Weltstädte und ihre Bewohner: Paris, London, Berlin, Rom, Wien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Rieß [1 ed.] 9783428545742, 9783428145744

Robert Michels legt Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Schweiz eine Reihe von Städteporträts vor, in dene

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German Pages 63 Year 2014

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Weltstädte und ihre Bewohner: Paris, London, Berlin, Rom, Wien. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Rieß [1 ed.]
 9783428545742, 9783428145744

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ROBERT MICHELS

Weltstädte und ihre Bewohner Paris, London, Berlin, Rom, Wien Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rolf Rieß

Duncker & Humblot

ROBERT MICHELS

Weltstädte und ihre Bewohner

Weltstädte und ihre Bewohner Paris, London, Berlin, Rom, Wien

Von

Robert Michels

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rolf Rieß

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlag: Berlin, Straßenverkehr auf dem Kurfürstendamm 1928 (© ullstein bild – Herbert Hoffmann) Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14574-4 (Print) ISBN 978-3-428-54574-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84574-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Rom als Großstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Die Wissenschaften von den Weltstädten. Nachwort von Rolf Rieß . . . . . . 48 Verzeichnis der Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Zu Autor und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Paris Paris ist eine alte, historische Stadt. Wer indes den Werdegang von Paris im Laufe der Ereignisse verfolgt, indem er sich die Stadt in ihrer außerordentlich geschehnisreichen Entwicklung veranschaulicht, der wird sich der Erkenntnis nicht verschließen können, daß, verglichen mit der großen Mehrzahl der übrigen Kapitalen in Europa, Paris eigentlich vornehmlich durch die Standhaftigkeit, den Mut und die Arbeitsamkeit seines Bürgertums groß geworden ist. Zwar hat Paris in seinem Schoße große und bedeutende Herrscherfamilien beherbergt. Es ist die Stammburg gewesen einmal der Merowinger, später der Kapetinger, dann der Valois, endlich der Bourbonen. Aber die eigentliche Quintessenz der Geschichte von Paris liegt eben doch in der selbstgewordenen bürgerlichen Verfassung und ich möchte hinzusetzen, in der selbstgewordenen geistigen Verfassung der Stadt. Es haben zwar die Dynastien in Paris blühende Reste ihrer Größe hinterlassen. Dennoch liegt aber Paris in der Sphäre des Bürgerlichen, wenn auch des Majestätischen. Was der Stadt Paris am meisten und innersten zu eigen ist, rührt zweifellos nicht allein von den Königen her, die ja, insbesondere seit Ludwig XIII., Paris mehr und mehr flohen und sich in dessen Umgebung aufhielten, sondern von dem stets gleichbleibenden Geist der Pariser in ihrem Gemeinwesen. Was da in Paris zusammengebaut und auch geistig zusammengebraut worden ist im Laufe der langen und glänzenden Geschichte der Stadt, trägt die ganz starken Charakteristiken von Nord und Süd. Ich möchte in der Synthese von nördlichem und südlichem Geist die zweite Wesenheit dieser Stadt erblicken. In Paris trifft sich Nord und Süd in nicht zu überbietender Synthese. Paris liegt auf der Schnittfläche gräko-romanischer und germanischer Kulturform, vereint und originalisiert durch den festen Kitt unveräußerlichen bodenständigen Keltentums. Das ergibt sich schon rein äußerlich aus dem Städtebild. Wer von Norden her kommt, den mutet Paris an als eine helle Stadt des Südens,

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mit brennendem, lebendigem Geiste erfüllt. Der Historiker Galliens, Camille Jullian, hat von Gallien gesagt: „Dort erhält der Nordländer zum erstenmal Einblick in die Welt des Südens mit ihren herzerfreuenden warmen Stimmungen, während die Mittelmeerrassen zum erstenmal einen Einblick in die Mysterien nördlicher Himmelstriche erhalten.“ Die Entstehung des Gedankens, daß durch den zu starken Einzug südlicher Elemente die Stadt ihres autochthonen Charakters verlustig gehen werde, ist nicht verwunderlich. Selbst zur Mitbegründung eines außenpolitischen Postulates hat der starke Zuzug aus den Provinzen des Südens Anlaß gegeben. Haben nicht Barrès und Wetterlé darauf hingewiesen, welch günstigen Einfluß auf die nötige Contre-Balancierung die erwartete Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens ausüben würde? Paris ist nicht nur Hauptstadt, sondern in gewissem Sinne die Stadt Frankreichs. In Frankreich halten Marseille und Lille, Saint-Etienne und Bordeaux, Dijon und Toulouse keinen Vergleich mit Paris aus. Unter den französischen Städten nimmt Paris eine völlig privilegierte Stellung ein. Während die übrigen Städte in ihrer Bevölkerung stationär bleiben, wächst die Bevölkerung von Paris ständig an. Ihr Wachstum ist dabei freilich nicht eigenem Geburtenüberschuß, sondern steter Einwanderung von außen zu verdanken. Paris ist auch Frankreichs geistiger Mittelpunkt. Zunächst als Hochschulsitz. Über zwei Fünftel der gesamten französischen Studentenschaft studiert in Paris. In Berlin ist höchstens ein Siebentel der deutschen Studenten immatrikuliert, in Rom etwa ein Achtel der Musensöhne Italiens. Die Universität Londons zählt höchstens ein Sechzehntel der Studierenden Groß-Britanniens. In noch höherem Grade ist Paris als Sammelpunkt der Intelligenzen maßgebend. Nicht alle großen Franzosen werden in Paris geboren. Aber alle großen Franzosen enden dort. Paris gleicht einer unendlichen Zentralwerkstatt, die alle Meister, vielleicht schon alle Gesellen des Landes zu sich ruft. In der französischen Metropolis findet eine Akkumulation der nationalen Geistigkeit statt, wie man sie in den Hauptstädten der andern Länder schlechterdings nicht kennt. Der konzentrischen Gestaltung des geistigen Lebens in Frankreich steht die Dispersion des geistigen Lebens in den meisten andern Ländern gegenüber. Das gilt zumal für die Engländer. In Belgien teilt Brüssel den Rang mit Gent und Brügge, Lüttich und Mons, Antwerpen und Mecheln. In

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Deutschland hat das entlegene Königsberg zeitlebens einen Kant, das kleine Weimar längste Zeit einen Goethe zu seinen Bürgern zählen können. Es hieße sich aber als in französischen Dingen völlig unwissend ausweisen, wollte man die Frage stellen, wo dieser oder jener französische Gelehrte, Schriftsteller oder Künstler wohnhaft sei. Eine solche Frage würde den Ausländer vor dem Franzosen bloßstellen. Ein Franzose kann in der Provinz geboren werden. Aber wo in der Welt könnte ein hervorragender Franzose sonst wohnen als in Paris? Die Ausnahmen von der Regel beschränken sich auf wenige Fälle wie Frédéric Mistral, der seine heimische Provence allem Glanz der Hauptstadt vorzog. Aber im ganzen sind die Versuche des Regionalismus und der Los-von-Paris-Strömung, wie sie auch noch besonders von der Languedoc (Toulouse) sowie Französisch-Flandern (Lille) ausgingen, nicht geglückt. Paris hat vorläufig seine absolute Hegemonie auf der ganzen Linie zu wahren verstanden. Die höhere Intelligentia Frankreichs unterliegt immer noch der Anziehungskraft von Paris. Heute noch können auf Paris die Worte wiederholt werden, die im Zeitalter Ludwig XIV. von Vauban, dem Verfasser der Dîme Royale, ausgesprochen wurden: „Paris, aujourd’hui encore, reste le vrai coeur du Royaume, la mère commune et l’abrégé de la France“ („Paris ist heute noch das wahre Herz des Königreichs, die gemeinsame Mutter und sozusagen die Abkürzung für den Begriff Frankreich“). Fernerhin ist Paris Fremdenstadt, Ausländerstadt. In der Tat waren in Paris schon vor dem Weltkrieg 28.000 Belgier, 24.000 Deutsche, 20.000 Schweizer, fast 22.000 Italiener ansässig. Diese Zahlen geben übrigens noch kein klares, sachliches Bild, da erstens eine große Anzahl von Ausländern sich freiwillig naturalisieren läßt, andererseits aber auch die französische Gesetzgebung insbesondere die Ausländerkinder sehr schnell zu Franzosen umzustempeln versteht und infolgedessen viele Ausländer, die gesetzlich Franzosen sind, in den statistischen Ziffern nicht mit zum Ausdruck kommen. Eine der Größen von Paris besteht aber nun allerdings darin, daß es die Ausländer zu packen und sich ihnen zu verbinden versteht. Der Franzose empfindet den Unterschied zwischen sich selbst und dem Fremden eben viel weniger als der Engländer, der Deutsche oder der Italiener. Der französische Geist trägt sich, trotz seinem ausgesprochenen Nationalgefühl und seiner geringen Kenntnis der geistigen

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Verhältnisse des Auslandes, mit hohen internationalen Ideen von Gerechtigkeit und Verbrüderung, ist außerdem dankbar für jeden Versuch des Ausländers, sich französischer Art zu nähern, und erleichtert auf diese Weise dem Fremdling das psychologische Einfühlen in das französische Wesen außerordentlich. Vielleicht ist auch die ethnisch noch keineswegs überwundene Vielgestaltigkeit des französischen Volkes mit seinen gallischen, römischen und germanischen Grundelementen wie keine andere geeignet, anzuziehen und die Einschmelzung des Ausländers zu beschleunigen. Wie dem immer sei, an der Absorptionsfähigkeit hier wächst die Assimilationsfähigkeit dort. Der Kenner der französischen Geschichte weiß, ein wie hoher Prozentsatz derjenigen, welche Paris nicht nur sein künstlerisches, sondern auch sein politisches Gepräge gegeben haben, ausländischer Herkunft, ja ausländischer Geburt war. Wir nennen nur einige Namen: Mazarin und Gambetta, sowie der Marschall Moritz von Sachsen in der Politik und im Heerwesen, Grimm in der Literaturgeschichte, Lulli und Gluck in der Musik, Holbach in der Philosophie, Zola und Huysmans im Roman. Die Ausländer suchen in Paris, neben dem kosmopolitischen Schwung und neben der Politik, noch etwas anderes, das Leben selbst. Wenn sich der Bildungshungrige nach Wien und Berlin begibt, wenn er Studiosus rerum coloniarum nach London geht, wenn der Kunstjünger nach Rom wandert, so sehen wir Paris zum eigentlichen Zielpunkt einer noch weiter differenzierten Schar von Pilgerzügen werden. Paris ist der Mittelpunkt derer, die leben und streben wollen. Männer wie Heine, Börne, Chopin, d’Annunzio suchten und fanden in Paris die beste Stätte ihrer Arbeit. Diese Stadt ist nicht nur eine politische Zufluchtsstätte wie London, wo die Fremden als heterogene Bestandteile unverschmelzbar verharren, nicht nur ein großes Stück wissenschaftlicher und staatlicher Organisationskunst, wie Berlin, nicht nur eine heitere Vergnügungsstätte wie Wien, sondern eine nahezu vollständige Synthese dieser Vorzüge, ausgestattet mit noch einem Weiteren, das den andern Städten abgeht, nämlich eben dieser Möglichkeit des völligen Eindringens und Aufgehens in der Fülle der Erscheinungen der neuen Umwelt. Dieses wird den Fremden noch durch einen weiteren Umstand erleichtert: die pekuniäre Zugänglichkeit fast aller Kunstgenüsse, wie zum Beispiel die Billigkeit bestimmter Platzkategorien in fast allen Pariser Theatern. Man kann

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sagen, daß am Tische der französischen Kultur für alle Gesellschaftsklassen und alle Volksgemeinschaften Platz ist. In Paris läßt sich nicht nur wohlfeil, sondern wohlfeil (und gut) zugleich, leben. Der Künstler und Student, der nur über geringe Mittel verfügt, empfindet sich kaum irgendwo so frei und so wenig über die Achsel angesehen, so sehr in seinem Element, als in Paris. Ein Stadtteil von Paris, das sogenannte Quartier Latin, so genannt weil es die Universität, deren Teil die Sorbonne ist, in sich schließt, dürfte einer besonderen Betrachtung wert sein. Es ist ganz der studierenden Jugend und ihren Zwecken gewidmet, und ich wage beinahe zu behaupten, daß man die Bewohnerschaft dieses herrlichen Quartiers in drei Teile teilen könnte, die alle gleichmäßig das Buch zum Mittelpunkt ihres Lebens haben: diejenigen, die die Bücher schreiben, diejenigen, die die Bücher lesen, diejenigen, die die Bücher verkaufen. Der starke Durchzug reisender Ausländer hat Paris vielfach in den üblen Ruf gebracht, eine Vergnügungsstadt, eine „ville de plaisir“ zu sein. Hat doch schon im 18. Jahrhundert Mercier Paris als „la guinguette du monde“ bezeichnet. Insbesondere ist Paris durch die notwendige Ansammlung von Vergnügungslokalen in den Geruch gekommen, eine unsolide und unmoralische Stadt zu sein. Ganz besonders hat hierunter die Pariserin selbst gelitten, nicht ohne Mitschuld einer großen Zahl von Romanciers französischer und Pariser Herkunft, die durch Schilderungen der Sitten der Pariser Frauen und Mädchen die Leserwelt für ihre Werke zu interessieren suchten, vielleicht um sich dadurch einen günstigen Absatz zu verschaffen. Henri Becque hat in einem ausdrücklichen „La Parisienne“ betitelten Drama die Pariserin als Ausbund aller Untugenden geschildert. So kam es dann, daß, wie Prezzolini treffend bemerkt hat, der griechische Bankier, der russische Fürst, der Sohn des brasilianischen Sklavenhändlers, der deutsche Urning, der lasterhafte englische Baronet und der italienische Überästhet sich einbildeten, in gewissen Machwerken der Boulevardliteratur wirklich das Geheimnis der französischen Seele entdeckt zu haben, während sie bei Lichte besehen darin nichts als den Reflex ihrer eigenen Seele erschauten, und dann, wenn sie in eigener Person nach Paris kommen, in allem was sie dort sehen, nur sich selbst wiederfinden.

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Wie steht es in Wirklichkeit mit der französischen Frau? Mehr als in allen übrigen Zentren der Welt besitzt Paris ein wirtschaftliches, ästhetisches, gesellschaftliches und politisches Merkmal der Stadt in der ausgesprochenen Eigenart seiner Frauen. Der hervorragende Charakterzug der Pariserin ist die natürliche, am Leben geschärfte Klugheit, mit der sie vielfach ein reges Herz, einen gesunden Sinn für bienséance (Wohlanstand) und ein lebendiges Gefühl für geistige Treue verbindet. Wer die Rolle der französischen Frau, insbesondere der Pariserin, im Leben betrachtet, schöpft mit Leichtigkeit zahlreiche Beweise für die Richtigkeit einer derartigen Anschauung. Die Französin ist in hohem Grade zu privatwirtschaftlichem Ordnungssinn und Ordnungsliebe befähigt. Sie ist eine sorgsame Arbeiterin und gestrenge Lehrerin in der Arbeit. Sie versteht eine gute, sparsame, berechnende Wirtschaft zu führen und ist, wie auch von deutscher Seite schon bemerkt worden ist, in gewissem Sinne der als musterhafte Arbeiterin dargestellten Berlinerin verwandter als der Wienerin, während der Mann häufig in privater oder auch öffentlicher Anstellung anderer Arbeit obliegt, indem er der Frau die häuslichen Finanzen in strenger Arbeitsteilung überläßt. In der Hauswirtschaft insbesondere bewährt sich die Pariserin als treffsichere Führerin der Geschäfte. Sie ist eine „admirable femme de foyer“. Die französische Frau ist auch ein ganz besonders lebhaft tätiges Glied des französischen Wirtschaftskörpers in weiterem Sinne. Wesentlich wäre festzustellen, inwiefern die berufliche Tätigkeit der Pariser Frau über die berufliche Tätigkeit der übrigen Frauen hinausragt, wie viele Pariserinnen in Handel und Gewerbe an führender Stelle tätig sind. Es besteht für mich kein Zweifel, daß diese Zahl gewiß größer ist als die entsprechende Zahl in den übrigen Kapitalen. Hier bietet sich uns ein Bild der Arbeitsamkeit und des Ernstes. Einige statistische Angaben mögen das belegen: In Frankreich zeichnen sich die Frauen als selbstständige Leiterinnen von Handelsgeschäften aus. Nach einer offiziellen Statistik des Ministère du travail in Paris gab es 1908 an eine Million (933.365) französische Frauen (verheiratete, unverheiratete, verwitwete, geschiedene), die als Chefs d’etablissements, Geschäftsinhaberinnen tätig waren, außerdem wurden 748.000 Frauen gezählt, die auf eigene

