle Abschiedsgelage. In den folgenden Jahren blieb der Rowohlt Verlag durch seinen Lektor Wolfgang Weyrauch präsent, aber erst in den 1960er Jahren verpflichtete er mehrere Autoren. Sehr offensiv ging dagegen die Deutsche Verlagsanstalt auf die Gruppe zu. Auf der Niendorfer Tagung spendete die DVA 2.000 DM für den Preis der Gruppe und nahm eine ganze Reihe von Mitgliedern, darunter Milo Dor, Wolfgang Hildesheimer, Paul Celan, Karl Krolow und Rolf Schroers, unter Vertrag. Den Verlagen Desch, Rowohlt und DVA folgten sehr bald auch fast alle anderen wichtigen Vertreter der Branche: Fischer, Piper, Kiepenheuer & Witsch, Luchterhand – und nicht zuletzt Suhrkamp. Als Lektor und späterer Inhaber des Verlags nahm Siegfried Unseld seit 1953 regelmäßig an den Gruppentreffen teil. Er inszenierte die Autoren seines Hauses, darunter Martin Walser, Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger, bald als »Suhrkamp-Crew«, die eine gewichtige »Unterclique« der Gruppe 47 bildete und wiederum einige Aversionen evozierte.403 Eine sorgfältige Untersuchung hat ergeben, dass in den 20 Jahren des Bestehens der Gruppe eine breite Phalanx von Autoren zahlreiche Titel veröffentlichen konnte. An erster Stelle liegt demnach Heinrich Böll vor Wolfdietrich Schnurre, Walter Jens, Wolfgang Weyrauch, Milo Dor und Siegfried Lenz. Unter den ersten 25 finden sich auch Martin Walser, Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer, Karl Krolow, Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Hans Werner Richter, Erich Kuby, Günter Grass und Rolf Schroers.404 Die meisten Titel von Autoren der Gruppe erschienen, wiederum im Gesamtzeitraum ihres Bestehens, bei Suhrkamp, an zweiter Stelle lag mit weitem Abstand Kiepenheuer & Witsch, der Heinrich Böll unter Vertrag hatte, es folgten der schweizerische Walter Verlag, Luchterhand, Rowohlt, S. Fischer, Desch und DVA.405 Neben Hörfunk und Buchverlagen als Hauptabnehmern der literarischen Produktion war die Rezeption durch das Feuilleton der großen Tages- und Wochenzeitungen mit einer intellektuellen Leserschaft von Bedeutung. Frühe Beziehungen bestanden zur Neuen Zeitung in München; Andersch war zeitweise Assistent des Feuilletonchefs Erich Kästner gewesen. Heinrich Böll hatte seinen literarischen Durchbruch mit dem Roman »Wo warst du, Adam?« 1952 ganz wesentlich einer euphorischen Rezension von Hans Schwab-Felisch in der Neuen Zeitung zu ver403 Vgl. ebd., S. 215 404 Sonja Meyer, Die Gruppe 47 und der Buchmarkt der frühen Bundesrepublik, Wiesbaden 2013, S. 60. 405 Ebd., S. 68.
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danken. Der NWDR sendete ein Kapitel als Hörspielfassung, und Böll konnte sich kaum retten angesichts der vielen Anfragen.406 Ähnlich gut gestalteten sich die Beziehungen zur Hamburger Welt und zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo mit Karl Korn ein ausgesprochener Sympathisant der Gruppe den Kulturteil verantwortete. Seit dem Ende der 1950er Jahre, als sich der Spiegel und die Zeit in eine linksliberale Richtung entwickelten, kamen wichtige neue Fürsprecher, Rudolf Augstein407 und – noch wichtiger – der Feuilletonchef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, hinzu.408 Eine gut gepflegte Presselandschaft war jedenfalls erheblich wirkungsvoller als eine eigene Hauszeitschrift, von der vor allem Hans Werner Richter träumte. Die von ihm halbmonatlich in der Deutschen Verlagsanstalt publizierte Literatur. Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne, für die Schriftsteller der Gruppe 47, darunter Heinrich Böll und Walter Jens, als Redakteure arbeiteten, stellte bereits nach wenigen Heften 1952 ihr Erscheinen ein.409 Sie sollte nach den Plänen von Richter so ähnlich wie die Literarische Welt der 1920er Jahre gemacht werden, »nur eben 1952, also moderner und zeitgemäss«.410 Hier schimmerte bereits die bald darauf erfolgende Politisierung der Gruppe 47 durch, deren Autoren in der Zeitschrift dominierten. Im ersten Heft findet sich eine programmatische Aussage: »Was können wir tun, um die beginnende Kontinuität einer neuen literarischen Entwicklung in der Atmosphäre des gesellschaftlichen, politischen und literarischen Lebens des Jahres 1952 zu fördern? Drei Aufgaben scheinen uns gestellt zu sein, drei Aufgaben, die im Grunde eine einzige Aufgabe darstellen. Im Gesellschaftlichen die Bildung einer neuen literarischen Öffentlichkeit und eines neuen Publikums, im Politischen der Kampf um die Verjüngung der deutschen Demokratie, im Literarischen die Aufhebung der Zersplitterung der deutschen Literatur.«411 Die Literatur hielt sich allerdings nur sieben Monate. Eingestellt wurde sie wegen eines kritischen Artikels über Hans Carossa, der DVA-Autor war. Das Anschlussprojekt signalisierte bereits in der Namensgebung die Erweiterung des Literaturbezirks: Die Kultur, mit wechselndem Untertitel: Eine unabhängige und unzensurierte Halbmonatszeitschrift; Deutschlands einzige unabhängige Kulturzeitung; Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen; sie erschien von 1952/53 bis 1955/56 im Stuttgarter Verlag J. M. Hönscheid, tatsächlich ein Selbstverlag, denn dessen Namensgeber war gleichzeitig Redakteur, dann bis zur Einstel406 407 408 409 410
Vgl. Jochen Schubert, Heinrich Böll, Darmstadt 2017, S. 99 ff. Vgl. Gendolla/Leinecke, Gruppe 47, S. 71. Vgl. Rudolf Walter Leonhardt, Zeitnotizen. Kritik, Polemik, Feuilleton, München 1963. Vgl. Fischer/Dietzel, Zeitschriften, Bd. 2, S. 455-457. Hans Werner Richter an Hans Schwab-Felisch, 15.1.1952, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1940. 411 Axel Eggebrecht/Hans Erich Nossack/Günther Weisenborn, in: Die Literatur, Jg. 1, 1952, Heft 1, S. 1.
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lung im 10. Jahrgang 1962 im Münchener Verlag Kurt Desch, der ein »gentleman agreement« mit Hönscheid traf, wonach dieser Herausgeber wurde, während Desch Marketing und Vertrieb übernahm.412 Richter schlug dem neuen Verleger vor, die Zeitschrift zum Organ des von ihm gegründeten Grünwalder Kreises und damit zu einer politischen Plattform zu machen,413 aber der Versuch der Politisierung, für die Erich Kuby als Redakteur sorgen sollte, scheiterte offenbar am Widerstand Hönscheids, der sich gegen eine Vereinnahmung der Zeitschrift für politische Interessen verwahrte. Richter und Kuby schieden im Herbst 1956 aus der Redaktion aus.414 Die einzige literarische Zeitschrift eines Gruppenmitglieds, die über ein Versuchsstadium hinaus gelangte und immerhin drei Jahre (1955-1957) mit niedriger Auflage, aber hoher Reputation existierte, blieben Alfred Andersch’ Texte und Zeichen im Hermann Luchterhand-Verlag. Das ursprünglich in Berlin ansässige und auf Rechts- und Steuerthemen spezialisierte Unternehmen versuchte damit intellektuelles Renommee zu erwerben.415 Eduard Reifferscheid, seit 1934 Teilhaber, richtete 1954 eine Literatursparte ein,416 in der auch wichtige Autoren der Gruppe 47 vertreten waren. Der endgültige Durchbruch des belletristischen Programms erfolgte mit der »Blechtrommel« (1959) von Günter Grass. Der Erfolg von Texte und Zeichen beruhte auf dem weitverzweigten Netzwerk, über das Andersch als Rundfunkredakteur verfügte. Die Zeitschrift, von der anfangs nicht mehr als 700 Exemplare gedruckt wurden, sollte einen qualitativen und notwendigerweise elitären Kontrapunkt zum Literaturbetrieb der Bundesrepublik setzen.417 Bereits Anfang 1953 begann Andersch mit der Rekrutierung dafür geeigneter Autoren. An Ernst Wilhelm Eschmann schrieb er: 412 Kurt Desch an Jürgen Neven du Mont, 19.12.1955, in: BAK, Nl. Jürgen Neven du Mont, 8/9; vgl. Fischer/ Dietzel, Zeitschriften, Bd. 2, S. 427. 413 Hans Werner Richter an Kurt Desch, 21.6.1956, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 2697. 414 Vgl. Cofalla, Sozialer Sinn, S. 67; ein näherer Blick auf das Profil der Autorenschaft zeigt eine starke Vertretung von Intellektuellen aus dem Spektrum des Kongresses für Kulturelle Freiheit, während die Gruppe 47 kaum vertreten war. Allerdings finden sich auch etliche Intellektuelle, die zu den »Nonkonformisten« außerhalb der Gruppe 47 zu zählen sind. Nach Häufigkeit der Beiträge waren im Zeitraum 1955-1962 vertreten: Kasimir Edschmid (27), Ulrich Lohmar (23), Johannes M. Hönscheid (19), Michael Mansfeld (19), Hans Werner Richter (18), Erich Kuby (17), Richard R. Roth (16), Hermann Kesten (13), Reimer Siemsen (13), Carlo Schmid (8), Ludwig Marcuse (8), Robert Jungk (8); eigene Auszählungen. 415 1987 wurde über dunkle Flecken in der Verlagsgeschichte berichtet; der LuchterhandVerlag hatte ein »arisiertes« Druckereiunternehmen zu einem weit unter dem Marktwert gelegenen Preis erwerben können. 416 Vgl. Konstantin Ulmer, VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben, Berlin 2016, S. 49 ff. 417 Vgl. zur Gründung der Zeitschrift Reinhardt, Alfred Andersch, S. 232 ff.; Ursula Reinhold, Alfred Andersch. Politisches Engagement und literarische Wirksamkeit, Berlin (DDR) 1988, S. 99 ff.
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»Ich plane übrigens eine große, bewußt sehr repräsentative (wenn auch nicht langweilige) Zeitschrift (…), vierteljährlich erscheinend, im Umfang etwa der ›Neuen Rundschau‹, doch ohne deren Grabesruhe, und ich hoffe, Sie dann wenigstens für die Mitarbeit an dieser Publikation gewinnen zu können. Vorläufig kämpfe ich noch um die Finanzierung.«418 Das Angebot an den ehemaligen Tat-Kreis-Aktivisten Eschmann zur Mitwirkung bei Texte und Zeichen wirft Fragen auf. Denn zum einen war dieser weiterhin eng mit der rechtskonservativen Szene vernetzt und seine NS-Belastung419 auch Andersch bekannt, zum anderen hatte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg keine Meriten als origineller Schriftsteller erworben. Vielmehr bemühte er sich darum, mit launigen Glossen im Rundfunk als verlässlicher Mitarbeiter sein Einkommen als freier Schriftsteller aufzubessern.420 In diesem Zusammenhang dürfte er die Bekanntschaft von Andersch beim Süddeutschen Rundfunk gemacht haben. Besonders beliebt war er, so ein Redakteur des Frauenfunks beim Stuttgarter Sender, weil es ihm gelinge, »geschichtliche Themen für Frauen so darzustellen, dass sie sich nicht an Herrschertabellen, diplomatischen Schachzügen oder Schlachtenlärm wundstossen müssen, sondern ihnen jene Bereiche der Geschichte aus unseren Sendungen entgegentreten, die nun einmal das Interesse der Frauen ansprechen: und das ist zu allen Zeiten das tägliche Leben des Menschen, das Leben der Familie und ihr Alltag.«421 Er schrieb für alle Sender, er lieferte pünktlich, und er hatte einträgliche Ideen. So gelang es ihm, dem Norddeutschen Rundfunk den »Plan einer größeren Sendereihe über antike Heiligtümer in Gross-Griechenland und Sizilien, in Griechenland und auf den Inseln und in Syrien« zu verkaufen, eine mehrwöchige Reise, für die es neben üppigen Honoraren auch reichlich bemessene Spesen gab.422 Auch alle anderen Vorschläge von Eschmann wurden realisiert, etwa die »seelenkundlich« konzipierte Sendung »Nationen im Spiegel« oder eine kulturvergleichende Sicht auf »Schlaf und Bett«. Und schon im Januar 1958 unterbreitete er den Plan für eine Sendung, »Weihnachten unsentimental gesehen«, in der es um eine Geschichte der Weih-
418 Alfred Andersch an E(rnst) W(ilhelm) Eschmann, 19.3.1953, in: DLA, A: Alfred Andersch. 419 S. Kapitel I.1. 420 Wolfgang Sieber (Hrsg.), Bestandsverzeichnis Nr. 4. Hörfunk-Abendstudio 1948-1968, Frankfurt a. M. 1988. 421 Dr. Vitzthum/SDR/Frauenfunk an Ernst Wilhelm Eschmann, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann. 422 Ernst W. Eschmann an Dr. K. Arnold/Intendant NDR, 5.7.1957, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann, Nordwestdeutscher bzw. Norddeutscher Rundfunk; die Sendefolge reichte vom Frühjahr 1958 bis zum Frühjahr 1959.
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nachtsbräuche gehen sollte. Dieser Plan wurde auch deshalb freudig aufgegriffen, weil er so rechtzeitig mit einem Vorlauf von fast einem Jahr kam.423 Politisch eindeutiger als gegenüber Eschmann äußerte sich Andersch in einem Brief an Arno Schmidt zum Zweck des Vorhabens: »Ich arbeite auch an dem Projekt einer neuen literarischen Vierteljahreszeitschrift, damit das ›Geist‹-Monopol solcher Senilismen wie des ›Merkur‹ und der ›Neuen Rundschau‹ endlich gebrochen wird. Ihre Mitarbeit daran wird sehr wichtig sein. Vorläufig bin ich gegen Kanada. Auf jeden Fall werde ich Deutschland nicht kampflos räumen, und wenn, dann gehe ich nach Paris oder Rom.«424 Tatsächlich sollte sich die Einbeziehung von Schmidt als sehr wichtig erweisen, sorgte doch der Vorabdruck von dessen Text »Seelandschaft mit Pocahontas« im ersten Heft für einen handfesten Skandal. Die durchweg ironische Auseinandersetzung mit dem Christentum – »Die Bibel: iss für mich’n unordentliches Buch mit 50.000 Textvarianten«425 – reichte für einen Boykott rheinländischer Buchhändler. Diese und weitere Stellen trugen Andersch als Herausgeber und Schmidt als Autor eine Anzeige wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften und polizeiliche Vernehmungen ein. Dagegen stand das allerhöchste Lob von Thomas Mann für Andersch’ Porträt von ihm als Politiker. Hier wurde der Weg eines Bürgers, »legitimiert zunächst von der konservativ-nationalen wie der liberal-demokratischen Fraktion seiner Klasse«, nachgezeichnet, in dem auch die »Betrachtungen eines Unpolitischen« ihre Berechtigung erhielten.426 Die Zeitschrift wurde im liberalen Feuilleton allgemein positiv aufgenommen. Karl Korn sah eine »Weiterführung des engagierten Kurses, aber auf undoktrinäre Weise. Es gibt keine Manifeste und Programme.« Zwar werde am Ende Bezug auf die Gruppe 47 genommen, aber im ersten Heft sei doch »alles klüngelhaft Enge glücklich vermieden«.427 Dass konservative Intellektuelle weniger begeistert reagierten, lässt sich denken. Den Text von Arno Schmidt tat Kurt Seeberger im Bayerischen Rundfunk ab als »Sprachgehäcksel in expressionistischer Manier, Jargon 423 Ernst Wilhelm Eschmann an Christian Gneuss/NDR, 3.1.1958, 21.1.1958, 9.7.1958; Christian Gneuss an Ernst Wilhelm Eschmann, 14.1.1958, in: ebd. 424 Alfred Andersch an Arno Schmidt, 6.2.1953, in: Arno Schmidt. Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. Mit einigen Briefen von und an Gisela Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Heißenbüttel und Alice Schmidt. Hrsg. von Bernd Rauschenbach, Zürich 21986, S. 15; »Kanada« bezog sich auf eine nicht ganz ernst gemeinte Aussage von Andersch über eine Auswanderung dorthin. 425 Zit. nach Reinhardt, Alfred Andersch, S. 237. 426 Alfred Andersch, Mit den Augen des Westens (Thomas Mann als Politiker), in: Texte und Zeichen, Jg. 1, 1955, S. 85-100, Zitat S. 89; begeistert: Thomas Mann an Alfred Andersch, 23.3.1955, in: DLA, A: Alfred Andersch. 427 Karl Korn, »Texte und Zeichen«. Eine neue literarische Zeitschrift, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.1955; ähnlich Jürgen Eggebrecht in der Sendung »Kulturspiegel« des NWDR, 9.2.1955, in: Archiv Monacensia, Nl. Jürgen Eggebrecht, JE M 185.
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und Erotik, gut 30 Jahre alt. So etwas ist einmal revolutionär gewesen.« Daneben stand auch bei ihm das Lob für den Essay von Andersch über Thomas Mann, der allerdings eher wie eine Antrittsvorlesung wirke – zu loben sei allein der Mut, in Deutschland eine neue literarische Zeitschrift herauszubringen.428 Skepsis äußerten auch linke Intellektuelle. Wie Seeberger kritisierte Gerhard Gleissberg in Geist und Tat vor allem den Text Arno Schmidts; er sei »leider so geist- und geschmacklos«, dass er die Stichworte für »›christliche‹ Gegenpropaganda« liefere.429 In der Deutschen Volkszeitung, einem klandestin von der DDR finanzierten Wochenblatt für bürgerliche Schichten, lobte hingegen der Schriftsteller Adolf Endler (1930-2009) ausschließlich den Pocahontas-Text, während er die neue Zeitschrift ansonsten im »Kosmopolitismus amerikanisch-imperialistischer Prägung« verortete.430 Tatsächlich war Texte und Zeichen keine linke, sondern eine explizit nonkonformistische und zugleich nichtprogrammatische Zeitschrift.431 Mitglieder der Gruppe 47 kamen zwar immer wieder zu Wort, aber sie dominierten die Zeitschrift keineswegs. Essays von Armin Mohler und Golo Mann demonstrierten Pluralismus und Offenheit gegenüber konservativen Positionen. Andersch verstand sehr gut, dass sich kulturelle Hegemonie nur organisieren ließ, indem der eigene avantgardistische Anspruch durch eine pluralistische Rahmung die Aufmerksamkeit der Medien erhielt, so dass der Eindruck entstand, wichtige neue Entwicklungen würden vor allem in der Gruppe 47 stattfinden. Und dazu konnte die Öffnung zum Dialog mit gruppenfernen Positionen ebenso beitragen wie ihre Anstößigkeit bei konservativen Publizisten und Literaturkritikern nützlich sein. Zu den Autoren zählten etwa, gleich dreimal, der Jünger-Sekretär Armin Mohler, daneben Johannes Gross und Golo Mann. Wegen des Aufsatzes »Die deutschen Intellektuellen«,432 in dem Mann harte Kritik an der Haltung der Linksintellektuellen gegenüber der Weimarer Republik und ihrer bequemen und gut bezahlten Existenz als Streiter gegen die »Restauration« im Wiederaufbau der Bundesrepublik übte, musste sich Andersch gegenüber Adorno, der selbst zu den Autoren zählte, rechtfertigen: »haben Sie besten Dank dafür, daß Sie in Ihrem Brief vom 22. Oktober sogleich auf den Aufsatz von Golo Mann reagiert haben. Mit dieser Arbeit teste ich ein bißchen das Gelände, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gerade in dieser Weise, d. h. also mit Degout, sich äußern. Golo Manns Aufsatz grenzt an Verrat, wenn 428 Kurt Seeberger, »Texte und Zeichen« – eine neue literarische Zeitschrift, gesendet im BR/ Tageschronik, 9.2.1955, in: Archiv Monacensia, Nl. Kurt Seeberger, KSeM 207. 429 Gerhard Gleissberg, »Texte und Zeichen«, in: Geist und Tat, Jg. 10, 1955, S. 79 f. 430 Adolf Endler, »Texte und Zeichen« – Eine neue Literaturzeitschrift, in: Deutsche Volkszeitung, Jg. 3, 12.3.1955. 431 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Was die Deutschen leider nicht lesen wollten. Zum Reprint der von Alfred Andersch 1955-1958 herausgegebenen Zeitschrift, in: Die Zeit, 2.2.1979 (die Zeitschrift erschien nur bis 1957). 432 Mann, Die deutschen Intellektuellen; Andersch hatte den Text aus dem Encounter, der britischen Zeitschrift des CCF, übernommen.
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man z. B. nur bedenkt, was er über Karl Kraus sagt. Andererseits sind seine Äußerungen gerade noch erträglich und damit als Katalysator in der Zeitschrift nützlich; d. h. der Text wirkt in der Zeitschrift als Provokation von einem, dem man diese Art der Provokation gerade noch erlauben kann. Golos unglückliche Liebe zum Konservativismus kommt darin zum Ausdruck; irgend jemand, der ihn sehr gut kennt, müßte ihm über diese Liebe einmal ein ganz gehöriges Privatissimum lesen.«433 Endgültig zerstritt sich Andersch mit Ernst Schnabel, mit dem er als NWDR-Intendant bereits 1953 aneinandergeraten war. Schnabel beschwerte sich zum einen über das zu geringe Honorar (250 DM) für zwei Essays in Texte und Zeichen, zum anderen über den Abdruck eines Gedichtes, das nicht von Carl Schmitt stammte, aber von diesem eingesandt worden war. Nachdem Andersch die Invektiven von Schnabel als »saublöden Quatsch« bezeichnet hatte, beendete dieser die Korrespondenz; weitere Briefe werde er nicht mehr beantworten.434 Die Zeitschrift, von Anfang an ein Zuschussgeschäft, hielt sich nur drei Jahre, weil sich für den Verlag ihr Zweck, damit literarisches Renommee zu erwerben, bereits ausgezahlt hatte. Zukünftig, so teilte Eduard Reifferscheid dem Herausgeber Andersch mit, wolle er seine Überschüsse lieber in die Buchproduktion stecken.435 Kurt Seeberger, der Texte und Zeichen zu Beginn ein »sarkastisches Willkomm« entboten hatte, mochte seine Häme in einem Artikel der abendländlerischen Deutschen Tagespost zur Einstellung der Zeitschrift nicht verbergen. Es bestehe kein Anlass, »ihr eine Zähre zu widmen«; sie sei lediglich »ein Mitteilungsblatt für einen akademischen Zirkel« gewesen, »der seine eigene Sprache sprach«, ein Fall von »literarischer Inzucht«.436 Aber selbst noch die herabwürdigende und boshafte Kritik konservativer Publizisten wurde von den Führungsfiguren der Gruppe 47 nach dem Motto, dass auch eine schlechte Presse nützlich sei, mit Befriedigung goutiert. Ihr Intimfeind Friedrich Sieburg437 hatte bereits 1952 die Diskrepanz von – angeblich nicht vorhandener – literarischer Substanz und marktschreierischer Werbung festgehalten. Die Gruppe 47 müsse »nur zu einem ›Dichtertreffen‹ zusammenkommen, so sind schon die Lektoren, Reporter und Funkwagen zur Stelle, um das erste Piepen des ausschlüpfenden 433 Alfred Andersch an Theodor W. Adorno, 2.11.1955, in: Archiv der AdK, Theodor W. Adorno Archiv. 434 Autorenvertrag des Hermann Luchterhand Verlags mit Ernst Schnabel, 30.9.1955; Ernst Schnabel an Alfred Andersch, 29.10.1955; Alfred Andersch an Ernst Schnabel, 4.11.1955; Ernst Schnabel an Alfred Andersch, 7.11.1955; Alfred Andersch an Ernst Schnabel, 25.11.1955; Ernst Schnabel an Alfred Andersch, 8.12.1955, in: DLA, A: Andersch. 435 Vgl. Reinhardt, Alfred Andersch, S. 278 436 Kurt Seeberger, Kommentar zum Kulturgeschehen, in: Deutsche Tagespost (Würzburg), 13.9.1957, in: DLA, A: Andersch; dort auch zahlreiche weitere »Nekrologe«. 437 S. Kapitel II.3.2.
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Kükens für die Nachwelt festzuhalten und für den Betrieb zu erwerben. (…) Die frühesten stammelnden Laute werden registriert, über die Windeln beugen sich erwartungsvoll die Talentjäger.«438 Eine Replik auf diesen und weitere Artikel Sieburgs, in denen auch Richters Zeitschrift Die Literatur als Reklameorgan der Gruppe 47 charakterisiert worden waren, verfasste Alfred Andersch.439 Dieser würdigte Sieburg zwar als geistvollen Essayisten, der sich freilich mit den Nationalsozialisten eingelassen hatte. Seine Kritik der deutschen Literatur wäre richtig adressiert gewesen, hätte sie sich gegen die Renaissance der völkischen Barden, Bruno Brehm, Hans Grimm oder Edwin Erich Dwinger, gerichtet und nicht – ohne Namensnennung – gegen antifaschistische Schriftsteller wie Anna Seghers, Theodor Plivier und Wolfgang Koeppen sowie die »ganze Strömung in der jüngeren Literatur«, darunter Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfgang Weyrauch, Hans Werner Richter, Arno Schmidt, die bei allen Unterschieden in der Qualität doch gemeinsam die »Suche nach der Realität unserer Zeit« aufgenommen habe.440 Noch Jahre später kam Sieburg auf jene deutschen Schriftsteller, Andersch dabei an erster Stelle, zurück, die wegen der angeblichen Unerträglichkeit der politischen Zustände der Bundesrepublik ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt hatten. An Karl Korn schrieb er, dass er seine Glosse »Die neue Emigration« zunächst, auf den autobiographischen Roman von Andersch anspielend, »Die Kirschen der Steuerfreiheit« hatte nennen wollen.441 Die Angriffe von Sieburg, Rudolf Krämer-Badoni, Günter Blöcker und anderen Protagonisten des konservativen Feuilletons auf die Gruppe 47 führten regelmäßig zur Solidarisierung von Intellektuellen, die nicht zur Gruppe gehörten. In diesem Sinne bekannte Hans Werner Richter freimütig: »Noch ein Wort zu Sieburg. (…) Ich habe politisch viel gegen ihn einzuwenden, aber was wären wir ohne ihn. Wir brauchen seine Gegnerschaft, und ich denke,
438 Friedrich Sieburg, Literarischer Unfug, in: Die Gegenwart, Jg. 7, 1952, H. 19 vom 13.9.1952, S. 294-296, Zitat S. 295. 439 Alfred Andersch, Die Spaliere der Banalität, in: Die Literatur, 1.10.1952, abgedruckt in: ders., Essayistische Schriften 1, S. 333-342. 440 Ebd., S. 336. 441 Friedrich Sieburg an Karl Korn, 9.8.1959, in: DLA, A: Sieburg; Friedrich Sieburg, Die neue Emigration, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1959; suggeriert wurde mit dem Stichwort »Tessin« stets die doppelte Moral der Linksintellektuellen, die ihren Luxuswohnsitz mit staatsfeindlicher Gesinnung verbanden. Tatsächlich waren die Wohnverhältnisse der Intellektuellen dort sehr unterschiedlich. Wichtiger war die kommunikative Nähe der Neuschweizer; so freute sich Horkheimer über die Nachbarschaft von Karl Gerold, Herausgeber der Frankfurter Rundschau (Max Horkheimer an Karl Gerold, 1.11.1966, in: BAK, Nl. Karl Gerold, 14), Ernst Wilhelm Eschmann traf Alfred Andersch (Korrespondenz seit 1958 in: DLA, A: Alfred Andersch), Max Frisch freute sich über die neuen deutschen Nachbarn.
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er braucht auch die Gruppe 47 … und ihre Feind-Freundschaft. Wieviel hat er dazu beigetragen uns groß zu machen.«442 An Alfred Andersch schrieb er, die »Sieburgs und Konsorten (…) haben längst bemerkt, daß sie mit ihren Angriffen für uns unnötige Reklame machen«.443 Die allmähliche Politisierung der Gruppe 47 begann bereits in den frühen 1950er Jahren, zunächst noch auf dem Terrain der Literatur selbst. Das Ungenügen einer von der deutschen literarischen Tradition, noch mehr aber von ausländischen Einflüssen abgeschotteten »neorealistischen« »Kahlschlagliteratur« wurde in der Gruppe untergründig beklagt, die Niendorfer Tagung 1952 erscheint als diesbezügliche Zäsur.444 Die Bemühungen um eine Erhöhung des Diskussionsniveaus, die Alfred Andersch in Texte und Zeichen unternahm, deuten in eine ähnliche Richtung. Veränderungen auf dem literarischen Feld der Gruppe 47 ergaben sich in den folgenden Jahren vor allem durch den Neuzugang jüngerer Autoren. Martin Walser, zeitweise Assistent von Andersch beim Süddeutschen Rundfunk, wurde 1955 mit dem Preis der Gruppe ausgezeichnet. Er war seit 1951 als Vertreter des SDR dabei und auch für Fragen der Technik zuständig. Seine gegenüber Richter zwei Jahre später in untertänigem Ton vorgebrachte Bitte, bei der Gruppe 47 vortragen zu dürfen, verdeutlicht die keineswegs nur lockere Zusammenkunft: »Ich könnte Ihnen, wenn Sie überhaupt zustimmen, vorher ein paar Texte schicken, von denen Sie Ihre Zustimmung abhängig machen können. Ich weiß nicht, wie andere gleichaltrige Kollegen ihre ersten Schritte auf die Lesebühne der Gruppe einleiteten, ich weiß nicht, nach welchen Gesichtspunkten Sie die Lesenden auswählen, deshalb meine ungelenke Anfrage.«445 Günter Grass war 1955 erstmals dabei und sollte sich bald als »Hilfssheriff« von Richter in den Vordergrund schieben und damit viele Ressentiments auf sich ziehen. Auch Hans Magnus Enzensberger446 und Helmut Heißenbüttel,447 beide wie auch Martin Walser aus dem Talentschuppen von Alfred Andersch beim Süddeutschen Rundfunk, stießen in jenem Jahr zur Gruppe. Die Generation der »Kriegskinder« brachte wohl den stärksten Schub an literarischer Produktivität. Ihr verdankte die Gruppe 47 bald ihren Ruhm. Die Arbeitstreffen verwandelten sich nun in Massenveranstaltungen. Hatten sich beim ersten Mal etwa 40 Teilnehmer eingefunden, waren es 1952 bereits 442 Hans Werner Richter an Rudolf Walter Leonhardt, 11.11.1961, zit. nach Cofalla, Sozialer Sinn, S. 41. 443 Hans Werner Richter an Alfred Andersch, 27.3.1962, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 400. 444 Vgl. Jürgen Schutte, Literarische Restauration – Literarische Opposition. Vom Spielraum realistischer Literatur am Anfang der 50er Jahre, in: Parkes/White, Gruppe 47, S. 53-67. 445 Martin Walser an Hans Werner Richter, 5.4.1953, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 156; vgl. Magenau, Martin Walser, S. 87 ff. 446 Lau, Enzensberger, S. 42 f. 447 Die erste Einladungspostkarte von Hans Werner Richter an Helmut Heißenbüttel, 6.5.1955, in: AdK, Nl. Helmut Heißenbüttel, 173.
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etwa drei Mal so viel, Ende der 1950er Jahre über 200 und bei den letzten Treffen Mitte der 1960er Jahre mehr als 400 Angehörige des Literaturbetriebs.448 Damit traten die Texte immer mehr in den Hintergrund, es ging um das Dazugehören und Gesehenwerden, auch um die Partys, die für manche ins Zentrum rückten. Die Gruppe stellte einerseits eine »Mischung aus Literatur-, richtiger Literaturkritikertrust, Schutzgemeinschaft von rechtlosen Wanderarbeitern«449 dar, wie es Peter Rühmkorf empfand, und andererseits charakterisierte sie Fritz J. Raddatz als »Club, ein Bündnis zum Saufen und Vögeln und Klatschen«.450 Hans Werner Richter, dem angesichts des Bedeutungszuwachses der Gruppe durch die neuen Mitglieder unbehaglich zumute war, weil diese wenig respektvoll mit den älteren »Neorealisten« umgingen, versuchte zugleich in die Richtung einer offenen Politisierung zu lenken und bediente sich dabei älterer Denk- und Argumentationsmuster, die den Zusammenhang von Politik und Literatur strikt trennten und von einem »Kapitaltransfer zwischen dem literarischen und dem politischen Feld«451 ausgingen. Letzteres sei angesichts der gefährlichen Zeiten wichtiger geworden.452 Im Jahrfünft von 1957 bis 1962, das durch eine erste Welle außerparlamentarischer Proteste geprägt war,453 in denen Intellektuelle eine außerordentliche Rolle spielten, knüpfte die Gruppe 47 ihre medialen Netzwerke immer enger; führende Gruppenmitglieder inszenierten sich dabei gern als politisch Verfolgte und bemühten sogar Vergleiche mit der Lage im »Dritten Reich«. In einer Art nachgeholtem Widerstand wurde bereits die Verlegung des Wohnsitzes ins Tessin zu einem politischen Akt stilisiert. Die Imagination einer existenziell bedrohlichen Situation, wie sie Alfred Andersch vornahm,454 oder zumindest die Flucht aus der hoffnungslos zurückgebliebenen Provinz, wie Hans Magnus Enzensberger die Verlegung seines Wohnsitzes nach Skandinavien inszenierte, stellten auch eine Legitimationsstrategie gegenüber den Exilautoren dar. Bisweilen mochte auch die eigene Erfolglosigkeit als allein politisch bedingt herhalten. Nachdem zwei Texte von Karlheinz Deschner für den Rundfunk abgelehnt worden waren, schrieb er an seinen Kollegen Peter Rühmkorf: »Wenn ich Geld hätte, würde ich emigrieren, d. h. wenn ich es lange im Ausland aushielte. (…) Man wird so langsam eingehen hier. Ein Bekannter schrieb mir, 448 Meyer, Gruppe 47, S. 52. 449 Rühmkorf, Die Jahre, S. 134. 450 Fritz J. Raddatz, »Gruppe 47 war ein Bündnis zum Saufen und Vögeln«. Ein Gespräch mit dem großen Kritiker, Erzähler und Biografen Fritz J. Raddatz aus Anlass seines 80. Geburtstags von Tilman Krause, in: Die Welt-online, 3.9.2011. 451 Cofalla, Sozialer Sinn, S. 80. 452 Vgl. Dominik Geppert, »Kreuzwegqual zwischen Politik und Literatur«. Der Umbruch Ende der 1950er Jahre als Zäsur in der Geschichte der Gruppe 47, in: Alexander Gallus/ Werner Müller (Hrsg.), Sonde 1957: ein Jahr als symbolische Zäsur für Wandlungsprozesse im geteilten Deutschland, Berlin 2010, S. 343-362. 453 S. Kapitel III.2. 454 Vgl. Cofalla, Sozialer Sinn, S. 26 f.; Reinhardt, Alfred Andersch, S. 317, 364, 367.
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er gehe, sobald das Wahlergebnis bekannt sei, ins Exil. Ich glaube, er wird keinen Grund haben, hier zu bleiben.«455 Mehr noch als Friedrich Sieburg mit seinen Invektiven gegen die Gruppe 47 geriet in der Medienöffentlichkeit der Versuch einer Zensur beim Süddeutschen Rundfunk, der als sogenannte Böll-Affäre verhandelt wurde, zum Bumerang für die konservative Fronde. Es ging dabei um den Streit über den »Brief an einen jungen Katholiken«, den der neue Intendant Hans Bausch nicht in seinem Sender verlesen lassen wollte. Eine Lektüre des Manuskriptes, das am 9. September 1958 um 20.45 Uhr verlesen und über die Mittelwelle ausgestrahlt werden sollte, liefert wenige Hinweise auf konkrete Gründe für den Eingriff. Böll wurde vorgestellt als »der einzige Künstler von Rang, der sein Werk mit der christlichen Verantwortung verbindet«. Dies mochte bereits als Provokation aufgefasst worden sein. Der Brief selbst handelte von den angeblichen »sittlichen Gefahren«, gemeint waren sexuelle Kontakte in besetzten Gebieten, vor denen seine Generation junger Landser angeblich bewahrt werden sollte; dass Geistliche dabei halfen, aber nicht die »Sinnlosigkeit« des Krieges insgesamt thematisierten, mochte als anstößige Kritik an der Amtskirche erscheinen, noch mehr aber wohl die Schlusspassage, in der Böll monierte, dass »selbst religiöse Entscheidungen, wie die des Gewissens, (…) zu politischen gestempelt würden«.456 Hier mochte sich auch der Christdemokrat Bausch selbst getroffen fühlen, aber die einstweilige Absetzung eines intellektuellen Beitrags, für den Bausch eine Mehrheit des Rundfunkrats gewann, war damit weder verständlich noch legitimiert.457 Da Bölls Text bald darauf gedruckt vorlag, wurde er auch später nicht mehr im Rundfunk gesendet. Aber das konnte den medialen Erfolg des Schriftstellers nicht mehr aufhalten. Seine beißenden Satiren »Dr. Murkes gesammeltes Schweigen« und »Nicht nur zur Weihnachtszeit« zum bigotten Klerikalismus in den öffentlich-rechtlichen Medien und zu penetranten NS-Kontinuitäten, bereits in den 1950er Jahren in den Frankfurter Heften und innerhalb eines Sammelbandes publiziert und als »Verunglimpfung des deutschen Gemüts«, so der evangelische Rundfunkbeauftragte Hans-Werner von Meyenn, empört aufgenommen, wurden 1964 bzw. 1970 mit riesigem Erfolg als Fernsehspiel produziert. Alfred Andersch, der in den Gremien des SDR schon lange wegen seiner üppigen Honorare für Schriftstellerkollegen, aber auch wegen linker Inhalte des »Ra455 Karlheinz Deschner an Peter Rühmkorf, 2.9.1957, in: DLA, A: Peter Rühmkorf. 456 Heinrich Böll, Brief an einen jungen Katholiken (Typoskript, 24 Seiten), S. 11, 24, in: AdsD, Nl. Fritz Eberhard, 1/FEAC 000001; vgl. Reinhardt, Alfred Andersch, S. 312 ff.; Schubert, Heinrich Böll, S. 139 ff. 457 In einem Brief an den Schriftsteller führte Bausch kein einziges inhaltliches Argument an, schlug allerdings ein Gespräch vor; Hans Bausch an Heinrich Böll, 9.9.1958; am gleichen Tag teilte er auch Alfred Andersch seine Entscheidung mit; die Sendung wolle er »verschieben« und zunächst ein Gespräch mit ihm führen, in: DLA, A: Alfred Andersch, Süddeutscher Rundfunk.
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dio-Essay« Unwillen erregt hatte458 und sich selbst aus dem Rundfunkbetrieb zurückziehen wollte, dienten die Streitigkeiten als Begründung, um seinen schon seit längerem gehegten Plan einer Schriftstellerexistenz im Schweizer Tessin zu realisieren. Zuletzt handelte er mit dem neuen Intendanten Hans Bausch einen günstigen Vertrag aus, der ihm für drei Jahre eine monatliche Honorarpauschale von 1.000 DM sicherte.459 Das war kaum weniger, als sein Nachfolger Heißenbüttel auf der regulären Stelle erhielt. Die intellektuellen Glanzzeiten des Radios näherten sich Ende der 1950er Jahre ohnehin ihrem Ende. Zum einen sank die Bedeutung des auditiven Mediums ganz allgemein durch den Beginn des Fernsehzeitalters, und insgesamt erweiterten sich die kulturellen Angebote für die Bevölkerung. Die von Demoskopen ermittelte notorische Häuslichkeit ging zurück. Zum anderen hatten sich für Publizisten die Möglichkeiten erweitert, durch Arbeiten im Printbereich die eigene materielle Basis zu sichern. Die Konflikte der Nachtprogramm- und Abendstudio-Redakteure mit konservativen Intendanten und Rundfunkgremien um 1960 könnte man – angesichts der Vorkommnisse beim NWDR ein Jahrzehnt zuvor – als zweite Welle der Domestizierung der Intellektuellen im Radio ansehen. Auch hier ging es um das Selbstverständnis der angestellten Redakteure als ungebundene Publizisten und die Erwartungen der übergeordneten Instanzen. Aber es handelte sich nicht einfach um eine Domestizierung unbotmäßiger Geister, vielmehr hatte Ende der 1950er Jahre die liberale und linke Politisierung der Intellektuellen längst eingesetzt, während, der Entwicklung der parlamentarischen Machtverhältnisse folgend, die Leitung der Sendeanstalten, vor allem beim BR und SDR, nun politisch konservativer ausgerichtet war. Die strukturelle Differenz von politisch bestimmten Leitungs- und Aufsichtsgremien und Intellektuellen, die sich auf die Ideologie der »Staatsferne« des öffentlich-rechtlichen Rundfunks beriefen, sorgte immer wieder für Zündstoff. Die Frage nach der Bedeutung von Intellektuellen im Rundfunk seit den 1960er Jahren, als aus der westdeutschen allmählich eine Fernsehgesellschaft wurde, ist im Übrigen nicht leicht zu beantworten. Nach wie vor konnten sie dort gutes Geld verdienen, wie etwa der in Stockholm lebende Schriftsteller Peter Weiss immer wieder hervorhob.460 Der allmählich einsetzende Bedeutungsverlust des Rundfunks für die Intellektuellen hieß nicht, dass sie weniger zu Wort kamen – die Sendezeiten für sie hatten sich mit der Einführung der Dritten Programme auf UKW noch ausgeweitet. Aber die Kulturprogramme fungierten nicht mehr als exklusive und elitäre Hörergemeinden; rezipiert wurde nun ein unverbindliches Angebot an ein 458 Vgl. Dussel, Interessen, S. 322 ff. 459 Hans Bausch an Alfred Andersch, 5.12.1958, in: DLA, A: Alfred Andersch, Süddeutscher Rundfunk; einige Jahre später kam es dann zum Streit um die Honorierung; Hans Bausch an Alfred Andersch, 8.9.1966, in: ebd. 460 Peter Weiss an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk, 27.3.1962, in: Peter Weiss, Briefe an Hermann Levin Goldschmidt und Robert Jungk 1938-1980. Hrsg. von Beat Mazenauer, Leipzig 1992, S. 173.
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breiteres gebildetes Publikum, das mittlerweile aber bevorzugt andere Medien, vor allem anspruchsvolle Printmedien – vom Buch bis zur Tageszeitung – nutzte. Viele der Sendungen, die sich an Intellektuelle gerichtet hatten, wurden im Laufe der 1970er und 1980er Jahre eingestellt. Idealtypisch lassen sich zwei Phasen der Politisierung des intellektuellen Nonkonformismus in den 1950er Jahren voneinander unterscheiden. In der ersten Hälfte dominierte eine nationalneutralistische Grundstimmung, erst in der zweiten erfolgte eine Orientierung an linkssozialistischen Ideen in der westlichen Welt. Auf den ersten Blick, und das gilt auch für die Gruppe 47, frappiert das weitgehende Desinteresse an sozialistischer Theorie oder gar am Marxismus in der nationalneutralistischen Phase. Eine große Zahl namhafter Intellektueller, die im engeren Sinne mit ausgearbeiteten politischen Konzepten nicht viel zu tun haben mochte, hegte doch Sympathien mit einer »wirklich loyal durchgeführte(n) Neutralisierung«, so schrieb Alfred Weber im Merkur, weil dies den »seelischen Druck, der auf Deutschland durch seine Zerschneidung, die Vergewaltigung seiner Mitte und des Ostens, die Isolierung und Gefährdung Berlins (…) wie mit einem Zauberstabe beseitigen und zugleich jene mit guten Argumenten vorgetragenen Beruhigungsfaktoren für die Welt in sich enthalten würde«.461 Angesichts des zeitgenössischen Spannungsverhältnisses von Partei und Geist lag eine zusätzliche Attraktion für nationalneutralistisch gesinnte Intellektuelle vielleicht gerade darin, dass es keine einflussreiche politische Partei für ihre Anliegen gab. Die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), die im kulturprotestantischen Milieu wurzelte, löste sich nach ihrem Scheitern bei der zweiten Bundestagswahl auf, einige ihrer führenden Köpfe wechselten zur Sozialdemokratie. Am Rande der SPD – innerhalb und außerhalb – sammelten sich um einige Zeitschriften herum Ansätze eines heterogenen Milieus, das einige Beachtung nicht so sehr aufgrund seiner Stärke in der Öffentlichkeit verdient, sondern einerseits wegen seiner Bedeutung für die Ausdehnung der Grenzen des Sagbaren in den 1950er Jahren, andererseits als Ausgangspunkt des späteren politischen Engagements vieler Akteure in den 1960er Jahren als einer intensiven Suchbewegung nach einer Lösung der nationalen Frage. Über Jahre hinweg zog sich etwa der freundschaftliche Briefwechsel zwischen Carola Stern (1928-2006)462 und Wolfgang Leonhard (1921-2014). Leonhard, der selbst aus der SBZ nach Jugoslawien gegangen war und 461 Alfred Weber, Zum Gedanken der Neutralisierung Deutschlands, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 1160-1164, Zitate S. 1162. 462 Carola Stern (Pseudonym von Erika Assmus, geb. 1925) war 1951 aus der DDR nach WestBerlin gekommen, studierte an der FU und erhielt kleinere Lehraufträge, 1960-1970 arbeitete sie als Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch, in den 1970er und 1980er Jahren in der Hauptabteilung Politik des NWDR bzw. WDR: vgl. Unterlagen für den Zeitraum 1955-1957 in: AdsD, Nl. Carola Stern, 52; ein Hauptansprechpartner war anfangs Klaus
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von dort in die Bundesrepublik übersiedelte, wo er 1955 mit seinem aufsehenerregenden Buch »Die Revolution entlässt ihre Kinder« hervortrat, hegte anfangs noch Sympathien für den sogenannten Titoismus und kritisierte Stern für deren Parteinahme für den Dissidenten Milovan Djilas in zahlreichen Artikeln und im Rundfunk (RIAS), denn immerhin könne dieser seine Auffassungen in der jugoslawischen Presse ungehindert publizieren; er wünsche, »es gäbe in der vielgepriesenen westlichen Freiheit nur 1/10 soviel Möglichkeiten für einen Linkssozialisten seine Auffassungen darzulegen, wie es in Jugoslawien die Rechtsopportunisten mit ihren Auffassungen tun können«.463 Er lese regelmäßig den Monat und auch die amerikanische Neue Zeitung, das würdige Gegenstück in der Einseitigkeit zur Prawda und zum Neuen Deutschland. Stern kritisierte er im Zusammenhang mit Maßnahmen nach einer deutschen Wiedervereinigung auch wegen der Gleichsetzung von »Nazi-Ideologie und Stalinismus«. Der Stalinismus sei »ideologisch viel fundierter, ›ernstzunehmender‹ als der Nazismus« und man sollte daher vielleicht »denjenigen gegenüber nachsichtiger sein, die einer Ideologie angehangen haben, deren Widersprüche keineswegs so einfach herauszufinden sind wie etwa beim Nazismus«464 – eine Position, die seine eigene Biographie reflektierte. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre wurde eine ganze Reihe von kleinen linkssozialistischen Zeitschriften gegründet, die der isolierten »heimatlosen Linken« ein Forum boten. Man wird dabei nicht von einem festgefügten Milieu sprechen können, aber durchaus von lokalen Ansätzen dazu, etwa in Hamburg oder München. Eine Gemeinsamkeit bestand darin, dass für viele der nationalneutralistischen Sympathisanten die SPD keine Anziehungskraft besaß, ihnen innerlich fremd blieb. So schrieb Karl Korn an Ernst Niekisch nach der ersten Bundestagswahl: »Bei der letzten Wahl habe ich, obwohl ich sie nicht mag, weil sie Piefkes sind, die SPD gewählt, weil ich hoffte, die würden die Remilitarisierung hemmen. Dann machte Schumacher zweideutige Bemerkungen nach der Wahl, und ich war wütend. (…) Ich glaube, dass – im Vertrauen gesagt – ein sehr hoher Prozentsatz der Bevölkerung hier nichts mehr begrüßen würde als eine Neutralisierung.«465 Die Sozialdemokratie wurde von radikalen Nationalneutralisten als Teil eines ostwestlichen politischen Systems angesehen, in dem »deutsche Existenz völlig sinnlos geworden« sei. In Ost wie West könne man nur »zersetzend« wirken, schrieb Ernst Niekisch an den Nürnberger Verleger Joseph E. Drexel.466
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Harpprecht; vgl. den Nekrolog von Peter Bender, Abschied von Carola Stern, in: Sinn und Form, Jg. 58, Nr. 2, 2006, S. 277-281. Wolfgang Leonhard an Erika Assmus, Datum unleserlich (1954), in: AdsD, Nl. Carola Stern, 53. Wolfgang Leonhard an Erika Assmus, 15.8.1955, in: AdsD, Nl. Carola Stern, 52. Karl Korn an Ernst Niekisch, 24.2.1951, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21c. Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 31.9.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34c.
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In der zeitgenössischen Öffentlichkeit war es nicht leicht, sich in dem Geflecht neutralistischer dritter Wege, die von solchen verzweifelt radikalen Positionen bis zur immanenten Kritik an der sich rasch vollziehenden Westpolitik reichten, zurechtzufinden. Mindestens bis zur Mitte der 1950er Jahre stellte auch eine große Zahl namhafter Zeitungen und Zeitschriften aus dem eher konservativen Spektrum Möglichkeiten bereit, Skepsis gegenüber der Regierungspolitik zu artikulieren.467 Dass diese wiederum von staatlicher Seite als kommunistische Agitation denunziert wurde, zeigt das extreme Schwarz-Weiß-Denken in der dramatischen Phase des Kalten Krieges. Kritiker der Westoption unterstützten – objektiv – den Feind im Osten und hätten sich damit auf die Seite des Bolschewismus gestellt. Die Propaganda der DDR wiederum war in jenen Jahren daran interessiert, den Eindruck eines engen nationalen Schulterschlusses von Kommunisten und »Kulturschaffenden« gegen die Spalter der nationalen Einheit in Bonn zu erzeugen. Zwar konnte von einem Schulterschluss keine Rede sein, aber es gab durchaus einige Allianzen, die zum Teil in die Zwischenkriegszeit und die Jahre des Exils zurückverwiesen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überwogen zwar von Anfang an die prowestlichen Stimmen, aber abweichende nationalneutralistische und regierungskritische Positionen wurden zunächst toleriert. Die bitteren Auseinandersetzungen um die Remilitarisierung führten dann allerdings zum Bruch im Herausgebergremium, der 1955 mit der Trennung von Paul Sethe besiegelt wurde.468 Sethe hatte über Jahre hinweg mit nationalneutralistischen Argumenten gegen die Außenpolitik Adenauers Stellung bezogen, aber auch innenpolitische Leitartikel gegen den Kanzler verfasst469 und damit begeisterte Leser von unerwarteter Seite gewonnen. Ernst Niekisch schrieb an Karl Korn: »Die Aufsätze von Sethe sind in der Tat höchst bemerkenswert. Wir lesen sie mit größtem Interesse und sind durch die Klarsicht und den moralischen Mut des Verfassers auf das angenehmste berührt. Erstaunlich ist, daß Ihre Zeitung diesen Aufsätzen Unterschlupf gewährt; sicher aber ist, daß das Gewicht Ihrer Zeitung wohl dadurch ungemein gewinnt. Ich treffe mich wohl mit Herrn Sethe in der
467 Materialreich: Kiefer, Auf der Suche. 468 Paul Sethe, der noch heute einen hervorragenden Nachruf genießt, kann allerdings nicht als linker Opponent gelten, sondern war »Nationalliberaler« mit einer geringen Neigung zur Reflektion seiner im »Dritten Reich« publizierten Texte, vor allem seiner DurchhalteArtikel in der Frankfurter Zeitung und danach im Völkischen Beobachter; ein umfangreiches Konvolut seiner Artikel in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in: BAK, Nl. Paul Sethe, 12; angeblich sollte Sethe, der Kontakte zum konservativen Widerstandsflügel um Goerdeler unterhielt, im Falle eines Umsturzes Chefredakteur der Zeitung Das Reich werden; vgl. Siering, Zeitung, S. 42, 73. 469 Vgl. Frank Schlumberger, Das Adenauer-Bild in der politischen Publizistik 1949-1955. Die ›Frankfurter Allgemeine‹ als zeitgeschichtliche Quelle, Frankfurt a. M. 1991, S. 55 ff., 378 ff.
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Meinung, daß der Bundeskanzler Adenauer für das deutsche Volk ein wahres Unglück bedeutet.«470 Sethe hatte die These vertreten, dass »kein anderer Stand bei der Wiedervereinigung so große ideologische Zugeständnisse (werde) machen müssen wie das deutsche Bürgertum (…) der führende Stand in Westdeutschland«.471 In diesem Sinn trat er sehr schroff für das Primat der nationalen Einheit gegenüber dem kapitalistischen System ein, das Adenauer symbolisierte. Der Beifall ausgerechnet von Niekisch unterstreicht, dass die Linie des Blattes grundsätzlich tangiert war, was drei der fünf Mitherausgeber, Erich Welter, Erich Dombrowski (1882-1972) und Hans Baumgarten (1900-1968), die als regierungstreu galten, gegen Sethe aufbringen musste.472 Allerdings gefährdete die FAZ damit unter Intellektuellen ihren Ruf als unabhängige Stimme im Blätterwald,473 zumal Sethe als promovierter Historiker für interessante Debatten gesorgt hatte, indem er so konträre Stimmen wie Ludwig Dehio und Gerhard Ritter, aber auch Hermann Heimpel, Franz Schnabel, Theodor Schieder, Hans Rothfels und Werner Conze in der FAZ zu Wort kommen ließ, ungleich häufiger als andere Blätter.474 Dass Adenauer selbst im Hintergrund für Sethes Entfernung gesorgt hatte, stand für viele fest, verbunden mit der Frage, ob damit eine größere Säuberung eingeleitet worden sei.475 Die Zeitung werde »immer flauer und langweiliger (…) Welter, Baumgarten und Dombrowski scheinen mit großer Befähigung alles zu tun, um die erreichte publizistische Position der FAZ zu ruinieren«.476 Kritische Beobachter zweifelten daran, ob Sethe bei der Welt, zu der er wechselte, »auf die Dauer glücklich sein wird«; er komme doch aus der »recht gepflegten Atmosphäre« der FAZ in »einen ganz wilden Managerladen«, in dem »jeder wirklich nur eine Nummer« sei und nach Bedarf aufgerufen oder abserviert werde.477 Unzweifelhaft aber bot die Welt nationalneutralistischen Publizisten für einige Jahre eine auch pekuniär attraktive Heimstatt. Als die Welt 1953 für zwei Millionen DM an den Springer-Konzern verkauft wurde, auch der Verleger der Wochenzeitung Die Zeit, Gerd Bucerius, hatte ur470 Ernst Niekisch an Karl Korn, 2.4.1952, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 471 Paul Sethe, Zwischen Bonn und Moskau, Frankfurt a. M. 1956, S. 168. 472 Vgl. Christian Gotthardt, Was Leitartikler nicht dürfen – Die Fälle Sethe und Tern, in: Pfeiffer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 69-95; Payk, Geist, S. 189 ff. 473 Ein umfangreiches Konvolut von Pressestimmen in: BAK, Nl. Paul Sethe, 3, 24. 474 Vgl. Marcel vom Lehn, Clio in den Massenmedien. Die Zusammenarbeit von Historikern und Journalisten in Westdeutschland und Italien (1943/45-1960), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Jg. 91, 2011, S. 318-342, hier S. 323 ff. 475 Ernst Niekisch an Joseph Drexel, 27.9.1955, 30.9.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 d; vgl. Hartmut Soell, Zum Problem der Freiheit des Journalisten. Aus der Korrespondenz Fritz Erler – Paul Sethe 1956/57, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 23, 1975, S. 91116; Gallus, Neutralisten, S. 124 ff. 476 Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 10.1.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a. 477 Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 8.11.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 d.
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sprünglich Interesse an einer Beteiligung geäußert,478 änderte sich die politische Linie nicht sofort. Dies lag auch daran, dass Hans Zehrer als neuer Chefredakteur die »Redaktion der Individualisten«479 nicht zu disziplinieren verstand. Von rechtskonservativen Kollegen war ihm herzlich zum »Entschluss« gratuliert worden, die Welt zu »übernehmen«.480 Er hatte aus der Redaktion des Sonntagsblatts seinen ehemaligen Mitstreiter bei der Tat, Ferdinand Fried (Friedrich Zimmermann), mit zur Welt genommen, und ein anderer ehemaliger Autor jener konservativ-revolutionären Zeitschrift, Klaus Mehnert, erhielt seit 1954 sehr lukrative Aufträge, ob als Sonderkorrespondent in Genf oder für ausgedehnte Reisen in Ostasien.481 Zehrer bot 1959 sogar eine regelmäßige, gut dotierte Mitarbeit an, die dieser allerdings wegen anderer vertraglicher Bindungen ablehnen musste.482 Aber von einer planmäßig verfolgten Personalpolitik kann dennoch nicht gesprochen werden, Zehrer selbst blieb sprunghaft und lud zu sehr konträren Wertungen ein. Die Skepsis gegenüber Zehrer angesichts seiner »bedingungslosen Gefolgschaft für Herrn Adenauer«, die Rudolf Pechel empfand, wird ihm ebenso wenig gerecht wie die Unterschätzung, die sich in der Meinung von Peter Bamm ausdrückte: »Herr Zehrer ist ein netter und wohl auch ein ganz gescheiter Mann, aber ein unklarer Kopf. Aber das ist noch nicht das Schlimme. Das Schlimme ist die Verbindung mit einem solch rücksichtslosen Haifisch, wie Axel Springer durch seinen Erfolg in den letzten Jahren geworden ist.«483 Ernst Niekisch, der als einstiger Nationalrevolutionär Zehrer schon in den Jahren der Weimarer Republik skeptisch gegenüberstand, meinte eine neuerliche Sammlung der Tat-Kreis-Leute zu beobachten. An seinen Freund Drexel schrieb er: »Zehrer protegiert übrigens seinen Tatkreis, auch den SS-Mann Wirsing stellt er wieder heraus.«484 Dieser antwortete, Wirsing habe ihm bereits drei- oder viermal ausrichten lassen, »ich möchte ihn doch einmal besuchen. Da habe ich mich aber aus guten Gründen bisher taub gestellt und werde es auch weiterhin so halten.«485 Niekisch brachte seinen Widerwillen gegen Politik und Stil der Zehrer’schen Welt in seiner Korrespondenz immer wieder zum Ausdruck; die Aufsätze der Zeitung
478 Vgl. die umfangreichen Unterlagen im Archiv der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Nl. Gerd Bucerius, 514. 479 Hans Dieter Müller, Der Springer-Konzern. Eine kritische Studie, München 1968, S. 162 480 Hans Georg von Studnitz an Hans Zehrer, in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 6.1. 481 Hans Zehrer an Klaus Mehnert, 20.1.1954; Klaus Mehnert an Hans Zehrer, 1.3.1954; Wolfgang Höpker an Klaus Mehnert, 8.3.1954, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 19; aus den folgenden Jahren einschlägige Korrespondenz in Bu 20, 22 482 Klaus Mehnert an Hans Zehrer, 14.5.1959; Hans Zehrer an Klaus Mehnert, 19.5.1959, in: HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 45. 483 Rudolf Pechel an Curt Emmrich (besser bekannt unter seinem Pseudonym Peter Bamm), 8.1.1954; Curt Emmrich an Rudolf Pechel, 14.1.1954, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/15. 484 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 8.2.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a. 485 Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 20.2.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a.
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seien im Allgemeinen »ein unerträgliches Salbader (…) sentimentales, aufgeweichtes Geschmuse«.486 Er könne Zehrers »blumig-quallige Schreibe« nicht ertragen.487 Dass in der Beziehung von Springer und Zehrer eher letzterer intellektuellen Einfluss nahm, ist eindeutig belegt.488 Sethes Einstieg in die Redaktion war ein gelungener Coup. Zur Mannschaft der Welt, die mit Bildern der Edelfedern Fried, Sethe und Zehrer für sich warb,489 stieß 1958 sogar der linksliberale Publizist Erich Kuby von der Süddeutschen Zeitung, der für sich aushandelte, für ein monatliches Gehalt von 2.000 DM nur etwa die Hälfte des Monats in Hamburg erreichbar zu sein. Kuby glaubte zu diesem Zeitpunkt, die Welt bewege sich unter Zehrer auf jene politische Linie einer »Koexistenz-Politik« zu, die er, Kuby, vertrete.490 Die Desillusionierung trat allerdings schon einige Monate später ein, als sich Kuby mit Zehrer und Springer überwarf, denen er vorhielt, als Kalte Krieger die Zahlen der Flüchtlinge aus der DDR systematisch nach oben korrigiert zu haben.491 Noch Jahrzehnte später rechtfertigte sich Ernst Cramer, den Kuby aus den Tagen der Neuen Zeitung kannte und der später einer der führenden Männer des Springer-Konzerns wurde, in dieser Sache.492 Tatsächlich, so weit sind sich die Historiker einig, markierte das Jahr 1958, in dem Springer und Zehrer nach Moskau reisten, um Chruschtschow für die deutsche Wiedervereinigung zu gewinnen, eine Wende des Verlags und auch der redaktionellen Linie der Welt.493 Der einst konservativ-revolutionäre Hans Zehrer, der nach 1945 als christlich-konservativer Publizist seinen erneuten Aufstieg einleitete und anfangs auf der Welle abendländischer Propaganda als regierungsnah galt, hatte nach der Übernahme der Welt noch einmal nationalneutralistischen Stimmungen nachgegeben, die man allerdings nicht als »Linkskurs« missverstehen sollte.494 Erst die Zurückweisung durch Chruschtschow machte Zehrer endgültig zum kompromisslosen Kalten Krieger. Vom März 1958 datiert eine vertrauliche Hausmitteilung Axel Springers an die Chefredakteure seiner Blätter: »Sehr geehrte Herren! Darf ich noch einmal an unsere Abmachungen erinnern, die wir gemeinsam bei unserer letzten Unterhaltung über das Problem der Sowjetzone in meinem Büro trafen. Bis zur Wiedervereinigung sollte jeden Tag (ohne Ausnahme) auf der ersten Seite unserer Blätter zumindest eine Meldung über Vorgänge in der Ostzone stehen. Wir nannten damals Beispiele: allgemeine 486 487 488 489 490
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Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 19.12.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 c. Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 13.2.1957, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 d. Schwarz, Axel Springer, S. 200-224. Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 19.3.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a. Erich Kuby an Hans Zehrer, 22.11.1957; Erich Kuby an Axel Springer und Hans Zehrer, 15.12.1957; Erich Kuby an Werner Friedmann (Chefredakteur der SZ), 15.12.1957; Mitarbeitervertrag vom 2.1.1958, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby; vgl. Kruip, »Welt«»Bild«, S. 120. Kuby, Vaterland, S. 198 f.; Demant, Hans Zehrer, S. 188 ff. Ernst Cramer an Erich Kuby, 19.8.1983, in: Archiv Monacensia, Nl. Erich Kuby. Demant, Hans Zehrer, S. 184 ff.; Schwarz, Axel Springer, S. 276 ff. Ebd., S. 251.
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Zeugnisse der Unfreiheit, wirtschaftliche Fehlleistungen, Flüchtlinge aus der politischen Prominenz und aus Kreisen der Wissenschaften.« Dabei sollten, so Springer, »schöne Objektivitäten«, etwa die Erwähnung von Rückwanderern, keine Berücksichtigung finden: »Wir helfen damit nur den Meistern der bedenkenlosen Propaganda im Osten.«495 Und einen Monat später insistierte der Verleger: »Seien Sie mir nicht böse, wenn ich dieses Thema so hartnäckig verfolge. Aber Sie werden es erleben, daß ich nicht locker lassen werde, bis zur vollzogenen Wiedervereinigung.«496 Ab 1960 verabschiedeten sich jene, die die neue Generallinie nicht restlos zu exekutieren bereit waren: Paul Sethe, er kehrte 1962 noch einmal für drei Monate zurück und übernahm dann während seiner letzten Lebensjahre redaktionelle Aufgaben in der Zeit und im Spiegel, Joachim Besser, Gösta von Uexküll, Gert von Paczensky, Sebastian Haffner und einige weitere. Die Moskau-Reise hatte im Übrigen auch zu einer tiefen Verstimmung zwischen dem Verleger und seinem Mentor geführt, der in den letzten Jahren an Einfluss einbüßte, weil ihm der anhaltende Misserfolg des Blattes angelastet wurde.497 Nachfolger von Sethe im Amt des Leiters der Politik-Redaktion und Außenpolitiker der FAZ wurde Jürgen Tern von der wöchentlich erscheinenden Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung aus Stuttgart, was sich als kluger Schachzug erwies.498 Tern hatte zu den jüngeren Redakteuren der Frankfurter Zeitung gehört;499 seine Biographie war insofern geeignet, Gerüchte zu zerstreuen, mit der Trennung von Sethe löse man sich auch von dieser Tradition. In der Deutschen Zeitung hatte er bereits mit Nikolas Benckiser (1903-1987) und dem jungen Bruno Dechamps (19251992) zusammengearbeitet, die beide später als Mitherausgeber bei der FAZ fungierten.500 Sein Antritt wurde von vielen Kollegen mit der Hoffnung verbunden, er sei in der Lage, Sethe würdig zu vertreten und das Blatt wieder interessanter zu machen.501 Dieser selbst schrieb seinem Nachfolger, dass er sich über dessen Wechsel zur FAZ sehr gefreut habe: »Meine Anhänglichkeit an das Blatt ist auch nach 495 Springer an Zehrer, Michael, Siemer, Dr. Hiss, Menne, 20.3.1958, in: Archiv FZH, Nl. Rudolf Michael, Bd. 2. 496 Springer an Zehrer, Michael, Siemer, Dr. Hiss, Menne, 10.4.1958, in: Archiv FZH, Nl. Rudolf Michael, Bd. 2; solche Obsessionen waren keineswegs verlagsspezifisch: Der Staatssekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Franz Thedieck, beschwerte sich bei Thilo Koch z. B., dass in dessen Rundfunk-Sendung »Gruß an die Zone« die Formulierung »Deutsche Demokratische Republik« vorgekommen sei; Franz Thedieck an Thilo Koch, 19.10.1959; Thilo Koch an Franz Thedieck, 23.10.1959, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 133. 497 Müller, Springer-Konzern, S. 164. 498 Der Vertragsbrief mit Festlegung des Einkommens von Erich Welter an Jürgen Tern, 17.1.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 9. 499 Briefe an den im Feld (Feldpost-Nummer 30839 C9) befindlichen Gefreiten Jürgen Tern zur Einstellung der Frankfurter Zeitung im August 1943 in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 3. 500 Von ihm selbst ausgewählte und posthum veröffentlichte Artikel: Dechamps, Schriften. 501 Conrad Ahlers (Welt) an Jürgen Tern, 6.2.1954; Immanuel Birnbaum (SZ) an Jürgen Tern, 12.3.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 1.
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meinem Ausscheiden die alte geblieben. Welters menschliches Versagen im letzten Herbst hat diese Anhänglichkeit nicht zu zerstören vermocht.«502 Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte, auch Tern selbst nicht, war der Positionswechsel des publizistischen Kalten Kriegers, der noch 1960 Mitherausgeber geworden war und 1962 von Konrad Adenauer höchstes Lob für seine politischen Artikel empfing, den aber 1970 das gleiche Los traf wie zuvor Paul Sethe. Die Konstellation war allerdings nun umgekehrt. Tern hatte sich zum Fürsprecher der sozial-liberalen Regierung gewandelt, während Kritik erwartet wurde, und erhielt dafür die Kündigung der Direktion der Zeitung, wobei die Begründung keine inhaltlichen Argumente enthielt, sondern darauf abhob, er habe sich über das Herausgebergremium gestellt: »Leider ist es uns nicht gelungen, Sie von der seit Gründung dieser Zeitung bestehenden Ordnung zu überzeugen. (…) Sie aber verletzen das Kollegialitätsprinzip und benehmen sich, als stünde Ihnen die Alleinbestimmung zu (…) Sie stören den Arbeitsfrieden in diesem Hause.«503 Der Fünfte in der Riege der ursprünglichen Herausgeber, Karl Korn, äußerte sich publizistisch nur vorsichtig zu politischen Fragen, markante Positionen verbannte er in seine private Korrespondenz. Dies gilt etwa für sein Eintreten für Sethe; obwohl er dessen politische Auffassungen grundsätzlich teilte, stimmte er zwar gegen die Ausbootung, blieb aber nach der Entlassung Sethes im Herausgebergremium; Korn antwortete Ernst Niekisch, der ihn mit dem Gerücht konfrontierte, auch er wolle zur Welt wechseln: »Wir können aber ein Werk, das wir schließlich in fünf Jahren und mit voller Kraft aufgebaut haben, so daß wir alle überanstrengt sind, nicht einfach verlassen.«504 Gern stilisierte sich Korn als freier Geist, den nur die Notwendigkeit des Geldverdienens zum Unterhalt der Familie in eine Redaktion gezwungen habe. Auch als 502 Paul Sethe an Jürgen Tern, 10.1.1956, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 6; die Korrespondenz zwischen Sethe und Tern bringt insofern differenzierende Informationen, als Tern ursprünglich Sethe zur Deutschen Zeitung locken wollte, dieser aber hinter seinem Rücken mit dem Verleger der DZ, Schwab, geheim verhandelt hatte. Angesichts der konträren Positionen hätte ein Eintritt Sethes in die DZ zu Auseinandersetzungen geführt, aber auch seine Nichtunterrichtung über die Gespräche führten zu Terns Trennung von der DZ, die im Übrigen sehr konfliktreich und unter unschönen Umständen verlief; zudem bekundete Sethe gegenüber Tern, es sei ihm beim Wechsel zur Welt vor allem um die guten finanziellen Konditionen gegangen. 503 Direktion der FAZ (Hoffmann) an Jürgen Tern, 29.5.1970, in: BAK, Nl. Jürgen Tern, 9. 504 Ernst Niekisch an Karl Korn, 3.10.1955; Karl Korn an Ernst Niekisch, 14.10.1955, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c; Joseph E. Drexel kommentierte diesen Brief von Korn, den Niekisch ihm weitergereicht hatte (Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 17.10.1955): »Was kann er tun? Er muß zufrieden sein, daß er, wenn er nicht mit den Wölfen heult, von diesen nur angefletscht und nicht gleich gefressen wird. Auf das Risiko des Gefressenwerdens kann er sich bei einer Frau und drei Kindern in einer offenbar sehr glücklichen Ehe nicht einlassen«; Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 7.2.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 a.
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Feuilletonchef sah sich Korn in der Rolle eines Nonkonformisten, der seiner intellektuellen Linie folgte, dabei aber zu Kompromissen gezwungen war. So förderte er energisch die jungen Autoren innerhalb und außerhalb der Gruppe 47, Alfred Andersch, Heinrich Böll und Wolfgang Koeppen, dessen Bonn-Roman »Das Treibhaus« (1953) fast nur in der FAZ positiv besprochen wurde. Im Grundsätzlichen blieb Korn allerdings, und dafür bot auch die Betrachtung der Gegenwartsliteratur eine gute Anschauung, den herkömmlichen Dualismen von Geist und politischer Macht verhaftet. Korn reihte sich ein in die lange Reihe der Bewunderer von Ernst Jünger, Gottfried Benn und Martin Heidegger, aber auch von Thomas Mann.505 Am Ort der Zeitung selbst pflegte Korn ausgezeichnete Kontakte etwa zu Theodor W. Adorno und Walter Dirks, den er 1955 als Berichterstatter über die WagnerFestspiele in Bayreuth und das Internationale Musikfest in Lindau am Bodensee für die FAZ gewinnen konnte.506 Wie bei der großen Linie des Blattes, so gab es auch im Kulturellen heftige Auseinandersetzungen, die sich personalisierten in den Kontrahenten Karl Korn, Mitherausgeber und Leiter des Feuilletons, und Friedrich Sieburg. Noch bevor der Superstar der Literaturkritik der frühen Bundesrepublik 1956 fest in die Redaktion eintrat, um das »Literaturblatt« zu gestalten, ärgerte sich Korn immer wieder über dessen Beiträge, die sich vorzugsweise gegen jene Intellektuellen richteten, etwa aus der Gruppe 47, zu denen Korn gute Beziehungen unterhielt. Margret Boveri riet dem Freund, sich über Sieburg nicht aufzuregen, und fragte tröstend: »gibt es noch viele Leute, die ihn ernst nehmen?«507 Neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Zeit in der ersten und der Welt in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre öffnete das Hamburger NachrichtenOrgan Der Spiegel durchgängig seine Spalten für nationalneutralistisch geprägte Regierungskritik.508 Für die intellektuelle Prägung der Bundesrepublik mindestens ebenso hoch ist die Wirksamkeit des Rowohlt Verlags zu veranschlagen, gerade weil dessen Profil kein eng politisch ausgerichtetes Programm widerspiegelte. Die Anteile an der Modernisierung des Konservatismus, wie sie für rowohlts deutsche enzyklopädie (rde) beschrieben wurden,509 vertrugen sich offenbar problemlos mit den politischen Neigungen des Verlegers, die der Publizist Kurt Hiller auf eine witzige Formel brachte, als er über Ernst Rowohlt klagte, dieser sei »zu alkoholisch-nationalbolschewistisch-palaio-belletristisch-kaufmännisch«.510 Willy 505 Payk, Geist, S. 194 ff. 506 Vgl. die Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 107; die Artikel erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 25.7., 28.7, 30.7., 5.8.1955. 507 Margret Boveri an Karl Korn, 29.12.1954, in: DLA, A: Karl Korn. 508 Vgl. detailliert Gallus, Neutralisten, S. 94-137. 509 S. Kapitel II.4.2. 510 Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 62; Hiller veröffentlichte mehrere Bücher im Rowohlt Verlag, zuerst sein philosophisches Traktat »Geistige Grundlagen« (mit einer Auflage von 50.000 im Rotationsdruck), dann die Abrechnung mit deutschen Kommunisten »Köpfe und Tröpfe« (der Vertrag darüber bereits 1947; es erschien mit einer Auflage von lediglich
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Haas formulierte es dezenter als »Verschränkung von Geschäftssinn und geistiger Gewissenhaftigkeit«.511 Rowohlt war ein lebenslustiger Verleger, sein Programm war bunt, aber die Kritik an Politik und Gesellschaft der frühen Bundesrepublik oszillierte doch in eigenartiger Weise um einen nationalen Weg, der sich den Angeboten westlicher Konsumkultur und Lebensweise verweigerte und bisweilen parallel, etwa in der Kritik der amerikanischen Gesellschaft, zur »nationalen« Linie der Kommunisten verlief. Das Spektrum der Autoren – von Jean-Paul Sartre bis zu Hans Zehrer und von Helmut Schelsky bis zu Ernst Niekisch oder Vertretern der Gruppe 47 – markierte eine betont nonkonformistische, regierungskritische Verlagspolitik, die sich erst in den 1960er Jahren, nach dem Tod von Ernst Rowohlt, in eine dezidiert linksliberale und linke Richtung entwickelte. Das Zusammenspiel der nationalrevolutionären Netzwerke lässt sich sehr gut anhand der Veröffentlichung des Buches »Das Reich der niederen Dämonen« von Ernst Niekisch im Rowohlt Verlag beobachten. Dass Ernst Rowohlt das Buch eines immer noch der SED angehörenden Intellektuellen publizierte, der ansonsten in der Bundesrepublik boykottiert wurde,512 war allein schon bemerkenswert. Vor allem Joseph E. Drexel hatte sich für das Zustandekommen des Verlagsvertrags engagiert.513 Rowohlt und Niekisch trafen sich bereits im Frühjahr 1953 zu tagelangen Diskussionen,514 mehrere Lektoren, darunter Wolfgang Weyrauch und Ernst von Salomon, nahmen sich des Manuskripts an.515 Nach Erscheinen zollte Thomas Mann dem Autor hohes Lob: »Mein Haß auf die Verderber Deutschlands wurde durch den Ihren, durch das, was er Ihnen unter Lebensgefahr zu tun aufgab und was Sie leidenschaftlich vollendeten, neu belebt, neu begründet. Es (das »Reich der niederen Dämonen«; A. S.) ist ein verdienstliches Werk, dieses Ihr Buch. (…) Sie haben unter Gefahr und Leiden gute Kämpferarbeit getan im Dienst der Wahrheit und des Menschenanstandes.«516 In den Nürnberger Nachrichten erschienen Teile des Buches im Vorabdruck,517 und der konservative Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier rezensierte das Buch im offiziösen518 Parlament sehr respektvoll. Auch hier erstaunt bereits die Rezension selbst. Gerstenmaier betonte unmissverständlich, dass Niekisch zwar ein »wasch-
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3.000 Exemplaren 1950), zuletzt die Lebenserinnerungen »Gegen die Zeit« (1969); vgl. die Korrespondenz in Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Rowohlt Verlag. Willy Haas, Typoskript »Ernst Rowohlt« (1966), in: DLA, Nl. Willy Haas, Typoskripte. S. Kapitel II.4.1. Ernst Rowohlt an Joseph E. Drexel, 22.1.1953, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 40 b. Ernst Rowohlt an Joseph E. Drexel, 25.3.1953, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 19. Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 16.3.1953, in: ebd. Thomas Mann an Ernst Niekisch, 15.6.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 d. Joseph E. Drexel an Ernst Niekisch, 2.8.1953; Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 22.9.1953, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 40 b. Karl Korn an Ernst Niekisch, 10.10.1953, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 40 c.
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echter Kommunist« geworden sei, der sich jeder Kritik am Totalitarismus der Sowjetunion enthalte; aber dennoch verdiene das Buch Beachtung. Auch wenn die Behauptung, Hitler sei eine Marionette der Großindustrie gewesen, nicht haltbar sei, die These vom Nationalsozialismus als einer »Entartung des deutschen Bürgertums« sei leider zutreffend.519 Obwohl Karl Korn und Paul Sethe das Buch von Niekisch für wichtig hielten, hielt man es dort für ein »Kunststück«, ein Buch mit einer antikapitalistischen Grundaussage zu rezensieren. Trotz der guten Beziehungen zu Ernst Rowohlt war es keineswegs ausgemacht, wo die Memoiren von Niekisch erscheinen würden, denn auch der Klett-Verlag und Kiepenheuer & Witsch zeigten Interesse. Niekisch fand es nicht ohne Reiz, zu diesem Verlag zu gehen, würde es doch nichts schaden, wenn innerhalb von dessen »Kundenkreis (…) östlich ausgerichtete Gedanken Eingang fänden«. Obwohl ihm die Richtung von K & W »nicht ganz sympathisch« war, wurde er mit seiner Autobiographie 1958 deren Autor.520 Inwieweit diese Entscheidung mit Ernst Rowohlt besprochen worden war, bleibt fraglich. Bei Rowohlt wiederum erschienen ein Jahr später die Lebenserinnerungen von Richard Scheringer, dem wegen illegaler Betätigung für die NSDAP als Reichswehroffizier 1930 der Prozess gemacht worden war und der dann mit großem öffentlichen Aufsehen zu den Kommunisten wechselte und für die Partei um sozialrevolutionäre Nationalsozialisten warb. Niekisch bedauerte es noch Mitte der 1950er Jahre, dass die KPD den nationalistischen »Scheringer-Kurs« 1932 nicht konsequent durchgesetzt habe.521 Anfang der 1950er Jahre saß er wegen kommunistischer Aktivitäten zwei Jahre im Gefängnis, nach dem Verbot der KPD führte er die Partei in Bayern. Der national eingestellte Kommunist war so ganz nach dem Geschmack von Rowohlt. Zum Richtfest des neuen Verlagsgebäudes in Reinbek lud er ihn für eine ganze Woche ein und schrieb an Joseph E. Drexel, er gefalle ihm »persönlich ausgezeichnet«. Drexel stimmte zu: ein »prächtiger Bursche« und eine der aussterbenden »Störtebeker-Naturen«.522 Drexel unerstützte den Nationalkommunisten auch bei seinen Gerichtsverfahren immer wieder finanziell.523 Rowohlt wiederum freute sich über den guten Absatz des Buches von Scheringer, das auch in der DDR (1961) eine Ausgabe erlebte. Dass die Grenzen des Marktes für nationalneutralistische Texte auch für den Rowohlt Verlag nicht beliebig erweiterbar waren, zeigte sich beim amerikakritischen Buch von L. L. Matthias, das trotz des energischen persönlichen Einsatzes
519 Eugen Gerstenmaier, Dämonen, Nazis und Marxisten, in: Das Parlament, Nr. 11, 17.3.1954. 520 Ernst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln/Berlin 1958; Zitate in Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 26.11.1957, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 e. 521 Ernst Niekisch an Heinz Maus, 20.12.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 22 c. 522 Ernst Rowohlt an Joseph E. Drexel, 27.9.1959; Joseph E. Drexel an Ernst Rowohlt, 1.10.1959, jeweils in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 23. 523 Unterlagen in BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 24.
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von Ernst Rowohlt, der es zum Bestseller hatte machen wollen, von den Kritikern entweder verrissen oder gar verschwiegen worden war.524 Ein anderer Fall betraf den Konflikt des Verlegers mit Kurt Hiller, der an den Rand des endgültigen Zerwürfnisses führte. Hier vermischten sich die Geschäftsinteressen und politischen Sympathien Rowohlts mit der »nationalen« Linie der DDR-Politik. Die Enttäuschung Kurt Hillers über Rowohlt rührte aus eigenen Erfahrungen. Hiller hatte unmittelbar nach Kriegsende geplant, seine Abrechnung mit dem Verhalten deutscher Kommunisten im Exil zu präsentieren. Das Manuskript trug den Titel »Köpfe und Tröpfe«. Er hatte es Rowohlt bereits mit dem ersten Schreiben nach dem Krieg 1946 angeboten, ein Verlagsvertrag wurde ein Jahr später unterzeichnet. Aber trotz allem Einverständnis mit dem Inhalt des Buches zögerte Rowohlt im Frühjahr 1949, den Vertrag zu erfüllen, und bat Hiller um Verständnis: »Ich bin als einziger Verleger in ganz Deutschland in allen vier Zonen lizenziert. Bitte bedenken Sie, was das politisch heute in Deutschland heisst. Ob links oder rechts stehend, leiden wir hier alle in gleicher Weise unter dem eisernen Vorhang. Während die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Ost- und Westdeutschland immer stärker gedrosselt werden, ist es von ganz entscheidender Wichtigkeit, dass die schwachen geistigen Bindungen, die noch vorhanden sind, aufrecht erhalten, ja, gepflegt werden. Auf verlegerischem Gebiet bin ich in dieser Hinsicht – das ist eine sachliche Feststellung und keine Selbstüberhebung – der einzige, der das heute noch kann. (…) Der sinnlose Mut, den allein ich zeigen könnte, würde mich die russische Lizenz kosten. Darauf würde ich pfeifen, wenn das lediglich eine wirtschaftliche Einbusse meiner verlegerischen Tätigkeit mit sich bringen würde. Aber es bringt eben mehr mit sich. Es heisst einfach, dass den Deutschen drüben auch die letzte Möglichkeit genommen ist, eine geistige und kulturelle Verbindung mit uns zu halten.«525 Hiller war dieser Argumentation gegenüber ausnahmsweise zugänglich, aber die folgende Korrespondenz zeigt die hohe Kunst der Verzögerung, der sich der Verlag befleißigte. Im Frühjahr 1950 zeigte sich Ernst Rowohlt entsetzt darüber, dass Korrekturbögen von Hiller abhanden gekommen seien, die graphische Gestaltung des Titelblatts gefiel nicht, die von einer Berliner Druckerei in Helmstedt, kurz hinter der Zonengrenze, aufgestellten Maschinen funktionierten nicht, im Herbst 1950 meldete sich Ledig-Rowohlt im Auftrag seines Vaters mit dem Wunsch, einen neuen Vertrag abzuschließen, weil derjenige von 1947 mit den neuen Verhältnissen nach der Währungsreform nicht mehr realistisch hinsichtlich der Absatzerwartung sei. Als »Köpfe und Tröpfe« Ende 1950 endlich ausgeliefert wurde, vergaß der Verlag die übliche Werbung dafür und auch für ältere Werke von Hiller in seinen Taschenbüchern. Ledig-Rowohlt fühlte sich veranlasst zur Erklärung, dass er, Hiller, 524 S. Kapitel II.2.3. 525 Ernst Rowohlt an Kurt Hiller, 30.3.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller.
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ganz sicher sein könne, »daß Sie in unserem Hause nur Freunde haben und niemanden, der etwa Ihr Buch zu sabotieren beabsichtigt«. Hiller mochte das nicht glauben, sondern eher an »Vorsatz, bösen Willen, Intrige, Lumperei«, wenn auch nicht von Ledig-Rowohlt oder Ernst Rowohlt persönlich.526 Wenn man einmal von Hillers Temperament absieht, das auch das Verhältnis zum Rowohlt Verlag trübte, so lässt sich doch gut zeigen, dass dieser aus politischen und geschäftlichen Gründen nur sehr zögerlich antikommunistische Literatur veröffentlichte. Ernst Rowohlt, zu dessen Boykott wegen kommunistischer Sympathien bereits 1951 ein »Initiativkomitee heimatvertriebener Schriftsteller« aufrief,527 stellte sich 1955 als Ehrenpräsident des BRD-Festivalkomitees für die V. Weltjugendfestspiele in Wien zur Verfügung, 1958 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Leipziger Universität, was in der Zeit von Josef Müller-Marein kopfschüttelnd kommentiert wurde.528 Das zweite Buch, eher eine »Kampfbroschüre«,529 in der Hiller seine Erfahrungen mit Kommunisten, darunter Hermann Budzislawski, Wilhelm Koenen, Alfred Meusel und Ludwig Renn, seit Mitte der 1920er Jahre und vor allem im Exil ausbreitete, war »Rote Ritter« betitelt. Nach den Erfahrungen mit Rowohlt bot er diesem den Text gar nicht mehr an. Rudolf Pechel, mit dem Hiller um 1950 eine intensive Korrespondenz unterhielt, hatte stattdessen einen unbekannten Verlag vermittelt, den Ruhr-Verlag in Gelsenkirchen. Den besonderen Wert dieses Textes sah Hiller darin, dass er aus der Sicht eines »parteilosen Linkssozialisten« schilderte, »was ich – persönlich und unmittelbar – ab etwa 1927 bis etwa 1947 von deutschkommunistischer Kanaille erlebt habe«.530 Der Kampf gegen den Kommunismus erscheine ihm aktuell besonders wichtig, weil er die Bildung einer »riesigen nationalbolschewistischen Bewegung« fürchte.531 Im Sommer 1950 teilte ihm Pechel mit, der Verlag wolle 20.000 Exemplare drucken. Hillers Vorwort datiert vom 12. Juli. Nachdem etliche Briefe gewechselt wurden, in denen es um einzelne Formulierungen ging, wurde Hiller am Ende des Jahres unruhig, weil sich seitens des Verlags nichts tat. Im folgenden Frühjahr wurde ihm schließlich mitgeteilt, dass sich der Druck verzögere, weil der Text noch – ohne dass der Autor zuvor gefragt wurde – dem Ministerium für gesamtdeutsche Fragen zur Prüfung vorgelegt worden sei, was Hiller wiederum als »Taktlosigkeit« kritisierte. Im August 1951 schrieb Hiller nach seinen Erfahrungen mit dem Ruhr-Verlag an Pechel: 526 Kurt Hiller an Ernst Rowohlt, 12.1.1950; Ernst Rowohlt an Kurt Hiller, 26.5.1950; Heinrich Maria Ledig-Rowohlt an Kurt Hiller, 26.10.1950, 28.1.1951, 25.5.1955; Kurt Hiller an Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, 11.6.1955 (die Zitate in den beiden letztgenannten Briefen), in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 527 Initiativkomitee heimatvertriebener Schriftsteller, Kassel, Dezember 1951, in: DLA, A: Ernst Jünger, Rowohlt. 528 M. M. (= Josef Müller-Marein), Der Hut aus Leipzig. Dr. Ernst Rowohlt – honoris oder humoris causa, in: Die Zeit, 16.10.1959. 529 Exposé von Kurt Hiller, Juni 1950, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100; in dieser Akte der gesamte umfangreiche Briefwechsel in dieser Angelegenheit. 530 Ebd. 531 Ebd.
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»Man ist (vermute ich) zwar an Anti-Moskau-Broschüren schon interessiert, aber nur dann, wenn die Gesinnung, aus der sie verfaßt sind, entweder verschwiegen wird oder eine sozialkonservative im Bolschewismus den sogenannten Superlativ des Sozialismus zu treffen beabsichtigende ist.«532 Die Broschüre erschien dann im zweiten Halbjahr 1951, allerdings in ungleich geringerer Auflage als versprochen; einige Exemplare übernahm der DGB, um sie kostenlos unter Gewerkschaftsmitgliedern zu verteilen. Allerdings hatte man dort Bedenken wegen USA-kritischer Stellen,533 sicherlich aber auch wegen Hillers demonstrativer Äquidistanz zu sozialdemokratischen »Ebertinern« und kommunistischen »Moskowitern«.534 Das Scheitern von Hillers Publikationsplänen zeigt eindrücklich, dass man auch als linksunabhängiger Kritiker des Kommunismus nicht außerhalb von verlegerischen Geschäftsinteressen und politischen Rahmenbedingungen agieren konnte. Im Falle von Kurt Hilller ist allerdings auch ein höchst subjektiver Faktor in Rechnung zu stellen. Ihm standen nicht nur der Rowohlt Verlag und etliche Zeitschriften publizistisch offen. Auch in den Rundfunk-Redaktionen hatte er Förderer, Fritz Eberhard beim Süddeutschen und Gerhard Szczesny beim Bayerischen Rundfunk gehörten dazu. Auch Alfred Andersch, der ja sehr unterschiedliche Positionen zu Wort kommen ließ, wäre sicherlich ein nützlicher Kontakt gewesen. Aber Hiller verstand es, seine intellektuell attraktiven Texte dadurch zu entwerten, dass er oft im gleichen Moment mit rüpelhaften Beleidigungen mögliche Kooperationsparter vor den Kopf stieß. Nachdem er, wie er Szczesny schrieb, die Zusammenarbeit mit dem Berliner Tagesspiegel und der Frankfurter Rundschau aufgekündigt hatte, weil diese ihn boykottierten,535 suchte er Streit ausgerechnet mit dem mächtigen Alfred Andersch. Er beschwerte sich brieflich beim »Direktor« des Bayerischen Rundfunks über einen Kommentar von Andersch. Dieser sei offenbar ein »Verehrer Hegel’s und Jünger’s (ob früher auch Hitler’s, bleibt zweifelhaft)«.536 Als Andersch ihn darauf hinwies, dass er keineswegs ein Verehrer Hitlers sei, was »aus den Haftlisten des Konzentrationslagers Dachau ab(zu)lesen (sei,) dessen Gründungsmitglied zu sein ich die Ehre habe«,537 erwiderte Hiller: »Sie waren Gefangener in Dachau? Hochachtung! Aber beweiskräftig gegen Nazismus ist das allein nicht. (…) Die Vermutung, daß jemand, der einen andern anrülpst, weil dieser über Hegel und Jünger das Erforderliche gesagt hat, lange auch Hitlern im Grunde seines Herzens verehrt habe, liegt verdammt nahe.«538
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Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 23.8.1951, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. Kurt Hiller an Rudolf Pechel, 22.4.1953, in: BAK, Nl. Rudolf Pechel, II/100. Hiller, Rote Ritter. Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, 11.9.1950, in: IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/1. Kurt Hiller an Direktor (BR), 21.3.1951, in: DLA, A: Alfred Andersch. Alfred Andersch an Kurt Hiller, 3.4.1951, in: DLA, A: Alfred Andersch. Kurt Hiller an Alfred Andersch, 7.4.1951, in: DLA, A: Alfred Andersch.
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Es spricht für Szczesny und seine ostentativ unabhängige Haltung, dass er dennoch über einige Jahre hinweg eine ausführliche Korrespondenz mit dem unberechenbaren Hiller unterhielt und ihm großzügige Honorare offerierte. 300 DM waren es für eine Sendung 1950, drei Jahre später lagen 1.230 DM für ihn zur Auszahlung bereit.539 Szczesny hatte ihm und einigen anderen Intellektuellen den Prospekt mit der Programmvorschau seines Nachtstudios für das erste Vierteljahr 1950 geschickt.540 Hiller antwortete mit überschwänglichem Lob und fein dosierter Kritik: »Während mancher andre Rundfunk in Deutschland durch blanken Stumpfsinn glänzt, bräunlichen, schwarzweißroten oder rotlackierten, so daß ein Mensch mit einigen Ansprüchen gar nicht mehr hinhört, widmet Radio München viele Stunden diskutierlich einem so glücklichen und würdigen Kombinat, wie es ›Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Albert Einstein‹ sind. (…) Der Einzelpunkt, zu dem ich Nein sage und zwar sehr herzhaft, ist: daß Sie einem lächerlichen Barbaren, von dem man fünf Jahre nach seinem Tode nichtmal den Namen mehr kennen wird: Ernst Jünger, die völlig unverdiente Ehre antun, ihn mit einem, haha, ›metaphysischen Planspiel‹ zwischen Nietzsche und Freud einzureihen.«541 Szczesny nahm danach ein Manuskript von Hiller über das Verhältnis von Demokratie und Aristokratie für seine Sendung an, und man blieb darüber im Gespräch. Wenngleich er Hillers Ziel eines platonischen »Rates der Geistigen«, die dieser als »Logokratie« propagierte, für »völlig illusorisch« hielt, forderte er ihn doch auf, wieder ein Manuskript zu schicken, er werde immer sein »Möglichstes versuchen, Sie bei uns durch die zahlreichen Klippen hindurchzubringen«.542 Dies galt etwa für einen Vortrag über Wahlrechtsfragen, den Hiller selbst bei der BBC auf eine Schallplatte sprach, die dann nach München geschickt wurde.543 Szczesnys Konzeption, für die dieser auch Hiller zu gewinnen suchte, war die Herstellung einer Zusammenarbeit »aller nicht bolschewistischen sozialistischen Gruppen«.544 Er sah sich letztlich beim Rundfunk in einer ähnlich außenseiterischen Position wie der
539 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 27.3.1950; 14.8.1953, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Bayerischer Rundfunk. 540 Vgl. die Vorschau für das erste und dritte Vierteljahr 1950 in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/2. 541 Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, 11.11.1949, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller; Bayerischer Rundfunk; dort auch der Programm-Prospekt; zur Korrespondenz befindet sich die Parallelüberlieferung in Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/1, so dass jeweilige kleinere Lücken gut geschlossen werden können. 542 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 27.5.1950, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Bayerischer Rundfunk. 543 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 24.6.1950, in: ebd.; diese Platte kam abhanden und tauchte erst nach einem Jahr wieder auf; etliche Briefe wurden dazu gewechselt. 544 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 25.7.1950, in: ebd.
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von Hiller545 und bot ihm deshalb an, im Nachtprogramm des NWDR oder auch des Bayerischen Rundfunks die unterschiedlichen Gedanken zum Verhältnis von Demokratie und Sozialismus in Briefform auszutauschen.546 Dem entzog sich Hiller mit dem Argument, derart schwierige Probleme könnten nicht »in so knappem Zeitraum« behandelt werden.547 Szczesny versuchte ihn umzustimmen: »Wenn man Ihre These konsequent zu Ende denkt, gibt es ja eigentlich kaum noch eine Frage von Bedeutung, die in kürzerer Form – und nur die kurze Form kommt für Rundfunk und Presse in Frage – abgehandelt werden könnte. (…) Ich kenne das Dilemma zwischen der Notwendigkeit, eine Sache gründlich und exakt darzustellen und dem Wunsch, ihr möglichst weite Verbreitung zu geben, recht genau und weiss, dass sich dahinter eines der ernstesten Probleme der modernen Massengesellschaft verbirgt. Andererseits weiss ich aber auch, dass sich zumindest bis zu einer bestimmten, gar nicht so oberflächlichen Grenze politische und weltanschauliche Sachverhalte durchaus in kurzer Form darstellen lassen. (…) Einem einzelnen Sprecher am Rundfunkapparat eine Dreiviertelstunde lang zuzuhören ist eine ungewöhnliche Anstrengung, der sich sicher nur ganz Wenige unterziehen.«548 Als Szczesny ein Jahr später nochmals auf die von ihm gewünschte Sendung zurückkam, erhielt er einen recht unfreundlichen Brief von Hiller. An seiner Weigerung habe sich nichts geändert; Szczesny kenne nicht die »Kritik der Demokratie« großer Denker von Platon über Kant, Goethe, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche, Shaw bis zu Nelson, er kenne auch seine Analyse der Demokratie nicht, habe er doch »ein absolut lächerliches Zerrbild« davon geliefert.549 Diesen Brief beantwortete der leicht verärgerte Szczesny nicht. Erst einige Monate später unternahm er einen neuen Vorstoß, in dem er ankündigte, dass ein grundsätzlicher Brief an Hiller, ohne Namensnennung, in einer Nummer der Literatur von Hans Werner Richter erscheinen werde.550 Die Absicht, Hiller damit aus der Reserve zu locken, rief allerdings nur dessen Wutanfall hervor: »Jetzt wollen Sie mich durch Drucklegung ihrer sachlich unfundierten und im Ton ungehörigen Äußerung zu einer Erwiderung provozieren. Ich provoziere selber gern, aber ich lasse auch im Grundsatz mich nie provozieren. (…) Vor längerm las ich (ich glaube, in der DUZ, Göttingen) daß im Rahmen Ihres ›Nachtstudio‹ der stotternde Clown und Hitler-Enthusiast Heidegger (Martin) seinen 545 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 22.9.1950, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/1, 72. 546 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 17.8.1951, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller, Bayerischer Rundfunk. 547 Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, 21.8.1951, in: ebd. 548 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 24.8.1951, in: ebd. 549 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 12.5.1952; Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/1, 107 ff., 114 ff. 550 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 9.10.1952, in: ebd., 122 ff.
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Philosophatsch vortragen durfte. Ich habe allerhand Verständnis für Unparteilichkeit oder Überparteilichkeit von Rundfunk-Instituten. Aber ein Relativismus, der Kreaturen wie dieses Subjekt hinein in die geistige Bewegung rechnet, ist zwar wie alles, auch der Massenmord an Kindern, Gegenstand meines psychologischen Begreifens, nicht jedoch Gegenstand meiner Toleranz. (…) Der Wert Ihres Eintretens für Teile meines Gedankenwerks war damit genullt.«551 Es spricht für Szczesny, dass er sich für diesen Brief zwar nicht bedankte, sich aber auch nicht auf das Niveau von Hillers Beschimpfungen begab und zudem anbot, in seiner Eigenschaft als Redakteur des Bayerischen Rundfunks weiterhin Vorschläge von ihm zu prüfen.552 Anfangs mit nationalneutralistischen Positionen verknüpft, zeigte sich bald ein genuin linkes und zunehmend eigenständiges Interesse am Marxismus, das in Kreisen der jüngeren Intellektuellen ein attraktives Motiv der Politisierung bildete. Die Gründerjahre der Bundesrepublik in der dramatischen Phase des Kalten Krieges waren noch bestimmt vom Kampf staatlicher und halbstaatlicher Institutionen gegen den scholastischen Marxismus-Leninismus. Nicht nur die AbendlandIdeologen, auch einige Ex-Kommunisten aus dem Umkreis des Kongresses für Kulturelle Freiheit wetteiferten in der Radikalität ihrer Invektiven. Franz Borkenau, vor 1933 führender kommunistischer Studentenfunktionär, verweigerte im Merkur jedes Gespräch mit dem Argument, das »Gerede von der Wissenschaftlichkeit des Marxismus (sei) wertlos, es grenzt an Betrug«. Und besonders verdammenswert sei der Rettungsversuch seiner »westeuropäischen Verwässerung«, da habe schon Lenin »völlig recht« gehabt.553 In diesem Sinne verwarf er auch den Titoismus als gefährlichen Täuschungsversuch.554 Eine andere Meinung vertrat in der Debatte über den Marxismus im Merkur Jürgen von Kempski. Wie Borkenau teilte er die Auffassung, dass es sich beim Marxismus um einen wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zugänglichen Glauben handle, aber es gebe in Deutschland eine »Marx-Renaissance«, die eine Diskussion unumgänglich mache.555 Klügere konservative Publizisten mahnten immer wieder, dass der herkömmliche Antikommunismus nicht mehr ausreiche, um in der intellektuellen Auseinandersetzung bestehen zu können. Hans Schuster schrieb im Merkur von der »Gefahr (…), daß der Konservativismus den Mangel an eigener Substanz durch Anti-Marxismus zu ersetzen bemüht ist«.556 Insofern gab es, über die gouvernementale Propaganda gegen den Marxismus-Leninismus hinausgehend, schon in der Gründerphase der Bundesrepublik Bemühungen auf konservativer Seite zu einer fundierten Auseinandersetzung. So bemühte 551 Kurt Hiller an Gerhard Szczesny, 13.10.1952, in: ebd., 124 f. 552 Gerhard Szczesny an Kurt Hiller, 30.10.1952, in: ebd., 126. 553 Franz Borkenau, Hundert Jahre Marxismus, in: Merkur, Jg. 2, 1948, S, 321-333, Zitate S. 322 f. 554 Ders., Tito und die kommunistischen Häresien, in: Merkur, Jg. 4, 1950, S. 241-252. 555 Jürgen von Kempski, Das kommunistische Palimpsest, in: Merkur, Jg. 2, 1948, S. 53-68, Zitat S. 55. 556 Hans Schuster, Konservativ in unserer Zeit, in: Merkur, Jg. 13, 1959, S. 69-84, Zitat S. 83.
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sich Thilo Koch, den Nachtprogramm-Chef des WDR, Carl Linfert, davon zu überzeugen, dem Theologen Helmut Thielicke »in Ihrer Sendezeit einmal Raum« zu geben. Er habe in der Zeitschrift Universitas »eine ungewöhnlich klare und gelungene Interpretation des viel besprochenen Problems« präsentiert.557 Die Notwendigkeit einer ernsthaften Auseinandersetzung ergab sich schon aus dem Umstand, dass die marxistische Herausforderung nicht aus dem Osten, sondern aus dem Westen kam. So informierte der Publizist Christian E. Lewalter (1892-1956), der vor allem für den NWDR und die Zeit schrieb und sich bereits vor 1933 mit Fragen des Marxismus und der Wissenssoziologie beschäftigt hatte, über die existenzialistische Lesart von Marx bei Merleau-Ponty in Les Temps Modernes. Im »Zeitalter des Positivismus« habe zwar auch der Marxismus entsprechende Metamorphosen durchlebt –, Plechanow, Mehring, Kautsky, aber auch Lenin standen für diese Linie – aber nun sei mit dem Stalinismus der »eschatologische Gehalt der Botschaft« wieder hergestellt worden.558 Eine wichtige Rolle spielte bei solchen Beiträgen die Wiederentdeckung der »Frühschriften« von Marx im Umkreis der »Deutschen Ideologie« (1844), die bereits 1932 von dem Hamburger Politikwissenschaftler Siegfried Landshut ediert und dann 1953 erneut publiziert wurden.559 Die Potentiale eines »humanistischen«, »entfremdungskritischen« und »anthropologischen« Marxismus sprachen sich zu Beginn der 1950er Jahre unter linken Intellektuellen allmählich herum. In den Gründerjahren der Bundesrepublik regten sich vor diesem Hintergrund erste Initiativen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem theoretischen Gehalt des Marxismus, etwa im Rahmen der evangelischen Akademiearbeit, der sich gerade hier ökumenisch weitete. Walter Dirks schrieb in diesem Sinne an Klaus von Bismarck: »Ich bin der Meinung, dass wir vom marxistischen Grundansatz ungemein viel und sehr Wesentliches zu lernen haben, so viel, dass mit der Rezeption des rezipierbaren Marxismus geradezu eine neue Epoche der christlichen Seelen- und Frömmigkeitsgeschichte beginnen würde.«560 Die »Marxismuskommission« der Evangelischen Studiengemeinschaft, an deren Arbeit sich Bismarck und Dirks engagiert beteiligten,561 hatte ihre Arbeit, die vom Weltkirchenrat angeregt worden war, 1951 aufgenommen. Die jüngeren Forscher, 557 Thilo Koch an Carl Linfert, 11.6.1949; Carl Linfert an Thilo Koch, 11.7.1949, antwortete zurückhaltend, da er ein »negatives Vorurteil« gegen Thielicke hege; in: BAK, Nl. Thilo Koch, 133. 558 Christian E. Lewalter, Metamorphosen des Marxismus, in: Merkur, Jg. 3, 1949, S. 209228, Zitate S. 218, 225; vgl. auch ders., Die Faszination des Marxismus, in: Merkur, Jg. 5, 1951, S. 680-683. 559 Vgl. Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik, Frankfurt a. M. 1997. 560 Walter Dirks an Klaus von Bismarck, 20.6.1948, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 23 B. 561 Vgl. Unterlagen in AdsD, Nl. Walter Dirks, 60.
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darunter Erich Matthias und Iring Fetscher, konzentrierten sich, anders als sonstige Kommunismuskritiker, auf die Quellen von Marx und Engels. Die Ereignisse in Ungarn und Polen 1956 lieferten »eine Art Bestätigung für die These der Marxismuskommission (…), daß die inhaltlichen Gegensätze zwischen dem ›Anliegen‹ von Marx und der Realität von Staaten des sowjetischen Typs zum Argument für deren revolutionäre Veränderung werden könnten«.562 Zwar wurden die Arbeiten der Marxismuskommission nicht von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen,563 kursierten aber durchaus unter Intellektuellen. Auch die Schriften von Georg Lukács, die in der DDR bis 1956 ediert worden waren – seither galt er als Dissident –, wurden in der Bundesrepublik weitergereicht. So erbat etwa Joseph Drexel von seinem Freund Ernst Niekisch die »Zerstörung der Vernunft«, weil Ernst von Salomon, Lektor beim Rowohlt Verlag, das Buch lesen wolle.564 Bei der Wiederentdeckung des Marxismus als attraktivem Welterklärungsangebot für junge Intellektuelle spielte die sogenannte Frankfurter Schule um das zur Gründung der Bundesrepublik in die Mainmetropole zurückgekehrte Institut für Sozialforschung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eine wichtige vermittelnde Rolle. Adorno hatte mit seiner Frau Gretel 1953 wieder seine alte Wohnung im Kettenhofweg bezogen. So wie bei der Gruppe 47 handelte es sich allerdings um eine komplizierte Konstellation. Hatte sich jene zunächst als vollständig literarische Gemeinschaft von Nonkonformisten konstituiert, die sich erst im Laufe der Jahre offen links politisierte, präsentierten sich die aus dem New Yorker Exil zurückgekehrten Dioskuren der Kritischen Theorie als Vertreter der reinen akademischen Sozialwissenschaft. Während sie, zusammen mit ihrem getreuen Adlatus Friedrich Pollock, nach Deutschland zurückgekehrt waren, setzte ihr weiter links stehender Kollege Herbert Marcuse, der die offen antikapitalistische Kritik nicht verworfen hatte, seine intellektuelle Karriere in den USA fort.565 Auch dadurch erhielten Adorno und Horkheimer die Möglichkeit, ihre Interpretation der Kritischen Theorie als alleingültige Interpretation zu vertreten. Marcuse, der in ständigem Austausch mit den Deutschland-Rückkehrern stand, wurde erst in den 1960er Jahren zum Theorie-Guru der Studentenbewegung.566 Ein Jahrzehnt zuvor galt er nur als Geheimtipp unter Kennern. So empfahl etwa Karl Korn seinem Briefpartner Ernst Niekisch schon 1949 eine Broschüre mit dem Titel »Über einige soziale Folgen moderner Technik«, die er von Heinz Maus erhalten hatte; 562 Iring Fetscher, Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen, Hamburg 1995, S. 408 ff., Zitat S. 409; vgl. zur Biographie Hans Karl Rupp, Iring Fetscher. Fortschritt und Menschenrechte, in: Rupp/Noetzel, Macht, S. 45-54. 563 Unterlagen zur Rezeption in AdsD, Nl. Walter Dirks, 106. 564 Joseph Drexel an Ernst Niekisch, 25.8.1954, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b. 565 Müller, Krieger. 566 S. Kapitel III.3.
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im gleichen Brief hatte er aber gleichrangig auch eine ältere Schrift des rechtskonservativen jüdischen Publizisten Hans-Joachim Schoeps zum Problem der Technik erwähnt.567 Nur zögerlich und vorsichtig, aber dann mit großem Erfolg begaben sich Adorno und Horkheimer auf das Terrain der medialen Öffentlichkeit. Die Beziehungen zwischen ihnen und der Gruppe 47 waren sehr komplex und würden eine eigene Darstellung verdienen. Adorno und Horkheimer konnten mit nationalneutralistischen Gedankengängen wenig anfangen und unterstützten das Verständnis für die moderne liberale Kultur des Westens, wie sie etwa im Kongress für Kulturelle Freiheit vertreten wurde, und keineswegs linksnationalistische Gedankengänge, wie sie Richter oder Andersch vorschwebten. Dafür spricht etwa, dass sich Adorno als Berater bei der Aufstellung der Bundeswehr bzw. ihrer Konzeption der »Inneren Führung« für den »mündigen Bürger in Uniform« betätigte.568 Gleichzeitig verschaffte das auch der neuen Armee demokratische Legitimität. Allerdings ist der Gesamtkontext zu bedenken. Im repräsentativen mehrbändigen »Handbuch der Inneren Führung« kamen Adorno oder andere Vertreter der Frankfurter Schule nicht einmal vor, hier dominierten Abendland-Ideologen und andere konservative Intellektuelle.569 Gleichwohl unterhielt Adorno enge Arbeitsbeziehungen zu Andersch, aber auch zu den Frankfurter Heften von Walter Dirks, zu Karl Korn von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und zum Suhrkamp-Verlag, zu Schriftstellern und Literaturkritikern wie Walter Höllerer, der 1954 die einflussreiche Zeitschrift Akzente gegründet hatte,570 und anderen lokalen Intellektuellen. Das Institut für Sozialforschung wurde ein Teil und zugleich die Schmiede für den Theoriebedarf des heterogenen linksintellektuellen Frankfurter Milieus, das wohl an keinem anderen deutschen Ort in den 1950er Jahren so eng vernetzt war.571 Die Sympathien für linkssozialistische und kommunistische Ideen, die sie und etliche der Mitarbeiter des alten Instituts in der Zwischenkriegszeit gehegt hatten, waren zwar verflogen, auch die Synthese des Marxismus orthodoxer Observanz mit psychoanalytischen Anteilen zur Erklärung der »subjektiven Frage« stand nicht mehr im Fokus ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen. Dennoch repräsentierten sie mehr als »normale«, immer noch außenseiterische Wissenschaft, ging es ihnen doch von vornherein um politische Aufklärung, um jede Wiederholung der Katastrophe von 1933 zu verhindern. In diesem Sinne charaktisierte Peter Suhrkamp Adornos »Minima Moralia« als »eine Gelegenheit, die aufkommende 567 Karl Korn an Ernst Niekisch, 15.1.1949, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 c. 568 Vgl. Clemens Albrecht, Expertise versus demonstrative Politikberatung: Adorno bei der Bundeswehr, in: Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 297-308. 569 Vgl. Schildt, Schicksalsfragen. 570 Vgl. Helmut Böttiger, Elefantenrunden. Walter Höllerer und die Erfindung des Literaturbetriebs, Berlin 2005, S. 93 ff. 571 Vgl. Boll/Gross, Frankfurter Schule.
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allgemeine Restauration fragwürdig zu machen«.572 Der Gegner war damit klar ausgemacht, nämlich das »ganze Gezücht von Obskuranten, gegen die man noch den Heidegger verteidigen muß, weil sie ihn ins offiziell Optimistische umbiegen. Von den amtierenden Herren dieser Art ist wohl Bollnow der schlimmste; es ist die ganze deutsche Luft von diesem Zeug verpestet.«573 So schrieb Adorno auch in einer kleinen Zeitschrift, die im Titel den Gegenbegriff, die Aufklärung, auf ihr Banner geschrieben hatte. Die monatlich erscheinende Aufklärung brachte es nur auf zwei Jahrgänge – 1951/52 und 1952/53 –, befasste sich mit Wissenschaft, Philosophie und Religion und verstand den Titel in klassischer Weise: »Vernunfthaben und Menschsein sind für uns dasselbe. Deshalb wollen wir dem, was ›unvernünftig‹ ist, vernünftige Gedanken entgegensetzen.«574 In der Aufklärung schrieben neben Adorno kritische Geister und Marxisten wie Böll und Kofler, aber auch Intellektuelle wie Martin Buber und Maurice Halbwachs. Bevorzugte Gegner, an denen man sich abarbeitete, waren Ernst Jünger und Carl Schmitt.575 Innerhalb des eigenen Faches bestimmte frühzeitig die Abgrenzung zum jungen Helmut Schelsky die Linie des Frankfurter Instituts. Über dessen NS-Vergangenheit waren Adorno und Horkheimer offenbar gut informiert. Der Grund für die besondere Animosität lag allerdings in der Gegenwartskonstellation. Schelsky, bis 1953 an der Akademie für Gemeinwirtschaft und dann der Universität in Hamburg lehrend, aber bereits eng mit der Sozialforschungsstelle Dortmund als Zentrum ehemaliger NS-Soziologen vernetzt, verfolgte sehr erfolgreich sein Konzept einer strikt antimarxistischen Deutungswissenschaft. Adorno fürchtete dabei besonders den Einfluss Schelskys auf die Gewerkschaften, die dieser zur sozialfriedlichen Aufgabe des Klassenkampfes treiben wolle.576 Erst vor diesem Hintergrund ist die vor572 Peter Suhrkamp an Walter Dirks, 28.3..1951, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 66 A. 573 Theodor W. Adorno an Hans Magnus Enzensberger, 22.4.1958, in: Archiv der AdK/ TWAA; gemeint ist Otto Friedrich Bollnow (1903-1991); zu Adornos Heidegger-Kritik vgl. Müller-Doohm, Adorno, S. 652 ff.; der Begriff des Obskurantismus hatte bereits in den Schriften von Theoretikern der Zweiten Sozialistischen Internationale – bis hin zu Lenin – immer wieder Verwendung gefunden. 574 Erklärung der Redaktion, in: Aufklärung, Jg. 1, 1951/52, Heft 1, S. 2. 575 Ausführungen zum Charakter der Zeitschrift und ihrer Krise im Brief von Heinz Maus an Ernst Niekisch, 19.6.1952, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 21 d. 576 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Briefwechsel 1927-1969, Bd. IV: 1950-1961. Briefe und Briefwechsel 4, Frankfurt a. M. 2006, S. 42 f.; vgl. Müller-Doohm, Adorno, S. 514; zur Sozialforschungsstelle vgl. Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie 1945-1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluss, Berlin 1984, S. 217 ff.; Christoph Weischer, Das Unternehmen »Empirische Sozialforschung«. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, S. 63 ff.; Jens Adamski, Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946-1969, Essen 2009; Ulrike Kändler, Entdeckung des Urbanen. Die Sozialforschungs-
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sichtige Zurückhaltung gegenüber Schelsky in der Öffentlichkeit zu verstehen. Es ging um die Einrichtung auf einem – heute würde man sagen: drittmittelrelevanten – Terrain der Gewerkschafts- und Betriebsempirie und damit zugleich um die Deutungshoheit auf einem gesamtgesellschaftlich zentralen Feld. Während etwa sein Institutskollege Heinz Maus, vormals Assistent von Ernst Niekisch und 1959 als dritter Sozialwissenschaftler – nach Abendroth und Werner Hofmann – an die Universität Marburg berufen, eine prinzipielle Auseinandersetzung mit Schelsky forderte, mahnte Adorno zur Vorsicht: »Schelsky ist, auch wenn sich das bei der Menge des von ihm Produzierten nicht immer erweist, ein sehr gescheiter Mann. Jede Polemik gegen ihn, die einen bloß dogmatischen Charakter hätte und nicht dadurch über ihn hinausgeht, daß sie die von ihm hervorgehobenen Tendenzen, anstatt sie zu verleugnen, besser erklärt als er, wäre ein Bumerang.«577 Für Adorno bildete, wie dieser Brief zeigt, nicht der Geschichtsoptimismus orthodoxer marxistischer Provenienz einen Gegensatz zum konservativen Kulturpessimismus. Für Pessimismus bestand nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts als Aufgipfelung »negativer Dialektik« durchaus Grund. Vielmehr ging es um unterschiedliche Interessen, um die raunende Verdunkelung von Macht und Manipulation auf der einen und von Aufklärung auf der anderen, eigenen Seite. Dass es auf den ersten Blick gar nicht so leicht war, die Grundlagen des jeweiligen Kulturpessimismus zu erkennen, mochte aber sogar im strategischen Interesse Adornos gelegen haben, erhielt er doch dadurch eine Fülle von Ansatzpunkten zu zeitgenössischer Gesellschaftskritik. Immer wieder verdeutlichte er begleitend in kleinen Essays und noch viel deutlicher vor der Hörerschaft seiner Vorlesungen, dass nicht im Überwiegen der materiellen zivilisatorischen Güter über die Kultur das Problem der Gegenwart liege, sondern in der verweigerten Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse.578 Adorno und Horkheimer bemühten sich darum, ihr Frankfurter Institut zu einer Begegnungsstätte gerade für junge Intellektuelle zu machen, die auf der Suche nach Erkenntnissen jenseits des Mainstreams waren. Anfang der 1950er Jahre sondierte Leo Kofler bei Adorno Möglichkeiten einer Mitwirkung;579 Ralf Dahrendorf, in Hamburg mit einer Arbeit über den Freiheitsbegriff bei Karl Marx promoviert, gehörte dem IfS Mitte der 1950er Jahre zeitweise an, hielt allerdings das durch »eine missliche Mischung von Brutalität und Komplizentum«580 geprägte
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stelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930-1960, Bielefeld 2016. Theodor W. Adorno an Heinz Maus, 14.9.1955, zit. nach Müller-Doohm, Adorno, S. 514. Vgl. Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 2000, S. 580 ff. Jünke, Strandgut, S. 306 ff. So Ralf Dahrendorf rückblickend in den 1970er Jahren, zit. nach Franziska Meifort, Ralf Dahrendorf. Eine Biographie, München 2017, S. 61.
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Institutsleben nicht lange aus. Ihm war es darum gegangen, Marx nicht einfach zu überwinden, sondern durch eine eigene Klassentheorie aufzuheben. Er verstand es ausgezeichnet, mit der Kritik an den Größen der Soziologie – neben dem Marxismus fertigte er zugleich den Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons ab – eine Art Wunderkind-Image zu generieren. Die Ausarbeitung einer eigenen Konflikt- und Rollentheorie verband sich hervorragend mit der Erzeugung von Medienaufmerksamkeit im intellektuellen Feld. Im IfS sollte er dagegen lediglich als Zuarbeiter für empirische Betriebsforschung fungieren. Das entsprach nicht seinen Vorstellungen. Nach der, so erinnerte sich Dahrendorf, in acht Wochen hingepfuschten Habilitationsschrift von 270 Seiten, bei der er auch den Mitgutachter Helmut Schelsky unerschrocken kritisierte, ging er 1957 für einen Gastaufenthalt nach Stanford.581 Wie Dahrendorf, der erste Rundfunkbeiträge beim NWDR bereits als 18-jähriger Student untergebracht hatte, nicht zuletzt mit der Patronage des sozialdemokratischen Netzwerks seines Vaters, war auch Jürgen Habermas ein intellektueller Frühstarter – allerdings von höherem theoretischen Gewicht –, der sich mit Aufsehen erregenden Zeitungsbeiträgen für FAZ und Handelsblatt als 23-Jähriger in der Szene profilierte. Wie viele Linksintellektuelle trieb ihn die Frage um, wie aus der humanistischen Lehre von Marx etwas so Inhumanes wie der Stalinismus entstehen konnte.582 Auf diese Frage erhoffte er in Frankfurt Antworten, auch auf ihn übte das IfS deshalb große Anziehungskraft aus. Aber auch er wollte das Institut bald, lieber früher als später, verlassen. Gleichwohl festigte das IfS in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ein progressives Image, das wiederum jüngere Konservative auf Abstand hielt. So erinnerte sich Elisabeth Noelle-Neumann, ein Angebot von Adorno, als Gastwissenschaftlerin nach Frankfurt zu kommen, abgelehnt zu haben, weil sie ihn »verabscheute«.583 Umgekehrt wiederum lehnte Adorno die Bitte von Wilmont Haacke ab, im Impressum der Zeitschrift Publizistik als Mitarbeiter genannt zu werden, weil er, »und niemand wird das besser verstehen als Sie, in keiner Form mit Herrn Dovifat gemeinsam erscheinen möchte«.584 Was die Frankfurter Schule als Intellektuellenformation von Anfang an charakterisierte, war der Drang zur Wirkung über die akademische Öffentlichkeit hinaus. Als ein Standbein dafür fungierte die politische Bildung, die am Ende der 1950er Jahre mit der »Aufarbeitung« der NS-Vergangenheit und der Be-
581 Vgl. ebd., S. 74 ff. 582 Jürgen Habermas, Marx in Perspektiven, in: Merkur, Jg. 9, 1955, S. 1180-1183; vgl. zum Hintergrund ausführlich Yos, Habermas, S. 285 ff. 583 Elisabeth Noelle-Neumann, Die Erinnerungen, München 2006, S. 195; kritisch zu deren latentem Antisemitismus Jörg Becker, Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus, Paderborn 2005. 584 Theodor W. Adorno an Wilmont Haacke, 19.6.1959, in: Archiv der AdK/TWAA.
