Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22 [Illustrated] 3161466004, 9783161466007

Originally presented as the author's thesis--Erlangen/N'urnberg, 1993.

208 4 38MB

German Pages 445 [467]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhalt
Vorbemerkungen
I. Einleitung. »Wildwuchs« oder »lutherische Engführung«? Probleme der theologischen Lutherrezeption in der frühen Reformationszeit und der anhaltende Widerstreit der Forschungsmeinungen
II. Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie Martin Luthers im Spiegel seiner publikumswirksamen Schriften bis 1522
§ 1 Herstellung von Öffentlichkeit durch die Druckerpresse
1. Luther als Volksschriftsteller
a) Allgemeine Würdigung von Leistung und Talent Luthers
b) Das zentrale Thema der Schriften des Reformators
c) Wissenschaft und Leben – Probleme der Transformation und Vermittlung
2. Luther als Erfolgsautor und Massenpublizist
a) Kriterien der Schriftenauswahl und methodisches Vorgehen
b Die Quellengrundlage in tabellarischer Übersicht
c) Druckorte der genannten Ausgaben bis 1522
d) Statistische Ableitungen
3. Die Lutherbibliographie als Indikator möglicher Rezeptionsinhalte
a) Die Intentionen Luthers
b) Primäre Interdependenzen zum Rezipientenkreis
§ 2 Eine Erkenntnis bricht sich Bahn – die Anfänge publizistischer Wirksamkeit 1518
1. Der sog. reformatorische Durchbruch und sein literarischer Niederschlag in der Öffentlichkeit
a) Begrenzung auf die Rezeptionsthematik
b) Konstitutionsmerkmale früher Rechtfertigungstheologie
c) Klärung der Rechtfertigungstheologie als Anlaß zur Massenpublikation
d) Die Frage nach Entwicklung, Wandel und Kontinuität der Hauptaussagen
2. Die beiden Sermone von doppelter und dreifacher Gerechtigkeit
a) Erstzeugnisse rechtfertigungstheologischer Vernetzungen
b) Datierungsfragen und ihre Aussagekraft für Luthers Aufbruch
c) Der paradigmatische Charakter der Inhalte
d) Die Gleichsetzung von iustitia Dei und iustitia Christi als Skopus
3. Die Frontstellung von Ablaß und Gnade als Initialzündung
a) Der »Sermon von Ablaß und Gnade«
b) Zu Luthers ›Apologie‹ auf Tetzels ›Confutatio‹
4. Präfigurationen des rechtfertigungstheologischen communio-Gedankens in den lateinischen Lutherschriften von 1518
§ 3 Entfaltung und Vertiefung – die Sermone der Jahre 1519/20
1. Die seelsorgerlich-katechetische Dimension – Anleitungshilfen zu einem Leben aus Glauben
a) Neubewertung der traditionellen Volks-Lehrstücke Dekalog, Credo und Paternoster
b) Die »Perichorese« von Glaube und erstem Gebot
c) Rechtfertigungstheologische Aussagen zum Verhältnis von Glaube und Unglaube
2. Sakramentale Verifikation der Rechtfertigungsbotschaft
a) Die drei Sakramentssermone vom Spätherbst 1519
b) Zeichen und Bedeutung (signum und res)
c) »Ein Sermon von dem Neuen Testament, das ist von der heiligen Messe«
d) Wort und Glaube (promissio und fides)
3. Iustificatio sola fide als Trost im Leiden und Sterben
a) Christi Kreuz und Auferstehung ins Leben ziehen
b) Die »Tessaradecas consolatoria«
c) »Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben«
d) Theologia crucis, vita passiva und christusconformitas
4. Sozialethische und ekklesiologische Konkretionen
a) Auf dem Weg zu einer evangelischen Ethik
b) Handeln aus Glauben
c) Das neue Gemeindeverständnis als Ausdruck von Erfahrung und Wirkung der Rechtfertigung
§ 4 Assertio iustificationis – die reformatorischen Hauptschriften von 1520
1. »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung«
a) Theologische Konsequenz der Rechtfertigung: Das Priestertum aller Gläubigen
b) Ethische Implikation der Rechtfertigung: Befreiung zur Tat
2. »De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium«
a) Sakramentale Demonstration der Rechtfertigung: Unser Heil bei Gott
b) Eschatologische Antizipation der Rechtfertigung: Gerecht in der Christusgegenwart
3. »Von der Freiheit eines Christenmenschen/De libertate christiana«
a) Christologische Konzentration der Rechtfertigung: Der fröhliche Wechsel
b) Soteriologische Manifestation der Rechtfertigung: Christus der Ersterstandene
c) Anthropologische Reflexion der Rechtfertigung: Einander Christus werden
§ 5 Gewissenstrost in Zeiten der Krise – die Schriften der Jahre um Worms 1521/22
1. Verbum dei versus doctrina humana
a) Das Bekenntnis von Worms als Kriterium rechtfertigungstheologischen Urteilens
b) Sieg der Gewissensfreiheit
2. Der »Sermon von dem unrechten Mammon«
a) Allein der Glaube rechtfertigt (»inwendige Rechtfertigung«)
b) Die Werke folgen nach (»offenbare Rechtfertigung«)
c) Rückblick und Vergleich mit dem »Sermo de duplici iustitia«
§ 6 Hauptlinien der von Luther volkstümlich vermittelten Rechtfertigungsbotschaft
1. Theologie der Freiheit
2. Theologie des Wortes
3. Theologie der Relationen und Unterscheidungen
4. Theologie der Bilder und Vergleiche
5. Theologie der Kommunikation (Der fröhliche Wechsel als Integral populärer Rechtfertigungstheologie Martin Luthers)
6. Folgerungen für die Rezeptionsmodalitäten
III. Die lutherische Rechtfertigungstheologie im Spiegel ausgewählter Flugschriften aus den ersten sog. »Sturmjahren« der Reformation 1521/22
§ 1 Die Flugschriftenliteratur als Forum »reformatorischer Öffentlichkeit«
1. Die Flugschriftenliteratur der Reformationszeit
a) Was ist eine »reformatorische« Flugschrift?
b) Kurze Flugschriftentypologie
c) Besonderheiten der Flugschriftenproduktion im frühen 16. Jahrhundert mit vorrangiger Beachtung der Jahre um Worms 1521/22
2. Die Rolle der Flugschriftenpublikation bei der Entstehung und Ausbreitung der Reformation
a) Stadt und Reformation
b) Buch und Reformation
c) Stadt und Buch
3. Die Flugschriften der Jahre um Worms 1521/22
a) Erläuterungen zur Quellengrundlage
b) Formal-thematische Bestandsaufnahme
c) Gewichtungen, Relationen und tabellarische Übersicht der Flugschriftenquellen
d) Methodische Hinweise zur Erschließung der ausgewählten Quellen
§ 2 Die lutherische Rechtfertigungslehre auf dem Prüfstand – Darstellung und Beurteilung der frühreformatorischen Lehrmeinung als Flugschriftenthema
1. Reflektierte Luthereuphorie
a) Urbanus Rhegius’ Rehabilitierungsversuch einer mißverstandenen und irrtümlich verketzerten Theologie
b) Michael Stifels Loblied auf eine »christförmige und rechtgegründete Lehre«
2. Diskutierte Lutherrezeption
a) Der Rechtfertigungsglaube als Grund kirchlicher Reform
b) Das Rechtfertigungsevangelium als gesamtgesellschaftlicher Anspruch
3. Begründete Entscheidung
a) Ein Büchlein »Vom alten und neuen Gott, Glauben und Lehr«
b) Die Schrift als norma normans rechter Lehre
c) Evangeliumstreue und Luthers Rechtfertigungsbotschaft
§ 3 Herkunft, Bildung, Stand – Zur Akzeptanz der lutherischen Rechtfertigungslehre in den gesellschaftlichen Gruppen
1. Der in die Pflicht gerufene Adel
a) Die rechtfertigungstheologisch bestimmte Aufgabe und Verantwortung der weltlichen Obrigkeit
b) Reichsritter außerhalb des Ebernburgkreises als theologische Schriftsteller
2. Das einfache, mit geistlicher Vollmacht begabte Volk
a) ›Die Gelehrten die Verkehrten‹
b) Publizistische Verständigung mit dem reformatorischen Anliegen der Laien
c) Erste Flugschriften von Repräsentanten des ›gemeinen Volkes‹ und ihr Umgang mit der Rechtfertigungslehre
3. Die zur Reform aufgeforderten Geistlichen
a) Priesteramt ist Predigtamt: Das öffentliche Drängen auf Verkündigung des Rechtfertigungsevangeliums
b) Mönche, Kleriker und Prädikanten als erste Parteigänger Luthers
4. Die humanistisch gebildeten, von Luthersympathie erfaßten Laien
a) »Niemand kann durch die Verdienste eigener Tugend zum Olymp emporsteigen«
b) Über den Platzregen des Evangeliums
c) Allegorische Trichotomie: Die Seele zwischen Geist und Fleisch
§ 4 Erzwungene Mobilität – Personale Verbindungslinien zwischen regionalen Schwerpunkten der Flugschriftenbewegung bei der frühen Lutherrezeption
1. Die Anfänge der Ulmer Reformation
a) Zwei provokative Lesemeister im Franziskanerkloster (Johann Eberlin von Günzburg und Heinrich von Kettenbach)
b) Ein treuer Prediger an der Liebfrauenkirche (Johann Diepold)
2. Augsburg und das Aufkeimen der reformatorischen Bewegung im Inntal
a) Umstrittener Domprediger in Augsburg und gefährdeter Prädikant in Hall (Urbanus Rhegius)
b) Der vertriebene Vorgänger in Hall (Jakob Strauß)
3. Zufluchtsstätte Wittenberg
a) Der Einfluß Luthers und die Wirkung der persönlichen Begegnung
b) Wittenberger »Exilschriften«
§ 5 Differenzierte Meinungsbildung – Der Einfluß der literarischen Gattung auf die Rezeption der lutherischen Rechtfertigungslehre
1. Reformationsdialoge
a) Der rechte Glaube als »Stammtischthema«
b) Das reformatorische Lehrgespräch
c) Die Rechtfertigung allein aus Glauben als Überzeugungsargument
2. Predigten, Bearbeitungen und Nachschriften
a) Die Vielfalt der reformatorischen Predigt im Überblick
b) Die Rechtfertigung allein aus Glauben als Leitmotiv
3. Briefe, Missiven und Sendschreiben
4. Traktate, Programm- und Lehrschriften
a) Radikale Umwertung der menschlichen Existenz im Dasein vor Gott und für den Nächsten
b) Die Rechtfertigung allein aus Glauben als Sinnmitte des Lebens
5. Streitschriften (Apologien und Widerlegungen)
a) Zur Verteidigung reformatorischer Predigt
b) Georg Feners Kampf um das rechte Meßverständnis
c) Aus dem Erfurter Prädikantenstreit
d) Die Rechtfertigung allein aus Glauben als Ursache theologischer Kontroverse
§ 6 Die Flugschrifteninhalte im Prisma der lutherischen Rechtfertigungslehre
1. Die Kernaussagen der Rechtfertigungsbotschaft in den Flugschriften der Jahre um Worms 1521/22 im Kontext ihrer wichtigsten Entfaltungsfelder
2. Die Aufnahme der lutherisch geprägten Grundsätze der Reformation
3. Die paradigmatische Funktion der Massenpublikationen Luthers
IV Ergebnis. Die geschichtsbildenden Rezeptionsstränge der frühen Reformationsbewegung (drei systemsprengende Gegensätze zur spätmittelalterlich-scholastischen Theologie)
V. Thesen
A. Von Luthers Theologie zur Reformation
B. Luthers Rechtfertigungslehre in ihrer massenpublizistischen Vermittlung bis Ende 1522
C. Theologische Lutherrezeption in den reformatorischen Flugschriften von 1521/22
D. Die Geschichtswirksamkeit der Rezeption
Anhang. Textbeispiele zur Rezeption der lutherischen Abendmahlsauffassung in der reformatorischen Flugschriftenpublizistik von 1521/22
Bibliographische Angaben
I. Verzeichnis der Quellen
II. Hilfsmittel zur Erschließung des Quellenmaterials (Druckverzeichnisse und Wörterbücher)
III. Sekundärliteratur (Darstellungen, Monographien, Aufsätze und Lexikonartikel)
Register
I. Bibelstellen
II. Personen
III. Orte
IV. Werke
Recommend Papers

Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22 [Illustrated]
 3161466004, 9783161466007

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Titelholzschnitt tröstlichen Vermahlung

zu Johann

Eberlins

an alle frommen

>freundlicher Christen

zu

und Augsburg
Apologie< auf Tetzeis >Confutatio
Antwort auf Sprüche, so man führt, Menschenlehre zu stärken< ist — motiviert

Herstellung

Fortsetzung von Tabelle Nr.

von Öffentlichkeit

durch die Druckerpresse

29

I:

Titel und Jahr des Erstdrucks

Ausgaben- Ausgabenanzahl bis anzahl Ende während 1522 der Jahre um Worms 1521/22' 3 '

Ausgabenanzahl nach 1522 (zu Lebzeiten Luthers)

28. W i d e r den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes u n d der Bischöfe 1522

14©

14©

29. Epistel oder U n t e r r i c h t von den Heiligen an die Kirche zu Erfurt 1522

12

12

30. Vom ehelichen Leben 1522

10

10

3

31. Betbüchlein 1522' '

11

11

26

32. Predigt am Johannestag 24.6.1522

11

11

2

33. S e r m o n von d e m unrechten M a m m o n 17.8.1522 (2 Fassungen)' 10 '

10

10

2

9

Übers, bis 1522 (Ausgabenanzahl und Sprache)

1'

-

® Eine Ausgabe jeweils nur Teildruck. durch die Ausarbeitung der gegen die Vorwürfe Heinrichs VIII. gerichteten Schrift >Contra H e n r i c u m regem Angliae< (vgl. WA 10/11, [175] 180-222; dt. [223] 227-262) - als Anhang zu der schon vorher im D r u c k vorliegenden Belehrung >Von Menschenlehre zu meiden< entstanden (vgl. WA 10/11, 61f). Von den 16 bis 1522 erschienenen Ausgaben bringen acht ausschließlich den ersten Teil, nur bei vier Ausgaben sind beide Teile zusammengedruckt worden, in den verbleibenden vier Fällen wurde die >Antwort< bloß äußerlich angebunden. Die nach 1522 publizierten Drucke berücksichtigen dann von vornherein beide Teile. ' 9 ' Das >Betbüchlein< von 1522 umfaßt in überarbeiteter Fassung die Schrift >Eine kurze Form der 10 Gebote, des Glaubens und des VaterunsersErfurter Übersetzung< (fünf Ausgaben) und eine von Georg Spalatin besorgte Verdolmetschung (13 Ausgaben) —jeweils inklusive einer niederdeutschen Ausgabe. Die tschechische Ubersetzung leitet sich von der Erfurter Ubersetzung her.

Herstellung von Öffentlichkeit

durch die

c) Druckorte der genannten Ausgaben bis

31

Druckerpresse

1522

U b e r die Drucker Luthers und ihre lokale Wirksamkeit sind wir trotz mancher sog. >heimatloser< Drucke, die in ihrem Impressum weder Hinweise auf Drucker noch D r u c k o r t geben, recht gut informiert 4 3 . Z u m Uberblick über Luthers literarisches Schaffen kann so ergänzend die komplementäre Betrachtung der Druckgeschichte dieser Schriften treten. Kurzgefaßt b e deutet das: U b e r die zeitliche K o m p o n e n t e hinaus erhalten wir Anhaltspunkte für die räumliche Ausbreitung der Lehre Luthers. A u f die schnelle Ausweitung des Kreises an Druckern, die ihre Produktion völlig auf Luther umstellten, wurde immer wieder verwiesen 4 4 . Uns interessiert in diesem Zusammenhang, wie rasch und wie weit sich der Radius u m Wittenberg ausstreckt. Welches sind die Zentren der Massenpublikation? Insbesondere der Nachdruck außerhalb Wittenbergs dürfte für eine weiträumige Verbreitung der reformatorischen Gedanken Luthers gesorgt haben. D i e w i c h tigsten Buchdruckzentren zur damaligen Zeit waren Leipzig, Nürnberg, Augsburg, Straßburg und Basel. Diese sind zugleich die häufigsten D r u c k o r te der in den voranstehenden Tabellen aufgeführten Massenpublizistik L u thers. Für den Zeitraum bis 1 5 2 2 ergibt sich folgende Ubersicht zu den zehn erstplazierten Erscheinungsorten (bei den Schriften der Tabelle II. B wurden die deutschen Ubersetzungsausgaben einbezogen) 4 5 : Nr. Druckort

Anzahl der Ausgaben entsprechend den Erscheinungsjahren 1518

1519

1520

1521

1522

Augsburg Wittenberg Leipzig Straßburg Nürnberg Basel Erfurt Wien Hagenau Halberstadt

7 11 26

21 17 35 5 12 9 1 1

60 40 25 18 16 9 2 2 1 2

20 18 2 7

25 34

Z

52

175

72

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

-

5 3 -

-

-

-

101

-

6 3 6 6 4

Z

-

133 120 88 40 36 35 15 11 7 6

91

491

-

10 3 8 9 2 -

Vgl. hierzu u.a. OTTO CLEMEN: Die lutherische Reformation und der Buchdruck, S. 1 9 - 3 1 ; HEINRICH GRIMM: Die Buchführer des deutschen Kulturbereichs und ihre N i e derlassungsorte in der Zeitspanne 1490 bis um 1550, Arch. f. Gesch. des Buchwesens 7 (1967), Sp. 1 1 5 3 - 1 7 7 2 ; HANS VOLZ: Martin Luthers Schriften und ihre Druckgeschichte, 43

S. 1 2 5 f f ; H E L M U T C L A U S / M I C H A E L A . PEGG: E r g ä n z u n g e n z u r B i b l i o g r a p h i e d e r z e i t g e -

nössischen Lutherdrucke, S. 197—221 ( = Gesamtregister der Drucker und Verleger sämtlicher Lutherdrucke, Namensverzeichnis und topographische Ubersicht). Ein Großteil der heimatlosen Drucke konnte durch den Vergleich der Drucktypen identifiziert werden. 44

V g l . z . B . H A N S VOLZ: a a O . , S. 1 2 6 f .

128.

Mit dieser Ubersicht dürfte auch die Behauptung von HANS-JÜRGEN GOERTZ, das »massenwirksame Schaffen des Reformators« habe erst mit den Schriften von 1520 eingesetzt, widerlegt sein (vgl. Pfaffenhaß und groß Geschrei, S. 74). 45

32

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

d) Statistische Ableitungen Die Produktion der massenwirksamen Schriften Luthers beschränkte sich — abgesehen von Wittenberg und der mitteldeutschen Nachbarstadt Leipzig — auf die oberdeutschen Handelsstädte. Augsburg behauptet sogar die Spitzenposition vor Wittenberg! Beachtlich ist der sprunghafte Anstieg der D r u c k erzeugung von 1518—1520. Die Verhängung der Reichsacht über Luther und das im Wormser Edikt ausgesprochene Druck- und Verkaufsverbot seiner Schriften 4 6 führten 1521 wohl zu einem massiven Einbruch, der aber 1522 bereits kaum mehr spürbar ist. Auch treten nun vermehrt andere reformatorische Autoren auf, die den Offizinen mit ihren Schriften neue Absatzmöglichkeiten eröffneten. Die vor den Wormser Ereignissen einsetzende Ausweitung des Nachdruckgebietes wird jedoch kurzzeitig gehemmt. Infolge des Einschreitens reformationsfeindlicher Obrigkeiten hat mancherorts sicher auch die Furcht der Drucker vor Bestrafung zu dieser Entwicklung beigetragen. Dennoch erreichen die ca. 31% der zusammengestellten deutschsprachigen >Bestsellerschriften< bis 1522 durchschnittlich eine Ausgabenhöhe von 13,58 (bei den lateinischen Schriften ergibt sich ein ähnlicher Wert, rechnet man die deutschen Ubersetzungsausgaben hinzu). Die vor dem R e zeptionszeitraum erschienenen Schriften verzeichnen 1 5 2 1 / 2 2 im Mittel immerhin 1,32 Ausgaben. Alles in allem macht die Massenpublizistik Luthers (also diejenigen Schriften des Reformators, die bis 1522 zehn und mehr Ausgaben erfuhren) rund die Hälfte aller bis dahin veröffentlichten Ausgaben aller seiner Schriften aus. Das Titelverhältnis der Massenpublikationen zur gesamten Schriftenproduktion des Reformators bis 1522 schwankt aber lediglich zwischen einem Viertel und einem Fünftel. Relativ wenige Schriften, aber immerhin 35 von insgesamt 160, haben also eine ungleich höhere Ausgabenanzahl erreicht als das Gros der Lutherpublikationen, so daß zum angegebenen Zeitpunkt von den als publikumswirksam einzustufenden Veröffentlichungen ca. 50% der Lutherdrucke überhaupt repräsentiert werden. Hier wird besonders deutlich, wie wichtig diese Spitzengruppe ausgabenreicher Einzelschriften für die Ausbildung öffentlicher Meinung war.

3. Die Lutherbibliographie

als Indikator möglicher

Rezeptionsinhalte

Für die »einzigartige Resonanz«, die Luthers öffentliches Auftreten fand, stellt die Verbreitung von Luthers Schrifttum — insbesondere des erbaulichreligiösen — ein »objektives Symptom« 4 7 dar. Die Lutherbibliographie ermöglicht es daher erst, Einblicke in die Vermittlungsgeschichte der reforma4 6 Vgl. D R T A . J R 2, (640) 6 4 3 - 6 5 9 ( = Nr. 9 2 : W o r m s e r Edikt vom 8. Mai 1 5 2 1 ) ; hier 655, 12-23. 47

G E R H A R D EBELING: L u t h e r , S. 5 5 . K r i t i s c h dazu H A N S - C H R I S T O P H RUBLACK: M a r -

tin Luther und die städtische soziale Erfahrung, S. 105.

Herstellung von Öffentlichkeit

durch die

Druckerpresse

33

torischen Lehre zu gewinnnen 48 . In einer Fülle von Sermonen und Traktaten bemühte sich Luther in den Jahren vor Worms um eine breite Leserschaft. Die große literarische Leistung v.a. der Anfangszeit würdigte der katholische Lutherkenner Joseph Lortz als »eine hochbedeutsame, ungewöhnliche, direkt religiös-seelsorgerlich ausgerichtete Arbeit« 49 . Die Hervorhebung des pastoraltheologischen Aspekts dürfte zudem grundsätzlich für die Absichten Luthers charakteristisch sein. a) Die Intentionen

Luthers

Immer wieder betonte Luther in kurzen Vorworten und Widmungsschreiben zu einigen seiner Schriften, er wolle die Gewissen trösten, unterrichten und durch Gottes Wort befreien 50 . Die christliche Verantwortung trieb ihn dazu an, R a t und Unterrichtung zu geben; niemandem wollte er es jemals schuldig bleiben, »seiner seelen zu helffen« 51 . Luther ging es allein darum, »ut Christus Christum Christo nunciet et audiat«52. Sicher greift man nicht zu weit, wenn man ein ausgeprägtes theologisches Bewußtsein und eine engagierte pastorale Fürsorge als Motivation des Schreibens und Publizierens Luthers als Maxime erkennt, der sich andere Beweggründe unterordnen. »Luther verstand ... seine deutschen lehrhaften Drucke als Predigten mit anderen Mitteln« 53 , als eine Verlängerung der Reichweite der paulinischen fides ex auditu (Rom 10, 17). 4 8 Zur Geschichte der Lutherbibliographie vgl. HANS VOLZ: Die Lutherbibliographie im Lichte der Geschichte, Gutjb 44 (1969), S. 3 1 3 - 3 3 0 . Mit dem Werk von J o s e f Benzing erreicht die in vier Perioden dargebotene Nachzeichnung, ausgehend von Veit Ludwig von Seckendorf ( 1 6 2 6 - 1 6 9 2 ) , ihren »Höhepunkt und Abschluß« (aaO., S. 330). Nachzutragen bleibt freilich der 1982 erschienene Supplementband zu Benzings Lutherbibliographie von Helmut Claus und Michael A. Pegg. 4 9 JOSEPH LORTZ: Reformatorisch und Katholisch b e i m j u n g e n Luther ( 1 5 1 8 / 1 9 ) , S. 51 ( = ders.: Erneuerung und Einheit, S. 634). 5 0 Vgl. z.B. das Widmungsschreiben zu den drei Sakramentssermonen von 1519 an die Herzoginwitwe Margarethe von Braunschweig-Lüneburg: »Hab zu letzt mich bewege(n) lassen ... ettlich sermo(n) ... auß zulassen von den heiligen hochwirdigen vnd trostlichen sacrament / der Puß / der Tauff / des heiligen leychnams / angesehe(n) / das ßouil betrübt vn(d) beengstet gewissen erfunden« (StA 1, 245, 1 4 - 1 9 = WA 2, 713, 1 7 - 2 1 ) . Am Beginn von >Menschenlehre zu meiden< heißt es: »Ich, Martin Luther, hab diß kurtz buchle tzu trost und erredtung der armen gewissen ... lassen außgehn, Da mit sye sich rüsten unnd stercken künden durch das wort gottis ...«; »Ich will diße Christliche freyheytt nur den armen gefangen demu(e)ttigen gewissen prediget haben ...« (WA 10/11, 72, 4 - 7 . 17f). >Vom ehelichen Leben< zu handeln sieht sich Luther genötigt, um »die elenden verwyrreten gewissen tzu unterrichten« (WA 10/11, 275, 8f). 51 Vgl. WA 7, 290, 1 2 - 1 4 (>Ein Unterricht der Beichtkinder über die verbotenen B ü c h e s ) ; «... mein syn ist yhe, das ich yderman nutzlich, nyemant schedlich were« (WA 2, 80, l l f ; >Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen LaienSermo de virtute excommunicationisEleutherius< sehr schön als Indiz der n e u g e f u n d e n e n christlichen Freiheit herausgearbeitet (vgl. L u d e r - L u t h e r - Eleutherius, S. 201). 55 JOSEPH LORTZ: R e f o r m a t o r i s c h u n d Katholisch b e i m j u n g e n L u t h e r ( 1 5 1 8 / 1 9 ) , S. 54 (= ders.: E r n e u e r u n g u n d Einheit, S. 637). D a ß L u t h e r bereits abgeklärte A n s c h a u u n g e n in der Zeit u m 1519 vor der Öffentlichkeit »etwas zu verschleiern sucht« (ebd.), k a n n ich allerdings nicht e r k e n n e n . 56

B E R N D M O E L L E R : D a s B e r ü h m t w e r d e n L u t h e r s , S. 7 1 . G e g e n J O H A N N E S SCHWITAL-

LA, der den Massenerfolg Luthers in dessen Kirchenkritik v e r m u t e t (vgl. D e u t s c h e Flugschriften 1 4 6 0 - 1 5 2 5 , S. 274). H ä t t e z.B. der B a r f u ß e r m ö n c h Augustin v o n Alveldt aus Leipzig die lateinisch b e g o n n e n e Auseinandersetzung u m die Schlüsselgewalt des Papstes nicht mit einer deutschen Schrift brisant gemacht, wäre es zu einer E n t g e g n u n g Luthers in der Volkssprache nicht g e k o m m e n : » . . . vnd w o er sein affenbuchle nit het y n ß deutz geben / die a r m e n leyenn zuvorgifften / w e r er m i r viel zugering angesehen«; »Doch laß ich m i r die vrsach w i l k u m m e n sein / von der C h r i s t e n h e i t / etwas f ü r die leyen z u u o r k l e r e n / v n d den vorfurischen meystern zu begegnenn« (BoA 1, 361, 5 - 7 ; 325, 1 7 - 1 9 = W A 6, 323, 2 8 - 3 0 ; 286, 2 4 - 2 6 ; >Von d e m Papsttum zu R o m w i d e r d e n h o c h b e r ü h m t e n R o m a n i s t e n zu Leipzig«) • 57 Für die Massenpublikationen gilt auch weiterhin die klare S c h e i d u n g der Sprachbereiche.

Herstellung von Öffentlichkeit

b) Primäre Interdependenzen zum

durch die

Druckerpresse

35

Rezipientenkreis

Luther hatte präzise Vorstellungen über den Adressatenkreis seiner Schriften. Er nahm Sprache und Stil in den Dienst größtmöglicher Verständigung mit dem Empfänger und schrieb rezipientenbezogen 58 . Seine >Auslegung deutsch des Vaterunsers< versah er darum auch explizit mit dem Hinweis »für dye einfeltigen leyen« 59 , und es ist ihm darum zu tun, daß er sich »weyter vorcleret« 60 . Die einfache, nichtakademische Bevölkerung wird angesprochen, mit dem Ziel, sie über den Ertrag der theologischen Arbeit Luthers für das alltägliche Leben in Kenntnis zu setzen. Es geht um die das Leben des spätmittelalterlichen Menschen bestimmende Heilsfrage, um den rechtfertigenden Glauben, um das Sein vor Gott — in welcher Form, wird nachfolgend noch ausfuhrlich darzustellen sein. Für >mutmaßliche< Rezipienten bedeutet dies freilich, daß sie aus dem Adressaten- und Leserkreis stammen müssen; nur so ergibt j a auch die Erstellung einer Rezeptionsgrundlage Sinn. Es geht hier eben nicht um Reformation im Hörsaal, sondern um ihre auf gesellschaftliche Ebene transformierte Gestalt. Es geht um Ausbildung öffentlicher Meinung und ihre tragenden Impulse, nicht um theologische Spezialistendiskussionen.

58 59 60

Vgl. H E R B E R T WA 2, 80, lf. WA 2, 80, 10.

WOLF:

Martin Luther, S. 94.

§ 2 Eine Erkenntnis bricht sich Bahn — die Anfänge publizistischer Wirksamkeit 1518 Die §§ 2—5 orientieren sich bei der Eruierung der öffentlich dargelegten rechtfertigungstheologischen Grundaussagen Luthers an der chronologischen Folge der als Massenpublikationen festgestellten Schriften. Sowohl die Gattungen als auch die Zeitereignisse geben dabei Anlaß, das betreffende halbe Jahrzehnt von 1518—1522 in vier Abschnitte zu untergliedern: die Anfänge (1518) — die Periode der Entfaltung ( 1 5 1 9 / 2 0 ) — die Phase der Zuspitzung (reformatorische Hauptschriften 1520) — die Zeit der Bewährung in der Krise (die Jahre um Worms 1 5 2 1 / 2 2 ) . Der Einsatz mit dem Jahr 1518 ist zugleich mit einer Reminiszenz von Luthers reformatorischem Aufbruch überhaupt verbunden. Nach der bereitwillig aufgenommenen Auslegung der sieben Bußpsalmen 1517 1 sorgte gleich die zweite deutsche Veröffentlichung Luthers 2 für Aufsehen: Der >Sermon von Ablaß und GnadeTheologia Deutsch< (vgl. WA 1, [ 1 5 2 ] 1 5 3 ) ! 3 Vgl. BoA 1, (10) 11-14 = WA 1, (239) 243-246. Entgegen der Datierung in den Monat Februar (vgl. WA 1, 239) folge ich den Überlegungen von OTTO CLEMEN in BoA 1

2

1 , 1 1 u n d GEORG M E R Z i n M ü 3 1, 4 7 0 .

37

Eine Erkenntnis bricht sich Bahn kongruente Motive, vergleichbare K o n t e x t e oder auch

übereinstimmende

Beweggründe? I c h m e i n e , d i e s e F r a g e n b e j a h e n zu k ö n n e n , u n d w a g e d i e T h e s e , i m T h e o l o g u m e n o n d e r gratis p r o p t e r C h r i s t u m p e r f i d e m g e s c h e h e n d e n fertigung einen Leitfaden vorzufinden, der Luthers eigene

Recht-

theologische

Klärung auszudrücken vermochte, seiner kirchlichen Verantwortung S p r a c h m i t t e l i n d e n M u n d l e g t e u n d »die M a s s e n in B e w e g u n g

h a t « 4 . D i e s ist i m e i n z e l n e n z u v e r i f i z i e r e n u n d d a r z u l e g e n , w o b e i knapp a u f die Frage nach d e m vieldiskutierten r e f o r m a t o r i s c h e n

die

gebracht auch

Durch-

bruch Luthers eingegangen werden m u ß .

a) Begrenzung

auf die

Rezeptionsthematik

E s ist u n m ö g l i c h , d i e b r e i t e n t f a l t e t e D i s k u s s i o n s l a g e z u r F r a g e n a c h Z e i t punkt und t h e o l o g i s c h e m Gehalt der reformatorischen Erkenntnis bei L u t h e r m i t all i h r e n V e r s c h l i n g u n g e n a n d i e s e r S t e l l e in e x t e n s o a u f z u z e i g e n u n d z u w ü r d i g e n 5 . D i e k o m p l i z i e r t e u n d v e r w o r r e n e F o r s c h u n g s l a g e zu d e n A n f ä n g e n d e r R e f o r m a t i o n s t h e o l o g i e 6 ist v.a. d u r c h d i v e r g i e r e n d e I n t e r p r e t a 4

S o m i t B E R N D MOELLER: D i e R e z e p t i o n L u t h e r s , S. 7 0 ; g e g e n JOHANNES HALLER: D i e

Ursachen der Reformation, S. 42. Freilich kann ein solcher Begründungszusammenhang, wie wichtig er auch sein mag, nicht das Gesamtphänomen der Reformation erklären. ALISTER E. MCGRATH formuliert daher völlig zu Recht: »... the relationship between initia theologiae Lutheri and initia Reformationis is now appreciated to be far too complex to permit the conclusion that Luthers discovery o f the >righteousness o f God< initiated the Reformation« (Iustitia Dei, Bd. 1, S. 9). Monokausale Entwicklungsschemata greifen nicht, doch wurde bislang der theologische Faktor viel zu gering veranschlagt! 5 Vgl. dazu v.a. die beiden von BERNHARD LOHSE herausgegebenen Sammelbände unter dem gemeinsamen Titel: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (= Lohse I), fortgeführt durch eine Zusammenstellung >Neuere[r] UntersuchungenNeuere[n] Beiträge[n]< zur gleichen Thematik hebt PESCH dann positiv hervor, daß seit Bizers >Fides ex auditu< in dritter Auflage von 1966 »die Zahl der unterschiedlichen Gesamtergebnisse geringer wird« (aaO., S. 120 [=

38

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

tionen der frühen Vorlesungen Luthers entstanden 7 . Dabei stehen für die >Fixierung< eines Durchbrucherlebnisses zunehmend alternativ der Zeitraum zwischen 1514/15 oder das Frühjahr 1518 zur Debatte 8 . Erst im Anschluß an Ernst Bizers engagiert vorgetragene Spätdatierung auf die Zeit zwischen Januar 1518 und April 1519 9 hat man im Kontext retrospektivischer Methodik bis zur Zeit der reformatorischen Hauptschriften ausgegriffen, um von einer gesicherten reformatorischen Position ausgehend in einer Art subtrahierenden Rückschlußverfahrens festzustellen, wo die Grenzlinie zwischen neuer und alter Positionsbeschreibung in den Äußerungen Luthers liegt10. Da erst ab 1518 gedruckte Schriften Luthers in Massenpublikationen vorliegen, die im engeren Sinne auch als breite Rezeptionsgrundlage für Anhänger der anbrechenden Reformation gelten können, richtet sich unser Interesse hauptsächlich auf den Stand der reformatorischen Erkenntnis Luthers ab 1518, insbesondere in bezug auf die Ausbildung seiner Rechtfertigungslehre. Die Frage nach Inhalt und Zeitpunkt des reformatorischen Durchbrucherlebnisses ist daher nur insoweit von Belang, als die Forschung in der Lage ist, zur Gestalt der Rechtfertigungslehre im theologischen Denken Luthers ab 1518 mit gesicherten Aussagen Hilfestellung zu leisten. Aus dem eigenständigen Zweig der Lutherforschung, der aus der Frage nach dem reformatorischen Durchbruch entstanden ist, ist also ein bilanzierendes Teilergebnis zu artikulieren und für die Frage nach der Rezeptionsgrundlage fruchtbar zu machen 11 . Kann man ab dem verstärkten literarischen Hervortreten Luthers, also ab Anfang 1518, davon ausgehen, daß alle wesentlichen Lohse II, S. 328]). Von der H o f f n u n g auf eine n e u e K o n s e n s f i n d u n g durch weitere Voten spricht z.B. MARTIN BRECHT: Iustitia Christi, S. 179 (= Lohse II, S. 167). 7 E i n e n anderen W e g zur E r f o r s c h u n g des r e f o r m a t o r i s c h e n D u r c h b r u c h s wählte KURT ALAND. Er zog nicht die Vorlesungen, s o n d e r n p r i m ä r die Briefe u n d Predigten der F r ü h zeit für die D u r c h d r i n g u n g dieser Fragestellung heran (vgl. Z e i t p u n k t u n d C h a r a k t e r des r e f o r m a t o r i s c h e n Erlebnisses M a r t i n Luthers, M ü n c h e n 1965; Auszüge bei Lohse I, S. 3 8 4 412). 8 Vgl. REINHARD SCHWARZ: Luther, I 29. Z u r Vielzahl der unterschiedlichen D a t i e rungsthesen vgl. GERHARD PFEIFFER: Das R i n g e n des j u n g e n Luther u m die Gerechtigkeit Gottes, S. 31f (= Lohse I, S. 1 7 0 - 1 7 2 ) ; OTTO HERMANN PESCH: Z u r Frage nach Luthers r e f o r m a t o r i s c h e r W e n d e , S. 2 6 8 - 2 7 4 (= Lohse I, S. 4 8 9 - 4 9 7 ) ; DERS.: N e u e r e Beiträge, S. 1 1 2 - 1 2 3 (= Lohse II, S. 3 2 0 - 3 3 1 ) . 9 Vgl. ERNST BIZER: Fides ex auditu, S. 131. Diese D a t i e r u n g hatte bereits HARTMANN GRISAR vertreten, freilich u n t e r ganz anderen I n t e n t i o n e n (vgl. Luther, Bd. 1, S. 308). 10 Dieses Vorgehen m a c h t e sich v.a. der Bizer-Schüler OSWALD BAYER in seiner verdienstvollen Dissertations- u n d Habilitationsschrift zu eigen. D e r seiner M e i n u n g nach das R e f o r m a t o r i s c h e b e s t i m m e n d e promissio-Begriff f u n g i e r t dabei als K r i t e r i u m der U b e r p r ü f u n g (vgl. Promissio. Geschichte der r e f o r m a t o r i s c h e n W e n d e in Luthers T h e o l o g i e , G ö t t i n g e n 1 9 7 1 / D a r m s t a d t 2 1989). 11 Die Genese der r e f o r m a t o r i s c h e n R e c h t f e r t i g u n g s e r k e n n t n i s w ä h r e n d der f r ü h e n Vorlesungen bleibt w e i t g e h e n d unberücksichtigt. H i e r ü b e r gibt eine Fülle v o n Spezialunt e r s u c h u n g e n A u s k u n f t . F r ü h d a t i e r u n g o d e r Spätdatierung ist so ebenfalls kein H a u p t t h e ma. D i e historische partícula veri beider Positionen soll vielmehr e i n g e b u n d e n sein in die systematischen Ableitungen (vgl. auch OTTO HERMANN PESCH: Z u r Frage nach Luthers r e f o r m a t o r i s c h e r Wende, S. 2 7 5 - 2 7 7 [= Lohse I, S. 4 9 7 - 5 0 1 ] ) .