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Rechnung wirtschaftliche Tätigkeit ausübten (wohl Einzelselbständige). Als Leiterinnen von Warenhäusern (Madame Boucicaut vom Bon Marché) und großer Champagnerfirmen (Madame Pommery in Reims) haben die Frauen auch in größtem Stil organisatorisch Bedeutendes geleistet. Die Klarheit in der Geschäftsleitung, die ihnen nachgerühmt wird, mag zum Teil Resultat der französischen Schulbildung sein, die auf Fächer wie Arithmetik und Buchhaltung großen Wert legt, ist indes auf der anderen Seite auf die frühe Emanzipation der Französinnen, besonders der großstädtischen, zurückzuführen, von denen schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts gesagt werden konnte, außer zum Kriegsdienst seien sie zu allen Männerarbeiten willens und fähig. Bezeichnend ist, daß auch der überwiegende Teil der auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko Arbeit vermittelnden Personen (die façonnières und tâcheronnes) in Paris Frauen sind. Indirekte Beweise für den Arbeitswert der französischen Frauen sind namentlich der gewaltige, solide, enorme Reichtum, jene Produktivität auf so vielen Gebieten des industriellen und künstlerischen Lebens, das ihr zu eigen ist. Der „article de Paris“ ist ihr Produkt, das Erzeugnis ihrer Präzision, ihrer Fingerfertigkeit, ihres Fleißes. Alles das spricht die beredte Sprache für die Unmöglichkeit des Vorhandenseins von sittlicher Fäulnis in weiterem Maße. Die Pariserin übt einen gewaltigen Einfluß auch auf die Wissenschaft, auf die Künste und die Politik, und wir dürfen ruhig sagen, daß der Einfluß der Pariserin auf diese Gegenstände der männlichen Beschäftigung im allgemeinen sehr nützlich gewesen ist. Das mag selbst für Madame de Pompadour gelten, welcher die historische und sittliche Kritik gewiß alles mögliche nachsagen kann, die aber während die offiziellen Königinnen in Frankreich als Ausländerinnen entweder beiseite standen oder aber vielfach eine unfranzösische Politik getrieben haben, mit kräftiger Hand eine völlige Neuordnung der französischen Außenverhältnisse auf der Grundlage einer dauernden Aussöhnung mit dem habsburgischen Erbfeinde erstrebte. Tiefer noch als die Liebe zur Politik und zur Wissenschaft dringt aber bei der Pariserin die Liebe zur Kunst und zur Literatur. Diese hat selbst die niedern Volksklassen ergriffen. Ein deutscher Publizist, der heute eine der größten Berliner Zeitungen redigiert, hat vor etlichen Jahren seinem Erstaunen darüber einmal Ausdruck gegeben, wie viel Anregung in der Pariser Luft läge. Es sei schlechterdings fast un-

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möglich, dort gänzlich stumpf zu werden. Ohne es zu wissen, saugten dort auch die jungen Arbeiterinnen täglich tausend verschiedene Anregungen ein, ihr Interesse für mancherlei Dinge, die nicht zu ihrer täglichen Arbeit gehören, werde geweckt. Man erwirbt sich in diesen Kreisen eine kleine, dünn aufgetragene, oberflächliche Bildung, aber diese kleine oberflächliche Bildung verhindert doch diese Mädchen, blinde und taube Lasttiere zu werden. Als ein weiteres Charakteristikum der Pariser Bevölkerung möchten wir jene Fähigkeit zur Metamorphose erwähnen, die sich stets von neuem in ihr geltend macht. Man muß gewiß zugeben, daß die der Lust, der Freude gewidmete Zeitspanne im Leben des Pariser Volkes vielleicht größer bemessen ist als die gleiche Zeitspanne im Leben des Londoner Cityman oder des Berliners oder selbst des Wieners. Aber wir sehen anderseits doch, daß sich durch alle Zeiten hindurch für das französische Volk etwas Ähnliches ergibt, wie es Voltaire in der „Henriade“ bei seinen höfischen Zeitgenossen konstatiert hat, nämlich, daß es in seinem Charakter liege, zwar eine gewaltige Zeit hindurch bei Spiel und Tanz zu verweilen, aber bei alledem nicht aus der Art zu schlagen und in dem Augenblick, in dem das Leben höhere Aufgaben stellt, Spiel und Tanz im Stiche zu lassen und sich jenen unter Aufopferung der eigenen Interessen restlos zu widmen. Wir wissen, daß die „Gentilhommerie“ sich einst im Dienste der Könige verblutet hat. Die Geschichte der französischen Revolution lehrt, daß die geringer gewordene finanzielle und moralische Widerstandsfähigkeit bei der Aristokratie Frankreichs auf deren starken beständigen Aderlaß und deren stetiges Ärmerwerden im Dienste des Vaterlandes zurückzuführen ist. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der französischen Bourgeoisie. Diesen unerschütterlichen Mut in den größten Bedrängnissen beweist das Pariser Volk bei allen Begebungen der Kriegszeiten immer wieder aufs neue. Wenn Paris absolut das politische und das geistige Zentrum Frankreichs ist, wenn von hier aus zündende Funken sprühen und die französische Kultur ohne Paris nicht zu denken ist, freilich auch nicht ohne die Provinz, so ist Paris andererseits keineswegs auch das geographische Zentrum Frankreichs. Die Kapitale Frankreichs ist exzentrisch gelegen. In der Nähe der flämischen und deutschen Grenze und des englischen Grenzmeeres der Nordsee befindlich, hat Paris alle Gefahren und Bedrängnisse, alle Schwierigkeiten einer derartigen

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Lage zu ertragen gehabt. Es ist allein im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts dreimal von feindlichen Heeren besetzt worden. Indessen ist Paris nicht nur das Zentrum für Frankreich, Paris ist in gewissem Sinne auch das Zentrum der Welt geblieben. Dem ist so seit jener Zeit, da es einem großen Bourbonenfürsten gelang, französisches Wesen, Pariser Geschmack und Pariser Mode maßgebend zu machen, bis in unsere heutigen Tage, wo dieser Pariser Geschmack die gesamte Welt, auch die neue erobert hat. Paris ist die Beherrscherin der Mode im weitesten Sinne geblieben. Die Versuche einer Emanzipation in der Damenkleidung, wie sie von Nachbarländern gemacht worden sind, sind mehr oder weniger gescheitert. Die Pariser Expansion auf dem gesamten Gebiete des Geschmacks, von den Möbeln und vom Schmuck bis zu der eigentlichen Eleganz des Geistes, welche in jener Proportion zwischen dem geistigen Wollen und dem geistigen Können besteht, jener feinen Art der Inbeziehungssetzung zwischen dem Persönlichen und dem Generellen, jener Durchsichtigkeit, jener Transparenz der Äußerung des französischen Gefühles und des französischen Gemütes, welche sich mehr wie jede andere Eigenart vielleicht dazu eignet, in gewissem Sinne lebhaft tätig zu sein, steht trotz gewaltigen Erfolgen anderer Völker auf diesem Gebiete noch unübertroffen da.

London London ist eine alte Stadt. Ihre Gründung läßt sich vor die Römerzeit zurückführen. Die bedeutendste Eigenschaft Londons besteht darin, erst die Hauptstadt Englands, dann Großbritanniens, endlich die des britischen Imperiums geworden zu sein. Was das bedeutet, lehrt jeder tiefere Blick in die Geschichte der Weltkultur und der Weltmacht. Während Frankreich zur Zeit der französischen Revolution sein gewaltiges Kolonialreich fast vollständig verloren hatte und nach der napoleonischen Episode erst langsam wieder anfangen mußte, sich mit ganz neuen Elementen ein neues, nirgendwo überwiegend französisches Kolonialreich zu zimmern; während Holland in Afrika und Amerika wie im asiatischen Vorderindien ebenfalls seiner Besitzungen verlustig ging, und heute auf den Besitz von niederländisch Hinterindien angewiesen ist; während Deutschland und Italien wohl Millionen ihrer Söhne nach anderen Weltteilen, zumal nach Amerika, entsandten, die indes ob des historisch verspäteten Eintretens als auch des Mangels einer hinter ihnen stehenden vaterländischen politischen Macht deshalb dazu verurteilt waren, ihre Sprache und Nationalität allmählich einzubüßen und zu Kulturdünger für andere Nationen zu werden, ist England und seiner Auswanderung ein besseres Schicksal zuteil geworden. Nirgendwo in der Welt leben heute Briten als fremde Untertanen unter fremder Flagge. Die Union Jack hingegen weht über ein immenses Reich, in dem die Sonne nicht untergeht und das von allen Rassen, von den Engländer und Schotten bis zu Franzosen und Holländern, sowie von Indern und Negern bewohnt wird. Zwar hat auch England einen Teil seines ehemaligen Kolonialreichs ebenfalls verloren: wir spielen auf die Vereinigten Staaten Nordamerikas an. Aber dieser Verlust war, bei Lichte besehen, nichts anderes als die Entstehung eines zweiten, ebenso mächtigen britischen Imperiums, in neuen Formen, aber unter Beibehaltung des eigentlich Wesentlichen im Gang des Völkerlebens: Sprache und Kultur, die in Washington ebenso englisch sind, als in London und Canterbury.

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Die große Wirtschaftsmacht Englands, die durch die Nachkriegsentwicklung Amerikas allerdings im Welthandel an die zweite Stelle gedrängt worden ist, beruht heute ganz wesentlich, und in der Unternehmerschaft fast allein, auf englischer Arbeit. Das war nicht immer so. Das englische Mittelalter hat sich bis tief in die Renaissance-Periode hinein geradezu typisch in seiner Wirtschaft von Ausländern beherrschen lassen. Zuerst haben Lombarden und Florentiner die Wirtschaft besorgt. Erstere leiteten die englischen Finanzen und haben in der Benennung der in der City gelegenen Lombardstreet noch heute ihre Spuren hinterlassen, letztere, die später von Flamen abgelöst wurden, hatten sich auf Jahrhunderte des Woll- und Tuchhandels bemächtigt. Zu ihnen gesellten sich die Deutschen. Nachdem einzelne deutsche Kaufleute, namentlich die von Köln, schon lange zwar mit den Engländern in Handelsverbindungen gestanden waren, gründeten sie endlich im Jahre 1250 auf die Einladung des Königs in der Hauptstadt London jenes unter dem Namen Stahlhof (steel-yard) berühmte Comptoir, das anfänglich so großen Einfluß auf die Beförderung der englischen Kultur und Industrie übte, bald aber große Nationaleifersucht erregte, und 375 Jahre nach seiner Entstehung bis zu seiner erfolgten Auflösung zu heftigen und langen Kämpfen Veranlassung gab. „Der englische Handel“, sagt Hume, „war vormals ganz in den Händen der Fremden, besonders aber der Easterlings, welche Heinrich III. als Korporation konstituiert, ihnen Privilegien erteilt und sie von Beschränkungen und Einfuhrzöllen, denen andere fremde Kaufleute unterworfen gewesen, befreit hatte. So unerfahren im Handel waren damals die Engländer, daß von Eduard II. an die Hansen, bekannt unter dem Namen die ,Kaufleute des Stahlhofes‘, den ganzen auswärtigen Handel des Königreichs monopolisierten. Da sie dazu nur ihre eigenen Schiffe verwendeten, so befand sich auch die englische Schiffahrt in einem sehr elenden Zustande.“ England war damals den Hansen, was später Polen den Holländern oder Deutschland den Engländern geworden ist; es lieferte ihnen Wolle, Zinn, Häute, Butter und andere Bergwerks- und Agrikulturprodukte und nahm dagegen Manufakturwaren. Die Rohstoffe, welche die Hansen in England und in den nordischen Reichen erhandelt hatten, brachten sie nach ihrem Etablissement in Brügge (errichtet 1252)

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und vertauschten sie hier gegen belgische Tücher und Manufakturwaren und gegen die aus Italien kommenden orientalischen Produkte und Fabrikate, die sie hinwiederum nach allen an den nordischen Meeren gelegenen Ländern verführten. Soweit Friedrich List. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die komplizierten Ursachenreihen, aus denen heraus England seit den Zeiten der Königin Elisabeth nicht nur seine Wirtschaft in seine eigenen Hände nahm, sondern, und zwar immer von seinem politischen Machtzentrum London aus, sich zum vornehmsten Warenexport- und Schifftransportland in Europa aufschwang, auseinanderzusetzen. Nur einige Andeutungen mögen genügen. Durch die Stipulierung und Festhaltung der Navigationsakte durch Cromwell und seine Nachfolger legte England den Grund zu seiner Machtstellung auf der See. In der Zeit des aufkommenden Maschinismus trat England auch industriell an die Spitze der Nationen. Hier wirkten die Intelligenz seiner Erfinder, der Reichtum an den nunmehr grundlegend werdenden Produktionshilfsstoffen wie Kohle und Erz, später auch die Intelligenz und Routine seiner Arbeiterschaft und der diese zusammenfassenden und gegen etwaige unternehmerische Übergriffe schützenden Trade Unions-Bewegung. Krönung des ganzen war das Prinzip des Freien Handels, das den wirtschaftlichen Interessen der den übrigen europäischen Produktionen an Billigkeit und Qualität der Güter lange Zeit überlegenen Industrie Englands am besten entsprach. Trotzdem ist das englische Volk, wie Sachkenner ohne weiteres zugeben, keineswegs das fleißigste Europas. Die Deutschen, vielleicht auch die Franzosen, sind den Engländern an Ausdauer überlegen. Die englische Geschäftszeit beginnt spät und hört früh auf. Das Interesse des Engländers ist selten völlig bei seiner Arbeit. Auch auf das Weekend muß hingewiesen werden, das zumal in den oberen Klassen fast zu einer allwöchentlichen dreitätigen Ferienzeit auszuarten droht. Zehntausende von Londoner City men eilen, um dieses Week-end in Saus und Braus zuzubringen, periodisch nach Paris. Während nach dem Weltkrieg London seine Eigenschaft als hauptsächliches Bankenzentrum an New York abgetreten hat, ist die britische Hauptstadt immer noch der Hauptumschlagsmarkt des Welthandels. Auf seinen Docks strömt der Warenverkehr eines sehr

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großen Teils des Weltalles zusammen. Etwa ein Drittel der britischen Einfuhr geht über London, während die Ausfuhr im wesentlichen von Liverpool besorgt wird. Für eine große Reihe von Rohstoffen bildet London die den Weltpreis bestimmende Börse: Wolle (Wool Exchange, an der sich die australischen Wollen mit den argentinischen und den südafrikanischen treffen), Jute, Tee, Kakao, Kolonialwaren, Häute, Zinn, Kautschuk, Pelzwaren. Daneben ist London auch noch bedeutende Fabrikstadt, zumal für Luxuswaren, Fruchtmarmeladen, Möbelindustrie, Maschinenbau, Biere, und beherbergt außerdem eine große Anzahl von Druckereien sowie, als Sitz der Herrenmode, Schneidereien. Die Londoner Bevölkerung weist immer noch einen beträchtlichen, scheinbar unverdaulichen Restbestandteil von Lumpenproletariat auf. Der Londoner Mob, gerade auch in der Nachkriegszeit wiederum durch ungeheure Massen Arbeitsloser verstärkt, verleiht London immer noch einen über das Maß von Berlin, Paris und Rom weit hinausgehenden Charakter der Proletarierstadt, wenn sich das Elend auch von einigen Stadtteilen völlig fernhält. So schleppt die britischen Hauptstadt das Laster der Erstlingszeit des Kapitalismus, deren Bühne sie war, immer noch mit sich herum. Trotzdem war bis vor wenigen Jahren die eigentlich sozialistische Bewegung in London schwach entwickelt, oder äußerte sich doch nur stoß- und ruckweise in riesenhaften Demonstrationszügen vom Trafalgar Square zum Hyde Park. Ein Typikum des politischen Lebens in England besteht ohnehin seit mehr als einem Jahrhundert in der Freiheit der Straßen und der Parke für die Bedürfnisse der Parteien. „On the green loan“ vereinigt sich in London alles zum meeting, getrennt und doch friedlich nebeneinander, von den extremen „radicals“ an bis zur sanften „Salvation Army“, der Heilsarmee. In den letzten Jahren ist in London der sozialistische Gedanke immerhin an werbender Kraft und auch an Intensität außerordentlich gewachsen. London ist die erste Stadt, in der sich die im modernen Bevölkerungswesen bekannte Erscheinung äußerte, die wir als Citybildung, eben gerade nach dem Londoner Muster, kennen. Unter Citybildung verstehen wir die Aushöhlung des alten Stadtinnern, der City als Wohnort. Die ehemaligen Wohnungen werden von der Bevölkerung verlassen und in Geschäftsräume usw. umgestaltet. Die Bevölkerung selbst siedelt sich in immer weiteren Umkreisen an der Peripherie an.