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kämpfung des Antisemitismus enorme Schubkraft erhielt.585 Volkshochschulen, Gewerkschaftsseminare, kirchliche Diskussionskreise und andere Formen der Jugend- und Erwachsenenbildung, aber auch zahlreiche Lehrer, die einige Semester bei Horkheimer und Adorno studiert hatten, bildeten eine aufklärerische Phalanx von »Adorniten«, die sich bereits Mitte der 1950er Jahre bisweilen eines erkennbar Frankfurter soziologischen Jargons bedienten, der Ausdruck einer sich als isoliert empfindenden Avantgarde war.586 Das konzeptionell Neue der politischen Bildungsarbeit war das Modell der Partizipation im Sinne der Demokratie als Lebensform, die Adorno bei verschiedenen Treffen vor allem mit Wolfgang Abendroth diskutiert hatte.587 Die Praxis von Abendroths Seminaren, bei denen zunächst ein studentischer Diskussionsleiter gewählt wurde, war für deutsche Verhältnisse revolutionär.588 Zwar kann es mittlerweile als widerlegt gelten, die Frankurter Schule in den 1950er Jahren als bloße »kritische Zierde einer restaurativen Gesellschaft«589 zu verstehen. Aber auch die mittlerweile dominierende gegenteilige Position erfasst ihre Bedeutung nicht hinreichend. Die Frankfurter Schule kann nicht der staatlichen Gründung als »intellektuelle Gründung der Bundesrepublik« einfach an die Seite gestellt werden.590 Diese These soll die Vorstellung der Außenseiterposition anhand der Rezeption in den Medien widerlegen. Tatsächlich verfügte das IfS über zahlreiche wichtige Kontakte zu Redakteuren in meinungsbildenden intellektuellen Medien, den Frankfurter Heften, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Merkur und den politisch-kulturellen Abteilungen des Rundfunks. Nicht selten handelte es sich dabei um Schüler von Adorno und Horkheimer. Der Befund einer regen publizistischen Aktivität ist eindeutig.591 Eine wichtige Bastion dafür war der Hessische Rundfunk. Während beim NWDR – abgesehen von der unmittelbaren Nachkriegszeit – keine Remigranten anzutreffen waren, gab es in Frankfurt enge Kontakte zwischen dem Hessischen Rundfunk und dem zurückgekehrten Institut für Sozialforschung. Andersch organisierte bereits 1950 das Gespräch zwischen Horkheimer, Adorno und Kogon über »Die verwaltete Welt oder: Die Krisis des Individuums« oder »Die Menschen und der Terror«, in denen die Frankfurter Dioskuren ihre
585 Clemens Albrecht, Im Schatten des Nationalsozialismus. Die politische Pädagogik der Frankfurter Schule, in: ders., Gründung, S. 387-447. 586 Vgl. Demirovic, Intellektuelle, S. 592 ff. 587 Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S. 571 ff. 588 Vgl. Richard Heigl, Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken (1950-1968), Hamburg 2008, S. 271. 589 So ein klassisches Zitat von Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1986, S. 479; Wiggershaus blendete in seinem Werk die Sphäre der öffentlichen Wirkung weitgehend aus. 590 Albrecht, Gründung. 591 Clemens Albrecht, Die Massenmedien und die Frankfurter Schule, in: ders., Gründung, S. 203-247.
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kulturkritischen Positionen differenziert darlegen konnten.592 Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel, dass sie Anfang der 1950er Jahre in der überregionalen intellektuellen Öffentlichkeit als feinsinnige Kulturkritiker wahrgenommen wurden, Adorno zudem als Experte für moderne Musik, und nicht als politische Intellektuelle. Zudem werden durch die »Gründungs«-These ihre Aktivitäten nicht in das gesamte intellektuelle Kräftefeld eingeordnet, die inhaltliche Schwerpunktsetzung wird nicht hinreichend reflektiert. Adornos Rundfunkaktivitäten bilden dennoch ein eindrucksvolles Kapitel für die Möglichkeiten von Intellektuellen in diesem modernen Massenmedium. Adorno betrachtete den Hessischen Rundfunk als sichere Basis, um zum einen seine Einkünfte aufzubessern und zum anderen ein breiteres Publikum zu erreichen. Er wurde zum Radio-Star, der für einen Vortrag zwischen 200 und 1.000 DM aushandelte, zuzüglich eines Sprecherhonorars, weil er seine Texte meist selbst vortrug. Für ihn, der über die hohe Gabe verfügte, in freier Rede und ad hoc druckreif sprechen zu können, war das Radio ein ideales Medium. Allerdings verzichtete er keineswegs darauf, seine »funkische« (ein Begriff der Zeitgenossen) Präsenz noch zu verbessern. Gerd Kadelbach, Redakteur des Hessischen Rundfunks von 1956 bis 1985, erinnert sich: »Als Adornos erstes Manuskript mir dann zur Durchsicht und zur Einrichtung für die Funkaufnahme vorlag, korrigierte ich auf 10 Seiten etwa 20 ›sich‹-Stellen in die für mich nur üblich erscheinende Satzstellung. Adorno verlas meinen korrigierten Text ohne jeden Widerspruch völlig unbeeindruckt und ohne jede Diskussion mit mir in der veränderten Form. Als wir uns dann später sehr viel besser kannten und ein nahezu herzliches Verhältnis zueinander hatten, habe ich ihn gefragt, warum er sich denn diesen ›Eingriff‹ damals habe gefallen lassen. ›Ich wollte doch, dass ich von meinen Zuhörern verstanden werde‹, lautete seine Antwort. Er glaubte, ich ›vom Fach‹ wisse schon am besten, wie das möglich sei.«593 Adorno war erfüllt von der Sorge, seine Kulturkritik könne in der neuen westdeutschen Gesellschaft marginalisiert werden. Die Präsenz in den modernen Massenmedien schien ihm ein Mittel gegen diese Gefahr zu sein. Der scheinbare Widerspruch, für kulturkritische Inhalte auf den kritisierten Kern, nämlich die modernen Massenmedien, angewiesen zu sein, löst sich mit Blick auf die Botschaften von Adorno im Übrigen rasch auf. Auch wenn manche Einlassung ähnlich klang wie aus dem Munde konservativer Kritiker, ging es ihm doch nicht um die Beschwörung des Werts der durch die Moderne bedrohten Kultur, sondern um die Betrachtung kultureller Phänomene als Indizien für die gesellschaftlichen Widersprüche. Allerdings wurde dabei nicht alles vor einem breiten Publikum ausgesprochen, wie 592 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13, S. 121 ff., 143 ff.; vgl. Reinhardt, Alfred Andersch, S. 178 f.; s. Kapitel II.2.2. 593 »Lieber Hans-Jochen Gamm« (MS zu dessen 60. Geburtstag Anfang 1985, o. D. [ca. 1984], S. 4), in: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a. M., Nl. Gerd Kadelbach, 23.
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aus Mitschriften seiner Vorlesungen an der Frankfurter Universität bekannt ist.594 Adorno reflektierte häufig über taktische Notwendigkeiten der Selbstzensur und semantischer Umbauten vor allem im Blick auf marxistische Begriffe.595 Umso wertvoller war es für ihn, im Rundfunk kongeniale Interpreten seiner Botschaften zu wissen, etwa seine Schüler Peter von Haselberg beim Hamburger NWDR oder Günter Lamprecht bei Radio Bremen, mit denen er sich austauschte. Die Inanspruchnahme der Expertise von Praktikern der »Kulturindustrie« bezog sich noch auf eine weitere Personengruppe: »Die Tontechnikerinnen, die für seine Aufnahmen eingeteilt waren, mussten danach in freier Rede und mit ihren eigenen Worten wiedergeben, was er gesagt hatte, und oft entspann sich daraus eine Diskussion, die weit besser und fasslicher war als der Vortrag, den er eben vor dem Mikrophon gehalten hatte. Wir hatten sehr darauf zu achten, dass, wenn er ins Funkhaus kam, entsprechende Technikerinnen eingeteilt wurden, die ihm Rede und Antwort zu stehen in der Lage waren. Lieber wurde ein Termin verschoben, als dass Adorno ohne das ihm wichtige Nachgespräch mit unserer Mitarbeiterin blieb.«596 Eine amüsante Anekdote über Adorno hat Marcel Reich-Ranicki in seinen Memoiren kolportiert. Mit ihm und dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer sollte Adorno in der Sendung »Literarisches Kaffeehaus« des Hessischen Rundfunks am 6. Juli 1966 ein Gespräch führen. Adorno kam pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt, habe aber die »traurige Mitteilung« machen müssen, er sei wegen der Einnahme eines Aufputschmittels am Tag zuvor »gänzlich übermüdet«; sie müssten das Gespräch weitgehend allein gestalten, er werde höchstens einmal einen Einwurf machen können. Tatsächlich aber dominierte Adorno das Gespräch restlos, um hinterher »eine treuherzige Frage zu stellen: War ich gut? Ja, sogar sehr gut. Auch eitel wie ein Tenor? Gewiß«.597 Dazu passt, dass Adorno nicht damit zufrieden war, zu später Abendstunde gesendet zu werden, und zudem sehr genau die Presseberichterstattung über seine Rundfunkauftritte verfolgte. Beginnend mit dem dann als Aufsatz veröffentlichten Rundfunkvortrag über die »Wiederauferstehung der Kultur« (1950) sind bis zu seinem Tod 1969 über 300 Vorträge, Interviews und Diskussionssendungen in deutschen Rundfunkanstalten gezählt worden.598 Da die ARD-Stationen untereinander vernetzt waren, musste Adorno nicht notwendigerweise in andere Städte reisen, weil Texte auch beim Hes594 Zahlreiche Hinweise in Demirovic, Intellektuelle. 595 Vgl. Georg Bollenbeck/Daniel Göcht, Erfolgreiche Wahrheitspolitik in den janusköpfigen 50ern. Adorno und Horkheimer als Virtuosen des Resonanzkalküls, in: Hochgeschwender, Epoche, S. 105-124. 596 Lieber Hans-Jochen Gamm, S. 4 f. 597 Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 457. 598 Vgl. Klaus Reichert, Adorno und das Radio, in: Sinn und Form, Jg. 62, 2010, S. 454-465; Michael Schwarz, »Er redet leicht, schreibt schwer«. Theodor W. Adorno am Mikrophon, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 8, 2011, S. 286-294.
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sischen Rundfunk eingesprochen werden konnten. Außerdem wurden die Sendungen nach ihrer Erstausstrahlung bei einem der Sender häufig von anderen Radiostationen übernommen, nahezu in jeder Woche war Adorno wohl irgendwo im Radio zu hören. Beim NWDR wollte man Ende der 1950er Jahre sogar »eine allzu grosse Massierung von Adorno-Vorträgen« vermeiden, weil diese eine sehr hohe Anforderung an die Hörerschaft stellen würden.599 Allerdings wäre es aus mehreren Gründen übertrieben, daraus bereits eine »Rundfunkhoheit der Frankfurter Schule«600 im Sinne politisch-kultureller Hegemonie in den 1950er und 1960er Jahren abzuleiten. Adorno – und an zweiter Stelle Horkheimer601 – waren zwar häufiger im Radio zu hören als prominente Kollegen unter den Philosophen wie Gadamer, Heidegger oder Jaspers oder unter den Sozialwissenschaftlern wie Gehlen, Plessner, König, Schelsky und Wiese. Aber zum einen bildeten die Professoren selbst nur eine minoritäre Gruppe bei der Vermittlung von intellektuellem Meinungswissen, zum anderen trat Adorno in den 1950er Jahren überwiegend als Musiktheoretiker oder Experte für sonstige ästhetische Themen und dann als Sozialphilosoph auf,602 eine Politisierung – etwa das Insistieren auf »Vergangenheitsbewältigung« – zeichnete sich erst ein Jahrzehnt später ab. Die Sendungen des Abend-Studios beim Hessischen Rundfunk, für die eine vollständige Statistik der Jahre 1948-1968 vorliegt, belegen das gut. Adorno liegt hier nach Zahl der Beiträge an erster Stelle der Autoren, an zweiter Stelle folgte Enzensberger, an dritter Andersch, an vierter der 1951 im Alter von 40 Jahren von Adorno promovierte Privatgelehrte Jürgen von Kempski.603 Bei Adorno lassen sich auf der Grundlage der erwähnten Begabungen besonders gut Strategien beobachten, die erfolgreiche Medien-Intellektuelle verfolgten. Adorno schrieb nämlich kaum ausschließlich für das Radio gedachte Beiträge; die dafür verfertigten oder auch spontan gesprochenen Texte fanden fast regelmäßig ihren Weg in Feuilletons, in Zeitschriftenaufsätze und von da aus wieder in Buchpublikationen mit gesammelten Essays. Die Radiosendungen galten ihm als Probelauf. Die gewachsene Routine des Auftritts wurde von ihm immer wieder auch zur öffentlichen Befestigung der eigenen Position genutzt. In weit über 100 Rundfunkgesprächen, die während seiner letzten beiden Lebensjahrzehnte entstanden, versammelte er nicht nur Freunde und Bekannte um sich. Zugleich bot er intellektuellen Konkurrenten sehr gern an, mit ihnen im Radio zu diskutieren, weil er um seine performative Überlegenheit wusste. Ein hervorragendes Beispiel eines – allerdings nicht erfolgreichen – Versuchs war der Plan eines Disputs mit Gottfried Benn. Dieser war selbst ein von den Rundfunkanstalten schmeichlerisch umworbener Star, der zudem eigene Erfahrungen mit dem Medium mitbrachte. Als einer jener 599 600 601 602
Zit. nach ebd., S. 287. Albrecht, Massenmedien, Zitat S. 228. Zur Radio-Präsenz von Horkheimer vgl. Eitler, Max Horkheimer, S. 111-113. Über seine »Minima Moralia« sprach Adorno zuerst im RIAS; vgl. Theodor Adorno an Peter Suhrkamp, 1.9.1950, in: »So müßte ich ein Engel und kein Autor sein«, S. 15 f. 603 Vgl. Sieber, Bestandsverzeichnis Nr. 4.
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rechten Intellektuellen, die 1933 gegen die Demokratie, gegen linke Intellektuelle und für die nationalsozialistische Diktatur eintraten, hatte ihm – bis 1934 – der Rundfunk offen gestanden. Als kommissarischer Leiter der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste hatte er das Mikrophon als Waffe gegen die ihm verhassten Exilanten, darunter seinen Vorgänger im Amt Heinrich Mann, benutzt und peinliche Elogen auf den »Führer« vorgetragen. Das nach seiner Entfremdung vom Regime 1938 erlassene Schreibverbot wurde von den Alliierten nach dem Krieg bald – bis 1948 – erneuert. Benns Strategie bestand darin, sein anfängliches Engagement für das »Dritte Reich« als nicht lohnend zu bedauern und vage anzudeuten, dass er einige Sätze geäußert habe, die mittlerweile gefährlich klingen könnten. Aber deshalb hätten die Entnazifizierer noch längst nicht das Recht, ihn zu behelligen. Bitter beklagte er sich 1949 über die »Anrempelei«, die er aus der sozialdemokratischen Presse Berlins erfahren habe.604 Allerdings verteidigten ihn immer wieder prominente Journalisten gegen kritische Anwürfe von links; nicht zuletzt die autoritative Stimme des Rundfunks in West-Berlin, Thilo Koch, verwahrte sich wiederholt gegen die Thematisierung von Benns anfänglicher Unterstützung des Nationalsozialismus.605 Das Radio-Revival von Benn begann im August 1948 mit einer Lesung von Gedichten für den Süddeutschen Rundfunk, es folgten bis zu seinem Tod 1956 mehr als 30 Aufnahmen für alle westdeutschen, aber auch für schweizerische Sender und den RIAS sowie den Sender Freies Berlin.606 Prinzipiell hatte Benn nichts gegen Rundfunkauftritte, sondern sah die Sache pragmatisch, also aus finanzieller Sicht. Das »übliche Interview« liebe er zwar nicht, weil der Rundfunk doch »mehr für leichte Kost da« sei und er sich dabei »immer fehl am Platze« fühle, aber wenn, wie in dem hier von ihm erwähnten Fall, der NWDR eine »Stargage« zahle, wolle er sich dem nicht entziehen.607 Sehr genau registrierte er auch, dass sich zwei Redakteure eifersüchtig um ihn bemühten. Schüddekopf, der ihn Anfang 1950 eigens in Berlin besucht hatte – Benn notierte, er habe beim NWDR »wohl eine massgebliche Position«608 – lehnte später ein über Thilo Koch dem Sender angebotenes Manuskript »Die Stimme hinter dem Vorhang« ab.609 Benn wiederum befürchtete, er könne zum Opfer einer privaten Fehde zweier Redakteure werden.610 Diese Sorge bewahrheitete sich nicht, Benn erhielt weiterhin Radio-Angebote, 1955 diskutierte er vor NWDR-Mikrophonen mit Reinhold Schneider.611 604 605 606 607 608 609
Gottfried Benn an Niedermayer (Limes Verlag), 20.8.1949, in: Benn, Briefe, S. 44. Thilo Koch, Mein Credo. Für Gottfried Benn, in: Die Zeit, 10.4.1958. Vgl. Hof, Gottfried Benn, S. 359 ff. Gottfried Benn an Niedermayer, 8.10.1949, in: Benn, Briefe, S. 46. Gottfried Benn an Niedermayer, 19.2.1950, in: Benn, Briefe, S. 69. So die Beschwerde von Thilo Koch an Carl Linfert, 5.5.1952; Carl Linfert an Thilo Koch, 8.5.1952, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 133. 610 Gottfried Benn an Niedermayer, 8.4.1951, in: Benn, Briefe, S. 100 f. 611 Gottfried Benn/Thea Sternheim. Briefwechsel und Aufzeichnungen. Mit Briefen und Tagebuchauszügen Mopsa Sternheims. Hrsg. von Thomas Ehrsam, Göttingen 2004, S. 318-320.
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Mit Benn wollte sich Adorno gern vor dem Mikrophon messen, und Alfred Andersch hatte ein großes Interesse daran, die beiden Kontrahenten zum gemeinsamen Auftritt zu verpflichten. Mit Adorno befand er sich ohnehin im Gespräch und Benn hatte er bereits im Sommer 1951 dafür gewinnen können, dass eine Rede von ihm über moderne Lyrik in Marburg von einem Übertragungsteam des Hessischen Rundfunks mitgeschnitten wurde, um sie im Abend-Studio zu senden.612 Nachdem sich Adorno und Benn im Sommer 1955 auf einer Tagung in Bad Wildungen begegnet waren, kurz danach absolvierte der Dichter noch eine gefeierte Lesung im Hörsaal A der Hamburger Universität,613 schrieb Benn einen Brief an seinen Freund F. W. Oelze und berichtete: »Ich lernte Herrn Adorno kennen, der auch einen Vortrag hielt, ein sehr intelligenter, wenig gut aussehender Jude, aber eben von der Intelligenz, die eigentlich wirklich nur Juden haben, gute Juden. Wir flogen aufeinander, nur ist er noch sehr ichbezogen, eitel und, im allerdings rechtmäßigen Sinne, geltungsbedürftig.«614 Adorno begegnete dem Schriftsteller mit einigem Respekt, wobei er sich im Klaren darüber war, dass dieser »politisch Greuel angerichtet« habe; »aber in einem höheren politischen Sinn hat er immer noch mehr mit uns zu tun, als sehr viele andere«, schrieb er an den jungen Dichter Peter Rühmkorf.615 Eben diesem Gottfried Benn hatte Andersch offenbar vorgeschlagen, ein gemeinsames Rundfunkgespräch zum »Verlust der Mitte« durchzuführen.616 Adorno wandte sich in dieser Sache umgehend an Andersch, der mittlerweile zum Süddeutschen Rundfunk gewechselt war. Offenbar hatte Adorno dabei das Thema leicht modifiziert, denn Andersch, der sich für das Projekt sofort begeisterte, wollte »auf Ihren Gedanken zurückkommen, ein Gespräch zwischen Ihnen und Herrn Gottfried Benn über das Thema l’art pour l’art abzuhalten. Sie können sich denken, wie interessiert ich daran bin, daß diese Disputation zustandekommt.«617 Mit Adorno beriet Andersch, wie die Verhandlung mit dem sensiblen Schriftstellerkollegen geführt werden sollte. Zunächst sollte Adorno an Benn schreiben, um das Gespräch nochmals anzuregen; wenn ein grundsätzliches Ja erfolge, werde er, 612 Alfred Andersch an Gottfried Benn, 1.6.1951, in: DLA, A: Gottfried Benn; Gottfried Benn an Alfred Andersch, 26.7.1951, in: DLA, A: Alfred Andersch; Benn wiederum war schon zuvor über die wichtige Position von Andersch informiert und überlegte, ob er ihn persönlich aufsuchen sollte; Gottfried Benn an Niedermayer, 11.4.1951, in: Benn, Briefe, S. 102. 613 Vgl. Hof, Gottfried Benn, S. 408 f. 614 Zit. nach Müller-Doohm, Adorno, S. 566. 615 Ebd. 616 Ebd., S. 565. 617 Alfred Andersch/SDR/Abt. Radio-Essay an Theodor W. Adorno, 19.7.1955, in: AdK, TWAA.
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Andersch, »die nötigen organisatorischen Dinge veranlassen«. Aus seiner »Kenntnis der Persönlichkeit Benns heraus« werde das Gespräch wohl als schriftlich fixiertes geführt werden. In diesem Sinne schrieb Andersch eine Woche später an Benn: »Herr Professor Theodor W. Adorno erzählte mir vor einigen Tagen, daß Sie und er sich grundsätzlich darauf geeinigt haben, einmal über das Thema ›l’art pour l’art‹ und die damit zusammenhängenden Dinge zu sprechen. Ich mache seit einiger Zeit wieder ein Radio-Nachtprogramm, und zwar am Stuttgarter Sender und bin, wie Sie sich denken können, verehrter Herr Dr. Benn, selbstverständlich brennend interessiert daran, daß diese Unterredung zustande kommt.«618 Die Sendung sollte eine bis eineinhalb Stunden dauern, die Form des Gesprächs, frei, halb oder komplett schriftlich fixiert, sollten die beiden Diskutanten unter sich aushandeln, geboten wurden für jeden der beiden Teilnehmer 600 DM und die Übernahme der Kosten für Reise und Unterbringung.619 Nachdem Benn sich Bedenkzeit erbeten hatte, worüber Andersch Adorno umgehend informierte,620 erinnerte der Radioredakteur Benn nochmals: Golo Mann habe gerade einen Aufsatz geschrieben, in dem er mit der Behauptung schließe, dass sich die deutschen Intellektuellen über »l’art pour l’art« unterhielten und dies ein Zeichen dafür sei, »dass eine solche Diskussion immer das Zeichen einer stabilen Gesellschaft sei. Hoffentlich gelingt es Ihnen und Herrn Adorno, diese Stabilität ein wenig in Frage zu stellen. Allen Ernstes: Ich fände es sehr schade, wenn das Gespräch nicht stattfände.«621 Inzwischen hatte sich auch Hans Magnus Enzensberger, der Assistent von Andersch beim SDR, mit der Sache befasst. Gemeinsam hatten die beiden mit Adorno beraten, der das Thema umformuliert hatte. Es sollte nun lauten: »Reine oder engagierte Kunst?« Als Zugeständnis an Benn kann die Aussage von Andersch gelesen werden, das Gespräch solle nicht öffentlich, »sondern in der Abgeschiedenheit des Studios« stattfinden, damit es seinen »Gesprächscharakter« nicht verliere.622 Mit einem sehr freundlichen Brief an Benn schaltete sich nun auch Adorno noch einmal ein. Es wäre für ihn »eine große Freude, vor allem natürlich wegen
618 Alfred Andersch/SDR/Abt. Radio-Essay an Gottfried Benn, 26.7.1955, in: DLA, A: Gottfried Benn. 619 Die Höhe des Honorars betrug das Doppelte des von den Rundfunkanstalten üblicherweise gezahlten Satzes. Für 1957 nennt Tauber, Nachtprogramm, S. 65 für das BR-Nachtprogramm 250 bis 350 DM für ein Gespräch. 620 Alfred Andersch/SDR/Abt. Radio-Essay an Theodor W. Adorno, 11.8.1955, in: AdK, TWAA. 621 Alfred Andersch an Gottfried Benn, 11.8.1955, in: DLA, A: Gottfried Benn. 622 Alfred Andersch an Gottfried Benn, 22.11.1955, in: DLA, A: Gottfried Benn.
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der Möglichkeit, Sie wieder zu sprechen«. Einen Abend wie in Bad Wildungen »vergisst man nicht«.623 Auch Enzensberger hatte versucht, auf Benn einzuwirken. Sein Argument lautete, dass dieser ja selbst »einer der ersten« gewesen sei, die vom Radio »den Gebrauch machten, den wir alle für wünschbar halten«.624 Aber dieser Appell fruchtete nicht, wie Benn in seiner Antwort auf den Brief Adornos verdeutlichte. Nach einer freundlichen Einleitung und einer erneuten Kritik des Themas folgte nämlich eine Passage, die eben das Gefühl der Unterlegenheit Adorno gegenüber im Medium des Radios ansprach: »Ich muß von vornherein sagen, daß ich mir keinen interessanteren Gesprächspartner als Sie vorstellen könnte, aber Sie sind gefährlich und mir dialektisch weit überlegen und beherrschen viel mehr Material, wissenschaftliches wie ästhetisches, zu allen diesen Themen als ich. Ich müßte also enorm arbeiten, um einem Gespräch mit Ihnen gewachsen zu sein und dazu habe ich für ein Rundfunkgespräch gar keine Lust.«625 Ein letztes Mal kam Andersch in einem Brief an Benn im Januar 1956 auf den Gesprächsplan zurück. Er teilte ihm mit, dass auch Adorno die Sache nun »etwas problematisch geworden« sei und dass dieser meine, »da ja Benn selbst an die Sache nur recht zögernd und mit einem gewissen Widerstand heranging«, sei dieser wohl auch dafür, sie erst einmal zu verschieben. Andersch meinte wiederum zu Benn, dass es notwendig wäre, »den ganzen Plan einmal mündlich sorgfältig zu besprechen«. Er sei auch bereit, so Andersch, ihn deshalb in Berlin aufzusuchen.626 Dazu kam es nicht mehr. In einigen anderen Fällen gelang es Adorno, seine intellektuellen Konkurrenten vor die Radio-Mikrophone zu locken. Mehrere Male parlierte er dort mit dem konservativen Soziologen Arnold Gehlen, dem wie ihm die Feuilletons und die Spalten der Zeitschriften, vorzugsweise der Merkur, offen standen. Die Rundfunkmacher konnten sich darauf verlassen, dass entsprechende Sendungen für die an geistigen Dingen interessierte Zielgruppe als Leckerbissen im Programm goutiert würden, galten sie doch in den 1950er Jahren als »Gipfeltreffen der Kultur«.627 Die kalkulierte Überraschung bestand in diesem Fall für das Publikum nicht zuletzt in der Vorführung scheinbaren zumindest partiellen Gleichklangs der Argumente bei der Diskussion der Moderne, die auch die sogenannten modernen Konservativen im Zuge der sich ausbreitenden Konsumgesellschaft für irreversibel hielten.628 Auch 623 624 625 626 627 628
Theodor W. Adorno an Gottfried Benn, 14.11.1955, in: AdK, TWAA. Hans Magnus Enzensberger an Gottfried Benn, 31.10.1955, in: AdK, TWAA. Gottfried Benn an Theodor W. Adorno, 30.11.1955, in: AdK, TWAA. Alfred Andersch an Gottfried Benn, 17.1.1956, in: DLA, A: Gottfried Benn. Lepenies, Kultur und Politik, S. 317. Vgl. Kießling, Undeutsche Deutsche, S. 355 f.; zum philosophischen Hintergrund Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997.
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die Wiederannäherung an den ihm seit den frühen 1920er Jahren bekannten marxistischen Philosophen Ernst Bloch, mit dem er über Jahre befreundet gewesen war und dem er sich entfremdet hatte, wurde in einem großen Radiogespräch zwischen beiden beim Südwestdeutschen Rundfunk in Baden-Baden 1964 ratifiziert. Hier warfen sich die »Diskutanten« die Bälle zu und ergänzten die jeweiligen Argumente, kritisierten einander aber nicht.629 Adornos Korrepondenz vermittelt den Eindruck, als ob dieser Spaß daran hatte, seine Kontroversen grundsätzlich im funkischen Disput auszutragen, und als ob seine potentiellen Gesprächspartner sehr genau wussten – allein Gehlen konnte dort halbwegs mithalten –, dass es riskant war, sich auf dieses Kampffeld zu begeben. Ein diesbezügliches Angebot an Schelsky zum Scharmützel über empirische Sozialforschung im Februar 1958 beantwortete der Kollege denn auch ausweichend: »Insofern ist auch mir an einer Aussprache zwischen uns sehr viel gelegen, wenn sie – ich darf das offen äußern – wirklich als eine Aussprache unter uns beiden oder im kleinsten Kreis, nicht aber vor Rundfunkmikrophonen und Publikum durchgeführt wird.«630 Adorno signalisierte sein Verständnis, auch ihm sei die »Absenz eines Mikrophons (…) mindestens so willkommen wie Ihnen«.631 Dennoch kam er im folgenden Jahr darauf zurück: »Wie dächten Sie darüber, wenn wir über den ganzen Komplex einmal eine Radiodiskussion hätten«.632 Und erneut wehrte Schelsky ab; Radiosendungen interessierten ihn »im allgemeinen nur wegen des Honorars« und da er für die Steuererklärung »schon einiges auf dem Konto habe«, sei er wenig motiviert. Aber dann folgte, wie schon von Benn, das Eingeständnis, der »tiefere Grund der Abneigung« sei die Spekulation der Rundfunkleute auf »Schauspielerei«. Ausschlaggebend sei in diesem Medium »nicht das Gewicht des Arguments, sondern sprachliche Formulierung und der emotionale Brustton der Überzeugung und was es sonst an meinungsbildenden Faktoren gibt«.633 Schelsky hatte ansonsten keine Scheu davor, seine Gedanken über den Rundfunk zu vertreten, seine Abneigung bezog sich allein auf die antizipierte Überlegenheit von Adorno in diesem Medium mit dem unterschwelligen Vorwurf, dessen performative Begabung würde seine inhaltlichen Argumente überdecken. Die glänzenden Erfolge von Adorno gerade im Radio führten ihn zu erneuten Reflektionen seiner Analyse der Verblendung durch die Kulturindustrie. Gegenüber dem jungen Radioredakteur Hans Magnus Enzensberger, mit dem er sich seit den frühen 1950er Jahren angefreundet hatte, weil er eine »Ähnlichkeit der Temperamente« vernahm, hatte er der Verachtung einer asketischen Konsumkritik zu629 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr, Bloch und Adorno. Bildhafte und bilderlose Utopie, in: Bloch-Almanach, Bd. 21, 2002, S. 29-69, hier S. 44 f. 630 Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno, 4.2.1958, in: Archiv der AdK/TWAA. 631 Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky, 6.2.1958, in: ebd. 632 Theodor W. Adorno an Helmut Schelsky, 7.12.1959, in: ebd. 633 Helmut Schelsky an Theodor W. Adorno, 11.1.1960, in: ebd.
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gestimmt, die sich auf die zivilisatorischen Äußerlichkeiten, etwa den Einzug moderner Geräte in die Haushalte, kaprizierte und derer sich Enzensberger in seinen eigenen Rundfunk-Essays immer wieder spöttisch annahm.634 Tonangebende Medien der »Bewußtseinsindustrie«, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Spiegel, attackierte Enzensberger respektlos als hinterwäldlerisch und personalistisch – und machte dabei unterschiedliche Erfahrungen. Einen Tag, nachdem der Beitrag »Die Sprache des Spiegel« vom Süddeutschen Rundfunk ausgestrahlt worden war, bat das Nachrichtenmagazin per Fernschreiben, einen Nachdruck im Spiegel selbst zu gestatten;635 der Text erschien dann auch in Andersch’ Texte und Zeichen und schließlich in dem Suhrkamp-Bändchen »Einzelheiten«.636 Die FAZ hingegen reagierte mit einer beleidigten Kritik von Benno Reifenberg, einem »Dokument der Hilflosigkeit«,637 das Enzensbergers Überschrift »Journalismus als Eiertanz«638 nachträglich rechtfertigte. Reifenbergs Klage, Enzensberger hätte die »Zeitung für Deutschland« als Knecht des Kapitals denunziert, verfehlte dessen immanente Kritik, die mit sehr konkreten Beispielen zeigte, wie provinziell die Frankfurter Allgemeine Zeitung diese Funktion ausfüllte. Beide Reaktionsweisen auf Enzensberger, die souveräne des Spiegel und die hilflos-abwehrende der FAZ, konnten das Renommee des Kritikers nur befördern – allerdings eben unter der gegebenen Voraussetzung, dass er bereits gut vernetzt war und eine starke Position im Mediensystem errungen hatte. Gegenüber Adorno hatte sich Enzensberger tief beeindruckt von der »Dialektik der Aufklärung« gezeigt, aber vorsichtige Zweifel an der These einer hermetischen Verblendung geäußert: »Der Essay über die Kulturindustrie scheint aus ihr jeden Akt der Versöhnung auszuschließen, da, was sich in ihre Reichweite begibt, unter sie subsummiert und bereits dadurch in sein Gegenteil verkehrt wird. Eine solche Auffassung – läßt sie nicht die Rekursion auf den Autor außer acht, die sich zwangsläufig einstellt? (…) Es ist zweifellos wichtig, die illusionären Haltungen, die vorgeblich Widerstand, in Wahrheit dem System Vorschub leisten, als illusionär zu enthüllen. Aber nicht jeder Widerstand ist illusionär. Er ist es auch dort nicht notwendig, wo er im Innern des Systems der Publizität sich einnistet: dafür bietet ihre Tätigkeit das beste Beispiel.«639 Adorno nutzte die Gelegenheit zur Klarstellung: 634 Vgl. exemplarisch Hans Magnus Enzensberger, Ressentiments gegen den Kühlschrank. Sendung im BR 1960, in: Barbara Schäfer/Antonio Pellegrino (Hrsg.), Nachtstudio. Radioessays, München 2008, S. 53-57. 635 Hans Magnus Enzensberger an Joachim Moras, 28.2.1957, in: DLA, D: Merkur. 636 Enzensberger, Einzelheiten, S. 74-105 (dort die erwähnten Drucknachweise). 637 Lau, Enzensberger, Berlin 1999, S. 90. 638 Enzensberger, Einzelheiten, S. 18-73. 639 Hans Magnus Enzensberger an Theodor W. Adorno, 24.8.1956, in: Archiv der AdK/ TWAA.
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»Es wäre stur und ein Stück jenes Kulturkonservatismus, der schließlich selber nur der Kulturindustrie zugute kommt, wenn man auf die Massenmedien verzichten und sich auf handgeschöpften Bütten tummeln wollte. Sie wissen sehr genau, daß ich der letzte bin, das anzuraten. Wenn irgendwo, dann ist an dieser Stelle der Brechtsche Begriff des ›Umfunktionierens‹ zuständig.«640 Während Adorno hier durchaus Tendenzen innerhalb der Kulturindustrie selbst erblickte, die eine Basis für aufklärerisches Wirken in ihr ermöglichen würde, klang es in einem Brief an den alten Freund Siegfried Kracauer ungleich düsterer, wobei es charakteristisch ist, dass solche Überlegungen nur in brieflicher Form geäußert und nicht publiziert wurden: »Die Schriften zur Kritik der Kulturindustrie haben natürlich ihrer Substanz nach jede Gültigkeit behalten, so wie zu dieser ganzen Sphäre gehört, daß unablässig alles sich ändert und doch nichts. Gleichwohl haben sie, gegenüber der Abgefeimtheit, mit der unterdessen die Kulturindustrie gelernt hat, den Brei, den sie den Menschen ums Maul schmiert, so lange zu säuern, bis sie vergessen, daß es Brei ist, und angesichts der zunehmenden Integration der Gesellschaft, in der kein Proletarier mehr weiß, daß er einer ist, ein gewisses Moment von Unschuld.«641 Seine pessimistische Prognose fasste Adorno im zentralen Begriff der »Halbbildung« zusammen, den er in einem Aufsatz in der Zeitschrift Der Monat entfaltete. Die »Halbbildung«, so Adorno, sei der »vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist« und werde trotz aller Aufklärung »zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins«.642 Der verzweifelte Spagat zwischen dem Pessimismus, innerhalb der zum Subjekt ernannten »Kulturindustrie« hilflos zu sein, und dem praktischen publizistischen Engagement kennzeichnete Adornos Position um 1960, als sich der Durchbruch der Frankfurter Schule zur anerkannten Instanz für eingreifendes intellektuelles Denken vollzog, begleitet von tiefer Sorge Horkheimers, man könne als kryptomarxistisches Unternehmen verdächtigt und ausgegrenzt werden. Dies bildete auch den Hintergrund der geheimnisvollen zugenagelten Kiste im Keller des Instituts, deren Inhalt nicht bekannt werden sollte.643 Inhalt waren die Bände der Zeitschrift für Sozialforschung, die von 1930 bis 1941 als Hausorgan, vor allem mit Artikeln von Max Horkheimer, publiziert worden waren. Überlegungen, wieder eine 640 Theodor W. Adorno an Hans Magnus Enzensberger, 6.9.1956, in: ebd. 641 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 22.7.1963, in: DLA, Nl. Siegfried Kracauer. 642 Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: Der Monat, Jg. 11, 1959, H. 132, S. 3043, Zitate S. 30, 37. 643 Vgl. Günter C. Behrmann, Die Theorie, das Institut, die Zeitschrift und das Buch: Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte der Kritischen Theorie 1945 bis 1965, in: Albrecht, Gründung, S. 247-312, hier S. 263 ff.; Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008, S. 45 ff.
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Institutszeitschrift herauszubringen, als Autoren hatte Adorno bereits Wolfgang Abendroth und Helmut Schelsky – sozusagen als Pole des avisierten Diskussionsbogens – angefragt,644 verwarfen die Frankfurter in den 1950er Jahren dann doch, weil sie nicht in die neue Zeit passten, vielleicht auch deshalb, weil damit Fragen nach theoretischen Traditionen aufgetaucht wären. Als Ersatz sollte die Buchreihe »Frankfurter Beiträge zur Soziologie« dienen. Herbert Marcuse versuchte Horkheimer mit dem Hinweis, Jacob Taubes würde an der FU Berlin reichlich aus den Texten der alten Zeitschrift zitieren und habe damit viel Erfolg bei den Studierenden, wenigstens zu deren Neuedition zu bewegen, wenn es schon keine Fortsetzung geben sollte. Aber Horkheimer blieb unzugänglich – ein geradezu anachronistisches Verhalten, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit eines in Hunderten von Exemplaren verbreiteten Textes daran festzuhalten, ihn einfach wegzuschließen. Seine Ängste, von der eigenen linken Vergangenheit eingeholt zu werden, projizierte Horkheimer vor allem auf Jürgen Habermas, dessen Habilitationsschrift er betreuen sollte. In einem Brief an Adorno – er umfasst im Druck neun eng beschriebene Seiten – beschimpfte er den jüngeren Kollegen hemmungslos: Habermas sei unfähig, »mit Verstand über die Gegenwart nachzudenken«; der »dialektische Herr H.« halte sich unkritisch an Marx’ Frühschriften und bekenne sich selbst wiederholt zur »Revolution«. Diese aber »heute hier als aktuell zu verkünden (…) kann nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten, denen er doch den Kampf ansagt (…) Revolution bildet bei ihm eine Art affirmativer Idee, ein verendlichtes Absolutum, einen Götzen, der Kritik und kritische Theorie, wie wir sie meinen, gründlich verfälscht.« Horkheimer hielt Habermas vor, als »studentischer Propagandist« der Frankfurter Anti-Atom-Kampagne aufgetreten zu sein. Dies bezog sich auf eine Habermas-Rede vor etwa 1.000 Zuhörern im Mai 1958, während Horkheimer und Adorno nicht einmal die von Erich Kästner, Eugen Kogon, Alfred Weber, Heinrich Böll und anderen initiierte Erklärung unterzeichnen mochten. Schließlich stehe Habermas wohl auch im Hintergrund des Vorwurfs einiger Studenten, das Institut habe der »Industrie zu große Konzessionen« gemacht. Horkheimer forderte von Adorno die umgehende Aufhebung des Arbeitsverhältnisses mit Habermas: »Wahrscheinlich hat er als Schriftsteller eine gute, ja glänzende Karriere vor sich, dem Institut würde er großen Schaden bringen. Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwie anders aufzuheben und zu verwirklichen.«645 Für Habermas, der das Institut 1959 verließ, setzte sich Adorno weiterhin ein. Er erhielt ein Stipendium der DFG, und mit dem befreundeten Wolfgang Abendroth vereinbarte Adorno – unter sehr besonderen Umständen, wie kolportiert wird – die Einreichung der Habilitationsschrift in Marburg. Das zum internationalen Klassi644 Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S. 515. 645 Max Horkheimer an Theodor W. Adorno, 27.9.1958, zit. nach Detlef Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003, S. 207-215.
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ker gewordene Buch über den »Strukurwandel der Öffentlichkeit« widmete Habermas »Wolfgang Abendroth in Dankbarkeit«.646 Die beginnende Liberalisierung der politischen Kultur öffnete zwar in den 1950er Jahren allmählich Freiräume für linke Wochenzeitungen und Zeitschriften, aber links der Frankfurter Hefte und jenseits der Sozialdemokratie eröffneten sich kaum Möglichkeiten. Dies gilt etwa für die bereits 1959 wieder eingestellte Zeitschrift Funken647 oder die Sozialistische Politik (1954-1966), die in geringer Auflage unter Intellektuellen herumgereicht wurden. Ihnen fehlte von vornherein nicht nur das diskursive Moment,648 sondern auch der Zugang zu den tonangebenden Medien, die deren Beiträge weiter verbreiteten. Nur durch ihre geheime Finanzierung seitens des SED-Regimes konnten einige der Wochenzeitungen und Zeitschriften überhaupt existieren. Dabei fungierten sie keineswegs als treue Vasallen, weil sie, das wussten auch die Geldgeber, dann keine Chancen beim intellektuellen Publikum gehabt hätten. Es erscheint kaum entwirrbar, wer bewusst im Interesse der kommunistischen Sache handelte oder aber die Chance einer Subventionierung durch den Westapparat ergriff oder wem die Zusammenhänge nicht deutlich waren. Eine intellektuellengeschichtliche Dimension wies in dieser Hinsicht der Fall Victor Agartz (1897-1964) auf. Beim Frankfurter DGB-Kongress 1954 hatte Agartz, Sozialdemokrat seit 1915 und Leiter des gewerkschaftlichen Forschungsinstituts WWI, ein antikapitalistisches und antimilitaristisches Grundsatzreferat gehalten, das von den Delegierten umjubelt wurde. Hinter den Kulissen hatten allerdings längst gewerkschaftliche Funktionäre der Sozialdemokratie, vor allem aus der informellen Führungsriege, dem sogenannten Zehnerkreis, in dem US-Remigranten eine wichtige Rolle spielten,649 dafür gesorgt, dass diese Position nicht durchdrang. Zur »strategischen Schlüsselfigur« wurde der Jesuitenpater Oswald von NellBreuning,650 der die katholische Soziallehre als Palliativ gegen sozialistische Ideen anbot. Das Denken in Kategorien des Klassenkampfes, so argumentierte er, entspräche längst nicht mehr der gesellschaftlichen Situation. Die Stellung von Agartz wurde planmäßig unterminiert.651 1956 erfolgte seine Entlassung als Direktor des WWI, ein Jahr später wurde er wegen Hochverrats angeklagt, weil die von ihm seit 646 Habermas, Strukturwandel; vgl. auch den liebevollen Artikel zu Abendroths 60. Geburtstag von Jürgen Habermas, Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer, in: Die Zeit, 29.4.1966. 647 Karljo Kreter, Sozialisten in der Adenauer-Zeit. Die Zeitschrift »Funken«. Von der heimatlosen Linken zur innerparteilichen Opposition in der SPD, Hamburg 1986. 648 Vgl. Hans Manfred Bock, Der schwierige Dritte Weg im Sozialismus. Die Sozialistische Politik und ihre gesellschaftlichen Trägergruppen 1954 bis 1966 im Spektrum linkssozialistischer Zeitschriften, in: Grunewald, Linkes Intellektuellenmilieu, S. 659-688; Kritidis, Opposition, S. 235 ff. 649 Zu diesem Netzwerk vgl. Angster, Konsenskapitalismus, S. 353 ff. 650 Wolfgang Schröder, Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus. Oswald von Nell-Breuning, Victor Agartz und der Frankfurter DGB-Kongreß 1954, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 39, 1991, S. 179-220, Zitat S. 180. 651 Vgl. Kritidis, Opposition, S. 342 ff.
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1956 herausgegebene Zeitschrift Wiso. Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, für die Wolfgang Abendroth, Siegfried Braun, Theo Pirker und andere linke Intellektuelle schrieben, vom FDGB der DDR durch ein lukratives Abonnement finanziert worden war – ein nicht unübliches und zudem nicht strafbewehrtes Instrument der Subventionierung. Der Prozess Ende 1957 erhielt große öffentliche Aufmerksamkeit, weil mit Agartz quasi die gesamte intellektuelle Linke als verlängerter Arm der Kommunisten in der DDR angeklagt war. Der Freispruch des von Diether Posser, einem sozialdemokratischen Juristen aus dem Umfeld von Gustav Heinemann verteidigten Agartz, der sich im Prozess zudem selbst temperamentvoll und offensiv eingebracht hatte, gilt als Meilenstein im Kampf um die Ausweitung der Meinungsfreiheit auf marxistische Positionen – nur ein Jahr nach dem KPD-Verbot. Aber gleichzeitig waren die Gewerkschaften nun von solchen Positionen weitgehend gesäubert. Der Fall Agartz erhöhte bei marxistischen Intellektuellen nicht die Sympathien für die SPD- und Gewerkschaftsführungen, war doch deren Zusammenspiel mit geheimen Diensten bei der Ausschaltung oppositioneller Neigungen nicht gerade ein Zeugnis diskursiver Toleranz. Kommunistische Parteiintellektuelle lebten spätestens seit 1950 zwischen politischer Verfolgung in der frühen Bundesrepublik und stalinistischen Säuberungen in der DDR in einem Klima der Angst und hoffnungslosen Isolierung. Schon im Vorfeld des KPD-Verbots war es für kommunistischer Sympathien verdächtigte Intellektuelle kaum noch möglich, offen eigene Texte zu verbreiten. Das etablierte Feuilleton der Zeit blieb ihnen in den 1950er Jahren ebenso versperrt wie fast alle anderen Medien auch. Nicht einmal unter linken sozialdemokratischen oder unabhängigen sozialistischen Publizisten fanden sie eine Dialogbereitschaft. Am ehesten noch konnten sie auf Bündnispartner in nationalneutralistischen Kreisen und unter linkskatholischen Intellektuellen hoffen. Es erscheint symptomatisch, dass Peter von Oertzen, der in den Frankfurter Heften 1954 bemerkte, dass »über dem Haupt eines jeden Linken das Damoklesschwert der Verdächtigung als Kommunist« schwebe, dies nur unter Pseudonym zu veröffentlichen wagte.652 Für Oertzen, der zur SPD-Linken gehörte, spielte allerdings auch die Sorge vor repressiven Maßnahmen der Parteiführung gegen ihn eine Rolle. Unter diesen Voraussetzungen öffneten sich nur wenige Medien, die bisweilen über klandestine Finanzmittel aus der DDR verfügten. Das in München von 1952 bis 1962 herausgegebene Blatt Die Woche folgte zwar allgemein dem nationalistischen Kurs von KPD/SED, hielt sich aber abseits der kommunistischen Propaganda zum »revolutionären Sturz des Adenauer-Regimes« und wurde auch nicht vom KPD-Verbot 1956 erfasst.653 Allerdings registrierte die intellektuelle Öffentlichkeit 652 Richard Petry, Die SPD und der Sozialismus, in: Frankfurter Hefte, Jg. 9, 1954, S. 663-576, Zitat S. 668; vgl. Philipp Kufferath, Peter von Oertzen (1924-2008). Eine politische und intellektuelle Biographie, Göttingen 2017, S. 180 f. 653 Thomas Kroll, Linksnationale Intellektuelle in der frühen Bundesrepublik Deutschland zwischen Antikommunismus und Stalinismus. Der Kreis um die »Deutsche Woche«, in: Gallus/Schildt, Zukunft, S. 432-455.
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sehr genau, wer dort publizierte. Die pazifistische Schriftstellerin Tami Oelfken, die einen Appell zur deutschen Einheit unterzeichnet hatte, der vom Kreis um die Woche initiiert worden war, traf in der Zeit der »Bannstrahl« von Paul Hühnerfeld, sie arbeite »im Schutz des Westens am Mord der Freiheit«.654 Kurz darauf distanzierte sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch von ihr und lehnte den Druck eines Romanmanuskripts ab. Oelfken geriet dadurch in eine materielle Notlage. Dass sie sich in dieser Situation nur durch die Publikation in Medien der DDR über Wasser halten konnte, verstärkte wiederum ihre Isolation in der Bundesrepublik. Zu erwähnen ist die 1953 gegründete Deutsche Volkszeitung, die 1990 mit der Zeitung des DDR-Kulturbunds Der Sonntag zum heute erscheinenden Freitag fusionierte. Die DVZ war mit einer Auflage von 30.000 bis 50.000 Exemplaren mit Abstand das am meisten verkaufte Periodikum der neutralistischen Bewegung. Die Redaktion bemühte sich sehr um das Image einer Unabhängigkeit auch gegenüber der östlichen Seite im Kalten Krieg. Dafür sprechen deutliche Sympathien in einigen Artikeln mit den Positionen der Reformkommunisten um Imre Nagy in Ungarn 1956 und die Ablehnung der DDR-Propagandaformel vom Mauerbau als »antifaschistischem Schutzwall« 1961. Allerdings spielte das Wochenblatt, das aus dem Apparat des von der DDR finanzierten Bundes der Deutschen hervorging, bis 1983 von dem kommunistischen Funktionär Helmut Bausch geleitet wurde und Autoren aus linkskatholischem, nationalneutralistischem, pazifistischem, nationalprotestantischem, sozialistischem und kommunistischem Umfeld versammelte, zumindest in den 1950er Jahren für Linksintellektuelle keine große Rolle. So vermied es etwa Walter Dirks trotz wiederholter Anfragen, in der DVZ zu publizieren. Namhafte linkssozialistische Autoren stießen erst in den 1960er Jahren dazu.655 Interessanter für Intellektuelle als die linksnationale Woche oder die Deutsche Volkszeitung war die Gründung der Anderen Zeitung in Hamburg 1955, deren Herausgeber Gerhard Gleissberg (1905-1973), sozialdemokratischer Remigrant aus Großbritannien, zuvor die zentrale Parteizeitung Neuer Vorwärts geleitet hatte, die am 1. Januar 1955 wieder in Vorwärts umbenannt wurde. Gleissberg, 1927 mit einer Arbeit über Heinrich von Kleist promoviert, entstammte einer bürgerlichen Breslauer Familie. Zusammen mit Rudolf Gottschalk, der das Blatt mit ihm verließ, wollte er von der sozialdemokratischen Führung enttäuschte SPD-Mitglieder und außerhalb der Partei stehende Sozialisten sammeln und die Andere Zeitung zum zentralen Organ der Linken machen. Ethische Sozialisten, unabhängige Marxisten, linke Sozialdemokraten, Linksliberale, Trotzkisten und religiöse Sozialisten zählten zu den Autoren, zudem einige Kommunisten. Die Startauflage betrug 18.000 Exemplare, sie wurde danach auf 21.000 heraufgesetzt und betrug am Ende des Jahres ca. 40.000. Bis zu 100.000 Exemplare sollen zeitweise 1957/58 abgesetzt wor654 Ebd., S. 445. 655 Dirk Mellies, Trojanische Pferde der DDR? Das neutralistisch-pazifistische Netzwerk der frühen Bundesrepublik und die Deutsche Volkszeitung, 1953-1973, Frankfurt a. M. 2007, S. 67, 93 ff., 114, 139 ff.
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den sein; allerdings halbierte sich die Auflage dann bis 1960 wieder.656 Die Andere Zeitung erschien bis 1969. Der begeisterte Zuspruch des unerbittlichen Antikommunisten Kurt Hiller zeigte, dass es sich hier nicht um ein gewöhnliches Projekt kommunistischer Bündnispolitik handelte. An Peter Rühmkorf schrieb er vom bevorstehenden Erscheinen des »honorig linkssozialistischen Wochenblatts«, an dem er mitarbeiten werde, der für ihn entscheidende Grund, nach Hamburg und nicht nach Berlin zurückzukehren.657 Der intensive Briefwechsel von Hiller mit Gleissberg, den er aus dem Londoner Exil gut kannte, und Gottschalk 1955 beleuchtet die Motive und Positionen der Gründer der Anderen Zeitung, die von der zeithistorischen Forschung bisher wenig beachtet wurde. Gottschalk informierte Hiller Anfang 1955 darüber, dass er mit Gleissberg den Neuen Vorwärts verlassen und »einen eigenen Laden« aufmachen werde. Mit Hilfe eines schleswig-holsteinischen Verlegers, Ernst Tessloff, solle – mit dem Arbeitstitel Das Fenster – eine »neue linke Zeitung« gegründet werden, deren »Richtung links, links, links, wider Restauration und Remilitarisierung« sein werde. »Ob allerdings die Sozialdemokraten merken werden, daß es dann zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg eine sozialdemokratische Zeitung gibt, daran habe ich doch Zweifel.« Hiller sei jedenfalls als »engster Mitarbeiter« herzlich eingeladen.658 Bereits einige Tage später meldete Gottschalk, dass der Schritt der Kündigung vollzogen worden sei. Die Titelsuche gehe weiter, weil Das Fenster bereits vergeben gewesen sei. Man denke über Neue Weltbühne oder Neue Zeitbühne nach.659 Hiller beteiligte sich intensiv an der Titelsuche, warnte vor möglichen Vergleichen mit der alten Weltbühne und schlug vor: Umschwung oder Der Wille. Im Übrigen fragte er erneut, ob das Blatt in Hamburg erscheinen werde, denn es sei nun »nahezu 100 sicher«, dass er noch im Sommer dahin übersiedeln werde.660 Gottschalk schmeichelte ihm, dass Hillers Rückkehr dorthin »nicht der schwächste« Grund für die Entscheidung gewesen sei, die Andere Zeitung, hier wurde der tatsächliche Titel erstmals genannt, in der Hansestadt erscheinen zu lassen. Die Herausgeber in spe freuten sich »auf den frischen Wind, der gewiß im Gegensatz zum Rhein an der Elbe wehen wird«.661 Faktisch residierten Redaktion und Ernst Tessloff Verlag nicht an der Elbe, sondern am Leinpfad 19, einer vornehmen Adresse in Alsternähe. Die erste Nummer solle, »wenn alles glatt geht, am 5. Mai (10. Jahrestag der deutschen Kapitulation und 150. Todestag Schillers) erscheinen«.662 Neben dem Kampf gegen die Wiederaufrüstung wurde auch in Anschreiben an viele prominente Intellektuelle die »rücksichtslose Anpran656 Jünke, Strandgut, S. 358 ff.; Kritidis, Opposition, S. 284 ff. 657 Kurt Hiller an Peter Rühmkorf, 19.4.1955, in: Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 251-254, Zitat S. 252; vgl. Rolf von Bockel (Hrsg.), Kurt Hiller. Ein Leben in Hamburg nach Jahren des Exils, Hamburg 1990. 658 Rudolf Gottschalk an Kurt Hiller, 14.2.1955, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 659 Rudolf Gottschalk an Kurt Hiller, 20.2.1955, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. 660 Kurt Hiller an Rudolf Gottschalk, 25.2.1955, in: ebd. 661 Rudolf Gottschalk an Kurt Hiller, 2.3.1955, in: ebd. 662 Gerhard Gleissberg an Kurt Hiller, 13.4.1955, in: ebd.
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gerung der in der Bundesrepublik immer mehr um sich greifenden Tendenzen der geistigen Intoleranz« betont. Walter Dirks, den die Herausgeber mit diesem Schreiben um einen Beitrag zum zehnten Jahrestag der Kapitulation baten, ließ allerdings nur sehr knapp über seine Sekretärin absagen, er sei leider mit Arbeit außerordentlich überlastet und sein Gesundheitszustand »sehr labil« – angesichts in Aussicht gestellter großzügiger Honorierung und Dirks’ sonstiger Praxis ein Hinweis auf das Misstrauen auch linker Publizisten.663 Die anhaltend herzliche Korrespondenz der Blattmacher mit Hiller trübte sich auch nicht ein, als erste Gerüchte kolportiert wurden, die Andere Zeitung erhalte Geld aus dubiosen Ost-Berliner Quellen. Ein umfangreiches Dossier für den SPDParteivorstand, das auf Grund des vermuteten Einflusses auf sozialdemokratische Intellektuelle erstellt wurde, versuchte die kommunistische Anleitung der Anderen Zeitung aus einer Analyse von deren hauptsächlichen Aussagen abzuleiten;664 die ersten vier bezogen sich auf das Streben nach einer »Sammlung der Linken«, die Kritik an der Mitarbeit der SPD an einer »demokratischen Wehrverfassung«, Aufrufe zu außerparlamentarischen Aktionen gegen die »Aufrüstung« und Vorschläge für Kontakte zur KPD. »Die Zeitung malt ein Bild der Welt, in dem die SPD und die westliche Welt nur negativ und der Osten fast nur positiv gezeigt werden.« Dass ausgerechnet Kurt Hiller einige Male als prokommunistischer Sprecher hervorgehoben wurde, dürfte mit mangelnder Kenntnis der Szene links der SPD zusammenhängen. Hier scheinen die trüben Quellen des Verfassungsschutzes oder des BND benutzt worden zu sein. Dass unter den Mitarbeitern neben verdeckt arbeitenden Kommunisten wie Robert Steigerwald auch Trotzkisten wie Willy Boepple und Willy Huhn genannt wurden, hätte eigentlich Zweifel an der Annahme kommunistischer Steuerung nähren müssen. Nicht genannt wurden der Theologe Helmut Gollwitzer, Wolfgang Abendroth, immerhin noch prominentes Mitglied der SPD, der Hamburger Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt, Theo Pirker und der austromarxistische DDR-Flüchtling Leo Kofler, von dem wiederum Hiller nichts hielt. Er allein hat etwa 50 Artikel in der Anderen Zeitung publiziert.665 Auf dem Parteitag der SPD im Juli 1955 bezeichnete das für die Presse zuständige Vorstandsmitglied Fritz Heine die Andere Zeitung als »eindeutig gegnerische Publikation« und sorgte für einen Unvereinbarkeitsbeschluss.666 663 Bernd Stark/Die Andere Zeitung an Walter Dirks, 16.4.1955; Antwort vom 22.4.1955, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 103; ähnlich verhielt sich Dirks gegenüber einer Anfrage der Deutschen Volkszeitung vom 3.3.1955; er ließ von seiner Sekretärin ausrichten, dass er auf Reisen sei; in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 105. 664 Dossier zur Anderen Zeitung (o. Verf./o.D., 1956), in: Archiv IfZ, ED 11/1; das Typoskript von 36 Seiten ist »Streng vertraulich. Nicht weitergeben« gestempelt, es diente vermutlich als Informationsgrundlage einer Sitzung des Parteivorstandes der SPD im März 1956. 665 Jünke, Strandgut, S. 363 ff. 666 Zit. nach Münzner, Intellektuelle, S. 247 f.; in der unkorrigierten Fassung hieß es: »Bei der sogenannten ›Anderen Zeitung‹ handelt es sich nicht um ein Organ der Diskussionsfreiheit. Sie ist in der Auflage und Inhalt bedeutungslos, und wir haben keinen Zweifel, daß es sich um eine parteigegnerische Publikation handelt«; Gerhard Gleissberg an Kurt
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Die formelle Abgrenzung der Sozialdemokratie von der Anderen Zeitung, die vier Wochen vor dem Verbotsurteil gegen die KPD erfolgte, zeigte zum einen, dass sie doch nicht ganz so bedeutungslos war wie behauptet. Dazu trugen die interessant gestalteten politischen und Wirtschaftsseiten bei, bald aber auch das von Rudolf Gottschalk und seit November 1956 von Walter Gallasch (Jg. 1927) geleitete Feuilleton, das für jüngere Linksintellektuelle attraktiv war. Namentlich Hiller hatte sich um die Mitarbeit der »Finisten« um Werner Riegel und Peter Rühmkorf bemüht,667 der in der Anderen Zeitung im Sommer 1956 über seine Chinareise berichtete.668 Texte namhafter Autoren wie Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Michael Ende, Wolfgang Koeppen, Erich Kästner und anderer wurden gedruckt, zahlreiche Illustrationen steuerte A. Paul Weber bei, der zum Widerstandskreis von Ernst Niekisch im »Dritten Reich« gehört hatte.669 Das Verhältnis zwischen Hiller und den beiden Herausgebern kühlte sich allerdings allmählich ab, weil er Kritik an sich nicht dulden wollte und Gleissberg und Gottschalk in unflätigem Ton beschimpfte, diese zugelassen zu haben.670 Ein Jahr später brach Hiller mit dem Wochenblatt, weil sich nun für ihn herausgestellt habe, dass es »zum Reptil der Ostberliner Regierung entartet ist«.671 Beweise für eine Finanzierung durch die DDR besaß Hiller nicht. Bis heute ist sie nicht belegt.672 Die parteibürokratische und theoretisch hilflose Reaktion der SPD auf die Aktivitäten der Anderen Zeitung kann als Beispiel für das grundsätzliche Dilemma der Partei im Umgang mit linken Intellektuellen gelten. Unter dem Dach der SPD gab es kein eigenständiges Forum für marxistische Positionen, die in der Mitgliedschaft durchaus noch Sympathien besaßen. Geist und Tat war im ersten Nachkriegsjahrzehnt die einzige überregional bekannte theoretische Zeitschrift der SPD, die den Weimarer Geist des sogenannten ethischen Sozialismus tradieren wollte. Ihr Herausgeber Willi Eichler stand in der Nachfolge des Göttinger Neukantianers Leonard Nelson, dessen Anhänger Mitte der 1920er Jahre wegen ihrer organisatorischen Sonderbestrebungen aus der SPD ausgeschlossen worden waren. Die Dissidenten gründeten den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), eine mutige Organisation im Kampf gegen den Nationalsozialismus, die sich nach Kriegsende wieder der Sozialdemokratie an-
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Hiller, 21.7.1956, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller; die Herausgeber der Anderen Zeitung waren bereits im Mai 1955 aus der SPD ausgeschlossen worden; vgl. zu den Attacken aus der SPD auch Kritidis, Opposition, S. 292 ff. Kurt Hiller an Werner Riegel, 22.6.1955, in: Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 266 ff. DLA, A: Peter Rühmkorf, Die Andere Zeitung. Kritidis, Opposition, S. 287. Kurt Hiller an die Herausgeber der Anderen Zeitung, 6.7.1956, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller. Kurt Hiller an Kurt Ziesel, 15.2.1958, in: Kurt-Hiller-Archiv, Nl. Kurt Hiller; hier datierte er den Bruch auf Ende 1957. Möglich war, so Hiller, auch eine Finanzierung aus »Titonien« (Jugoslawien); vgl. Kritidis, Opposition, S. 291.
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schloss.673 Eichler wurde nach Nelsons Tod 1927 ihr unbestrittener Führer. Auch nach 1945 bildeten die ISK-ler eine verschworene Gemeinschaft mit einer einheitlich vertretenen Weltanschauung. Es handelte sich um ein typisches Generationenprojekt, verhaftet dem Geist von idealistischer Philosophie, lebensreformerischem Abstinenzlertum und Jugendbewegtheit der 1920er Jahre, angereichert mit Erfahrungen in der britischen Demokratie während der Zeit des Exils. Dieser Erfahrungshintergrund als Movens politischen Engagements wirkte für junge Intellektuelle in den 1950er Jahren nur noch schrullig. Leninistischen Konzeptionen nicht unähnlich, sollte die Ende 1946 gegründete Zeitschrift Geist und Tat als kollektiver Organisator der eigenen Bestrebungen innerhalb der SPD fungieren.674 Bereits in der Zeitschriftenkrise nach der Währungsreform 1948 hatte Geist und Tat allerdings mehr als neunzig Prozent seiner Leserschaft verloren, es blieben etwa 6.000 treue Abonnenten, neue Leser kamen kaum hinzu. Es verwundert nicht, dass, obwohl Eichler selbst dem Parteivorstand angehörte, führende SPD-Funktionäre von vornherein misstrauisch auf ein Theorieorgan schauten, das sich nicht direkt in der Hand der Partei befand. Das Misstrauen richtete sich gegen vermutete Sonderbestrebungen im Apparat, obwohl Eichler als Chefredakteur des Kölner Parteiblatts Rheinische Zeitung und als unermüdlicher Propagandist der SPD im Rheinland zu keinem Zeitpunkt die für Intellektuelle übliche Profilierung als über der Parteiorganisation schwebender unabhängiger Geist betrieb. Der Pluralismus, um den er sich in der Redaktionsarbeit für Geist und Tat bemühte, sollte von einer festen sozialdemokratischen Position aus betrieben werden. So schrieb in seiner Zeitschrift gelegentlich etwa Kurt Hiller, bis er sich wie mit fast jedem auch mit Eichler zerstritt;675 der Marxist Wolfgang Abendroth kam (dreimal 1953/54) zu Wort. Bemerkenswert war die Forderung Eichlers, Marx nicht völlig über Bord zu werfen.676 Student Dahrendorf aus sozialdemokratischem Elternhaus, der sich gerade als qualifizierter Marx-Kritiker profilierte, wurde einbezogen;677 viel Wert legte Eichler darauf, Walter Dirks als Autor zu gewinnen.678 Gerade das Verhältnis zum linken Katholizismus spielte in seinen Vorstel673 Vgl. Sabine Lemke-Müller, Ethischer Sozialismus und Sozialdemokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988, S. 186 ff. 674 S. Kapitel I.4.3. 675 Das Kurt-Hiller-Archiv enthält einen Briefwechsel im freundlichen Ton, besonders intensiv 1947-1950, der endgültige Bruch mit Eichler erfolgte 1954, nun allerdings mit diesem als Mitherausgeber der Neuen Gesellschaft. 676 Willi Eichler, Der Weg in die Freiheit. Gedanken zur sozialistischen Gestaltung von Staat und Gesellschaft, Bonn 1955, S. 38; die Schrift wurde vom Parteivorstand der SPD herausgegeben; vgl. auch ders., Karl Marx – Denker, Revolutionär, Utopist 1818-1883-1968, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 19, 1968, S. 3-13. 677 Vgl. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 73. 678 Willi Eichler an Walter Dirks, 29.3.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 122 A; es handelte sich um die Bitte, den Aufsatz von Dirks, »Deutscher Katholizismus und Sozialdemokratie«, im Sonntagsblatt vom 27.3.1960 in Geist und Tat abzudrucken.
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lungen eines Bündnisses für eine bessere Gesellschaft eine zentrale Rolle, wie er in der ersten Nummer der Monatsschrift der Jusos, Klarer Kurs, 1953 betonte: »Diese Gesellschaft, in der die Kirche ihren vollen Anteil an der religiösen Formung des Volkes übernehmen und auch als Mahner in allen öffentlichen Fragen auftreten kann, ist ein Ideal, das für unsere Zeit die einzige Möglichkeit bietet, die Zerrissenheit unseres Volkes zu überwinden und seine kulturelle Verschiedenheit nicht in politische Machtkämpfe ausarten zu lassen, sondern in einen friedlichen Wettstreit, in dem jeder nur darauf aus sein sollte, das Beste und Schönste zu liefern, in einem Wettstreit, in dem die Grundregel des Verhaltens die Toleranz und die Achtung des Andersdenkenden sein werden.«679 Aber eigentlich handelte es sich doch um die alte Vorstellung, man könne eine Zeitschrift zum Kern für eine aktive gesinnungsfeste Gruppe machen, die als intellektuelle Kraft in die Sozialdemokratie hineinwirken sollte. Zu diesem Zweck wurden seit 1951 Pfingsttagungen für Autoren und Leser veranstaltet.680 Die SPD zählte die Zeitschrift in ihren Jahrbüchern seit 1948 zu den eigenen Organen, obwohl sie nie zur Finanzierung beigetragen hatte. Als 1953 noch einmal die Hoffnung aufkeimte, die nach den Wahlniederlagen neu erwachten Theoriebedürfnisse der SPD und die daraus erwachsende Bereitschaft zur Subventionierung könnten die Zeitschrift retten,681 wurde stattdessen die parteioffiziöse Neue Gesellschaft gegründet; den Posten des Chefredakteurs erhielt der SDS-Vorsitzende Ulrich Lohmar (1928-1991), ein Mitarbeiter von Helmut Schelsky an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft. Jüngere Sozialwissenschaftler, auch Schelsky selbst, gehörten dann zu den Autoren der Neuen Gesellschaft. Wenngleich Eichler Mitherausgeber wurde, andere aus seinem Kreis zu deren Autoren gehörten und Lohmar durchaus seine grundlegenden Ansichten im Sinne eines ethischen Sozialismus teilte, konnte die Gründung der Neuen Gesellschaft zur Überwindung der sozialdemokratischen Theoriekrise nicht Eichlers Vorstellungen entsprechen,682 verurteilte sie doch Geist und Tat endgültig zum langsamen Siechtum.
679 MS in: AdsD, Nl. Willi Eichler 1/WEAA 000048; vgl. zum Hintergrund für Eichlers Position Lemke-Müller, Sozialismus, S. 277 ff. 680 Unterlagen in AdsD, Nl. Willi Eichler, 1/WEAA 000102 und 000103; diese Pfingsttagungen wurden bis Ende der 1990er Jahre regelmäßig durchgeführt; vgl. Boll, Jugendbewegung, S. 636. 681 Hans Riepl an Susanne Miller, 5.10.1953, in: AdsD, Nl. Willi Eichler, 1/WEAA 000085. 682 Es gab dabei eine auffallende, aber intellektuellengeschichtlich typische Diskrepanz zwischen der parteioffiziellen Hochachtung für Eichler, der als »Vater des Godesberger Programms« in die Annalen der SPD einging, und seinem Fernhalten von innerparteilichen Führungspositionen. Eine Sammlung zentraler Aufsätze ist Willi Eichler, Weltanschauung und Politik. Reden und Aufsätze. Hrsg. u. eingel. von Gerhard Weisser, Frankfurt a. M. 1967; vgl. Ernesto Harder, Vordenker der »ethischen Revolution«. Willi Eichler und das Godesberger Programm der SPD, Bonn 2013, S. 99 ff.
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»Alle Werbemaßnahmen in den vergangenen 5 Jahren haben nicht einmal zu einer Verminderung des seit 10 Jahren chronischen Abonnentenschwundes beigetragen. Wir haben monatlich bis zu 10 Abbestellungen von Leuten, die uns mitteilen, sie seien zu alt und könnten nicht mehr lesen, sie seien pensioniert und hätten keine Mittel mehr, oder von Angehörigen, die uns schreiben, daß der Bezieher verstorben ist. (…) Die Frage ist nun wirklich, ob es sinnvoll ist, eine Zeitschrift am Leben zu erhalten, deren Bezieherzahl um 1.000 oszilliert.«683 Mit Eichlers Tod 1971 starb auch die Zeitschrift. Die Neue Gesellschaft wiederum sollte über Parteikreise hinaus wirksam sein und warb von Anfang an um unabhängige Intellektuelle als Autoren. An Walter Dirks erging die Einladung: »Ich möchte mich an Sie mit der Bitte um einen Beitrag für unsere erste Nummer wenden, die unter dem Leitthema stehen soll, welche politischen Probleme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung sein werden. Wir haben dazu u. a. die Herren Loewenthal, Sternberger, Hiller, Crossmann, Abendroth und Weisser um Beiträge gebeten, und ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden, wenn Sie uns aus katholischer Sicht einen Aufsatz zu diesem Thema zur Verfügung stellen könnten; es liegt uns sehr daran, den Rahmen der Zeitschrift von vorneherein so weit wie möglich zu spannen und sie keineswegs auf den Kreis sozialistischer Mitarbeiter zu beschränken.«684 Die demonstrative pluralistische Offenheit im Vorfeld des Godesberger Programms erfuhr von konservativer Seite ätzende Kritik. In einer Analyse des ersten Jahrgangs warfen die beiden RCDS-Theoretiker und späteren namhaften Publizisten Johannes Gross und Rüdiger Altmann der Neuen Gesellschaft vor, ein »Forum von nahezu gesichtsloser Offenheit entwickelt (zu haben), einem Gemisch von Opportunismus, Kompromißbereitschaft und mißverständlicher Ambivalenz«; statt das Publikum über die »internen Meinungsverschiedenheiten« der Sozialdemokratie zu informieren, würden diese »zugunsten eines durch allgemein gehaltene Diskussionen getarnten Konformismus vermieden«.685 An dieser Kritik traf zu, dass die demonstrative Offenheit im Vorfeld des Godesberger Parteitags 1959 und im Zeichen der »Volkspartei« danach geradezu als programmatisches Kennzeichen der Sozialdemokratie galt, so dass in diesem Sinne die Neue Gesellschaft wiederum viel 683 Hans Riepl an Willi Eichler, 28.10.1965, in: AdsD, Nl. Willi Eichler, 1/WEAA 000092. 684 Ulrich Lohmar an Walter Dirks, 2.4.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 96; auch Hiller war angesprochen worden, allerdings kam es sofort zum Bruch, weil ihm – angeblich entgegen der Absprache mit dem Mitherausgeber Eichler – »aller Antiklerikalismus« herausgestrichen worden war, für Hiller »Feigheit nach der Katholikenseite hin« und ein »Handeln wider Treu und Glauben, reine Strauchdieberei«; Eichler sei ein »Opportunist (…) Ich kotze«; Kurt Hiller an Werner Riegel, 12.7.1954, in: Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 142 f. 685 Rüdiger Altmann/Johannes Gross, Die Neue Gesellschaft (Juni 1954), in: dies., Gesellschaft, S. 48-53, Zitate S. 51 f.
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zu sehr als Parteiorgan angesehen wurde, als dass die Zeitschrift über das sozialdemokratische Milieu hinaus hätte größere Beachtung finden können. Mitte der 1980er Jahre fusionierte sie mit den Frankfurter Heften, so dass sich die spannungsreiche Ambivalenz von intellektueller Zeitschrift und strategischer Parteiarbeit in einem Organ wiederfand. Die einzige Gründung unter den intellektuellen Zeitschriften der 1950er Jahre, die sich erfolgreich entwickelte und ihren Zenit in der nächsten Dekade erreichte, war die in Hamburg erscheinende Konkret, von der Aufmachung her ein Produkt im Grenzbereich von politisch-kultureller Zeitschrift und Illustrierter. Die Anfänge reichen bis ins Jahr 1948 zurück, als sich Klaus Rainer Röhl, der spätere Herausgeber, und der spätere Leiter des Kulturressorts, Peter Rühmkorf, als Schüler eines norddeutschen Gymnasiums kennenlernten.686 Im linken Hamburger Akademiker- und Künstlermilieu produzierte Rühmkorf mit dem Dichter Werner Riegel seit Dezember 1952 eine hektographierte Zeitschrift mit einer verkauften Auflage von maximal 200 Exemplaren; auch Röhl war an diesem Projekt sporadisch beteiligt. Die Zeitschrift hieß Zwischen den Kriegen. Blätter gegen die Zeit und enthielt hauptsächlich expressionistische und dadaistische Lyrik. Der Titel deutete das verbreitete Zeitgefühl an, nur in einer Atempause zwischen zwei Weltkriegen zu leben – die Selbstbezeichnung der vertretenen Richtung war davon ausgehend »Finismus«, was ästhetische und politische Avantgardepositionen vereinte.687 Die Finisten waren der Auffassung, die Nationalsozialisten hätten die besten Teile der deutschen Kultur vernichtet; dies erkläre die Herrschaft der reaktionären Intellektuellen; die Gruppe 47 wurde als spießig angesehen, allerdings achtete man Alfred Andersch, der wie Böll und einige weitere Schriftsteller zu den Beziehern der Zeitschrift zählte. Kurt Hiller, dem das erste Heft ins Londoner Exil gesandt wurde, begeisterte sich für die jungen Intellektuellen in Hamburg und versuchte, sie vom »Finismus« zu politischem Aktivismus im Sinne seiner logokratischen Vorstellungen zu bewegen;688 er veröffentlichte in Zwischen den Kriegen auch einige eigene Texte. Mit dem frühen Tod von Werner Riegel ging die Zeitschrift 1956 ein. Bereits in der Septembernummer 1955 war für politische Diskussionen in der literarisch ausgerichteten Zeitschrift der seit dem Frühjahr ebenfalls in Hamburg erscheinende Studentenkurier empfohlen worden. Diese Zeitschrift war vom westdeutschen Zentralrat der bereits illegalen FDJ und von der – noch – legalen kom-
686 Klaus Rainer Röhl, Fünf Finger sind keine Faust, Köln 1974, S. 43 ff.; Peter Rühmkorf, Werke, Bd. 2, Die Jahre, die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Hrsg. von Wolfgang Rasch, Reinbek 1999, S. 58 ff.; ders., Die heilige Johanna und der Schuft, in: taz, 1./2.4.2006; vgl. die Dokumentation von Hermann L. Gremliza (Hrsg.), 30 Jahre Konkret, Hamburg 1987. 687 Dieter Wellershoff, Was ist Finismus?, in: Deutsche Studentenzeitung (Düsseldorf ), November 1953, S. 21. 688 Schütt, Zwischen den Kriegen, S. 49 ff., 68, 103 ff., 184.
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munistischen Partei geplant worden.689 Das Blatt wurde von Klaus Rainer Röhl, der Anfang 1956 in die KPD eingetreten war, redigiert. Im Hintergrund stand Klaus Hübotter (Jg. 1930), Mitglied der Hamburger kommunistischen Studentengruppe.690 Hübotter, seit 1950 Mitglied der KPD und FDJ, als Funktionär neun Monate in Untersuchungshaft und zu längerer, später auf dem Gnadenweg erlassener Gefängnisstrafe verurteilt, spielte eine dubiose Rolle. Der später als Bauunternehmer reich gewordene und als Mäzen auf dem Gebiet der Kultur in Bremen hoch verehrte Hübotter unterhielt nämlich in den 1950er Jahren eine enge und herzliche Verbindung zu Kurt Hiller, der junge Intellektuelle, neben Hübotter auch Röhl und Rühmkorf, für seinen platonisch inspirierten Neusozialistischen Bund rekrutieren wollte, ideologisch im schärfsten Gegensatz zum Marxismus. In einem langen Brief rechtfertigte Hübotter – einen Monat nach dem Verbot der KPD –, warum er die Partei nicht verlassen werde. Der momentane Zustand der Partei sei »nicht schön«; es »gedeihen noch Bonzokratie, Bürokratie, es herrscht noch eine Atmosphäre, wie sie typisch für Sekten ist«; gäbe es keine internationale kommunistische Bewegung, so wäre die KPD allerdings ein »Verein, aus dem auszutreten man sich ernstlich überlegen müßte«, denn die KPD habe bisher eine Politik betrieben, »die in keiner Weise der Lage in Deutschland entsprach«; abzuwarten bleibe aber, wie sich die Partei in der kommenden Zeit der Illegalität entwickeln werde.691 Peter Rühmkorf verfasste – unter diversen Pseudonymen – einige Leitkommentare, aber vor allem Essays und Kritiken zum kulturellen und literarischen Geschehen.692 Der Studentenkurier benannte sich im Herbst 1957 um in Konkret. Unabhängige Zeitschrift für Kultur und Politik und zielte damit über die universitäre Sphäre hinaus auf das breitere Bildungsbürgertum,693 wobei die »Unabhängigkeit« gern in der Tradition der einstigen Weltbühne gesehen wurde. Die ersten Monate der Konkret waren thematisch eng mit dem Engagement gegen die Pläne zur atomaren Aufrüstung der Bundeswehr verbunden. Ende der 1950er Jahre, mittlerweile befanden sich auch Karlheinz Deschner,694 Erich Kuby, Ulrike Meinhof, Reinhard Opitz, Hans Stern und andere linke Intellektuelle unter den ständigen 689 Vgl. Gallus, Zeitschriftenporträt; Klaus Körner, Von ›Blitz‹ zu ›Konkret‹, in: Aus dem Antiquariat, NF 8, 2010, Nr. 5, S. 201-213. 690 »Röhl war nur ein Strohmann«. Interview von Henning Bleyl mit Klaus Hübotter, in: taz, 17.5.2010; hier die Aussage: »Röhl und Rühmkorf waren lediglich talentierte bezahlte Strohmänner.« 691 Klaus Hübotter an Kurt Hiller, 23.9.1956, in: ders. (Hrsg.), K. H. an K. H. Kurt Hiller, 1885-1972, Klaus Hübotter, *1930, Bremen 2012, S. 67 ff.; Hübotter war bis 1991 Mitglied der DKP. 692 Vgl. Rühmkorf, Die Jahre, S. 56, 121. 693 Der Vorschlag für die Umbenennung stammte von Arno Schmidt; Körner, Von ›Blitz‹, S. 209. 694 Deschner war bereits 1956 von Rühmkorf als Autor für den Studentenkurier angeworben worden; Peter Rühmkorf an Karlheinz Deschner, 12.3.1956; Anfang der 1960er Jahre ein vielbeschäftigter Autor, erhielt Deschner ein Honorar von 200 DM für ca. 8-10 Seiten; Karlheinz Deschner an Redaktion Konkret, 15.3.1961, in: DLA, A: Karlheinz Deschner.
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Autoren, hatte sich um die Konkret ein linkssozialistisches Milieu gesammelt, das in der Kampagne »Kampf dem Atomtod« und im SDS über erheblichen Einfluss verfügte.695 Nachdem die Konkret-Gruppe auf dem West-Berliner Kongress gegen Atomrüstung 1959 überraschend eine Mehrheit für eine Resolution erhalten hatte, in der zu direkten Gesprächen mit der DDR-Führung aufgefordert wurde, reagierte der SDS mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss für die Unterstützer der Konkret. Zwei Jahre später sollte sich diese Maßnahme von der SPD-Führung gegen den gesamten SDS richten. Parallel zur politischen Profilierung hatte sich Konkret mit der ätzenden Literaturkritik, die von Peter Rühmkorf in der Rubrik »Leslie Meiers Schlachthof« zelebriert wurde, einen guten Ruf als kulturelle Avantgardezeitschrift erworben. Konkret, deren Vertrieb an den Universitäten der Bundesrepublik 1960/61 verboten wurde, war zu dieser Zeit nach Umfragen 1960 wohl allen politisch interessierten Studierenden bekannt. Die Crème der kritischen Intellektuellen und Schriftsteller zählte zu den Autoren, darunter Kurt Hiller, der den »metaphysischen Blumenkohl« Martin Heideggers präsentierte,696 Hans Henny Jahnn, der immer wieder literarische Texte zur Verfügung stellte, Arno Schmidt, Hans Magnus Enzensberger und Uwe Johnson. Schon früh war der Verdacht aufgekommen, Konkret werde von der DDR finanziert. Es gab wohl kaum einen glaubwürdigeren Schachzug zur Demonstration von Unabhängigkeit als die Idee von Peter Rühmkorf, in seiner Rolle »Leslie Meier, der Literaturschlachter«, den ostdeutschen Kulturminister Johannes R. Becher (18911958) ein Jahr vor seinem Tod als »literarische Null« zu präsentieren. Dies soll Röhl in der DDR »durchgekämpft« haben.697 Tatsächlich hatte Becher dort schon längst keinen Einfluss mehr. Allerdings brachen Rühmkorf – wie auch Hiller – 1958 mit Röhl wegen der DDR-Abhängigkeit.698 Rühmkorf, der 1959 Lektor des Rowohlt Verlags wurde699 und 1960 auch an Treffen der zuvor von ihm bekämpften Gruppe 47 teilnahm, näherte sich der Konkret sehr bald wieder an,700 während Hiller erst 1962 wieder einen Artikel lieferte, in dem er für die Schaffung einer linkssozialistischen Partei nach Art der Nenni-Partei in Italien warb, um Druck auf die SPD auszuüben. Der Artikel wurde nicht abgedruckt, weil er der Linie von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl widersprach, die die Deutsche Friedensunion (DFU) 695 S. Kapitel II.2. 696 Kurt Kobra (= Kurt Hiller), Metaphysischer Blumenkohl statt Gehirn. Vergangenheit und Gegenwart Martin Heideggers, in: Konkret, Jg. 1, 1957, Heft 6. 697 Körner, Von ›Blitz‹, S. 209 698 Vgl. Schütz, Zwischen den Kriegen, S. 32 ff.; Anlass war die Weigerung von Röhl, eine Petition von Rühmkorf zugunsten des in Ost-Berlin verhafteten West-Berliner Studenten Jochen Staritz in die Konkret zu setzen. 699 Vgl. das Glückwunschschreiben von Hans Magnus Enzensberger an Peter Rühmkorf, 4.2.1959, in: DLA, A: Peter Rühmkorf; auch die weitere Korrespondenz zeigt die Hochachtung von Enzensberger gegenüber Rühmkorf wie der Konkret. 700 Vgl. dazu den empörten Brief von Kurt Hiller an Peter Rühmkorf, 21.12.1959 und die verlegene Antwort von Peter Rühmkorf an Kurt Hiller, 6.1.1960, in: ebd.
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als bürgerliche Bündnisopposition der KPD unterstützten.701 Danach warnte Hiller immer wieder vor einer Mitarbeit an der Konkret.702 Die im Blatt regelmäßig dosiert enthaltene Kritik an der DDR und dem sowjetischen Block703 war aber zunehmend nicht mehr rein taktisch bestimmt, sondern entwickelte sich Anfang der 1960er Jahre zu einem antistalinistischen und reformkommunistischen Muster, das auf einen grundsätzlichen Konflikt mit den Finanziers hinauslief. Schon dass in der Konkret von der »Mauer« und nicht von der »Staatsgrenze« die Rede war, wurde von diesen als feindselige Haltung registriert.704 Geplant war deshalb von der KPD, Röhl durch einen klandestin wirkenden intellektuellen Funktionär, etwa Reinhard Opitz, zu ersetzen.705 Allerdings lagen alle Verlags- und Titelrechte bei Röhl. Das Politbüro der KPD beschloss im Juli 1963 die Einstellung von Konkret, Klaus Rainer Röhl wurde im Mai 1964 aus der Partei ausgeschlossen. Da die Subventionierung, monatlich ca. 40.000 DM, nun ausblieb, geriet das Blatt in eine schwere Krise. Die Rettung erfolgte durch einen energischen Wandel, den Peter Rühmkorf empfohlen hatte, nämlich die Verbindung von »Politik und Pornographie« bzw. von »Sex und Sozialismus«,706 die innerhalb weniger Monate für eine Verdreifachung der Auflage auf ca. 100.000 Exemplare sorgte. Die Verbindungen zur DDR wurden im Übrigen nicht vollständig gekappt, wie sich im Vorfeld der Bewegung von 1968 noch zeigen sollte.707 Das Jahr 1956 war in globaler Perspektive die entscheidende Zäsur und der Ausgangspunkt für die Abkehr eines großen Teils der westlichen kommunistischen Intellektuellen von ihren Parteien gewesen, denen sie sich – trotz aller Enttäuschungen – so lange verbunden gefühlt hatten.708 Aber was für die PCI in Italien oder den PCF in Frankreich galt, war in der Bundesrepublik aus mehreren Gründen nicht der Fall. Die KPD hatte zwar angesichts der ständigen Drohung durch ein Verbot, das schließlich am 17. August 1956 verkündet wurde, große Probleme bei der Rekrutierung von jüngeren Intellektuellen. Bruno Dechamps konstatierte in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Jahr nach dem Verbot der Partei, ihr »intellektueller Anhang« sei längst zusammengeschmolzen – abgesehen von der Universität Hamburg und ansatzweise Heidelberg gebe es auch keine kommunistischen Gruppen im akademischen Nachwuchs. Im Unterschied zu Frankreich und Italien
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Ebd., 34 f. Kurt Hiller an Karlheinz Deschner, 23.12.1962, 1.3.1963, in: DLA, A: Karlheinz Deschner. Röhl, Fünf Finger, S. 82 ff., 109 ff. Gallus, Zeitschriftenporträt, S. 232. Vgl. Röhl, Fünf Finger, S. 258 ff. Obermaier, Sex. Vgl. Victoria Wenz, Die Zeitschrift »konkret« in den Jahren der Großen Koalition 19661969. Politik, Gesellschaft und Kultur, Magisterarbeit Universität Lüneburg 2008, S. 48 ff. 708 Vgl. Axel Schildt, Einleitung: Das lange Jahr 1956, in: Knud Andresen/Mario Kessler/ Axel Schildt (Hrsg.), Dissidente Kommunisten. Das sowjetische Modell und seine Kritiker, Berlin 2018, S. 9-33.
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fehlten in Westdeutschland die »Sprößlinge dritter Generation aus radikalliberalen oder von metaphysischer Langeweile geplagten Elternhäusern«.709 Die kleine Schar kommunistischer Intellektueller war bereits zu Beginn des Kalten Krieges gleichsam exterritorialisiert worden. Die meisten gingen in die SBZ/ DDR, von wo ihnen in weit größerer Zahl politisch verfolgte Publizisten entgegenkamen, die in den Westen strebten, darunter einige Marxisten, die sich unter der SED-Herrschaft in ihrer Existenz bedroht fühlten, etwa Wolfgang Abendroth und Leo Kofler. Im eng begrenzten kommunistischen Milieu der Bundesrepublik fehlten die großen Namen von Intellektuellen, es wurde von autodidaktischen Redakteuren der Parteipresse und einigen Lehrern, Künstlern und Schriftstellern geprägt; allerdings verließen von diesen im ersten Nachkriegsjahrzehnt nur wenige die Partei.710 Gerade der staatliche Verfolgungsdruck erschwerte kommunistischen Intellektuellen, die insgeheim an der Politik der Partei zweifelten, den Abschied. Der jüdische Publizist Ralph Giordano, der das NS-Regime in einem Versteck in Hamburg überlebt hatte, beschrieb in einem Brief an Hans Werner Richter, der ihn zu einem Treffen der Gruppe 47 einlud, seine einstige Bindung an die KPD sehr eindrücklich: »Ich bin 1946 der Kommunistischen Partei Deutschlands in Hamburg beigetreten. Damals beherrschte mich nur ein Gedanke: mich denen anzuschliessen, die mir als die erbittertsten und konsequentesten Gegner des Faschismus ausgewiesen galten – meine jüdische Mutter sollte nicht abermals von Gaskammern bedroht sein. Ich habe die Partei geliebt. Ich hatte, bei meiner nichtproletarischen Herkunft und als ›Intellektueller‹, einen schweren Stand und Weg in ihr, aber ich habe sie geliebt. Es ist zehn Jahre ein Leben gewesen ohne Familie, ohne jede soziale Sicherheit, diese Jahre bedeuteten politische Verfemung, politische Prozesse, Untersuchungshaft, Strafhaft. In all dieser Zeit schien mir meine Existenz außerhalb ihrer Reihen völlig undenkbar.«711 Die staatliche Verfolgung wirkte letztlich als Kitt für den Zusammenhalt des kommunistischen Kernmilieus und als Hindernis für die verbliebenen Intellektuellen, den Umkreis der Partei zu verlassen. Den Bruch mit der KPD vollzog Ralph Giordano nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 mit seinen Enthüllungen über die stalinistischen Verbrechen, allerdings erst Monate später, nach langen und frus-
709 Bruno Dechamps, Geheimbund am Pankower Gängelband. Die Kommunisten in der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.4.1957. 710 Vgl. die generationell differenzierende Skizze von Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle im westlichen Deutschland (1945-1956). Eine glaubensgeschichtliche Untersuchung in vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 35, 2007, S. 258288. 711 Ralph Giordano an Hans Werner Richter, 22.9.1958, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 270 f.
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trierenden Auseinandersetzungen mit den Funktionären der KPD und SED.712 Ganz eindeutig handelte es sich hier nicht um Auseinandersetzungen über Lesarten des Marxismus, die Motive der Parteizugehörigkeit waren anderer – moralischer – Art.713 Und dass im westdeutschen Polizei- und Justizapparat sogar einstige Verfolger erneut auch gegen jüdische Kommunisten vorgingen, konnte diese Sicht nur bestärken. Wichtiger aber als das Verhalten der wenigen organisierten kommunistischen Intellektuellen waren die mit der repressiven staatlichen Politik einhergehenden Auswirkungen auf die gesamte politische Kultur. Dass auch die linken, sich selbst als nonkonformistisch stilisierenden Intellektuellen in der Bundesrepublik sich nicht zur Frage des KPD-Verbots äußern mochten, mag auch an ihrer Abneigung gegen deren geistlose und in serviler Abhängigkeit von der SED betriebene Politik gelegen haben. Eine wichtigere Rolle spielten aber wohl Befürchtungen, damit in der Öffentlichkeit bloßgestellt werden zu können.714 Zugleich aber enthielten sich viele linke Intellektuelle im ereignisreichen Jahr 1956 jeglicher Solidarität mit dem ungarischen Aufstand gegen das stalinistische Regime. Dieses Verhalten lässt sich zwar nicht als bewusste Verweigerung des Antikommunismus angesichts der Kommunistenverfolgung im eigenen Land, aber doch als Entschlusslosigkeit angesichts der Fragwürdigkeit des Verhaltens auch der westlichen Seite verstehen. Während für viele kommunistische Intellektuelle in Frankreich und Italien, die selbstverständlicher Teil der nationalen politischen Kultur waren, der XX. Parteitag der KPdSU und die Geschehnisse in Polen und Ungarn zum politischen Bruch mit der Partei führten, schienen die Linksintellektuellen in der Bundesrepublik politisch wie gelähmt. Ihr auffälliges Schweigen zum Ungarn-Aufstand wurde in einem Rundbrief der Zeitschrift Kultur Anfang Dezember 1956 kritisiert. Die Zeitschrift hatte sich Mitte November bereits an die »führenden Geister Europas aus Literatur, Kunst und Wissenschaft« gewandt, um Stellungnahmen der »Verbundenheit mit
712 Ebd.; vgl. Ralph Giordano, Die Partei hat immer Recht, Köln 1961 (Nachdruck Berlin 1980), S. 147 ff. 713 Vgl. zur theoretischen Einordnung Thomas Kroll, Intellektuelle Kritik und politischer Glaube im westeuropäischen Kommunismus. Ein Essay, in: Andresen/Kessler/Schildt, Kommunisten, S. 34-62. 714 Protestiert hatte Ernst Bloch, zu diesem Zeitpunkt noch in der DDR, der damit den »Staatsstreich gegen alle demokratischen Personen und Einrichtungen vorbereitet« sah; dok. in Klaus Wagenbach (Hrsg.), Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, Berlin 1979, S. 161; Ernst Niekisch äußerte sich schon 1954, noch in der DDR, gegenüber seinem Freund Joseph Drexel zur »Schamlosigkeit« des KPD-Verbotsantrags und vermutete, dass jede »antiamerikanische Opposition in Deutschland ausgemerzt« werden solle; vor allem die Verfolgung des vormals nationalrevolutionären bayerischen KPD-Führers Richard Scheringer wurde von Niekisch als politische Schande gebrandmarkt; Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 13.11.1954, 12.1.1956, 18.7.1956, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 33 b, 34 a, 34 b.
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dem Ringen und Leiden des ungarischen Volkes« zu erhalten715 und in einer Sondernummer zu dokumentieren, die am 1. Dezember erscheinen sollte: »Vergebens haben wir nach Beginn der Ereignisse in Ungarn auf eine Reaktion des geistigen Deutschlands gewartet. Als sich die ungarischen Schriftsteller mit einem Hilferuf an den internationalen PEN und die Künstler der freien Welt wandten, fehlte es zwar in England und Frankreich nicht an Sympathiekundgebungen – in Deutschland aber blieb es still.«716 Zwar veröffentlichte die Kultur dann am 9. Dezember 1956 einen Aufruf von Hans Werner Richter mit dem Titel »Das geistige Europa und die ungarische Revolution«, den namhafte Schriftsteller unterzeichneten. Aber zum einen wurde in dem nur achtzeiligen Text nicht nur gegen die »brutale Vergewaltigung Ungarns durch die sowjetische Militärmacht« protestiert, sondern auch die »gewaltsame Aggression, wie wir sie in diesen Tagen von England und Frankreich in Ägypten erleben«, verurteilt.717 Zum anderen distanzierten sich einige Intellektuelle auch von diesem Text, weil sie sich nicht in eine antikommunistische Phalanx eingliedern mochten. Axel Eggebrecht erklärte, seine »aufrichtige, ja begeisterte Sympathie gehört dem Freiheitskampf der ungarischen Arbeiter, Studenten und Intellektuellen. Aber nur, soweit er diesen Namen tatsächlich verdient. Jede Sympathie mit dem Kardinal Mindszenty, dem Apostel einer feudalen Reaktion, sollten wir verweigern.«718 Robert Jungk erklärte, dass für das Drama in Ungarn auch der Westen durch die »Errichtung von Militärstützpunkten in vorgeschobenen Positionen« verantwortlich sei, die Lösung liege in allgemeiner Abrüstung.719 Und Alfred Andersch sah in dem Manifest keinen Hinweis darauf, dass man in Ungarn »den wahren Kommunismus« als »linken Flügel der Demokratie« unterstütze; ein Allerwelts-Manifest wie das von Hans Werner Richter mochte er nicht unterschreiben.720 Hans Magnus Enzensberger erinnerte sich, für Andersch seien die Aufständischen »lauter Weißgardisten« gewesen. Ob auch dies eine Rolle bei der einvernehmlichen Trennung vom Süddeutschen Rundfunk spielte, muss offen bleiben.721
715 Kurt Desch an Walter Dirks, 16.11.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 112. 716 Johannes M. Hönscheid (Chefredaktion Die Kultur), 1.12.1956, in: DLA, A: Kasimir Edschmid. 717 Vgl. den Text in AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1382; dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 161. 718 Zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 162. 719 Zit. nach ebd., S. 163. 720 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 272. 721 Hans Magnus Enzensberger, Wiedersehen mit den Fünfzigern. Ein Gespräch mit Jan Bürger, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 4, 2015, H. 9, S. 95-110, Zitat S. 104.
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Ein Solidaritätstelegramm des rechtskonservativen Publizisten Rudolf KrämerBadoni an die »Regierung des ungarischen Volksaufstandes«, das »für Euren antikommunistischen Kampf höchste Bewunderung und heiße Wünsche für Euren Sieg« bekundete, wurde von linken Intellektuellen ohnehin einhellig verurteilt, schon weil Krämer-Badoni in der Absenderzeile des Telegramms seine Mitgliedschaft im PEN-Zentrum angegeben und damit den Eindruck erweckt hatte, er spräche nicht allein für sich selbst.722 Es war symptomatisch, dass die Ereignisse in Ungarn unter den dissidentischen Intellektuellen in der DDR größere Aufmerksamkeit erhielten als unter westdeutschen Linksintellektuellen.723 Die intellektuellengeschichtliche Spezifik der Bundesrepublik lag in den 1950er Jahren zudem in der angesichts der gleichen Sprache und gemeinsamer Geschichte bei noch nicht hermetisch abgeriegelten Grenzen vielfältig vorhandenen Verbindungen zu den Berufskollegen in der DDR. Im letzten Drittel des Jahrzehnts verließen zahlreiche Marxisten, enttäuscht und von Repressalien bedroht, den zweiten deutschen Staat, auf den sie lange ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Es mag als List der Geschichte gelten, dass dieser Zustrom vom »realen Sozialismus« enttäuschter marxistischer Dissidenten zur Verstärkung der sich gerade vollziehenden linken Politisierung in der Bundesrepublik beitrug.724 Ob die Aufnahme dissidentischer Geister aus dem Osten auf dem westlichen Markt der intellektuellen Meinungen gelang, lag aber eben nicht allein an deren Bereitschaft, sondern blieb zugleich ein Objekt des Kampfes unterschiedlicher Positionen zur Bekämpfung des Kommunismus in der Bundesrepublik. Während eine liberale Strömung das Gespräch mit den Neuankömmlingen und Dissidenten in den osteuropäischen Ländern suchte, hielten konservative Geister sie für noch gefährlicher als die argumentativ einfacher zu widerlegenden parteitreuen Kommunisten. Diese Konstellation bildete den Hintergrund für einen der großen Rundfunkskandale um 1960, den sogenannten Fall Szczesny beim Bayerischen Rundfunk. Seit der Änderung des Landesrundfunkgesetzes 1959, das dem Rundfunkrat unter Vorsitz von Alois Hundhammer (CSU) »schärfere Kontrollmöglichkeiten über Personal- und Programmentscheidungen« einräumte, und der Wahl des parteilosen katholischen Intendanten Christian Wallenreiter, der sich in späteren Jahren als liberaler Rundfunkpolitiker profilierte, waren die Tage von Szczesny gezählt.725 Kurz nach seinem Amtsantritt ließ Wallenreiter eine Sendung mit dem Titel »Katholizismus in einem kommunistischen Land«, die in der Verantwortung von Szczesny vorbereitet worden war, aus dem Programm nehmen. Autor der Sendung über den Katholizismus 722 Rudolf Krämer-Badoni an Kasimir Edschmid, 28.10.1956, mit beiliegendem Telegrammtext, in: DLA, A: Kasimir Edschmid. 723 Vgl. Jens-Fietje Dwars, Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998, S. 228 ff. 724 S. Kapitel III.2. 725 Grossherr, Aufbruchzeit, S. 169 ff.; eine ausführliche Dokumentation liefert in ihrer Dissertation Sabine Korsukéwitz, Der Fall Szczesny. Zum Verhältnis von Kreativität und Kontrolle im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem, Berlin 1980, S. 54 ff.
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in Polen, die am 15. September 1961 von 21.30 bis 21.55 Uhr gesendet werden sollte, war der polnische Philosoph Leszek Kołakowski, der 1966 aus der Kommunistischen Partei Polens ausgeschlossen wurde und nach einem Lehrverbot 1968 in den Westen ging. Wenige Stunden vor Sendebeginn setzte Wallenreiter die Sendung ab und erhielt dafür die Zustimmung der Mehrheit des Rundfunkrates, was zu einigem öffentlichen Aufsehen führte. Szczesny protestierte umgehend. Er konnte darauf verweisen, dass Kołakowski, der neben Ernst Bloch und Georg Lukács als wichtigster antistalinistischer Marxist im Ostblock gelte, bereits zweimal im BR zu Wort gekommen war. Ansonsten habe die Auseinandersetzung mit dieser Richtung »noch gar nicht recht begonnen«, und der Westen sei dafür »völlig unzureichend gerüstet«.726 Der Text wurde bald darauf in der für den Rundfunk vorgesehenen Version in den Frankfurter Heften publiziert.727 Die heftige Propaganda in der katholischen Bistumspresse, in den Blättern der Vertriebenenverbände und der allgemeinen konservativen Medien setzte allerdings darauf, dass der Inhalt von Kołakowskis Vortrag nicht bekannt war. Mit nüchternem analytischem Blick hatte dieser das Scheitern der atheistischen Propaganda in Polen konstatiert. Gerade dadurch, dass die Kirche nicht mehr über eigene staatliche und wirtschaftliche Machtmittel verfüge, sei sie geistig kreativer und glaubwürdiger geworden. Kołakowskis Propagierung eines toleranten Humanismus, auf den sich Marxisten wie Christen gemeinsam beziehen könnten, war für Julius Kardinal Döpfner in München Anlass für eine Predigt gegen die Funktionalisierung des Humanismus-Begriffs als »psychologisch verfeinerte Form der atheistischen Staatspropaganda«,728 ein Seitenhieb auch gegen die von Gerhard Szczesny vertretenen Auffassungen über die »Zukunft des Unglaubens«.729 Gemeinsam mit Alexander Mitscherlich, René König und anderen gründete Szczesny die Humanistische Union, die sich gegen Tendenzen der Klerikalisierung der Bundesrepublik wandte.730 Der »Fall Szczesny« umfasste einen weiteren Konflikt um »seine« Autoren. Dabei ging es um einen Text des jüdischen Exilschriftstellers Hermann Kesten,731 der bereits am 30. August 1961 von 22.30 bis 23.00 Uhr ausgestrahlt worden war. In »War ich kein Zeuge?« geht es um ein fiktives Gespräch mit Jesus, der mit dem Vorwurf konfrontiert wird, Verbrechen und Unglück in der Welt zuzulassen. Dabei handelte es sich um einen Text, der bereits in der Silvesterausgabe 1960 der konservativen Deutschen Zeitung abgedruckt worden war. Zwar hatte es kaum Reaktionen der Zu726 Gerhard Szczesny an Christian Wallenreiter (nachrichtlich an Walter von Cube), 19.9.1961, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/5, 44 ff. 727 Leszek Kołakowski, Kleine Thesen de sacro et profano, in: Frankfurter Hefte, Jg. 16, 1961, S. 730-734. 728 Der Predigttext wurde von der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA) in ihrem Bayerischen Dienst, Nr. 181, 9.10.1961 veröffentlicht, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/5, 55 ff. 729 Vgl. Karl August Horst, Für und wider den Unglauben, in: Merkur, Jg. 13, 1959, S. 977981. 730 S. Kapitel III.2. 731 Korsukéwitz, Fall Szczesny, S. 54 ff.
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hörer gegeben,732 umso härter fiel wiederum das einmütige Verdikt der Mehrheit der Aufsichtsgremien sowie der konservativen katholischen und der Parteipresse der CSU aus: »Gotteslästerung«!733 Dem standen solidarische Briefe liberaler, aber auch konservativer Intellektueller an Szczesny gegenüber. Erich Kästner, Dolf Sternberger, Rudolf Walter Leonhardt und Karl Korn brachten einhellig Unverständnis und Abscheu gegenüber der Zensurmaßnahme zum Ausdruck. Zur Generalabrechnung kam es in der 185. Sitzung des Programmausschusses am 24. Oktober 1961.734 Die konservative Mehrheit des Gremiums empörte sich zunächst, dass Szczesny im Vorfeld der Sitzung eine Stellungnahme zu den Querelen in der Münchener Abendzeitung abgegeben hatte. Dieser konnte als Begründung anführen, dass er selbst zuvor in der Presse heftig angegriffen worden sei. Vorwürfe der Einseitigkeit konterte Szczesny mit einer Aufzählung der wenigen Sendungen von und über Atheisten, darunter Max Bense, Robert Neumann, Ludwig Marcuse und Jean-Paul Sartre, denen Hunderte von Sendungen mit Theologen und christlichen Schriftstellern in dem von ihm verantworteten Programm gegenüberstanden.735 Argumentativ war die konservative Mehrheit des Gremiums zwar in der Defensive und verstrickte sich in Widersprüche beim Versuch, den Vorwurf der Zensur zu entkräften und die Verantwortung auf den angeblich nicht gesprächsbereiten Leiter des Sonderprogramms abzuwälzen. Aber zum einen wurden immer neue Kritikpunkte gegen Szczesny nachgereicht, zum anderen wurde der Ton in der Presse gegen den »Atheisten« im BR immer schriller.736 Nachdem Szczesny im Rundfunkrat erneut die Linkslastigkeit seines Programms und Kommunistenfreundlichkeit vorgeworfen worden war, reichte er am 24. November 1961 seine Kündigung ein, die vom Intendanten sofort angenommen wurde.737 Die Disziplinierungsversuche im Rundfunk stießen überwiegend auf die Kritik der Medien. Sie wirkten hilflos und zeigten nur, dass sich die politische Kultur seit den Gründerjahren der Bundesrepublik stark gewandelt hatte. Was allerdings kaum erwartet wurde, war der Fortgang in den »langen 60er Jahren« (Anselm DoeringManteuffel), der einzigen Phase in der Geschichte der Bundesrepublik, die von einem ungebrochenen Fortschrittsgeist beseelt war. Die politisch links orientierten Intellektuellen erhielten dabei eine in Deutschland völlig ungekannte Bedeutung.
732 Es finden sich in den Unterlagen von Szczesny lediglich drei antisemitisch angehauchte Briefe; eine Studentin wollte nicht mehr mit diesem »Geschwätz aus altertümlich-umständlichem Stil und Ideenlosigkeit« konfrontiert werden und schlug vor, »Hermann Kesten und seine Brüder im Pessimismus totzuschweigen!«; I. L. an BR, 5.9.1961, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/5, 38. 733 Im Sonderprogramm: Gotteslästerung, in: CSU-Korrespondenz, 17.10.1961. 734 Protokoll der Sitzung des Programmausschusses des BR, 24.10.1961, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/5, 80 ff.; bei der Sitzung wurden auch die Briefe der solidarischen Intellektuellen an Szczesny verlesen; sie befinden sich in der Akte. 735 Ein Register der ca. 600 Autoren des Sonderprogramms des BR vom 30.9.1957 bis 31.3.1962 befindet sich in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/4. 736 Zahlreiche Artikel in: ebd., ED 386/6. 737 Korsukéwitz, Fall Szczesny, S. 81 ff.
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III. Die Intellektuellen in der Transformation
der »langen 60er Jahre«
Man kann geradezu von einer stillen Doppelrevolution der Gesellschaft um 1960 sprechen, die markante sozialhistorische Entwicklungen und innerhalb dieser wiederum einen tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit einschloss. Im zweiten Nachkriegsjahrzehnt wurde der Wiederaufbau im engeren Sinne weitgehend abgeschlossen, es begann der Weg in eine ungekannte Zukunft.1 Überall war mit der Verbesserung der materiellen Lebensumstände eine deutliche Aufhellung der düsteren, ängstlichen Atmosphäre der frühen 1950er Jahre zu spüren. Rasant steigende Einkommen und kürzere Arbeitszeiten schufen die Basis für ein neues Konsummodell und moderne Lebensstile, besonders ausgeprägt in den neuen suburbanen Siedlungen mit technisch immer besser ausgestatteten Wohnungen. In diesem Zeitraum wurde die Bundesrepublik, allen Dementis zum Trotz, zum Einwanderungsland und internationalisierte sich durch die systematische Anwerbung von Gastarbeitern aus Süd- und Südosteuropa. Zugleich vollzog sich eine »Feminisierung« der Arbeitswelt. Der weibliche Anteil stieg bei Angestellten und Beamten während der 1960er Jahre von 30 auf fast 45 Prozent. In der Zeitgeschichtsschreibung wird der Zeitraum vom letzten Drittel der 1950er bis zum ersten Drittel der 1970er Jahre mit dem Begriff der »langen 60er Jahre« (Anselm Doering-Manteuffel) charakterisiert. Er umfasst die Take off-Phase zu einer Moderne als allgemeiner Lebensweise, die Transformation zu einer postindustriellen Gesellschaft und die nochmalige Dynamisierung des WiederaufbauBooms.2 Von heute aus betrachtet, handelte es sich zwar für die große Mehrheit der Bevölkerung noch um einen recht bescheidenen Wohlstand, aber als Maßstab diente die nur wenige Jahre zurückliegende »schlechte Zeit«. Nicht nur die Frauen wurden umworben, sondern sehr häufig die gesamte Familie als Kommunikationsfeld potentieller Konsumenten, und erstmals traten auch Jugendliche, die über 1 Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 22003; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 179 ff.; für den Forschungsstand und nähere Angaben zu grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungen vgl. Axel Schildt, Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007; ders./Siegfried, Kulturgeschichte, S. 245 ff. 2 Dabei geht es nicht um harte Zäsuren, sondern um eine kulturhistorisch konturierte Übergangszeit mit symbolhafter Hervorhebung darin liegender Jahre; vgl. etwa Gallus/Müller, Sonde 1957; Matthias N. Lorenz/Maurizio Pirro (Hrsg.), Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950er Jahre, Bielefeld 2011.
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eigenes Geld verfügten, vermehrt als Trendsetter auf. Diskutiert wurde darüber gern unter dem Stichwort der »Amerikanisierung«. Zunächst soll der intellektuellengeschichtlich bedeutsame Wandel der Öffentlichkeit betrachtet werden. Dabei geht es zuerst um die Frage, inwiefern der Wandel zur Fernsehgesellschaft die Publizisten und Schriftsteller tangierte. Danach werden wesentliche Signaturen der als Reformklima charakterisierten Transformationsphase im Blick auf die Geschichte der Intellektuellen und ihrer Medien untersucht. Im dritten Schritt erfolgt eine Betrachtung der linken Politisierung eines Teils der Schriftsteller und Publizisten, die von wichtigen Verlagen und Zeitschriften unterstützend begleitet wurde. Während dieses Themenfeld in den letzten Jahren einige Aufmerksamkeit gefunden hat, ist kaum etwas über die Bemühungen der konservativen Intellektuellen bekannt, ihre Hegemonie, die sie im ersten Nachkriegsjahrzehnt errungen hatten, zu behaupten bzw. neu herzustellen, obwohl die konzeptionelle Kreativität und Produktivität in der Geschichte des Konservatismus immer dann am größten war, wenn seine Macht unterminiert wurde und existenziell gefährdet schien. Am Beispiel einiger wichtiger Initiativen sollen im vierten Abschnitt diese konservativen Bemühungen betrachtet werden. In den 1960er Jahren reduzierten sich die in Kapitel II identifizierten sechs Strömungen auf eine Konstellation von drei Kräften mit ihren medialen Stützpunkten: Auf der einen Seite standen die sich nach links wendenden, auf der anderen die um ihre Macht besorgten konservativen Intellektuellen. In der Mitte dieser idealtypisch zu verstehenden Anordnung standen reformbereite liberale Kräfte und weite Teile der Sozialdemokratie, die zunächst das intellektuelle Meinungsklima bestimmten. Diese Konstellation galt mit veränderter Kräfteverteilung auch für das spektakuläre Ende der 1960er Jahre, das unter der Chiffre »1968« firmiert. Dabei stehen in der Literatur allerdings bisher spektakuläre politische Aktionen auf der einen und die Veränderung der Alltagskultur und Lebensweise unter generationellen Aspekten auf der anderen Seite im Vordergrund. Als Intellektuellengeschichte ist 1968 bisher nur unzureichend begriffen worden. Im vierten Abschnitt dieses Kapitels soll der scheinbare Widerspruch von Intellektuellengeschichte und dem antiintellektuellen Fetisch Revolution im Mittelpunkt stehen.
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1. Die Intellektuellen in der Fernsehgesellschaft Das neue moderne Konsummodell präsentierte sich als Dualismus. Auf der einen Seite entwickelte sich in Verbindung mit dem suburbanen Wohnen eine enorme Steigerung der Mobilität in Form der Auto-Mobilisierung. Eine Frau, zwei Kinder, drei Räume, vier Räder – auf diese spaßig gemeinte Formel brachte ein zeitgenössischer Beobachter diesen Lebensstil. 1959 fuhren 3,3 Millionen, nur fünf Jahre später bereits 7,7 Millionen Pkw auf den Straßen der Bundesrepublik. Steigende Löhne, die Verbilligung des Benzins und der Autos führten dazu, dass der Luxustraum vom eigenen fahrbaren Untersatz für viele Menschen zur realen Möglichkeit wurde. Beworben wurde der Pkw vornehmlich als »Familienkutsche«, die auch Wochenendausflüge und Urlaubsfahrten ermögliche. Auf der anderen Seite verstärkte sich eine ausgeprägte neue Häuslichkeit in den Eigenheimen und Wohnungen »im Grünen«, von der Grillparty im Garten bis zur Pflege des fahrbaren Untersatzes. An erster Stelle zementierte das Fernsehgerät die moderne Häuslichkeit. Die Bundesrepublik wurde in den 1960er Jahren zur TVGesellschaft. Etwa ein Viertel aller privaten Haushalte besaß zu Beginn des Jahrzehnts ein Fernsehgerät, mehr als drei Viertel waren es Anfang der 1970er Jahre. Es gab kein anderes Konsumgut, bei dem die Entwicklung in der DDR so ähnlich verlief wie bei der Ausstattung mit Fernsehgeräten.1 Das Fernsehen führte zu einem tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit und lebensweltlichen Veränderungen, eine alltagskulturelle Revolution im tiefsten Frieden. Immer hochwertigere Geräte wurden immer billiger angeboten. Der wachsende Wohlstand machte die Anschaffung problemlos, zumal bequeme Ratenzahlungen offeriert wurden und das Gerät auch noch Einsparungen bei bisherigen außerhäuslichen Vergnügungen, etwa Kinobesuchen, ermöglichte. In Umfragen dazu wurden immer die gleichen Gründe genannt. In der gemütlichen Atmosphäre der eigenen vier Wände ließen sich Filme komfortabler und preisgünstiger genießen; die Wendung von den »drei F’s« – Fernsehen, Filzlatschen, Flaschenbier – fand allgemeine Verbreitung. Die Macht des Fernsehens (seit 1964 auch tragbar und seit 1967 in Farbe) verstärkte in der familiären und privaten Sphäre die bereits seit der Zwischenkriegszeit vom Radio her bekannten Muster der Ausrichtung häuslicher Zeitstrukturen am Programm eines elektronischen Mediums – zum Beispiel in Verbindung mit dem Einnehmen der Mahlzeiten. Am 1. April 1963 begann nach jahrelangen politischen Querelen von Mainz aus der Sendebetrieb des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), so dass sich das Angebot verdoppelte, ein Jahr später richteten die ARD-Anstalten die Dritten Pro-
1 Eine umfassende Darstellung liefert Knut Hickethier, Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart/Weimar 1998; die Kapitel zum Fernsehen der DDR darin stammen von Peter Hoff (ebd., S. 181 ff., 281 ff.).