Eine Erkenntnis

bricht sich

Bahn

39

Aussagen zur Rechtfertigungstheologie bereits vorliegen und präzise gefaßt sind? O d e r muß man noch mit weiteren evtl. gravierenden Entwicklungsstufen rechnen, die dann dementsprechend für die Rezeption in den Jahren 1 5 2 1 / 2 2 von Bedeutung geworden sein könnten? b) Konstitutionsmerkmale früher

Rechtfertigungstheologie

In der Praefatio zum ersten B a n d der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften von 1 5 4 5 1 2 spricht Luther im R ü c k b l i c k davon, daß ihm die Paulus-Stelle R o m 1, 17 das Tor zum Paradies gewesen sei (»... mihi iste locus Pauli fuit uere porta Paradisi« 13 ). Als er die Genitivverbindung iustitia D e i vom nachstehenden atl. Schriftzitat >Iustus ex fide vivit< (Hab 2, 4b) aus zu begreifen lernte, da war er hindurch und hatte das Empfinden, von n e u e m geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten zu sein (»Hic me prorsus renatum esse sensi, < e t > apertis portis in ipsam Paradisum intrasse« 14 ). Dieses Selbstzeugnis seines Durchbrucherlebnisses gibt zugleich wichtige Hinweise auf die theologischen Inhalte der neu geschenkten E r kenntnis. Von der Gerechtigkeit Gottes ist hier die R e d e , die, ihrer philosophisch-formalen und distributiven Deutung enthoben, nun durch das Evangelium als passiv-imputativ erfahren werden kann 1 5 . Das aus dem Glauben erwachsende Leben des dieser Gerechtigkeit Gottes teilhaftig Gewordenen 1 2 Vgl. StA 5, (618) 6 2 4 - 6 3 8 = W A 54, (176) 1 7 9 - 1 8 7 . Z u r problematischen Auswertung der autobiographischen Darstellung für Zeitpunkt und theologischen Gehalt des reformatorischen Durchbruchs vgl. ERNST STRACKE: Luthers großes Selbstzeugnis 1 5 4 5 über seine Entwicklung zum R e f o r m a t o r , Leipzig 1 9 2 6 (Auszüge in: Lohse I, S. 1 0 7 - 1 1 4 ) ; HEINRICH BORNKAMM: Iustitia dei in der Scholastik und bei Luther, in: ders.: Luther. Gestalt und Wirkungen, Gütersloh 1 9 7 5 , S. 9 5 - 1 2 9 ; AXEL GYLLENKROK: Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen T h e o l o g i e Luthers, S. 7ff; KURT ALAND: D e r W e g zur R e f o r m a t i o n , S. 4 0 - 5 3 ( = Lohse I, S. 3 8 7 - 4 0 6 ) ; HEIKO A . OBERMAN: »Iustitia Christi« und »Iustitia Dei«, Lohse I, S. 4 1 3 - 4 4 4 , bes. S. 420ff; ERNST BIZER: Fides ex auditu, S. 1 6 5 - 1 7 1 ; ROLF SCHÄFER: Zur Datierung von Luthers reformatorischer Erkenntnis, Z T h K 66 (1969), S. 1 5 1 - 1 7 0 ( = Lohse II, S. 1 3 4 - 1 5 3 ) ; MARTIN BRECHT: Iustitia Christi, S. 1 8 3 - 1 9 0 ( = Lohse II, S. 1 7 1 - 1 7 8 ) ; REINHARD SCHWARZ: Luther, I 2 8 - 1 32 ( = Lohse II, S. 3 6 0 - 3 6 4 ) ; REINHART STAATS: Augustins »De spiritu etlittera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 3 1 - 3 4 ( = Lohse II, S. 3 6 8 - 3 7 1 ) . 1 3 StA 5, 6 3 7 , 9 f = W A 54, 186, 15f. 14 StA 5, 6 3 7 , 2 f = W A 54, 186, 8f. 1 5 D e r B e g r i f f >iustitia dei passiva< erscheint aber erst verhältnismäßig spät in der gegen Erasmus gerichteten Schrift >De servo arbitrio< 1 5 2 5 (vgl. B o A 3, 2 7 0 , 2 8 f f = W A 18, 7 6 8 , 3 6 f f ) . Für die reformatorische Entdeckung ist daher weniger das passivische Verständnis der iustitia D e i relevant als vielmehr die >connexio verborum< (vgl. StA 5, 6 3 6 , 15 = W A 54, 186, 3) der Versteile in R o m 1, 17. Vgl. hierzu HEINRICH BORNKAMM: Iustitia dei in der Scholastik und bei Luther, S. 1 1 7 f mit Anm. 101; KURT ALAND: D e r W e g zur R e f o r m a t i o n , S. 5 0 f ( = Lohse I, S. 4 0 3 ) ; REINHARD SCHWARZ: Luther, I 31 ( = Lohse I, S. 3 6 3 ) . N e u e r dings mit Nachdruck und Auswirkungen auf die Datierungsfrage vertreten von REINHART STAATS: Augustins »De spiritu et littera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 3 8 f f ( = Lohse II, S. 3 7 5 f f ) . Das N e u e hegt demnach für Luther in der Erkenntnis der Gottesgerechtigkeit als Lebenswirklichkeit.

40

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin Luthers

e r h e b t s i c h j e t z t ü b e r die als spes v a n a e r k a n n t e e i g e n e G e n u g t u u n g v o r G o t t . D i e fremde, überkleidende, zugeeignete, vor G o t t in G e l t u n g befindliche G e r e c h t i g k e i t m a c h t d a m i t alle a n d e r e n — i m a g i n ä r e n — H e i l s w e g e z u n i c h t e . I n j e d e m Fall l i e g t d e r B r e n n p u n k t v o n L u t h e r s E n t d e c k u n g d a r i n , d i e i u s titia D e i als Geschenk

z u v e r s t e h e n , aus d e m h e r a u s d e r G e r e c h t e lebt,

und

z w a r e x fide. D a s r e f o r m a t o r i s c h e U r e r l e b n i s ist so k o n s t i t u t i v m i t d e m B e g r i f f d e r iustitia D e i v e r b u n d e n , u n d i n s o f e r n v o n i h r gesagt w e r d e n k a n n »qua n o s D e u s m i s e r i c o r s i u s t i f i c a t p e r f i d e m « 1 6 , ist z u g l e i c h d e r

Kern-

gedanke der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e ausgesprochen17. In dieser H i n s i c h t e n t sprechen die A n g a b e n der V o r r e d e den bei der Erfassung

reformatorisch

ausgerichteter Rechtfertigungsaussagen in den frühen exegetischen V o r l e sungen Luthers zutage geförderten Ergebnissen18. S c h o n i m R ö m e r b r i e f k o l l e g ( 1 5 1 5 / 1 6 ) b l i t z t s c h l a g l i c h t a r t i g d i e s a c h l i c h e G l e i c h s e t z u n g d e r iustitia D e i m i t d e r iustitia f i d e i kraft d e r iustitia C h r i s t i a u f 1 9 , w a s i h r e m » R e u e l a r i 16 StA 5, 6 3 7 , 1 = WA 5 4 , 1 8 6 , 7 ; Vgl. jedoch den Gesamtzusammenhang StA 5 , 6 3 5 , 1 7 637, 14 = WA 54, 185, 12-186, 20. 17 Freilich ist Luthers Entdeckung nicht identisch mit dem ersten Verständnis seiner Rechtfertigungstheologie (vgl. HEINRICH BORNKAMM: Iustitia dei in der Scholastik und bei Luther, S. 119ff), wohl aber wird ein gewisser Abschluß ihrer Entwicklung erreicht, der Luther fähig macht, sie griffig zu formulieren und sicher zu handhaben. 18 Zur Herausbildung reformatorischer Grundaussagen in den frühen Vorlesungen Luthers vgl. überblicksweise MARTIN BRECHT: Iustitia Christi, S. 191-221 (= Lohse II, S.

179-209). 19 Vgl. die Scholie zu R o m 1, 17 m StA 1, 102, 2 6 - 2 8 . 2 9 - 3 1 : »Sed in solo euangelio reuelatur Iustitia Dei per solam fidem, qua Dei verbo creditur«. »Iustitia enim Dei est causa salutis. Et hic iterum >Iustitia Dei< non ea debet aeeipi, qua ipse Iustus est in seipso, Sed qua nos ex ipso Iustificamur, quod fit per fidem evangelii« (= WA 56, 171, 2 8 - 1 7 2 , 1. 3 - 5 ) . Vgl. ferner den Abschnitt der Glosse zu R o m 3 , 2 1 in WA 56, 36, 1 1 - 2 3 und die gleichsetzende Verbindung von iustitia Dei und iustitia Christi bezüglich R o m 3, 26 nach WA 56, 39, 1 4 - 1 6 : »Sustentat ergo, vt remittat, Remittit, Vt ostendat Iustitiam suam siue Iustificationem nostri per fidem propitiatorii in sanguine ipsius«. Weitere Belege bei MARTIN BRECHT: aaO., S. 2 0 4 - 2 1 2 (= Lohse II, S. 192-200). »Hätte Luther die reformatorische Entdeckung auf das Jahr 1515/1516 datiert, wäre man ohne weiteres bereit, die zweideutigen Gedankenelemente als belanglose Reste zu interpretieren« (aaO., S. 21 l f [= Lohse II, S. 199f]). Zur Römerbriefvorlesung als Zeugnis reformatorischer Rechtfertigungslehre vgl. auch BERNDT HAMM: Martin Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit, S. 59f; sowie DERS.: Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre?, S. 3 1 - 3 5 . Die Identifikation der iustitia Dei mit der iustitia fidei weist EMANUEL HIRSCH schon in den >Dictata super psalterium< (1513/15) nach (vgl. die Aufstellung einiger Textbelege: Initium theologiae Lutheri, Lutherstudien, Bd. 2, S. 29, Anm. 1 [= Lohse I, S. 87f, Anm. 64]). Für die sprachliche und exegetische Durchbildung der neuen Entdeckung »Gerechtigkeit Gottes gleich Christus, gleich Gottes Barmherzigkeit, gleich Gerechtigkeit des Glaubens, gleich Gerechtigkeit aus Gott, gleich Gerechtigkeit vor Gott, gleich wahres Ehren Gottes als Gott« (aaO., S. 34 [= Lohse I, S. 94]) greift er dann aber hinsichtlich des Zeitraums bis zur endgültigen Gestaltgewinnung mit der Jahresangabe 1525 zu weit aus. In der Hebräerbriefvorlesung 1517/18 besteht kein Zweifel mehr am neuen Denken: »... male exponitur de iustitia Dei, qua ipse iustus est, nisi sie intelligeretur, quia fides ita exaltat cor hominis et transfert de seipso in Deum, ut unus spiritus fiat ex corde et Deo ac sie ipsa divina iustitia sit cordis iustitia quodammodo« (BoA 5, 362, 2 4 - 2 7 = WA

Eine Erkenntnis

bricht sich Bahn

41

per Euangelium« 20 entspricht. Denn wenn Christus als das Wort Gottes (vgl. Joh 1, 14) Inhalt des Evangeliums ist und der Glaube aus dem Hören auf dieses Wort kommt (vgl. R o m 10, 17), dann durchdringen sich die drei genannten Gerechtigkeiten so, daß sie mutatis mutandis das gleiche bedeuten. Freilich darf dabei das Interpretament nicht so weit vom Interpretandum emanzipiert werden, daß es schließlich dasselbe verdrängt. Dies geschieht m.E. bei einer zu eng gefaßten Worttheologie, die die Neubewertung der Absolution als heilschaffendes Wort bzw. den promissio-Begriff der iustitiaDei-Entdeckung vorordnet 21 und anstelle R o m 1 , 1 7 nunmehr M t 16, 19 als Basistext des sog. >Reformatorischen< substituiert 22 . »Luther hat nun einmal gesagt, er habe die iustitia Dei als iustitia fidei entdeckt« 23 , so daß alle Versuche, hier definitorische Verengungen des Reformatorischen einzutragen, nur j e partielle Richtigkeit beanspruchen können. Einen verträglichen und 57/1 II, 187, 16—188, 1). A u f dieses Scholion zu Hebr 7, 1 verwies jüngst Lennart Pinomaa als Fixpunkt der in der Opera-Vorrede beschriebenen reformatorischen Grunderfahrung (vgl. N o c h einmal: Der reformatorische Durchbruch Luthers, Luther 61 [1990], S. 7 7 - 8 0 ) , doch befindet sich diese Stelle schon seit langem in der Diskussion (vgl. z.B. ALBRECHT PETERS: Luthers Turmerlebnis, S. 205, Anm. 20 [ = Lohse I, S. 246, Anm. 20]; oder MARTIN B R E C H T : a a O . , S . 2 1 7 [ = L o h s e I I , S. 2 0 5 ] . O S W A L D B A Y E R b e h a n d e l t i n s e i n e r H e b r ä e r b r i e f -

untersuchung [vgl. Promissio, S. 203—225] diese Stelle bezeichnenderweise nicht, da hier sein promissionaler Ansatz nicht greift, verweist aber auf ihren dokumentarischen Wert für die Theologie Luthers als »besonders wichtigen Exkurs >de divina iustitia« [aaO., S. 174 mit Anm. 81]). 2,1 StA 5, 636, 18 = WA 54, 186, 6. 21 OSWALD BAYER spricht aufgrund des für die Theologie Luthers der Jahre 1 5 1 8 - 1 5 2 0 hervorragend eruierten Promissioverständnisses von der »Notwendigkeit«, auch Luthers Selbstzeugnisse, die von der reformatorischen Wende handeln, von diesem aus >De captivitate< abgeleiteten Theologumenon her zu verstehen (vgl. Promissio, S. 3 4 5 mit Anm. 2). Das Ausblenden der Gottesgerechtigkeit macht so aus der N o t eine Tugend und setzt damit das Interpretament (promissio/fides ex auditu) an die Stelle des Interpretandum (iustitia Dei). Bayer ist zwar darin zuzustimmen, daß der reformatorisch profilierte promissio-Begriff ein Interpretament der als Interpretandum verstandenen Neuentdeckung der iustitia Dei darstellt, doch muß der Ausschließlichkeitscharakter angemahnt werden. Die promissio wird in den R a n g reformatorischer Entdeckung gehoben, so daß aus einer Explikation ein Implikat wird, das integrativ für das Ganze der iustitia Dei stehen soll. So wichtig der Promissiobegriff auch ist, er bleibt Teil des Ganzen, umgreift aber nie das Ganze. Die Verabsolutierung einer lutherischen Worttheologie für die Frühzeit würde die Ausgestaltung der reformatorischen Rechtfertigungslehre gefangennehmen und so besetzt halten, daß ihre alle Bereiche der Theologie durchdringende, am Begriff der iustitia Dei orientierte, einigende Vielfalt nicht mehr wahrgenommen werden könnte. Massive Kritik an einer das >Reformatorische< vereinseitigenden speziellen Worttheologie übt auch BERNDT HAMM: Martin Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit, S. 66, Anm. 43. Vgl. ferner WALTHER VON LOEWENICH: Duplex iustitia, S. 10; oder JOSEPH LORTZ: Reformatorisch und Katholisch beim jungen Luther ( 1 5 1 8 / 1 9 ) , S. 48f, Anm. 7 ( = ders.: Erneuerung und Einheit, S. 631f, Anm. 7 ) . 2 2 Vgl. OSWALD BAYER: Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, S. 1 2 7 f ( = Lohse II, S. l l O f ) . Anders u.a. KURT ALAND, der in R o m 1, 17 die schlechthinnige »Teststelle« sieht (Der Weg zur Reformation, S. 52 [ = Lohse I, S. 405]). 2 3 MARTIN BRECHT: Iustitia Christi, S. 2 2 2 ( = Lohse II, S. 210).

42

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

unterstützenswerten Ausgleich der widerstreitenden Positionen bringt nach m e i n e m Dafürhalten O t t o H e r m a n n Pesch zustande, wenn er im ersten Teil seiner dreigliedrigen, zur These verdichteten Arbeitshypothese hinsichtlich der Gestaltgewinnung der frühen T h e o l o g i e Luthers den reformatorischen Durchbruch inhaltlich als ein durch langes Studium — »scribendo (et) docendo« 2 4 ! — vorbereitetes Aufleuchten einer exegetischen Erkenntnis mit unmittelbaren systematischen Konsequenzen bestimmt, »in der ein nochmals vertieftes Verständnis der Bedeutung des Begriffs >Gerechtigkeit Gottes< in R o m 1 , 1 7 sich mit der Frage nach der absoluten Geltung der Absolution im Bußsakrament und in diesem Zusammenhang mit dem Neuverständnis von M t 1 6 , 1 9 c als der sozusagen göttlichen Deklaration ihrer Gültigkeit verbindet« 2 5 . D i e entscheidende Entdeckung ist also das neue Verständnis der iustitia Dei (um sie allein geht es auch bei der Konstituierung früher R e c h t fertigungstheologie) als dem Evangelium von des Menschen Teilhabe an der iustitia Christi im Glauben ( = iustitia fidei). Bereits in der Römerbriefvorlesung wird dieser Gedanke — wie wir gesehen haben — ausgesprochen. Darüber hinaus wird der Ubergang der Gerechtigkeit Gottes auf uns Menschen mit der Wechselvorstellung der Eigentumsverhältnisse verknüpft, in der Christus dem Sünder rechtfertigend sein Wesen schenkend mitteilt 2 6 . D i e Praefatio von 1 5 4 5 faßt darum trotz abbreviatorischer Tendenz 2 7 zuverlässig die innersten Bezirke, sozusagen die unverzichtbaren Stützpfeiler der Rechtfertigungstheologie, in inhaltsschwere Worte — freilich in der Form streng wissenschaftlicher Konzentration, aus der heraus sie j a auch herangereift war und dann der weiteren Entfaltung bedurfte. D e m n a c h ist festzuhalten, daß die klassische Rechtfertigungslehre dort begegnet, wo die Gleichsetzung der Gottesgerechtigkeit mit der Christusgerechtigkeit als Glaubensgerechtigkeit begegnet, ggf. unterstützt durch das Bild des Tausches der ungleichen Possessionen zwischen Christi Gerechtigkeit und des M e n schen Schuldverfallenheit 2 8 . So wird im Rechtfertigungsgeschehen die verwirkte Gottesgemeinschaft erneut realisiert und gleichsam das verlorengegangene Paradies wiedergefunden. Luthers >intrasse in ipsam Paradisum< ist daher mehr als nur eine Metapher für ein kognitives Heureka-Erlebnis. V i e l 2 4 StA 5, 638, 4 f = WA 5 4 , 1 8 6 , 27. Luther selbst weist auf einen Prozeß hin, der ihn zur entscheidenden Entdeckung führte! 25 OTTO HERMANN PESCH: Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers »Reformatorischer Wende«, S. 124 ( = Lohse II, S. 332). 2 6 Vgl. zu R o m 2, 15 aus den Scholien B o A 5, 227, 2 6 - 2 2 8 , 1 = W A 56, 204, 1 4 - 2 5 . Zu R o m 3, 28 äußerte sich Luther in ähnlicher Weise: »Sufficit enim, quod peccatum displicet, etsi non omnino recedat. Christus enim omnia portat, si displiceant et iam non nostra, Sed ipsius sunt et Iustitia eius nostra vicissim« (StA 1, 112, 11—13 = WA 56, 267, 5—7). 2 7 Vgl. ALBRECHT PETERS: Luthers Turmerlebnis, S. 2 2 3 ( = Lohse I, S. 271). 2 8 Vgl. HEIKO A. OBERMAN: »Iustitia Christi« und »Iustitia Dei«, S. 4 4 2 - 4 4 4 . Oberman faßt Luthers Entdeckung in dem Satz zusammen: »Der Kern des Evangeliums ist die Botschaft, daß die iustitia Christi und die iustitia Dei zusammenfallen und zugleich gewährt werden« (aaO., S. 436).

Eine Erkenntnis

43

bricht sich Bahn

mehr gibt Luther die das Leben des Christen durchwirkende eschatologische Dimension zu erkennen, die der iustificatio impii innewohnt 29 . c) Klärung der Rechtfertigungstheologie

als Anlaß

zur

Massenpublikation

Mit den inhaltlichen Erwägungen zum reformatorischen Durchbruch Luthers, bezogen auf die prägenden Hauptaussagen bei der Ausbildung seiner Rechtfertigungslehre, erhebt sich konsequenterweise zugleich die Frage nach dem Zeitpunkt, ab welchem von einer theologisch gefestigten Konzeption auszugehen ist. Dabei kommt es nicht darauf an, die Datierungsdiskussion um das reformatorische Durchbrucherlebnis durch eine weitere Stellungnahme zu ergänzen und in eine der beiden debattierten Richtungen (frühe oder späte Ansetzung in den Alternativzeiträumen 1514/15 und 1518/19) festzuschreiben 30 . Vielmehr geht es um die annähernde Bestimmung des Zeitpunkts für den in Geschlossenheit vorliegenden systemsprengenden Rechtfertigungsansatz 31 . Nur insofern Rückschlüsse von den Schriften Luthers auf den Entdeckungszusammenhang möglich sind, erhalten wir einen terminus ante quem fiir das Durchbrucherlebnis und gleichzeitig einen terminus post quem für die sichere Anwendung und Handhabe der Rechtfertigungstheologie. Die Praefatio zu den Opera Latina von 1545 nennt zwar die wesentlichen Elemente der Zentrallehre Luthers (vgl. II. § 2, lb) sowie synchrone Ereignisse im Prozeß ihrer Ausformung, doch lassen 29 Ä h n l i c h BERNDT HAMM: M a r t i n L u t h e r s E n t d e c k u n g der evangelischen Freiheit, S. 61. Z u r eschatologischen Letztgültigkeit der R e c h t f e r t i g u n g vgl. DERS.: Was ist r e f o r m a torische R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e ? , S. 20—22. 311 D a h i n t e r steckt z.T. a u c h ein perspektivisches P r o b l e m : »Einig ist m a n sich ..., daß Luthers D e n k e n , ob m a n mit einem punktuellen Durchbruchsereignis rechnet oder nicht, e i n e n l a n g s a m e n E n t w i c k l u n g s g a n g d u r c h g e m a c h t hat, der in der Tat erst 1 5 1 8 / 1 9 an sein E n d e k o m m t . N u r w i r d diese Tatsache j e n a c h S t e l l u n g n a h m e z u m P r o b l e m des r e f o r m a t o r i s c h e n D u r c h b r u c h s e n t w e d e r als W e g zum r e f o r m a t o r i s c h e n D u r c h b r u c h hin o d e r als W e g von i h m her g e d e u t e t , w o b e i i m letzteren Falle der >Weg< in d e m n u r langsamen A u s z i e h e n d e r t h e o l o g i s c h e n u n d r e f o r m e r i s c h e n K o n s e q u e n z e n besteht« (OTTO HERMANN PESCH: Z u r Frage n a c h L u t h e r s r e f o r m a t o r i s c h e r W e n d e , S. 2 7 4 [= Lohse I, S. 497]). 31 M i t der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e ist g e g e n ü b e r d e m Ganzen des Systems der Scholastik »eine andere, eine kritische, eine n e u e Position b e z o g e n w o r d e n « (ERNST WOLF: D i e R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e als M i t t e u n d G r e n z e r e f o r m a t o r i s c h e r T h e o l o g i e , Peregrinatio, Bd. 2, S. 12). In der R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e k o m m t d e r s y s t e m s p r e n g e n d e Gegensatz zur m i t t e l alterlichen T h e o l o g i e z u m Tragen. Das E n s e m b l e der s y s t e m s p r e n g e n d e n Gegensätze e n t spricht d e n E i n z e l a s p e k t e n d e r R e c h t f e r t i g u n g , die u m die B e d i n g u n g s l o s i g k e i t des Heils kreisen. D a r u m ist d o r t v o n r e f o r m a t o r i s c h e r R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e zu sprechen, w o die mittelalterliche G n a d e n t h e o l o g i e aus d e n A n g e l n g e h o b e n w i r d . Vgl. BERNDT HAMM: Was ist r e f o r m a t o r i s c h e R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e ? , S. 3—6. 29f. E r k e n n b a r ist dies - w i e o b e n in IL § 2, l b a u s g e f ü h r t - s c h o n ab d e r R ö m e r b r i e f v o r l e s u n g . Es ist d a h e r z w i s c h e n >reformatorischer Wende< u n d >reformatorischem D u r c h b r u c h < zu u n t e r s c h e i d e n (vgl. h i e r z u OTTO HERMANN PESCH: N e u e r e Beiträge zur Frage n a c h L u t h e r s » r e f o r m a t o r i s c h e r W e n d e « , S. 125 [= Lohse II, S. 333], so daß d e m »scribendo (et) d o c e n d o « L u t h e r s (StA 5 , 6 3 8 , 4 f = W A 54, 186, 27) d u r c h a u s R e c h n u n g g e t r a g e n w e r d e n k a n n .

44

Die

Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

sich daraus keine gesicherten Datierungsangaben ableiten 32 . W i r müssen also mit Hilfe der festgestellten inneren Kriterien Luthertexte ausfindig machen, die, entgegen der historischen Aporie, in der Lage sind, durch systematische Verifikationen eine annähernde Problemlösung herbeizufuhren. Ein weitgehender Forschungskonsens besteht diesbezüglich darin, in den beiden Sermonen »de duplici iustitia« 33 und »de triplici iustitia« 34 das sog. Turmerlebnis vorausgesetzt zu sehen, wobei das exegetisch aus R o m 1, 17 erarbeitete iustitia-Verständnis der Praefatio der hier vorgetragenen Sichtweise als völlig entsprechend beurteilt wird 3 5 . Ein Blick in die genannten Texte (vgl. II. § 2, 2) bestätigt dies auch eindrücklich. Es ergibt sich geradezu eine rechtfertigungstheologische Heuristik mit programmatischem Charakter: »In ihrer systematischen Gestalt ist sie [sc. die reformatorische Erkenntnis] sofort vorgelegt in den Sermonen über die dreifache wie über die zweifache Gerechtigkeit; in ihrer exegetischen Relevanz ist sie aufgezeigt in den Operationes in Psalmos; in ihren theologischen wie kirchlichen Konsequenzen ist sie entfaltet in den großen Reformschriften« 3 6 . Ab der gehaltenen Predigt über die doppelte Gerechtigkeit Ende März 1518 (zur D a tierungsproblematik vgl. ausführlicher II. § 2, 2b) ist somit von einer zur Gewißheit verdichteten rechtfertigungstheologischen Struktur fester G r u n d elemente des Denkens Luthers auszugehen. Interessanterweise deckt sich 32

V g l . K U R T A L A N D : D e r W e g z u r R e f o r m a t i o n , S. 4 7 ( = L o h s e I, S. 3 9 8 ) . D a s

ent-

scheidende x, das zu 1512 hinzuzuzählen wäre, bleibt aus dem Text unerkennbar. Gegen REINHART STAATS, der durch seine weitreichenden Berechnungen anhand des Selbstzeugnisses geradezu suggeriert, Luther habe den Zeitpunkt seiner reformatorischen Erkenntnis in ein aus autobiographischen Daten zusammengesetztes mathematisches Zahlenrätsel verschlüsselt, das im Dreisatzverfahren mittels zweier bekannter Werte die große Unbekannte x zum Vorschein bringt (vgl. Augustins »De spiritu et littera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 3 2 - 3 4 [= Lohse II, S. 369-371]). Luther beschreibt zwar seine biographische Situation, in die das sog. Turmerlebnis fällt, doch bleibt er klare Identifikationen schuldig. Staats sieht zu wenig, daß mit einer Bestimmung von x das Gleichheitszeichen in der angestrebten R e c h n u n g unsicher wird! 33 Vgl. StA 1, (219) 2 2 1 - 2 2 9 = WA 2, (143) 145-152. 34 Vgl. WA 2, (41) 4 3 - 4 7 . 35 Den Hinweis auf die eminent wichtige Bedeutung der beiden Gerechtigkeitssermone hatte bereits HARTMANN GRISAR gegeben (vgl. Luther, Bd. 1, S. 315f [= Lohse I, S. 47—49]). Diese Beobachtung wurde seither häufig wiederholt und unter Durchdringung der angesprochenen

Fragestellung ausgewertet. Vgl. RAGNAR BRING: Das Verhältnis

G l a u b e n u n d W e r k e n , S. 1 7 - 1 9 ; E R N S T B I Z E R : F i d e s e x a u d i t u , S. 1 2 4 - 1 3 0 ;

von

ALBRECHT

PETERS: Luthers Turmerlebnis, S. 2 1 3 - 2 1 7 (= Lohse I, S. 256-261); DERS.: Glaube und W e r k , S. 2 7 - 3 4 ; K U R T A L A N D : D e r W e g z u r R e f o r m a t i o n , S. 1 0 3 - 1 0 5 ; W A L T H E R L O E W E N I C H : D u p l e x i u s t i t i a , S. 1 0 ; M A R T I N B R E C H T : I u s t i t i a C h r i s t i , S. 2 1 8 - 2 2 0 ( = I I , S. 2 0 6 - 2 0 8 ) ; D E R S . : D e r r e c h t f e r t i g e n d e G l a u b e , S . 4 7 f ; E R I C W

VON Lohse

GRITSCH: M a r t i n

-

God's C o u r t Jester, S. 15f. Gegen HEINRICH BORNKAMM, der einer erstmaligen F o r m u lierung der konzeptionell vorliegenden Rechtfertigungslehre in den Gerechtigkeitsserm o n e n nicht zustimmen möchte (vgl. Z u r Frage der iustitia Dei beim j u n g e n Luther, S. 51f [= Lohse I, S. 373f]; vgl. dazu auch OTTO HERMANN PESCH: Z u r Frage nach Luthers reformatorischer Wende, S. 265 [= Lohse I, S. 484f]). 36

A L B R E C H T P E T E R S : L u t h e r s T u r m e r l e b n i s , S. 2 1 l f ( = L o h s e I , S. 2 5 5 ) .

Eine Erkenntnis

45

bricht sich Bahn

dieser Termin mit den Anfängen der massenpublizistischen Wirksamkeit des Reformators, so daß die begründete Vermutung der Interdependenz besteht 37 . Mit Luthers Klärung der Frage nach dem Heil bei Gott scheint auch ein Dammbruch literarischer Zurückhaltung verbunden zu sein. Die einsetzende Flut von Veröffentlichungen, deren thematische Ausrichtung mehrheitlich von rechtfertigungstheologischen Explikationen getragen wird, dürfte dafür einen sprechenden Beweis bieten. Durch die eben erst entwickelten Möglichkeiten des Buchdrucks war nunmehr ein äußerst wichtiges Artikulationsforum entstanden, das den im entscheidenden Grundsatz gewonnenen und sich von jetzt an immer deutlicher ausprägenden reformatorischen Anschauungen eine ganz neue Dimension von Öffentlichkeit verschaffte. d) Die Frage nach Entwicklung,

Wandel und Kontinuität

der

Hauptaussagen

Luther war »scribendo (et) docendo« (StA 5, 638, 4 f = WA 54, 186, 27), d.h. prozeßhaft zu seinen theologischen Grundeinsichten vorgedrungen 38 , die sich nun rückblickend auf ihre abschließende Herausbildung und die Ereignisse im zeitlichen Vor- und Umfeld des Jahres 1518 klar und präzise aus seinen Schriften herausheben. 1518 darf als Entscheidungsjahr gelten. Zu diesem Zeitpunkt war das Ganze der Position Luthers vorhanden, und ein langer umbruchschwerer Entwicklungsgang, der sich letztlich seit seinem Klostereintritt 1505 auf unterschiedlichen Ebenen (seelsorgerlich, wissenschaftlich und kirchenpolitisch) vollzog, war zumindest einstweilig an ein Ende gelangt 39 . Etwaige Pluriformitäten der Frühtheologie wurden einer bestimmten Gestalt ihrer Weiterentwicklung zugeordnet, so daß in begrifflich gebündelter Form die neue Rechtfertigungslehre deutlich in Erscheinung tritt und nun auch geschichtswirksam wird. »Die jetzt erworbene Gestalt [sc. der Theologie Luthers] wird nur noch in einer ungeheueren Lebendigkeit entfaltet, nicht mehr neu geformt« 40 . Die entscheidenden B e -

3 7 Andeutungen finden sich hierzu bei ALBRECHT PETERS: aaO., S. 2 1 2 (— Lohse I, S. 255). Ahnlich OTTO HERMANN PESCH: Zur Frage nach Luthers reformatorischer W e n de, S. 2 7 6 ( = Lohse I, S. 499). 3 8 Vgl. u.a. GERHARD PFEIFFER: Das R i n g e n des jungen Luther um die Gerechtigkeit Gottes, S. 54 ( = Lohse I, S. 200); KURT ALAND: Der Weg zur Reformation, S. 50. 52. l O l f ( = Lohse I, S. 402f. 4 0 5 . 4 0 7 f ) ; HEIKO A. OBERMAN: »Iustitia Christi« und »Iustitia Dei«, S. 421-423. 3 9 Vgl. OTTO HERMANN PESCH: »Die theologischen Neuorientierungen des Frühjahres/Frühsommers 1518 sind so >wasserdicht< belegbar, daß sie unbestreitbar sind und als solche auch nicht bestritten werden« (Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers »Reformatorischer Wende«, S. 126 [ = Lohse II, S. 334]). 4 0 ALBRECHT PETERS: Luthers Turmerlebnis, S. 2 1 2 ( = Lohse I, S. 255). »Von diesem Zeitpunkt ab [gemeint ist die Öffentlichwerdung der Predigt de duplici iustitia Ende März 1518] gibt es keinen U m b r u c h mehr, nur noch ein lebendiges Durchgestalten der gewonnenen Struktur« (aaO., S. 2 3 6 [ = Lohse I, S. 288]). Dazu steht auch die Charakterisierung der beiden Sermone über die Gerechtigkeit als »Frühstadium von Luthers Rechtfertigungs-

46

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

griffe treten in einen »lückenlos gefugten Entsprechungszusammenhang«, ohne jegliche »latente Konkurrenz« 4 1 . Da erst ab 1522 Differenzen innerhalb des reformatorischen Lagers auftraten, die weitere Abgrenzungen und Spezifizierungen der Rechtfertigungslehre seitens Luthers nötig machten 4 2 , ist für den Untersuchungszeitraum 1518—1522 von einer bemerkenswerten Kontinuität der Hauptaussagen auszugehen. Die den gesamten Zeitraum übergreifende, gleichbleibende Konzeption wird zudem auch daran deutlich, daß die Grundgedanken des >Sermo de duplici iustitia< (1518) in Luthers Traktat >Von der Freiheit eines Christenmenschen/De libertate christiana< (1520) 4 3 wiederkehren 4 4 und mit den Zentrallehren des >Sermon von dem unrechten Mammon< (1522) 4 5 korrespondieren (vgl. II. § 5, 2c). Die >Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer< 4 6 im Septembertestament von 1522 komprimiert schließlich die in diesen Jahren volkstümlich dargelegten rechtfertigungstheologischen Entfaltungen und fuhrt im Verbund mit der Deutschen Bibel ein Rezeptionsmedium sui generis herauf, das an der Schwelle zu einer neuen Phase der Reformationsgeschichte und ihrer theologischen Ausprägungen steht. Grundsätzlich gilt daher: »Für die Darstellung der genuin lutherischen Theologie dürfen die Schriften nach dem Frühjahr 1518 als verläßliche Quelle gelten. Insbesondere enthalten die Schriften zwischen 1518 und 1522 den ganzen Luther in seiner Selbstpräzisierung gegenüber der alten Kirche« 4 7 .