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So entsteht die reinliche Scheidung von Wohnstadt und Arbeitsstadt. Tagsüber ist die City of London übervoll von Menschen, wie ein Ameisenhaufen erscheint sie dem Auge des fremden Betrachters. Nachts aber ist Grabesstille. Nur einige einsame Policemen schreiten die Mauern entlang und sehen zu, ob alle Türen geschlossen sind. Schon im neunzehnten Jahrhundert veranstaltete man zu verschiedenen Tageszeiten in der City Volkszählungen. Dabei erhielt man zwei Bevölkerungsgrößen; eine Tagesbevölkerung von 364.000 und eine Nachtbevölkerung von 19.000 Personen (im Jahre 1851 noch 129.000) Die Aushöhlung des alten Stadtkernes hat übrigens noch eine weitere Folgeerscheinung aufzuweisen gehabt: es stellte sich nämlich vor einigen Jahren heraus, daß 32 Kirchen unnütz geworden waren, da ihre entsprechenden Gemeinden längst weggezogen waren. Da etliche von ihnen außerdem durch ihre bloße Existenz auch als Verkehrshindernisse aufgefaßt werden konnten, so trug man sich in einflußreichen Kreisen mit dem Gedanken, diese, meistens aus den Zeiten des großen Architekten Wren vom Beginn des 18. Jahrhunderts stammenden Bauten abtragen zu lassen. Erst als sich die Yankees erboten, diese alten Denkmäler britischer Kunst anzukaufen und nach Amerika transportieren zu lassen, besann man sich eines besseren. Die Wohnungsverhältnisse in London sind je nach dem Gesichtswinkel, unter dem sie gemessen, gut und schlecht. Da in London das Cottagesystem das in Berlin und Paris bevorzugte Mietskasernensystem überwiegt, so beläuft sich die durchschnittliche Bewohnerzahl der Londoner Häuser auf nur sieben Personen. Dennoch sind 16 Prozent der Londoner Häuser als überfüllt zu betrachten. Sehr schlecht steht es um die Besitzesverhältnisse der Häuser weiter und volksreichster Londoner Stadtviertel. Ganze Straßenzüge, ja ganze Viertel gehören einer Handvoll von meist adeligen Grundbesitzern, welche den Boden in langjährig laufender Pacht vergeben, so daß sie dann in bestimmten Zeiträumen Boden samt Häusern wieder zurückgewinnen; ein System, das zumal in den letzten Jahrzehnten vor Ablauf des Pachtkontraktes naturgemäß zu völliger Verwahrlosung der Häuser führen muß. Auch London ist eine Fremdenstadt. In Whitechapel wohnen ungezählte russische Juden. Um Soho unzählige Italiener, Deutsche und Franzosen. Die besseren, aber auch ein sehr großer Teil der kleineren

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Restaurants sind vollständig in ihren Händen. Unter anderen Gesichtspunkten freilich ist London nicht das, was man Fremdenstadt nennt. Dem fremden Besucher, der sich nicht zu dauernder Ausübung seines Berufes in London aufhält, wird das Leben nicht gerade erleichtert. London bietet nur ein Minimum an objektiver Gastlichkeit. Es besitzt keine Pariser oder Wiener Cafés, nicht die Kneipen und Gartenrestaurants der deutschen Städte, keine italienischen Osterien. Das Londoner Gesellschaftsleben spielt sich in den dem Fremden nicht immer leicht zugänglichen und in der Regel nicht übermäßig geistigen Familienhäusern ab, oder aber in den Clubs, die freilich in der Regel nach Geschlecht, Beruf, Parteizugehörigkeit und Einkommenshöhe geschieden sind. Die Clubs spielen im englischen und zumal im Londoner Leben eine außerordentliche Rolle. Ihrer bedient man sich nicht nur wie etwa der Wiener sich seiner Cafés bedient, um überflüssige Zeit totzuschlagen, oder einige Stunden bei anregender Zeitungslektüre zu verbringen, weil das eigene Haus hierzu örtlich zu entfernt liegt, sondern sie sind auch Kriterien sozialer Stellung. In einem angesehenen Club anzukommen, das heißt als Mitglied aufgenommen zu werden, gilt den Engländern als eine Sache des Schweißes des Edelsten wert. Zu diesem Ziel zu gelangen, gilt time nicht mehr als money. Viele vornehme Engländer setzen ihre Mitgliedschaft in einem Club auf ihre Visitenkarte. Das legitimiert sie in den Augen der Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu den großen kontinentalen Hauptstädten, ist London eigentlich nicht das Zentrum der Hochschulbildung des Landes. Zwar besitzt auch London eine Universität und besonders eine vorzügliche Hochschule für Volkswirtschaft, The London School of Economics. Aber die Londoner Universität ist jungen Datums, mehr Examenuniversität als eigentliche Lehranstalt, und entbehrt vor allen Dingen des sonst in England üblichen Collegebetriebs. Die großen englischen Universitäten von Weltruf liegen außerhalb der Hauptstadt, in Oxford oder Cambridge. Wer dort studiert und den Grad eines bachelor, master oder gar doctor erworben hat, der trägt Titel, denen London nichts Ähnliches an die Seite zu stellen hat und deren Geltungsradius das ganze weite britische Imperium unbedingt beherrscht. Eine weitere Eigentümlichkeit Londons, wie Englands überhaupt, ist die Zahl seiner Frauen. Women everywhere! Von allen europäi-

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schen Ländern ist in England der Frauenüberschuß am größten. In London beläuft er sich auf etwa 13 Prozent. Da diese englischen Mädchen, auch wenn der letzte Mann sich zur Ehe entschließen sollte, nicht alle heiraten können, und der Typus der zu Hause nutzlos alternden Jungfrau, der sogenannten spinster, zwar noch längst nicht ausgestorben, wohl aber im Rückgang befindlich ist, und außerdem in den unteren Klassen aus bekannten Gründen überhaupt eine seltene Erscheinung ist, so sehen wir diese überzähligen Mädchen das ganze Londoner Leben durchfluten und in alle möglichen Berufe eindringen. Man hat sagen wollen: die Engländerinnen seien entweder sehr häßlich oder sehr schön. Dies ist wie alle derartigen zugespitzten Dikta natürlich nicht wissenschaftliche Wahrheit. Aber etwas Richtiges ist schon darin. Man sieht vielleicht in London mehr vollkommen schöne und mehr wirklich häßliche Frauen wie anderseits, wenn auch hier wie überall die Mittelware natürlich überwiegt. Die Liebe zum Sport und die auf ihn von der Bevölkerung verwandte Zeit hat zumal nach dem Kriege in allen Ländern Europas reißend zugenommen, und nebenbei auch manche weniger erfreulichen Seiten, wie die Abkehr vom Theater und anderen geistigen Genüssen gezeitigt. Immerhin ist der Abstand zwischen dem Sportleben in England und dem auf dem Kontinent, der noch vor zwanzig Jahren immens war, auch heute trotzdem noch sehr beträchtlich. Der Sport ist in England charakterologisches Bestandteil des nationalen Lebens. Er gilt nicht nur als gesund, sondern als charakterstählend. Auch hier erweist sich der Engländer als stark konservativ. Das Pferderennen in Derby, das von 1780 stammt, ist ihm noch ein Nationalfest, und ebenso die Ruderregatta (Boatrace), die alljährlich zwischen zwei Elitegruppen, der dunkelblauen Mannschaft der Oxforder Studenten und der hellblauen Mannschaft der Cambridge-Studenten, an der Putney Bridge vor sich geht. Zu letzterer ist die ganze Stadt auf den Beinen und alles, Männlein, Weiblein, Kindlein und Hündlein trägt, je nach Sympathie und Beziehungen, die entsprechenden Farben auf dem Leibe, dark-blue or light-blue. Die Londoner Season, das heißt, die Jahresperiode, in welcher die gute Gesellschaft Bälle veranstaltet und Abendessen gibt, und wo die Theater in hellster Blüte stehen, ist nicht, wie in Rom, zwischen Weihnachten und Ostern, sondern erst im Frühjahr, im Mai. Es ist

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bezeichnend für den konservativen Geist Englands, daß an all’ diesen Vergnügungen das gesamte Volk bis tief in die Arbeiterklassen hinein, sei es durch Zuschauen von weitem, sei es durch Lektüre in den Zeitungen, regsten Anteil nimmt. Was für ein Kleid und eine Frisur diese oder jene Tochter aus diesem oder jenem adeligen Hause auf diesem oder jenem Fest getragen hat, ist bei diesem seltsam unlogischen Volke immer noch ein Gegenstand allgemeinen Interesses. Die hohen Steuern, welche, im Gegensatz zu den übrigen kriegführenden Mächten, in England schon während des Krieges selbst einsetzten, sowie die Nachkriegserscheinungen überhaupt haben übrigens beträchtlichen Teilen der höheren Klassen in England und zumal wohl auch der gentry, herbe Vermögensverluste gebracht. Das äußert sich in der Beobachtung größerer Sparsamkeit. So finden wir zum Beispiel, daß eine große Anzahl von Familien, die draußen ein country-house oder ein Schloß und in London für die Season ein städtisches Wohnhaus unterhielten, sich veranlaßt sahen, auf eines der beiden zu verzichten, eine Entscheidung, die meist zu Ungunsten des Stadthauses ausfiel. Das hat für die internationalen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen eine ungünstige Erscheinung zur Folge gehabt, nämlich das Aufhören der früher in London zahlreichen und glänzenden internationalen Kongresse und Tagungen; daraus erklärlich, daß die vornehme englische Gesellschaft den ausländischen Gästen die alte britische hospitality nicht mehr zu bieten vermag, und deshalb aus Stolz lieber überhaupt auf die Abhaltung der Zusammenkünfte Verzicht leistet. Eine wichtige Quelle des Reichtums besteht für England immer noch in der Rückwanderung britischer Beamter zumal aus den tropischen und subtropischen Kolonien, sowie aus Indien und Ägypten. Durch die hohen Pensionen, die diese Leute mit ihren Familien nun in der alten Heimat verzehren, werden sie nun freilich zu Schädlingen des britischen Kolonialreiches. Aber in eben demselben Maße wirkt ihre Existenz günstig auf die Verhältnisse Englands im engeren Sinne. Sie leben, wie letztendlich ganz England, von der ins Ökonomische übersetzten Macht, deren intelligentester und prägnantester Ausdruck das Handelsemporium London ist!

Berlin Berlin ist mit seinen 3.931.071 Einwohnern heute nach London und Paris die größte Stadt Europas. Mit der Größe seiner Fürstendynastien in Brandenburg und Preußen gewachsen, ist seine Größe jahrhundertelang nur ein Abglanz der kräftigen Dynastie gewesen, welche die Führung seiner Geschicke übernommen hatte. Geo-politisch ist Berlin schlecht gelegen, noch exzentrischer als Paris. Nur an die 125 km Luftlinie von der polnischen Sprachgrenze entfernt. Berlin ist nicht das Herz Deutschlands in dem Sinne etwa, in dem Bern das Herz der Schweizer Eidgenossenschaft oder Rom das Herz des allerdings etwas länglichen Körpers des italienischen Königreiches ist. Dagegen ist die Lage Berlins handels- und verkehrsmäßig gut. Berlin liegt zwar auch in einer Steppe oder in einer Sandbüchse, wie man sie genannt hat; aber erstens hat diese Vielverleumdete nicht nur ihre großen künstlerischen Reize, sondern ist auch vielfach von fruchtbarem Garten- und Getreideland unterbrochen; ferner aber bietet dieser Gürtel heute natürlich auch da, wo er in größerer Breite vorliegt, keinerlei Verkehrshindernis. Außerdem besitzt Berlin einen kleinen, aber schiffbaren Fluß, die Spree, und vermag sich endlich eines guten Kanalnetzes zu bedienen, auf dem es Handelsgüter aus dem Osten sich preiswert verschaffen kann. Seit den letzten fünfzig Jahren liegt Berlin überdies im Mittelpunkt eines ausgezeichnet funktionierenden Eisenbahnnetzes. Heute ist Berlin eine gewaltige Handels- und Industriestadt mit entsprechend reicher Bourgeoisie und kräftigem selbstbewusstem Arbeiterstand. Bei der Untersuchung der Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt mögen die angegebenen geographischen und verkehrstechnischen Umstände beträchtlich mitgespielt haben. Entscheidend sind sie aber vielleicht nicht gewesen. Sehr mit Recht macht in seiner Standortslehre der Industrie der Heidelberger Professor Alfred Weber darauf aufmerksam, daß Berlin zu den hauptstädti-

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schen Märkten gehöre, d. h. zu den Märkten, die im politischen Zentrum jedes Landes erwachsen und ihre Anziehungskraft einfach der Tatsache ihrer zentralen Stellung im gesellschaftlichen Leben der Nation überhaupt verdanken. Denn durch sie sei die Größe der Hauptstadt primär bedingt und aus ihr ziehe sie die reichen Möglichkeiten der Bewertung, welche jedweden Arbeitskräften in ihr geboten wird. Die sogenannte Metropolbildung kann ohne vorhergegangene politische Machtbildung, von der ja auch die Verkehrszentralen ausgehen, nicht gedacht werden. Um von der wirtschaftlichen Bedeutung des heutigen Berlin für ganz Deutschland die richtige Vorstellung zu gewinnen, muß man berücksichtigen, daß es nicht nur Zentralsitz der großen Banken und der Verwaltung vieler Aktiengesellschaften ist, sondern auch die größte Industriestadt Deutschlands; muß man die zahlreichen bedeutenden, zum Teil riesenhaften industriellen Etablissements kennen, die im Norden bis dicht an Tegel reichen und im Osten der Stadt sich weithin erstrecken; muß man im Auge behalten, daß Berlins Wasserverkehr einen größeren Tonnengehalt (wenn auch geringeren Wertumsatz) hat als jener Hamburgs und Bremens zusammengenommen. Berlin ist keineswegs eine der ältesten Städte Deutschlands, wie etwa Rom eine der ältesten Italiens oder Paris Frankreichs ist. Köln und Mainz, Nürnberg und Bamberg, Wien und Danzig waren bereits mächtige Stätten deutschen Fleißes und deutscher Bildung, als Berlin noch ein kleines Fischerdorf, in Deutschland nicht einmal dem Namen nach bekannt war. Zwar ist Berlin bereits im 11. Jahrhundert entstanden, aber blieb Jahrhunderte lang noch völlig unbedeutend und war selbst unter Friedrich dem Großen noch eine Garnisonen- und Beamtenstadt ohne andere Bedeutung als die, welche es indirekt durch die hohe Bedeutung des Monarchen und seiner politischen Leistungen empfing. Spät und nicht in bedeutender Weise trat Berlin, wenn wir von dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und um ein halbes Jahrhundert später vom französischen Emigranten Adalbert von Chamisso absehen, in die deutsche Literatur ein. Der erste Berliner Schriftsteller hieß Nicolai und war der bitterste Feind Goethes und des Weimarer Kreises. Die Begründung der Akademie der Wissenschaften brachte Berlin nur den Glanz großer französischer und italienischer Namen, welche König Friedrich nach seiner Reorganisation im Jahre 1740 an ihre Spitze stellte. Die hervorragende geistige Bedeutung für

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Deutschland gewann Berlin erst durch die Gründung der Berliner Universität (1810), also gerade in der Zeit der tiefsten Demütigung. Bevölkerungsmäßig gesprochen wuchs Berlin um die gleiche Zeit. Im Jahre 1820 besaß Berlin bereits 202.000 Einwohner, darunter allerdings über 16.000 Militär. Bis 1849 stieg die Berliner Bevölkerung auf fast 412.000, 1871 auf 826.000, im Jahre 1880 betrug sie bereits über 1 Million (1.122.000). Die heutige Einwohnerzahl haben wir bereits angegeben. Groß ist die Bedeutung für die geistige und wirtschaftliche Entwicklung Berlins, die die seit 1685 dort eingewanderten französischen Flüchtlinge, die calvinistischen sogenannten Réfugiés, gehabt haben. Berlin besaß zu jener Zeit einen noch halb ländlich gebliebenen Adel und ein bereits weit verzweigtes solides Beamtentum; aber einen eigentlichen Bürgerstand, der Bildung gehabt, Wohlstand besessen und sich nach obenhin eines Ansehens erfreut hätte, besaß Berlin damals nicht. Diese Lücke füllten die fleißigen, feingebildeten, sittenstrengen, ihrem neuen Herrscher treu ergebenen Franzosen vorzüglich aus. Was sie im Banken- und Kirchenwesen, wie im Erziehungswesen, wie auf Kaufmannskontoren mit den neuen wirtschaftlichen Interessen und Fähigkeiten, die sie nach Preußen verpflanzten, Tabak, Seide, Hütefabrikation, Strumpfwirkerei, für Berlin und die Mark Brandenburg getan haben, ist unübersehbar. Berlin hat, vom Schicksal begünstigt, im ganzen eine außerordentlich ruhige Geschichte hinter sich. Kein dramatisches Ereignis störte die Gemütlichkeit ihrer Entwicklung. Berlin hat keinen „sacco di roma“, keine Pariser Bluthochzeit, keinen Brand von London, keine Wiener Türkenbelagerungen erlebt. Auch Revolutionen haben es, wenn wir von wenigen blutigen Tagen des Jahres 1848 und der Nachkriegsperiode absehen, nicht durchzittert. Gewiß ist auch Berlin mehrfach von feindlichen Truppen besetzt worden. Das geschah während des Siebenjährigen Krieges zweimal durch die Russen, und im Jahre 1806 führte auch der siegreiche Napoleon seine Franzosen durch das Brandenburger Tor. Da Berlin jedoch nicht wie Paris eine Festung, sondern nur eine offene Stadt war, so vollzogen sich diese feindlichen Besetzungen in Berlin ohne erschütterndes Beiwerk von Verlusten an Menschleben und Sachgütern.