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gramme ein, die anfangs gewisse Bildungsansprüche hervorhoben.2 Die Menschen lernten sehr rasch mit dem Fernsehangebot umzugehen. Zum Unmut der Verantwortlichen, die von Anfang an eigens für die Koordination zwischen erstem und zweitem Programm sorgten und »Schutzzonen« für politische Informations- gegenüber Unterhaltungssendungen schufen, beherrschte das Publikum virtuos die Slalomtechnik des Hin- und Herschaltens, mit der belehrende Sendungen umgangen und unterhaltende Angebote gefunden werden konnten. Für die Geschichte der Intellektuellen bildete die Zeit um 1960 eine bemerkenswerte Zäsur. Dass sich Publizisten und Schriftsteller, Buchverlage und Redaktionen auf neue gesellschaftliche und politische Entwicklungen einzustellen hatten bzw. diesen Entwicklungen Ausdruck verliehen, war das »Normale«. Aber zum ersten Mal in der Neueren Geschichte spielten sich deren Diskurse nicht mehr vor allem im modernsten »Leit«-Medium ab, entkoppelte sich die allgemeine Modernisierung von der intellektuellen Produktion. Um 1960 wurde unter den für die Programme verantwortlichen und den maßgeblichen Intellektuellen in Rundfunk, Fernsehen und Printmedien intensiv diskutiert. Dabei spielte vor allem die Evangelische Akademie für Rundfunk und Fernsehen in enger Zusammenarbeit mit der katholischen Rundfunkarbeit eine wichtige koordinierende Rolle. Auf der einen Seite standen die Kritiker des Fernsehens, darunter Hendrik de Man, Karl Korn, Theodor W. Adorno und Emil Dovifat – und am radikalsten Günther Anders. Sie betonten die Infantilisierung durch die visuelle Überwältigung des Wortes und die Entfremdung innerhalb des Familienverbandes, dessen Mitglieder isoliert voneinander dem Apparat ausgeliefert wären. Auf der anderen Seite hoben Vertreter der Rundfunkanstalten, aber auch eine Mehrheit der kirchlichen Experten die Verdienste des Fernsehens für die Förderung des familiären Zusammenhalts hervor.3 Die Anwesenheitsliste einer Tagung zu Medienfragen in Arnoldshain/Taunus führt, von Conrad Ahlers (Frankfurter Rundschau) und Walter Dirks bis zu Helmut Schmidt (SPD) und Martin Walser, die Crème de la Crème auf.4 Es ging um »Zeitkritik in Rundfunk und Fernsehen«, aber zugleich stand die Frage im Raum, ob das audiovisuelle Medium überhaupt ein Forum für intellektuelle Diskurse sein könne, was eher skeptisch beurteilt wurde. Als Reaktion auf das neue Medium änderten die Anstalten der ARD, zuerst der Südwestfunk am 30. Juni 1956, ihre abendlichen Sendezeiten, um es dem Publikum zu ermöglichen, anspruchsvolle längere Hörfunksendungen vor dem Beginn des abendlichen Fernsehprogramms – seiner2 Vgl. Achim Klünder, Kulturmagazine der Dritten Fernsehprogramme 1964-1973, Frankfurt a. M. 1975; Rüdiger Steinmetz, Das Studienprogramm des Bayerischen Rundfunks. Entstehung und Entwicklung des Dritten Fernsehprogramms in Bayern 1961-1970, München 1984. 3 Vgl. Schildt, Moderne Zeiten, S. 385-397; s. auch II.2.2. 4 Anwesenheitsliste »Zeitkritik in Rundfunk und Fernsehen«. Tagung der Evangelischen Akademie für Rundfunk und Fernsehen in der Evangelischen Akademie Arnoldshain/Taunus, 23.-15-11.1959, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 119 A.
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zeit um 20 Uhr – zu verfolgen. Aber es gab auch trotzige elitäre Stimmen, die das Vordringen des Fernsehens als Chance ansahen, dass der Hörfunk wieder »wesentlich« werde. Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie für Funk und Fernsehen zwei Jahre zuvor mit dem Titel »Der Rundfunk im Schatten des Fernsehens« hatte sich ein Vertreter des Hessischen Rundfunks dementsprechend vernehmen lassen: »Wir müssen dem lieben Gott danken, daß das Fernsehen gekommen ist, nun werden wir den ›Schnulzen-Hörer‹ los.«5 Einige Intellektuelle, die bisher schon im Radio eine prominente Rolle gespielt hatten, versuchten auszuloten, inwieweit das Fernsehen produktive Möglichkeiten biete. Das meinte nicht das Fernsehspiel, das sich als Mischform von Theaterinszenierung und Kinofilm bereits etabliert hatte und sich für Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Siegfried Lenz als eine lukrative zusätzliche Einnahmequelle erwies. Die Fernsehverantwortlichen sahen hier die aussichtsreichste Perspektive für die Stärkung intellektueller Potentiale – gerade als »Instrument heutiger und junger Autoren«.6 Strittig aber waren jene Formate, die diskursive Interventionen erlaubten und bisher – wie vor allem die politisch-kulturellen Nachtprogramme – dem Hörfunk vorbehalten waren. Hans Werner Richter ging die Prüfung sehr pragmatisch an. An Rüdiger Proske (NDR) schrieb er: »Kann ich mit Deiner Unterstützung rechnen, wenn ich etwa Ende April eine große Fernseh- und Funktagung (oder nur Fernsehen) der Gruppe 47 machen will? Ich stelle mir eine solche Tagung mit Vorführungen und anschließender Kritik vor. Ähnlich wie es in der Gruppe 47 auch sonst gehandhabt wird.«7 Für sich persönlich sah er eine positive Perspektive beim Fernsehen, die Gruppe 47 fungierte dabei als immer wieder auszuschöpfendes Reservoir, etwa für seine Sendung »Literarisches Kolloquium«, die seit 1964 vom ZDF ausgestrahlt wurde, ein Vorläufer heutiger Diskussionsrunden über belletristische Neuerscheinungen. In das gleiche Jahr fällt die erste Ausstrahlung einer Live-Sendung von Marcel Reich-Ranicki mit dem Titel »Das literarische Kaffeehaus« aus dem Weinhaus Wolf in Hannover. Produziert für den Hörfunk, wurde die Sendung auch von einigen Fernsehsendern übernommen. Reich-Ranicki unterhielt sich dort, assistiert von Hans Mayer, jeweils mit einem Gast, darunter Adorno, Augstein, Bloch, Böll, Enzensberger, Grass, Jens, Koeppen, Lenz, Hilde Spiel, Walser und andere. Die Gespräche behandelten nicht nur literarische Fragen, sondern ebenso aktuelle gesellschaftliche Probleme. Die Sendung endete stets mit dem Brecht-Zitat: Wir
5 Wandert das Radio in die Küche?, in: Kölner Stadtanzeiger, 3.12.1957, zit. nach Schildt, Moderne Zeiten, S. 259; weitere Pressestimmen zu dieser wichtigen Tagung in: NDR-Archiv, 01.06589.000 und 01.06590.000. 6 Hubert von Bechtolsheim an Martin Gregor-Dellin, 16.10.1962, in: DLA, A: Martin Gregor-Dellin. 7 Hans Werner Richter an Rüdiger Proske, 23.10.1960, in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 3583.
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»sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Als 1988 die Sendung »Literarisches Quartett« im ZDF startete, behielt Reich-Ranicki das Zitat bei.8 Eines der frühesten Interview-Formate war die Sendereihe »Aus erster Hand«, die Rüdiger Proske und Thilo Koch gemeinsam für den NDR konzipiert hatten. Hier traf von 1958 bis 1960 jeweils ein prominenter Intellektueller, darunter Bertrand Russell, Arnold J. Toynbee, Martin Buber, Theodor Heuss und Karl Jaspers, auf gleich drei Interviewer.9 Zur Koordination seiner medialen Aktivitäten hatte Hans Werner Richter eigens einen Wohnsitz in West-Berlin genommen.10 Für die ARD kreierte er mehrere Reihen wie »Berlin X-Allee, Jour Fixe« bzw. »Berlin 33, Hasensprung«, die im Mai 1964 mit dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß eröffnet wurde. Zahlreiche prominente Politiker und Publizisten jeglicher Couleur gastierten bei Richter.11 In einer weiteren TV-Reihe mit dem Titel »Das S. Fischer-Haus im Grunewald« diskutierte Richter vornehmlich mit Literaturkritikern das Werk von Schriftstellern, die von der Jahrhundertwende bis 1934 in der Residenz des Verlegers ein und aus gegangen waren. Vor allem Kollegen aus der Gruppe 47 lud Richter für seine Reihe mit dem Titel »Berliner Werkstatt: Große Tage« ein, sich über ein historisches Datum zu unterhalten. Auch dies war für die Beteiligten eine lukrative Veranstaltung. Für ein Gespräch darüber, was sie am Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs getan hatten, bot er Heinrich Böll 1.000 DM Honorar zuzüglich Spesen für Flug, Hotel usw.12 Auch Theodor W. Adorno zeigte sich – ungeachtet seiner prinzipiellen Kritik des audiovisuellen Mediums – aufgeschlossen gegenüber dem Vorschlag seines RadioDialogpartners Arnold Gehlen, ihre Diskussionen vom Hörfunk ins Fernsehen zu bringen. Dieser schrieb ihm, der WDR sei an ihn herangetreten, dort ein Gespräch über das Thema »Institution und Freiheit« zu führen. Er meine allerdings, dieses wäre »unvergleichlich flüssiger, geschlossener und ertragreicher« zu führen, wenn es »vorgeprobt« würde.
8 Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 433. 9 Unterlagen in: BAK, Nl. Thilo Koch, 61; s. auch das Exposé von Koch für eine Sendereihe »Der Autor im Gespräch« (1963), in: BAK, Nl. Thilo Koch, 134; als Interviewpartner waren vorgesehen Marion Gräfin Dönhoff, Peter Bamm, Paul Sethe, Heinrich Böll, Carl Amery und Erich Maria Remarque. 10 Vgl. die folgenden Beispiele bei Dominik Geppert, Hans Werner Richter als Tagebuchschreiber. Mutmaßungen über einen Text, den es eigentlich nicht geben sollte, in: Hans Werner Richter, Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972. Hrsg. von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz, München 2012, S. 221-269, hier S. 248-252. 11 U. a. die Politiker Kurt Georg Kiesinger, Karl Theodor zu Guttenberg und Jochen Steffen sowie die Publizisten Rudolf Augstein und Johannes Gross (Geppert, Mutmaßungen, S. 249). 12 Hans Werner Richter an Heinrich Böll, 16.7.1969, in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 8371; dort auch die folgende Korrespondenz dazu.
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»So habe ich den WDR-Leuten gesagt, ich bestünde bei einem TV-Gespräch mit Ihnen auf einer vorhergehenden (nicht am selben Tag, damit man die Sache noch überdenken kann) Generalprobe, man schien einverstanden. Ein Manuskript ist bei der Gelegenheit ausgeschlossen, aber man sollte dann umso genauer wissen, wohin die Reise geht.«13 Adorno sagte »gern zu«, gab allerdings zu bedenken, dass »nach meiner Erfahrung wirklich spontane Gespräche immer produktiver und besser sind als solche, die bereits vorher fixiert wurden. Und wenn nicht live gesendet wird, so hat man auch die Möglichkeit, wenn man mit etwas unzufrieden ist, zu unterbrechen und die betreffende Sequenz neu zu machen.«14 Adornos überlegene Ad hoc-Performanz, die bereits seine Diskussionspartner im Hörfunk geängstigt hatte,15 wiederholte sich beim audiovisuellen Medium offenbar in gesteigerter Form. Insgesamt wird man nicht sagen können, dass intellektuelle Inhalte im Fernsehen keinen Platz gefunden hätten. Zumal nach dem Start der Dritten Programme der ARD wurden 1964 Sendungen, die zuvor im Radio stattgefunden hatten, nun ins Bild gesetzt; daneben gab es genuin neue Formate als Innovation im Rahmen des audiovisuellen Mediums. Für die Übernahme von Sendungen aus dem Hörfunk steht – neben den erwähnten Sendungen über Literatur – als frühestes Beispiel der »Internationale Frühschoppen« unter der Leitung von Werner Höfer, den der NWDR Köln seit 1952 im Radio ausstrahlte und der bereits ein Jahr später auch im Fernsehen (bis 1987) verfolgt werden konnte. Von Alfred Grosser und Sebastian Haffner bis zu Rudolf Augstein und Melvin J. Lasky diskutierten hier am Sonntagmittag auch hochkarätige Intellektuelle vornehmlich Fragen der großen Politik und gesellschaftliche Probleme.16 Als Weiterentwicklung von Formaten des Hörfunks sind die Interview-Sendungen »Zur Person – Porträts in Frage und Antwort« (ZDF 1963-1965) und »Zu Protokoll« (ARD seit 1966) anzusehen, die Günter Gaus zu legendärer Brillanz entwickelte. Er erwarb sich mit seinen einfühlsamen Fragen den Ruf eines exemplarischen Fernseh-Intellektuellen, der die zusätzlichen Möglichkeiten des neuen Mediums sensibel einzusetzen wusste.17 Die Gesprächspartner kamen hauptsäch13 Arnold Gehlen an Theodor W. Adorno, 10.4.1967, in: AdK, Theodor W. Adorno-Archiv. 14 Theodor W. Adorno an Arnold Gehlen, 14.4.1967, in: ebd.; ob es zu dieser Sendung, die zwischenzeitlich vom WDR zum HR verlagert werden sollte, gekommen ist, ließ sich nicht ermitteln. 15 S. Kapitel II.4.3. 16 Vgl. Verheyen, Diskussionslust, S. 154 ff. 17 Vgl. Nekrologe von Alexander Kluge, Günter Gaus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 49, 2004, S. 802; Peter Jochen Winters, Zum Tod von Günter Gaus, in: Deutschland Archiv, Jg. 37, 2004, S. 573 f.
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lich aus der Politik. Unter den ersten zwölf waren sieben Bonner Politiker.18 Unter den insgesamt etwa 200 Eingeladenen in den vierzig Jahren dieser Sendung ist nur eine Handvoll als Intellektuelle oder Intellektueller anzusehen, darunter Martin Niemöller, Arthur Koestler, Kasimir Edschmid, Golo Mann, Günter Grass, Oswald von Nell-Breuning, Otto von Habsburg und Dorothee Sölle.19 In besonders nachhaltiger Erinnerung blieben zwei Gesprächspartner aus dieser Gruppe: Hannah Arendt, die zwar einigen Intellektuellen ein Begriff war, hier aber erstmals einem größeren Publikum vorgestellt wurde,20 und Rudi Dutschke. Wer heute die Diskrepanz von inhaltlich wenig beeindruckendem schriftlichen Text und dem suggestiven Charisma der mündlichen Rede in der Studentenbewegung nachempfinden möchte, findet hier ein hervorragendes Beispiel und versteht 1968 besser als durch die Lektüre von großen Flugblattkonvoluten. Allerdings differierten die Wahrnehmungen der Zeitgenossen mitunter beträchtlich mit unserer heutigen Begeisterung. So schrieb Karl Jaspers an seine Freundin Hannah Arendt: »Es war nicht schön: Immer wechselnde Aspekte, die ablenkten, Dein Kopf manchmal über der wirklichen Größe, ärgerlich, weil man die Muskeln des Halses, manchmal zuckend, Dich gleichsam wie eine anatomische Demonstration sah, wieder ablenkend – und barbarisch. Dadurch, daß Gaus niemals sichtbar war, wurde es noch schlimmer. Dann das helle Weiß von Gesicht und Armen, wie immer im Fernsehen. Trotzdem war Dein Gesichtsausdruck manchmal, wie seit Jahrzehnten gewohnt, herrlich, manchmal gespannt und etwas nervös. Die Spontaneität war echt und daher glaubhaft.«21 Ein genuin neues Format waren die kritischen Fernsehmagazine mit einer Dauer von 45 Minuten, in denen mehrere kleinere Filmbeiträge zu politischen und gesellschaftlichen Missständen anschließend vom Moderator kommentiert und bisweilen durch ein Interview mit einem Experten zum jeweiligen Thema vertieft wurden. Es ist bemerkenswert, dass Anfang der 1960er Jahre das Gegenteil von dem entstand, was die Regierung Adenauer angestrebt hatte. Schon lange über angebliche sozialdemokratische Einseitigkeit der ARD-Anstalten verärgert, war von der Regierung als Gegengewicht ein staatliches Fernsehen, seit 1958 vorbereitet von einer Freies Fernsehen GmbH (FFG), als Gegengewicht forciert worden.22 Diese Pläne, von unabhängigen Intellektuellen als Regierungsfernsehen gefürchtet, stoppte ein 18 Vgl. Günter Gaus, Zur Person. Porträts in Frage und Antwort, München 1964; ders., Zur Person. Von Adenauer bis Wehner. Porträts in Frage und Antwort, Köln 1987. 19 Günter Gaus, Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen, Berlin 2004, S. 193-204, 355-369. 20 Günter Gaus/Hans-Dietrich Schütt, Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews, Berlin 2005, S. 311 ff. 21 Karl Jaspers an Hannah Arendt, 29.10.1964, in: Arendt/Jaspers, Briefwechsel, S. 608. 22 Durch zusätzliche Frequenzen war das seit 1956 technisch möglich geworden; vgl. Rüdiger Steinmetz, Freies Fernsehen. Das erste privat-kommerzielle Fernsehprogramm in Deutschland, Konstanz 1996.
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wegweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1961. Noch dazu hatte die Bundesregierung mit dem linken Remigranten Ernest Bornemann einen höchst unkonventionellen Experten für die Programm-Konzeption eines zweiten Freien Fernsehkanals konsultiert, der überhaupt nicht zu den konservativen Zielen der sonstigen Berater passte, aber auch von vielen Linksintellektuellen, die er einbeziehen wollte, boykottiert wurde.23 Das schließlich durch einen Staatsvertrag gegründete ZDF unter Leitung von Karl Holzamer war in den Augen Konservativer allenfalls ein schlechter Kompromiss. Jedenfalls wurde das Fernsehen nicht zur Bastion für Regierungspropaganda. Im Gegenteil, die kritischen Fernsehmagazine, zuerst »Panorama«, dann »Report« und »Monitor«, wirkten mit beim Wandel vom regierungstreuen »Konsensjournalismus« zur unabhängigen »Zeitkritik«.24 Entscheidenden Anteil daran hatte das sehr erfolgreiche »Panorama«. Die Zuschauerbeteiligung stieg von 15 Prozent Anfang 1962 auf etwa 50 Prozent ein Jahr später. »Panorama«, zweiwöchentlich im Wechsel mit dem Magazin »Report« ausgestrahlt, beleuchtete mit kritischen Beiträgen zahlreiche Bonner Regierungsaffären. Daneben befasste sich der Moderator Gert von Paczensky (1925-2014)25 immer wieder mit dem französischen Kolonialismus in Algerien. Zahlreiche Intellektuelle lieferten dem Magazin zu, zum Beispiel Axel Eggebrecht, der seit der Zwischenkriegszeit über Drehbuch-Erfahrungen verfügte, aber wie die meisten Intellektuellen die Arbeit für den Hörfunk als letztlich wertvoller einschätzte.26 Paczensky wurde zum Hassobjekt von Regierungspolitikern und des SpringerKonzerns – 1960 hatte er wie sein Partner Rüdiger Proske noch zur Redaktion der Tageszeitung Die Welt gehört. Die Bild-Zeitung rief sozusagen stellvertretend für die vox populi den NDR dazu auf, Proske und Paczensky umgehend zu entlassen: »Das Volk hat die Nase voll von der Fernseh-Diktatur. Auch politisch ist in den Fernseh-Häusern etwas nicht in Ordnung. (…) Wenn sie nicht mitschuldig werden wollen an der zerstörerischen Propaganda der heimatlosen Linken, dann wird es Zeit, daß deren Treiben ein Ende gemacht wird.« Am nächsten Tag druckte das Blatt einen Leserbrief ab mit der auf das Erscheinungsbild des Moderators gemünzten Forderung: »Der Spitzbart muß weg!«27
23 Detlef Siegfried, Moderne Lüste. Ernest Bornemann – Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher, Göttingen 2015, S. 223 ff. 24 Hodenberg, Konsens, S. 293. 25 1963 bis 1965 war Paczensky stellvertretender Chefredakteur des Stern, um 1970 kurzfristig Intendant von Radio Bremen. Später engagierte er sich im Vorstand des Schriftstellerverbandes und schrieb über Jahrzehnte hinweg Gastro-Kritiken in Essen und Trinken. 26 Vgl. Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 188. 27 Bild, 13.2. und 14.2.1962, zit. nach Gerhard Lampe, Panorama, Report und Monitor. Geschichte der politischen Fernsehmagazine 1958-1990, Konstanz 2000, S. 71; der »Spitzbart« bezog sich auf den Vergleich von Paczensky mit Walter Ulbricht.
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CDU-Politiker boykottierten die Sendung, im Frühjahr 1963, nachdem sich »Panorama« in der Spiegel-Affäre besonders kritisch exponiert hatte,28 wurde der Vertrag von Paczensky nicht verlängert, ein halbes Jahr später auch Proske entlassen. Allerdings ließ sich das Format des kritischen Fernsehmagazins nicht mehr abschaffen. Die Nachfolger Eugen Kogon und dann Joachim C. Fest und Peter Merseburger bei »Panorama« sowie Hans Heigert, Mitglied der CSU, danach Günter Gaus bei »Report« sowie Claus Hinrich Cassdorf bei »Monitor« in den 1960er Jahren verstanden sich als unabhängige und regierungskritische Publizisten.29 Versuche des Intendanten, explizit konservative Parteigänger als Nachfolger zu installieren, blieben erfolglos, etwa im Fall des mit Paczensky bereits zuvor hoffnungslos zerstrittenen USA-Korrespondenten Thilo Koch, der, so die Planungen bereits seit 1962, diesen als »Panorama«-Chef ersetzen sollte. Paczensky und Proske wiederum versuchten, die Verwirklichung dieses Plans zu verhindern. Auch Jürgen Neven du Mont war gefragt worden, ob er zusammen mit Thilo Koch die Sendung leiten wolle, konnte sich jedoch ungeachtet seiner freundschaftlichen Verbindung eine Zusammenarbeit für ein Nachfolgemagazin unter dem Titel »Brennpunkte« nicht vorstellen.30 Schließlich entschloss man sich auch wegen der Außenwirkung, »Panorama« unter dem ursprünglichen Titel fortzuführen.31 Die Entwicklung der Zeitkritik im Fernsehen verband sich mit einem Aspekt der Intellektuellen-Geographie. Das besondere Engagement des NDR in diesen Belangen führte dazu, dass Hamburg in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zum zentralen Ort der linksliberalen Publizistik wurde, obwohl oder vielleicht auch weil die lokale Presse nach rechts rückte, so dass Spannungsverhältnisse das Geschehen belebten. Geprägt wurde das Image aber von Zeit, Spiegel, Stern und NDR, wobei es sich eher um ein Milieu handelte, in dem jeder jeden kannte, nicht aber um einen intentional gemeinsam agierenden Verbund. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre vollzog sich auch der allmähliche Aufstieg West-Berlins in der Bedeutungsskala der Intellektuellen. Die Insellage im Kalten Krieg, die zunächst zur Abwanderung vieler Verlage und Redaktionen geführt hatte, gewann angesichts der außenpolitischen Entspannung sogar einen eigenen Reiz. Hans Werner Richter bemühte sich vor allem darum, Berlin vom Image zu befreien, es sei eine »gefährliche und zugleich wertlose Bastion des Westens, eine Frontstadt, belebt von dem etwas penetranten Geist des modernen antikommunis-
28 S. Kapitel III.2. 29 Vgl. Lampe, Panorama, S. 81 ff. 30 Jürgen Neven du Mont an Thilo Koch, 10.12.1962, in: BAK, Nl. Jürgen Neven du Mont, 15/16; Jürgen Neven du Mont an Thilo Koch, 24.10.1963, in: BAK, Nl. Jürgen Neven du Mont, 19/20. 31 Koch wurde aus der Chefetage umgehend darüber informiert, dass Joachim C. Fest nach der Kündigung von Proske zum Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen bestellt worden war; Hans Arnold/Fernsehprogrammdirektion NDR an Thilo Koch, 19.10.1963, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 134.
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tischen Frontkämpfertums«.32 Vielmehr stelle sich die Stadt für Intellektuelle als »geometrisch richtiger Ort« dar, schrieb Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger.33 Hans Werner Richter beschrieb die »Atmosphäre einer zwanzig Jahre lang belagerten Metropole«, mit künstlichen Lungen atmend, »die aus den politischen Kliniken des Westens geliefert wurden. (…) Jazz schlägt mir entgegen (…) ein Rausch von Coca-Cola und Synkopen … jenseits der üblichen Welt«.34 Der von Richter empfundene »Lebensstil einer entstehenden Weltstadt«35 verband großstädtische Kultur, vom »Literarischen Kolloquium«, das sein Kritikerkollege aus der Gruppe 47, Walter Höllerer, zur gleichen Zeit gründete,36 mit modernen Massenmedien und reichte bis zum Flair einer besonderen Kneipenszene.37 Mit der Verlegung seines Wohnsitzes nach West-Berlin zog er selbst die Konsequenz aus seiner Einschätzung. Auch wenn innerhalb des intellektuellen Medienensembles das Fernsehen eine gewisse Rolle spielte, ist doch zu konstatieren, dass dem Ende der »radio days« (Woody Allen) in der Intellectual History keine »television days« folgten, mit denen sich der Kreis des Publikums qualitativ erweitert hätte. Dolf Sternberger hatte bereits in der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1960 konstatiert, dass die Hoffnung auf »Publizität als solche« gar nichts garantiere, »weder Redlichkeit noch Freiheit noch Frieden«. Die »Denker (hätten; A. S.) weithin die Lust an der Öffentlichkeit und das Kantsche Zutrauen verloren«.38 Primär erfolgte der Schritt zurück zum gedruckten Wort, zum klassischen Ausgangspunkt intellektuellen Engagements. Dies lag sicherlich auch an den zeitgenössischen Rahmenbedingungen. Denn die wenigen Fernsehstationen, die noch nicht rund um die Uhr Programme boten, und das überwiegende Interesse des Publikums an Unterhaltung und Information, nicht aber an intellektueller Reflektion oder Belehrung, aber auch die geringe Zahl geeigneter TV-Produktionen setzten dem intellektuellen Diskurs im audiovisuellen Medium enge Grenzen. Aber das war nicht der alleinige Grund, wie auch die weitere Entwicklung zeigte, bei der trotz allgemeiner Programmexpansion intellektuelle Formate randständig blieben. Prinzipiell gilt für das Fernsehen der Primat des Bildes vor dem Wort, es ist kein 32 Hans Werner Richter, Ist Berlin eine Frontkämpferstadt? (Typoskript einer Rundfunkreportage, o. D., ca. 1962), in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 150. 33 Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 24.11.1962, in: DLA, D: Merkur. 34 Hans Werner Richter, Berlin – Zentrum der deutschen Nachkriegswirklichkeit (Typoskript, 21 S., 1965), in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1118, Zitate S. 4, 5, 18. 35 Hans Werner Richter, Berlin 1962 – Wiederbegegnung mit einer Stadt, in: BR/Politische Redaktion, Sendezeit: 17.6.1962 (Typoskript), in: AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1112. 36 Walter Höllerer, Autoren im Haus, Zwanzig Jahre Literarisches Colloquium Berlin, Berlin 1982; vgl. Böttiger, Elefantenrunden. 37 Vgl. Klaus Laermann, Kneipengerede, in: Hermann Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundertwende, Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 54-66. 38 Dolf Sternberger, Immanuel Kant und das Fernsehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.1960, abgedruckt in: ders., Ekel an der Freiheit?, S. 89-92.
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Medium, das dazu anhält, die »Anstrengung des Begriffs« (G. W. F. Hegel)39 auf sich zu nehmen. In der Regel und ungeachtet der erwähnten Dialogformate wird zu vorhandenen Bildern ergänzender und nicht selten von den zur Steigerung der Reputation ins Bild gesetzten Intellektuellen banaler Text hinzugefügt. Die Rede von der Ablösung des Radios als Leitmedium durch das Fernsehen bedarf zudem einer Relativierung. Das Radio behielt auch im Fernsehzeitalter eine hohe Bedeutung, änderte aber allmählich seine Funktion.40 Eine entscheidende Neuerung der Programmstruktur bestand in der großflächigen Einführung von Magazinsendungen für den Vormittag, Nachmittag und Abend, die hauptsächlich unterhaltende Musik im Wechselspiel mit Nachrichten, Konsumenten-Tipps, Ratgeber-Rubriken und anderen kurzen Wortbeiträgen brachten. Eine wichtige Voraussetzung für die in den 1960er Jahren weiterhin vorhandene Attraktivität des Rundfunks bildete die verbesserte Empfangsqualität. Bis Ende 1966 hatten alle öffentlich-rechtlichen Sender ihre UKW-Programme auf den 1958 erstmals präsentierten Stereofunk umgestellt.41 Die Durchsetzung des Fernsehens bedeutete somit nicht, dass die zuvor benutzten Medien ihre Bedeutung verloren hätten. Der Bildschirm war zum Leitbild innerhalb eines Verbunds mit dem Radio und der Presse geworden, aber alle Medien hatten ihre Reichweite vergrößert. Die einzige repräsentative Langzeitstudie (Erhebungen der Jahre 1964, 1970 und 1974) über die »Massenkommunikation« in der Bundesrepublik ermittelte: Während 1964 von 100 Personen in ihrem Haushalt 55 über ein Fernsehgerät verfügten, waren es 1970 85; über mindestens ein Radiogerät verfügten jeweils 95 von 100 Personen in ihrem Haushalt, der Anteil der Zweitgeräte war im gleichen Zeitraum von 15 auf 30 gestiegen. Der Anteil der regelmäßigen Käufer oder Abonnenten einer Tageszeitung steigerte sich von 70 auf 77 Prozent. An einem durchschnittlichen Werktag wurden 1970 lediglich drei Prozent der Bevölkerung weder über ein Fernsehgerät noch über ein Radio oder die Tageszeitung erreicht; die Verweildauer vor dem Fernsehgerät stieg in diesem Zeitraum von etwa einer auf knapp zwei Stunden beträchtlich an, während die Radionutzung nur leicht von ca. 90 auf ca. 75 Minuten zurückging und die mit der Tageszeitung verbrachte Zeit mit 35 Minuten zunächst gleich blieb. Das Fernsehen ließ also durchaus Raum für andere Massenmedien. Die Tageszeitungen behaupteten ihre Position nicht zuletzt wegen der lokalen Nachrichten, 39 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, S. 56; von der »Anstrengung des Begriffs« wie auch von der »Arbeit des Begriffs« ist in diesem Werk Hegels mehrfach die Rede – allerdings in ganz anderem Kontext, wie sich von selbst versteht. 40 Axel Schildt, Hegemon der häuslichen Freizeit: Rundfunk in den 50er Jahren, in: Schildt/ Sywottek, Modernisierung, S. 458-476, hier S. 475 f.; Konrad Dussel, Vom Radio- zum Fernsehzeitalter. Medienumbrüche in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 673-694. 41 Petra Witting-Nöthen, Die Einführung der Stereofonie im Rundfunk, in: Geschichte im Westen, Jg. 15, 2000, S. 185-195.
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die auf der Mattscheibe in den 1960er Jahren noch kaum vorkamen. Die Auflage der Tageszeitungen war von 13,4 (1954) auf 17,3 Millionen (1964) gestiegen und betrug – auf dem Höhepunkt – schließlich 21,2 Millionen Exemplare (1983).42 Eine wichtige Strukturveränderung auf dem Markt der Tageszeitungen ging allerdings teilweise auf das Fernsehen zurück. Mitte der 1950er Jahre war die Auflage der Abonnementsblätter gegenüber derjenigen der Straßenverkaufszeitungen noch dreimal so hoch, Mitte der 1960er Jahre teilten sich die beiden Zeitungstypen den Markt genau zur Hälfte. Zeitungen wurden offenbar stärker als zusätzliches Medium außerhalb des Hauses – etwa auf dem Arbeitsweg oder in der Mittagspause – gekauft und gelesen als noch in der fernsehlosen Zeit, eine Voraussetzung für den enormen Erfolg der Bild-Zeitung des Springer-Konzerns, die Anfang der 1960er Jahre eine Auflage von ca. 4 Millionen Exemplaren erreichte. Auch die Buchproduktion ging durch die Ausbreitung des Fernsehens nicht zurück. Die Zahl der gemeldeten Erst- und Neuauflagen verdoppelte sich von 22.524 (1960) auf 47.096 (1970).43 Die Frankfurter Buchmesse gewann mit literarischen Stars wie Günter Grass zunehmend eine glamouröse Prägung, so wird es etwa für 1963 berichtet.44 Ein Jahr später führte der Spiegel eine Bestsellerliste ein – von Anfang an unterteilt in Belletristik und Sachbuch –, die ihrerseits eine Leitfunktion gewann. Die für die intellektuellen Diskurse höchst wichtige Funktion der Verbreitung von Texten wurde allerdings weiterhin hauptsächlich vom Hörfunk wahrgenommen. Hans Paeschke fragte wie immer die Redakteure der Kulturprogramme: »Gibt es Merkurisches in Ihrem laufenden Programm?«45 Den neuen Leiter des NDR-Nachtprogramms Joachim Schickel begrüßte er wie üblich: »Ich möchte heute zunächst zum Ausdruck bringen, daß mir an einer regelmäßigen und möglichst engen Verbindung, ja Zusammenarbeit mit Ihnen sehr viel liegt.«46 Auch die für Intellektuelle lukrative Möglichkeit der Mehrfachverwertung von Beiträgen veränderte sich zumindest in den 1960er Jahren noch nicht, obwohl etwa Jürgen Habermas dies für sich ablehnte, wie er an Paeschke schrieb: »Ich muß Sie sehr um Verständnis dafür bitten, daß ich in den nächsten Monaten zum Merkur nichts mehr beisteuern kann (…) weil ich mich der Praxis der Mehrfachveröffentlichung nicht guten Gewissens anschließen kann. Das kann 42 Jürgen Wilke, Die Tagespresse der sechziger Jahre. Krisensymptome und Selbstbehauptung, in: Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der sechziger Jahre, München 2003, S. 213230; ders., Die Tagespresse der siebziger Jahre. Ein »altes« Medium im politischen, gesellschaftlichen und technischen Wandel, in: Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der siebziger Jahre, München 2004, S. 81-98. 43 Knut Hickethier, Literatur und Massenmedien, in: Fischer, Literatur, S. 125-141, hier S. 139 f. 44 Vgl. die Schilderung der Atmosphäre von Endres, Literatur, S. 7 ff. 45 Hans Paeschke an Carl Linfert/WDR, 18.11.1965, in: DLA, D: Merkur. 46 Hans Paeschke an Joachim Schickel/NDR, 25.9.1962, in: DLA, D: Merkur; auch hier fragte er den Adressaten nach dessen »eigener Produktion«, um die Verbindung zu festigen.
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sich Adorno vielleicht leisten, aber ich meine, daß es die meisten anderen Leute korrumpiert.«47 Die eigentliche Basis für das »rasche Geld« mit Rundfunkbeiträgen blieb für die nicht in der allerersten Reihe der Prominenz stehenden Intellektuellen die eigene Buchpublikation. Der Cheflektor des Rowohlt Verlags, Fritz J. Raddatz, schrieb an seinen Autor, den Münchener Publizisten Carl Amery: »Aber vergessen Sie bitte nicht, daß man ja zwischendurch, nicht zuletzt sogar, um dieses rasche Geld verdienen zu können – etwas sehr Respektables und Reputierliches vorlegen muß. Sonderbarerweise ist das bis heute noch immer das Buch, und nach meiner Erfahrung wird ein Autor auf die Dauer nur zu Funkgelegenheiten oder allerlei Zeitungsveröffentlichungen gebeten, wenn er gelegentlich ein sehr beachtenswertes und vielbeachtetes Buch vorlegt.«48 Nur als Beobachtung lässt sich die Tendenz formulieren, dass der Austausch der Hörfunkredaktionen mit den Printmedien sich weniger auf einzelne Texte bezog, sondern seit dem Ende der 1950er Jahre stärker auf die Kooperation mit Verlagen zur Vermarktung ganzer Sendereihen gesetzt wurde. Die Veränderungen der Öffentlichkeit standen schon aus höchst einsichtigen Gründen der Sicherung eigener professioneller Möglichkeiten um 1960 im Hintergrund aller zeitgeistigen Diskurse, die in den folgenden Abschnitten beleuchtet werden sollen.
47 Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 3.11.1966, in: DLA, D: Merkur; zur Publikationspraxis von Adorno s. auch Kapitel II.4.3. 48 Fritz J. Raddatz an Carl Amery, 8.6.1966, in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA B 1115.
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2. Reformklima: Die Intellektuellen auf der Suche nach dem Fortschritt Die funktionalistische Bestimmung von »Heimat« als »symbolische Ortsbezogenheit« in einem Aufsatz der von René König herausgegebenen Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie kennzeichnet die vielleicht abstrakteste und kühlste wissenschaftliche Definition von Heimat in den 1960er Jahren.1 Nach einem Jahrzehnt der Konjunktur emotionaler Besetzung in politischen Reden vom »Recht auf Heimat« der Vertriebenen und Flüchtlinge und inszeniert von zahllosen Heimatschnulzen in den Kinos empfanden viele Intellektuelle schon den Begriff der Heimat als politisch kontaminiert, mindestens aber als altmodisch und verbraucht, als typisch für deutsches Hinterwäldlertum. Paul Schallück, Publizist aus dem Umkreis der Gruppe 47, beklagte: »Als wir den verbrecherischen Krieg gegen eine ganze Welt verloren hatten, schien es, als sei das kloakige Gewässer des Heimatgefühls mit in den Abgrund geflossen.« Das sei aber, wie die politische Kultur der 1950er Jahre gezeigt habe, nicht eingetroffen. Nun komme es darauf an, zu vermitteln, dass die Heimat »kein Wert über allen Werten« sein könne.2 Gerade der so wandelbare Heimatbegriff lässt die erste Hälfte der 1960er Jahre als eine Zeit demonstrativer Nüchternheit deutlich hervortreten. Ostentative Nüchternheit und Sachlichkeit hatten irrationalistische Gefühligkeit – vorerst und eher in den gebildeten Schichten – abgelöst.3 Ein Artikel mit dem programmatischen Titel »Die Bundesrepublik Deutschland« von Ernst Forsthoff im Merkur charakterisierte schon 1960 den »Zeitgeist« als das Gegenteil von jenem ein Jahrzehnt zuvor. Am Anfang stand die Verwunderung des Autors, dass die Bundesrepublik, obwohl sie »keines der klassischen Merkmale der Staatlichkeit«, »weder Staatsgebiet noch Staatsvolk oder souveräne Staatsgewalt« besitze, eine »Regierungsform von kaum übertroffener Stabilität« hervorgebracht habe. Man könne zwar keine erkennbare Konzeption des Wiederaufbaus, wohl aber »sachlogische Bedingtheiten und Zusammenhänge« erkennen. Unter dem »harten Druck der Gegebenheiten« sei das »Bewußtsein der Verantwortung für das Ganze«, vor allem für die »Erhaltung der Integrität der Wirtschaft«, geradezu erzwungen worden. Die Befunde gipfelten in dem Satz, die Bundesrepublik sei ein »auf spezifische Aufgaben hin zweckrationalisierter Staat« bzw.: »Die 1 Heiner Treinen, Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Heimatproblem, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 17, 1965, S. 73-97, 254-297. 2 Paul Schallück, Heimat (1961), in: ders., Zum Beispiel, S. 61-65, Zitate S. 63, 65. 3 Erst in den 1980er Jahren kam es im Rahmen der lokalen alternativen Milieus und wissenschaftlich in der modernen Volkskunde durch Hermann Bausinger zu einer Renaissance der Heimat als Raum, der von den Aktivitäten der dort Lebenden selbst konstruiert werde. Heute, ein halbes Jahrhundert nach der funktionalistischen Verabschiedung, wird dagegen wieder die Sicherheit, Vertrautheit und Nichtentfremdung in der Tradition von Ferdinand Tönnies’ Gegensatzpaar der Gesellschaft und Gemeinschaft betont.
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Bundesrepublik als Staat ist zur Funktion der Gesellschaft geworden.« Damit würden auch die »alten ideologischen Grundpositionen des Konservativen, des Liberalen, des politischen Katholiken und des Sozialisten« in Allparteienkoalitionen eingedampft werden. Die Durchsetzung von Interessen wiederum wachse mit der »sozialen Mächtigkeit des gesellschaftlichen Patrons (Verbandes)«, der diese vertrete. Wenn die Staatsbürger sich politisch weitgehend abstinent und lethargisch verhielten, hätten sie nur ihre eigene Rolle in diesem System verstanden und fühlten sich im Sinne von Arnold Gehlen »entlastet«. Stelle man die »Fortschritte der modernen Ökonometrie und Nationalökonomie in Rechnung und würdigt man sie im Zusammenhang mit der bewiesenen Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung der modernen Gesellschaft«, sei, so Forsthoff, »die Annahme nicht mehr utopisch, daß es heute möglich ist, Krisen gefährlichen Ausmaßes (…) in den Anfängen zu erkennen und abzuwenden«.4 Man kann den legendär gewordenen Aufsatz vor allem als Text in der Tradition des »modernen Konservatismus« verstehen und ihm viele andere Beispiele zur Seite stellen. Die »industrielle Gesellschaft von heute«, führte Rüdiger Altmann in einer Sendung des Hessischen Rundfunks aus, liege nicht mehr in der »Epoche der großen Klassenkämpfe«, trage aber auch nicht mehr die Signaturen einer bürgerlichen Gesellschaft; notwendig sei »eine immer weitere Rationalisierung der gesellschaftlichen Ordnung zur Überschaubarkeit und Lenkbarkeit des sozialen Ablaufs«.5 Als erstes kam es den konservativen Propagandisten der »Industriegesellschaft« darauf an, von den Tatsachen, nicht aber Wunschbildern auszugehen, aber dies bot zugleich Ansätze für eine neue Sicht auf die Gesellschaft und Reformwünsche in liberaler Absicht. Große Zustimmung fanden Forderungen nach bewusst vorgenommenen Reformen, die die Errungenschaften des Wiederaufbaus auch in einer komplizierter werdenden inneren und äußeren politischen Situation sichern sollten. Leitend sollten dafür nicht mehr »leibfeindliche (…) kollektivistische Ideologien« sein, sondern der Geist einer pluralistischen »liberalen Aufkärung gegen die Bastionen der Gegenaufklärung«, wie es Gerhard Szczesny in einem temperamentvollen Beitrag beim Darmstädter Gespräch 1966 forderte.6 In den Sozialwissenschaften ging es nicht mehr um geisteswissenschaftliche Deutung der Großtheorien von »Klasse« und »Masse« mit ihren biologistischen Analogien, sondern um eine 4 Ernst Forsthoff, Die Bundesrepublik Deutschland. Umrisse einer Realanalyse, in: Merkur, Jg. 9, 1960, S. 807-821, Zitate S. 807, 809, 810, 811, 812, 813, 814, 821; unschwer lässt sich die Formel vom Staat als »Funktion der Gesellschaft« als elegischer Abschied von der Staatsvergottung des Schmitt-Schülers Forsthoff lesen, die er danach in seinem Buch zum »Staat der Industriegesellschaft« ausarbeitete; ders., Der totale Staat, Hamburg 1933; ders., Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. 5 Rüdiger Altmann, Soziale Bewegung in unserer Zeit, gesendet im Hessischen Rundfunk, 1.5.1963 (Typoskript, Zitate S. 1, 7, 9), in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, RAAC000016. 6 Gerhard Szczesny, Diskussionsbeitrag in: Karl Schlechta (Hrsg.), Angst und Hoffnung in unserer Zeit (Darmstädter Gespräch 1963), Darmstadt 1965, Zitate S. 41 f., 43; Mitdiskutanten waren u. a. Ernst Bloch, Alexander Mitscherlich, Walter Jens, Ernst Topitsch und Friedrich Heer.
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differenziertere empirische Sozialforschung, die ihre Anregungen etwa durch die amerikanische Demoskopie erhielt. Das Fischer-Lexikon Soziologie wurde in den »soziologieseligen« 1960er Jahren ein Bestseller, der bis 1970 300.000 Mal verkauft wurde.7 Der Aufstieg der Soziologie galt als Zeichen des Einzugs moderner Zeiten. Während die empirische Sozialwissenschaft Triumphe feierte, traten die Geisteswissenschaften angesichts »neuer Aufbrüche, neuer Unübersichtlichkeit, neuer Krisen« um 1960 in eine längere Selbstfindungsphase ein.8 Die erste Hälfte der 1960er Jahre könnte die Überschrift »Bilanz« tragen. Der Buchmarkt erlebte eine kräftige Konjunktur mit Titeln wie »Wo stehen wir heute?« (Bertelsmann), »Woher – wohin? Bilanz der Bundesrepublik« (Sonderheft von Magnum), »Das Fundament unserer Zukunft« (Econ) oder »Zwanzig Jahre danach« (Desch).9 Es handelte sich um die erste Welle intellektueller Selbsthistorisierung der Bundesrepublik. Die gleiche Feststellung lässt sich für zahlreiche Rundfunkbeiträge treffen.10 Das prominenteste Bilanz-Buch wurde die von Hans Werner Richter, wiederum bei Desch, herausgegebene »Bestandsaufnahme«.11 Schon der Titel war eine Reminiszenz an die sogenannte Kahlschlagliteratur unmittelbar nach Kriegsende. Wieder ging es um ostentative Nüchternheit. Die Botschaft von Richter war klar.12 Die nationalneutralistische Position, alle Warnungen vor einer »Restauration« nach 1945 hatten sich als richtig erwiesen, aber die Entwicklung sei durch die Einrichtung von zwei »Kolonialsystemen« darüber hinweggegangen. Durch die – angebliche – »Kollektivschuldthese« und die »Nichtanerkennung des deutschen Widerstandes« seien die »politischen Schuldverhältnisse« verschleiert 7 Vgl. Thomas Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche. Zur Rezeption der US-Sozialforschung in der Bundesrepublik nach 1945, in: Schildt, Von draußen, S. 105-127, Zitat S. 121. 8 Eckel, Geist, S. 112; aus der Perspektive der frühen 1980er Jahre konstatierte Karl Heinz Bohrer, Die drei Kulturen, in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«. Politik und Kultur, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1982, S. 636-670, einen Wiederaufstieg und die gleichzeitige Transformation des Kulturbegriffs. 9 Bähr, Wo stehen wir heute?; zu den Autoren, der älteste war Albert Schweitzer (Jg. 1875), der jüngste Friedrich Heer (Jg. 1916), zählten Max Picard, Hans Freyer, Wilhelm Röpke, Karl Jaspers, Ernst Jünger; Alfred Neven DuMont (Hrsg.), Woher – Wohin. Bilanz der Bundesrepublik (Magnum, Sonderheft), Köln 1961; Paul Sethe/Ferdinand Fried/Hans Schwab-Felisch, Das Fundament unserer Zukunft. Bilanz der Ära Adenauer, politisch, wirtschaftlich, kulturell, Düsseldorf 1964; Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945-1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, München 1965. 10 So ging der Sammelband von Hammerschmidt, an dem sich u. a. Paul Wilhelm Wenger, Karl-Hermann Flach, Rudolf H. Mühlfenzl, Hans Habe und Hermann Kesten beteiligten, auf ein Exposé von Thilo Koch unter gleichem Titel für den WDR zurück, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 134. 11 Hans Werner Richter (Hrsg.), Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962, München u. a. 1962. 12 Vgl. die Einleitung und das Nachwort von Richter, ebd., S. 11-27, Zitate S. 15; Bilanz – ein Nachwort, S. 562-570.
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und die »seelische Erkrankung eines ganzen Volkes nicht angetastet worden«. Allerdings wurde Richters Sicht in diesem Band durch zahlreiche Beiträge und andere inhaltliche Positionen, von Wolfgang Abendroth13 bis zu Ralf Dahrendorf und dem Feuilleton-Chef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, flankiert und relativiert. Bei der Auswahl der Autoren in dieser Bilanzliteratur wurde offenbar den Bedürfnissen des Publikums Rechnung getragen, unterschiedliche Deutungen angeboten zu bekommen. Dabei kam es auch auf die Prominenz der Autoren an, auf die die Verlage aus kaufmännischen Interessen zu achten hatten.14 Typisch war der Klappentext des Bilanzbandes bei Bertelsmann: »Zwanzig berufene, der Öffentlichkeit bekannte Autoren (eine Frau befand sich nicht darunter; A. S.) ergreifen in diesem Buch das Wort und behandeln aus ihrer Sicht die Lage, in der wir uns heute inmitten umfassender Wandlungen befinden.« Es gab kaum einen Publizisten, der sich an der Debatte nicht beteiligte, von Matthias Walden auf der äußersten rechten bis zu Ulrike Meinhof auf der äußersten linken Seite. Die Bilanzliteratur war nicht direkt dialogisch angelegt. Vielmehr wurden einzelne Experten für die vorgesehenen Themen angeworben. So ergab sich – idealtypisch – entweder ein konservativ eingefärbtes Spektrum mit liberalen Einschlägen auf der einen und eine linksliberal geprägte Sammlung mit linkskatholischen und – das war neu – ersten marxistischen Beiträgen. Insofern kann man die Bilanzliteratur auch als Begegnungsraum unterschiedlicher intellektueller Sinndeutungslager verstehen. Die Bilanzliteratur wurde begleitet von einer Hausse vielgelesener Prognosen zur deutschen und europäischen sowie zur Zukunft der gesamten westlichen Welt, die durchweg positiv ausfielen.15 Die 1960er Jahre waren der einzige Zeitraum in der Geschichte der Bundesrepublik, in dem der Zukunftsoptimismus ungebrochen dominierte. Dies hing damit zusammen, dass die zuvor als links, progressiv oder gar marxistisch beargwöhnte Vorstellung einer umfassenden gesellschaftlichen »Planung« durch wissenschaftliche Verfahren zunehmend auf Akzeptanz stieß und schließlich sogar den Diskurs beherrschte.16 13 S. Kapitel III.3. 14 Die »Bestandsaufnahme« erschien in einer Auflage von 8.000 Exemplaren; hochgerechnet vom Verlagsvertrag von Desch mit Carl Amery standen für Honorare ca. 10.000 DM zur Verfügung; s. Exemplar in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA B 974. 15 Vgl. etwa die populären Entwürfe von Fritz Baade, Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: Ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit, Hamburg 1960; Klaus Mehnert, Die weltpolitische Situation, in: Bähr, Wo stehen wir heute?, S. 121-130; ders., Der deutsche Standort, Stuttgart 1967; Richard F. Behrendt, Dynamische Gesellschaft. Über die Gestaltbarkeit der Zukunft, Bern/Stuttgart 1964; vgl. insgesamt Seefried, Zukünfte. 16 Vgl. Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 362-401.
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Der Wille, auch sprachlich modern zu sein, zeigte sich etwa in der konsequenten durchgängigen Kleinschreibung in atomzeitalter. zeitschrift für sozialwissenschaft und politik, die von 1959 bis 1968 in der Europäischen Verlagsanstalt erschien und letztlich ein Organ zur Propagierung moderner Lebensverhältnisse darstellte, an dem sich zahlreiche namhafte Publizisten und Sozialwissenschaftler, von Hans Paul Bahrdt bis Helmut Schelsky, beteiligten. Mit der emphatischen Kleinschreibung wurden Traditionen der Zwischenkriegszeit – von Stefan George bis zum Bauhaus – wiederbelebt. Kaum ein anderer befleißigte sich ihrer in seinen Briefen so engagiert wie Hans Magnus Enzensberger. Auch einige der später tonangebenden Intellektuellen in den Medien wie Ansgar Skriver gehörten als studentische Mitarbeiter zum atomzeitalter.17 Bei der Suche nach Vorbildern fiel der Blick vor allem auf die USA, daneben auf west- und nordeuropäische Gesellschaften. Symbolisiert durch die Präsidentschaft von John F. Kennedy – seit 1961 – schien eine gemeinsame westliche liberale Werteordnung zu entstehen. Wohl zu keinem Zeitpunkt nach 1945 rückten die Vorstellungen von Demokratie und der Projektion von Westlichkeit so eng aneinander. Damit bekamen jene Intellektuellen Oberwasser, die schon ein Jahrzehnt zuvor als Propagandisten einer »Westernisierung« (Anselm Doering-Manteuffel), der Durchsetzung einer liberalen Kultur westlicher Provenienz, gewirkt hatten.18 Das galt zum Beispiel für Fragen der Sexualmoral, so dass es kein Zufall war, dass die aus der CDU/CSU und von der katholischen Kirche unterstützte Kampagne der »Aktion Saubere Leinwand« (ASL) gegen den Anfang 1964 in die Kinos gelangten Film »Das Schweigen« des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann, der von der »Freiwilligen Selbstkontrolle« (FSK) einstimmig freigegeben und besonders empfohlen worden war, ihrerseits heftig angegriffen wurde. Der maßgebliche Initiator der ASL, der Bundestagsabgeordnete und Rechtswissenschaftler Adolf Süsterhenn (CDU), sah sich als »Professor Lüsterhahn« tituliert. Selbst prominente Christdemokraten warnten vor intoleranten Sittenwächtern. Mittlerweile herrschte die Auffassung vor, dass moralische Urteile nicht mehr autoritär dekretiert werden sollten, sondern lediglich ein Instrument in einem pluralistischen Meinungskonzert seien.19 Der Begriff des »Pluralismus«, in den 1950er Jahren noch ein Fachterminus politologischer Literatur, avancierte zur selbstverständlichen Alltagsvokabel, es voll17 Unterlagen in AdsD, Nl. Ansgar Skriver, 1/ASAF 000165. 18 Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 310-341; Gabriele Metzler, Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift, Bd. 275, 2002, S. 57-103. 19 Thomas Winkelmann, »Droht eine Diktatur der Unanständigkeit?« Wahrnehmungsmuster und Positionen in der westdeutschen Diskussion über Ingmar Bergmanns Spielfilm »Das Schweigen«, in: Kieler Blätter zur Volkskunde, Bd. 35, 2003, S. 71-88; Philipp von Hugo, »Eine zeitgemäße Erregung«. Der Skandal um Ingmar Bergmanns Film »Das Schweigen« (1963) und die Aktion »Saubere Leinwand«, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, Jg. 3, 2006, H. 2 (Druckausgabe: S. 210-230).
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zog sich eine »Veralltäglichung des Dissenses«.20 Die »Aktion Saubere Leinwand« löste sich zwar Anfang 1966 auf, aber es gab gleichwohl eine enorme Spannbreite und irritierende Ungleichzeitigkeiten politisch-moralischer Positionen. Während an den Zeitungskiosken die satirische Monatszeitschrift Pardon auf ein dankbares Käuferpublikum stieß, trafen sich konfessionelle Jugendgruppen am Düsseldorfer Rheinufer zur Bücherverbrennung von Schmutz und Schund.21 Eine Voraussetzung pluralistischer Debatten war die Liberalisierung des politischen Strafrechts. Denn die rigide Praxis der Verfolgung der 1950er Jahre hielt auch in den 1960er Jahren an, jährlich wurden etwa 400 bis 500 Verurteilungen wegen »kommunistischer Umtriebe« gemeldet; veröffentlicht wurden diese Zahlen seit 1961 nicht mehr. Die Verfolgung bezog sich nicht nur auf Aktivitäten der von der SED geführten illegalen KPD, deren Mitgliederzahl auf maximal 12.000 geschätzt wurde. Schon wer in irgendeiner Form verdächtig war, Kontakte »nach drüben« zu unterhalten, konnte aus nichtigen Gründen, etwa der Annahme der Einladung einer DDR-Gewerkschaft oder der Organisation von Ferienlagern für westdeutsche Kinder in Ostdeutschland, in die Mühlen der politischen Justiz geraten. Selbst das Parteiprogramm der sowjetischen Kommunisten und Reden von Chruschtschow wurden 1962 beschlagnahmt, gegen den Verleger wurde ermittelt. Vom Impetus der liberalen Aufklärung her gedacht, war es nicht verwunderlich, dass die zentralen Reformforderungen sich auf das Bildungswesen konzentrierten, wobei der Gang der Entwicklung nicht geradlinig verlief, sondern eine politische Pointe bereithielt. Lehrermangel, ein extremes Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land und ein elitär abgeschottetes höheres Schulwesen stießen in den frühen 1960er Jahren nämlich auf immer heftigere öffentliche Kritik auch aus dem Umfeld modern denkender konservativer Intellektueller. Hier wurde der Begriff der »Bildungskatastrophe« in Umlauf gebracht. Der erste Anstoß für die Diskussion resultierte aus dem sogenannten Sputnik-Schock aufgrund des ersten sowjetischen Weltraumflugs 1957. Dieser rückte die bedrohliche Vision eines nicht mehr militärischen, sondern durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt bedingten weltrevolutionären Sieges des Ostblocks in den Mittelpunkt. Die Bildungsreform war schon im Gange, als Anfang 1964 eine Artikelserie in der konservativen evangelischen Wochenzeitung Christ und Welt aus der Feder von Georg Picht eine breite Öffentlichkeit alarmierte. Seine Diagnose eines »Bildungsnotstands« gilt bis heute als Beginn der Bildungsreformdiskussion. Mit dramatischer Geste sagte Picht den Untergang Deutschlands als »Kulturstaat« voraus, wenn nicht sofort erhebliche finanzielle Anstrengungen unternommen würden. Die Zahl der Abiturienten müsse innerhalb des nächsten Jahrzehnts verdoppelt werden, wolle man nicht den Anschluss an die führenden Industrienationen verlieren. Von Picht und anderen Bildungsforschern wurde nicht mehr allein die Systemkonkurrenz bemüht, son20 Verheyen, Diskussionslust, S. 224. 21 Adelheid von Saldern, Die Bücherverbrennung von 1965 und ihre zeitgeschichtliche Vernetzung, in: Bajohr u. a., Erzählung, S. 97-112.
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dern die Gefahr deutschen Provinzlertums in einer künftigen planetarischen Welt beschworen. Die Debatte führte damit über die Denkmuster des Kalten Krieges hinaus. Sowjetunion und der Ostblock, auch die USA und Japan galten hinsichtlich der Bildungsentwicklung als haushoch überlegen.22 1960 erschien Theodor Wilhelms reformerische »Pädagogik der Gegenwart«, und Hartmut von Hentig pries zwei Jahre später in Hans Werner Richters »Bestandsaufnahme« die moderne anglophone Pädagogik als Vorbild für die Schule der Zukunft.23 Dass die Kritik der »Bildungskatastrophe« mit unabweisbarer Autorität zuerst in der evangelischen konservativen Presse hervortrat, beraubte die Kritik von rechts dagegen ihrer üblichen Resonanz.24 Wenn der neoliberale Wilhelm Röpke den neuen »Bildungsjakobinismus«25 beklagte, mutete das nur noch reaktionär an. Und auch die vereinzelte Kritik von rechtskatholischer Seite blieb wirkungslos.26 Dass die »Begabungsreserven« der Bevölkerung künftig auszuschöpfen seien, bildete einen weltanschauliche Unterschiede überwölbenden Konsens. Eben diese Deckungsgleichheit der Ziele von moderaten Konservativen wie Georg Picht und liberalen Kritikern gab letzteren die Möglichkeit, ihre aufklärerischen Impulse eng damit zu verknüpfen und eine enorme Hebelwirkung zu erzielen. Vor allem Ralf Dahrendorf machte sich hier einen Namen, indem er die ökonomisch begründete Bildungsexpansion mit dem emanzipatorischen Postulat »Bildung« als Bürgerrecht verknüpfte.27 Mit diesem geschickten Schachzug gelang es ihm, Helmut Schelsky, den soziologischen Superstar der 1950er Jahre, hinsichtlich des »Avantgarde-Status im intellektuellen Feld«28 abzulösen. 22 Eine umfassende Dokumentation der Artikelserie in: Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Olten 1964; vgl. Teresa Löwe, »… es geht um den Menschen und um die Wahrheit«. Zur Vorgeschichte von Georg Pichts Notstandsszenario, »Die deutsche Bildungskatastrophe«, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 42, 2003, S. 67-75; Wolfgang Lambrecht, Deutsch-deutsche Reformdebatten vor »Bologna«. Die »Bildungskatastrophe« der 1960er Jahre, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 4, 2007, S. 472-477; Wilfried Rudloff, Georg Picht. Die Verantwortung der Wissenschaften und die »aufgeklärte Utopie«, in: Bauer u. a., Gesichter, S. 279-296; zu den Kontexten vgl. die Skizze von Andreas Wirsching, Bildung als Wettbewerbsstrategie, in: Greiner/Müller/Weber, Macht, S. 223-238. 23 Theodor Wilhelm, Pädagogik der Gegenwart, Stuttgart 1960; Hartmut von Hentig, Die deutsche Pädagogik, in: Richter, Bestandsaufnahme, S. 315-343; vgl. Hildegard HammBrücher, Aufbruch ins Jahr 2000 oder Erziehung im technischen Zeitalter. Ein bildungspolitischer Report aus 11 Ländern, Reinbek 1967. 24 Vgl. zu den Angriffen im Rheinischen Merkur die umfangreiche Korrespondenz in: BAK, Nl. Georg Picht, 217. 25 Zit. nach Hans Jörg Hennecke, Streiten für diesen Staat. Wilhelm Röpke und die Bundesrepublik, in: Geppert/Hacke, Streit, S. 23-45, hier S. 35. 26 Vgl. Hugo Staudinger, Naht eine Bildungskatastrophe?, Kritische Auseinandersetzung mit einer Artikelserie von Georg Picht, in: Rheinischer Merkur, 20.3.1964. 27 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, Hamburg 1965 (mehrfach wieder aufgelegt). 28 Reitmayer, Elite, S. 534 f.
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Leitmotivisch formulierte Dahrendorf seine zentrale Botschaft: »Die deutsche Frage ist die Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland. Die liberale Demokratie ist ein politisches Prinzip, wenn nicht ein politisches System. Politische Strukturen aber schweben nicht in der Luft.«29 In den frühen 1960er Jahren erschien eine ganze Reihe von Schriften, die bis zur Titelei Debatten der unmittelbaren Nachkriegszeit um den »Irrweg einer Nation« (Alexander Abusch) wieder aufnahmen. Als prominentes Beispiel sei das Buch »Wege und Irrwege« von Hans Kohn (1891-1971) genannt. Der jüdische Remigrant hob im Geleitwort der aus dem Amerikanischen übersetzten Ausgabe hervor, es sei »bemerkenswert, daß von 1848 an die liberalen und demokratischen Kräfte in Deutschland eine ununterbrochene Reihe von Niederlagen erfuhren, von denen die Katastrophe von 1933 die umfassendste war. (Es erhebe sich die) Frage, wie das bei einem so gebildeten Volke kommen konnte.«30 Unter den deutschen Intellektuellen war es namentlich Kurt Sontheimer, sein bahnbrechendes Werk über »antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik« erschien 1962, der immer wieder vor einem aufkeimenden Nationalismus warnte.31 Der als Außenseiter geltende jüdische Exilant Hermann Kesten setzte einen anderen Akzent. Gemünzt auf Hans Magnus Enzensberger, Erich Kuby und Hans Werner Richter, glaubte er einen »neuen Nationalismus bei gewissen linken oder liberalen Intellektuellen in der Bundesrepublik«32 zu beobachten. Als Replik auf den Sammelband von Wolfgang Weyrauch mit dem pointierten Titel »Ich lebe in der Bundesrepublik« (1960), in dem sich vor allem besorgte Stimmen aus dem Umkreis der Gruppe 47 beteiligt hatten,33 gab Kesten vier Jahre später im gleichen Verlag, bei List, einen Sammelband mit dem Titel »Ich lebe nicht in der Bundesrepublik« heraus, an dem sich auch linke Exilanten wie Erich Fried, vor allem aber konservative Intellektuelle des Exils beteiligten.34 Aus der Korrespondenz in den 29 Zit. nach Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Herbert, Wandlungsprozesse, S. 245-277, hier S. 248. 30 Hans Kohn, Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums, Düsseldorf 1962, S. 6. 31 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962 (mit zahlreichen Auflagen); ders., Die Wiederkehr des Nationalismus in der Bundesrepublik, in: Tribüne, Jg. 5, 1966, S. 1916-2022. 32 Hermann Kesten/New York an Heinrich Böll, 12.2.1965, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 1472. 33 Wolfgang Weyrauch (Hrsg.), Ich lebe in der Bundesrepublik, Fünfzehn Deutsche über Deutschland, München 1960; unter den 15 Autoren waren Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Koeppen, Hans Werner Richter, Walter Jens, Paul Schallück und Martin Walser. 34 Hermann Kesten (Hrsg.), Ich lebe nicht in der Bundesrepublik, München 1964.
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vorherigen Jahren mit Hans Habe lässt sich aber wiederum erschließen, dass die Ablehnung einer Remigration sich weniger aus Ängsten vor rechtem Nationalismus denn aus dem Widerwillen gegen den vermeintlichen Nationalismus von links speiste: »Die Nazis marschieren, Herr Strauß ist im Kommen. Wir sind so verwöhnt, daß wir meinen, schlimm sei nur, wenn die Juden in Gasöfen gesteckt werden. Das wird natürlich nicht geschehen, denn Deutschland ist eine amerikanische Kolonie. Aber gerade weil die Nazis in großen Dingen nicht tun können wie sie wollen, werden sie in kleinen Dingen tun, was sie lieber in großen täten. Zu den ›kleinen Dingen‹ gehört die Literatur.«35 »Die Geheimsprache der Johnsons, Grass, Walsers und anderer Afterdichter dient ja just zur Verheimlichung mieser Gedanken (…) Die ›Links-Autoren‹ sind nämlich den Nazi-Redakteuren deshalb so genehm, weil man ihr Gewäsch nicht verstehen kann und sie deshalb auch keinem Nazi wehtun.«36 Die Invektiven gegen Literaten der Gruppe 47 muten angesichts von deren eigenen Fluchttendenzen aus der Bundesrepublik grotesk an, man wird ihre Wurzeln eher in Kränkungen suchen müssen, die einstige Größen des Betriebs der Weimarer Zeit im Feuilleton der Nachkriegszeit erleben mussten.37 Andersch äußerte sich in den frühen 1960er Jahren immer wieder äußerst pessimistisch, weil »die Rechte« wieder herrsche.38 Politisch, so schrieb er an Enzensberger, sei Deutschland ein »Scheißland«.39 Dieser wiederum reflektierte »über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein«, wandte sich aber auch dagegen, von der deutschen Frage Urlaub zu nehmen.40 Dagegen war es für konservative Interpreten der Industriegesellschaft ausgemacht, dass »der Nationalismus nicht bloß bei uns, sondern in ganz Europa zu den lost causes gehört«.41 Warnungen vor einem neu aufkommenden Nationalismus begleiteten die Intensivierung der öffentlichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die seit dem Ende der 1950er Jahre durch immer neue Prozesse 35 Hans Habe an Hermann Kesten, 25.3.1961, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 381. 36 Hans Habe an Hermann Kesten, 10.12.1961, in: ebd. 37 S. Kapitel II.3.3. 38 So in einem Brief an seine Mutter 1960, in: Alfred Andersch, Hedwig Andersch, »… Einmal wirklich leben«. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch, 1943 bis 1975, Zürich 1986, S. 74. 39 Alfred Andersch an Hans Magnus Enzensberger, 11.3.1961, in: DLA, A: Alfred Andersch; vgl. Reinhardt, Alfred Andersch, S. 420 ff. 40 Dok. in: Hans Magnus Enzensberger, Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik, Frankfurt a. M. 1996, S. 7-13, 37-48. 41 So äußerte sich Johannes Gross in der von Ansgar Skriver moderierten Sendung »Die ungeliebte Nation« im WDR, 27.5.1967 (Typoskript, Zitat S. 58), in: AdsD, Nl. Ansgar Skriver, 1/ASAF000001.
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und Skandale befeuert wurde: Der Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958, die antisemitische Schändung der neu eingeweihten Kölner Synagoge 1959 mit Dutzenden von Nachfolgetaten, der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, der Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/65, die notorische NS-Belastung von Regierungsmitgliedern und politischen und gesellschaftlichen Eliten – all das wurde auch für den empfundenen kulturellen Immobilismus verantwortlich gemacht, den Hans Schwab-Felisch zum Abschluss der Ära Adenauer in einem Artikel in der Welt konstatierte: »Auch in den Amtsstuben von Bonn und im Parlament schien man Carl Schmitt studiert und sein Freund-Feind-Denken angenommen zu haben. (…) Unsicherheit gegenüber der Würde des Intellektuellen und ratloses Erstaunen darüber, daß die kulturelle Freiheit – verbrieftes Recht – auch genutzt wurde, das ist das Signum der Ära Adenauer in ihrem Verhältnis zur Kultur. (…) Die Ära ist abgeschlossen, insofern gilt ihr auch ein letztes Bedauern.«42 Die NS-Vergangenheit wurde zum permanenten Argument des Kampfes auch unter den intellektuellen Akteuren selbst.43 Erst jetzt, mit der staatlichen und gesellschaftlichen Stabilisierung, konnte gefragt werden, mit welchem Personal denn der Wiederaufbau von statten gegangen war. Die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit vollzog sich nicht zuletzt entlang dieses Themas.44 Anlässe, die es schon Anfang der 1950er Jahre reichlich gegeben hätte, gerieten erst jetzt, seit dem letzten Drittel des Jahrzehnts, zu Skandalen, die in der Presse groß aufgemacht wurden. Ein spektakulärer Anlass rückte die Debatte um die »Aufarbeitung« ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. In der Silvesternacht 1959/60 war die gerade neu eingeweihte Kölner Synagoge mit antisemitischen Schmierereien besudelt worden. In den folgenden Wochen kam es zu Dutzenden von Nachahmungstaten, Festnahmen und Vernehmungen, begleitet von intensiver Presseberichterstattung. Interessant war, dass in der Bundesregierung zwei Erklärungen nebeneinander kursierten. Das Verteidigungsministerium verdächtigte – ohne jegliche Beweise – die DDR, durch geheimdienstliche Provokationen die Bundesrepublik diskreditieren zu wollen, das Innenministerium ging von verwirrten jugendlichen Tätern aus, nachdem Mitglieder der rechtsextremen Deutschen Reichspartei verhaftet worden waren. 42 Der Artikel vom 15.2.1964 in: Hans Schwab-Felisch, Leidenschaft, S. 198-201. 43 S. Kapitel III.3. und III.4. 44 Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949-1989. Frankfurt a. M./New York 1997, S. 187 ff.; Michael Kohlstruck, Das zweite Ende der Nachkriegszeit. Zur Veränderung der politischen Kultur um 1960, in: Gary S. Schaal/Andreas Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung. Modelle der politischen und sozialen Integration in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, Baden-Baden 1997, S. 113-128; Axel Schildt, Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: Loth/Rusinek, Verwandlungspolitik, S. 19-54; vgl. Detlef Siegfried, Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958-1969, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 77-113.
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Unwidersprochen blieb die Schlussfolgerung aller politischen Kräfte, dass die ehrliche »Aufarbeitung der Vergangenheit« (Theodor W. Adorno), vor allem die Aufklärung der Jugend über den Nationalsozialismus verstärkt werden müsse.45 Das bezog sich insbesondere auf die Ausweitung und Neustrukturierung der außerschulischen Bildungsarbeit durch die Bundeszentrale für Heimatdienst, die seit 1964 unter ihrem Direktor Paul Franken als Bundeszentrale für politische Bildung firmierte.46 Dahrendorf hatte die deutsche Rückständigkeit im Übrigen als dialektisches Resultat aus der NS-Vergangenheit gedeutet. Das »Dritte Reich« habe systematisch bürgerliche Traditionen und Werte abgeräumt und insofern einen Stoß in die Modernität bewirkt. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt sei es deshalb zu einer umfassenden konservativen Gegenbewegung – nicht zuletzt – auf kulturellem Gebiet gekommen. Deren Überwindung durch eine umfassende liberale Aufklärung und Demokratisierung könne folglich nur im Rahmen einer gänzlich neuen postnationalen Identität erfolgen.47 Aber solche subtilen sozialwissenschaftlichen Differenzierungen änderten nichts am allgemeinen zeitgenössischen Diskurs. Das zweite große Feld öffentlicher Debatten war in der ersten Hälfte der 1960er Jahre die Deutschland-Politik, wobei die Forderungen nach inneren Reformen und einer neuen Sichtweise auf die deutsche Frage einen engen Zusammenhang bildeten. Schon das Ausbleiben von gut ausgebildeten Fachleuten aus der DDR, die vor dem Mauerbau in den Westen flüchteten, erhöhte die Dringlichkeit bildungspolitischer Reformen. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 hatte alle Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung zerstört. Während aber die von Adenauer und Erhard geführten Regierungen an der Nichtanerkennung der DDR festhielten und darauf beharrten, dass Deutschland bis zu einem Friedensvertrag in den Grenzen von 1937 fortbestehe, meldeten sich zuerst in der FDP, dann auch in der SPD immer mehr Politiker, die es für realistischer hielten, über eine Verbesserung der Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern, und auch zur DDR, eine Entspannung in Europa und damit die Möglichkeit einer Annäherung der beiden deutschen Staaten zu erreichen. In den großen Parteien gab es dafür zu dieser Zeit noch keine Mehrheit. Auf dem Karlsruher Parteitag der SPD 1964 sahen die Dele45 Axel Schildt, »Schlafende Höllenhunde«. Reaktionen auf die antisemitische Schmierwelle 1959/60, in: Andreas Brämer/Stefanie Schüler-Springorum/Michael Studemund-Halévy (Hrsg.), Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag, Hamburg 2005, S. 313-321; vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001, S. 138 ff. 46 Vgl. Unterlagen in ACDP, Nl. Paul Franken, 01/013. 47 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 315 ff.; vgl. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 118 ff.; zur heftigen geschichtswissenschaftlichen Debatte über dieses Thema drei Jahrzehnte später vgl. Axel Schildt, NSRegime, Modernisierung und Moderne. Anmerkungen zur Hochkonjunktur einer andauernden Diskussion, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 23, 1994, S. 3-22.
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gierten an der Bühnenwand eine Landkarte Deutschlands in den Grenzen von 1937, darunter das Motto: »Erbe und Auftrag«. Nachdem sich die beiden Supermächte während der Kubakrise am Rande eines atomaren Schlagabtausches befunden hatten, wurde die »Entspannungspolitik« zum Schlagwort einer weltgeschichtlichen Epoche, erhöhte sich der westliche Druck, insbesondere der US-Administration, auf die Bundesregierung, ihre Positionen zu überdenken. Die Kritiker der Regierungspolitik konnten sich bestätigt fühlen, als der amerikanische Präsident John F. Kennedy in einer Rede am 10. Juni 1963 eine »Strategie des Friedens« entwickelte, in der er die – angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – berechtigten Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion hervorhob. Ein enormes Presseecho fand wenige Wochen später ein Referat des engen Brandt-Beraters Egon Bahr in der Evangelischen Akademie Tutzing, in dem er, sich auf Kennedy berufend, die Formel vom »Wandel durch Annäherung« erläuterte: Der Bau der Berliner Mauer sei als Zeichen der Schwäche und Angst des SED-Regimes zu bewerten, auf diese – berechtigte – Angst sei einzugehen, damit Ostdeutschland sich wieder mit geringerem Risiko öffnen könne. Die Position der Bundesregierung, dass jede Aufwertung der DDR zu unterbleiben habe, geriet demgegenüber in die Defensive. Thematisiert wurde dort, dass nicht nur die Führung des Regimes, sondern auch die Bevölkerung getroffen wurde, wenn z. B. Künstler, Wissenschaftler oder Wirtschaftsmanager aus der DDR keine Einreiseerlaubnis in die Bundesrepublik – und andere NATO-Staaten – erhielten. Weltweit tobte ein symbolischer Kleinkrieg im Sportbetrieb. Für die Olympischen Spiele in Tokio 1964 war es zum letzten Mal nach langem diplomatischem Tauziehen gelungen, eine gesamtdeutsche Mannschaft aufzustellen, die unter gemeinsamer Fahne (Schwarz-Rot-Gold mit den olympischen Ringen in Weiß in der Mitte) und Schillers von Beethoven vertonter »Ode an die Freude« ins Stadion einzog. Wann immer ansonsten bei internationalen Sportveranstaltungen das Abspielen der »Becher-Hymne« oder das Aufziehen der »Spalter-Flagge« der DDR drohte, sollten bundesdeutsche Delegationen abreisen. Die demonstrative Hervorhebung der Nichtstaatlichkeit Ostdeutschlands im Begriff »Sowjetzone« oder kurz »Zone« – zur Benennung gab es verbindliche Richtlinien des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen – verletzte den Stolz vieler Bewohner der DDR, die sich als arme und unmündige Verwandte fühlen mussten, in deren Namen gesprochen wurde. Ihren jährlichen Höhepunkt fand diese Symbolpolitik in den Reden zum »Tag der deutschen Einheit« am 17. Juni, der in allen Schulen feierlich begangen wurde. Auch die vorweihnachtliche Aktion »Kerzen ins Fenster« emotionalisierte die Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund symbolischer Auseinandersetzungen verhandelte der West-Berliner Senat direkt mit Vertretern der DDR über Besucherregelungen in der geteilten Stadt. Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt prägte Ende 1964 die Formel: »Was gut ist für die Menschen im geteilten Deutschland, das ist auch gut für die Nation.« Ein von der SED vorgeschlagener und zu deren Überraschung von der SPD akzeptierter Redneraustausch kam nicht zustande, weil die dafür geschaffene gesetzliche Ausnahmeregelung für das Verbot kommunistischer Propaganda 634
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durch ostdeutsche Funktionäre von der Führung der DDR als diskriminierendes »Handschellengesetz« abgelehnt wurde. Mitte der 1960er Jahre war die öffentliche Diskussion zugleich in starkem Maße von der Politik gegenüber den osteuropäischen Staaten bestimmt. Als die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) im Oktober 1965 eine Denkschrift über »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«, die sogenannte Ostdenkschrift, veröffentlichte, wirkte dies auf viele als Provokation. Das jahrzehntelang geforderte »Recht auf Heimat« für die Vertriebenen wurde hier erstmals auch auf die Millionen in den ehemaligen deutschen Gebieten geborenen Polen bezogen, und es fehlte nicht der Hinweis auf die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Obwohl damit keine direkte Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verbunden war, führte die Denkschrift zu heftigen Diskussionen und zur Ablehnung des Vorstoßes durch die Bundesregierung. Vom Geist der Versöhnung getragen war auch ein Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe, obwohl er nicht zur Einigung über die staats- und kirchenrechtlichen Fragen der ehemaligen deutschen Ostgebiete führte. Mitte der 1960er Jahre verbreiterte sich die Kluft zwischen den Rechtspositionen der Bundesregierung und den Erwartungen der Bevölkerung. Erhebungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach ergaben, dass sich der Anteil derjenigen, die Pommern, Schlesien und Ostpreußen für immer verloren gaben, von 32 Prozent (1959) auf 61 Prozent (1967) verdoppelt hatte. Immer mehr Menschen konnten sich eine Wiedervereinigung nur noch als Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vorstellen. Auch die Sicht auf die DDR veränderte sich nach dem Mauerbau allmählich. Journalisten der Wochenzeitung Die Zeit durften 1963 die DDR bereisen und berichteten in einem Buch von ihrer »Reise in ein fernes Land«; andere Buchtitel wie »Das geplante Wunder« oder »Die DDR ist keine Zone mehr« zeigten, dass hier, bei sehr unterschiedlicher Bewertung, mit fremdem Blick ein Land neu entdeckt wurde:48 Auf der einen Seite stand die Bundesrepublik in westlich-liberaler Färbung, auf der anderen die DDR mit spezifisch deutsch-preußischen Traditionen. Im Reformklima der frühen 1960er Jahre gediehen die überregional verbreiteten Leitmedien aus den Hamburger Druckhäusern hervorragend, vor allem die Wochenzeitung Die Zeit und das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Der Bruch des Verlegers der Zeit, Gerd Bucerius, mit der CDU, für die er als Abgeordneter im Bundestag saß, ließ 1962 zum symbolischen Datum der Herausbildung der Hamburger publizistischen Opposition werden.49 Er hatte sich an einem von Henri Nannen moderierten Gespräch mit Erik Blumenfeld, dem Landesvorsitzenden der Union, 48 Marion Gräfin Dönhoff/Rudolf Walter Leonhardt/Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964; Joachim Nawrocki, Das geplante Wunder. Leben und Wirtschaft im anderen Deutschland, Hamburg 1967; Hanns Werner Schwarze, Die DDR ist keine Zone mehr, Köln 1969. 49 Gerd Bucerius, Der Adenauer. Subjektive Beobachtungen eines unbequemen Weggenossen, Hamburg 1976, S. 97-99.
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beteiligt. Es trug die Überschrift »Brennt in der Hölle wirklich kein Feuer?« und kreiste um die klerikale Intoleranz in der Bundesrepublik. Adenauer, der sich schon in den Jahren zuvor immer wieder zu Wutausbrüchen hatte hinreißen lassen, wenn ihm von den ostpolitischen Eigenmächtigkeiten der Hamburger CDU berichtet wurde – 1959 hatte diese seinen Rücktritt gefordert50 –, nahm nun den kulturpolitischen Vorstoß aus dem Norden gegen »christliche Empfindungen« zum Anlass, das Tischtuch endgültig zu zerschneiden. Der Artikel im Stern wurde vom CDU-Bundesvorstand einstimmig verurteilt. Bucerius kam seinem Parteiausschluss durch den eigenen Austritt zuvor.51 Die Unbotmäßigkeit gegenüber der Regierung Adenauer wurde vom Publikum augenscheinlich belohnt. Von 1960 bis 1962 hatte sich die Auflage der Zeit auf 127.000 Exemplare nahezu verdoppelt, bis 1969 dann nochmals auf 256.000.52 Verbunden war dieser Aufstieg mit einer Umstrukturierung des Unternehmens, die sein wirtschaftliches Fundament stärkte. Im Juni 1965 fusionierte der Zeit-Verlag mit dem Verlag Henri Nannen, der den Stern herausgab, und der Druckerei Gruner & Sohn sowie dem Constanze Verlag John Jahr. Dadurch entstand das zweitgrößte Verlagsunternehmen Westdeutschlands; 28,5 Prozent der Einlagen entfielen auf Bucerius, der dadurch die Zeit in einen starken Konzern eingliedern konnte.53 Allerdings wäre es zu einfach, die neue Blattlinie als Linkswendung zu verstehen. Es handelte sich um eine Wendung gegen Adenauer und dessen Versuch, in einer Achse mit Frankreich die neue US-Administration unter Kennedy und deren neue Strategie der Entspannung zu bekämpfen.54 Dadurch geriet das Blatt in den folgenden Jahren geradezu zwangsläufig ins regierungskritische Lager, während sich die Bonner Politik aufgrund von Adenauers Intransigenz in der anglophonen Welt zunehmend isolierte. Bucerius sorgte für einige Provokationen, indem er sich demonstrativ darum bemühte, »diesen großartigen Burschen« Paul Sethe als Herausgeber für eine Buchreihe im Henri-Nannen-Verlag zu verpflichten. Dieser sagte dann ab, weil er sich der Welt verpflichtet fühlte, zu der er nach seiner Kündigung bei der FAZ 1956 gegangen war.55 Wenn man die Korrespondenz von Marion Dönhoff überblickt, so fällt die Vielzahl enger Kontakte zu konservativen Intellektuellen auf, etwa zu Golo Mann, der in den 1960er Jahren heftigen Angriffen durch Vertreter der Frankfurter Schule und linke Publizisten ausgesetzt war. Man kannte sich persönlich, besuchte sich privat und Golo Mann wurde des Öfteren als Berater 50 Bajohr, Hamburg, S. 89 ff.; ders., Hochburg des Internationalismus. Hamburger »Außenpolitik« in den 1950er und 1960er Jahren, in: Zeitgeschichte in Hamburg, 2008. Hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Hamburg 2009, S. 25-43, hier S. 39. 51 »Ihr nennt das eine Sünde«, in: Der Spiegel, 28.2.1962; Bajohr, Hamburg, S. 95 f. 52 Zusammenstellung der Auflagenentwicklung bei Haase/Schildt, Die Zeit, S. 301. 53 Vgl. Schildt, Immer mit der Zeit, S. 23. 54 Philipp Gassert, Blick über den Atlantik: DIE ZEIT und Amerika in den sechziger Jahren, in: Haase/Schildt, Die Zeit. S. 65-83. 55 Gerd Bucerius an Josef Müller-Marein, 22.11.1962, in: Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 202/1.
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in historischen Fragen herangezogen.56 Auch ansonsten gab es Kontakte der ZeitRedakteurin zu etlichen prominenten Intellektuellen. Primär ging es um die Gegenüberstellung von deutscher Provinzialität und westlicher Internationalität. Dabei konnte die Zeit nur gewinnen. »Warum haben wir kein TIMES LITERARY SUPPLEMENT?«, fragte der Chef des Feuilletons Rudolf Walter Leonhardt polemisch und löste damit eine breite Debatte aus.57 Leonhardt, seit 1957 in diesem Amt, war eine Idealbesetzung für die Leitung des Kulturressorts, nicht zuletzt wegen seines kosmopolitischen familiären Hintergrunds, die französische Mutter kam aus Lothringen, eine Großmutter war Engländerin. Den Krieg erlebte der begeisterte Flieger bei der Luftwaffe. Sein in Bonn begonnenes Studium der Literaturwissenschaft setzte er seit 1948 in Cambridge fort und berichtete für die Zeit aus London. Er strahlte Weltläufigkeit aus. Dönhoff, die sich 1954 zum Observer begeben hatte,58 traf ihn dort und zeigte sich sehr beeindruckt. Bucerius selbst führte den im letzten Drittel der 1950er Jahre beginnenden Erfolgskurs von Anfang an zu einem guten Teil auf Leonhardts Arbeit zurück, wie er Josef Müller-Marein schrieb: »Lieber Jupp, Leo’s Temperament hat das Feuilleton zu einem ganz besonders anregenden Teil der ›Zeit‹ gemacht. Viel der Auflagensteigerung der letzten beiden Jahre verdanken wir ihm; da bin ich ganz sicher.«59 Diese positive Bewertung festigte und verstärkte sich in den folgenden Jahren. In der Hausgeschichtsschreibung trägt ein Kapitel die Überschrift: »Leos Feuilleton: Das intellektuelle Forum der Republik« und wird mit dem Satz eingeleitet: »Ruhm und Größe verdankt die ZEIT in den sechziger Jahren vor allem dem Feuilleton.« Leonhardt sei »Freund, Partner und Verteidiger« der »jungen deutschen Nachkriegsliteratur« gewesen.60 Diese Aussagen zeichnen ein harmonisches Bild, das der Realität keineswegs entsprach. Der Gruppe 47, über die Leonhardt erstmals 1959 berichtete, warf er die Ausgrenzung älterer Schriftsteller vor. Und mit dem erbittertsten Gegner der Literatengruppe, Friedrich Sieburg, pflegte er von 1959 bis 1962 freundschaftliche Beziehungen. Er besuchte ihn in Gärtringen und es gelang ihm, den Kollegen von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Gastautor für eine Stellungnahme zu aktuellen Neuerscheinungen zu gewinnen. Ein langer Brief an Sieburg, in dem es um das gegenseitige Verhältnis, den Kulturteil der Zeit und die Gruppe 47 ging, gewährt einige Einblicke: »Reich-Ranicki (den Leonhardt eingestellt hatte; A. S.) fährt zwar, wie ich, seit zwei Jahren zu den Treffen der Gruppe 47, ist dort jedoch (wie ich) keineswegs 56 Einen Eindruck vermittelt die dichte Korrespondenz von 1961 bis 1986, in: Marion Gräfin Dönhoff Archiv, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F 0046/1 57 Leonhardt, Zeitnotizen, S. 129-131. 58 S. Kapitel I.3.2. 59 Gerd Bucerius an Josef Müller-Marein, 12.8.1959, in: Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 202/1. 60 Janßen, Zeit, S. 157.
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persona grata. Er ist nicht mein Freund, und er war einer von den sechsen, die eines Abends bei einem Gesellschaftsspiel in der Kneipe von Göhrde als ersten deutschen Kritiker Friedrich Sieburg nannten. (Er habe zu Richter gesagt), so schön, wie die Treffen seien, er dürfe sich nicht wundern, wenn sie als ›Klüngel‹ erschienen, solange Leute wie Friedrich Sieburg und Werner Weber nicht wenigstens um der guten Form willen eingeladen würden.«61 Ein Jahr später klagte Sieburg in einem Brief an den rechtskonservativen Publizisten Armin Mohler über die »Bande, die sich in der ZEIT zusammengerottet hat und von der Herr Ranicki sicherlich wohl die trübste Figur ist«; sie übe öffentlichen »Terror« aus.62 Wie viel davon die Position Leonhardts wiedergibt und wie viel der Taktik geschuldet war, sich als pluralistisches Forum zu präsentieren, ist kaum zu entscheiden. In einem Brief an Bucerius bezeichnete er die Gruppe 47 als »linksintellektuelle Verschwörer-Clique«. Aber dort säßen nun einmal »die Leute, die heute in der deutschen Literatur etwas zu sagen haben«. Außerhalb der Gruppe stünden ja nur Nossack und Koeppen, »wahrscheinlich auch Gaiser« und Hans Habe. Das klang eher nach resignativer Anpassung.63 Im Übrigen bildete die diffamatorische Begleitung der Gruppe 47 in der ersten Hälfte der 1960er Jahre so etwas wie ein eigenes Genre mit dort tätigen rechtskonservativen Literaturkritikern als hauptsächlichen Protagonisten. Heinrich Böll hatte unter dem unmittelbaren Eindruck der SpiegelAffäre an Hans Werner Richter geschrieben: »Mir wird mulmig in den abgeblasenen Giftnebeln der Blöcker und Krämer-Badoni. Wer weiss, wieviel diese Leute schon in ein paar Monaten zu sagen haben …«64 Zu dieser Phalanx zählten an prominenter Stelle unter den Schriftstellern selbst Holthusen65 und Gerd Gaiser, der eine besondere Wut gegen Böll hegen musste, da dieser gegen ihn im Literaturbetrieb als Leitfigur der Kritik durchgesetzt worden war und sein eigener Ruhm verblasste. Bereits am Tag mit dem Datum von Bölls Brief meldeten sich der umtriebige Journalist Günter Blöcker, Hans Habe und Marcel Reich-Ranicki mit Artikeln in der Zeit zu Wort, deren Feuilletonchef Rudolf Walter Leonhardt sich gleichzeitig dazu bekannte, das »Hausorgan« der angegriffenen Schriftsteller zu sein. Aber es sei nicht hinweg zu diskutieren, dass die Gruppe 47 eine beherrschende Position in der medialen Öffentlichkeit einnehme. Eine ähnliche Öffnung der Spalten für die 61 Rudolf Walter Leonhardt an Friedrich Sieburg, 8.11.1961, in: DLA, A: Friedrich Sieburg; Reich-Ranicki, der bald zur FAZ wechselte, fühlte sich bei der Zeit im Übrigen als Außenseiter behandelt; Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 467 f. 62 Friedrich Sieburg an Armin Mohler, 23.12.1962, in: DLA, A: Armin Mohler. 63 Rudolf Walter Leonhardt, Hausmitteilung an Gerd Bucerius und Henri Nannen, in: ZeitStiftung, NL. Gerd Bucerius, 202. 64 Heinrich Böll an Hans Werner Richter, 25.10.1962, in: Cofalla, Hans Werner Richter. Briefe, S. 422. 65 Vgl. die einschlägige Sammlung von Porträts von Enzensberger bis Grass bei Hans Egon Holthusen, Plädoyer für den Einzelnen. Kritische Beiträge zur literarischen Diskussion, München 1967.
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gegnerische Richtung findet sich auf der Seite der konservativen Publizistik nicht.66 Vor allem der immer wiederholte Vorwurf des linken Konformismus veranlasste den bei Radio Bremen beschäftigten Adorno-Schüler Helmut Lamprecht zur Kritik, die er an Friedrich Sieburg richtete. Niemand zerstöre im Literaturbetrieb der Bundesrepublik »affirmative Legenden, ohne daß der bekannte Sprechchor über ihn herfiele!«67 Als Beispiel nannte er die Unterstellung, man könne es nicht wagen, Heinrich Böll des Nobelpreises für unwürdig zu erklären. Wenig Beachtung fand bisher die äußerst zwielichtige Rolle Leonhardts bei einem Skandal um die Vergangenheitsbewältigung, in dessen Mittelpunkt der Hamburger Psychologe Peter R. Hofstätter, ein prominenter Sozialpsychologe, stand. Die Zeit, für die er schon öfter zur Feder gegriffen hatte, druckte 1963 seinen Artikel »Bewältigte Vergangenheit?«, in dem der Psychologe in geschraubter Terminologie dazu aufforderte, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich höchstens »sachte (zu) distanzieren«. Angesichts der atomaren Gefahren sei zu fragen, ob wir »noch moralisch zur Strafverfolgung der Täter in den Uniformen des Dritten Reiches legitimiert« seien. Der Mord an den Juden war für ihn eine Kriegshandlung gewesen. Der Artikel schloss mit einem »Bekenntnis zur unbewältigbaren Vergangenheit«. In einem Artikel der Deutschen National- und Soldatenzeitung, der er dankbar attestierte, ihn unterstützt zu haben, und einem Interview mit dem Spiegel zeigte sich Hofstätter als unbelehrbar rechtsextrem. Leonhardt stellte sich wiederum gegen dessen Kritiker, vor allem den jüdischen Künstler und Publizisten Arie Goral, und war nicht bereit einzusehen, dass der Abdruck ein Fehler gewesen sei.68 Bestärkt wurde Leonhardt von dem konservativen Publizisten Thilo Koch, bei dem er sich über den schlimmen »hysterischen Philosemitismus« beklagt hatte.69 Als ständiger Mitarbeiter der Zeit erhielt Koch von 1962 bis 1965 eine monatliche Pauschale von 500 DM. Leonhardts Haltung im Fall Hofstätter kontrastierte mit der Verleumdung von Alfred Andersch als Hitlerjunge von 1933 in der Neuen Zürcher Zeitung.70 Dieser fühlte sich seit der Kritik an seinem Roman »Sansibar oder der letzte Grund« (1957) regelrecht politisch verfolgt und verortete Leonhardts Angriff in diesem Kontext: »Die ultramontanen Gazetten à la Rheinischer Merkur schießen schon aus allen Rohren. Und die Signaltrommeln der Kalten Krieger-Stämme funktionieren überhaupt ausgezeichnet. Die Neue Zürcher Zeitung hat sich Hans Egon Holthusen als Referenten bestellt, wie ich erfuhr. Und so wird man denn das Schauspiel erleben, dass in der größten Schweizer Zeitung der SS-Mann von 1933 über den KZ-Häftling von 1933 politisch zu Gericht sitzt – wohlwollend fair natür66 67 68 69 70
Vgl. Hans Werner Richter. Briefe, S. 423. Helmut Lamprecht an Friedrich Sieburg, 25.4.1963, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. Vgl. Schildt, Einen Adorno hatten wir nicht. Rudolf Walter Leonhardt an Thilo Koch, 25.9.1963, in: BAK, Nl. Thilo Koch, 135. Alfred Andersch an Werner Weber/Feuilleton der NZZ, 29.12.1961, in: DLA, A: Alfred Andersch.
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lich, was die Sache umso peinlicher macht. Dabei habe ich auch von der sogenannten Linken nichts zu erwarten – der bin ich zu gebildet (was ich eigentlich gar nicht bin) und ein bisschen unheimlich; die deutsche Linke … nein, lassen wir dieses Thema.«71 Hans Werner Richter protestierte voller Bitterkeit gegen die »Hetze« von Wolf Jobst Siedler in der Zeit.72 Und nach einer Polemik von Leonhardt gegen den Tagungsbetrieb der Gruppe 47 in ihrer Endzeit hieß er bei Hans Werner Richter schließlich nur noch »Rudolf Arschloch Leonhardt«.73 Das organisatorische Fundament für den Ausbau zum führenden kulturellen Forum, eine personelle Aufstockung des Feuilletons, wurde vom Verleger akzeptiert. Die wichtigste Hilfe erwuchs ihm in Dieter E. Zimmer, einem jungen Studenten der Anglistik, der sich rasch einen Ruf als glänzender Moderator von Diskussionen erwarb. Als es Gerüchte gab, Leonhardt könne wegen lukrativer Angebote die Zeit wieder verlassen, sorgte Bucerius für eine kräftige Gehaltsaufbesserung. Nach einer Anhebung seiner Bezüge um mehr als 30 Prozent gehörte Leonhardt Mitte der 1960er Jahre zu den am besten bezahlten Redakteuren der Zeit, gleichgestellt mit Marion Dönhoff und mit großem Abstand vor allen anderen.74 Leonhardt konnte alle Versuche abwehren, die hohen Kosten für das Feuilleton zu verringern, etwa indem dessen Umfang zumindest in den kulturell weniger ereignisreichen Sommermonaten eingeschränkt würde. In einer Hausmitteilung erläuterte Leonhardt 1964, als entsprechende Pläne ventiliert wurden, seine grundsätzliche Position: »Die Strafe bestünde darin, daß wir im deutschen Literaturbetrieb aufhören, eine erste Geige zu spielen; daß von Berufs wegen an Büchern Interessierte (…) auf die ZEIT verzichten können; daß dieser gar nicht so kleine Anteil an unserer Gesamtauflage sinkt. (…) Einen Literaturteil, im Gegensatz zu einem willkürlichen Sammelsurium von Besprechungen, kann man nur mit einem festen Stab hochintelligenter und loyaler Mitarbeiter machen. Die kann man aber nun einfach nicht im Sommer auf Eis legen und dann im Herbst wieder taufrisch servieren. So geht das nicht. – in keinem Betrieb, auch im Literaturbetrieb nicht.«75 Eine Leseranalyse 1964/65 zeigte, dass beim Aufstieg des Blatts – trotz einer Preiserhöhung – immer mehr junge Männer in Großstädten die Zeit lasen und die Schulbildung der Leserschaft insgesamt zunahm.76 Für diese wichtige Klientel wa71 Alfred Andersch an Walter Muschg, 17.9.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch. 72 Hans Werner Richter an Rudolf Walter Leonhardt, 29.1.1962, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 387-392. 73 Hans Werner Richter an Reinhard Lettau, 18.1.1965, in: AdK, Nl. Reinhard Lettau, 137. 74 Eine Aufstellung der Bezüge der wichtigsten Redakteure nach der Erhöhung am 1.1.1964 in: Zeit-Stiftung, Nl. Gerd Bucerius, 203. 75 Hausmitteilung Leo (Rudolf Walter Leonhardt) an Gerd Bucerius, 22.6.1964, in: ebd. 76 Hausmitteilung Bezold, 8.10.1965, in: ebd.
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ren die liberal-kämpferischen Positionen attraktiv, die sich vor allem beim Bruch des gouvernementalen Tabus zeigten, mit Kommunisten aus der DDR zu sprechen.77 Und Friedrich Sieburg war zuletzt auch keineswegs sakrosankt. Eine Glosse des Suhrkamp-Lektors Walter Boehlich erbitterte ihn sehr.78 Das Wichtigste war schließlich doch die Etablierung einer Linie, die die Zeit als Forum intellektueller Sinndeutung etablieren half, etwa durch eine 1961 eingerichtete Rubrik »Richtung Zukunft«, für die Robert Jungk als Berater und Autor gewonnen wurde. Die Zukunft bezog sich auf naturwissenschaftliche und technische Probleme, aber auch auf Architektur und Soziologie.79 Das zweite der beiden wichtigen Hamburger Presseerzeugnisse für Intellektuelle, der Spiegel, erreichte 1963 eine verkaufte Auflage von 500.000 – allein die sogenannte Spiegel-Affäre hatte einen Schub von 160.000 Exemplaren bewirkt. 1966 wurden durchschnittlich mehr als 800.000 Exemplare abgesetzt. In den ersten beiden Jahrzehnten des Spiegel hatte sich der Heftumfang von 27 auf 143 Seiten gesteigert, der dadurch ein immer breiteres inhaltliches Spektrum abdeckte. Nach einer Erhebung Mitte der 1960er Jahre las ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung das Nachrichtenmagazin zumindest gelegentlich, ein Drittel war es bei den Bundesbürgern mit Abitur (darüber verfügten insgesamt 4,6 Prozent), drei Viertel waren es bei den Führungskräften der Wirtschaft.80 Sehr erfolgreich entwickelte sich auch die linksliberale Frankfurter Rundschau. Den Höhepunkt ihres Einflusses erreichte die Zeitung im Vorfeld der Revolte von 1968, als sie mit ca. 35.000 verbilligten Studenten-Abonnements zur beliebtesten Tageszeitung des akademischen Nachwuchses avancierte. In den 1970er Jahren ging der Einfluss des Blattes, das die sozialliberale Koalition wohlwollend, aber nicht unkritisch begleitete, wieder zurück.81 Zugleich fällt auf, dass die seismographische Funktion der zuvor tonangebenden politisch-kulturellen Zeitschriften offenbar gestört war. Der Merkur, der mit dem Text von Forsthoff in ostentativer Nüchternheit mit selbstgewisser konservativer Signatur die 1960er Jahre programmatisch eingeleitet hatte,82 stand offenkundig vor großen Problemen, den intellektuellen Anforderungen der neuen Zeit mit dem vorhandenen Personal gerecht zu werden. Zwar gewann man mit Hartmut von Hentig einen profilierten Bildungspolitiker als Autor. Auch Dahrendorf schrieb im Merkur. Notgedrungen bemühte sich Paeschke um eine Erweiterung des Pluralis77 S. Kapitel III.3. 78 Walter Boehlich, Friedrich Sieburgs Unmut, in: Die Zeit, 7.12.1962. 79 Gedächtnisprotokoll der Besprechung am 4.4.1961, in: Marion Gräfin Dönhoff Stiftung, Nl. Marion Gräfin Dönhoff, F0589; im Anhang werden Dutzende von Beispielen für Themen genannt. 80 Dieter Just, Der Spiegel. Arbeitsweise – Inhalt – Wirkung, Hannover 1967, S. 166 ff., hier S. 168. 81 Vgl. die Skizze von Heiko Flottau, Liberal auf schwankendem Boden: Die »Frankfurter Rundschau«, in: Thomas, Porträts, S. 97-107. 82 S. Kapitel III.2.
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mus.83 Aber mit den rechtskonservativen Literaten wie Hohoff und Holthusen, die in den 1950er Jahren en vogue waren, ließ sich keine intellektuelle Initiative mehr starten. Vergleicht man die Liste der Autoren des Merkur von 1957-1966 mit jener im ersten Jahrzehnt der Zeitschrift,84 hatte sich kaum eine Änderung ergeben; erst seit 1967 erfolgte eine generationelle Verjüngung.85 Die Gewinnung einer Meinungsführerschaft gelang auch nicht beim aktuellen Thema der deutschen Frage. Hier setzte Paeschke auf Rolf Schroers, eine Randfigur der Gruppe 47, der in den 1960er Jahren als Chefredakteur des freidemokratischen Theorieorgans liberal fungierte. Schroers fabulierte in nationalneutralistischen Tönen vom »Partisan« als Auslöser eines »Aufstandes für die Wiedervereinigung«. Ende der 1950er Jahre hatte Adolf Frisé vom Hessischen Rundfunk einen Beitrag höflich abgelehnt: »Es hat Ihnen sicher nicht vorgeschwebt, aber es drängt sich doch immer wieder der Eindruck auf, als trauerten Sie einer gewissen Kriegsromantik nach.«86 Drei Jahre später, nach dem Mauerbau, schickte Schroers seinen Text an Paeschke, der ihn umgehend publizierte, sich dann aber vergeblich bemühte, daran anknüpfend eine Debatte in der Zeitschrift zu organisieren.87 Abgesehen von Rüdiger Altmann und Hartmut von Hentig, die sehr kurze ablehnende Stellungnahmen lieferten, mochten sich prominente Publizisten, etwa Sebastian Haffner, nicht zu einer Auseinandersetzung bereitfinden.88 Überdies hatte der Merkur mit einer schweren ökonomischen Krise fertig zu werden. Dass daraus eine Linkswendung dieses intellektuellen Zentralorgans resultierte, so die gängige Hausgeschichtsschreibung, würde die komplizierte Situation unzulässig simplifizieren. Nach dem Tod von Joachim Moras, einem der beiden Mitherausgeber, im März 1961 begann ein Tauziehen um den Merkur. Als Grundlage für die Gespräche notierte Hans Paeschke »Gesichtspunkte zur Situation« der Zeitschrift. Vier Voraussetzungen gebe es für deren Weiterführung: erstens die »Verpflichtung zur Kontinuität« und zur »Kontinuität der Gestaltungsweise«; zweitens die »Verpflichtung zum dialogischen Prinzip« im Sinne eines »Brückenschlags im zeitlichen Sinne zwischen den Generationen, den Kräften der Tradition und des Experiments« sowie im »räumlichen Sinne (…) innerhalb der verschiedenen 83 Vgl. Kießling, Undeutsche Deutsche, S. 268 f. 84 S. Kapitel II.1.1. 85 Etwas anders stellte sich die Situation beim Monat dar, wo vor allem Rüdiger Altmann und Klaus Harpprecht, also jüngere konservative Intellektuelle, in den 1960er Jahren in den Vordergrund rückten; Aussage auf Basis eigener Auszählungen. 86 Adolf Frisé/HR Abendstudio/Feature an Rolf Schroers, 3.6.1959, in: LA NRW Münster, Nl. Schroers. 87 Rolf Schroers an Hans Paeschke, 30.12.1961, in: DLA, D: Merkur; Rolf Schroers, Aufstand für die Wiedervereinigung?, in: Merkur, Jg. 16, 1962, S. 306-320; abgedruckt auch in: Rolf Schroers, Aus gegebenem Anlass. Glossen, Frankfurt a. M. 1964, S. 105-122; vgl. ders., Meine deutsche Frage. 88 Rüdiger Altmann, Gibt es einen »Aufstand für die Wiedervereinigung«?, in: Merkur, Jg. 16, 1962, S. 667-670; Hartmut von Hentig, Aufstand für Schroers, in: ebd., S. 963-969; Hans Paeschke an Sebastian Haffner, 4.5.1962, in: DLA, D: Merkur.
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nationalen Kulturen wie innerhalb der verschiedenen philosophischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen«; drittens die »Notwendigkeit verstärkter Team-Bildung« nach dem Tod von Moras; genannt werden u. a. die literarischen Mitarbeiter, Holthusen, Karl August Horst und Curt Hohoff, die langjährigen Berater Wolfgang von Einsiedel, Friedrich Podszus sowie die Kulturkritiker Erich Franzen und Joachim Kaiser; viertens die »Notwendigkeit der Beibehaltung des Redaktionssitzes München«, denn »als bedeutendstes geistiges Zentrum vor allem auch für diejenigen Intellektuellen, die nicht ausschließlich zweckberuflicher oder journalistischer Tätigkeit verpflichtet sind, verfügt der Münchner Raum über die meisten Köpfe, die für die Aufgaben des MERKUR, die Grundlagenforschung der Zeitprobleme, besonders in Frage kommen«.89 In einer »Notiz« hielt Paeschke eine Woche später das Ergebnis eines in »freundschaftlichem Ton« geführten Gesprächs mit dem Geschäftsführer der DVA, Eugen Kurz, fest; dieser vertrat die Rechtsauffassung, der Vertrag von 1950 sei mit dem Tode von Moras erloschen. Von Verlagsseite sei kritisiert worden, dass der Merkur keine jungen Autoren gewinne, der Autorenkreis zu klein sei, »restlos in München sitzt, zu viele Abdrucke (bringe), zu wenig europäisch, oft zu schwierig und abstrakt und in gewisser Hinsicht steril« wirke. Die Entscheidung der DVA zur Weiterführung der Zeitschrift sei noch nicht gefallen, aber die Voraussetzung werde auf jeden Fall die Verlegung der Redaktion von München nach Stuttgart sein. Auch dürfe Paeschke in Zukunft nicht mehr allein über den Inhalt eines Heftes entscheiden und müsse sich bei Nebentätigkeiten stärker als bisher zurückhalten. Positiv wurde in der Notiz lediglich hervorgehoben, dass die DVA nicht beabsichtige, den Merkur zu einem Organ des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zu machen, mit dem darüber Gespräche stattgefunden hatten.90 Eine solche Lösung wäre möglich gewesen, weil der Kulturkreis des BDI die Zeitschrift seit 1960, allerdings von vornherein auf drei Jahre begrenzt, subventioniert hatte. Eine Verlängerung hatte der Kulturkreis von einer Nennung im Impressum abhängig gemacht. Das hätte das definitive Ende der Unabhängigkeit der Zeitschrift bedeutet und kam für Paeschke nicht in Frage.91 Schon nach dem Gespräch mit dem Vertreter der DVA hatte er sich für einen Verlagswechsel entschieden. Letztlich ging es nur noch um die vertragliche Lösung von der DVA, die sich ihrerseits dafür entschied, die Zeitschrift abzustoßen. Als eine der ersten informierte Paeschke seine alte Bekannte Margret Boveri: »Zum Wochenende hat der Verlag nach siebenmonatigem Schwebezustand endlich den Entscheid der Aufsichtsratstagung mitgeteilt; entweder Umzug nach Stuttgart oder Trennung.« Die Hervorhebung gerade dieses Punktes sei aber nur ein »Alibi«, letztlich wolle die DVA den Merkur aus finanziellen Gründen nicht be89 Gesichtspunkte zur Situation des MERKUR, 8.5.1961, in: DLA, D: Merkur. 90 Notiz. Betr.: MERKUR-Auseinandersetzung, 17.5.1961, in: DLA, D: Merkur. 91 Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 22.1.1962, in: DLA, D: Merkur.
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halten. Vertragsgemäß werde ihn der Verlag noch bis Mitte 1962 herausbringen. »Die Frage einer neuen Heimat für die Zeitschrift ist damit aktuell geworden.« Mit einiger Bitterkeit kommentierte Paeschke das Verhältnis zur DVA: »Ich bin sehr bekümmert, wenn ich an die große Vergangenheit der DVA denke (…) Das schlimme ist, daß Sie heute keinen Verantwortlichen bei der DVA mehr zu fassen bekommen; der jetzige Leiter spricht mit mir nie im eigenen Namen, der Aufsichtsrat ist für unsereinen nicht zugänglich. Sogar die Zusammensetzung ist mir weitgehend unbekannt. Insofern ist dieses Haus zu einem Muster jener Verantwortlichkeits-Zersetzung in unserer Bundesrepublik geworden, die ja ihrerseits als schlimmstes Erbe von der systematischen VerantwortlichkeitsSpaltung unter den Nazis überkommen ist.«92 An Margret Boveri hatte sich Paeschke vor allem deshalb gewandt, weil diese über einen guten Kontakt zum ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss verfügte, der wiederum wertvolle Beziehungen zu den tonangebenden Finanzkreisen der schwäbischen Hauptstadt pflegte. In den folgenden Tagen und Wochen informierte Paeschke zahlreiche Autoren und Freunde des Merkur, zum einen, um ein Umfeld der Solidarität zu schaffen, zum anderen, um Möglichkeiten für die Zukunft der Zeitschrift zu sondieren. Die Empörung der Intellektuellen aller Richtungen fiel einhellig aus. Der evangelische Bildungsforscher Hellmut Becker warnte davor, dass der Merkur »dem schwäbischen Merkantilismus zum Opfer fallen« könnte.93 Das bezog sich, wie Paeschke an Adorno schrieb, auf das Ansinnen der DVA, die Zeitschrift zwar nicht einzustellen, aber eine »hohe Abfindung« für den Titel zu erhalten, weil er sich dagegen wehre, das Defizit »durch Kommerzialisierung des Niveaus wegzuorganisieren«.94 Hans Magnus Enzensberger ordnete den Fall in eine lange Kette von Angriffen ein, die sich nicht nur gegen Linke richteten, »sondern gegen jede Äußerung, die von der normierten, uns zugedachten, um ein haarbreit abweicht«.95 Rolf Schroers bekundete in einem Solidaritätsschreiben seinen Ekel darüber, »wie ein paar fette, gleichgültige Geschäftsmänner ihre kulturelle Indifferenz doch mit nichts anderem tarnen wollen, als mit einem so oder so käuflichen Subjekt«.96 Paeschkes Verbitterung wuchs im Frühjahr 1962 weiter. In einem Brief an Margret Boveri konstatierte er, dass der Kulturverantwortliche bei Bosch, Georg Braun, leider auch nicht anders denke als die vom Konzern abhängigen Manager der DVA. Er ordnete das Geschehen, ganz im Sinne Enzensbergers, in das Wahrnehmungsmuster eines staatlichen und kapitalistischen Generalangriffs auf jede abweichende Meinung ein. »Mit dem Kulturprovinzialismus, den man sich in der Zeit der Wirtschaftsblüte noch von Hofnarren verspotten oder 92 Hans Paeschke an Margret Boveri, 21.11.1961, in: DLA, D: Merkur. 93 Hans Paeschke an Margret Boveri, 10.1.1962, in: DLA, D: Merkur; Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 4.1.1962, in: ebd. 94 Hans Paeschke an Theodor W. Adorno, 5.1.1962, in: DLA, D: Merkur. 95 Hans Magnus Enzensberger an Hans Paeschke, 28.2.1962, in: DLA, D: Merkur. 96 Rolf Schroers an Hans Paeschke, 9.3.1962, in: DLA, D: Merkur.
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ausreden liess, wird’s nun selber ernst.« Er sei mittlerweile bereit, mit dem Merkur »Gegenstand eines kulturellen Skandals« zu werden.97 Im April hatte der Verlag dann tatsächlich ein annehmbares Angebot vorgelegt, forderte lediglich noch 10.000 DM für die Verlagsrechte und erklärte sich bereit, den Merkur noch bis zum September herauszubringen.98 Die Suche nach einem neuen Verlag hatte die Verhandlungen mit der DVA begleitet. Etliche Interessenten hatten sich gemeldet, viele Kontakte führten aber zu nichts. Sondierungen mit Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag waren um die Jahreswende 1961/62 gescheitert, weil dieser das finanzielle Risiko scheute, aber auch nicht überzeugt war von der »nicht nur literarischen Seite der Zeitschrift«.99 Paeschke meinte zwischenzeitlich sogar, Verlage träumten nur von einer »repräsentativen Literaturzeitschrift«, die ihre eigenen Produkte »recht schön« besprechen werde. An Holthusen schrieb er: »Es wird mir immer klarer, daß eine Zeitschrift vom Typ des MERKUR durch seine Unabhängigkeit von ideologischen oder Produktionsinteressenten-Gruppen nur zu halten ist, wenn eine starke außerverlegerische Stütze da ist.«100 Diese Stütze konnte nur der »Kreis der Freunde des europäischen Denkens e. V.« sein, dem 1959 auch die BASF beigetreten war, die mit der ehemaligen BührleGruppe in der Bundesrepublik, nun mit dem Flick-Konzern verbunden, die zweite Hauptstütze bilde. Außerdem, so Paeschke an Karl Korn (FAZ), sollte Siemens für eine Mitgliedschaft gewonnen werden; vom Ausbau des Freundeskreises »hängt das Schicksal des MERKUR weitgehend ab«.101 Anfang Mai 1962 erschien im Spiegel unter dem Titel »Esoteriker gesucht« ein gut informierter Artikel über die Verlagskrise. Damit war der von Paeschke erwartete »öffentliche Skandal« eingetreten.102 Allerdings empfand er die Darstellung des Nachrichtenmagazins als »ausgesprochenen Bärendienst«, weil hier der »dumme, von der DVA aufgebrachte Slogan von der Esoterik des MERKUR«103 übernommen worden sei. Paeschke forderte von Augstein eine Gegendarstellung und zitierte dabei aus einer gemeinsamen Erklärung von Merkur und DVA, die jeden Hinweis auf den finanziellen Streit vermied: »Die Meinungsverschiedenheiten, die sich zwischen den Vertragsschließenden ergeben haben, beruhen ausschließlich auf verschiedenen Auffassungen über die künftige literarische und organisatorische Gestaltung der Zeitschrift.«104 97 Hans Paeschke an Margret Boveri, 6.3.1962, in: DLA, D: Merkur. 98 Hans Paeschke an Margret Boveri, 18.4.1962; Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 18.4.1962, in: DLA, D: Merkur. 99 Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 5.1.1962, in: DLA, D: Merkur. 100 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 30.3.1962, in: DLA, D: Merkur. 101 Hans Paeschke an Karl Korn, 30.5.1962, in: DLA, D: Merkur. 102 Verlage. MERKUR. Esoteriker gesucht, in: Der Spiegel, 2.5.1962, S. 87. 103 Hans Paeschke an Karl Korn, 2.5.1962, in: DLA, D: Merkur. 104 Hans Paeschke an Rudolf Augstein, 2.5.1962, in: DLA, D: Merkur.
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In seiner Antwort machte der Verleger des Spiegel den Vorschlag, selbst den Merkur zu finanzieren, von Paeschke »mit einem lebhaften Dankeswort«105 begrüßt, allerdings nicht weiter verfolgt. Ein Brief von Alfred Andersch, der mit dem Hamburger Organ schon länger verfeindet war, an den Merkur-Herausgeber am Tag nach dem Spiegel-Artikel zeigt recht gut, dass eine Verbindung zur »Hamburger Kumpanei« gerade unter linken Intellektuellen keine ungeteilte Zustimmung gefunden hätte: »Den SPIEGEL habe ich nicht gelesen, ich fasse schon seit langer Zeit kein Heft mehr an. Immer wieder wundere ich mich darüber, dass ernsthafte Leute sich noch irgendetwas von diesem Schmutz erwarten. Augstein ist für mich einfach ein Lump, nichts weiter. Ich würde im SPIEGEL nichts erwidern, nichts rektifizieren lassen, ihn völlig ignorieren. Er ist nicht ein Gran Energie wert. Herr R. W. Leonhardt (Feuilletonchef der Zeit; A. S.) ist eine Mischung aus primitivschlauem Macher und Dummkopf. (…) Der MERKUR muss gerade gegen diese Leute gerettet werden.«106 Mittlerweile, bereits im April, hatte Schroers den Kontakt zu Joseph Caspar Witsch hergestellt. Dieser sei bereit, die Selbstständigkeit des Merkur zu respektieren, sei »materiell nicht übermäßig besorgt« und zudem überzeugt davon, die Auflage, 1962 lag sie bei ca. 3.900, zu steigern, nicht zuletzt durch seine guten Beziehungen zur Bundeszentrale für Heimatdienst und der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes.107 Am Ende verliefen die Verhandlungen erfolgreich, der Vertrag zwischen dem Herausgeber des Merkur und dem Verlag Kiepenheuer & Witsch wurde im November 1962 unterzeichnet; dort erschien die Zeitschrift seit Anfang 1963. Der Wechsel gerade zu dem Kölner Verlag, der sich im Umkreis der Protagonisten einer westlichen Liberalisierung vom Kongress für Kulturelle Freiheit profiliert hatte, zeigt symptomatisch, dass sich die alten kulturpolitischen Fronten aufgeweicht hatten. Dies konnte nicht im Sinne der konservativen Merkur-Autoren sein, für die Hans Egon Holthusen sprach. Seinen Appell zu konservativer Rückbesinnung trug er in Frageform vor: »Wie soll eigentlich der MERKUR in Zukunft aussehen? Wenn die SuhrkampZeitschrift mit der gesamten Linksblase zustande kommt, würde sich dann der MERKUR nicht einfach zwangsläufig mit ihr polarisieren und sich dann auf seine ursprüngliche Position (›konservativ‹, whatever that may be) zurückbesinnen müssen? Sehe ich das falsch? Wie denkst Du darüber?«108 Eben diese Rückbesinnung lag nicht im Interesse von Paeschke, dem man einen, keineswegs geradlinig verlaufenen, Prozess des Umdenkens zubilligen kann. Rück105 106 107 108
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Hans Paeschke an Rudolf Augstein, 15.6.1962, in: DLA, D: Merkur. Alfred Andersch an Hans Paeschke, 3.5.1962, in: DLA, D: Merkur. Rolf Schroers an Hans Paeschke, 18.4.1962, in: DLA, D: Merkur. Hans Egon Holthusen an Hans Paeschke, 22.11.1962, in: DLA, D: Merkur.