2. Die beiden Sermone von doppelter und dreifacher Gerechtigkeit Die Predigten >de duplici iustitia< und >de triplici iustitiaSermo de duplici iustitia< erreichte drei lateinische Ausgaben und vier deutsche Ubersetzungsausgaben; der >Sermo de triplici iustitia< kann sogar neun Urausgaben verzeichnen, was für einen lateinischen Titel eine beachtliche Anzahl darstellt. Nur knapp bleiben damit die zwei einander inhaltlich verwandten Predigtveröffentlichungen unter den obligaten Grenzen. Uberdurchschnittliche Verbreitung und verhältnismäßig weitgespannte Kenntnisnahme dürfen deshalb auch nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Neben dem volkstümlichem Charakter der Publikationserfolge gibt aber vornehmlich die Sonderstellung der beiden Sermone ihrer Inhalte und ihrer historischen Einordnung wegen genügend Anlaß, an dieser Stelle genauer auf sie einzugehen. a) Erstzeugnisse

rechtfertigungstheologischer

Vernetzungen

Die historische Bedeutsamkeit der Gerechtigkeitssermone läßt sich post festum an der beeindruckenden systematischen Stringenz der Darlegung ihrer fundamentaltheologischen Aussagen im R ü c k g r i f f auf die Zeitereignisse und Lebenssituation Luthers ad oculos demonstrieren. Zu R e c h t fordert Oswald Bayer für die Ermittlung des >ReformatorischenReformatorische< nicht allgemein im systemsprengenden Gegensatz zur scholastischen Theologie, sondern eingegrenzt auf das Neue im Promissioverständnis begründet sieht, stellt er diesbezüglich die Schrift >De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium< von 1520 als einen solchen Text vor (vgl. ebd.). Die oben vertretenen differierenden Prämissen führen daher bei gleicher Methodik zu einem abweichenden Ergebnis. 5 0 Vgl. KURT ALAND: Der Weg zur Reformation, S. l O l f ( = Lohse I, S. 407f). Die Auswertung von singulären Textbefunden vermag nur an beliebig verschiedene Orte der Frühtheologie zu verweisen, ohne eine konkrete Bilanzierung vornehmen zu können. »Eine punktuelle Betrachtungsweise, welche nur einzelne Stellen ansieht, und zwar mit dem Vergrößerungsglase, und sie für das Ganze nimmt, muß bei jedem Gegenstand, den sie untersucht, zu falschen Resultaten kommen« (ebd.). Vgl. fernerhin DERS.: Die theologischen Anfange Martin Luthers, S. 565 (= Lohse II, S. 242). Keineswegs werden damit die Frühansätze reformatorischer Theologie einfach mißachtet, doch sticht Luthers plötzliche Fähigkeit zu definitorischen Wendungen ins Auge (vgl. z.B. KARL-HEINZ ZUR MÜHLEN: Nos extra nos, S. 185ff).

48

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

heit des Anliegens und die vom Widerpart gekennzeichneten theologischen Grundverhältnisse. Der Ablaßstreit 1 5 1 7 / 1 8 als historische Größe wird zur Ursache und zum Katalysator klarer Positionsfindung des Wittenberger Theologieprofessors in Sachen Rechtfertigungslehre (vgl. auch II. § 2, 3) 5 1 . Darum kann Luthers Rechtfertigungsverständnis auch nicht wissenschaftlich abstrakt bleiben, sondern drängt hinaus ins Leben — mittels Predigt, dem wohl größten Massenkommunikationsmittel der damaligen Zeit. Insofern nämlich die Entdeckung der iustitia Dei als iustitia Christi bzw. iustitia fidei den eigentlich systemsprengenden Gegensatz zur mittelalterlich-scholastischen Gnadenlehre, die — wenn auch vielfach mißdeutet — dem blühenden Ablaßhandel seine kirchlich-theologische Legitimation schuf, beschreibt und damit das Proprium des Reformatorischen wiedergibt, darf die in den Sermonen >de duplici iustitia< und >de triplici iustitia< sprachlich durchgebildete programmatische Begriffsfassung dieser bisher eher sporadisch aufleuchtenden Entdeckung als Erstzeugnis rechtfertigungstheologischer Vernetzungen gelten 5 2 . Mit einem Mal fügen sich die einzelnen Gedankengänge zum populär werdenden, abgerundeten Gesamtbild ineinander. W i e in einem Brennspiegel ist alles zusammengefaßt, während die entscheidenden Erkenntnisse vollständig ausgeschritten werden 5 3 .

51 So auch REINHARD SCHWARZ: »Die theologischen Auseinandersetzungen im A b laßstreit haben - nach den wichtigen Erkenntnissen, die Luther aus der Paulus-Exegese und der Lektüre des antipelagianischen Augustin gewonnen hat - noch besonders weittragende Wandlungen in seiner Theologie hervorgerufen. Darin liegt das Wahrheitsmoment bei der Annahme, daß 1518 die >reformatorische Entdeckung< erfolgt sei« (Luther, I 32). 5 2 Dabei ist mit mancherlei Vorstufen zu rechnen (vgl. KURT ALAND: Der Weg zur Reformation, S. 106). Insbesondere die mit den >Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute< (vgl. B o A 1, [15] 1 6 - 1 4 7 = WA 1, [522] 5 2 5 - 6 2 8 ) , dem in den W i n t e r m o naten des Jahres 1518 entstandenen, aber erst im Sommer desselben Jahres herausgegebenen großen Erläuterungswerk zu den bekannten 95 Thesen, in Verbindung stehende Thesenreihe >Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones< (vgl. WA 1, [629] 6 3 0 - 6 3 3 ) von Ende Februar 1518 läßt die neue Sicht auffallend transparent werden. D e r evtl. sekundär hinzugefugte Schlußsatz »Summa summarum: Iustus non ex operibus neque ex lege, sed ex fide vivet. R o . 1« (WA 1, 633, l l f ) läßt daran jedenfalls keinen Zweifel, daß die an R o m 1, 17 gewonnene Erkenntnis in unmittelbar zeitlicher

N ä h e a n z u s i e d e l n ist (vgl. a u c h K U R T

ALAND: aaO., S. 1 0 8 ) . OSWALD BAYER sieht in

der

Thesenreihe >Pro veritate« sogar den ersten reformatorischen Text (vgl. Promissio, S. 182— 186), freilich ausgehend vom promissionalen Bußverständnis, nicht von der Glaubensgerechtigkeit, die aller spätmittelalterlichen Werkgerechtigkeit negierend entgegengehalten wird. Beides kann j e d o c h mutatis mutandis aufeinander bezogen werden (vgl. II. § 2, l b ; hier S. 41 mit Anm. 21). Vgl. auch die Kritik von REINHART STAATS: Augustins »De spiritu et littera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 3 9 ( = Lohse II, S. 376). 5 3 Vgl. im besonderen ALBRECHT PETERS: Luthers Turmerlebnis, S. 217 ( = Lohse I, S. 262); DERS.: Glaube und Werk, S. 27f.

Eine Erkenntnis

b) Datierungsfragen

bricht sich

49

Bahn

und ihre Aussagekraft für Luthers

Aufbruch54

Die gewichtigen Ausfuhrungen über die Arten der Gerechtigkeit wurden auch in ihrer Relevanz für die Biographie Luthers erkannt. Insoweit damit aber Rückschlüsse auf die Gestalt der Rechtfertigungslehre verbunden sind, ist deshalb die Frage der Datierung für unsere Gesamtproblematik ebenfalls von Bedeutung. Oben war von Ende März 1518 für die zeitliche Einordnung des Sermons >de duplici iustitia< die Rede (vgl. II. § 2, lc, S. 44), was nun der Begründung bedarf. Von den drei bekannten Drucken 5 5 erschien einer 1519 in Wittenberg, vermutlich bei Johann Rhau-Grunenberg, einer wohl erst 1520 in Leiden bei Jan Seversz und ein weiterer ohne Datumsangabe, jedoch vor diesen beiden in Leipzig bei Wolfgang Stockei, dessen Druckjahr Josef Benzing entsprechend den Angaben der Weimarer Ausgabe 56 auf das Jahr 1519 festlegen möchte 5 7 . Anlaß zur Annahme einer früheren Entstehung geben zum einen der >Catalogus< der Schriften Luthers von 1533 und zum anderen frühe Gesamtausgaben, wo der >Sermo de duplici iustitia< übereinstimmend dem Jahr 1518 zugewiesen wird 5s . Als weiteres Kriterium kommt hinzu, daß der den Darlegungen zugrundeliegende Text Phil 2, 5ff die vorgegebene Predigtperikope für Palmsonntag war, der 1519 auf den 17. April fiel. Luther hatte aber bereits am 13. April in einem Brief an Johann Lang über editorische Mängel und Unzulänglichkeiten der Stockei-Ausgabe geklagt 59 und in Wittenberg eine Bearbeitung in Druck gegeben. Damit kann besagte Predigt nicht erst an Palmarum 1519 gehalten worden sein, sondern muß eher stattgefunden haben. Als möglicher Termin wäre demnach der letzte Passionssonntag des Vorjahres denkbar, der 28. März 1518 also6". Das hätte dann 14

Vgl. hierzu grundlegend die Einleitungen zu den j e w e i l i g e n Textausgaben des >Sermo

d e d u p l i c i i u s t i t i a < W A 2 , 1 4 3 QOACHIM K A R L F R I E D R I C H K N A A K E ) u n d S t A 1 , 2 1 9

(SIEG-

HARD M Ü H L M A N N ) . F e r n e r E R N S T B I Z E R : F i d e s e x a u d i t u , S. 1 2 4 ; K U R T ALAND: D e r

Weg

zur R e f o r m a t i o n , S. 103f; DANIEL OLIVIER: Les deux sermons sur la double et triple iustice, S. 4 7 - 5 2 ; WALTHER VON LOEWENICH: Duplex iustitia, S. 9; D. P WHITELAW: An examination o f two early sermons o f Martin Luther, S. 32f; REINHART STAATS: Augustins »De spiritu et littera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 4 4 - 4 6 ( = Lohse II, S. 3 8 1 - 3 8 3 ) ; und JÜRGEN LUTZ: U n i o und C o m m u n i o , S. 3 5 - 3 7 . 35

V g l . JOSEF

BENZING: Lutherbibliographie,

S. 4 3 , N r n .

C L A U S / M I C H A E L A . PEGG: E r g ä n z u n g e n , S. 3 8 , N r . 56

Vgl. W A

2, 143

(JOACHIM K . F .

341

u. 3 4 2 ; s o w i e

HELMUT

*342a.

KNAAKE).

Sämtliche deutschen Ubersetzungsdrucke sind 1 5 2 0 erschienen. So nach JOSEF BENZING: Lutherbibliographie, S. 4 4 , N r n . 3 4 3 - 3 4 6 . 37

3>i

S i e h e dazu

KURT

ALAND: D e r W e g

zur R e f o r m a t i o n ,

S. 1 0 3 ; u n d W A L T H E R

VON

LOEWENICH: Duplex iustitia, S. 9. 5V Vgl. W A B r 1, Nr. 167, S. 3 6 8 - 3 7 2 (Luther an J o h . Lang). »Si venerint in manus tuas duo sermones de duplici iustitia et de m a t r i m o n i o , alter Latinus, alter vernaculus, age officium; excepti sunt mihi et m e inscio invulgati, sed et mendosissime ac insulse tum collecti tum excusi; mea ignominia haec est« ( W A B r 1, 3 7 0 , 74—77). 60

S o m i t K U R T ALAND: D e r W e g z u r R e f o r m a t i o n , S. 1 0 4 ; M A R T I N

BRECHT:

Iustitia

Christi, S. 2 1 8 ( = Lohse II, S. 2 0 6 ) ; DERS.: D e r rechtfertigende Glaube, S. 4 7 ; DERS.: Martin

50

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

auch zur Folge, daß der >Sermo de triplici iustitia< (Ende 1518) nach dem >Sermo de duplici iustitia< entstanden ist und auf diesen zurückgreift. Tatsächlich sind mehrfache Bezugnahmen nachweisbar 61 , wobei insgesamt eine Präzisierung eintritt und mißverständliche Begrifflichkeiten verschwinden 62 . Die vorgeschaltete Erweiterung der duplex iustitia um eine weitere Spielart des Gerechtigkeitsbegriffs deutet zudem eher auf fortgeschrittene Themenreflexion hin als auf vernachlässigbare Ersterwägungen, die einer späteren Streichung anheimgefallen wären 63 . c) Der paradigmatische

Charakter

der Inhalte

Rechtfertigung und Lebensbezug (iustus autem ex fide vivit; R o m 1, 17) erweisen sich hier als untrennbar ineinander geschichtet. Stets wird die Vorfindlichkeit des >homo reus et perditus< in dem ihn umgreifenden peccatum auf den >Deus iustificans* hin ausgesagt, so daß sukzessive vor dem Hintergrund der iustitia-Dei-Auslegung Wesensmerkmale christlicher Ethik deutlich werden. »Duplex e(st) Iusticia Christianor(um), sicut (et) duplex p(e)c(ca)t(u)m est ho(m)i(nu)m« 64 beginnt nach Zitation von Phil 2, 5 f der erste der beiden Gerechtigkeitssermone und geht damit bereits in medias res 65 . Die erste Art Luther, Bd. 1, S. 222; D. P WHITELAW: An examination o f two early sermons o f Martin Luther, S. 33. Gegen ERIC W GRITSCH: Martin - God's Court Jester, S. 15; JÜRGEN LUTZ: U n i o und Communio, S. 36; sowie REINHART STAATS: Augustins »De spiritu et littera« in Luthers reformatorischer Erkenntnis, S. 46 ( = Lohse II, S. 383). Staats vertritt eine »allerspäteste Spätdatierung« des reformatorischen Durchbruchs (aaO., S. 30 [ = Lohse II, S. 367]) und gerät daher auch mit der Datierung vom Sermon >de duplici iustitia« in entsprechenden Zugzwang. Die angeführten Begründungen bleiben j e d o c h spekulativ und entkräften Alands Überlegungen nicht. Außerdem schätzt Staats den Quellenwert des Sermons viel zu gering ein, wenn er ihn unter den zehn wichtigsten Primärquellen zum Turmerlebnis erst an neunter Stelle nennt (aaO., S. 47 [ = Lohse II, S. 384]). 61 Entsprechende Belege stellte DANIEL OLIVIER zusammen (vgl. Les deux sermons sur la double et triple iustice, S. 5 8 f ) . 6 2 So zeigt sich eine Tilgung des scholastischen modus loquendi hinsichtlich der Termini »iustitia infusa< (vgl. StA 1, 2 2 1 , 4 - 6 ; 2 2 3 , 1 = WA 2, 145, 7 - 9 ; 146, 2 9 f ) und >imitatio Christi< (vgl. StA 1, 223, 28 = WA 2, 147, 19). Die iustitia propria wird nicht mehr in der Formulierung des Aquinaten >perficit< (vgl. z.B. S.th. III, qu. 62, a. 2c: »gratia secundum se considerata perficit essentiam animae, inquantum participat quamdam similitudinem divini esse« [Hervorhebung T h . H.]; S.th. I, qu. 1, a. 8, ad 2; S.th. I, qu. 2, a. 2 ad 1; S.th. I.II, qu. 110, a. 3c; u.ö.) mit der iustitia aliena in Verbindung gesetzt (vgl. StA 1, 2 2 3 , 21 = WA 2, 147, 12), und ebenfalls wird der Begriff >iustitia cooperans< (vgl. StA 1, 223, 7 f = WA 2, 146, 3 6 f ) seiner möglicherweise irreführenden Ausdeutung wegen im >Sermo de triplici iustitia< eliminiert. 63

V g l . WALTHER VON LOEWENICH: D u p l e x iustitia, S. l l f .

StA 1, 2 2 1 , 4 f = WA 2, 145, 7f. D e m >Sermo de triplici iustitia< hegt kein spezifischer Bibeltext zugrunde. Er beginnt unmittelbar mit der thetischen Überschrift »Triplex est peccatum, cui triplex opponitur iusticia, Teutonice fromkeyt« (WA 2, 43, 4 f ) . AufFälligerweise nennt Luther hier zuerst das jeweilige peccatum, bevor er die entsprechenden Arten der iustitia entgegensetzt. Im >Sermo de 64 fo

Eine Erkenntnis

bricht sich Bahn

51

von Gerechtigkeit ist eine fremde und von außen eingegebene (>aliena ab extra infusapeccat u m criminale« u n d die ihr z u g e o r d n e t e n »species iusticiae« (vgl. W A 2, 43, 6—44, 13) ü b e r g e h e ich an dieser Stelle. M ' StA 1, 221, 6f = W A 2, 145, 10. 67 StA 1, 223, 3 = W A 2, 146, 31. N o c h präziser d e f i n i e r t d e r >Sermo de triplici iustitiac »est p e c c a t u m essenciale, natale, originale, a l i e n u m ... incurabile viribus h o m i n i s , n e c aliquid hic valet l i b e r u m a r b i t r i u m ..., quia p e r n a t i v i t a t e m c o n t r a h i m u s et m a n e t Semper, n e c a l i q u a n d o transit ...« (WA 2, 44, 1 4 - 3 1 ) . 68 StA 1, 223, 6 = W A 2, 146, 34f. Vgl. h i e r z u a u c h d e n G e s a m t z u s a m m e n h a n g StA 1, 2 2 3 , LFF = W A 2 , 1 4 6 , 2 9 f f ; s o w i e K J E L L O V E N I L S S O N : S i m u l , S . 3 4 9 . A L B R E C H T

PETERS

spricht diesbezüglich v o n e i n e m »eschatologische[n] Graben« ( G l a u b e u n d W e r k , S. 31), der z w i s c h e n d e n b e i d e n A r t e n d e r G e r e c h t i g k e i t b e s t e h e n bleibt. 69 StA 1, 222, 1 1 - 1 4 = W A 2, 146, 8 - 1 1 . Vgl a u c h W A 2, 45, 5f. 13. 70 StA 1, 221, 1 4 - 1 6 = W A 2, 145, 1 8 - 2 0 . Das E h e b i l d fehlt i m >Sermo de triplici iustitia«, d o c h ist der Sache n a c h W A 2, 45, 1 8 - 2 6 ein vergleichbarer A b s c h n i t t . 71 So in d e m >Sermon v o n d e m e h e l i c h e n Stand« (vgl. W A 2, [162] 1 6 6 - 1 7 1 ; hier bes. 168, 1 3 - 3 7 ) . Als S a k r a m e n t w i r d die E h e schließlich a b g e l e h n t in >De captivitate B a b y l o m c a ecclesiae praeludium«, vgl. dazu StA 2, 2 3 5 , 1 6 - 2 3 8 , 1 4 = W A 6, 550, 2 1 - 5 5 3 , 20. A b e r a u c h an dieser Stelle verweist L u t h e r bei aller s c h r o f f e n A b l e h n u n g der Sakramentalität einer tatsächlichen E h e z w i s c h e n M a n n u n d Frau auf ihren s a k r a m e n t a l - m y s t e r i e n h a f t e n VorfeiWcharakter für das Verhältnis z w i s c h e n C h r i s t u s u n d seiner G e m e i n d e (vgl. StA 2, 236, 2 8 - 2 3 7 , 2 2 = W A 6, 551, 3 6 - 5 5 2 , 27). D e r geistliche E h e s t a n d C h r i s t i u n d seiner B r a u t (»spirituale m a t r i m o n i u [ m ] « ) g e h t dabei freilich stets ü b e r jegliches physisches P e n d a n t h i n aus.

52

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

einleitend bereits auf die Sakramente Taufe und Buße Bezug genommen 7 2 , so daß von Anfang an eine N e u b e s t i m m u n g des kirchlichen Lebens mit der Rechtfertigungserkenntnis verbunden war. Die elementare Bedeutung der Stellvertretung Christi 7 3 wird in ihrer Aussagekraft durch das Ehebild gesteigert und erreicht einen unüberbietbaren H ö h e p u n k t in der durch R o m 3 , 2 8 motivierten Erläuterung der Glaubensgerechtigkeit: »Haec est iusticia infinita, (et) o(mn)ia peccata in momento absorbe(n)s, Q u i a i m p o s s i b i l e est, q ( u o ) d p e c c a t u ( m ) i n C h r i s t o h ( a ) e r e a t , at qui credit in Christo, h(a)eret in Christo,

estq(ue) vnu(m) cu(m) Christo, habens eandem iusticia(m), cu(m) ipso, Ideo impossibile est q(uo)d in eo maneat peccatu(m)« 74 . Dieser Außenbetrachtung koinzidiert die Binnenperspektive, die als die recht verstandene iustitia »nostra (et) p(ro)pria« 7:) in Gestalt der guten Werke des Gerechtfertigten dreigestaffelt, d.h. »erga seip(su)m ... erga proximu(m)... erga deu(m)«, hervortritt 7 6 und dem peccatum actuale als einem seinerseits »proprio n(ost)ro« 77 widerstreitet, wobei das >Adam expellere< der iustitia aliena mögliche Konkretionen erfährt und als Ertrag selbstwachsender Saat auf das Beispiel Christi rückverweist: »Haec iusticia est opus prioris iustici(a)e (et) fructus, atq(ue) sequela eiusdem ... quia semp(er) laborat, vt Adam p(er)dat(ur) (et) destruatur corp(us) peccati, ideo odit se (et) diligit p(ro)ximu(m), no(n) qu(a)erit qu(a)e sua sunt, sed q(uae) alteri(us) ... Et in hoc imitatur

72 Vgl. StA 1 , 2 2 1 , lOf: »H(a)ec e r g o iusticia d a t u r ho(m)i(ni)bus in B a p t i s m o (et) o m ( n ) i t ( e m ) p ( o r ) e , ver(a)e poenite(n)ti(a)e« (= W A 2, 145, 1 4 f ) . Vgl. a u c h W A 2, 45, 6. 73 Vgl. StA 1, 221, 1 2 - 1 4 = W A 2, 145, 1 6 - 1 8 . 74 StA 1, 222, 1 5 - 1 9 = W A 2, 146, 1 2 - 1 6 . H e r v o r h e b u n g e n T h . H . Interessanterweise hat L u t h e r s G e d a n k e v o m f r ö h l i c h e n Wechsel, w i e er hier i m >Sermo d e duplici iustitia< vorliegt, ein Vorbild u n d n a h e z u w ö r t l i c h e E n t s p r e c h u n g bei Staupitz in Kap. 9 - 1 1 seines >Libellus de e x e c u t i o n e a e t e r n a e praedestinationis< von 1517 (vgl. RICHARD WETZEL: Staupitz u n d L u t h e r , S. 86f m i t A n m . 24). Das zeigt einerseits, daß die r e f o r m a t o r i s c h e T h e o logie erst d u r c h die k o n t r o v e r s t h e o l o g i s c h e Situation des Ablaßstreites ihre systemspreng e n d e W i r k u n g erzielen k o n n t e . Andererseits m a c h t die Parallele zu Staupitz a u c h d e u t l i c h , w i e sehr L u t h e r bis 1518 seine R e c h t f e r t i g u n g s t h e o l o g i e n i c h t n u r »scribendo (et) d o c e n do« (so in s e i n e m Selbstzeugnis v o n 1545, StA 5, 638, 4f = W A 54, 186, 27) g e f u n d e n , s o n d e r n a u c h >audiendo et legendo< e m p f a n g e n u n d ausgebildet hat. 75 StA 1, 223, 7 = W A 2, 146, 36. 76 Vgl. d e n G e s a m t z u s a m m e n h a n g StA 1, 223, 8 - 1 5 = W A 2, 146, 3 7 - 1 4 7 , 6. Z w a r sind in l o c o iustificationis die m e n s c h l i c h e n W e r k e ausgeschlossen, d o c h ist damit keinesfalls ein k o n t r a d i k t o r i s c h e r Gegensatz z w i s c h e n G l a u b e u n d W e r k generell b e z e i c h n e t . V i e l m e h r bilden die W e r k e der iustitia p r o p r i a als F r ü c h t e der iustitia aliena einen k o i n z i d e n t e n B e standteil der G l a u b e n s g e r e c h t i g k e i t . Vgl. h i e r z u v.a. KJELL OVE NILSSON: Simul, S. 3 5 8 3 6 0 . U n m i ß v e r s t ä n d l i c h f o r m u l i e r t in dieser H i n s i c h t der >Sermo de triplici iustitiac »Iusticia huic contraria [sc. p e c c a t u m actuale] est actualis, fluens ex fide et iusticia essenciali« (WA 2, 46, 1); »Fides est m e r i t u m totum« (WA 2, 46, 6); »Ideo opera nostra si sola aspicias peccata s u n t . . . sed in Christo confidas eaplaccre deo, q u a e ipsa sola placere n o n possunt« (WA 2, 46, 29—32); o d e r anders a u s g e d r ü c k t : » m e r i t u m sit ipsa regnans iusticia, n o n a u t e m q u o d actus m e r e a t u r , sed p r o m o v e t m e r i t u m « (WA 2, 47, 7 f ) . Sämtliche H e r v o r h e b u n g e n T h . H . 77 StA 1, 223, 3 2 = W A 2, 147, 24. Vgl. a u c h W A 2, 45, 3 4 - 3 9 .

Eine Erkenntnis

53

bricht sich Bahn

exemplum Chr(ist)i (et) co(n)formis fit imagini eius«78. Im Ehebild geblieben bedeutet dies das wechselseitige Bekenntnis zueinander als Folge der R e c h t fertigung, die zu einem >matrimonium consummatum< fuhrt 79 . Im folgenden werden die im Philipperhymnus gepriesene Kondeszendenz Christi und seine Kenose (>semet ipsum exinanivit formam servi accipiensSermon von Ablaß und GnadeDisputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum< 92 (gemeinhin bekannt als Luthers berühmte 95 Thesen) verhinderte eine Beschränkung der Ablaßdiskussion auf akademische Gelehrtenkreise. Diese von Luther nicht intendierte E n t wicklung veranlaßte ihn schließlich zu einer knappen u n d verständlichen Offenlegung der Ablaßproblematik in deutscher Sprache. Einerseits gab er dadurch sein seelsorgerliches Anliegen zu erkennen u n d andererseits versuchte er Mißinterpretationen seiner lateinisch formulierten Thesen zum Ablaß abzuwehren. Als Luther sich jetzt in der zweiten Märzhälfte 1518 an die breite Öffentlichkeit interessierter Laien wandte, lagen für ihn die Dinge weitgehend klar 93 , und so kann es nicht verwundern, daß der >Sermon von Ablaß und Gnade< zu seinem ersten großen literarischen Erfolg wurde. Zunächst n i m m t Luther Bezug auf die scholastische Bußlehre u n d führt ihre drei Teile R e u e (contritio), Beichte (confessio) und Genugtuung (satisfactio) an; und obwohl sich aufs Ganze gesehen diese Dreiteilung weder in der Schrift noch »ynn den alten heyligen Christlichen lerern(n)« grundgelegt 89

Vgl. WA 1, (380) 383-393.

911

S o v.a. E R N S T B I Z E R : F i d e s e x a u d i t u , S. 9 7 .

91

V g l . i n s o n d e r h e i t M A R T I N B R E C H T : M a r t i n L u t h e r , B d . 1, S. 1 7 3 f . D e r A n g r i f f a u f

den Ablaß geschieht zunächst aus der frühen Humilitas-Theologie Luthers heraus im K o n text spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Die Ausformung der dezidiert »evangelischen« Position und damit die entschiedene A n w e n d u n g reformatorischer Rechtfertigungslehre geht einher mit den Eskalationsstufen der Auseinandersetzung. Inneres und äußeres Geschehen sind dabei stets ineinander verflochten. 92 Vgl. StA 1, (173) 176-185 = WA 1, (229) 233-238. 93 Im Verhältnis zu den 95 Thesen sind Fortschritte zu verzeichnen und die Abgrenzungen deutlicher geworden. Die aus der Exegese von R o m 1, 17 herrührende befreiende Erkenntnis meint BIZER hier allerdings noch nicht zu finden (vgl. Fides ex auditu, S. 101). Freilich ist sie nicht entfaltet wie im zeitgleichen >Sermo de duplici iustitiaApologie< auf Tetzeis >Confutatio< In einer ebenfalls deutsch abgefaßten Gegenschrift wandte sich der Ablaßprediger Johann Tetzel gegen Luthers Hauptaussagen 103 . Ein wesentliches Anliegen seiner >Vorlegung< wider Luthers Sermon war es dabei, Schriftgründe für die Rechtmäßigkeit des Ablasses vorzubringen und den distributiven Sinn der iustitia Dei unter Beweis zu stellen. Aus der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments zeige sich seiner Meinung nach, »das goth für dy sunde genungthuunge forderth« 104 . Dann beläßt es Tetzel aber bei atl. Belegstellen (Dtn 25, 2f; II Sam 12, 14ff; 24, 12ff) und sieht von einer weiterführenden Vertiefung ab. Tetzel zog sich vorwiegend auf die Tradition zurück und führte von ihr ausgehend seinen Frontalangriff. Luther antwortete postwendend, um seine unter Beschuß geratenen Äußerungen von der Verzeichnung zu befreien. »Eyn Freyheyt des Sermons Bebstlichen Ablas und gnad belangend Doct[or] Martini Luther wider die Vorlegung, szo tzur schmach seyn und desselben Sermons ertichtet« 1,b lautet der vollständige Titel dieser Schrift, die Tetzeis Argumentation in sechs Abschnitte untergliedert und widerlegt 106 . Für Luthers Rechtfertigungsverständnis ist v.a. der »ander grundt« 1 0 7 bedeutsam, »das anzeyge beyd new und alt

Vgl. B o A 1, 13, 2 3 - 1 4 , 17 = WA 1, 245, 2 6 - 2 4 6 , 20 (Punkte 1 4 - 1 7 ) . Vgl. B o A 1, 14, 2 4 - 3 6 = W A 1, 246, 2 7 - 3 8 (Punkte 19 u. 20). D e r Systembruch mit der mittelalterlichen T h e o l o g i e wird deutlich in d e m A u f r u f »last doctores Scholasticos / scholasticos seynn« ( B o A 1, 14, 26 = W A 1, 246, 29). 1 0 3 Historische Einordnung, Bibliographie und Text der Schrift neuerdings bei PETER FABISCH/ERWIN ISERLOH (Hg.): D o k u m e n t e zur Causa Lutheri ( 1 5 1 7 - 1 5 2 1 ) , Teil 1, S. 101

102

337-363. 1 0 4 AaO., S. 346 = WALTHER KÖHLER (Hg.): D o k u m e n t e z u m Ablaßstreit von 1517, S. 149, Z . 10. 1 0 5 W A 1, 383, 1 - 4 . 106 E i n e F o r m - und Intentionsanalyse dieser Schrift findet sich bei JOHANNES SCHWITALLA: D e u t s c h e Flugschriften 1 4 6 0 - 1 5 2 5 , S. 2 7 8 - 2 8 3 . Kritisch dazu BERND MOELLER: Das B e r ü h m t w e r d e n Luthers, S. 72, A n m . 33. Ablehnend äußert sich auch MARTIN BRECHT: Luther als Schriftsteller, S. 43, A n m . 7. 1 0 7 Luther spricht in der Einleitung davon, allein die »gründe und ecksteynn« (WA 1, 3 8 3 , 18) der Gegenschrift Tetzeis zu behandeln, so daß es bei der Z ä h l u n g der thematisch gegliederten Antwort zu dieser eigentümlichen B e z e i c h n u n g k o m m t .

Eine Erkenntnis

bricht sich Bahn

59

Testament, das gott fordere gnugthuung fu(e)r die sunde«108. Der Schriftbeweis Tetzeis, insbesondere die Heranziehung von Dtn 25, wird als vollkommen unhaltbar erwiesen, denn Dtn 25 handelt keineswegs von der Strafgerechtigkeit Gottes, sondern von den Maßstäben menschlicher Vergeltung, die für Christen ohnehin keine Gültigkeit besitzen. Christus selbst hebt in der Bergpredigt die auf dem ius talionis basierende Rache auf (vgl. Mt 5, 38) und überbietet die atl. Forderungen antithetisch. Tetzel habe damit die Bibelstelle nicht nur »an vorstand« eingeführt, sondern auch »widder das ewangelium«109 und traktiere die Schrift schlechthin »wie die saw ein habbersack«1 ln . Die Identifikation des ius talionis mit der iustitia Dei widerstreitet so dem biblischen Zeugnis von der iustitia Christi, die ihrerseits Äquivalenz zur Gottesgerechtigkeit beansprucht. Bei der Entgegnung auf den vierten >GrundSermo de digna praeparatione cordis pro suscipiendo sacramento eucharistiae< 113 , der >Sermo de virtute excommunicationis< 114 und die >Appellatio F. Martini Luther ad C o n ciliumDe captivitate< h e r als gescheitert, weil das n e u e Promissioverständnis n i c h t z u m A u s d r u c k k o m m t . Es sei die thomistisch-scholastische Position z u r ü c k g e w o n n e n (vgl. aaO., S. 228), der h ä u f i g g e b r a u c h t e B e g r i f f d e r Z u s a g e f ü g e sich nicht sinnvoll ein (vgl. ebd.), d e n E i n s e t z u n g s w o r t e n w e r d e exegetisch G e w a l t angetan (vgl. aaO., S. 235), u n d d e m G l a u b e n k o m m e n u r n o c h d i e n e n d e F u n k t i o n zu (vgl. aaO., S. 237). »Vom Wort w i r d in diesem S e r m o n völlig g e s c h w i e g e n . Dies besagt, daß der r e f o r m a t o r i s c h e Ansatz hier n i c h t w i r k l i c h zur G e l t u n g g e k o m m e n ist« (aaO., S. 240). D a g e g e n ist j e d o c h zu b e t o n e n , daß sich L u t h e r s R e c h t f e r t i g u n g s t h e o l o g i e n i c h t auf d e n promissionalen C h a r a k t e r des W o r t e s G o t t e s b e s c h r ä n k e n läßt (vgl. S. 41, A n m . 21), s o n d e r n stets d o r t zur Sprache g e b r a c h t wird, w o v o n C h r i s t i G e r e c h t i g k e i t die R e d e ist, die i m G l a u b e n z u g e e i g n e t w i r d u n d d e m S ü n d e r somit g n ä d i g b e g e g n e t . D e r r e f o r m a t o r i s c h e W o r t b e g r i f f m u ß also n i c h t i m m e r eigens thematisiert w e r d e n , w e n n z.B. a n d e r e A s p e k t e des R e c h t f e r t i g u n g s g e s c h e h e n s in d e n V o r d e r g r u n d t r e t e n sollen. H i e r ist es der G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e , d e m aber d e u t l i c h das t h e o l o g i s c h e Profil d e r R e c h t f e r t i g u n g s e t h i k z u g r u n d e g e l e g t w i r d . Z u r K r i t i k an Bayer vgl. a u c h REINHARD MESSNER: D i e M e ß r e f o r m M a r t i n L u t h e r s u n d die E u c h a r i s t i e der Alten Kirche, S. 1 8 6 - 1 8 8 m i t A n m . 2 6 8 . 107 Vgl. StA 1, 272, 1 3 - 1 6 = W A 2, 742, 1 5 - 1 8 . 108 Vgl. StA 1, 273, 1 6 - 2 7 4 , 14 = W A 2, 743, 7 - 2 6 ( P u n k t 4). 109 StA 1, 274, 1 5 - 1 8 = W A 2, 743, 2 7 - 3 0 . 110 Vgl. StA 1, 275, 1 2 - 1 8 = W A 2, 744, 2 2 - 2 9 . 1 1 ' Vgl. StA 1 , 2 7 6 , 2 - 4 . 13f. 1 7 - 2 0 = W A 2, 745, 7 - 9 . 19f. 2 4 - 2 7 . D e n Z u s a m m e n h a n g v o n R e c h t f e r t i g u n g u n d c o m m u n i o in dieser S c h r i f t hat JÜRGEN LUTZ klar h e r a u s g e a r b e i tet: U n i o u n d C o m m u n i o , S. 2 5 2 - 2 6 2 . U b e r G a b e u n d A u f g a b e d e r Kirche als G e m e i n schaft ihrer G l i e d e r ebenfalls PAUL ALTHAUS: C o m m u n i o s a n c t o r u m , S. 54fF. D e r zentralen Stellung des c o m m u n i o - G e d a n k e n s in diesem S e r m o n spürte auch HANS GRASS nach: D i e A b e n d m a h l s l e h r e bei L u t h e r u n d Calvin, S. 19—25. 1,2 Vgl. StA 1, 276, 38ff = W A 2, 746, 6ff ( P u n k t e l O f f ) . MARTIN BRECHT weist zu R e c h t darauf h i n , daß die R e c h t f e r t i g u n g in diesem S e r m o n e h e r vorausgesetzt als m i t g e -

Entfaltung

und

Vertiefung

79

Gestalt in Brot und Wein zur völligen unio gelangen, so werden die Kommunikanten gleichförmig mit Christus durch Gütergemeinschaft: »Christus mit allen heyligen / durch seyne liebe / nympt vnßergestalt an / streit mit vnß widder die sund / tod / vn(d) alles vbel d a u o n w i r y n lieb e n t z ü n d e t / nemen seyn gestalt / vorlassen vnß aujf seyti gerechtickeit / leben / vnd selickeit / v n d seyn a l ß o d u r c h

gemeynschafft seyner guter / vn(d) vnßers vnglucks / eyn kuche / eyn brot / eyn leyb / eyn tranck / vnd ist alls gemeyn«113. Luther zitiert Eph 5, 32 (!) und spezifiziert die Heilsmitteilung dieser innigen Vereinigung, indem er den Versöhnungsgedanken nach Hebr 2,17 anklingen läßt und mit I Joh 3, 2 auf die zukünftige Herrlichkeit der Gotteskindschaft hinweist, die dem im Bibelwort angesprochenen >similare Christo< entspricht. »Alßo fechten yhn an vnßer sund / W i d d e r u ( m ) b / v n ß b e s c h i r m e t seyne gerechtickeit«U4.