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Wie der Deutsche überhaupt, so ist auch der Berliner das, was man gebildet nennt, das heißt, er besitzt einen gewissen Schatz von Kenntnissen, von denen ein Teil auch in die breiteren Schichten der Bevölkerung gedrungen ist. Die eigentliche Oberschicht ist in Berlin, unter dem Gesichtswinkel der formalen Bildung gemessen, prozentualiter etwa so groß als die entsprechende Schicht in Paris, mit andern Worten sehr viel größer als die in London, oder gar in New York oder Chicago. Besonders glänzend sind, langsam ansteigend wohl schon seit Fichtes Zeiten, die höheren Berliner Lehranstalten. Die Berliner Universität ist ausgezeichnet. Aus allen Teilen der Welt strömen die jungen Männer zusammen, um hier am Brunnen der Wissenschaft zu trinken. Freilich teilt Berlin diese Eigenschaft, wenn sie sie auch in besonders hohem Maße aufweist, mit den übrigen Universitäten des Deutschen Reiches, Deutschösterreichs und der deutschen Schweiz. Auch hier ist Deutschland Frankreich mehr oder weniger gleich, wo ja ebenfalls ein gewaltiger Wissensbrunnen steht, aus dem ebenfalls Studenten aus allen fünf Weltteilen Lebenselixiere schöpfen. Es ist schwer zu sagen, welcher Brunnen der wasserreichere und der heilskräftigere ist: das wird je nach den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und vielleicht auch Zeitperioden verschieden sein. Jedenfalls muß es ausgesprochen werden: Deutschland und Frankreich sind in der Wissenschaft die Mekken und Medinen der Welt; neben ihnen stehen an internationaler Bedeutung in der Welt vorläufig nur noch zwei, freilich keineswegs gering zu schätzende Nebensonnengebiete: das angelsächsische und das russische. Berlin ist weniger Ausländerstadt als Paris, Rom oder London. Außer an der Universität sind die Ausländer in Berlin nicht übermäßig zahlreich vertreten. In den unteren Ständen, zumal der Arbeiterschaft, fehlen sie so gut wie ganz. Das liegt einmal daran, daß an verfeinerten Genüssen Berlin trotz aller Anstrengung doch weniger bieten mag als die anderen Weltstädte; das liegt ferner, und vielleicht noch mehr, an seiner geographisch etwas isolierten Lage; das liegt vor allen Dingen an seiner relativen Traditionslosigkeit. In der Nachkriegszeit freilich ist Berlin zuweilen zum Standort einer äußerst zahlreichen Fremdenkolonie geworden, nämlich der russischen, die hier eine Zeitlang ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte und wenn wir uns recht erinnern, mehr als fünfzig Zeitungen und Zeitschriften hier herausgab. Diese große Kolonie Fremder, die alle Gesellschaftsklassen in sich umfaß-

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ten, ist heute freilich sehr reduziert, seitdem die Stabilisierung der Mark und die Entwertung des französischen Frankens auf der anderen Seite das Leben in Paris so sehr viel billiger gestaltet haben als das Leben in Berlin. Alles in allem ist Berlin heute noch als eine der jüngsten Städte eines politisch jungen Volkes zu bezeichnen. Damit sind seine Vorzüge und seine Nachteile bereits gekennzeichnet. Letztere bestehen in der eiligen, etwas parvenümäßigen Art, in der Berlin zusammengebaut worden ist. Ihre, zumal auf das 19. Jahrhundert zutreffende, innerlich lieblose und unschöne Art der Straßen, Plätze und Denkmäler stellt Berlin nicht nur hinter die großen Städte Frankreichs und Italiens, sondern auch hinter die meisten deutschen Städte, die mehr und vornehmeren Charakter aufweisen als es. Parvenümäßig ist auch die Hast, mit welcher Berlin die verschiedenen Kunst- und Lebensformen des In- und Auslandes ergreift, bewundert, nachahmt und nacheinander dann wieder fallen läßt und das folglich letzthin geringfügige Eigene, das es hervorbringt. Indes neben diesen Nachteilen stehen die glänzenden Vorteile der Jugend. Berlin ist ausnehmend elastisch: seine Vitalität, durch den Fleiß und die Intelligenz seiner Einwohner unterstützt, ist schier grenzenlos. Berlin ist zeitlich die erste Stadt des europäischen Kontinents gewesen, die eine, wenn auch noch ungenügende, Stadtbahn angelegt hat (1882). Dabei hängt Berlin in einzelnem am alten fest, darin mehr Rom als Paris und London ähnelnd. In den Hauptstädten Frankreichs und Englands ist längst der letzte Droschkengaul dem Automobil zum Opfer gefallen. In Berlin fristet die Droschke neben dem Kraftwagen immer noch ein relativ auskömmliches Dasein. Und noch in einem anderen Punkt (ein ganz anderes Gebiet betreffend) übertrifft Berlin die Hauptstädte West- und Südeuropas, nämlich dem seiner reichlichen Versorgung mit Wildbret aller Arten, von Hasen, Hirschen und Wildebern bis zu den Feldhühnern, Wildenten, Krammetsvögeln, Schnepfen, Kiebitzen, deren Auslage in den zahlreichen Delikatessenläden dem Berliner Straßenbild eine besondere Note verleihen und die durch ihren relativ geringeren Seltenheitswert auch mittleren Börsen zugänglich erscheinen. Berlin weist eine ziemlich beträchtliche, durchschnittliche Wohndichtigkeit auf. Noch im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts besaß Berlin pro Hektar etwa 77 Einwohner, während London deren nur 7 aufwies. Die Berliner Häuser besitzen einige Nachteile, um welche sie

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die anderen Großstädte nicht beneiden dürften. Zu ihnen gehören die sogenannten Hinterhäuser und auch die sogenannten dunklen Stuben in den Vorderhäusern. Auf der anderen Seite ist Berlin durch seinen Reichtum an öffentlichen Gärten und die Breite seiner Straßen ausgezeichnet. Seine vorzügliche Kommunalpolitik hat auch die Hygiene außerordentlich befördert. Heute dürfte schon mehr als die Hälfte selbst der zweizimmerigen Berliner Wohnungen einen kleinen Baderaum aufweisen. Berlin hat nicht die Eigenschaft, die Neuangewanderten schnell zu assimilieren und zu Berlinern zu machen. Berlin ist nicht Paris. In Berlin bleiben die Süddeutschen generationenlang Süddeutsche, auch wenn sie inzwischen ihren Akzent verloren haben, und die rheinische Kolonie feiert immer noch jedes Jahr mit ungeschwächt anhaltender rheinischer Festesfreude den Karneval. Selbst die Deutschen aus dem fernen Osten, wie die Ostpreußen, denken nicht daran, in Berlin aufzugehen und auf ihre Eigenart zu verzichten. Diese Unfähigkeit Berlins zur geistigen Absorption der Fremdkörper dürfte zwei Ursachen haben. Die erste und hauptsächlichste liegt daran, daß das Wachstum der Stadt vom Fischerdorf zur Kleinstadt, von der Kleinstadt zur Großstadt und von der Großstadt zur Weltstadt durch Zuzug von außen in relativ so kurzen Zeitspannen vor sich gegangen ist, daß die Berliner bei ihrer Assimilationsarbeit sozusagen einfach nicht mitgekommen sind. Längst bevor noch der jedesmal erste Schub recht angegliedert war und sich akklimatisiert hatte, wurde er bereits von einem neuen gefolgt. So ist Berlin recht eigentlich, ähnlich wie Rom, eine bunte Stadt nebeneinander lebender Gruppen geblieben. Die zweite Ursache der langsamen Assimilation der Berliner mag darin zu suchen sein, daß die Anziehungskraft des Berliner Namens keine sehr große ist. Das hängt zum Teil mit der politischen Rolle zusammen, welche die Stadt in Deutschland und in Europa gespielt hat. Jedoch hierüber wollen wir nicht sprechen. Fast entscheidender noch ist, daß der Berliner selbst psychologisch in weiten Gauen West- und Süddeutschlands wie der Schweiz als ein großsprecherischer und prahlerischer, innerlich unfeiner und überhebender Geselle gilt, den man sich vom Leibe halten müsse. Daran ist nur insofern etwas Wahres, als die rasche bevölkerungsmäßige und politische Entwicklung der preußischen Hauptstadt manchem ihrer Bewohner den Sinn für Proportion geraubt und in gewissem Sinne übermütig gemacht hat. Anderseits muß je-

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doch betont werden, daß gerade der Urberliner nicht nur über einen prächtigen gesunden Humor verfügt, sondern auch im Kern, wenn auch in derber Form, gutmütig und menschenfreundlich ist, so daß in gewissem Sinne wohl von einem Verkennen des Berliner Typus gesprochen werden darf. Der eigentliche Berliner ist weit besser als sein Ruf draußen in der Welt, ja draußen vor den Toren der Stadt. Für viele Berliner ist Berlin schlechterdings nur Durchgangspunkt. Mehr wie in den meisten andern Städten fungiert Berlin für viele als Etappe, daß heißt muß Berlin neben der starken Kategorie der Zugezogenen mit einer eben so starken Kategorie von Abwanderern rechnen (ganz typisch im Jahre 1899: Zugezogene 236.000; Abgewanderte 179.000). Diese Eigenart Berlins erklärt sich aus der Gesamtheit des Zuges von Ost nach West, deren Mittelpunkt Berlin mitbildet. Berlin weist diesen Zug nicht allein auf. Während sich in Deutschland die Norddeutschen in Süd- und Westdeutschland wohler fühlen als die Süd- und Westdeutschen in Norddeutschland, und infolgedessen die Wanderbewegung die entsprechenden Wege wandert, so fühlt sich z. B. in Italien der Süditaliener in Norditalien wohler als der Norditaliener in Süditalien, was sich dort bevölkerungsstatistisch feststellen läßt. In beiden Fällen sind übrigens nicht nur Imponderabilien des Gefühls, der Kultur und dergleichen im Spiele, sondern auch ökonomische Ursachen, d. h. die Anziehungskraft, welche die Industriegebiete auf die agrarischen Zonen ausüben. Ganz abgesehen von den Eigentümlichkeiten des modernen Judentums, bei dem zumal in Deutschland der Zug nach dem Westen ganz offensichtlich ist. Berlin ist dennoch selbst eine westliche Stadt, wenigstens in ihrem Gesamthabitus. Gewiß erinnert schon manches an Osten. Die Winter sind kalt und lang, der Baumwuchs, so des Tiergartens, ist spärlich und niedrig und entbehrt der schönen saftreichen Stämme der französischen und mehr noch der englischen Parks. Im Winter sieht man vor allem in den untern Ständen viele vermummte und in Wolljacken und billige Pelze gehüllte Gestalten. Dem Süd- und Westländer vermögen auch die Kutscher in ihren Anzügen als russisch zu erscheinen; der österreichische Grillparzer nannte sie in seiner nervösen Übertreibung „unheimlich und ekelerregend“. Jedoch ist der Berliner Geist nicht russisch, sondern durch hundert Kanäle mit dem Westen verbunden, während die Kanäle, die nach dem Osten führen, trocken liegen oder nur spärlich bewässert sind. Auch die Bevölkerung Berlins

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ist lebendig. Ein italienischer Beobachter hat einmal die richtige Bemerkung gemacht, sie sei viel lebendiger, dem Süden nahestehender, als die der meisten andern deutschen Städte. Das ist gegenständlich richtig, erklärt sich aber leicht aus folgenden Elementen: Großstadtleben, Mischbevölkerung und reichliches Untermischtsein mit Juden, die in ihrer Beweglichkeit, geistigen wie körperlichen, ohnehin leicht die Blicke auf sich lenken. Ein Wort über die Berliner Frauen. Unter gewissen Gesichtspunkten könnte man sie mit ihren Pariser Geschlechtsgenossinnen vergleichen. Nicht in künstlerischer Hinsicht, denn es fehlt ihnen an der natürlichen Grazie jener. Vielleicht auch nicht an politischem Sinn, trotzdem die Berlinerin das Wahlrecht besitzt und die Pariserin nicht. Wohl aber in anderen wichtigen Dingen und zentralen Werten. Unter diese möchten wir vor allen Dingen zwei rechnen: die große Arbeitskraft und Arbeitsfähigkeit sowie den ausgesprochenen Sinn für das Gegenständliche im Leben, wozu ferner noch Frische, Menschenkenntnis, schnelle Auffassungsgabe und Gradheit im Wesen kommen mögen. Auch die Jugend ist keck und schnoddrig. Dem gamin de Paris entspricht die Berliner Range. Auch noch andere Berührungspunkte könnte der Soziologe bei den ehemalig feindlichen Hauptstädten der beiden großen Nachtbarreiche Deutschland und Frankreich finden. Die heitere und sympathische Rolle, welche meist der Spatz oder Sperling im Tierleben und seinem Kontakt mit dem Menschen sowohl in Paris als in Berlin spielt. Hier wie dort gebührt diesem graugefiederten Bettlergesellen die Sympathie der Jugend und des Alters. Hier wie dort fügt er, zumal in kalten Wintertagen, eine lebendige Note frisch pulsierenden Lebens und treuer Seßhaftigkeit in das Bild der liebgewordenen Großstadt. Was in Venedig und anderen italienischen Städten die Tauben und in den amerikanischen Parks etwa die „robins“ (Rotkehlchen) sind, das ist in den Städten an der Spree und an der Seine der Spatz und seine Spätzin. Der Weltkrieg schien die Stellung Berlins dauernd erschüttern zu wollen. Selbst seine Eigenschaft als Reichshauptstadt war ernstlich in Frage gestellt. Es erschien eine Zeitlang den Patrioten sogar empfehlenswert, es hinter Weimar zurücktreten zu lassen. Einmal wegen seiner zentralen Lage, dann auch wegen seiner ungleich hervorragen-

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den Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Kulturgeschichte. Und noch aus einem andern Grunde schien Berlin, auch als diese Pläne gefallen waren, sich nicht mehr auf seiner alten Höhe halten zu können. War nicht die Existenz Berlins mit dem Bestehen eines deutschen Kaisertums hohenzollerischer Observanz unzertrennlich verknüpft? Die Zeitgeschichte sollte lehren, daß diese Annahme irrig war. Zwar verödeten und verhäßlichsten einige der ästhetisch schöneren Teile der Hauptstadt. Aber im übrigen gab sich Berlin nach einem kurzen Stillstand der Verblüffung schnell einen kräftigen Ruck. Heute ist seine Stellung nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kunst und in der Literatur im Deutschen Reiche stärker wie je.