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blickend konstruierte der Merkur-Herausgeber eine Traditionslinie, die einer Nachprüfung nicht standhält, dass es nämlich der Zeitschrift in ihrem »Bemühen um eine geistige Katalyse« stets, »vom ersten bis zum letzten Heft«, darum gegangen sei, die »verschiedenen Generationen und politisch-ideologischen Positionen« in einen Dialog zu bringen, und dass es dabei »von der sogenannten Linken (…) von Anfang an (…) sehr dezidierte Vertreter« gegeben habe.109 Der Neustart des Merkur wurde von der Konkurrenz mit einiger Sorge registriert. Walter Dirks erwartete dessen »radikale Politisierung« und wachsenden Einfluss unter der Jugend.110 Diese Erwartung trat nicht ein. Zwar gelang bis zur Mitte der 1960er Jahre eine Auflagensteigerung auf ca. 5.200 Exemplare, aber das blieb weit hinter den Erwartungen und dem Erfolg linker Theoriezeitschriften in den 1960er Jahren, vor allem dem Kursbuch,111 zurück. Der Merkur überlebte allerdings alle Krisen, auch die letzte, die 1968 mit einem erneuten Verlagswechsel, nun zum Verlag Klett-Cotta in Stuttgart, verbunden war. An seinen Freund Gerhard Nebel schrieb Ernst Jünger, der die Zeitschrift über die Jahrzehnte hinweg aufmerksam beobachtet hatte: »Ernst Klett scheint Lust zu haben, den ›Merkur‹ zu erwerben; es frägt sich, ob das Roß nicht schon zu lahm geritten ist. Jedenfalls ist es kostspielig.«112 Die daran möglicherweise geknüpften Hoffnungen auf einen stärkeren Einfluss, immerhin kannte Jünger den Verleger Klett schon viele Jahrzehnte persönlich, erfüllten sich allerdings nicht. Andere politisch-kulturelle Zeitschriften aus dem konservativen und liberalen Spektrum erlebten in den frühen 1960er Jahren ihr Ende.113 Nach Pechels Tod ließ sich die Deutsche Rundschau nicht mehr lange erhalten. Eine Anthologie, die er noch kurz zuvor herausgegeben hatte, zeigte eindrücklich, dass die Zeit für die Zeitschrift abgelaufen war. Sie reichte nur bis 1950, und neun Zehntel der ausgewählten Beiträge stammten aus der Zeit vor 1943.114 Von 1962 bis 1964 leiteten zwei Redakteure des Bayerischen Rundfunks, Hans-Joachim Netzer und Burghard Freudenfeld, die Zeitschrift im Nebenamt. Das Werben um Autoren wie Heinrich Böll oder Helmut Heißenbüttel, ein letzter Verlagswechsel – zu Scherz – und der Eintritt neuer Herausgeber, darunter Karl Dietrich Bracher und Friedrich Heer, konnten das Ende im 90. Jahrgang nicht verhindern.115 Der internationale Skandal um die Subventionierung durch den CIA beraubte Mitte der 1960er Jahre den Monat wie auch die anderen nationalen Organe, Preuves, Forum und Encounter, jeglicher moralischer Reputation unter den Intel109 Hans Paeschke an Joachim Schickel/Drittes Programm des NDR, 14.6.1963 , in: DLA, D: Merkur. 110 Interner Vermerk von Walter Dirks, 20.12.1962, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 324. 111 S. Kapitel III.3. 112 Ernst Jünger an Gerhard Nebel, 12.6.1967, in: Jünger/Nebel, Briefwechsel, S. 431. 113 S. Kapitel I.4.3. 114 Rudolf Pechel (Hrsg.), Deutsche Rundschau. Acht Jahrzehnte deutschen Geisteslebens, Hamburg 1961. 115 Vgl. die umfangreiche Korrespondenz in Archiv IfZ, Nl. Hans-Joachim Netzer, ED 352/2.
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lektuellen.116 Etliche, etwa Raymond Aron, meinten, es hätte sie nicht gestört, dass Geld aus den USA floss, dass aber die Zeitschriften des CCF, die immer ihre Unabhängigkeit vor sich hergetragen hatten, nun als Geheimdienstfilialen dastanden, war schwer zu ertragen.117 Allerdings war dies nicht ursächlich für das Ende der Zeitschrift Der Monat.118 Der Wirtschaftsprüfer des CCF hatte deren wirtschaftliche Situation, trotz aller Subventionen, bereits zuvor als »katastrophal« eingestuft. Wenngleich die Auflage mit ca. 20.000 Exemplaren immer noch relativ hoch war, ging sie doch leicht zurück. Im Frühjahr 1967 fand sich der S. Fischer Verlag bereit, die Zeitschrift in sein Programm zu übernehmen, die Redaktion musste nach Frankfurt umziehen, der neue Herausgeber Klaus Harpprecht, der »schwäbische nonkonformistische Pastorensohn«,119 galt als großes publizistisches Talent. Die Hoffnungen auf einen Neustart erfüllten sich allerdings nicht, so dass der Verlag froh war, dass er die Zeitschrift an Gerd Bucerius, den Verleger der Zeit, abgeben konnte.120 Interesse hatte auch Rudolf Augstein vom Spiegel gezeigt, beide waren Mitglieder der Hamburger Gruppe des CCF. Anfang 1969 zog die Redaktion deshalb erneut um, diesmal vom Main an die Elbe, dann aber bald nach Wiesbaden. Die weiterhin hohen Verluste des Monat, dessen Auflage mittlerweile auf 8.000 Exemplare gesunken war, führten dann im März 1971 zur Einstellung der einst bedeutenden Zeitschrift, deren politische Linie sich überlebt bzw. die sich zu Tode gesiegt hatte.121 Neue intellektuelle Anstöße kamen seit den frühen 1960er Jahren vornehmlich von einer sich formierenden Neuen Linken, die auch in den maßgeblichen Verlagen, Rowohlt, Fischer und – an erster Stelle – Suhrkamp, für ein gutes Jahrzehnt nach vorn gestellt wurden.
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Keller, Der Monat, S. 248-250. Vgl. Dahrendorf, Versuchungen, S. 192 f. Vgl. dazu detailliert Hochgeschwender, Freiheit, S. 548 ff. Max von Brück an Joseph E. Drexel, 8.6.1965, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 33. Vgl. zur letalen Krise von CCF und Monat ausführlich Möller, Buch, S. 495 ff.; Berghahn, America, S. 250 ff. 121 François Bondy, Überlegungen eines Betroffenen. Was wird aus dem Kongreß für die Freiheit der Kultur und seinen Zeitschriften?, in: Die Welt, 24.5.1967.Von 1978 bis 1987 erschien die Zeitschrift letztmals als »kosmopolitisches Forum für Themen aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft« unter der Chefredaktion von Michael Naumann; vgl. Haacke/Pötter, Zeitschrift, S. 516 ff.
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3. Linkswende: Intellektuelle Opposition gegen die Bonner Politik Um 1960 war in der westlichen Welt erstmals von einer Neuen Linken die Rede, in der Bundesrepublik war auch der assoziationsträchtige Begriff der »heimatlosen Linken« gebräuchlich. Die zeithistorische Forschung hat den Gang der Dinge von hier aus zur Protestbewegung und Revolte von 1968 bisher nur unzureichend erfasst und lebt nach wie vor von zwei unhistorischen und simplen Vorstellungen. Die erste besagt, dass in einer Art Inkubationszeit die liberalen und demokratischen Forderungen nach Reformen von intellektuellen Aktivisten in Richtung revolutionärer Konzepte radikalisiert worden seien. Bei dieser teleologischen Deutung handelt es sich aber lediglich um die moderne Form einer konservativen Argumentation – mindestens – seit der Französischen Revolution von 1789. Deren maßgeblicher Interpret Edmund Burke sah einen Automatismus, der von der Liberalisierung zum blutigen Terror Robespierres führte. Diese Behauptung bildet seither einen festen Bestandteil im Arsenal konservativer Ideologie, verbunden mit einem »realistischen« Menschenbild, d. h. pessimistischer Anthropologie. Auf die heutige Zeitgeschichte gemünzt: ein erstaunlicher Grad an mangelnder Reflektion. Die zweite Vorstellung reduziert die Neue Linke auf eine einzige, die sogenannte antiautoritäre Strömung und verengt damit das viel breitere Flussbett oppositioneller Strömungen. Diese Konstruktion avancierte seit den 1980er Jahren zum medial dominanten Narrativ, unterlegt mit den immer gleichen Bildern von spektakulären Demonstrationen im Laufschritt und martialisch anmutenden Straßenkämpfen. Insofern lohnt ein genauer Blick auf das Phänomen der Neuen bzw. heimatlosen Linken.
3.1 Die Protestkonjunkturen 1958-1965 Dabei erscheint es angemessen, zum einen die globale politische Situation zu berücksichtigen, die sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre grundlegend veränderte.1 Durch den XX. Parteitag der KPdSU, die Aufstände in Ungarn und Polen sowie die Repression gegen Intellektuelle, die in der DDR bis dahin einige Nischen für ihre Hoffnungen auf einen humanistischen Sozialismus hatten erhalten können, war die Attraktivität kommunistischer Bündnispolitik auf einen vorläufigen Tiefpunkt gesunken. Die andere Seite der Begrenzung der Neuen Linken, die Orientierung an der Sozialdemokratie, erodierte in den folgenden Jahren mit deren Hinwendung zum Konzept der »Volkspartei«, wobei dieser Entfremdungsprozess kein gänzlich neues Phänomen war, sondern sich durch das gesamte 20. Jahrhundert zog, jetzt aber, um 1960, eine neue Qualität gewann. Während der Protestkon1 S. Kapitel II.4.3.
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junktur, die die »langen 60er Jahre« nicht unwesentlich prägte,2 steigerte sich die Enttäuschung linker Intellektueller über das Verhalten der SPD, die viele von ihnen allenfalls noch als geringeres Übel gegen die Adenauer-Union unterstützten. Mit der Erweiterung des Raums zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie suchten Intellektuelle wieder verstärkt nach einem dritten Weg und eigener Organisierung. Dabei sollte der Begriff der Neuen Linken weit gefasst werden. Dazu gehörten nicht nur Strömungen eines westlichen humanistischen Marxismus mit libertären Anklängen, sondern auch das eschatologische Gedankengut christlicher Sozialisten, vor allem aus dem Umfeld des sogenannten Linksprotestantismus. Ein repräsentatives Beispiel für apokalypsebewegtes Denken aus diesem Umkreis im Kampf gegen die Atomrüstung war Helmut Gollwitzer.3 Nach dem Abwurf von »ideologischem Ballast« (Carlo Schmid) im Godesberger Programm inszenierte sich die SPD konsequent als Volkspartei,4 die zugleich – symbolisiert durch eine programmatische Rede von Herbert Wehner im Bundestag am 30. Juni 1960 – ihren Frieden mit der Westintegration machte. Die Präsentation des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, zur Bundestagswahl 1961 als Kanzlerkandidat folgte dem amerikanischen Vorbild. Die SPD hatte die Präsidentschaftskampagne der Demokraten in den USA ein Jahr zuvor genau beobachtet und für die eigene Strategie übernommen, bis hin zur Fahrt des Kanzlerkandidaten im offenen, crèmefarbenen Cabriolet, bejubelt von Menschenmassen an den Straßen. Auf der Regierungsseite hingegen waren nach drei Legislaturperioden Abnutzungserscheinungen unübersehbar. Das ungeschickte Verhalten Adenauers beim Bau der Berliner Mauer, als er nicht sofort in die »Frontstadt« reisen mochte, auch seine Anspielungen auf den unehelichen Remigranten Frahm/Brandt in norwegischer Uniform zeugten von geringer Souveränität. Nach den deutlichen Verlusten der Regierungsparteien bei der Bundestagswahl 1961 bei gleichzeitigem Zuwachs der SPD festigte sich der Eindruck eines Duells zwischen dem greisen Kanzler aus Rhöndorf und einem jugendlich wirkenden »deutschen Kennedy«.5 Angesichts der Animositäten zwischen Adenauer und dem neuen amerikanischen Präsidenten wirkte diese mediale Stilisierung umso überzeugender. Auch die Verbreitung des Fernsehens führte zu einem raschen Wandel der politischen Kultur, der erhöhten Bedeutung telegener Präsentation.6 2 Vgl. Axel Schildt, Von der Kampagne »Kampf dem Atomtod« zur »Spiegel-Affäre« – Protestbewegungen in der ausgehenden Ära Adenauer, in: Hochgeschwender, Epoche, S. 125140. 3 Helmut Gollwitzer, Die Christen und die Atomwaffen, München 1957. 4 Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und gesellschaftspolitische Öffnung der SPD 1960-1966, Bonn 1990. 5 Daniela Münkel, Willy Brandt und die »Vierte Gewalt«. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 216 ff. 6 Vgl. Stefan Hönemann/Markus Moors, Wer die Wahl hat …Bundestagswahlkämpfe seit 1957. Muster der politischen Auseinandersetzung, Marburg 1994, S. 54 ff.; Christina HoltzBacha, Wahlwerbung als politische Kultur. Parteienspots im Fernsehen 1957-1998, Wies-
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Die Absicht, als »Volkspartei« zu gelten, die in allen Schichten der Bevölkerung um Stimmen warb, wurde in den Reden führender SPD-Vertreter immer wieder betont. Herbert Wehner reklamierte, man sei die »Partei des Volkes schlechthin«, Willy Brandt versprach, gesellschaftliche Verhältnisse anzustreben, »in der alle aktiven Kräfte harmonisch verbunden werden und zu aller Nutzen zusammenwirken«, sowie die Ausgestaltung des Staates als »wahre Heimstätte«. Slogans wie »Wir sind alle eine Familie« fanden Verbreitung, und öffentliche Foren zur sozialdemokratischen Kommunalpolitik wurden unter der Überschrift »Gute Stube Stadt« veranstaltet.7 Die Plakate zur Bundestagswahl (1965 – SPD: »Sicherheit JA«, CDU: »Unsere Sicherheit«) unterschieden sich zum Teil kaum, so dass 1966 veröffentlichte Verse von Ernst Jandl vielen kritischen Beobachtern die Situation politisch treffend auf den Begriff zu bringen schienen: »manche meinen/lechts und rinks/kann man nicht/velwechsern/werch ein Illtum!« Die Wendung der SPD zur ominösen »Mitte« hatte eine Kehrseite: die Exklusion von linken Positionen und damit die Verbreiterung des Raums für eine Neue Linke. Bevor dieser Prozess skizziert werden soll, ist zu betonen, dass die Neue Linke selbst eine heterogene Gruppe von unterschiedlichen Positionen und Milieus darstellte. Viel stärker als antiautoritäre Impulse wirkte die Entdeckung eines »westlichen«, »humanistischen« Marxismus. Angeknüpft wurde dabei etwa an die Traditionslinie der Beschäftigung mit den »Frühschriften« des jungen Karl Marx in den frühen 1930er Jahren, die von dem Remigranten und Inhaber eines Lehrstuhls für Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg, Siegfried Landshut, personifiziert wurde.8 Immerhin war die Differenz der humanistischen »Frühschriften« zum stalinistischen Dialektischen Materialismus in gebildeten Kreisen geläufig.9 Die Orientierung an Marx’ Frühschriften bildete einen der Indikatoren für die Zugehörigkeit zu jeweiligen weitergehenden Positionen, die um die Frage nach dem »revolutionären Subjekt« kreisten, die Frage, ob man nicht in einer neuen Epoche lebe, in der die Klassenkämpfe des Proletariats durch die Manipulation der Konsumenten abgelöst worden sei, die wiederum eine hermetische Absicherung von Herrschaft zur Folge gehabt habe, die nur noch durch Gruppen zu durchbrechen sei, die nicht bzw. noch nicht in das System integriert werden konnten, baden 2000; Frank Bösch, Werbefirmen, Meinungsforscher, Professoren. Die Professionalisierung der Politikberatung im Wahlkampf (1949-1972), in: Fisch/Rudloff, Experten, S. 309-328; Jürgen Wilke/Jutta Spiller, Wahlkampfberichterstattung im deutschen Fernsehen: Anfänge und Herausbildung von Sendeformaten (1953-1983), in: Markus Behmer/ Bettina Hasselbring (Hrsg.), Radiotage, Fernsehjahre. Studien zur Rundfunkgeschichte nach 1945, Münster 2006, S. 103-124. 7 Vgl. Münkel, Willy Brandt, S. 241 ff. 8 Vgl. Rainer Nicolaysen, Zur Kontinuität politischen Denkens. Siegfried Landshuts Beitrag zur Etablierung westdeutscher Politikwissenschaft als Einlösung seines Programms aus Weimarer Zeit, in: Gallus/Schildt, Rückblickend, S. 275-293. 9 Vgl. etwa den gehaltvollen Artikel des Theologen Helmut Thielicke, Das Menschenbild des Marxismus, in: Universitas, Jg. 4, 1949, H. 3, 257-266; H. 4, S. 385-398 (der zweite Teil unter dem Titel »Marxistische Anthropologie II«).
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Studierende, Künstler, Literaten und andere Freischaffende, zudem die Völker außerhalb der westlichen und östlichen Industriegesellschaften in der sogenannten »Dritten Welt«. Angesichts des weltweiten Dekolonialisierungsprozesses der 1960er Jahre schien vielen Intellektuellen diese Sicht der Dinge durchaus plausibel, überhöhte sie doch die eigene Rolle. Die theoretischen Grenzziehungen zum Sowjet-Marxismus auf der einen und zur reformistischen Sozialdemokratie auf der anderen Seite sind freilich nur idealtypisch zu verstehen. Die jeweiligen Positionen von Repräsentanten der Neuen Linken konnten entweder der einen oder anderen Seite, dem Kommunismus oder der Sozialdemokratie näher stehen. Auch ist die West-Arbeit der SED zu berücksichtigen, der Austausch auf literarischem Sektor zwischen Schriftstellern beider deutscher Staaten wiederum enthielt eine ganze Reihe eigensinniger Aspekte. Die Aufstiegsgeschichte der intellektuellen Neuen Linken begann mit der sogenannten 58er-Bewegung gegen den »Atomtod«.10 Die internationale Kampagne war maßgeblich von dem Nobelpreisträger Albert Schweitzer initiiert worden, der ein hohes Renommee genoss. In keinem Land der westlichen Hemisphäre gewann die Massenbewegung ähnliche Ausmaße wie in der Bundesrepublik.11 Im Rahmen der Auseinandersetzungen über die Stationierung von US-Atomraketen und Pläne der Regierung, die Bundeswehr atomar auszustatten, suchten linksunabhängige Intellektuelle nach eigenen Positionen, jenseits von Kommunismus und amerikanischer NATO-Politik, aber damit auch jenseits der Sozialdemokratischen Partei. Die berühmte Erklärung der 18 Göttinger Physiker und Naturwissenschaftler vom März 1957, verfasst von Carl Friedrich von Weizsäcker und unterzeichnet von Max Born, Heinz Maier-Leibniz, Werner Heisenberg, Otto Hahn und anderen prominenten Experten, wies darauf hin, dass »taktische Atomwaffen (…) die zerstörende Wirkung normaler Atombomben« hätten, wie sie über Hiroshima abgeworfen wurden; zugleich sprachen sich die Wissenschaftler dafür aus, die »friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern«.12 Die Erklärung reagierte auf die Verharmlosung der Pläne zur Atombewaffnung durch den Bundeskanzler. Adenauer hatte diese auf einer Pressekonferenz als normale Modernisierung der Artillerie bezeichnet. Auf die Göttinger Kritik antwortete er: »Zur Beurteilung dieser Erklärung muß man Kenntnisse haben, die diese Herren nicht besitzen. Denn sie sind nicht zu mir gekommen.«13 Der nie um eine originelle For10 Vgl. Axel Schildt, »Atomzeitalter« – Gründe und Hintergründe der Proteste gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr Ende der fünfziger Jahre, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte u. a. (Hrsg.), »Kampf dem Atomtod!« Die Protestbewegung 1957/58 in zeithistorischer und gegenwärtiger Perspektive, Hamburg 2009, S. 39-56. 11 Vgl. ebd. 12 Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler, dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 139 f., Zitate: S. 139, 140. 13 Zit. ebd., S. 140; tatsächlich hatte es Kontakte zwischen den Bonner Ministerien und den Göttinger 18 schon Monate zuvor gegeben; Johanna Klatt/Robert Lorenz (Hrsg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 199-227; vgl.
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mulierung verlegene Kurt Hiller sandte ein Telegramm an Adenauer, in dem er der »arrogante(n) Null« seine »Verachtung« aussprach.14 Das eindeutig negative Presseecho ließ die Regierung rasch auf eine andere Taktik umschwenken. Die Göttinger Vertreter wurden vom Kanzler zum Gespräch eingeladen, allerdings konnte man sich nicht auf jenen inhaltlichen Konsens einigen, der vom Bundespresseamt bereits vorformuliert worden war.15 Andere Maßnahmen galten der Hervorhebung alternativer Stimmen, die sich gegen den großen Chor der Ablehnung richteten. Unter den Naturwissenschaftlern selbst fand sich allerdings kaum jemand für diese Rolle. Eine peinliche Ausnahme bildete der Physiker Pascual Jordan (1902-1980),16 der Assistent von Max Born gewesen war. Politisch schon in der Zeit der Weimarer Republik rechtskonservativ und völkisch eingestellt, nutzte er im »Dritten Reich« als Mitglied der NSDAP – seit Mai 1933 – alle sich bietenden Karrierechancen. Dabei ging es ihm im Gegensatz zu den älteren Ideologen einer »deutschen Physik« um Philipp Lenard und Johannes Stark darum, die Ergebnisse der modernen Physik nicht als jüdische Klügelei abzulehnen, sondern mit dem völkisch-rassistischen Weltbild des Nationalsozialismus auszusöhnen und die Relativitätstheorie als scharfe Waffe gegen den bolschewistischen Materialismus anzupreisen. 1953 erhielt Jordan eine ordentliche Professur an der Hamburger Universität. Er publizierte in Dutzenden von Zeitungen und Zeitschriften zu politischen und kulturellen Themen. In der Zeit, im evangelischen Sonntagsblatt, in sozialdemokratischen Blättern schrieb er mit konservativen Klischees angefüllte Artikel über abendländisches Denken – etwa zu »Elite«, »Europa« und »Vermassung«. Damit befand er sich im kulturkritischen Mainstream der 1950er Jahre. Jordans große Stunde kam mit den Bonner Plänen zur Atombewaffnung. Von einem seiner Auftritte in der Universität Hamburg berichtete eine Zeitung: »Die Wissenschaftler sollten sich lieber mit den positiven Möglichkeiten der Atom-Energieverwendung beschäftigen, statt mit den Gefahren, die sich aus dem Mißbrauch der Atomkräfte ergeben könnten, erklärte der Hamburger Physiker Prof. Pascual Jordan vor den Hamburger Studenten. Er sah der Zukunft optimistisch entgegen. Wenn die Menschheit sich im Atomzeitalter richtig einrichten könnte, würde sie auch die Möglichkeit haben, diese Epoche ihrer Geschichte zu überleben.«17 1957 wurde Jordan, nachdem sich der Hamburger Landesverband verweigert hatte, unter ungeklärten Umständen auf die Landesliste der niedersächsischen CDU ge-
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ausführlich Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011. Zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 140. Vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995, S. 232 f. Die folgenden Nachweise in Schildt, Einen Adorno hatten wir nicht. Hamburger Anzeiger, 18./19.2.1956.
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setzt. Im Wahlkampf erschien in einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren seine Broschüre »Wir müssen den Frieden retten!«, eine wüste Polemik gegen die Atomkritiker; sie wurde systematisch an Multiplikatoren verteilt. Jordans Ton erschließt sich auch aus einer Sammlung seiner Zitate von der NSZeit bis 1957, die Hedwig Born, Witwe von Max Born, »ohne Kommentar« an die linke Deutsche Volkszeitung sandte. Das erste Zitat stammte aus der kurzlebigen Zeitschrift Das Fenster: »Es muß sogar zusätzlich gesagt werden, daß dieses Manifest (der 18 Atomforscher) eine Äußerung von extrem unpolitischen Menschen ist, die auf Grund ihres Lebensweges fern von allem politischen Treiben, über grundlegende politische Fragen bestimmt weniger urteilsfähig sind als der durchschnittliche demokratische Staatsbürger. Die extreme Weltfremdheit, welche in der Gestaltung des Göttinger Manifestes federführend war – der Mangel an Übersicht über die Weltlage – ist der auffälligste Charakterzug dieses Manifestes.«18 Jordan sorgte für bundesweites Aufsehen, als er mit der gewagten These in seinen Vorträgen hervortrat, »die Menschheit könne in einem zukünftigen Atomkrieg ohne Schwierigkeiten fünf Jahre unter der Erde leben«.19 Der dahinterstehende Kerngedanke einer »Beständigkeit der Erbanlagen« findet sich auch in seinen nationalsozialistischen Schriften. Jordan wurde vom minoritären linken Spektrum der Öffentlichkeit auch deshalb heftig kritisiert, weil er seine »Maulwurfsidee« mit rechtsradikaler Geschichtspolitik verband. In einem Artikel des sozialdemokratischen Hamburger Echos wurde aus einer Rede Jordans beim Stahlhelm-Treffen, eines 1951 gegründeten rechtsextremen Vereins ehemaliger Wehrmacht- und SSSoldaten, zitiert: »Das deutsche Volk braucht in der gegenwärtigen Situation als heilsame Medizin etwas vom echten Frontsoldatengeist.«20 Eher fündig für den Zweck einer seriösen Legitimation wurde man unter konservativen Politikwissenschaftlern und Publizisten wie Michael Freund, die allerdings nur wenig mehr als den üblichen Kommunismusverdacht zu bemühen wussten.21 Dringend benötigte man Theologen, vor allem evangelische Kleriker, denn unter ihnen war die Opposition weit ausgeprägter als auf der katholischen Seite, für deren kritische Intellektuelle die Kampagne gegen den »Atomtod« allerdings ebenfalls einen wichtigen Startpunkt markierte. Auch hier spielte Walter Dirks mit einer Erklärung von 51 Katholiken eine wichtige Rolle.22 Adenauer war insofern sehr 18 Pascual Jordan, Atom-Angst – ein gefährlicher Ratgeber, in: Das Fenster, Mai 1957, zit. nach: Deutsche Volkszeitung, 24.8.1957. 19 Uwe Armin, Tumulte um Prof. Jordan, in: Hamburger Echo, 13.1.1960. 20 Peter Altenburg, Ein MdB mit Maulwurfsidee. Gedanken zu den Worten eines deutschen Bundestagsabgeordneten, in: Hamburger Echo, 11.1.1960. 21 Zu den holzschnittartigen Attacken Freunds in der Gegenwart 1958, die viel Kritik evozierten, vgl. Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 231. 22 Walter Dirks an Werner Friedmann/Süddeutsche Zeitung und Walter Dirks an Jürgen Tern/FAZ, jeweils 12.5.1958, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 116; in dieser Akte umfangreiche
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froh, dass der Startheologe Helmut Thielicke, auch er lehrte an der Hamburger Universität, seine persönliche Einladung als Gastredner zum Hamburger Parteitag der CDU vom 11. bis 15. Mai 1957 annahm. Thielicke wandte später in seiner Autobiographie einige argumentative Mühe auf, um zu rechtfertigen, dass er die Einladung annahm, denn ein direktes parteipolitisches Engagement bedeutete in den 1950er Jahren in der Regel den Ausschluss aus dem intellektuellen Feld. Angeblich hatte Thielicke in einer Unterredung mit Adenauer alle Bedingungen erfüllt bekommen, eine völlig freie Rede halten und selbst eine »bedingte Zustimmung zur Kundgabe der Physiker«23 vortragen zu können – in der Öffentlichkeit kam diese Kritik allerdings nicht an, seine theologische Suche nach der Entstehungsursache des Krieges in den »innersten Bezirken des gefallenen Menschen« und der Lehre von der göttlichen »Erhaltungsgnade« als Trost für die Menschheit stellte nicht nur keinen kritischen Stachel angesichts der geheimen Atomrüstungsstrategie der Adenauer-Regierung und ihres Verteidigungsministers Franz Josef Strauß dar, sondern wandte sich vor allem entschieden gegen die Führung der Evangelischen Kirchen (EKD), die sich davon klar abgrenzte. Thielicke hatte sich für die CDU als nützliche Gewährsperson funktionalisieren lassen, wollte das auch, musste es jedoch verschleiern.24 Viele linksunabhängige Intellektuelle pflegten ohnehin ihr Feindbild einer klerikalen – katholischen – Bonner Herrschaft. Zwischen ihnen und der Kanzler-Union gab es keinen Gesprächsfaden, hier herrschte die Polemik vor, etwa in einem vierzeiligen Epigramm mit dem Titel »Neues vom Tage«, mit dem Erich Kästner seine Rede auf einer Versammlung des Komitees gegen Atomrüstung im Münchener Zirkus Krone beendete: »Da hilft kein Zorn, da hilft kein Spott! Da hilft kein Fluchen und kein Beten! Die Nachricht stimmt: Der Liebe Gott ist aus der Kirche ausgetreten!«25 Den Regierungsparteien gelang es 1957 noch, die Gefahren der atomaren Bewaffnung klein zu reden und die eigenen Rüstungspläne in den Hintergrund rücken zu lassen. Andere Themen wie die große Rentenreform und der Wohnungsbau lagen dem überwiegenden Teil der Bevölkerung näher als Ängste vor dem atomaren Inferno. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Wohlstandsentwicklung im Wahlkampf führte das zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zur absoluten Mehrheit von CDU und CSU im Bundestag. Korrespondenz zur Kampagne »Kampf dem Atomtod« u. a. mit Günther Anders, Hildegard Brücher, Robert Jungk, Erich Kästner, Wolfgang Koeppen, Theo Pirker, Hans Werner Richter, Rolf Schroers und Gerhard Szczesny; vgl. für längere Linien Daniel Gerster, Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957-1983, Frankfurt a. M. 2012. 23 Thielicke, Zu Gast, S. 439 f. 24 Vgl. mit Nachweisen Schildt, Einen Adorno hatten wir nicht. 25 Zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 149.
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Aber damit war das Atom-Thema nicht vom Tisch. Gerade die politische und wirtschaftliche Stabilität, die zum Sieg Adenauers beigetragen hatte, sorgte nun für eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit, weil die Pläne zur Atomrüstung Ängste hervorriefen, dass die guten Zeiten mit einer Katastrophe enden könnten. Die Kampagne unter dem Titel »Kampf dem Atomtod« beherrschte von Mitte März bis Anfang Juni 1958 die politischen Diskussionen. Sie wurde von einem großen Teil der Presse, besonders energisch von den Blättern des Springer-Konzerns, mit Sympathie begleitet. Ausweislich demoskopischer Erhebungen unterstützte auch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Ziele der Protestbewegung. Voraussetzung dafür war die Konstruktion einer zentralen Gegenüberstellung, die nicht nur religiösen Mustern entsprach: auf der dunklen Seite die verurteilenswerte kriegerische und auf der hellen die friedliche Nutzung atomarer Energie. Der jesuitische Moraltheologe Klemens Brockmöller meinte damit auch, dass das Paradigma des europäisch-katholischen Abendlandes obsolet geworden, die Kirche nun global auszurichten sei.26 Eine nähere Betrachtung der Äußerungen des evangelischen Funktionsträgers der EKD, Martin Niemöller, der vor allem als nationalneutralistischer Gegner der Westintegration gilt, zeigt durchaus parallele Gedanken. Einen Vortrag zur Einweihung eines Gemeindehauses 1956 leitete er folgendermaßen ein: »Die Zeit des ›weißen Mannes‹ geht mit Riesenschritten ihrem Ende entgegen; wir reden nicht davon, wir verschließen noch, absichtlich oder unbewußt, unsere Augen vor dieser Tatsache; aber zu leugnen ist sie nicht mehr; die unbestrittene Vorherrschaft der sogenannten ›christlichen‹ – und das heißt der weißen – Völker wird mit dem Ende des 20. Jahrhunderts vorüber sein, nachdem sie rund fünfhundert Jahre den Gang des Weltgeschehens bestimmt hatte.«27 Der Ort war gut gewählt, als für die evangelische Seite der Atomphysiker Max Born das neue Paradigma des »Atomzeitalters« in der Evangelischen Akademie Loccum vorstellte: »Dies Neue schließt zugleich eine fürchterliche Drohung und eine strahlende Hoffnung in sich ein: die Drohung der Selbstvernichtung der Menschheit, die Hoffnung auf ein ›Paradies auf Erden‹.«28 Im gleichen Jahr ließ sich Karl Jaspers mit einem Vortrag im Rundfunk vernehmen, in dem er die Grenzen der Kritik der 26 Klemens Brockmöller SJ, Christentum am Morgen des Atomzeitalters, Frankfurt a. M. 1954; vgl. etwa die Diskussion über seine Thesen in der Düsseldorfer Rheinischen Post, an der sich Hans Egon Holthusen, Reinhold Lindemann, Curt Hohoff und Walter Dirks beteiligten; Paul Hübner/Rheinische Post an Walter Dirks, 23.4.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 94 A. 27 Was haben die »Jungen Kirchen« der alten Christenheit zu sagen. Vortrag anlässlich der Einweihung des Gemeindehauses Bad Soden, 14.10.1956, in: Martin Niemöller, Reden 1955-1957, Darmstadt 1957, S. 130-136. 28 Max Born, Entwicklung und Wesen des Atomzeitalters, in: Studienleitung der Evangelischen Akademie Loccum (Hrsg.), Loccumer Anstöße. 50 Jahre Forum für gesellschaftspolitischen Diskurs (Loccumer Protokolle 77/96), Loccum 1996; ders., Entwicklung und Wesen des Atomzeitalters, in: Merkur, Jg. 9, 1956, S. 724-737, Zitat S. 725; um diesen Ar-
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Naturwissenschaftler aufzeigte. Das »Verhalten der Forscher bezeugt Ratlosigkeit«, denn mit allgemeinen pazifistischen Verlautbarungen werde das hinter der atomaren Rüstung stehende Denken, dem Gegner immer überlegen zu sein, nur verdrängt. Die Lage sei zwar hoffnungslos, denn die Alternative zur Atomrüstung könnte auch die Durchsetzung eines totalitären Regimes begünstigen, aber man dürfe zumindest nicht die Augen einfach verschließen: »Schließlich möchte man von der Atomgefahr am liebsten nichts wissen. Man wehrt ab: unter der Drohung der totalen Katastrophe läßt sich keine Politik und keine Planung machen. Wir wollen leben, nicht sterben. Tritt aber jenes Unheil ein, so ist alles aus. (…) Aber welch gewollt blinde Lebensauffassung und Politik! Das Wegschieben des Möglichen geht gegen die Würde der Vernunft.«29 Der Text von Jaspers, der letztlich nur noch auf die sanfte Gewalt der menschlichen Vernunft setzen konnte,30 lässt die Bruchstelle mit der Bonner Regierungspolitik erkennen, die ihn im folgenden Jahrzehnt und in seinen letzten Lebensjahren zu einem ihrer prominentesten Kritiker avancieren ließ. Jaspers’ Stellungnahme komplettierte den Chor der Kritiker auch deshalb, weil er im Bildungsbürgertum bis Mitte der 1950er Jahre als wichtigster Moralphilosoph galt – zusammen mit dem 1955 verstorbenen Albert Einstein und mit Albert Schweitzer. Zu seinem 70. Geburtstag hatte ihm Adenauer ein Telegramm mit einem Text geschickt, der eben dies beglaubigte. »An der Feier Ihres 70. Geburtstages nehme ich mit dem gesamten deutschen Volke herzlichen Anteil. Ich wünsche Ihnen noch viele Jahre fruchtbarer Tätigkeit.«31 Gerade die Stellungnahmen von humanistischen, aber keineswegs linken intellektuellen Autoritäten öffnete auch der Neuen Linken neue Freiräume. Das dualistische Kernelement der Göttinger Erklärung verweist auch auf eine längere Vorgeschichte von Erfahrungen und Stellungnahmen in den Medien.32 Neun Jahre nach Hiroshima und Nagasaki starben 23 japanische Fischer, auf die ein radioaktiver Ascheregen niederging, obwohl sie sich außerhalb der Sicherheitszone bei den Testversuchen für die neue Wasserstoffbombe auf dem Bikini-Atoll
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tikel hatte sich der Merkur besonders bemüht; Hans Paeschke an Max Born, 7.6.1955, in: DLA, D: Merkur. Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Ein Radiovortrag, München 1957, S. 15 f.; vgl. ders., Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (1958), in: ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 19451965, München 1965, S. 173-185. Vgl. die Interpretation von Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Das 20. Jahrhundert, Bd. 4, Teilbd. 2: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, Stuttgart 2012, S. 36-38. Telegramm von Bundeskanzler Konrad Adenauer an Karl Jaspers, 24.2.1953, in: DLA, Verlagsarchiv Piper. Vgl. Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 91 ff.; vgl. Elisabeth Kraus, Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und die Verantwortung des Wissenschaftlers, Würzburg 2001, S. 187 ff.
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befanden. Auch die Nachrichten über radioaktiv verseuchte Soldaten, die in der Wüste von Nevada einen Atombombentest beobachteten, gingen um die Welt. Immer wieder wurde über negative Auswirkungen auf das Klima durch atomare Wolken berichtet; radioaktiv kontaminierte Fischschwärme regten die Phantasie an. Gegen das weltweite negative Image entwickelten die USA Mitte der 1950er Jahre, zum Teil in der Form von UN-Initiativen, eine positive Propaganda unter dem Motto »Atome für den Frieden«.33 Die friedliche Nutzung atomarer Energie sollte einen Garten Eden, ein Paradies des Konsums, ermöglichen, bessere Ernten – zum Beispiel größere Erdbeeren oder Erdnüsse – und vor allem die endgültige Lösung des Energieproblems verhießen eine schöne Zukunft. Die plakative Gegenüberstellung von friedlichem Paradies und kriegerischer Apokalypse gab der Protestbewegung gegen den »Atomtod« ihre besondere Schwungkraft. Das Problem der Proliferation wurde dabei ebenso wenig öffentlich erwähnt wie die Gefahren, die es auch bei der friedlichen Nutzung gab. Entscheidend war, dass das Atomzeitalter, von dem seit der Mitte der 1950er Jahre zunehmend die Rede war, als Menschheitsfrage, als Gattungsfrage über das Gezänk der politischen Parteien gestellt wurde. Damit erhielten die Intellektuellen eine besondere Funktion zugesprochen. Hans Henny Jahnn hatte in seinen »Thesen gegen Atomrüstung« (1957) betont: »Die Aufgabe des Schriftstellers ist es noch immer, Barmherzigkeit, Mitleid und Menschlichkeit zu vertreten und nicht einen politischen Sadismus zu unterstützen.«34 Auf einer Bonner Versammlung von Schriftstellern und Publizisten direkt vor der Bundestagswahl jenes Jahres hieß es in der verabschiedeten Resolution: »Die atomare Aufrüstung ist eine Gefahr für die ganze Menschheit. Wir klagen die Atommächte in Ost und West an, durch ihre Wettrüstung mit atomaren Waffen, durch ihre fortgesetzten Versuchsexplosionen, das Leben aller Völker aufs Spiel zu setzen.«35 Unter den Unterzeichnern befanden sich mit Karlheinz Deschner, Axel Eggebrecht, Hans Henny Jahnn, Erwin Piscator, Paul Schallück, Max Stefl, Erich Franzen und Wolfgang Weyrauch ausschließlich linksliberale und linksunabhängige Intellektuelle außerhalb oder am Rande der SPD, mit Ausnahme von Adolf Grimme, der der SPD angehörte. Die kosmopolitische Ausrichtung des Protestes drückte Robert Jungk, der als Prognostiker ein großes Renommee besaß, sehr prinzipiell aus: »Wir behaupten, daß wir angesichts der Gefahr des atomaren Selbstmordes unserer Art die Treue zur Menschheit über die Treue zur Nation oder einer bestimmten ideologischen Gruppierung stellen müssen.«36 33 34 35 36
Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 148 (ff.). Zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 143. Zit. ebd., S. 144. Robert Jungk, Die Treue zur Menschheit. Sieben Thesen, dok. in ebd., S. 154-155, Zitat S. 155; vgl. Caroline Thomas, »Der Aufstand gegen das Unerträgliche«, Robert Jungk zum
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Im Blick auf die Träger der Proteste sind zwei weitere Beobachtungen von Bedeutung. Zum einen äußerten sich bei diesem Thema auch prominente Schriftstellerinnen, darunter Ilse Aichinger, Gertrud von Le Fort, Luise Rinser und Ina Seidel, mit einem Manifest »Frauen gegen Atombewaffnung« (Herbst 1957). In dem Aufruf, der als Solidaritätserklärung mit der Göttinger Erklärung verstanden werden sollte, wurde auf die »Bedrohung des Lebens« abgehoben und die »Ablehnung des atomaren Krieges, der atomaren Rüstung und der politischen Drohung mit Atomaufrüstung und Atomkrieg« betont.37 Die zweite Beobachtung gilt der These Michel Foucaults von der Ablösung des Universal-Intellektuellen durch den Experten, den er mit den Protesten gegen die atomare Aufrüstung beginnen lässt.38 Tatsächlich aber spielten die Göttinger Wissenschaftler – von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa der bald darauf verstorbene Max Born und Carl Friedrich von Weizsäcker, allerdings keineswegs in kämpferischer Pose auftretend – in der Massenbewegung von 1958 keine Rolle mehr. Die Universal-Intellektuellen, Schriftsteller und auch einige Autorinnen, dominierten die Protestszene. Die erste und tonangebende programmatische Erklärung der Kampagne »Kampf dem Atomtod« vom 10. März 1958 offenbart eine Sichtweise, die als verstärkende Ergänzung, aber auch als dialektisches Element gesehen werden kann. Ohne auf die Atomfrage als Menschheitsfrage einzugehen, wurde hier die deutsche Sonderproblematik im Kalten Krieg betont: »Das deutsche Volk diesseits und jenseits der Zonengrenze ist im Falle eines Krieges zwischen Ost und West dem sicheren Atomtod ausgeliefert. Einen Schutz dagegen gibt es nicht. (…) Wir rufen das gesamte deutsche Volk ohne Unterschied des Standes, der Konfession oder der Partei auf, sich einer lebensbedrohenden Rüstungspolitik zu widersetzen und stattdessen eine Politik der friedlichen Entwicklung zu fördern. Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht.«39 Das leicht nationale und etwas altmodisch anmutende Pathos deutet auf den Einfluss der noch im Kaiserreich geborenen Intellektuellen-Jahrgänge hin. Unterzeichnet hatten den Text Heinrich Böll, Walter Dirks, Axel Eggebrecht, der Theologe Helmut Gollwitzer, Hans Henny Jahnn, Erich Kästner, Eugen Kogon, der Naturlyriker Wilhelm Lehmann, Paul Schallück und Alfred Weber. Noch markanter wirkt die nationale Grundierung des Protestes im Manifest »Gegen die atomare Bewaffnung« vom 10. April 1958, das nur wenige Zeilen umfasst: Widerstand gegen Atomrüstung, Krieg und Gewalt und für eine humane Zukunft, Bonn 1995. 37 Frauen gegen Atombewaffnung (1957), dok. in Wagenbach, Vaterland, Zitate S. 142, 143. 38 S. Einleitung. 39 Kampf dem Atomtod, zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 144.
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»Wir protestieren gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, weil sie jede weitere Verständigung zwischen Ost und West unmöglich zu machen droht, die Gefahr einer dritten Katastrophe für das deutsche Volk heraufbeschwört und die Wiedervereinigung verhindern kann. Die Anwendung atomarer Waffen ist Selbstmord.«40 Erstunterzeichner waren Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Karlheinz Deschner, Axel Eggebrecht, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Gertrud von Le Fort, Leonhard Frank, Hans Habe, Peter Härtling, Helmut Heißenbüttel, Wolfgang Hildesheimer, Hans Henny Jahnn, Walter Jens, Hermann Kasack, Erich Kästner, Hans Hellmut Kirst, Wolfgang Koeppen, Walter Kolbenhoff, Erich Kuby, Siegfried Lenz, Kurt Leonhard, Walter von Molo, Robert Neumann, Rudolf Pechel, Kurt Pritzkoleit, Hans Werner Richter, Luise Rinser, Peter Rühmkorf, Franz Schonauer, Ernst Schnabel, Wolfdietrich Schnurre, Alexander Spoerl, Egon Vietta, Martin Walser, Günther Weisenborn und Wolfgang Weyrauch. In den folgenden Wochen schlossen sich dem Aufruf Hunderte weitere Schriftsteller, Publizisten und Wissenschaftler an. Aber bereits der Kreis der Erstunterzeichner, der deshalb vollständig genannt werden sollte, bildete eine in mehrfacher Hinsicht höchst interessante Kombination. Zum einen handelte es sich um prominente Vertreter der Gruppe 47 mit ihrem Impresario Hans Werner Richter an der Spitze. Andersch, Bachmann, Rühmkorf, Eich, Enzensberger, Jens, Schnurre und Walser gehörten zu dieser »Fraktion«. Als zweite Gruppe lassen sich linksliberale und linksunabhängige Schriftsteller und Publizisten im Umfeld, aber auch dezidiert außerhalb der Gruppe 47 ausmachen, etwa Eggebrecht, Kasack, Lenz und Neumann. Zum dritten fällt auf, wie weit nach rechts die Gruppe der keinem »Lager« zuzurechnenden Publizisten mit Hans Habe und dem vor allem für den NWDR arbeitenden Egon Vietta reichte. Letzterer, ein Schüler Martin Heideggers, war Bewunderer von Carl Schmitt und Ernst Jünger, zudem ein erbitterter Gegner des amerikanischen Liberalismus. Ein markanter Unterschied zeigt sich auch im generationellen Vergleich zum Trägerkreis der Erklärung vom 10. März 1958, die ja auch sprachlich teilweise als Relikt des frühen 20. Jahrhunderts anmutete. Neben Schriftstellern wie Eggebrecht, Andersch, Kuby, von Molo oder Pechel standen jüngere Intellektuelle der sogenannten 45er-Generation, Bachmann, Deschner, Enzensberger, Härtling, Heißenbüttel, Jens, Rühmkorf und Walser. Für sie war das Engagement in der Kampagne ein zentrales Element ihrer politischen Sozialisation. Und wiederum – verschiedene Altersgruppen überwölbend – fällt die starke Beteiligung von Schriftstellerinnen auf. Da die Betonung des Nationalen, im Manifest noch verdichtet, von unterschiedlichen Positionen aus erfolgte, ergibt sich eine wichtige Frage, die sich allerdings angesichts der vielen Beteiligten und schwer zu überblickenden Entscheidungs40 Gegen die atomare Bewaffnung, 18.4.1958, dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 145.
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prozesse kaum beantworten lassen wird: Entsprach die nationale Grundierung der Überzeugung der jeweiligen Protagonisten, oder handelte es sich um eine taktische Hervorhebung, um die Akzeptanz in der Öffentlichkeit noch zu steigern, bzw. in welcher Gewichtung standen diese Elemente nebeneinander? Das breite Publikum wurde vermutlich vor allem davon beeindruckt, dass nahezu alle prominenten Schauspieler von Film und Theater das Manifest unterzeichneten, von Lale Andersen und Willy Birgel bis zu Dieter Borsche, Martin Held, Elisabeth Flickenschildt, Ruth Leuwerick und Inge Krahl. Im Frühjahr 1958 zeigte sich vor allem in den größten Städten, in Hamburg, München und Frankfurt, ein intellektueller Protestkern. In München dominierte Hans Werner Richter mit seiner Entourage das Geschehen, in Frankfurt hatte sich Jürgen Habermas mit seiner Rede auf dem Römerberg den Zorn Horkheimers zugezogen,41 in Hamburg richtete sich die intellektuelle Aufmerksamkeit auf Carl Friedrich von Weizsäcker. Nach Schweigemärschen und Warnstreiks in den Betrieben fand am 17. April die größte Demonstration der Kampagne statt. Es herrschte vollständige Arbeitsruhe, als 150.000 Menschen unter den Fahnen und Transparenten der SPD und der Gewerkschaften, zum Teil in geschlossenen Betriebsgruppen, auf den Rathausmarkt und die umliegenden Straßen strömten. Vereinzelt sah man auch die Regenbogenfarben der Friedensbewegung. Vom Balkon des Rathauses kündigte der Erste Bürgermeister Max Brauer der begeisterten Menge die Vorbereitung einer Volksbefragung an. Brauer war keineswegs ein Feind der Bundeswehr. Gemeinsam mit dem Verteidigungsminister Franz Josef Strauß hatte er die Führungsakademie der Bundeswehr in der Hansestadt eingeweiht. Seit den Jahren des Exils trug er den Spitznamen »Der Amerikaner«. Er stand kompromisslos für die friedliche Nutzung der Kernenergie. Und er setzte sich, was man angesichts seiner autoritären Amtsführung nicht unbedingt hätte vermuten können, für plebiszitäre Elemente innerhalb der repräsentativen Demokratie ein. Das Volk müsse über Lebensfragen auch zwischen den Wahlen seine Meinung äußern können. Es sei sinnlos, über angebliche Gefahren einer plebiszitären Demokratie akademisch zu diskutieren. »Ich frage Euch alle: Hat in einer Demokratie das Volk angesichts solcher ungeheuerlichen Entscheidungen das Recht, seine Meinung auszusprechen oder nicht?« Die Menge rief begeistert: »Ja!«42 Die Volksbefragung wurde für den 8. Juni 1958 anberaumt. Über drei Fragen sollte abgestimmt werden: die atomare Ausstattung der Bundeswehr, die Lagerung atomarer Waffen und die Errichtung von Abschussbasen für atomare Raketen auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Die folgenden Wochen waren von zahllosen Veranstaltungen geprägt, auf denen sozialdemokratische Spitzenfunktionäre das Wort ergriffen. Zwei Drittel der Studierenden der Universität erklärten ihre Ablehnung jeglicher Atomrüstung. Das Engagement der jungen Akademiker, die an vielen Universitäten Anfang 1958 Ausschüsse gegen Atomrüstung gebildet hatten, stellte einen wichtigen Resonanzbo41 S. Kapitel II.4.3. 42 Vgl. mit Nachweis der Quellen Axel Schildt, Max Brauer, Hamburg 2002, S. 116 f.
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den für die 58er-Bewegung dar. Ein kurzer Aufsatz von Ulrike Meinhof und Jürgen Seifert, die in Münster studierten, war eine der frühesten Wortmeldungen.43 Die Hamburger Demonstration hatte deutlich gemacht, dass die SPD und die eng mit ihnen verbundenen Gewerkschaften das Geschehen kontrollierten. Insofern kam es darauf an, welche Strategie die Sozialdemokratie verfolgte, um die Sympathien linksunabhängiger Intellektueller zu erhalten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein heute vergessenes Dokument. Der Bundestagsabgeordnete Helmut Schmidt, der bereits in der Debattenschlacht im Bundestag am 22. März das Wort ergriffen hatte, gab der klandestin aus der DDR finanzierten Zeitschrift Konkret ein Interview, in dem er erklärte, man dürfe in der aktuellen Situation angesichts des »Lebensinteresses« der Bevölkerung auch einen »politischen Generalstreik« nicht ausschließen.44 Forderungen nach einem Streik waren zu diesem Zeitpunkt äußerst populär, wenngleich führende Funktionäre wie Herbert Wehner und Fritz Erler davon abrieten.45 Mitte der 1960er Jahre ruderte auch Schmidt zurück und gestand bedauernd ein, er habe zur »Emotionalisierung der Debatte beigetragen«.46 Als das Bundesverfassungsgericht am 31. Mai 1958 per einstweiliger Verfügung die geplante Volksbefragung untersagte, gab es kein oppositionelles Aufbegehren. Scharfe Kritik formulierte von sozialdemokratischer Seite allein Max Brauer. Der Urteilsspruch dokumentiere »ein beunruhigendes Mißverhältnis zwischen dem repräsentativen demokratischen Formalismus und den Lebensbedürfnissen einer demokratischen Gemeinschaft«.47 Die SPD zog sich in den folgenden Jahren von den Koordinationstreffen der entstehenden Friedensbewegung zurück, die die Kampagne von 1958 verstetigen sollte. Für die aus England importierte pazifistische Ostermarsch-Bewegung, die Schüler und Studierende begeisterte, gab es in der SPDFührung kein Verständnis, von Regierungsseite wurde sie als naive Hilfstruppe der Kommunisten stigmatisiert; am 10. Januar 1961 beschloss der Parteivorstand den Boykott des noch weitgehend pazifistisch geprägten Ostermarsches.48 Polizeilich wurden Routen vorgeschrieben, die häufig durch menschenleere Gegenden führten. Man gewinnt den Eindruck, dass die Kampagne »Kampf dem Atomtod« als nützlicher Hintergrund für die Vorbereitung des Godesberger Parteitags 1959 an43 Ulrike Meinhof/Jürgen Seifert, Unruhe in der Studentenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 7, 1958, S. 524-526; vgl. Michael Frey, Vom Dritten Weg zur Dritten Welt: Der Kalte Krieg und die Entstehung der Neuen Linken in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland, 1956-1965, Phil. Diss. Universität Jena 2017, S. 198 ff., 220 f. 44 Konkret 4/1958 (Sonderbeilage), in: Archiv der FZH; vgl. Schildt, »Atomzeitalter«, S. 55. 45 Karl A. Otto, Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-70, Frankfurt a. M./New York 1977, S. 61. 46 Henning Albrecht, »Pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken« – Helmut Schmidt und die Philosophie, Bremen 2008, S. 46. 47 Zit. nach Schildt, Max Brauer, S. 117. 48 Otto, Ostermarsch, S. 130.
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gesehen wurde. Eine maßgebliche Rolle spielte der Parteitheoretiker Leo Brandt, der sich bemühte, mit der Verbindung von Bildungsexpansion und Atomkraft eine Differenz zur Konzeption der »Industriegesellschaft« der »technokratischen Konservativen« herauszuarbeiten.49 Im Godesberger Programm der SPD, mit dem sich die Partei 1959 das Image einer modernen Volkspartei gab, wurde die Vision einer friedlichen atomaren Zukunft sogar in die Präambel aufgenommen. Angesichts der Gefahren auch der friedlichen Nutzung der Kernenergie sei »die letzte und gefährlichste aller menschlichen Torheiten (die) unkontrollierte Verwendung der Ergebnisse der Kernenergie- und Strahlungsforschung auf medizinischem, industriellem und waffentechnischem Gebiet«. Diese Auffassung, die über die schlichte Trennung von militärisch und friedlich hinausging, wurde allerdings erst Anfang der 1960er Jahre diskutiert.50 Während sich die Präambel des in Godesberg verabschiedeten Programms ganz auf den Gegensatz von friedlicher und kriegerischer Verwendung atomarer Energie stützte, wie sie für die 58er-Bewegung konstitutiv gewesen war, fand der Marxismus nur noch in einer Art Schwundstufe als Teil der klassischen deutschen Philosophie Erwähnung. Die linken Kritiker des Programms, die sich vor allem im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) fanden, wurden wie auch deren Unterstützer in der SPD aus der Partei gedrängt. In einer Atmosphäre, in der alle Organisationsversuche links von der SPD unter dem Generalverdacht einer Steuerung durch die SED standen, achteten allerdings selbst die wenigen marxistischen »Traditionalisten« in kleinen linkssozialistischen Gruppierungen und im SDS auf strikte Abgrenzung von kommunistischen Kadern. Der von der SPD 1960/61 verstoßene akademische Nachwuchsverband hatte selbst kurz zuvor kommunistische Gruppierungen ausgeschlossen.51 Die erstmals zur Bundestagswahl 1961 antretende Deutsche Friedensunion (DFU), in der neben einigen pazifistischen und linkssozialistischen Persönlichkeiten verdeckt auch Kommunisten mitarbeiteten, blieb durch den – zutreffenden – Verdacht östlicher Unterstützung, der abgekürzte Parteiname wurde in der Öffentlichkeit mit »Die Freunde Ulbrichts« übersetzt, weitgehend erfolglos. Nur ein hochrangiger Sozialdemokrat, nämlich Max Brauer, hielt an seiner Kritik der Atomrüstung fest. Als er 1964 das Projekt der multilateralen Atomstreit-
49 Leo Brandt, Die zweite industrielle Revolution, München 1957; vgl. auch Karl Bechert, Der Wahnsinn des Atomkrieges, Düsseldorf 1956. 50 Bodo Manstein, Im Würgegriff des Fortschritts, Frankfurt a. M. 1961; das Zitat auf der Rückseite der broschierten Ausgabe. 51 Vgl. Siegward Lönnendonker (Hrsg.), Linksintellektueller Aufbruch zwischen »Kulturrevolution« und »kultureller Zerstörung«. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in der Nachkriegsgeschichte (1946-1969). Dokumentation eines Symposiums, Opladen 1998, S. 80 ff.; zur Trennung des SDS von der SPD Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994, S. 383 ff.
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macht (MLF) unter deutscher Beteiligung kritisierte, wurde er auf dem Karlsruher Parteitag aus dem Vorstand abgewählt.52 Spätestens seit 1960 und nicht erst beim Abschluss der Großen Koalition Ende 1966 konnte das Verhältnis zwischen linksunabhängigen Intellektuellen und der SPD als zerrüttet gelten. Die Sozialdemokratie wurde bestenfalls noch als kleineres Übel aus taktischen Gründen unterstützt, ihren Kredit, ihre Glaubwürdigkeit hatte sie verspielt. Damit weitete sich der Raum zwischen SPD und Kommunisten. Von »heimatlosen« Linken ließ sich nicht mehr uneingeschränkt sprechen, denn diese schufen sich gerade ihre eigenen lokalen Milieus. Viele schauten noch vor dem Verbot der Volksbefragung wenig optimistisch auf die Zukunft der Kampagne gegen den Atomtod. So hatte bereits Erich Kästners Rede in München am 18. August 1958 durchaus resignative Töne enthalten: »Mir und allen anderen der Humanität und Freiheit dienenden Schriftstellern hängt das Rechtbehalten zum Halse heraus! Nun warnen wir wieder, und wenn man diesmal nicht auf uns hört, war diesmal das letzte Mal. Dann hat das liebe Europa Ruh.«53 Drei Tage zuvor, noch unter dem Eindruck der großen Debattenschlacht im Bundestag, hatte sich Hans Werner Richter sehr radikal geäußert: »Anstelle der atomaren Aufrüstung treten andere Sensationen und Sensatiönchen. Das Volk wird sich mit den Raketen und Atomkanonen abfinden. Die Gewöhnung wird siegen.« Aktuell gehe zwar eine »Welle der Empörung durch das geistige und künstlerische Deutschland«, aber es sei so, als riefen die Intellektuellen »in einem schalltoten Raum«. Es werde gefragt, wo der Generalstreik bleibe, die »unmittelbare Tat, die wir vor 1933 versäumt haben (…). Wo bleibt der Marsch des Volkes nach Bonn.« Stattdessen warte man auf Direktiven »mit dem uns eigenen Untertanengeist von den Führern der Gewerkschaft, von den Parteivorsitzenden, von irgendwelchen Organisationszentralen«.54 Diese antiautoritäre und zugleich abstrakte Publikumsbeschimpfung klang zwar äußerst radikal, ignorierte aber nicht nur allgemein die Organisationsfrage in der Massenbewegung gegen Atomtod, sondern entließ zugleich die Sozialdemokratie aus ihrer Verantwortung. Eine ganz andere Stoßrichtung als die scheinradikale Apologie der SPD verfolgte Hans Magnus Enzensberger mit dem Vorschlag einer Strategie der Gegenöffentlichkeit. Hier zeigten sich in nuce wichtige Elemente einer Konzeption der Neuen Linken. Anfang April 1958 hatte die Münchener Kriminalpolizei eine Hausdurchsuchung bei Hans Werner Richter durchgeführt, der als verantwortlicher Sprecher für das Komitee gegen Atomrüstung fungierte. Begründet wurde das mit dem Verdacht 52 Vgl. Schildt, Max Brauer, S. 120. 53 Kästner, Neues, S. 148. 54 Hans Werner Richter, Schweigen bedeutet Mitschuld, Rede in München am 15.4.1958, dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 145-147, Zitate S. 146.
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einer polizeilich nicht genehmigten Geldsammlung für die Aktivitäten der antiatomaren Bewegung. In einem Brief an den Schriftsteller Paul Schallück schilderte Richter den Ablauf der Aktion: »Am 2. April stellte sich hier das Komitee gegen Atomrüstung der Presse vor.« Mitglieder waren Waldemar von Knoeringen (SPD), die Schauspieler Dieter Borsche, Hans Söhnker und Fritz Kortner, die liberale Hildegard Brücher, die Schriftsteller Hans Hellmut Kirst, Wolfgang Koeppen, Ingeborg Bachmann, Günter Eich und andere. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung wurde erwähnt, dass Richter zur Unterstützung der Arbeit des Komitees um Spenden auf ein Postscheckkonto unter seinem Namen gebeten hatte. Daraufhin habe ihn ein Oberregierungsrat angerufen und ihn darauf aufmerksam gemacht, dass Spendenaufrufe genehmigungspflichtig seien, doch handle es sich um eine »Formsache«. Noch am gleichen Tag habe er den Antrag beim Innenministerium eingereicht. »Wer beschreibt meine Überraschung, als nunmehr am Mittwochmorgen um acht Uhr (es hätte auch vier Uhr sein können), zwei Kriminalbeamte bei mir erschienen (vier saßen draußen im Auto, anscheinend um meine Flucht zu verhindern). Sie waren angewiesen, meine ›sämtlichen Habseligkeiten‹ zu durchsuchen, alles zu beschlagnahmen, was mit dem Komitee zu tun hatte. Als sie auch an meine Privatpost gingen, erhob ich Protest und wollte mit meinem Anwalt telefonieren. Darauf rissen sie mir das Telefon aus der Hand und machten mich darauf aufmerksam, daß ich, solange die Kriminalpolizei in meinem Hause sei, mit niemandem zu telefonieren hätte. (…) Am Donnerstag, den 1. Mai, sollte ich als Leiter des Komitees auf der Kundgebung der Gewerkschaft auf dem Königsplatz ein paar Worte sagen. Ich habe diese Rede benutzt, um meinen ganzen Zorn herauszuschreien. Es waren 80.000 Menschen da. Da die Angelegenheit wie ein Lauffeuer durch die Stadt ging, wimmelte es auch von Intellektuellen. Ich habe mich also vorläufig in meiner Art gerächt.«55 Auch Enzensberger äußerte sich unter dem Eindruck dieser Polizeiaktion. Ausgangspunkt bildete seine Beobachtung, dass die »Publizität der Aktionen gegen die Atomrüstung ihrer Bedeutung und ihrem Umfang keineswegs entspricht«. Die Atomwaffengegner müssten deshalb »für eigene Publizität sorgen«. Sie sollten nicht nur einen der zahlreichen Aufrufe und Manifeste unterzeichnen, die in der Presse bestenfalls mit drei Zeilen Erwähnung fänden, sondern einen kleinen Unkostenbeitrag aufbringen, der den »Kosten einer möglichst ganzseitigen Veröffentlichung in Form einer Zeitungsanzeige in den führenden deutschen Blättern« entspräche. Jeder Anzeigentext sei mit Hinweis zu versehen, dass keiner der Unterzeichneten in Zukunft einen Abgeordneten wählen würde, der sich nicht »vor der Wahl eindeutig und öffentlich gegen jede Form von Atomrüstung in Westdeutschland erklärt 55 Hans Werner Richter an Paul Schallück, o. D., in: Archiv der AdK, Nl. Hans Werner Richter, 3330-3331; gleichzeitig wurden auch die Geschäftsstelle des Komitees und eine Buchhandlung durchsucht.
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hätte«. Enzensberger betonte, dass die »Drohung mit dem Entzug von Wählerstimmen (…) eine Waffe« sei. Weitere Aktionsmöglichkeiten sah Enzensberger im »mass lobby«, der »Planung von Besuchen der Wähler bei ihren Bonner Abgeordneten«, deren Reaktionen wiederum öffentlich zu machen seien. Insgesamt gehe es um die »kaltblütige und phantasievolle Ausnutzung aller psychologischen Möglichkeiten«.56 Noch einen Schritt weiter ging Günther Anders. Der radikale Kritiker der Technik, für den die Atombombe nur die letzte Konsequenz eines totalitären Systems darstellte, in dem die Technik zum Subjekt geworden war,57 wollte die Angst umdrehen. Sein lebenslanges Engagement gegen die atomaren Gefahren schloss in den 1980er Jahren mit Interviews, in denen er für »Gegengewalt oder wenigstens (…) für profunde Einschüchterungsmaßnahmen« gegenüber den Atom-Propagandisten plädierte.58 Die Atomwaffen und Atomanlagen, von ihm »Monstra« genannt, seien in »physischer Notwehr anzugreifen und systematisch unverwendbar zu machen«. Den Betreibern, die »uns pausenlos terrorisieren, könnte es geschehen, daß auch sie einmal pausenlos eingeschüchtert werden und sich in acht nehmen müssen«.59 Die Position von Carl Friedrich von Weizsäcker repräsentierte wiederum den absoluten Gegenpol zur Planung aktueller Aktionen in einer selbst gestalteten Öffentlichkeit. Obwohl er selbst den Text der Göttinger 18 verfasst hatte, verweigerte er als Hamburger Ordinarius 1958 von Anfang an klare Aussagen zum Atomkonflikt, der sich zu dieser Zeit auf seinem Höhepunkt befand. Nicht einmal indirekt ging er auf die Polemiken seines Kollegen Jordan ein. Programmatisch publizierte er Ende 1957 eine Universitätsrede über Descartes und die neuzeitliche Naturwissenschaft. Als kluger Physiker – und wer wollte das schon beurteilen – durfte er ziemlich banale Aussagen zur Situation der Gegenwart formulieren, die als tiefe Wahrheiten aufgenommen wurden. Das wiederum erhöhte seine öffentliche Reputation im hansestädtischen Bürgertum. Im Frühjahr 1958 kehrte er gerade von einer Reise in die USA, nach Kanada und Großbritannien zurück. Er zeigte sich erschrocken über die hitzig aufgeladene politische Atmosphäre, mit der in Westdeutschland über Atomkriegsgefahren diskutiert wurde. Von den Positionen der Göttinger 18 entfernte er sich 1958 mit einer vielbeachteten Artikelfolge in der Wochenzeitung Die Zeit mit dem Titel »Mit der Bombe leben«, in der er die These entwickelte, eine übernationale Ordnung könne umso stabiler sein, je weniger Atommächte es
56 Hans Magnus Enzensberger, Neue Vorschläge für Atomwaffen-Gegner (Juli 1958), dok. in: Wagenbach, Vaterland, S. 149-152, Zitate S. 150, 151, 152. 57 Vgl. im vergleichenden Kontext Kurig, Bildung, S. 401 ff. 58 Christian Dries, »Zeitbomben mit unfestgelegtem Explosionstermin«. Günther Anders und der Kalte (Atom-)Krieg, in: Patrick Bernhard/Holger Nehring (Hrsg.), Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945, Essen 2014, S. 63-87, Zitat S. 64 f. 59 Ebd., S. 65.
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gebe.60 Bereits auf der Berliner Synode im April 1958 hatte Weizsäcker die Bruderschaften vor allem deshalb kritisiert, weil sie die Weltlage ignorierten, die eine einseitige Abrüstung des Westens verbiete. Er setzte – bei allen Risiken – auf das Leben mit dem atomaren Patt.61 Letztlich beließ es die 58er-Bewegung bei den klassischen Protestformen: Plakaten, Transparenten, Fahnen, Reden und Resolutionen. Vorschläge wie die von Enzensberger zur Herstellung einer Gegenöffentlichkeit zeigten allerdings erste westliche Einflüsse für eine Neue Linke. Nicht allein generationell bedingt, sondern prinzipiell war die Weigerung von Adorno und Horkheimer, politische Manifeste zu unterzeichnen. Das galt auch für Stellungnahmen gegen die atomaren Bonner Pläne.62 Die Kampagne »Kampf dem Atomtod« besaß mehrere Aspekte, die zur Herausbildung der Neuen Linken beitrugen. Zum einen fällt auf, dass konservative Intellektuelle nur eine verschwindende Minderheit vertraten und sich kaum öffentlich äußerten. In einem Brief von Hermann Kesten an Friedrich Torberg, der in Wien die Zeitschrift des CCF Forum redigierte und den äußersten rechten Flügel der Vereinigung vertrat, berichtete jener von seiner Kritik an den »unterschriftwütigen deutschen Schriftstellern«: »Ich protestierte insbesondere gegen das schlechte Deutsch des Aufrufs gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr in der KULTUR vom 1. April 1958 und gegen den sonderbaren Leichtsinn, mit dem deutsche Schriftsteller Aufrufe unterschreiben, die sie kaum geprüft haben. Ich glaube nicht, dass man mit schlechtem Deutsch irgendeine Sache retten kann …«63 Die Konzentration auf Stilkritik zeigte nur die argumentative Hilflosigkeit der konservativen Intellektuellen. Einzig Friedrich Sieburg, der allerdings auch vor allem auf dieser Ebene argumentierte, zeigte wie ein Seismograph zuverlässig an, was zu bekämpfen sei. Die Position von Günther Anders bezeichnete er schlicht als »Geschwätz«,64 Jaspers kritisierte er in einem Artikel 1959 wegen seines politischen Engagements in Sachen Atomkriegsgefahr, weil er damit seiner Rolle als Philosoph nicht gerecht werde.65 Während sich die linksunabhängigen Intellektuellen auf dem Weg zur diskursiven Hegemonie zumindest auf einem thematisch zentralen Feld befanden und ihr Selbstbewusstsein gestärkt worden war, hatte sich der Abstand zur Sozialdemokra60 Carl Friedrich von Weizsäcker, Mit der Bombe leben I-IV, in: Die Zeit, 15.5.1958, 22.5.1958, 29.5.1958, 5.6.1958; wegen der großen Nachfrage erschien die Artikelfolge auch als Broschüre zum Preis von einer DM. 61 Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 280 ff. 62 Müller-Doohm, Adorno, S. 627 ff. 63 Hermann Kesten an Friedrich Torberg, 28.5.1958, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 2418. 64 Friedrich Sieburg, Die neue Emigration, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.1959. 65 Sieburg, Zur Literatur, S. 80-83.
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tie immerhin so weit vergrößert, dass sie als eigenständige Kraft wahrgenommen wurden. Das zeigte sich an einer Episode im Jahr 1959, die als Projekt »Kofferträger« in die Zeitgeschichte eingegangen ist.66 Der antikoloniale Freiheitskampf in Algerien, der bis 1962 andauerte, hatte sich 1958 gefährlich zugespitzt. Große Teile der Kolonialtruppen hatten sich verselbständigt und brachten die IV. Republik an den Rand des Abgrunds. Während rechtsradikale Terrorgruppen in Frankreich im Namen der Sache der Algerien-Franzosen Hunderte von Menschen ermordeten, versprach de Gaulle, den Krieg ehrenvoll zu beenden. Er wurde dabei nicht nur von den bürgerlichen Parteien, sondern auch von der sozialistischen SFIO und der kommunistischen Partei unterstützt. Lediglich kleine linkssozialistische und linkskatholische Gruppen wandten sich kompromisslos gegen den Kolonialkrieg und unterstützten die Befreiungsbewegung FNL. Das in ihren Augen opportunistische Verhalten von Sozialdemokratie und Kommunisten bildete in Frankreich ein wichtiges Moment bei der Herausbildung einer Nouvelle Gauche.67 Sie wurden nicht nur von Rechtsextremen bedroht, sondern auch von staatlicher Seite, der Sicherheitspolizei, systematisch schikaniert; dies reichte vom Ausschluss aus der politischen Öffentlichkeit bis zur Verletzung von Menschenrechten durch Foltermethoden.68 Die Bundesrepublik spielte in diesem Kolonialkrieg eine wichtige Rolle, dienten doch 18.000 deutsche Söldner in der französischen Fremdenlegion. Insofern handelte es sich um mehr als die kulturelle Konstruktion einer »Dritten Welt« jenseits geographischer Orte. Die Kofferträger, die für Kurierdienste standen, etwa die Übergabe von Spendengeldern für die FNL, hatten nicht zuletzt das Ziel, möglichst viele Deutsche zur Desertion zu bewegen; angeblich sollen sie 7.000 Soldaten zur Flucht verholfen haben. In der Bundesrepublik zählten vor allem trotzkistische Grüppchen und Unterstützerkreise innerhalb des SDS zu den Unterstützern. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Hans-Jürgen Wischnewski, der Sympathien für dieses Engagement hegte, gab seit Herbst 1958 die Zeitschrift Freies Algerien heraus.69 Der SPD-Parteivorstand missbilligte den Eindruck, dabei handle es sich um »ein kommunistisches Tarnorgan«.70 Prinzipiell unterschied sich die Politik der SPD nicht grundlegend von der Position der Regierung, die das Thema kleinzureden und als Sache der Franzosen darzustellen versuchte, in die man sich nicht einmischen werde. Immerhin gelang es der kleinen Schar von Unterstützern der Freiheitsbewegung FNL, dass diese mit einer heimlich eingeschleusten Delegation am SPD-Parteitag 1958 teilnehmen durfte. Die westdeutschen linksunabhängigen Intellektuellen leisteten eigene Beiträge im Rahmen der Algerien-Solidarität. Dazu zählte eine Doku-Fiction über die 66 Claus Leggewie, Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deutschland, Berlin 1984; vgl. Kritidis, Opposition, S. 460 ff. 67 Winock, Jahrhundert, S. 679 ff. 68 Vgl. Frey, Vom Dritten Weg, S. 321 ff. 69 Vgl. ebd., S. 327 ff. 70 Kritidis, Opposition, S. 466.
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Nacht vom 29. auf den 30. Mai 1958, als de Gaulle, nachdem es in Algerien zu einem Putsch der Kolonialverwaltung gekommen war, mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wurde. Die knapp einstündige Produktion unter der Regie von Martin Walser, sie trug den Titel »In der Nacht der Giraffe«, wurde vom Bayerischen Rundfunk aus politischen Gründen abgelehnt, weil sich dadurch de Gaulle und sein Kultusminister André Malraux, der als Schriftsteller hohes Ansehen genoss, beleidigt fühlen könnten.71 Durch solche Auseinandersetzungen rückte die Algerien-Solidarität in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Anders als beim demgegenüber geringeren Interesse an Kuba, das vor allem für die New Left in den USA eine zentrale Rolle spielte, handelte es sich hier um einen Akt der Solidarität mit den Intellektuellen eines europäischen Nachbarlandes, das in der Politik der Regierung eine rahmensetzende Funktion besaß.72 Entscheidend war die Solidarisierung mit einem Aufruf französischer Intellektueller, die ein »Manifest über das Recht des Widerstands gegen den Krieg in Algerien« verfasst hatten, das von 121 Schriftstellern, Künstlern und Publizisten unterzeichnet und in Le Monde und anderen führenden Zeitungen des Landes am 6. September 1960 veröffentlicht wurde. In den folgenden Wochen schlossen sich mehr als 400 weitere Unterzeichner an. Eine deutsche Übersetzung erschien in der Oktobernummer der Kultur, zusammen mit einer Gegenerklärung konservativer Intellektueller, darunter Hermann Kesten, die den Kolonialkrieg als rechtmäßig und angemessen bezeichnete. Auf der Tagung der Gruppe 47 im November 1960 wurde eine Erklärung zur Unterstützung der bedrängten 121 verabschiedet.73 Zudem formulierten Enzensberger und Max Frisch einen Offenen Brief an Malraux,74 der von Theodor W. Adorno, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Kasimir Edschmid, dem Ehrenpräsidenten des westdeutschen PEN-Clubs, Marie Luise Kaschnitz, Eugen Kogon, Golo Mann, Arno Schmidt und weiteren Intellektuellen unterzeichnet und wie die Erklärung der Gruppe 47 in einer Sondernummer der Kultur im November dokumentiert wurde.75 Während die Initiatoren sehr glücklich über die Unterzeichnung des Offenen Briefes durch Adorno waren,76 hatte
71 Vgl. Gerhard Szczesny an Alfred Andersch, 24.9.1958, in: DLA, A: Alfred Andersch; auch ein Vorabdruck in der FAZ scheiterte, weil man de Gaulle indirekt verleumdet sah; Karl Korn an Alfred Andersch, 21.10. und 30.10.1958, in: DLA, A: Alfred Andersch; erst 1960 wurde die Produktion vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt. 72 Vgl. Frey, Vom Dritten Weg, S. 314 ff. 73 Zur Vorbereitung der Erklärung vgl. Hans Magnus Enzensberger an Hans Werner Richter, 10.10.1960, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 315 f. 74 Hans Magnus Enzensberger an Max Frisch, 26.10.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch. 75 Wagenbach, Vaterland, S. 176 f.; eine Liste der Unterzeichner auch als Anlage des Briefes von Alfred Andersch an Walter Dirks, 26.10.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 122; Unterlagen hierzu auch in DLA, A: Kasimir Edschmid. 76 Theodor W. Adorno an Alfred Andersch und Max Frisch, 4.11.1960; Hans Magnus Enzensberger an Alfred Andersch, 28.10.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch.
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sein Partner Max Horkheimer erwartungsgemäß nicht unterschrieben,77 ebenso wie Karl Jaspers, der von diesem Mittel prinzipiell nichts hielt.78 Auch der ängstlich zögernde Karl Korn mochte sich nicht anschließen, er bezog ebenfalls eine prinzipiell ablehnende Position.79 Es fällt auf, dass der Merkur sich in diesem Fall völlig heraushielt. Die Ressentiments von Hans Paeschke kann man einem Brief an Sebastian Haffner entnehmen. Haffner habe, so lobte Paeschke, das »nationale Verdienst (, den) Ring des Schweigens, der Verlegenheiten und des tendenziösen Verredens« um die »Zone« zu durchbrechen, während sich die Linksintellektuellen eher um Algerien kümmern würden.80 Den Ritterschlag erhielten diese wieder einmal durch Friedrich Sieburg. In der Zwischenkriegszeit hatte Sieburg sich einen Namen als Mittler in deutsch-französischen Kulturangelegenheiten gemacht, seinen guten Ruf allerdings als Besatzungsoffizier in Paris während des Krieges gründlich ruiniert. Nun konnte er sich als Verteidiger des konservativen Frankreichs inszenieren. In einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der unter der Überschrift »In einem anderen Land« erschien, konstatierte er, dass sich die Obrigkeit gegen umstürzlerische Aufrufe von Intellektuellen mit »Klauen und Zähnen wehren« müsse, weil sonst der Staat zerfalle. Die deutschen Kollegen hätten zwar das Recht, die Verhältnisse im eigenen Land zu kritisieren, aber nicht die des Nachbarlandes. Sie hätten kampflos eine »bequeme Stellung, die ihnen auch bei mäßigen Leistungen in unserem Lande eingeräumt wird (…) für ein Plädoyer für Landesverrat – in einem anderen Lande! – als eine natürliche Funktion der Meinung« missbraucht.81 Mit einiger Larmoyanz schrieb er an Holthusen: »Sie haben ja wohl gesehen, zu welchem Massenangriff auf mich dieses Blatt (Die Kultur; A. S.) übergegangen ist. Das war kein Zufall; denn die Artillerieunterstützung kam von vielen, zum Teil unerwarteten Seiten. Der Anlass war mein Protest gegen die Zustimmung der deutschen Intellektuellen zu dem berühmten Manifest der 121 (…) und ich habe wieder einmal erkannt, dass mit den deutschen Intellektuellen nichts zu machen ist. Die meisten der Leute, die so stürmisch meine schleunige Liquidierung fordern, (würden) von der SED und von den Kommunisten gesteuert werden.«82 Sieburg erwähnte weder in seinem Leitartikel noch in seiner Korrespondenz mit Holthusen oder – zeitgleich – mit Krämer-Badoni die kleine Schar konservativer Kritiker der linksunabhängigen Intellektuellen. Diese wurden damit als eigenstän77 Max Horkheimer an Hans Dollinger/Die Kultur, 3.11.1960, in: Kraushaar, Frankfurter Schule, Bd. 2, S. 131. 78 Karl Jaspers an Alfred Andersch und Max Frisch, 26.10.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch; vgl. auch Karl Jaspers, Korrespondenzen. Politik. Universität, Göttingen 2016, S. 31-34, 508 f. 79 Alfred Andersch an Karl Korn, 11.11.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch. 80 Hans Paeschke an Sebastian Haffner, 16.12.1960, in: DLA, A: Alfred Andersch. 81 Friedrich Sieburg, In einem anderen Land, dok. in: Leggewie, Kofferträger, S. 188. 82 Friedrich Sieburg an Hans Egon Holthusen, 5.1.1961, in: DLA, A: Friedrich Sieburg.
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dige Kraft anerkannt, die bereits Hegemonie besaß. Das Thema der Algerien-Solidarität war geeignet gewesen, nicht nur die Emanzipation von der Godesberg-SPD voranzutreiben. Zugleich fällt auf, dass auch die kommunistischen Intellektuellen der DDR im Kontext der Protestkulturen nur eine geringe Rolle spielten. Einzig der Präsident des ostdeutschen PEN-Zentrums Bertolt Brecht, der das Amt bis zu seinem Tode 1956 innehatte, verband sein künstlerisches Schaffen mit dem Thema der atomaren Gefahren.83 Aber der Boykott seines Werks aus politischen Gründen, der zwar – vor allem in den Großstädten der Bundesrepublik84 im Unterschied zu Österreich – nicht flächendeckend funktionierte, überdauerte seinen Tod bis in die frühen 1960er Jahre. Vorgehalten wurde ihm vor allem sein Verhalten nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953. Brecht hatte eine Solidaritätsadresse an Ulbricht gerichtet, von der nur die »Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«, nicht aber die Forderung nach einer »Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus« abgedruckt wurde. Der vollständige Brief war nur wenigen Zeitgenossen bekannt. Sein bitterer Spott über die argumentative Hilflosigkeit der Machthaber ergoss sich in dem Gedicht »Die Lösung« aus seinem Nachlass, das 1959 bekannt wurde: »Nach dem Aufstand des 17. Juni / ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes / in der Stalinallee Flugblätter verteilen, / auf denen zu lesen war, daß das Volk / das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / und es nur durch verdoppelte Arbeit / zurückerobern könne. Wäre es da / nicht einfacher, die Regierung / löste das Volk auf / und wählte ein anderes?«85 Den für lange Zeit letzten und erfolglosen Angriff führte Günter Grass mit seinem Drama »Die Plebejer proben den Aufstand« (1966). Es rekapitulierte die Haltung Brechts am 17. Juni 1953, der zu diesem Zeitpunkt in Ost-Berlin seine Coriolan-Inszenierung probte. Obwohl Grass selbst behauptete, kein »Anti-Brecht-Stück«, sondern ein Stück über das Verhältnis von Geist und Macht geschrieben zu haben, fiel es bei der Kritik nicht nur wegen künstlerischer Mängel, sondern vor allem wegen der Brecht-Schelte durch86 – ein deutlicher Beleg, wie rasch sich die Zeiten änderten. Um 1960, im Verlauf der Zweiten Berlin-Krise, intensivierte sich der Konflikt zwischen den beiden deutschen Staaten. Sie verstrickten sich in einen immer aufwändigeren medialen Propagandakrieg mit Plakaten, Flugblättern, Broschüren, 83 Vgl. Bores, P. E.N.-Zentrum, S. 307 ff. 84 Herausragendes Beispiel sind die Frankfurter Inszenierungen von Harry Buckwitz. Dort wie auch in anderen Orten behauptete sich eine lokale kulturelle Öffentlichkeit gegen Angriffe, die vor allem aus den Reihen der CDU/CSU vorgetragen wurden; Stuttgart erlebte bereits zwei Jahre nach Brechts Tod die Uraufführung der Faschismus-Parabel »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« unter der Regie des Brecht-Schülers Peter Palitzsch. 85 Erstveröffentlichung in: Die Welt, 9.12.1959. 86 Vgl. Nicole Colin, 1959: Stunde Null der Brecht-Rezeption?, in: Lorenz/Pirro, Wendejahr 1959, S. 197-216; vgl. Günter Grass, Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel, Frankfurt a. M. 1966, S. 101-124.
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Zeitungen, Radiosendungen, in dem die DDR die Bundesrepublik als antinational und militaristisch brandmarkte, während die Bonner Politik das als »Pankow«, »Zone« und »Sowjet-KZ« titulierte ostdeutsche Regime als dem Nationalsozialismus an Schlechtigkeit zumindest ebenbürtig hinstellte.87 Die Akzentverschiebung von östlicher Seite bestand vor allem in der Hervorhebung des »klerikalfaschistischen« Charakters der Bundesrepublik;88 das meinte die ideologische Hegemonie der katholischen Kirche und ihres Einflusses auf die Bonner Politiker und schloss die auf einen gouvernementalen Kurs der Kooperation einschwenkende Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften mit ein. Selbst der Linkskatholik Walter Dirks wurde in einem Leitartikel des Neuen Deutschland als »DGB-Ideologe« abqualifiziert.89 Die SED-Linie mutet retrospektiv skurril an, begann doch gerade die Krise kirchlicher Macht, für die die ironischen Beiträge von linkskatholischer Seite, an erster Stelle Heinrich Böll, ein deutliches Indiz waren. Allerdings entsprach sie der Sicht auch vieler westdeutscher linker Intellektueller. Interessant ist, dass jetzt auch, in den 1960er Jahren, die personellen NS-Kontinuitäten ins Zentrum der DDRPropaganda rückten. In den 1950er Jahren, als es dafür noch viel mehr Anlässe gegeben hätte, hatte man noch aus Rücksicht auf die angestrebte Bündnispolitik mit »nationalen« antiwestlichen Kreisen starke Zurückhaltung geübt. Es mag als Ironie der Geschichte erscheinen, dass sich die bittere Konfrontation zwischen der Bundesrepublik und der DDR partiell durchaus belebend auf die auswärtige Kulturpolitik auswirkte, weil man sich als das jeweils bessere Deutschland präsentieren wollte. In die erste Hälfte der 1960er Jahre fällt der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit (1963), mit dem auch das westdeutsch-französische Kulturabkommen von 1954 erweitert und symbolisch – zum Wohle der westeuropäischen Integration – die alte »Erbfeindschaft« der Völker diesseits und jenseits des Rheins beendet wurde.90 Zugleich wurden kulturelle Kontakte zwischen der Bundesrepublik und osteuropäischen Staaten, vor allem der Tschechoslo-
87 Dirk Schindelbeck, Propaganda mit Gummiballons und Pappraketen. Deutsch-deutscher Flugblattkrieg nach dem Bau der Mauer, in: Gerald Diesener/Rainer Gries (Hrsg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1996, S. 213-234; Eva Bliembach, Flugblattpropaganda im Kalten Krieg, in: ebd., S. 235-254. 88 Vgl. Kapferer, Feindbild, S. 193. 89 Günter Kertzscher, Von der Wissenschaft zur Utopie?, in: Neues Deutschland, 13.9.1961; der Autor, Chefredakteur des ND, war selbst nationalsozialistisch belastet. 90 Vgl. mit zahlreichen Hinweisen auf die Forschungsliteratur Klaus Schwabe (Hrsg.), Konrad Adenauer und Frankreich 1949-1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bonn 2005; zu den kulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR vgl. Ulrich Pfeil, Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln/Weimar/Wien 2004.
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wakei und Polen, geknüpft, wenngleich mit dem taktischen Hintergedanken einer Isolierung der DDR in deren eigenem Lager.91 Die linksunabhängigen Intellektuellen hegten wenig Sympathien für die Politik der SED. 1960 richteten Heinrich Böll, Erich Kuby, Walter Dirks und andere ein Gnadengesuch zur Freilassung des Theatermachers und Soziologen Joachim Staritz (1932-2001), der, aus kommunistischer Familie stammend, 1955 aus der Partei ausgeschlossen und 1960 als Spion verhaftet worden war, an die Führung der DDR. Weit mehr Aufmerksamkeit erregte die internationale Kampagne linker Intellektueller zur Freilassung des kurz vor dem Mauerbau aus West-Berlin von Agenten der Staatssicherheit in die DDR entführten und dort inhaftierten Ex-SED-Funktionärs Heinz Brandt. Heinz Brandt stammte aus einer jüdischen Familie und war Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald. Nachdem er sich im Kontext des 17. Juni 1953 nicht konform verhalten hatte, verlor er seine Funktion in der SED und floh 1958 in die Bundesrepublik. Die Kampagne um seine Freilassung führte 1964 zum Erfolg, weil die Reputation der DDR schwere Blessuren zu erleiden drohte.92 Die Wandlung der Sozialdemokratie zur »Volkspartei« und die Illegalität der sektenhaften KPD bereiteten den Boden für die Suche nach einer »Neuen Linken«, deren Aufgaben in allen westeuropäischen Ländern und den USA intensiv diskutiert wurden. Ende der 1950er Jahre begann in intellektuellen Kreisen, in der Zeitschrift des SDS Neue Kritik, in der Konkret und im West-Berliner Argument-Club, auch die Entdeckung der »Kritischen Theorie« der Zwischenkriegszeit und des Exils sowie undogmatischer marxistischer Schriften, etwa von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Karl Korsch, Georg Lukács und Ernst Bloch, der kurz vor dem Mauerbau von der DDR in die Bundesrepublik wechselte. Kaum beachtet wurde von den Rezipienten der historische jüdisch-deutsche Hintergrund, das Moment des Re-Imports vormals verfemter Autoren. Etliche der jungen Intellektuellen, die sich der Exilliteratur zuwandten, stammten aus Kreisen der bündischen Jugend – insbesondere der »dj.1.11«.93 In seinem Beitrag für die »Bestandsaufnahme 1962« von Hans Werner Richter konstatierte der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth eine »Wiederbelebung der sozialistischen Idee«. Für die Geschichte der Neuen Linken ist die Einbeziehung von Abendroth bedeutsam als Versuch einer Annäherung von Pub91 Axel Schildt, Mending Fences. The Federal Republic and Eastern Europe, in: Eduard Mühle (Hrsg.), Germany and the European East in the Twentieth Century, Oxford/New York 2003, S. 153-180. 92 Vgl. die sorgfältige Darstellung von Knud Andresen, Widerspruch als Lebensprinzip. Der undogmatische Sozialist Heinz Brandt (1909-1986), Bonn 2007, S. 245-281. 93 Vgl. Claus-Dieter Krohn, Die westdeutsche Studentenbewegung und das »andere Deutschland«, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 695-718; Helmut Peitsch, »Warum wird so einer Marxist?« Zur Entdeckung des Marxismus durch bundesrepublikanische Nachwuchsliteraturwissenschaftler, in: Rainer Rosenberg/Inge Münz-Koenen/Petra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien, Berlin 2000, S. 125-151.
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lizisten und Schriftstellern am Rande der Sozialdemokratie mit jenen, die gerade aus der SPD hinausgeworfen worden waren. Hans Werner Richter legte in einem Brief an den Marburger Professor seine Sicht der Dinge dar: »In der Bundesrepublik Ignoranz, Unkenntnis, Verbot, keine Diskussion mehr um grundsätzliche Fragen. Es ist als gehöre die gesamte sozialistische Idee in die Mottenkisten des vorigen Jahrhunderts. Und dies, obwohl sich die sozialistische Idee in allen anderen Teilen der Welt immer mehr ausbreitet. Und in der DDR: Die unheilvolle Praxis einiger Dogmatiker, die die sozialistische Idee mehr und mehr in Mißkredit bringt und denen Vorschub leistet, die sie hier in der Bundesrepublik bekämpfen. So etwa sehe ich es. Aber es bleibt Ihnen überlassen, welche Bilanz Sie ziehen. Wie sie auch immer ausfällt, sie wird in dem Buch so erscheinen, wie Sie sie niederschreiben. Nehmen Sie bitte keine Rücksicht auf irgendjemanden oder irgendetwas. Dieses Buch soll keine Tabus haben.«94 Die Einbeziehung Abendroths, der vom Spiegel 1964 als spiritus rector der Sozialismus-Renaissance gewürdigt wurde,95 weist auf die Bemühungen hin, das Problem der »sozialistischen Idee« in einer gesamtdeutschen Perspektive zu erfassen, wofür die Suche nach gemeinsamen Debatten auch mit denjenigen aufgenommen werden sollte, die der SED-Führung zwar kritisch gegenüberstanden, aber die Kontakte zu Intellektuellen in der DDR nicht abbrechen lassen wollten. Die sich verstärkende Kritik von Abendroth am antiautoritär-spontaneistischen Flügel des SDS96 zeigt, dass die Annahme einer Frontstellung von »autoritären« SED-Freunden und »antiautoritären Kritikern« eine retrospektive geschichtspolitische Konstruktion darstellt. Die Kritik an der DDR änderte allerdings nichts daran, dass das starre Festhalten an Sprachregelungen des Kalten Krieges gegenüber der DDR, also ein Feld symbolischer Politik, vielen Schriftstellern obsolet erschien. Am 12. Mai 1961 hatte das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen »Bezeichnungsrichtlinien« herausgegeben, denen zufolge allein »Mitteldeutschland« oder »Sowjetische Besatzungszone« (SBZ) bzw. deren adjektivische Formen als korrekte Benennungen akzeptabel seien, von der DDR allenfalls mit Anführungszeichen oder dem Zusatz »sogenannte« gesprochen werden dürfe. Ab 1. Juni 1961 unterlagen Bücher, Filme und Postsendungen aus Ostdeutschland dem »Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote«. Zu den betroffenen DEFA-Filmen gehörten Verfilmungen von Fontane und Fritz Reuter, 1960 wurden zahlreiche Dokumentarfilme aus der DDR verboten, darunter Filme über Käthe Kollwitz, Otto 94 Hans Werner Richter an Wolfgang Abendroth, 31.1.1962, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 393 f., Zitat S. 393; Richter stellte Abendroth auch seinen Plan einer umfassenden Veröffentlichung zur sozialistischen Idee vor, die trotz Abendroths Zustimmung nicht zustande kam. 95 Vgl. Heigl, Oppositionspolitik, S. 231. 96 Vgl. ebd., S. 290 ff.
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Dix und Szenen einer Brecht-Inszenierung.97 Diese Politik wurde von sozialdemokratischen Landesregierungen mitgetragen. Im Dezember 1960 verhinderte der von der SPD-geführte Hamburger Senat ein Treffen des »Deutschen PEN-Zentrums Ost und West« in der Hansestadt. Der Rektor der Universität, Helmut Thielicke, verweigerte der Delegation aus der DDR – darunter Arnold Zweig, Stephan Hermlin, Ludwig Renn und der Kulturfunktionär Wilhelm Girnus – zugesagte Räumlichkeiten. Eine Pressekonferenz von ihnen wurde aufgelöst, sie wurden aus ihrem Hotel komplimentiert und zur Abreise gezwungen. Daraufhin erschien ein vehementer Protest gegen das »Hamburger Spectaculum«,98 die peinliche und illiberale Aktion, in der Wochenzeitung Die Zeit. Deren Verleger Gerhard Bucerius, zu dieser Zeit noch Bundestagsabgeordneter der CDU, lud Schriftsteller aus der DDR auf seine Kosten zu einem Streitgespräch mit Vertretern aus der Bundesrepublik zum Konzept des »Engagements« in der Literatur ein, das im April 1961 in einem Hörsaal der Hamburger Universität zwischen Schriftstellern aus Ost- und Westdeutschland vor Hunderten von interessierten Intellektuellen stattfand.99 Bereits Ende 1960 hatte im Ost-Berliner Deutschland-Sender eine Diskussion zwischen Bucerius, Marion Dönhoff und Theo Sommer von der Zeit und KarlEduard von Schnitzler, Gerhart Eisler und dem Intendanten des Senders Kurt Ehrich über »Wege und Möglichkeiten der Wiedervereinigung« stattgefunden.100 Die kurze Phase der kulturellen Auflockerung in der DDR Anfang der 1960er Jahre ließ sogar Hoffnungen auf gemeinsame Initiativen von Intellektuellen in Ost und West aufkeimen, um die verhärteten Gegensätze zwischen den jeweiligen Regierungen aufzubrechen. Die spektakulären Gespräche setzten Hamburg als Oppositionsort zur Bonner Deutschlandpolitik in Szene, zugleich zeigte sich, dass die SED im Rahmen ihrer Bündnispolitik eher Kontakte zu liberalen als zu linksunabhängigen Kräften in der Bundesrepublik suchte. Namentlich die Zeit profilierte sich in dieser Sache. Man hätte vermuten können, dass der Mauerbau im September 1961 das Ende der Gesprächskontakte unter den Intellektuellen bedeutet hätte. Das war eindeutig nicht der Fall.101 Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre brachten in einem Offenen Brief drei Tage nach dem Mauerbau an die Mitglieder des DDR-Schrift97 Andreas Kötzing, Zensur von DEFA-Filmen in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/2, 2009, S. 33-39. 98 Ingeburg Kretschmar an Erich Kästner, 25.1.1961, zit. nach Bores, P. E.N.-Zentrum, S. 351. 99 Ebd., S. 351 ff.; eine umfassende Dokumentation mit differenzierten Analysen bietet Jens Thiel (Hrsg.), Ja-Sager oder Nein-Sager. Das Hamburger Streitgespräch deutscher Autoren aus Ost und West 1961. Eine Dokumentation, Berlin 2011. 100 Christoph Kleßmann, Die deutsche Frage in der ZEIT, in: Haase/Schildt, Die ZEIT, S. 264-279, hier S. 270 f. 101 Der Brief, zur Veröffentlichung an etliche Zeitungen in der DDR und der Bundesrepublik geschickt, wurde nur in der Welt und der Konkret veröffentlicht; dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 184 f.; vgl. Joachim Scholtyseck, Mauerbau und Deutsche Frage. Westdeutsche Intellektuelle und der Kalte Krieg, in: Geppert/Hacke, Streit, S. 69-90.
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stellerverbandes ihre vehemente Kritik zum Ausdruck. Schriftsteller hätten Stellung zu beziehen, entweder dafür oder dagegen, aber sie hätten kein Recht, zum »Unrecht vom 13. August« zu schweigen.102 Eine offiziöse Antwort auf der Linie der SED erhielten die Verfasser des Offenen Briefs von Stephan Hermlin, allerdings habe er kein Glückwunschtelegramm an diese gesandt, es sei um eine unabänderliche Notwendigkeit gegangen. Repliken erfolgten außerdem von Bruno Apitz und Franz Fühmann. Dieser hielt den westdeutschen Schriftstellern vor, 1956 nicht gegen das Verbot der KPD protestiert zu haben. In der internen Diskussion der westdeutschen Schriftsteller vertraten Grass und Schnurre eine Minderheit. Hans Werner Richter, der selbst über verwandtschaftliche Verbindungen in die DDR verfügte und dort vom 11. bis 22. August zwischen Ahlbeck und Stralsund an der Ostsee urlaubte, hob die Ähnlichkeit der Mauer mit einer »Konzentrationslagermauer« hervor, schilderte den »Hass auf das System«, die »Hysterie und Angst« der Menschen und ihre Panik, nun sei die letzte Möglichkeit gekommen, noch zu fliehen, aber auch die Kriegsangst.103 Obwohl Richter auf der Seite von Grass und Schnurre stand, zog er es dann doch vor, zu lavieren.104 Das von ihm als Band 2 der neuen Reihe »rororo-aktuell« herausgegebene Buch zum Mauerbau präsentierte eine Dokumentation, in der von Ludwig Turek als Hardliner der SED-Kulturpolitik bis zu Günter Zehm als rechtskonservativem Publizisten der Welt, von Rudolf Augstein bis Hermann Kant und von Günter Grass bis Stephan Hermlin ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen vorgestellt wurde. Es handelte sich keineswegs um eine einseitige Abrechnung mit der Politik der DDR.105 Zudem gab er den Forderungen von Klaus Wagenbach nach, nun verstärkt ostdeutsche Schriftsteller zu den Tagungen der Gruppe 47 einzuladen. Hingegen bemühte sich der konservative Publizist Krämer-Badoni auch bei den Diskussionen um den Mauerbau, sich als einsamen Freiheitskämpfer – davon nahm er lediglich Friedrich Sieburg und wenige andere Publizisten aus – gegen die übermächtige Mehrheit seiner Schriftstellerkollegen zu stilisieren.106 Ein besonders heftiger Streit entbrannte zwischen Uwe Johnson und Hermann Kesten. Johnson, der sich schon als Jugendlicher mit den Autoritäten des SED102 Vgl. Heinz Ludwig Arnold/Franz Josef Görtz, Günter-Grass-Dokumente zur politischen Wirkung, Stuttgart 1971, S. 6-20; Rolf-Bernhard Essig, Der Offene Brief. Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass, Würzburg 2000, S. 287 ff. 103 Klemens Krüger (Pseudonym für Hans Werner Richter), Der 13. August in der Zone/ Tagebuchaufzeichnungen, in: NDR/Hauptabteilung Wort, gesendet am 10.10.1961 über UKW von 20.15-21.00, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 1140 (Zitate S. 23, 24). 104 Vgl. Cofalla, Sozialer Sinn, S. 107 ff. 105 Hans Werner Richter, Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961; zur Entstehung und Rezeption dieser Publikation vgl. den aufschlussreichen und sehr präzise kommentierten Briefwechsel von Richter mit Rudolf Walter Leonhardt, Fritz J. Raddatz, Hans Magnus Enzensberger u. a. bei Hans Werner Richter. Briefe, S. 376 ff. 106 Eine Auswahl bei Rudolf Krämer-Badoni, Vorsicht, gute Menschen von links. Aufsätze und Essays, Gütersloh 1962.
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Staates angelegt hatte, siedelte 1959, nachdem sein erster Roman »Mutmaßungen über Jakob« im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht worden war, nach West-Berlin über. In seinem Œuvre ging es letztlich um sein eigenes Schicksal eines doppelten Grenzgängers in der Personifikation des Eisenbahners Jakob, der weder im Osten noch im Westen glücklich leben konnte, aber diesen doch vorzog; auch sein Werk »Das dritte Buch über Achim« beschäftigte sich mit dem Thema der deutsch-deutschen Grenze. Johnson, von der Kritik der Bundesrepublik hochgelobt, arbeitete seit Ende der 1960er Jahre an seinem Hauptwerk »Jahrestage«, von dem die ersten drei Bände seit 1970 erschienen.107 Johnson hatte den Mauerbau nicht als Verteidigungsmaßnahme gegen westliche Interventionsabsichten, aber auch nicht als Akt des Unrechts, sondern als verzweifelte »Notwehr Ulbrichts« bezeichnet, das Ausbluten der DDR zu beenden.108 Die Kritik vieler Intellektueller an der ihnen anachronistisch erscheinenden Politik der »Gänsefüßchen« und des Verbots, die nach dem Mauerbau letztmalig, aber nur für kurze Zeit dominierte, war eng verbunden mit Forderungen nach einer Liberalisierung der Bundesrepublik. Die von der Bonner Regierung propagierte »Politik der Stärke« und obrigkeitsstaatliche Reaktionen der Regierung auf publizistische Kritik wurden wiederum zur Triebfeder für öffentlichen Protest. Die Auseinandersetzung mit dem Mauerbau stand für die linken Intellektuellen jedenfalls ganz im Schatten der nur einen Monat später stattfindenden Bundestagswahl. Kurz vorher wurde mit dem von Martin Walser in hoher Auflage herausgegebenen Taschenbuch »Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?« die neue Reihe »rororo-aktuell« begonnen. Die Reihe sollte Möglichkeiten einer raschen Intervention in politischen und gesellschaftlichen Debatten eröffnen und dafür fundiertes Material bereitstellen. Beim ersten Band handelte es sich allerdings um Essays von 21 Schriftstellern und Publizisten, darunter Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Wolfdietrich Schnurre, Günter Grass, Erich Kuby, Gerhard Szczesny und Siegfried Lenz. Sie häuften Argumente gegen die Regierung Adenauers an und empfahlen mehr oder weniger direkt die Wahl der SPD. Neben der »unbewältigten« Vergangenheit wurde immer wieder »das kleine schäbige Verbraucherglück« gescholten, das zu politischer »Gleichgültigkeit« geführt habe, außerdem die starre Politik gegenüber Ostdeutschland, die eine Wiedervereinigung verhindere. Die meisten der Autoren kamen aus dem Umkreis der Gruppe 47, und über die Hälfte von ihnen lieferten auch für Hans Werner Richters »Bestandsauf107 Vgl. mit Hinweisen zur Literatur Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 233. 108 Der ausufernde Streit, in den sich, wie häufig bei Kesten, persönliche Vorwürfe mischten, lässt sich über die intensive Korrespondenz mit Dutzenden von Briefen in seinem Nachlass entschlüsseln; unterstützt fühlte er sich allein vom Feuilleton der Welt; Hermann Kesten an Georg Ramseger, 27.11.1961, 30.12.1961, 3.4.1962, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 3281; vgl. Rudolf Walter Leonhardt, Deutsche Schriftsteller gestern und heute, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.1961; ders., Deutsche Schriftsteller gestern und heute, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.12.1961; Leonhardt deutete den Streit vor allem als Generationenkonflikt.
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nahme« ein Jahr später Beiträge. Es ist zum einen symptomatisch, dass die Bilanzliteratur nun von linker und linksliberaler Seite bestimmt wurde, nachdem ein Jahrzehnt zuvor eher konservative Vorstellungen dominiert hatten. Wichtige Aufschlüsse liefert die »Alternative« aber zum zweiten und vor allem über das Verhältnis der linksunabhängigen Schriftsteller zur SPD, widerlegt es doch die Konstruktion einer Entfremdung erst während der Großen Koalition. Mit der Ausnahme uneingeschränkter Parteinahme für die SPD durch Günter Grass und abgeschwächter Sympathie von Richter, Kuby, Lenz und Schnurre sahen alle anderen Autoren die SPD allenfalls als kleineres Übel gegenüber der klerikalen Regierung an. Diesen Akzent setzte am deutlichsten Axel Eggebrecht in seinem Beitrag gegen »geistige Verfettung«, »christliches Abendland« und »Klerikalismus«.109 Die vor allem von Bayern aus organisierte Diffamierungskampagne gegen Willy Brandt110 erregte bei vielen Publizisten heftigen Abscheu, aber das reichte für eine positive Identifikation mit der SPD nicht aus. Alfred Andersch zog seine Zusage zur Mitarbeit wegen des Einschwenkens der SPD auf den Kurs der Westintegration im Sommer 1961 sogar gänzlich zurück.111 Seiner Absicht, die von der SED gesteuerte Deutsche Friedensunion (DFU) zu wählen, widersprach Erich Kuby in einem Brief noch am Tag der Absage: »Jede Stimme für die DFU ist eine Wahlhilfe für Adenauer und Strauss. (…) Wir können nur noch taktisch wählen. Mit unseren Gesinnungen hat die Entscheidung für die SPD meistens nur noch indirekt zu tun.«112 Kuby argumentierte hier von den pessimistischen Erwartungen einer weiteren Rechtsentwicklung aus. Walser, der als Herausgeber fungierte, nachdem Heinrich Böll diese Funktion nicht hatte übernehmen wollen, schrieb: »Leider hat auch die SPD dem vulgärsten Antikommunismus geopfert« und versuche, jede Bewegung links vom sozialdemokratischen Mainstream zu delegitimieren.113 Enzensberger wie auch Rühmkorf zeigten sich angewidert von der SPD, die man aber gleichwohl wählen müsse, obwohl sie, so Paul Schallück, ein Symbol für »Petrifizierung, Petrifakt, Versteinerung« geworden sei.114 Der Mauerbau und die Entwicklung zwischen den beiden deutschen Staaten hatten auch in der politischen Kultur und der Intellektuellenszene der DDR ihre Spuren hinterlassen. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre hatte es in der DDR eine 109 Walser, Alternative, S. 28, 31, 32. 110 Vgl. Daniela Münkel, »Alias Frahm«. Die Diffamierungskampagnen gegen Willy Brandt in der rechtsgerichteten Presse, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen?, S. 397-418; dies., Willy Brandt, S. 126, 223 f. 111 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 337 f.; in einem undatierten Rundbrief von Hans Werner Richter und Erich Kuby zum geplanten Band war noch seine Zusage vermerkt gewesen; in: IfZ, Nl. Gerhard Szczesny, ED 386/25. 112 Erich Kuby an Alfred Andersch, 6.6.1961, in: DLA, A: Alfred Andersch. 113 Walser, Alternative, S. 55, 129. 114 Ebd., S. 65 f.; vgl. zum Verhältnis der linken Intellektuellen zur SPD Per Øhrgaard, »Ich bin nicht zu Herrn Willy Brandt gefahren«. Zum politischen Engagement der Schriftsteller in der Bundesrepublik am Beginn der 60er Jahre, in: Schildt/Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 719-733.
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Öffnung zu etwas mehr kultureller Meinungsfreiheit gegeben, soweit diese nicht die Grundlagen der diktatorischen Ordnung betraf. Dabei handelte es sich um einen Effekt des Baus der Berliner Mauer, der sogar als die eigentliche Gründung des ostdeutschen Staates angesehen wurde, weil nun der ständige Aderlass der Bevölkerung in »den Westen« aufhörte und erstmals halbwegs verlässliche Planungen vorgenommen werden konnten. Dies sollte zugleich ihre schmale Legitimationsbasis erweitern. Die kulturelle Öffnung war nicht auf die DDR beschränkt. In den Staaten des »realen Sozialismus« kam es zu einer breiteren Bewegung immanenter Kritik, die frühere Dogmen, dass etwa mit der Überwindung des Kapitalismus auch die menschliche Entfremdung verschwunden sei, verwarf. Symbolische Bedeutung erhielt eine Konferenz zum 80. Geburtstag von Franz Kafka in Liblice in der Nähe von Prag im Mai 1963. In der DDR kam ein Jahr später einer großen Schriftstellertagung ähnliche Bedeutung zu.115 Einige kritische Romane, etwa Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« (1963), wurden veröffentlicht,116 mehrere gesellschaftskritische Filme kamen in die Kinos, 1964 wurde sogar eine Schallplatte der Beatles von der staatlichen Plattenfirma »Amiga« herausgegeben, und im Radio der DDR wurde im Anschluss an ein »Deutschland-Treffen« der Staatsjugendorganisation FDJ mit »DT 64« eine eigene Sendung für Jugendliche geschaffen, die deren Probleme aufgreifen und deren Musik, einschließlich der Beat-Musik aus dem Westen, spielen sollte, um überhaupt weiter ideologischen Einfluss ausüben zu können. Es ist symptomatisch, dass die westliche Musik ebenso wie in der Bundesrepublik zum Fanal jugendlichen Unabhängigkeitsstrebens wurde, die der Staatsgewalt unkontrollierbar zu werden schien.117 Die größte nichtgenehmigte Demonstration in der DDR zwischen 1953 und 1989 richtete sich gegen das Verbot einiger Dutzend einheimischer Beat-Gruppen: die »Leipziger Beatdemo« am 31. Oktober 1965. Die Tendenzen einer kulturellen Öffnung in der DDR, die nicht mit der politisch-kulturellen Liberalisierung des bereits demokratischen politischen Systems der Bundesrepublik gleichgesetzt werden dürfen und auch erst nach dem Mauerbau eingesetzt hatten, wurden, wenige Wochen nach den Leipziger Vorkommnissen, auf dem »Kahlschlag-Plenum« der SED im Dezember 1965 abrupt beendet.118 Die dort erfolgte Disziplinierung von Schriftstellern wie Stefan Heym und Christa Wolf, Musikern – der Liedermacher Wolf Biermann erhielt ein absolutes Auftritts- und
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Elke Scherstjanoi (Hrsg.), Zwei Staaten, zwei Literaturen? Das internationale Kolloquium des Schriftstellerverbandes in der DDR, Dezember 1964. Eine Dokumentation, München 2008. 116 Zur Zensurpraxis vgl. Simone Barck/Martina Langermann/Siegfried Lokatis (Hrsg.), Jedes Buch ein Abenteuer. Zensursystem und politische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997. 117 Michael Rauhut, Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964-1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993. 118 Vgl. ausführlich Günter Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991.
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Publikationsverbot – und vor allem Filmkünstlern blieb zwar nicht dauerhaft wirksam, ließ die beiden deutschen Gesellschaften aber noch weiter auseinander driften. Die ostdeutschen Autoren erfuhren im kulturellen Leben der Bundesrepublik zunehmende Beachtung. Nachdem 1961 Bruno Apitz’ »Nackt unter Wölfen« und 1962 Anna Seghers’ »Das siebte Kreuz« in der Bundesrepublik veröffentlicht werden konnten, erschienen in etlichen Verlagen Bücher von »DDR-Autoren«, eine Bezeichnung, die geradezu zum literarischen Gütesiegel bei einem Teil des westlichen Publikums wurde. Johannes Bobrowski, der 1962 sogar den Preis der Gruppe 47 erhielt, Günter de Bruyn, Franz Fühmann, Stefan Heym, Günter Kunert, Irmtraud Morgner, Erwin Strittmatter, Christa Wolf und einige andere fanden auch deshalb rasch ein Publikum, weil ihre realistischen Schreibweisen nun zum einen besser in die literarischen Trends passten, zum anderen, weil sie über eine vielen fremd anmutende Gesellschaft berichteten. Ästhetische Differenzen zwischen der Literatur der DDR und jener im Westen ergaben sich auch aus der jeweils unterschiedlichen Funktion. Weil die Schriftsteller in der DDR das Bewusstsein ihrer Leser verändern wollten, schrieben sie verständlicher als ihre Kollegen in der Bundesrepublik, die sich stärker um den Fortschritt der künstlerischen Form bemühten. Den größten Erfolg erzielte Hermann Kant mit seinem Roman »Die Aula« (1965) über den Bildungshunger der Aufbaugeneration an den Arbeiter- und Bauern-Fakultäten um 1950. Obwohl der DDR als Kulturfunktionär und Präsident des Schriftstellerverbandes bis zum Schluss treu ergeben und von der westdeutschen Kritik immer wieder angefeindet, fand seine ironische und immanent kritische Darstellung der DDR-Verhältnisse viele Leser. Am Ende der Ära Adenauer, als sich in den Medien kritische Stimmen zur Regierungspolitik mehrten und nicht zuletzt die internationale Isolation der Regierung auch im Westen auf zunehmende Ablehnung stieß, steigerte sich deren Nervosität. Sie entlud sich im wohl spektakulärsten Presseskandal in der Geschichte der Bundesrepublik, der sogenannten Spiegel-Affäre. Aufgrund eines Artikels unter der Überschrift »Bedingt abwehrbereit« über das NATO-Manöver »Fallex 62« wurden am 26. Oktober 1962 die Redaktionsräume des Blattes in einer Nacht- und Nebel-Aktion von starken Polizeikräften besetzt, der Herausgeber Rudolf Augstein und mehrere Redakteure verhaftet und der Verfasser des Artikels, Conrad Ahlers, in seinem spanischen Urlaubsort von der dortigen Polizei festgenommen und in die Bundesrepublik überstellt. Augstein und Ahlers blieben monatelang in Untersuchungshaft. Obwohl sich alle Vorwürfe, militärische Geheimnisse verraten zu haben, als haltlos herausstellten – die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde im Mai 1965 abgelehnt, die Kosten der Bundeskasse auferlegt –, hatte der Kanzler im Bundestag von einem »Abgrund von Landesverrat« gesprochen. Die Aktion gegen den Spiegel und ihre Umstände wurden daher zu einem Bumerang für die Bundesregierung. Die »Spiegel-Affäre« gilt weithin als Zäsur der westdeutschen Pressegeschichte von einer gouvernemental weitgehend gelenkten zu einer kritischen Presse als publizistischem Prinzip,119 erstes Signal für die Herausbildung einer brei119 Hodenberg, Konsens, S. 327 ff.
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ten kritischen Öffentlichkeit,120 die für den Erhalt der Meinungsfreiheit eintrat. Sie bewegte die großstädtische Bevölkerung der Bundesrepublik und vor allem die Intellektuellen sogar stärker als die gleichzeitige Kubakrise.121 Die SPD setzte sich nicht an die Spitze der öffentlichen Proteste, sondern agierte zurückhaltend und drang in ihren Erklärungen lediglich auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze.122 In der Parteiführung reiften offenbar Hoffnungen, die geschwächte Union zur Bildung einer Großen Koalition zu bewegen. Im Anschluss an Godesberg sprach man von »Gemeinsamkeitspolitik« bzw. »Gemeinsamkeitskurs«. Eine kulturell nicht unwesentliche Voraussetzung, die im Hintergrund eine Rolle spielte, war die allmähliche Entkrampfung des Verhältnisses zur Katholischen Kirche, die in die ersten drei Bundestagswahlen noch mit bischöflichen Hirtenbriefen eingegriffen hatte, in denen, von den Kanzeln verlesen, vor der Wahl »sozialistischer« und »liberalistischer« Abgeordneter gewarnt worden war. Als Fritz Erler, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, mit einer Delegation seiner Partei am 5. März 1964 von Papst Paul VI. empfangen wurde und diesem ein Exemplar des Godesberger Programms überreichte, registrierte die Union dies mit Missbehagen. Links von der SPD hielt indes die Empörung an. Die übergroße Zahl der Intellektuellen, weit bis in die konservativen Reihen hinein, äußerte sich nach der Polizeibesetzung des Nachrichtenmagazins zugleich entsetzt und solidarisch mit der Redaktion des Spiegel. Augstein erhielt von Kantorowicz Grüße in die Untersuchungshaft,123 Heinz-Joachim Heydorn erklärte ob des »unerhörten Vorgehens gegen Sie«, den Spiegel abonnieren zu wollen.124 Selbst Sieburg und Hans Habe, ansonsten zuverlässige Streiter im Kampf gegen linksunabhängige Meinungen, standen in dieser Sache nicht uneingeschränkt zur Regierung. Sieburg äußerte sich deprimiert: »Die ganze Affäre ist noch keineswegs ausgestanden, aber durch die ziemlich schmachvollen Koalitionsverhandlungen ist sie vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden. Das öffentliche Leben in Deutschland hat einen Tief120 Axel Schildt, »Augstein raus – Strauß rein« – öffentliche Reaktionen auf die SPIEGELAffäre, in: Martin Doerry/Hauke Janssen (Hrsg.), Die SPIEGEL-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013, S. 177-201. 121 Vgl. die umfangreiche zweibändige Dokumentation von Jürgen Seifert (Hrsg.), Die SPIEGEL-Affäre, Olten/Freiburg 1966 (hier Bd. 2: Die Reaktion der Öffentlichkeit, hrsg. von Thomas Ellwein, Manfred Liebel und Inge Negt); Dorothee Liehr, Von der Affäre gegen den »Spiegel« zur Spiegel-Affäre, Frankfurt a. M. 2002; Frank Bösch, Später Protest. Intellektuelle und die Pressefreiheit in der frühen Bundesrepublik, in: Geppert/Hacke, Streit, S. 91-112; besonderes Augenmerk hat jüngst auf die konservativen Reaktionen im deutsch-britischen Vergleichskontext geworfen: Ute Daniel, Beziehungsgeschichten. Politik und Medien im 20. Jahrhundert, Hamburg 2018, S. 237 ff. 122 Vgl. Liehr, Affäre, S. 75 ff. 123 Alfred Kantorowicz an Rudolf Augstein, 29.10.1962, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, S. 321. 124 Heinz-Joachim Heydorn an Redaktion des Spiegel, 5.11.1962, in: Staats- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Nl. Heinz-Joachim Heydorn.
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punkt erreicht; es kann eigentlich nur noch besser werden. Wir alle sind sorgenvoll und deprimiert und in bezug auf das, was wir publizistisch zu tun haben, mehr oder weniger ratlos.«125 In einem »privaten politischen Brief« an Dolf Sternberger kritisierte Karl Jaspers eben diese Haltung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ganz allgemein der Presse, die eine klare und eindeutige Linie hinter zahlreichen Leserbriefen und Stellungnahmen verstecke. »Sie haben noch kein Wort gesagt. Sind Sie ausgeschaltet? Wenn diese ›Spiegel‹Affäre nicht schnell und täglich zu einer geistig mächtigen, überlegenen Reaktion seitens der deutschen Presse führt, meine ich vorauszusehen, dass langsam, scheinbar unmerklich das geistige Klima in der Bundesrepublik sich ändern muss. Man wird Angst haben offen zu reden, man wird staatsfromm, man arbeitet nicht mehr an dem Aufbau wirklicher Demokratie, sondern verfällt, ohne es sich einzugestehen, einem verborgenen Terror.«126 Das Ansehen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bei kritischen Intellektuellen war ohnehin wohl zu keinem Zeitpunkt mehr beschädigt als Anfang der 1960er Jahre, als Hans Magnus Enzensberger seinen Essay »Journalismus als Eiertanz« veröffentlicht hatte, in dem der hohe Anspruch der FAZ auf erstklassige Information anhand des politischen Teils der Zeitung über zehn Tage im Dezember 1961 detailliert überprüft wurde. »Verstümmelte und retouchierte Nachrichten« wies Enzensberger in großer Zahl nach, mit der »Weltpresse« könne sich das Blatt nicht messen, der »journalistische Ehrenkodex« werde von den Redakteuren täglich gebrochen. Im Blatt werde eine »Sprache der Herrschaft« kultiviert, die der Verständigung und Auseinandersetzung zwischen jenen diene, »die im Lande die politische und ökonomische Macht ausüben«. Die FAZ tauge höchstens zur Beobachtung des politischen, moralischen und geistigen Klimas der Bundesrepublik; nur wer »Illusionen und Gelüste ihrer offiziellen Politik, sowie das Bild, das sie sich von der Welt zu machen liebt, bis ins kleinste ideologische Detail studieren« wolle, sei mit der Lektüre des Blattes gut bedient. Dieser Essay, der große Beachtung fand – der Band, in den er als Originalbeitrag aufgenommen worden war, verkaufte sich in den 1960er Jahren in zwei Ausgaben insgesamt 70.000 Mal127 –, wurde von den Herausgebern der FAZ nicht mit der souveränen Gelassenheit aufgenommen wie zuvor die im selben Band abgedruckte Kritik der Sprache des Spiegel, die bereits 1957 vom Süddeutschen Rundfunk gesendet worden war und von dem Nachrichtenmagazin als Teilabdruck gebracht wurde. Zudem wurde Enzensberger vom Spiegel als Kolumnist eingeladen. Die FAZ dagegen ließ Benno Reifenberg eine inhaltlich eher hölzerne, defensive, ausweichende, unvollständige und wenig überzeugende Ent125 Friedrich Sieburg an Thilo Koch, 23.12.1962, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 126 Karl Jaspers an Dolf Sternberger, 6.11.1962, in: DLA, A: Dolf Sternberger. 127 Zit. nach Hans Magnus Enzensberger, Einzelheiten I. Bewußtseinsindustrie, Frankfurt a. M. 41967, S. 40, 71, 72, 73.