Der

Glaube aber erst bringt das Zeichen der Gemeinschaft mit seiner Bedeutung in Zusammenhang, ja »zu nutz vnd yn den prauch« 115 und erschließt die rechtfertigende Heilswirkung des Sakraments. »Es ist nit gnug / das du wissest / es sey eyn gemeynschafft vnd gnediger wechseil odder vormischu(n)g vnßer sund v n d leyden mit Christus gerechtickeit v n d seyner heyligen. S o n d e r n

du mu(o)sist / seyn auch begeren vn(d) festiglich glauben / du habst es erlangt«116. Christi Liebestat gibt teil an seinem Leib und verwandelt seine teilt w i r d (vgl. M a r t i n Luther, Bd. 1, S. 345), was a u c h d u r c h d e n m e h r f a c h e n H i n w e i s auf die Taufe als christliche E x i s t e n z b e g r ü n d u n g v e r d e u t l i c h t w i r d , der i m A b e n d m a h l n u r stets n e u e r l i c h die A u s t r e i b u n g d e r S ü n d e folgt (vgl. StA 1, 275, 9ff; 276, 38fF; 2 8 3 , 41ff = W A 2, 744, 19ff; 746, 6fF; 753, 2 5 f f ) . D e r A s p e k t der S t ä r k u n g u n d des Trostes g e w i n n t b e i m A b e n d m a h l v.a. in eschatologischer H i n s i c h t an G e w i c h t , d e n n dies S a k r a m e n t ist »eyn f u r t / eyn b r ü c k / eyn t h u r / eyn schiff / v n d tragbar / y n w i l c h e r v n d d u r c h wilch w i r vo(n) disser weit faren / y n ß e w i g e leben« (StA 1, 283, 3 3 f = W A 2, 753, 1 7 - 1 9 ) . 1,3 StA 1, 2 7 9 , 1 - 5 = W A 2, 748, 1 4 - 1 8 . H e r v o r h e b u n g e n T h . H . 114 StA 1, 279, 2 6 f = W A 2, 749, 2f. H e r v o r h e b u n g e n T h . H . 115 StA 1, 272, 11 = W A 2, 742, 13. D e r G l a u b e w i r d n i c h t o h n e G r u n d m i t g r o ß e n L e t t e r n ( M a j u s k e l d r u c k ) e i n g e f ü h r t (vgl. StA 1, 280, 18 = W A 2, 749, 30), schließlich geht es u m die t r e i b e n d e Kraft i m A b e n d m a h l . W i r d das S a k r a m e n t o h n e G l a u b e n , also als o p u s o p e r a t u m e m p f a n g e n , d a n n b e w i r k t es das eingangs v o n L u t h e r e r w ä h n t e » e x c o m m u n i c a r e « u n d s o n d e r t v o m Leib C h r i s t i ab. N u r der G l a u b e v e r m a g das S a k r a m e n t r e c h t zu g e b r a u c h e n u n d sich a n z u e i g n e n . »Es w i r c k t nichts vberall / w e n es alleyn o p u s op(er)atu(m) ist dan s c h a d e n . Es m u ß o p u s op(er)antis w e r d e ( n ) . . . D r u ( m ) b sich zu / das d(as) s a c r a m e n t dir sey / eyn o p u s operantis / das ist eyn p r a u c h l i c h w e r c k / vn(d) g o t t e gefalle / nit v m b seyns w e ß e n s wille(n) / S z o n d e r n ( n ) v m b deins glaubens vn(d) g u t e n p r a u c h s wille(n)« (StA 1, 282, 14f. 2 5 - 2 8 = W A 2, 751, 33f; 752, 8 - 1 1 ) . I m G l a u b e n s b e g r i f T w ä c h s t L u t h e r ü b e r die T r a d i t i o n hinaus, er hat f ü r L u t h e r keinesfalls n u r d i e n e n d e , s o n d e r n k o n s t i t u i e r e n d e F u n k tion (gegen BAYER: Promissio, S. 237). 116 StA 1, 280, 2 0 - 2 3 = W A 2, 749, 3 2 - 3 5 . H e r v o r h e b u n g e n T h . H . Explizit b r i n g t L u t h e r h i e r die W e c h s e l v o r s t e l l u n g m i t d e m G l a u b e n in V e r b i n d u n g u n d spricht v o n d e n ungleichen G ü t e r n unserer S ü n d e u n d C h r i s t i G e r e c h t i g k e i t . So liegt es n a h e , inhaltliche B e z ü g e zur F o r m u l i e r u n g des f r ö h l i c h e n Wechsels i m Freiheitstraktat (vgl. StA 2, 275, 19— 277, 15 = W A 7, 25, 2 6 - 2 6 , 10) herzustellen, w e n n dabei a u c h das stark ekklesiologische Interesse des A b e n d m a h l s s e r m o n s d e u t l i c h w e r d e n m a g (gegen OSWALD BAYER, d e r trotz B e r ü h r u n g s p u n k t e n k e i n e sachliche Identität z u g e s t e h e n m ö c h t e ; vgl. Promissio, S. 2 3 4 m i t A n m . 62). D a z u a u c h JOSEPH LORTZ: R e f o r m a t o r i s c h u n d Katholisch b e i m j u n g e n L u t h e r

80

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

Glieder durch die Liebe ineinander, so daß Glaube und Liebe in ihrer Einheit vertikal das Gottesverhältnis bestimmen u n d horizontal das menschliche Miteinander prägen 1 1 7 . Die kritische Auseinandersetzung mit den Praktiken der Bruderschaften am Schluß der Ausfuhrungen 1 1 8 dient diesbezüglich als Exemplifizierung. b) Zeichen und Bedeutung (signum und res) In allen drei Sermonen werden die Sakramente nach einem gleichen Aufbauschema, das ihre Bestandteile wiedergibt, vor Augen geführt. Luther spricht jeweils von »drey dingk« 119 , die es zu bedenken gilt und die imstande sind, das Wesen der Sakramente zu charakterisieren. Dabei geben Zeichen (signum) u n d Bedeutung (res) den R a h m e n vor, während drittens der Glaube beides erst in Geltung setzt. Nicht das Sakrament, sondern die fides sacramenti rechtfertigt. Signum u n d res zeigen, daß die iustitia Dei zur iustitia Christi geworden ist, die Gottes Gnade mitteilt. Weiter zielt dann aber alles darauf, daß die Aneignung der Gerechtigkeit Christi als Glaubensgerechtigkeit geschieht. Fides Christi und fides sacramenti werden so zu kongruenten Aussageweisen der Rechtfertigung u n d zeigen den Skopus der Sakramentssermone. Die Erkenntnis von R o m 1, 17 k o m m t zum Tragen, und es wird deutlich, daß sich in den betreffenden Schriften des Spätherbstes 1519 Luthers Sakramentenverständnis und seine Rechtfertigungslehre einander bedingen 1 2 0 . Signum, res u n d fides bilden dabei ein lebendiges Beziehungsgeflecht, das aber weiterer Klärung bedarf. ( 1 5 1 8 / 1 9 ) , S. 52 (= ders.: E r n e u e r u n g u n d Einheit, S. 635). Z u Bayers E i n w a n d , Christus sei i m A b e n d m a h l s s e r m o n n u r p r i m u s inter pares (vgl. aaO., S. 234. 2 3 6 f ) , auch was in diesem Z u s a m m e n h a n g das c o r p u s - C h r i s t i - D e n k e n anbetrifft, vgl. kritisch KJELL OVE NILSSON: Simul, S. 325; JOSEPH LORTZ: Sakramentales D e n k e n b e i m j u n g e n Luther, S. 23f (= ders.: E r n e u e r u n g u n d Einheit, S. 6 6 0 f ) . G e g e n das von Bayer vertretene »do-ut-des«Prinzip des Austausches der G ü t e r u n d das ius talionis der Liebe als Heilsgabe (vgl. aaO., S. 237) sprechen die U n g l e i c h h e i t der G ü t e r sowie die stetige Prävalenz der Gabe vor der Aufgabe (vgl. auch WOLFGANG SCHWAB: E n t w i c k l u n g u n d Gestalt der S a k r a m e n t e n t h e o l o gie bei M a r t i n Luther, S. 167). 117 D i e res sacramenti ist nicht n u r die Caritas, die das Soteriologische sofort verdränge (so BAYER: Promissio, S. 235—237), sondern das ethische Interesse g r ü n d e t ja gerade im vorausgehenden Heilshandeln Gottes durch Christus. So hat L u t h e r dieses Sakrament in die » G r u n d o r d n u n g : G l a u b e - Liebe« eingefügt (ALBRECHT PETERS: Sakrament u n d Ethos nach Luther, S. 65) u n d er spricht daher auch v o m »Wechsel. d(er) lieb vn(d) des glaubens« (StA 1, 281, 40f = W A 2, 751, 18f). Bekräftigt w u r d e dieser G r u n d z u g j ü n g s t in der Darstellung von MARKUS RATHEY: Eucharistische E t h i k in Luthers A b e n d m a h l s s e r m o n von 1519, L u t h e r 63 (1992), S. 6 6 - 7 3 . 118 Vgl. StA 1, 284, 2 5 - 2 8 7 , 4 3 = W A 2, 754, 1 9 - 7 5 8 , 6. 1,9 Vgl. StA 1, 248, 24; 260, 2; 272, 6 = W A 2, 715, 21; 727, 24; 742, 6. 120 D e m entspricht, daß L u t h e r in der H e b r ä e r b r i e f v o r l e s u n g v o m Sakramentsproblem aus d e n r e f o r m a t o r i s c h e n G l a u b e n s b e g r i f F e n t w o r f e n h a t (vgl. MATTHIAS

KROEGER:

R e c h t f e r t i g u n g u n d Gesetz, S. 168). »Die reformatorische R e c h t f e r t i g u n g s l e h r e ist nur die allgemeine A u s w e i t u n g der spezifischen r e f o r m a t o r i s c h e n Sakramentslehre, die aber auch

81

Entfaltung und Vertiefung

In der Buße und in der Taufe werden signum und res mit Gottes verheißendem Wort verbunden, doch läßt der fehlende Wortbezug im Abendmahlssermon signum und res noch keineswegs auseinanderbrechen 121 , sondern formuliert eine Zwischenlösung, die dem Sakrament die »Bedeutung des ins Zeichen gefaßten Wortes« 122 beimißt. Daß das Dreierschema durch solche Gleichsetzung von einem Zweierschema abgelöst werden könnte, deutet sich aber bereits im Bußsermon an. Treten am Anfang der Schrift Absolution als Zeichen und die Sündenvergebung vor Gott als ihre Bedeutung dem Glauben im Verhältnis von außen und innen gegenüber, so identifiziert Luther gegen Ende des Sermons die Absolution mit dem Wort Gottes, das im Glauben zu seiner Bedeutung bzw. zur >Sache< kommt, so daß anstelle der Zweiheit von äußerem Zeichen und seiner sachlichen Bedeutung ein Entsprechungszusammenhang signum — verbum — res entsteht, der wiederum freilich nur dann immerfort neu zu der ihm eigenen und darüber hinausreichenden Analogiefähigkeit gelangt, wenn er in die ihn konstitutiv bestimmende fides eingebunden bleibt 123 . So sind im Glauben nunmehr Form (signum) und Inhalt (res), äußeres Zeichen und innere Konkretion des Sakraments stets in einer gegenseitigen Dynamik gehalten, vermittelt durch die Selbstkundgabe des rechtfertigenden Gottes und die Anrede des Menschen durch das heilschaffende Wort seiner Gnade (verbum). Im Taufsermon durchdringen sich dann ohnehin wirkmächtiges Zeichen und dargestellte Bedeutung 1 2 4 . Die Konturierung des sakramentalen Rechtfertigungsgeschehens schreitet demnach voran und mündet in die Zuordnung von göttlicher Verheißung, die das Heil gewährt, und Glaube, der dem Heil Gottes traut. c) »Ein Sermon von dem Neuen Testament, das ist von der heiligen

Messe«125

Mit diesem Sermon von 1520 wurde eine erhebliche Präzisierung der rechtfertigungstheologischen Grundlegung und Theoriebildung in Hinsicht auf ihre sakramentale Verifikation erreicht. Dabei kommt es zu einer erneuten Einschärfung des Glaubens, der in Bindung an Gottes Zusage der iustitia Christi teilhaftig wird. Von welcher Brisanz die behandelte Thematik war, läßt sich wohl leicht daraus erkennen, daß mit der Opfermesse das Herzstück in ihrer Allgemeinheit speziell bleibt, weil nicht von der bestimmten Wörtlichkeit des Glaubens abstrahiert« (OSWALD BAYER: Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, S. 144 [ = L o h s e I I , S . 127]). Aber gegen HORST KASTEN: Taufe und Rechtfertigung, S. 270. 121 Gegen OSWALD BAYER: Promissio, S. 240. 122

E R N S T SOMMERLATH: D e r S i n n des A b e n d m a h l s , S. 1 0 2 ; vgl. a u c h F R I D O M A N N , d e r

von einer »Theologie des Zeichens« spricht (Das Abendmahl beim jungen Luther, S. 70). 123 Vgl. OSWALD BAYER: Promissio, S. 240, Anm. 98. Der Textvergleich zwischen StA 1, 2 4 8 , 2 4 - 2 4 9 , 1 = W A 2 , 7 1 5 , 2 1 - 3 0 u n d S t A 1, 2 5 5 , 2 0 - 2 2 = W A 2 , 7 2 1 , 8 - 1 1

zeigt

eindrucksvoll die Veränderung. 124

V g l . z . B . S t A 1, 2 5 9 , 1 1 - 1 6 = W A 2 , 7 2 7 , 1 4 - 1 9 . H i e r z u E R N S T

Rechtfertigung und Taufe, S. 353. 1 2 5 Vgl. StA 1, (288) 2 8 9 - 3 1 1 = WA 6, (349) 3 5 3 - 3 7 8 .

SOMMERLATH:

82

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

der spätmittelalterlichen Kirche betroffen war, die hier nun als unbiblische Uberformung des Altarsakraments entlarvt wird. Luther versieht seine Darlegungen mit einem heilsgeschichtlichen R a h men, der sofort die neue Dimension der Rechtfertigungstheologie als Entschränkung des neuen Meßverständnisses bewußt werden läßt. Viele Gesetze bringen nur Unwillen, j e weniger aber geboten ist, desto mehr sind gute Werke selbstverständlich 126 . Selbst das mosaische Gesetz ist nur darum gegeben, »das me(n)schlich natur solt erkennen wie gar nichts hulff vil gesetz / frum leuth zu machen« 1 2 7 . Der Mensch verhält sich abweisend gegenüber dem Gesetz, will lieber frei sein und kann deshalb ohne Gottes Gnade nicht gerecht werden 1 2 8 . Christus aber hat das Gesetz des Mose aufgehoben und hat »nit mehr den eyne weyß odder gesetz eyngesetzt seynem gantzen volck / das ist die heylige Meß« 1 2 9 . Durch viele menschliche Gebräuche wurde j e doch das wahre Wesen der Messe verschüttet, so daß eine Rückbesinnung auf das erste Abendmahl Christi dringend erforderlich sei. Denn in den Einsetzungsworten »ligt die meß gantz / mit all yhrem weßen / werck / nutz vnd frucht« 130 , sie sind Gottes rechtfertigende Zusage, die sein Heilshandeln verbürgen, das aller menschlichen Tat zuvorkommt 1 3 1 , faßbar allein im Glauben 1 3 2 . Seit Adams Fall geschieht das Heil als Vertrauen auf die Verheißung 1 3 3 , doch ist Christi Einsetzung in letzter Uberbietung als neues Testament zu verstehen 1 3 4 , ewig und unvergänglich. Der z.T. den juristischen Vergleich Vgl. StA 1, 289, 5 - 7 = WA 6, 353, 5 - 7 . StA 1, 289, 1 2 f = W A 6, 353, 14f. 1 2 8 Vgl. StA 1, 289, 1 3 - 1 9 = WA 6, 353, 1 5 - 2 1 . Luther spricht von »grundlich frum machen« (StA 1, 289, 1 8 f = W A 6, 353, 21) und meint damit die Rechtfertigung, gibt er doch den lateinischen Begriff »iustitia« andernorts in deutscher Sprache mit »fromkeyt« wieder (vgl. WA 2, 43, 4f). 1 2 9 StA 1, 290, 1 6 f = WA 6, 3 5 4 , 21f. 1 3 0 StA 1, 2 9 1 , 1 7 f = WA 6, 355, 26f. 131 »Wen der mensch soll mit gott zu werck ku(m)men vnd von yhm ettwas empfahen / ßo muß es also zugehen / das nit d(er) mensch anheb vnd den ersten steyn lege / sondern gott allein on alles ersuchen vn(d) begeren des mensche(n) muß zuuor ku(m)men / vn(d) yhm ein zusagu(n)g thun / dasselb wort gottis / ist d(as) erst der grund / der felß / darauff sich ernoch alle werck / wort / gedancken / des menschen bawen«; »Alßo das nit muglich ist / das ein mensch auß seyner vornunfft vnd vormugen / solt mit wercken / hynauff genn hymel steygen vnd gott zuuorku(m)men / yhn bewegen zur gnade / sondern gott muß zuuorku(m)men alle werck vnd gedancken / vn(d) ein klar außgedruckt zusagen thun mit Worten / wilch den d(er) mensch / mit eynem rechten festen glauben ergreyff vn(d) behalte / ßo folgt den der heylig geyst der yhm geben wirt / vmb desselben glaubens willen« (StA 1, 291, 2 6 - 3 1 . 3 6 - 4 2 = WA 6, 356, 3 - 8 . 1 3 - 1 9 ) . 1 3 2 »Diße trew vn(d) glaub / ist d(er) anfang mittell vn(d) end aller werck vn(d) gerechtickeit« (StA 1, 291, 3 3 f = WA 6, 356, lOf). 1 3 3 Vgl. StA 1, 2 9 2 , l f f = WA 6, 3 5 6 , 20fT. Die atl. Promissionen erschöpfen sich nicht im heilsgeschichtlichen Schema von Verheißung und Erfüllung. »Jedesmal, wenn eine Z u sage Gottes ergeht, geschieht dasselbe, geschieht das Ganze, geschieht alles: das Heil« (OS126 127

WALD B A Y E R : P r o m i s s i o , S. 2 4 4 ) . 1 3 4 Vgl. StA 1, 292, 2 4 - 2 9 3 , 16 = WA 6, 357, 1 0 - 3 5 8 , 13. Nicht in der promissio, sondern in ihrem jeweiligen Heilsgut liegt der Unterschied von altem und neuem Testa-

Entfaltung und Vertiefung

83

suchenden Beschreibung von Bedeutung, Zeichen und den Bestandteilen der Messe, d.h. des Testaments Christi (!), folgt die Charakterisierung des Glaubens, der das Sakrament recht gebraucht und die »Testamentworte« Christi — allem menschlichen Würdigkeitsstreben zum Trotz — ihres verbrieften Rechtes wegen in Geltung setzt 135 . Wo testamentum und fides die Messe nicht bestimmen, da drängen die Surrogate der Werkgerechtigkeit herein und fuhren zu vielerlei Mißständen. Ohne Wort ist aber auch das Zeichen wertlos und wird ganz opus operatum. »Alßo sehen wir / das das beste vnd gro(e)ste stu(e)ck aller sacrament vnd der meß / sein die wort vnd gelubd gottis / on wilche / die sacrament / todt vnnd nichts seynn . . . « , 3 6 . Wer aus der Messe ein Werk oder Opfer macht, widerstreitet ihrem Wesen und verliert Evangelium, Christus, Trost und alle Gnade Gottes 1 3 7 . Das rechte Meßopfer ist nicht Sühnopfer, sondern Lobopfer im Vertrauen auf die Mittlerschaft Christi vor Gott, die im Wort zugesagt wird. Solches Wort greift in der Predigt von Christi Liebe und Gnade auf die in den Einsetzungsworten gebotene commemoratio zurück 1 3 8 , wie ohnehin das ganze Evangelium als Verkündigung der göttlichen Gnade und der Sündenvergebung nichts anderes ist als »ein vorclerung dises testaments« 139 . Dementsprechend kommt der Glaube aus dem Hören — fides ex auditu (vgl. R o m 10, 17); er trägt die Gewißheit der Rechtfertigung in sich. Abschließend rekurriert Luther auf den eingangs erwähnten Gedanken der Messe als dem neuen Gesetz Christi und kontrastiert unter Hinweis auf den >Sermon von den guten Werken< Glaube und Werk bei gleichzeitig neuer Verhältnisbestimmung: Der Glaube »schneyd abe alle gesetz vnd werck / vnd erfüllet ment, denn die »ubiquitäre Geltung der jeweils einen promissio hat ihren Rechtsgrund in der ubiquitären Geltung des einen Christusgeschehens, des neuen Testaments« (OSWALD B A Y E R : a a O . , S.

245).

Vgl. StA 1, 2 9 5 , 2 6 - 4 0 = WA 6, 360, 2 9 - 3 6 1 , 11. Damit sind die als Testament verstandenen Einsetzungsworte, die im Versaldruck vom übrigen Text abgehoben werden (vgl. StA 1, 2 9 1 , 1 9 - 2 2 = WA 6, 355, 2 8 - 3 2 ) , in den Mittelpunkt der rechtfertigungstheologischen Abendmahlsauffassung getreten. Vgl. HANS GRASS: Die Abendmahlslehre bei Luther und Calvin, S. 2 5 - 2 9 . Kritisch dazu ALBRECHT PETERS: Realpräsenz, S. 167. Z u m Testamentsgedanken in dieser Schrift ERICH ROTH: Sakrament nach Luther, S. 26ff; und bes. REINHARD SCHWARZ: Der hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform, S. 3 4 7 - 3 4 9 . 136 StA 1 , 2 9 7 , 1 9 - 2 1 = WA 6 , 3 6 3 , 1 1 - 1 3 . 1 3 7 Vgl. StA 1, 301, 1 7 - 2 0 = WA 6, 3 6 7 , 1 6 - 1 9 . Falsche Vermessenheit zeichnet dafür verantwortlich, daß meritorischer Mißbrauch der Messe geschieht: »... den ein testament ist nit / beneficium acceptu(m) / sed datum / es nympt nit wolthat von vns / ßondern bringt vns wolthat / wer hat yhe gehört das der ein gutt werck thue / d(er) ein testament empfehet?« (StA 1, 2 9 8 , 1 8 - 2 0 = WA 6, 364, 1 9 - 2 2 ) . 1 3 s Vgl. StA 1, 307, 1 0 - 2 7 ; 294, 3 5 - 4 1 = WA 6, 373, 9 - 2 7 ; 359, 2 9 - 3 6 0 , 2. Hierzu auch 135

OSWALD BAYER: P r o m i s s i o , S. 2 4 7 - 2 5 3 . 1 3 9 StA 1, 3 0 8 , 4 = WA 6, 374, 3f. »Christus hatt das gantz Euangeliu(m) / ynn eyner kurtzen summa begriffen / mit den Worten dises testaments oder sacraments« (StA 1, 308, 4—6 = WA 6, 374, 4f). Ahnlich im >Sermon von den guten Werken< zum dritten Gebot (vgl. StA 2, 44, 2 0 - 4 5 , 13 = WA 6, 231, 1 6 - 2 3 2 , 7).

84

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

alle gesetz vnnd werck / darumb ßo fleussit auß yhm eytell gerechtickeit / dan ßo volkomen ist der glaub / das er on alle andere mu(e)he vnd gesetz macht / allis was der mensch thut / für gott angenhem vnd woll than ... Drumb last vns hu(e)tten für sunde(n) / aber vil mehr für gesetzen vnd glitten wercke(n) / vnd nur wol warnehmen gottlicher zusagung vnd des glaubenn / ßo werden die gutten werck sich wol finde (n)« 140 . d) Wort und Glaube (promissio und fides) Der neue Blickwinkel bei der rechtfertigungstheologischen Erfassung des Altarsakraments dürfte deutlich geworden sein. Gottes gnädiges Handeln kommt in den Einsetzungsworten zur Sprache, die so Inbegriff des Evangeliums überhaupt werden und das Heilsgeschehen der sich mitteilenden iustitia Christi als Wortgeschehen erschließen 141 . Damit verändert sich aber nicht Luthers Rechtfertigungssystematik, sondern sie erhält lediglich eine neue Ausdrucksform. Zwar spezifiziert die promissio den Modus göttlicher Gnadenzuwendung 142 , doch geht es auch ihr um Person und Werk Jesu Christi als res sacramenti, die im Glauben ergriffen sein will. Denn Rechtfertigung erfährt der Mensch im Glauben an das Wort der Verheißung nur deshalb, weil das Wort das Sakrament immer schon bei sich hat. Die fides promissionis ist darum zugleich die fides sacramenti in Gestalt der fides Christi, welche die iustitia Dei als iustitia Christi erkennt. Von einer Konzeption »reflexiven Glaubens«, die die Eucharistie »verengt und entleert«, kann dann freilich schwerlich die Rede sein 143 . Der Glaube ist in Bindung an Gottes verheißendes Wort nie selbstgenügsamer »Bewußtseinsakt« 144 , sondern stets 1 4 0 StA 1, 311, 1 9 - 2 6 = WA 6, 378, 9 - 1 6 . Z u m Verhältnis der Hauptbegriffe Gesetz, Evangelium/Wort, Glaube vgl. MATTHIAS KROEGER: Rechtfertigung und Gesetz, S. 164. 141 Zur Rechtfertigung als Wortgeschehen im Kontext der promissio-fides-Relation des Altarsakraments neuerdings REINHARD MESSNER: Die Meßreform Martin Luthers und die Eucharistie der Alten Kirche, S. 1 1 9 - 1 2 7 ; und SILVIA HELL: Die Dialektik des Wortes bei

M a r t i n L u t h e r , S. 4 3 - 5 5 .

140-142.

»Promissio ist die Art, wie Gottes Tun uns nahekommt; das ist die Art und Weise, wie ersieh uns zeigt, sich uns offenbart« (HANS JOACHIM IWAND: Luthers Theologie, S. 276). Die pro-missio geht dem Tun Gottes voraus, und nur wer dieses Wort hat, findet auch sein Tun (vgl. ebd.). Die Vermittlungsinstanz ist damit vom Daß der Rechtfertigung nicht zu scheiden, aber klar zu unterscheiden! 1 4 3 Gegen PAUL HACKER: Das Ich im Glauben bei Martin Luther, bes. S. 2 2 4 - 2 3 3 , Zitate auf S. 231. Hacker spricht auch von der »Gewißheitsbildung als Zweck der Sakramente« als Ausdruck der vermeintlich behaupteten Reflexivität von Luthers Glaubensbegriff (vgl. aaO., S. 2 1 5 - 2 1 8 ) . Hacker möchte bei Luther in den Jahren 1 5 1 9 / 2 0 eine Radikalisierung in R i c h t u n g auf einen »ichbezogenen Bewußtseinskult« (aaO., S. 213) feststellen und erhebt den Vorwurf des »Psychologismus« (aaO., S. 232). Schon der Gebrauch dieser spezifisch neuzeitlichen Begrifflichkeiten erscheint gegenüber den Intentionen Luthers unangemessen und muß in der Sache letztlich zu falschen Ergebnissen fuhren. 1 4 4 So j e d o c h PAUL HACKER: aaO., S. 2 3 0 . Keineswegs hat Luther aber die Einsetzungsworte irgendeiner »Doktrin« reflexiven Glaubens dienstbar gemacht (vgl. aaO., S. 216f. 226. 2 2 9 u.ö.) und die commemoratio Christi in »bizarrer Willkür« psychologistisch miß142

Entfaltung und Vertiefung

85

auf sein Objekt bezogen, dem im Wort zur Sprache gebrachten Heilsgut. Wieder zeichnet sich der Grundriß von R o m 1 , 1 7 ab (»iustitia Dei in eo [sc. evangelio] revelatur«), der nun auch im Sakrament die Rechtfertigung als hermeneutisches Geschehen 1 4 5 bekannt macht und wodurch beides einander zugeordnet bzw. gegenseitiger Interpretation unterstellt wird. Das Sakrament wird vom Rechtfertigungsevangelium her ausgelegt, und die Botschaft von Gottes heilschaffender Gerechtigkeit wird sakramental nahegebracht und verstehbar gemacht.

3. Iustificatio solafide als Trost im Leiden und Sterben Elementare Entfaltung der spätmittelalterlichen Glaubenspraxis geschah in der zu dieser Zeit weit verbreiteten Konsolationsliteratur, die meist eine Fülle von Anweisungen zur verdienstlichen imitatio Christi im Leiden bzw. zur ars moriendi in Todesnot auflistete 146 . Gerade vor dem Hintergrund permanenter Sterbeangst, drohender Fegfeuerstrafen und der Erwartung Christi als schrecklichen Weltenrichters erreichte die meritorische Werkgerechtigkeit immer neue Steigerungen. Was wird sein, wenn Gott die Seele fordert? W i e soll man da bestehen? Wo wird der Mensch dann bleiben? Von diesen und ähnlichen Fragen wurden die meisten Leute umgetrieben, und voller Verzweiflung satisfaktorischer Defizitärerfahrung, unerfüllbarer Bußleistungen, grassierender Todesfurcht und traumatisch aufgestauter Höllenangst wurden die kirchlich dargebotenen Abhilfemöglichkeiten in zuweilen exzessiven Ausmaßen ergriffen 1 4 7 . Luthers Neubau der Frömmigkeit mußte folglich deutet (vgl. aaO., S. 230). Im Glauben an das Wort existiert der Mensch vielmehr außerhalb seiner selbst in Christus, der Wort und Sakrament zugleich ist. Der äußere Vollzug des Sakraments vermag solchen Glauben zu wecken und zu stärken, weil er »testimonium testamenti« ist. Vgl. hierzu StA 1, 306, 2 4 - 3 0 ; 3 0 7 , 3 - 7 . 1 0 - 1 5 = WA 6, 372, 2 2 - 2 8 ; 373, 1 5. 9 - 1 5 . 1 4 3 Vgl. HORST KASTEN: Taufe und Rechtfertigung, S. 242; sowie die Literaturhinweise ebd., Anm. 7. 1 4 6 In der >Magnificat-Auslegung< von 1521 (vgl. StA 1, [312] 3 1 4 - 3 6 4 = WA 7, [538] 544—604) prangert Luther einige solcher Praktiken an, u.a. das Anziehen von Mönchskutten vor dem Tod (vgl. StA 1, 333, 1 6 - 3 1 = W A 7, 565, 1 5 - 3 1 ) . Gerade dieses Beispiel wird auch von einigen Flugschriftenautoren als drastischer Ausdruck von Heilsunsicherheit und Hoffnung auf Gnadenerwerb durch äußere Werke in der Todesstunde aufgegriffen. Vgl. hierzu BALTHASAR STANBERGER: Ein Dialogus oder Gespräch zwischen einem Prior, Laienbruder und Bettler, das Wort Gottes belangend, Köhler: Fiche 1 0 0 3 / N r . 2 5 4 6 ( = V D 16/ 19 S 8539), fol. A4v; oder JOHANNES SYLVIUS EGRANUS: Sermon von der Beichte und wie einer seiner Sünden mag gelosen, Köhler: Fiche 1 0 2 5 / N r . 2 5 8 5 , fol. c4v. Zu den Hintergründen, Ausprägungen und Zielvorstellungen der spätmittelalterlichen Sterbefrömmigkeit siehe bes. RAINER RUDOLF: Ars moriendi, S. 56ff; sowie HELMUT APPEL: Anfechtung und Trost im Spätmittelalter und bei Luther, S. 6 3 - 1 0 4 . 147

V g l . z . B . WALTHER VON LOEWENICH: M a r t i n L u t h e r , S. 2 5 - 2 9 . Z u r S i t u a t i o n des

kirchlichen Lebens im vorreformatorischen Deutschland vgl. BERND MOELLER: Frömmigkeit in Deutschland um 1500, A R G 56 (1965), S. 5 - 3 1 ( = ders.: Die Reformation und das

86

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

auf diesem Terrain durchschlagende Wirkung haben. Die Botschaft der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben war hier einer entscheidenden Bewährungsprobe ausgesetzt, und man wird den Quellenwert der Trostund Sterbeschriften Luthers für die volkstümliche Vermittlung seiner Zentrallehre, fernab wissenschaftlich-akribischer Nuancierung, hingegen aber im Bewußtsein breiter Öffentlichkeit 148 , nicht hoch genug veranschlagen können, mußte sich doch erweisen, ob man mit der neuen reformatorischen Konzeption »nicht nur leben, sondern auch sterben konnte« 149 . a) Christi Kreuz und Auferstehung

ins Leben

ziehen

Im >Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens ChristiTessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratisoberen GutTessaradecas< schließlich im Februar 1520 in lateinischer und deutscher Fassung, nachdem Georg Spalatin, der Geheimsekretär und Hofprediger des Kurfürsten, Ende 1519 eine Ubersetzung ins Deutsche angefertigt hatte. c) »Ein Sermon von der Bereitung zum

Sterben«184

Was Luther zum Thema Leiden und Sterben in rechtfertigungstheologischer Hinsicht einzuschärfen gedachte, gewann in dem auf die Bitte des kurfürstlichen Rates Markus Schart hin entstandenen Sermon über die Vorbereitung auf das Sterben vom Spätjahr 1519 streng systematische Klarheit. Die vielbeachtete Schrift (sie erfuhr insgesamt 19 Ausgaben bis Ende 1522, davon 10 in den Monaten November/Dezember 1519) gebraucht formal ganz ähnlich den >Tessaradecas consolatoria< die Gegenüberstellung von Bildern, doch von Anfang an in straffer Konzentration auf die Christusmitte. Die Sakramente gelten Luther dabei als Vorbereitung zum Sterben 185 , denn sie fechten gegen die Bilder Tod, Sünde und Hölle 186 . Christus aber ist ein Bild des Lebens, der Gnade und der Seligkeit und überwindet damit Tod, Sünde und Hölle 187 . U n d weil Christus uns in den Sakramenten begegnet, ist

183 UTE MENNECKE-HAUSTEIN: Luthers Trostbriefe, S. 81. 184

V g l . S t A 1, ( 2 3 0 ) 2 3 2 - 2 4 3 = W A 2 , (680) 6 8 5 - 6 9 7 . V g l . h i e r z u HELMUT APPEL:

Anfechtung und Trost im Spätmittelalter und bei Luther, S. 121-124; LUISE KLEIN: Die Bereitung zum Sterben, S. 27-49; PETER BRUNNER: Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben ausgelegt in einer textnahen Paraphrase mit einigen Erläuterungen, Z W 49 ( 1 9 7 8 ) , S. 2 1 4 - 2 1 8 ; W E R N E R GOEZ: L u t h e r s » E i n S e r m o n v o n d e r B e r e i t u n g z u m S t e r b e n « u n d d i e s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e ars m o r i e n d i , L u J 4 8 ( 1 9 8 1 ) , S. 9 7 - 1 1 4 ; U T E M E N N E C K E HAUSTEIN: a a O . , S. 4 2 - 4 9 ; u n d A R M I N - E R N S T BUCHRUCKER: W e r so s t i r b t , d e r s t i r b t w o h l , L u t h e r 6 4 ( 1 9 9 3 ) , S. 1 2 5 - 1 3 6 .