Rom als Großstadt Rom ist keine gleichmäßige Entwicklung in der Geschichte beschieden gewesen. Das antike Rom, caput mundi, war eine Millionenstadt. Manche Historiker kommen in ihren Schätzungen sogar auf vier Millionen. Jedenfalls scheint die Stadt in ihren besten Zeiten mindestens an die zwei Millionen Einwohner gehabt zu haben. In der frühmittelalterlichen Epoche sank die Hauptstadt dann zu einer kleinen Priester-, Pilger- und Handwerkerstadt von 17.000 Einwohner herab. Selbst geistliche Schriftsteller, wie der auch als Nationalökonom bedeutende piemontesische Prälat Giovanni Botero, meinten noch Ende des 16. Jahrhunderts, daß sich unter wirtschaftlichen und demographischen Gesichtspunkten eine Beschäftigung mit Rom kaum verlohne. Sogar in seiner Eigenschaft als Sitz Petri und Hauptstadt des Kirchenstaates ist Rom eine Zeitlang entthront gewesen, als nämlich die Päpste nach Avignon zogen (1309 – 1377), wenn auch gerade in dieser Zeit ein genialer Irrsinniger, der wie kein anderer Lombrosos Synthese von Genialität und Geisteskrankheit in sich verkörpern sollte, der Volkstribun Cola di Rienzi, Rom daran erinnerte, daß es das Haupt der politischen Welt sei oder doch wieder werden müsse. Heute hat Rom (nach der offiziellen Zählung von 1927) 807.175 Einwohner. Seiner geographischen Form wie seinem historischen und volkswirtschaftlichen Aufbau entsprechend, ist Italien kulturell nicht zentralisiert. Während in Frankreich Paris im Guten wie im Bösen bis an die Grenzen des französischen Landes und weit darüber hinaus maßgebend ist, sehen wir in Italien hundert Städte des Landes, jede mit eigener Tradition und eigenen Direktiven, unermüdlich mit der Hauptstadt in friedlichem Wettbewerb eifern. Denn das italienische Städteleben ist erstens charakterisiert durch einen völligen Mangel an Riesenstädten. Italien besitzt nicht eine einzige Millionenstadt; es weist kein London auf, kein Paris, kein Berlin, kein Wien, kein Moskau. Zum andern ist Italien eben das Land der Kommunen, das Land, in welchem die Städtebildung frühzeitig und anhaltend vor sich gegangen ist. Diese Erscheinung konstatiert schon Botero nachdrück-

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lich, zumal dem städtearmen Frankreich gegenüber, und sieht eine der Ursachen dafür in der Verstädterung des italienischen Adels (der französische war dagegen seiner Gewohnheit, in seinen Schlössern auf dem Land zu leben, treu geblieben). Nach der offiziellen Zählung im Januar 1927 besaß Italien 18 Städte mit über 100.000 Einwohnern, und zwar: Neapel 897.306, Mailand 894.715, Rom (wie gesagt) 807.175, Turin 531.973, Palermo 426.903, Genua 593.194, Florenz 268.884, Catania 268.627, Bologna 232.653, Messina 191.172, Venedig 248.953, Bari 129.588, Livorno 123.072, Padua 121.940, Ferrara 115.472, Taranto 114.681, Brescia 109.419. An Bevölkerungsgröße steht Rom unter den italienischen Städten also erst an dritter Stelle. Neapel und Mailand haben mehr Einwohner. Rom, die Ewige Stadt, ist also die Hauptstadt Italiens eigentlich nur im politischen und administrativen Sinne. Mehr noch als in Ziffern äußert sich aber, wie angedeutet, die relative Homogenität der italienischen Städte – eine Homogenität, wie wir sie in gleichem Maße sonst nur noch in Flandern, am Rhein, in Franken und etwa in Spanien finden – in kultureller und kulturgeschichtlicher Hinsicht. Das Alter und das Prestige der italienischen Städte wirkt in der Gegenwart als Gegenkraft gegen eine Zentralisierung fort. Der Wettkampf, der Hang, geistig und technisch die Schwestern zu überflügeln, zeichnet auch heute noch das italienische Städtewesen aus, wenn auch die Mittelstädte den Kampf aufgegeben haben. In Italien verteilen sich dementsprechend die großen Männer gleichmäßiger auf das ganze Land als in Deutschland und in gewissem Sinne auch in England. Amicis, Lombroso, Arturo Graf wirkten in Turin; Giacosa, Boito in Mailand; Carducci und Pascoli in Bologna; Matilde Serao in Neapel; Fogazzaro in dem kleinen Vicenza. Es gibt kaum eine einzige unter den hundert Städten Italiens, welche in ihren Mauern nicht wenigstens einen Mann von nationalem Rufe wohnen gehabt hätte. In etwa zwanzig Städten sind noch heute Männer ansässig, deren Namen bis nach London und Paris, Neuyork und Berlin einen guten Klang hat, und es sind nicht die gleichen Mauern, welche die Heimatstätten Croces, Marconis, Gentiles, Lorias, Mascagnis umschließen. Emile de Laveleye hielt dafür, daß es mit Ausnahme Deutschlands kein Land gebe, in welchem mehr geistige Arbeit geleistet werde als

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in Italien. An nationalökonomischer Literatur z. B. erscheine in Italien drei- bis viermal soviel als in England oder Frankreich. Die Ursache dieser Erscheinung sei in der intellektuellen Dezentralisation zu erblicken. Alle Provinzen nähmen an dem geistigen Leben der Nation teil. Auf zwanzig Universitäten werde dieses Leben gepflegt. Während es in Frankreich nur einen, wenn auch großartigen, Lichtspender gebe, werde in Italien zwischen Turin und Palermo in dreißig bis vierzig Städten Wissenschaft getrieben. Dennoch bleibt Rom die erste unter den Gleichen, prima inter pares. Richtig ist jedenfalls, daß Rom kein einheitliches Milieu darstellt. Die Stadt besteht mehr als alle anderen Großstädte Europas aus einem Neben- und Durcheinander von Gruppen heterogenster Herkunft. Da sind Neapolitaner, Kalabresen, Sizilianer, Abruzzesen, Venetianer, Piemontesen, Ausländer, die zueinander in Ellbogenfühlung stehen, sich aber nicht amalgamieren. Rom hat auch keine sozialen Mittelpunkte außer dem weltlichen Quirinal, der ein sehr zurückgezogenes Leben führt, dem geistlichen Vatikan, der seinem Wesen entsprechend ein (von der Schweizergarde bis zu den Prälaten) ganz internationales Gepräge hat, und den Kammern, deren Tätigkeit natürlich zu italienisch ist, um typisch römisch sein zu können. Dazu kommt, daß die autochthone Bevölkerung Roms keineswegs genug Absorptionskraft besitzt, um die Zuziehenden sich in ihren Sitten, ihrer Sprachform und Denkart, anzugliedern. Daher bietet Rom in vieler Hinsicht das Bild eines riesigen Karawanenplatzes oder doch einer bunten, etwas amorphen Fremdenstadt und Beamtenmetropole. Gewiß weist Rom einen reichen und alten, kunstliebenden Adel auf, aus dessen Mitte einige der besten Päpste hervorgegangen sind. Aber es mangelt ihm noch an einem kräftigen Bürgerstand. Achille Loria, dem wir eine kleine soziologische Monographie über die Stadt verdanken, hat bemerkt, sie sei aller Industrie bar, habe keine eigentlichen Vorstädte und nur eine unfruchtbare, obzwar malerische, Umgebung, welche der Stadt keine weitere Ausdehnung gestatte. Loria hat ferner mit seiner Überzeugung nicht hinterm Berg gehalten, daß die Bevölkerung der Hauptstadt sich überwiegend aus dem Typus der fruges consumere nati zusammensetze, denen der weit außerhalb Roms vor sich gehende Prozeß der Produktion der von ihnen konsumierten Güter naturgemäß entgehe. Das Urteil ist etwas zu scharf zugespitzt. Es geht nicht an, die Größe Roms völlig von der Arbeit

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loszulösen, die seine Bevölkerung geleistet haben muß, um sich die benötigten Güter zu verschaffen. Außerdem hat die Industrie in letzter Zeit auch in Rom Fortschritte gemacht. Auch dort gibt es nunmehr eine kleine Arbeiterbevölkerung. Im Jahre 1927 wurden 104.604 Erwerbstätige in der ,Industrie‘ gezählt, ein Begriff, der freilich auch die zahlreichen Kleinhandwerker der Stadt mit umfaßt. Die großstädtische, d. h. in Fabrikbetrieben tätige Bevölkerung wurde dagegen nur mit 60.686 beziffert, immerhin eine im Vergleich zu früher erkleckliche Anzahl. Infolge der geschilderten Eigenart hat die Großstadt Rom auch nicht den Boden für die Entstehung eines sozialen Romans abgeben können. Der französische Roman ist zu drei Vierteln und mehr noch auf dem Pflaster der Pariser Straßen und dem Parkett der Pariser Salons gediehen. Auch London, Kopenhagen, München, Wien, Berlin, Prag, Gent, Brügge liefern dem sozialen Roman den nötigen Hintergrund und reizen daher den Schriftsteller, sich mit ihm zu beschäftigen. Die wenig bodenständige Gesellschaft Roms jedoch vermöchte höchstens die Entstehung eines Fremdenromans anzuregen. Die zahlreiche Fremdenbevölkerung Roms verdient, auch sofern sie ausländischer Nationalität ist, ein Wort der Darstellung. Sie setzt sich, von den Kategorien der Diplomaten, der Geistlichen und der Klosterbrüder abgesehen, im wesentlichen aus Rentnern, Künstlern und Schriftstellern zusammen und trägt mithin ausgeprägten Oberschicht- und Luxuscharakter zur Schau. Dieser Charakter tritt noch schärfer hervor, wenn man sie mit den Fremdenkolonien anderer Städte, wie London, Zürich, Basel, Mailand und selbst Paris vergleicht, in denen eine weit größere ausländische Bevölkerungsquote mehr produktiv im engeren Sinne des Wortes eingestellt ist und ganz oder überwiegend ein proletarisches oder proletaroides Gesicht aufweist. Rom ist letzten Endes mehr im qualitativen als im quantitativen Sinne Fremdenstadt. Es besitzt keine fremde Arbeiterbevölkerung; auch in der Hotelindustrie, die zum Teil schweizerisch ist, sind die unteren Stellen selten mit Landfremden besetzt. Und noch eins: Rom ist die Mutter der Welt; da versteht es sich, daß ihren Kindern daran liegen muß, Einrichtungen zu treffen, die sie zum steten Studium ihrer großen Traditionen befähigen sollen. Und so sind sie denn alle gekommen, die Franzosen, Deutschen, Engländer, Spanier, Amerikaner,

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Polen usw. und haben in Rom ihre nationalen Akademien, Kunst- und historischen Institute gegründet. Die Franzosen haben sogar einen Prix de Rome ausgesetzt, mit dem alljährlich die Besten unter den Pariser Kunstschülern das Recht auf dreijährigen unentgeltlichen Aufenthalt in der herrlichen, Rom dominierenden Villa Medici erhalten. Aber auch für Italien selbst ist Rom eine Hauptbildungsstätte. Die Universität, vom Volke selbst als Sapienza bezeichnet, ist nach der Neapels die größte des Landes und verfügt über einen Stamm von erstklassigen Gelehrten europäischen Rufes. Auch das Elementarschulwesen steht heute in Rom auf beträchtlicher Höhe, und das Analphabetentum ist in Latium in den Jahren 1911 bis 1921 von 33 Prozent auf 26 Prozent gesunken. Der römische, dem Hochitalienischen nahestehende Dialekt, das sogenannte Romanesco, besitzt schon seit einem Jahrhundert ausgezeichnete literarische Vertreter, die wie Belli und Trilussa in ihren Versen mit köstlichem Humor, aber auch beißendem Sarkasmus analytische Volkspsychologie treiben und sich, wie Pascarella, bisweilen sogar auf ein der Dialektdichtung sonst fremdes Feld, das der Tragik, mit Erfolg gewagt haben. Von allen Großstädten hat Rom ergiebiges und hochwertiges Weinland am nächsten. Rom ist eine weintrinkende Stadt. Die Castelli Romani sind Trumpf. Daher auch die Zahl der kleinen und kleinsten Osterien, in denen sich, zum Unterschied von fast allen anderen italienischen Städten, der Mann aus dem Volke und der Kleinbürgerschaft auch zwischen den Mahlzeiten gern aufhält. In der Zeit vor dem Kriege ergab eine Umfrage im Arbeiterviertel Testaccio, daß von 1.057 Familien nur 9 keinen Wein tranken; 806 tranken alle Tage Wein und 242 wenigstens Sonntags einmal. Der Menge nach tranken 350 von ihnen täglich 2 Liter, 127 3, 86 4 und 42 bis zu 5 Liter. Diese Ziffern sind heute, wohl auch infolge der stark gestiegenen Weinpreise, zurückgegangen. Auch darf man nicht glauben, daß die Zahl der Betrunkenen in Rom größer sei als etwa in München oder gar in London. Immerhin ist sie größer als in der Mehrzahl der italienischen Städte, die sich, zumal im Süden und auf den Inseln, durch völlige Nüchternheit ihrer Bewohner auszeichnet. Das Trinken ist in Italien, auch in Rom, übrigens so gut wie ausschließlich Sache des Volkes. Die oberen Klassen nehmen nur sehr wenig Alkohol zu sich. Studentische Trinkgelage und Kneipen, wie in Deutschland, gibt es in Italien nicht. In betrunkenem Zustande öffentlich gesehen zu werden, gilt

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dem italienischen Gebildeten als Schande; damit gar vor Dritten zu prahlen, als völlig unmöglich. Als Städtebild steht Rom einzig da. Der Geschichte und dem Klima, dem Baustil, dem üppigen Sprudeln seiner hundert Brunnen, der sozusagen übersichtlichen Unübersichtlichkeit seiner Sieben Hügel, der Flora (Pinien, Zypressen, Palmen) und mythisierenden Fauna (die Lieblingstiere sind Wölfe und Adler), allem wohnt – man kann es ohne Übertreibung sagen – ein Zug ins Heroische inne. Dagegen wirkt das römische Leben als Ganzes trotz des gewaltig brausenden Straßenlebens, das sich immer mehr in großstädtisch-europäische Ausmaße entwickelt, ungemein beschaulich und ruhig. Darin liegt zugleich Roms Größe und Roms Grenze. Rom atmet nicht regen Geschäftsgeist wie London, noch vibriert in ihm eine literarische und gesellschaftliche Hochspannung wie in Paris. Rom ist auch in übertragenem Sinne, psychologisch gesprochen, klassisch und ewig, ewig klassisch; klassisch, weil alles in ihm gemessen ist, ohne Überstürzung bis zur Langsamkeit; ewig, weil Rom das Bewußtsein seiner Dauer hat und daraus einen Lebensrhythmus schöpft, der in seiner Selbstsicherheit eben in das festina lente ausmündet. Rom hat so Vieles und so Großes erlebt! Die Jahrtausende sind an seinen Mauern zerschellt. Die Winde haben seinen Namen in alle Welt getragen. Von der romanischen Schweiz bis nach Rumänien am Schwarzen Meer, bis nach Lateinamerika, ja bis zur römisch-katholischen Kirche beruft sich alles inbrünstig auf die Mutterschaft der Urbs. Dieser historischen Stellung derselben sind sich auch seine heutigen Bewohner bewußt, und wie von der Vergangenheit auf die Gegenwart, so schließen sie von der Gegenwart auf die Zukunft. Und das gibt ihnen menschlich die stolze, wenn man will, manchmal etwas unmoderne Zuversicht. Obgleich Rom, dem Stern Italiens folgend, an politischer Bedeutung und Volkszahl in stetem Wachstum begriffen ist und überhaupt zu den am meisten aufblühenden Großstädten Europas gehört, hängen die angedeuteten Charakterzüge doch zu eng mit seinem innersten Wesen zusammen, als daß es sie menschlicher Voraussicht nach im Verlaufe seiner Geschichte jemals verlieren könnte. Rom ist natürlich gewiß auch ein großes Museum, und doch täten die Romreisenden gut daran, wenn sie dem obligaten Baedeker nur ein bescheidenes Plätzchen in ihren Herzen und Sinnen anweisen wollten

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und sich vor allem mit den historischen, wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten Italiens vertraut machten. Nirgendwo lohnt es sich mehr, die Augen zu öffnen und historisch – nicht nur kunsthistorisch – zu sehen als gerade in Rom. Das sollten sich die Romreisenden nicht nur deshalb gesagt sein lassen, weil es in ihrem eigenen Interesse liegt, sondern auch aus einem politischen Grunde, der volles Anrecht darauf hat, berücksichtigt zu werden: damit nämlich in den Italienern nicht der sie mit Recht erregende Eindruck erweckt wird, als ob die Fremden ihr Land eben nur als eine Art von Museum, eine, wie Lamartine gesagt hat, ,terre des morts‘ betrachten. Die lebenden Italiener wollen und müssen ernst genommen werden. In den letzten acht Jahren, seitdem Benito Mussolini mit starker Hand das Ruder Italiens ergriffen hat, hat sich in Rom vieles geändert. Zunächst ist, während das parlamentarische Leben verblaßte, am Sitz der diktatorialen Regierungsgewalt, im Palazzo Venezia, ein neuer Brennpunkt entstanden. Die Inangriffnahme einer aktiven Außenpolitik, mehr noch die fast gleichzeitige Aufrollung nahezu aller das nationale Leben in Wirtschaft, Strafrecht, Sport und Kunst interessierenden Fragen hat diesem neuesten Rom weithin und zum Teil unerwartet Bedeutung verliehen. Was immer die Meinung der Leser über den Faschismus sein mag, soviel steht fest, daß unter seiner Herrschaft Rom an Glanz und Ausdehnung ungewöhnlich zugenommen hat. Neue, meist prachtvolle Stadtteile, welche den Flächenraum des bebauten Rom gegenüber der Vorkriegszeit um etwa ein Drittel vergrößert haben mögen und Ruhe und Behäbigkeit atmen, sind entstanden; so hinter der Villa Borghese (die sogenannten Quartieri di S. Sebastiano), ferner oben am Gianicolo, hinter dem Vatikan, dann weit jenseits der Engelsburg als Verlängerung der Prati di Castello nach dem Monte Mario zu, endlich am Lateran und an der Porta S. Giovanni, also an den verschiedensten Enden der Peripherie Roms. Auch ist Rom immer noch eine kinderreiche Stadt, was auch der Durchreisende bemerken wird, der seine Straßen durchwandert. Freilich ist die stete Zunahme der italienischen Bevölkerung dem Übergewicht der Geburten- über die (bis 1929) ständig abnehmende Sterbeziffer zu verdanken. Denn die Geburtenziffer selbst ist, wie überall in Europa, auch in Italien in der Abnahme begriffen, wenn diese vorläufig auch nur dem Auge der Statistikers ersichtlich ist. Auch ohne Statistik läßt sich dagegen die Pflege der Kunstschätze des römischen