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gegnung schreiben, in der Enzensberger als ebenso naiver wie »böswilliger Leser« charakterisiert wurde, der die Redakteure der FAZ letztlich als »faschistoide Bande« verachte, wofür man ihn nur »bemitleiden« könne.128 Die FAZ hatte sich zwar um 1960 mit ihrem Feuilleton als führende Tageszeitung für das breite bildungsbürgerliche Publikum durchgesetzt, wurde allerdings von linken Intellektuellen nicht annähernd so respektiert wie die Frankfurter Zeitung in den 1920er Jahren. Schon am Tag nach der Polizeibesetzung des Nachrichtenmagazins solidarisierten sich zahlreiche Schriftsteller, die Gruppe 47 verfasste eigens ein Manifest, das am 29. Oktober 1962 in der Frankfurter Rundschau erschien. Zu dieser umgehenden Reaktion trug zum einen bei, dass die Gruppe gerade in Berlin tagte, und zum zweiten die besondere Beziehung zu Rudolf Augstein – ungeachtet der leichten Spannungen zwischen ihm und Hans Werner Richter. Die prominenten Autoren, Böll, Grass, Walser und andere waren gerade in einer Titelgeschichte des Spiegel porträtiert worden. Unter der Überschrift »Richters Richtfest« wurden dort alle Angriffe auf die Gruppe, sie betreibe manipulatives Marketing, abgewehrt;129 Rudolf Augstein war selbst mehrmals auf den Tagungen der Gruppe Gast gewesen. Eine symbolische Schlüsselszene der Spiegel-Affäre als Teil der Intellektuellengeschichte war die fernsehwirksame und öffentlich eindrückliche Konversion von Sebastian Haffner, der einen hervorragenden Ruf als kompetenter Experte und interessanter avantgardistischer Querkopf genoss und immer wieder in Werner Höfers »Frühschoppen« diskutierte.130 Nachdem der für ein hohes Gehalt für den Observer arbeitende und als britischer Journalist geltende Haffner zunächst Vorstellungen von Europa als »dritter Kraft« angehangen hatte, dann einen »Kreuzzug für die NATO« führte und um 1960 als Hardliner des Kalten Krieges und einer der »grimmigsten« Anhänger Adenauer galt,131 wurde Haffner in der abendlichen »Panorama«-Sendung der ARD am 4. November 1962 vom Moderator Gert von Paczensky am Schluss der Sendung mit einer Stellungnahme eingeblendet, deren Kernpassage seither immer wieder zitiert worden ist: »Wenn die deutsche Öffentlichkeit sich das gefallen läßt, wenn sie nicht nachhaltig auf Aufklärung drängt, dann adieu Pressefreiheit, adieu Rechtsstaat, adieu Demokratie.«132 Damit war der offene Medienkrieg zwischen den kritischen Publizisten und der Bundesregierung erklärt.
128 Benno Reifenberg, Hans Magnus, ein böswilliger Leser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.7.1962; dazu kritisch Dieter E. Zimmer, So arm und töricht war er nicht. Bemerkungen zu der Kontroverse zwischen der Frankfurter Allgemeinen und Hans Magnus Enzensberger, in: Die Zeit, 20.7.1962. 129 Eine Sammlung zeitgenössischer Invektiven von rechter Seite versammelt Gert Bergner, Rudolf Augstein und die »Spiegel«-Affäre, Berlin 1964; vgl. zur Kritik von konservativer und anderer Seite ausführlich Arnold, Gruppe 47, S. 239 ff. 130 Vgl. Schmied, Sebastian Haffner, S. 249 ff. 131 Ebd., S. 122 ff., 199 ff., Zitat S. 220. 132 Zit. nach Liehr, Affäre, S. 107.
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Einige CDU-Vertreter versuchten allerdings zunächst, dem Geschehen seine dramatische Note zu nehmen und es zu verharmlosen. Hans Dichgans, wirtschaftsnaher Bundestagsabgeordneter aus Nordrhein-Westfalen, der mit Alfred Andersch auch private Kontakte pflegte, schrieb ihm: »Was ist geschehen: aufgrund formaler ordnungsgemäßer Beschlüsse deutscher Gerichte sind Einige Leute verhaftet Einige Büroräume durchsucht Einige Schriftstücke beschlagnahmt worden. Das sind Vorgänge, wie sie sich in ähnlicher Form jeden Tag in hunderten von Fällen abspielen. (…) Es ist in Deutschland heute völlig risikolos, die Bundesregierung anzugreifen, aber es ist sehr gefährlich, bestimmte Nachrichtenmagazine anzugreifen.«133 Eine weitere Debatte wurde in diesem Zusammenhang zwischen dem CDU-Bundesgeschäftsführer Josef Hermann Dufhues, einem der Nachfolgekandidaten für die Kanzlerschaft (er starb 1964), und den Schriftstellern der Gruppe 47 ausgetragen, die er im Januar 1963 auf einer Pressekonferenz als »geheime Schrifttumskammer« bezeichnet hatte. Er habe darüber nachgedacht, wie die »Atmosphäre entgiftet« werden könne, aber seine Stigmatisierung hatte, wenig verwunderlich, den gegenteiligen Effekt. Alfred Andersch empfand die Äußerung als »unverschämt und ganz unerträglich«.134 Hans Werner Richter, dem an einem Streit nicht gelegen war, fühlte sich bemüßigt, Dufhues in einem höflich gehaltenen Schreiben zu widersprechen. Seine matte Reaktion empfanden viele Mitglieder der Gruppe 47 als enttäuschend, sie verwies bereits auf die Spaltungs- und Auflösungserscheinungen der Schriftsteller-Vereinigung im Laufe des folgenden Jahres. Haffner löste in der Folge dieses Schlüsselereignisses von 1962 seine Beziehungen zu den konservativen Zeitungen und Zeitschriften, zur Welt und Christ und Welt, und wurde gern gesehener Autor im Stern, aber auch in Publikationen links der SPD, etwa der Konkret, wobei es ihm stets um die Selbststilisierung eines intellektuellen Habitus mit ausgeprägtem »Auftrittsverlangen« zu tun war: »Passend zu der unverblümten Arroganz seiner Thesen hat sich Haffner damals als verachtungsstrotzender Dandy inszeniert. Zurückgelehnt, die Haare über dem wohlgenährten Gesicht streng nach hinten gekämmt, die Mundwinkel tief heruntergezogen, eine angebrannte Zigarette in der erhobenen Hand – so blickte er den Lesern von Konkret allmonatlich entgegen.«135
133 Hans Dichgans an Alfred Andersch, 6.11.1962, in: DLA, A: Alfred Andersch. 134 Alfred Andersch an Hans Werner Richter, 23.1.1963, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 446. 135 So die Interpretation eines zeitgenössischen Fotos bei Schmied, Sebastian Haffner, S. 318.
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Obwohl Haffner sich nicht scheute, auf Veranstaltungen der DFU und nationalneutralistischer Kreise aufzutreten,136 verfügte er über hervorragende Kontakte gerade zum Fernsehen. 1963 lieferte er zum Jahrestreffen der Gruppe 47 in der ARD einen Bericht über eine Dreiviertelstunde zur besten Sendezeit. Größere Beachtung hatte zuvor noch kein literarischer Verbund in der Nachkriegszeit erfahren. Wie isoliert diejenigen waren, die nicht sofort gegen das polizeiliche Vorgehen gegenüber dem Spiegel protestieren mochten, zeigte sich an der Reaktion innerhalb des westdeutschen PEN-Zentrums. In einem Telegramm der Verbandsspitze an den Bundesinnenminister am 29. Oktober 1962, das als Rundbrief auch den Mitgliedern zugänglich gemacht wurde,137 zeigte man sich besorgt über »die möglichen Folgen« der Polizeiaktion. »Sollte sich nämlich herausstellen, dass der Fall harmlos war, so muss dieser spektakuläre Schritt dem Ansehen der Bundesrepublik als eines freiheitlichen Staates einen lang nachwirkenden Schaden zufügen.«138 Dem folgte ein zweites Telegramm mit der Forderung nach vollständiger Transparenz, das kein großes Presseecho fand: Das PEN-Zentrum halte es für seine Pflicht, »Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, zu bitten, eine Erklärung abzugeben, die die vielen noch im Zwielicht liegenden Hintergründe völlig klarstellt«.139 Krämer-Badoni, seit Mai 1962 Generalsekretär des PEN-Zentrums, schickte noch ein weiteres Telegramm hinterher, das allein von der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Darin bekundete er seinen Kummer als langjähriger Anhänger der Regierung, dass der Bundestag ein lächerliches Bild abgegeben habe; die Verantwortlichen sollten sich ins Privatleben zurückziehen. In der Süddeutschen Zeitung wurde Krämer-Badoni Respekt gezollt, er galt ihr als Vertreter einer »heimatlosen Rechten«.140 Innerhalb des eher passiven PEN-Zentrums, eines Zusammenschlusses von zu diesem Zeitpunkt gut 100 meist älteren männlichen Prominenten, herrschte Lethargie. Beifall erhielt Krämer-Badoni nicht, die meisten missbilligten aber die zunächst nichtöffentliche, dann nur auf Transparenz und Klarstellung zielende Intervention. Hans Werner Richter und Ernst Schnabel hielten das Vorgehen des PEN-Zentrums für erbärmlich. Schnabel erklärte seinen Austritt: »Ich bin keinesfalls bereit, solche Dinger länger mit mir zu vertreten. (…) Glaubt Krämer-Badoni wirklich, wir hätten nichts Wichtigeres im Sinn gehabt, als ihn zu meinen mit unserem Protest? (…) Glaubt er das wirklich in all seiner Schreibseligkeit?«141 »Er (Krämer-Badoni; A. S.) hat in der letzten Zeit aber einen solchen hysterischen Feldzug gegen alle linken Leute gestartet, dass er mir jetzt höchlich miss136 137 138 139 140 141
Vgl. ebd., S. 268 ff., 281 ff. Vgl. zahlreiche Dokumente in BAK, Nl. Rudolf Pechel, III/107. Zit. nach Hanuschek, Geschichte, S. 225. Süddeutschen Zeitung, 16.11.1962, zit. nach Hanuschek, Geschichte, S. 225. Ebd., S. 225 f. Ernst Schnabel an Bruno E. Werner (Präsidiumsmitglied des PEN-Zentrums), 8.12.1962, in: Archiv AdK, PEN West, 91.
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fällt. Ich habe mich informieren lassen, dass seine Kampagne viel älter ist als meine Beobachtungen. Mir war das entgangen. Ich fand sein Protokoll von der letzten Tagung widerwärtig …«142 Aber Krämer-Badoni sei nur der Hintergrund, nicht der Grund für seinen Austritt aus dem PEN-Zentrum, der ihm schwerfalle. Die Verantwortung für die peinlich unkritische Position trage der Vorstand, der immer noch zu seinem ersten Telegramm stehe. Die eigentlich bedeutsame Kontroverse aber spielte sich nicht zwischen der Majorität der Regierungskritiker und den wenigen Relativierern und Verteidigern der Regierungspolitik ab, sondern unter den Kritikern selbst. Die 36 Unterzeichner des Manifests, darunter Alfred Andersch, Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Johnson, Leonhardt, Ledig-Rowohlt, Richter, Rühmkorf, Raddatz, Reich-Ranicki, Schnurre, Schnabel, Unseld, Walser, Weiss und Wagenbach, protestierten nicht nur gegen einen »Akt von staatlicher Willkür«, sondern erklärten »die Unterrichtung der Öffentlichkeit über sogenannte militärische Geheimnisse für eine sittliche Pflicht«. Wegen dieser weitgehenden und prinzipiell pazifistischen Formulierung unterschrieben 15 der anwesenden Schriftsteller das Manifest nicht, darunter Günter Grass, der die Auffassung vertrat, ein linksintellektueller Pazifismus dieser Art habe zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen.143 Einige gaben Zusatzerklärungen ab, in denen sie betonten, dass es sich um »sogenannte militärische Geheimnisse« handle, zeige doch die Geschichte der Weimarer Republik, dass der Begriff der »militärischen Geheimnisse« missbraucht worden sei.144 Der Streit um das Manifest kennzeichnet – retrospektiv – einen weiteren Schritt der Ausdifferenzierung von linken, meist der Sozialdemokratie zugeneigten Intellektuellen, die im rechtsstaatlichen Rahmen Kritik übten, und radikalisierten Schriftstellern, die sich als Neue Linke gegen »das System« wandten und den Polizeiübergriff als Bestandteil des »Systems« einordneten. Für letztere war die so empfundene politische Zurückhaltung des Nachrichtenmagazins, das die Affäre nicht als Fanal des Kampfes ansehen mochte, eine weitere Bestätigung ihrer Skepsis gegenüber Augstein. In einem Brief an Wolfgang Koeppen äußerte sich Alfred Andersch: »Ich werde das Gefühl nicht los, das wir uns da für etwas Falsches eingesetzt haben. Man kann nun wirklich eine ganze lange Zeit lang sich an nichts mehr beteiligen, man muss die deutschen Dinge auf sich beruhen lassen, nur noch aus
142 Ernst Schnabel an Bruno E. Werner, 18.12.1962, in: ebd. 143 Zit. nach Rita Leinecke, Die Gruppe 47 und die Öffentlichkeit, in: Gendolla/Leinecke, Gruppe 47, S. 64-86, Zitat S. 81; vgl. Geppert, Staatsskepsis; Bering, Epoche, S. 354 ff.; die kontroversen Positionen stiften bis heute Streit unter Historikern. 144 Zit. nach Wagenbach, Vaterland, S. 200; vgl. Hans Werner Richter, Die »sogenannten militärischen Geheimnisse« (7.11.1962), in: ebd., S. 201 f.
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den Augenwinkeln beobachten. Die persönlichen Perspektiven, die ich ziehe, treffen sich in einem Punkt sehr weit links.«145 Was damit gemeint war, hatte Andersch in einem Brief an Max Bense, der ein kurzes Porträt über ihn verfasst hatte, in zwei Punkten zusammengefasst. Zum einen sei er kein »Antibolschewist – niemals. (…) Bei Lenins Ziegenbärtchen beschwöre ich Dich, diese Definition zu entfernen. (Ein) Bewunderer Adornos – zugegeben, war mal, bin es aber heute nicht mehr.«146
3.2 Von der Suche nach Internationalität zur »Suhrkamp Culture« Die Protestwelle der Jahre 1958 bis 1962, die sich mit wechselnden Themen – »Kampf dem Atomtod«, Algeriensolidarität, dem Engagement zur Bundestagswahl 1961 und schließlich den Stellungnahmen im Zusammenhang mit der »Spiegel-Affäre« – zunehmend radikalisiert hatte, trug zum einen mit den dabei gemachten Erfahrungen indirekt zur Differenzierung der Positionen der Intellektuellen bei, zum anderen wurde die Protestwelle begleitet von der Suche nach einer Neuen Linken und dazu passenden theoretischen Bezügen. Dass sich einzelne Strömungen von Sinndeutern immer wieder um ein neues publizistisches Forum herum vergesellschaften wollten, kennzeichnet die Intellektuellengeschichte – mindestens – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Konjunkturen solcher Versuche lassen sich nicht schematisch auf bestimmte politische oder kulturelle Ereignisse beziehen, sondern drücken eher die Reaktion – kritisch oder affirmativ – auf zeitgeistige Trends aus. Das Besondere war für die Jahre um 1960 in der Bundesrepublik die Suche nach einer internationalen Zeitschrift, um dem kulturellen deutschen Hinterwäldlertum zu entfliehen. Die Suche scheiterte letztlich an unüberwindbaren Sprachproblemen, aber mit wichtigen nicht intentionalen Folgen. Ende 1964 erschien eine Nullnummer der Revue Internationale, dann wurde das Projekt aufgegeben. Da sich dieser Suchprozess in der Sphäre der Planung und zum Teil widerstreitender Interessen und Konkurrenten vollzog, lässt er sich vor allem über edierte und in den Archiven vorhandene Korrespondenzen aus der Zeit von 1958 bis zur Mitte der 1960er Jahre nachvollziehen, entschlüsseln und deuten, wobei zahlreiche widersprüchliche Aussagen und Erinnerungslücken Probleme bereiten.147 Zumindest er-
145 Alfred Andersch an Wolfgang Koeppen, 26.12.1962, in: DLA, A: Alfred Andersch. 146 Alfred Andersch an Max Bense, 12.9.1962, in: DLA, A: Alfred Andersch. 147 Die beiden wichtigsten Briefeditionen in diesem Zusammenhang: Uwe Johnson – Siegfried Unseld, Der Briefwechsel. Hrsg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt a. M. 1999. Ingeborg Bachmann/Hans Magnus Enzensberger, »Schreib alles was wahr ist auf«. Der Briefwechsel. Hrsg. von Hubert Lengauer, München/Berlin 2018.
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gibt sich daraus der Kontext einer wachsenden Internationalität der Publizistik148 durch Übersetzung von wichtigen Texten aus dem Ausland als kulturpolitisches Signum der »langen 60er Jahre« (Anselm Doering-Manteuffel). Das heuristische Konzept der kulturellen Übersetzung149 war zwar nicht völlig neu, hatte aber gegenüber entsprechenden Projekten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit den großen Vorteil eines durch Medienberichte und eigene touristische und geschäftsmäßige Verbindungen enorm vergrößerten Kommunikationsraums. Aus dem Umkreis der katholischen Intellektuellen ist etwa Günter Schiwy zu nennen,150 der systematisch intellektuelle Beziehungen nach Frankreich knüpfte und vertiefte. Nach zwanzigjähriger Zugehörigkeit zum Jesuitenorden ließ sich Schiwy Ende der 1960er Jahre in den Laienstand zurückversetzen, weil er über die Rücknahme von Reformen des II. Vatikanischen Konzils enttäuscht war. Zwei Jahrzehnte arbeitete er danach im Lektorat des Münchener Verlags C. H. Beck. Auch Heinrich Böll gehörte zum Spektrum der katholischen Intellektuellen, er unterstützte von linkskatholischer Seite Anfang der 1960er Jahre die Gründung einer Zeitschrift Labyrinth, die allerdings mit einer Auflage von wenigen 100 Exemplaren wieder einging,151 während die Werkhefte katholischer Laien einen dezidiert linkssozialistischen Kurs einschlugen, allerdings hier gegen die Konkurrenz neuer Gründungen nicht bestehen konnten. Dem politisch grundierten Projekt einer »internationalen Zeitschrift« gingen Versuche voraus, ein literarisch ausgerichtetes Blatt zu konzipieren, nachdem Texte und Zeichen an ihr Ende gelangt waren. So bat etwa der vielseitig begabte Hans G. Helms, er arbeitete als Schriftsteller, Historiker und Komponist, Adorno um einen Rat für ein von ihm bei Neven du Mont Schauberg geplantes Zeitschriftenprojekt mit weitem kulturellen Horizont in englischer Sprache, das den Titel Contexts erhalten sollte.152 Adorno erklärte seine Bereitschaft, als Autor mitzuwirken: 148 Roland H. Wiegenstein/Fritz J. Raddatz (Hrsg.), Interview mit der Presse. 12 internationale Zeitungen stellen sich, Reinbek 1964; dass unter den interviewten Chefredakteuren der Zeitungen und Magazine – L’Express, La Stampa (Turin), ABC (Madrid), Zycie Warszawy, The Guardian, The Observer, The Times, New York Times – ein Drittel von westdeutschen und Schweizer Blättern (Spiegel, NZZ, SZ und Stern) gestellt wurde, liefert einen Hinweis auf ein gewachsenes Selbstbewusstsein. Abschlägig beschieden wurden die Herausgeber von der Times, von den Springer-Blättern Welt und Bild sowie von der Iswestija, Corriere della Sera und Le Monde. 149 Vgl. zur neueren Diskussion Simone Lässig, Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung? Überlegungen zu einem analytischen Konzept und Forschungsgegenstand für die Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 38, 2012, S. 189-215. 150 Günther Schiwy, Intellektuelle und Demokratie heute. Plädoyer für beide, Würzburg 1966. 151 Vgl. Schubert, Heinrich Böll, S. 146 ff., hier S. 149. 152 Hans G. Helms an Theodor W. Adorno, 17.9.1957, in: TWAA/AdK, Nl. Theodor W. Adorno; Adorno schätzte Helms vor allem als Komponist, der u. a. mit Karl-Heinz Stockhausen eng zusammengearbeitet hatte. Von 1957 bis 1968 existiert eine dichte Korrespondenz zwischen Adorno und Helms.
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»Also, prinzipiell möchte ich sehr gern mittun. Nur, ich weiß buchstäblich nicht, was ich Ihnen in diesem Augenblick für einen Text geben soll, weil ich nichts Unpubliziertes habe, was dem entspräche, was Sie – und ich – von einer solchen Sache zu erwarten hätten. Sie müssen also da noch etwas Geduld haben. (…) Einem Verleger gegenüber würde ich gern den Plan befürworten, wenn Sie mich wissen lassen, an wen gedacht wird, und freilich auch, wenn ich etwas konkreter über den Plan orientiert bin.«153 Helms skizzierte daraufhin umgehend sein Programm, »Bekanntgabe aller neuen Gedanken, Erkenntnisse, Ergebnisse und Intentionen und deren kritische Reflexion in Kunst (Literatur, Musik, Malerei, Plastik, Architektur, Film, Tanz usw.), Philosophie, Soziologie, Kulturkritik und deren technischen Zweigen.« Die Hefte in englischer Sprache sollten unregelmäßig im Umfang von 150 Seiten erscheinen. Als Autoren für die erste Ausgabe wünsche er sich u. a. »Adorno, Benjamin, Kracauer, Horkheimer …«154 Adorno ging auf freundliche Distanz über, denn bei aller Sympathie erschien ihm das »Entscheidende, das Ziel der Zeitschrift, (…) doch noch allzu vag«. Zudem müsse er seine Mitarbeit davon abhängig machen, »daß Lukács nicht in der Zeitung schreibt; daß er jetzt, weil er einmal den Anschluß an die gerade herrschende Generallinie versäumte, im Westen eine Art secret cow geworden ist, kann mich nicht vergessen lassen, daß er die stursten Dinge im Sinne des sozialistischen Realismus geschrieben hat, die dadurch nicht besser werden, daß er ein schlechtes Gewissen dabei hatte«.155 Eine Rolle beim höflichen Rückzug von Adorno spielte sicherlich auch die weitgehende Dominanz von Autoren aus dem Umkreis des alten Instituts für Sozialforschung, deren Renaissance nicht im Interesse der Frankfurter Dioskuren lag.156 Die Politisierung seit der 58er-Bewegung ging über das Konzept einer solchen Kulturzeitschrift hinweg, sollte doch gerade nach dem Schlüssel für einen linken Wandel der politischen Kultur gesucht werden. Hans G. Helms selbst wandte sich in den 1960er Jahren ökonomischen Fragen in einer dezidiert linksradikalen Perspektive zu. Die zahlreichen Initiativen für eine neue Zeitschrift sind insgesamt noch kaum ausgeleuchtet, etwa der von Günter Grass 1960 kurzzeitig verfolgte Plan einer polemischen Vierteljahresschrift.157 Zunächst ist dabei festzustellen, dass das in den Korrespondenzen so genannte »internationale« Zeitschriftenprojekt, das 1962/63 im Zentrum der Diskussionen hinter den Kulissen stand, tatsächlich als kontinentaleuropäisches, im Kern 153
Theodor W. Adorno an Hans G. Helms, 17.9.1957, in: TWAA/AdK, Nl. Theodor W. Adorno. 154 Hans G. Helms an Theodor W. Adorno, 21.9.1957, in: ebd. 155 Theodor W. Adorno an Hans G. Helms, 27.9.1957, in: ebd. 156 S. Kapitel II.4.3. 157 Vgl. Bachmann/Enzensberger, Schreib …, S. 253
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deutsch-französisch-italienisches konzipiert werden sollte. Auf französischer Seite zeigte vor allem Gallimard großes Interesse, in Italien war es Einaudi, jeweils führende Verlagshäuser. Und mit den Zeitschriften Menobò di Litteratura und Lettres Nouvelles standen prominente Zeitschriften als Reservoir zur Verfügung.158 Enzensberger hatte seine Hoffnung, aus den romanischen Ländern käme die geistige Entwicklungshilfe für die linksunabhängigen westdeutschen Intellektuellen, 1963 apodiktisch formuliert: »selbst in einem nest wie bologna gibt es mehr wahrhafte intellektuelle als in frankfurt zusammengenommen«; und ein Jahr später: »in italien geht einem auf, welche dimensionen das politische analphabetentum in deutschland hat.«159 Es handelte sich also um die Hoffnung, in der politischen Kultur der beiden romanischen Hauptländer – in Spanien herrschte noch die klerikal-falangistische Diktatur Francos – den geistigen Schlüssel für linksintellektuelle Positionen zu finden,160 die allerdings niemals konkretisiert wurden. Nur ausnahmsweise kam es zu einem heftigen Streit, als die beteiligten deutschen Schriftsteller die Texte des Franzosen Roland Barthes als zu »spekulativ-theoretisch« ablehnten. Dies wiederum erboste die italienischen Kollegen, darunter Elio Vittorini und Italo Calvino.161 Aber von einer inhaltlich bestimmten Diskussion konnte keine Rede sein. Hier verband sich eine eklatante theoretische Hilflosigkeit mit kommunikativen Grenzen durch sprachliche Probleme. Die Hervorhebung von Italien hatte freilich auch durchsichtige materielle Gründe, und das war in diesem Fall die über seine Ehefrau Inge gegebene enge Verbindung des finanzkräftigen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, der mit den linksunabhängigen deutschen Intellektuellen, um 1968 herum vor allem mit Rudi Dutschke, sympathisierte. Ganz selbstverständlich äußerte Hans Werner Richter zum Beispiel die Hoffnung, dass der Multimillionär, den er aus Unkenntnis hartnäckig als »Fretenelli« ansprach, einen von ihm ausgerichteten internationalen antifaschistischen Kongress finanzieren würde: »Lieber Robert Jungk (…) Ich bin übrigens sehr für einen internationalen oder europäischen antifaschistischen Kongress. Wenn es notwendig ist, werde ich ihn mit meinen ›Hilfskräften‹ vorbereiten und auch das Präsidium übernehmen. Was wir dazu brauchen ist Geld. Ist Fretenelli wirklich bereit, einen solchen Kongress zu finanzieren? Wenn ja, bin ich bereit, mich mit ihm irgendwo zu treffen, oder auch nach Mailand zu fliegen. Außerdem planen wir eine Art Braunbuch. Es liegt sehr viel Material dafür vor, erstaunliches Material. (…) 158 Vgl. ebd., S. 145. 159 Hans Magnus Enzensberger an Alfred Andersch, 30.1.1963, 20.10.1964, jeweils in: DLA, A: Alfred Andersch. 160 Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich (1945-1956), Köln 2007; Österreich wurde allerdings bei den Zeitschriftenplänen kaum genannt; die Bedeutung von Ernst Fischer und anderen dissidentischen kommunistischen Intellektuellen erhöhte sich erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. 161 Vgl. Bachmann/Enzensberger, Schreib …, S. 140.
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Auch dazu brauchen wir sehr viel Geld. Fretenelli könnte mit einem solchen Buch in Deutschland als Verlag starten.«162 Ein weiterer möglicher Mäzen, den Hans Werner Richter allerdings skeptisch betrachtete, saß in Hamburg: Rudolf Augstein. An den jungen deutsch-amerikanischen Schriftsteller Reinhard Lettau (1929-1996), der zeitweise in der Bundesrepublik, zeitweise in San Diego lebte, schrieb Richter: »Augstein möchte offensichtlich sein Geld wieder los werden. Ich weiß aus der jungen Generation nur einen Mann, der sich zum Schriftsteller entwickeln kann: Reinhard Baumgart. Er hat das Zeug dazu. Alle anderen: Enzensberger, Johnson usw. sind viel zu egozentrisch. Amery ist ganz ungeeignet. Ich sage dies, obwohl ich sehr mit ihm befreundet bin. Er ist trotz Begabung ein zweiter Mann, der immer eine Lokomotive vor sich braucht. (…) Ich habe kein Vertrauen zu Augstein. Fünfzehn Jahre Erfahrung haben eben auch ihr Gewicht.«163 Die skeptische Haltung Richters gegenüber Augstein war im Übrigen spiegelbildlich. Interessant ist, dass der heute nur noch Germanisten bekannte Literatur- und Theaterkritiker Baumgart (1929-2003) wenige Monate nach Richters Einschätzung beim Spiegel als regelmäßiger Rezensent von Büchern begann, zeitgleich mit dem Start der dort veröffentlichten Bestsellerliste.164 Der Herausgeber des Spiegel verfolgte den Plan einer dreisprachigen, alle zwei Monate erscheinenden Zeitschrift, über die 1961/62 auf Grund eines Vorschlags von Enzensberger unter dem Arbeitstitel Gulliver verhandelt wurde.165 Augsteins verlockendes Angebot war eine »nationale Literaturzeitschrift« mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren. Allerdings verlor er nach der Spiegel-Affäre offenbar das Interesse an einem solchen Projekt,166 wenngleich 1966 weiter – ergebnislos – an einem ähnlichen Zeitschriftenplan mit dem Titel Heute gearbeitet wurde. Mit dem Engagement von Enzensberger für die internationale Zeitschrift erfolgte Anfang 1962 eine Konkretisierung der Pläne. In der deutschen Redaktion saßen über den Zeitraum von zwei Jahren hinweg Ingeborg Bachmann, Walter 162 Hans Werner Richter an Robert Jungk, 7.10.1960, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 4319; allerdings wäre die Annahme, die westdeutschen Intellektuellen wären die alleinigen Initiatoren des Projekts »internationale Zeitschrift« gewesen, während die Italiener nur als Zulieferer der Infrastruktur dienen sollten, falsch, kamen Anstöße doch auch aus Italien, und die Tatsache, dass in der Korrespondenz mitunter auch von »Revue Internationale« die Rede war, zeigt, dass aus unterschiedlicher nationaler Perspektive die publizistische Verdichtung ein gemeinsames Anliegen war. 163 Hans Werner Richter an Reinhard Lettau, 20.7.1963, in: AdK, Nl. Reinhard Lettau, 137. 164 Vgl. Merseburger, Rudolf Augstein, S. 331 ff. 165 Bei der Präsentation immer neuer Arbeitstitel zeigten die Planer sich ausgesprochen kreativ. Neben Gulliver wurden genannt: Guernica, Delta, Jerichow, Work in Progress, Discorsi, Diskurs, letzterer von Unseld; vgl. Magenau, Martin Walser, S. 186. 166 Ebd., S. 187.
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Boehlich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Uwe Johnson, Peter Rühmkorf und Martin Walser. Deutscher Träger wurde der Suhrkamp-Verlag. Zuvor hatte der Verlag S. Fischer erklärt, selbst nur zur Verfügung zu stehen, wenn der Suhrkamp-Verlag kein Interesse daran hätte. Nach einiger Bedenkzeit erklärte Unseld, sein Verlag werde das Projekt tragen. Insofern ist die Formulierung überspitzt, Uwe Johnson sei es gelungen, den Verlag S. Fischer und Klaus Wagenbach »heraus zu drängen und durch Suhrkamp und sich selbst zu ersetzen«.167 Bei der Darstellung der Planungen und ihrer Akteure wird hier – den Quellen folgend – eine deutsche Perspektive übernommen. Deshalb ist zu betonen, dass es keineswegs so war, dass die Intellektuellen der Bundesrepublik die Initiatoren stellten, während die Kollegen aus den romanischen Ländern Infrastruktur und Finanzierung sicherten. So wurden etwa konkrete Pläne erstmals Mitte März 1962 auf dem Kongress der Comunità Europea degli Scrittori (COMES) in Florenz gefasst. Man hätte erwarten können, dass zumindest für die westdeutsche Seite der Mauerbau und die damit verbundene hermetische Abgrenzung der beiden deutschen Staaten voneinander ein Ende oder zumindest eine längere Unterbrechung der Planungen bewirkt hätten. Offenbar gab es zwar heftige interne Diskussionen, aber keine direkte Auswirkung auf die geplante internationale Zeitschrift. Enzensberger schrieb, sehr pessimistisch gestimmt, Mitte Oktober 1961 an Andersch: »das zeitschriften-projekt, wenigstens so wie es war – so gut wie gesichert und unterwegs – ist am 13. August zerschellt. (…) an der berlin-krise ist, so scheint es mir, die entente (immer schon eine gebrechliche und vorläufige entente) der dreißigjährigen zugrundegegangen. nach außen hin ist der vorgang durch die offenen briefe von graß und schnurre sichtbar geworden. nach innen sind die risse im gebälk noch weit verheerender. bei leuten, die wir mehr oder weniger zu den unseren gezählt haben, ist ›linke‹ zu einer art schimpfwort geworden. selbst leute wie höllerer verlangen nun plötzlich einen ›harten kurs‹ und ›sofortige maßnahmen‹. graß ist der meinung, am 13. august hätte der westen schießen sollen, eine minderheit betet unterdessen die thesen ulbrichts nach. Ich kann mich mit keiner dieser positionen abfinden. daraus habe ich für meinen teil die konsequenzen gezogen, auf die zeitschrift zu verzichten. dieser meinung ist auch johnson, der der einzige ist, dessen urteil nicht gelitten hat.«168 Die Entscheidung Unselds fiel zusammen mit einem Zwischenspiel um Rettung oder Ende des Merkur.169 Paeschke schrieb an Enzensberger, der sich an seinem 167 Michalzik, Unseld, S. 142 f.; für die Korrektheit der Darstellung spricht, dass Helmut Heißenbüttel beim SDR im August 1962 die Genehmigung der Mitarbeit im Planungsstab der Zeitschrift als Nebentätigkeit beantragte; Helmut Heißenbüttel an Hans Bausch, 22.8.1962, in: Archiv AdK, Nl. Helmut Heißenbüttel, 590; der Antrag wurde am 17.9.1962 akzeptiert. 168 Hans Magnus Enzensberger an Alfred Andersch, 18.10.1961, in: DLA, A: Alfred Andersch. 169 S. Kapitel II.3.2.
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Wohnsitz in Norwegen befand, Unseld trage sich mit dem Gedanken, dass Suhrkamp den Merkur übernehmen sollte, habe sich aber noch nicht entschieden.170 Schon einen Tag später hatte er freilich mitzuteilen, dass er sich mittlerweile dagegen entschieden habe. Die Begründung, das finanzielle Risiko sei beträchtlich, verstehe er, nicht aber das Argument, der Inhalt der nicht nur literarischen Seite der Zeitschrift werde von ihm nicht geteilt.171 Wie wenig Paeschke in die internationalen Pläne eingeweiht war, zeigt ein weiterer Brief nach Norwegen: »Ihre Nachricht von der internationalen Zeitschrift stimmt mich in dieser Lage natürlich sehr nachdenklich. Können Sie mir sagen, wer sie von deutscher Seite aus machen wird: Rowohlt? Oder will Suhrkamp doch?«172 Auch dass Paeschke sich nur schwer von seinem Hausautor, dem rechtskonservativen Schriftsteller Hans Egon Holthusen, trennen mochte, der gerade nach New York ging,173 spricht dafür, dass er, aber auch Enzensberger sich den Merkur kaum als linksliberales oder gar sozialistisches Kulturmagazin vorstellen mochten. Dass die Gründung einer Zeitschrift, die sich zum Organisator des neuen Selbstbewusstseins linker Schriftsteller machen würde, in der Luft lag, zeigte sich etwa beim Plan des Luchterhand-Verlags, Alfred Andersch’ Texte und Zeichen, an denen man nach wie vor die Rechte besaß, erneut herauszubringen – ohne Andersch.174 Dieser Plan versandete ebenso wie die Idee einer Kulturzeitschrift in Verbindung von Gruppe 47 und der Zeitschrift Konkret, die 1964 ihre finanzielle Unterstützung aus der DDR verloren hatte. Die offensichtlichen Verbindungen von Richter zur »Halbagenten-Zentrale« Ost-Büro der SPD und dessen Ablehnung einer Politisierung der Gruppe 47 hätten diese Idee allerdings sehr bald zunichte gemacht. Immerhin profitierte Klaus Rainer Röhl, der etliche neue Autoren für die Konkret aus dem Umkreis der Gruppe 47 rekrutieren konnte.175 Das endgültige Ende des Projekts einer internationalen Zeitschrift kam 1963. Nachdem man sich Anfang des Jahres in Zürich getroffen und Festlegungen über Artikel für die ersten Nummern getätigt hatte, auf deutscher Seite waren dafür Günter Grass und Martin Walser verantwortlich, wurde im April 1963 in Paris der Abbruch des gesamten Projekts beschlossen.176 Ein gemeinsames Gefühl rebellischer linker Unabhängigkeit mit elitären intellektuellen Zügen reichte nicht aus, das ersehnte nationale und – vor allem – sprachliche Grenzen überwindende Projekt einer internationalen Zeitschrift zu realisieren, zumal deutlich geworden war, dass damit wohl keine lukrativen Honorare verbunden sein würden.
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Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 4.1.1962, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 5.1.1962, in: DLA, D: Merkur. Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 18.141962, in: DLA, D: Merkur. S. Kapitel III.4. Hans Magnus Enzensberger an Alfred Andersch, 10.6.1962, 24.7.1962, in: DLA, A: Alfred Andersch. 175 Röhl, Fünf Finger, S. 202 ff. (Zitat S. 203). 176 Magenau, Martin Walser, S. 189.
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Allerdings führte das Scheitern des Projekts nicht zurück zu nationaler Selbstbezogenheit, sondern zu einem Phänomen, das heute unter dem Rubrum »Suhrkamp Culture« diskutiert wird und zugleich Elemente sich zu lokalen Milieus verdichtender Gemeinschaften sowie ein spezifisches Theoriegemisch umfasste, zu dem die Neugier auf Texte der sogenannten Dritten Welt, aus Lateinamerika, China und Afrika, gehörte.177 Geburtsstunde und Basis dieses intellektuellen Phänomens war die Gründung der Reihe »edition suhrkamp« (es) im Mai 1963178 mit der legendären puristischen Gestaltung durch Willy Fleckhaus in jeweils einer der Farben des Regenbogens, die – zusammen aufgestellt – einen spektakulären Blickfang boten; bei Abnahme des äußeren Umschlags boten sich die Bände dem Betrachter in einem einheitlichen hellen Grau bzw. abgematteten Weiß dar.179 Die edition suhrkamp stellte mit jeweils 48 Bänden im Jahr, Originalausgaben für preiswerte drei DM, gerade für junge Intellektuelle ein attraktives Angebot dar. Die Mischung bestand aus deutscher und internationaler Literatur, wichtigen theoretischen Texten aus der Philosophie und Wissenschaft, mit einem Schwerpunkt auf der Kritischen Theorie seit der Zwischenkriegszeit unter anderem von Benjamin, Horkheimer, Herbert Marcuse, Adorno und Bloch, sowie programmatischen Texten aus der aktuellen internationalen Diskussion der Neuen Linken. Eine große Rolle spielten am Rande auch die bewährten Titel aus dem Suhrkamp-Programm seit der Verlagsgründung. Unter 125 Titeln der ersten drei Jahre fanden sich 17 ältere deutsche Texte, darunter dreimal Hesse, aber auch T. S. Eliot, Samuel Beckett und Hans Erich Nossack, sowie 47 Titel, die dem Umkreis der Gruppe 47 zugerechnet werden konnten, darunter Texte von Walser, Peter Weiss und Enzensberger. In kurzer Zeit – von 1964 bis 1965 – verdoppelte sich dabei der Anteil der theoretischen gegenüber den literarischen Texten von 20 auf 40 Prozent.180 Bewusst verweigerte sich Unseld den Avancen der neuen Taschenbuchreihe dtv, zu der sich 1961 etliche Verlage zusammengeschlossen hatten. Zwar war dort Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch« als erster Band erschienen, aber die meisten übrigen Autoren, Friedrich Sieburg, Karl Jaspers und andere, sagten jüngeren Intellektuellen nur noch wenig. Diese verlangten nach bisher kaum einbezogener genuin linker Literatur. Dafür stand unter den Autoren der Kritischen Theorie der nach wie vor im US-Exil lebende Herbert Marcuse, den man seit Beginn der Reihe heftig umwarb. Der verantwortliche Lektor wandte sich an ihn: »Verehrter Herr Professor Marcuse, in diesen Tagen erscheinen die ersten Bände der edition suhrkamp, einer neuen Bücherreihe, die neben Werken der modernen Literatur ausgewählte Arbeiten aus den Gebieten der Literaturwissenschaft, 177 Eine Habilitationsschrift des Literaturwissenschaftlers Lutz Hagestedt wurde nicht veröffentlicht. 178 Vgl. als instruktiven Überblick Raimund Fellinger (Redaktion unter Mitarbeit von Wolfgang Schopf ), Kleine Geschichte der edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003. 179 Ebd., S. 23 ff. 180 Ebd., S. 41.
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Philosophie, Soziologie und Theater- und Filmtheorie vorstellen soll. (…) Wir möchten Sie, verehrter Herr Professor Marcuse, zur Mitarbeit einladen und würden uns freuen, wenn Sie die Einladung annähmen. Können Sie sich, beispielsweise, einen Band mit Ausätzen von Ihnen in der edition suhrkamp vorstellen? Ich denke da unter anderem an Ihre in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienene Untersuchung ›Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung‹. Betrachten Sie das bitte nur als eine Frage an Sie, denn die Entscheidung darüber, welche Ihrer Arbeiten Sie aus der Hand geben, liegt selbstverständlich bei Ihnen.«181 Marcuse freute sich über die Einladung, antwortete umgehend und gab nur zu bedenken, dass aktuelle Arbeiten von ihm vielleicht interessanter wären. Adorno wiederum, den Marcuse von seiner Mitarbeit am Kursbuch informierte, versuchte seinen Kollegen zu einer »schneidenden Auseinandersetzung« mit der »analytischen Philosophie« zu bewegen.182 Dem verweigerte sich Marcuse prinzipiell. Der von Busch vorgeschlagene Text fand schließlich doch Aufnahme in der Reihe in den beiden Bänden von »Kultur und Gesellschaft« und wurde einer der wichtigsten theoretischen Texte für die Diskussionen im Vorfeld der Protestbewegung von 1968. Die Hauptsache aber war, dass Marcuse als Autor in den festen Kanon der Kritischen Theorie aufgenommen wurde und angesichts seiner uneingeschränkten Sympathien für die Protestbewegung bis hin zur Rechtfertigung von Gewalt gegen »repressive Toleranz« als »Naturrecht« für unterdrückte Minderheiten sogar eine exponierte Rolle zugewiesen bekam. Die Korrespondenz mit dem Verlag wurde immer intensiver, wobei den Part bei Suhrkamp der Lektor Walter Boehlich übernahm, der Marcuse geradezu anflehte: »Lieber Herr Marcuse, wissen Sie, was Hölle und Fegefeuer zusammengenommen sind? Darin schmoren und leiden wir, weil Sie uns so gar nichts über den One-Dimensional Man erzählen. Nicht nur brennen wir auf die Lektüre, nicht nur wünschen wir den Liebesbund mit Ihnen fester zu knüpfen, sondern wir hören inzwischen auch Wunderdinge über das Buch selbst, die uns freilich nicht in Erstaunen setzen, da wir ja wissen, worauf der oben erwähnte Bund sich gründet. Es wäre scheußlich für uns, wenn Sie Luchterhands Werben den Vorzug gäben.«183
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Günther Busch an Herbert Marcuse, 3.5.1963, in: Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Nl. Herbert Marcuse, 1459.1-95. 182 Theodor W. Adorno an Herbert Marcuse, 4.10.1964; Herbert Marcuse an Theodor W. Adorno, 30.10.1965, in: ebd., 1004.1-68. 183 Walter Boehlich an Herbert Marcuse, 4.2.1964, in: ebd., 1459.1-95; Marcuse hatte die Rechte dafür bereits an Luchterhand abgetreten, bevor der Suhrkamp-Verlag an ihn herangetreten war, ermunterte diesen aber, sich um die Rechte zu bemühen.
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Boehlich selbst ging Mitte der 1960er Jahre zu linksradikalen Positionen über, auch bei ihm vermischten sich die Rollen des Lektors und des engagierten und zunehmend erbitterten Intellektuellen, wie aus einem Brief an Marcuse hervorgeht: »Ich wüßte gerne, wann in Deutschland eigentlich je eine Regierung gestürzt werden soll. Jede Woche neue Skandale und Ungeheuerlichkeiten, aber dieses Kabinett schleppt seinen stinkenden Körper weiter und wird uns, fürchte ich, alle überleben. Da schreien die Leute noch, daß der Hitler das deutsche Volk nicht für würdig befunden habe, ihn zu überleben. Diese Regierung, vor die Wahl gestellt, den völligen Ruin gerade noch einmal aufzuhalten und abzutreten oder aber zu bleiben und uns alle zu ruinieren, zögert genauso wenig wie unser Mann aus Braunau.«184 Manche Konservative mochten es bereits als Provokation empfunden haben, dass der erste Band Bertolt Brechts »Leben des Galilei« war, die Reihe also programmatisch mit einem Schriftsteller der DDR eröffnet wurde, der von der Bonner Regierung als Kommunist stigmatisiert worden war, aber mancherorts bereits die gymnasiale Lektüre der Oberstufe bestimmte. Auch seine Gesammelten Werke erschienen 1968 in der preiswerten Reihe es in zwanzig Bänden. Manche Suhrkamp-Autoren, so etwa Max Frisch und Enzensberger, waren – aus anderen Gründen – äußerst skeptisch, weil sie der Profanisierung der großen Literatur durch die billigen Buchausgaben keinen Erfolg prophezeien mochten. Bekannt ist das abfällige Diktum von Max Frisch: »Suhrkamp in Leinen, Suhrkamp in Dosen, Suhrkamp als Brotaufstrich, Suhrkamp, Suhrkamp, der Name wird grassieren, je weniger er heißt.«185 Doch die edition suhrkamp wurde nicht nur ökonomisch ein Riesenerfolg,186 sondern zugleich der größte intellektuelle Coup der 1960er Jahre und lieferte nicht zuletzt der Protestbewegung von 1968 einen theoretischen Background. Adorno zeigte sich äußerst angetan: »Daß die edition suhrkamp Dinge von mir bringt, ist mir besonders lieb. Die Form dieser Publikationsreihe sagt mir sehr zu. Sie vereint äußere Anspruchslosigkeit mit Strenge des sachlichen Anspruchs. Diese Verbindung verleiht dem Unternehmen unscheinbare Würde. Es ist so angelegt, daß es in jeglicher Hinsicht dem Leserkreis sich anmißt, den Autoren wie ich jedenfalls sich wünschen müssen.«187
184 Walter Boehlich an Herbert Marcuse, 22.2.1965, in: ebd.; vgl. zu Boehlich Helmut Peitsch, Der Angestellte und freie Mitarbeiter als Intellektueller, Walter Boehlich, in: Gansel/Nell, Denker, 109-130. 185 Max Frisch an Siegfried Unseld, 6.7.1962, zit. nach Fellinger, Geschichte, S. 25. 186 Ebd., S. 36 ff. 187 Theodor W. Adorno an Siegfried Unseld, 9.5.1963, in: DLA, Suhrkamp-Archiv, Ordner es: Gründung, Korrespondenz mit 80 Autoren (die Zahl der in der Akte genannten Autoren ist allerdings geringer).
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Einige Monate später bekräftigte Adorno seine positive Bilanz, als er seinem Freund Siegfried Kracauer über den Erfolg seiner »Prismen«, die als erstes seiner Taschenbücher bei es erschienen waren, mitteilte: »Es ist das erste meiner Bücher, das in einer Massenauflage als Taschenbuch erscheint, ich glaube, 25.000 Exemplare sind gedruckt. Gott allein weiß, wer das lesen soll.«188 Vergleichbar war der Erfolg allenfalls mit der für die 1950er Jahre intellektuell repräsentativen Reihe »rowohlts deutsche enzyklopädie«.189 Allerdings war es – abgesehen von den progressiven gegenüber eher liberalen, modernen konservativen und weit rechts einzuordnenden Texten – erweitert um literarische Texte einer gesellschaftlich engagierten Literatur, ein Ausdruck der Politisierung der Schriftsteller in den 1960er Jahren. Jene, die wie Adorno die rde und Grassi verabscheut hatten, begrüßten nun die Suhrkamp-Reihe. Nachdem 1963/64 die Verpflichtungen des Suhrkamp-Verlags für die internationale Zeitschrift erloschen waren, wurde umgehend die Herausgabe des eigenen Projekts vorbereitet, für das auch schon der Name feststand: Kursbuch. Enzensberger beanspruchte dafür von Anfang an die führende konzeptionelle Rolle, wie er in einem Brief Ende Juni 1964 an seinen Nachfolger beim Süddeutschen Rundfunk, Helmut Heißenbüttel, unmissverständlich darlegte: »Kursbuch eins soll anfang ›65 erscheinen, mit viel platz und ohne strenge periodizität, dh ein neues heft (kursbuch zwei) nur dann und erst dann wenn genug druckenswertes da ist. Ich weiß nicht ob du mit den deutschen zeitschriften zufrieden bist, ich bins nicht; sondern ich meine, ein heft sollte es doch geben, wo man ohne unerwünschte nachbarschaften auskommt. ich denke nicht an eine zeitschrift ‚für‹ (…dichtung, politik, soziologie usw), alle gegenstände sind möglich, darauf kommt es doch längst nicht mehr an, wichtiger erscheint mir, den festen gußformen einen garaus zu machen, dem ›essay‹, der ›rezension‹, der ›erzählung‹, die fast überall unbefragt herumstehen als ebensoviel gewohnheiten. ob das gelingt, ist die frage. (…) noch eines: das heft wird bei suhrkamp erscheinen, aber keine suhrkamp-zeitschrift werden. platz ist genug da, ungefähr 200 seiten. bezahlt wird anständig, immer noch zuwenig, aber nicht unmoralisch schlecht, eher besser als in anderen zeitschriften.«190 Enzensbergers Führungsanspruch, 1964 – im Alter von 34 Jahren – bereits Superstar des Kulturbetriebs, mochte niemand bestreiten. Die Maxime lautete: »Seit den Sechzigern gilt in der Bundesrepublik die Faustregel: Wer redet wie Enzensberger, fällt in keinem Salon unangenehm auf.«191 Die Frankfurter Poetik-Vorlesung 1964 war ein vom Feuilleton vielbeachtetes Event, hier inszenierte sich Enzensberger mit 188 Theodor W. Adorno an Siegfried Kracauer, 4.11.1963, in: DLA, A: Siegfried Kracauer. 189 S. Kapitel II.4.2. 190 Hans Magnus Enzensberger an Helmut Heißenbüttel, 29.6.1964 (Unterstreichungen im Brief ), in: Archiv AdK, Nl. Helmut Heißenbüttel, 45. 191 Alexander Smoltczyk, Der Fahrplaner der Lüfte, in: Der Spiegel, 14.12.1998, S. 214-216, Zitat S. 216.
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einem jugendlich wirkenden lässigen und zugleich politisch-polemischen Stil, der nicht zuletzt den akademischen Nachwuchs beeindruckte.192 Dies überdeckte teilweise die inhaltlichen Radikalisierungen, die Enzensberger in einem Zeitraum von wenigen Jahren durchlief. Dass Enzensberger dem Merkur-Herausgeber Paeschke einen Monat später sogar den bereits feststehenden Titel der Zeitschrift vorenthielt, spricht für den Bedeutungsverlust des bis dahin intellektuell zentralen Organs.193 Dabei entstammte der Titel der Suhrkamp-Zeitschrift sinngemäß Enzensbergers eigener Werkstatt politischer Lyrik, nämlich einem seiner berühmtesten Gedichte, dem 1957 verfassten Gedicht »ins lesebuch für die oberstufe«: »lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: / sie sind genauer. roll die seekarten auf, / eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht. / der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor / schlagen und malen den neinsagern auf die brust zinken. / lern unerkannt gehn, lern mehr als ich: / das viertel wechseln, den paß, das gesicht. / versteh dich auf den kleinen verrat, / die tägliche schmutzige rettung. / nützlich sind die enzykliken zum feueranzünden, / die manifeste: butter einzuwickeln und salz / für die wehrlosen. wut und geduld sind nötig, / in die lungen der macht zu blasen / den feinen tödlichen staub, gemahlen / von denen, die viel gelernt haben, / die genau sind, von dir.« Der Appell zum Abschied von ablenkender Dichtung und zu politischer Wachsamkeit und Partisanengesinnung angesichts nahezu allmächtiger manipulativer Unterdrückung radikalisierte sich in seinen noch bekannteren Versen im Gedichtband »landessprache«, wo er sich fragte: »Was habe ich hier verloren, in diesem Land«? Die Wendung, hier gehe es »rückwärts aufwärts«, brachte die subjektive Seite der »konservativen Modernisierung« in der Bundesrepublik, »diesem arischen Schrotthaufen«, auf den bittersten Begriff. Paeschke umwarb Enzensberger weiterhin, erbat einen Artikel zum Thema »Was ist heute links?«,194 bestellte aber bald auch den konservativen Rüdiger Altmann als Kritiker von Enzensbergers Kursbuch: und zwar der Nummer 4 mit dem Schwerpunkt zur »deutschen Frage«.195 Habermas wiederum versicherte dem Merkur seine Treue, auch gegenüber dem Kursbuch; hier meint man zwischen den Zeilen etwas mitleidige Töne gegenüber dem einstigen Förderer zu verspüren.196 Brüsk wies er den Vorschlag zurück, sich mit Arnold Gehlens Intellektuellenkritik zu befassen. »Über 192 Vgl. Toni Tholen, Der Intellektuelle als Nomade, Zum Essayismus Hans Magnus Enzensbergers, in: Weimarer Beiträge, Jg. 54, 2008, S. 182-201; Jens Ewen, Der Schriftsteller als Intellektueller. Hans Magnus Enzensbergers Problematisierungen eines zweihundertjährigen Denkmusters, in: Kroll/Reitz, Intellektuelle, S. 249-267. 193 Hans Magnus Enzensberger an Hans Paeschke, 26.7.1964, in: DLA, D: Merkur. 194 Hans Paeschke an Hans Magnus Enzensberger, 13.3.1963, in: ebd. 195 Hans Paeschke an Rüdiger Altmann, 4.3.1966, in: ebd. 196 Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 3.11.1966, in: ebd.; immer wieder machte Paeschke ihm Vorschläge für denkbare Aufsätze, etwa über das Modethema Kybernetik, ein
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Gehlens Propaganda für die NPD bin ich entsetzt, Faschismus ist, wenn man glaubt, nicht mehr argumentieren zu müssen. Das ist bei Gehlen zum ersten Mal der Fall.«197 Die für ein Jahrzehnt herrschende diskursive Hegemonie des Kursbuchs war nicht aufzuhalten. Es erschien erstmals Anfang Mai 1965 unter diesem Titel, sollte »ein bißchen Buchcharakter tragen«, jeweils 160 bis 200 Seiten umfassen und nicht die Interessen des Suhrkamp-Verlags vertreten; im Abonnement kostete es fünf DM, als Einzelheft acht DM.198 Für die erste Nummer hatte Günter Grass den 1. Akt seines Stücks »Die Plebejer proben den Aufstand« angeboten. Enzensberger war interessiert, denn nicht das Kursbuch habe sich dann zu verantworten, sondern man stelle es zur Diskussion. Allerdings kam es dann nicht zum Abdruck.199 Das Kursbuch war das geistige Kind Enzensbergers. Insofern ist der Titel »Enzensbergers Kursbuch« in der einschlägigen Darstellung treffend gewählt.200 Enzensberger war Genius und spiritus rector des Unternehmens und – nach Häufigkeit des Vorkommens zwischen 1965 und 1974 – der führende Autor.201 Aber sein redaktioneller Beitrag bezog sich auf Idee und Generalplanung. Die operative Arbeit lastete auf dem Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel, den Enzensberger mitunter als untergebenen Weisungsempfänger behandelte.202 Die erste, thematisch etwas beliebig wirkende Ausgabe setzte mit Beiträgen von Peter Weiss (»Frankfurter Auszüge«) und Martin Walser (»Unser Auschwitz«) eine programmatische Botschaft zum Abschluss des Frankfurter Prozesses. Inhaltlich entfaltete sich die Korrespondenz danach um die beiden Pole Internationalismus und »deutsche Frage« und betraf insbesondere die Nummern 2 und 4. In der Nummer 2 wurde unter anderen der algerische Arzt Frantz Fanon mit einem Essay »Von der Gewalt« vorgestellt, der den bewaffneten Kampf der Unterdrückten legitimierte. Die Rede von Fidel Castro vor den Vereinten Nationen sowie Dossiers zum Iran und Südafrika wurden präsentiert.203 Enzensberger schwebte eine Art internationale Rebellionstheorie vor. Damit setzte das Kursbuch Maßstäbe für die Beschäftigung mit den Befreiungskämpfen in der »Dritten Welt«, die sich Mitte
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Thema, das Habermas selbst 1963 angeregt hatte, zu dem er aber auch im folgenden Jahr nicht kam (s. die Korrespondenz ebd.). Jürgen Habermas an Hans Paeschke, 10.2.1967, in: ebd.; zu Gehlens Beitrag s. Kapitel III.4. Gullivers Erbe, in: Der Spiegel, 9.6.1965, S. 98 f. Johnson – Unseld, S. 367 f. Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011. Nach eigener Auszählung der Beiträge lag Enzensberger mit 14 an der Spitze, es folgten Peter Schneider (8), Karl Markus Michel (6), Martin Walser (5) und Fidel Castro, Lars Gustafsson und Heinz R. Sonntag (je 4). Vgl. die umfangreiche Korrespondenz zur Planung der Hefte 1-9, in: DLA, SuhrkampArchiv, Korrespondenz Hans Magnus Enzensberger – Karl Markus Michel – Siegfried Unseld, Mappen 1-4; die Intensität der Korrespondenz nahm stetig ab; insgesamt 77 Briefe waren es 1965/66, nur noch 23 im folgenden Jahr und 57 im letzten Zeitraum bei Suhrkamp 1967-1970. Hans Magnus Enzensberger an Karl Markus Michel, 12.3.1965, in: ebd.
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der 1960er Jahre – Ermordung von Lumumba unter Mitwirkung von CIA-Agenten, Biafra, Vietnamkrieg – beträchtlich intensivierten. Kursbuch 4 brachte als Prolog einen »Katechismus zur deutschen Frage«, danach einen von Enzensberger verfassten fiktiven Brief eines CDU-Parteifreundes an den Minister der Verteidigung Kai-Uwe von Hassel, in dem er vorschlug, ganz offen mit den Plänen zur Atombewaffnung der Bundeswehr zu operieren, weil sie durch die östliche Propaganda längst bekannt gemacht worden seien. Enthalten waren auch ein Dossier zum Anzeigenteil der Deutschen National- und Soldatenzeitung sowie Gedichte von Autoren aus der DDR. Ein Herzenswunsch von Enzensberger blieb unerfüllt, nämlich Adorno zu einem Beitrag über das Godesberger Programm der SPD zu bewegen. Seit 1961 hatte der sich mit immer neuen Begründungen dieser Bitte entzogen. Zunächst hatte er eingewandt, dass er kein Mitglied der Partei sei und nicht über Interna schreiben wolle. Nach der Bundestagswahl 1961 sah er die SPD so weit am Boden, dass er nicht nachtreten wollte. Und noch 1965 bekannte er, »tante de mieux« sozialdemokratisch zu wählen. Die dazwischen liegenden Ausgaben 3 (1965) und 5 (1966) standen zum einen (Nr. 3) im Zeichen der Diskussion von Michel Foucault und dessen Essay »Die Spuren des Wahnsinns« mit zugehörigen Dossiers unter dem Titel »Wahn und Politik«, womit auch eine neue Dimension der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte angelegt werden sollte. Dabei ließ sich trefflich disputieren, wieviel Neues diese Sichtweise bot. In Nr. 5 wurde der französische Strukturalismus mit Beiträgen von Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss dem westdeutschen Publikum vorgestellt, daneben fanden sich Klassiker der Sprachwissenschaft wie Ferdinand de Saussure und Ludwig Carnap, aber auch ein noch mindestens ein Jahrzehnt in vielen universitären Seminaren intensiv diskutierter Aufsatz des DDRLinguisten Manfred Bierwisch, der für die Verbindung von Strukturalismus und Marxismus bedeutsam war. In Nr. 6 (1966) standen der Vietnamkrieg, daneben die Entwicklung in China im Zentrum. Besondere Beachtung fanden Beiträge von Bo Gustafsson (»Versuche über den Kolonialismus«) und Maurice Dobb (»Wirtschaftliches Wachstum und unterentwickelte Länder«), in denen weitgehend marxistische Kategorien zur Anwendung kamen. Besonders erregte ein Disput zwischen Enzensberger und Peter Weiss die jüngere Leserschaft. Während Enzensberger eine klare Trennung zwischen armer »Dritter Welt«, dem Süden, und reicher Nordhälfte postulierte, kritisierte Weiss eine solche dualistische Auffassung, die letztlich den Klassenkampf in den Metropolen zur Hilfe für die »Dritte Welt« herabstufe. Eben der Klassenkampf bestimmte die – ansonsten sehr deutsch – konzipierte Nr. 7 (1966). Die Ausgabe enthielt u. a. Heiner Müllers Stück »Die Lohndrücker«, einen Essay von Reinhard Lettau »Über den Feind« und Dossiers zum Wirtschaftstag der CDU und zur »deutschen Frage«. Beiträge zur Brecht-Lukács-Debatte ergänzten den literaturhistorischen Teil. Neben der literarischen und essayistischen Seite – repräsentiert durch die edition suhrkamp – und dem als hegemoniales gesellschaftspolitisches Organ konzipierten 700
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Kursbuch versuchte Unseld auch als Theorieproduzent eine führende Rolle einzunehmen. Der enorme Erfolg von Ludwig Wittgensteins »Tractatus logico philosophicus« in der Reihe es hatten ihn wohl dazu bewogen. Die organisatorischen Ursprünge und Divergenzen gehen aus dem Briefwechsel von Jürgen Habermas mit dem an der Freien Universität in West-Berlin lehrenden jüdischen Theologen und Philosophen Jacob Taubes hervor. Zunächst war an eine weitere Zeitschrift gedacht, ein Plan, von dem Habermas bald abrückte: »Lieber Herr Taubes, ich muß sehr um Verzeihung bitten, daß ich meine Meinung über das Zeitschriftenprojekt geändert habe. (…) An diesem Projekt habe ich kein Interesse. Ich würde eine solche Zeitschrift lesen, aber nicht machen wollen.« Worauf es ihm ankäme wäre, »in der einen oder anderen Form die alte Zeitschrift für Sozialforschung zu erneuern«. Er, Taubes, wäre dafür der geeignete spiritus rector.204 Unseld, von Taubes informiert, kam noch einmal auf seinen Plan zurück: »Gedacht war (und ist!) an eine Zeitschrift mit dem Titel ›Theorie‹. Sie sollte den Versuch unternehmen, Grundlagenforschung zu betreiben, gleichzeitig aber auch Analysen unserer modernen Gesellschaft zu geben.« Unabhängig voneinander sähen Habermas und Taubes den Ansatzpunkt im Bezug auf die Traditionen der Kritischen Theorie. Habermas beurteile allerdings die Möglichkeit einer Zeitschrift dafür skeptisch. Letzte Vorschläge von Taubes liefen auf »Hefte über Themen wie Linguistik, Energetik, Mathematik, Informationstheorie, Sexualtheorie etc.« hinaus. Dabei habe er nicht wissen können, dass »Enzensberger seine Zeitschrift Kursbuch exakt in diese Richtung entwickeln will« und längst nicht mehr auf eine reine Literatur- oder Kulturzeitschrift eingegrenzt wissen wollte.205 Letztlich setzte sich die Auffassung von Habermas durch, die 1966/67 zur Gründung der Buchreihe »Theorie« führte, für die neben ihm und Taubes die Philosophen Hans Blumenberg, Dieter Henrich und Reinhart Koselleck als Berater fungierten.206 Suhrkamp und Theorie verbanden sich damit für einige Jahre fast als Synonyme und wurden »für mindestens zwei Generationen von Studenten kanonisch«,207 wobei hinter den Kulissen heftige Auseinandersetzungen tobten und ein erhebliches Misstrauen zwischen den Beteiligten bestand; es handelte sich eben nicht um eine gemeinsam entwickelte Theorie, sondern um ein sehr heterogenes Feld, in dem sich der intellektuelle Diskurs und persönliche Ressentiments, am stärksten zwischen Adorno und Habermas auf der einen und dem von Friedrich Nietzsche und Carl 204 Jürgen Habermas an Jacob Taubes, 24.6.1965, in: DLA, Suhrkamp-Archiv, Mappe Suhrkamp/01/VL/Autorenkonvolute (Habermas, Jürgen – Unseld, Siegfried [1963-1968]); das in Marbach liegende Suhrkamp-Archiv bildet – in Form eines von der Volkswagenstiftung 2012-2016 geförderten »Internationalen Forschungskollegs (Graduiertenkollegs) – einen Schwerpunkt der Forschungstätigkeit des DLA. 205 Siegfried Unseld an Jürgen Habermas u. a., 30.9.1965, in: ebd. 206 Vgl. dazu demnächst umfassend Morten Paul, der als Mitglied des Internationalen Forschungskollegs dazu seit 2012 eine ganze Reihe von Aufsätzen zu Themen aus diesem Umkreis veröffentlicht hat. 207 Michalzik, Unseld, S. 148.
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Schmitt beeinflussten Taubes auf der anderen Seite, eng verwoben. Ein Brief von Adorno an Marcuse bietet tiefe Einblicke: »Unterdessen sah ich übrigens den Taubes und hatte wie immer den zwiespältigsten Eindruck; einerseits ist er uns wirklich sehr ergeben, andererseits traue ich ihm keinen Augenblick. Sein Verhältnis zu uns ist wohl das des von Fromm seinerzeit analysierten parasitären Charakters (…) Und solche Leute können diejenigen, mit denen sie sich identifizieren, sehr leicht auswechseln. (…) Auf jeden Fall muß alles, was Taubes betrifft, strikt unter uns bleiben.«208 Einstweilen, bis zum Ende der 1970er Jahre, übte allerdings Habermas, der erst 1963 von Luchterhand zu Suhrkamp wechselte und dafür mit seiner Familie nach Frankfurt zog, die führende Rolle aus. Er prägte für zwei Jahrzehnte die an der klassischen Aufklärung orientierte gesellschaftskritische Orientierung in der TheorieReihe, der in der abendländischen Eschatologie irrlichternde Taubes drang mit seiner Faszination für romantisches und konservativ-revolutionäres Gedankengut – noch – nicht durch. In den 1970er Jahren fungierte er als Türöffner für den radikalen Philosophen Paul Feyerabend und seinen anarchistischen Irrationalismus (»Bürgerinitiative statt Erkenntnistheorie«).209 Die Rede von der »Suhrkamp Culture« kennt zwei Deutungsweisen, eine engere und eine weitere. Für Unseld gehörten dazu lediglich die Texte und Autoren seines Verlags, die er immer wieder demonstrativ – etwa innerhalb der Gruppe 47 – als Avantgarde vom darunter stehenden Rest der Schriftsteller hervorhob. In einem weiteren Sinne bildete der Suhrkamp-Verlag das Zentrum für die Neue und neugierige Linke; das schloss allerdings eine ganze Reihe anderer, meist kleinerer Verlage und neuer Zeitschriften ein, die nur kursorische Erwähnung finden können.210 Eingangs dieses Kapitels war davon die Rede, dass sich die politischen Strömungen der Intellektuellen in den 1960er Jahren insofern konzentrierten, als katholischabendländische und nationalprotestantische ebenso wie neutralistische Positionen erodierten. Auf der einen Seite standen demnach moderne konservative Intellektuelle, andererseits gab es die linke Politisierung und Radikalisierung derjenigen, die sich in den 1950er Jahren als »Nonkonformisten« inszeniert hatten. Von diesen beiden Seiten sei die konsensliberale transatlantische Mitte bedrängt worden. Dieser 208 Theodor W. Adorno an Herbert Marcuse, 21.12.1965, in: Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., Nl. Herbert Marcuse, 1004.1-68; vgl. Morten Paul, Vor der Theorie. Jacob Taubes als Verlagsberater, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 4, 2012, H. 4, S. 29-34; Müller-Doohm, Jürgen Habermas, S. 141 ff.; Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015, S. 54 ff. (hier S. 55); dessen Annahme einer Freundschaft zwischen Marcuse und Taubes erscheint vor diesem Hintergrund eher fraglich. 209 Paul Feyerabend, Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a. M. 1979; Übersetzung der 1978 publizierten englischsprachigen Originalausgabe. 210 S. Kapitel III.5.
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einfachen idealtypischen Anordnung korrespondierte allerdings eine große Vielfalt und Unübersichtlichkeit auf der linken Seite selbst, die auch mit einem weiten Begriff einer Neuen Linken schwer zu fassen ist, weil verschiedene inhaltliche Positionen nicht immer ihren vergemeinschaftenden Ausdruck in medialen Zentren und Organisationen fanden, vielmehr in diesen selbst wiederum heftige Auseinandersetzungen provozierten. Je mehr Publikum ein Medium binden konnte, desto weniger homogen konnte seine Position sein. So öffneten selbst die liberalen Medien Spiegel und Zeit ihre Seiten gern den Beiträgen linksintellektueller Couleur, legten sich aber nicht auf eine bestimmte Position oder Strömung fest bzw. vermochten dies schon aus Rücksicht auf ihr Publikum nicht. Mit diesem Vorbehalt lässt sich das folgende Spektrum der Neuen Linken vorstellen. Auf der einen Seite stand die Suchbewegung nach einem neuen Subjekt der Revolution oder mindestens der Auflehnung gegen die als autoritär und manipulativ empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Entdeckung der Kritischen Theorie seit der Zwischenkriegszeit und neuere Analysen – vor allem der Verhältnisse in der »Dritten Welt« – und die Unterstützung der antikolonialen Befreiungskämpfe schienen das Passepartout für die eigene politische und zuerst publizistische Praxis liefern zu können. Dafür stand die legendäre »Suhrkamp Culture«. Aber selbst in ihrer weitesten Fassung war sie eben nicht einfach organisatorische Vorläuferin der antiautoritären Bewegung, wie es in den vielfältigen Erzählungen über 1968 behauptet wird, die dann gewöhnlich mit der Münchener anarchistischen Künstlergruppe »Spur« und der Situationistischen Internationale am Anfang des Jahrzehnts einsetzen. Dass die Sache komplexer war, hat bereits die kursorische Durchsicht der edition suhrkamp oder des Kursbuchs verdeutlicht. Nicht einmal Enzensberger – oder dieser schon gar nicht – lässt sich auf das Prokrustesbett dieser Interpretation schnallen. Und auch die Kritische Theorie ist nicht einfach mit den antiautoritären Impulsen zu identifizieren, die erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zum Ausdruck kamen. Mindestens ebenso wichtig war für die Neue Linke die Suche nach einem »humanistischen Marxismus« der Frühschriften von Marx, die Unabhängigkeit sowohl vom Elend der staatstragenden Sozialdemokratie wie vom scholastisch erstarrten Marxismus-Leninismus verhieß. Auch dies ist an den Programmen des Suhrkamp-Verlags, also des angeblichen Kerns der antiautoritären Neuen Linken, leicht nachzuvollziehen. Die Verbreiterung des Raums zwischen diesen beiden Polen ließ immer wieder neue Reibungsflächen entstehen. So fraktionierte sich die Gruppe 47 bis zu ihrer Auflösung in starkem Maße um die Stellung zur SPD. Eine Minderheit der ehemals nonkonformistischen Schriftsteller um Hans Werner Richter und vor allem Günter Grass hielt zur sozialdemokratischen Partei, jedenfalls bis zum Beginn der Großen Koalition Ende 1966, ein größerer Teil konnte in der SPD nur das kleinere Übel erkennen. In den Auseinandersetzungen des aus der Partei ausgeschlossenen Studentenverbandes SDS konnten sich linkssozialistische, marxistische und arbeitertümelnde Fraktionen, die sich mit jungen Kommunisten verbündeten, versammeln. Anfangs war die sogenannte Konkret-Gruppe um die von Klaus Rainer 703
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Röhl geleitete Zeitschrift bis ins Jahr 1968 gegenüber dem antiautoritären Flügel um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl in West-Berlin und Hans-Jürgen Krahl sowie dem psychoanalytischen Sexualforscher Reimut Reiche in Frankfurt, der 1966 zum Bundesvorsitzenden des SDS gewählt wurde, mindestens gleich stark – auch dies ein Hinweis auf die Überschätzung der antiautoritären Einflüsse. Die Skepsis bezieht sich dabei auf die intellektuellengeschichtliche Seite der jugendlichen Protestbewegung, nicht auf das internationale kulturhistorische Gesamtphänomen 1968, das mittlerweile eingehend untersucht worden ist.211 Zur Suche nach einer Position der Neuen Linken gehörte das Insistieren auf exakter Wissenschaftlichkeit, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Positivismus, die den Kritischen Theoretikern ein Herzensanliegen war. Gemeint war ein tiefgreifender Dissens hinsichtlich einer adäquaten Betrachtung der Gesellschaft, der auf weit zurückreichende Auseinandersetzungen verwies. Beim sogenannten Positivismusstreit ging es um die »Logik der Sozialwissenschaften«, darum, ob diese zur gesellschaftlichen Problemlösung beitragen könne, so die Pragmatiker des Kritischen Rationalismus wie Karl Popper und Hans Albert, oder den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang kritisch zu analysieren habe, wie es die Vertreter der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und andere vertraten. Es genüge eben nicht, so Adorno, dass »die logische Immanenz selber, unter Absehung von jedem besonderen Inhalt, zum alleinigen Maß erhoben wird«.212 Die sich gegenüberstehenden Protagonisten signalisierten zugleich idealtypisch eine eminent politische Konstellation: auf der einen Seite die 1933 aus Deutschland vertriebenen, meist jüdischen Sozialphilosophen, auf der anderen Seite jene, die sich von einer pragmatisch betriebenen Wissenschaft eine allmähliche Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse erhofften. Die Auseinandersetzungen darum wurden vor allem auf den legendären Soziologentagen 1959 und 1964 ausgetragen, auf denen die Interpretation von Max Weber einen Schwerpunkt bildete.213 Eben dieses »Prinzip immanenter Logik«, mit dem der Inhalt, die »konkret historische Allgemeinheit des Monopolkapitalismus«, durch eine affirmative »Methode« verdrängt werde, sollte aber seit der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt zunehmend die philosophische Begleitmusik der Sozialdemokratie orchestrieren. Trotz einiger Vermittlungsversuche, etwa Ralf Dahrendorfs,214 radikalisierten sich 211 Vgl. aus der kaum überschaubaren Forschungsliteratur die Standardwerke von Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008. 212 Theodor W. Adorno, Einleitung, in: ders. u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 1969, S. 7-80, Zitate S. 8, 11, 13 (mit einer kaum überschaubaren Menge an Neuausgaben). 213 Uta Gerhardt, Die Rolle der Remigranten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964 und die Interpretation des Werkes Max Webers, in: Krohn/Schildt, Zwischen den Stühlen, S. 216-243. 214 Vgl. Meifort, Ralf Dahrendorf, S. 113 ff.
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die gegenseitigen Anwürfe, entweder Handlanger gesellschaftlicher Manipulation zu sein oder totalitären Visionen das Wort zu reden, in den folgenden Jahren allgemeiner Politisierung.215 Die Entdeckung und positive Aufnahme der Kritischen Theorie durch jüngere linke Intellektuelle waren der entscheidende Faktor für deren Durchsetzung im Vorfeld von 1968. Rationalität und Aufklärung gegen klerikalen Obskurantismus in Stellung zu bringen, dazu sollte die Gründung der Humanistischen Union (HU) auf Initiative des langjährigen Leiters des intellektuellen Nachtprogramms beim Bayerischen Rundfunk, Gerhard Szczesny, dienen. Die HU besaß einen eigenen Studentenverband, die Humanistische Studentenunion (HSU), die in vielen Universitäten mit dem SDS, aber auch der Evangelischen Studentengemeinde, liberalen und sozialdemokratischen Hochschulgruppen zusammenarbeitete. Mit dem Jahrbuch Voltaire verfügte die HU auch über ein eigenes publizistisches Zentralorgan. Zugleich faszinierte viele, vor allem jüngere Intellektuelle, die eschatologische Marx-Interpretation, die in der Tübinger Residenz von Ernst Bloch ihr Zentrum gefunden hatte. Nicht zu unterschätzen sind die von hier ausgehenden Impulse zum marxistisch-christlichen Dialog. Von den aus der DDR in den Westen gegangenen Dissidenten übte Bloch den stärksten Einfluss aus, wobei auch hier die Positionen und neuen Erfahrungen in der Bundesrepublik ein breites Spektrum zeigen, das im Folgenden zumindest exemplarisch angedeutet werden soll. Rückblickend gewinnt man den Eindruck, als habe die DDR Ernst Bloch einerseits aus dem Lande treiben wollen, um damit den potentiellen Kern künftiger intellektueller Opposition von vornherein zu vernichten,216 auf der anderen Seite fürchtete man um die eigene internationale Reputation, galt doch Bloch eindeutig, wie Brecht im Bereich der Literatur, als wichtigster und angesehenster Philosoph der DDR. Repressive Maßnahmen konzentrierten sich auf seinen Schülerkreis, darunter Günter Zehm und Gerhard Zwerenz; sie wurden nicht nur zur Distanzierung aufgefordert, sondern auch polizeilich bedroht.217 Blochs Werke wurden in der DDR nicht mehr neu aufgelegt. Gerade dieser Umstand öffnete ihm das intellektuelle Feld in Westdeutschland, wo die Lektüre der DDR-Marxisten in der Regel 215 Vgl. Wiggershaus, Frankfurter Schule, S. 628 ff.; Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem Kritischen Rationalismus, Frankfurt a. M. 1994; Jürgen Ritsert, Der Positivismusstreit, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Eine andere Geschichte von der Wissenschaft vom Sozialen, Berlin 2010, S. 102-130. 216 Zum akademischen Philosophie-Umfeld in der DDR Norbert Kapferer, Philosophie in Deutschland 1945-1995. Grundzüge und Tendenzen unter den Bedingungen von politischer Teilung und Wiedervereinigung, Bd. 1: Die Jahre 1945-1970, Hamburg 2008, S. 123-194; zum weiteren politischen Kontext vgl. Mario Keßler, Exil und Nach-Exil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 33 ff. 217 Vgl. Gerhard Zwerenz, Wider die deutschen Tabus, München 1962, S. 137 ff.; Ingrid und Gerhard Zwerenz, Sklavensprache und Revolte. Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West, Hamburg/Berlin 2004.
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erst attraktiv wurde, nachdem sie in Ungnade gefallen waren. So war Ernst Bloch vom Merkur-Verleger Hans Paeschke seit 1958 umworben worden. Anfangs wollte Paeschke eine widersinnige Diskussion zwischen Bloch und Ludwig Marcuse, einem kulturpessimistischen Gegner jeglichen linken Gedankenguts, ins Blatt heben und holte sich eine Abfuhr. Aber auch in den folgenden Jahren bemühte sich Paeschke um Bloch und schlug vor, über das »geistige Leben in Mitteldeutschland« (1962) zu schreiben, erbat einen Vorabdruck aus »Atheismus und Christentum« (1967) und einen Artikel zum 150. Geburtstag von Karl Marx (1968).218 Entscheidend wurde die Verbindung zum Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld. Als dieser 1959 hörte, dass der Aufbau-Verlag Schwierigkeiten mache, den dritten Band von »Prinzip Hoffnung« zu edieren – er erschien dann doch noch bei Aufbau –, entschied er sofort, alle drei Bände bei Suhrkamp zu veröffentlichen. Ein Jahr später schloss Unseld einen Generalvertrag über die Herausgabe aller Bloch’schen Werke.219 Zuvor hatte dieser Avancen von Kiepenheuer & Witsch unter Hinweis auf den dezidierten Antikommunismus des Verlags abgewehrt. Dreimal wurde Bloch 1960/61 nach Tübingen zum Vortrag eingeladen. Auf der dritten dieser Reisen, die er mit seiner Frau Karola unternahm, und an die sich ein Urlaub am Chiemsee anschloss, wurde er vom Bau der Mauer überrascht. Unseld beschwor Bloch, im Westen zu bleiben. Auch sein Leipziger Kollege, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der sich gleichfalls in der Bundesrepublik aufhielt, sprach lange mit Bloch, entschied sich aber selbst für eine Rückkehr in die DDR.220 Gegen einige Widerstände setzte der Rektor der Universität Tübingen, Theodor Eschenburg, eine Gastprofessur für Bloch durch, er galt im Westen sofort als intellektueller Star. Hans Mayer, der sich 1961 noch dafür entschieden hatte, in die DDR zurückzukehren, tat den Schritt nach Westen zwei Jahre später dann doch. Mayer hatte in den 1950er Jahren zahlreiche Auslandsreisen unternommen, häufig in die Bundesrepublik, zehnmal allein in den beiden Jahren 1959 und 1960, aber auch in die Schweiz, nach Österreich, Italien, Griechenland, Frankreich, in die Niederlande und nach England. Immer wieder wurde er zu Tagungen eingeladen, seit dem Treffen der Gruppe 47 in Elmau 1959 von Hans Werner Richter regelmäßig auch dorthin. Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, Ingeborg Bachmann kannte er gut, etliche bat er in seine Leipziger Vorlesung. Auch im Nachtprogramm von Gerhard Szczesny im Bayerischen Rundfunk war Hans Mayer seit Ende der 1950er Jahre gern gesehener Gast.221 218 Korrespondenz in DLA, D: Merkur, Ernst Bloch. 219 Vgl. Michalzik, Unseld, S. 120 ff.; Zwerenz/Zwerenz, Sklavensprache, S. 356 ff.; vgl. Wolfgang Schopf, Auf den »Spuren« Blochs zu Suhrkamp, in: Bloch-Almanach, Bd. 28, 2009, S. 105-129. 220 Mayer, Deutscher II, S. 241 ff. 221 Hans Mayer an Walter Jens, 9.9.1959; Hans Mayer an Gerhard Szczesny, 8.1.1960, 20.1.1960, 1.2.1960, 5.4.1961, in: Hans Mayer, Briefe 1948-1963. Hrsg. u. komm. von Mark Lehmstedt, Leipzig 2005, S. 414 f., S. 424 ff., 469 f.
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Als namhafter Intellektueller genoss Mayer Privilegien und war in der DDR nach eigenen Angaben nicht von einer Verhaftung bedroht. Bis zum Tode von Thomas Mann 1955 galt er als einer der wichtigsten Propagandisten und Verbindungsleute des Nobelpreisträgers in der SBZ/DDR, wie zahlreiche Briefe und persönliche Treffen belegen.222 Aber wie bei Ernst Bloch wurde sein Schülerkreis drangsaliert und er selbst seit Ende 1956 von Informanten und mit »Telefonwanzen« des MfS im Rahmen des Vorgangs »Literat« intensiv überwacht, wobei es zahlreiche Hinweise auf den jeweiligen parallelen operativen Vorgang »Wild« (Bloch) gab.223 Hans Mayer wurde von einem Informanten »als ein typisch bürgerlicher Mensch eingeschätzt, ein Egoist (…) mit bestimmten Minderwertigkeitskomplexen ausgestattet, die (u. a.) davon herrühren, daß er jüdischer Abstammung ist und deshalb während des Faschismus und in der Emigration große Schwierigkeiten hatte.«224 Wie Ernst Bloch wurde Hans Mayer zudem in Artikeln führender Kulturfunktionäre als revisionistischer Abweichler abgekanzelt, wobei es die Parteidogmatiker besonders ärgerte, dass er sich nicht zu einer fruchtlosen Diskussion bereitfand, sondern schwieg.225 Hans Mayer kehrte schließlich nach einer Reise zu den Festspielen in Bayreuth nicht mehr in die DDR zurück. Seinen Entschluss, in der Bundesrepublik zu bleiben, gab er während einer Pressekonferenz des Rowohlt Verlags in Reinbek bei Hamburg am 2. September 1963 bekannt. Mayer begründete seinen Schritt mit der Kampagne, die von der SED, vor allem auf lokaler Ebene und in der Leipziger Universität, seit Jahren gegen ihn geführt wurde.226 Den Anfang der nach dem Westen ausreisenden linken Intellektuellen aus der DDR innerhalb der Fluchtwelle seit Ende der 1950er Jahre hatte Alfred Kantorowicz227 gemacht, der am 22. August 1957 in West-Berlin um Asyl bat. Nach dem Ende von Ost und West 1950228 war er Professor für Literaturgeschichte an der Ost-Berliner Humboldt-Universität geworden. Der Übertritt dieses Kulturkaders erregte beträchtliches öffentliches Aufsehen. Am gleichen Tag noch erklärte Kantorowicz seinen Schritt über den Sender Freies Berlin (SFB). Er habe
222 Hans Mayer an Thomas Mann, 20.10.1948, 23.12.1949, 30.7.1950, 8.10.1951, 25.5.1954, 12.12.1954, in: Mayer, Briefe, S. 12 f., 44-46, 71-77, 110-114, 209-213, 229-233; Mayer, Deutscher, II, S. 87 ff. 223 Mark Lehmstedt (Hrsg.), Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956-1963, Leipzig 2007. 224 Aktenvermerk zum Treff mit GI »Rengies«, 5.3.1957, in: ebd., S. 55. 225 Vgl. Alfred Klein, Unästhetische Feldzüge. Der siebenjährige Krieg gegen Hans Mayer (1956-1963), Leipzig 1997. 226 MfS: Information über eine dpa-Meldung o. D. (2.9.1963), in: Lehmstedt, Fall, S. 455. 227 S. Kapitel I.2. 228 S. Kapitel I.4.1.
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»diesen äussersten Entschluss durch Jahre und Jahre immer wieder hinausgeschoben (…), in der nachgerade verzweifelten Hoffnung, das Übermaß der Rohheit, Dummheit, Gewalttat, Rechtlosigkeit, die unendliche Schlammflut der Lüge, die Drosselung der geistigen Freiheit – dies alles seien nur Konvulsionen der Übergangszeit (…) nach der neuen Terrorwelle besonders gegen die Intellektuellen, die unter dem Gebelfer der Rabauken des Ulbricht-Apparates entfacht worden ist, habe ich nun auch die letzte Hoffnung, was sage ich: die letzte Illusion verloren, dass aus solchem Abschaum eine neue, bessere Welt geboren werden könnte (…) die Rechtlosigkeit, die Ausbeutung der Arbeiter, die geistige Verknechtung der Intelligenz, die Willkürherrschaft einer Clique von Unwürdigen, die den Inbegriff des Sozialismus schänden, so wie dereinst die Nazis den Namen Deutschland geschändet haben (sei nicht länger zu ertragen; A. S.). Ich bitte hiermit die zuständigen Behörden der Bundesrepublik, mir in dem von ihr gesicherten Teil meines Vaterlandes Schutz, Aufenthalt und Bürgerrecht zu gewähren.«229 Kantorowicz wurde in der Presse der DDR, wenig überraschend, als »Verräter« an der Sache des Sozialismus gebrandmarkt.230 Umso herzlicher war der Willkommensgruß manch alter Bekannter wie etwa Axel Eggebrecht231 und des einstmals nationalrevolutionären Karl O. Paetel, der aus New York schrieb, er freue sich, dass der »liebe Kanto« endlich seine Bindung gelöst habe, »die seit langem der ethischen und politischen Legitimation entbehrte«.232 Hans Werner Richter lud ihn umgehend zur Tagung der Gruppe 47 ein und garantierte: »Irgendwelche politischen Anrempeleien sind völlig ausgeschlossen.«233 Allerdings waren nicht alle Dissidenten einverstanden mit Kantorowicz’ Rundfunkerklärung. Ernst Niekisch bezeichnete sie als »dramatischen Abschluß« und »effektvollen Abschied«, der »Zweifel an seiner Intelligenz nahe(lege)«. Dass er bis 1957 brauchte, um zu wissen, »was wirklich ist«, sei jedenfalls nicht glaubhaft. Und zudem hätte er sich »keinesfalls (…) vom Westen als Kronzeugen mißbrauchen lassen (dürfen)«. Er schade damit nur den aufrechten kritischen Geistern, die in der DDR geblieben waren.234 Kantorowicz wurde in den folgenden Wochen und Monaten von den Medien umworben, um seine Motive zu erläutern. So meldete sich 229 Manuskript »Gebt mir Asyl« (8 S.) der Erklärung von Alfred Kantorowicz im SFB, 22.8.1957, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, A:607 230 Vgl. die Dokumentation Alfred Kantorowicz 100. Texte, Zeugnisse, Dokumente, Briefe, Gedichte. Redaktion Klaus Täubert (= europäische Ideen, H. 116), Berlin 1999, S. 30 ff. 231 Axel Eggebrecht an Alfred Kantorowicz, 12.9.1957, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, E 23. 232 Karl O. Paetel an Alfred Kantorowicz, 20.9.1957, in: ebd., P 1. 233 Hans Werner Richter an Alfred Kantorowicz, 18.9.1957, in: ebd., R 214-227. 234 Ernst Niekisch an Joseph E. Drexel, 23.8.1957, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 34 e; diese Bewertung machte sich Drexel im weiteren Verlauf der Korrespondenz nicht zu eigen; zur Biographie von Kantorowicz, der meinte, bereits das Regime der Stalinisten in Spa-
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der Spiegel, an einer spannenden Exklusiv-Story interessiert, druckte den Artikel von Kantorowicz dann aber nicht. Die Redaktion vermisste eine »unmißverständliche Antwort (…) auf die Frage, wie Sie nach dem Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik ihre Stellung zum Marxismus angesehen wissen wollen«.235 Einfühlsam schrieb ihm Marion Gräfin Dönhoff von der Zeit, sie könne sich vorstellen, dass »zunächst einmal zahllose Stellen« sich auf ihn »stürzen, teils aus Sensationslust, teils aus Neugier und sicherlich zum Teil auch aus echtem Interesse«. Aber nach einiger Zeit wäre er dann »ausgepresst wie eine Zitrone« und »einer gewissen Leere, die das Leben im Westen nun einmal auszeichnet, überlassen«. Sie lud ihn nach Hamburg ein, wenn dieser Zustand erreicht sein sollte, um »mit ein paar interessierten Leuten zu diskutieren«.236 Auch der Feuilletonchef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, zeigte sich noch Monate später interessiert an autobiographischen Beiträgen und an Artikeln über Heinrich Mann.237 Den Artikel über seine Motive, der DDR den Rücken zu kehren, erhielt die Zeit,238 die Dokumente zu Heinrich Mann gingen an die Frankfurter Allgemeine Zeitung.239 Die neuerliche Erklärung seines Weggangs stattete Kantorowicz mit einem zusätzlichen Argument aus. Neben dem Terror betonte er nun die »Diktatur der Spießer«; in der DDR herrsche nicht der Geist von Karl Marx, sondern des Turnvaters Jahn. In einem ausführlichen »Memorandum über die Gründe meiner Flucht aus Ost-Berlin« vom März 1958 nahm Kantorowicz eine weitere Akzentuierung seiner Biographie vor. Seine Parteizugehörigkeit sei »rein formal« gewesen, er habe »niemals das Vertrauen einer Parteistelle besessen«, sein Ziel sei stets die »Verständigung zwischen Deutschen guten Willens im humanistischen Geiste« gewesen.240 Diese Ausführungen, bei denen taktische Motive und Selbstsuggestion eine eigentümliche Mischung eingingen, sollten wohl auch sein Wiedergutmachungsverfahren, mittlerweile lebte Kantorowicz in München, befördern. Aber sie folgten nicht der Logik moderner Medien, die viel lieber ein Damaskuserlebnis als eine allmähliche und komplizierte Entfremdung vermarkten wollten. Die ausführliche Korrespondenz zwischen Kantorowicz und Gerhard Zwerenz, dem Bloch-Schüler und Schriftsteller, der zwei Wochen nach Kantorowicz in den
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nien hätte bei ihm zu einem inneren Bruch geführt, der zwei Jahrzehnte später vollzogen wurde; vgl. Rohrwasser, Stalinismus, S. 105-128. Zillinski/Spiegel an Alfred Kantorowicz, 2.9.1957, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, S 304; Kantorowicz erhielt ein Ausfallhonorar von 300 DM und den Hinweis, sein Artikel sei bei der Zeit willkommen. Marion Dönhoff an Alfred Kantorowicz, 4.9.1957, in: ebd., Z 12. Rudolf Walter Leonhardt an Alfred Kantorowicz, 13.3.1958; Alfred Kantorowicz an Rudolf Walter Leonhardt, 19.3.1958, in: ebd., Z 14-Z 15. Alfred Kantorowicz, Warum ich ging … Die Flucht aus Ostberlin – Selbstporträt eines Abtrünnigen, in: Die Zeit, 5.9.1957; 12.9.1957; 19.9.1957. Vgl. die Korrespondenz in Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, F 45 ff. Memorandum über die Gründe meiner Flucht aus Ostberlin, 24.3.1958, dok. in: Alfred Kantorowicz 100, S. 34-38.
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Westen wechselte, nachdem er aus der SED ausgeschlossen worden war und seine Verhaftung bevorstand, lässt die Motivlage und Gestimmtheit jener, die sich gegenseitig versicherten, der verratenen Sache treu geblieben zu sein, gut erkennen. Man habe eben nicht die Front gewechselt, so Zwerenz, sondern kämpfe weiter gegen die »Unmenschlichkeit« und die »Regimenter deutscher Subalternität«. Zwerenz sagte Kantorowicz für seine Bemühungen, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen, voraus: »Ich fürchte übrigens, Sie werden es bei den Statthaltern dieser Dummheit auch nicht leicht haben.«241 Außerdem warnte Zwerenz vor den »Renegaten alter Schule«, etwa Arthur Koestler, die »meinen, es gäbe nur Freiheit und Unfreiheit, Freiheit und Diktatur, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, wobei in manichäischer Weise das Licht im Westen und die Finsternis im Osten zu konstatieren sei«.242 Auch Zwerenz erfuhr im Übrigen umgehend Hilfe. Sein erster Roman »Die Liebe der toten Männer« erschien bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, dessen Verleger sich auch mit warmen Worten bei Gerhard Szczesny vom Bayerischen Rundfunk für ihn einsetzte, um ihm weitere Aufträge zu verschaffen.243 Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) befürchtete vor allem, »daß sich Mayer, Bloch und Kantorowicz zusammen tun und zu einem Zentrum der ideologischen Diversion auf kulturellem Gebiet werden können«.244 Aus diesem Grund wurde der Kulturfunktionär Wilhelm Girnus, Nachfolger des 1962 abgelösten unbotmäßigen Peter Huchel als Chefredakteur von Sinn und Form, damit beauftragt, Mayer zur Rückkehr zu bewegen. Da er ihn in Hamburg nicht antraf, hinterließ er nur einen Brief.245 Die Angst des MfS vor dem Aufbau eines Zentrums der linksintellektuellen DDR-Dissidenten in der Bundesrepublik korrespondierte – wie schon im Falle von Kantorowicz – mit dem tiefen Misstrauen des Verfassungsschutzes als federführender Behörde der Kommunismusbeobachtung. In einem ausführlichen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, unterzeichnet von dem leitenden Regierungsdirektor Dr. Nollau, wurde Mayer als »charakterlos« und, ungeachtet der SED-Kritik an ihm »wegen revisionistischer Tendenzen«, als »gefährlicher Kommunist« beschrieben. Der Bericht ging an alle Landesämter für Verfassungsschutz, die wiederum die Kultusministerien unterrichten sollten: »Von der Überlassung einer Professur wird dringend abgeraten.«246 Aber so weit reichte der Arm des 241 Gerhard Zwerenz an Alfred Kantorowicz, 28.4.1958, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, Z 96; die Briefbeziehung brach im Sommer 1961 ab, als man sich über die Frage zerstritt, ob öffentliche Erklärungen für inhaftierte Intellektuelle in der DDR zielführend seien. 242 Gerhard Zwerenz an Alfred Kantorowicz, 1.6.1958, in: ebd., Z 98. 243 Joseph C. Witsch an Gerhard Szczesny, 3.3.1959, in: Archiv IfZ, Nl. Gerhard Szczesny (ED 386/1). 244 MfS, HA V/1/II (Oltn. Schindler): Bericht, betr. Republikflucht von Prof. Hans MayerLeipzig, 23.8.1963, in: ebd., S. 453. 245 Ebd., S. 454. 246 VS Vertraulich: Betr.: Prof. Dr. Hans Mayer, geboren am 19.3.1907 in Leipzig; Anhang zum Schreiben von Markus Wolf an Erich Mielke, 11.2.1964, in: ebd. S. 487 f.
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Verfassungsschutzes offenbar nicht. Hans Mayer erhielt zwar keinen Lehrstuhl an einer traditionsreichen alma mater, aber immerhin wurde ihm, durch Vermittlung von Walter Jens und bereits ein Jahr vor dem Verlassen der DDR, eine Professur an der Technischen Hochschule Hannover angeboten, die sich in den folgenden Jahren allmählich zu einem Zentrum oppositioneller Strömungen entwickelte.247 1971 konnte sich dort auch Fritz J. Raddatz habilitieren. Für den in Polen lebenden Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der in den vorhergehenden Jahren vielfältige Kontakte zu Intellektuellen in der DDR und in der Bundesrepublik geknüpft hatte, fungierte Kantorowicz nach seinem Staatenwechsel als wichtige Kontaktperson für eigene Pläne. Von Warschau aus ließ er »Hans Werner Richter und andere Freunde in München (…) recht, recht herzlich« grüßen, und bald, nachdem er selbst, am 21. Juli 1958, in Westdeutschland eingetroffen war, meldete er sich erneut bei Kantorowicz.248 Allerdings fand sich ReichRanicki, anders als sein Kollege aus der DDR, sofort schreibend in der Zunft, und dies nicht nur mit Reminiszenzen seiner Jahre im Ostblock. Hans Schwab-Felisch riet ihm, sich an Friedrich Sieburg, den Leiter des Literaturblatts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zu wenden. Innerhalb kürzester Zeit lieferte er acht Rezensionen ab.249 Danach mochte ihm Sieburg zwar zunächst keinen Auftrag mehr geben, aber Reich-Ranicki war darauf auch nicht mehr angewiesen. An Hans Werner Richter schrieb er im Sommer 1959, nachdem er von München nach Hamburg umgezogen war, »daß es mir alles in allem nicht schlecht geht und daß ich erfreulicherweise recht viel für Presse und Rundfunk zu tun habe«. So war er bereits zu einem der wichtigsten Literaturkritiker bei der Tageszeitung Die Welt aufgestiegen, und das Feuilleton der Zeit beauftragte ihn mit der Besprechung von Grass’ »Blechtrommel«. Reich-Ranicki bat Richter, »bei Gelegenheit Freunde im Bayerischen Rundfunk auf meine Existenz aufmerksam zu machen«.250 Bald war er im Beziehungsnetz der Gruppe 47 eine Größe, enge Freundschaften verbanden ihn mit Walter Jens251 und Siegfried Lenz.252 Ende 1958 traf der junge Fritz J. Raddatz, gerade 27 Jahre alt geworden, stellvertretender Cheflektor und Leiter der Auslandsabteilung des Ost-Berliner Verlages »Volk und Welt«, in München ein. Auch er fand sofort ein Unterkommen. Auf Vermittlung von Erich Kästner, dem er zufällig auf der Straße begegnete, erhielt er,
247 Mayer, Deutscher, II, S. 257 ff., 263 ff. 248 Marcel Reich-Ranicki an Alfred Kantorowicz, 27.3.1958, 1.9.1958, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, R 64-66. 249 Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 395 ff.; vgl. Mariusz Koperski, Die Kritik mit Eigenschaften. Über Marcel Reich-Ranicki und seine Rolle in der Literaturkritik der Bundesrepublik, in: Studia Niemcoznawcze 22, 2001, S. 535-547. 250 Marcel Reich-Ranicki an Hans Werner Richter, 10.7.1959, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 280. 251 Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 418 ff. 252 Maletzke, Siegfried Lenz, S. 65 ff.
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nur Tage später, den Posten eines Cheflektors beim Helmut Kindler Verlag, ein Jahr später war er stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags. Eine Traumkarriere!253 Für Kantorowicz hingegen begann Anfang 1958 in München ein sich über Jahre hinziehendes Verfahren um seine Anerkennung als politischer Flüchtling. Dafür wandte er sich an alte Bekannte, die aussagen sollten, dass er sich schon immer für die deutsche Einheit eingesetzt habe und nicht allein wegen interner Auseinandersetzungen in der SED in die Bundesrepublik gegangen war.254 Carola Stern, Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch, lieferte die Erklärung eines aus der DDR geflüchteten Lehrers, Erhard Tamm, der bezeugte, dass Kantorowicz bereits 1954 oppositionell gedacht habe.255 Ebenso lautete der Tenor einer »Bestätigung« von Hans Werner Richter, der Kantorowicz von 1949 bis 1955 immer wieder in Bansin auf Usedom getroffen hatte, als er seine dort lebenden Eltern besuchte. In zahlreichen Gesprächen habe Kantorowicz »niemals ein Hehl aus seiner harten Kritik gegenüber dem System der sowjetisch besetzten Zone gemacht. (…) Kantorowicz’s Flucht kam für mich nicht überraschend. Sie war eine Folge seiner jahrelangen Tätigkeit gegen das System, nicht aber die Folge eines plötzlichen Entschlusses.«256 Diese Einlassungen führten aber zunächst nicht zur behördlichen Anerkennung als politischer Flüchtling. Die offizielle Haltung dieser Seite zitierte Kantorowicz in einem längeren Schreiben an Hans Zehrer, den Chefredakteur der Welt: »Das Arbeitsministerium ist der Auffassung, daß Kantorowicz keine Gefahr gedroht habe. Selbst wenn dies der Fall gewesen sei, habe er sich diese Gefährdung wegen Verletzung der kommunistischen Linientreue selbst zuzuschreiben gehabt.«257 In gewundenen Zeilen drückte Zehrer seine Solidarität aus und hob darauf ab, dass man wohl kaum von den Bewohnern der DDR fordern könne, linientreu zu sein.258 Auch an Marion Dönhoff wandte sich Kantorowicz,259 die mit ihm dann länger telefonierte und dafür sorgte, dass die Ablehnung als politischer Flüchtling in der Zeit kritisch kommentiert wurde. Auch deshalb wurde Hamburg attraktiv für linke Flüchtlinge aus der DDR. Kantorowicz bezog hier sein Domizil in einer engen Gelehrtenstube in der Winterhuder Sierichstraße. Zum 70. Geburtstag erschienen Briefe von Ernst Bloch, Heinrich Mann, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Her253 Raddatz, Unruhestifter, S. 163 ff. 254 Alfred Kantorowicz an Axel Eggebrecht, 20.2.1958, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, E 30. 255 Alfred Kantorowicz an Carola Stern, 20.2.1958, Carola Stern an Alfred Kantorowicz, 25.2.1958; Erklärung von Erhard Tamm, 27.3.1958, in: AdsD, Nl. Carola Stern, 52. 256 Hans Werner Richter: Bestätigung (o. D.), AdK, Nl. Hans Werner Richter, 3500-3501. 257 Alfred Kantorowicz an Hans Zehrer, 21.6.1958, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, W 77. 258 Hans Zehrer an Alfred Kantorowicz, 4.7.1958, in: ebd., W 77. 259 Alfred Kantorowicz an Marion Dönhoff, 23.6.1958, in: ebd., Z 29.
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mann Hesse, Arnold Zweig, Ernst Niekisch, Walter von Molo u. a. aus der Zeit von den 1930er bis zu den 1960er Jahren.260 In der Folgezeit wurde Kantorowicz immer wieder mit Aufträgen der Hamburger Medien bedacht. Sowohl in der Zeit als auch in der Welt schrieb er über seine Erfahrungen im Hochschulsystem der DDR. Als er dort in Leserbriefen als Stalinist verunglimpft wurde, tröstete ihn Walter Görlitz, der stellvertretende Chef des Kulturressorts der Welt: »es braucht viel Gelassenheit, um das sogenannte öffentliche Leben in der Bundesrepublik auszuhalten.«261 Die Korrespondenz von Kantorowicz steckte voller Klagen über soziale Isolation, Anfeindungen und Enttäuschung angesichts des »totalen Mangels an Kollegialität der hiesigen Schriftstellerverbände, literarischen Zirkel und Gesellschaften etc.«, die andererseits die Sendboten des SED-Regimes immer freundlich empfangen würden.262 Er lebe in einem »Niemandsland«, schrieb er an Arthur Koestler,263 und sah sich geradezu, wie er Fritz J. Raddatz mitteilte, als »Paria« zwischen allen politischen Stühlen: »Mir ist bekannt, wie Rowohlt von mir denkt – ebenso wie die Herren Frank, Weisenborn und tutti quanti. Ich bin nun halt mal ein Koordinationspunkt, auf den sich alle einigen: von ›Neues Deutschland‹ zur ›Soldatenzeitung‹, von dem Wurmfortsatz des Herren Johannes R. Becher, Abusch, bis zum Wurmfortsatz des Fraktionsvorsitzenden des BHE und vormaligen Endlösers Dr. Walter Becher, Minister Walter Stain und von den Schlamms zu den Nordens, den Hetzpfaffen zu den Funktionären, den Kommissaren des Kalten Krieges hier und den Agitatoren des Kalten Krieges drüben ganz allgemein und von Gysi zu Rowohlt im besonderen.«264 Die Selbststilisierung deutet an, wie sich Kantorowicz verortete, als unabhängiger Geist jenseits der Parteikommunisten, aber auch der rechtsextremen und nationalsozialistisch belasteten westdeutschen Eliten. Diese Positionsbestimmung war geeignet, um einen geachteten Platz im intellektuellen Betrieb der Bundesrepublik einzunehmen. Kantorowicz konnte seine autobiographische Fluchterzählung in einer großen, von Carola Stern im Südwestdeutschen Rundfunk eingerichteten
260 Heinz-Joachim Heydorn (Hrsg.), Wache im Niemandsland. Zum 70. Geburtstag von Alfred Kantorowicz. Beiträge und Briefe von Ernst Bloch u. a., Köln 1969. 261 Walter Görlitz an Alfred Kantorowicz, 21.11.1960, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, W 100. 262 Typoskript von Alfred Kantorowicz auf Basis eines Gesprächs mit Hans-Dietrich Sander, 3.8.1960, in: ebd., S 13. 263 Alfred Kantorowicz an Arthur Koestler, 6.10.1959, in: ebd., K 158; mit Arthur Koestler, der als »Renegat« zu den Rechten gegangen sei, rechnete Kantorowicz in einem Text 1964 ab; vgl. ders., Die Geächteten der Republik. Alte und neue Aufsätze, Berlin 1977, S. 150 ff. 264 Alfred Kantorowicz an Fritz J. Raddatz, 18.8.1960, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, K 158.
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Sendereihe präsentieren,265 die großen Blätter der Republik standen ihm offen, und namhafte Hamburger Mäzene, Gerd Bucerius und Alfred Toepfer, griffen ihm unter die Arme, als ihm 1964 wiederum der Flüchtlingspass C von den Behörden verweigert wurde.266 Zwei Jahre später erhielt er dann endlich den begehrten Schein. Ein Jahr zuvor endeten auch die jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen Ernst Niekisch und dem West-Berliner Senat, der ihm wegen der »besonderen Lage von Herrn Niekisch« im Januar 1965 eine einmalige Zuwendung in Höhe von 6.000 DM zuerkannte, die in monatlichen Teilbeträgen ausgezahlt wurde. In diesem Fall hatte sich der Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, Walter Fabian, intensiv eingesetzt und direkt an den Regierenden Bürgermeister gewandt.267 Niekisch schrieb an Kantorowicz als Schicksalsgenossen: »Sie haben viel Schweres durchmachen müssen, der Westen hat Sie nicht gut behandelt, ebenso wie auch mich, der ich keinen Anlaß habe, die Vorzüge des Westens dem Osten gegenüber ins Feld zu führen.«268 Der Wechsel dissidentischer Geister von Ost nach West hatte intellektuellengeschichtlich eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Zum einen symbolisiert er, generationell, den endgültigen Zerfall aller Hoffnungen auf ein besseres, antifaschistisches Deutschland, vor allem unter den fortschrittlichen, häufig jüdischen Exilanten. Zum anderen war damit keine Affirmation der westdeutschen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. Dort verstärkten die Bloch, Kantorowicz, Mayer, aber auch Raddatz, Reich-Ranicki, Zwerenz u. a. die liberale und linke Opposition gegen das Adenauer-Reich. Zwar blieben auch nach diesem Aderlass noch Intellektuelle in der DDR, und es wuchsen auch neue dissidentische Generationen heran, wie überhaupt die Ungleichzeitigkeit der individuellen Entscheidungen, den Bruch mit der kommunistischen Diktatur zu vollziehen, zu berücksichtigen ist. Gleichwohl: Die Abwanderung marxistischer Intellektueller in die Bundesrepublik im letzten Drittel der 1950er und im ersten Drittel der 1960er Jahre markierte eine tiefe Zäsur der ostdeutschen Intellektuellengeschichte, und zugleich hatte sie ihren Anteil an der Verbreitung des Marxismus in einer spezifischen humanistischen Akzentuierung unter westdeutschen Intellektuellen. Zwar gab es unter den intellektuellen DDR-Flücht265 MS »Das Ende einer Utopie. Hingabe und Selbstbefreiung früherer Kommunisten« (SWF/Kulturelles Wort/Nachtstudio, 6 Folgen, 1962), in: AdsD, Nl. Carola Stern, 26. 266 Richard Schmid, Der Fall Kantorowicz. Wäre der Professor 1931 Nazi geworden, ginge es ihm heute besser. In: Die Zeit, 3.7.1964; Bucerius unterstützte Kantorowicz in seinem Verfahren finanziell und mit juristischem Rat, Toepfer bot ihm für zwei Wochen sein Haus Heidetal im Naturschutzpark Lüneburger Heide zur Erholung an. 267 Meinert/Senatskanzlei an Walter Fabian, 1.2.1965, in: DNB/Deutsches Exilarchiv, Nl. Walter Fabian, Niekisch, Ernst und Anna. 268 Ernst Niekisch an Alfred Kantorowicz, April 1967, in: Heydorn, Wache, S. 96; der Wiedergutmachungsfall Niekisch wird nur unvollständig abgehandelt in Birgit Rätsch-Langejürgen, Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch, Bonn 1997, S. 314 ff.; eine Biographie zu Niekisch bleibt ein Desiderat.
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lingen einige, die sich bitter enttäuscht nach rechtsaußen wandten, wie etwa der einstige Assistent von Ernst Bloch in Leipzig, Günter Zehm, der unter den Springer-Journalisten den Flügel der besonders antikommunistischen Eiferer vertrat, oder Hans-Dietrich Sander, der als Kenner marxistischer Ästhetik galt und zum rechtsextremen Außenseiter wurde. Häufiger war hingegen unter den intellektuellen Westgängern zu hören, die DDR habe zwar nichts mehr mit den sozialistischen Idealen zu tun, aber deshalb werde man die kritische Haltung gegenüber der Bundesrepublik nicht aufgeben. Die intellektuellen Westgänger pflegten zwar mehr oder weniger enge Kontakte, fanden aber nie zu einer festen Gruppenbildung, etwa um eine Zeitschrift oder ein regelmäßiges Treffen.269 Bei der Untersuchung der Neuen Linken ist auch die enorme Geschwindigkeit von Positionsänderungen zu berücksichtigen. Der Ausstoß immer neuer Texte der edition suhrkamp, die abverlangte Lektüreleistung, der Entdeckerdrang vor allem junger Intellektueller konnten über Nacht aus einem Anhänger der Kritischen Theorie einen begeisterten Anhänger der Schriften von Georg Lukács machen. Letzterer vertrat seit Mitte der 1950er Jahre Positionen eines humanistischen Marxismus, war aber – vor allem bei Adorno – auf Grund seiner früheren orthodox marxistisch-leninistischen Standpunkte eine persona non grata. Im Falle von Lukács, der in den 1970er Jahren zur bevorzugten Lektüre in geisteswissenschaftlichen Seminaren avancierte, war es der junge Lektor Frank Benseler (Jg. 1929) bei Luchterhand, der die Rezeption energisch vorantrieb. Benseler, seit 1967 Cheflektor, stammte aus der linken katholischen Jugendbewegung und war in Köln 1958 mit einer Arbeit über die jugoslawische Verfassung promoviert worden. Er verschob die Richtung bald zu Autoren der Kritischen Theorie und des Marxismus, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas und Georg Lukács. Auf Benseler geht der Beginn einer Werkausgabe und zahlreicher Veröffentlichungen des ungarischen Marxisten zurück. Benseler übernahm auch die Redaktion der Reihe »Soziologische Texte«, die von Heinz Maus (1911-1978) und Friedrich Fürstenberg (Jg. 1930) herausgegeben wurde. Während Fürstenberg außerhalb der Fachwissenschaft nicht weiter hervortrat, war Heinz Maus, ursprünglich ein Schüler von Hans Freyer, als Gegner des Regimes im »Dritten Reich« zeitweise inhaftiert worden. Maus, der 1960 einen soziologischen Lehrstuhl in Marburg erhielt und dort zusammen mit Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann das Dreigestirn der »Marburger Schule« bilden sollte, war 1949 Assistent von Ernst Niekisch an der Ost-Berliner Humboldt-Universität gewesen, aber wegen der politisch bedrückenden Verhältnisse bereits 1951 an das Frankfurter Institut für Sozialforschung gegangen. Seine enge Verbindung mit Niekisch hatte er nicht aufgegeben. Gemeinsam mit Georg Lukács und Ernst Bloch empfahl er dem Luchterhand Verlag Anfang der 1960er Jahre dringend, Schriften von 269 Diese Beobachtung gilt auch noch für die später in die Bundesrepublik gelangten Dissidenten; vgl. Wolfgang Emmerich, Kleine Typologie der Weggegangenen, in: Ulrich von Bülow/Sabine Wolf (Hrsg.), DDR-Literatur. Eine Archivexpedition, Berlin 2014, S. 36-52, hier S. 41.
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Niekisch zu publizieren.270 Mit der Offenheit für sehr unterschiedliche sozialwissenschaftliche Ansätze unter Einschluss marxistischer Positionen avancierte der Luchterhand-Verlag in den 1960er Jahren, im Vorfeld der Studentenrevolte und im Schatten von Suhrkamp, zu einer wichtigen Adresse für linke Theorie. Was alle Intellektuellen in der Suchbewegung nach einer Neuen Linken zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus als kleinster gemeinsamer Nenner verband, war die offene Feindschaft zur konservativ-liberalen Bonner Regierung von Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard, der sich als »Atlantiker« vom Gaullismus distanzierte und als moderner »Volkskanzler« inszenieren wollte und die Ideologie des »christlichen Abendlandes« durch einen modernen Konservatismus ersetzen wollte.271 Die Spannungen zwischen Regierung und kritischen Intellektuellen schwelten auch nach dem Ende der Adenauer-Zeit weiter. Taschenbuchtitel des Rowohlt Verlags wie »Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten« (1963) oder »Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland« (1964), beide aus der Feder des eigenwilligen kritischen Theoretikers jüdischer Herkunft Ulrich Sonnemann, der erst 1955 aus dem Exil zurückgekehrt war, artikulierten allgemeine Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen und die Notwendigkeit der Gegenwehr. Die politische Zuspitzung verdeutlichte ein Titel bei der edition suhrkamp: »Der CDU-Staat«.272 An einem materialreichen und in ostentativer wissenschaftlicher Nüchternheit präsentierten Doppelband zu zentralen Themen wie der NS-Aufarbeitung, der Deutschlandpolitik, Strafrechtsreform und Bildungspolitik hatte vor allem eine Kohorte jüngerer Soziologen und Politikwissenschaftler – darunter Walter Euchner, Klaus Horn und Oskar Negt – mitgearbeitet, er erschien unter dem Titel »Politik ohne Vernunft oder Die Folgen sind absehbar« bei rororo-aktuell.273 Nachdem der Schriftsteller Rolf Hochhuth (Jg. 1931), der gerade mit seinem Bühnenstück »Der Stellvertreter« bekannt geworden war, im Spiegel unter der Überschrift »Der Klassenkampf ist noch nicht zu Ende« die Manipulation der Arbeiter in den Betrieben als »Klassenkampf von oben« gedeutet und eine systematische Begünstigung des Großunternehmertums durch die Regierung konstatiert hatte, brannten bei Ludwig Erhard alle Sicherungen durch. Vor dem Wirtschaftstag der CDU im Juli 1965, also im Vorfeld der Bundestagswahl, brach es aus ihm heraus: »Neuerdings ist es ja Mode, dass die Dichter unter die Sozialpolitiker und die Sozialkritiker gegangen sind. Wenn Sie das tun, das ist natürlich ihr gutes de270 Frank Benseler an Ernst Niekisch, 24.10.1961, in: BAK, Nl. Ernst Niekisch, 23 c; allerdings wurden dann die beiden von Niekisch angebotenen Manuskripte »Der Mensch im Gehäuse« und »Der globale Klassenkrieg« abgelehnt, weil sie nicht in diese und die parallele Reihe »Politica« passen würden; Redaktion Soziologische Texte/Kaltenbrunner an Niekisch, 18.10.1962, in: ebd. 271 S. Kapitel III.4. 272 Gert Schäfer/Carl Nedelmann (Hrsg.), Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1966 (41976). 273 Carl Nedelmann/Gert Schäfer (Hrsg.), Politik ohne Vernunft oder Die Folgen sind absehbar. 10 streitbare Thesen. Mit einem Vorwort von Walter Jens, Reinbek 1965.