Zur Diskussion um eine mögliche literarische Vorlage des Sterbesermons vgl. LUISE KLEIN: a a O . , S. 29—39; M A R T I N BRECHT: D e r »Libellus a u r o p r a e s t a n t i o r d e a n i m a e p r a e p a -

ratione in extremo laborantis, deque praedestinatione et tentatione fidei«, S. 333-340; und MARKUS WRIEDT: Ist der »Libellus auro praestantior de animae praeparatione in extremo laborantis, deque praedestinatione et tentatione fidei« eine Lutherschrift? LuJ 54 (1987), S. 4 8 - 8 3 . 185

Vgl. StA 1, 233, 1-22 = WA 2, 686, 9-30 (Punkte 4 u. 5). Vgl. StA 1, 233, 23-235, 16 = WA 2, 686, 31-688, 22 (Punkte 6-8). 187 Vgl. StA 1, 235, 33-237, 18 = WA 2, 689, 3-690, 32 (Punkte 10-12). »Du must den tod / yn dem leben / die sund / yn der gnadenn / die hell / ym hymell ansehen ...« (StA 1, 235, 28f = WA 2, 688, 35f). 186

92

Die Cestah

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

ihre Gabe ebenfalls Leben, Gnade und Seligkeit 1 8 8 . Die Christusgegenwart bestimmt das Sakrament, das dem Tod das Leben, der Sünde die Gnade und der Hölle die Seligkeit entgegensetzt. D o c h nur der Glaube dient als Wegbereiter im Sterben und empfängt das im Sakrament Zugesagte 1 8 9 . »Der prauch ist nit anders / da(nn) glauben / es sey alßo / wie die sacrament durch gottis wort / zusagen vnd vorpflichten« 190 . Christi Kreuz ist in Auferstehung, Gehorsam und Liebe ein dreifaches Bildnis für den Glauben als Exempel zur Uberwindung der Anfechtung 1 9 1 , wie sie in der sakramentalen Christusgemeinschaft Gott selbst verbürgt: »... vn(d) will die sacrament eyn wartzeichen vn(d) vrku(n)d seyn / Christ(us) lebe(n) soll deynen tod / seyn gehorsa(m) soll deyn sund / seyn liebe / deyn helle auff sich geno(m)men vn(d) vbirwunde(n) haben« 192 . Hier zeichnet sich der rechtfertigende Wechsel ab, der Luthers Anliegen schon in anderen vorangehenden Partien der Schrift Transparenz verliehen hat 1 9 3 , und der zuletzt auch den Abschluß und H ö hepunkt des Sermons um die Auseinandersetzung mit der Sterbeproblematik in folgende Worte faßt: »Nu sich was soll dyr deyn gott mehr thun / das du den todt willig an nemst. nicht furchtest vn(d) vbirwindest / Er weist vn(d) gibt dyr in Christo / des lebe(n)s / d(er) gnade / der selickeit bild / das du für des tods / d(er) sund / d(er) hell bild nit dich entsetzist. Er legt dar tzu deynen tod / deyne sund / deyn hell auff seynen liebsten sun / vn(d) vbirwindt sie dyr / macht sie dyr vnschedlich / Er leßt darzu deyne anfechtung

Vgl. StA 1 , 2 3 9 , 6 - 2 4 1 , 31 = W A 2, 6 9 2 , 2 2 - 6 9 5 , 1 5 (Punkte 1 5 - 1 7 ) . Z u r B e d e u t u n g der Sakramente i m >Sermon von der Bereitung zum Sterben< vgl. WOLFGANG SCHWAB: E n t w i c k l u n g und Gestalt der Sakramententheologie bei Martin Luther, S. 160—162; sowie FRIEDRICH GERKE: Anfechtung und Sakrament in Martin Luthers S e r m o n vom Sterben, T h B l 13 ( 1 9 3 4 ) , Sp. 1 9 3 - 2 0 4 . 1 S 9 Vgl. StA 1, 2 3 3 , 8 - 1 0 . 1 6 - 2 2 ; 2 3 9 , 1 9 - 2 7 ; 2 4 0 , 1 - 1 5 = W A 2, 6 8 6 , 1 6 - 1 8 . 2 4 - 3 0 ; 6 9 2 , 3 5 - 6 9 3 , 5; 6 9 3 , 1 6 - 3 1 ; u.ö. A u c h nach PETER BRUNNER erweist sich der Glaube in diesem S e r m o n als »Grundwort für die Bereitung zum Sterben« (Luthers S e r m o n von der Bereitung zum Sterben ausgelegt in einer textnahen Paraphrase mit einigen Erläuterungen, S. 2 1 7 ) . 19,1 StA 1, 2 4 1 , 2 7 f = W A 2, 6 9 5 , 1 0 - 1 2 . In den Sakramenten »seyn wort gottis die dienen dazu / das sie vnß Christu(m) zeygen vnd zusagen / mit allem seynem gutt / das er selbs ist / Widder de(n) tod / sund / helle ...« (StA 1, 2 4 1 , 2 3 - 2 5 = W A 2, 6 9 5 , 6 - 8 ) . D i e Sakramente w i e d e r u m sind ein gewisses Z e i c h e n des dreifachen Bildes Christi zur Austreibung der Gegenbilder (vgl. StA 1, 2 4 1 , 2 8 - 3 1 = W A 2, 6 9 5 , 1 2 - 1 5 ) . 1 9 1 Vgl. StA 1, 2 3 7 , 1 9 - 2 3 9 , 5 = W A 2, 6 9 0 , 3 3 - 6 9 2 , 21 (Punkte 13 u. 14). Z u Christus als Vorbild im >Sermon vom Sterben« vgl. MARC LIENHARD: Martin Luthers christologisches Zeugnis, S. 8 2 f . 1 9 2 StA 1, 2 3 9 , 1 4 - 1 6 = W A 2, 6 9 2 , 3 0 - 3 2 . Vgl. auch StA 1, 2 3 9 , 2 9 - 3 6 ; 2 4 3 , 2 0 - 2 2 = W A 2, 6 9 3 , 8 - 1 5 ; 6 9 7 , 21 f. 1 9 3 Vgl. z.B. StA 1, 2 3 6 , 1 7 - 1 9 : »d(as) ist gnade vnd barmhertzickeit / das Christ(us) am Creutz deyne sund von dir n y m m e t / tregt sie für dich vnd erwürget sie« ( = W A 2, 6 8 9 , 3 0 f ) . StA 1, 2 3 6 , 29—31: »alßo nympt er auch deyn sund auff sich / vnd yn seyner gerechtickeit / auß lauter gnaden / dir vbir windt / ß o du das glaubist / ß o thun sie dyr n y m m e r schaden« ( = W A 2, 6 9 0 , 4 - 6 ) .

Entfaltung

und Vertiefung

93

des tods / der sund / der helle auch vbir seynen sun gehen / vn(d) dich darinne tzu halten leret / vn(d) sie vnschedlich / darzu treglich macht« 194 . d ) Theologia crucis, vita passiva und christusconformitas Nach dem >Sermon von Ablaß und Gnade< sind die beiden Sermone >Von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi< und >Von der Bereitung zum Sterben< die am häufigsten gedruckten Schriften Luthers in der Frühphase der Reformationszeit. Es lag also in den Fragen der das Leben gestaltenden praktischen Frömmigkeit das Hauptinteresse der Leserschaft, und so erhalten die theologischen Zusammenhänge der Rechtfertigungslehre in der genannten Konsolationsliteratur besondere Bedeutung, denn sie tragen die E r n e u e r u n g der Frömmigkeit und erweisen, warum gelten darf: iustus autem ex fide vivit. Einsetzen müssen wir beim Problem der Anfechtungen, die Luther seit seinen ersten Klosterjahren massiv umgetrieben haben, ihn auf den Weg der Rechtfertigungserkenntnis brachten und ihn — allerdings unter neuer Blickrichtung — auch sein späteres Leben weiterhin begleiteten 1 9 5 . Die »terrores conscientiae« wurden Luthers Schicksal, und indem er darin die Gnade des leidenden Christus erfuhr, erhob sich ihm aus der tentatio die Predigt vom Leben unter dem Kreuz 1 9 6 . So nahm Luther auch immer wieder auf die Anfechtungen Bezug, wenn er die Theologie des Kreuzes entfaltete; sie sind es, die mit Christus gleichgestalten u n d im Christus crucifixus Gottes Heil begegnen lassen 197 . Von d e m Begriff der tentatio aus ergibt sich demnach ein 194

S t A 1, 2 4 3 , 1 4 - 2 0 = W A 2 , 6 9 7 , 1 4 - 2 1 . D e m U r t e i l v o n A R M I N - E R N S T B U C H R U K -

KER, daß diese Schrift »an einigen Stellen den erfolgten entscheidenden reformatorischen D u r c h b r u c h in Luthers T h e o l o g i e klar bezeugt« (Wer so stirbt, der stirbt wohl, S. 127), ist uneingeschränkt beizupflichten. 195 V g l . z . B . M A R T I N BRECHT: M a r t i n L u t h e r , B d . 1, S. 8 2 - 8 8 ; WALTHER VON LOEWENICH: M a r t i n L u t h e r , S. 6 9 - 7 9 ; BERNHARD LOHSE: M a r t i n L u t h e r , S. 3 5 - 3 9 ; HEINRICH

BOEHMER: D e r j u n g e Luther, S. 82—98; sowie die e n t s p r e c h e n d e n Abschnitte in anderen Lutherbiographien. 196 Die Predigt v o m Leben u n t e r d e m Kreuz n e n n t WALTHER VON LOEWENICH n e b e n der A n s c h a u u n g v o m D e u s absconditus u n d d e m Glaubensgedanken als eines der drei G r u n d m o t i v e der Kreuzestheologie, die sich von i h r e m Z e n t r a l b e g r i f f der tentatio herleiten lassen (vgl. Luthers T h e o l o g i a crucis, S. 163f). »Auch genetisch läßt s i c h j a die Kreuzestheologie Luthers aus seinen Klosteranfechtungen erklären« (aaO., S. 163, A n m . 193). 197 Ü b e r Begriff, G e f a h r e n u n d Sinn der A n f e c h t u n g vgl. W A 2, 123, 2 9 - 1 2 5 , 26 ^ A u s legung deutsch des Vaterunsers«); »Warumb lest dan got den m e n s c h e n so anfechten tzu sunden? A n t w o r t : Das der m e n s c h sich u n d got e r k e n n e n lerne, Sich e r k e n n e n , das er nichts vormag, dan sundigen u n d ubel t h u n , G o t e r k e n n e n , das gottis gnaden stercker sey, dan alle creaturen, u n d also lerne sich vorachten u n d gottis gnaden l o b e n n u n d breysen« (WA 2 , 1 2 5 , 18-22). Vgl. fernerhin StA 1, 255, 5 - 1 8 = W A 2, 720, 3 1 - 7 2 1 , 6 (>Sermon v o m Sakrament der BußeSermon von d e m Sakrament des Leichnams Christi.); StA 1, 296, 8 - 2 9 = W A 6, 361, 2 2 - 3 6 2 , 12 (>Sermon von d e m N e u e n Testament«); S t A 2, 2 1 , 2 6 - 2 2 , 2 1 ; 3 6 , 1 2 - 3 7 , 16; 4 9 , 1 3 - 5 0 , 2 = W A 6, 2 0 8 , 6 - 3 3 ; 2 2 3 , 1 3 -

224, 13; 236, 5—237, 2 (>Sermon von den guten Werken«), »Ist d o c h auch das die ferlichst

94

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

tiefgreifender Wandel in der am Bild vom Weltenrichter orientierten Christologie des Spätmittelalters, der in Luthers Theologia crucis vorliegt. Mit der Kreuzestheologie ist dann zugleich ein »Prinzip der gesamten Theologie Luthers«198 apostrophiert, von dem isoliert die Rechtfertigungslehre nicht verständlich wäre 1 9 9 . Das Kreuz wird »Schlüssel einer ganzen Theologie« 2 0 0 , denn hier läßt sich Gott finden - im Leiden und Sterben seines Sohnes. Für Luther geschieht letztlich im Kreuz unsere Gerechtigkeit, sofern freilich im Glauben die iustitia Christi aliena seu passiva zugeeignet wird. Im Glauben aber wirkt Christus selbst im Menschen, und so heißt Leben aus Glauben, Christus gleichförmig werden, indem er uns gestaltet. Christusconformitas ist »Ausdruck für die iustitia passiva«201, die Gott schenkt. Damit wird der spätmittelalterliche, aktiv verstandene imitatio-Gedanke durchstoßen, der als bislang verdienstliches Werk nicht länger rechtfertigende Funktion beanspruchen darf 2 0 2 . W i e im Kreuz Christi die iustitia passiva gegeben wird, so gestaltet die Christuskonformität das Leben aus Glauben als vita passiva. Denn die »vita passiva >imitiert< das Leiden Christi nicht, sie >ratifiziert< es« 203 . Dies kommt sozusagen einer >imitatio passiva< gleich, wonach sich der G e rechtfertigte von Christus gestalten läßt und nicht mehr aktiv für sein Seelenheil um Nachahmung Christi bemüht sein muß. Ein dem Vorbild Nacheifernmüssen wird so obsolet, denn das Vorbild prägt sich selber ein. So erhält die alte Begrifflichkeit eine neue Relationalität und damit zugleich einen neuen, rechtfertigungstheologisch begründeten Sinn. Das Leiden Christi und das Leiden der Christen stehen nun im Verhältnis von Urbild und Gleichförmigkeit zueinander; und indem Gottes exemplarisches Handeln an Christus dem Widerfahrnis des gnädigen Handelns Gottes am Menschen entspricht, ergibt sich daraus der Trost der Rechtfertigung in aller Anfechtung 2 0 4 . Nicht der Gläubige eignet sich das Vorbild Christi an, sondern C h r i stus selbst zieht in seinen Heilsweg von Tod und Auferstehung hinein und anfechtu(n)g / wen kein anfechtu(n)g da ist« (StA 2, 36, 3 1 f — WA 6, 223, 33); ähnlich StA 2, 49, 25 = WA 6, 236, 17f. 1 9 8 WALTHER VON LOEWENICH: Luthers Theologia crucis, S. 14. 1 9 9 Vgl. VITTORIO SUBILIA: D i e Rechtfertigung aus Glauben, S. 145. Zur Theologia crucis als Theologie der Anfechtung und des Glaubens, die Luthers Rechtfertigungsverständnis durchgestaltet, vgl. v.a. PAUL ALTHAUS: Die Theologie Martin Luthers, S. 4 0 - 4 2 . 2IH) MARC LIENHARD: Martin Luthers christologisches Zeugnis, S. 76; vgl. auch aaO., S.

109.

RAGNAR BRING: Das Verhältnis von Glauben und Werken, S. 50. Vgl. JÖRG BAUR: Salus Christiana, S. 57. »Wir können Christus nicht durch Imitatio wirklich gleich werden; vielmehr die gottmenschliche Wirklichkeit, die sich vollzog, C h r i sti Wirklichkeit (Tod und Auferstehung) als sacramentum, macht uns ihm ähnlich dadurch, daß die Sünde getilgt wird« (JOSEPH LORTZ: Sakramentales Denken beim jungen Luther, S. 27 [ = ders.: Erneuerung und Einheit, S. 664]). 201

202

203

CHRISTIAN LINK: V i t a passiva, S. 3 1 6 .

Vgl. OTTO HOF: Luther über Trübsal und Anfechtung, S. 1 6 1 - 1 6 3 . Gegen OSWALD BAYER, der anhand des Abendmahlssermons von 1519 Exemplums- und Imitationsgedanken gleichsetzt und beides der Theologia crucis zuordnet (vgl. Promissio, S. 235). 204

95

Entfaltung und Vertiefung

macht den Menschen zu dem, was er coram deo sein soll. Nachahmung Christi im spätmittelalterlichen Verständnis wäre demgegenüber das mystische Werk der vita activa, die Gottes Gabe der iustitia passiva verkennt, so daß Christi Leben nie das unsrige wird. Nur wer auf jegliches Werk — und sei es noch so gut und fromm gemeint — verzichtet, der vertraut allein auf Gott 2 0 5 , und es wird dann selbst der Glaube von religiösen Deformierungen befreit. Gleichförmig mit Christus werden geschieht allein als Gottes Gabe und Geschenk. Dann und nur dann ist auch die imitatio erst recht verstanden: als ein >Werk< des Glaubens! Christusconformitas heißt so nichts anderes als die Tatsache des Kreuzes auch im eigenen Leben zu erfahren 206 , das als vita passiva Darstellung und Konsequenz der Theologia crucis ist 207 .

4. Sozialethische und ekklesiologische

Konkretionen

Zu Beginn des Jahres 1519 hatte die ethische und ekklesiologische D i mension der Rechtfertigung aus Glauben noch keine eigenständige, nähere Explikation erfahren, die über das Maß der für die reformatorischen Anfänge ausschlaggebenden Ablaßkritik hinausgegangen wäre. Die Ansätze zu einer grundlegenden Neubestimmung der guten Werke, nun ihrer Heilsbedeutung enthoben, sowie zu einer fundamentalen Umstrukturierung des kirchlichen Lebens, jetzt seines wider die Schrift streitenden kanonischen Legismus überführt, zeichneten sich allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits klar ab. Als der päpstliche Kammeij unker Karl von Miltitz im Januar 1519 ein nur kurz währendes Stillhalteabkommen zwischen der Kurie und Luther zustande gebracht hatte 2 0 8 , das aber bald schon von päpstlicher Seite unterlaufen wurde, verfaßte Luther einen >Unterricht auf etliche Artikel, die ihm von seinen Abgönnern aufgelegt und zugemessen werden< 209 . In kurzen Stellungnahmen äußerte sich Luther in Sachen Heiligenverehrung, Fegfeuerlehre, Ablaßwesen, Kirchengebote, gute Werke und Kirchengehorsam. Die Diktion späterer ethischer und ekklesiologischer Darlegungen ist darin keimhaft angelegt, auch wenn Luther seine Schrift wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung als eine »Apologia ... vernacula« 210 bezeichnete, weil er darin die Jurisdiktionsgewalt der römischen Kirche noch sehr wohlwollend beurteilt hatte. D o c h geht ihm freilich Gottesgebot über Kirchen- und Menschenge 2 0 5 In den »Operationes in Psalmos< spricht Luther von der »spes purissima in purissimum deum« (WA 5 , 1 6 6 , 1 8 = AWA 2 , 3 0 3 , 1 2 f ) und brachte damit die vita passiva anschaulich zum Ausdruck. 2 0 6 Vgl. WALTHER VON LOEWENICH: Luthers Theologia crucis, S. 143. 207

V g l . CHRISTIAN LINK: V i t a passiva, S. 3 3 0 .

208

Zu den ersten Aktionen des Karl von Miltitz vgl. u.a. MARTIN BRECHT: Martin

L u t h e r , B d . 1, S. 2 5 5 - 2 6 3 ; s o w i e WALTHER VON LOEWENICH: M a r t i n L u t h e r , S. 1 3 4 - 1 3 6 . 209 210

Vgl. BoA 1, (148) 1 4 9 - 1 5 3 = WA 2, (66) 6 9 - 7 3 . WA B r 1, 356, 5 (Nr. 159; Brief an Georg Spalatin vom 5. März 1519).

96

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

bot, die jenes durch ihr Gleißen vernebeln 211 . Gute Werke, die nicht »auß gnade(n) fließen«, sind — was das Heil bei Gott betrifft — umsonst, denn wie die Früchte nicht den Baum ausmachen, sondern die Beschaffenheit des Baumes die entsprechenden Früchte hervorbringt, so wird durch Werke niemand gerecht; der aus Gottes Gnaden Gerechtfertigte hingegen tut eo ipso gute Werke 212 . Einige Massenpublikationen der Jahre 1519/20 profilieren dann die rechtfertigungstheologischen Implikationen dieser T h e m e n b e reiche. a) Auf dem Weg zu einer evangelischen Ethik Punktuell griff Luther schon recht bald manche praktischen Fragen christlicher Lebensführung auf und trug seine zentral an der Rechtfertigungserkenntnis und dem neuen Bibelverständnis ausgerichtete Sicht vor. Aus Glauben leben — das mußte sich im Alltag vollziehen und bewähren. Entgegen der sakralen Umfriedung religiöser Leistungsfrömmigkeit qualifizierte der Rechtfertigungsglaube das ganze Leben als Gottesdienst, dem es im ethischen Verhalten zu entsprechen galt. Von Gabe und Handlungskompetenz der Ehe im Kontext ihrer Aufgabenfelder predigte Luther im >Sermon von dem ehelichen Standhöchste Ablaß< erworben 2 1 7 . 211 Vgl. BoA 1,150, 31-151, 27; bes. 150, 33f; 151,16-18. 19-27 = WA 2, 7 1 , 1 - 2 9 ; bes. 2f. 19f. 2 1 - 2 9 . 212 Vgl. BoA 1, 151, 29-152, 2 = WA 2, 71, 3 1 - 7 2 , 2. »Gott will / das wir an vns soln vorzweyfeln(n) / vnd an allen v n ß e r m leben vn(d) wercken / auff das wir erkennen / das wir mit allen vnßern besten wercken / vor seynen äugen nit mugen bestehn / sundernn alleyn auff seyne grundloß gnade vn(d) barmhertzickeyt vns vortrosten / vn(d) alßo y n furchten wandeln(n) / vnd vnßers guten lebens zuuorsicht fallen laßen« (BoA 1, 152, 6 - 1 0 = WA 2, 72, 5-10). 213 Vgl. S. 73f unter II. § 3, 2. D o r t auch weitere Angaben zur Schrift. 214 WA 2, 167, 23. 213 »Alle andere liebe suchen etwas anders, dan den sie liebet, dyße alleyn will den gliebten eygen selb gantz haben« (WA 2, 167, 33f). 21,1 WA 2, 170, 5f. 217 Vgl. WA 2, 169, 38-170, 1; 171, 4 - 1 0 .

Entfaltung

und Vertiefung

97

Streng vom Rechtfertigungsevangelium her beurteilte Luther auch die eskalierende Gewinnsucht beim Leihverfahren und die grassierende Korruption bei Finanzgeschäften. Der sog. Große >Sermon von dem WucherSermon von d e m WucherSermon von den guten Werken< (Mitte 1520) leistete Luther solche Klärungsarbeit und trat zugleich dem Vorwurf entgegen, sein Insistieren auf den Glauben allein käme einem Verbot der guten Werke gleich 234 . Keineswegs beabsichtigte Luther eine generelle Infragestellung des Ethischen, doch ging es ihm entscheidend um die Motivation des Handelns. Ist der Erwerb eigener Gerechtigkeit die Triebfeder der Werke, oder treten sie frei und nicht mit der Spekulation auf Verdienst um Gottes und des Nächsten willen aus der Glaubensgerechtigkeit hervor? Nur der Glaube macht die Werke gut, schärft Luther ein, und »einn Christe(n) mensch / der in diser zuuorsicht gegen got lebt / weisz alle ding / vormag alle dingk / vormisset sich aller ding / was zu thun ist / vn(d) thuts alles frolich vnd frey / nit vmb vil guter vordinst vnnd werck zusamlen / szondern das yhm eine lust ist / got alszo wolgefallen / vnd leuterlich vmb sunst got dienet / daran benuget / das es got gefellet« 235 . Wer

2 3 0 »So aber yhemand auß dißem allen sich beschweret, zu leyhen seynem nehsten, ists eyn zeychen seyns grossen unglaubens, das er voracht die trostlich zu sagung Christi, do er sagt, Wen wir leyhen unnd geben, ßo seyn wir kinder des aller höchsten und unßer lohn groß und solcher trostliche vorheyssung ist nit wirdig, der sie nit glaubt, noch darnach sich mit den wercken richtet« (WA 6, 50, 3 3 - 5 1 , 2). Der Hinweis auf Lk 6, 35 erscheint außerdem noch an zwei weiteren Stellen, vgl. W A 6, 47, 2 9 u. 48, l l f . 2 3 1 Vgl. W A 6, 51, 3 - 6 0 , 13 ( = zweiter Teil des Sermons). 2 3 2 WA 6, 59, 3 3 - 3 5 . 2 3 3 Vgl. hierzu überblicksweise MARTIN BRECHT: Martin Luther, Bd. 1, S. 3 4 9 - 3 5 1 ;

PAUL ALTHAUS: D i e E t h i k M a r t i n L u t h e r s , S. 1 1 - 3 1 ; s o w i e WILFRIED JOEST: M a r t i n L u t h e r ,

S. 138f. Zur ausfuhrlichen Erörterung der Gesamtproblematik vgl. z.B. RAGNAR BRING: Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie, München 1955; ALBRECHT PETERS: Glaube und Werk, B e r l i n / H a m b u r g

2

1967; HORST

BEINTKER/ERICH

MOSER: Glaube und Leben, Groß Oesingen 1986; HORST BEINTKER: Glauben lernen in der vollen Diesseitigkeit des Lebens, S. 14—29; ROLF SCHÄFER: Glaube und Werk nach Luther, Luther 58 (1987), S. 7 5 - 8 5 ; und DIETMAR LAGE: Martin Luther's Christology and ethics, S. 1 0 6 - 1 1 7 . 2 3 4 Vgl. StA 2, 18, 7 - 1 1 ; 26, 3 2 - 3 9 = WA 6, 205, 9 - 1 3 ; 213, 8 - 1 4 . Luther vertritt keine »Antiethik«, sondern profiliert den »Gegensatz zwischen einer Ethik nach eigenen Zielen und einer Ethik nach Gottes Zielen« (VITTORIO SUBILIA: Die Rechtfertigung aus Glauben, S. 168). 2 3 5 StA 2, 21, 9 - 1 4 = WA 6, 2 0 7 , 2 6 - 3 0 .

Entfaltung und Vertiefung

99

aber auf die eigene Leistung vertraut, der baut auf Sand und Wasser 236 , j a treibt »warhafftig abgotterey«, weil er sich anderwärts als bei Gott Gutes erhofft 2 3 7 und damit Gottes Gottheit mißachtet, die eben allein der Glaube ehrt. Solcher Glaube allerdings, der das menschliche Handeln dem Urteil von R o m 14, 23b (»omne autem quod non ex fide peccatum est«) entreißt und zur tätigen Liebe befreit, kommt »nit ausz deinen wercke(n) noch vordinst. sondern allein ausz Jesu Christo / vmbsunst vorsproche(n) vnd gebe(n)« 2 3 8 . Von der >fides Christo formatafides caritate formata< 239 . Diese >fides Christo formatainkarnierte Glaube< 245 , d.h. ein mit Leben und seinen Handlungsvollzügen gefüllter Glaube. Lebt der Gerechte aus Glauben, so handelt er auch aus Glauben. B e i der Auslegung der Einzelgebote des Dekalogs wird Luther bisweilen sehr konkret. Insbesondere die verhältnismäßig kurze Behandlung der secunda tabula gibt viele sozialethische Impulse. Der Reformator versteht es, v.a. die Verbotsformulierungen auf ihren positiven Glaubensbezug hingewandt zu entfalten. Gottes gnädiges Rechtfertigungshandeln spiegelt sich dabei im Umgang mit dem Nächsten wider. Wird in den Geboten 1—4 die Vernunft angesprochen, so thematisieren die Gebote 5—10 die Begierde 2 4 6 . Das Elterngebot behandelt die Pflichten der Erziehung (vgl. den >Sermon von dem ehelichen StandSermon von d e m Bann< 248 ist zuerst zu nennen. Wie in dem ca. eineinhalb Jahre vorher veröffentlichten >Sermo de virtute excommunicationis< (vgl. II. § 2, 4) beginnt Luther mit grundlegenden Bestimmungen zur Verdeutlichung des Banngeschehens. N e u ist j e d o c h die Definition vom Altarsakrament her, das Gemeinschaft stiftet, während der Bann von ihr ausschließt. D e r in zeitlicher Nähe stehende Abendmahlssermon von 1519, auf den auch mehrmals verwiesen wird 2 4 9 , wirkt mit seinem c o m m u n i o - G e d a n ken sichtlich nach, denn Grenze und Vermögen der ex-communicatio werden von der dimorphen communio-Struktur ausgehend aufgewiesen. Entsprechend Zeichen u n d Bedeutung des Altarsakraments sind zweierlei Arten der christlichen Gemeinschaft zu unterscheiden. »Die erst gemeynschafft ist ynnerlich / geystlich / vnsichtlich ym hertzen / das ist / ß o yhmand durch rechten glauben / hoffnung / vn(d) lieb / eyngeleybt ist / yn die gemeynschafft Christi vn(d) aller heyligen / wilchs bedeutt vnd geben wirt / yn de(m) sacrament / vnd die ist das werck vnd craift des sacramentis« 23 ". Gott selbst gießt durch seinen heiligen Geist diese Gemeinschaft in das Herz des Menschen, der solchem Handeln Gottes im Sakrament glaubt. Hierher reicht kein kirchlicher Bannstrahl. Von »der gemeynschaft gnaden / lebe(n) vnd selickeyt« sondert allein der Unglaube (!) oder die Sünde des Menschen, der sich damit selbst bannt 2 5 1 . Die zweite Form der G e m e i n schaft ist »eußerlich / leyplich vnnd sichtlich« 252 u n d besteht in der Zulassung zum gemeinsamen Sakramentsempfang. N u r darauf bezieht sich der Bann, denn indem er von der äußeren Gemeinschaft absondert, stellt er lediglich ein Zeichen der selbst herbeigeführten Loslösung von der inneren G e m e i n schaft dar 253 . Ein Verdammungsurteil kann selbstverständlich nicht damit verbunden sein, denn es ist durchaus möglich, daß ein äußerlich Gebannter weiterhin des Leibes Christi teilhaftig bleibt, während vielleicht ein nach außen hin Ungebannter von der Gemeinschaft Christi entfremdet lebt 254 . Der Bann dient seelsorgerlich zur Besserung und soll helfen, in die innere 248

Vgl. B o A 1, (213) 2 1 3 - 2 2 6 = W A 6, (61) 6 3 - 7 5 . Vgl. B o A 1, 213, 35f; 214, l l f . 20; 226, 16 = W A 6, 63, 4 - 6 ; 64, 2f. 10; 75, 38. 250 B o A 1, 214, 1 2 - 1 6 = W A 6, 64, 3 - 6 . 251 Vgl. B o A 1, 214, 1 8 - 2 3 = W A 6, 64, 8 - 1 3 . 252 B o A 1, 214, 32f = W A 6, 64, 22f. 253 Vgl. B o A 1, 214, 3 5 - 3 7 = W A 6, 64, 2 4 - 2 6 . »Das ist woll war / w o der ban recht / vnd vordienet / billich gefeilet wirt / da ist er eyn zeychen / v o r m a n u n g vn(d) straff / daran / der vorbantte / e r k e n n e n soll / das er selb seyn seel durch missethatt vnd sund d e m teuffell vbirgeben hab / sich beraubt der gemeynschafft aller heyligen mit C h r i s t o / dan solche(n) vntreglichen schaden der sund / will die m u t t e r der heyligen kirchen [!] y h r e m lieben sun anzeygen / durch die straff des b a n n ß / vn(d) y h n damit w i d d e r v o m teuffell zu gott bringen« (BoA 1, 216, 1 7 - 2 3 = W A 6, 66, 12-18). 254 Vgl. B o A 1, 215, 3 4 - 3 9 = W A 6, 65, 2 6 - 3 1 . 249

102

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

Gemeinschaft zurückzufinden. Kirchlicher Mißbrauch der Exkommunikation zum Schrecknis des Menschen und zur klerikalen Gewaltausübung hat aber aus der Arznei ein Gift werden lassen; doch schadet der unrechte Bann dem am meisten, der ihn verhängt 255 . Allein wer Wahrheit und Gerechtigkeit — wesentliche Konstitutiva der inneren Gemeinschaft — fahren läßt, d.h. Gott einen Lügner schilt, indem er die iustitia Christi nicht als Heil für sich anerkennt, der fällt in Gottes ewigen Bann 2 5 6 . Bei Entzug der äußeren Sakramentscommunio, dem Kirchenbann also, sei er zu R e c h t oder zu Unrecht auferlegt, darf deshalb kein Ausschluß von Evangelium und Predigt geschehen 2 5 7 , denn hier ist der Ort gottgewirkter Glaubensgerechtigkeit sowie geistlicher Teilhabe am Leib Christi. Noch deutlicher hob Luther Evangelium und Glaube als Kennzeichen der wahren Kirche in der gegen den Franziskanermönch Augustin von Alveldt gerichteten Streit- und Lehrschrift >Von dem Papsttum zu R o m wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig< 258 hervor. Alveldt hatte in seinen vorangegangenen Angriffen auf Luther v.a. versucht, den Primat des Papstes auf göttliches R e c h t zurückzuführen und den Papst als Haupt der Christenheit auszuweisen, dem darum auch alle Jurisdiktionsgewalt obliegen müsse 2 5 9 . Als der romtreue Kontrahent aus Leipzig seine zweite Schrift über die sedes apostolica in deutscher Sprache drucken ließ, sah sich Luther wegen des so erreichten breiten Offentlichkeitscharakters nolens volens zu der eben erwähnten Widerlegung herausgefordert und verpflichtet, obwohl er ursprünglich der sehr dürftigen theologischen Argumentation Alveldts keine sonderliche Beachtung einräumen wollte 2 6 0 . Die Ende Juni 1520 veröffentlichte Entgegnung brachte dann allerdings eine tiefgreifende Klärung der Papstfrage und zugleich auch eine erste große Stellungnahme des Reformators zum Wesen der Kirche überhaupt mit sich. Luther entlarvte das Papsttum als in den Stand göttlicher Ordnung gesetzte menschliche Ordnung, die wahre göttliche Ordnung unterdrücke und einer antichristlichen Uberformung Vorschub leiste 261 . Abgesehen davon, daß für Luther eine göttliche

2 5 5 Vgl. B o A 1, 218, 2 0 - 2 5 ; 219, 3 7 - 2 2 0 , 7; 220, 3 5 - 4 1 = WA 6, 68, 1 2 - 1 7 ; 69, 2 5 - 3 5 ; 70, 2 3 - 2 8 ; u.ö. 2 5 6 Vgl. B o A 1, 224, 1 9 - 2 5 = WA 6, 74, 6 - 1 1 . 2 5 7 Vgl. B o A 1, 226, 3 - 1 6 = WA 6, 75, 2 6 - 3 8 (Punkt 21). 2 5 8 Vgl. B o A 1, (323) 3 2 4 - 3 6 1 = WA 6, (277) 2 8 5 - 3 2 4 . 2 5 9 U b e r den Inhalt und die genauen Zusammenhänge von Alveldts Argumentation informieren sehr ausfuhrlich HERIBERT SMOLINSKY: Augustin von Alveldt und Hieronymus

E m s e r , S. 5 0 - 8 7 ; u n d K O N R A D H A M M A N N : E c c l e s i a spiritualis, S.

17-53.