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Altertums feststellen, die dem „Cäsaren“ Mussolini besonders am Herzen liegt. Rom erlebt heute wie einen Aufschwung der Hygiene durch die Niederlegung ungesunder Behausungen, so auch eine bedeutende Ära von Ausgrabungen und Instandsetzungen antiker Baudenkmäler. Und noch auf einen letzten Punkt muß aufmerksam gemacht werden: auf die steigende Produktivität der Umgebung Roms. Die Stadt ist heute nicht mehr von einem breiten Gürtel toten, steppenähnlichen und von der Malaria durchseuchten Geländes umgeben. Genossenschaftliche Arbeit, nötig gewordene Zerlegung des Latifundienbesitzes sowie eine sorgsame Meliorationspolitik der Regierung haben weite Teile des Agro romano in blühendes Gartenland verwandelt. Darüber mögen die Archäologen und Landschaftsmaler zürnen, denen die Melancholie der Stimmung verlorenzugehen droht. Aber der Wirtschaftler und der italienische Patriot wird mit Freude konstatieren dürfen, daß die Campagna di Roma, die noch vor zehn Jahren nur den zehnten Teil der von der Bevölkerung der Landeshauptstadt, die ihren Kernpunkt bildet, benötigten Lebensmittel zu liefern imstande war, heute diese Aufgabe bereits zu einem guten Drittel zu erfüllen vermag, und zwar trotz des beträchtlichen seitherigen Wachstums der Stadt. Und neues Leben blüht aus den Ruinen …

Wien Wien ist eine alte Fürstenstadt an den Marken des deutschen Reiches. Erst 270 Jahre unter den Babenbergern (bis 1246), kommt es 1273 zu den Habsburgern. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts an wird es zu deren dauernder Residenz, die es über die Jahrhunderte bis zum Kriegsende, 1918, geblieben ist. Als Sitz der deutschen Kaiser österreichischer Observanz hat Wien geraume Zeit im Mittelpunkt politischen Lebens in Europa gestanden. Die Beziehungen der Habsburger zu Burgund und Spanien, ihre Personalunion mit den böhmischen, ungarischen Königstümern, die Tatsache, daß die österreichischen Herzöge viereinhalb Jahrhunderte lang die deutsche Kaiserkrone trugen, und daß ihre dynastischen und territorialen Interessen tief nach Deutschland, Italien und später den Balkan hineinreichten, ist auf das Werden und Gedeihen der Wiener Art nicht ohne Einfluß geblieben. Einer der interessantesten und schönsten Wiener Bauten ist der französisch-italienischen Geschmacksrichtung eines piemontesischen Prinzen zu verdanken, der der österreichischen Sache die größten Dienste geleistet und im Wiener Volke die größte Popularität besessen hatte. Die im Wesen nach deutsche Hauptstadt der österreichischen Monarchie hat eine langsame, aber kontinuierliche Einwanderung von Slawen und anderen Ausländern seit Jahrhunderten erfahren. Der tschechische Unterbeamte, der ungarische oder kroatische Unteroffizier, der tschechische oder polnische Amtsdiener und spätere Beamte, waren auch im deutschen Wien überall anzutreffen. In Wien waren nicht nur die Berufe der Hausangestellten und Kleinbeamten, sondern auch das Schneider- und das Schustergewerbe Prerogative der Tschechen. Diese außerhalb der geschlossen nationalen Siedlungen erwerbsfähigen Menschen lebten im besten Vernehmen mit den Staatsbürgern deutscher Nationalität und eigneten sich rasch deutsche Kultur und Sprache an, so daß oft schon in der zweiten Generation ihre nationale Abstammung kaum mehr festzustellen war. Auch industriell wirkte Wien mit starker Anziehungskraft auf die übrigen Völker der

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Monarchie, weil sich in dieser Stadt westländische Fortschritte in Kultur und Handel, gestützt auf den zähen Fleiß der eingewanderten Arbeiter aller Nationalitäten und verwertet und assimiliert durch das assimilationsfähige jüdische, teils finanzielle, teils kommerzielle Unternehmertum, zu einem Reservoir ausbauten, aus dem heraus der mit der fortschreitenden Erhöhung des Lebensaufwandes steigende Warenbedarf der Donauländer, bis weit nach Osten und in den Orient hinein, gedeckt wurde. Diese Verknüpfung mit den ehemaligen Ländern der Donaumonarchie ist es denn auch, durch welche Wien nach dem Zusammenbruch am meisten zu leiden hatte, andererseits aber auch doch wiederum neue Wurzeln seiner Kraft zu gewinnen vermag. In der Wiener Industrie ist die Wurzel zu sehen für die Psyche des Wienertums. Seine Feinheit und Eleganz und guter künstlerischer Geschmack kommen einmal der Modeindustrie, die selbst Paris Konkurrenz zu machen vermag, ferner in der sogenannten Galanteriewaren- und Lederwarenindustrie zum Ausdruck. Diese Industrien sind in weitem Umfange Exportindustrien. Ihre Erzeugnisse gelangen bis weit nach England, Frankreich und Italien hinein, wo sie sehr häufig unter falschem Namen verkauft werden. Auch an der ebenfalls auf dem Export beruhenden Automobilindustrie, deren Produkte zumal in den Sukzessionsstaaten im Süden und im Osten guten Absatz finden, hat Wien seinen Anteil. Wien verdankt, wie wir sahen, seine Größe der Tatsache, Hauptund Residenzstadt einer fürstlichen Großmacht zu sein. Auf diesen Charakter war in Wien eigentlich alles zugeschnitten, nicht zuletzt auch die riesige Volkszahl. Nun das Imperium in Trümmer gefallen ist, Wien nur ein kleines und armes Deutsch-Österreich zum Hinterland hat und sich darauf beschränken muß, diesem als Kapitale vorzustehen, hat Wien recht eigentlich seinen Glanz verloren. In der alten Monarchie war es den Verhältnissen völlig angemessen, zwar übermäßig glänzend, aber doch proportioniert. Heute ist es zum Wasserkopf geworden, schlimmer als Kopenhagen für Dänemark und fast so schlimm wie Buenos Aires für Argentinien. Groß ist der Einfluß, den Wien kulturell auf den Osten ausgeübt hat. Es ist gewiß eine unerlaubte Übertreibung, wenn man das Herausreißen der heutigen Sukzessionsstaaten aus der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie und die besondere Stellung, die

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Wien hierdurch erhielt, mit den Worten umschrieben hat, Wien liege nunmehr an der Grenze des Balkans, den es mit einer festlichen Kulturleuchte, wenn auch unter erschwerten Verhältnissen, immer noch zu illuminieren versuche. Die Ungarn sind sicher keine Barbaren, und die vom Süden her, auch von altem venezianischem Einfluß durchdrungenen Jugoslawen auch nicht. Aber ein richtiger Kern steckt schon in der ungeheuern Übertreibung. Zwischen Konstantinopel und Wien liegt wirklich nichts an Quantität und Qualität Ebenbürtiges. Und die Jugoslawen aller Schattierungen der Serben, Kroaten und Slowenen, die Ungarn, Ruthenen und Ostjuden haben seit Jahrhunderten selbst Wien als die Stätte betrachtet, der sie sich mit Vorliebe zuwandten, wenn es galt, alte und berechtigte Eigenart zu verfeinern und abzuschleifen und mit westlicher Kultur, freilich auch mit westlichen Vergnügungen, in Berührung zu kommen. In einer Hinsicht ist Wien durch den Krieg, bevölkerungsmäßig gesprochen, deutscher geworden. Es hat keine slawischen Beamtenscharen in den Ministerien mehr, keine ungarischen Leibhusaren und polnischen Ulanen. Dafür ist auf der andern Seite ein großer Teil der früher in den andern Landesteilen der Monarchie ihres Amtes waltenden deutschsprachigen Beamten nach der Hauptstadt DeutschÖsterreichs zurückgeflutet. Was ihr zwar Schwierigkeiten bezüglich ihres Unterkommens in Wirtschaft und Wohnraum bereitet hat, anderseits aber den deutschen Charakter Wiens gestärkt hat. Technisch betrachtet, ist Wien nicht eigentlich eine moderne Stadt. Es hat zwar eine städtische Ringbahn, aber sie funktioniert nicht recht. Das Leben und Treiben auf den Straßen ermattet schon um 7 oder 8 Uhr nachts und stirbt wenige Stunden nachher völlig ab. Das mag auch mit folgendem zusammenhängen: in Wien erhält der Mieter vom Hausbesitzer keinen Schlüssel. Dieser verbleibt in den Händen eines Pförtners, und dieser wiederum hat das Recht, von später nach Hause Kommenden das sogenannte Sperrgeld einzufordern. Auch im Geschäftsleben Wiens herrscht die unmoderne Note vor. Der Errichtung von Warenhäusern zum Beispiel, die in Paris und Berlin so ausgebildet ist, sind in Wien die schwersten Hindernissee bereitet worden. Im ganzen darf man wohl sagen, daß wer wie der Sprecher von Wien nach Berlin, und von dort direkt weiter nach Paris fährt und den Eindruck der durch Straßenbild und Menschen gewon-

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nenen Intensität des Stadtlebens zahlenmäßig feststellen möchte, zu folgender Reihenfolge kommen würde: 1, 4, 5. Dabei ist Wien 1. Das mag zum Teil das Nachkriegswien betreffen, doch nur zum Teil. Denn auch der Verkehr der Kaiserstadt an der Donau war bedeutend matter als derjenige der Kaiserstadt an der Spree oder gar der der Rutetia Parisiorum. Ein merkwürdiges Schicksal hat der österreichische Adel erfahren. Dieser war dereinst mit gewissen Teilen der oberen Bürokratie zusammen das einzig Österreichisch-Staatliche in diesem durch das Nationalbewußtsein der verschiedenen Stämme immer mehr der Zersplitterung ausgesetzten Staatswesen. Denn der österreichische Adel, Schwertadel, Briefadel und Beamtenadel, wies ethnisch jeden erdenklichen Ursprung auf. Der österreichische Adel bestand in der Tat aus Flamen, Wallonen, Italienern, Spaniern, Schotten, Iren und Ungaren. Auch einige Deutsche waren dabei, zumal aus den böhmischen Gebieten. Dieser Adel, der zumal als Hofadel, Wien einen guten Teil seines Glanzes gab, ist heute zum großen Teil aus der Stadt verschwunden. Teils hat er sich verärgert auf seine ländlichen Güter in der Provinz zurückgezogen. Größernteils ist er zur Rettung des Vermögens böhmisch geworden, und sitzt nun auch den Winter über dort, um in tschechischen Demokraten nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, er sei landesfremd. So ist Wien im historisch-aristokratischen Wortsinne eigentlich entadelt. Noch mehr als es schon vorher der Fall war, ist die „Gesellschaft“ in Wien heute jüdisch, was natürlich nur wertfrei, daß heißt als Feststellung gesagt sein soll. Kaum ein anderer Bewohner einer Weltstadt weiß sich mit seiner Vaterstadt so eins und ist in so inniger Liebe mit ihr verbunden wie der Wiener. Ihm gilt Wien unbedingt als die schönste Stadt auf Gottes reichem Erdboden. Wenn er singt: „Es gibt nur a’ Kaiserstadt Es gibt nur a’ Wien!“ so ist das ebenso innig wie ernst gemeint, und wehe dem Fremden, der es sich herausnimmt, etwa den Josefsplatz nicht für größer und malerischer zu halten als die Place du Carroussel in Paris oder die Piazza del Popolo in Rom. Da versteht der Wiener keinen Spaß und kann wirklich böse werden. Aber seine Bewunderung für seine Stadt ist beim Wiener doch –

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außer im rein Sinnenmäßigen – mehr im Ästhetischen und Ethischen gebunden. Im Politischen und Ökonomischen ist der Wiener umgekehrt eher dazu geneigt, die Einrichtung an seiner Stadt gering zu schätzen. Hier unterscheidet er sich denn auch sehr stark vom Berliner. Wenn, sagen wir, festgestellt werden würde, daß zwei Prozent der adressierten Postsendungen, sowohl in Berlin als in Wien, ihr Ziel nicht erreichen sollten, so würde der Berliner in freudigem Stolze am Familientische seinen Kindern berichten, in Berlin ginge alles so ordentlich und glatt, daß auf der Post nur zwei Prozent der Postsendungen verloren ginge. Der Wiener aber würde, zu Hause angelangt, mit der Faust auf den Tisch schlagen und sich bitter beschweren, daß in Wien wieder einmal die Schlamperei so groß sei, daß sage und schreibe ganze zwei Prozent Postsendungen verloren gingen. Seine eigenartige geographische und politische Lage, die im Brennpunkt der Ausstrahlung dreier großer musikalischer Stämme, der Deutschen, der Slawen, der Italiener liegt, hat Wien seit dem 17. Jahrhundert seinen unzerstörbaren Charakter als Musikstadt gegeben. Wien ist die Hauptstätte der großen deutschen Komponisten gewesen. Nicht daß die dortigen Komponisten alle Wiener Kinder gewesen sind; Haydn und Schubert waren es; Mozart, Beethoven, sowie Brahms und Strauß entstammten einem mehr oder weniger weiteren Radius. Aber die heitere Eigenart der eigentlichen Wiener Bevölkerung, das freudige Völkergemengsel in den oberen Schichten und zumal auch der böhmische, polnische und ungarische großgrundbesitzende Adel, der in Wien seine Wintersitze hatte, später auch das reiche jüdische Bürgertum, erhoben in Wien die Pflege der Musik zu einer festen Tradition. Auch heute noch ist das Musikleben an der Donaustadt in bestem Flor und äußert sich nicht nur in regem Theaterund Konzertbesuche, den es in anderen Städten ja auch gibt, sondern auch zum Beispiel in jener beweiskräftigeren Erscheinung, daß es nirgendwo wie in Wien so viele Familien aus den gut christlichen Bürgerkreisen gibt, in welchen sich der Vater mit seinen Söhnen allwöchentlich zu einem Trio oder Quartett vereinigt. Und noch einen Beweis möchte ich anführen: Als vor einigen Jahren in Wien irgend ein nationalökonomischer Kongreß abgehalten wurde, wurden wir auch vom Finanzministerium freundlich eingeladen. Was man uns aber dort vorsetzte, waren nicht Wertpapiere oder Währungsreferate, sondern ein von den höheren Beamten des Ministeriums ausgeführtes

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Konzert. Man darf ruhig sagen: Derartiges ist nur in Wien möglich. In Berlin, Paris oder Rom wäre es undenkbar, weil die dortige Musikalität mindestens vor dem Heiligtum des Finanzministeriums Halt macht. In Wien aber drängt die Musik durch alle Poren. Schon im Jahre 1548 sang ein Dichter namens Schmelz die noch unbeholfenen, aber charakteristischen Verse, die einen der Kernpunkte der Stadt so richtig treffen sollten: Hie seind vil Singer saytenspil, Allerlay Gesellschaft, Frewden viel, Mehr Musikos und Instrument Findt man gewißlich an khainem end. Hier muß des Tanzes gedacht werden und bei diesem Worte genügen wiederum das Wort Walzer und der Name Strauß. Vor dem Aufkommen der amerikanischen Tanzarten konnte Wien überhaupt als die Geburtsstätte der modernen Tänze, deren Anregungen ihm freilich zum Teil durch die nahen slawischen Gegenden zugingen, gelten. Der Wiener tanzt leidenschaftlich, freudig, hingebungsvoll. Diese Eigenschaft hängt mit dem Gesamtcharakter der Wiener eng zusammen. Er ist heiter, lebenslustig, menschenfreundlich, so expansiv wie möglich. Als im Jahre 1768 dem Großherzog Leopold von Toskana, dem Sohn der Kaiserin, ein zweiter Sohn geboren wurde, stürzte Maria Theresia im Nachtgewand in das mit dem Schloß verbundene Burgtheater und rief von der Brüstung der kaiserlichen Loge herab dem versammelten Publikum die Worte zu: „Der Polde hat mir an Buaben geschenkt, und grad zum Bindband auf mein Hochzeitstag. Ist dös nit galant?“ Derartiges vermöchte mutatis mutandis auch heute noch in Wien gesagt zu werden. Und auch das ist noch echt wienerisch, daß dort die ersten Constabler (Polizisten) halb ernsthaft, halb spöttisch als Radauknechte bezeichnet wurden. Gutmütiger Humor, feine Ironie, leise überall mitklingende musikalische Stimmung, es ist schwer zu sagen, was den Reiz der Donaustadt ausmacht. Zerpflückt man ihn, zerlegt man ihn in seine Teile und setzt ihn dann in Vergleich mit dem, was man anderswo erlebte, so bleibt freilich eigentlich nichts Rechtes zurück. London ist größer, imponierender, vor allen Dingen selbstsicherer und dynamischer; die Pariser Boulevards und die Champs-Elysées sind schöner, reicher als die Wiener Ringe; Paris hat schönere Perspektiven, mehr gotische