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mokratisches Recht, dann müssen sie sich aber auch gefallen lassen, so angesprochen zu werden, wie sie es verdienen, nämlich als Banausen und Nichtskönner, die über Dinge urteilen, von denen sie einfach nichts verstehen. (…) Ich meine, das ist alles dummes Zeug. Die sprechen von Dingen, von denen sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. (…) Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.«274 Die bizarre Mischung von professoralem Habitus des Experten, elitärer Abwehr einer politischen Diskussion und rechtspopulistischen Anleihen überschattete den Wahlkampf; Erhard verstieg sich im Zusammenhang mit den »Pinschern« zu Ausführungen über »unappetitliche Entartungserscheinungen der modernen Kunst«.275 Wie der Erfolg des »Volkskanzlers« bei der Wahl zeigte, brachte Erhard mit seiner Suada durchaus Saiten der Vox populi zum Klingen. Aber nicht zuletzt sein Angriff auf die linken Intellektuellen führte zu einer Konstellation, in der sich diese noch einmal auf die Unterstützung der SPD verständigen konnten. Zum einen betraf das, analog der »Alternative« vier Jahre zuvor, die direkte publizistische Intervention über einen Band bei rororo-aktuell. In bewusster Zuspitzung durch eine Umkehrung des Titels in dem von Hans Werner Richter herausgegebenen Band entfiel dabei die Betonung der SPD als lediglich kleinerem Übel. Er lautete: »Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative«.276 In einem Brief an Heinrich Böll Ende 1964 hatte Richter bereits erste Überlegungen dafür skizziert: »ich habe mir lange überlegt, ob man die SPD bei dieser Bundestagswahl unterstützen soll oder nicht. Ich bin – trotz mancher Bedenken – zu der Ansicht gekommen, man soll. Es muß zu einer Ablösung kommen. Natürlich gibt es dann vorerst nur eine atmosphärische Veränderung. Das ist schon viel. Und was dann wird, weiß man nicht. Trotzdem: Ich möchte nun ein Taschenbuch zusammenstellen und zwar mit dem Arbeitstitel: ›Das Kabinett, das wir uns wünschen‹.«277 Für die in einem solchen Band versammelten biographischen Skizzen wünschte sich Richter von Böll ein Porträt des SPD-Vorstandsmitglieds Fritz Erler. Dem verweigerte sich dieser allerdings.278 Während zur Jahreswende 1964/65 noch ein nachdenklicher Ton mitschwang, entfaltete sich vor dem Hintergrund der Wahlkampfauseinandersetzungen im Umkreis der Gruppe 47 dann aber sogar ein gewisser Meinungsdruck, sich publizistisch für die SPD und damit für den Band zu engagieren. Es beteiligten sich neben den moderaten Kritikern der Sozialdemokratie 274 Wiedergabe in der Zeit, 30.7.1965, zit. nach Schiwy, Intellektuelle, S. 90. 275 Dok. in Wagenbach, Vaterland, S. 227 f.; vgl. Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996, S. 571 ff. 276 Hans Werner Richter (Hrsg.), Plädoyer für eine neue Regierung oder Keine Alternative, Reinbek 1965. 277 Hans Werner Richter an Heinrich Böll, 3.12.1964, in: Archiv AdK, Nl. Hans Werner Richter, 6793. 278 Heinrich Böll an Hans Werner Richter, 10.12.1964, in: Hans Werner Richter. Briefe, S. 544-546.
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eine ganze Reihe von prominenten linksunabhängigen Autoren, darunter Hubert Fichte, Ulrich Sonnemann, Peter Rühmkorf und Peter Weiss. Zum anderen wurde erstmals eine für intellektuelle Unterstützer interessante Form des Eingreifens erprobt, das sogenannte Wahlkontor der SPD mit der Idee, linke Schriftsteller als Redenschreiber für führende Sozialdemokraten zu beschäftigen. Das Projekt entstand vor allem durch enge Kontakte von Günter Grass zu Karl Schiller, eines damals besonders prominenten Mitglieds der Führungsriege. Auf der Basis einer gemeinsamen Erklärung von prominenten Schriftstellern und Publizisten, die als Anzeige im August 1965 in führenden Tageszeitungen erschien,279 arbeiteten 17 meist jüngere Autoren unter der Ägide von Günter Grass im Wahlkontor mit.280 Grass’ Aktivitäten fanden einige öffentliche Beachtung, wie Hans Paeschke an Holthusen schrieb, der sich schon seit geraumer Zeit in den USA aufhielt: »Grass zieht im Moment als Wahlredner der SPD durch die Lande und gibt häufig Anlaß, über ein neues, ja erstmaliges Ereignis in der unglücklichen Ehe zwischen Geist und Macht in Deutschland zu spekulieren.«281 Günter Grass, der seinen Standardvortrag stets mit der Parole »Ich rat Euch, ES-PE-DE zu wählen«, beendete, profilierte sich in der breiteren Öffentlichkeit als parteiloser, aber sozialdemokratisch engagierter Schriftsteller. Allerdings waren sich schon Zeitgenossen darüber einig, dass er der Partei von geringem Nutzen, vielleicht sogar schädlich war. Der Publizist Carl Amery konstatierte ein Jahr später: »Per saldo dürfte dieses Engagement der SPD eher geschadet als genützt haben (…) Günter-Grass-Gedichte, die für die SPD werben, einem johlenden Saal voll biertrinkender Stammwähler vorzutragen.«282 Für die Aktivitäten des Wahlkontors galt das ebenso, sie konzentrierten sich auf die Entwicklung zugkräftiger Slogans283 und das Umschreiben von Manuskripten von SPD-Kandidaten. Allerdings mussten die beteiligten Schriftsteller die frustrierende Erfahrung machen, dass die Politiker ihre Veredelungen von Slogans und Reden in der Regel ignorierten. Ihr tatsächlicher Einfluss wie auch der Effekt der gesamten Initiative tendierten gegen Null. 279 Die Liste der Unterzeichner, darunter Ingeborg Bachmann, Ernst Bloch, Kasimir Edschmid, Günter Eich, Axel Eggebrecht, Günter Grass, Walter Jens, Marie-Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Reinhard Lettau, Ludwig Marcuse, Alexander Mitscherlich, Marcel Reich-Ranicki, Hans Werner Richter, Ernst Schnabel und Martin Walser, bei Wagenbach, Vaterland, S. 229. 280 Von Juli bis September 1965 waren es Nicolaus Born, Hans Christoph Buch, F. C. Delius, Marianne Eichholz, Gudrun Ensslin, Hubert Fichte, Peter Härtling, Rolf Haufs, Günter Herburger, Hans Peter Krüger, Martin Kurbjuhn, Hermann-Peter Piwitt, Stefan Reisner, Klaus Roehler, Peter Schneider, Bernhard Vesper-Triangel, Klaus Wagenbach; in: ebd., S. 230. 281 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 20.7.1965, in: DLA, D: Merkur; vgl. Arnold/ Görtz, Günter-Grass-Dokumente, S. 25-59. 282 Carl Amery, Export in Aufsässigkeit. Die Gruppe 47 in Amerika, Typoskript der Sendung im BR/Hauptabteilung Kultur und Erziehung, gesendet 14.5.1966, 21.15-22.00, in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA M 143. 283 Vgl. Beispiele bei Wagenbach, Vaterland, S. 230.
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Es fiel während des Wahlkampfes auf, dass sich zwei besonders prominente Schriftsteller und Publizisten dem Konsens der linken Intellektuellen zur Unterstützung der SPD entzogen: Enzensberger und Andersch. Letzterer beschwerte sich bei Karl Korn über einen von Grass geführten Feldzug gegen ihn: »Denn die Grass’schen Angriffe sind ja immer so angelegt, dass die Erwiderung darauf kaum möglich ist. Sie erscheinen in öffentlichen Reden und gehen damit als Nachrichten durch 300 Zeitungen, er hat den ›Spiegel‹ quasi als Hausorgan (…) So ist es nahezu aussichtslos, dass ich mich gegen den Mythus vom Feigling Andersch (und vom Feigling Böll), den er jetzt aufbaut, wehre.«284 Andersch bat um die Aufnahme einer im Ton ironisch gehaltenen Notiz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die dieser Bitte auch entsprach: »Ich entnehme Ihrem Bericht über die Verleihung des Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an Günter Grass (…), der Preisträger habe sich öffentlich darüber entrüstet, dass ich mich nicht an seiner Wahlkampftournée für die SPD beteiligt habe. Ich wäre jedoch, selbst wenn ich dies gewollt hätte, dazu nicht in der Lage gewesen, weil ich mich zur Zeit des Wahlkampfs auf 80 Grad 45 Strich nördlicher Breite aufhielt. Ich gebe zu, damit völlig verantwortungslos gehandelt zu haben, doch hat mir die Beobachtung von Eisbären sicherlich mehr Vergnügen bereitet als der Anblick erstklassiger Schriftsteller, wie sie, verführt von Günter Grass, für sechstklassige Politiker Wahlreden umschreiben und diese Art von Beschäftigung für schriftstellerisches Engagement halten. Um das Mass meiner Nichtswürdigkeit voll zu machen, erkläre ich jedoch, dass ich mich an Günter Grass’ Wahlkampf in keinem Falle hätte beteiligen können, weil es mir unmöglich gewesen wäre, die SPD zu wählen. Ich habe andere politische Ansichten.«285 Andersch, der sich für den Abdruck bei Korn bedankte, berichtete, dass er Beifall von Ernst Jünger bis Gabriele Wohmann erhalten habe. »Ausgeschwiegen haben sich natürlich sämtliche (sämtliche!) 47er, keine einzige, auch nur halbwegs freundliche Bemerkung kam von dieser Seite (…).«286 Schon ein Jahr später, mit Beginn der Großen Koalition und im unmittelbaren Vorfeld von 1968, zerbrach nicht nur die Gruppe 47,287 sondern auch die kurzzeitige Liaison der linksunabhängigen Schriftsteller mit der SPD, selbst Günter Grass erlebte eine tiefe Enttäuschung. Die Neue Linke in ihrem breiten Spektrum, aber um Äquidistanz zur gouvernementalen Politik der SPD und zum Marxismus-Leninismus als dogmatischem Spätstalinismus bemüht, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits etabliert und bemerkenswerten medialen Zuspruch erfahren. 284 285 286 287
Alfred Andersch an Karl Korn, 13.10.1965, in: DLA, A: Alfred Andersch. Vorlage der Erklärung, in: ebd. Alfred Andersch an Karl Korn, 11.11.1965, in: ebd. S. Kapitel III.5.
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4. Haltelinien: Konservative Beharrung und Erneuerungsversuche »Die Zeiten sind schlecht für konservative Parteien, denn die Zeiten selbst sind – konservativ geworden.«1 Mit diesem Diktum war nicht die Wiederherstellung des Konservatismus der Zwischenkriegszeit gemeint, sondern die Sorge, dass mit dem gefeierten »Ende der Ideologien« in der Abenddämmerung der Ära Adenauer, als alle politischen Kräfte sich in einer imaginären Mitte ansiedeln wollten, nicht nur die Sozialdemokratie ihr Profil verlieren, sondern auch konservative Werte sich verflüchtigen würden. Von der CDU/CSU, in die hinein sich kleinere Rechtsparteien gerade auflösten, war nichts zu vernehmen. Der als ihr nationalkonservativer Theoretiker geltende Theologe Eugen Gerstenmaier konzentrierte sich auf den Lobpreis der »Autorität« und den Nachweis, dass Obrigkeiten auch in der Demokratie – nolens volens – ihre erwiesene Daseinsberechtigung hätten, auch wenn sie sich nicht mehr auf »Gottes Gnaden« berufen könnten. In einer Ansprache zum Reformationstag 1960 machte er, wieder einmal, den Nationalsozialismus mit seinem Führerkult für den Misskredit verantwortlich, in den das autoritäre Prinzip geraten sei: »Das Menschenbild der Bibel ist auf keine Weise in Übereinstimmung zu bringen mit dem Lobpreis des Menschen, der in den demokratischen Verfassungen üblich geworden ist.« Das Problem bestehe darin, nun einen Ausgleich zwischen den Menschenrechten der Charta der UN und der Lehre Luthers zu suchen.2 Damit wandelte er nach wie vor auf den gedanklichen Pfaden von Ortega y Gasset, der in einem Essay 1960 die Intellektuellen dafür tadelte, dass sie ihre Erziehungsfunktion gegenüber den Massen vernachlässigt hätten: »Was mich die Entthronung der Intellektuellen voraussehen ließ, war die Beobachtung, daß die Massen sich anschickten, die geschichtlichen Zügel zu ergreifen, weil die Massen durchaus ungebildet waren, weil die Intellektuellen den verhängnisvollen Irrtum begangen hatten, eine Kultur für Intellektuelle zu schaffen, nicht für die übrigen Menschen.«3
1 Hans Schuster, Konservativ in unserer Zeit, in: Merkur, Jg. 13, 1959, S. 69-84, Zitat S. 84; vgl. zum Kontext Schildt, Moderne Zeiten, S. 424 ff. 2 Wider die Ächtung der Autorität. Ansprache von Bundestagspräsident Dr. Eugen Gerstenmaier bei der Reformationskundgebung in Düsseldorf am 30.10.1960, Westdeutscher Rundfunk/Kulturelles Wort, ausgestrahlt am 30.10.1960, 21.30-22.00 (Typoskript, Zitat S. 2 f.), in: ACDP, Nl. Eugen Gerstenmaier, I-200-085/3. 3 José Ortega y Gasset, Der Intellektuelle und der Andere (1960), in: Wolfgang Bergsdorf (Hrsg.), Die Intellektuellen. Geist und Macht, Pfullingen 1982, S. 15-26, Zitat S. 19.
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In den späten Debatten der Abendländischen Akademie stand das Thema des Verhältnisses von Religion und Demokratie gleichfalls im Mittelpunkt.4 Die theoretische Sprachlosigkeit der CDU5 wurde zum Signum der 1960er Jahre. Sie erklärt die öffentlichen Missgriffe und den nahezu völligen Abbruch der Gesprächskontakte zu Intellektuellen bis hin zur »Pinscher«-Debatte. Eine Rekonstruktion des Konservatismus empfing von hier aus jedenfalls keine Impulse, einen wirkungsvollen Backlash6 gab es zu dieser Zeit nicht. Zwar hatte Rüdiger Altmann 1960 den Auftrag erhalten, das Konzept für eine Akademie der CDU zu erstellen, aber seine Ausführungen zur Qualifizierung kritikfähiger Kader, die er mit Johannes Gross und Carl Schmitt diskutiert hatte, standen doch in deutlichem Kontrast zur vorherrschenden quietistischen Verteidigung der Autorität: »Theorie ist grundsätzliche, auf der Erfahrung beruhende Betrachtung der Politik (…) um zur geistigen Beherrschung der Wirklichkeit (vorzustoßen). Die Anwendung der Theorie auf die Wirklichkeit geschieht vor allem durch die Kritik. Daher ist die Erziehung zum kritischen Denken für die Ausbildung an einer politischen Akademie wichtiger als die bloße Vermittlung historischer, ökonomischer und anderer Kenntnisse …«7 Sein Konzept, das er ausführlich in einem Buch entfaltete, das im Seewald-Verlag erschien, fasste er in ein treffendes Bild: »Es ist also Zeit, daß wir die ›Theorie der Hydraulik‹ studieren, bevor es brennt. (…) Aber ist es nicht endlich notwendig, die Praxis der pluralistischen Demokratie, die oft noch unausgesprochenen Regeln, die neuen Ideen, die sich aus der Erfahrung kristallisieren, zusammenzufassen und zu interpretieren?«8 Man meint einen geradezu verzweifelten Ruf des jungen Publizisten zu verspüren, sich endlich um die Herstellung politisch-kultureller Hegemonie Sorgen zu machen, bevor sie endgültig verloren ginge. Die »uferlose Libertinage der Literatur«, gegen die nur noch Sieburg als »moralisches« Korrektiv stehe, sei nur der Vorbote der Gefahren.9 In dasselbe Jahr wie Richters »Bestandsaufnahme 1962« fiel eine Bilanz des durch die Teilidentität seiner Ziele und die naiven Annahmen einer Unterordnung des Nationalsozialismus zutiefst blamierten Konservatismus seit dem Ende des Zweiten 4 Abendländische Akademie e. V. (Hrsg.), Das europäische Erbe in der heutigen Welt, Nürnberg 1963. 5 Vgl. Steber, Hüter, S. 164 ff., 208 ff. 6 Vgl. Moses, German Intellectuals, S. 172 ff. 7 Rüdiger Altmann: Exposé. Zweck und Aufgaben einer politischen Akademie (o. D. [1960], Zitate S. 1 f.), in: DLA, Nl. Johannes Gross (noch nicht verzeichnet). 8 Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers, Stuttgart 1960, zit. nach Rathgeb, Deutschland, S. 116. 9 Joachim Günther/Neue Deutsche Hefte an Ernst Wilhelm Eschmann, 29.8.1962, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann.
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Weltkriegs.10 Initiiert hatte sie Armin Mohler, der nach seiner Rückkehr aus der Pariser Korrespondentenzeit – ausgerechnet – mit der Zeitschrift der westlichen Liberalen, dem Monat, zusammenarbeitete, den er später als »immerhin zur Zeit beste deutsche Zeitschrift«11 lobte. Dies war ein weiteres Zeichen für die befürchtete Tendenz zur profillosen Mitte, wobei noch näher zu untersuchen bliebe, welche Interessen bei der Organisation der Debatte durch Mohler auf Seiten der MonatRedaktion bestanden. In seinem programmatischen Eröffnungsbeitrag kritisierte er die Feigheit, überhaupt nur den Begriff des Konservativen zu benutzen und diesen entweder als Synonym für das Prinzip eines antiideologischen Pragmatismus hinzustellen oder mit dem Christlich-Abendländischen seines wesentlichen Kerns zu berauben.12 In einer späteren Ausarbeitung unterschied er: die katholisch-konservativen Abendländler um den Rheinischen Merkur, die Deutsche Tagespost und die Abendländische Akademie; das »nationale Lager« um die Deutsche Wochenzeitung der NPD und die Deutsche National- und Soldatenzeitung; und schließlich die »heimatlose Rechte«, zu der er sich selbst zählte.13 Diese zu einer eigenständigen Größe in der Tradition der Konservativen Revolution der Zwischenkriegszeit wieder aufzurichten, sah er als strategische Hauptaufgabe an. Eine scharfzüngige Charakterisierung des zur Verfügung stehenden Personentableaus für einen von Mohler angeregten Sammelband, der die Debatte vertiefend fortsetzen sollte, findet sich bei Winfried Martini. Über Harpprecht, der wohl als Mittelsmann zum Monat fungiert hatte, schrieb er: »Harpprecht ist ein brillanter Journalist, doch vielleicht deswegen ein unpräziser, den eigenen Einfällen und Formulierungen etwas hilflos ausgelieferter Kopf, zudem total apolitisch (ohne dass er es weiss).«14 Gerstenmaier könne, selbst wenn er wolle, sich aus Rücksichtnahme auf sein Staatsamt nicht dezidiert äußern, Merkatz sei »kein tiefer Kopf«, Zehrer ein »gehobener traumatischer Wirrling«, Golo Mann würde ihn »einfach des Amüsements und der existenziellen Ironie wegen reizen«; zu einigen anderen von Mohler übermittelten Vorschlägen: Franzel sei ein guter Mann, leide aber unter einem »Mangel an Differenzierungsvermögen«; von William S. Schlamm sei abzuraten angesichts seiner »totalen Gleichgültigkeit gegenüber Tatsachen« und seiner »Neigung zu sinnlosen und apodiktischen Prophezeiungen«. In einem Nachgang zu diesem Brief riet Mohler davon ab, »zu viel Juden (oder Halb- und Viertelsjuden)« aufzu-
10 Vgl. Schildt, Konservatismus, S. 211 ff. 11 Armin Mohler an Der Monat, 10.6.1967, in: DLA, A: Armin Mohler. 12 Die Beiträger in dieser Debatte waren Golo Mann, Hans-Joachim von Merkatz, Caspar von Schrenck-Notzing, Klaus Harpprecht, Eugen Gerstenmaier, Friedrich Dürrenmatt und Hans Zehrer. Sie deckten die von Mohler kritisierten Strömungen weitgehend ab, einzig Schrenck-Notzing stand noch für die konservativ-revolutionäre Tradition. Aber für Aufmerksamkeit sorgte vor allem Mohlers Eröffnungsbeitrag. 13 Armin Mohler, undatiert, in: DLA, A: Armin Mohler. 14 Winfried Martini an Armin Mohler, 25.7.1962, in: DLA, A: Armin Mohler; die folgenden Zitate in diesem Brief.
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nehmen, »weil man sonst leicht in einen Affektstrudel kommt«, denn es sei »heute in Deutschland eine derartige Irritabilität unter der Oberfläche vorhanden«.15 Es bleibt festzuhalten, dass sich im Diskurs um die Erneuerung des Konservatismus vor allem Mohler profilierte und damit Zugang auch zu prominenten liberalen Medien fand. In der Septembernummer des Merkur 1962 erschien sogar ein Beitrag des jungen rechtskonservativen Studenten Robert Hepp, den Mohler zusammen mit dessen Bruder Marcel für seine Pläne rekrutiert hatte.16 Anhand der Redaktionspolitik des Merkur ist deutlich ablesbar, dass es Paeschke dabei vor allem um einen frischen, »modernen« Blick durch eine Verjüngung der Autoren ging. Alte Verbindungen aus den 1950er Jahre wurden gelöst, Texte abendländischer Autoren wie Ingrim oder Sedlmayr, zehn Jahre zuvor noch Stars der Zeitschrift, unter Vorwänden abgelehnt. Vor allem die Gleichsetzung von Konservatismus und Antikommunismus genügte im Bemühen um politisch-kulturelle Hegemonie nicht länger. Aber eben diese Tendenz erlebte im Rahmen der Krisen um Berlin und Kuba noch eine letzte spektakuläre Spätblüte. Die Aufweichung des kämpferischen Antikommunismus rief vielmehr Ende der 1950er Jahre heftige Kritik konservativer Intellektueller hervor, die dem Westen, und hier in erster Linie der neuen Kennedy-Administration in den USA, eine fahrlässige Preisgabe des antikommunistischen Widerstandswillens vorwarfen. Klaus Mehnert schrieb an Eugen Gerstenmaier: »Die Lage in der Welt gefällt mir nicht. Das westliche Bündnis ist nicht so, wie es sein sollte, und die wenigsten wollen einsehen, wie rasch die Macht des kommunistischen Lagers wächst, während die des Westens stagniert.«17 Besonders spektakulär trat der österreichisch-amerikanische Publizist William S. Schlamm (1904-1978) hervor.18 Aus jüdischem Elternhaus, bis 1927 Mitglied der kommunistischen Partei, danach Leiter des Wiener, dann Prager Büros der Weltbühne, wandte sich Schlamm nach 1938 im US-Exil dem amerikanischen Konservatismus zu. Allerdings isolierte er sich auch innerhalb der amerikanischen Rechten. 1959 kehrte er nach Europa, in die Schweiz, zurück. Die Grundlage seiner publizistischen Präsenz der folgenden Jahre hatte Schlamm mit dem Buch »Die Grenzen des Wunders« gelegt, einem Bericht über die Bundesrepublik, die er von Ende 1957 bis Ende 1958 bereist hatte. Mit diesem Manifest der antikommunistischen Intellektuellen stilisierte sich Schlamm als härtester der harten kalten Krieger, der der deutschen Presse, namentlich der Welt, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfur-
15 Winfried Martini an Armin Mohler, 28.7.1962, in: ebd. 16 Ein Lob erfolgte von Friedrich Sieburg an Armin Mohler, 6.10.1962, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 17 Klaus Mehnert an Eugen Gerstenmaier, 3.2.1959, HStA Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 42. 18 Zur Biographie und insbesondere zum Wirken um 1960 vgl. Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 210 ff., 243 ff.; Peters, William S. Schlamm, S. 319 ff.
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ter Allgemeinen Zeitung, nur noch eine »müde Weltklugheit« attestieren mochte.19 Es könne nicht angehen, dass die Westdeutschen »reich wie Amerika, aber schwach und neutral wie Monaco sein« wollten – ein Argument, dass in den 1980er Jahren seine Wiederauferstehung erlebte und auch heute zu vernehmen ist. Entgegen der Empfindung, der Westen habe sich als überlegen gezeigt, vertrat Schlamm die Auffassung, er sei seit 1917 auf dem Rückzug gegenüber dem Kommunismus. Vor allem die USA repräsentierten für ihn die »kulminierende Hybris des prometheischen Menschen, der nach der Welt greift und sie neu erschaffen will«. Die Attraktivität des Kommunismus sah Schlamm vor allem für moderne »Intellektuelle aller Länder«, seine »Faszination« sei »intellektuell«.20 Diese Interpretation des Kommunismus als Resultat und Konsequenz der Aufklärungsepoche war keineswegs originell, ebenso wenig wie der Hinweis auf die Schwäche des Westens, der seine Gläubigkeit verloren habe. Wie häufig bei eklektischen konservativen Denkern, angefangen bei Oswald Spengler, dienten der dezidierte Geschichtspessimismus und die Kritik von Friedenssehnsucht und hedonistischen Tendenzen als Hintergrund für den Vorschlag einer Offensivstrategie, bis zu deren Beginn allerdings nicht mehr viel Zeit verstreichen dürfe. Dem sowjetischen Block müsse der Westen nicht nur mit der Bereitschaft zur Verteidigung, sondern auch mit der Drohung eines präventiven Erstschlages, unter Einschluss atomarer Waffen, entgegentreten, denn der Kommunismus betreibe seine Expansion stets mit den Ängsten vor einem Krieg und der »Friedensgier« des Westens. Nur westliche Entschlossenheit, einen Krieg nicht zu scheuen, könne den Kommunismus zurückdrängen. Eine amerikanisch-westdeutsche Allianz habe für einen Nervenkrieg mit immer neuen Kampagnen zu sorgen, die sich auf die Befreiung der Ostdeutschen richteten. Solche Vorstellungen passten nicht in die NATO-Strategie, die sich unter dem Einfluss der Kennedy-Administration langsam auf dem Weg vom Containment zur Entspannung befand. Schlamm, der seit 1944 die amerikanische Staatsangehörigkeit besaß, wandte sich deshalb mit besonderer Verve gegen diese »jungen Herren«: »Die Halluzination von der Vermeidbarkeit des Kalten Krieges ist die große Lebenslüge der Vierzigjährigen. Diese Generation wünscht in einem nihilistischen Nirwana zu leben, das zu keiner Aufgabe mehr verpflichtet – und sie hat das Pech, die Führung des Westens in einem Augenblick zu übernehmen, da er seine größte Aufgabe zu erfüllen hätte: die kommunistische Herausforderung zu überwinden.«21 In der Bundesrepublik brachte ihm dieser Standpunkt Sympathien bei jenen ein, die ihre antiamerikanischen Ressentiments neuerlich bestätigt sahen. Im Bonner Regierungslager hatte er zwar einige heimliche Fürsprecher, darunter Eugen Gers19 William S. Schlamm, Die Grenzen des Wunders, Zürich 1959, S. 127. 20 Zit. nach Peters, William S. Schlamm, S. 324 f., 333. 21 William S. Schlamm, Die jungen Herren der alten Erde. Vom neuen Stil der Macht, Stuttgart 1962, S. 124.
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tenmaier und Franz Josef Strauß, aber da er als irrlichternd und unberechenbar galt, wahrten selbst konservative Politiker insgesamt Distanz.22 Schon die »Grenzen des Wunders« erhielten eine enorme mediale Aufmerksamkeit. Mehr als 100.000 Exemplare wurden innerhalb eines Jahres verkauft.23 Auf umjubelten Lesereisen füllte Schlamm mit seiner antikommunistischen Mission die Säle; er wurde derart prominent, dass ihm der Spiegel eine Titelstory widmete.24 Seine kurzzeitig omnipräsente mediale Position – er schrieb regelmäßig Kolumnen zunächst für Henri Nannens Stern, dann für die Welt am Sonntag – verdankte sich einer besonderen Konstellation der politischen Kultur am Ende der Ära Adenauer mit ihrer Polarisierung zwischen Befürwortern einer »Politik der Stärke« und einer Entspannung zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Diese Zeit war Ende der 1960er Jahre vorbei. 1971 überwarf sich Schlamm mit Springer und fungierte bis zu seinem Tod 1978 als Herausgeber der rechtskonservativen Zeitbühne. William S. Schlamm war nicht der einzige, sondern nur der mit seiner Polemik auffälligste Intellektuelle, der sich wegen westlicher Aufweichungstendenzen gegenüber dem Osten besorgt und verärgert zeigte. Ganz ähnlich ließ sich immer wieder sein Kollege Winfried Martini vernehmen.25 Martini, der bereits Mitte der 1950er Jahre publizistisch, nicht zuletzt im Merkur mit einer seiner provokativen Thesen hervorgetreten war, der Nationalsozialismus sei eine Demokratie gewesen, fühlte sich in seinem Buch »Freiheit auf Abruf« nun in die Defensive gedrängt. Auf dem Schutzumschlag hieß die Zusammenfassung: »In Wirklichkeit ist die Bundesrepublik durch den Druck aus dem Osten einer viel gefährlicheren Bedrohung ausgesetzt als Weimar.« Die Bundesrepublik sei ein nicht auf den »Ernstfall« ausgerichteter »Spielstaat«: »Ich weiß, daß dieser Staat nicht nur von außen, sondern auch von innen her bedroht ist, ich weiß, daß die Oberfläche über seine strukturelle Schwäche hinwegtäuscht, daß, verglichen mit ihm, die Weimarer Republik ein höchst kraftvolles Gebilde war. Es scheint mir alarmierend zu sein, daß niemand alarmiert ist.« Der ständig wiederholte Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik, von einem aufstrebenden, hochgerüsteten sowjetischen Imperium organisiert in einem »rücksichtslosen und zentralistischen Befehlsstaat«, der einem Westen gegenüber22 Die intellektuelle Zeitschrift Politische Meinung, im Umfeld der CDU zu verorten, versuchte Schlamm 1959 vor allem deshalb als Autor zu gewinnen, weil ein »attraktiver« Artikel von ihm eine »sprachlich gute Pointierung« erwarten lasse; Karl Willy Beer an Anton Böhm, 16.7.1959, in: ACDP, Nl. Karl Willy Beer, 002/2. 23 Peters, William S. Schlamm, S. 335. 24 Vgl. die Titelstory unter der Überschrift »Demagoge Schlamm« in: Der Spiegel, 11.5.1960. 25 Martini, Freiheit, Zitate auf Schutzumschlag sowie S. 12, 20, 53; vgl. Marcus M. Payk, Antikommunistische Mobilisierung und konservative Revolte. William S. Schlamm, Winfried Martini und der »Kalte Bürgerkrieg« in der westdeutschen Publizistik der 1950er Jahre, in: Thomas Lindenberger (Hrsg.), Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln u. a. 2006, S. 111-137; Peters, William S. Schlamm, S. 347 ff., 416 ff.
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stehe, der »bereits in tiefen Zügen das süße Opium von der ›friedlichen Koexistenz‹ gierig« einsauge und mehr Angst vor einem atomaren Waffengang habe als der Osten, unterschied sich kaum von den Positionen Schlamms, aber es handelte sich um publizistische Stars, die sich selbst jeweils mit ihrer berauschenden Rhetorik als Führer im antikommunistischen Kampf durchsetzen wollten und wenig von einer Zusammenarbeit hielten. Als dritter der in diesem Zusammenhang häufig genannten Protagonisten profilierte sich Matthias Walden, der als Berater und sogar als Nachfolger von Axel Springer gehandelt wurde.26 Bei ihm verbanden sich vielleicht besonders kongenial der Antikommunismus und die Verachtung nicht nur der linksunabhängigen, sondern geradezu hasserfüllt generell aller Intellektuellen.27 Er empfand sich, auf einer höheren Ebene, als Kämpfer gegen die »Couturiers des Anti-Antikomunismus«28. Neben diesem getrennt voneinander agierenden Dreigestirn des allgemeinen antikommunistischen Diskurses konzentrierten sich einige Publizisten auf spezifische Felder der Auseinandersetzung, etwa Emil Franzel mit seinen permanenten Angriffen auf Friedrich Heer als linkskatholischem Agenten des Weltkommunismus.29 In diese Zusammenhänge, linke und selbst linksliberale Intellektuelle als Prokommunisten zu diskreditieren, passt eine heftige Debatte des Jahres 1961, die sich an einer Gegenwehr von Walter Dirks gegen die allgemeine Intellektuellenbeschimpfung und konkret an Artikeln des rechtskatholischen Publizisten Josef O. Zöller entzündete. An Erich Kuby, Hans Werner Richter, Carlo Schmid und anderen machte sich Zöllers Rundumschlag gegen die Intellektuellen als einer »problematischen Abart der Intelligenz« fest. Von »ich-bezogen« über »postpubeszent« bis »bloß analytisch« und »kritizistisch« erstreckte sich der Reigen der Invektiven, die darauf abzielten, ihre Gegenwartsinterventionen zu denunzieren: »Bar jeden wirklichkeitstreuen Ordnungsbildes, besessen von der ›Vollkommenheit‹, sind die Intellektuellen eine Art schwärmerischer Sektierer, die jeder perfektionistischen Ideologie verfallen. Das ist eine Erklärung dafür, dass es die intellektuelle Krankheit dieses Jahrhunderts war, in den Salons und BohèmeZirkeln dem Kommunismus zu frönen, bis die bitter Enttäuschten wieder in die geistige Heimatlosigkeit zurückfielen, an der sie heute leiden. Unter solchen Gesichtspunkten ist zu verstehen, dass blasierte Intellektuelle plötzlich zu Par26 Gerhard Naeher, Axel Springer. Mensch, Macht, Mythos, Erlangen 1991, S. 536-541; durchgängig apologetisch (mit einem Nachwort von Helmut Schmidt): Bettina von Sass, »Er war ein guter Feind«, zum 15. Todestag von Matthias Walden äußern sich seine Kritiker, Berlin 1999; das gilt auch für Daniel Schwane, Konservativer Vordenker oder vergessenes Fossil des Kalten Krieges? Der Publizist und Journalist Matthias Walden als Streiter für Freiheit und Demokratie, in: Deutschland Archiv, 2008, S. 75-84. 27 Vgl. Matthias Walden, Ost blind, West blind, Berlin 1963, S. 212 ff. 28 Matthias Walden, Couturiers des Anti-Antikommunismus, in: Die Welt, 2.6.1967. 29 Emil Franzel, Walter Dirks und der Kommunismus, in: Neues Abendland, Jg. 7, 1953, S. 129-143. Emil Franzel, Der deutsche Linkskatholizismus – kann man den Kommunismus taufen?, in: Deutsche Monatshefte für Politik und Kultur , Jg. 2, Heft 1/2 1960, S. 6-12.
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teirednern und begabte Schriftsteller zu Handlungsreisenden in Anti-Atombewegung werden.«30 Im Vergleich zu Angriffen aus der abendländischen Richtung, die zehn Jahre zuvor von Kroll vorgetragen worden waren,31 handelte es sich aber nicht mehr um eine interne katholische, sondern um eine in der Öffentlichkeit ausgetragene Debatte. Der Schlüsseltext von Walter Dirks, zunächst in der Frankfurter Rundschau und dann im Januarheft der Frankfurter Hefte veröffentlicht,32 erhielt eine ungemein breite Presseresonanz.33 Relativ moderat klang es noch in einem Artikel in der Würzburger Deutschen Tagespost: »Die Kritik an der eigenen Gemeinschaft hat aber wohl dort ein Ende, wo es um das Bestehen dieser Gemeinschaft vor einem zu allem entschlossenen Gegner geht. (…) Dirks erkennt den Kommunismus als Feind, aber er versucht, eine gemeinsame Front gegen diesen Feind als Vereinfachung abzutun.«34 Während hier noch die Reste einer innerkatholischen Ökumene erkennbar waren, der Versuch, den naiv Irrenden wieder in die »Gemeinschaft« aufnehmen zu können, wurde mit einem bösartigen Kommentar von Rudolf Krämer-Badoni bei Radio Bremen das Tischtuch zerschnitten. Krämer-Badoni hatte sein Manuskript mit dem Titel »Die freischwebenden Intellektuellen« an Dirks geschickt.35 In Christ und Welt schloss sich Sebastian Haffner dann dieser Tonlage an und rügte Dirks’ »Alarmschreie«.36 Gegen die Intellektuellen-Schelte wandte sich wiederum Klaus Wagenbach in einem Kommentar für den Bayerischen Rundfunk.37 Als eine besondere »Infamie« bezeichnete es Ulrich Gembardt 1963 rückblickend, dass Krämer-Badoni und seine Mitstreiter den Intellektuellen die Schuld am Scheitern der Weimarer Republik aufbürden wollten.38 Die besondere Empörung über diesen Vorwurf, der heute nicht mehr unbedingt als skandalös gewertet würde, zeigt eindrücklich, wie tief die Weimarer Zeit immer noch die geschichtspolitischen Diskurse der Bundesrepublik überschattete. In einem seismographisch interessanten 30 Josef Othmar Zöller, Heimatlose Kritik, Versuch einer Begriffsbestimmung des Intellektuellen, in: Die Politische Meinung, Nr. 41, 1959, S. 43-50, hier 48, 49, 50; ders., Irrlehren der Gegenwart, Osnabrück 1960, S. 10-133, besonders S 111 f. und 125-127. 31 S. Kapitel II.1.2. 32 Walter Dirks, Die heilige Allianz der Ordnungsmächte, in: Frankfurter Rundschau, 8.1.1961. 33 Friedrich Rasche, Die bösen Intellektuellen, in: Hannoversche Presse, 11.2.1961. Vgl. umfangreiche weitere Unterlagen in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 337. 34 Ludwig Altenhöfer, Die unheilige Allianz, in: Deutsche Tagespost (Würzburg), 24.2.1961. 35 Vgl. Rudolf Krämer-Badoni an Walter Dirks, 4.1. 1961, in: AdsD, Nl. Dirks, 127; vgl. Krämer-Badoni, Vorsicht, S. 9-17. 36 Sebastian Haffner, Wer braut etwas zusammen? Noch mehr zur Diffamierung der deutschen Intellektuellen, in: Christ und Welt, 27.1.1961. 37 Klaus Wagenbach, Eintritt frei, Beiträge zur öffentlichen Meinung, Darmstadt 1982, S. 8-12. 38 Ulrich Gembardt, Unsere Intellektuellen, in: Magnum, August 1963, S. 48.
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Artikel von Hans Zehrer ging es in der Welt um die Frage, ob sich eine neue nationale Bewegung der Intellektuellen entwickeln ließe. Er reflektierte dabei vor allem den Umstand, dass sich die Struktur der Öffentlichkeit, in der diese agierten, radikal verändert habe.39 Berechtigte Empörung äußerten vor allem Exilpublizisten, die sich als Schuldige an den Pranger gestellt sahen. Alfred Kantorowicz nannte dafür Kampagnen wie die gegen Heinrich Mann: »Der Fanfarenstoß des allzeit wachen, grimmen Abendländlers Holthusen, Heinrich Manns Prosa sei ›schief und krumm und blutstockig von vorn bis hinten‹, wird allenthalben geechot. Hohoff geht mit der Noblesse, die solchen Herrennaturen eignet, so weit zu schreiben: ›Heinrich Mann bekam erst 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wieder Boden unter die Füsse.‹«40 Im Streit zwischen Dirks und Zöller 1961 hatte Hans-Dietrich Sander, der als Schüler Ernst Blochs als Experte für Fragen der Ästhetik galt, bevor er – unter dem Einfluss von Carl Schmitt – in das rechtskonservative und später rechtsextremistische Lager driftete, versucht, mit einem Artikel in der Welt zwischen den Kontrahenten zu vermitteln: »Die ideologischen Argumente zur Diffamierung der Intellektuellen liefert besagter Josef O. Zöller, der, wenn er nicht an Gott glaubte, seinem Vokabular nach, ganz gut SED-Funktionär sein könnte. (…) Es ist nicht uninteressant, daß im Zusammenhang mit den Intellektuellen im volkstümlichen Sprachgebrauch die Wörtchen ›zersetzend‹ und ›entwurzelnd‹ immer wieder auftauchen. Eben diese Vokabeln benutzte das Dritte Reich (…) nichts sollte den linken Intellektuellen ferner liegen, als den rechten unbesehen des Konformismus oder Konjunkturismus oder Kryptofaschismus zu beschuldigen. Es muß versucht werden, hüben und drüben eine nichtorganisierte, aber sichtbare Front des Geistigen und Verantwortlichen gegen die Diffamierer zu bilden, nicht um den fälligen politischen und geistigen Kampf abzuschwächen, sondern um ihn zu reinigen, und damit wir ihn mit gutem Gewissen in aller Schärfe führen können.«41 In die Auseinandersetzung griff auch Paul Noack, stellvertretender Chefredakteur des Münchner Merkur, bis 1958 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mit einem schmalen Essaybändchen ein, dessen Ansatz interessant war und ihn nicht von vornherein als parteilich erscheinen ließ. Noack betonte, dass er sich selbst als Intellektueller fühle und der »Verketzerung« der Intellektuellen kein Material liefern wolle, was »nach den Erfahrungen der jüngsten deutschen Vergangenheit gefährlich« sei. Man könne »sich nicht guten Gewissens an dem mühsamen Aufbäumen 39 Hans Zehrer, Rumort es schon bei uns?, in: Die Welt, 1.2.1964; vgl. auch Ernst W. Eschmann, Die Intellektuellen (III), in: Christ und Welt, 16.4.1965. 40 Alfred Kantorowicz an Rudolf Walter Leonhardt, 3.5.1965, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, Z 11-65. 41 Hans-Dietrich Sander, Der Intellektuelle als Sündenbock, in: Die Welt, 3.1.1961.
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der Intellektuellen des kommunistischen Blocks erfreuen, zugleich jedoch Regungen, die aus dem gleichen Geist geboren sind, in der Zone der Freiheit verdammen«. Diesen einleitenden Ausführungen folgte dann die Volte. Es müsse dennoch »gestattet sein, gewisse Verhaltensweisen und Äußerungsformen der Intellektuellen zu kritisieren«. Und schließlich landete er bei der Übernahme der Positionen von Freyer und Gehlen: »Sekundäre Systeme sind Sozialstrukturen, die nicht mehr auf einem gewachsenen Grund stehen. Es sind Pyramiden, die auf den Kopf gestellt wurden. In ihnen blüht der Weizen der Ideologien«; die gefährlichsten Intellektuellen seien Marx und Nietzsche: »Der eine Weg führte zum Leninismus, der andere zum Faschismus, beide in die menschliche Sklaverei.« Der Intellektuelle, »selbst an konkreter Erfahrung wenig interessiert, ist der Philosoph der sekundären Systeme. Seine Liebe dient nicht der Erkenntnis der Wahrheit, sondern der Wirkung, die er mit seiner Ideologie (…) oder besser: der Wirkung im Zeichen der intellektuellen Wahrheit« erziele.42 Mit dieser Mischung aus negativer Anthropologie und realistischen Charakterisierungen der Interessen von Intellektuellen, ihren Bemühungen um – meist scheinbare – Originalität näherte er sich Gedankengängen Joseph Schumpeters, die allgemein von den »modernen« Konservativen um Gehlen vertreten wurden, der in der Debatte Mitte des Jahrzehnts mit einem Beitrag im Merkur hervortrat. Es handelte sich dabei um einen Vortrag vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU am 3. April 1964 in München.43 Auch Gehlen setzte mit einer Darstellung von Schumpeters berühmtem 13. Kapitel des Buches »Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie« zur »Soziologie der Intellektuellen« ein, dem Fehlen direkter Verantwortlichkeit, jeglicher Kenntnisse aus erster Hand und der Neigung zu einer kritischen Haltung. Die »Gereiztheit der Intellektuellen oder eines sehr großen und wortfähigen Teiles von ihnen gegenüber der Gesellschaft«, so Gehlen, sei Ergebnis des »dauernden ausschweifenden Weltverkehrs des Bewußtseins ohne die Möglichkeit, handelnd und praktisch tätig zu werden«, so dass man »Meinungsund Gesinnungsschablonen« folge. Auch die Intellektuellen lebten von der »Erfahrung zweiter Hand«. Daraus ergebe sich eine »Überpolitisierung der gegenwärtigen Menschheit«. Dies alles ergebe noch keine Spezifik des Intellektuellen, nur »das Feld der Werte dagegen bleibt ein Kampfplatz«, auf dem es darum ginge, »Motive sehr verschiedenen Ursprungs in einem Handeln zusammenzuzwingen (…) einmal in der Folge der Aufklärung als diesseitige, progressiv gemeinte Solidarethik, und zweitens in der (…) neochristlichen Feier der Menschheit durch sich selbst im Namen Gottes.« Alles spiele diesem »Rationalismus unserer Zeit« zu, obwohl die »Gesinnungsethik« nach allen Erfahrungen mit der Annahme von der »Glücksfähigkeit des Daseins« nicht mehr überzeugend sein könne. Dies sei auch der Hintergrund für die nur halbherzige Unterstützung der Intellektuellen für die 42 Noack, Die Intellektuellen, Zitate S. 7, 8, 28, 29, 97. 43 Arnold Gehlen, Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat, in: Merkur, Jg. 18, 1964, S. 401-413; alle folgenden Zitate dort, S. 405, 406, 407, 408, 410, 411, 412, 413.
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sozialdemokratische »Alternative« bei der Bundestagswahl 1961 gewesen. Es habe sich um einen »Kampf zwischen zwei Aristokratien« gehandelt, die beide eine Gesinnungsethik für sich beanspruchten. Tatsächlich sei der damit intendierte »Fortschritt« aber bei den »Technikern und Naturwissenschaftlern gut aufgehoben«, die ihn messen könnten, und nicht bei den Intellektuellen, bei denen er Minderwertigkeitskomplexe wegen der Tatsache spüre, dass »heute Geist nicht mehr nobilitiert« werde, weil dies »nicht im Richtungssinn hochdemokratischer Zeiten« liege. Letztlich helfe nichts anderes, so sein Ratschlag an die CDU, als »aktiv Kontakte mit den Intellektuellen (zu) suchen«. Eben dieser gönnerhaft erscheinende Ratschlag, der nicht zum ersten Mal zu hören war, wurde im Wahljahr 1965 nicht befolgt. Es gelang aber auch dem Merkur nicht, den Beitrag von Gehlen zum Ausgangspunkt einer großen Debatte zu machen, vor allem weil Habermas, der über Gehlens Position des »Zusammenzwingens« empört war und sie als neofaschistisch qualifizierte, sich weigerte, eine Replik zu verfassen. Erst 1970 kam es dazu, mit dem Ergebnis, dass auch Gehlen, der Starautor des Merkur in den 1950er Jahren, sich mit der Zeitschrift überwarf. Letztlich scheiterten alle Versuche, zumindest so etwas wie eine Streitkultur herzustellen. Ganz eindeutig dominierte offen politische Polemik die Zeit. So entsprach der Versuch, sich den außenpolitischen Entspannungsbemühungen zu widersetzen, einem recht spektakulären Vorstoß, auch im Inneren eine schärfere Gangart anzuschlagen. Johannes Gross hatte bereits 1960 eine groß angelegte Kampagne zur Diskreditierung der SED-Symbole vorgeschlagen.44 Aufmerksamkeit erhielt allerdings vor allem eine maßgeblich von Geheimdiensten initiierte Verleumdungskampagne. In Überbietungskonkurrenz zur Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise trat 1959 eine Organisation mit dem Namen »Rettet die Freiheit« auf, als deren Vorsitzender Rainer Barzel (CDU) fungierte. Sie zielte, wie die McCarthy-Ausschüsse in den USA, deren Zeit allerdings bereits vorüber war, eher auf mutmaßliche fellow travellers als auf Kommunisten selbst. Als Gründungsmitglieder hatten unter anderen unterzeichnet der konservative Medienexperte Emil Dovifat, der evangelische Nationalkonservative Hans Asmussen, der Hamburger Physiker Pascual Jordan, der Berliner Historiker Hans Herzfeld und der Verleger Joseph Caspar Witsch.45 Etwa 150 Personen hatten die Gründungsversammlung in Köln besucht, Grußadressen von Konrad Adenauer und Hermann Josef Abs, die Bereitschaft zur Mitarbeit mehrerer Bundesminister, darunter Ludwig Erhard, hatten dem Komitee mediale Aufmerksamkeit gesichert.46 Die Vereinigung, die allgemein »unter dem Einfluß von Minister Strauß« verortet wurde und die der konservative Publizist Rüdiger Altmann »auch für ihn (Strauß; A. S.) persönlich eine 44 Johannes Gross an Bundeskanzler Konrad Adenauer, 25.8.1960, in: DLA, Nl. Johannes Gross (unverzeichnet). 45 Rundbrief »Rettet die Freiheit«, 29.4.1959, und weitere Unterlagen, in: ACDP, Nl. Hans Edgar Jahn. 46 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949-1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, 4 Bde., Hamburg 1996, S. 2112.
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Fehlinvestition« nannte,47 verbreitete weniger Schrecken als ein Bild der Lächerlichkeit, als sie im März 1960 ein Rotbuch unter dem Titel »Verschwörung gegen die Freiheit«48 veröffentlichte, das eine Liste von ca. 450 Namen von angeblichen Intellektuellen und Künstlern als Handlanger kommunistischer Tarnorganisationen anprangerte. Sie reichte von Max Born bis Luis Trenker, von Victor de Kowa bis Olga Tschechowa, von Otto Dix bis Werner Egk.49 Auf der Liste standen auch Walter Dirks, Erich Kästner, Alfred Weber, Horst Ehmke und in einer ersten Fassung sogar Peter Nellen, Bundestagsabgeordneter der CDU – eine peinliche Panne, für die sich Barzel entschuldigen musste. Es hagelte Dutzende von Klagen wegen Beleidigung und übler Nachrede.50 Walter Dirks protestierte wegen der Denunziation seiner Person in einer anderen Broschüre des Komitees, von der er gehört hatte. Auf seine Aufforderung, ihm ein Exemplar zur Verfügung zu stellen, damit er den »genauen Tatbestand feststellen« könne, erhielt er einen gewundenen Brief des Geschäftsführers mit der Behauptung, man sei nur noch im Besitz eines Belegexemplars. Im Übrigen habe die Organisation einen Prozess, den Heiner Halberstadt angestrengt hatte, in allen Punkten gewonnen und dürfe lediglich nicht mehr behaupten, dass dieser »die Schlüsselfigur der kommunistischen Infiltration in Frankfurt« sei. Walter Dirks beharrte darauf, dass die Organisation angesichts der »verleumderischen Unterstellung, die Sie in Verbindung mit meinem Namen veröffentlicht haben«, ihm den Text zugänglich zu machen hätte. Dies geschah dann »der Ordnung halber« mit der Anmerkung, sein Name befinde sich auf S. 168/169.51 Die Denunziation des Linkskatholiken Walter Dirks, der in höflichem Ton, aber konsequent über Jahre hinweg jede Einvernahme durch kommunistische Bündnispartner abgelehnt52 und jede politische Einladung aus der DDR 47 Altmann, Erbe, S. 104. 48 Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik. Presse, Rundfunk, Verlagswesen, Gewerkschaften, Bundeswehr, »Friedensbewegung« und Atomtod-Kampagne, Sektor »Kultur«, Parteien, Jugendorganisationen. Hrsg. von der Münchner Arbeitsgruppe »Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik« im Komitee »Rettet die Freiheit«, München 1960. 49 Erna Heckel u. a., Kulturpolitik in der Bundesrepublik von 1949 bis zur Gegenwart, Köln 1987, S. 135. 50 Die Liste wurde von der Zeitschrift Konkret abgedruckt; dok. in Hermann Gremliza (Hrsg.), 30 Jahre Konkret, Hamburg 1987, S. 37. 51 Walter Dirks an Komitee »Rettet die Freiheit« (Bad Godesberg), 20.4.1960, 31.5.1960; H. W. Kanngiesser an Walter Dirks, 24.5.1960, 7.6.1960, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 123 A. 52 Dies gilt etwa für die Ablehnung eines Aufrufs katholischer Frauen für deutsche Einheit und Frieden, den die katholische Theologin Klara Maria Fassbinder an ihn und seine Frau Marianne herangetragen hatte. Der Frieden sei für ihn der höchste Wert, die nationale Einheit dagegen zweitrangig, und gegen nationalistische Töne reagiere er empfindlich; Walter Dirks an Klara Maria Fassbinder, 8.1.1952, 28.2.1952, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 71 A; und wenn ausnahmsweise ein Artikel von Fassbinder in den Frankfurter Heften gedruckt wurde, wie »Das Porträt: Wladimir Semjonowitsch Semjonow, in: Frankfurter Hefte, Jg. 8, 1953, S. 620-626, versicherte ihr Dirks ausdrücklich, nicht alle ihre Gedanken zu teilen; vgl. die umfangreiche Korrespondenz in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 83 A.
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ausgeschlagen hatte53 und der wohl Ende der 1950er Jahre immer noch Mitglied der westdeutschen CDU war, hatte eine besondere Note, war er doch mit dem Vorsitzenden des Komitees »Rettet die Freiheit«, Rainer Barzel, noch wenige Jahre zuvor gut befreundet gewesen. Im Frühsommer 1960 stand das Komitee vor der Pleite, die nur mit Geldern aus der Industrie noch einmal abgewendet werden konnte.54 Als dann allerdings interne Ideen publik wurden, aus dem Komitee einen »Laienorden« deutscher Intellektueller zu machen, die sich zu »Freiheit und Vaterland« bekannten, galt die antikommunistische Bewegung »Rettet die Freiheit« endgültig als bizarre Sekte; Barzel, Strauß und andere Politiker zogen sich zurück.55 Offenbar waren die Kommunistenverfolgung und der Versuch einer rigiden antikommunistischen Ausrichtung der politischen Kultur als Substitut einer konservativen Strategie um 1960 gescheitert. Was unter politischer Kultur zu verstehen sei, nämlich vor allem die Frage nach dem »Selbstbewußtsein der Deutschen«, versuchte Rüdiger Altmann publizistisch und mit zahlreichen Anleihen bei dem von ihm verehrten Carl Schmitt, besonders gern im Rundfunk, zu erörtern.56 Immer wieder wurde er von Radiostationen angefragt, die 1960er Jahre waren sein publizistischer Kernzeitraum. Sein Buch »Das Erbe Adenauers« hatte überschwängliches Lob in rechtskonservativen Kreisen erfahren. Wie ihm sein Verleger Heinrich Seewald vertraulich (rot unterstrichen) mitteilte, habe Franz von Papen die Kritik der konservativen Konzeptionslosigkeit geteilt und zitierte daraus: »Über die These, daß wir dem Kommunismus etwas ganz anderes entgegensetzen müssen als Erhards Wirtschaftswunder und die pluralistische Demokratie Adenauerscher Prägung ist gewiß nicht zu streiten. (…) Die einzig mögliche Rolle Restdeutschlands: selbst den Gürtel viel enger schnallen (…) ein Beispiel abendländischer Entschlossenheit« müsse geliefert werden.57 Altmanns Beitrag zu einer Modernisierung des Konservatismus sollte dann viel weiter reichen und es handelte sich um einen Gegenentwurf zu den gänzlich anderen
53 Etwa die von Otto Nuschke, dem Vorsitzenden der Ost-CDU ausgesprochene Einladung zum Parteitag nach Weimar 1954; Otto Nuschke an Walter Dirks, 30.8.1954, 6.10.1954; Walter Dirks an Otto Nuschke, 14.9.1954, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 96 A; wie diese wurde auch die Einladung des »Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR« aus terminlichen Gründen ausgeschlagen; Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer an Walter Dirks, 16.8.1956; Sekretariat Walter Dirks an Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, 21.8.1956, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 111. 54 Mit Swimmingpool, in: Der Spiegel, 11.5.1960. 55 Freiheit mit Fernglas, in: Der Spiegel, 6.7.1960. 56 Rüdiger Altmann, Politische Kultur, gesendet vom HR, 29.12.1964; ders., Was ist Deutsch?, gesendet vom Deutschlandfunk, 8.3.1965, das Zitat im Typoskript, S. 15, jeweils in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, I/RAAC000033. 57 Rüdiger Altmann, Das Erbe Adenauers, Stuttgart 1960; Heinrich Seewald an Rüdiger Altmann, 29.7.1960, in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, I/RAAC000014.
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Vorstellungen Armin Mohlers, mit dem er offenbar keine kommunikativen Verbindungen pflegte. Alle Bemühungen, mit politischen Argumenten eine konservative Diskurshegemonie herzustellen, wurden von der Hypothek der Unglaubwürdigkeit überschattet. Die Traditionsbindungen und personellen Belastungen aus der Zeit des »Dritten Reiches« rückten gerade ins Zentrum der Aufmerksamkeit jüngerer Intellektueller. Der akademische Nachwuchs entwickelte seit den frühen 1960er Jahren eigene Initiativen zur Aufklärung brauner Kontinuitäten und setzte die Thematisierung der zuvor weitgehend verschwiegenen NS-Vergangenheit der Hochschulen in Vorlesungsreihen durch. Dass angesichts der zahlreichen belasteten Professoren auch in diesen Veranstaltungen häufig noch weichgezeichnet wurde – linke Intellektuelle sprachen vom »hilflosen Antifaschismus« (Wolfgang Fritz Haug) –, war nicht verwunderlich, aber ein Anfang war gemacht.58 Einflussnahmen der DDR, die mit etlichen Veröffentlichungen – am bekanntesten das trotz Verbots in mehreren Auflagen vertriebene »Braunbuch« (1965) – die NS-Belastungen von Tausenden von Funktionsträgern der Bundesrepublik öffentlich machten, gab es in den Debatten um das »Dritte Reich« durchaus.59 Aber es markierte einen wesentlichen Unterschied zu den Anfangsjahren der Bundesrepublik, dass nun mit dem Argument, die Anschuldigungen kämen aus dem Osten und seien deshalb per se erlogen, die Propagandaschlacht nicht mehr zu gewinnen war. Der Rücktritt der Minister Seebohm und Oberländer und die ständige Erklärungsnot, warum ein Kommentator der Rassengesetze, Hans Globke, Adenauers engster Berater im Kanzleramtsministerium sein durfte, offenbarten die moralische Defensive, in die man in Bonn geraten war. Hinweise auf – sehr viel weniger – nationalsozialistisch belastete Funktionäre in der DDR halfen dagegen wenig. Intellektuellengeschichtlich stellte die Aufdeckung der NS-Vergangenheit das Pendant zur Entdeckung der 1933 ins Exil gedrängten antifaschistischen linken Theorien dar. Erst diese Doppelperspektive, so sahen es viele jüngere engagierte 58 Bernd-A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht – akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Schildt/ Siegfried/Lammers, Dynamische Zeiten, S. 114-147; Karl Christian Lammers, Die Auseinandersetzung mit der »braunen« Universität, in: ebd., S. 148-165. 59 Lothar Mertens, »Westdeutscher« Antisemitismus? MfS-Dokumente über eine Geheimaktion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutschland Archiv, Jg. 27, 1994, S. 1271-1273; vgl. auch Michael Lemke, Kampagnen gegen Bonn. Die Systemkrise der DDR und die West-Propaganda der SED 1960-1963, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 41, 1993, S. 153-174; Klaus Bästlein, »Nazi-Blutrichter als Stützen des Adenauer-Regimes«. Die DDRKampagne gegen NS-Richter und -Staatsanwälte, die Reaktionen der westdeutschen Justiz und ihre gescheiterte Selbstreinigung, in: ders./Helge Grabitz/Johannes Tuchel (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Festschrift für Wolfgang Scheffler zum 65. Geburtstag, Berlin 1994, S. 408-443; Joachim Käppner, Erstarrte Geschichte. Faschismus und Holocaust im Spiegel der Geschichtswissenschaft und Geschichtspropaganda der DDR, Hamburg 1999, S. 97 ff., 117 ff.
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Akademiker, ließ Adornos Postulat der »Aufarbeitung« der Vergangenheit als Perspektive einer »Erziehung zur Mündigkeit« aussichtsreich erscheinen.60 Die zentralen Schlussfolgerungen enthielt ein umfangreicher Artikel in Thesenform des jungen Publizisten und Filmkritikers Gerhard Schoenberner (1931-2012) in der Zeit.61 Eine Enttabuisierung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit dürfe nicht auf die juristische Seite beschränkt bleiben. Auch »regierungsamtlich verordnete Reuepredigten« reichten nicht aus. Es komme auf die Entwicklung einer Politik und eines Geschichtsbewusstseins an, »das eine Fortsetzung unseres geschichtlichen Irrweges ausschließt«. Dies schließe aber jede Forderung nach einem Schlussstrich prinzipiell aus. Vor diesem Hintergrund gewann die erregte Diskussion über den Ersten Weltkrieg in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zugleich eine enorme Bedeutung für den Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die sogenannte Fischer-Kontroverse hatte zunächst die konservative Historikerzunft in helle Aufregung versetzt, fand aber bald den Weg in die breitere Öffentlichkeit. Fritz Fischer, Ordinarius der Universität Hamburg, hatte in einem Buch mit dem Titel »Der Griff nach der Weltmacht« (1961) die deutschen Kriegsziele und deren Protagonisten im Lichte der staatlichen Quellen beleuchtet und auf dieser Basis der landläufigen Auffassung widersprochen, alle Mächte seien in den Weltkrieg geschlittert, aber Deutschland allein sei nach seiner Niederlage die gesamte Schuld aufgebürdet worden. Der Versailler Vertrag und die daraus resultierenden Probleme aber, so wurde es auch in den Schulbüchern verbreitet, hätten dann den Aufstieg Hitlers ermöglicht, an dem die Alliierten zumindest eine Mitschuld trügen. Wenn aber nun eine deutsche Hauptverantwortung für den Ersten Weltkrieg ursächlich war, geriet diese Interpretation ins Wanken, musste die Frage nach Kontinuitäten und Parallelitäten gestellt werden, wurde die Sicht auf einen deutschen antidemokratischen Sonderweg eröffnet, die in den 1970er Jahren einigen Einfluss gewann. Fritz Fischers Thesen werden heute relativiert, vor allem wegen der sehr deutschen Betrachtung, die aggressive Potentiale anderer beteiligter Mächte am Ersten Weltkrieg unberücksichtigt ließ. Ohne auf den fachwissenschaftlichen Streit einzugehen – in den Medien triumphierten die Relativierer: Für die Liberalisierung der politischen Kultur war deren zeitgenössische Wirkung aus zwei Gründen positiv. Zum einen zerstörten sie die jahrzehntelang kolportierten nationalistischen Lebenslügen von deutscher Unschuld. Zum anderen gelang es in dieser Auseinandersetzung nicht, einen Kritiker mundtot zu machen. Höhepunkt einer staatlich unterstützten Kampagne konser60 Adornos Vortrag vor dem Koordinierungsrat für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vom Herbst 1959 leitet den Band mit Essays, fast alle vom HR gesendet, ein: Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 19591968. Hrsg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt a. M. 1971. 61 Gerhard Schoenberner, Was heißt Bewältigung der Vergangenheit?, in: Die Zeit, 9.8.1963, abgedruckt in: ders., Nachlesen. Texte zu Politik und Kultur, Hamburg 2016, S. 158-162; Schoenberner setzte den Begriff der »Bewältigung« mit dem der »Aufarbeitung« gleich, obwohl er letzteren als »treffender« bezeichnete.
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vativer Historiker, allen voran Gerhard Ritter, gegen Fischer war der Versuch des Auswärtigen Amtes, 1964 eine Vortragsreise in die USA durch Streichung der Zuschüsse zu sabotieren. Die Solidarität der einladenden Institutionen und Personen verhinderte dies. Im gleichen Jahr traten sogar Bundeskanzler Ludwig Erhard und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier vor die Rundfunkmikrophone, um gegen Fischer Stellung zu nehmen. Aber mittlerweile berichteten zahlreiche Zeitungen sehr kritisch über die Methoden seiner Gegner, so dass zumindest ein Patt in der Auseinandersetzung zu verzeichnen war. Für die Zeitgenossen waren die politischen Frontlinien überdeutlich: hier die jüngeren akademischen Anhänger eines renommierten, in seiner Zunft isolierten Einzelgängers, dort die regierungsoffiziös unterstützten älteren konservativen Historiker und Publizisten, die sich einer kritischen Sicht auf die deutsche Geschichte mit nicht nur diskursiven Methoden verweigerten. Von konservativen Publizisten wurde dringlich vor dem Verzicht auf eigene konzeptionelle Beiträge und die Beschränkung auf repressive Praktiken gewarnt. Das Jahr 1964, so Schrenck-Notzing, »bedeutete für die Konservativen eine totale publizistische Sonnenfinsternis«.62 Der Abendland-Ideologe und StraußVertraute August Freiherr von der Heydte wies darauf hin, dass die meisten Studentenzeitungen in der Bundesrepublik »knallrot« ausgerichtet seien. So unbedeutend sie im Einzelnen seien: »Ihre große Zahl und ihre einheitliche Tendenz links vom offiziellen SPD-Kurs (…) läßt sie zu einer Gefahr werden, die es gilt, fünf Minuten vor zwölf zu erkennen.«63 Die Medienberichterstattung über NS-Verbrechen, antisemitische Aktivitäten wie die Schändung der Kölner Synagoge,64 den Eichmann-Prozess in Jerusalem65 und den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main,66 die Debatten um personelle Kontinuitäten in Politik und Wirtschaft und um die Verjährungsfristen für NSVerbrechen sorgten dafür, dass der Massenmord an den europäischen Juden, der in den 1950er Jahren nur vage benannt worden war, ein zentraler Punkt der Betrachtung des Nationalsozialismus wurde. Bereits in der zeitgenössischen Diskussion 62 Caspar von Schrenck-Notzing, Honoratiorendämmerung, Das Versagen der Mitte, Bilanz und Alternative, Stuttgart 1973, S. 101. 63 August Freiherr von der Heydte, Fünf vor Zwölf, in: ACDP, Nl. Freiherr von der Heydte, 002/1; veröffentlicht in: Deutsche Tagespost, 8.7.1964. 64 Die Kultur veröffentlichte im Februar 1960 eine Sondernummer zur antisemitischen Schmierwelle unter der Überschrift »Noch geschieht es bei Nacht und Nebel« mit einer Umfrage unter prominenten Intellektuellen; Unterlagen dazu in: DLA, A: Kasimir Edschmid; vgl. als Überblick Schildt, Höllenhunde. 65 Gary Smith (Hrsg.), Hannah Arendt revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt a. M. 2000; Peter Krause, Eichmann und die Deutschen. »Vergangenheitsbewältigung in West und Ost am Beispiel der Presse zum Jerusalemer Eichmann-Prozess, in: Deutschland Archiv, Jg. 38, 2005, S. 266-273. 66 Fritz Bauer Institut (Hrsg.), »Gerichtstag halten über uns selbst …«. Geschichte und Wirkung des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt a. M. 2001; Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 158 ff.; Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie, München 2009.
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wurde angemerkt, dass die Konstruktion der NS-Bestie, ob als planender Bürokrat wie Eichmann oder in Gestalt der direkten Vernichtungstäter in Auschwitz, bequeme Distanzierungsmöglichkeiten für die Bevölkerung bot. Die Informiertheit über den Nationalsozialismus und das »Dritte Reich« wuchs zwar weiter an, nicht zuletzt durch verdienstvolle Gesamtdarstellungen und Quelleneditionen um 1960, aber der Massenmord an den Juden, für den seit Ende der 1970er Jahre der Begriff »Holocaust« Verbreitung fand, blieb darin doch ein nur ungern wahrgenommenes Kapitel. Als etwa 1960/61 und als Wiederholung 1963 im Fernsehen die 14 Folgen der Serie »Das Dritte Reich« gezeigt wurden, ermittelte man eine Sehbeteiligung von mehr als der Hälfte der potentiellen Zuschauer, einzig die achte Folge »Der SSStaat«, über Konzentrationslager und Judenvernichtung, fand ein weit geringeres Publikum.67 Mitte der 1960er Jahre wurde immer deutlicher, dass sich eine Schere öffnete zwischen einer jüngeren, gebildeten Minderheit, die durchaus über starke Bastionen in den Medien sowie im politischen Raum verfügte und immer mehr Resonanz für die Forderungen nach Intensivierung der NS-Aufarbeitung erhielt, und der Mehrheit der Bevölkerung, die bei allen demoskopischen Umfragen stets den Wunsch äußerte, über die nationalsozialistische Vergangenheit nichts mehr hören zu wollen, und forderte, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Diese Konstellation, die, wie es Heinrich Böll vertrat, einer Wiederaufnahme der »Schulddebatte« in der unmittelbaren Nachkriegszeit ähnelte,68 flankierte etwa die seit 1964 im Deutschen Bundestag geführten Debatten um die Verjährung von NS-Verbrechen. »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«. Diesen Satz eines jüdischen Mystikers zitierte der Bundestagsabgeordnete und spätere Innenminister Ernst Benda (CDU), einer der Protagonisten für eine Verlängerung der Verjährungsfristen und der Aufhebung der Verjährung für Mordtaten, in der zentralen Debatte am 10. März 1965, die verschiedentlich als »Sternstunde des Parlaments« bezeichnet worden ist. Die öffentliche Resonanz wurde verstärkt durch ein vom Spiegel veröffentlichtes Gespräch zwischen Rudolf Augstein und Karl Jaspers, in dem dieser die Forderungen nach einer Abschaffung der Verjährung für Völkermord moralisch grundierte.69 Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit auch die ersten Gedenkstätten
67 Eine quantitative Totalerhebung des Themas »Nationalsozialismus« im Fernsehen liefert Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999. 68 Heinrich Böll, Sind wir schuldig? In: Tribüne, Jg. 1, 1962, S. 343-350. 69 Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979 (enthält u. a. das Gespräch mit Augstein und eine Analyse der Bundestagsdebatte von 1965); vgl. zu den Verjährungsdebatten Reichel, Vergangenheitsbewältigung, S. 182 ff.; Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München/Wien 1999; Marc von Miquel, Ahnden oder Amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen 2002.
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am Ort ehemaliger Konzentrationslager errichtet wurden, zuerst 1965 in Dachau und Neuengamme.70 Eine erstrangige Bedeutung gewann die Herausbildung einer genuin deutschjüdischen Kultur mit ihrem Zentrum in Frankfurt. Dort wurde 1962 die Tribüne. Zeitschrift für das Verständnis des Judentums gegründet.71 Es lohnt sich, die ersten Jahrgänge unter der Fragestellung, welchen Beitrag sie zu den intellektuellen Debatten jener Zeit leisteten, einer Lektüre zu unterziehen. Zunächst ist zu konstatieren, dass die Aufklärung über das NS-Regime und seine Verbrechen in den frühen 1960er Jahren noch in starkem Maße von jüdischen Überlebenden und ihren Nachkommen geleistet werden musste, aber hier artikulierte sich zuerst die sogenannte zweite Generation in den Jüdischen Gemeinden, die später auch in der Außerparlamentarischen Opposition um 1968 eine bedeutsame Rolle spielen sollte.72 Die Initiative zur Gründung der Zeitschrift entstand unter jüdischen Publizisten, die entschlossen waren, sich mit der Gesellschaft der Bundesrepublik kritisch auseinanderzusetzen und vor den Gefahren des Antisemitismus zu warnen. Für die Wirkung der Zeitschrift war es wichtig, dass sich um die Tribüne herum eine intellektuelle Szene herausbildete, in der jüdische und nichtjüdische Deutsche ganz selbstverständlich zusammenarbeiteten. Um nur wenige prominente Namen zu nennen, die in den ersten drei Jahrgängen mit Beiträgen vertreten waren: der marxistische Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, die Häupter der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, der ebenfalls in Frankfurt lehrende Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der Theologe Rudolf Pfisterer als Experte für christlichen Antijudaismus, der bissige Literaturkritiker Robert Neumann, der Publizist Ludwig Marcuse, die Schriftsteller Heinrich Böll, Erich Kästner, Wolfdietrich Schnurre und Wolfgang Weyrauch. Damals noch wenig bekannt, aber bereits als beratender Redakteur und sehr häufig als Autor hervortretend, agierte der junge Hermann Glaser (Jahrgang 1928), der mit dem Chefredakteur Axel Silenius (Jahrgang 1917), einem in Budapest geborenen Literaturhistoriker und Philosophen sowie international erfahrenen Rundfunkjournalisten, auch gemeinsam publizierte. Das Themenspektrum ergab sich letztlich aus dem Untertitel, wobei dieser im ersten Jahrgang noch sehr unglücklich Zeitschrift zum Problem des Judenproblems lautete. Die Fortexistenz des Antisemitismus wurde immer wieder thematisiert. Viele Artikel suchten in der Geschichte des christlich-jüdischen Zusammenlebens Antworten darauf – in der Rubrik »Blick von der Tribüne« wurde ausführlich über Hochhuths »Stellvertreter« oder »Das Vatikanische Konzil und die Juden« disku70 Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a. M. 1999, S. 99 ff. 71 Vgl. Axel Schildt, Der Aufbruch der 1960er Jahre. Als die Tribüne gegründet wurde, in: Tribüne, Jg. 50, S. 114-124; aus Anlass des Jubiläums wurde ein gedrucktes (und für 20002011 auf CD enthaltenes) Register mit allen Beiträgen herausgegeben. 72 Vgl. Tobias Freimüller, Mehr als eine Religionsgemeinschaft. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, Jg. 7, 2010.
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tiert –, oder es wurde auch allgemeiner, wie bei Hermann Glaser, die deutsche autoritäre »Spießerideologie« seit dem Kaiserreich kritisiert. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, vor allem die aufmerksame Beobachtung der Prozesse gegen NSTäter und Antisemiten, bildete einen weiteren Schwerpunkt. Ziel war es, auszuloten, welchen Möglichkeiten und Gefährdungen jüdisches Leben in der neuen Demokratie ausgesetzt war. Ausländerfeindlichkeit und Hass gegen Minderheiten galten auch als Gefährdung der Demokratie und damit der Sicherheit der Juden in Deutschland.73 Dabei fällt auf, dass sich die Tribüne jeglichem Alarmismus verschloss, die Bundesrepublik sei durch ein neues 1933 gefährdet. Eine »Renazifizierung« sei nicht zu erwarten. Bereits in einem Artikel von Walter Jacobsen hieß es 1962: »Das deutsche Volk wird sich in gleicher Weise und Richtung nicht ein zweites Mal verführen lassen.« Die Gefahr sei eher im politischen »Konformismus« zu suchen, der neuen autoritären Anfechtungen vielleicht nicht gewachsen sei;74 in anderen Beiträgen wurde eine »politische Indifferenz in Deutschland« konstatiert.75 Rezipiert wurden in diesem Zusammenhang auch kritisch-theoretische Ansätze zum »autoritären Charakter«, wie sie Adorno und Horkheimer im amerikanischen Exil entwickelt hatten.76 In ihren ersten Jahren warb die Tribüne stetig um Verständnis für Israel, zu dem bis 1965 keine diplomatischen Beziehungen bestanden, um, wie die Bonner Regierung betonte, nicht die Handelsinteressen im arabischen Raum zu beeinträchtigen und nicht die Anerkennung der DDR durch arabische Staaten zu provozieren. Von Anfang an finden sich regelmäßig Reiseberichte über den »jungen Staat« Israel im Heft, auch über die israelische Gesellschaft wurde differenziert berichtet. Seit 1963 politisierte die Redaktion diesen Themenbereich sichtlich, nun ging es verstärkt um das deutsch-israelische Verhältnis mit dem Ziel der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Auf 17 Seiten wurde im fünften Heft eine Rede des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier an der Hebrew University vom 21. November 1962 wiedergegeben, die von Peinlichkeiten nicht frei war, bedauerte der konservative Politiker hier doch vor israelischem Publikum, dass die Ablehnung des Nationalismus als bloße »Verneinung des Gewesenen« ein geistiges »Vakuum« geschaffen habe. »Der vom Nationalsozialismus in der Gleichschaltung erzwungene Konformismus ist weithin von einem habituellen Nonkonformismus abgelöst worden«, der »selten produktiv« wirke; die Spiegel-Affäre habe gezeigt, dass mittlerweile der »sittliche Wert staatlicher Entscheidungen oft von vornherein in Frage gestellt wird«.77 Dem sekundierte in der gleichen Nummer, die zahlreiche Stellungnahmen 73 Zum engen Zusammenhang – »Demokratie = Jüdische Identität« – Anthony D. Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007, S. 157. 74 Jacobsen, Große Abrechnung, S. 9. 75 Paul Arnsberg, Die gläserne Wand, in: Tribüne, Jg. 1, 1962, S. 146-152, Zitat S. 148. 76 Helmut Kentler, Antisemitismus heute, in: Tribüne, Jg. 1, 1962, S. 157-165. 77 Eugen Gerstenmaier, Wandlung der Deutschen? Tatbestände, Ziele und Gefahren, in: Tribüne, Jg. 2, 1963, S. 441-457.
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zu den deutsch-israelischen Beziehungen gesammelt hatte, ein Bundestagsabgeordneter der SPD: »Ich wünschte, unser deutsches Volk und insbesondere unsere deutsche Jugend hätte auch nur annähernd so viel Staatsbewußtsein wie die Israelis und die israelische Jugend es in bezug auf ihren Staat besitzt und bestätigt.«78 Allerdings kam es der Redaktion offenbar nicht auf solche eher ambivalenten Statements an, sondern auf die Effekte der Verständniswerbung. In zahlreichen Artikeln abseits der tagespolitischen Stellungnahmen wurden entsprechende philosemitische Ideologeme durchaus analytisch seziert. Wie angedeutet, besaß die sich herausbildende jüdische intellektuelle Szene ein eher linksliberales Profil, ohne konservative Positionen auszugrenzen. Mitte der 1960er Jahre bildete sich in Frankfurt eine Gruppe um Dan Diner, Micha Brumlik, Cilly Kugelmann und Daniel Cohn-Bendit (alle zwischen 1945 und 1947 geboren), die sich 1968 und danach als politisch engagierte Intellektuelle, etwa im Sozialistischen Büro, betätigten. Auch die Aufmerksamkeit für überlebende Angehörige aus dem Exil, die nun in der Bundesrepublik lebten, und ihre Themen, wie Jean Améry und Hannah Arendt,79 erhöhte sich in den 1960er Jahren beträchtlich. Wohl zum ersten Mal reflektierte Améry explizit das Schicksal der »Intellektuellen im Lager« und wies dabei auf die »lebens- und todesentscheidende Frage des Arbeitseinsatzes« hin, die Notwendigkeit, seinen Beruf zu verbergen und sich zum Handwerker zu erklären und »hart an der Grenze der Brutalität liegenden Mut aufzubringen«.80 Die gestärkte Position der linken jüdischen Intellektuellen in Frankfurt bildete auch den Hintergrund für einige akademische Konflikte, die nur knapp erwähnt werden sollen, wie etwa die von Adorno und Horkheimer verhinderte Berufung von Golo Mann,81 der schon in den 1950er Jahren mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert worden war, auf ein Ordinariat. Auch jüngere Akademiker mit konservativen Ambitionen wie Wilhelm Hennis hatten es schwer, Fuß zu fassen.82 Gewarnt wurde schließlich Rudolf Augstein, den Journalisten Gerhard Maunz als Gerichtsreporter einzustellen; sein Bericht über den Auschwitz-Prozess, so der Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte, Walter Fabian, sei »feuilletonistisch, um nicht zu sagen: schnoddrig« gewesen.83 Es lag aber vor allem an der Ungeschicklichkeit und der Intransigenz konservativer Politiker und Publizisten selbst, sich nicht auf einen Dialog einzulassen. Vor allem das vielbeachtete Verhalten Gerstenmaiers wirkte auf jüngere Intellektuelle 78 Heinrich G. Ritzel, Deutschland und Israel, in: Tribüne, Jg. 2, 1963, S. 473-475, hier S. 473. 79 Vgl. Heidelberger-Leonard, Jean Améry, S. 189 ff.; zu Hannah Arendt existiert eine große Zahl von Einführungen und Überblicksdarstellungen; besonders instruktiv für die Karriere in den 1960er Jahren: Claudia Althaus, Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie, Göttingen 2006. 80 Jean Améry, Der Intellektuelle im Lager, in: CrP-Informationsdienst. Club republikanischer Publizisten, Nr. 4/5, 1964, in: AdsD, Nl. Ansgar Skriver, 000111. 81 Vgl. Urs Bitterli, Golo Mann, Instanz und Aussenseiter, eine Biographie, Berlin 2004, S. 142 f., 194; Tilmann Lahme, Golo Mann. Biographie, Frankfurt a. M. 2009, S. 287 ff. 82 Schlak, Wilhelm Hennis, S. 69 f. 83 Walter Fabian an Rudolf Augstein, 3.5.1964, in: DNB, Nl. Walter Fabian.
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abschreckend und kontraproduktiv, zumal er sich immer wieder zu Wort meldete und der Experte innerhalb der CDU für dieses Thema war. Eine innerparteiliche Diskussion zu seinen Thesen fand nicht statt. Ansatzpunkt seiner erwähnten Rede in Israel war die Feststellung, dass ein bereits vor 1933 vorhandenes »übersteigertes« nationales Bewusstsein von den Nationalsozialisten zur »Verseuchung des deutschen Volkes« genutzt worden sei. Er empfinde »Scham über das, was eben doch im deutschen Namen – wenn auch ohne, ja gegen den Willen vieler Deutscher – zu unserer Zeit geschah«. Mittlerweile aber sei die Öffentlichkeit »allergisch geworden (…) gegen alles, was auch nur von Ferne an den Nationalsozialismus und sein Staatsverhältnis erinnert«. Von hier aus gelangte er zu einem Debattenbeitrag zur laufenden deutschen Diskussion um die Spiegel-Affäre. Ungewöhnlich war schon die Funktionalisierung des innenpolitischen Themas in Israel, noch befremdlicher musste seine These wirken. Nur vor dem Hintergrund der Ablehnung des Nationalsozialismus erklärte er »viele nervöse und überproportionierte Reaktionen in Deutschland auf mögliche Formalvorstöße der Behörden«. Man befinde sich in der »bloßen Antithese zum Nationalismus«.84 Bemerkenswert erscheinen auch die Ausführungen Gerstenmaiers in einer repräsentativen Rede vor dem Jüdischen Weltkongress 1966, die u. a. in der Zeit und in Christ und Welt am gleichen Tag abgedruckt wurde.85 Wieder ging es um die Frage des Nationalbewusstseins, das »wirr und ungeklärt« erscheine, solange nicht deutlich werde, dass die Massenverbrechen »die größte Schande (seien), die Deutschland von Deutschen je angetan wurde«. Zur direkten Geschichtsklitterung verstieg sich der Zeitzeuge Gerstenmaier, als er den Widerstand gegen den Nationalsozialismus als Argument dafür einbrachte. Er habe sich erhoben, »als das Reich Hitlers noch auf der Höhe seiner Macht war«. Damit meinte er selbstverständlich den nationalkonservativen und nicht den 1933 terroristisch unterdrückten Arbeiterwiderstand. Gerstenmaiers Position wurde offenbar auch von jüngeren konservativen Intellektuellen geteilt. Rüdiger Altmann sprach unumwunden davon, dass sich in der Öffentlichkeit »allzu häufig ein krampfhafter Philosemitismus bemerkbar« mache und das »Judenproblem« überlagere.86 Dass der Antisemitismusvorwurf in der Auseinandersetzung zwischen Intellektuellen häufig funktionalisiert wurde, ist am Beispiel von Hermann Kesten und Hans Habe bereits dargestellt worden. Der Unterschied zur Kampagne von Kurt Ziesel bestand darin, dass er in diesem Fall von konservativen jüdischen Schriftstellern und Publizisten gegen die Linke vorgebracht wurde. Kesten sah den wachsenden Antisemitismus und Prokommunismus 84 Gerstenmaier, Wandlung, S. 446, 448, 449; abgedruckt auch in Eugen Gerstenmaier, Wandlung der Deutschen? Tatbestände, Ziele und Gefahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1, 1963, S. 3-13. 85 Eugen Gerstenmaier, Wir Deutschen und die Juden. Analyse, Mahnung und Bekenntnis, in: Die Zeit, 12.8.1966; ders., Das Gleichgewicht fehlt. Unser Verhältnis zu den Juden, in: Christ und Welt, Jg. 19, Nr. 32, 12.8.1966. 86 Rüdiger Altmann, Vorstellungen über die Juden in der Bevölkerung, 10.1.1964 (MS, 20 S., Zitate S. 11, 19), in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, 1/RAAC 000047.
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als sachlichen Zusammenhang und nannte als deren Vertreter Siegfried Unseld, Uwe Johnson, Erich Kuby und Giangiacomo Feltrinelli.87 Aber diese haltlose Kritik verfing seinerzeit nicht. Und während die Ehrungen zum 70. Geburtstag und die Nekrologe zu Friedrich Sieburgs Tod 1963 und 1964 seine NS-Belastungen meist nicht einmal erwähnten,88 erschütterte zeitgleich die Aufdeckung der SS-Mitgliedschaft von Hans Egon Holthusen die intellektuelle Szene. Vor dem Hintergrund seines bissigen Engagements gegen linke Intellektuelle inner- und außerhalb des PEN-Zentrums gab es kaum Verständnis für diese zentrale Figur der rechten Literatur- und Kulturkritik, die über ein Jahrzehnt dafür auch der entscheidende Ansprechpartner für den Merkur gewesen war. Holthusen hatte 1961 den Posten eines Programmdirektors des Goethe House in New York übernommen.89 In seiner neuen Funktion erhoffte er sich sogar eine verstärkte Wirkung auf den westdeutschen Kulturbetrieb, konnte er doch mit seinem Budget zahlreiche Schriftsteller einladen, die sich, bis zu Ingeborg Bachmann 1962, dort einfanden.90 Alfred Andersch argwöhnte sogar eine »dumme Cliquenbildung« und das »Umschlagen von Hoch-Intelligenz in pure Dummheit«, weil Enzensberger und Walser in literarischen Streitigkeiten mit Holthusen bisweilen einer Meinung waren.91 Der Polemik Holthusens gegen die deutschen Linksintellektuellen und ihre Obsession, sich an »immer neuen moralischen Lustbädern und sadistisch-masochistischen Film- und Fernsehorgien an der ›deutschen Schuld‹ aufzugeilen«,92 tat dies keinen Abbruch. Aber »die Stimme eines einsamen Rufers in einer unruhigen Zeit« verlor ihre Bedeutung, weil ihn »seine eigene Vergangenheit« gerade einholte, als er nach New York ging.93 Dass gerade zu dieser Zeit seine Mitgliedschaft in der Allgemeinen SS seit dem Spätherbst 1933 und in der NSDAP seit 1937 bekannt wurde, bedeutete nicht nur für ihn eine moralische Katastrophe. Als Obersturmführer im Reichssicherheits87 Hermann Kesten an Peter Härtling/Deutsche Zeitung, 13.1.1962, in: Archiv Monacensia, Nl. Hermann Kesten, HK B 1391 (A. S., 12). 88 Eine Ausnahme bildet – zumindest rückblickend nach 30 Jahren – Rudolf Walter Leonhardt, Ein Mann ohne Vergangenheit, in: Die Zeit, 14.5.1993; vgl. zum Mainstream als kleine Auswahl Georg Böse, Sein Grundakkord heißt Frankreich. Zum siebzigsten Geburtstag von Friedrich Sieburg, in: Christ und Welt, Jg. 19, 10.5.1963; Wolf Jobst Siedler, Plädoyer für einen linksschreibenden Rechten. Friedrich Sieburg zum 70. Geburtstag, in: Die Zeit, 17.5.1963; Josef Müller-Marein, Abschied von Friedrich Sieburg, in: Die Zeit, 24.7.1964; Armin Mohler, Ein Homme de lettres. Zum Tode Friedrich Sieburgs, in: Christ und Welt, 24.7.1964; Wolf Jobst Siedler, Abschied von Sieburg, in: Die Welt, 25.7.1964. 89 Das »Goethe House. The American-German Cultural Center and Library« residierte in der 5th Avenue; seit den frühen 1950er Jahren hatte Holthusen immer wieder die USA bereist. 90 Vgl. Bachmann/Enzensberger, Schreib, S. 288. 91 Alfred Andersch an Hans Paeschke, 2.1.1961, in: DLA, D: Merkur. 92 Hans Egon Holthusen an Hans Paeschke, 21.3.1963, in: DLA, D: Merkur. 93 Rüther, Unmächtige, S. 128, 129; Brambilla, Hans Egon Holthusen, S. 19 ff.; bisher gibt es noch keine kritische Biographie zu Holthusen.
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hauptamt (SD Inland) hatte er sich vor allem bei der Gegnerbekämpfung im Bereich von Kunst und Kultur94 hervorgetan, im Zweiten Weltkrieg auch als Propagandist des Krieges im Osten. Der Fall war auch deshalb hoch aufgeladen, weil sich hier der Kontrast von Täter und Opfer, genannt wurde Jean Améry, besonders prägnant symbolisierte.95 Prominente konservative Kollegen zeigten sich hingegen solidarisch. Während Sieburg mutmaßte, dass der »Abortreiniger Schonauer ihn bei uns auf so schändliche Weise verunglimpft hat«,96 informierte Paeschke seinen langjährigen Autor Holthusen, dass Enzensberger jedenfalls nicht der Urheber der Kampagne gegen ihn gewesen sei.97 Eine Distanzierung oder Erörterung der Inhalte erfolgte nicht. Mit einigem zeitlichen Abstand, 1966, erhielt Holthusen Gelegenheit, im Merkur seinen Weg in die SS ausführlich über zwei Hefte hinweg nachzuzeichnen.98 Wer sich Informationen über seine Karriere im Apparat der SS, seine politisch-ideologischen Positionen, überhaupt konkrete Auskünfte erhofft hatte, wurde allerdings restlos enttäuscht. Es handelte sich um den »Bericht« eines Verteidigers über »die Entwicklung meines Mandanten«, also gehalten in der dritten Person, der in einem imaginären Prozess bemüht war, alles zu verdunkeln, zu verschweigen und wo möglich die Tatsachen zu beugen. Die Muster dafür waren vorgegeben. Da war, wie bei Mohler, der Jugendliche, der angeblich linksradikal gewesen sei, sich aber dann für den Nationalsozialismus begeisterte, den er für noch radikaler hielt im Kampf gegen den Liberalismus, denn »die Welt mußte auf rabiate Weise verändert werden«. Er sei bei »dienstlichen Gelegenheiten und manchmal auch außer Dienst in einer Uniform herum(ge)laufen«; als seine »Dienstleistung« erwähnte er lediglich das Herumstehen, die Zählappelle, das Singen und Biertrinken, Exerzieren usw.; aber während der NS-Zeit habe er seine »feindselige Haltung zum Antisemitismus« aufrechterhalten; am Ende des Krieges sei er »Mitwisser und Parteigänger einer militärischen Verschwörung gegen das Naziregime« gewesen und nach Kriegsende als »Dichter des deutschen Widerstandes« gewürdigt worden. Ehrlich klang nur die Schlusspassage: »Letzte Frage: was will der Autor mit dieser Darstellung bewirken? Verwirrung stiften!« Die eigentliche Frage wäre wohl die nach den Motiven und Loyalitäten, die Paeschke bewogen hatten, den peinlichen Text so umfänglich im Merkur abzudrucken. Holthusen hatte bereits 1964 politisch resigniert und blieb
94 Vgl. Wildt, Generation, S. 797 ff. 95 Vgl. Willi Winkler, Die Stunde der Schlachtung am düsteren Stein, Einmal SS, einmal Widerstandskampf, Die Schriftsteller Hans Egon Holthusen und Jean Améry, auch eine Nachkriegsgeschichte, in: Süddeutsche Zeitung, 4.6.2012. 96 Friedrich Sieburg an Rudolf Krämer-Badoni, 23.1.1962, in: DLA, A: Friedrich Sieburg; Franz Schonauer (1920-1989) war 1961 mit einem Buch über das Thema bekannt geworden: ders., Deutsche Literatur im Dritten Reich, Olten/Freiburg i. Br. 1961. 97 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 8.6.1961, in: DLA, D: Merkur. 98 Hans Egon Holthusen, Freiwillig zur SS, in: Merkur, Jg. 20, 1966, S. 921-939, 1037-1049, Zitate S. 922, 923, 924, 937, 1049.
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als Professor zunächst in den USA, wo man sich »in besserer Gesellschaft als unter dem linksdeutschen Literatengesindel« befinde.99 Während Holthusen sich als unwillig zu ernsthafter Selbstkritik zeigte und dafür die Solidarität seiner rechtskonservativen Kollegen erhielt, sah Mohler die eigentliche Gefahr der Thematisierung der NS-Vergangenheit darin, dass aus ehemaligen Nationalsozialisten nun unter dem Druck der Verhältnisse windelweiche Advokaten der liberalen Demokratie geworden seien. Nach diesem Muster war bereits Ziesel mit seiner Rufmord-Kampagne der späten 1950er Jahre, etwa in Bezug auf den Fall Karl Korn, verfahren. Mohler, selbst mit Vorwürfen konfrontiert, weil er verschiedentlich unter Pseudonym in der Deutschen National- und Soldatenzeitung publiziert hatte, rechtfertigte sein Verhalten im Spiegel100 und im Kreis seiner Kollegen offensiv. Dabei ging es um die Frage, in welchen Medien man als Konservativer schreiben dürfe. Klaus Harpprecht hatte ihn diesbezüglich kritisiert.101 Eine solche Haltung forderte Mohler auch von allen anderen angegriffenen Konservativen,102 vermisste sie aber nicht nur schon lange beim liberal gewordenen Karl Korn, der sich als Wächter des freien Geistes aufspiele,103 sondern zuerst und vor allem bei Giselher Wirsing, einem Chefideologen der Nationalsozialisten und – seit den 1950er Jahren Chefredakteur der Wochenzeitung Christ und Welt, die von Eugen Gerstenmaier herausgegeben wurde. Die Vorwürfe gegen Wirsing waren zwar bekannt und hatten zu juristischen Auseinandersetzungen geführt, aber ein neuerlicher »widerlicher Artikel«104 des Spiegel bot Anlass für Mohlers zentrale These, ohne Nachgeben gegenüber dem linken Meinungsdruck durch charakterlose Opportunisten wie Wirsing gäbe es in der Bundesrepublik eine starke konservative Presse.105 Vor dem Hintergrund heftiger Streitigkeiten in der Redaktion von Christ und Welt sowie zwischen Verleger und Wirsing und des Zurückbleibens hin99 Hans Egon Holthusen an Armin Mohler, 24.12.1968, in: DLA, A: Mohler. 100 Armin Mohler, Leserbrief, in: Der Spiegel, 3.4.1967. 101 Klaus Harpprecht an Armin Mohler, 14.4.1967; Armin Mohler an Klaus Harpprecht, 25.4.1967, in: DLA, A: Armin Mohler. 102 Paul Hübner/Rheinische Post (Düsseldorf ) an Armin Mohler, 13.4.1967; Armin Mohler an Paul Hübner, 17.4.1967, 19.4.1967, in: DLA, A: Mohler. 103 Mohler, Tendenzwende, S. 156 ff. 104 Giselher Wirsing an Ernst Wilhelm Eschmann, 20.4.1967, in: DLA, A: Armin Mohler; der Artikel des Spiegel-Kolumnisten Otto Köhler erschien unter dem Titel »C + W« am 24.4.1967. Wirsing war vorab von Augstein informiert worden, der den Artikel »aus persönlichen Gründen bedauere«; er sei »ohne mein Wissen und Zutun« geschrieben worden, so dass er »keine Handhabe« gesehen habe, »ihn zu verhindern«. Wirsing ließ das nicht gelten; Augstein wasche wie Pontius Pilatus seine »Hände in Unschuld«, wenn er beschuldigt werde, er habe, mit den Worten von Köhler, den »kaltblütigen Massenmord von Auschwitz« als zweckmäßig charakterisiert, weil die »Unfähigkeit des jüdischen Elements zur substanziellen Wandlung (…) immer wieder zu seiner gewaltsamen Ausscheidung führen« müsse. »So wird Rufmord heute gemacht«; Giselher Wirsing an Rudolf Augstein an, 21.4.1967, in: DLA, Nl. Johannes Gross (unverzeichnet). 105 Ausführlich Mohler, Tendenzwende, S. 146.
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ter der Zeit bei den Auflagenzahlen erschien Mohlers These für einige Zeitgenossen plausibel. Trotz einiger aufsehenerregender Debatten – etwa um die »Bildungskatastrophe« in den 1960er Jahren – erreichte der kulturelle Teil von Christ und Welt nicht das intellektuelle Renommee des Feuilletons der Zeit, was aus eigener Sicht damit erklärt wurde, dass es vielleicht daran liege, dass »es kulturell ambitionierten Journalisten ganz allgemein schwerfällt, mit dem Geist der Zeit in Spannung zu leben«.106 Auch eine Krise dezidiert katholisch-konfessioneller Publizistik machte sich seit den 1960er Jahren bemerkbar und führte zu konservativer Ökumene. Seit 1971 war Christ und Welt nur noch der Untertitel für die ebenfalls zum Holtzbrinck-Konzern gehörige Deutsche Zeitung.107 Der Rheinische Merkur fusionierte 1979 mit der Deutschen Zeitung. Christ und Welt; neuer Titel wurde Rheinischer Merkur. Christ und Welt; 1971 hatte die Auflage beider Blätter bei 50.000 und 150.000 gelegen, nach der Fusion betrug die Gesamtauflage noch 140.000 Exemplare und ging dann bis 1989 auf unter 100.000 zurück. Rheinischer Merkur. Christ und Welt wurde 2010 eingestellt, die Rechte am Titel wurden 2012 – ausgerechnet – vom Zeit-Verlag übernommen. Vergeblich hatte sich Giselher Wirsing bemüht, Mohler bei seiner Rückkehr aus Paris als Leiter des Feuilletons von Christ und Welt zu gewinnen, um das Blatt neu auszurichten. Stattdessen strebte er eine enge Verbindung an. Noch in Paris hatte Mohler in einem Brief »An alle meine Freunde und Bekannten« bekanntgegeben, er habe zum 1. August 1960 seine »Mitarbeit an dem Hamburger Wochenblatt gekündigt« und werde »von diesem Datum an als Pariser Korrespondent der Stuttgarter Wochenzeitung ›CHRIST UND WELT‹ tätig sein.«108 Weiteren Zuwachs von rechtskonservativer Seite erhielt die Wochenzeitung durch Hans Georg von Studnitz, der nach siebenjährigem »Intermezzo« als Pressesprecher der Lufthansa 1953 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Ressorts Außenpolitik wurde.109 In einer umfangreichen Ausarbeitung begründete er die Neuausrichtung des Blattes.110 Zeit und Sonntagsblatt hätten »erheblich aufgeholt«, aber auch der Rheinische Merkur habe sich modernisiert. Der Zeit sei es gelungen, »durch das Anfassen von heißen Eisen auf innenpolitischem, aber auch literarischem Gebiet neue Leserschichten, zumal in der Studentenschaft zu erschließen.« Der Besitzer Holtzbrinck meine auch, die Frauen sollten stärker berücksichtigt werden, »weil der politische Teil sie kaum interessiert und das zweite Produkt sie geistig überfordert«. 106 Frank-Planitz, Zeit, S. 160. 107 Diese hatte 1964 mit dem Handelsblatt fusioniert, das wiederum 1968 von Holtzbrinck aufgekauft wurde. 108 Armin Mohler, Rundbrief (im Juli 1960), in: DLA, A: Armin Mohler. 109 Hans Georg von Studnitz an Generalmajor Graf Baudissin, 19.4.1963, in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 5.1. 110 Christ und Welt. Planung 1962. Themenvorschläge H. G. v. Studnitz, 30.9.1962, in: ASU, N. Hans Georg von Studnitz, 16.2.
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Für sämtliche Ressorts machte Studnitz Vorschläge und nannte die Namen potentieller Autoren. Über den »politischen Linksdrall« deutscher Bestseller-Literaten sollten u. a. Mohler, Martini und Höpker schreiben, vorgesehen waren Serien über die Bundeswehr, über »Fremde in Deutschland«, darunter »farbige Studenten« und die »Lage der weißen Fremdarbeiter«, Porträts von »Köpfen der deutschen Publizistik«, Artikel über halbstaatliche Organisationen wie das Kuratorium Unteilbares Deutschland, die Bundeszentrale für Heimatdienst, über Kirchen und Gewerkschaften sowie über die politischen Parteien sollten das thematische Spektrum öffnen. Im Feuilleton sollten Themen wie die deutsche Vollblutzucht, Ehevermittlung, Garagenpartys und die »Frau als Vorgesetzter« Miniaturen des modernen Lebensstils präsentieren. Mit der thematischen Neuausrichtung wurde ein rechtskonservativer Kurs verbunden, wie an zahlreichen Artikeln ablesbar war. So wetterte dort etwa Helmut Thielicke, hart am rechtsextremen Rand, über den deutschen »Nationalmasochismus«.111 Allerdings verflog der Elan des Neuaufbruchs schon bald, weil auch die Redaktion von Christ und Welt sich in die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gaullisten und Atlantikern verstrickte. Mehnert beschwerte sich bei Wirsing über den Antiamerikanismus von Studnitz.112 Zum gleichen Zeitpunkt verabschiedete sich Mohler als Mitarbeiter der Redaktion nach einem endgültigen Zerwürfnis mit Chefredakteur Wirsing, der ihn gleichwohl als Mitarbeiter des Feuilletons nicht verlieren wollte.113 Die Linien der Auseinandersetzung waren selbst für informierte Zeitgenossen kaum zu überblicken. Auf der Seite der tendenziell antiamerikanischen Gaullisten standen Studnitz und Mohler, auf der Seite der Atlantiker Autoren wie Klaus Mehnert und der häufig vertretene Johannes Gross, der ein beträchtliches Honorar als Fixum bezog. Über einen Artikel von Gross wiederum beschwerte sich Franz Josef Strauß: »Ich möchte nicht verhehlen, daß mich auch das Verhältnis, das zwischen ›Christ und Welt‹ und mir besteht, beschäftigt. Ich vermag keine klare politische Linie mehr zu erkennen, Der Artikel von Johannes Gross war ebenso unfreundlich und unfair wie unobjektiv. Man kann nicht um der Ausdrücke willen schreiben, die man für gelungen hält. Herr Gross und Herr Wirsing müßten wissen, wem sie damit Vorschub leisten.«114
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Helmut Thielicke, Wo stehen wir? Die Phrase von der Bewältigung der Vergangenheit, in: Christ und Welt, 27.3.1964. 112 Klaus Mehnert an Giselher Wirsing, 22.6.1964, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 61. 113 Armin Mohler an Eugen Gerstenmaier, 7.11.1964, in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 16.2.; Hans Zehrer an Giselher Wirsing, 29.12.1964; Giselher Wirsing an Hans Zehrer, 12.1.1965, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 23; Giselher Wirsing an Armin Mohler, 21.5.1965, in: DLA, A: Armin Mohler. 114 Franz Josef Strauß an Hans Georg von Studnitz, 25.6.1965, in: DLA, Nl. Johannes Gross (unverzeichnet); den Brief machte Studnitz Wirsing zugänglich.
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In das idealtypische Tableau der Positionen wären noch Versuche einer Liberalisierung des Wochenblatts einzubeziehen, für die der Medienexperte der EKD Eberhard Stammler stand, der für ein halbes Jahr als stellvertretender Chefredakteur fungierte, bis ihm Ende 1964 gekündigt wurde.115 Mohler meinte gleichwohl: »Zusammengefaßt würde ich sagen, dass CHRIST UND WELT sich seit einiger Zeit von einem Blatt wie der ZEIT nur noch im Atmosphärischen unterscheidet.«116 Die Koexistenz von zaghaften Liberalisierungsversuchen mit Artikeln, die man nicht in Christ und Welt vermutet hätte, so wurde etwa über Enzensbergers Poetik-Vorlesung 1964 positiv berichtet, und der überwölbenden Auseinandersetzung zwischen Gaullisten und Atlantikern ließ keine klare Linie erkennen. Hinzu kamen Publizisten, die lavierten, abwarteten, ihre Position den Gegebenheiten anpassten. Dazu zählte vor allem Giselher Wirsing selbst, der den großen Coup mit Pichts »Bildungskatastrophe« dazu hatte nutzen wollen, Christ und Welt avantgardistisch zu profilieren.117 Aber er verlor im Laufe der 1960er Jahre immer stärker das Vertrauen des Verlegers Gerstenmaier und des Besitzers Holtzbrinck und war nur durch die ständige Vermittlung Mehnerts zu halten.118 Mohler hatte die Pariser Zeit (1953-1961) gut genutzt. Zum einen knüpfte er vielfältige journalistische Kontakte. Er schrieb für die Zürcher Die Tat, aber auch für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit sowie andere deutsche und österreichische Blätter. Wie seine intensive Korrespondenz mit der Publizistin Margret Boveri zeigt, verstärkte die Außensicht auf Deutschland seine Gegnerschaft zur Politik der Westintegration unter amerikanischer Suprematie.119 Zum anderen las er in Paris begierig die theoretischen Schriften der französischen Rechten.120 Vor allem aber hatte er das Glück, in der Zeit des Umbruchs zur Fünften Republik am Ort des Geschehens gewesen zu sein und die Durchsetzung de Gaulles aus nächster Nähe erlebt zu haben. Für ein Jahrzehnt fand er seine Bestimmung als Gaullismus-Spezialist und Propagandist de Gaulles. Als Mohler, vierzigjährig, von Paris nach München wechselte, war die Abenddämmerung der Ära Adenauer angebrochen. Mohler wollte konzeptionellen Einfluss ausüben. In dieser Situation kam ihm ein Angebot der Carl-Friedrich-von115 116 117
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Eberhard Stammler an Gesellschafter von Christ und Welt, 23.12.1964, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 60; Wolfgang Ignée/Christ und Welt an Rolf Schroers, 16.6.1965, in: LA NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 16.6.1965. Armin Mohler an Eugen Gerstenmaier, 19.5.1965, in: DLA, Nl. Johannes Gross (unverzeichnet). Giselher Wirsing an Klaus Mehnert, 18.12.1963, in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 59; Georg Picht an Theodor W. Adorno, 17.1.1964, in: AdK/TWAA; Walter Dirks an Hubert Habicht, 11.12.1964, in: AdsD, Nl. Walter Dirks, 324 A; Picht, Bildungskatastrophe, Vorwort. Umfangreiche Unterlagen in: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Nl. Klaus Mehnert, Bü 58, 60, 61, 64. Vgl. Görtemaker, Ein deutsches Leben, S. 260 ff. Armin Mohler, Die französische Rechte. Vom Kampf um Frankreichs Ideologienpanzer, München 1958.
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Siemens-Stiftung wie gerufen, dort für das Programm zuständig zu werden. Er zog es der Möglichkeit vor, Leiter des Feuilletons von Christ und Welt zu werden. Aus dem Journalisten war ein leitender Angestellter geworden. Zu verdanken hatte er die Stellung in der Siemens-Stiftung nicht zuletzt einer ominösen Münchener »Tafelrunde«, die seit 1951 bestand und zu deren etwa 80 Mitgliedern Caspar von Schrenck-Notzing, ein Vertrauter Mohlers, zählte; auch von Rechtsintellektuellen aus dem Umkreis der von der Bundesregierung subventionierten Gesellschaft für Wehrkunde war sein Name ins Spiel gebracht worden.121 Nach drei Jahren in der Siemens-Stiftung rückte er 1964 zum Geschäftsführer auf und blieb bis zu seiner Pensionierung auf dem gut dotierten Posten. Dadurch erweiterten sich seine Freiräume beträchtlich.122 Eine Bedingung der Stiftung erwies sich für Mohler als vorteilhaft. Er sollte sich nämlich um eine Habilitation bei dem konservativen Politikwissenschaftler Eric Voegelin an der Ludwig-Maximilians-Universität bemühen. Mohler bot dafür eine Ideengeschichte der französischen Rechten an. Voegelin zögerte, verschaffte ihm aber ein Stipendium der Thyssen-Stiftung und einen Lehrauftrag. Aber auch Empfehlungen von Helmut Schelsky in Münster, Heinz Gollwitzer für München sowie von Hans Freyer führten nicht zum Erfolg.123 Die Habilitation gelang dann erst 1966 an der Universität Innsbruck. Zwar war damit nicht der erhoffte Sprung in die akademische Welt verbunden, wie ihn etliche konservative Publizisten – Eschmann, Mehnert, Roegele u. a. – zur gleichen Zeit vollzogen, aber der akademische Titel erhöhte seine Reputation. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Gesprächsforen für die Stiftung zu organisieren. Er lud zahlreiche prominente Vertreter des Konservatismus zu Vorträgen ein. So versammelten sich 1966 Arnold Gehlen, Ernst Forsthoff, Hellmut Diwald, Peter R. Hofstätter, Konrad Lorenz und andere zu einem Oswald-Spengler-Gedächtnis-Symposion der Stiftung. Die Liste der Vortragenden, die Mohler über die Jahre hinweg nach München einlud, liest sich wie ein Who’s who der konservativen Intellektuellenszene. Sie reichte von dem Soziologen Helmut Schelsky bis zu dem Ethnologen Wilhelm Mühlmann, von dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr bis zu dem Psychologen Hans J. Eysenck. Die vielfältigen Kontakte führten immer wieder zum Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten über die Organisationsfrage124 und zu Publizisten, die für sich nach politischer Orientierung und Möglichkeiten suchten, die eigene Auffassung zu vertreten. Auch hier scheinen Parallelen zur gleichzeitigen Suchbewegung auf der Linken auf. Der Physiker Pascual Jordan, Kritiker der Anti-Atombewegung und Bundestagsabgeordneter der CDU von 1961 bis 1965, gab seiner Sehnsucht nach konservativer Formierung beredten Ausdruck: 121 Zu den Gremien der Siemens-Stiftung, die eng mit der Münchener Universität und der Technischen Hochschule bzw. (seit 1970) Technischen Universität kooperierte, vgl. Thomas Willms, Armin Mohler. Von der CSU zum Neofaschismus, Köln 2004, S. 58 ff. 122 Vgl. Weissmann, Armin Mohler, S. 149 ff. 123 Armin Mohler an Hans Freyer, 27.6.1961, in: DLA, A: Armin Mohler. 124 Vgl. Weissmann, Armin Mohler, S. 163 ff.
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»Ist es nicht an der Zeit, an die Herstellung eines engeren Kontaktes zwischen Menschen konservativer Gedankenrichtung zu denken? (…) Zunächst die Sammlungsbewegung einer kleinen Initiativgruppe, und dann die Aufstellung einer Wunschliste, enthaltend die Namen von Persönlichkeiten, mit denen in Kontakt zu kommen wünschenswert wäre.«125 So schrieb etwa Klaus Harpprecht, Ansprechpartner Mohlers beim Monat: »Ich suche noch immer vergeblich nach einem Blatt, wo ich wenigstens alle vierzehn Tage eine Kolumne unterbringen koennte. Es ist ja gar nicht so einfach, in Deutschland als Schreiber zum Zuge zu kommen!«126 Zugleich versuchte Mohler, seine politische Konzeption auf die Notwendigkeit der aktuellen Rekonstruktion des Konservatismus anzuwenden. Die Rehabilitierung und der Wiederaufstieg des Konservatismus konnten ihm zufolge nur als Rückbesinnung auf die heroische Tradition der 1920er Jahre gelingen. Dabei ging es ihm nicht um eine museale Vergewisserung abgestandener Theorien, sondern um eine prinzipielle Veränderung der Haltung und ein Denken in größeren Dimensionen. Die »Achsenzeit« des Konservatismus in den 1920er Jahren – davor rückwärtsgewandt, danach mit dem Blick in die Zukunft – sei nach dem Zweiten Weltkrieg, unter dem Schock von 1945, wieder zurückgenommen worden und zur Bewahrung des Status quo degeneriert.127 Insofern bildete die fundamentale Kritik der NS-Aufarbeitung für Mohler den ersten und absolut notwendigen Schritt, um überhaupt das Feld für die Rekonstruktion eines offensiven Konservatismus zu öffnen, der nur unter dieser Voraussetzung wieder politische Führung beanspruchen könne. Das größte Hindernis dabei war in dieser Sicht die Umerziehung, die »Charakterwäsche« der Deutschen durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, wie es Mohlers langjähriger Freund, der wohlhabende Publizist Caspar von Schrenck-Notzing, mit dem Titel eines erfolgreichen Buches Mitte der 1960er Jahre zum Ausdruck brachte.128 Aus diesem Grund befasste sich Mohler mit dem Komplex der »Vergangenheitsbewältigung«, und auch seine Texte waren öffentlich sehr erfolgreich. Einen vorerst unausgesprochenen Dissens gab es dabei zwischen Mohler und Schrenck-Notzing in zwei Fragen. Letzterer sah zum einen ein strategisches Programm letztlich als ver125 Pascual Jordan an Armin Mohler, 3.5.1963, in: DLA, A: Armin Mohler. 126 Klaus Harpprecht an Hans Georg von Studnitz, 18.2.1963, in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 5.3. 127 Vgl. Schildt, Konservatismus, S. 214. 128 Caspar von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland und ihre Folgen, Stuttgart 1965 (diverse weitere Auflagen bis 2015); SchrenckNotzing war bereits in der Debatte im Monat 1962 (s. o.) zu Wort gekommen; zum Verhältnis von Mohler zu Schrenck-Notzing vgl. Darius Harwardt, »Die Gegenwehr muß organisiert werden – und zwar vor allem auch geistig«. Armin Mohler und Caspar von Schrenck-Notzing als Rechtsintellektuelle in der frühen Bundesrepublik, in: D. Timothy Goering (Hrsg.), Ideengeschichte heute. Traditionen und Perspektiven, Bielefeld 2017, S. 119-149.
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längerte Ideologie an; allein auf die Haltung komme es an, und dies trenne ihn von Mohler und Carl Schmitt. Zum anderen seien Konservatismus und Liberalismus als Chiffren für Bindung und Freiheit zusammengehörig wie die linke und rechte Hand. Zum Bruch zwischen den beiden langjährigen Freunden führte der Dissens erst Jahrzehnte später im Rahmen der Redaktion von Criticón. Seinen zweiten Brief hatte Schrenck-Notzing mit der Grußformel »mit pseudokonservativen Grüßen« geschlossen und Mohler empfohlen, nicht mehr den »Gärtnerkonservatismus« zu kritisieren, sondern von »Försterkonservatismus« zu sprechen, dann könne man Witze über Oberförster machen.129 Das Buch »Was die Deutschen fürchten« erschien wie die »Charakterwäsche« von Schrenck-Notzing im Stuttgarter Seewald-Verlag, verkaufte sich mehr als 30.000 Mal und erlebte 1966 eine zweite Auflage bei Ullstein. Hier betonte Mohler in abstoßender Begrifflichkeit die Funktionalisierung der deutschen »Vergangenheitsbewältigung« durch »junge Deutsche« in den Auseinandersetzungen zwischen den Generationen: »Sie türmen die Kadaver der Juden, die nicht für sie gestorben waren, als Wall um sich, um Feldvorteil zu haben.«130 Ein schmaler Band mit dem Titel »Vergangenheitsbewältigung« folgte 1968; gewidmet hatte er ihn dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Pressechef Ribbentrops, Paul Carell, der als Bestsellerautor die Wehrmacht glorifizierte und als enger Vertrauter des Verlegers Axel Springer fungierte.131 Die fünfzig Thesen Mohlers zur Vergangenheitsbewältigung, die in Kurzfassung das Inhaltsverzeichnis ausmachen, waren einerseits zeitgebunden und liefen angesichts der Debatten über eine Verjährung auf die Forderung einer Generalamnestie für NS-Verbrechen hinaus; zum anderen führte Mohler hier alle Argumente für einen Schlussstrich an, die bis heute auf der extremen Rechten geltend gemacht werden: Die Vergangenheitsbewältigung, die anfangs durchaus einen moralischen Impuls gehabt habe, sei zu einem »von ihrem Gegenstand gelösten Regelmechanismus der Politik geworden«, den die staatsfeindlichen »neomarxistischen und anarchistischen« Kräfte für sich ausnutzten; auch »das Ausland« profitiere vom deutschen Schuldkomplex, obwohl die Alliierten ebenso wie die Deutschen Kriegsverbrechen begangen hätten; der »Komplex der Vergangenheitsbewältigung« behindere ein »gesundes Nationalgefühl« und eine »positive Einstellung zum Staat«; die Vergangenheitsbewältigung beziehe alle Gegenwart auf eine 129 Caspar von Schrenck-Notzing an Armin Mohler, 24.9.1959, 25.1.1961, in: DLA, A: Armin Mohler. 130 Armin Mohler, Was die Deutschen fürchten. Angst vor der Politik, Angst vor der Geschichte, Angst vor der Gegenwart, Stuttgart 1965, S. 125 (21966 im Ullstein-Verlag Frankfurt a. M./Berlin); der dortige Lektor Wolf Jobst Siedler, der Mohler heftig umworben hatte, zog diese Ausgabe ein Jahr später zurück, weil er wirtschaftliche Nachteile für den Verlag befürchtete. 131 Armin Mohler, Vergangenheitsbewältigung. Von der Manipulation zur Läuterung, Stuttgart 1968; 21980 im Sinus-Verlag Krefeld; ders., Der Nasenring, Im Dickicht der Vergangenheitsbewältigung, Essen 1989 (21990); zu Paul Carell vgl. Benz, Paul Carell; Plöger, Von Ribbentrop zu Springer.
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»verengte, zurechtstilisierte ›Geschichte‹« und sei verantwortlich dafür, dass sich »mehr und mehr ein total angepaßter Politikertypus« durchsetze; und schließlich: Die Vergangenheitsbewältigung »überfordert den Menschen«.132 Einige vorsichtige Wendungen gegen eine zu simple Aufrechnung der deutschen Verbrechen mit den Verbrechen der Alliierten und gegen die rechtsextreme Glorifizierung des »Dritten Reiches«, wie sie die 1964 gegründete NPD verbreitete, können als Rücksichtnahme gegenüber der breiteren konservativen Öffentlichkeit verstanden werden. Berührungsängste gegenüber dem rechtsextremen Spektrum hatte er aber nicht. Unter dem Pseudonym Michael Hintermwald hatte er zum Beispiel Artikel in der neonazistischen Deutschen National- und Soldatenzeitung publiziert, wie deren Herausgeber Gerhard Frey 1967 freimütig einräumte. Dass Mohler sich nicht dem »nationalen Lager« der NPD anschließen mochte, das durchaus eine politische Konjunktur erlebte, hatte eine ganze Reihe von Gründen. Zum einen verbot sich ein solcher Schritt, weil er seinem Arbeitgeber nicht gefallen und die erreichte bürgerliche Sekuritätsstufe gefährdet hätte. Zum anderen wäre er zur persona non grata in vielen Redaktionen geworden und hätte seinen Einfluss auch in der konservativen Medienöffentlichkeit gefährdet. Die nachvollziehbare Rücksicht verband sich mit einem strategischen Dissens gegenüber der NPD. Die NPD zog NS-Nostalgiker an, betonte aber bereits ein Jahr nach der Gründung ihre Westorientierung und Treue zur NATO. Sie schied als spießbürgerliche Rechtspartei aus, wenn nach einem Führer jenseits der Mittelmäßigkeit der politischen Kultur der Bundesrepublik gesucht werden sollte. Was Mohler vorschwebte, war ein deutscher de Gaulle.133 Im renommierten Piper-Verlag hatte er 1963 die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung des gaullistischen Regimes veröffentlicht, in der er seine Bewunderung für den Tatmenschen, der demokratische Hemmnisse rücksichtslos überwand, nicht verhehlte.134 Übertragen auf die Verhältnisse der Bonner Politik, lautete die Schlussfolgerung für Mohler, mit seiner Expertise in die Auseinandersetzungen einzugreifen, die sich in der CDU/CSU zwischen Gaullisten und Atlantikern abspielten.135 Zu den Gaullisten zählte, in herzlicher Abneigung gegenüber der Kennedy-Administration, Konrad Adenauer in seinen letzten Lebensjahren, ihr Machtzentrum war die CSUFührung. Der von Mohler auserkorene deutsche de Gaulle sollte Franz Josef Strauß sein, der sich als Verteidigungsminister seit 1957/58 für eine Atombewaffnung der Bundesrepublik in enger Zusammenarbeit mit Frankreich eingesetzt hatte. Für Strauß wollte Mohler als Conseiller du Roi wirken. 132 133 134 135
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Mohler, Vergangenheitsbewältigung, S. 20, 21, 24, 38, 46, 60, 81. Weissmann, Armin Mohler, S. 119 ff. Armin Mohler, Die Fünfte Republik. Was steht hinter de Gaulle, München 1963. Eckart Conze. Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik 1958-1963, München 1995; Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969, München 2008 (dort wird Mohler allerdings unter die abendländischen Konservativen eingeordnet; S. 281).