Vgl. B o A 1, 325, 1 3 - 2 2 ; 361, 1 - 7 = WA 6, 2 8 6 , 2 0 - 2 9 ; 323, 2 4 - 3 0 . Zur Auseinandersetzung mit Alveldt vgl. WA 6, 2 7 7 - 2 8 4 ; und MARTIN BRECHT: Martin Luther, Bd. 1, S. 3 2 7 - 3 3 1 . 2 6 1 Vgl. z.B. B o A 1, 326, 2 3 - 3 5 = WA 6, 287, 3 1 - 2 8 8 , 6. Eingehend behandelt wurde Luthers Entgegnung auf Alveldt neuerdings von CARL AXEL AURELIUS: Verborgene Kirche, S. 3 2 - 4 2 ; und KONRAD HAMMANN: Ecclesia spiritualis, S. 5 3 - 1 0 9 . 260

Entfaltung

und

Vertiefung

103

Ordnung nicht mit Vernunftgründen zu erweisen ist 262 , zeigt er Alveldts irrige Meinung auf, daß jede intakte Gemeinschaft auf Erden ein Oberhaupt unter Christus haben müsse, das der Christenheit mit dem Papst gegeben sei 263 . Die falschen Analogieschlüsse zwischen dem Statut weltlicher Vereinigungen und den Konstitutionsmerkmalen christlicher Gemeinde veranlaßten Luther daraufhin zu einer schriftgemäßen Bedeutungsanalyse der B e griffe >Christenheit< und >Haupt der Christenheit^ So steht letztlich hinter der Kontroverse um die Ekklesiologie die fundamentale Streitfrage nach der rechten Schriftauslegung 264 . Zunächst ist unter Christenheit »eyn vorsamlunge aller Christgleubigen auff erden« 265 zu verstehen, deren Wesen, Leben und Natur »nit leyplich vorsamlung / sondern ein vorsamlu(n)g der hertze(n) / in eine(m) glauben« 266 sei (vgl. Eph 4, 5; J o h 18, 36; Lk 17, 2 0 f ) . Sie ist folglich dort zu finden, »da inwendig der glaub ist« 267 : ubi fides, ibi ecclesia. Geistliche und leibliche Gestalt der Christenheit sind jedoch nicht identisch. Denn trotz Aufrechterhaltung äußerer Gemeinschaft schließt der Unglaube von der inneren Gemeinschaft aus 268 . Wer hingegen die SufFizienz äußerer Gemeinschaft für den Christenstand propagiert, meint ohne Glauben auszukommen und schafft letztlich Gottes Gnade ab. So ist das Hauptstück der Gemeindezugehörigkeit der Glaube, denn »nit recht glaubenn das macht ketzer« 269 . Insofern aber der Glaube aus der Predigt kommt (fides ex auditu) und die Kirche eine creatura verbi genannt werden kann, konstituiert der Glaube die Kirche. Der Seele nach, ja »nach dem glauben« wird der Mensch zur G e meinde gerechnet, nicht nach dem Leib 2 7 0 . Die leibliche Kirche hat Vorbildfunktion für die geistliche Kirche. Eine spiritualistische Vereinseitigung und Absolutsetzung der Vorstellung von der ecclesia invisibilis im Gegensatz zur ecclesia visibilis darf man Luther freilich nicht unterstellen, wiewohl hier durchaus Rezeptionsmißverständnisse auftreten könnten. Luther hat die 2 6 2 »Dan was weltlich Ordnung vnd vornunfft weyset / ist gar weyt vnter dem gotliche(n) gesetz . . . darumb mit vornunfft sich vnderstehen / gottis Ordnung zu gründen oder schützen / sie sey dan mit glauben vorhyn gegründet vnnd erleuchtet / ß o ists als wen ich die helle S o n n e mit eyner finstern latern wolt erleuchten / vnd einen fels auff ein rohr g r ü n den« ( B o A 1, 3 2 9 , 1 9 - 2 7 = W A 6, 2 9 1 , 3 - 1 1 ) . 2 6 3 Vgl. B o A 1, 3 2 9 , 7 - 1 0 = W A 6, 2 9 0 , 2 0 - 2 3 . Hierzu auch B o A 1, 3 3 0 , 2 3 f f = W A 6, 2 9 2 , 9ff. 2 6 4 Vgl. dazu HANS-JÜRGEN PRIEN: Grundgedanken der Ekklesiologie beim j u n g e n Luther, S. 1 1 6 - 1 1 8 . 2 6 5 B o A 1, 3 3 1 , 1 2 f = W A 6, 2 9 2 , 37f. 2 6 6 B o A 1, 3 3 1 , 1 7 f = W A 6, 2 9 3 , 3f. 2 6 7 B o A 1, 3 3 1 , 3 8 f = W A 6, 2 9 3 , 2 4 . 2 6 8 »Vil sein vnter den Christen / in der leyplichen vorsamlung vnnd eynickeit / die doch mit Sunden sich / auß der ynnerliche(n) geystlichen eynickeyt schliessen« ( B o A 1 , 3 3 2 , 1 7 - 1 9 = W A 6, 2 9 4 , 1 - 3 ) . Vgl. auch B o A 1 , 2 1 4 , 2 1 - 2 3 = W A 6, 6 4 , 1 1 - 1 3 (>Sermon von dem BannWarum des Papsts und seiner Jünger Bücher verbrannt sindgegen die Unterdrückung der Wahrheit< 30 Artikel über das Papsttum und seine Lehre aus dem kanonischen R e c h t zusammen, die als Urteilshilfe für den Leser in der reformatorischen Angelegenheit dienen sollten. Die angemaßte große Machtfülle des Papstes, u.a. auch in Hinsicht auf die okkupierte Schlüsselgewalt (vgl. Art. X I I , X I I I , X V I und X I X ) verhindere die Ausübung des allgemeinen Priestertums, das dem Rechtfertigungsglauben entspringt. Die uneingeschränkte Jurisdiktionsgewalt des Papstes erkannte Luther so als Grundübel 2 7 9 und als den schärfsten Widerspruch zu seinem neuen Gemeindeverständnis.

2 7 6 Vgl. B o A 1, 347, 2 3 - 3 5 9 , 9 = WA 6, 309, 1 6 - 3 2 1 , 30. »Luthers Kampf gegen das Papsttum ist nichts anderes als ein Kampf gegen Verdunklung und Mißbrauch dieses Wortes [sc. M t 16, 19] für seinen rechten Gebrauch« (OSWALD BAYER: Die reformatorische Wende in Luthers Theologie, S. 128 [ = Lohse II, S. 111]). Vgl. auch ERNST BIZER: Luther und der Papst, München 1958. Luthers Exegese von M t 16, 1 8 f und J o h 21, 15ff ist auf die Erkenntnis der Glaubensgerechtigkeit gegründet und entwickelt auf diesem Fundament ein neues Kirchenverständnis. Dazu auch KONRAD HAMMANN: aaO., S. 1 0 2 - 1 0 9 . 2 1 1 Vgl. B o A 1, 347, 3 0 - 3 7 ; 349, 3 2 - 3 6 ; 350, 3 2 - 3 7 ; 3 5 1 , 2 9 f = WA 6, 309, 2 3 - 3 0 ; 311, 3 4 - 3 8 ; 3 1 2 , 3 1 - 3 5 ; 313, 33; u.ö. Vgl. auch StA 1, 253, 1 3 - 2 5 4 , 2 = WA 2, 719, 1 6 - 3 3 (»Sermon vom Sakrament der BußeAn den christlichen AdelDe captivitate BabylonicaVon der Beicht, ob die der Papst Macht habe zu gebietenAn den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes BesserungSermon von den guten Werken< a m Schluß der A u s f ü h r u n g e n 3 0 nicht v e r w u n d e r n .

2. »De captivitate

Babylonica

ecclesiae

praeludium«

»Wolan / ich weysz n o c h ein lidlen von R o m v n n d y h n e n / iucket sie das ohr / ich wils yhn auch singe(n) / vnd die notten auffs höchst stymmen .. .«31 — mit diesen W o r t e n kündigte Luther in der eben erörterten Adelsschrift das zweite der sog. reformatorischen H a u p t w e r k e an: >Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, ein Vorspiele D e r N e u b e w e r t u n g des corpus C h r i s t i a n u m durch das allgemeine Priestertum folgte hier n u n ein radikaler Angriff auf die Sakramentenlehre der spätmittelalterlichen Kirche als ihrer klerikalen Herrschaftsbastion, die den rechtfertigenden Glauben unterdrückt u n d gefangen hielt. D a m i t war der N e r v des kirchlichen Selbstverständnisses b e r ü h r t , u n d die kontroverstheologische Situation erreichte einen K u l m i n a tionspunkt 3 2 . Das reformatorische Sakramentsverständnis wird in eindrucksvoller Geschlossenheit stringent systematisch-theologisch entwickelt 3 3 , w o b e i v.a. die Sakramentssermone von 1519 (vgl. II. § 3, 2a) weitere Explikation erfahren u n d besonders in der Abendmahlsauffassung ein Neuansatz sichtbar wird, der im >Sermon von d e m N e u e n Testament, das ist von der heiligen Messe< (vgl. II. § 3, 2c) bereits deutlich präfiguriert ist. Ich kann m i c h daher bei der inhaltlichen Darstellung relativ kurz fassen. Vorwiegend a n h a n d der beiden Sakramente A b e n d m a h l u n d Taufe soll das sakramentale G e w i c h t der R e c h t f e r t i g u n g aus Glauben nochmals gebündelt w e r d e n u n d u n t e r Aufweis der eschatologischen D i m e n s i o n eine weitere Vertiefung erfahren. Dabei dürfte auch zutage treten, weshalb m a n Luthers Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche als seine »revolutionärste« bezeichnet hat: »Mit der Captivitas Babylonica bricht eine Welt zusammen; sie ist Luthers Abschied von der mittelalterlichen Frömmigkeit« 3 4 . a) Sakramentale

Demonstration

der Rechtfertigung:

Unser Heil bei Gott

Bereits nach d e m Erscheinen der drei Sakramentssermone von 1519 l e h n te es Luther ab, sich ebenfalls zu den n o c h verbleibenden Sakramenten zu 30 31 32

Vgl. StA 2, 166, 2 0 - 2 4 = WA 6, 468, 2 8 - 3 2 . StA 2, 166, 3 1 - 3 3 = WA 6, 469, 1 - 3 . V g l . OSWALD BAYER: D i e r e f o r m a t o r i s c h e W e n d e i n L u t h e r s T h e o l o g i e , S. 1 6 6 f ( =

Lohse II, S. 99f). 33 Nach M ü 3 2, 401 (Erläuterungen) ist die lateinisch verfaßte Schrift >Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche< »eigentlich die einzige systematisch-theologische Schrift Luthers im strengen Sinne«. 34

WALTHER VON LOEWENICH: M a r t i n L u t h e r , S. 1 6 8 .

Assertio

iustificationis

111

äußern, da er neben Buße, Taufe und Abendmahl kein weiteres Sakrament anerkannte 3 5 . Mit dieser Position setzte Luther dann in >De captivitate Babylonica< neu ein u n d beklagte zugleich den Mißbrauch der wahren Sakramente, wovon sich auch der Titel der Schrift ableiten läßt: » P R I N C I P I O , neganda mihi sunt, Septem sacramenta, (et) tantum tria, pro tempore p o n e n da, Baptismus, Poenitentia, Panis, (et) haec omnia, esse per R o m a n a m curiam, nobis in miserabilem captiuitatem ducta, Ecclesiamq(ue), sua tota übertäte spoliata(m)« 36 . Drei Gefängnisse machen so das eigentliche Wesen des Altarsakraments unzugänglich: Erstens wurde durch die Vorenthaltung des Laienkelchs die Substanz bzw. Ganzheit (»substantiam, seu integritatem«) des Sakraments von der >römischen Tyrannei genommen 3 7 . Die in diesem Zusammenhang von der Papstseite angeführte Brotrede aus Joh 6 liefert j e d o c h Luther zufolge keinerlei exegetische Begründungen für den Gebrauch des Altarsakraments in einer Gestalt. Vielmehr werde die Einsetzung Christi ganz aufgehoben und I Kor 11 mißachtet, wo Paulus beiderlei Empfang der Abendmahlsgaben als ursprünglich ausweise 38 . Ein allgemeines Konzil könnte hier Abhilfe schaffen u n d die Freiheit wieder aufrichten, die von Christus gegeben wurde 3 9 . Zweitens setze die 1215 dogmatisierte Transsubstantiationslehre das freie Gewissen gefangen und verdunkle die Einsetzungsworte 4 0 . Das Problem der Substanzen werde auf die Akzidenzien verschoben, und so stünden für Brot und Wein als Leib u n d Blut Christi n u n m e h r die Akzidenzien von Brot und Wein. Die Scholastik führe sich dabei selbst ad absurdum, denn man m ü ß t e nun eine transaccidentatio vertreten, weil der Leib Christi ebensowenig von 35

Vgl. WA Br 1, 595, 21—24: »Non enim ullum mihi reliquum est sacramentum, quod sacramentum non sit, nisi ubi expressa detur promissio divina, que fidem exerceat, cum sine verbo promittentis (et) fide suscipientis nihil possit nobis esse cum D e o negotii« (Nr. 231, Luther aus Wittenberg an Spalatin am 18. Dezember 1519). 36 StA 2, 178, 17-20 = WA 6, 501, 3 3 - 3 6 . Während Luther innerhalb der Abhandlung noch von der Buße als Sakrament ausgeht (vgl. StA 2, 2 2 7 , 2 0 - 2 3 4 , 1 2 = WA 6, 543, 4 - 5 4 9 , 19), bezieht er sie am Schluß der Schrift ganz auf die Taufe und gesteht ihr aufgrund des fehlenden sichtbaren, von Gott gestifteten Zeichens keinen eigenständigen Sakramentscharakter mehr zu (vgl. StA 2, 258, 2 0 - 2 8 = WA 6, 572, 15-22). 37 Vgl. StA 2, 184, lOf = WA 6, 507, 6f. 3H Vgl. StA 2, 178, 28-183, 14 = WA 6, 502, 7 - 5 0 6 , 13. Auch das Zeugnis der Tradition steht gegen R o m , so daß Luther ein klares Fazit zieht: »Concludo itaq(ue), Negare utranq(ue) speciem laicis, esse impium (et) tyrannicum, nec in manu ullius angeli, n e d u m Papae et Concilii cuiuscunq(ue). nec moror Concilium Constantiense ...« (StA 2, 184, 3 - 5 = WA 6, 506, 3 3 - 5 0 7 , 1). 39 Vgl. StA 2, 185, 11-14 = WA 6, 507, 2 7 - 3 1 . 40 »Absurda est ergo (et) noua u e r b o r u m impositio, panem pro specie uel accidentibus panis, uinum pro specie uel accidentibus uini accipi« (StA 2 , 1 8 8 , 7 f = WA 6, 5 0 9 , 2 2 f ) . D e n Rückgriff des Aquinaten auf die aristotelische Philosophie bei der Ausformung der Transsubstantiationslehre kommentiert Luther lapidar mit der lakonischen Bemerkung »infoelicissima fundamenta infoelicissima structura« (StA 2, 187, l f = WA 6, 508, 25f). Vgl. hierzu v.a. LEIF GRANE: Luthers Kritik an Thomas von Aquin in D e captivitate Babylonica, Z K G 80 (1969), S. 1-13.

112

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

der Substanz des Brotes wie auch vom Akzidens des Brotes ausgesagt werden könne. Es müsse beim Wortsinn der Einsetzung bleiben: Kraft der Worte (»uirtute uerborum«) ist der Leib Christi im Brot anwesend 41 . »Maior est spiritussanctus quam Aristoteles« 42 — wie in Christus göttliche und menschliche Natur gegenwärtig sind, so ist Christus in den Elementen realpräsent. Indem beide Naturen vollkommen bleiben, wird wahrhaftig gesagt: »Hic homo est deus, hic deus est homo« 4 3 . Diese dem rechtfertigenden Wechsel zugrundeliegende Form der Idiomenkommunikation wird also auf das Abendmahl übertragen und prägt so die communio der Glaubenden mit Christus neu. Drittens werde das Altarsakrament als gutes Werk und Opfer (»opus bonum < e t > sacrificium«) mißbraucht 4 4 . Die fides sacramenti sei dadurch völlig ausgelöscht worden. Drohend fährt Luther deshalb fort: »Sed Christus meus uiuit, (et) maiori cura uerbum dei oportet obseruare, quam omnium hominum (et) angeloru(m) intelligentias« 45 . Aus diesem Grunde sind alle Zeremonien abzuschaffen, die über die erste und schlichte Stiftung hinausgehen, und die Einsetzungsworte müssen ein »fundamentum immobile« 4 6 bleiben. W i e im >Sermon von dem Neuen Testament verlegt sich Luther nun ausschließlich auf das Begriffspaar promissio und fides als Interpretationsrahmen des Abendmahlsgeschehens. Die Einsetzung Christi ist ihm ein testamentum, zu dessen Erbe der Glaube einsetzt 47 . In der Messe und ihrem rechten Gebrauch verdichtet sich darum die Botschaft von der Rechtfertigung sola gratia und sola fide: »Vbi enim est uerbum promittentis dei, ibi necessaria est fides acceptantis hominis, ut darum sit, initium salutis nostrae esse fidem, quae pendeat in uerbo promittentis dei, qui citra omne nostrum Studium, gratuita (et) immerita misericordia nos praeuenit, (et) ofFert promissionis suae uerbum« 48 . Nicht die Werke, sondern das Wort Gottes steht an erster Stelle. D e m Wort folgt der Glaube, dem Glauben die Liebe. Die Liebe 41 Vgl. StA 2, 190, 1 5 - 1 8 ; 191, 4 - 6 = WA 6, 510, 3 1 - 3 4 ; 511, 1 - 3 . »Cur autem non possit Christus, corpus suum, intra substantiam panis continere, sicut in accidentibus? E c c e ignis (et) ferrum duae substantiae, sie miscentur in ferro ignito, ut quaelibet pars sit ferrum (et) ignis. Cur non multo magis, corpus gloriosum Christi, sie in omni parte substantiae panis esse possit?« (StA 2, 189, 9 - 1 2 = WA 6, 510, 4 - 8 ) . Das Bild vom Eisen und Feuer gebraucht Luther dann auch vom rechtfertigenden Wechsel zwischen dem Wort Gottes und der gläubigen Seele, vgl. StA 2, 273, 2 3 f = WA 7, 24, 3 3 - 3 5 (>Von der Freiheit eines Christenmenschengratuita et aliena gratia Christi< 53 . W o aber der Glaube untergeht, da rücken die Werke ein u n d n e h m e n die Verheißungen Gottes gefangen. N u r im Glauben geschieht der Gnadenakt, der den M e n s c h e n zur Freiheit befreit. Deshalb ist die fides nie menschliches Werk, sondern stets Gottes Tat, der dann allerdings in sachlicher Konsequenz die F u n k t i o n eignet, »magistra (et) uita operum« 5 4 zu sein. D e r Glaube e m p fängt die G n a d e u n d die W o r t e der Verheißung, die im Evangelium b e g e g nen, dessen »summa (et) co(m)pendiu(m)« die Messe ist 53 , so daß der Glaube allein rechtfertigt u n d des Gewissens Friede sein kann 5 6 .

b) Eschatologische Antizipation gegenwart

der Rechtfertigung:

Gerecht in der

Christus-

N i r g e n d w o sonst k o m m t die das Leben u m s p a n n e n d e Letztgültigkeit der R e c h t f e r t i g u n g besser z u m Ausdruck als im Sakrament der Taufe. Sie ist das Geschehen der Gleichzeitigkeit von Sterben u n d Auferstehen, von >schon jetzt< u n d >noch nichtTessaradecasNicht das Sakrament, sondern der Glaube rechtfertigte. M . a . W . : An Gottes r e c h t fertigendem Handeln im Sakrament hat der M e n s c h nur im Glauben Anteil, den G o t t schenkt. Vgl. hierzu auch WÖLFGANG SCHWAB: E n t w i c k l u n g und Gestalt der Sakramententheologie bei Martin Luther, S. 3 2 2 . 6 6 StA 2, 2 1 7 , 2 0 f = W A 6, 5 3 4 , 3f. 6 7 StA 2, 2 1 8 , 2 4 - 2 6 = W A 6, 5 3 5 , lOf. Luther fährt fort: »Baptismus totum corpus absorbuit, (et) rursus edidit, ita res baptismi, totam uitam tuam c u m c o r p o r e (et) anima absorbere debet, (et) r e d d e r e i n nouissimo die ...« (StA 2 , 2 1 8 , 2 6 - 2 8 = W A 6, 5 3 5 , 1 1 - 1 3 ) . 68

V g l . O T T O H E R M A N N PESCH: T h e o l o g i e d e r R e c h t f e r t i g u n g , S. 3 5 9 .

Vgl. StA 2, 2 2 0 , 18f: »... pro h o c duntaxat clamo libertate (et) conscientia [!], clam o q u e fidenter« ( = W A 6, 5 3 7 , 12). Z u m T h e m a der christlichen Freiheit als Strukturmerkmal der R e c h t f e r t i g u n g im Taufgeschehen vgl. WILHELM MAURER: Von der Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 4 7 . 7 0 Vgl. StA 2, 2 5 3 , l f = W A 6, 5 6 7 , 2 9 f . 69

116

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

3. »Von der Freiheit eines Christenmenschen/De

Luthers

libertate

christiana«

Als Pendant zu >De captivitate Babylonica< darf die kurze Zeit später sowohl in deutscher als auch in einer z.T. ausfuhrlicheren und theologisch tiefer reflektierenden lateinischen Fassung erschienene Freiheitsschrift gelten 71 . Sie ist zu Luthers populärster Schrift geworden, und dies wohl zu Recht. Mit bewundernswerter Eloquenz hat hier der Reformator die zentralen Inhalte der Rechtfertigungslehre in verdichteter Konzentration, aber dennoch allgemeinverständlich und in volkstümlicher Form vorgetragen. Diese Schrift enthält den Fundus der Rechtfertigungstheologie Luthers und ist ihrer Bedeutung nach gar nicht hoch genug einzuschätzen. Luther wußte um die außerordentliche Gewichtigkeit des Traktats. Im Sendbrief an Leo X . , dem er die Schrift widmete, urteilt er treffend über sein Werk: »Es ist eyn kleyn bu(e)chle / ßo das papyr wirt angesehen / aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen / ßo der synn vorstandenn wirt« 72 . Diese »summa« hat Luther komprimiert in einer paradox erscheinenden Doppelthese formuliert, die den Eingang der Schrift markiert und im Verlauf der Argumentation ihre schrittweise Explikation erfahrt: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr / u(o)ber alle ding / vnd niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman vnterthan« 73 . Beide Sätze basieren auf dem paulinischen Freiheitsverständnis nach I Kor 9, 19, das den R a h m e n für Luthers elementarisierende Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens vorgibt. Die Dialektik der Aussagen über die Freiheit und die Dienstbarkeit des Christen steht dabei in engem Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen innerem und äußerem M e n schen, der zugleich die Aufgabe rechtfertigungstheologischer Hermeneutik im Sinne von relationalen Deutungskategorien zukommt 7 4 . Die Existenz des 71 Die Entstehungschronologie beider Fassungen ist nicht eindeutig feststellbar. W ä h rend WILHELM MAURER die deutsche Fassung als die ursprüngliche ansah (vgl. Von der Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 65FF), trat BIRGIT STOLT den Gegenbeweis an und maß der lateinischen Fassung Priorität zu (vgl. Studien zu Luthers Freiheitstraktat, S. 114; Z u sammenfassung der Argumentation Maurers und ihrer Entgegnungen aaO., S. lOf u. 9 0 ) . Für die Position Maurers hat erneut MARTIN BRECHT Partei ergriffen (vgl. Martin Luther, B d . 1, S. 3 8 7 ) ; im umgekehrten Falle votierte HANS ULRICH DELIUS für die T h e s e von Stolt (vgl. seine Einleitung zur Freiheitsschrift in StA 2, 2 6 0 f ; unkorrekt ist die R e d e von W i l helm Maurer als »einzigem« [!] Vertreter zuerst deutsch erfolgter Abfassung). Ich gehe hier primär von der deutschen Fassung aus, weil sie die höhere Ausgabenzahl bis 1 5 2 2 erreichte und eine weitaus größere W i r k u n g erzielte. 7 2 B o A 2, 10, 7 - 9 = W A 7, 11, 8 - 1 0 . 7 3 StA 2, 2 6 5 , 6 - 9 = W A 7, 2 1 , 1 - 4 . 74

V g l . E B E R H A R D JÜNGEL: Z u r F r e i h e i t e i n e s C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 5 6 f u. 6 9 ;

KARL-

HEINZ ZUR MÜHLEN: N o s extra nos, S. 2 6 8 - 2 7 3 ; DERS.: Innerer und äußerer M e n s c h , GILern 4 ( 1 9 8 9 ) , S. 1 4 3 - 1 5 1 ; WILFRIED JOEST: O n t o l o g i e der Person bei Luther, S. 172; K J E L L O V E N I L S S O N : S i m u l , S. 3 1 7 ; H E I N R I C H B O R N K A M M : Ä u ß e r e r u n d i n n e r e r

Mensch

bei Luther und bei den Spiritualisten, in: ders.: Luther. Gestalt und W i r k u n g e n , S. 187ff. Z u r Kritik an B o r n k a m m vgl. RAGNAR BRING: Das Verhältnis von Glauben und Werken, S. 112.

Assertio

117

iustiftcationis

Christen hat ihr Fundament in der als Heil verstandenen Freiheit, die ihm Christus erworben hat. Diese libertas Christiana entpricht folglich der iustitia Christi und hat ihren Ort ebenso wie die der Bosheit bzw. iniustitia parallelisierten menschlichen Knechtschaft im »ynwendigen geystlichen menschen«. Außere Dinge vermögen den innerlichen Menschen nicht frei und fromm (iustus) zu machen, »denn seyn frumkeyt vn(d) freyheyt / widerumb seyn bo(e)ßheyt vnd gefenckniß / seyn nit leyplich noch eußerlich« 75 . Weil so die Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen auch die Differenz zwischen neuem und altem Sein repräsentiert, ist sie stets zuallererst christologisch bedingt. a) Christologische

Konzentration

der Rechtfertigung:

Der fröhliche

Wechsel76

Das neue Dasein des Menschen als ein Leben aus der Freiheit erwächst aus dem Glauben an das rechtfertigende Wort Gottes. Dieses in den Menschen von außen hineinkommende Wort Gottes wendet ihn selber nach innen und »unterscheidet ihn dadurch als inneren Menschen von sich selbst als äußerm Menschen« 7 7 und bestimmt so den inneren Menschen von außerhalb seiner selbst. Frei ist die Seele also nur dann, wenn sie Gottes Wort hat, welches den Vorgang einer derart sich vollziehenden conversio herbeifuhrt. Inhaltlich bestimmt ist dieses Wort, »das solch grosse gnad gibt« 7 8 , von der Christuspredigt, gleichbedeutend mit der Rechtfertigungsverkündigung, die sich der Glaube als efficax usus verbi dei zueigen macht, indem er seinerseits »das dem Wort Gottes entsprechende menschliche Selbstverhältnis« 79 darstellt: »Das du aber auß dir vnd von dir / das ist auß deynem vorterben(n) ko(m)men mu(e)gist / ßo setzt er dir für / seynen lieben ßon J h e s u m Christu(m) / vnd

75

V g l . S t A 2 , 2 6 7 , 3 - 8 = W A 7, 2 1 , 1 8 - 2 2 . V g l . a u c h E B E R H A R D J Ü N G E L : a a O . , S. 7 1 .

76

Z u r H e r k u n f t u n d Interpretation dieses zentralen M o t i v s i m Freiheitstraktat vgl. v.a.

A L F R E D A D A M : L e h r b u c h d e r D o g m e n g e s c h i c h t e , B d . 2, S. 2 0 9 f ; M A R C LIENHARD: M a r t i n

L u t h e r s c h r i s t o l o g i s c h e s Z e u g n i s , S. 103—108; WALTER ALLGAIER: D e r »fröhliche Wechsel« b e i M a r t i n L u t h e r , S. 1 5 5 - 1 5 8 . 1 8 5 - 1 9 2 ; FRIEDRICH WILHELM K A N T Z E N B A C H : C h r i s t u s g e -

m e i n s c h a f t u n d R e c h t f e r t i g u n g , L u t h e r 3 5 ( 1 9 6 4 ) , S. 3 4 - 4 5 , bes. S. 4 2 - 4 4 ; WILFRIED JOEST: O n t o l o g i e der Person bei Luther, S. 3 7 1 - 3 7 6 ; THEOBALD BEER: D e r f r ö h l i c h e W e c h sel u n d Streit, E i n s i e d e l n 2 1 9 8 0 ; RAYMUND SCHWAGER: D e r w u n d e r b a r e T a u s c h , S. 192— 2 3 1 . A u s d e n zahlreichen kritischen S t e l l u n g n a h m e n b e d e u t e n d e r Fachvertreter b e i d e r K o n f e s s i o n e n zur g n o s t i s c h e n L u t h e r i n t e r p r e t a t i o n v o n T h e o b a l d B e e r h e b e ich hier das V o t u m von ULRICH ASENDORF h e r v o r : D i e G r u n d z ü g e der T h e o l o g i e L u t h e r s i m L i c h t e seines Ansatzes v o m »admirabile c o m m e r c i u m « , in: Peter M a n n s ( H g . ) : M a r t i n L u t h e r R e f o r m a t o r u n d Vater i m G l a u b e n * , S. 262—279. Z u r B e d e u t u n g der W e c h s e l v o r s t e l l u n g allg e m e i n vgl. a u c h II. § 6, 5. 7 7 EBERHARD JÜNGEL: Z u r Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 7 6 . » D e r b l o ß ä u ß e r liche M e n s c h wäre niemals außer sich u n d k ä m e e b e n deshalb a u c h n i e m a l s zu sich selbst. G e r a d e weil er i m m e r s c h o n bei sich selbst wäre, k ö n n t e er gar nicht zu sich selbst k o m m e n . E r w ä r e — kein M e n s c h « (ebd.). 7 8 S t A 2, 2 6 9 , 9 f = W A 7, 2 2 , 2 3 f . 7 9 EBERHARD JÜNGEL: Z u r Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 7 7 .

118

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

leßsit dir durch seyn lebendigs trostlichs wort sagen. D u solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben / vnd frisch ynn yhn vortrawen. So sollen dir vmb desselben glaubens willen / alle deyne sund vorgeben / alle deyn vorterben vberwunden seyn / vnd du gerecht / warhafftig / befridet / frum / vn(d) alle gebott erfüllet seyn / vo(n) allen dingen frey sein« 80 . Mit R o m 1, 17 und R o m 10, 4 als Hauptkoordinaten der Rechtfertigungslehre untermauert Luther schließlich den gesamten Gedankengang 8 1 , der die Glaubensgerechtigkeit vom heilsvermittelnden Wortgeschehen her entfaltet. Der Glaube erfaßt Christus im Wort, weil der Christus pro me bzw. pro nobis stets auch der gepredigte Christus ist 82 . In der Verkündigung der fides Christi wird so die fides Christi selbst geschenkt und die beschriebene Worttheologie als »angewandte Christologie« 8 3 in Geltung gesetzt. Den rechten Glauben an Christus (wörtlich: »yn Christo«) nennt Luther deshalb einen >überschwenglichen Reichtumüberschwenglichen Reichtum< darbietet 85 . Hier nun ist die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zum Wortverständnis des Glaubens erforderlich 86 : Das Gesetz dient zum Aufweis der Sünde und zeigt dem Menschen sein Unvermögen, Gutes zu tun und Gottes Gebote zu erfüllen. Weil der Mensch der Forderung des Gebotes nicht Genüge leisten kann, muß er angesichts drohender Verdammnis zunichte werden. »Dan ßo ku(m)pt das ander wort« 87 , das Evangelium bzw. die göttliche Verheißung und Zusage, wodurch der Mensch zur unabdingbaren Gebotserfullung auf den Weg der Glaubensgerechtigkeit gewiesen wird. »Sihe da / glaub in Christu(m) / yn wilchem ich dir zusag / alle gnad / gerechtickeyt / frid vn(d) freyheyt ... Den das dir vnmuglich ist / mit allen wercken d(er) gebott / der vill vnd doch keyn nutz seyn müssen / das wirt dir leycht vnd kurtz / durch den glauben« 88 . Die Zusagen Gottes erfüllen, was die Gebote erfordern 89 ; d.h. Gott gibt, was er verlangt. Der Glaube ist die Inkraftsetzung StA 2, 269, 1 8 - 2 5 = WA 7, 22, 3 1 - 2 3 , 3. Vgl. StA 2, 269, 2 5 - 2 7 = WA 7, 23, 3 - 6 . 8 2 Vgl. StA 2, 269, 28FF = WA 7, 23, 7FF; ERNST WOLF: Sola Gratia? Peregrinatio, Bd. 1, S. 122; DERS.: Verantwortung in der Freiheit, Peregrinatio, B d . 2, S. 253. 8 3 WILHELM MAURER: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 53. 84 StA 2, 271, 4f = WA 7, 23, 15. 8 5 Vgl. StA 2, 271, 1 4 - 1 6 = WA 7, 23, 2 4 - 2 6 . 8 6 Vgl. hierzu den Abschn. StA 2, 271, 1 7 - 2 7 3 , 10 = WA 7, 23, 2 7 - 2 4 , 21. Überblicksweise zu Gesetz und Evangelium vgl. PAUL ALTHAUS: D i e T h e o l o g i e Martin Luthers, S. 2 1 8 - 2 3 8 . 8 7 StA 2, 271, 36 = WA 7, 24, 9f. 8 8 StA 2, 271, 3 8 - 2 7 3 , 4 = WA 7, 24, 12-15. 8 9 »Alßo geben die zusagung gottis / was die gepott erfoddern / vnd volnbringen / was die gepott heyssen / auff das es allis gottis eygen sey. Gepot vn(d) erfullung / er heysset allein / e r erfüllet auch alleyn« (StA 2, 273, 6 - 8 = WA 7, 24, 17-20). 80 81

Assertio

iustificationis

119

dieser Rechtfertigung des Wortes, denn im Glauben wird die Seele (= innerer Mensch) mit dem Wort vereinigt, »ßo gantz vnd gar / das alle tugent des worts / auch eygen werden der seelen« 90 . W i e das Eisen im Feuer durchglüht wird, so wird die Seele dem Wort gleichgestaltet 91 . Allein im Glauben hat die Seele deshalb immer schon bei sich, was das Wort verheißt. Weil der Glaube Gott recht gibt und ihn mit der Wahrheit ehrt, macht Gott wiederum den Glaubenden wahrhaftig und rechtfertigt ihn in dieser Wahrheit 9 2 . Dies ist alles Wirkung des Wortes, das von Jesus Christus als Person der Verheißung zeugt. Im Hören auf das Wort wird die Seele seines Inhaltes teilhaftig und so die Freiheit aus dem Wort mit der Freiheit aus Christus zur Kongruenz gebracht 93 . Die Vereinigung der Seele mit dem Wort ist darum spezifiziert und konkretisiert in der Vereinigung der Seele mit Christus, von Luther versinnbildlicht durch die Gemeinschaft, wie sie »eyne brawt mit yhrem breudgam« 94 eingeht. Aus einem solchen Eheverhältnis folgt in Ableitung von Eph 5, 30f, daß Christus und die Seele ein Leib werden, was juristisch einer Gütergemeinschaft gleichbedeutend ist, denn »das was Christus hatt / das ist eygen / der glaubigen seele / was die seele hatt / wirt eygen Christi« 95 . Im bekannten Bild vom fröhlichen Wechsel gipfelt nun anschaulich das bisher Dargelegte, die gesamte Freiheitsschrift und darüber hinaus die volkstümliche Vermittlung der Rechtfertigungslehre. Seinen Grund hat der »fro(e)lich wechßel vnd streytt« in der Idiomenkommunikation der ZweiNaturen-Lehre 9 6 , die Luther aus der altkirchlichen Christologie überStA 2, 2 7 3 , 1 4 f = W A 7, 2 4 , 2 4 f . Vgl. StA 2, 2 7 3 , 2 0 - 2 4 = W A 7, 2 4 , 3 1 - 3 5 . Hierzu auch KJELL OVE NILSSON: Simul, S. 3 2 4 ; HEINRICH BORNKAMM: Äußerer und innerer M e n s c h bei Luther und den Spiritualisten, S. 197f; DERS.: Das W o r t Gottes bei Luther, S. 1 6 8 . 9 2 Vgl. StA 2, 2 7 3 , 3 2 - 2 7 5 , 18 = W A 7 , 2 5 , 5 - 2 5 (Punkt 11). Siehe auch II. § 3, l c . 9 3 Vgl. BERNDT HAMM: Martin Luthers E n t d e c k u n g der evangelischen Freiheit, S. 6 5 . EBERHARD JÜNGEL formuliert treffend: »Denn das Evangelium redet v o m Sein Jesu Christi als der Geschichte des sogenannten fröhlichen Wechsels. U n d es gibt, indem es davon redet, dem Glaubenden Anteil an dem, wovon es redet. D e r fröhliche Wechsel, der sich i m Sein Jesu Christi vollzieht, ist aber das eigentliche Ereignis der Wende v o m Alten zum N e u e n und insofern das Ereignis, das den unfreien M e n s c h e n zum freien H e r r n über alle D i n g e macht, der niemandem Untertan ist« (Zur Freiheit eines C h r i s t e n m e n s c h e n , S. 85). 90 91

94

S t A 2 , 2 7 5 , 21 = W A 7 , 2 5 , 2 8 . V g l . WILFRIED JOEST: O n t o l o g i e der P e r s o n bei Luther,

S . 2 2 6 ; OSWALD B A Y E R : P r o m i s s i o , S . 3 0 8 ; u n d SIMO P E U R A : D i e V e r g ö t t l i c h u n g des M e n -

schen als Sein in Gott, S. 5 0 - 5 3 . 9 5 StA 2, 2 7 5 , 2 4 f = W A 7, 2 5 , 3 0 - 3 2 . Konkret: »So hatt Christus alle gu(e)tter vnd Seligkeit / die seyn der seelen eygen. So hatt die seel alle vntugent vnd sund auff yhr / die werden Christi eygen« (StA 2, 2 7 5 , 2 5 f = W A 7, 2 5 , 3 2 - 3 4 ) . 9 6 Vgl. StA 2, 2 7 7 , 1 - 1 7 = W A 7, 2 5 , 3 4 - 2 6 , 12; KJELL OVE NILSSON: Simul, S. 207f; FRIEDRICH

WILHELM

KANTZENBACH: C h r i s t u s g e m e i n s c h a f t

u n d R e c h t f e r t i g u n g , S. 4 2 ;

OSWALD B A Y E R : P r o m i s s i o , S. 3 0 8 . 3 2 8 ; M A R C L I E N H A R D : M a r t i n L u t h e r s c h r i s t o l o g i s c h e s

Zeugnis, S. 105. D a ß Luther die Vereinigung, in der der Christ an der göttlichen Natur partizipiert, gemäß dem chalcedonischen S c h e m a versteht, hat erst kürzlich wieder SIMO PEURA nachgewiesen (vgl. D i e Vergöttlichung des M e n s c h e n als Sein in G o t t , S. 53—59). G e g e n THEOBALD BEER, der wenig überzeugend behauptet: »Im fröhlichen Wechsel wird das ephesinisch-chalkedonische D o g m a verfehlt« (Der fröhliche Wechsel und Streit,

120

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

nommen hat. In Christus, dem vere deus et vere homo, muß die ihm zu eigen gemachte Sünde der gläubigen Seele ob seiner Sündlosigkeit und unüberwindlichen Gerechtigkeit »vorschlunden(n) vn(d) erseufft werden« und wiederum die Seele mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams ausgestattet werden. Dieser wunderbare Tausch von Sünde und Gnade vollzieht sich durch den Glauben, der als >Brautring< bzw. >Mahlschatz< Geschenk des Bräutigams ist. Auf den Glauben ist die »fro(e)liche wirtschafft« zentriert, »da der reyche / edle / frummer breu(e)dgam Christus / das arm vorachte bo(e)ßes hu(e)rlein zur ehe nympt / vnd sie entledigt von allem u(e)bell / zieret mit allen gu(e)tern« 97 , jedoch nicht als Akt oder Habitus, sondern als »in Christus angebrochene neue Wirklichkeit, in der Christus souverän am Glaubenden handelt« 98 . Eingekleidet in das Ehebild hat Luther demnach in grundsätzlicher B e schreibung des fröhlichen Wechsels das Widerfahrnis der Rechtfertigung aus Glauben zur Darstellung gebracht 99 und unverkennbar den christologischen Schwerpunkt dieses Gesamtgeschehens konturiert. b) Soteriologische Manifestation Christus der Ersterstandene

der

Rechtfertigung:

Nachdem Luther vor Augen gefuhrt hatte, daß im Glauben die Gerechtigkeit Christi als diejenige des Menschen in Kraft tritt und der »selbthetter vnd werckmeyster« 10 " zur Erfüllung der Gebote Gottes begegnet, bemühte er sich weiter um begründete biblische Reflexion und vertiefende theologische Interpretation des Rechtfertigungsglaubens. Person und Funktion Jesu Christi im Verbund mit seiner Kennzeichnung als König und Priester stehen S. 4 4 6 ) . Kritisch zu B e e r jüngst RAYMUND SCHWAGER: D e r wunderbare Tausch, S. 1 9 2 196. D i e mannigfachen — zumeist kontroversen — Diskussionsbeiträge um Beers B u c h hat OTTO HERMANN PESCH bibliographisch zusammengestellt (vgl. N e u e r e Beiträge zur Frage nach Luthers » R e f o r m a t o r i s c h e r Wende«, C a t h [ M ] 37 [ 1 9 8 3 ] , S. 2 7 2 , A n m . 2 2 [ = Lohse II, S. 2 5 8 ] ; C a t h [ M ] 3 8 [ 1 9 8 4 ] , S. 1 0 9 , A n m . 1 0 6 [ = Lohse II, S. 3 1 7 ] ) . 9 7 StA 2, 2 7 7 , 1 0 - 1 2 = W A 7, 2 6 , 5 - 7 . 9 8 WALTER ALLGAIER: D e r »fröhliche Wechsel« bei Martin Luther, S. 156. N u r in diesem Sinne spricht Allgaier v o m Glauben als »>Kopula< und ausschließliches Mittel, durch das Christus die Sünde des Glaubenden an sich n i m m t , um ihn mit seiner Gerechtigkeit zu begaben« (aaO., S. 155). D i e Kritik von RAYMUND SCHWAGER an diesem Satz (vgl. D e r wunderbare Tausch, S. 2 2 3 , A n m . 2 0 8 ) erweist sich deshalb nicht als zutreffend. Z u d e m kann Luther v o m Glauben in konditionaler Formulierung reden, o h n e damit von G o t t her den Glauben zur B e d i n g u n g von Gnade und Heil zu machen. »Was vom M e n s c h e n her gesehen wie eine B e d i n g u n g erscheint, ist von G o t t her gesehen Folgewirkung« (BERNDT HAMM: Martin Luthers E n t d e c k u n g der evangelischen Freiheit, S. 5 6 f , A n m . 10). 99

V g l . WALTER ALLGAIER: a a O . , S. 1 8 8 . 1 9 0 u. 1 9 2 ; M A R C LIENHARD: M a r t i n

Luthers

christologisches Zeugnis, S. 108; WILFRIED JOEST: O n t o l o g i e der Person bei Luther, S. 3 7 3 u. 3 7 6 . D i e Brautmystik der unio wird von der R e c h t f e r t i g u n g her durchstoßen (vgl. FRIEDRICH THEOPHIL RUHLAND: L u t h e r u n d die B r a u t m y s t i k , S. 1 4 4 - 1 4 6 ) , u n d der u n g l e i -

che Gütertausch sprengt zugleich das Bild der E h e (vgl. WILFRIED JOEST: aaO., S. 3 7 2 ) . 1 0 0 StA 2, 2 7 9 , 12 = W A 7, 2 6 , 2 6 .