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Kirchen; Rom hat prächtige Parks, Paläste und Kirchen aus der Renaissancezeit sowie eine Vergangenheit, die noch heute in Pracht dasteht und an der gemessen Wien arm erscheint. Und wenn Paris vibriert, so pulsiert Berlin, wo alles so viel hastiger, aber auch so viel arbeitsfreudiger und besser organisiert ist als in Wien. London, New York und Chicago haben stattliche Villenviertel, Paris besitzt einen schöneren Fluß, der außerdem die Stadt durchschneidet, damit sie ihre Denkmäler in ihm spiegeln kann. Rom hat den majestätischen Tiber, der es malerisch durchfließt; Köln hat seinen Rhein, der ihm das haarscharfe Profil zeichnet; New York hat seinen Hudsonfluß, Chicago seinen Michigansee, während Wien nur die Donau hat, die außerhalb der Stadt fließt und von deren Existenz niemand nichts wüßte, wenn die Wiener von ihr nicht so oft sängen und sagten. Und doch! Wien hat seinen hohen Reiz, er darf aber nicht in seine Teile zerlegt werden; er besteht nur in der Synthese und ist eigentlich nur psychologisch zu fassen. Es ist ein intimer Geist der Lieblichkeit, der in Wien seinen Sitz hat. Vielleicht liegt dieser auch weniger in Wien als im Wienertum, weniger in den Steinmassen als in den Menschenmassen. Wie dem immer sei, er ist da und wir freuen uns an ihm. Er ist es, um dessentwillen wir Wien nicht missen möchten. Denn, seien wir offen, wenn zum Beispiel Berlin und London ihre Gegner haben, die ihnen zwar Achtung entgegenbringen, aber mit ihrer Bewunderung kargen und ihnen die Liebe gar versagen, so gibt es über Wien nur eine Meinung, Ost und West, Süd und Nord, politischer Freund und politischer Feind, alle bringen Wien ehrliche Zuneigung entgegen. Kaum war der Weltkrieg zu Ende, da begannen die Italiener, die Tschechen und Serben (um von den entfernteren Franzosen und Engländern zu schweigen) der Stadt Wien wieder ihre Liebe zuzuwenden. Denn Wien ist recht eigentlich Kulturstadt. Kultur liegt nicht in der Vollendung der Organisation, sondern im Gemüt. Und Wien hat Gemüt.

Die Wissenschaften von den Weltstädten Nachwort von Rolf Rieß „Hier (d.i. München) genoß man einer heiteren Humanität, während die harte Luft der Weltstadt im Norden einer gewissen Menschenfeindlichkeit nicht entbehrte.“1 Einleitung

Die Neuherausgabe von alten Städteporträts bedarf einer Begründung. Keiner greift zu dem Buch, um sich über Berlin, London oder Paris heute zu informieren. Der Zweck kann also nur ein anderer sein. Michels Städtebilder dienen zum einen dazu, einen weitgehend unbekannten Teil seines Werkes zu erschließen, zum anderen sind sie Teil eines größeren Diskurses innerhalb der deutschen, aber auch internationalen Soziologie, die sich noch in ihrer Aufbauphase befand. Daher soll kurz die frühe deutsche soziologische Diskussion nachgezeichnet werden, um anschließend die Diskussion nach 1945 in einigen Aspekten darzulegen. Dass dies hier nur lückenhaft geschehen kann, dessen ist sich der Verfasser bewusst und verweist auf die Literatur in den Fußnoten, die einer intensiveren Beschäftigung weiterzuhelfen vermögen. Georg Simmel2

Die moderne Stadtforschung in Deutschland begann – trotz einiger Vorläufer wie Friedrich Engels – kurz nach der Jahrhundertwende 1903, als Georg Simmel, Philosoph und Soziologe, seinen Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ in dem Sammelband „Die Großstadt“ der Gehe-Stiftung veröffentlichte.3 Die anderen Beiträger waren 1 Thomas, Mann, München als Kulturzentrum, in: ders., Altes und Neues, Frankfurt/M. 1953, S. 314 – 321, hier S. 317. 2 Zu Biographie und Werk: Heinz-Jürgen Dahme / Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt/M. 1984. 3 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Grossstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stitung

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fast durchwegs nationalistische, konservative Autoren, wie Friedrich Ratzel oder Dieter Schäfer. Simmels Interesse changiert zwischen kultursoziologischen und psychologischen Aspekten, wobei der Schwerpunkt auf letzteren liegt: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht.“4 Die Rolle, die die Großstadt dabei spielt, sieht er wie folgt: „Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnten, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlichgeistigen Lebensbildes“.5 Daraus bilde sich ein Intellektualismus, der „gegen die Vergewaltigungen der Großstadt“6 schütze. Kultursoziologisch betrachtet Simmel die Großstädte als „von jeher die Sitze der Geldwirtschaft“7. Diese führe beim Individuum innerlich zur „Blasiertheit“ und in den äußeren Beziehungen zur „Reserviertheit“, die „dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit“ gewährt.8 Die Großstadt fördere zugleich das Bestreben nach Freiheit (Individualität) als auch erfordere sie als Wirtschaftszentrum Gleichheit der Individuen als Bedingung ihrer Funktionalität. Damit schließt Simmel seinen Essay mit der Zusammenfassung und Aufforderung: Dresden Bd. 9, hrsg. von Theodor Petermann), Dresden 1903, S. 185 – 206; hier zitiert nach: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908 Bd.1, hrsg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt (Gesamtausgabe Bd. 7), Frankfurt/M. 1995, S.116 – 132. 4 Georg Simmel, a.a.O., S. 116. 5 Georg Simmel, a.a.O., S. 117. 6 Georg Simmel, a.a.O., S. 118. 7 Georg Simmel, a.a.O., S. 118. 8 Georg Simmel, a.a.O., S.121 f. und S. 124.

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Rolf Rieß „Es ist die Funktion der Großstädte, den Platz für den Streit und die Einungsversuche beider herzugeben, indem ihre eigentlichen Bedingungen sich uns als Gelegenheiten und Reize für die Entwicklung beider offenbart haben. Damit gewinnen sie einen ganz einzigen, an unübersehbaren Bedeutungen fruchtbaren Platz in der Entwicklung des seelischen Daseins, sie enthüllen sich als eines jener großen historischen Gebilde, in denen sich die entgegengesetzten, das Leben umfassenden Strömungen wie zu gleichen Rechten zusammenfinden und entfalten. Damit aber treten sie, mögen ihre einzelnen Erscheinungen uns sympathisch oder antipathisch berühren, ganz aus der Sphäre heraus, der gegenüber uns die Attitüde des Richters ziemte. Indem solche Mächte in die Wurzel wie in die Krone des ganzen geschichtlichen Lebens eingewachsen sind, dem wir in dem flüchtigen Dasein einer Zelle angehören – ist unsere Aufgabe nicht, anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein zu verstehen.“9

Auch wenn dieser Essay außerordentliche Wirkung entfaltete – die Arbeiten Max Webers und Werner Sombarts wären ohne ihn nicht denkbar, aber auch in der amerikanischen Soziologie bei Louis Wirth wird er rezipiert –, so kann die Bedeutung nicht über Defizite hinwegtäuschen. Aus heutiger Sicht fällt auf, dass der Essay sich auf Geisteshöhen bewegt, die die Realität der Großstädte nicht mehr sieht oder diese als bekannt voraussetzt. So erfährt man nichts über das Elend der Wohnverhältnisse in den sog. Mietskasernen oder über die Migrationsprobleme, mit denen Berlin um die Jahrhundertwende bereits zu kämpfen hatte und die dem Berliner Simmel nicht unbekannt geblieben sein dürften. Letztlich aber nimmt Simmel einen beschränkten bürgerlichen Standpunkt ein, der zwar in Charlottenburg, nicht aber im Berliner Wedding auf Verständnis stoßen konnte. Werner Sombart10

Werner Sombart, Kollege und Konkurrent Webers, hat sich zunächst in ähnlicher Weise mit der Stadt beschäftigt. In seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ (1. Aufl. 1916, 3. Aufl. 1919) verortet Sombart die Stadt im Übergangszeitalter vom Vorkapitalismus zum Kapitalismus und legt dabei weniger Gewicht auf die Entstehung eines kapi9

Georg Simmel, a.a.O., S. 131. Friedrich Lenger, Werner Sombart. 1863 – 1941. Eine Biographie, München 1994. Jürgen Backhaus (Hrsg.), Werner Sombart (1863 – 1941). Social Scientist, Marburg 1996. 10

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talistischen Geistes als auf die „Objekte der Städtebildung“11. Im Ergebnis kommt er Weber dabei nahe: „In diesen Städten … entfaltete sich nun ein neues, eigen geartetes Wirtschaftsleben, das für die folgende Entwicklung der europäischen Kultur von ausschlaggebender Bedeutung wurde.“12 Aber er sieht die Ursachen ein wenig anders: „Zwei Kräfte haben es geschaffen: das Interesse jener kleinen Handwerkerexistenzen, die wir in den Marktbuden kampieren sahen oder in den kleinen Holzhäuschen, die wie Schwalbennester an die Burg, an das Palatium der reichen Grundherren geklebt waren. Und das Interesse der Stadt selbst.“13 Sombart wendet sich aber im dritten Band seines „Modernen Kapitalismus“ mit dem Titel „Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus“ (1927) erneut der Stadt zu. Unter dem Abschnitt „Die Arbeitskräfte“ behandelt er das Thema aus der Sicht der Produzenten in der Stadt und äußert sich über die Großstadt (S. 408 – 414): „Die Großstadt ist nicht dasselbe wie eine große Stadt: Es gibt Städte die größer sind als eine Großstadt und die doch keine Großstadt sind. Will sagen: die Großstadt ist kein statistischer, sondern … ein ökonomischer Begriff.“14 Hier nähert er sich nun dem Begriff der Weltstadt an und die Auswahl der Städte zeigt eine hohe Übereinstimmung mit Michels: „Die einwandfreien Erscheinungsformen der Großstadt sind nur die ganz großen Hauptstädte ganz großer Länder: Berlin, Paris, Wien, St. Petersburg, London, New York. An ihnen müssen wir beobachten, was das ökonomische Wesen dieses eigenartigen, in seiner vollen Entwicklung nur im Zeitalter des Hochkapitalismus auftretenden Städtetypus ausmacht.“15 1931 übernimmt Sombart die Abfassung des Artikels über „Städtische Siedlung“. Dies zeigt auch, dass die Stadtsoziologie in Deutschland noch wenig entwickelt war, wenn man dafür keinen anderen Referenten als den Nationalökonomen Sombart hat finden 11

Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus Bd. I.1, 3. Auflage München und Leipzig 1919, S. 159. 12 Werner Sombart, a.a.O., S. 179. 13 Ebenda. 14 Werner Sombart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München und Leipzig 1927, S. 408. 15 Ebenda.

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können. So ist Leopold von Wiese, dem Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Verfasser einer zweibändigen „Allgemein(en) Soziologie“, die Stadt gerade einmal sieben Zeilen wert16. In seinem Lexikonartikel „Städtische Siedlung, Stadt“17 arbeitet Sombart mit der Dichotomie Stadt–Natur. „Städtisch oder stadthaft siedeln heißt Siedeln (Wohnen) gegen die Natur“.18 Er spricht vom Aufzwingen der Natur „in einem weiteren Sinne: … Vergewaltigung der natürlichen Gegebenheiten der Umwelt“.19 Neben antimodernen Zügen („die gerade gepflasterte schnurgerade Chaussee gegen den sich schlängelnden Feldweg“) treten auch ökologische Aspekte („begradigte Flüsse“) auf, die auch heute noch oder wieder diskutiert werden. „Verstädterung“ sieht er als „Bestandteil jenes allgemeinen Vorgangs der Rationalisierung, Vergeistung, Entseelung, Entwurzelung, der den Inhalt der Geschichte ausmacht“.20 Sombart gibt dann Überblicke über Stadtbegriffe, Städtetypen, die Wissenschaften von der Stadt und der Städtestatistik. Mit Weltstädten beschäftigt er sich aber nicht, lediglich mit Großstädten. Auch in seinem letzten veröffentlichten Werk „Vom Menschen“ (1938) kehrt Sombart zum Thema Stadt zurück. Er betrachtet nun die Stadt unter anthropologischem Gesichtspunkt. Er sieht eine „Zusammenballung von Menschenhaufen in Städten“21 und erkennt „ein katastrophales Ausmaß im Zeitalter des Hochkapitalismus, für das die Stadt und insonderheit die Großstadt ein rechtes Wahrzeichen wird“.22 Die Großstadt schaffe sich „ihre eigenen Daseinsberechtigungen, ja sogar ihr eigenes Klima“23.

16 Vgl. Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie Teil II. Gebildelehre, München/Leipzig 1929, S. 52. 17 Werner Sombart, Städtische Siedlung, Stadt, in: Handwörterbuch der Soziologie, hrsg. von Alfred Vierkandt Stuttgart 1932, S. 527 – 533. 18 Werner Sombart, a.a.O., S. 527. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 21 Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, 2. Auflage Berlin 1956, S. 332. 22 Ebenda. 23 Werner Sombart, a.a.O., S. 333.

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Die Auswirkungen auf den Menschen sieht er wie folgt: „Der moderne Mensch ist der Großstadtmensch, dessen Dasein, von allen Banden der Landschaft und der Nachbarschaft gelöst, wieder ein nomadisches Gepräge annimmt und der sich als Kamel der Wüste, in der er lebt, des Automobils oder des Motorrades bedient.“24 Und mit theologischer Rhetorik geißelt er die Großstadt: „Alle die Höllen, in denen er aushalten muß, hat er sich selbst geschaffen. Ein besonders augenfälliges Beispiel dieser Selbstverdammung ist die Großstadt …“.25 Diese kulturkritischen Töne hat Robert Michels nicht angeschlagen. Seine Artikel sind eher deskriptiv als analytisch angelegt. Ihm geht es auch nicht so sehr um eine Theorie der Städtebildung als um eine Phänomenologie der Weltstädte. Max Weber26

Max Weber hat sich vor 1921 mit einer „Typologie der Städte“ im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“27 beschäftigt, die als 7. Abschnitt des IX. Kapitels in „Wirtschaft und Gesellschaft“ unter dem Stichwort „Die Nichtlegitime Herrschaft“ aufgenommen worden ist.28 Weber ist dabei nicht an den zeitgenössischen Städten interessiert, sondern er versucht, eine Genese der Stadt zu bringen und er betont die Bürgerlichkeit der okzidentalen Stadt im Gegensatz zur orientalischen Stadt: „Ein gesonderter Bürgerstand als ihr Träger war daher das Charakteristikum der Stadt im politischen Sinn.“29

24

Ebenda. Werner Sombart, a.a.O., S. 396. 26 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005; Dirk Käsler, „Max Weber“. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014; Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014. 27 Max Weber, Typologie der Städte, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47. Band (1921), S. 621 ff. 28 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Auflage, Heidelberg 1980, S. 727 – 814. 29 Max Weber, a.a.O., S. 736. 25

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Die Stadt ist für ihn als Zentrum der Kirche von Bedeutung und diese wiederum als Katalysator bei der Herausbildung einer spezifischen okzidentalen Rationalität, dem Geist des Kapitalismus. Oswald Spengler30

Oswald Spengler sieht wie Sombart in der Urbanisierung westlicher Zivilisation eine Verfallserscheinung: „Der Steinkoloß ,Weltstadt‘ steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht. Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt.“31 Dies führt dazu, dass „die letzten Städte … ganz Geist (sind)“32 , „… reiner Geist und wurzellos und an sich schon zivilisierter Gemeinbesitz“.33 Daran schließt er eine Prognose an, die teilweise auch eingetroffen ist: „Die Weltstädte der westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe – lange nach 2000 – Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als Wahnsinn erscheinen würden.“34

Spengler sieht dies alles aber als Zeichen des Untergangs, aus dem es auch kein Zurück (aufs Land) mehr gibt.35 Selbst die „weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die ,Zerstreuung‘“ sei unecht.36

30

Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988. 31 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 13. Auflage, München 1997 (1. Auflage 1923), S. 673. 32 Oswald Spengler, a.a.O., S. 673. 33 Oswald Spengler, a.a.O., S. 781. 34 Oswald Spengler, a.a.O., S. 675. 35 Vgl. Oswald Spengler, a.a.O., S. 676 f. 36 Oswald Spengler, a.a.O., S. 678.