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Mohler sandte ihm sein Gaullismus-Buch mit einer Widmung und zählte zur kleinen Schar jener Journalisten, die Strauß in der Spiegel-Affäre rückhaltlos verteidigten, als selbst gestandene Konservative von ihm abrückten. Strauß korrespondierte mit Mohler, man traf sich persönlich, und Mohler fungierte bald als Redenschreiber des CSU-Politikers. Befördert wurde der enge Kontakt durch den jungen Marcel Hepp (1936-1970), den Mohler Ende der 1950er Jahre kennengelernt und mit Carl Schmitt zusammengebracht hatte. Marcel und sein Bruder Robert Hepp waren junge Aktivisten am Rande des Rechtsextremismus. Robert Hepp lehnte den Begriff des Konservatismus explizit ab, für ihn waren die Gegner der linken Intellektuellen die »Rechten«, die »Faschisten«; als konservativ bezeichne man sich nur, um den RCDS dazu zu bringen, Reisekosten für Referenten zu bezahlen.136 Die Brüder Hepp wurden sogar für Jacob Taubes als Gesprächspartner interessant: »Du weißt ja nicht, welches Vergnügen es ist, Rechtsintellektuellen zu begegnen, eine seltene Species, die erhalten bleiben soll, damit wir uns in der posthistorischen Welt nicht langweilen.«137 Marcel Hepp war, als persönlicher Referent von Strauß seit Herbst 1965, in der CSU-Zentrale aufgestiegen. Er organisierte das »Büro des Landesvorsitzenden«, das die Bonner und Münchener Aktivitäten von Strauß koordinieren sollte. Seit 1967 leitete Hepp zudem als »geschäftsführender Herausgeber« und stellvertretender Chefredakteur die Parteizeitung Bayernkurier. Auch Mohler schrieb dort – unter Pseudonym. Das Verhältnis zu Strauß kühlte sich allerdings allmählich ab. Mohler musste erleben, dass Strauß seine Vorlagen für »gaullistische Reden« auf »atlantisch« umschrieb,138 weil er sich opportunistisch an die demoskopisch ermittelte Bevölkerungsmehrheit gebunden habe, und mit dem Eintritt des CSU-Vorsitzenden in die Große Koalition von CDU/CSU und SPD als Finanzminister wuchs die Enttäuschung beträchtlich. Sie war – ein bisher wenig beachteter – Teil des Entfremdungsprozesses der Intellektuellen von der Bonner Politik Mitte der 1960er Jahre, parallel zur Linken mit ihrem Unternehmen des Wahlkontors für die SPD.139 Obwohl Mohler den Gipfel seines politischen Einflusses bereits überschritten hatte, genoss er in der konservativen Szene nach wie vor einen hervorragenden Ruf. Im Februar 1967 erhielt er aus der Hand des Altbundeskanzlers den nach diesem benannten Adenauer-Preis für Publizistik, dotiert mit 10.000 DM. Adenauer hielt aus diesem Anlass die letzte politische Rede seines Lebens. Anwesend waren füh-
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Robert Hepp an Armin Mohler, 12.4.1962, in: DLA, A: Armin Mohler. Jacob Taubes an Armin Mohler, 23.9.1966, in: ebd. Zit. nach Leggewie, Geist, S. 203. S. III.3; vgl. Hans-Günter M. Lanfer, Politik contra Parnaß? Eine Studie über das Verhältnis der Politiker zu den engagierten Schriftstellern in der Bundesrepublik Deutschland unter chronologischem und systematischem Aspekt, Frankfurt a. M. 1985, S. 104 ff.
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rende Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger hatte eine Grußbotschaft geschickt.140 Rückblickend war diese Feier der symbolische Endpunkt von Mohlers Liaison mit dem gaullistischen Flügel der CDU/CSU, aber auch seines Renommees in der breiteren Öffentlichkeit. Paul Wilhelm Wenger, einflussreicher katholisch-abendländischer Redakteur beim Rheinischen Merkur, hatte Adenauer vergeblich auszureden versucht, sich mit der Deutschland-Stiftung einzulassen, verlegte sich dann aber umso mehr darauf, die klandestinen Netzwerke um Kurt Ziesel auszuleuchten. Auch die Aufdeckung von Mohlers publizistischen Aktivitäten in der Deutschen National- und Soldatenzeitung minderte sein Ansehen in der Öffentlichkeit und verprellte die politischen Ansprechpartner in der CDU/CSU. Mohler selbst empfand das Jahr 1967 als Umbruchsjahr, das eine neue Strategie jenseits der elitären Netzwerke erforderlich machte, mit deren Hilfe sich seine Karriere bisher so erfolgreich gestaltet hatte. Die Einsicht des schwindenden Einflusses auf die CDU/CSU, die auch mit der allmählichen Auflösung des Gegensatzes von Gaullisten und Atlantikern zu tun hatte, verband sich mit der Erfahrung öffentlicher Isolation in der Debatte um die Preisverleihung der Deutschland-Stiftung. In der sich wandelnden Medienlandschaft141 war es einzig Springers Tageszeitung Die Welt, die zu ihm hielt. Und erstmals richtete sich auch der kritische Blick linker und linksliberaler Politikwissenschaftler auf Mohlers Person und seine politischen Netzwerke.142 Die liberalen Journale der Intellektuellen wie Merkur oder Monat waren ihm mittlerweile verschlossen, sie folgten den Imperativen der politisch-kulturellen Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft, die in den 1960er Jahren einen Höhepunkt erreichte.143 Aber auch der katholisch-konservative Mainstream, repräsentiert durch den Rheinischen Merkur und namentlich Paul Wilhelm Wenger, ging auf Distanz. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, für Kurt Hiller schlicht das »Schweineblatt der Sieburg & Co«,144 kam als Basis für die rechtskonservative Publizistik Mohlers von vornherein nicht in Betracht. Bis Sieburgs Tod hatte es einen halbwegs verlässlichen Ansprechpartner gegeben, aber der Leiter des Literaturblatts lag in permanentem Clinch mit dem Leiter des Feuilletons, Karl Korn, der hervorragende Beziehungen zu linksliberalen Intellektuellen wie Adorno, den Häuptern der Gruppe 47 und Walter Dirks unterhielt. Bereits bevor Korn für einen Vorab140 Vgl. ausführlich Bamberg, Deutschland-Stiftung; zum spiritus rector der »Stiftung« vgl. Schildt, NS-Vergangenheit; s. Kapitel II.4.3. 141 Vgl. Hodenberg, Konsens, S. 362 ff. 142 Vgl. u. a. Kurt Lenk, Armin Mohler und die Sinngebung der Bundesrepublik, in: Tribüne, Jg. 6, 1967, H. 22, S. 2332-2339; Iring Fetscher, Rechts- und rechtsradikales Denken in der Bundesrepublik, in: ders. (Hrsg.), Rechtsradikalismus, Frankfurt a. M. 1967, S. 1130. 143 Herbert, Liberalisierung. 144 Kurt Hiller an Karlheinz Deschner, 14.8.1963, in: DLA, A: Karlheinz Deschner.
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druck – vom 29. August bis 22. Oktober 1960 – von Andersch’ Roman »Die Rote« sorgte, setzte Sieburg seinem Kollegen prinzipiell auseinander, dass für ihn Kulturpolitik immer Propaganda bedeute. Immerhin habe er aber in seinem Artikel über Andersch’ »Die Kirschen der Freiheit« auf die Überschrift »Die Kirschen der Steuerfreiheit« verzichtet.145 Dies bezog sich wiederum auf die Stilisierung der Verlegung des Wohnsitzes von zahlreichen Intellektuellen in europäische Nachbarländer als neue Emigration. Ähnliche Konflikte gab es um die gegensätzliche Bewertung des Schaffens von Günter Grass. Lediglich im Falle absoluter literarischer Niveaulosigkeit von rechtskonservativen Schriftstellern, wie im Falle von Krämer-Badoni, der sich über die nicht erfolgte Rezension seines Romans »Bewegliche Ziele« beschwerte, ließ es Sieburg mitunter zum Bruch kommen, nachdem der Spiegel mit Informationen, die nur von Krämer-Badoni stammen konnten, daraus einen Fall Karl Korn inszenieren wollte; angeblich habe die Unterdrückung einer Rezension daran gelegen, dass Korn ironisch porträtiert worden sei; das könne, so Sieburg, »das Verletzende und Infame, daß er Herrn Korn zugedacht hat, nur verschärfen. Ich fürchte, daß damit alle Wege gesperrt sind, die uns literarisch wieder zusammenbringen könnten.«146 Dieser seltene Akt kollegialer Solidarität änderte nichts an der feindseligen Pattsituation innerhalb der Redaktion. Korn und Sieburg warnten ihre jeweiligen Ansprechpartner, ihre Korrespondenz nicht dem jeweils anderen zugänglich zu machen.147 Als letzte große Chance, publizistisch im Rahmen der etablierten Presse eingreifend für das Projekt eines radikalen Konservatismus zu wirken, bot sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Springers Welt an. Nach einer kurzen Phase um 1960, als man einige unbotmäßige Geister, Haffner, Kuby, von Uexküll u. a., in die Redaktion aufgenommen hatte, wurde dort wieder ein strammer rechter Kurs eingeschlagen, war das Personal wieder ausgetauscht worden. Springer war nun entschlossen, die »Libertinage der Linksintellektuellen«148 rücksichtslos zu bekämpfen. Unter der Ägide von Hans Zehrer gewannen auf dem Höhepunkt des Rechtskurses 1965/66 rechtskonservative Edelfedern einen prägenden Einfluss. Damit, so schwärmte Mohler rückblickend, »war für fast zwei Jahre etwas möglich, was es weder vorher noch nachher gegeben hat: Eine überregionale Tageszeitung der Bundesrepublik ließ nicht nur zufällig und vereinzelt konservative (nicht 145 Friedrich Sieburg an Karl Korn, 9.8.1959, in: DLA, A: Friedrich Sieburg. 146 Friedrich Sieburg an Hans Egon Holthusen, 15.9.1962, in: DLA, A: Friedrich Sieburg; Rudolf Krämer-Badoni an Martin Gregor-Dellin, 10.11.1962, in: DLA, A: Martin GregorDellin. 147 Zur Redaktionsatmosphäre Mitte der 1960er Jahre vgl. rückblickend Karl Korn an Rolf Schroers, 9.9.1965, in: LA NRW Münster, Nl. Rolf Schroers, 493; äußerst kritisch gegenüber dem tiefen, antisemitisch grundierten Misstrauen von Sieburg vgl. Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 429 f.; Karl Heinz Bohrer, Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, Berlin 2017, S. 17 ff., 47 ff. 148 Axel Springer an Hans Zehrer, 13.12.1963, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 311/27.
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›liberalkonservative‹) Publizisten zu Worte kommen.«149 Noch einmal hatte sich »alles versammelt, was in der Bundesrepublik etwas auf seinen Neokonservatismus hielt und sich unter dem Schutz des Verlegers nun wieder einflußreich glaubte«;150 neben Mohler waren dies Winfried Martini, Hans Georg von Studnitz, Matthias Walden, William S. Schlamm, Günter Zehm, Hans-Dietrich Sander und andere.151 Springer legte besonderen Wert darauf, Mohler zu gewinnen, der sich selbst an ihn gewandt hatte: »Er zeigt doch, daß es gar nicht so schwer ist, die paar konservativen Leute für uns zu gewinnen. Ihr Kurswert ist bei der heutigen allgemeinen Entwicklung ohnehin nicht sehr hoch. Ich finde es schlecht, daß sich ein solcher Mann bemühen muß, sich bei drei bis vier kleineren Blättern eine Basis aufzubauen. Sollten wir nicht einmal mit ihm sprechen?«152 Als es zu Streitigkeiten zwischen Berliner Autoren mit Sander und Zehm kam, stellte sich Springer umgehend auf deren Seite: »Zehm und Sander sind m. E. geradezu Wunderkinder in dieser diffusen Zeit, auf die wir nicht verzichten sollten.«153 Auf der Suche nach rechtskonservativen Publizisten sprach Springer auch Harpprecht an: »Ich würde es begrüßen, wenn Sie zu Springer kämen, denn wo sollten Sie sonst hingehen. (…) Aber entscheiden Sie sich bald.«154 Kurz zuvor noch hatte Harpprecht in einem Brief an Zehrer betont, er sei in seiner »Liaison mit dem ›Monat‹ überaus glücklich; doch natuerlich moechte man schliesslich selber etwas formen.«155 Nachdem Bertelsmann 1965 auch die Zeitschrift Neue Deutsche Hefte aufgab, verschlechterten sich die publizistischen Möglichkeiten für konservative Schriftsteller weiter. Die indignierte Empörung von Ernst Wilhelm Eschmann ist symptomatisch für die elitäre Verachtung gegenüber den kommerziellen Interessen der Verleger: »Was denken sich diese Bertelsmann-Leute eigentlich? Haben sie nicht begriffen, daß die N. D.H. die Rechtfertigung ihres sonstigen Treibens sind? (…)
149 Armin Mohler, Von rechts gesehen, Stuttgart 1974, S. 106. 150 Weissmann, Armin Mohler, S. 154. 151 Zur personalen Seite vgl. auch Müller, Springer-Konzern, S. 272 ff.; Lohmeyer, Imperium, S. 295 ff.; Kruip, »Welt«-»Bild«, S. 121 f.; Payk, Geist, S. 43 ff.; Peters, William S. Schlamm, S. 409 ff. 152 Axel Springer an Hans Zehrer, 2.7.1965, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 311/27. 153 Axel Springer an Hans Zehrer, 24.7.1965, in: ebd.; zahlreiche weitere Briefe aus der Korrespondenz zwischen Springer und Zehrer, in: ebd. 154 Axel Springer an Klaus Harpprecht, 15.4.1965, in: ebd.; Harpprecht hatte sich zuvor an Studnitz gewandt. Der neue Monat sei ihm gegenüber zunehmend »verstummt«; Klaus Harpprecht an Hans Georg von Studnitz, 2.2.1965, in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 5.3. 155 Klaus Harpprecht an Hans Zehrer, 28.1.1965, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 27.
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Wollen sie wirklich nur noch eine Lesestoff-Auswurfmaschine mit einigen christlichen Ornamenten sein?«156 Sander schilderte das Scheitern der rechten Übernahme der Welt Carl Schmitt gegenüber als Drama mit Zehrer als Good Guy und Springer als Bad Guy, der den Einflüsterungen jüdischer Kreise um den Berater Ernst Cramer unterlegen sei. Cramer wiederum war in einen heftigen Streit mit Mohler verstrickt, als er gegen diesen den Vorwurf des indirekten Antisemitismus erhob.157 Der Ausgang der Auseinandersetzungen habe dazu geführt, dass sein, Sanders, Verhältnis zur Welt 1967 »hoffnungslos zerrüttet«158 gewesen sei. Die meisten der beteiligten Protagonisten bezögen aber weiterhin hohe Gehälter und Honorare von Springer, so dass sich kaum jemand von ihnen kritisch äußern würde. Er selbst habe sich »jetzt von allen Lagern zurückgezogen. (…) Viele Bekannte, die ich hier rechts und links habe, sind für mich nicht mehr zu sprechen. Das hat zweifellos keine politischen Gründe, sondern: ich bin nicht mehr gesellschaftsfähig, weil nicht mehr in Geld und Amt und Würden.«159 Auch die Welt, die letzte große Zeitung, in der Mohler noch regelmäßig publizieren konnte, erwies sich für ihn als untauglich, die Rolle eines organisierenden Zentrums für die rechtskonservative Intelligenz zu übernehmen. Der noch nicht gänzlich aufgeklärte Putschplan dieser Fronde rechtskonservativer Intellektueller scheiterte nach dem Tod des Chefredakteurs Hans Zehrer im August 1966. Danach steuerte das Blatt für einige Jahre moderatere und transatlantische Positionen an,160 bis es Anfang der 1970er Jahre unter Herbert Kremp wieder zu einer hemmungslosen Radikalisierung im Kampf gegen die Springer verhasste sozialliberale Koalition kam. Pläne für ein wöchentlich oder vierzehntägig erscheinendes Blatt für ein intellektuelles Publikum waren im Verlag allerdings bereits 1965 ventiliert worden. Zehrer hatte zunächst abgewunken. Ein solches Zeitschriftenprojekt mache »irrsinnig viel Arbeit«, brauche ein starkes Redaktionsteam, das er weder inner- noch außerhalb des Verlags sehe; zudem gebe es »beim Publikum keine Lücke«; allenfalls sei eine
156 Ernst Wilhelm Eschmann an Joachim Günther, 17.7.1965, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann. Günther hat danach, ohne größere Beachtung zu finden, die Zeitschrift noch einige Jahre als Kleinstverleger weitergeführt. 157 Armin Mohler an Ernst Cramer (mit Durchschlag an Hans Zehrer), 21.11.1965, in: BAK, Nl. Hans Zehrer, 27/21. 158 Erik von Lehnert/Günter Maschke (Hrsg.), Carl Schmitt, Hans-Dietrich Sander. Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967-1981, Schnellroda 2008, S. 10; vgl. zu diesem Projekt ebd., S. 20, 24, 44, 174 ff., 218, 263 ff., 364. 159 Hans-Dietrich Sander an Alfred Kantorowicz, 20.1.1969, in: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Nl. Alfred Kantorowicz, S 48. 160 Peter Hoeres, Reise nach Amerika. Axel Springer und die Transformation des deutschen Konservatismus in den 1960er und 1970er Jahren, in: Zeithistorische Forschungen, Jg. 9, 2012, Nr. 1, S. 54-75.
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Monatszeitschrift machbar.161 Die Auseinandersetzungen um die politische Linie des Hauses brachten, wohl als Trostpflaster für die entmachteten Frondeure, dann zwei Jahre später noch die Nullnummer einer Zeitschrift mit dem Titel Die Republik hervor, die von William S. Schlamm geleitet werden sollte. Sie war im Magazinformat zum Preis von 1,50 DM als Wochenzeitung konzipiert. Beteiligt war ein Team mit Martini, Mohler, Schrenck-Notzing und dem nationalkonservativen Theologen und Akademieleiter Hans Schomerus. Kurzfristig wurde das Projekt zum Stuttgarter Seewald-Verlag transferiert, mit dessen Verleger sich Schlamm bald überwarf. Nach der Produktion einer Nullnummer erfolgte der endgültige Abbruch des Unternehmens.162 Den Carl Schmitt-Adepten Rüdiger Altmann und Johannes Gross, die als Think Tank für Bundeskanzler Ludwig Erhard im Wahlkampf 1965 das Konzept einer »formierten Gesellschaft« erarbeitet hatten, erging es nicht besser. Resigniert vertraute Mohler Gross an, es werde sehr schwer sein, »dem wamperten Professor etwas Vernunft einzubleuen«.163 Die Arbeitsteilung zwischen den beiden seit Studienzeiten befreundeten Publizisten lief in diesem Fall darauf hinaus, dass Johannes Gross die Kontakte zu Kanzler Erhard herstellte, Altmann die Konzeption im Wesentlichen formulierte und Gross dann wieder für die günstige Rezeption in den Medien zuständig sein sollte. Gross, der schon Adenauer bei seinem Staatsbesuch in den USA 1961 in der Regierungsmaschine begleiten durfte, hatte keine Probleme mit der Verbindung zu Erhard, weil dieser von sich aus initiativ geworden war. Schon im Juli 1964 lud dieser eine kleine Runde von Intellektuellen ins Palais Schaumburg ein. Bei einem kleinen Essen – Artischockenböden und eine klare Suppe, eine Junge Ente à la bigarade, Birne Schöne Helene – wurde politisch diskutiert. Ausweislich der handschriftlichen Tischordnung nahmen zwanzig Gäste teil, darunter Alfred Müller-Armack, Ernst Jünger, Rudolf Walter Leonhardt, Siegfried Unseld, Rüdiger Altmann, Rolf Schroers und Johannes Gross.164 Altmann befand sich in den 1960er Jahren in einer ähnlichen Situation wie Mohler. Fand dieser sein Auskommen vor allem durch die Siemens-Stiftung, so besaß Altmann seine Basis als Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), als dessen Cheftheoretiker er zugleich galt. Er publizierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sehr häufig im Düsseldorfer Industriekurier, im Merkur, der ihn heftig umwarb, im Monat, sporadisch, aber mit wichtigen Beiträ161 Hans Zehrer an Axel Springer, 27.7.1965, in: BAK. Nl. Hans Zehrer, 27. 162 Mitteilung von Armin Mohler auf Basis von Informationen im brancheninternen Nachrichtendienst facts aus dem Umkreis von Bucerius (o. D., November 1968), in: ASU, Nl. Hans Georg von Studnitz, 24.3; vgl. Gallus, Heimat »Weltbühne«, S. 258 f.; Peters, William S. Schlamm, S. 410 f. 163 Johannes Gross an Armin Mohler, 27.8.1964, in: DLA, A: Armin Mohler; für die folgende Passage vgl. in den Grundzügen Schildt, Konservatismus, S. 240 ff. 164 Ludwig Erhard an Johannes Gross, 17.7.1964, in: DLA, Nl. Johannes Gross (unverzeichnet).
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gen im Spiegel, in der Zeit und – nicht zuletzt – in Christ und Welt. Ein kursorischer Blick auf den Zugang zum Rundfunk lässt nur den Bayerischen Rundfunk als Lücke erkennen. Am häufigsten waren seine Auftritte – kaum verwunderlich – im neu gegründeten und von seinem Freund Gross geleiteten Deutschlandfunk. Dabei beschränkte er sich nicht auf wirtschaftspolitische und staatsrechtliche Themen, sondern ließ sich ebenso über die Außen- und Innenpolitik sowie über die allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in der Bundesrepublik aus. Dass Altmann und Gross dabei ein zuverlässig funktionierendes Zitationskartell bildeten, verstärkte ihre Medienwirkung. Was Altmann wohl gerade beim Thema »Formierte Gesellschaft« reizte, war es, das Niveau konservativer Politik zu heben. Dabei meinte er selbstkritisch auch die Einlassungen rechter Publizisten. Seinem Modell einer »Formierten Gesellschaft« unterlegte er in einer ersten Fassung ein historisches Entwicklungsmodell in drei Stufen, deren erste die »Klassengesellschaft« war, die in diesem Sinne auch pluralistisch gewesen sei; aus dieser heraus bildete sich die »moderne Gesellschaft nach dem Prinzip der politischen Gleichheit und der allgemeinen Vereinigungsfreiheit nach ihren verschiedenen Gruppeninteressen«; und aus dieser heraus solle die »Formierte Gesellschaft« durch eine staatlich organisierte Integration der Gruppen entstehen, bei der der Parlamentarismus selbstverständlich aufrechterhalten werden müsse.165 Der Grundgedanke lief also darauf hinaus – dies entsprach auch den verfassungsrechtlichen Überlegungen Forsthoffs zum Verhältnis der Verbände zum Staat166 –, Freyers und Gehlens technokratischen Konservatismus an die moderne Gesellschaft anzupassen und diese dadurch wieder souverän zu beherrschen. Aktuell ging es darum, wie es Altmann formulierte, den »Pluralismus der organisierten Interessen« nicht mehr hilflos zu kritisieren und abstrakt für Staatsgesinnung, uneigennütziges Pflichtethos und andere hehre Werte einzutreten, sondern zu begreifen, dass der Pluralismus selbst eine Bedingung für das Funktionieren einer modernen Gesellschaft geworden war, so dass es nur darauf ankommen konnte, diese pluralistischen Sonderinteressen wieder in eine Gesamtheit einzubinden: »Gefährdet wird diese Gesellschaft nicht mehr durch soziale Konflikte alten Stils, sondern durch das funktionslose Wuchern der organisierten Interessen. (…) Ein überentwickelter Pluralismus also ist es, der Besorgnis erregt.« Möglichen Kritikern gab Altmann zu bedenken: »Linksgeneigte und andere Wohlmeinende mögen sich darauf konzentrieren, hier totalitäres Gras wachsen zu hören. Während sie gebannt in die Richtung starren, aus der sie die Wiederkunft der Gespenster vermuten, bereiten sich die
165 Rüdiger Altmann, Was heißt Formierte Gesellschaft? (Typoskript, 18 S., 3.6.1965; handschriftlich: 1. Fassung), S. 2, in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, 1RAAC000047. 166 S. Kapitel III.2.
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neuen Gefahren vor, denn wenn diese Demokratie sich ruiniert, dann durch eigene Willensschwäche – kein Gegner weit und breit.«167 In der Tat stieß das Konzept durch den Titel »Formierte Gesellschaft« auf so viel empörte Kritik von liberaler und linker Seite, dass es von der CDU umgehend fallengelassen wurde. Altmann selbst reflektierte diese Abwehr selbstkritisch wegen der »scheinbaren Spannung zwischen der sprachlichen Transparenz des Wortes und seiner ideologischen Undurchsichtigkeit. Es klingt fast nach normativer Verbindlichkeit.«168 Über die »Formierte Gesellschaft« wurde noch 1966 immer wieder kontrovers diskutiert, besonders hitzig auf einem Podium in der FU Berlin vor 1.000 Studierenden mit Unterstützern wie Götz Briefs und den schärfsten Kritikern Johannes Agnoli und Reinhard Opitz. Eugen Kogon, der sich von Agnoli vertreten ließ, hatte ein Grußtelegramm geschickt, in dem er gegen die Teilnahme von Altmann protestierte.169 Resigniert ließ sich Johannes Gross in seiner Abrechnung mit den Deutschen vernehmen: »Das Selbstbewußtsein der Deutschen ist dadurch charakterisiert, daß es ihnen an Selbstbewußtsein fehlt. (…) Das Ideal der Deutschen ist die vollkommene Harmlosigkeit. Der Deutsche möchte es zeigen, daß er ein guter Demokrat ist, daß er französische Küche liebt, daß er kultiviert ist. Er ist stolz darauf, daß er ein bisschen sexy geworden ist, daß seine Frauen eine bessere Figur machen, als ihnen früher nachgesagt wurde; (…) Die amtierende Generation will supranational sein, will sich versöhnen, verständigen; der Bewegungsraum der deutschen Politik soll möglichst eng sein; manche wollen auch nicht die Wiedervereinigung, weil wir so gefährlich sein könnten, wenn wir wiedervereinigt wären; wir wollen unseren Partnern unbedingt loyal sein, womit die einen damit die USA und alles übrige, die anderen Frankreich und alles andere meinen. (…) Ohne Zweifel trägt das öffentliche Leben Deutschlands mild-neurotische Züge.«170 Die wenig kämpferische Haltung vieler konservativer Publizisten dagegen glossierte Altmann am Beispiel von Klaus Harpprecht und seinen auf »naiven, auf provinzielle Biedermeierlichkeit reduzierten Konservativismus«.171 Der Grundgedanke einer konservativen Besetzung des Begriffs Pluralismus172 durch kooperative Integration der Gruppeninteressen einer pluralistischen Gesell167 Rüdiger Altmann, Die Formierte Gesellschaft, in: ders., Späte Nachricht vom Staat. Politische Essays, Stuttgart 1968, S. 27-46, Zitat S. 30. 168 Ders., Die Formierte Gesellschaft, Typoskript, 11.12.1965, S. 1, in: AdsD, Nl. Rüdiger Altmann, 1RAAC000048. 169 Zu dieser Veranstaltung und weiteren umfangreichen Unterlagen zur Rezeption 1965/66: ebd., 1RAAC000135 und 1RAAC000136. 170 Johannes Gross, Die Deutschen, Frankfurt a. M. 1967, S. 7, 8, 12. 171 Rüdiger Altmann, Rezension, Johannes Gross, Die Deutschen, in: Der Spiegel, 30.3.1967, S. 156-159. 172 Jens Hoffmann/Christ und Welt an Ernst Wilhelm Eschmann, 2.5.1966, in: DLA, A: Ernst Wilhelm Eschmann.
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schaft und die Stärkung staatlicher Autorität in diesem Rahmen von nicht repressiver Freiwilligkeit prägte in den folgenden Jahren nicht zuletzt die »Konzertierte Aktion« der Großen Koalition zur Ankurbelung der Konjunktur. Mit Blick auf die Intellektuellengeschichte, die nicht einfach parallel zur allgemeinen politischen Geschichte verlief, lässt sich konstatieren, dass die konservative Publizistik der APO-Zeit mit zwei unterschiedlichen Konzeptionen entgegenging. Auf der einen Seite standen Mohler und eine Anzahl radikaler rechter Autoren mit ihrem gescheiterten Konzept eines radikalen Konservatismus, zeitweise verbunden mit der Propagierung eines deutschen Gaullismus, auf der anderen die »modernen« Konservativen um Altmann und Gross. Ihre jeweils gescheiterten Konzepte wurden überwölbt von der spürbaren Stärkung liberaler Tendenzen, nicht zuletzt in den Hamburger Medien Spiegel und Zeit, die anfangs viel Sympathien mit der Neuen Linken hegten, bevor es 1968 über die Frage der Gewalt und der grundsätzlichen Einstellung zu Staat und Gesellschaft zum Bruch kam. Für einen Augenblick schien es so, als ob innovative intellektuelle Beiträge nur noch von der Neuen Linken zu erwarten wären.
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5. Fetisch Revolution: 1968 als Intellektuellengeschichte Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Dämmerung. Mit dieser allgemeinen historiographischen Beobachtung, die man pragmatisch so übersetzen könnte, dass intellektuellengeschichtliche Ansätze erst nach politik-, gesellschaftsund kulturhistorischen Forschungen und auf deren Basis zum Zuge kommen, könnte man sich begnügen. Es gibt aber – mindestens – vier spezifische Deutungsmuster von 1968, die Gründe dafür liefern, dass auch ein halbes Jahrhundert danach die Hegel’sche Eule flügellahm ist. Denn bei den führenden Aktivisten handelte es sich um den akademischen Nachwuchs an den Universitäten und an den Gymnasien, um den »Aufbruch der jungen Intelligenz«,1 so dass sich die Frage aufdrängt, warum 1968 als Intellektuellengeschichte angesichts dieses naheliegenden Anknüpfungspunktes noch keinen eigenen Ort besitzt. Dass unlängst ein Buch mit dem Titel »Der lange Sommer der Theorie« große öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, das sich exemplarisch mit einem kleinen Ausschnitt am Rande der »Suhrkamp Culture« und, sich von dieser entfernend, mit dem Merve-Verlag befasste, bekräftigt diese Aussage nur.2 Ob man bei der Melange von Marxismus, französischem Poststrukturalismus, dem von Carl Schmitt beeinflussten Taubes und Luhmanns Systemtheorie von einer »Merve-Kultur« sprechen sollte, erscheint allerdings fraglich.3 1968 steht zunächst als Chiffre für die im letzten Drittel der 1960er Jahre auf ihren Höhepunkt zutreibende globale jugendliche Protestbewegung, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzte, in den USA sehr früh, in Frankreich relativ spät, aber im Pariser Mai dann mit eruptiver Gewalt. Im Kern war es eine Bewegung in den entwickelten Industrieländern des Westens mit Ausstrahlungen auf die sozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas sowie die DDR. Dabei ging es vor allem um Fragen des Lebensstils, um Forderungen nach individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, um das Verhältnis von Konsum und »Gegenkultur«, was ein enormes politisches Konfliktpotential in sich barg, sowie um antikapitalistisches politisches Aufbegehren bis hin zu Protesten gegen internationale militärische Konflikte wie den Vietnamkrieg. In der Bundesrepublik konzentrierte sich die antiautoritäre Bewegung auf das Jahrfünft zwischen 1967 und 1972, mit einer charakteristischen Aufschwungphase 1967/68 und einer Krise vor allem der antiautoritären Spontaneität und der Thematisierung der »Organisationsfrage« im Rahmen einer »proletarischen Wende« mit ihren unzähligen Mini-Parteien, maoistischen und trotzkistischen Grüppchen, aber, zahlenmäßig bedeutsamer, auch dem Zulauf zur kommunistischen Partei (DKP) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Bei unterschiedlicher Wertung, 1968 habe die Bundesrepublik erst auf den »Weg 1 Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt a. M. 2003. 2 Felsch, Sommer. 3 Ebd., S. 18.
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zur Zivilisation« gebracht (Hans Magnus Enzensberger),4 bis zur gegenteiligen Auffassung, die Auseinandersetzungen 1968 seien verantwortlich für eine ruchlose Vernichtung wertvoller Traditionen und Werte (Wilhelm Hennis), besteht doch ein diesen Dualismus von Beginn an überwölbender weitgehender Konsens, dass 1968 eine entscheidende historische Zäsur darstellte.5 Dieser einfache Gegensatz, ein wichtiger Faktor seiner Durchsetzung, passt im Übrigen hervorragend zum medialen Diskurs. Der wirkungsmächtigste retardierende Interpretationsansatz, der die Eule vom Fliegen abhält, hat sich mittlerweile in der Öffentlichkeit durchgesetzt: Im Rahmen der Erzählgemeinschaften der 68er mit thematischen Konjunkturen um die allfälligen Jubiläumsdaten herum wurde stets die generationelle Dimension betont und von den Medien gern auf den angeblichen Kern eines Generationenkonflikts zwischen den aufbegehrenden Söhnen und den NS-belasteten Vätern reduziert, der empirischen Nachfragen allerdings kaum standhält. Man musste nicht aus innerfamiliären Gründen protestieren – im Gegenteil: Die meisten aus der Protestgeneration, so etwa beim SDS, stammten aus liberalem Elternhaus, Gründe für den Protest gab es angesichts massenhafter Skandale um das belastete Personal nicht nur in den politischen Parteien, sondern auch in den Schulen und Hochschulen, in Kirchen und Justiz, in Presse und generell in der kulturellen Sphäre und allen sonstigen gesellschaftlichen Bereichen mehr als genug.6 Plausibilität gewinnt dieser Ansatz allerdings schon, weil es durchaus Aktivisten gab, die aus NS-belasteten Familien stammten. Sie stehen so sehr im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass auch bei intellektuellen Zeitzeugen wie Hans Ulrich Gumbrecht die Ebenen der Betrachtung von Generationalität verschwimmen: »Schließlich ließen wir keine Gelegenheit aus, die Generation unserer Eltern zu provozieren. Vor allen Dingen wollten wir sie mit dem Teil der unmittelbaren deutschen Vergangenheit konfrontieren, auf den keiner von ihnen gern angesprochen wurde.«7 Der zweite Ansatz: Die alleinige Konzentration auf 1968 als jugendliche Revolte lässt keinen Platz für ältere Protagonisten. Dabei soll die explizit jugendliche Prägung der Protestbewegung um 1968 nicht in Abrede gestellt werden, die sich etwa in der neuartigen Weise des Demonstrierens im Laufschritt ausdrückte. Aber es 4 Hans Magnus Enzensberger, Tumult, Berlin 2014, S. 243, 269. 5 Besonders instruktiv der Sammelband von Hans Dollinger (Hrsg.), Revolution gegen den Staat? Die außerparlamentarische Opposition – die Neue Linke. Eine politische Anthologie, Bern u. a. 1968; vgl. Franz-Werner Kersting, »Unruhediskurs«. Zeitgenössische Deutungen der 68er Bewegung, in: Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn u. a. 2003, S. 715-740. 6 Vgl. Axel Schildt, Trau keinem über 30! , in: Martin Sabrow (Hrsg.), Mythos »1968«?, Leipzig 2009, S. 21-39. 7 Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012.
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waren zunächst die prominenten Vertreter einer Neuen Linken, die die Außerparlamentarische Opposition (APO) und deren politische Agenda bestimmten. An Günther Anders schrieb der Verleger Drexel: »Inzwischen ist bei uns die Rolle der Opposition von den Parteien, die sich alle auf einen Kuhhandel arrangieren möchten, weg zu den Intellektuellen gegangen.«8 Unter den linken Intellektuellen herrschte nach der Bildung der Großen Koalition von 1966 eine Stimmung zwischen Empörung und Verzweiflung.9 Dass eben jene Schriftsteller offen desavouiert wurden, die noch ein Jahr zuvor ihr Talent dem Wahlkontor zur Verfügung gestellt hatten, wurde von der Sozialdemokratie in Kauf genommen. Selbst unter den wenigen Fürsprechern der SPD wie Günter Grass überwog tiefe Enttäuschung.10 Was heute kaum mehr präsent ist: Es hätte rechnerisch die Möglichkeit einer sozialliberalen Koalition gegeben; an der entscheidenden Sitzung der sozialdemokratischen Führungsgremien konnte Willy Brandt aber nicht teilnehmen, der – allerdings ohne großen Nachdruck – für eine solche Lösung eintrat. Aber es überwog die strategische Überlegung, in einer Großen Koalition endlich zu beweisen, dass die »Sozis« politikfähig seien, was Adenauer ihnen stets abgesprochen hatte.11 Die linksliberale Presse, etwa die Frankfurter Rundschau, kritisierte die sozialdemokratische Entscheidung scharf. Deren Verleger und Chefredakteur erhielt daraufhin eine Antwort von Willy Brandt, die um Verständnis warb, aber ebenso Verständnis für die Position Karl Gerolds zeigte, mit dem er seit den Zeiten des spanischen Bürgerkriegs und gemeinsamem Engagement für die linkssozialistisch-antistalinistische POUM befreundet war: »Lieber Karl Gerold (…) Ich weiß, mit welcher Leidenschaft Du die jetzige Lösung ablehnst. Mir läge sehr daran, daß wir einmal in Ruhe darüber sprechen, sobald ich auch nur ein wenig Luft habe. Auch ich verkenne die Risiken nicht, die in einer Großen Koalition stecken, für die Demokratie und für die SPD. Es war keine leichte Entscheidung, die die nüchternen Ziffern erzwangen. Es gibt aber auch Möglichkeiten, die bald sichtbar werden könnten.«12 Rolf Schroers beschwerte sich, dass die von ihm geleitete FDP-Zeitschrift liberal von der Regierung systematisch benachteiligt werde. Nach seinem Artikel »Kiesinger, und keine Alternative« in Heft 6/1967 hatte das Bundespresseamt 2.000 Abonnements gekündigt und die Zeitschrift erhielt von Conrad Ahlers die Ankündi-
8 Joseph Drexel an Günther Anders, 21.11.1966, in: BAK, Nl. Joseph E. Drexel, 14. 9 Vgl. Lanfer, Politik, S. 129 ff. 10 Sie drückte sich aus in einem Brief an Willy Brandt vom 26.11.1966, dem ein längerer schriftlicher Austausch folgte; dok. in: Arnold/Görtz, Günter-Grass-Dokumente, S. 63 ff.; Willy Brandt und Günter Grass. Der Briefwechsel. Hrsg. von Martin Kölbel, Göttingen 2013, S. 121 ff.; zur Reaktion von Böll vgl. ebd. sowie Schubert, Heinrich Böll, S. 186 ff. 11 Vgl. Klaus Schönhoven, Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 19661969, Bonn 2004, S. 35 ff. 12 Willy Brandt an Karl Gerold, 9.12.1966, in: BAK, Nl. Karl Gerold, 14.
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gung, dass es die »Grenzen politischer Vernunft überschreiten würde, wenn eine Förderung ihrer Zeitschrift auch für das Jahr 1968 in Aussicht genommen würde«.13 Geradezu zynisch äußerte sich allein Andersch, der sich am Wahlkampf für die SPD 1965 nicht beteiligt hatte. Er begrüßte in einem Schreiben an Karl Schiller die Bildung der Großen Koalition als politische Verbesserung, so tief ging seine Abneigung gegen Grass und seine wenigen Unterstützer.14 Erst im Laufe der beiden folgenden Jahre verlagerte sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die antiautoritären Protagonisten der Revolte. Der Antikommunismusexperte der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise, Hans Edgar Jahn, versuchte sich im Juni 1968 an einer Analyse der APO-Fraktionen und unterschied dabei »revolutionär-marxistische Traditionalisten« und »anarcho-kommunistische Antiautoritäre«. Zur ersten Gruppe rechnete er Wolfgang Abendroth, Klaus Meschkat, Johannes Agnoli und den Berliner Republikanischen Club (RC), zur zweiten Herbert Marcuse, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl.15 Diese Trennung deckte sich nicht mit generationellen Grenzziehungen und stand unter dem Eindruck des Scheiterns der Bewegung gegen die Notstandsgesetze, in der es bis dahin zahlreiche Begegnungsräume zwischen linken Gewerkschaftern und dem antiautoritären SDS-Flügel, zwischen »Künstlerkritik« und »Sozialkritik« gegeben hatte.16 Die spektakuläre Römerbergrede im Mai 1968 von Hans-Jürgen Krahl, der als Cheftheoretiker des Frankfurter SDS galt, hatte die unterschiedlichen Positionen verdeutlicht: »Die Demokratie ist am Ende.«17 Dieser apodiktischen Aussage und der darauf folgenden radikalen Strategie mochten sich linke Gewerkschafter nicht anschließen. Allerdings gab es innerhalb der Protestbewegung durchaus generationell und kulturalistisch geprägte Konflikte, wofür symbolisch das Ende der Gruppe 47 und die barbusigen Happenings um Adorno stehen. In Frankreich drückte sich die generationsspezifische Tendenz darin aus, dass philosophische Autoritäten wie JeanPaul Sartre 1968 nicht mehr fraglos akzeptiert wurden, sondern sich im demokratischen Diskurs wie jeder andere legitimieren sollten.18 Aber es handelte sich dabei im Kern um Konflikte innerhalb der Neuen Linken und nicht mit der eigenen Familie. Auch die Konstellation der 68er gegen die um 1930 geborenen 45er reduziert das Geschehen unzulässig. Die Wieder- und Neuentdeckung linksunabhängiger Denker der Zwischenkriegszeit und des Exils durch Conrad Ahlers an Hermann Marx/Verlagsleiter liberal, 15.8.1967, in: DLA, D: Merkur. Alfred Andersch an Karl Schiller, 16.12.1966, in: DLA, A: Alfred Andersch. Das MS von H. E. Jahn in: ACDP, Nl. Hans Edgar Jahn, 01/753. Diese idealtypische Unterscheidung bei Luc Boltanski/Ève Ciapello, zit. nach Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Bd. 3: Politisches Denken im Kalten Krieg, Teil 1: Die Konfrontation der Systeme, Hamburg 2006. 17 Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1971, S. 149; vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Furcht vor einem »neuen 33«. Protest gegen die Notstandsgesetzgebung, in: Geppert/Hacke, Streit, S. 135-150. 18 Steffen Vogel, Abtritt der Avantgarde? Die Demokratisierung der Intellektuellen in der globalisierungskritischen Bewegung, Marburg 2012. 13 14 15 16
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eine studentische Avantgarde passt nicht in dieses generationelle Deutungsmuster hinein. Wenn man die Geschichte von 1968 erst im letzten Drittel des Jahrzehnts beginnen lässt, versteht man z. B. nicht, wie und warum Herbert Marcuse zum »Guru« der Protestbewegung aufsteigen konnte. Wenn es schon allgemeiner Konsens ist, dass die Revolte weite Teile der Bevölkerung und vor allem des Bildungsbürgertums beeindruckte, musste das in gesteigertem Maße für die linken und liberalen Publizisten gelten. Es gibt eine ganze Reihe von Dokumenten, aus denen Nachdenklichkeit und Unsicherheit spricht. Im Juniheft 1968 des Merkur schilderte Hans Schwab-Felisch die gesellschaftliche und politische Situation als eine »in der Mitte des Taifuns«: »Wir befinden uns mitten in einer Umwälzung, die nicht heute, vielleicht aber morgen zu einer Revolution werden kann. (…) Der Staat, verlassen von großen Teilen seiner Jugend, mit äußerstem Mißtrauen beobachtet von bedeutenden Teilen seiner geistigen Repräsentanz, wird sich anschicken, Reformen einzuleiten (die …) aber nicht weit genug gehende sein« würden.19 Ein drittes Deutungsmuster wird von konservativen Publizisten verwendet: Demnach war die gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung in den »langen 60er Jahren« – empirisch unabweisbar – in vollem Gange. Die objektiven Modernisierungsentwicklungen seien der wichtigste Faktor der Veränderungen gewesen, der »subjektive Faktor« des jugendlichen Aufbegehrens dagegen unwichtig. Angesichts der Penetranz von retrospektiven Heldengeschichten ist diese Sicht der Dinge verständlich, aber ungenügend.20 Erst die Intellektuellengeschichte vermag den utopischen Überschuss, das Gefühl der Unabgegoltenheit emanzipatorischer Forderungen zu erklären. Wenn häufig eine Zweiteilung vorgenommen wird, der zufolge die politischen Träume geplatzt seien, während es eine tiefgreifende und nachhaltige Modernisierung von Lebensstilen gegeben habe, dann ist dies nicht allein mit sozialhistorischer Empirie zu erklären. Die vierte Tendenz, die zur Ignoranz von 1968 als Intellektuellengeschichte beiträgt, drückt sich in dem häufig kolportierten Ondit aus: Wer sich daran erinnert, ist nicht dabei gewesen! Damit wird die Protestbewegung als jugendlicher Rausch abgetan. Selbstverständlich spielten Musik und Drogen eine große Rolle – beim Sex handelte es sich dagegen primär um ein gesteigertes Informationsbedürfnis und um einen Diskurs zur Legitimation eines freieren Lebens, weniger um die reale Veränderung von Praktiken und Rollenmustern, wie aus der überbordenden Literatur über die Kommune-Bewegung hervorgeht. 19 Hans Schwab-Felisch, In der Mitte des Taifuns, in: Merkur Nr. 242, Juni 1968, zit. nach: Bohrer/Scheel, Botschaft, S. 195-199, Zitat S. 198. 20 Vgl. Axel Schildt, Überbewertet? Zur Macht objektiver Entwicklungen und zur Wirkungslosigkeit der »68er«, in: Udo Wengst (Hrsg.), Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik vor und nach 1968, München 2011, S. 88102.
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Die wichtigste Irritation aber erfährt die Ignoranz gegenüber der Intellektuellengeschichte aus dem Umstand, dass es wohl zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik einen größeren Lesehunger und Theoriedurst gegeben hat als im Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975.21 Das ist mit dem Mythos der puren revolutionären Praxis gepaart mit Theorieverachtung nicht zu vereinbaren. Die große Lesebewegung setzte unter der Avantgarde des akademischen Nachwuchses im letzten Drittel der 1960er Jahre ein und gewann bald und bis zur Mitte der 1970er Jahre eine enorme Breite. Man kann diese Lesebewegung als Suchbewegung nach der richtigen Theorie für die politischen Kämpfe ansehen. Sie besaß daher von Anfang an ein diskursives Element, die Verständigung über gelesene Texte. Ihr organisatorisches Gerüst bestand aus drei Teilen: erstens neuen Kleinverlagen und einem Netz von Buchhandlungen, das von der Neuen Linken unterschiedlicher Observanz aufgebaut wurde.22 Die zweite Säule bildete die Raubdruck-Organisation unter der Parole »Zerschlagt das bürgerliche Copyright !«.23 In den Jahren zwischen 1967 und 1971 wurden mehr als 1.000 Titel als Reprint ohne Rücksicht auf die Rechte am jeweiligen Buch angeboten, wozu auch vollständige Editionen von kommunistischen Zeitschriften, Parteitagsprotokollen und der Protokolle der Kommunistischen Internationale zählten. Als drittes waren wichtige etablierte Verlage beteiligt, allen voran Suhrkamp, aber auch S. Fischer, Rowohlt, die EVA und Luchterhand sowie Ullstein mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten, die primär, aber nicht ausschließlich aus Geschäftsinteressen für die Publikation linker Texte sorgten. Bei Fischer erschien bereits früh eine Studienausgabe der Texte von Marx und Engels in vier klein gedruckten Taschenbüchern; Rowohlt edierte Texte sozialistischer Klassiker von Proudhon bis Bakunin, von Stalin bis Trotzki, von Bernstein bis Kautsky – daneben etliche neue Beiträge innerhalb der Reihe »rororo-aktuell«; ausgerechnet von Ullstein wurde mit bewusst unaufwändig wirkendem braun melierten Umschlag Marx’ »Kapital« herausgebracht, wohl auch für Leser, die sich scheuten, mit der blauen MEW-Ausgabe, Band 23, aus der DDR aufzufallen. Belletristische Bedürfnisse wurden besonders vom Luchterhand-Verlag befriedigt, beginnend mit dem Streit um die Herausgabe von Anna Seghers’ Exilroman »Das siebte Kreuz«. Auf diesem Gebiet galt die Vorsicht vor einer Stigmatisierung durch 21 Vgl. Adelheid von Saldern, Markt für Marx. Literaturbetrieb und Lesebewegungen in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 44, 2004, S. 149-180. 22 Vgl. die Pionierarbeit von Uwe Sonnenberg, Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren, Göttingen 2016; Desiderat bleibt eine Arbeit über den kommunistischen Buchhandel, der seit Mitte der 1960er Jahre ein ähnlich erfolgreiches Netz aufgebaut hatte. Einen Schwerpunkt bildete dort der Verkauf von politischer und belletristischer Literatur aus der DDR. 23 Vgl. Felsch, Sommer, S. 74 ff.; vgl. zuerst Albrecht Götz von Olenhausen, Entwicklung und Stand der Raubdruckbewegung, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Literaturbetrieb in Deutschland, Stuttgart 1971, S. 164-172.
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ostdeutsche Produktion spätestens seit Mitte der 1960er Jahre nicht mehr – im Gegenteil: Wer die jungen Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR las, konnte sich einer intellektuellen Avantgarde zurechnen lassen. Auch hier engagierte man sich bei der edition suhrkamp.24 Es handelte sich nicht um beliebige Titel; gesucht wurde nach einem neuen, alte Konventionen überwindenden Kanon, nach Texten, die geistige Munition für die Praxis der Neuen Linken liefern sollten.25 In diesen Zusammenhang ist auch der große Streit um den »Tod der Literatur«, das legendäre Kursbuch 15, einzuordnen.26 Konservative Interpreten nahmen die Schlachtrufe, die eher dem Ableben der Gruppe 47 galten, zum Nennwert.27 Eine ausgesprochen schlechte Eigenschaft etlicher Historiker besteht darin, an dichterische Erzählungen die Elle vermeintlich objektiver »Wahrheit« zu legen. Der für weite Bereiche der Geschichtswissenschaft vernünftige Grundsatz vom Vetorecht der Quellen – »veritas in actis!« – kann nämlich auf dem Feld literarischer Produktion mit ihren spezifischen Regeln der fiktionalen Konstruktion grundsätzlich keine Geltung beanspruchen. Das Schicksal einer grausamen Vivisektion haben immer wieder Werke von Schriftstellern erfahren, die angelehnt an historische Begebenheiten eine – im weitesten Sinne – romanhafte Verdichtung versucht haben; die akribische Überprüfung von Wolfgang Koeppens Schilderung der trüben politischen Kultur im Bonner »Treibhaus« der 1950er Jahre im Lichte der Protokolle zeitgenössischer Parlamentsdebatten mag als ein Paradebeispiel solch zeitgeschichtlicher Zurichtung fiktionaler Texte gelten. Die Gefahr einer professionellen Ignoranz gegenüber der Differenz von literarischer Verdichtung und chronologischem Tatsachenbericht liegt bei der Betrachtung des Literaturstreits 1967 und der Interpretation des Protagonisten F. C. De24 Vgl. Konstantin Ulmer, Ein Loch im literarischen Schutzwall. Die Publikationskontroverse um die Luchterhand-Ausgabe von Anna Seghers’ »Das siebte Kreuz«, in: Deutschland Archiv, Jg. 45, 2012, Nr. 8/9; ders., »Eine Art Kriegszustand«, Luchterhand, Suhrkamp und die DDR-Literatur, in: Bülow/Wolf, DDR-Literatur, S. 128-136; zusammenfassend ders., VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben, Berlin 2016; Julia Frohn, Deutsches Mosaik. Ostdeutsche Literatur im Suhrkamp-Verlag 1950-1972, in: Bülow/Wolf, DDR-Literatur, S. 137-146; als Gesamtüberblick vgl. dies., Literaturaustausch im geteilten Deutschland, 1945-1972, Berlin 2015, S. 108 ff., 131 ff., 261 ff. 25 Vgl. Manfred Lauermann, 68 – Theorie als Realität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 53, 2008, S. 101-112; vgl. auch Jan-Werner Müller, 1968 as Event, Milieu, and Ideology, in: ders., German Ideologies, S. 117-143. 26 Friedrich Christian Delius, Gedanken beim Wiederlesen des legendären »Kursbuch 15«, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg. 39, Nr. 140/141, 2008, S. 15-17. 27 Vgl. Sontheimer, Von Deutschlands Republik, S. 191 ff.; Jasmin Grande, Über das Potenzial der Literatur. Das Kursbuch 15, in: Gertrude Cepl-Kaufmann/Jasmin Grande (Hrsg.), Schreibwelten – erschriebene Welten. Zum 50. Geburtstag der Dortmunder Gruppe 61, Essen 2011, S. 280-287; vgl. Kristof Niese, Das Kursbuch und 1968. Ein Fahrplan für die außerparlamentarische Opposition?, in: Gerrit Dworok/Christoph Weißmann (Hrsg.), 1968 und die 68er. Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik, Wien 2013, S. 41-67.
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lius besonders nahe, weil sie seinen eigenen ursprünglichen Ansatz betrifft, durch selektive Hervorhebungen von Tatsachen und das Sprechenlassen realer Figuren, vor allem aus gesellschaftlichen Machteliten, ein literarisches Produkt zu schaffen, das durch verfremdende und mitunter satirische Kenntlichmachung eine aufklärerische Dimension gewinnt.28 Auch die kürzlich veröffentlichten »biographischen Skizzen« werden in diesem Sinne, ungeachtet des vornehm zurückhaltenden Duktus einer scheinbar neutralen Darstellung von faktischen Geschehnissen, als literarischer Text verstanden. In den folgenden Überlegungen soll es deshalb ausdrücklich nicht um die Überprüfung von mitgeteilten Fakten und Beobachtungen gehen. Vielmehr soll die Anlage der Erzählung selbst auf die Zeitgeschichte der 1960er und 1970er Jahre bezogen werden. Wie positioniert sich der Erzähler im Arrangement der Erinnerung, welche Geschehnisse werden berichtet, worüber wird geschwiegen?29 Unter diesem Blickwinkel hinterlässt die Lektüre von F. C. Delius den Eindruck, dass eine strategisch komponierte Generationserzählung der 1960er Jahre für die folgende Dekade sukzessive, womöglich hinter dem Rücken des Autors, in eine Fraktionserzählung innerhalb der Generationserzählung gleitet. Dies spiegelt sicherlich die Auflösung und Transformation der antiautoritären Bewegung in unzählige sich heftig befehdende Grüppchen von der linken Sozialdemokratie bis zu anarchistischen Desperados, zugleich aber verengt sich damit die Perspektive in der Erzählung von Delius, der nicht nur Beobachter, sondern zugleich Partei war, erhöht sich, trotz selbstkritischer Einschübe, die Versuchung zur Benennung gegnerischer Kräfte unter den Erben der Revolte, ohne dass noch über deren Motive und Gründe reflektiert wird. Erst nach diesen beiden von heftigen politischen Kämpfen bestimmten Jahrzehnten begann F. C. Delius Romane zu schreiben, die sich intensiv um die Selbst-Aufklärung seines eigenen Engagements bemühten.30 Delius zeichnet sich selbst nicht als mutigen Protagonisten der Revolte, sondern als reflexiv gehemmten Beobachter am Rande des Treibens, dem mitunter etwas unheimlich zumute war, in das Geschehen involviert zu werden. Die autobiographischen Hintergründe für das Zaudernde, Ängstliche, sich am Rand Fühlende, eine typische Künstler-Absonderung gegenüber dem prallen »normalen« Leben, wie sie uns in den Werken von Hermann Hesse bis Thomas Mann als dualistische Figur im 20. Jahrhundert vielfach begegnet, werden nur beiläufig angedeutet. 28 Vgl. Gustav Zürcher, Friedrich Christian Delius, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, 9. Nachlieferung 1995, S. 1-16, hier S. 3. 29 Zum Folgenden Axel Schildt, »Als die Bücher noch geholfen haben« – Überlegungen zum Nutzen einer Lektüre von F. C. Delius für die Betrachtung der 1960er und 1970er Jahre, in: Text+Kritik, Heft 197, Jg. 50, 2013, S. 78-87; alle Seitenzahlen von Zitaten in: Delius, Gedanken. 30 Diese »Selbstaufklärung« ist nicht zu verwechseln mit »psychoanalytischen Ansätzen« – so die begriffliche Einordnung von F. C. Delius bei Thomas Andre, Kriegskinder und Wohlstandskinder. Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er, Heidelberg 2011.
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Die autoritären, zur Sprachlosigkeit verurteilenden Verhältnisse in der PfarrhausFamilie,31 die Fremdheit des aus der hessischen Provinz zum Studium nach WestBerlin verschlagenen schüchternen Jünglings,32 dem – zunächst lyrische – Schriftstellerei als »Wohltat erschien, mich am Schopf der eigenen Texte aus dem Sumpf der Sprachlosigkeit ziehen zu können« (S. 7). F. C. Delius kam sozusagen, ohne es zu ahnen, rechtzeitig zur allmählichen Formierung der Revolte in die einstige und wieder neue linke Kulturmetropole, nach West-Berlin. Der erste Auftritt von F. C. Delius im Buch galt dem Entrée in die Welt der Literaten, der offenbar von seinem Entdecker und Verleger Klaus Wagenbach arrangierten Einladung zum Treffen der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna 1964. Mit sympathischem Understatement schildert F. C. Delius das Glück, als 21-Jähriger »in den literarischen Himmel katapultiert« (S. 14) worden zu sein, und rekapituliert seine erfolgreiche Lesung vor dem illustren Kreis der einflussreichen Großkritiker unter dem Vorsatz, auch künftig »sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen« (S. 19). Aber nun gehörte er dazu. Schon ein Jahr später arbeitete er für das sozialdemokratische Wahlkontor – am Ende ging ein Satz von F. C. Delius durch die Presse: »Was Adenauer nicht lernt, lernt Erhard nimmermehr« (S. 21).33 Wiederum nur ein Jahr später, Ende 1966, verabschiedete sich Delius mit einem Gedicht von der SPD Willy Brandts, die sich in die Große Koalition begeben hatte: »Brandt, es ist aus. Wir machen nicht mehr mit.«34 In der avancierten zeithistorischen Forschung zu den Jahren der Revolte wird betont, dass eine konventionelle politische Geschichtsschreibung, die etwa die Flugblätter des SDS und die theoretischen Elaborate der edition suhrkamp in enger Weise beim Wort nehmen würde, nur ein kognitivistisches Zerrbild der Jahre um 1968 präsentieren könnte. Demgegenüber sollte die Aufmerksamkeit auch der Rockmusik, »psychedelischen« Drogen, neuen Dress Codes und insgesamt einem eigensinnigen Umgang mit den Möglichkeiten des qualitativ erweiterten Konsums durch die jüngere Generation gelten, um die – transnationalen – kulturrevolutionären Dimensionen der Revolte zu begreifen.35 Auch F. C. Delius betont: »Theorie war meine Sache nie, Aktionismus noch weniger« (S. 8). Und etwas kokettierend bekennt er, mehr als vierzig Seiten in Marx’ »Kapital« nicht geschafft, vor Herbert Marcuse kapituliert und lediglich Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«, »weil literaturnäher« (S. 66), goutiert zu haben. Aber letztere Formulierung markiert deutlich, dass seine Abwehr strenger politischer Theorie eben nicht wie im gegenkulturellen Hauptstrom hedonistischen Impulsen folgte, sondern der prinzipiell distanzierten, 31 F. C. Delius hat erste Ausbruchsversuche in der Erzählung mit dem mehrdeutigen Titel »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde« (Reinbek 1994) literarisch verarbeitet. 32 Dies der Hintergrund der einfühlsamen Erzählung »Amerikahaus und der Tanz um die Frauen« (Reinbek 1997). 33 Vgl. zum Wahlkontor Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD. Die sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Hübinger/Hertfelder, Kritik, S. 222-238. 34 Zit. nach Zürcher, F. C. Delius, S. 5. 35 Für diesen Ansatz steht in der Zeitgeschichte vor allem Siegfried, Time.
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von Ängsten nicht freien Haltung des musischen Menschen und einsamen Schriftstellers gegenüber der großmäuligen Performanz populärer APO-Helden, deren Auftritt dennoch einige Faszination auf ihn ausübte. Der auf die aufklärerische Macht der Bücher zielende Titel der »biographischen Skizzen« meint explizit nicht die Lektüre der kanonisierten kritisch-theoretischen, marxistischen und neomarxistischen Texte der 1960er Jahre, sondern das Bekenntnis von F. C. Delius, auch in den heißen Jahren der Revolte »zehnmal mehr Jean Paul und Fontane« (S. 8) als jene politisch-theoretischen Texte gelesen zu haben. Dies war sicherlich ein für junge literarische Intellektuelle häufiger anzutreffendes Grundgefühl: eine zugleich rationale und emotionale Ambivalenz von Zugehörigkeit und Fremdheit gegenüber der sich entwickelnden Revolte mit ihren robusten und lauten Sprechern. F. C. Delius bezeichnet es vor diesem Hintergrunde als »unerforschtes Gebiet«, wie rasch sich die »Sprache der Studentenbewegung zwischen 1967 und 1970 von der Defensive ins Offensive, vom Fragen zum Behaupten gewendet, vom Konkreten und Sinnlichen abgewendet, radikalisiert und es sich im Abstrakt-Allgemeinen bequem gemacht hat« (S. 68 f.). Die fortschreitende Radikalisierung und Fragmentierung hätten immer mehr Menschen ausgeschlossen. Dass der Autor betont, eher nur am Rande dabei gewesen zu sein, sich mehr für das regelmäßige Fußballspiel mit einigen Künstlerkollegen interessiert und ansonsten um die Fertigstellung seiner Dissertation gekümmert zu haben, stimmt in der Tendenz überein mit zahlreichen anderen Erzählungen aus der Generation der sogenannten 68er. Nachhaltigen Zorn – hier weicht einmal alle Zurückhaltung – evozierte bei ihm deshalb auch die Behauptung, er sei unter jenen gewesen, die 1968 als kulturrevolutionäre Ignoranten den »Tod der Literatur« proklamiert hätten. Zwei Schlüsselepisoden sind diesem Thema gewidmet. Die eine – höchst skurril – spielt auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton 1966. Delius’ Schilderung legt nahe, dass die eloquente und berühmt gewordene Beschimpfung der Versammelten als Vertreter restlos öder Literatur durch den jungen, bleichgesichtigen Peter Handke keineswegs ein emotionaler Ausbruch des Unmuts, sondern Ergebnis eines sorgfältig auswendig gelernten Textes gewesen war. In der Aufdeckung dieses Coups wird, bei aller Bewunderung des trickreichen Handke, die Lächerlichkeit der kulturrevolutionären Attitüde, gleichsam eine späte Reprise des Futurismus, verdeutlicht, zugleich aber auch die feige Defensivhaltung der Granden der Gruppe 47 konstatiert.36 Diese köstliche Passage, die zahlreiche literaturgeschichtliche Darstellungen in Frage stellt, sie wurde auch in der Zeitschrift Cicero publiziert,37 bildet den Prolog für die Auseinandersetzung mit dem von Enzensberger herausgegebenen Kursbuch 15 vom November 1968, das als Schlüsseldokument für den kulturzerstöreri36 Vgl. zu dieser Episode Ingrid Gilcher-Holtey, Die APO und der Zerfall der Gruppe 47, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2007, H. 25, S. 19-24. 37 Friedrich Christian Delius, Als das Schimpfen noch geholfen hat. Der verrückteste Moment in der deutschen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit, in: Cicero, 2012, H. 4, S. 123-125.
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schen Impuls der antiautoritären Revolte herhalten muss.38 In einem ausführlichen Kapitel widerlegt F. C. Delius Punkt für Punkt die Legende, hier sei der »Tod der Literatur« propagiert worden – ein ideologischer Kern der Kritik an den 68er-Bewegungen (F. C. Delius besteht auf dem Plural): »Alles war anders!« (S. 78) Sein Fazit: »Lebendiger hätte man die Weltliteratur des Jahres 1968 kaum vorstellen können.« (S. 83) Wer das Kursbuch 15 heute zur Hand nimmt, kann tatsächlich kaum nachvollziehen, wie es zum Eindruck hat kommen können, hier sollte die Literatur gemordet werden. Abgesehen von einem beigelegten Plakatbogen Walter Boehlichs, des langjährigen Cheflektors im Suhrkamp-Verlag, auf dem er offenbar höchst persönliche berufliche Erfahrungen in der vagen Sentenz verdichtete, die »bürgerliche Kritik« sei tot, könne das Kursbuch 15 als ein »einziges Manifest gegen das Gerede vom Tod der Literatur« (S. 87) gelesen werden.39 Der Schlachtruf für den Tod der Literatur sei vielmehr von Studierenden, zumal Germanisten ausgegangen, die das Kursbuch 15 missverstehen wollten. So richtig diese Aussage ist, transportiert sie doch nur die eine Hälfte einer generationellen Distinktion – diejenige gegenüber dem nachwachsenden jüngeren Teil der Revolte. Gleichzeitig aber wollte offenbar auch die ältere Generation der Gruppe 47 das Kursbuch 15 missverstehen. Namentlich eines der dort abgedruckten vier Gedichte von F. C. Delius,40 in dem »vergnügt davon berichtet wurde, wie einige junge ›Revolutionäre‹ Bibliothek und Schallplatten eines etablierten Intellektuellen ›beschlagnahmten‹«, habe Alfred Andersch an die Beschlagnahmung seiner eigenen kleinen Bibliothek in München 1933 erinnert.41 Wiederum soll es nicht um die Berechtigung einer Wahrnehmung gehen, sondern lediglich um die Feststellung eines scharfen generationellen Bruchs auch zur mittlerweile älteren Seite der literarischen Szene. Im Unterschied zu den oben erwähnten »langen 60er Jahren« deckt sich eine entscheidende biographische Zäsur von F. C. Delius exakt mit der Dekadengrenze. 1970 frisch promoviert mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, begann er als Lektor im Wagenbach-Verlag; damit erweiterte sich sein politisch-literarisches Aktionsfeld beträchtlich. Das Hochgefühl, dass die »beste, seit langem erträumte Aussicht« (S. 95) – der Posten war ihm von Klaus Wagenbach bereits 1968 angeboten worden – nun wahr wurde, hielt allerdings nicht lange an. Delius schreibt, es wäre ihm lieber gewesen, der Verlag wäre ein literarischer geblieben, aber habe sich auf dem »Wachstumsmarkt« linker Agitationsliteratur profilieren und zur »Organisierung der Linken« (S. 96) beitragen wollen.42 Im Geist der Zeit arbeitete man im 38 Vgl. etwa Hans Gerd Winter, Das ›Ende der Literatur‹ und die Ansätze zu operativer Literatur, in: Fischer, Literatur, S. 299-317, hier S. 305 ff. 39 Vgl. zum Kursbuch 15 zuletzt Marmulla, Enzensbergers Kursbuch, S. 187 ff. 40 F. C. Delius, Armes Schwein, in: Kursbuch 15, Frankfurt a. M. 1968, S. 144; interessanterweise wird in diesem Zusammenhang nie das vierte dort abgedruckte Gedicht von F. C. Delius »Mitläufer« (ebd., S. 146) erwähnt, in dem sich auch die beschriebene Distanz zur lauten politischen Szene manifestiert. 41 Reinhardt, Alfred Andersch, S. 457 ff. 42 Vgl. Saldern, Markt für Marx.
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Rahmen einer demokratischen Verfassung, die alle Entscheidungen von der Mehrheit – in wichtigen Fragen der Zweidrittelmehrheit – innerhalb des Verlagskollektivs abhängig machte. Die »Relation von hoher Mitbestimmung und niedrigem Gehalt« (S. 104) wird auch nachträglich als positives Element hervorgehoben. Das Ferment der Zerstörung des zunächst sehr erfolgreichen Verlags wird vielmehr in der Unterstützung der RAF durch Klaus Wagenbach gesehen. »Das erste Opfer der RAF«, so F. C. Delius, waren »Witz und Spott« (S. 109). Der bierernste linksradikale Fanatismus, das »unausgesprochene Gebot der Unantastbarkeit für Meinhof und Baader und ihre Gruppe«, die »Stimmung der Andacht und Anbetung, wenn von Ulrike die Rede war«, eine ihm aus dem Pfarrhaus seiner Kindheit bekannte Atmosphäre, seien »durchaus typisch für das politische Klima der Siebziger« (S. 110 f.) gewesen. F. C. Delius, der sich zur undogmatischen Linken zählte, hatte für die linksterroristischen Aktionen nichts übrig, seine ganze Biographie macht den Satz glaubhaft: »Nichts lag mir ferner als Stadtguerilla-Kämpfe.« (S. 114) Diese abständige Position zur Praxis, die auch andere sich zur Neuen Linken zählenden Schriftsteller teilten, bildete allerdings nicht den Mainstream der linksintellektuellen Suchbewegung, zumal der meisten jüngeren Vertreter des akademischen Nachwuchses. Für sie zählte an erster Stelle alles, was mit Marx zu tun hatte. Dabei ist es nicht unzutreffend, den expliziten Ausgangspunkt der Marx-Rezeption mit dem Jahr 1965 anzusetzen.43 Die jungen Linksintellektuellen interessierte dabei wiederum vorzugsweise die Rezeption in der Tradition der Kritischen Theorie der frühen Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Herbert Marcuse, eigenwilliger Marxisten wie Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Karl Korsch und nicht zuletzt Wilhelm Reich, aber auch Beiträge verfemter russischer Kommunisten wie die von Leo D. Trotzki, Nikolai I. Bucharin, Jewgeni A. Preobraschenski, dem späteren ungarischen Dissidenten Georg Lukács und schließlich Beiträge der Neuen Linken der 1960er Jahre unter Einbeziehung neuer französischer und amerikanischer Theorien aus der New Left Review von Perry Anderson, von Michel Foucault, André Gorz und anderen, sowie von Texten aus der »Dritten Welt«, Frantz Fanon, Che Guevara, Fidel Castro – ein immenses Lesepensum auf der Suche nach revolutionären Texten. Was davon wichtig und weiterführend war, wurde in unzähligen Foren diskutiert. Avantgardistische Zirkel bildeten sich unter den »Adorniten« in Frankfurt, die den Meister in Seminaren und Vorlesungen bewunderten und das Privileg hatten, ihn in seinen Äußerungen mitunter ungleich offener zu erleben als in der vorsichtigeren Schriftform mit ihren notwendigen politischen Rücksichten.44 Diskutiert wurde auch in vielen Seminaren anderer Universitäten, in den lokalen Gruppen des SDS und etlicher anderer studentischer Organisationen linker und liberaler Ausrichtung, etwa der Humanistischen Studentenunion (HSU), der Evangeli43 Elbe, Marx; eine umfangreiche politikwissenschaftliche Arbeit, die leider auf eine traditionalistische Ideengeschichte reduziert bleibt und zeithistorische Kontexte ignoriert. 44 Vgl. dazu ausführlich Demirovic, Intellektuelle, S. 429 ff.
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schen Studentengemeinden (ESG), der Katholischen Studentengemeinde (KSG), des Sozialdemokratischen Hochschulbundes (SHB), des Liberalen Studentenbundes Deutschland (LSD). In West-Berlin mit ihrem intellektuellen Kern, dem OttoSuhr-Institut (OSI), galt der Argument-Club um die von Wolfgang Fritz Haug herausgegebene Zeitschrift Das Argument als erste Adresse für theoretische Diskurse.45 Nicht nur in Berlin mit seinem Republikanischen Club gab es zahlreiche überfraktionelle Foren. Nicht zu erfassen sind unzählige weitere Lese- und Gesprächskreise. Das Diskutieren als Kern kommunikativer Praxis, zeitgenössisches Modewort war das »Ausdiskutieren«, stiftete einen engen Zusammenhang bei der Suche nach einer neuen Öffentlichkeit, die um das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit kreiste. Die programmatische Abschaffung der privaten Sphäre durch die Kommune-Bewegung gilt in dieser Sicht als symbolischer Akt.46 Einer der ersten, der bereits Jahre zuvor die Chancen der Neuen Linken in den Medien thematisiert hatte, aber auch die Risiken nicht verschwieg, die daraus erwuchsen, dass man dort funktionalisiert werden könnte, wenn man nicht sehr aufpassen würde – ein Gedanke, der zur Notwendigkeit einer Gegenöffentlichkeit führte –, war der SDSTheoretiker Manfred Liebel.47 Eine höchst symbolische Auseinandersetzung führte Ende der 1960er Jahre zu einer tiefen Krise ausgerechnet des Rowohlt Verlags. Wegen seiner nationalneutralistischen Positionen war Ernst Rowohlt in der DDR zu einer mit hohen Ehren überhäuften Persönlichkeit geworden. Durch die sogenannte Ballonaffäre 1969 verspielten der Rowohlt Verlag, Ledig-Rowohlt und der zuständige Lektor Fritz J. Raddatz dieses Kapital restlos. Der Verlag schoss antikommunistisches Propagandamaterial aus dubiosen Quellen, vermutlich einer Vorfeldorganisation des Verteidigungsministeriums mit einer Auflage von 50.000, über die Grenze in die DDR. Die Empörung war so groß, dass Rowohlt sogar die Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse absagte. Da die Grundzüge dieser »Affäre«, die zum Zerwürfnis zwischen Raddatz und Ledig-Rowohlt führte, einige Male bereits beschrieben worden sind,48 soll hier nur 45 David Bebnowski, Ein unplanbarer Aufstieg, Die Zeitschrift DAS ARGUMENT und die Neue Linke, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 6, 2016, H. 4, S. 73-79. 46 Vgl. Enzensberger, Tumult, S. 117; vgl. Michael Th. Greven, Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Opladen 2011, S. 135 ff. 47 Manfred Liebel, Die Rolle der Intellektuellen in der Bundesrepublik, in: Neue Kritik, Nr. 18, 1963, S. 5-8; im Hintergrund standen sowohl die Lektüre von Habermas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« als auch die Erfahrungen der Spiegel-Affäre. 48 Rundbrief des Rowohlt Verlags von Ledig-Rowohlt zur Verlagskrise, 8.10.1969, in: Archiv Monacensia, Nl. Carl Amery, CA B 1115; Raddatz, Unruhestifter, S. 292 ff.; Dieter E. Zimmer, Frißt die Revolution ihre Verleger? Unter- und Hintergründe einer Affäre im Hause Rowohlt, in: Die Zeit, 26.9.1969; Blinder Moment, Verlage/Rowohlt, in: Der Spiegel, 15.9.1969, S. 206; Ivan Nagel, Ist die DDR-Zensur für uns verbindlich?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1969; Erich Lüth, Krise bei Rowohlt in Hamburg, in: Rheinischer Merkur, 3.10.1969; als neueren Überblick vgl. Frohn, Literaturaustausch, S. 284 ff.
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die Bedeutung für die Protestbewegung hervorgehoben werden. Dass sich konservative und liberale Kommentatoren dabei eher auf die Seite von Ledig-Rowohlt schlugen und gegen den als weiter links wahrgenommenen Fritz J. Raddatz stellten, wird vor allem aus einem Artikel des Literaturkritikers Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung deutlich: »Es kann dieser Streit für unsere Literatur weitreichende Folgen haben. Ledig war nie ein ›Rechter‹; aber wenn die kämpferische ›Linke‹ sich jetzt im RowohltVerlag raddatzlos, also wieder einmal heimatlos fühlen sollte, wenn die Reaktion auf die Vorfälle innerhalb des Verlages nun übermäßig ausfiele, dann wäre das nicht nur eine Privatsache zweier, für sich genommen hochachtbarer und cleverer Männer.«49 Besonders interessant für die Perspektive der Protestbewegung sind zwei Punkte. Zum ersten zeigte sich hier wie an vielen anderen Beispielen, dass auch in der Linken, bei aller Kritik an der DDR, diese vielen immer noch näher stand als der eigene Staat. Damit zusammenhängend wurde nicht hingenommen, wenn ein westdeutscher »bürgerlicher« Verlag das Vertrauen der Leser verletzte und die Auseinandersetzungen klandestin mit Methoden des Kalten Krieges führte. Die idealtypische Dreiteilung der auf Marx und dem davon abgeleiteten Kanon basierenden Konstruktion – neue Kleinverlage und Zeitschriften, Raubdruck-Bewegung und Programme etablierter Publikumsverlage – könnte allerdings das Bild verzerren. 1968 als Intellektuellengeschichte wurde nämlich weiterhin und verstärkt von der »Suhrkamp-Culture« bestimmt, vom Kursbuch, der Theorie-Reihe und – an erster Stelle – durch die edition suhrkamp. Wer mitreden wollte, hatte sich damit schon ein Lesepensum auferlegt, das die Lektüre von einem Buch wöchentlich erforderte. Besonders wichtig erscheinende längere Beiträge aus dem Kursbuch wie die Kritik von Karl Markus Michel an der »sprachlosen Intelligenz«, die dort in drei Folgen erschienen war, wurde 1968 als Essay im Programm der edition suhrkamp als Bd. 270 mit einer Auflage von 8.000 publiziert. Die edition suhrkamp bot eben eine Mischung all der Elemente, nach denen die linken Intellektuellen suchten, wobei sich das Spektrum immer stärker von der Belletristik zum theoretischen Essay hin profilierte und die aktuelle Diskussion berücksichtigte. Insofern bildete der Suhrkamp-Verlag eine Art Hybrid, aber auch den kollektiven Organisator der linken Suchbewegung.50 Die Korrespondenz zur Planung der Kursbuch-Hefte zwischen Enzensberger und Michel vermittelt einen Einblick, wie viele Gedanken man sich in dieser Funktion machte. Die Auflage lag 1969 bei 25.000, ein Mehrfaches von dem, was der Merkur in seinen besten Tagen seit der Währungsreform erreicht hatte. So plante man 49 J. K. (= Joachim Kaiser), Was heißt das: Raddatz verläßt Rowohlt, in: Süddeutsche Zeitung, 3.10.1969. 50 Vgl. den Digest von Kursbuch-Artikeln Ingrid Karsunke/Karl Markus Michel (Hrsg.), Bewegung in der Republik 1965 bis 1984. Eine Kursbuch-Chronik, Frankfurt a. M. 1985.
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besonders sorgfältig das Berliner »Studentenheft«.51 Enzensberger verlegte eigens seinen Wohnsitz nach West-Berlin, um dicht am Ort des Geschehens zu ein. An Michel schrieb er: »langsam verwandeln wir uns hier, angekommen als zuschauer, in teilhaber (mbh) dieser gesellschaft; ich trete sozusagen in die dritte phase ein (die erste ist der enthusiasmus – das war im januar – die zweite die der konterrevolutionären anwandlungen – das war im november – und die dritte kenne ich noch nicht genau genug, um sie zu beschreiben)«.52 Hegemonie ist dabei nicht als Durchsetzung gegen Konkurrenz aufzufassen. Das sieht man schon daran, dass Suhrkamp gute Kontakte zu den wichtigsten Zeitschriften außerhalb des Verlags pflegte, auch zur auflagenstarken Konkret. Das Kursbuch bemühte sich sehr um die aufstrebende linke Konkret-Kolumnistin Ulrike Meinhof. Es war eher ihre rasante Radikalisierung und der Vorrang revolutionärer Praxis, die sie von der Ablieferung bereits vereinbarter Artikel abhielt: »Ulrikchen hat mich sitzen lassen, trotz vieler Versprechungen. Schuld daran ist der trouble in Konkret. Sie wird jetzt dort ausziehen mit Krach.«53 Aber auch zum Berliner Argument von Wolfgang Fritz Haug, dessen »Kritik der Warenästhetik« 1971 sogar bei Suhrkamp erschien, bestanden enge Verbindungen. Hegemonie begründete sich bei Suhrkamp nicht allein aus geschäftlichen Interessen, sondern wurde von den selbst links stehenden Lektoren vertreten. Die Leser folgten dem Programm der Lektoren mit großer Geschwindigkeit, ohne es in der Regel je bewältigen zu können. Aus dem hohen Tempo der Rezeption ergab sich ein eklektischer Zug der Theorieaufnahme.54 Wer 1967 fasziniert wurde durch einen grundlegenden Text des französischen Anarchisten Daniel Guérin, eingebunden in dunklem Lila,55 sah sich kurz darauf von marxistischen Theoretikern wieder in eine andere Welt, die der marxistischen Debatten, versetzt. Rastlos gesucht wurde aber grundsätzlich nach geeigneten Texten, die sich als nützlich für die jeweiligen Kampagnen erweisen könnten. Dieser Aktionsbezug war ein entscheidender Zugang, eingebettet allerdings in einige grundlegende Diskurse. Sowohl kleinere Verlage konnten damit leben und überleben, wie sich an der Politisierung und gleichzeitigen Sanierung von Melzer in Darmstadt zeigte; der erfolgreiche Aufbau des Unternehmens von Klaus Wagenbach, vormals Lektor bei S. Fischer, des Merve-Verlags, des Frankfurter März-Verlags mit K. D. Wolff, der zeitweilig als Cheflektor fungierte, – die Beispiele ließen sich beliebig ver51 Karl Markus Michel an Hans Magnus Enzensberger, 8.12.1967, in: DLA, Suhrkamp-Archiv. 52 Hans Magnus Enzensberger an Karl Markus Michel, 8.12.1967, in: ebd. 53 So die Klage von Hans Magnus Enzensberger an Karl Markus Michel, 28.4.1969, in: ebd.; vgl. Rühmkorf, Die Jahre, S. 225-231; eine Textsammlung gibt es von Peter Brückner, Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin 1995. 54 Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012, S. 104. 55 Daniel Guérin, Anarchismus. Begriff und Praxis, Frankfurt a. M. 1967 (frz.: 1965).
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mehren – zeigen die Macht der Programmgestalter rund um 1968; dies gilt auch für ihre Avantgarde bei Suhrkamp mit Walter Busch, Karl Markus Michel, Walter Boehlich und einigen weiteren. Ausstrahlungen, mäandernd zwischen demokratischem Reformismus und revolutionären Visionen, zeigten sich im gesamten Kultursektor – von Mitbestimmungsforderungen an den Theatern bis zu den »Lektorenaufständen«56 im Rahmen der Statutenbewegung im Bereich der Presse, insgesamt alles Forderungen nach einer Demokratisierung der literarischen Produktionsverhältnisse.57 Wie weit sich mittlerweile eine Verschiebung im Sektor der intellektuellen Zeitschriften ergeben hatte, zeigen die Bemühungen des Merkur um einen Blätter-Austausch zwischen dem Traditionsorgan Merkur und der Zeitschrift Das Argument. Noch Ende 1964 saß der Merkur hoch zu Ross und hatte eine Anfrage des kleinen Berliner Blattes abschlägig beschieden, »da wir schon mit sehr vielen Zeitschriften seit Jahren ein Austauschabkommen verabredet haben«.58 Drei Jahre später, das Argument hatte mittlerweile längst eine viel höhere Auflage als der Merkur, waren die Rollen vertauscht; letzterer wollte nun »noch einmal unseren Wunsch nach einem Zeitschriften-Austausch zum Ausdruck bringen«.59 Der wichtigste aller Diskurse war der alles überwölbende Manipulationsdiskurs, ein Kern der Kritischen Theorie, der zumal bei Enzensberger mit seinem kritischen Amerikabild verbunden wurde.60 Dabei blieben Horkheimer und noch mehr Adorno wichtig, Konflikte ergaben sich vor allem aus der direkten praktischen Verweigerung nicht nur von Horkheimer, der sich politisch zunehmend konservativ äußerte, sondern vor allem aus der ambivalenten Positionierung von Adorno. Es war in dieser Situation nicht verwunderlich, dass gerade Marcuse, der sich mit der Protestbewegung solidarisch erklärte, zu deren beliebtestem Kritischen Theoretiker avancierte. Wendet man sich den politischen Analysen der Bundesrepublik zu, so wurde der Text von Johannes Agnoli über die »Transformation der Demokratie«, der gemeinsam, aber ohne rechten Zusammenhang mit einem Beitrag von Peter Brückner, in einem schmalen broschierten Band in der Reihe »res novae« der Europäischen Ver-
56 Schneider, Der unsichtbare Zweite, S. 239 ff., 265 ff. 57 Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken, S. 332 ff.; vgl. dies. (Hrsg.), »1968« – Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München 2013. 58 Redaktion Merkur an Argument-Verlag, 4.12.1964, in: DLA, D: Merkur. 59 Redaktion Merkur an Argument-Verlag, 28.11.1967, in: ebd. 60 Vgl. Anita Krätzer, Studien zum Amerikabild in der neueren deutschen Literatur. Max Frisch, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und das »Kursbuch«, Bern 1982, S. 307 ff.
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lagsanstalt61 erschien, schon bald und zutreffend als »Bibel der Außerparlamentarischen Opposition«62 charakterisiert. Das Buch umgab schon unmittelbar nach dem Erscheinen ein enormer theoretischer Nimbus. Endlich schien die Außerparlamentarische Opposition eine intellektuell gewichtige Analyse der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Zustände vorweisen zu können, wie mit Bezug auf eine positive Rezension von Dieter Senghaas in der Zeit auf der Rückseite des Bandes in der zweiten Auflage 1968 stolz vermeldet wurde. Die beiden Verfasser, der Philosoph und Politikwissenschaftler Johannes Agnoli (1925-2003) und der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Peter Brückner (1922-1982), standen zur Zeit der Veröffentlichung nicht mehr am Beginn ihrer akademischen Karriere, aber an der Schwelle zum Professorenamt; Brückner erhielt 1967 an der Universität Hannover einen Lehrstuhl für Psychologie, Agnoli, zuvor Assistent von Ossip K. Flechtheim im legendären OSI der Freien Universität, also in einem der Zentren der antiautoritären Revolte, habilitierte sich 1972 mit einer Arbeit über den italienischen Faschismus und bekam im selben Jahr dort eine Professorenstelle.63 Sowohl Agnoli als auch Brückner en61 Zur gewerkschaftsnahen EVA in den 1960er Jahren vgl. Klaus Körner, Die Europäische Verlagsanstalt von 1946-1979, in: Aus dem Antiquariat, Nr. 7, 1996, S. 273-290, hier S. 281 ff. 62 Johannes Agnoli/Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt a. M. 1967 (seiten- und textgleich 21968) (1967); spätere Auflagen bei EVA, im Freiburger ça iraVerlag (dort auch 6 Bände Gesammelte Schriften) und nach langwierigen Herausgeberstreitigkeiten im Hamburger Konkret-Literatur-Verlag; der Bibel-Vergleich bei der Ehefrau von Agnoli, Barbara Görres Agnoli, Johannes Agnoli. Eine biografische Skizze, Hamburg 2004, S. 65, und häufiger in der Literatur; die folgenden Ausführungen nach Axel Schildt, »Bibel der Außerparlamentarischen Opposition«. Peter Brückner/Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie (1967) in: Uffa Jensen u. a. (Hrsg.), Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen. Festschrift für Bernd Weisbrod zum 65. Geburtstag, Göttingen 2011, S. 294-304. 63 Agnoli wuchs in einer ursprünglich wohlhabenden, in der Weltwirtschaftskrise verarmten Familie in den östlichen Dolomiten auf. Als Schüler vom Faschismus und Nationalsozialismus begeistert, meldete er sich nach dem Abitur 1943 freiwillig bei der Waffen-SS und fand sich bei einer Wehrmachtseinheit der Gebirgsjäger wieder, die in Jugoslawien im Kampf gegen die Partisanen eingesetzt wurde (eine Ironie der Geschichte: dort hätte er als Feind auf Wolfgang Abendroth treffen können, der vom Strafbataillon 999 zu den Partisanen übergelaufen war und später theoretischer Antipode von Agnoli in der Linken war). Vom Mai 1945 bis zum Sommer 1948 befand sich Agnoli in einem britischen Gefangenenlager in Ägypten, danach studierte er in Tübingen, vor allem bei Eduard Spranger, und wurde von Theodor Eschenburg mit einer Arbeit über Giambattista Vicos Rechtsphilosophie promoviert. Mittlerweile eingebürgert, trat Agnoli 1957 in die SPD ein, wurde aber 1961 wegen Förderung des SDS wieder ausgeschlossen. Auf Empfehlung von Wolfgang Abendroth gelangte er als Assistent von Ossip K. Flechtheim an das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und habilitierte sich 1972 mit einer Arbeit über den italienischen Faschismus; im gleichen Jahr erhielt er dort eine Professur (zur Biographie von Agnoli vgl. Görres, Agnoli; darin auch »Selbstauskünfte von Agnoli«, S. 79 ff.; vgl. das Vorwort in Joachim Bruhn u. a. [Hrsg.], Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag, Freiburg 2000). Zu Peter Brückner: Die Mutter musste als englische Jüdin ebenso wie seine
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gagierten sich danach weiter in der linksradikal-libertären Szene und hatten für die Konversion und Anpassung früherer Mitstreiter wenig mehr als Verachtung übrig;64 publizistisch taten sie sich eher mit kleinen Schriften als mit umfangreichen Werken hervor.65 Stärker in der Öffentlichkeit bekannt wurde Peter Brückner, der 1972 wegen angeblicher Unterstützung der RAF für zwei Semester und 1977 im Zuge der sogenannten Mescalero-Affäre erneut vom Dienst suspendiert wurde; kurz nach seinem juristischen Sieg in letzter Instanz starb er an Herzversagen.66 Gemeinsame schriftstellerische Aktivitäten von ihm und Agnoli gab es nach ihrem Werk von 1967 nicht mehr. Die »Transformation der Demokratie« kam nach Darstellung von Agnolis Ehefrau Barbara Görres Agnoli folgendermaßen zustande: Agnoli hatte 1965 auf Einladung des Kölner SDS einen Vortrag über das Thema »Verfassung und Herrschaft« gehalten, bei dem auch Brückner anwesend war, der ihn aufforderte, seine Ausführungen für einen Band der Reihe »Humantechniken« im Fischer-Verlag auszuarbeiten; der Text wurde dort allerdings als thematisch unpassend abgelehnt. Zufällig hatte Agnoli den Verleger des Voltaire-Verlags, Nicolaus Neumann, kennengelernt, dem er von der Ablehnung erzählte. Dieser bat ihn um das Manuskript und schloss mit Agnoli und Brückner einen Vertrag über die Herausgabe eines Buches unter dem Titel »Transformation der Demokratie« ab. Brückner musste allerdings seinen Beitrag, dessen ursprünglicher Arbeitstitel »Manipulation durch Werbung« laubeiden älteren Geschwister in der NS-Zeit emigrieren, Brückner besuchte bis zum Abitur 1941 ein Internat in Zwickau; in der letzten Schulklasse trat er, obwohl keineswegs begeistert, wie viele seiner Mitschüler im Zuge einer Werbeaktion in die NSDAP ein und wurde zu einem in Wien stationierten Landesschützen-Bataillon einberufen. Es ist verbürgt, dass er gemeinsam mit österreichischen Kommunisten Kriegsgefangene und Deserteure unterstützte (vgl. die Autobiographie: Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980; das Kapitel »Ich werde Mitglied der NSDAP« S. 112 ff.). 1945 trat er in Zwickau in die KPD ein, hielt bei der Eröffnung der Leipziger Universität die studentische Rede, wechselte aber bereits 1949 in die Bundesrepublik. In den 1950er Jahren studierte er in Münster Psychologie, wurde 1957 mit einer Arbeit über das Rorschach-Verfahren promoviert und gründete anschließend mit seiner zweiten Ehefrau Erika Brückner die erste Erziehungsberatungsstelle in der Bundesrepublik. In Heidelberg betrieben sie mit anderen ein Institut für Marktforschung und bekamen Kontakt zum Kreis um Alexander Mitscherlich. Anfang der 1960er Jahre unterzog Brückner sich einer Ausbildung zum Psychoanalytiker, nahm Kontakt zu den SDS-Gruppen in West-Berlin und Frankfurt auf und machte sich einen Namen als Sozialpsychologe. 64 Ernest Mandel/Johannes Agnoli, Offener Marxismus. Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und Häresie der Realität, Frankfurt a. M./New York 1980; Johannes Agnoli, 1968 und die Folgen, Freiburg 1998 (Aufsatzsammlung); Peter Brückner, Kritik an der Linken. Zur Situation der Linken in der BRD, Köln 1973; ders./Alfred Krovoza, Staatsfeinde. Innerstaatliche Feinderklärung in der BRD, Berlin 1974; Peter Brückner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1972, 21984. 65 Eine Bibliographie der Veröffentlichungen Agnolis in: Joachim Bruhn u. a. (Hrsg.), Geduld und Ironie. Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag, Freiburg 1995, S. 183 ff. 66 Vgl. Alfred Krovoza u. a. (Hrsg.), Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1981.
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tete, noch fertigstellen. In die Zeit der Fertigstellung fiel der 2. Juni 1967, Brückner kam nach Berlin und wohnte in einer Kommune. Von deren Zusammenleben begeistert, änderte er ohne Absprache mit Agnoli den Titel in »Die Transformation des demokratischen Bewußtseins«.67 Die beiden Teile fielen völlig unterschiedlich aus, der erste Teil sei ein »kleines Meisterwerk«, so Sebastian Haffner in einer begeisterten Rezension – »bei aller Bedrücktheit und Erbitterung lacht man bei der Lektüre oft hell auf über die Präzision und Eleganz, mit der er wieder und wieder ins Schwarze trifft«.68 Sein Eindruck, dass dagegen der Text von Brückner stark abfiele, wurde weithin geteilt. Der historische Ausgangspunkt der in politisch-philosophischer Sprache mit einigen originellen Begriffsbildungen arbeitenden gut 80-seitigen Darstellung69 Agnolis ist die klassische Restaurationsthese, der zufolge nach dem Zweiten Weltkrieg, »zum Teil gegen den Widerstand der Bevölkerung selbst, im Westen die Herrschaft gesellschaftlicher Oberschichten wiederhergestellt« worden sei. Für die Bemäntelung des Klassenkampfes sei der dabei erneut etablierte parlamentarische Verfassungsstaat aber angesichts eines gesellschaftlichen »Sogs der Demokratisierung« mittlerweile nicht mehr tauglich; deshalb zeige sich eine »Involutionstendenz zu einem autoritären Staat rechtsstaatlichen Typus«. »Involution«, verstanden als »Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen«, wird als exakter Gegenbegriff zur »Evolution« konstituiert. Teilt man als Prämisse die Tendenz zur »Involution«, entfaltet sich mit jedem weiteren Argumentationsschritt eine suggestive immanente Logik, die auf ein politisches Denken in Kategorien einer »Systemopposition« zielt.70 Die Wahrnehmung, dass eine »Involutionstendenz« eingesetzt habe, markierte bekanntlich den zeitgenössischen Horizont nicht nur der üblichen linksintellektuellen Kritiker – erwähnt seien nur die bangen Mahnungen von Karl Jaspers. Die Erschießung von Benno Ohnesorg in West-Berlin am 2. Juni 1967 galt weit darüber hinaus als Symbol der deutschen Verhältnisse. Agnolis Anspruch war freilich ein viel weiterer als nur ein deutscher, ihm ging es um die Erklärung der politischen Transformation als »Grundtendenz« der gesamten westlichen Welt, die Bundesrepublik und West-Berlin lieferten als Spezialfall eines allgemeineren Prozesses nur »das Material der Analyse«. Auch dies drückte die Selbstwahrnehmung der Protestbewegung als globaler Gemeinschaft aus, wobei die Dimension der Generation, die heute damit häufig verknüpft wird, bei Agnoli nicht vorkommt. Ohnehin weist Agnoli nur an wenigen Stellen auf nationale Spezifika der »Grundtendenz« hin, etwa auf »die traditionell obrigkeitsstaatliche Orientierung des deutschen Ka67 Görres Agnoli, Johannes Agnoli, S. 54 f. 68 Sebastian Haffners Monatslektüre, in: Konkret, Nr. 3/1968, dok. in: Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Hrsg. von Barbara Görres Agnoli, Hamburg 2004, S. 213-218, hier S. 214. 69 Agnoli, Transformation, alle folgenden Zitate dort S. 8, 9, 10, 13, 15, 17, 19, 22, 23, 24, 25, 28, 30, 31, 34, 37, 41, 45, 47, 55, 56, 60, 62, 63, 68, 71, 77, 84, 85. 70 Vgl. politikwissenschaftlich Greven, Systemopposition.
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pitals« und dessen »rohe Bereitwilligkeit zu autoritären Regelungen« sowie auf den Umstand, dass hier die »Transformation am weitesten gediehen« sei. Eine konkrete Aussage zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands formulierte Agnoli nicht. Wichtiger war ihm eine typologische Unterscheidung in Gesellschaften der romanischen Länder, genannt werden Frankreich, Italien und Griechenland, in der die Klassenwidersprüche offener zutage träten, und den angelsächsischen und skandinavischen Ländern, die über längere Traditionen von deren Überdeckung und Einhegung verfügten. Dabei fällt auf, dass der Kalte Krieg als überwölbender Rahmen der politischen Verhältnisse, obwohl doch West-Berlin ein hot spot der Systemauseinandersetzung war, nicht vorkam, die DDR ebenso wenig wie die Sowjetunion im gesamten Buch auch nur erwähnt wurden. Dem antiautoritären Diskurs von der subtilen Manipulation durch Massenkonsum, am prominentesten in den Arbeiten Herbert Marcuses vertreten, entsprach die politische These Agnolis, dass auch der Abbau der Demokratie auf der wohlfahrtsstaatlichen Manipulation der Bevölkerung basiere. Eine Manipulation der Arbeiter durch »Konsumlusterweckung und optimale Lusterzeugung«, die den »Verlust an Politik zu kompensieren und die Notwendigkeit der Politik zu verdecken« geeignet sei, konstituiere »Programm und Technik des sozialen Friedens«. Allerdings habe sich der soziale Frieden noch nicht in einer Krise bewährt, die konstatierte »Involution« – etwa die Planung von Notstandsgesetzen – zeige deutlich die Vorbereitung auf eine solche Krise, die trotz der ständig wiederholten Zusicherung der Nationalökonomen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gebe, von den Herrschenden getroffen werde. Freilich bedürfe es nicht notwendig präventiver Notstandsgesetze – hier setzte sich Agnoli von der zeitgenössischen Hypostasierung ab –, die Grundtendenz der Krisenprophylaxe bestehe vielmehr darin, »einen Vorschuß an Vertrauen einzusammeln, ganz gleich, ob das Vertrauen sich bei allen Führungsgruppen eines Verfassungsstaates gemeinsam akkumuliert«. Erfolgreich funktioniere das Modell auch dann, wenn eine »Wachablösung« durch »Gegenoligarchien« organisiert werden könne; die Hauptsache sei, dass es nicht zu einer »Emanzipationsbewegung« gegen den Staat komme. Spätestens bis hierhin war dem Leser deutlich geworden, dass es sich um sogenannte objektive Prozesse handelte, Akteure kommen bei Agnoli nicht vor, Personen werden, sehr beliebig und sehr selten, allenfalls zum Beleg einer illustrierenden Information genannt. Gerade diese Apersonalität schuf jene Aura der unabweisbaren Wissenschaftlichkeit, die Theoriebedürfnisse der antiautoritären Bewegung stillen mochte. Das erwähnte Vertrauen in die Beherrschten stellte sich her durch die »Blindheit der Massen«, die sich, wie Agnoli konstatierte, nirgendwo so frei fühlten wie in den westlichen Ländern; der »sogenannte Pluralismus« im politischen Bereich – analog der »Konsumhypertrophierung« in der Welt der Waren – bildete die wesentliche Grundlage einer Befriedungspolitik, mit der »friedlich aber wirksam« die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates ferngehalten werde, so dass auch der Streit, ob man in einer pluralistischen oder antagonistischen Klas779
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sengesellschaft lebe, »an seinem Gegenstand vorbeigeht«. Diese Aussage richtete sich erkennbar gegen den Linkssozialisten Wolfgang Abendroth, der in der Tradition der Aussagen von Friedrich Engels nicht müde wurde, die parlamentarischdemokratische Verfassung des Grundgesetzes als Ausgangspunkt für den Kampf um den Sozialismus zu bestimmen.71 Agnolis Text liest sich über weite Strecken als Abgrenzung von dessen linkssozialistischer Strategie in der Tradition der klassischen Sozialdemokratie, als Programmschrift einer antiparlamentarischen – häufig als »fundamentalistisch« bezeichneten – Fraktion innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition (APO): »Nicht Brot und Spiele noch Wahlzettel, sondern die Gewalt hat im Laufe der bisherigen Geschichte soziale Kräfte der Manipulation entzogen und Freiheit verwirklicht.« Eine linke Opposition, die sich auf den Parlamentarismus einlasse, besitze allerdings eine eigene »manipulative Bedeutung«. Eine neue Stufe der Manipulation durch den pluralistischen Parlamentarismus sieht Agnoli im neuen Typus einer »Volkspartei«, die keine Klassen, sondern nur noch »Menschen« kenne. Die »Leerformelhaftigkeit der Konkurrenz und die pragmatische Ausrichtung der konkurrierenden Parteien erinnert freilich an den Schein der Konkurrenz im Konsumsektor« – die Volkspartei sei insofern nichts anderes als »die plurale Fassung einer Einheitspartei«,72 das »manipulative Mittel zur Erzeugung eines gruppenneutralen, interessenenthobenen und daher mystifizierten Staatsbürgerbewußtseins«. Es komme zu einer »Verstaatlichung des Bewußtseins«, in dem der Staat als tatsächlich übergeordnete, neutrale Instanz erscheine. Bei der Re-Lektüre solcher Passagen ist wiederum der zeitgenössische Kontext mit zu bedenken: die »Formierte Gesellschaft« Ludwig Erhards, die Enttäuschung über die Sozialdemokratie, die sich spätestens mit dem Godesberger Programm (1959) als »Volkspartei« gerierte, und insgesamt das Tabu, den Staat und seine Instanzen anders als neutral zu definieren. In der Kritik der formell obersten Institution des Staates wird dies treffend auf den Punkt gebracht: »Eine unmündige Gesellschaft braucht symbolische Einrichtungen, die über keine effektive Macht verfügen, im Machtsystem jedoch spezifische Aufgaben erfüllen – ohne die also ein Machtsystem brüchig werden könnte. In Westdeutschland ist z. B. der Bundespräsident ein Herrschaftsorgan, dessen Integrationswirkung aus der zweifachen Fiktion entsteht, die Spitze des Staates darzustellen und überparteilich zu sein.« Diese Erklärung, die eben nicht die bloße Lächerlichkeit der Repräsentation herausstellte, wie dies üblicherweise gegenüber dem amtierenden Präsidenten Heinrich 71 Vgl. Richard Heigl, Das Unbehagen am Staat: Staatskritik bei Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli, in: Christoph Jünke (Hrsg.), Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus?, Hamburg 2010, S. 171-185; hier wird zwischen einer historisch-materialistischen und »radikaldemokratischen« Position Abendroths und einer ahistorischen »strukturmaterialistischen« Theorie Agnolis unterschieden. 72 Vgl. den Band Wolf-Dieter Narr (Hrsg.), Auf dem Weg zum Einparteienstaat, Opladen 1977 (mit Beiträgen von Agnoli, Joachim Raschke, Alf Mintzel u. a.).
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Lübke geschah, verschaffte Agnoli über die Tagespolitik hinaus theoretische Reputation in der antiautoritären Bewegung. Die zum Gestus verdichtete Argumentationsfigur einer kühlen, illusionslosen Kritik der hilflosen Kritik war seiner gesamten Betrachtung des Parlamentarismus unterlegt. Als gesellschaftlicher Machtfaktor sei das Parlament zwar von Anfang an – mit der Ausnahme des jakobinischen Terrors – die »Fiktion der durch Volksvertretung verwirklichten Volksfreiheit«, gleichzeitig aber gebe es eine »weitgehende Symbiose der Parlamentsführung mit den Spitzen des Exekutivapparats«. Und genau das sei für eine erfolgreiche Herrschaftsmethode unerlässlich: »dass ein Teil der politischen und gesellschaftlichen Oligarchien sichtbar im Parlament tätig (also dem Schein nach öffentlich kontrollierbar), sichtbar vom Volke gewählt (damit zum Herrschaftsakt demokratisch legitimiert) und sichtbar Träger von Macht (…) ist.«73 Insofern sei das Parlament »zwar nicht die Entscheidungsinstanz, aber doch die staatliche Durchgangsstelle des sozialen (und politischen) Friedens« und gehöre »insofern zu den wichtigsten Instrumenten der friedlich-manipulativen Integration« – zugespitzt: »Dem demos gegenüber ist das Parlament ein Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien.« Da dieser Mechanismus nur insofern funktioniere, als das Volk das Parlament als seine »eigene Vertretung« anerkenne, müsse es der Anspruch einer Fundamentalopposition sein, diese Ordnung zu stören, die »manipulative« Verschleierung zu durchbrechen; daher seine stete Warnung vor einer »Sozialdemokratisierung der Linken«, davor, sich wie die SPD als Volkspartei auf den Parlamentarismus einzulassen.74 Mit einer eher pessimistischen Note schließt Agnoli. Im Westen gebe es stets einen »Randbezirk (meist kultureller Art) (…) in dem die Aufforderung zur Revolution straffrei erhoben werden kann«; sollte allerdings die »Fundamentalopposition« wirklich »die Massen« ergreifen, würden »mit verblüffender Geschwindigkeit die Mussolinis, Hitlers und Francos auf(tauchen)«.75 73 Hier wie an zahlreichen weiteren Stellen haben die Autoren für sie besonders bedeutsame Passagen gefettet, so dass dem Text etwas Lehrbuchartiges anhaftet. 74 In diesem Kontext wird bisweilen behauptet, Agnoli erweise sich als gelehriger Schüler und Anhänger des Elite-Theoretikers Vilfredo Pareto, der Mussolini den Rat gegeben hatte, eine dem Regime ungefährliche parlamentarische Institution zu belassen bzw. zu konstruieren, um damit dessen repressiven Kern zu verschleiern; wo immer Pareto zitiert wird, ist er allerdings für Agnoli lediglich der hellsichtige Ideologe der Herrschenden, ähnlich wie für viele deutsche Linke Carl Schmitt. Die intellektuell unbefriedigende Auseinandersetzung mit Agnoli als angeblich gewendetem Faschisten, wozu auch dessen schwärmerische Elogen auf den Faschismus, die er als Schüler verfasste, und seine Meldung zur Waffen-SS bzw. Wehrmacht herhalten müssen (etwa so vielsagend wie im Fall von Günter Grass), nahm ihren Ausgang mit einem Vortrag von Wolfgang Kraushaar in der Villa Vigoni (Wolfgang Kraushaar, Agnoli, die APO und der konstitutive Illiberalismus seiner Parlamentarismuskritik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2007, S. 160-179; vgl. Rainer Blasius, Seitenwechsel und Veränderung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.12.2006; die gleiche Linie schon im Nekrolog von Lorenz Jäger, Du mußt nur die Laufrichtung ändern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.2003). 75 Das Thema »Faschismus« durchzieht das gesamte Œuvre; vgl. Johannes Agnoli, Zur Faschismusdiskussion. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Öko-
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Während Agnoli zwar am Ende keinen strategischen Vorschlag machte, aber insgesamt den theoretischen Horizont der antiautoritären Bewegung an einigen Stellen deutlich erweiterte, traf der anschließende Text »Analysen zum Gegenstand und zur Methode der Politischen Psychologie« von Peter Brückner offenbar auf kognitive Konsonanz, war Ausdruck von antiautoritärem Mainstream, aber kaum originell. War der Ausgangspunkt von Agnoli die politische Entwicklung der westlichen Welt, konzentrierte sich Brückner auf die Befindlichkeit der West-Berliner SDSMitglieder. Sein expliziter Ausgangspunkt war der 2. Juni 1967, der in grotesker Hypostasierung als Schlüsselereignis der deutschen Geschichte imaginiert wurde. Die »verzerrten Gesichter« der Polizisten, die auf Wehrlose einprügelten, erinnerten ihn daran, »daß Deutsche vor 30 Jahren den Minoritätsmord zum sozialen Wohlverhalten erklärten und ganz Europa in ein KZ verwandelten wollten«.76 In idealistisch anmutender Terminologie bemüht Brückner die Analogie der »Existenz des authentischen Individuums« und einer »wahren Demokratie«. Seine Betrachtung der Auseinandersetzungen zwischen der West-Berliner Studentenbewegung, angeführt vom SDS, auf der einen und dem Berliner Senat und der Springer-Presse auf der anderen Seite – von Agnoli hingegen wird der Konzern oder sein Chef nicht einmal erwähnt –, transportiert auf der einen Seite eine Kritik an der Untertanenmentalität der manipulierten Leser, der von Springer »Beschädigten«. »Die Identifizierung des Bürgers mit den Interessen der Herrschaft«, so Brückner, beruhe »auf einem reflexartigen Unterwerfungsverhalten«. »Die Aggression, die Bürger wie Polizei auf die Studierenden richten, fließt aus der Frustration und Repression, die beide ständig erfahren.« Letztlich sei »Sexualneid« auch als Motiv des Hasses vieler Arbeiter auf die Studierenden auszumachen. Auf der anderen, der heroischen Seite stehen »die Studenten«, die »substitutionalistisch für uns alle« handeln würden. Dem objektiven Auftrag der Gesellschaftsveränderung fehle das Subjekt, dies sei – die größenwahnsinnige Analogie war damals im West-Berliner SDS nicht unbekannt – auch bei den Bolschewiki so gewesen. Die selbstgewisse Basis von Brückners Text bildet ein recht schlichter Linksfreudianismus, bei dem Triebsublimierung direkt politisches Bewusstsein erklärt, in Kombination mit einem Avantgarde-Anspruch, bei dem man sich fragt, ob nicht schon die zeitgenössischen Leser bisweilen peinlich berührt waren. Denn manche psychologische Erklärung klang doch recht trivial: »Die Anstrengung, die politisches Denken an die Explikation des ›Richtigen‹ wendet, verrät ihre Abkunft aus der Anstrengung, den Eltern zu Gefallen zu sein; seine methodische Disziplin, deren Reinlichkeitsgebote zu befolgen.« Die Sympathie Brückners galt den »Gammlern und Kommunarden«, namentlich auch der Kommune 1, die das »von der Tauschgesellschaft verleugnete Humanum extravagant auf(bewahren)« würden. nomie und der Funktion des heutigen bürgerlichen Staates, Berlin 1972; ders., Faschismus ohne Revision, Freiburg 1997. 76 Peter Brückner, in: Agnoli/Brückner, Transformation, dieses und alle folgenden Zitate dort S. 91, 102, 107, 113 f., 117, 120, 122, 128, 134, 156, 157, 158, 159, 183.
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F ET ISCH R EVOLU T ION :
1968
A L S I N T ELLEKT U ELLENGE SCH ICH T E
Wiederholt gleitet der Text in fragwürdige historische Analogien und Bezugnahmen ab, die vorzugsweise auf die NS-Zeit verweisen. So nehme die »Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden (an der FU) Züge der Volksgemeinschaft in den Betrieben des Dritten Reiches an«, und »Abgeordnete der CDU und der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus gaben die studentische Opposition endgültig zur Verfolgung frei, und zwar mit Termini, die wir aus dem Spracharsenal des deutschen Faschismus kennen«; die Studenten seien »die künftigen Opfer eines legalisierten Mordes«; prägend und politisch verantwortlich sei »die selbe Generation, die sich der Minoritäten der Zigeuner und Juden für immer entledigt hat«. Auf den Text von Agnoli geht Brückner – wie auch umgekehrt – an keiner Stelle ein, die Verbindung besteht in einer gemeinsamen Ablehnung des »manipulativen« Parlamentarismus; wie bei Agnoli steht auch bei Brückner »das faschistische Syndrom längst bereit«; während jener es aber bei der Analyse der »Transformation« belässt, ruft Brückner abstrakt dazu auf, die »Menschen müss(t)en untereinander Formen der Kooperation finden, die rationeller strukturiert (wären) als die gegenwärtigen.« Solche Sentenzen lassen Brückner als kompatible Bezugsgröße für das sich bildende »alternative Milieu« der 1970er Jahre erscheinen, während demgegenüber Agnoli jenen analytischen »Kältestrom« innerhalb der antiautoritären Bewegung repräsentiert, der von vielen linken Intellektuellen bald nicht mehr goutiert wurde.
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Nachwort Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried
Dieses Buch bedarf aus besonderen Gründen eines Nachworts. Der Zeithistoriker Axel Schildt (1951-2019) hat über viele Jahre an seinem letzten Forschungsprojekt gearbeitet, einem »Opus magnum« zur Geschichte der Medien-Intellektuellen. Und doch hat er sein Vorhaben nicht beenden können. Denn er starb vor der Fertigstellung. Daher ist es nun an uns, denen Axel Schildt die Herausgabe anvertraut hat, den Entstehungsprozess zu erläutern und in einen wissenschaftlichen und persönlichen Kontext zu stellen. Nicht zufällig waren es die Medien-Intellektuellen in der Bundesrepublik, die Axel Schildt am Ende seiner Karriere so intensiv beschäftigt haben. Schon früh hatte er sich für den Konservatismus interessiert, der in der Intellektuellengeschichte gerade der frühen Bundesrepublik eine zentrale Rolle spielte. Dabei ging es ihm zunächst gar nicht um dessen ideengeschichtliche Ausprägungen, sondern vor allem um die historisch-politische Wirkungsmacht konservativer Akteure. Insbesondere die Protagonisten der »Konservativen Revolution«, des »Tat-Kreises« und die Vertreter der Abendland-Ideologie waren Gegenstand seiner Forschungen. Auch die Frage, wie sich die Repräsentanten und Mitläufer des »Dritten Reiches« in der Bundesrepublik einrichteten und ihre politischen und ideologischen Kontinuitäten pflegten, beschäftigte ihn. Dabei nahm er weniger eine Haltung der moralischen Entrüstung ein – als Zeithistoriker der Bundesrepublik konnten ihn der Fortbestand und die mangelnde Aufarbeitung von NS-Belastung nicht wirklich überraschen – als vielmehr die des beharrlichen Forschers, dem daran gelegen war, die zweite deutsche Demokratie im Hinblick auf ihre problemhaltigen Konstituenten und Gefahren zu verstehen. Ebenso intensiv hat er die Bundesrepublik auf ihre demokratischen Potentiale hin untersucht. In diesem Buch schreibt Axel Schildt diese Geschichte zugleich fort und neu. Er zeigt, wie sich Kontinuitäten aus Weimar und dem »Dritten Reich« mit den liberalen Zügen einer massenmedial geprägten Öffentlichkeit konflikthaft verbanden und die westdeutsche Gesellschaft prägten. Die Darstellung war bis 1989 geplant, bricht aber in den späten 1960er Jahren ab, weil der Autor sein Buch nicht beenden konnte. Es ist leicht zu sehen, dass sich auch andere Schwerpunkte von Axel Schildts Forschungen – Kulturgeschichte, Mediengeschichte und Stadtgeschichte – in diesem Buch niederschlagen. Wie die Intellektuellengeschichte bereits Eingang in frühere Arbeiten gefunden hat, so ist im vorliegenden Buch ihre empirische Grundierung in den sozialen, ökonomischen und technologischen Prozessen explizit mitgedacht und ausgeführt. Erst in dieser Zusammenschau werden Intellektuelle und ihre Interessen- und Einflusssphären, ihr strategisches Handeln sowie ihre Motivstrukturen als wirkmächtige Akteure erkennbar. Betrachtet man 785
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die Epochen, über die Axel Schildt vorwiegend arbeitete, dann steht im Zentrum die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, allerdings eingebettet in längere historische Verläufe. Ihn interessierten Umbrüche, Konversionen und Zeitenwenden, aber nicht im Sinne spektakulärer ereignisgeschichtlicher Höheoder Tiefpunkte, sondern als gesellschaftlich getragene langfristige Prozesse und qualitative Umstrukturierungen. Insofern erstreckt sich die Entstehungsgeschichte dieses Buches im Grunde über ein ganzes Forscherleben. Im engeren Sinne hat Axel Schildt seit etwa 2010 daran gearbeitet. Die Archivforschungen wurden vor allem durch das Programm »Opus Magnum der Fritz-Thyssen- und der Volkswagen-Stiftung« ermöglicht, mit dem er sich vom Oktober 2011 bis September 2013 von seinen Verpflichtungen als Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und als Professor an der Universität Hamburg freistellen lassen konnte. Das Quellen- und Literaturverzeichnis weist 28 Archive aus, aus denen an die hundert Nachlässe von Intellektuellen sowie Archivbestände von Redaktionen und Akademien stammen, die hier – viele von ihnen erstmals – ausgewertet wurden. Im Laufe der Recherchen wurden ihm die Komplexität und der Reiz seines Vorhabens immer klarer. Er war auf Entdeckungsreise und kam immer wieder mit reichhaltigen und auch zum Teil für ihn überraschenden Funden zurück – alles in allem eine äußerst umfangreiche Materialgrundlage, die die Rekonstruktion der Debatten, Verbindungen, medialen Praktiken sowie die öffentliche Resonanz der westdeutschen Intellektuellen auf einem völlig neuen Niveau ermöglicht. Nicht alle Quellen sind in dieses Buch eingeflossen. Der Autor hatte geplant, die Publikation bis 2021 – dem Jahr seines 70. Geburtstags – fertigzustellen. Zwischen 2013 und 2017 begann er mit der Niederschrift des Manuskripts, immer wieder eingeschränkt durch seine vielfältigen beruflichen Verpflichtungen, die ihn mit vollem Zeitbudget forderten. Erst im Herbst 2017, nach seiner Pensionierung, begann sich das Feld der akademischen Aufgaben, der ehrenamtlichen Tätigkeiten, der Vorträge und kleineren Publikationen zu lichten, und er konnte sich intensiver seinem Lieblingsprojekt zuwenden.