Asscrtio

121

iustificationis

dabei glaubensbestimmend im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen 1 0 1 . M i t der grundlegenden Bezugnahme auf die atl. Sonderstellung des zum Herrschaftsamt und Priesteramt prädestinierten und privilegierten m ä n n lichen Erstgeborenen deutet Luther auf Christus hin, der »die selb erste menlich gepurt ist gottis vatters / von der Junpfrawen Marie« 1 0 2 und deshalb auch König und Priester ist, j e d o c h im Unterschied zum allegorischen Vorbild vereint in einer Person und auf geistliche Weise. Analog dem fröhlichen Wechsel b e k o m m e n folglich ebenso alle Gläubigen Anteil am Erstgeburtsrecht Christi, so daß die Christenheit mit I Petr 2, 9 unter Begriffsvertauschung »ein priesterlich ku(e)nigreych / vnd ein ku(e)niglich priesterthu(m)« 1 0 3 genannt werden kann. Da Königtum und Priestertum an die Erstgeburt gebunden sind, bringen sie »fundamentale Seinsbestimmungen« 1 0 4 zum Ausdruck, die sowohl für Christus selbst als auch in Ableitung von ihm für den Christen gültig sind und zugleich ein entsprechendes Tun in sich tragen. Das K ö n i g t u m besteht nun darin, »das ein Christen mensch durch den glauben ßo hoch erhaben wirt vbir alle ding / das er aller eyn herr wirt geystlich / denn es kan yhm kein ding nit schaden zur Seligkeit« 1 0 3 . Die geistliche Herrschaft duldet daher auch leibliche Unterdrückung und äußert sich in der Freiheit zum Leiden, weil dem Glauben alle Dinge unterworfen sind. Das in Christus erworbene Priestertum wiederum macht würdig, »für gott zu tretten vnd für andere zu bitten« 1 0 6 . Königliches und priesterliches A m t Christi halten so im Christen Weltbezug und Gottesbezug zusammen, denn »durch seyn ku(e)nigreych ist er aller ding mechtig / durch sein priesterthu(m) ist er gottis mechtig« 1 0 7 . Die Mitteilung dieser königlichen und priesterlichen Freiheit geschieht im Glauben, der aus der rechten Christuspredigt erwächst. Deshalb ist die Bedeutung des K o m m e n s Christi darzulegen als Vermittlung der christlichen Freiheit (d.h. der Rechtfertigung) und als Erläuterung, »wie wir ku(e)nig vnd priester seyn / aller ding mechtig« 1 0 8 . 101 Vgl. hierzu den Abschn. StA 2, 2 7 9 , 1 8 - 2 8 3 , 11 = W A 7, 26, 3 2 - 2 8 , 2 5 (Punkte 1 4 16). E i n e exzellente Analyse, ausgehend vom lateinischen Paralleltext, bietet GERHARD EBELING: D i e königlich-priesterliche Freiheit, Lutherstudien, Bd. 3, S. 1 5 7 - 1 8 0 . Vgl. auch

E B E R H A R D JÜNGEL: Z u r F r e i h e i t e i n e s C h r i s t e n m e n s c h e n , S.

91—100.

StA 2, 2 7 9 , 2 6 f = W A 7, 2 7 , 4. 1113 StA 2, 2 8 1 , 4 f = W A 7, 27, 2 0 f . 1114 GERHARD EBELING: D i e königlich-priesterliche Freiheit, Lutherstudien, B d . 3, S. 162. 105 StA 2, 2 8 1 , 5 - 8 = W A 7, 27, 2 1 - 2 3 . 1116 StA 2, 2 8 1 , 2 5 f = W A 7, 28, 7f. 107 StA 2, 2 8 1 , 3 2 - 2 8 3 , 1 = W A 7, 2 8 , 1 4 - 1 6 . Vgl. auch GERHARD EBELING: D i e k ö n i g lich-priesterliche Freiheit, Lutherstudien, B d . 3, S. 165. 1llti StA 2, 2 8 5 , 5 f = W A 7, 29, 18. D i e Predigt verfehlt ihr Ziel der Glaubensweckung und -Stärkung, wenn sie Leben und Werk Christi vom rechtfertigenden pro m e absorbiert und lediglich als »ein histori vnd C r o n i c k e n geschieht« (StA 2, 2 8 3 , 3 1 f = W A 7, 2 9 , 9) versteht. Vgl. auch ERNST WOLF: D i e Christusverkündigung bei Luther, Peregrinatio, B d . 1, S. 3 0 - 8 0 , bes. S. 3 9 . 1112

122

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

G r u n d und Skopus dieser Christuspredigt liegt in der Ü b e r w i n d u n g von Tod und Sünde, wie sie I Kor 15 beschreibt. W i e der fröhliche Wechsel in der ehelichen Verbindung mit Christus auf den genannten Bibeltext zuläuft, so auch die Beschreibung der Teilhabe am Königtum u n d Priestertum C h r i sti 109 . Was in Christus als dem Erstgeborenen zugänglich wird, ist in Christus als d e m Erstling der Auferstehung soteriologisch manifestiert. c) Anthropologische Reflexion

der Rechtfertigung: Einander Christus werden

N u n k o m m t Luther auf den äußeren Menschen zu sprechen u n d bringt die Freiheit eines Christenmenschen mit dem zweiten Teil der Doppelthese in Verbindung, die von der Dienstbarkeit in der tätigen Liebe handelt. W i e wohl der innere Mensch zu seiner Freiheit u n d Gerechtigkeit weder durch das Befolgen von Gesetzen noch das Tun guter Werke kommt, sondern allein durch den Glauben, ist damit nicht etwa einem libertinistischen Antinomismus das Wort geredet, der die Vorfindlichkeit des Christen in der Welt als simul iustus et peccator verkennen würde. Die Werke werden nicht n e giert, sondern sie erhalten vielmehr durch die Rechtfertigung einen neuen Stellenwert und Motivationsgrund. Weil die eschatologische Vollendung des geistlichen, inneren Menschen zwar proleptisch gültig ist, aber erst am J ü n g sten Tag vollzogen wird, ist das Sein des Christen immer auch ein Werdenxw. In dieser Spannung des eschatologischen Existierens ist dann der Christenmensch »ein dienstpar knecht / vn(d) yderma(n) vnterthan / gleych [= d.h.] / wo er frey ist / darff [= braucht] er nichts thun / wo er knecht ist / m u ß er allerley thun« 111 — anders formuliert: er lebt aus Glauben. Ist der Mensch auch inwendig der Seele nach durch den Glauben gerechtfertigt zum ewigen Leben, so bleibt er doch in seinem Erdenleben an seinen Leib gebunden u n d hat mit Menschen Umgang: »Da heben sich nu die werck an ...«' 1 2 , in bezug auf die eigene Person und in bezug auf den N ä c h sten 113 . Weil die Seele durch den Glauben rein ist und Gott liebt, ist sie auch bestrebt, den Leib zu beherrschen und ihn Gott dienstbar zu machen 1 1 4 . Die dazu nötigen Werke tut der Mensch o h n e meritorisches Selbstinteresse »auß freyer lieb vmbsonst / got zu gefallen« 115 . Die Werke eines Christenmenschen

109

Vgl. StA 2, 2 7 7 , 1 2 - 1 7 ; 285, 1 0 - 1 8 = W A 7, 26, 7 - 1 2 ; 29, 2 3 - 3 0 . »Es ist vn(d) bleybt auff erde(n) n u r ein a n h e b e n vn(d) zu n e h m e n / wilchs w i r t in y h e n e r weit volnbracht« (StA 2, 285, 2 9 f = W A 7, 30, 5 f ) . Vgl. h i e r z u v.a. WILFRIED JOBST: Gesetz u n d Freiheit, S. 68. 1.1 StA 2, 285, 3 2 - 3 4 = W A 7, 30, 8 - 1 0 . 1.2 StA 2, 287, 3 = W A 7, 30, 15f. Z u m G e s a m t z u s a m m e n h a n g vgl. StA 2, 285, 35ff = W A 7, 30, 11 ff. 113 Als »eine A r t D o p p e l p r o g r a m m « sieht a u c h HEINZ BLUHM die f o l g e n d e n Textpassag e n : Das Diesseits in L u t h e r s Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 2 2 - 2 5 . 114 Vgl. StA 2, 287, 2 4 - 2 6 = W A 7, 30, 3 6 - 3 1 , 2. 115 StA 2, 287, 2 9 f = W A 7, 31, 6. 110

Assertio

iustificationis

123

sind vergleichbar mit den Werken Adams im Paradies 116 , die ihm Gott zur Gestaltung der Schöpfung anvertraut hatte. Adam, der von Gott sündlos erschaffen wurde und nicht fromm und gerecht zu werden brauchte, tat sie als freie Werke, um allein Gott zu gefallen. »Alßo auch eynis glaubigen menschen werck / wilcher durch seynen glauben ist widderumb ynß paradiß gesetzt / vnd von newen geschaffen / darff [= bedarf] keyner werck frum zu werden / sondern das er nit mu(e)ssig gahe vnd seynen leyb erbeyt vnd beware / seyn yhm solche freye werck zu thun alleyn gott zu gefallenn befolhen« 1 1 7 . Der status integritatis entspricht so dem status gratiae. Die verwirkten Freiheitsrechte werden dem in Christus zur Freiheit befreiten M e n schen erneut zugesprochen, so daß die Rechtfertigung aus Glauben einem >intrasse in paradisumSermo de triplici iustitiaUnterricht auf etlich A r t i k e l ) ; W A 6, 5 2 , 1 6 2 5 ([Großer] >Sermon von d e m WucherSermon von dem unrechten MammonSermon von der B e r e i t u n g z u m SterbenSermon von d e m Sakram e n t des L e i c h n a m s ChristiTessaradecasVon der B e i c h t , o b die der Papst M a c h t h a b e zu gebietenEin U n t e r r i c h t der Beichtkinder über die verbotenen Bücher< 15 v o m Februar 1521 reagierte Luther auf diese mißliche Situation u n d spezifische Verschärfung der o h n e h i n unter Z w a n g stehenden Beichtpraxis. Abgesehen davon, daß ein Beichtvater zu derartigen inquisitorischen M a ß n a h m e n gar nicht b e f u g t sei, sondern seine eigentliche Aufgabe in der Erteilung von Absolution bestehe, liege es o h n e h i n allein b e i m Beichtenden, welche Anliegen er vorbringen m ö c h t e . Z u r O f f e n b a r u n g seines Gewissens dürfe niem a n d g e z w u n g e n werden 1 6 . Verweigert der Beichtvater aber die Absolution, so werde G o t t sie geben 1 7 . D i e mutigen, starken Gewissen freilich, so Luther weiter, w e r d e n selber wissen, wie sie sich zu verhalten haben. Als allgemeine R i c h t s c h n u r gelte die clausula Petri (vgl. Act 5, 29): G o t t ist m e h r zu g e h o r c h e n als den M e n s c h e n . Schließlich lägen G n a d e u n d Heil nicht in der p r i e sterlichen Gewalt äußerlich vollzogener Absolution, sondern im Glauben 1 8 . G e g e n E n d e seiner A u s f ü h r u n g e n appellierte der R e f o r m a t o r schon ganz auf der Linie von W o r m s : » D r u m b hut dich, u n d lasz yhe kein dingk szo grosz sein auff erden, ob es auch Engel von h y m m e l weren, das dich w i d d e r dein gewissen treybe von der lere die du gotlich erkenst u n d achtist« 19 . Die gesamte Schrift wird damit zu e i n e m Plädoyer für die Gewissensfreiheit, die den Rechtfertigungsglauben in A n w e n d u n g bringt. 13

Vgl. WA Br 2, 316, 7 8 - 8 0 . Bereits in der Erweiterung vom Ende des Freiheitstraktats in der lateinischen Fassung war der Sache nach von der >libertas conscientiae< die Rede, nun aber verdichtete sich die theologische Reflexion zu einem neuen Existenzverständnis mit offenkundigen Folgen. 15 Vgl. WA 7, (284) 2 9 0 - 2 9 8 . 16 Vgl. WA 7, 291, 4 - 2 9 2 , 10 (Punkte 2 - 4 ) . 17 »Wo mensch nit absolviert, da absolviert got« (WA 7, 293, 7). Is Vgl. WA 7, 293, 16-294, 21 (Punkte 7-9). v > WA 7, 295, 11-13. 14

Gewissenstrost

in Zeiten der Krise

129

Zur gleichen, fernerhin brisant gebliebenen Thematik erschien — verzögert durch nachträgliche Erweiterungen - im Spätsommer 1521 unter dem Titel >Von der Beicht, ob die der Papst Macht habe zu gebietenThemata de VotisLoci communes< mit einem gesonderten Abschnitt zur Sache hervorgetreten war. Luther ging bei seiner Stellungnahme konsequent von der Rechtfertigungslehre aus. Deutlich wird dies gleich zu Beginn des ersten Thesenteiles, wo der hierfür wichtige Text R o m 14, 23 zitiert wird: »OMne quod non est ex fide, peccatum est«32. Luther entwickelt daraus das evangelische Verständnis der Verhältnisbestimmung von Glaube und Werk in Abgrenzung zur Werkgerechtigkeit. Rechter Gebrauch der Werke oder Mißbrauch der Werke hängen so von Glaube und Unglaube ab. Will man folglich das Gelübde recht gebrauchen, dann muß es im Glauben und in der Freiheit des Gewissens geschehen; denn das Neue Testament ist ein Reich der Freiheit und des Glaubens 33 . Mißbrauch der Gelübde entsteht, wenn sie nicht der evangelischen Freiheit entspringen und der Glaube nicht den Rahmen für das Handeln vorgibt. Die deutschen Ubersetzungsausgaben beschließen die 139 Thesen der ersten Reihe mit einer kurzen Zusammenfassung 34 , die den rechtfertigungstheologischen Skopus treffend formuliert und unterstreicht. Von dieser Basis ausgehend ist die zweite Thesenreihe zu verstehen. Mit weiteren 141 Lehrsätzen geht Luther nun konkret der Frage nach, ob man überhaupt ein immerwährendes Gelübde geben dürfe. Festzuhalten bleibt grundlegend, daß die evangelische Freiheit göttliches Recht und Geschenk ist35. Die Taufe ist das vornehmste Gelübde und verbindet mit dieser Freiheit 36 , der alle menschlichen Gelübde nicht entgegenstehen dürfen. Wie das Gesetz kein Gesetz mehr ist, wenn es freiwillig gehalten wird, so sind die Gelübde auch nicht mehr Gelübde zu nennen, wenn sie in völliger Freiheit geschehen 37 . Mit oder ohne Gelübde gilt es, aus der Freiheit der Taufe zu

30

Vgl. StA 2, 135, 5 - 1 3 8 , 20 = W A 6, 440, 1 5 - 4 4 3 , 24 (Punkt 14). Vgl. W A 8, (313) 3 2 3 - 3 3 5 . 32 W A 8, 323, 6 (These I). 33 Vgl. W A 8, 326, 23: » N o v u m e n i m t e s t a m e n t u m r e g n u m est libertatis et fidei« (These LXXIII). 34 Vgl. W A 8, 329, A n m . zu Z . 13f. 35 So W A 8, 330, 3: »Euangelica libertas divini est et iuris et doni« (These I). D a h i n t e r steht die rechtfertigungstheologische Auffassung der iustitia Christi, die der Glaube gratis ergreift (= iustitia fidei). 36 Vgl. W A 8, 331, 6f (These X X V I I ) . 37 Vgl. W A 8, 331, 23f (Thesen X L u n d XLI). 31

Gewissenstrost in Zeiten der Krise

131

leben. Entsteht aber neue Knechtschaft, so sind die Gelübde u m des befreiten Gewissens willen zu lösen. b) Sieg der Gewissensfreiheit Während Luther auf der Wartburg weilte, war der Fortgang der R e f o r m a tion in Wittenberg zusehends beschleunigt worden und mit umstrittenen Maßnahmen in eine tumultuarische Auseinandersetzung geraten 38 . Die rigoros durchgeführte Bekämpfung der Heiligenverehrung, die grassierenden antiklerikalen Ausschreitungen und die erzwungene Neugestaltung der Meßfeier in beider Gestalt samt den abrupten liturgischen Änderungen drohten die eben wiederentdeckte Freiheit des Evangeliums zu einem neuen Gesetz werden zu lassen. Ein eskalierender U m b r u c h zeichnete sich ab. In dieser Situation entschloß sich Luther früher als geplant zur Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg, u m einen Aufruhr zu verhindern und ordnend einzugreifen. Vom 9. bis zum 16. März 1522 predigte er täglich und bekam die reformatorische Bewegung in der kleinen Universitätsstadt an der Elbe schnell wieder unter seine Führung. Die sog. >InvokavitpredigtenVon beider Gestalt des Sakraments zu nehmen< 40 in umorganisierter Form allgemein bekannt. Die Vorrede spiegelt Luthers Einschätzung der gespannten Lage wider und mahnt zu geeinter Unterstützung der evangelischen Sache. Den dafür erforderlichen, verantwortungsbewußt gestalteten Handlungsfreiraum eröffnen die beiden Pole des christlichen Lebens Glaube und Liebe, die in ihrer rechtfertigungstheologischen Interdependenz den Grundakkord der gesamten Schrift anschlagen. Der Glaube orientiert sich an Gottes Wort und Gebot, entgegen aller Menschenlehre. Beim Vollzug des Abendmahls ist daher die Einsetzung Christi maßgebend, frei von menschlichen Zusätzen 41 . Denn wie Christus ein Herr über den Sabbat ist (vgl. M k 2 , 2 8 par. Mt 12, 8), so auch der mit ihm verbundene Christ, der dann mit noch viel größerem Recht ebenfalls ein H e r r über alle Menschensatzungen ist 42 . Diese christli38 D a z u MARTIN BRECHT: Luther u n d die W i t t e n b e r g e r R e f o r m a t i o n w ä h r e n d der Wartburgzeit, in G ü n t e r Vogler, Siegfried H o y e r u n d Adolf Laube (Hg.): M a r t i n Luther, S. 7 3 - 9 0 . 39 Vgl. StA 2, (520) 525. 5 3 0 - 5 5 8 = W A 10/111, N r . 1 - 8 , ( X L V I - L X X X V ) 1 - 6 4 . D i e D r u c k l e g u n g 1523 g i n g auf eine N a c h s c h r i f t zurück. Eine textnahe Z u s a m m e n f a s s u n g gibt ADAM WEYER: »Das E u a n g e l i u m wil nit alleyn geschrieben, ß o n d e r n viel m e h r mit leyplicher stym geprediget seyn«, S. 9 3 - 1 0 2 . 4,1 Vgl. B o A 2, (311) 3 1 1 - 3 3 4 = W A 10/11, (1) 1 1 - 4 1 . Dazu MARTIN BRECHT: M a r t i n Luther, Bd. 2, S. 6 6 - 7 2 ; WALTHER VON LOEWENICH: M a r t i n Luther, S. 2 1 1 - 2 1 4 ; HEINRICH BORNKAMM: M a r t i n L u t h e r in der M i t t e seines Lebens, S. 7 2 - 8 0 . 41 Vgl. B o A 2, 314, 2 - 2 7 = W A 10/11, 14, 8 - 1 5 , 5. 42 Vgl. B o A 2, 314, 2 8 - 3 5 = W A 10/11, 15, 6 - 1 3 .

132

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

che Herrschaft, Freiheit und Macht darf jedoch ausschließlich geistlich verstanden werden. »Das heyst aber geystliche freyheit / wen die gewissen frey bleyhe(n)« 43 . Weder ist die Übertretung der Menschenlehre Sünde noch erwirbt man sich mit deren Einhaltung Verdienste vor Gott: »Also / das allein der glaub an Christum meyn gut werck / leben vn(d) verdienst sey / für mein gewissen tzutrosten / vn(d) darnach liebe gegen den nehisten« 44 . Die Liebe untereinander verhindert schließlich den leiblichen Zwang der geistlichen Freiheit (vgl. Gal 5, 13) und damit ihren Mißbrauch. Was nun das Gewissen betrifft, so ist der Christ bezüglich der Abendmahlspraxis frei von Menschengeboten. Da Gottes Wort sowohl das Sakrament heiligt als auch die geistliche Geburt des Christen bewirkt, sind die Verweigerung des Laienkelchs und die Beschränkung auf eine manducatio oralis geradezu absurd. Denn ein Christ nimmt beides, Wort und Sakrament, mit Mund, Ohren, Herzen, j a mit dem ganzen Leben auf, so daß ein Anfassen der Elemente letztlich nicht zu verwehren ist 45 . Das Abendmahl in beider Gestalt ist christlich und evangelisch. Wer diese Freiheit leugnet, lästert C h r i stus und sein Wort 4 6 . D o c h muß jeder selbst seines Glaubens gewiß sein, will er sich in der Todesstunde auf die in Gottes Wort geschenkte Freiheit des Gewissens beziehen können 4 7 . Mit der Einfuhrung neuer Ordnungen ist der evangelischen Sache aber noch nicht zum Sieg verholfen. Sosehr die Austeilung des Altarsakraments sub una specie wider das Evangelium steht, so ist es doch auch von Übel, den schwachen Gewissen den Empfang in beiderlei Gestalt aufzunötigen 48 . Reformen müssen verstanden werden und sind schrittweise non vi sed verbo unter Rücksichtnahme auf die Schwachen durchzufuhren. Allein der Predigt traut Luther eine weitreichende Wirkung der Veränderung zu, doch fehlten dazu geeignete Prediger, und so sei vorerst im alten Mißbrauch weiterzuleben 49 . »Man sol vnd kan niemant tzum glawben dringen / ß o n dern das Euangelion frey selbs holen lassen / wen es holet« 50 . Nach kurzen Stellungnahmen zu verschiedenen Neuerungen 5 1 schärft Luther dann in sei-

43 44 45 46 47

B o A 2, 315, l l f = WA 10/11, 15, 27. B o A 2, 315, 1 9 - 2 1 = WA 10/11, 16, 7 - 9 . Vgl. B o A 2, 318, 1 5 - 2 3 = WA 10/11, 19, 2 7 - 2 0 , 7. Vgl. B o A 2, 320, 1 8 - 2 7 = WA 10/11, 22, 1 6 - 2 4 . Vgl. B o A 2 , 3 2 1 , 1 1 - 1 8 = WA 10/11, 2 3 , 1 5 - 2 2 . Siehe hierzu v.a. auch den Beginn der

Invokavitpredigten, S t A 2 , 5 3 0 , 3 - 9 = W A 10/111, 1, 7 - 2 , 3 . N a c h GÜNTER JACOB handelt

es sich hier um die »ultima tentatio«, die die Person jedes einzelnen trifft (Der Gewissensbegriff in der Theologie Luthers, S. 16). 4 8 Vgl. B o A 2, 323, 1 0 - 1 4 = WA 10/11, 26, 1 0 - 1 4 . 4 9 Vgl. B o A 2, 324, 1 - 6 . 1 3 - 1 8 = WA 10/11, 27, 1 4 - 1 9 . 2 6 - 3 1 . 5 0 BoA 2, 324, 2 6 f = WA 10/11, 28, 7 - 9 . 51 Vgl. B o A 2, 325, 6 - 3 3 1 , 6 = WA 10/11, 28, 2 9 - 3 6 , 27.

Gewissenstrost

in Zeiten der Krise

133

nem Schlußvotum nochmals ein, daß sich die Freiheit des Gewissens an die Liebe bindet und nur mit dem Wort streitet 52 . Die weiteren Massenpublikationen Luthers aus dem Jahre 1522 zeigen sich diesem Konzept in hohem Maße verpflichtet. Wesentlich ist ihnen allen, daß die Gewissen frei bleiben müssen, und so dominieren die Ablehnung schriftwidriger Kirchengesetze und die konsequente Orientierung am Wort Gottes zur praktischen Lebensgestaltung bzw. Etablierung evangelischer Frömmigkeit. Implizit ist dabei die Rechtfertigungslehre stets präsent, doch kommt es nur sporadisch zu ausgeführten Bezugnahmen. Das gilt insonderheit für zwei Publikationen, die in Verbindung mit der Auseinandersetzung mit den altgläubigen Gegnern stehen. Einerseits handelt es sich hierbei um die sehr populär gewordene Schrift >Von Menschenlehre zu meidenAntwort auf Sprüche, so man führet, Menschenlehre zu stärken< erweitert wurde 53 . Sie wendet sich in ihrem Grundbestand mittels zehn Schriftstellen gegen die Uberformung von G o t tes Wort mit menschlichen Geboten und Zusätzen, ähnlich der Argumentation im ersten Abschnitt der Schrift >Von der Beicht, ob die der Papst Macht habe zu gebieten< (vgl. II. § 5, la) und z.T. mit den gleichen biblischen B e legen. Schlaglichtartig werden einige Kerngedanken der Rechtfertigungstheologie beleuchtet 34 . Am Ende des später hinzugefügten Anhangs resümiert Luther: »Wyr aber verdamnen menschen lere nicht darumb, das es menschen lere sind, denn wyr wolten sie ia wol tragen, ßondern darumb, das sie widder das Euangelion und die schrifft sind. Die schrifft macht die gewissen frey und verpeutt, sie mit menschen leren zu fangen« 55 . Andererseits ist die Schrift >Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papsts und der Bischöfe< 56 zu nennen, die ursprünglich als persönliches Druckmittel gegen die Aufnahme neuerlicher Ablaßgeschäfte des Albrecht von Mainz gerichtet war, nach dessen Einlenken aber zurückgehalten wurde und schließlich allgemein gefaßt erschien. Wieder prangert Luther die falschen Menschenlehren an, die mit der Schriftverdrossenheit und der Vernachlässigung des Predigtamtes einhergehen. Weil die Bischöfe lehren, durch Werke fromm und gerecht zu werden, wird Christus und die Rechtfertigung

52 Vgl. B o A 2, 331, 1 8 - 2 5 . 3 2 - 3 4 = WA 10/11, 37, 8 - 1 5 . 2 1 - 2 3 . Kritisch zu diesem reformatorischen Grundzug HEINRICH HOFFMANN: Reformation und Gewissensfreiheit, A R G 37 (1940), S. 1 7 0 - 1 8 8 . 53 Vgl. WA 10/11, (61) 7 2 - 9 2 . 54 Zu Kol 2, 16—23 kann Luther z.B. in gegenseitiger Ausschließlichkeit ganz im Sinne des Exklusivitätsanspruchs der Rechtfertigungsbotschaft formulieren: »Trost sich das gewissen auff Christus, ßo muß der trost auff werck unnd lere fallen, Trost sichs auff werck, ßo muß Christus fallen« (WA 10/11, 83, 7 f ) . 55 WA 10/11, 91, 2 1 - 2 4 . Vgl. auch WA 10/11, 92, 4 - 7 . 56 Vgl. WA 10/11, (93) 1 0 5 - 1 5 8 . Hingewiesen sei hier v.a. auf die Untersuchung von GOTTFRIED KRODEL: Luther und das Bischofsamt nach seinem Buch »Wider den falsch

134

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

geleugnet 5 7 . Dies ist gleichbedeutend mit der Aufrichtung eigener Gebote unter gleichzeitiger Auflösung der göttlichen Gebote, deren Erfüllung im Glauben liegt. So treibt das Papsttum mit seiner falschen Lehre »geistliche Unkeuschheit«, schändet die Seelen und fuhrt sie weg vom Glauben zu den Werken 5 8 . Dagegen steht Gottes Handeln mit dem Menschen in der R e c h t fertigung, das Luther im Bild der Ehe einprägsam beschreibt: »Denn die seele heysst eyn geystliche iunckfraw und brawt gottis allein von dem glawben, darynn sie gottis wortt empfehet unnd von dem heyligen geyst schwanger wirtt. U n n d der heylige same gotlichs wortts macht sie fruchtpar und eyne mu(o)tter der warheyt, das ist warhafftiger gutter werck und rechtschaffens gottlichen lebenß« 5 9 . W i e in einem Brennspiegel sind hier die zentralen Aussagen der Rechtfertigungslehre gleichnishaft gebündelt und ihr komplexer Zusammenhang modellhaft veranschaulicht 60 . Alles kommt auf den Glauben und Gottes Wort an, denen die Praktiken und Verfahrensweisen der Bischöfe, von Luther ironisch als ihre Tugenden apostrophiert, diametral entgegenwirken. Deshalb lobt die diesbezüglich erstellte »Reformationsbulle« alle, die zur Zerstörung der bischöflichen Herrschaft beitragen, denn sie erhalten Gottes Gebot aufrecht und streiten gegen des Teufels Ordnung 6 1 . D o c h nur mit dem Wort, nicht mit brachialer Gewalt soll der Kampf geführt werden. U n d so insistiert Luther abschließend auf evangeliumsgemäßer Predigt als dem einzigen Weg zur Besserung 6 2 . Die Stoßrichtung der >Invokavitpredigten< bzw. ihrer gedruckt vorliegenden Zusammenfassung durchzieht auch die >Epistel oder Unterricht von den Heiligen an die Kirche zu Erfurt< 63 . Am Problem der Heiligenverehrung wird die Gewissensfreiheit in ihrer Verantwortung für die Schwachen paradigmatisch exemplifiziert. Sie vermeidet Aufruhr, agiert allein mit dem Wort und stellt Gott die Sache anheim. Die Anrufung der Heiligen seitens der Schwachen wird dann von selbst aufhören, sofern sie ihre Zuversicht und ihr Vertrauen allein auf Christus setzen 64 . Breites Offentlichkeitsinteresse erlangten 1522 fernerhin Luthers erneute Behandlung des Ehethemas, niedergelegt in der Schrift >Vom ehelichen Legenannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe«, in: Martin Brecht (Hg.): Martin Luther und das Bischofsamt, S. 2 7 - 6 5 . 5 7 Vgl. WA 10/11, 114, 3 0 - 3 5 . 5 8 Vgl. WA 10/11, 120, 3 - 1 2 1 , 4. 5 9 WA 10/11, 121, 4 - 8 . 6 0 Auch wenn diese Schrift insgesamt »für Luthers Theologie wenig ergiebig« sein mag (so GOTTFRIED KRODEL: Luther und das Bischofsamt nach seinem B u c h »Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe«, S. 30), die Rechtfertigungslehre blitzt doch immer wieder auf und steht bei aller Kritik an den Bischöfen im Hintergrund! 61

V g l . W A 1 0 / 1 1 , 1 4 0 , 2 - 6 . V g l . a u c h M A R T I N B R E C H T : L u t h e r als S c h r i f t s t e l l e r , S .

62

Vgl. WA 10/11, 154, 14ff. Vgl. B o A 7, Nr. 2, 7 - 1 1 = W A 10/11, (159) 1 6 4 - 1 6 8 . Vgl. B o A 7, 9, 5 - 9 . 1 8 - 2 2 = WA 10/11, 166, 1 6 - 1 9 . 2 9 - 3 3 .

70. 63 64

68-

Gewissenstrost

135

in Zeiten der Krise

benBetbüchlein[s]Kurze[n] Form der zehn Gebote, des Glaubens und des Vateru n s e r und einigen weiteren kleinen Stücken (vgl. auch II. § 3, la). Nachfolgende Editionen vermehrten dann die Aufnahme volkstümlicher Schriften Luthers aus der frühen reformatorischen Bewegung, so daß das Betbüchlein zu einem Brevier poimenisch reflektierter Rechtfertigungstheologie wurde.