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Letztlich aber fürchtet er den Verlust der Nation und die Entfremdung vom Dasein und vom eigenen Blut: „Es sind die Weltstädte, in denen neben einer Minderheit, welche Geschichte hat und die Nation in sich erlebt, vertreten fühlt und führen will, eine zweite entsteht: zeitlose, geschichtslose, literarische Menschen, Menschen der Gründe und Ursachen, nicht des Schicksals, welche, dem Blut und dem Dasein innerlich entfremdet, ganz denkendes Wachsein, für den Begriff der Nation keinen ,vernünftigen‘ Inhalt mehr entdecken.“37

Obwohl Spenglers Überlegungen kulturkritische Aspekte enthalten, die u. a. auch von Adorno aufgegriffen worden sind38, so führen sie letztendlich doch nicht weiter, da sich Spengler meist auf die antiken Weltstädte bezieht, über die modernen Städte aber lediglich spekuliert. Robert Michels39

Michels Arbeiten haben Vorläufer, denn Michels neigte zur Mehrfachverwertung. So lassen sich bereits 1924 ähnliche Artikel40 in den Basler Nachrichten finden. 1928 tritt er mit dem Gedanken an Ludwig Feuchtwanger, den Verleger von Duncker und Humblot, heran, daraus ein Buch mit dem Titel „Sieben Weltstädte“ zu machen. Feuchtwanger ist zwar zunächst nicht uninteressiert, weist aber schließlich das Angebot zurück, da die Lage auf dem Buchmarkt zu schlecht sei und schließlich erst noch ein anderes Projekt, Michels Patriotismusbuch, erscheinen müsse.41 Da beginnt Michels das Manuskript in Einzelfolgen in den Basler Nachrichten zu veröffentlichen. Auffallend ist aber, dass Michels sich zuerst an seinen Wissenschaftsverlag wendet, dann aber die Manuskripte einer Tageszeitung anvertraut. Hier stellt sich 37

Oswald Spengler, a.a.O., S. 780. Vgl. Theodor W. Adorno, Spengler nach dem Untergang, in: ders., Prismen, Frankfurt/M. 1955, hier zitiert nach: ders., Gesammelte Schriften Band 10.1, S. 47 – 71. Vgl. ders., Wird Spengler recht behalten?, in: ders., Gesammelte Schriften Band 20.1, S. 140 – 148. 39 Timm Genett, Der Fremde im Kriege. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels, Berlin 2008. 40 Vgl. Robert Michels, Zur Psychologie fremder Städte. Rom, in: Basler Nachrichten 29. 11. 1924, o. S. Robert Michels, Zur Psychologie fremder Städte. Paris, in: Basler Nachrichten 11. und 18. 10.1924, o. S. 41 Ludwig Feuchtwanger an Robert Michels Brief 28. 10. 1928 (Verlagsarchiv Duncker und Humblot). 38

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natürlich die Frage der Bearbeitung bzw. Umarbeitung für ein populäres Publikum. Sieht man sich Michels Artikel näher an, so fällt auf, dass die Artikel in den Fachjournalen und in der Basler Zeitung sich teilweise decken. So beginnt die Abhandlung über Paris beide Male mit den Worten: „Paris ist eine alte, historische Stadt“.42 Michels hat als Zugriff den soziologischen Ansatz gewählt. Es geht ihm keineswegs um die Anpreisung touristischer Attraktionen, sondern um die Herausarbeitung spezifischer Elemente, die die jeweilige Metropole aufweist und die sie zur Weltstadt machen. So glänzen Paris als „Modestadt, als Stadt des Geschmacks“, Wien als Kulturstadt, London als Wirtschaftsstadt, desgleichen Berlin, wenn auch als „eine der jüngsten Städte eines politisch jungen Volkes“. Nur zu Rom fällt ihm erstaunlich wenig ein, warum Rom noch immer oder wieder Weltstadt sei. Neben diesen Spezifika interessiert er sich für historische, demographische, soziologische und wirtschaftliche Aspekte, wie z. B. die Fürstenstadt, das Bevölkerungswachstum, Adel und Bürgertum, sowie die Rolle der Industrie. Dabei behandelt er auch Frauenfragen, wie z. B. das Bild der Pariserin oder den Frauenüberschuss in London. Auch kulturelle Aspekte, wie die italienische oder französische Literatur oder die Wiener Musik, finden Aufnahme. Wenig Aufmerksamkeit schenkt er religiösen Fragen – nur die jüdische Gesellschaft Wiens wird „wertfrei“ konstatiert. Auch Fragen der Architektur und des Verkehrs spielen nur eine untergeordnete Rolle. Dagegen beschäftigt er sich zwar kurz mit Arbeiter und Arbeiterbewegung in London, Rom und Paris, nicht aber mit den realen Wohn- und Lebensverhältnissen. In Berlin stellt er zwar eine „hohe Wohndichtigkeit“ im Vergleich zu London fest, aber er bescheinigt den Regierenden eine „vorzügliche Kommunalpolitik“. Angesichts der Wohnverhältnisse im Wedding, in Moabit oder am Prenzlauer Berg ist hier doch ein Fragezeichen zu setzen. Auch die Psychologie der Bewohner fällt zu stereotyp aus. Politisch anstößig wird es, wenn er in seiner Betrachtung Roms am Ende ein Loblied auf die faschistische Bau- und Meliorationspolitik in der römischen Peri-

42 Robert Michels, Paris, in diesem Band, S. 7 – 15. Robert Michels, Zur Soziologie von Paris, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie 1. Jg. (1925), S. 233 – 246, 355 – 373, hier besonders S. 233.

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pherie singt. Hier arbeitet Michels an der faschistischen Mythenbildung mit, die dem Vergleich der modernen Wissenschaft nicht standhält.43 Betrachtet man aus heutiger Sicht Michels Studien, so wird man sie als zu feuilletonistisch empfinden. Vergleicht man sie jedoch mit der soziologischen Stadtforschung seiner Zeit, so sind seine Ausführungen trotz soziologischer und politischer Mängel immer noch lesenswert, zumal bei ihm die stereotypen Urteile gegen die Großstadt, wie „Antiurbanismus, Antiamerikanismus, Antifeminismus und Antisemitismus“44 fehlen. Zwar steht auch er der Moderne ambivalent gegenüber, wie man am Vergleich der Städtebilder von London und Wien sehen kann, aber ein Zurück in ein romantisches Zeitalter vorkapitalistischer Zustände, wovon Sombart träumt, kennt er nicht. Die Diskussion nach 1945

Nach 1945 hat die Diskussion um die Weltstädte erst richtig an Fahrt gewonnen. Nun wird diskutiert, was Michels als bekannt voraussetzt, nämlich: Was ist eigentlich eine Weltstadt? Was macht sie aus? Was bewirkt sie? Die umfangreiche internationale Diskussion kann hier natürlich nicht nachgezeichnet werden, weswegen auf einige wenige Autoren Bezug genommen werden soll. Einen guten Überblick über die internationale Forschung gibt Ulrike Gerhard und stellt gleichzeitig den „Global City-Ansatz“ vor, der, auf die „aktuellen – nicht zuletzt globalen – Entwicklungen eingeht, welche in dieser Form aus früheren Stadtentwicklungsphasen nicht bekannt sind (z. B. Umwandlung der fordistischen Industriestadt, soziale und ethnische Fragmentierung, kulturelle Diversifizierung in den Städten, Ausbreitung medialer und virtueller Welten, sowie die weltweite Vernetzung der Städte)“.45 Auch gibt sie eine Definition von 43 Vgl. Hans Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 104 – 115, besonders S. 112 f. Vgl. Wolfgang Schieder, Der italienische Faschismus, München, 2010, S. 47 – 53, besonders S. 50 f. 44 Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 236. 45 Ulrike Gerhard, Global Cities-Anmerkungen zu einem aktuellen Forschungsfeld, in: Geographische Rundschau 56 (2004), Heft 4, S. 4 – 10, hier S. 4.

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Weltstadt, wobei sie konkurrierende Bezeichnungen nicht unterschlägt: Eine „World City/Weltstadt“ sei eine „Großstadt mit überproportionalem Anteil an weltweiten sozio-ökonomischen Verflechtungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Kunst. Betonung des kosmopolitischen Charakters von Städten.“46 Ergänzt wird diese Definition durch sieben Weltstadthypothesen von J. Friedmann. „1. Maßgeblich für strukturelle Veränderungen in Städten sind ihr Integrationsgrad in den Weltmarkt sowie die Funktionen, die ihnen in der neuen internationalen Arbeitsteilung zugeschrieben werden. 2. Einzelne Städte werden vom globalen Kapital als „Stützpunkte“ (basing points) zur räumlichen Ordnung von Produktion und Markt genutzt. 3. Die globale Kontrollfunktion von Weltstädten wird in der Dynamik und Struktur ihrer Produktions- und Beschäftigungssektoren deutlich. 4. Weltstädte sind die wichtigsten Orte der Konzentration und Akkumulation von internationalem Kapital. 5. Weltstädte sind die Zielorte einer großen Zahl nationaler und internationaler Migranten. 6. Weltstädte zeigen die wesentlichen Widersprüche des industriellen Kapitalismus auf – darunter räumliche und klassenspezifische Polarisierung. 7. Durch das Wachstum von Weltstädten entstehen hohe soziale Kosten, die die Finanzkapazität des Staates gefährden.“47

Während diese eher ökonomistische Sichtweise die Diskussion der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmte, trat in den 90ern ein cultural turn ein. Generell lasse sich aber feststellen, „dass die Abgrenzung von Global Cities immer schwieriger wird“.48 Heute gehe man von „55 Weltstädten auf drei verschiedenen Ebenen“49 aus. Dabei nehmen die von Michels untersuchten Städte London und Paris Alpharang ein, während Rom und Berlin am unteren Ende, Gamma-Weltstädte, rangieren. Wien ist ganz aus dieser Rangordnung gefallen und hat seinen Weltstadtstatus verloren. Während die Geographin Ulrike Gerhard am Schluss ihrer Erörterungen auch die Kritik am Global City-Ansatz zu ihrem Recht kommen lässt, verfolgt der Romanist Albert Daus einen 46 47 48 49

Ulrike Gerhard, a.a.O., S. 5. Ebenda. Ulrike Gerhard, a.a.O., S. 7. Ulrike Gerhard, a.a.O., S. 8.

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kulturalistischen Ansatz.50 Er nähert sich der Definition über einen synchronen sprachwissenschaftlichen Ansatz: „Der Ehrentitel ,Weltstadt‘ ist eine Besonderheit der deutschen Sprache. Hier ist es ein sehr geläufiges, ein Alltagswort, das in der Regel mit konkreten außergewöhnlichen Städten verknüpft ist.“51 Danach gibt er sich Betrachtungen einzelner Weltstädte, wie z. B. Paris und Berlin, hin. Diese seien nicht nur groß. „Eine Weltstadt hatte auf Anhieb und auf Dauer entweder berückend oder grandios beängstigend zu sein; sie war faszinierend, überwältigend, respekteinflößend.“52 Es siegten, so Daus, „Emotionen über nackte Zahlen“.53 Paris wurde zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin). Letztendlich beschreibt Daus mehr, als er erklärt, wie man auch am Abschnitt „Der Typus ,Weltstädter‘ und ,Weltstädterin‘“54 sehen kann, der sich in einer teils willkürlichen Auflistung von Verhaltensweisen („Der Mensch in einer Weltstadt verfolgt Krönungsumzüge (in Moskau, Paris, London)“) und Eigenschaften („Der Mensch in einer Weltstadt hat ein Kurzzeitgedächtnis“) erschöpft, die der Autor selbst als absurd qualifiziert. Vergleicht man die Auflistung von Daus mit Michels Arbeiten, so zeigen die Städteporträts einen gewissen Grad an Übereinstimmung in den kulturellen Fragen und in der essayistischen Form. Was eine moderne Stadtgeschichte leisten kann, die „als Sozial- und Kulturgeschichte konzipiert [ist], die ökonomische, demographische, politische, stadtplanerische und künstlerische Dimensionen mit einschließt“55, zeigt Friedrich Lenger in seiner europäischen Stadtgeschichte „Metropolen der Moderne“. Dort finden auch London und Paris als „Schrittmacher der Moderne“56 ihre Anerkennung. Ein Kapitel ist der „Großstadtwahrnehmung und Großstadtkritik“57 gewidmet und

50 51 52 53 54 55 56 57

Ronald Daus, Weltstädte. Von der Norm zur Laune, Berlin 2006. Ronald Daus, a.a.O., S. 9. Ronald Daus, a.a.O., S. 13. Ebenda. Ronald Daus, a.a.O., S. 161 ff. Friedrich Lenger, a.a.O., S. 17. Friedrich Lenger, a.a.O., S. 27 ff. Friedrich Lenger, a.a.O., S. 234 – 244.

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stellt dar, dass Michels, der im Übrigen nicht beachtet wird, sich in seiner Darstellung von den frühen deutschen Soziologen abhebt. Neuere Darstellungen kennen die Weltstadt als Begriff nicht mehr.58 Das Verschwinden des Begriffes in Zeiten zunehmender Globalisierung erfordert aber eine Zunahme historischer Reflexionen. Nur wer weiß, was es schon gegeben hat, kann sich über Gewinne und Verluste Rechenschaft geben. Michels Essais können dazu einen kleinen Teil beitragen.

58 Vgl. Harald A. Mieg / Christoph Heyl (Hg.), Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013. Vgl. Stephan Günzel (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, 2013

Verzeichnis der Druckorte 1. Paris: Basler Nachrichten 23. Jg. (1929), Nr. 30 (28. 07. 1929), S. 130 ff. 2. London: Basler Nachrichten 24. Jg. (1930), Nr. 9 (02. 03. 1930), S. 38 ff. 3. Berlin: Basler Nachrichten 24. Jg. (1930), Nr. 29 (20. 07. 1930), S. 133 ff. 4. Rom: Hochland 28. Jg. (1931), S. 357 – 362. 5. Wien: Basler Nachrichten 26. Jg. (1932), Nr. 49 (04. 12. 1932), S. 206 ff.

Zu Autor und Herausgeber Robert Michels studierte nach Privatunterricht und dem Besuch des Collège Français in Berlin und des Carl-Friedrich-Gymnasiums in Eisenach sowie anschließendem freiwilligen Militärdienst 1896 – 1900 Geschichte und Nationalökonomie in Paris (Sorbonne), München, Leipzig und Halle. Zu seinen einflußreicheren akademischen Lehrern zählten Gustav Droysen jun., Johannes Conrad, Karl Lamprecht und Theodor Lindner. M. promovierte 1900 bei Droysen an der Univ. Halle-Wittenberg zum Dr. phil. mit einer Arbeit über die Vorgeschichte des Einfalls Ludwigs XIV. in Holland. Nach der Heirat folgten zahlreiche Auslandsaufenthalte in Frankreich, Belgien und vor allem in Italien. 1903 – 05 bekleidete M. eine Dozentur an der Univ. Brüssel, 1906 wurde er Mitglied der Société de Sociologie in Paris. Nach der Habilitation 1907 an der Univ. Turin bei Achille Loria wirkte er dort bis 1914 als Privatdozent. Seit etwa dieser Zeit unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu Max Weber. 1914 – 28 wirkte er als o. Professor der Nationalökonomie an der Univ. Basel und als Titularprofessor der Nationalökonomie an der Univ. Turin, seit 1928 lehrte er zugleich als Ordinarius für Nationalökonomie und Geschichte der Lehrmeinungen an den Universitäten Perugia und Rom, sowie an der faschistischen Parteihochschule in Perugia. * Rolf Rieß, geb. 1959, studierte Geschichte, Germanistik und Soziologie in Regensburg, Bielefeld und München. Er arbeitet als Gymnasiallehrer und veröffentlichte Aufsätze zu Werner Sombart, Robert Michels, Gustav Schmoller und Aldolph Wagner. Bei Duncker & Humblot gab er heraus: Ludwig Feuchtwanger, Gesammelte Aufsätze zur jüdischen Geschichte (2003), Carl Schmitt – Ludwig Feuchtwanger, Briefwechsel 1918 – 1035 (2007); Ludwig Feuchtwanger, Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums. Beiträge zur Grundlegung der jüdischen Geschichte (zusammen mit Reinhard Mehring, 2011) sowie Robert Michels, Der Patriotismus (2013).