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Axel Schildt wollte – im Unterschied zu allen früheren Publikationen – dieses Buch mit einer Selbstauskunft versehen. Angesichts seiner besonderen Affinität zum Thema »Intellektuellengeschichte« und seiner partiellen Zeitgenossenschaft schien ihm dies geboten und inhaltlich sinnvoll zu sein. Bei schon fortgeschrittener Erkrankung hat er diese Selbstauskunft begonnen und dann nicht mehr vollenden können. Wir drucken den Anfang seiner Überlegungen hier ab, die sich vor allem auf sein Elternhaus beziehen, und ergänzen aus dem eigenen Erleben, was wir beitragen können zu Axel Schildts biographischen Voraussetzungen und seiner Motivation, sich der Thematik der Medien-Intellektuellen zuzuwenden. 786
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Ich habe nie die Absicht gehabt, eine Autobiographie zu verfassen, weil ich nicht glaube, dass mein Leben so viel hergeben würde. Das habe ich immer vertreten und dabei bleibt es. Ich habe auch immer abgelehnt, in meinen Texten in die Ich-Form zu wechseln, weil ich die Aufgabe von darstellerischer Distanz, ungeachtet vielfältiger Forderungen nach Ausdruck von Subjektivität, als Zerstörung von Wissenschaft empfinde. Auch dabei bleibt es. Dagegen musste ich schon lange meine ursprüngliche Absicht aufgeben, als Historiker nie über die jüngste Zeit zu schreiben, die ich noch selbst erlebt habe. Dann kann man nämlich als Zeithistoriker nicht arbeiten. Dass hier die bewusste Reflexion der Doppelrolle als Historiker und Zeitgenosse und deren Risiken einzusetzen hat, gehört mittlerweile zu den professionellen Selbstverständlichkeiten. Dieses letzte Buch, das ich vorlege, erfordert aber, zur eigenen Selbstverständigung ebenso wie zur Orientierung der Leserinnen und Leser, einige Zeilen zu meiner Biographie im Blick auf meine Motivation, über die Geschichte der Intellektuellen in den Medien zu schreiben. Aufgewachsen bin ich in einer Familie mit gut gefüllter Bibliothek, von der Bibel bis zu Gryphius, von Goethe bis Thomas Mann. Mein Vater (1903-1987) und meine Mutter (1914-2006) waren klassische, mein Vater allerdings auch ein verhinderter Bildungsbürger. Sein Vater hatte die Standard Oil in Österreich gegründet, mein Vater fuhr mit der Kutsche zur Schule. Nach dem frühen Tod seines Vaters war die Familie immer noch begütert, durch den Ersten Weltkrieg – »Gold gab ich für Eisen« – allerdings völlig verarmt. Als ältestes von vier Kindern hatte er das Angebot, in die Firma Standard Oil zu gehen. Statt eines Studiums der Philosophie, Literatur und Kunst – er konnte unglaublich gut zeichnen – wurde er als Lehrling in die USA geschickt und erzählte, über Monate hinweg sich übergeben zu haben, weil ihm das Kaufmännische so gar nicht lag. Politisch war er vor 1933 linksliberal eingestellt. In seinen Tagebüchern erwog er 1930, die SPD zu wählen, aber das wäre »illoyal« gegenüber dem Unternehmen gewesen, er wich auf die Staatspartei (vormals DDP) aus. Zu seinen Freunden aus der Jugendbewegung zählten Carlo Mierendorff und Theo Haubach. In der NS-Zeit, seine Firmenabteilung gehörte zum kriegswichtigen Reichsschmierstoff-Verbund, unterstützte er die SPD bisweilen mit Kurierdiensten nach Dänemark. Unmittelbar nach dem Einmarsch der britischen Truppen in Hamburg Anfang Mai 1945 saß er wieder hinter seinem Schreibtisch an der Esplanade mit Blick auf die Binnenalster, war von Sperrstunden befreit und fuhr mit seinem Auto durch das zerstörte Hamburg. Einigen, hoffentlich nicht unberechtigt, verhalf er als anerkannter »Antifaschist« zu Persilscheinen und rettete ihre Karrieren. Ich hatte keine Gelegenheit, darüber mit ihm zu sprechen, Ulrich Prehn fand ein solches Dokument im Hamburger Staatsarchiv und zeigte es mir. Auch nach 1945 wollte er sich politisch nicht binden, obwohl er an einem Gespräch von Unternehmern und Managern mit Kurt Schumacher teilnahm. Sein Berufsleben beendete er mit 63 Jahren. Während mein Vater der reformierten »badisch-unierten« Kirche angehörte, war meine Mutter als einziges Mädchen mit vier Brüdern in einem streng katholischen Elternhaus aufgewachsen. Ihr Vater, Max Müller (1888-1950), hat als politisch unbelasteter Stadtbaudirektor mit einer weißen Fahne Pforzheim der französischen Besatzungsmacht übergeben und war dann, zeitweise Vertreter des Bürgermeisters, verantwort787
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lich für die Planung des Wiederaufbaus. Meine Mutter, in erster Ehe mit einem Mitarbeiter von Wernher von Braun, der 1944 ums Leben kam, und zwei Kindern in Peenemünde lebend, kannte meinen Vater bereits vor dem Krieg, 1950 heirateten sie. Meine Mutter war ein musisch sehr tief empfindender Mensch. Als einziges Mädchen hatte sie 1932 das Abitur an einem Humanistischen Gymnasium und danach eine Bildhauerschule absolviert. Sie beherrschte souverän das Altgriechische und Lateinische und sprach perfekt Italienisch und Französisch. Ihre ganze Liebe aber galt der klassischen Musik, nach dem Zweiten Weltkrieg war sie vorübergehend erste Violinistin im Philharmonieorchester des Südwestdeutschen Rundfunks, bevor sie sich auf ihre Rolle als Hausfrau mit vier Kindern konzentrierte. Hausmusik wurde weiterhin groß geschrieben, auch wenn sie bei ihrem eigenen Nachwuchs damit keinen Erfolg verbuchte. Mein Instrument, das Cello, habe ich, rückblickend mit Bedauern, mit 13 oder 14 Jahren bereits in die Ecke gelegt, weil ich mich mehr für die neue Rockmusik interessierte. Die Erwähnung des familiären Hintergrunds ist für das vorliegende Buch in zweifacher Hinsicht von Belang. Zum Ersten, weil die NS-Belastung von Teilen der intellektuellen Elite ein alles begleitendes Thema darstellt. Gegen wohlfeile schematische und bisweilen apologetische Konstruktionen eines Kampfes der 68er-Generation gegen ihre NS-Väter-Generation war ich sozusagen persönlich immun, auch wenn meine eigene Familienkonstellation nicht repräsentativ sein mag. Ich muss eine Einschränkung machen. Über den Nationalsozialismus wurde nicht viel gesprochen, und wenn, dann mit einer gewissen Verachtung gegenüber dessen kleinbürgerlicher Kulturlosigkeit. Meine Mutter schilderte gern eine Anekdote, als sie mit einem Orchester in einer Feierstunde vor der lokalen NS-Prominenz Joseph Haydns »Gott erhalte Franz den Kaiser« intonierten und die braunen Spießgesellen aufsprangen und die Arme reckten, weil sie dachten, es würde das Deutschlandlied intoniert, und sich dann beschämt wieder hinsetzten, als es in eine andere Melodie überging. Nationalsozialisten kamen nicht als interessengeleitete Verbrecher vor, sondern als bemitleidenswerte Dummköpfe. Aber immerhin, der bürgerliche Humanismus gab doch der intoleranten NS-Ideologie keine Chance. Das Zweite ist generell die stetige Förderung, das Urvertrauen in mich, als ich eben, sehr früh sehr kurzsichtig, die vor allem von den älteren Geschwistern etwas abfällig betrachtete Leseratte zu erkennen gab, so dass absehbar war, dass ich in Richtung kultureller Orientierungen gehen würde.
Schon die letzte Formulierung zeigt, dass Axel Schildt sein Elternhaus als Resonanzraum für seine intellektuelle Entwicklung empfunden hat, als toleranten Rahmen für das eigene Erproben und nicht, wie viele aus seiner Generation, als Widerpart. Schon als Schüler beteiligte er sich an Aktionen etwa gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. Er war Schulsprecher eines konservativen Gymnasiums im Hamburger Umland und bereits in dieser Zeit in der Praxis des öffentlichen Sprechens und der politischen Stellungnahme geübt. Auch vor heftigen Kontroversen schreckte er nicht zurück. Und er war schon früh ein eifriger Leser von Freud bis 788
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Marcuse, von Marx bis Brecht. Die Frage, wie sich Intellektuelle politisch und historisch positionieren, interessierte ihn bereits als Jugendlicher. Nach dem Studienbeginn in Hamburg wechselte er – nicht zufällig – nach Marburg, wo Wolfgang Abendroth nach der Emeritierung seine Spuren hinterlassen hatte und aufgrund seiner menschlichen und politischen Integrität eine Art geistiger Mentor wurde. Axel Schildt war aktiv in der Studentenbewegung – z. B. als Chefredakteur der Zeitung des Marburger AStA –, die Marburger Universität Mitte der 1970er Jahre war ein Terrain, auf dem er sich entfalten konnte. Dabei war ihm eine kritische und rationale Weltsicht eigen, moralische Attitüden und ideologischer Starrsinn waren ihm fremd. Das machte ihn zu einem begehrten Diskutanten – auch bei denjenigen, die seine Positionen nicht teilten, denn er verfügte zeitlebens über einen wunderbar geistreichen Humor, der bei inhaltlichen Differenzen ausgleichend wirken konnte. Axel Schildt war neben seinem Interesse an Politik und Geschichte auch ein Genussmensch. Und sein ausgeprägter Medienkonsum gehörte dazu – neben dem Lesen war es vor allem die Musik, die ihn begeisterte, dabei insbesondere die Rockmusik der 1960er und 1970er Jahre von Bob Dylan über Grateful Dead bis Neil Young. Seine Affinität zu den Medien war daher nicht rein intellektueller Natur. Gern verband er beides: Während er seine Texte schrieb, hörte er Musik. Schreiben hatte für ihn immer auch eine ästhetische Dimension. So war ihm daran gelegen, wissenschaftliche Erkenntnisse anschaulich, erzählend zu vermitteln. Das galt für das gesprochene wie für das geschriebene Wort. Nachdem Axel Schildt 1980 promoviert wurde und 1982 sein zweites Staatsexamen abgelegt hatte, neigte er mehr dem Journalismus zu als dem Lehrerberuf; eine akademische Laufbahn als Hochschullehrer erschien ihm Anfang der 1980er Jahre eher utopisch. Seine Leidenschaft galt allerdings von Anfang an der Wissenschaft, da er dort am ehesten hoffte, seine Erkenntnisinteressen und intellektuellen Neigungen verwirklichen zu können. Entscheidend ist dabei, dass er seinen Weg nicht im Sinne einer Karriere zielstrebig verfolgte, sondern am Ende erfolgreich war, weil er sein immenses Fachwissen und sein Engagement als wacher, politischer Intellektueller zu verbinden wusste und zudem über eine menschliche Ausstrahlung verfügte, die ihn in »der Zunft« und darüber hinaus wirksam werden ließ. Es war ihm wichtig, Einfluss zu nehmen auf wissenschaftliche und geschichtspolitische Debatten. Wissenschaftspolitisch wirkte er etwa im Fachkollegium Geschichtswissenschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit, einige Jahre war er dessen Vorsitzender. Auch sein Engagement im Beirat des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten und im Vorstand der Bundeskanzler-Willy-BrandtStiftung (ohne jemals SPD-Mitglied gewesen zu sein!) zeugt von seinem geschichtspolitischen Engagement. Vielleicht zielte Mario Keßler auf dieses Engagement eines Intellektuellen, wenn er in seinem Nachruf schrieb: »Wo er ging und sprach, entstand Hoffnung, gespeist aus Ideen.«1 1
Mario Keßler, Axel Schildt, in: Das Blättchen, 22. Jg., H. 8, 15.4.2019. Zur Würdigung von Axel Schildts Wirken vgl. auch die Nachrufe von Norbert Frei, Moderne Zeiten. Ein gro-
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Axel Schildt wusste um die Relevanz geschichtspolitischer Debatten. Auf dem Historikertag 2018 in Münster hat er sich auf diesem Gebiet ein letztes Mal intensiv engagiert – für eine klare Positionierung des Verbandes der Historikerinnen und Historiker gegen rechts. Denn er war mehr als besorgt angesichts der aktuellen politischen Entwicklung der Bundesrepublik, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Resonanz, die Rechtsintellektuelle in der Öffentlichkeit finden.
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Welche Akzente setzt nun dieses Buch? Axel Schildt räumt auf mit Klischees und gängigen Vorurteilen, die über die Intellektuellen im Umlauf waren und sind: weder waren sie »tiefe Denker«, noch sind sie »verhaltensauffällige Störenfriede«. Auch auf die »Expertenrolle« lassen sie sich nicht reduzieren. Intellektuelle sind gesellschaftsgeschichtlich zu begreifen – verortet im Rahmen ihrer Lebenswelten und der medialen Landschaften, eingebunden in zeitspezifische technische und ökonomische Produktionsbedingungen, vernetzt über vielfältige, oft seit langem bestehende soziale Beziehungen, die nicht selten politische und persönliche Umbrüche überdauern – und sie üben enormen Einfluss aus auf die Öffentlichkeit und das Zeitgeschehen in der Bundesrepublik. Diese Sichtweise auf Intellektuelle als Akteure im gesellschaftlichen Ensemble von Ökonomie, Technik, Sozialbeziehungen, Politik, Kultur, Medien und zeitgeistigen Strömungen erschließt neue Perspektiven auf die Intellektuellengeschichte und setzt sich ab von Selbststilisierungen der Akteure. Axel Schildt hat aus dem umfänglichen Material ein analytisch anspruchsvolles und zugleich anschauliches Bild vom Agieren der Intellektuellen in den 1950er und 1960er Jahren entworfen, das neben den großen Linien auch Anekdotisches, nicht selten Überraschendes bietet. Manchmal ist es eine randständige Begebenheit, eine süffisante Bemerkung, die der Darstellung Farbe verleiht. Er ist den Weg der quellennahen Darstellung ganz bewusst gegangen, denn es war ihm daran gelegen, die Gesellschaft, politische Kultur und Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik in ihrer atmosphärischen Dichte und inneren Widersprüchlichkeit darzustellen. Wie endet das Buch, und was war noch geplant? Nachdem Axel Schildt im Oktober 2018 die Diagnose einer schweren und weit fortgeschrittenen Krebserkrankung erhalten hatte, wusste er, dass ihm nur wenige Lebensmonate bleiben würden. Er hat sie genutzt, um dieses Buch fortzuschreiben. Es war ihm ein Anliegen als leidenschaftlicher Wissenschaftler und Intellektueller, und es war ein Lebenselixier seiner letzten Monate. Aber es war ihm naturgemäß nicht möglich, einen runden ßer Verlust: Zum Tod des Historikers Axel Schildt, in: Süddeutsche Zeitung, 10.4.2019; Kirsten Heinsohn, Der etwas andere Intellektuelle. Axel Schildt (1951-2019), in: H-Soz-uKult, 12.4.2019; Martin Sabrow, Die Jahre, die er kannte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.4.2019; Detlef Siegfried, Axel Schildt (1951-2019), in: Historische Zeitschrift, Bd. 310, 2020, S. 101-107.
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Schlusspunkt zu setzen. Am 31. März 2019 hat Axel Schildt die letzten Zeilen formuliert, am 5. April verstarb er. Als Herausgeber haben wir entschieden, das Buch dort enden zu lassen, wo er den letzten Punkt gesetzt hat. Das mag einem systematischen Abschluss oder der stilistischen Eleganz abträglich sein, aber es entspricht der Verantwortung dem Autor gegenüber, wie wir sie empfinden. Ebenso wenig haben wir die Einleitung des Buchs geändert, in der das gesamte Projekt skizziert wird. Der Gesamtentwurf sollte erkennbar bleiben, auch wenn ihn der Autor nicht ganz durchführen konnte. Dort wird auch deutlich, wie das in diesem Buch fehlende vierte Kapitel und ein Ausblick in die Gegenwart aussehen sollten. Die geplanten Überschriften dieses vierten Kapitels – im Inhaltsverzeichnis durch einen anderen Druck kenntlich gemacht – geben einen thesenartigen Eindruck vom Inhalt des Geplanten. Auch der letzte Abschnitt über 1968, der das Kapitel III abschließen sollte, ist unvollendet. Notizen des Autors lassen erkennen, dass er noch einiges vorhatte. Dabei hat er unterschieden zwischen Aspekten, die sich auf Personen, Medien, Themen, Ereignisse und Zeitabschnitte bezogen. Diese unterschiedlichen Kategorien spielten auch in der Anlage des vorliegenden Buches eine leitende Rolle – in jeweils unterschiedlichen Verbundformen. So können wir nicht sagen, wie Axel Schildt die unterschiedlichen Aspekte in diesem letzten Abschnitt über 1968 und dann in seinem vierten Kapitel umsetzen wollte. Wir nennen deshalb hier nur einige Beispiele aus den Notizen, die sich auf den Abschnitt über 1968 beziehen. Auf der personenbezogenen Ebene der Akteure sollte es u. a. noch gehen um: Rudi Dutschke, Helmut Gollwitzer, Jürgen Habermas, Kurt Hiller, Alexander Mitscherlich. Auf thematischer Ebene nennt der Autor die eher ereignisbezogenen Themen der APO wie etwa Notstandsgesetze, Vietnamkrieg, Anti-Springer-Kampagne sowie allgemeinere intellektuelle Aspekte wie Kritik der Autoritäten, Demokratie-Kritik, Entdeckung jüdischer und aus dem Exil stammender Theorietraditionen, Faschismus-Theorien und auf der Metaebene der intellektuellen Debatten die Frankfurter Schule und ihre Beziehung zur Studentenbewegung, dabei insbesondere das jeweilige Verhältnis von Adorno, Marcuse und Habermas zur Studentenbewegung sowie das von weiteren linken Intellektuellen zur APO – hier werden u. a. Bloch und Andersch erwähnt. Aus unserer Sicht ist aber der Zuschnitt, wie ihn der Autor zur Intellektuellengeschichte von 1968 entworfen hat, sehr wohl erkennbar in dem vorliegenden Abschnitt, auch wenn wir natürlich das Geplante gern gelesen hätten. Wie haben wir das Manuskript redigiert? Axel Schildt hat die Einleitung sowie das erste und zweite Kapitel seiner Arbeit noch überarbeiten können. Hier waren nur geringfügige lektorierende Eingriffe nötig. Beim dritten Kapitel waren einige bibliographische Angaben zu vervollständigen und eine Reihe von formalen Korrekturen erforderlich. Inhaltliche Ergänzungen im Text haben wir nicht vorgenommen. Nur an ganz wenigen Stellen waren kleine Rekonstruktionen und Einfügungen erforderlich. Da wir den Autor nicht mehr fragen konnten, mussten wir uns auf seine Ausführungen und unsere Lesart verlassen. Wir nehmen in Anspruch, ihn, seine Gedankenwelt und seinen Schreib- und Denkstil gut zu kennen, sind 791
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uns aber der Problematik bewusst, dass Axel Schildt das Ergebnis der herausgeberischen Tätigkeit nicht mehr überprüfen konnte. Wir haben nach bestem Wissen und in dem Wunsch gehandelt, dem Gehalt von Axel Schildts Werk bestmöglich gerecht zu werden.
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Wir danken der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, die diese Publikation mit besonderem Engagement begleitet hat, allen voran Kirsten Heinsohn, die stellvertretende Direktorin, die die FZH seit Oktober 2017 allein leitet. Sie hat im Prozess der Herausgabe dieser Publikation und beim Umgang mit Axel Schildts Nachlass die Regie übernommen, die erforderlichen Kontakte zum Verlag hergestellt und uns als Herausgeber in jeder Hinsicht unterstützt. Joachim Szodrzynski, bis 2019 Mitarbeiter und »Cheflektor« der FZH, danken wir für ein exzellentes Erstlektorat und seinem Nachfolger Stefan Mörchen, unterstützt von Jana Matthies, für einen äußerst sorgfältigen abschließenden Durchgang. Auch die Autorin und Lektorin Julia Kandzora, die Tochter von Axel Schildt und Gabriele Kandzora, hat am Lektorat mitgewirkt. Unser Dank gilt außerdem Norbert Frei und Alexander Gallus, die Teile der ersten beiden Kapitel gelesen und kommentiert haben. Axel Schildt war es bis in seine letzten Lebenswochen hinein wichtig, den Kontakt zu seinen Kollegen und Kolleginnen aufrecht zu erhalten. Auch dies ein Zeichen für das Bewusstsein des Autors, Teil einer »scientific community« zu sein, in der es darauf ankommt, sich kollegial zu verständigen und zu vernetzen. Daher war er in der Zeit seiner Erkrankung auch noch mit anderen Kolleginnen und Kollegen im Gespräch, die hier nicht alle namentlich genannt werden können. Sie haben ihn vielfach ermutigt, und der Kontakt hat ihm gut getan. Last but not least danken wir dem Wallstein Verlag, namentlich Hajo Gevers und Thedel v. Wallmoden, die Axel Schildts letztem großen Werk den Weg in die Öffentlichkeit gebahnt haben. Hamburg, im März 2020
Gabriele Kandzora, Dr. phil., geb. 1951, Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft. Lehrerin und Lehrerausbilderin in Hamburg von 1978 bis 2017. Seit 1974 Lebenspartnerin und ab 1991 Ehefrau von Axel Schildt. Detlef Siegfried, Dr. phil., geb. 1958, ist Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. 792
Quellen und Literatur *
A Archive Akademie der Künste, Berlin Nl. Helmut Heißenbüttel, Alfred Kurella, Reinhard Lettau, Hans Werner Richter, Maximilian Scheer PEN-Club West Akademie der Künste/Theodor W. Adorno Archiv, Berlin Korrespondenz Theodor W. Adorno Archiv für Christlich-Demokratische Politik, St. Augustin Nl. Karl Willy Beer, Emil Dovifat, Paul Franken, Eugen Gerstenmaier, August Freiherr von der Heydte, Hans Edgar Jahn, Josef Kannengießer, Gerhard Kroll, Alois Rummel, Robert Schmelzer, Gerhard Stoedtner Archiv der Evangelischen Akademie Loccum (aktuell: Landeskirchliches Archiv, Hannover) Korrespondenz, Einladungen, Protokolle und Berichte von Tagungen Archiv der sozialen Demokratie, Bonn-Bad Godesberg Nl. Rüdiger Altmann, Walter Dirks, Fritz Eberhard, Wili Eichler, Gerhard Gleissberg, Peter Glotz, Richard Löwenthal, Ansgar Skriver, Carola Stern Axel Springer-Unternehmensarchiv Nl. Hans Georg von Studnitz Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Nl. Ernst Müller-Meiningen jr. Bundesarchiv, Koblenz Nl. Bruno Dechamps, Joseph E. Drexel, Ernst Friedlaender, Karl Gerold, Harry Hamm, Thilo Koch, Jürgen Neven du Mont, Ernst Niekisch, Rudolf Pechel, Georg Picht, Alexander Rüstow, Paul Sethe, Jürgen Tern, Paul Wilhelm Wenger, Hans Zehrer, Friedrich Zimmermann
* Das Literaturverzeichnis enthält neben den in den Anmerkungen aufgeführten Titeln auch solche, die der Autor im weiteren Verlauf der Darstellung einschließlich des nicht verwirklichten vierten Kapitels heranzuziehen gedachte. Es zeigt, von vereinzelten Nachträgen der Herausgeber abgesehen, den Stand vom Frühjahr 2019.
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QU ELLEN U N D LI T ER AT U R
Deutsches Literaturarchiv, Marbach Autoren: Jean Améry, Alfred Andersch, Gottfried Benn, Karlheinz Deschner, Kasimir Edschmid, Alfred Döblin, Ernst W. Eschmann, Adolf Frisé, Martin Gregor-Dellin, Johannes Gross, Willy Haas, Wilhelm Hausenstein, Gustav Hillard-Steinbömer, Karl Jaspers, Ernst Jünger, Erich Kästner, Karl Korn, Siegfried Kracauer, Helmut Lamprecht, Armin Mohler, Erich Pfeiffer-Belli, Theodor Plivier, Peter Rühmkorf, Ernst Schnabel, Friedrich Sieburg, Dolf Sternberger, Carl Zuckmayer Redaktionsarchive: Diederichs, Piper, Rowohlt, Merkur, Suhrkamp Deutsche Nationalbibliothek/Deutsches Exilarchiv, Frankfurt a. M. Nl. Walter Fabian Diözesan-Archiv, Eichstätt Abendländische Aktion und Abendländische Akademie Diözesan-Archiv, Würzburg Nl. Oskar Neisinger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg Nl. Rudolf Michael Hauptstaatsarchiv, Stuttgart Nl. Klaus Mehnert Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a. M. Nl. Gerd Kadelbach Institut für Zeitgeschichte, München Nl. Helmut Cron, Ursula von Kardorff, Hans-Joachim Netzer, Gerhard Szczesny Die Andere Zeitung Kurt-Hiller-Archiv, Neuss Nl. Kurt Hiller Landesarchiv NRW, Münster Nl. Rolf Schroers Marion Gräfin Dönhoff Archiv, Hamburg Nl. Marion Gräfin Dönhoff Monacensia, München Nl. Carl Amery, Jürgen Eggebrecht, Hermann Kesten, Erich Kuby, Friedrich Märker, Peter de Mendelssohn, Kurt Seeberger, Max Stefl Norddeutscher Rundfunk (aktuell: Depositum im Staatsarchiv Hamburg), Hamburg Nachtprogramm NWDR, III. Programm NDR
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A RCH I V E
Nordelbisches Kirchenarchiv, Kiel Nl. Heinz Zahrnt Privatbesitz, Bergisch Gladbach Nl. Otto B. Roegele Rowohlt Verlag, Reinbek Redaktionsarchiv Rororo-aktuell Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg Nl. Axel Eggebrecht, Alfred Kantorowicz Universitätsbibliothek, Frankfurt a. M. Nl. Heinz-Joachim Heydorn, Herbert Marcuse Universitäts- und Landesbibliothek, Münster Nl. Helmut Schelsky Zeit-Stiftung Nl. Gerd Bucerius
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QU ELLEN U N D LI T ER AT U R
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C Zeitungen und Zeitschriften (der Nachweis von Aufsätzen und Artikeln erfolgt lediglich in den Anmerkungen)
C 1 Tages- und Wochenzeitungen Das Parlament, Die Andere Zeitung, Bayernkurier, Bayerische Volksstimme, Berliner Tageblatt, Bild-Zeitung, Christ und Welt, Deutsche National- und Soldatenzeitung, Deutsche Tagespost, Deutsche Volkszeitung, Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Hamburger Anzeiger, Handelsblatt, Kölnische Rundschau, Leipziger Volkszeitung, Münchner Merkur, Neues Deutschland, Die Neue Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Reichsruf, Rheinische Post, Rheinischer Merkur, Rhein-Neckar-Zeitung, Ruhr-Nachrichten, Sonntagsblatt (Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt), Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Tägliche Rundschau, Tagesspiegel, Die Welt, Welt am Sonntag, Die Zeit
C 2 Politisch-kulturelle Zeitschriften Das Argument, Ästhetik und Kommunikation, Aus dem Antiquariat, Cicero, Civis, Commentary, Criticón, Deutsche Monatshefte für Politik und Kultur, Deutsche Rundschau, Deutsche Studentenzeitung, Deutsche Universitätszeitung, Europäische Ideen, Europäischer Kulturdienst, Europäische Rundschau, Europäische Revue, Das Fenster, Frankfurter Hefte, Die Gegenwart, Geist und Tat, Gewerkschaftliche Monatshefte, Hamburger Akademische Rundschau, Hochland, Konkret, Die Kultur, Kursbuch, Die Literatur, Merkur, Der Monat, Nation Europa, Neue Gesellschaft, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Neue Kritik, Nachbarschaft, Neues Abendland, Neue Ordnung, Die Neue Rundschau, Neues Abendland, Nordwestdeutsche Hefte, Ost und West, Die Politische Meinung, Der Ruf, Sobrietas, Sonde, Stimmen der Zeit, Die Tat, Texte und Zeichen, Tribüne, Universitas, Vorwärts, Die Wandlung, Weltbühne, Werkhefte katholischer Laien, Wort und Wahrheit, Die Zeichen der Zeit
C 3 Fachzeitschriften und -portale Archiv für Begriffsgeschichte, Archiv für die Geschichte des Buchwesens, Archiv für Kulturgeschichte, Archiv für Sozialgeschichte, Auskunft. Mitteilungsblatt Hamburger Bibliotheken, Aus Politik und Zeitgeschichte, Berliner Journal für Soziologie, BIOS, Blätter für deutsche und internationale Politik, Bloch-Almanach, Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, Bulletin of the German Historical Institute, Clio-Online, Communicatio Socialis, Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung, Deutschland-Archiv, Die Deutsche Schule, Docupedia-Zeitgeschichte, Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Freiburger Universitätsblätter, Ger-
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Z EI T U NGEN U N D Z EI T SCH R I F T EN
man History, German Monitor, Geschichte im Westen, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Geschichte und Gesellschaft, Historische Anthropologie, Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Historische Mitteilungen, Historische Zeitschrift, INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, IWK. Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung, Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, Jahrbuch Medien und Geschichte, Journal of Contemporary History, Kieler Blätter zur Volkskunde, Kirchliche Zeitgeschichte, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Le langage et l’homme, Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte, LuziferAmor. Zeitschrift für Geschichte der Psychoanalyse, Literatur in Bayern, Mittelweg 36, Modern Intellectual History, Neue Politische Literatur, Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Psyche, Publizistik, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Rundfunk und Fernsehen, Rundfunk und Geschichte, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Sinn und Form, Soziologie. Forum der deutschen Gesellschaft für Soziologie, Soziologische Revue, Studia Niemcoznawcze, Studienkreis Rundfunk und Geschichte. Mitteilungen, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Text+Kritik, Theologische Quartalsschrift, Traverse, Utopie kreativ, Vestische Zeitschrift. Zeitschrift des Vereins für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen, Vierteljahrsschrift für das Gespräch zwischen Christentum und Judentum, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Vorgänge, Weimarer Beiträge, Westfälische Forschungen, Wirkendes Wort, Zeitgeschichte in Hamburg, Zeithistorische Forschungen, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Zeitschrift für evangelische Ethik, Zeitschrift für Germanistik, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Zeitschrift für Geopolitik, Weltwirtschaft, Weltpolitik und Auslandswissen, Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, Zeitschrift für Ideengeschichte, Zeitschrift für Parlamentsfragen, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Zuckmayer-Jahrbuch
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Personenregister * = Pseudonyme Abendroth, Walter 164, 433 Abendroth, Wolfgang 62, 99, 179 f., 186, 350, 423, 473, 508, 576, 578, 589-591, 594, 596, 603, 626, 673 f., 715, 737, 763, 780, 789 Abetz, Otto 295 Abs, Hermann Josef 182, 730 Abusch, Alexander 232, 361, 630, 713 Adenauer, Konrad 9, 122, 148, 153, 166, 210, 215, 222, 298, 300, 331, 335, 436, 451, 493, 530, 557-559, 562, 633, 636, 650, 652-657, 678, 683, 716, 730, 733, 750-752, 756, 762, 768 Adler, H(ans) G(ünther) 421 Adorno, Gretel 46 Adorno, Theodor W. 31, 48, 50, 78 f., 85-87, 105, 137 f., 149, 178, 193, 199, 202, 224, 239, 243, 246, 253 f., 283, 295, 303 f., 309, 316, 321 f., 349, 358, 377, 396 f., 413, 420, 427 f., 447, 457, 479, 504 f., 509, 525, 527, 548, 563, 573-581, 583-589, 612-615, 622, 633, 644, 667, 669, 673, 688 f., 694-697, 700-702, 704, 715, 734, 737-739, 752, 763, 771, 775, 791 Agartz, Victor 590 f. Agnoli, Johannes 758, 763, 775-783 Ahlers, Conrad 612, 680, 762 Aicher, Otl 686 Aicher-Scholl, Inge 686 Aichinger, Ilse 253, 659 f., 669 Albert, Hans 704 Alff, Wilhelm 426 Allemann, Fritz René 204, 254, 280, 393, 485, 534 f. Allen, Woody 619 Altheim, Franz 526 Altmann, Rüdiger 48, 109, 186, 394, 508-510, 512, 598, 624, 642, 698, 721, 730, 732, 740, 756-758 Alverdes, (Paul) 431 Amery, Carl 48, 318, 622, 691, 718 Améry, Jean 287, 402, 415, 427, 691, 739, 742 Anders, Günther 88, 195, 253, 322 f., 393, 463, 612, 666, 667, 762
Andersch, Alfred 11, 37, 48, 50, 84, 93, 120 f., 124, 126 f., 129, 140, 168, 172, 178, 181 f., 190, 193, 225, 234, 253 f. , 280, 291, 312, 326-328, 340, 389, 394-397, 402, 405, 408, 417, 422, 456-459, 468, 478, 534 f., 538-541, 543, 545553, 563, 568, 574, 578, 581, 583-585, 587, 599, 605, 631, 639, 646, 660, 678, 684, 686 f., 692 f., 719, 741, 753, 763, 770, 791 Andersen, Lale 661 Anderson, Perry 771 Andres, Stefan 136, 247, 265 f. Angenfort, Jupp 473 Apitz, Bruno 676, 680 Arendt, Hannah 45, 50, 86 f., 136 f., 195, 198, 250, 254, 363, 410, 421, 475, 481, 616, 739 Arndt, Adolf 410 Aron, Raymond 102, 254, 405, 476, 480, 482, 485, 487, 648 Asmussen, Hans 221, 270, 730 Auen, Rudolf Lodgman von 74 Augstein, Rudolf (s. a. Pseud. Jens Daniel, Moritz Pfeil) 84, 166, 236, 252, 295 f., 355 f., 391, 448, 493, 544, 613, 615, 645 f., 648, 676, 680 f., 683, 686, 691, 736, 739 Baade, Fritz 524 Baader, Andreas 771 Bach, Johann Sebastian 229, 358, 465 Bachmann, Ingeborg 193, 244, 540, 660, 665, 669, 686, 691, 706, 741 Bahr, Egon 634 Bähr, H. Walter 305 Bahrdt, Hans Paul 627 Bakunin, Michail A. 765 Bamm, Peter 110, 113, 407, 559 Bardot, Brigitte 413 Barion, Hans 79 f., 170, 260, 286, 393, 405, 500 Barthes, Roland 690, 700 Barzel, Rainer 62, 152, 185, 730-732 Barzini, Luigi 254
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PERSONENREGISTER
Bauer, Leo 426 Baukloh, Friedhelm 182 Baumeister, Willi 300 f. Baumgart, Reinhard 691 Baumgarten, Hans 558 Bausch, Hans 119, 488, 553 f. Bausch, Helmut 592 Bautz, F(ranz) J. 178 Beauvoir, Simone de 287, 354 Becher, Johannes R. 93, 232, 236 f., 468-472, 532, 601, 713 Becher, Walter 434, 713 Becker, Hellmut 279, 644 Becker, Max 434 Beckett, Samuel 694 Beckmann, Eberhard 121, 127 Bednarik, Karl 316 Beer, Willy (Karl) 403 Beethoven, Ludwig van 358, 634 Behrens, Fritz 227 Benckiser, Nikolas 561 Benda, Ernst 736 Bender, Peter 426 Benjamin, Hilde 473 Benjamin, Walter 321, 689, 694, 771 Benn, Gottfried 43, 127, 191 f., 197, 199, 247 f., 294, 378, 387, 398, 407, 431 f., 469, 478, 498, 540, 563, 581-586 Bense, Max 99, 196, 198, 426, 485, 499, 608, 687 Benseler, Frank 41, 715 Benz, Richard 276 Berendt, Joachim-Ernst 79 Bergengruen, Werner 60, 247, 271, 274, 311 Bergmann, Ingmar 627 Bergstraesser, Arnold 44, 350 f., 506 Bermann (Fischer), Gottfried 137, 195 f. Bernstein, Eduard 765 Besser, Joachim 561 Besser, Klaus 467 Beumelburg, Werner 70, 81, 439 Biermann-Rathjen, Hans-Harder 486 Bierwisch, Manfred 700 Birgel, Willy 661 Birkenfeld, Günther 93, 201, 468, 476, 483 Bischoff, Friedrich 124, 247, 416
872
Bismarck, Klaus von 126, 182, 572 Blank, Herbert 115-119, 406 f. Bloch, Ernst 94, 96, 224-227, 230, 232, 234-236, 238 f., 244, 254, 506, 586, 607, 613, 673, 694, 705-707, 710, 712, 714 f., 728, 768, 771, 791 Bloch, Karola 706 Blöcker, Günter 416, 550, 638 Blücher, Franz 434 Blumenberg, Hans 701 Blumenfeld, Erik 635 Blunck, Hans Friedrich 432 Bobrowski, Johannes 680 Bocheński, Joseph Maria 220-222 Bodamer, Joachim 304, 308 Boehlich, Walter 41, 641, 691 f., 695 f., 770, 775 Boehm, Hans Otto 266 Boepple, Willy 594 Böttcher, Karl W. 182, 253 Böhm, Anton 153, 270 Böhm, Franz 413 Bohne, Regina 142, 253 Böll, Heinrich 50, 84, 122, 178 f., 181, 193, 244, 248, 253, 291, 294, 315, 317 f., 411, 415, 417 f., 422, 449 f., 457, 472, 485, 529, 532, 536, 541, 543 f., 550, 553, 563, 589, 595, 599, 613 f., 638 f., 647, 659, 672 f., 678, 683, 688, 694, 704, 717, 719, 736 Bollnow, Otto Friedrich 575 Bondy, François 254, 482 Bondy, Fritz 416 Borch, Herbert von 296 Borchert, Wolfgang 472, 550 Borkenau, Franz 203, 254, 390, 466, 476 f., 479 f., 499, 571 Born, Hedwig 654 Born, Max 652-654, 656, 659, 731 Bornemann, Ernest 617 Borsche, Dieter 661, 665 Boveri, Margret 45, 65, 77, 100, 181, 199, 253, 326, 353 f., 356, 362, 369, 388, 393, 397 f., 442 f., 520, 526, 563, 643 f., 746 Bracher, Karl-Dietrich 647 Brandt, Heinz 673 Brandt, Leo 180, 663 Brandt, Willy/Frahm, Herbert 158, 203, 486, 634, 650 f., 678, 762, 768
PERSONENREGISTER
Brauer, Max 485, 661-663 Braun, Siegfried 591 Brecht, Bertolt 24, 90, 93, 96, 135, 137, 221, 226, 229, 232-236, 340, 472, 484, 539, 671, 696, 705, 771, 789 Bredel, Willi 237 f. Brehm, Bruno 435, 550 Breker, Arno 137 Brentano, Heinrich von 221, 272 f., 337 Briefs, Götz 758 Broch, Hermann 234 Brockmöller, Klemens 656 Brod, Max 244, 407 Bronnen, Arnolt 367, 397 Brück, Max von 102 f., 123, 187, 207-209, 294 Brückner, Peter 775-778, 782 f. Brumlik, Micha 739 Bruno, Giordano 224 Bruyn, Günter de 680 Buber, Martin 249, 253 f., 575, 614 Buber-Neumann, Margarethe 476 Bucerius, Gerd (Gerhard) 48, 50, 162, 165, 492-494, 558, 635-638, 640, 648, 675, 714 Bucharin, Nikolai I. 771 Bucher, Ewald 434 Buchheim, Karl 276 Buchman, Frank 209 Buck, Pearl S. 135 Budzislawski, Hermann 92, 567 Bührle, Emil G. 197, 645 Burckhardt, Carl Jacob 249 f. Burghardt, Max 122 Burnham, James 115, 347, 480, 487 Busch, Walter 775 Caliban* (= Willy Haas) 143, 317 Calvino, Italo 690 Campanella, Thomas 224 Camus, Albert 135, 327, 487 Canaris, Wilhelm 368 Carell, Paul* (= Paul Karl Schmidt) 66, 749 Carnap, Ludwig 700 Carnap, Rudolf 537 Carossa, Hans 247, 311, 431, 544 Cassdorf, Claus Hinrich 618 Cassirer, Ernst 463 Castro, Fidel 699, 771
Celan, Paul 136, 190, 193, 244, 395, 414-416, 459, 540, 542 f. Chagall, Marc 233 Chruschtschow, Nikita S. 560, 628 Claudel, Paul 43 Clay, Lucius D. 157 Cohn-Bendit, Daniel 739 Collini, Stefan 17 Conze, Werner 500, 558 Cramer, Ernst 560, 755 Croce, Benedetto 476 Cron, Helmut 78, 318, 502 Crossmann, (Richard?) 598 Cube, Walter von 128 f. Curtius, Ernst Robert 43, 71, 75 f., 188, 200-202, 250, 281, 285, 288 f., 326, 332 f., 395, 494, 498 Dahrendorf, Ralf 9, 26, 254, 576 f., 596, 626, 629 f., 633, 641, 704 Daniel, Jens* (= Rudolf Augstein) 166, 448 Darré, Richard Walter 70 Dechamps, Bruno 561, 602 Dehio, Ludwig 558 Dempf, Alois 56, 514 Desch, Kurt 60, 104, 129, 135, 172, 423 f., 439, 472, 531, 543, 545, 625 Deschner, Karlheinz 552, 600, 658, 660 Dessau, Paul 232 Dessauer, Friedrich 303 Deuerlein, Ernst 531 Dewey, John 349, 476 Dichgans, Hans 684 Diederich, Eugen 133, 315 Diederichs, Peter 69-71 Diederichs, Ulf 33 Diels, Rudolf 82, 362 Dietze, Constantin von 276 Diner, Dan 739 Dingräve, Leopold* (= Ernst Wilhelm Eschmann) 70 Dirichs, Ferdinand 175 Dirks, Florian 182 Dirks, Marianne 46, 261 Dirks, Michael 182 Dirks, Walter 37, 39, 46, 48, 51, 62, 64, 116120, 123-125, 129, 152, 168, 173-187, 208,
873
PERSONENREGISTER
243 f., 252 f., 260-262, 265-269, 289, 297, 299 f., 352, 395, 411, 415, 422, 425, 427, 445447, 449, 457, 479, 500, 530, 563, 572, 574, 592, 594, 596, 598, 612, 647, 654, 659, 672 f., 726-728, 731, 752 Diwald, Hellmut 747 Dix, Otto 311, 674 f., 731 Djilas, Milovan 203, 526, 556 Dobb, Maurice 700 Döblin, Alfred 87, 101, 140, 168, 490, 498 Doderer, Heimito von 200 Dollfuß, Engelbert 272 Dollinger, Werner 434 Dombrowski, Erich 558 Dönhoff, Marion Gräfin 45, 84, 163-165, 322, 450, 490-494, 636 f., 640, 675, 709, 712 Döpfner, Julius Kardinal 607 Dor, Milo 122, 543 Dostojewski, Fjodor M. 136 Dovifat, Emil 118, 183, 577, 612, 730 Drexel, Joseph E. 48, 102, 170, 187 f., 208 f., 222, 312, 356, 404, 406, 556, 559, 564 f., 573, 762 Dufhues, Josef Hermann 684 Dutschke, Rudi 616, 690, 704, 763, 791 Duve, Freimut 314 Dwinger, Edwin Erich 81, 550 Dymschitz, Alexander 233 Eberhard, Fritz/Adolf Arthur Egon Hellmuth Freiherr von Rauschenplat 35, 84, 127 f., 243, 359, 457, 465, 476, 568 Edschmid, Kasimir 35, 96, 234, 434, 443, 471, 616, 669 Eggebrecht, Axel 24, 48, 90 f., 96, 102, 110 f., 115, 117 f., 120, 228, 360, 396, 424 f., 458, 472, 605, 617, 658-660, 678, 708 Eggebrecht, Jürgen 112, 424, 432, 439 f. Egk, Werner 731 Ehard, Hans 276, 531 Ehlers, Hermann 74 Ehmke, Horst 731 Ehrenburg, Ilja 96 Ehrich, Kurt 675 Eich, Günter 248, 541, 543, 660, 665 Eichler, Willi 180, 212, 595-598 Eichmann, Adolf 736
874
Eick, Jürgen 314, 320 Einsiedel, Wolfgang von 195, 198, 279, 394 f., 515, 643 Einstein, Albert 569, 657 Eisenhower, Dwight D. 350 Eisler, Gerhart 675 Eliot, T(homas) S(tearns) 113, 137, 202, 250, 254, 332, 498, 694 Ende, Michael 595 Endler, Adolf 548 Engelberg, Ernst 226 Engels, Friedrich 573, 765, 780 Enzensberger, Hans Magnus 11, 25, 41, 50, 137, 192 f., 215, 254, 459, 525, 543, 551 f., 581, 584587, 601, 605, 613, 619, 627, 630 f., 644, 660, 664-667, 669, 677 f., 682 f., 686, 690-694, 696-701, 703, 706, 719, 741 f., 746, 761, 769, 773-775 Erhard, Ludwig 109, 148, 508, 633, 716 f., 730, 732, 735, 756, 768, 780 Erler, Fritz 662, 681, 717 Ernst, Max 504 Eschenburg, Theodor 153, 376, 493, 706 Eschmann, Ernst Wilhelm (s. a. Pseud. Leopold Dingräve) 35, 38, 67, 69-71, 158, 181, 194, 196, 199 f., 307, 340 f., 398, 409, 545-547, 721, 747, 754 Euchner, Walter 716 Eucken, Walter 462 Eysenck, Hans J. 747 Fabian, Walter 421, 714, 739 Fallada, Hans 367 Fanon, Frantz 699, 771 Fassbinder, Clara 186 Fay, Wilhelm 186 Fechter, Paul 165, 200, 209 f., 367, 406 f. Feltrinelli, Giangiacomo 690, 741 (Feltrinelli), Inge 690 Ferber, Christian 374 Fest, Joachim C. 23, 37, 102, 401, 427, 508, 618 Fetscher, Iring 199, 573 Feuchtwanger, Lion 91, 94, 96, 98, 712 Feyerabend, Paul 702 Fichte, Hubert 718 Fichte, Johann Gottlieb 71
PERSONENREGISTER
Fischer, Ernst 90 Fischer, Fritz 272, 734 f. Fischer, Hugo 170 Fischer, Ruth 253 f., 477 Fischer, Samuel 101, 514 Flechtheim, Ossip K. 85, 203, 776 Fleckhaus, Willy 694 Flickenschildt, Elisabeth 661 Fontane, Theodor 674, 769 Forsthoff, Ernst 156, 279, 385, 623 f., 641, 747, 757 Foss, Kendall 407 Foucault, Michel 21 f., 28, 172, 659, 700, 771 Fraenkel, Ernst 203 Franco, Francisco 690, 781 Frank, Leonhard 247, 660 Franken, Paul 222, 633 Franzel, Emil 205, 263, 265, 268, 270 f., 273-275, 335, 435, 722, 726 Franzen, Erich 426, 643, 658 Fredericia* (= Walter Petwaidic) 491 Freisler, Roland 238, 440 Frenzel, Curt 205 Freud, Sigmund 40, 569, 788 Freudenfeld, Burghard 647 Freund, Michael 279, 654 Frey, Gerhard 750 Freyer, Hans 40, 62, 193, 283, 286, 311, 318, 340, 461, 496-502, 504, 507, 509, 715, 729, 747, 757 Fried, Erich 630 Fried, Ferdinand* (= Friedrich Zimmermann) 67, 69 f., 74, 296, 314, 340 f., 344-346, 559 f. Friedlaender, Ernst 163, 165, 349, 493 Friedmann, Hermann 468 Friedmann, Werner 144 f., 419, 436 f., 441 Friedrich, Carl J. 476 Friedrich, Heinz 234 Frisch, Max 137, 248, 669, 696 Frisé, Adolf 127, 241, 312, 530, 642 Fromm, Erich 140, 702 Frommel, Wolfgang (s. a. Pseud. Lothar Helbing) 109 f. Fühmann, Franz 676, 680 Fürstenberg, Friedrich 715 Furtwängler, Franz Josef 396
Gablentz, Otto Heinrich von der 183 Gadamer, Hans-Georg 137, 227, 248, 581 Gaiser, Gerd 193, 317, 417 f., 638 Galen, Bischof Clemens August Graf von 256 Gallasch, Walter 419, 595 Garaudy, Roger 526 Gasser, Manuel 254 Gaulle, Charles de 177, 397, 668 f., 746, 750 Gaus, Günter 615 f., 618 Gehlen, Arnold 40, 193, 200, 235, 242, 244, 253, 310, 313, 461, 495-504, 506-509, 512, 522 f., 526, 581, 585 f., 614, 624, 698 f., 729 f., 747, 757 Gehlen, Reinhard 144, 206 Geiss, Immanuel 272 Gembardt, Ulrich 727 George, Stefan 109, 406, 627 Gerold, Karl 146, 413, 762 Gerst, Karl 146 Gerstenmaier, Eugen 38 f., 43, 69, 154-159, 161, 251, 297-299, 313, 405, 408, 427, 564, 720, 722 f., 735, 738-740, 743, 746 Gide, André 43, 202, 476 Giordano, Ralph 603 Girnus, Wilhelm 675, 710 Glaeser, Ernst 372 Glaser, Hermann 737 f. Gleissberg, Gerhard 116, 180, 335, 404, 407, 420, 548, 592 f., 595 Globke, Hans (Josef Maria) 733 Goebbels, Joseph 65, 72, 151, 163, 417, 433, 443, 540 Goerdeler, Carl 209, 406 Goethe, Johann Wolfgang von 23, 122, 229, 247, 284, 288 f., 570, 787 Goldschagg, Edmund 144 Gollwitzer, Heinz 747 Gollwitzer, Helmut 594, 650, 659, 791 Goral, Arie 639 Göring, Hermann 81 Gorki, Maxim 96 Görlitz, Walter 274, 362, 438, 713 Görres Agnoli, Barbara 777 Görres, Ida 62 Gorz, André 771 Gotthelft, Ille 366, 368 f.
875
PERSONENREGISTER
Götting, Gerald 186 Gottschalk, Rudolf 592 f., 595 Gottwald, Klement 191 Grabert, Herbert 435 Gramsci, Antonio 24, 30 Grass, Günter 199, 295, 536, 538, 543, 545, 551, 613, 616, 621, 631, 671, 675-678, 683, 686, 689, 692 f., 699, 703, 706, 711, 718 f., 753, 762 f. Grassi, Ernesto 76, 134, 512-521, 524-529, 697 Gregor-Dellin, Martin 41 Gresmann, Hans 314 Grimm, Hans 365, 368, 431, 435, 539, 550 Grimme, Adolf 114 f., 117-119, 247, 289, 466 f., 476, 658 Groll, Gunter 145 Gropp, Rugard Otto 238 Gross, Johannes (s. a. Pseud. Jochen Teuro) 109, 159, 394, 401, 404, 508-511, 548, 598, 721, 730, 745, 756-759 Grosser, Alfred 26, 33, 40, 615 Grossmann, Henryk 226 Grotewohl, Otto 227, 467 Grzimek, Bernhard 243 Guardini, Romano 62, 80, 174, 182, 199, 249, 253, 259-262, 265, 276, 407, 485, 524 Guérin, Daniel 774 Guevara, Che 771 Guggenheimer, Walter M(aria) 129, 177, 181, 184, 253, 389, 457 Gumbrecht, Hans Ulrich 761 Gundlach, Gustav 275 Günther, Joachim 199 f., 388, 407, 441 Gustafsson, Bo 700 Guttenberg, Freiherr Karl Theodor zu 434 Gysi, (Klaus) 713 Haacke, Wilmont 151, 577 Haas, Willy (s. a. Pseud. Caliban) 107, 141-143, 171, 296, 316, 564 Habe, Hans 135, 140, 631, 638, 660, 681, 740 Habermas, Jürgen 28, 41, 44, 46, 54, 200, 244, 253 f., 310, 384 f., 398, 460, 504-507, 526, 577, 589 f., 621, 661, 698, 701 f., 715, 730, 791 Habicht, Hubert 177, 181 Habsburg, Otto von 56, 153, 274, 339, 616
876
Haerdter, Robert 168, 375 Haffner, Sebastian 102, 193, 254, 561, 615, 642, 670, 683-685, 727, 753, 778 Hagelstange, Rudolf 201, 247, 303 Hager, Kurt 238 Hahn, Otto 652 Halberstadt, Heiner 731 Halbwachs, Maurice 575 Halfeld, Adolf 352 Hamm-Brücher, Hildegard 182, 253, 427 Hamsun, Knut 135, 526 Handke, Peter 769 Harich, Wolfgang 235-237, 239 Harlan, Veit 412 f., 444 Harpprecht, Klaus 157 f., 376, 531, 533, 535, 648, 722, 743, 748, 754, 758 Härtling, Peter 204, 660 Hartmann, Hanns 122 f. Hartmann, Lothar 182, 268, 422 Haselberg, Peter von 580 Haselmayr, Helmut 129 Hassel, Kai Uwe von 700 Haug, Wolfgang Fritz 733, 772, 774 Hausenstein, Wilhelm 82, 136, 145, 150, 168, 184 f., 195, 247, 299-301, 331 Hausmann, Manfred 434 Hayek, Friedrich August von 26, 462 Heer, Friedrich 56, 277, 482, 497, 647, 726 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71, 122, 235, 517 f., 568, 620 Heidegger, Martin 35, 170, 195, 200 f., 241 f., 261, 286, 302, 309-311, 382-385, 398, 429, 513, 519, 563, 570, 575, 581, 601, 660 Heigert, Hans 63, 144, 618 Heilmann, Wolfgang 270 Heimpel, Hermann 248, 558 Heine, Heinrich 294, 419 Heinemann, Gustav 119, 591 Heinze, Eckart (s. a. Pseud. Michael Mansfeld, Michael Heinze-Mansfeld) Heinze-Mansfeld, Michael* (= Eckart Heinze) 171 Heisenberg, Werner 382, 514, 517, 652 Heiss, Kurt 232, 362, 566 Heißenbüttel, Helmut 193, 459, 460, 537, 551, 554, 647, 660, 692, 697 Helbing, Lothar* (= Wolfgang Frommel) 110
PERSONENREGISTER
Held, Martin 661 Helldorff, Wolf-Heinrich Graf von 450 Heller, Gerhard 76 Hellwig, Hans 446 Helms, Hans G. 688 f. Hemingway, Ernest 94, 202, 236, 353 Hennis, Wilhelm 739, 761 Henrich, Dieter 701 Henrich, Hans 273 Hentig, Hartmut von 629, 641 f. Hepp, Ernst A. 154-156 Hepp, Marcel 751 Hepp, Robert 723, 751 Hermlin, Stephan 92, 126, 226, 229, 471, 675 f. Herre, Franz 153, 276 Herzfeld, Hans 730 Hesse, Hermann 137, 249, 250, 694, 713, 767 Heuss, Theodor 75, 156, 196, 248-250, 254, 297, 300, 406, 441, 443, 445, 499, 614, 644 Heydorn, Heinz-Joachim 182, 354, 421, 681 Heydte, Freiherr August von der (auch: Freiherr Friedrich August von der Heydte) 153, 221, 263, 272-274, 735 Heym, Stefan 140, 232, 483, 679 f. Hielscher, Friedrich 367 Hildesheimer, Wolfgang 247, 426, 457, 543, 660 Hill, Werner 314 Hillard, Gustav* (= Gustav Steinbömer) 80, 199, 407 Hillard-Steinbömer, Gustav* (= Gustav Steinbömer) 79, 286 Hiller, Kurt 73, 87 f., 116, 128, 135, 142 f., 146, 165, 171, 180, 211, 296, 386, 406 f., 419 f., 435437, 478, 509, 563, 566-571, 593-596, 598602, 653, 752, 791 Hilpert, Heinz 407 Hilpert, Walter 432 Himmler, Heinrich 67 Hindemith, Paul 112 Hindenburg, Paul von 367 Hintermwald, Michael* (= Armin Mohler) 750 Hippel, Ernst von 263, 276 Hirsch, Rudolf 196 Hirschauer, Gerd 179
Hitler, Adolf 63, 82 f., 85, 87, 94, 157, 164, 205, 324, 326, 334, 337, 341, 361-363, 368, 370, 375, 377, 379, 381, 391, 403, 405 f., 409, 430 f., 433, 436, 441, 460, 469, 479, 491, 565, 568, 696, 734, 740, 781 Hobsbawm, Eric 36 Hochhuth, Rolf 716, 737 Hofer, Karl 311 Höfer, Werner 243, 483, 615, 683 Höffner, Joseph Kardinal 151 Hofmann, Werner 576, 715 Hofmannsthal, Hugo von 112, 136 Hofstätter, Peter R. 523, 526, 639, 747 Hohoff, Curt 77 f., 401, 415-417, 642 f., 728 Hollander, Walther von 396, 416 Höllerer, Walter 537 f., 574, 619, 692 Holm, P. C.* (= Paul Karl Schmidt) 66, 491 Holthusen, Hans Egon 136, 145, 182, 189-195, 199 f., 253, 279, 294, 399, 402 f., 405, 638 f., 642 f., 645 f., 670, 693, 718, 728, 741-743 Holtzbrinck, Georg von 159, 744, 746 Holzamer, Karl 124, 301, 617 Hönscheid, Johannes-Matthias 423, 544 f. Hook, Sidney 254, 476 Höpker, Wolfgang 74, 156, 162, 196, 319, 352, 356, 745 Horkheimer, Max 48, 85, 87, 105, 137, 253, 295, 303 f., 309, 349, 413 f., 420, 479, 504, 573-576, 578, 581, 588 f., 661, 667, 670, 673, 689, 694, 704, 737-739, 771, 775 Horn, Klaus 716 Horst, Karl August 643 Huber, Ernst Rudolf 62 Hübotter, Klaus 600 Huch, Ricarda 92 Huchel, Peter 232, 234, 471, 710 Huhn, Willy 594 Hühnerfeld, Paul 433, 494, 592 Hundhammer, Alois 175, 606 Hupka, Herbert 129, 422 Huxley, Aldous 203, 307 Ibach, Helmut 153 f., 265, 269 Ingrim, Robert 153, 271, 334, 499, 723 Ipsen, Gunter 309 Italiaander, Rolf 114
877
PERSONENREGISTER
Jacob, Heinrich Eduard 108 Jacobi, Claus 84 Jacobsen, Walter 738 Jacobsohn, Siegfried 91 Jaeger, Richard 276 Jaesrich, Hellmut 202, 204, 254, 482 Jahn, Friedrich Ludwig 709 Jahn, Hans Edgar 221, 763 Jahnn, Hans Henny 243, 396, 601, 658-660 Jandl, Ernst 651 Janka, Walter 236 f. Jaspers, Karl 31, 50, 60, 76, 136 f., 167, 169, 195, 198, 201 f., 225, 241, 248-250, 254, 259, 261, 279, 282 f., 286, 288 f., 318, 327, 350, 377, 475 f., 479, 581, 614, 616, 656 f., 667, 670, 682, 694, 736, 778 Jedele, Martin 459 Jens, Walter 418, 537 f., 543 f., 613, 660, 771 Jochimsen, Luc 314 Johnson, Uwe 601, 631, 676 f., 686, 691 f., 741 Johst, (Hanns) 431 Jordan, Pascual 311, 495, 653 f., 666, 730, 747 Jung, C(arl) G(ustav) 406, 505 Jung, Edgar Julius 209 Jünger, Ernst 62, 65, 70, 76, 80, 122, 161, 170, 191, 193, 200, 241, 243, 246, 254, 261, 303, 311, 316, 337 f., 342, 349, 353, 357, 364, 367, 369 f., 373, 377-383, 385-392, 395-403, 405, 417, 431 f., 449, 457, 466, 468, 487, 498 f., 506 f., 539, 563, 568 f., 575, 647, 660, 719, 756 Jünger, Friedrich Georg 113, 170, 193, 254, 302 f., 310, 382, 398, 400, 499 Jünger, Gretha 381 Jungk, Robert 62, 102, 304, 354, 356, 475, 499, 605, 641, 658, 690 Kadelbach, Gerd 579 Kafka, Franz 136, 416, 679 Kahlefeld, Heinrich 267 Kaiser, Joachim 643, 773 Kalow, Gert 425 Kaltenbrunner, Klaus-Peter 41 Kant, Hermann 676, 680 Kant, Immanuel 286, 570 Kantorowicz, Alfred 90, 92, 94-98, 202, 225, 227 f., 231, 237, 404, 681, 707-714, 728
878
Kardorff, Ursula von 72, 82 f., 362, 386 Kasack, Hermann 247 f., 416, 434, 441, 471, 660 Kaschnitz, Marie Luise 248, 669 Kästner, Erich 89, 91, 97, 135, 140 f., 247 f., 254, 288, 311, 456, 468, 470-472, 484 f., 530, 543, 589, 595, 608, 655, 659 f., 664, 711, 731, 737 Katajew, Valentin 92 Kautsky, Karl 572, 765 Kemper, Werner 526 Kempf, Wilhelm 267 Kempski, Jürgen von 462 f., 571, 581 Kennedy, John F. 627, 634, 636 Kesten, Hermann 135, 418 f., 476, 485, 607, 630, 667, 669, 676, 740 Kiepenheuer, Gustav 139 Kiesinger, Kurt Georg 752 Kindler, Helmut 133 Kinsey, Alfred C. 523 Kirst, Hans Hellmut 660, 665 Klabunde, Erich 115 Klein, Helmut 527 Kleist, Heinrich von 592 Klemperer, Victor 226 Klepper, Otto 148 Klett, Ernst 382, 368, 647 Klönne, Arno 179 Kluge, Alexander 537 Knobloch, Heinz 239 Knoeringen, Waldemar von 187, 422, 665 Koch, Erich 450 Koch, Thilo 48, 101-103, 192, 246, 294, 346, 357, 399, 401, 403, 455, 488, 533, 572, 582, 614, 618, 639 Koebel, Eberhard 129 Koenen, Wilhelm 567 Koeppen, Wolfgang 35, 137 f., 458, 472, 534-536, 550, 563, 595, 613, 638, 660, 665, 686, 766 Koestler, Arthur 135, 203, 210, 254, 327, 425, 470, 476, 480 f., 616, 710, 713 Kofler, Leo 99, 392, 575 f., 594, 603 Kogon, Eugen 126, 141, 152, 168, 173-179, 181, 184, 187, 244, 248, 252 f., 265-267, 269, 309, 326, 353, 361, 413, 420, 457, 476, 479, 481, 485, 490, 578, 589, 618, 659, 669, 758
PERSONENREGISTER
Kohn, Hans 630 Ko¥akowski, Leszek 607 Kolbenheyer, Erwin Guido 431, 435, 539 Kolbenhoff, Walter 140, 426, 660 Kollwitz, Käthe 674 König, René 258, 361, 485, 581, 607, 623 Kopf, Hinrich Wilhelm 63 Korn, Karl 35, 49, 59, 61, 65, 77, 91, 93, 100, 147, 149 f., 196, 201, 230, 241, 290, 297, 307, 312, 321, 326, 337, 375, 385, 388, 391, 433, 435, 440-447, 449, 457, 466, 469, 476, 478, 481, 491, 534, 544, 547, 550, 556 f., 562 f., 565, 573 f., 608, 612, 645, 670, 719, 743, 752 f. Korsch, Karl 673, 771 Kortner, Fritz 665 Koselleck, Reinhart 701 Köster, Reinhard 314 Kowa, Victor de 731 Kracauer, Siegfried 50, 202, 224, 239, 588, 689, 697 Krahl, Hans-Jürgen 704, 763 Krahl, Inge 661 Kramer, Franz Albert 151 f., 266 Krämer, Otto 303 Krämer-Badoni, Rudolf 123, 184, 192, 294, 457, 471, 550, 606, 638, 670, 676, 685 f., 727, 753 Kraus, Karl 549 Krauss, Werner 60, 167, 226 f., 234, 527 f. Kremp, Herbert 755 Kroll, Gerhard 206, 263 f., 267 f., 272-274, 276 f., 727 Krolow, Karl 189, 247 f., 543 Krüger, Gerhard 261 Krüger, Horst 530 Kuby, Erich 48, 84, 117, 140, 144, 168, 181-183, 253, 294, 306, 321, 389 f., 403, 413, 418 f., 423, 425, 427, 439 f., 495, 531-533, 535, 543, 545, 560, 600, 630, 660, 673, 677 f., 726, 741, 753 Kuczynski, Jürgen 239 Kuehnelt-Leddihn, Erik Maria (auch: von Kuehnelt-Leddihn) 125, 183 f., 221, 271, 500 Kugelmann, Cilly 739 Kuhn, Helmut 254 Kunert, Günter 680 Kurella, Alfred 62, 236, 527, 532
Kurz, Eugen 643 Küstermeier, Rudolf 141 f., 421 Lagarde, Paul de 71 Lamprecht, Günter 580 Lamprecht, Helmut 639 Landahl, Heinrich 422, 486 Landshoff, Fritz H. 139 Landshut, Siegfried 572, 651 Langgässer, Elisabeth 92, 253 Lasker-Schüler, Else 101 Lasky, Melvin J. 92, 102, 201-204, 254, 390, 476, 482 f., 615 Lattmann, Dieter 43 Le Fort, Gertrud von 659 f. Leber, Annedore 119 Ledig-Rowohlt, Heinrich M(aria) 134, 513 f., 526-528, 566 f., 686, 772 f. Legat, Konrad 152 Lehmann, Wilhelm 247, 250, 659 Leibniz, Gottfried Wilhelm 71 Leithäuser, Joachim G. 254 Lenard, Philipp 653 Lenin, Wladimir I. 96, 220, 227, 571 f. Lenk, Elisabeth 46 Lenz, Otto 222 Lenz, Siegfried 113, 485, 542 f., 613, 660, 677 f., 711 Leonhard, Kurt 660 Leonhard, Wolfgang 484 f., 555 Leonhardt, Rudolf Walter 49, 165, 494, 544, 608, 626, 637-640, 646, 686, 709, 756 Lettau, Reinhard 691, 700 Leuwerick, Ruth 661 Levi, Carlo 476 Lévi-Strauss, Claude 700 Lewalter, Christian E. 385, 572 Lex, Hans Ritter von 339 Liebel, Manfred 772 Lilje, Hanns 73 f., 160 f., 242, 495 Lindemann, Helmut 211 Linfert, Carl 65, 122 f., 425, 476, 481, 572 Link, Helmut 156 Litt, Theodor 248 Litten, Hans 89 Loewenthal, Fritz 186 Loewenthal, Gerhard 598
879
PERSONENREGISTER
Lohmar, Ulrich 597 Lorenz, Konrad 456, 747 Lorenz, Lovis H. 162 Loth, Wilfried 226 Löwenthal, Leo 321 Löwenthal, Richard 102, 203, 254, 326, 477 Lübbe, Hermann 464 Lübke, Heinrich 781 Luchterhand, Hermann 41, 695 Ludin, Hanns 372 Ludwig, Gerhard 243 Luft, Friedrich 141, 201, 374, 534 f. Luhmann, Niklas 41, 760 Lukács, Georg 60, 90, 174, 235, 237, 258, 295, 327, 527, 573, 607, 673, 689, 715, 771 Lumumba, Patrice 700 Lüth, Erich 412, 486 Luther, Martin 205 Lüthy, Herbert 254 Lutz, Burkart 178 Luxemburg, Rosa 467 Maaß, Alexander 114 Mahnke, Horst 66 Maier-Leibniz, Heinz 652 Maiwald, Serge 305, 394 Malraux, André 348, 478, 669 Man, Hendrik de 321, 350, 612 Mann, Golo 48, 126, 135, 254, 282, 350 f., 356, 377 f., 390, 393, 401, 419 f., 476, 532-535, 548, 584, 616, 636, 669, 722, 739 Mann, Heinrich 94, 96, 98, 248, 582, 712, 728 Mann, Thomas 43, 82, 86 f., 90, 91, 96 f., 136, 164, 202, 248, 250, 289, 377-379, 387, 397, 399, 420, 457, 479, 539 f., 547 f., 563 f., 707, 709, 712, 767, 787 Mannheim, Karl 42 Mansfeld, Michael* (=Eckart Heinze) 171, 412, 531 Marcuse, Herbert 384, 479, 573, 589, 694-696, 702, 704, 715, 763 f., 768, 771, 775, 779, 789, 791 Marcuse, Ludwig 86, 254, 472, 499, 608, 706, 737 Marek, Kurt W. 73, 285 Markov, Walter 227
880
Marquard, Odo 464 Martini, Fritz 248 Martini, Winfried 128, 274, 393, 403 f., 510 f., 722, 725, 745, 754, 756 Marx, Karl 96, 122, 136, 173, 199, 294, 466, 484, 519, 569, 572 f., 576 f., 589, 596, 651, 703, 706, 709, 729, 765, 768, 771, 773, 789 Matthias, Erich 573 Matthias, L(eo) L(Lawrence) 355 f., 565 Maunz, Gerhard 739 Maunz, Theodor 276 Maus, Heinz 573, 576, 715 Mayer, Hans 92, 126, 226 f., 229, 232, 471, 528, 538, 580, 613, 706 f., 710 f., 714 McCarthy, Joseph 271, 483, 488 Mead, Margaret 522 Mehnert, Klaus 35, 38 f., 43, 48, 51, 61 f., 67-69, 74, 84, 118, 129, 155-159, 161 f., 221, 246, 298 f., 313, 317, 352, 356, 363, 408, 489, 559, 723, 745-747 Mehring, Franz 96, 572 Mehring, Walter 472, 476 Meier, Walter 243 Meinecke, Friedrich 201, 248, 361 Meinhof, Ulrike 600 f., 626, 662, 771, 774 Melsheimer, Ernst 238 Mendelssohn, Peter de 96, 254, 382 Merkatz, Hans-Joachim von 272, 722 Merker, Paul 236 Merseburger, Peter 618 Merton, Richard 148 Meschkat, Klaus 763 Meusel, Alfred 567 Meyenn, Hans-Werner von 553 Meyer, Franz 243 Michel, Karl Markus 41, 699, 773-775 Michelangelo 40 Miegel, Agnes 407, 431 Mielke, Erich 239 Miller, Henry 353 Mises, Ludwig von 462 Mitscherlich, Alexander 105, 119, 137, 254, 301, 304, 318, 349, 361, 381, 393, 454, 456, 476, 514, 607, 737, 791 Mohler, Armin (s. a. Pseud. Michael Hintermwald) 48, 50, 170, 242, 295, 350, 373, 385, 389, 391, 393, 395-398, 400 f., 417,
PERSONENREGISTER
428, 491, 500, 548, 638, 722 f., 733, 742-756, 759 Molitor, Jan* (= Josef Müller-Marein) 164, 373 Molo, Walter von 96 f., 379, 660, 713 Molotow, Wjatscheslaw M. 191 Moorehead, Alan 254 Mooser, Josef 314 Moras, Joachim 74-78, 189 f., 192, 194-196, 198 f., 278 f., 356, 400, 417, 505 f., 520, 526, 642 f. Moravia, Alberto 236 Morgner, Irmtraud 680 Mosley, Oswald 328 Mosse, Rudolf 101 Muhlen bzw. Mühlen, Norbert 218, 254 Mühlfenzl, Rudolf 129 Mühlmann, Wilhelm 747 Mühsam, Erich 89 Müller, Bastian 123 Müller, Heiner 700 Müller-Armack, Alfred 756 Müller-Marein, Josef (s. a. Pseud. Jan Molitor) 163 f., 416, 433, 492 f., 567, 637 Müller-Meiningen, Ernst 48, 128, 144, 409 f., 532 Müller-Meiningen, Ernst jr. 473 Münster, Clemens 129 f., 136, 177, 253, 261, 457 Muschg, Walter 315 Musil, Robert 127 Mussolini, Benito 781 Nabokov, Valdimir 202 Nagy, Imre 237, 592 Nannen, Henri 635, 725 Naumann, Johann Wilhelm 185, 204 f., 263 Nebel, Gerhard 113, 122, 170, 243, 378, 382, 507, 647 Negt, Oskar 716 Nell-Breuning, Oswald von 590, 616 Nellen, Peter 731 Nelson, Leonard 570, 595 f. Nenni, Pietro 601 Netzer, Hans-Joachim 647 Neumann, Franz L. 476 Neumann, Nicolaus 777
Neumann, Robert 608, 660, 737 Neurath, Otto 537 Neven DuMont, Alfred 425 Neven du-Mont, Jürgen 171, 531, 618, 688 Niehaus, Max 281 Niekisch, Ernst 48, 59, 99, 149 f., 170, 226 f., 229-231, 312, 337, 349, 356 f., 367, 374, 380 f., 390 f., 393, 399 f., 404, 406, 444, 466 f., 469, 531, 556-559, 562, 564 f., 573, 576, 595, 708, 713-716 Niemöller, Martin 119, 616, 656 Nietzsche, Friedrich 71, 161, 569 f., 701, 729 Noack, Paul 728 Noack, Ulrich 96 Noelle-Neumann, Elisabeth 577 Nohl, Hermann 248 Nollau, Günther 710 Nossack, Hans Erich 472, 638, 694 Oberländer, Theodor 448, 733 Oehlmann, Werner 112 Oelfken, Tami 592 Oelze, F(Friedrich) W(ilhelm) 191, 378, 583 Oertzen, Peter von 179, 591 Ohnesorg, Benno 778 Opitz, Reinhard 600, 602, 758 Orff, Carl 276 Ortega y Gasset, José 12, 43, 85, 190, 197, 254, 259, 261, 284-286, 302-305, 308, 332 f., 346, 498 f., 510, 514, 521, 523, 720 Orwell, George 307 Ossietzky, Carl von 89, 91 f., 101 Ossietzky, Maud von 92 Paczensky, Gert von 561, 617 f., 683 Paeschke, Hans 74-79, 106, 127, 130, 188-199, 201, 225, 241, 254, 278 f., 323, 354, 362, 394 f., 398, 403, 417, 449, 476, 478, 481, 495, 502, 504-508, 512, 520, 619, 621, 641-647, 670, 692 f., 698, 706, 718, 723, 742 Paetel, Karl O(tto) 170, 708 Pahl, Walther 244 Papen, Franz von 209, 264, 732 Papst Paul VI./Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini 681 Paracelsus/Philipp Theophrastus Bombast von Hohenheim 224
881
PERSONENREGISTER
Parsons, Talcott 577 Passos, John Dos 135, 365 Pechel, Rudolf 48, 74, 87, 93, 100, 201, 209-212, 248 f., 284, 311, 330, 407, 411, 416, 420, 425 f., 430 f., 438, 440-442, 449, 468 f., 476, 480, 486, 559, 567, 647, 660 Pentzlin, Heinz 296 Pentzlin, Kurt 296 Peschler, Eric A. 425 Petersen, (Jürgen) 433 Petwaidic, Walter (s. a. Pseud. Fredericia) 491, 493 Pfeil, Moritz* (= Rudolf Augstein) 448 Pferdmenges, Robert 148, 335 Pfisterer, Rudolf 737 Picard, Max 185, 300, 320, 331 Picasso, Pablo 233 Picht, Georg 182, 254, 279, 628 f., 746 Pieck, Wilhelm 227 f. Pieper, Josef 248, 261 Pirker, Theo 178 f., 396, 439, 457, 591, 594 Piscator, Erwin 658 Planck, Max 250 Platon/Plato 136 f., 182, 570 Plechanow, Georgi W. 572 Plessner, Helmuth 254, 581 Plessner, Monika 46 Plivier, Theodor 96, 99, 135, 203, 468, 470, 474, 476, 550 Podszus, Friedrich 643 Polgar, Alfred 374 Poliakov, Léon 421 Pollock, Friedrich 573 Popper, Karl 704 Portmann, Adolf 254 Posser, Diether 591 Preobraschenski, Jewgeni A. 771 Pritzkoleit, Kurt 61, 660 Proebst, Hermann 144 Proske, Rüdiger 182, 253, 413, 467, 613 f., 617 f. Pross, Harry Pross, Helge 46, 211, 407 f., 419 f., 425 Proudhon, Pierre-Joseph 765 Proust, Marcel 236 Prüfer, Guntram 117 Puttkamer, Jesco von 423, 425 f.
882
Rabehl, Bernd 704, 763 Radbruch, Gustav 288 Raddatz, Fritz J. 23, 41, 295, 451, 527, 538, 552, 622, 686, 711, 713 f., 772 f. Rahms, Helene 65 Ramcke, Bernhard 413 Ramseger, Georg 143 Raskop, Heinrich-Georg 117 f. Rathenau, Walther 367 f. Rausch, Renate 524 Rauschning, Hermann 188 Read, Herbert 476 Redslob, Edwin 476, 482 Reger, Erik 248, 488 Regler, Gustav 472 Reich, Wilhelm 771 Reiche, Reimut 704 Reichmann, Eva G. 421 Reich-Ranicki, Marcel 138, 417, 538, 580, 613 f., 638, 686, 711, 714 Reifenberg, Benno 63 f., 147, 150, 168, 207-209, 248, 300, 587, 682 Reifferscheid, Eduard 545, 549 Reifferscheidt, Friedrich M. 173 Reinhardt, Max 101 Reischock, Wolfgang 527 Reithinger, Anton 353 Reitlinger, Gerald 421 Remarque, Erich Maria 135, 484 f. Renn, Ludwig 567, 675 Reuter, Ernst 476, 482 Reuter, Fritz 674 Ribbentrop, Joachim von 75, 749 Richter, Hans Werner 84, 102, 121, 135, 168, 172, 178, 211, 291, 326 f., 340, 389, 421-424, 435, 438-440, 449, 451, 457 f., 474, 535-545, 550-552, 570, 574, 603, 605, 613 f., 618 f., 625 f., 629 f., 638, 640, 660 f., 664 f., 673 f., 676-678, 683-686, 690 f., 693, 703, 706, 708, 711 f., 717, 721, 726 Riegel, Werner 88, 595, 599 Riesman, David 309, 315, 351, 524 Rinser, Luise 253, 476, 659 f. Risse, Heinz Theo 179, 182 Ritter, Gerhard 206, 406, 558, 735 Ritter, Joachim 392, 463 f. Robespierre, Maximilien de 649
PERSONENREGISTER
Rocker, Rudolf 129 Rodenburg, Julius 209 Roegele, Otto B. 35, 48, 106, 119, 152 f., 243, 258, 265 f., 268-271, 278, 300, 349, 488, 747 Röhm, Ernst 116, 368, 370 f. Rohan, Karl Anton 75 Röhl, Klaus Rainer 88, 599-602, 693, 704 Rolland, Romain 135 Rombach, Theo 153 Röpke, Wilhelm 100, 123, 148, 305, 318, 330, 345, 357, 462, 481, 629 Rosenberg, Ludwig 88, 302 Ross, Werner 254, 775 Rößner, Hans 410 Rothacker, Erich 310, 505 Rothfels, Hans 350, 558 Rougemont, Denis de 253 f., 324, 327 f. Rovan, Joseph 177, 182, 253 Rowohlt, Ernst 41, 67, 73, 88 f., 134, 143, 171, 243, 252, 355, 366-368, 389, 479, 512-515, 518, 543, 563-567, 713, 772 Rühmkorf, Peter 25, 41, 49, 50, 88, 143, 172, 193, 453, 552, 583, 593, 595, 599-602, 660, 677 f., 686, 692, 718 Ruppel, Karl-Heinz 145 Russell, Bertrand 135, 476, 614 Rüstow, Alexander 42, 147, 195 f., 241, 304, 347, 462, 481 Rychner, Max 71, 253, 395 Sabais, Heinz Winfried 96 Salin, Edgar 322 Salomon, Bruno von 95, 368 Salomon, Ernst von 41, 66, 95, 243, 356, 364, 366-377, 381, 405, 534, 564, 573 Samhaber, Ernst 164 f., 367 Sander, Hans-Dietrich 715, 728, 754 f. Sänger, Fritz 63, 118, 408 Sartre, Jean-Paul 113, 236, 286 f., 327, 390, 478, 483, 518 f., 524, 564, 608, 763 Saussure, Ferdinand de 700 Schaff, Adam 526 Schäffer, Fritz 276 Schallück, Paul 122, 316, 320, 416 f., 422, 425, 623, 658 f., 665, 678 Scheer, Maximilian 94, 96 f. Scheler, Max 188
Schelsky, Helmut 32 f., 40, 42, 49, 179, 244, 313-316, 318 f., 392, 496-498, 504, 507 f., 514, 516, 520-524, 526, 564, 575-577, 581, 586, 589, 597, 627, 629, 747 Schenke, Wolf 221 Scheringer, Richard 565 Schickel, Joachim 621 Schieder, Theodor 558 Schiller, Friedrich 122, 229, 570, 593, 634 Schiller, Karl 456, 718, 763 Schirach, Baldur von 137 Schiwy, Günter 688 Schlamm, William S. 448, 722-726, 754, 756 Schleicher, Kurt von 66 Schlichter, Rudolf 316, 387 Schlüter, Leonhard 414 Schmid, Carlo (s. a. Pseud. Karl Schmid) 78, 271, 299, 311, 324, 400, 466, 476, 486, 529, 650, 726 Schmid, Karl* (= Carlo Schmid) 78 Schmid, Peter 254 Schmidt di Simoni, Ewald 162, 493 Schmidt, Arno 136, 291, 340, 458, 547 f., 550, 601, 669 Schmidt, Helmut 273, 594, 612, 662, 704 Schmidt, Paul Karl (s. a. Pseud. Paul Carell, P. C. Holm) 66, 491 Schmidt-Hannover, Otto 72 Schmitt, Anima 383 Schmitt, Carl (s. a. Pseud. Erich Strauß) 35, 40, 62, 79 f., 113, 170, 186, 242, 244, 260, 354, 369, 380, 382 f., 385, 391-395, 398, 401, 403-405, 429, 456, 464, 491 f., 500, 502, 509, 511, 549, 575, 632, 660, 702, 721, 728, 732, 749, 751, 755, 760 Schmölder, Günter 523, 526 Schnabel, Ernst 112, 119-121, 284, 320, 542, 549, 660, 685 f. Schnabel, Franz 558 Schneider, Hans/Schwerte, Hans 410 Schneider, Lambert 169 Schneider, Reinhold 247, 249, 582 Schnitzler, Karl-Eduard von 114, 121 f., 229, 675 Schnurre, Wolfdietrich 122, 178, 248, 541, 543, 595, 660, 675-678, 686, 692, 737 Schoenberner, Gerhard 734 Schoeps, Hans-Joachim 42, 264, 574
883
PERSONENREGISTER
Schöllgen, Werner 304 Schomerus, Hans 756 Schonauer, Franz 660, 742 Schönberg, Arnold 112 Schöningh, Franz Josef 81, 144, 241, 476, 481 Schopenhauer, Arthur 570 Schoszberger, Hermann 303 Schramm, Percy Ernst 514 Schrenck-Notzing, Caspar von 167, 262, 735, 747-749, 756 Schröder, Gerhard 273 Schröder, Rudolf Alexander 248, 250, 471 Schroers, Rolf 49, 96, 121, 178, 193, 254, 392, 415 f., 426, 438, 459, 470, 485, 540 f., 543, 642, 644, 646, 756, 762 Schüddekopf, Jürgen 72, 112 f., 433, 454, 476, 481, 582 Schulenburg, Fritzi 82 Schultz, Walter D. 116 Schulz, Eberhard 314 Schulz, Klaus-Peter 117 Schumacher, Kurt 63, 175, 556, 787 Schumpeter, Joseph 498, 729 Schuster, Hans 254, 571 Schütz, Eberhard 115 Schwab-Felisch, Hans 41, 140, 233, 291, 425 f., 480, 543, 632, 711, 764 Schwann, Hermann 434 Schwarzschild, Leopold 101 Schwedhelm, Karl 396 Schweitzer, Albert 247-249, 284, 652, 657 Schwingenstein, August 144 Sedlmayr, Hans 56, 200, 259, 301 f., 311, 514, 520, 525 f., 747 Sedlmayr, Walter 723 Seeberg, Axel 162 Seeberger, Kurt 314, 321, 323, 348, 399, 547-549 Seebohm, Hans-Christoph 148, 733 Seewald, Heinrich 732 Seghers, Anna 90, 94, 96, 135, 226, 236, 238, 472, 550, 680, 765 Seidel, Hanns 276 f. Seidel, Ina 311, 431, 659 Seifert, Jürgen 662 Selye, Hans 309 Semjonow, Wladimir S. 233
884
Senghaas, Dieter 776 Sethe, Paul 147, 296, 413, 557 f., 560-562, 565, 636 Shakespeare, William 143 Shaw, G. Bernard 570 Sieburg, Friedrich 25, 35, 48, 51, 63 f., 123, 147, 149 f., 165, 168, 190, 207 f., 241, 287, 291-296, 300, 308, 315 f., 375, 388 f., 398, 415 f., 420, 449, 492 f., 549-551, 553, 563, 637-639, 641, 667, 670, 676, 681, 694, 711, 721, 741 f., 752 f. Siedler, Wolf Jobst 140, 401, 483, 640 Siemsen, Anna 476 Silenius, Axel 737 Silex, Karl 127, 156, 407 Silone, Ignazio 254, 327, 390, 476, 485 Sinclair, Upton 476 Six, Franz 66, 70, 409 Skriver, Ansgar 627 Smedley, Agnes 94, 96 Snell, Bruno 248, 486, 492 Söhnker, Hans 665 Sölle, Dorothee 616 Sommer, Theo 493, 675 Sonnemann, Ulrich 318, 716, 718 Sontheimer, Kurt 33, 253, 630 Spaemann, Robert 176, 253, 464 Spann, Othmar 174 Speer, Albert 23, 137 Speidel, Hans 246, 298 Spengler, Oswald 87, 256, 280-282, 302, 328 f., 342 f., 724 Spengler, Wilhelm 410, 499 Sperber, Manès 480, 485 Sperr, Hans-Joachim 145, 435 Spiel, Hilde 613 Spoerl, Alexander 660 Spranger, Eduard 250, 269, 318, 407 Springer, Axel 66, 72, 84, 111, 243, 307, 317, 368, 412, 559-561, 725 f., 749, 752-755 Stadtmüller, Georg 264 Stählin, Wilhelm 270, 272, 275 Stain, Walter 713 Stain, Werner 413 Stalin, Josef 96, 205, 227, 231, 363, 398, 405, 765 Stammer, Otto 510 Stammler, Eberhard 746
PERSONENREGISTER
Staritz, Joachim 673 Stark, Johannes 653 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 81, 406 Steding, Christoph 256 Stefl, Max 60, 82, 440, 658 Stehle, Hansjakob 273 Steigerwald, Robert 594 Steinbömer, Gustav (s. a. Pseud. Gustav Hillard-Steinbömer, Gustav Hillard) 405 Steinhoff, Fritz 422 Stephan, Klaus 425 Stern, Carola 485, 555, 712 f. Stern, Hans 600 Sternberger, Dolf 61, 63 f., 71, 123, 145, 150, 167-169, 195 f., 202, 207-209, 241, 245, 248, 254, 279, 282, 300, 330, 447, 476, 478, 506, 511, 530, 598, 608, 619, 682 Stern-Rubarth, Edgar 321 Stolz, Otto 171 Stone, Shepard 203, 350 Storz, Gerhard 145, 248 Straßer, Gregor 116 Straßer, Otto 115, 118, 205, 368, 406 Strauß, Erich* (= Carl Schmitt) 394 Strauß, Franz Josef 206, 434, 614, 631, 655, 661, 725, 730, 732, 745, 750 f. Strawinsky, Igor 112 Streicher, Julius 386, 409 Strindberg, August 96 Strittmatter, Erwin 680 Stroomann, (Gerhard) 197 f., 241 f. Stuckenschmidt, Hans Heinz 141 Studnitz, Hans-Georg von 49 Suhr, Otto 476 Suhrkamp, Peter 137 f., 195, 248, 311, 479, 574 Süskind, W(ilhelm) E(manuel) 96, 145, 248, 433, 435, 440 f., 443 Süsterhenn, Adolf 153, 175, 627 Szczesny, Gerhard 49, 62, 129, 296, 425, 456, 466, 541, 568-571, 606-608, 624, 677, 705 f., 710 Tamm, Erhard 712 Tartler, Rudolf 504 Tauber, Kurt P. 430 Taubes, Jacob 350, 392, 589, 701 f., 751, 760 Tern, Jürgen 62 f., 561 f.
Tessloff, Ernst 593 Teuto, Jochen* (= Johannes Gross) 510 Thedieck, Franz 212 Thelen, Albert Vigoleis 540 Thielicke, Helmut 305, 318 f., 405, 495, 572, 655, 675, 745 Thiess, Frank 247, 249, 305, 311, 379, 484 Thoma, Dieter 426 Thoma, Ludwig 136 Tillich, Ernst 476, 482, 485 Toepfer, Alfred 250, 714 Topf, Erwin 163 Torberg, Friedrich 340, 482, 667 Toynbee, Arnold J. 129, 254, 281 f., 332, 390, 495, 498 f., 614 Trenker, Luis 731 Trevor-Roper, Hugh 479 Trommler, Frank 57 Trotzki, Leo D. 765, 771 Tschechowa, Olga 731 Tucholsky, Kurt 82, 92, 101 Tung, Mao Tse 96 Tüngel, Richard 72, 162, 164 f., 243, 490-493 Turek, Ludwig 676 Ude, Karl 145 Uexküll, Gösta von 561, 753 Ulbricht, Walter 227, 232 f., 236-238, 436, 468, 528, 671, 692 Ullmann, Hermann 73 Ullstein, Heinz 133 Ullstein, Leopold 101 Unruh, Fritz von 250 Unseld, Siegfried 138, 390, 543, 645, 686, 692-694, 701 f., 706, 741, 756 Urbach, Ilse 142 Valéry, Paul 71, 254, 499 Vietta, Egon 113, 304, 346, 354, 660 Vittorini, Elio 690 Voegelin, Eric 350, 747 Vogel, Hans-Jochen 422 f. Wagenbach, Klaus 676, 686, 692, 727, 768, 770 f., 774 Waldburg zu Zeil und Trauchburg, Erich Fürst von 206
885
PERSONENREGISTER
Waldburg zu Zeil, Georg Fürst von 274-276 Walden, Matthias 426, 626, 726, 754 Wallenberg, Hans 140 Wallenreiter, Christian 606 f. Walser, Martin 137, 143, 295, 422, 456, 459, 536, 543, 551, 612 f., 631, 660, 669, 677 f., 683, 686, 692-694, 699, 706, 741 Walz, Hans 197 Weber, A. Paul 595 Weber, Alfred 60 f., 70, 136, 167, 211, 248, 250, 261, 288, 301, 307, 311, 326, 395, 476, 480, 555, 589, 659, 731 Weber, Max 704 Weber, Werner 638 Wehner, Herbert 650 f., 662 Weigel, Helene 238 Wein, Hermann 254 Weinkauff, Hermann 272 Weisenborn, Günther 92 f., 340, 472, 660, 713 Weiss, Peter 138, 193, 543, 554, 686, 694, 699 f., 718 Weisser, (Gerhard?) 598 Weizsäcker, Carl Friedrich von 182, 247, 495, 652, 659, 661, 666 f. Weizsäcker, Ernst von 362 Weizsäcker, Richard von 406 Welter, Erich 35, 63, 70, 147, 149, 241, 444, 446, 558, 562 Welty, Eberhard 175 f. Wenger, Paul Wilhelm 153, 269-271, 273, 275, 752 Wenke, Hans 269, 319 Werfel, Franz 136 Werner, Bruno E. 433, 441, 685 f. Wessel, Horst 221 Westecker, Wilhelm 438 Wetter, Gustav A. 524 Weymann-Weyhe, Walter 253 Weyrauch, Wolfgang 432 f., 440, 457, 543, 550, 564, 630, 658, 660, 737 Wiechert, Ernst 135, 539 Wiese, Leopold von 329, 581 Wieser, Wolfgang 253 Wilder, Thornton 202, 249, 284 Wilhelm, Theodor 629
886
Williams, Tennessee 202 Winckler, Josef 438 Winnig, August 74 Wirsing, Giselher 49, 67-70, 74, 155, 157-159, 162, 296, 340-342, 344-346, 381, 393, 408-410, 435, 559, 743-746 Wirth, Günter 186 Wischnewski, Hans-Jürgen 668 Witsch, Joseph C(aspar) 138 f., 222, 484 f., 646, 730 Wittfogel, Karl August 485 Wittgenstein, Ludwig 537, 701 Wohmann, Gabriele 719 Wölbert, Liselotte 368 Wolf, Christa 679 f. Wolff, Georg 66 Wolff, K(arl) D(ietrich) 774 Wönner, Max 409 Wuermeling, Franz-Josef 243, 272 Wulf, Josef 421 Wunsch, Georg 467 Wurm, Theophil 154 f., 196 Yourcenar, Marguerite 254 Zahn, Peter von 111, 357 f., 396, 455, 488 Zahrnt, Heinz 160 Zehm, Günter 676, 705, 715, 754 Zehrer, Hans 66 f., 70-74, 141-143, 160-162, 243, 258, 283, 290, 296, 306 f., 314, 340, 342346, 356, 366, 368, 373 f., 381, 389, 393, 435, 534, 559 f., 564, 712, 722, 728, 753-755 Ziesel, Kurt 211, 364, 428-445, 447-452, 740, 743, 752 Zillich, Heinrich 431 Zimmer, Dieter E. 494, 640 Zimmermann, Friedrich (s. a. Pseud. Ferdinand Fried) 67, 559 Zöller, Josef O. 726, 728 Zuckerkandl, Viktor 254 Zuckmayer, Carl 64, 137, 250, 472 Zweig, Arnold 96, 101, 232, 234, 471 f., 675, 713 Zweig, Stefan 136 Zwerenz, Gerhard 705, 709 f.
Medienregister
Abendzeitung 608 Akzente 574 Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland 41 Allgemeine Zeitung 147 Allgemeines Sonntagsblatt 70, 251 Andere Zeitung 88, 419 f., 425, 592-595 ARAL-Journal 32 Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) 120, 246, 372, 453, 465, 483, 612, 614 f., 683, 685 Argument Das Argument atomzeitalter. zeitschrift für sozialwissenschaft und politik 627 Aufbau-Verlag 90, 96, 227, 236 f., 469, 706 Aufklärung 575 Augsburger Tagespost 185, 205 »Aus erster Hand« 614 Aussprache 179 Axel Springer Verlag 66, 104, 141, 143, 412, 558, 560, 617, 621, 656 Baukunst und Werkform 187 Bayerische Volksstimme 532 Bayerischer Rundfunk (BR) 42, 62 f., 108 f., 126, 128-130, 136, 177, 296 f., 318, 321, 323, 348, 399, 439, 456, 466, 488, 541, 547, 554, 568, 570 f., 606-608, 647, 669, 705 f., 710 f., 727, 757 Bayernkurier 128, 751 Berlin 33, Hasensprung 614 Berlin X-Allee, Jour Fixe 614 Berliner Kurier 65, 122 Berliner Rundfunk 232 Berliner Tageblatt 61, 65, 77, 128, 139, 163, 442 Bertelsmann-Verlag 318, 372, 407, 625 f., 754 Bildpost 125 Bild-Zeitung 84, 273, 306 f., 412, 617, 621 Börsencourier 139
Brennpunkte 618 British Broadcasting Corporation (BBC) 109, 112, 118, 569 Brockhaus-Verlag 80 Brüsseler Zeitung 276 C. Bertelsmann Verlag Bertelsmann-Verlag Carl Hanser Verlag 104, 135, 417 Christ und Welt 35, 38 f., 50 f., 66, 71, 74, 80, 152, 154-162, 164 f., 196, 221, 251, 255, 297 f., 319, 352, 356, 363, 376, 400, 408, 438, 628, 684, 727, 740, 743-747, 757 Cicero 769 Civis 186, 394, 508 f. Claassen-Verlag/Claassen & Goverts 281, 459 Colloquium 201, 482 Colloquium Verlag 138 f. Constanze 181, 636 Contexts 688 Criticón 749 CrP-Informationsdienst 425-427 Das Abendland 205 Das Argument 772, 774 f. Das deutsche Weltblatt 165 Das Fenster 593, 654 Das goldene Tor 87, 168 Das Historisch-Politische Buch 394 Das literarische Kaffeehaus 580, 613 Das Literarische Quartett 614 Das Parlament 564 Das Reich 61, 65, 69, 72, 110, 112 f., 122, 145, 151, 163 f., 433, 442 f., 557 Das Schweigen 627 Das XX. Jahrhundert 67-70 DEFA-Filme 674 Der Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift 90, 96, 469 Der Freitag 592 Der Internationales Frühschoppen 243, 409, 483, 615, 683
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MEDIENREGISTER
Der Monat. Eine internationale Zeitschrift 102, 109, 158, 168, 172, 192, 195, 197 f., 201204, 212, 218, 251, 254, 303, 307, 331, 349, 374, 390, 401, 465, 476, 478, 482-484, 487, 496 f., 535, 556, 588, 647 f., 722, 748, 752, 754, 756 Der Reiter gen Osten 368 Der Ruf 84, 98, 128, 140, 168, 172, 326 f., 389, 457, 535 Der Sonntag 228, 592 Der Spiegel 37, 52 f., 66, 84, 104, 153 Der Stürmer 386 Der Wille 593 Deutsche Allgemeine 127 Deutsche Allgemeine Zeitung 82, 112, 126 f., 139 f., 164, 200, 367, 433 Deutsche Arbeiterzeitung 178 Deutsche Hochschullehrerzeitung 435 Deutsche National- und Soldatenzeitung 639, 700, 722, 743, 750, 752 Deutsche Presseagentur 63, 118 Deutsche Rundschau 61, 78, 100, 200, 209-212, 248, 330, 407, 419 f., 431, 441, 469, 480, 647 Deutsche Tagespost. Unabhängige Tageszeitung für abendländische Politik und Kultur 205, 251, 256, 266, 274, 533, 722, 727 Deutsche Universitätszeitung (DUZ) 570 Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) 120, 190, 196-198, 200, 500, 506, 510 f., 543, 643-645 Deutsche Volkszeitung 548, 592, 654 Deutsche Wochenzeitung 722 Deutsche Zeitschrift für Philosophie 236, 312 Deutsche Zeitung 446, 491, 511, 607, 744 Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung 314, 446, 561 Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 135, 528, 694 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 104, 160 Deutsches Volkstum 433 Deutschland-Jahrbuch 38 Deutschland-Sender 675 Deutschland-Magazin 451 Die Freiheit 158 Die Gegenwart 103, 105, 123, 147, 149 f., 168 f., 190, 207-209, 212, 251, 292, 300, 308, 330, 374 f., 389, 506, 511
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Die Kultur 109, 423, 544, 605, 670, 438 f., 667, 669 Die Literatur (1923-1942) 145 Die Literatur. Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne (1952) 291, 544, 550, 570 Die neue Ordnung 176, 179, 394 Die Republik 236, 756 Die Tat (Deutsche Monatszeitschrift) 66 f., 69 f., 72 f., 127, 340, 559 Die Tat (Schweizer Zeitung) 746 Die Wandlung 60, 78, 145, 167, 169, 202, 282 Die Welt 72, 104, 112 f., 142 f., 146, 172, 243, 246, 252 f., 272, 274, 291, 374, 389, 393, 416, 433, 438, 444, 526, 558-560, 563, 617, 632, 636, 676, 711-713, 728, 752, 755 Die Weltbühne 73, 91, 97, 106, 110, 163, 171, 360, 435, 441, 723 Die Woche 162, 591 f. Die Zeit 23, 37, 45, 50, 53, 72, 84, 104, 113, 127, 151, 162-165, 243, 251 f., 272, 314, 349, 373, 385, 399, 401, 403, 411, 416, 418, 427, 432 f., 438, 449-451, 461, 488, 490-494, 497, 526, 531, 533, 544, 558, 561, 563, 567, 572, 591 f., 599, 626, 635-641, 646, 648, 653, 666, 675, 709, 711-713, 734, 740, 744, 746, 757, 776 Diederichs-Verlag 71, 344 Dokumentation der Woche 207 Druffel-Verlag 423 DT 64 679 Econ-Verlag 133, 625 edition suhrkamp 512, 694-696, 700, 703, 715 f., 766, 768, 773 Éditions Gallimard 287, 690 Eher-Verlag 133 Encounter 204, 548, 648 Ende und Anfang 178 Ernst Tessloff Verlag 593 Esprit 177 Europäische Revue 75, 78, 194 Europäische Rundschau 190 Europäische Verlagsanstalt (EVA) 133, 212, 627, 765 Europäischer Kulturdienst 437, 443 Fischer Verlag S. Fischer Verlag Forum 482 f., 648, 667
MEDIENREGISTER
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 147, 199, 207, 209, 251, 294, 352, 374, 438, 459, 587, 709, 752 Frankfurter Hefte 38 f., 51, 64, 78, 105, 116, 129, 141, 152, 168, 172-188, 194, 197 f., 201, 203 f., 208, 211, 213, 225, 252-254, 260, 265 f., 271, 289, 299 f., 321, 326 f., 353, 374, 389, 395, 411, 445 f., 457, 479, 481, 485, 521, 553, 574, 578, 590 f., 599, 607, 727 Frankfurter Neue Presse 187 Frankfurter Rundschau (FR) 105, 146 f., 251, 273, 412 f., 568, 612, 641, 683, 727, 762 Frankfurter Societätsverlag 162 Frankfurter Zeitung 61-63, 77, 106, 118, 122 f., 126-128, 139, 145, 147, 149, 150, 168, 174, 178, 184, 207 f., 279, 299, 446, 561, 683 Freies Algerien 668 Funken 590 Gegenwart Die Gegenwart Geist und Tat. Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur 212 f., 548, 595-597 Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 362 Gewerkschaftliche Monatshefte 244, 303, 315 f., 319, 421, 714, 739 Giulio Einaudi editore 690 Göschen-Reihe (und Verlag) 282, 518 Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik 414 Gulliver 691 Hamburger Allgemeine Zeitung 127 Hamburger Echo 438, 654 Hamburger Fremdenblatt 352 Handelsblatt 127, 310, 460, 493, 577 Hannoversche Allgemeine Zeitung 352 Helmut Kindler Verlag 133, 712 Herder-Korrespondenz 179 Herder-Verlag 41, 133, 153, 174 Hessischer Rundfunk (HR) 105, 109, 120, 126 f., 234, 309, 312, 394, 420, 457 f., 490, 541, 578-581, 583, 613, 624, 642 Heute 691 Hier und heute 179 Hochland 82, 144, 179, 197, 261, 481, 500
Industriekurier 756 J. F. Lehmanns Verlag 430, 437, 441, 444 J. M. Hönscheid-Verlag 544 Jahresring. Ein Schnitt durch Literatur und Kunst der Gegenwart 192-194, 315 Kindler Verlag Helmut Kindler Verlag Klarer Kurs 597 Klett-Verlag 565 Klett-Cotta Verlag 647 Kohlhammer-Verlag 170, 259 Kölner Stadtanzeiger 422 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 623 Konkret. Unabhängige Zeitschrift für Kultur und Politik 50, 53, 88, 437, 599-602, 662, 673, 684, 693, 774 Kontakte 486 Krakauer Zeitung 145 Kristall 111 Kultur Die Kultur Kulturpolitische Korrespondenz 424 Kurier 65, 122, 476 Kursbuch 54, 537, 647, 695, 697-701, 703, 766, 769 f., 773 f. La Vie Intellectuel 177 Labyrinth 688 Lancelot 76 Langen Müller Verlag 103 Le Monde 167, 669 Lehmanns Verlag J. F. Lehmanns Verlag Les Temps Modernes 572 Lettres Nouvelles 690 liberal 642, 762 List-Verlag 630 Literarische Welt 143, 171, 544 »Literarisches Kolloquium« 613, 619 Literatur. Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne Die Literatur. Blätter für Literatur, Film, Funk und Bühne Luchterhand Literaturverlag 41, 54, 543, 545, 693, 695, 702, 715 f., 765 magnum 322, 625 Manesse Verlag 243
889
MEDIENREGISTER
März-Verlag 774 Melzer-Verlag 774 Menobò di Litteratura 690 Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken 38, 41, 51, 71, 74-80, 88, 106, 127, 130, 168, 170, 172, 177, 182, 188-204, 211, 213, 241 f., 251, 253 f., 271, 278, 281, 285 f., 288, 297, 300, 307 f., 310, 318, 324, 329 f., 332-334, 352-354, 356, 362, 384, 389, 394 f., 398, 400, 403, 411, 449, 462, 476, 481, 495, 497, 499502, 504-508, 511 f., 515, 520, 526, 530, 547, 555, 571, 578, 585, 623, 641-647, 670, 692 f., 698, 723, 725, 729 f., 741 f., 752, 756, 764, 773, 775 Merve-Verlag 760, 774 Michael. Zeitung des jungen Volkes 175, 179, 182 Monitor 617 f. Münchner Merkur 419, 501, 728 Münchner Neueste Nachrichten 67, 74, 156 Münchner Post 144 Neue Deutsche Hefte , 199 f., 407, 441, 754 Neue Gesellschaft 272, 509 f., 597 f. Neue Hamburger Presse 127 Neue Illustrierte 422 Neue Kritik 673 Neue Politik 221 Neue Ruhr Zeitung 181 Neue Rundschau 75, 77 f., 127, 137, 194-196, 207, 546 f. Neue Weltbühne 593 Neue Zeitbühne 593, 725 Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung 83, 104, 113, 116, 128, 140 f., 171, 201, 251, 291, 300, 349, 374, 406 f., 425, 543, 556, 560 Neue Zürcher Zeitung 192, 355, 639 Neuer Vorwärts 592 Neues Abendland 153, 185, 204-207, 212, 251, 255, 262-265, 268-271, 275-278, 334 f. Neues Deutschland 232, 238, 353, 556, 672, 713 New Leader 201 New Left Review 771
890
Norddeutscher Rundfunk (NDR) 119, 246, 314, 413, 432, 439, 455, 546, 613 f., 617 f. Nordwestdeutsche Hefte 90, 111, 115 Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) 65, 90, 104, 107-122, 126, 228, 243, 247, 253, 284, 291, 306, 320, 354, 360, 406, 432, 457 f., 466 f., 476, 488, 542, 544, 554, 570, 572, 577 f., 580-582, 615, 660 Nürnberger Nachrichten 146, 170, 187, 356, 404, 564 Nymphenburger Verlagsanstalt 41, 61, 104 Ost und West 94-99, 228, 707 Ost-Probleme 186, 485 Pallas 382 Panorama 617 f., 683 Pardon 628 Partisan Review 201 Pinguin 134 Piper Verlag 136 f., 410, 543, 750 Politische Meinung 403 Prawda 556 Preuves 55, 648 Publizistik 577 Quick 384 Radio Bremen 211, 438, 580, 639, 727 Radio Frankfurt 126 Radio Hamburg 112 Radio München 128, 569 Reclam Verlag 518 Reichssender Berlin 110 Reichssender Königsberg 432 Rencontre 55 Report 617 f. res novae 775 Revue Internationale 687 Rheinische Post 146, 243 Rheinische Zeitung 596 Rheinischer Merkur 35, 106, 119, 128, 151-154, 162, 185, 243, 251, 255, 258, 262, 265 f., 268 f., 271, 273, 276, 278, 300, 331, 438, 488, 639, 722, 744, 752 Rheinischer Merkur. Christ und Welt 744 Rhein-Mainische Volkszeitung (RMV) 174
MEDIENREGISTER
Rhein-Neckar-Zeitung 288 rororo-aktuell 51, 676 f., 716 f., 765 rororo-Taschenbücher 134 rowohlts deutsche enzyklopädie (rde) 134, 388, 497, 515, 518-521, 523-528, 563, 697 Rowohlt Verlag 41, 51, 54, 67, 72, 104, 133 f., 141, 171, 285, 287, 314, 353-356, 364, 367 f., 372, 374, 433, 467, 472, 497, 506, 518, 527529, 543, 563-565, 567 f., 573, 601, 622, 707, 712, 716, 765, 772 f. Ruhr-Nachrichten 276 Ruhr-Verlag 567 Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) 124, 556, 582 S. Fischer Verlag 75, 105, 135-137, 194-196, 528, 543, 648, 692, 765, 774, 777 SBZ-Archiv/Deutschland-Archiv 485 Scherl-Verlag 162 Schönere Zukunft 174 Schwäbische Landeszeitung 205 Seewald-Verlag 721, 749, 756 Sender Freies Berlin (SFB) 192, 582, 707 Signal 67 Sinn und Form 96, 99, 192, 225, 234, 710 Skorpion 457, 535 Soldatenzeitung 424, 713 Sonntagsblatt 73 f., 160-162, 243, 290, 314, 342, 366, 559, 653, 744 Sozialistische Politik 590 Springer-Konzern Axel Springer Verlag Springer Verlag Axel Springer Verlag Stahlberg-Verlag 538 Stalling-Verlag 66, 81, 410 Stern 448, 618, 636, 684, 725 Stimmen der Zeit 179, 197, 336 story 134 Studentenkurier 88, 453, 599 f. Süddeutsche Zeitung 63, 81-83, 104, 117, 128, 143-146, 192, 241, 251, 409, 419, 436, 438, 440, 473, 476, 506, 513, 560, 665, 682, 685, 697, 723, 773 Süddeutscher Rundfunk (SDR) 35, 37, 84, 124, 126-128, 193, 243, 246, 359, 396, 458 f., 465, 476, 488, 534, 546, 551, 553 f., 568, 582-584, 587, 605 Südwestfunk (SWF) 124, 182, 268 f., 530, 612
Südwestrundfunk (SWR) 247 Suhrkamp Verlag 41, 53, 105, 135, 137 f., 215, 472, 527, 543, 574, 645, 648, 677, 692 f., 695, 697, 699, 701-703, 706, 716, 765, 770, 773-775 Synopsis. Zeitschrift für europäische Philosophie 170 Tagesspiegel 112, 140, 146, 156, 359, 388, 416 f., 433, 438, 483, 488, 568 Tägliche Rundschau 98, 227, 233 Texte und Zeichen 397, 417, 545 f., 548 f., 551, 587, 688, 693 The Atlantic Monthly 297 The New York Times 143, 350 The Observer 163, 492, 637, 683 The Times Literary Supplement 637 Time Magazine 284 Tribüne. Zeitschrift für das Verständnis des Judentums 737 f. Time Life 365 Ullstein Verlag 133, 305, 439, 749, 765 Umschwung 593 Union Deutsche Verlagsgesellschaft 100 Universitas 172, 304 f., 354, 394, 572 Universum Film AG (Ufa) 110, 368 Urbi et orbi 170 Verlag C. H. Beck 104, 688 Verlag Carl Hanser Hanser Verlag Verlag Erick Stückrath 207 Verlag Eugen Diederichs Diederichs-Verlag Verlag Heliopolis 380, 391, 395 Verlag Henri Nannen 636, 725 Verlag Herder Herder-Verlag Verlag John Jahr 636 Verlag Kiepenheuer & Witsch 138 f., 222, 251, 484, 543, 565, 592, 646, 706, 710,, 712 Verlag Kurt Desch 60 f., 104, 129, 135, 172, 194, 439, 472, 531, 543, 545, 625 Verlag Neues Abendland G. m.b.H 206 Verlag Th. Knaur 407 Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck 155, 744 Voice of America 348 Völkischer Beobachter 140
891
MEDIENREGISTER
Voltaire (Jahrbuch) 705 Voltaire-Verlag 777 Vorwärts 592 Vossische Zeitung 139 Wagenbach-Verlag 770 Walter Verlag 543 Welt am Sonntag 725 Weltbühne Die Weltbühne Werkbund-Verlag 260 f. Werkhefte katholischer Laien (auch: Werkhefte. Zeitschrift für Probleme der Gesellschaft und des Katholizismus) 179, 668 Westdeutscher Rundfunk (WDR) 37, 119, 124 f., 182, 315, 409, 417, 422, 455, 483, 572, 614 Wirtschaftskurve 147 Wirtschaftszeitung 78 Wiso. Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 591
892
Wochenpost 239 Wort und Wahrheit 153 XX. Century/20. Jahrhundert Das XX. Jahrhundert
Zeit und Bild 273 Zeitbühne 725 Zeitenwende 500 Zeitschrift für Politik 473 Zeitschrift für Sozialforschung 588, 695, 701 Zeitung für Deutschland 146, 587 Zinnen-Verlag Verlag Kurt Desch Zu Protokoll 615 Zur Person – Porträts in Frage und Antwort 615 Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) 314, 611, 613-615, 617 Zwischen den Kriegen. Blätter gegen die Zeit 88, 599
Institutionenregister
58er-Bewegung 652, 662 f., 667, 689 Aachener Karlspreis 333 Abendländische Akademie 153, 251, 271-274, 277 f., 721 f. Academia Moralis 80, 242, 392 f. Adenauer-Preis für Publizistik 751 Akademie der Künste, Berlin 48, 232, 416 Aktion Saubere Leinwand (ASL) 627 f. Alfred Toepfer Stiftung F. V. S. 250 Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) 244 Amiga 679 Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise (AdK) 221, 730, 763 Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten (Jusos) 597 Arbeitsgemeinschaft für Auslandsdeutsche 38 ASPEN-Insttut 284 Auslandswissenschaftliches Institut 67, 70 Außerparlamentarische Opposition (APO) 737, 762, 776, 780, 791 Auswärtiges Amt 38, 64, 66, 68, 70, 75, 154, 164, 362 f., 491, 646, 735 Bauhaus 301, 627 Berliner Republikanischer Club (RC) 426, 763, 772 Birklehof (Internat) 43, 182 Büchner-Preis Georg-Büchner-Preis Bühlerhöhe Sanatorium Bühlerhöhe Bund (Wuppertal) 243 Bund der Deutschen 592 Bundesgerichtshof 272 Bundesnachrichtendienst (BND) 141, 206, 594 Bundespresse- und Informationsamt 221, 233 Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 192, 313, 315, 415, 643 Bundesverfassungsgericht 272, 374, 412, 617, 662
Bundeswehr 176, 179, 221, 245 f., 252, 276, 351, 426, 461, 515, 574, 600, 652, 660 f., 667, 700, 745 Bundeszentrale für Heimatdienst/Bundeszentrale für politische Bildung 220-222, 245, 272, 340, 633, 646, 745 Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 242, 645, 747, 756 Central Intelligence Agency (CIA) 204, 487, 647, 700 Centro Europeo de Documentationes (CEDI)/Europäisches Dokumentationsund Informationszentrum 207, 273, 278 Christlich-Demokratische Union (CDU) 39, 117, 119, 153, 158, 175 f., 185 f., 188, 209, 267, 272-275, 294, 297, 299, 434, 461, 508-510, 627, 635 f., 651, 653, 655, 675, 700, 716, 720 f., 729-732, 736, 740, 747, 750-752, 758 Christlich-Soziale Union (CSU) 153, 175, 206, 274 f., 434, 461, 508, 606, 608, 618, 627, 655, 720, 750-752 Club republikanischer Publizisten (CrP) 221, 364, 425 f., 474 Collège d’Europe 333 Collegium Philosophicum 463 Committee for Un-American Activities (McCarthy-Ausschuss) 93, 229, 475, 483, 730 Comunità Europea degli Scrittori (COMES) 692 Darmstädter Gespräche 113, 245, 300, 302 f., 310 f., 319, 354, 466 f., 475, 502, 624 Deutsch-Amerikanische Gesellschaft 350 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 35, 105, 200, 210, 247, 415, 434, 471, 719 Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) 312 Deutsche Bank 149
893
INSTITUTIONENREGISTER
Deutsche Friedensunion (DFU) 377, 601, 663, 678, 685 Deutsche Nationalbibliothek 246 Deutsche Partei (DP) 272, 274 Deutscher Akademischer Auslandsdienst 38 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 244, 568 Deutscher Schriftstellerverband 40, 96, 232, 237, 416, 617, 680, 713 Deutsches PEN-Zentrum Ost und West 234, 472, 675 Deutschland-Stiftung 451, 752 Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 72 Druckerei Gruner & Sohn 636 Europa-Union Deutschland 176, 485 Evangelische Akademie der Landeskirche Kurhessen-Waldeck 486 Evangelische Akademie für Rundfunk und Fernsehen 612 Evangelische Akademie Loccum 243, 306, 403, 656 Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) 221, 270, 635, 655 f., 746 Evangelische Studentengemeinde (ESG) 705, 772 Evangelische Studiengemeinschaft 572 Evangelisches Hilfswerk Hilfswerk der Evangelischen Kirche Ford Foundation 203 f., 350 Frankfurter Buchmesse 105, 247, 249, 514, 621, 772 Frankfurter Institut für Sozialforschung Institut für Sozialforschung Frankfurter Schule 23, 105, 226, 251, 479, 499, 573 f., 577 f., 581, 588, 636, 704, 737, 771, 791 Freideutscher Kreis 42, 61 f. Freie Akademie der Künste, Hamburg 114 Freie Demokratische Partei (FDP) 166, 188, 267, 414, 434, 461, 633 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 96, 473, 599 f., 679 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) 591 Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) 627
894
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 105, 249, 260 Front National de Libération (FNL) 668 Georg-Büchner-Preis 248, 456, 719 George-Kreis 81, 322 Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) 188, 555 Gesellschaft für internationale Publizistik m. b. H. 203 f. Godesberger Programm 180, 212, 598, 650, 663, 681, 700, 780 Goethe House, New York 741 Goethepreis 76, 247, 249 f., 288, 402 Göttinger 18 666 Grünwalder Kreis 211, 422-425, 433, 439 f., 474, 545 Gruppe 47 40, 48, 84, 104, 113, 121 f., 135 f., 140, 149, 178, 190, 193, 217, 248, 250, 291, 293, 317, 340, 388, 395, 415, 417, 421-423, 435, 438, 457, 461, 470, 478, 494, 529, 535-541, 543-545, 547-553, 555, 563 f., 573 f., 599, 601, 603, 613 f., 619, 623, 630 f., 637 f., 640, 642, 660, 669, 676 f., 680, 683-685, 693 f., 702 f., 706, 708, 711, 717, 719, 752, 763, 766, 768770 Harich-Gruppe 237, 239 Hilfswerk der Evangelischen Kirche 69, 154, 156 Humanistische Studentenunion (HSU) 705, 771 Humanistische Union 607, 705 Institut für Demoskopie Allensbach 286, 635 Institut für Sozialforschung 46, 105, 126, 171, 178, 413, 454, 477, 573 f., 578, 689, 715 Institut für Zeitgeschichte 49, 206, 222 Internationale Hegel-Gesellschaft 239 Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK) 127, 203, 465, 595 f. Johannes R.-Becher-Institut 229 Jüdischer Weltkongress 740 Jungenschaft d. j.1.11 129 Kampagne »Kampf dem Atomtod« 601, 652, 654, 656, 658 f., 662, 664, 667, 687
INSTITUTIONENREGISTER
Katholikentag 120, 175, 269 f. Katholische Junge Mannschaft 179, 267 f. Katholische Studentengemeinde (KSG) 772 Kinsey-Report 316, 346, 499, 523 Kölner Mittwochsgespräche 372, 574 Kommunistische Internationale 765 Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) 221, 227, 236, 246, 487, 489, 603 f., 649 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 96, 110, 203, 220 f., 226, 368, 425, 465, 473, 477, 565, 591, 594 f., 600, 602-604, 628, 673, 676 Kommunistische Parteiopposition (KPO) 99 Kongress für Kulturelle Freiheit/Congress for Cultural Freedom (CCF) 55, 102, 203 f., 210 f., 222 f., 251, 254, 299, 339, 419, 425, 431, 476, 481-490, 496 f., 541, 571, 574, 646, 648, 667 Kritische Theorie 304, 309, 519, 573, 589, 673, 694 f., 701, 703, 705, 715, 771, 775 Kronberger Kreis 161 Kulturbund 91, 96, 228, 230, 232-234, 468, 470 Kulturkreis (der deutschen Wirtschaft) im BDI e. V. 192, 313, 315, 415, 643 Kuratorium Unteilbares Deutschland 745
Neu Beginnen 203 Neue Linke (auch New Left, Nouvelle Gauche) 648-652, 657, 664, 667-669, 673, 686 f., 694, 703 f., 715 f., 719, 759, 762 f., 765 f., 771 f. North Atlantic Treaty Organization (NATO) 255, 683, 750 Odenwaldschule 43 Office of Military Government for Germany, US (OMGUS) 85 Organisation Consul (OC) 367, 369 Organisation Gehlen 119, 128, 141, 144, 206 Otto-Suhr-Institut, FU Berlin (OSI) 772, 776 Parti communiste français (PCF) 287, 602 Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) 762 Partito Socialista Italiano (PCI) 602 PEN-Zentrum 40, 45, 48, 96, 105, 210, 234, 443, 468-472, 606, 671, 675, 685 f., 741 Politische Akademie Tutzing 277, 634 Preußische Akademie der Künste 248, 582 Pulitzer-Preis 18
Marburger Schule 715 Ministerium für gesamtdeutsche Fragen 212, 246, 470, 484, 567, 634, 674 Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 237, 239, 673, 707, 710 Mittwochsgespräche Kölner Mittwochsgespräche Mont Pèlerin Society 463
Ranke-Gesellschaft 394 Reichsschrifttumskammer 432 Reichssicherheitshauptamt 70, 410, 741 René Schickele-Preis 540 Republikanischer Club (RC) Berliner Republikanischer Club (RC) Reuchlin-Gesellschaft 244 Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) 186, 508, 751 Rockefeller-Stiftung 279, 350 Römerberg-Gespräche 245 Rote Armee Fraktion (RAF) 771, 777 Rundfunkrat (BR) 409, 606-608 Rundfunkrat (SDR) 553 Rundfunkrat (SWF) 124
Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 699, 722, 750 Nationale Rechte (Organisation) 414 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 67, 113, 139, 164, 367, 374, 425, 491, 565, 653, 741
Salem (Internat) 43 Sanatorium Bühlerhöhe 197, 241 f., 383 Schriftstellerverband Deutscher Schriftstellerverband Schutzstaffel (SS) 68 f., 407, 410, 426, 741 f. Sicherheitsdienst (SD) 66 f., 742
Lessing-Preis 249 f. Liberaler Studentenbund Deutschland (LSD) 772
895
INSTITUTIONENREGISTER
Siemens-Stiftung Carl-Friedrich-vonSiemens-Stiftung Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 98, 233 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 99 f., 115, 139, 146, 178, 180, 182, 188, 205 f., 208, 238, 267, 294, 404, 410, 422-424, 440, 473, 476, 486, 530, 555 f., 591 f., 594-597, 601, 612, 633 f., 650-652, 658, 661-665, 668, 674, 677 f., 681, 684, 693, 700, 703, 717-719, 735, 739, 751, 762 f., 768, 781, 783, 787 Sozialdemokratischer Hochschulbund (SHB) 772 Sozialforschungsstelle Dortmund 350, 575 Sozialistische Arbeiterpartei 203 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 91, 95, 97, 176, 226 f., 230, 233, 237 f., 444, 466, 564, 591, 604, 628, 634, 652, 663, 670-676, 678 f., 707, 710, 712 f. Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) 182, 601, 663, 668, 673, 703-705, 761, 763, 768, 771, 777, 782 Spiegel-Bestsellerliste 52, 621, 691 Staatliches Rundfunkkomitee 232
896
Studienstiftung des deutschen Volkes 38 Sudetendeutsche Landsmannschaft 74, 273, 424 Tat-Kreis 35, 38, 66, 70 f., 158, 181, 196, 244, 271, 307, 314 f., 340, 381, 398, 408, 785 Thyssen-Stiftung 747, 786 Vereinigung Deutscher Schriftstellerverbände 416 Vereinte Nationen (UN) 158, 328, 699, 720 Waffen-SS 385, 426 Wandervogel 42, 62 Weltkirchenrat 572 Wiener Kreis 537 Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947 e. V. (WIPOG) 148 f. Wirtschafts-Wissenschaftliches Institut (WWI) 590 Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) 175 Zentralrat der Juden in Deutschland 222