2. Der »Sermon von dem unrechten

Mammon«

Ab Frühjahr 1522 schlug sich verstärkt auch Luthers umfangreiche Predigttätigkeit literarisch nieder. Die spezifisch an die Gemeinde gerichtete Kommunikationsform zeichnete sich v.a. durch klare Diktion, thematische Konzentration und hohe Allgemeinverständlichkeit aus, so daß die druckgelegten Predigten auf große Absatzresonanz stießen und als kleine Flugschriften für eine weite Verbreitung der Gedanken Luthers sorgten. Eine rege Nachschreibetätigkeit setzte ein, worüber der Reformator wegen unkorrekter Wiedergaben und Verzerrungen seiner Aussagen oft auch klagte und sich zu Richtigstellungen bzw. Neufassungen veranlaßt sah. Die rasche Folge der Publikationen just gehaltener Predigten schuf ein neues Genus des Tagesschrifttums, und es ist erstaunlich, welch hohe Ausgabenzahlen einige dieser Veröffentlichungen kurzfristig erreichten. In solcher Hinsicht ragen zwei Predigten hervor, die bis Ende 1522 massenhaften Nachdruck erfahren haben: Einmal die >Predigt am Johannestage< 67 vom 24. Juni, die zu Sinn und Mißbrauch der Heiligentage das Wort ergreift, die alleinige Mittlerschaft Christi im Verhältnis zur Fürbittenpraxis erörtert 68 und unter der erforderlichen Unterscheidung von Leben und Lehre 69 am Beispiel des Täufers zu einem rechten Verständnis der Heiligen anleitet sowie dessen Kerygma auf die rechtfertigungstheologisch gewichtige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zurückführt 70 . Ferner gelangte eine Auslegung zum Schlußlo65 Vgl. WA 10/11, (267) 2 7 5 - 3 0 4 . Hierzu MARTIN BRECHT: Martin Luther, Bd. 2, S. 95f; HEINRICH BORNKAMM: Martin Luther in der Mitte seines Lebens, S. 1 0 4 - 1 0 6 . 66 Vgl. WA 10/11, (331) 3 7 5 - 5 0 1 . Für die Erstgestalt von 1522 siehe die N r n . [ l . ] - [ 5 . ] , WA 10/11, 3 7 5 - 4 2 8 . Kurze Beschreibung auch bei MARTIN BRECHT: aaO., S. 123f. 67 Vgl. W A 10/111, Nr. 34, ( C X X I I - C X X V I I ) 2 0 1 - 2 0 8 . 68 Vgl. W A 10/111, 2 0 2 , 1 2 - 2 0 4 , 15. Vgl. auch JÜRGEN LUTZ: U n i o und Communio, S. 2 3 6 - 2 3 9 . 69 Vgl. WA 10/111,201,7-11. 18f; 205, 4f; 2 0 7 , 2 5 - 2 0 8 , 2. Es kommt mehr auf die Lehre als auf das Leben an, denn Gott ließ auch die Heiligen im Leben oftmals straucheln, aber von der rechten Lehre hat er sie nicht abfallen lassen. 7 0 »Alßo ist yn dem gesetz der todt, yn Christo das leben. Das gesetz sto(e)st ynn die hell und todtet, Christus erhebt yn den hymell, Das gesetz macht eyn blo(e)de gewissen, C h r i -

136

Die Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

gion des Gleichnisses vom ungerechten Haushalter Lk 16,1—9, die den in der Uberschrift dieses Abschnittes genannten Titel trägt, zu besonderer Popularität. Ihr wollen wir uns im folgenden genauer zuwenden. Der >Sermon von dem unrechten Mammon* existiert in zwei stark voneinander divergierenden Fassungen 71 , was v.a. Aufbau und Struktur betrifft. Die unter Rückgriff auf Nachschriften veranstaltete erste Ausgabe hat Luther einer eingehenden Bearbeitung unterzogen und dann selbst herausgegeben. In dieser redigierten Fassung wurde der Sermon schnell bekannt. Luther hat den zugrundeliegenden Bibeltext später noch mehrere Male ausgedeutet und sich wie im vorliegenden Falle insbesondere mit Vers 9 beschäftigt, den er zu den loci de operibus zählte 72 . »Macht euch freundt von dem unrechten Mammon, auff das, wenn yhr nu darbet, sie euch auffnehmen yn die ewigen hutten« 73 , so der zitierte Wortlaut des Herrenworts aus der Lukasperikope, von dem Luther e contrario eine summarische Rechtfertigungspredigt ableitet. a) Allein der Glaube rechtfertigt (»inwendige

Rechtfertigung«)

Obwohl der Reformator schon vielfach ausfuhrlich über die christliche Freiheit und von den guten Werken geschrieben hat, »wie das alleyn der glaub on alle werck rechtfertige, und darnach gutte werck thue« 74 , sieht er sich doch einer breiten Unkenntnis gegenüber, so daß er meint, man müsse entweder alle Evangelien postillieren oder das ganze Land mit reformatorischen Predigern versorgen, die mündlich das Evangelium recht zu deuten verstünden. In diesem Sinne möchte Luther einer dreifach falschen Auslegung der altgläubigen Gegner zu Lk 16, l f f (bes. V. 9), dem Tagesevangelium des 9. Sonntags nach Trinitatis, wehren. Denn wird das Jesuslogion am Ende der Gleichniserzählung »on geyst mit blosser vernunfft« betrachtet, dann wird das ganze Evangelium entstellt. So muß es zum Widerspruch kommen gegen die dreigliedrige Behauptung, daß (1.) entsprechend dem Umgang mit dem Mammon die Werke zu Freunden Gottes machen, wo doch allein der Glaube rechtfertigt; daß (2.) entsprechend der eigenen Aufnahme in die ewigen Hütten die Werke solipsistische Verdienste bewirken, wo doch die guten Werke für den Nächsten frei und umsonst aus dem Glauben hervorgehen; und daß (3.) die Heiligenverehrung entsprechend dem Freundesdienst zum stus ein fro(e)lichs seligs gewissen, Christus gibt den geyst, das gesetz den buchstaben. Das gesetz beschwert die gewissen und gibt die sunde. Christus erleycht und gibt die g e r e c h tickeyt das sind die tzwo predig Johannis« ( W A 10/111, 2 0 7 , 1—6). 71 Vgl. W A 1 O/III, Nr. 4 5 (I/II), ( C X L I I - C X L V I I I ) 2 7 3 - 2 8 2 . 2 8 3 - 2 9 2 . 7 2 Vgl. grundlegend OTTO HOF: Luthers Auslegung von Lukas 16, 9, in: ders.: Aufsätze zur T h e o l o g i e Luthers, S. 57—73. D i e Stellenangaben weiterer Predigten Luthers über diesen Text finden sich im U b e r b l i c k aaO., S. 5 7 , A n m . 1. Siehe auch HANS HEINZ: Opus und Praemium, S. 27—29. 73

WA

1 O/III, 2 8 3 ,

15f.

74

W A

1 O/III, 2 8 3 ,

3f.

Gewissenstrost

in Zeiten

der

Krise

137

Empfang der Seligkeit verhilft, wo uns doch allein Christus das Heil vor Gott erwirbt 75 . Die nähere Entfaltung seiner Entgegnungen gründete Luther anschließend »gleichsam axiomatisch« 76 auf die biblische Rechtfertigungsbotschaft, wobei er exemplarisch einige Kardinalstellen aneinanderreiht ( R o m 3, 28; 4, 3; 5, 1; 10, 10) 7 7 . Die iustificatio sola fide wird dabei als imputatives Geschehen vor Augen gefuhrt, indem eingeschärft wird, sich auf diese Worte und Zusagen Gottes zu verlassen und darauf zu vertrauen, »das dem glauben yhe alleyn, on allen tzusatz der werck, werde tzugeeygent die Vergebung der sund und rechtfertigunge« 78 . Ferner gewinnt auch das Verhältnis von Glauben und Werken anhand des bereits mehrfach gebrauchten Bildes vom früchtetragenden Baum wiederholt prinzipielle Anschaulichkeit. W i e die Früchte einen Baum nicht gut machen, so machen die guten Werke nicht gerecht vor Gott und können nur dann in rechter Weise geschehen, wenn der Mensch gerechtfertigt, d.h. im Glauben tätig wird 79 . Solcher rechtfertigender Glaube kommt aus dem H ö ren auf das »edle wortt gottis, das ym Euangelio gottis gnade ynn Christo predigt und anbeutt« 80 . Ahnlich der Beschreibung einer partizipierenden Vereinigung der Seele mit Gottes Wort im Freiheitstraktat deutet Luther mit Act 15, 9 die Denkfigur des wortgewirkten fröhlichen Wechsels der R e c h t fertigung an. So teilt sich dem inneren Menschen im Glauben als dem B i n deglied der unio das Wesen des Wortes mit, »denn welcher artt das wortt ist, der artt wirtt auch das hertz, das dran glawbt und hanget. Nun ist das wortt lebendig, rechtfertig, warhafftig, reyn und gutt. (et)c.« 81 Der Glaube darf aber keineswegs als ein menschliches Werk angesehen werden, was ansonsten das Evangelium ins Gesetz zurücksinken ließe. Der rechte Glaube ist »eyn lautter gottis werck on alles unßer tzuthun ynn uns« 82 , und unter Vorwegnahme der bekannten Stelle aus der Vorrede zum R ö m e r b r i e f im Septembertestament bezeichnet ihn Luther als »eyn mechtig, thettig, unrugig, schefftig ding, der den menschen gleych verneuwert, anderweitt gepyrtt und gantz ynn eyn

Vgl. W A 1 O/III, 2 8 3 , 1 2 - 2 9 . 76 OTTO HOF: Luthers Auslegung von Lukas 16, 9, S. 58. 7 7 Vgl. W A 10/111, 2 8 3 , 3 1 - 2 8 4 , 5. 7 8 W A 10/111, 2 8 4 , 7f. 7 9 »Alßo ists stracks war, das der mensch on alle gutte werck und für allen gutten wercken muß tzuvor frum seyn, das es klar ist, wie unmuglich es sey, das er durch werck sollt frum werden, wo er nicht zuvor frum ist, ehe er die gutten werck thut« ( W A 10/111, 2 8 4 , 1 5 - 1 9 ) . 8 0 W A 10/111, 2 8 4 , 26f. 8 1 W A 1 O/III, 2 8 4 , 3 1 - 3 3 . Vgl. hierzu aus der Freiheitsschrift die Stelle StA 2, 2 7 3 , 2 0 2 4 = W A 7, 2 4 , 31—35. D e n zitierten Textabschnitt aus der vorliegenden Predigt hat ULRICH ASENDORF in seiner wichtigen U n t e r s u c h u n g zu den Inhalten der Lutherpredigten leider nicht berücksichtigt. Seine Aussagen über den Glauben als Wandel der Existenz i m Sinne des fröhlichen Wechsels beziehen sich auf W A 10/111, 2 8 5 , 2 7 - 3 0 ; 2 8 6 , 1 5 - 2 2 ; 2 8 8 , 4 f (vgl. D i e T h e o l o g i e Martin Luthers nach seinen Predigten, S. 3 6 9 ) . 8 2 W A 1 O/III, 2 8 5 , 2 5 f . »Die Uberschätzung der Werke entspringt der Unterschätzung des Glaubens« (HEINRICH BORNKAMM: Martin Luther in der Mitte seines Lebens, S. 187). 75

138

Die

Gestalt

der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

new weyße unnd weßen füret« 83 , so daß er gar nicht anders kann, als fortwährend Gutes zu tun. Die guten Werke sind damit via fidei Gottes eigene Tat. Einzig in dieser Hinsicht kann eine Vergewisserung des Glaubens durch die Werke stattfinden (vgl. II Petr 1,10), denn vom Glauben zu den Werken kommt man nur dann, wenn man beim Glauben bleibt. Luthers >syllogismus practicusewigen Hütten< auf, sondern Gott ist es, der dies tut und den Lohn seiner Güte verschenkt 9 1 . Nur am Schluß gibt Luther einige kurze textspezifische Hinweise zur Perikope und bestimmt ihren Skopus, so daß thematisch der gesamte Sermon in seiner reformatorischen Antithese zur Auslegungstradition von Lk 16, 9 ein prägnantes Zeugnis der Rechtfertigungspredigt darstellt. c) Rückblick

und Vergleich mit dem »Sermo de duplici

iustitia«

W i r stehen am Ende unserer theologiegeschichtlichen Bestandsaufnahme der massenpublizistisch wirksam gewordenen Rechtfertigungstheologie Luthers von 1518 bis 1522. W i e zu erwarten war, sind fast alle ausgabenstarken Schriften des Reformators in diesem Zeitraum von der Diktion der Glaubensgerechtigkeit durchzogen, wobei sich ein übergreifender Spannungsbogen hinsichtlich der historisch bedingten Einzelphasen abzeichnet. Von den Aufbrüchen angefangen, weitergeführt in mannigfachen Vertiefungen und durchgehalten in den ersten Konsolidierungsbestrebungen bleiben die Grundaussagen stets gleich. Es ist folglich von einer homogenen Rezeptionsgrundlage für die reformatorisch gesinnten Flugschriftenautoren aus8 9 Vgl. OTTO HOF: Luthers Auslegung von Lukas 16, 9, S. 6 3 - 6 9 . Gegen THEOBALD BEER, der Luthers Unterscheidung als Trennungen interpretiert (vgl. Der fröhliche W e c h sel und Streit, S. 136). 9 0 WALTHER VON LOEWENICH: Luther als Ausleger der Synoptiker, S. 193. Vgl. zum Gesamten WA 10/111, 289, 1 4 - 2 2 . Das biblische Kriterium der Rechtfertigung allein aus Glauben wird klar durchgehalten und gegen das ut finale von Lk 16, 9 behauptet (vgl. WALTHER VON LOEWENICH: aaO., S. 194). Zu R e c h t spricht daher OTTO HOF von einem Beispiel exegetischer Praxis, die das urgere Christum contra scripturam vor Augen fuhrt (vgl. aaO., S. 58). Harmonisierend versucht HANS HEINZ den Sachverhalt zu beschreiben: »Nur scheinbar reden die Synoptiker von Werkgerechtigkeit, in Wirklichkeit aber reden sie - besonders Lukas - vom sola fide, das ein sola fide nutnquam sola ist. Das heißt, daß der Glaube allein rechtfertigt, aber nicht allein bleibt; er zieht die guten Werke nach« (Opus und Praemium, S. 19). 91 Vgl. WA 10/111, 2 9 0 , 8ff.

140

Die Gestalt der Rechtfertigungstheologie

Martin

Luthers

zugehen, wobei freilich die Aspektvielfalt variiert. Der gewichtigste Einschnitt in den untersuchten fünf Jahren der frühen Reformationsepoche ist zweifellos mit dem Wormser Reichstag und dem Wartburgaufenthalt gegeben, was auch in der schriftstellerischen Tätigkeit Luthers seine Spuren hinterließ. So sind für unsere Fragestellung die Publikationen Luthers in den Jahren 1518—1520 gegenüber denen von 1 5 2 1 / 2 2 weitaus ergiebiger und wohl auch entscheidend für die den Anfängen unmittelbar folgende theologische Rezeptionsgeschichte, die mit den Ereignissen 1 5 2 1 / 2 2 geradezu herausgefordert und zur zwingenden Notwendigkeit wurde. In welch gedanklich geschlossener Einheit Luther aber seine Rechtfertigungslehre über den gesamten Zeitraum von 1518 bis 1522 bekannt gemacht hat, zeigt der Vergleich des >Sermon[s] von dem unrechten Mammon< am Ende der genannten Zeitspanne mit dem an ihrem Anfang stehenden >Sermo de duplici iustitiaSermon von dem ungerechten MammonVorrede auf den R ö m e r b r i e f im Septembertestament 98 , die als ein Kompendium der Rechtfertigungstheologie Luthers 9 2 Zu beiden Schriften steht auch der zeitlich fast exakt zwischen ihnen erschienene Traktat >Von der Freiheit eines Christenmenschen< in enger Beziehung - ich habe mehrfach an den entsprechenden Stellen darauf hingewiesen - , so daß die drei Veröffentlichungen förmlich zu den tragenden Stützpfeilern coram publico dargelegter Rechtfertigungstheologie werden. 9 3 Vgl. StA 1, 221, 4 - 6 ; 223, 7 f = WA 2, 145, 7 - 9 ; 146, 3 6 f und WA 10/111, 287, 30f. 9 4 Vgl. StA 1, 222, 11 = WA 2, 146, 8 und WA 10/111, 284, 5 - 8 . 9 5 StA 1, 223, 16 = WA 2, 147, 7. 9 6 WA 1 O/III, 287, 32f. 9 7 Vgl. StA 1, 224, 8ff = WA 2, 147, 34ff und WA 10/111, 288, 2 1 - 2 7 . 9 8 Vgl. StA 1, (387f. 3 8 8 f ) 3 9 1 - 4 0 2 = WA D B 7, (IXff) 2 - 2 6 . Zur Interpretation der Römerbriefvorrede vgl. DANIEL OLIVIER: Luthers Glaube, S. 8 6 - 9 0 ( = Kap. I V / 2 : »Ret-

Gewissenstrost

in Zeiten

der

Krise

141

gelten darf. Mit den Bibelvorreden ist ein neues Rezeptionsmedium geschaffen, bei dem die besagte Einfuhrung in den paulinischen Hauptbrief an die Gemeinde in R o m besonders hervorragt. Die Römerbriefvorrede »stellt mit ganzer Kraft Luthers Auffassung des Glaubens und der >Gerechtigkeit< heraus«99, die aber identisch ist mit den bisherigen Äußerungen zu diesem Hauptthemenkreis. Bevor Luther einen Uberblick über Aufbau und Inhalt des Briefes gibt 100 , erläutert er seine rechtfertigungstheologischen Schlüsselbegriffe Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit sowie Fleisch und Geist 1 0 '. Kaleidoskopartig formiert sich ein umfassendes Gesamtbild, das im Teil immer schon das Ganze trägt. Ich zitiere daher abschließend aus dem Abschnitt über die Gerechtigkeit, was Luther mit der iustificatio sola fide einzuschärfen sucht: »Gerechtigkeyt ist nu solcher glaube / vnd heyst Gottis gerechtigkeyt / odder die für Got gilt / darumb / das es Gottis gäbe ist / vnd macht den menschen / das er yderman gibt / was er schuldig ist / Den(n) durch den glawben / wirt der mensch on sund / vnd gewynnet lust zu Gottis gepotten / damit gibt er Got seyn ehre vnd betzalet yhn / was er y h m schuldig ist«102.

tung aus dem Glauben«); H O R S T des Römerbriefes, S. 57-73. 99

100 101 102

BEINTKER:

Glaube und Handeln nach Luthers Verständnis

DANIEL O L I V I E R : a a O . , S. 7 2 .

Vgl. StA 1, 396, 7-402, 22 = WA DB 7, 12, 27-26, 27. Vgl. StA 1, 391, 14-396, 6 = WA DB 7, 2, 17-12, 26. StA 1, 395, 7-11 = WA DB 7, 10, 28-32.

§ 6 Hauptlinien der von Luther volkstümlich vermittelten Rechtfertigungsbotschaft In thesenartiger und themenzentrierter Bündelung sollen nun überblicksweise die Kerngedanken der massenpublizistisch verbreiteten Fundamentallehre Luthers nochmals hervorgehoben werden und dabei eine Beschreibung ihrer integrativen Mitte erfahren. Aspektdifferenzierung und Formulierungsvielfalt unter stets vorhandener Konzentration auf das Wesentliche zeichnen die Schriften in Hinsicht auf die Darlegung der Glaubensgerechtigkeit aus. Luther sprach alle Bereiche des kirchlichen Lebens an und urteilte nach dem einen Kriterium der iustificatio sola fide. Gleichzeitig kam dadurch der Facettenreichtum der Rechtfertigungslehre in den Blick. Ohne inhaltlichen Substanzverlust gegenüber den wissenschaftlichen Publikationen äußerte sich der Reformator vor den Laien und verlieh auf diese Weise auch den einfachen Bevölkerungsschichten ohne höhere Bildung theologische Kompetenz. Luther bemühte sich stets um Klarheit und Allgemeinverständlichkeit seiner Aussagen über die Rechtfertigung des Menschen vor Gott samt ihren Weltbezug, so daß den Zeitgenossen insgesamt ein prägnantes und klar konturiertes Rezeptionspotential zur Verfugung stand.

1. Theologie

der Freiheit

A m 11. November 1517, also wenige Tage nach dem Thesenanschlag, unterzeichnete Luther einen Brief an seinen ihm freundschaftlich verbundenen Ordensgenossen Johann Lang programmatisch mit gräzisiertem Namenszug »F [rater] Martinus Eleutherius« 1 — Bruder Martin der Befreite. Daraus sprach ein neues Selbstverständnis, das mit Luthers neuen theologischen Einsichten einherging 2 , die das Thema der christlichen Freiheit in den

W A Br 1, 122, 56 (Nr. 52). »Die Unterschriftenzeile v o m 11. N o v e m b e r 1517 und damit der N a m e Eleutherius hatten also darin ihre eigentliche Pointe u n d ihren Sinn, daß in ihnen Luthers n e u g e w o n nenes Verständnis der R e c h t f e r t i g u n g ausgedrückt ist« (BERND MOELLER/KARL STACKMANN: Luder - Luther - Eleutherius, S. 197f bzw. [31f]). Gegen HELMAR JUNGHANS: Der j u n g e Luther u n d die Humanisten, S. 307—311, ist daran festzuhalten, daß Luthers N a m e n s ä n d e r u n g nicht nur lediglich auf eine g ä n g i g e humanistische Praxis zurückzufuhren ist, sondern b e w u ß t e theologische A k z e n t u i e r u n g z u m Ausdruck bringt. 1

2

Hauptlinien

143

Jahren 1518—1522 zur »zentralen Ausdrucksform« 3 seiner Theologie werden ließen. Luther hat gewissermaßen das paulinische Wort von der Freiheit wieder neu entdeckt und in mehreren Dimensionen zur Entfaltung gebracht. Grundlegend war es ihm dabei um die Freiheit der Gnade Gottes zu tun, die als Leitmotiv die Frage der Rechtfertigung bestimmt. Die Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit Gottes beschäftigte den Reformator immer wieder, wohl auch angeregt durch L X X Ps 3 0 , 2 »in iustitia tua libera me«. Indem er nun die iustitia Dei mit der iustitia Christi identifizierte, erkannte er C h r i stus als das Ereignis der Freiheit, so daß er zu der Konstatierung »libertas eius redemptio mea est«4 gelangen konnte. Dies fuhrt weiter zu einer Freiheit von der eigenen Person, denn der Sorge um sein Heil ledig, ist der Mensch nicht mehr auf sich selbst gestellt, sondern ek-sistiert in Christus. Unterschieden vom alten Menschen weiß sich der Christ in seinem Gewissen von Gottes Wort gefangen und wird gerade so der neue, wahre und freie Mensch, weil Christus sich im Gewissen mit ihm, dem inneren Menschen verbindet, j a förmlich verheiratet und ihm dadurch seine Freiheit zu eigen gibt. Die Heilsgabe der Freiheit ist die von Christus in die rechtfertigende Ehe eingebrachte Mitgift 5 , die vom Gesetz dispensiert und das Gewissen über alle menschlichen Vorschriften erhebt, bedeutungsgleich mit dem Glauben, der Gottes Gebot per se erfüllt. In solcher Freiheit aus Glauben lebt der Gerechtfertigte und sieht sich damit in eschatologischer Antizipation bereits hier ins Paradies versetzt, denn für den Glaubenden bricht in der Christusgemeinschaft das R e i c h der Freiheit an als proleptisch »realisierte Eschatologie« 6 . Der Glaube gibt so Gott und seinem ursprünglichen Schöpferwillen recht und befreit von der Unwahrheit menschlicher Heilswege, indem er die Rechtfertigung des Sünders vor Gott sola gratia akzeptiert. »Das ist die Christlich freiheit«, definiert Luther den an Christi Gerechtigkeit teilgebenden Glauben, »der do macht / ... das wir keynis wercks bedurffen zur frumkeyt vnd seligkeyt zu erlangen« 7 . Nicht die Werke machen gerecht vor Gott, sondern allein der Glaube, der dann aber wahrhaft gute Werke hervorbringt und sich in der Freiheit zum Handeln bewährt. Als ein freier Herr aller Dinge tut der Christ, was ihm vor die Hand kommt (vgl. I Sam 10, 7), und er erweist sich gerade 3 BERNDT HAMM: Martin Luthers Entdeckung der evangelischen Freiheit, S. 64. Vgl. auch GERHARD EBELING: Frei aus Glauben, Lutherstudien, Bd. 1, S. 3 0 8 - 3 2 9 , bes. S. 3 1 4 -

324. 4

WA 6, 133, 14 (>TessaradecasVon der Freiheit eines ChristenmenschenDe captivitate BabylomcaSermon von d e m Sakrament der Taufe Kirchlicher Reformhumanismus). B. Philipp Melanchthon (—> Reformatorischer Humanismus). 131

Vgl. HANS-JOACHIM KÖHLER: D i e Flugschriften der frühen Neuzeit, S. 3 2 3 f , A n m .

46. 132 U b e r die hier genannten Autoren hat die Forschung schon viel Material zusammengetragen. Es sind profilierte Persönlichkeiten der Reformationszeit, deren theologische Ansätze bereits hinlänglich bekannt sind, so daß ich ihre Flugschriftenzeugnisse hier zurückstelle und in bezug auf die Frage nach der Lutherrezeption bewußt ausklammere.

186

Flugschriften

aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

C. Andreas Bodenstein, gen. Karlstadt (—» »Radikale« Reformation). D. Huldrych Zwingli (—> Schweizer Reformation; Grundlegung »reformierter« Ausprägungen). E. Johannes Oekolampad (—> Humanismus zwischen Zwingli und Erasmus). E Ulrich von Hutten, Franz von Sickingen und Hartmut von Cronberg (—> Reichsritterbewegung und Pfaffenkrieg; reformatorisch gespeiste R e formpolitik).

Gruppe

II:

Flugschriften mit politischer Thematik. A. Allgemeine Reichspolitik (Das Regiment Karls V.; Reichstage; diplomatische Korrespondenz; Verhandlungen/Ratschläge; Krieg und Türkengefahr) . B. Gravamina nationis germanicae (Nationale Sozialkritik und R e f o r m vorstellungen). C. Causa Lutheri (Amtliche Stellungnahmen; Gutachten und Berichte; diplomatische Korrespondenz; Bannbulle und Wormser Edikt). D. Verordnungen, Beschlüsse und Verträge.

Gruppe

III:

Flugschriften Positionen. Gruppe

von Gegnern

der Reformation

und altgläubig ausgerichtete

IV:

Texte und Schriften aus der kirchenhistorischen Tradition (Editionen, U b e r setzungen und Neuausgaben von Bibelabschnitten, Schriften der Kirchenväter und spätmittelalterlicher Reformtheologen sowie kirchlicher Rechtskodizes, die in Verbindung mit dem zeitgenössischen Diskussionsstoff ihre Aktualisierung erhielten).

Gruppe V: Astrologische Flugschriften, Prophezeiungen und Prognostiken Weissagungen/Vorhersagen; Deutungen; Utopien).

Gruppe

(Apokalyptik;

VI:

Berichte, Zeitgeschehen und »Neue Zeitungen« und persönliche Stellungnahmen).

(Tagespolitische Ereignisse

Flugschriftenliteratur

Gruppe

als Forum »reformatorischer

Öffentlichkeit«

187

VII:

Reformerisch-reformatorische Flugschriften. A. Religiöse und frömmigkeitstheologische Thematik. B. Sozialkritik und Antiklerikalismus, Kirchen- und Gelehrtenkritik (Reformen im Finanzwesen und Eindämmung klerikaler Machtentfaltung; Hervorhebung theologischer Unzulänglichkeiten in der Papstkirche). C. Christliche Individualethik, Kultur- und Sittenfragen ([Priester-]Ehe; Zölibat; [Mönchs-]Gelübde etc.). D. Polemik, Spott und Antipäpstliches. E. Uber Luthers Person und sein Anliegen; Ereignisse der frühen R e f o r mationsbewegung und beginnende Reformpolitik. Gemäß der Fragestellung nach Aufnahme und Verarbeitung der lutherischen Rechtfertigungslehre in den Flugschriften der Jahre um Worms gewinnt die zuletzt genannte Gruppe an Bedeutung. Sie umfaßt die hierfür wichtigen reformerisch-reformatorischen Schriften, wobei sich eine weitere Begrenzung des Forschungsgegenstandes auf Publikationen mit vornehmlich religiöser und frömmigkeitstheologischer Thematik (vgl. Untergruppe VII.A) erreichen läßt. Von >Frömmigkeitstheologie< bezüglich der Kennzeichnung entscheidender Rezeptionsquellen ist hier deshalb die Rede, weil die volkstümlich vermittelte reformatorische Theologie mit ihrer zentralen Rechtfertigungslehre die lebendige Aneignung des Evangeliums sowohl im Hinblick auf den praktischen Lebensvollzug als auch in der theoretischen Reflexion zur Geltung bringt 1 3 3 . »Was etwa an Luthers Theologie als befreiend empfunden wurde, wodurch sie in die verschiedensten Schichten und Gruppen des Volkes einwirkte, inwiefern man sie möglicherweise material rezipierte, ohne j e d o c h ihrer Intention gerecht zu werden, in welche Transformationsformen man sie vereinfachend umsetzte und welche Rolle dabei ein bestimmter sozialer Kontext spielte, diese Fragen finden erst durch solche [sc. frömmigkeitstheologische] Quellen ihre Antwort« 1 3 4 . Die Rückfrage nach der reformatorischen Frömmigkeitstheologie greift damit die an den verschiedenen Ausprägungen interessierte Problemstellung in originärer Weise auf und so richtet sich die Rezeptionsanalyse auf die entsprechende Quellenspezifizierung, wie sie im Teil A der siebten Hauptgruppe vorliegt.

1 3 3 Z u m Begriff >Frömmigkeitstheologie< und seinem Verständnis vgl. BERNDT HAMM: Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung, S. 4 6 6 - 4 7 3 ; DERS.: Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts, S. 1 3 2 - 1 3 8 ; DERS.: HieronymusBegeisterung und Augustinismus vor der Reformation, S. 1 3 9 - 1 4 2 ; DERS.: Das Gewicht von Religion, Glaube, Frömmigkeit und Theologie innerhalb der Verdichtungsvorgänge des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 1 6 7 - 1 7 0 . 1 3 4 BERNDT HAMM: Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher Forschung, S. 495f.

188

Flugschriften aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

Zu bedenken ist dabei freilich auch, daß die Schriften der Gruppe I zu einem großen Teil ebenfalls das inhaltliche Spektrum der Gruppe VII abdekken, hier aber wegen der genannten Gründe außer acht bleiben 1 3 5 . c) Gewichtungen, quellen

Relationen

und tabellarische

Ubersicht der

Flugschrifien-

Die sieben Hauptgruppen zeichnen ein zuverlässiges Bild der Flugschriften ihrer Zeit und lassen sich durch quantifizierende Betrachtung in Relation zum Gesamtkorpus der Flugschriftenliteratur in den Jahren 1 5 2 1 / 2 2 in ihrer spezifischen Bedeutung faßbar machen. Anhand der sich ergebenden Schriftendichte, Ausgabenstärke und Druckortverteilung pro Publikationsbereich sind sowohl im allgemeinen als auch im besonderen Aussagen zu Gestalt und Entwicklungstendenzen der Flugschriftenliteratur für die wichtige >Zeit um Worms< möglich. Erste Aufschlüsse geben die Gesamtverteilung und der Jahresvergleich zwischen 1521 und 1522, gemessen an der jährlichen Ausgabenhöhe j e Schriftengruppe (vgl. Abb. 4). Klar ersichtlich ist die Stagnation der Flugschriftenproduktion in den beiden Jahren 1521/22. Rezessive Züge werden allenfalls im kontroverstheologischen Publikationsbereich der Reformationsgegner' 3 6 (Gruppe III) deutlich, während sich die astrologischen Schriften (Gruppe V) und die berichtende Literatur (Gruppe VI) in einem leichten Aufwind befinden. Interessant ist ein Blick auf die Untergruppen der politischen Schriften (Gruppe II) und der reformerisch-reformatorisch ausgerichteten Veröffentlichungen (Gruppe VII) (vgl. Abb. 5 u. 6). Hier schlagen die unmittelbaren Auswirkungen des Wormser Reichstags spürbar zu Buche. Die allgemeine Reichspolitik (Gruppe II.A) gewinnt an Bedeutung, wohl auch aufgrund der nach 1521 verebbenden und allgemeinpolitisch umgeleiteten Gravamina-Diskussion (Gruppe II.B) sowie des nun nicht mehr so aktuellen Konfliktthemas der auf dem Reichstag vorgebrachten causa Lutheri (Gruppe II.C). Dem entspricht auch eine Abnahme der Flugschriftenpublikationen zur Person Luthers (Gruppe VII.E), wohingegen 1522 die religiösen und frömmigkeitstheologischen Schriften gegenüber dem Vorjahr fast um das Doppelte ansteigen. Der Schock, den das Wormser Edikt 1521 kurzzeitig auslöste, war also schnell überwunden. Die auf religiöse und frömmigkeitstheologische Themen begrenzte Untergruppe VII.A umfaßt dabei gut die Hälfte der reformerisch-reformatorischen Flugschriften und über ein Fünftel der Gesamtpopulation, wobei notabene die Lutherschriften und die Schriften bekannter Persönlichkeiten 1 3 5 Siehe oben S. 185, Anm. 132. Dasselbe gilt übrigens ebenfalls für die an dieser Stelle überhaupt nicht berücksichtigten Flugschriften Luthers. 1 3 6 Die Gegner Luthers hatten große Schwierigkeiten, überhaupt Drucker für die Veröffentlichung ihrer Werke zu finden. Außerdem haben sie sich nur sehr zögerlich auf das Genus >Flugschrift< als Publikationsform eingelassen.

Flugschriftenliteratur

als Forum »reformatorischer

Öffentlichkeit«

189

190

Flugschriften

aus den ersten sog. »Sturmjahren« Abb. 5: Verteilung

Ausgaben anzahl

(Flugschriften Legende

der

Reformation

der Flugschrifiengruppe

mit politischer

entsprechend

Quellenmaterials

II

Thematik).

der Beschreibung

des

nach Ubersicht S.

186.

150

100

a 1521 • 1522

50 31

29 16

12

Gesamt

nt l m

Ä

2

!

C

B

\

13

6

D

Untergruppen

Abb. 6: Verteilung

Ausgabenanzahl

Legende

150

der Flugschriftengruppe

(reformerisch-reformatorische entsprechend

Quellenmaterials

142 143

VII

Flugschriften).

der Beschreibung

nach Übersicht S.

des 187.

81 fs

98

100

50

1

0 1521 • 1522

55 35

33 19

7 6 i

AI

Gesamt

B

12

u m . C

Untergruppen

D

17

Flugschriftenliteratur

als Forum

»reformatorischer

Öffentlichkeit«

191

(Gruppe I), immerhin rund ein Viertel der hier erfaßten Schriften, nicht berücksichtigt wurden. Lateinische Schriften sind in der Gruppe VII.A kaum vertreten, während insgesamt immerhin ungefähr ein Viertel der Titel und rund ein Fünftel der Ausgaben in der Gelehrtensprache erschienen. Die fünf wichtigsten Druckorte der Gruppe VII.A in den Jahren 1 5 2 1 / 2 2 sind Augsburg, Straßburg, Erfurt, Basel und Wittenberg.

Frömmigkeitstheologisch-reformatorische (nach dem Quellenfundus der Nr.

A u t o r (soweit b e k a n n t ) , T i t e l und J a h r des Erstdrucks

Flugschriften 1521/22 Microfiche-Edition)^ Ausgabenanzahl w ä h r e n d der Jahre u m W o r m s 1521 1522

Ausgabenanzahl nach 1 5 2 2 bis 1 5 3 0

1.

Billicanus, T h e o b a l d : A n die christelich K i r c h - V e r s a m m l u n g , e i n e m ehrsamen R a t und G e m e i n der Stadt Weil S e n d b r i e f 1 5 2 2

1

2.

Conradi, Tilmann: A d evangelicae doctrinae Studium exhortatio 1522

1



3.

Copp, Johannes: Z w e i neue, nützliche und lustige D i a l o g e 1522



-

4.

Culsamer, J o h a n n e s : E i n W i d e r l e g u n g etlicher S e r m o n , geschehen zu Erfurt von D o k t o r B a r t h o l o m a e o Usingen 1522

2

® E i n e Ausgabe davon ist niederdeutsch. ''' D i e Angaben richten sich weitgehend nach den bisher vorliegenden Bänden des Verzeichnisses der i m deutschen Sprachbereich erschienenen D r u c k e des X V I . Jahrhunderts ( = V D 16) und den Druckbeschreibungen der M i c r o f i c h e - E d i t i o n ( = D b ) . Es kann also mit einer annähernden, aber nicht mit einer absoluten Vollständigkeit der bibliographischen Nachweise gerechnet werden. Z u m P r o b l e m der Gesamterfassung der D r u c k e des 16. J a h r hunderts vgl. IRMGARD BEZZEL, V D 1 6 / 1 , S. X I - X X . F e r n e r wurden zur Erstellung dieser Tabelle auch die Ergebnisse der bibliographischen Forschung zu einzelnen Schriften nach der Fachliteratur berücksichtigt. D i e Titelorthographie richtet sich nach D b bzw. den R e gisterheften zur M i c r o f i c h e - E d i t i o n . B e i der Anordnung wurde alphabetisch verfahren, wobei Autorennamen und anonyme Schriften nach Titelanfang (ohne Artikel und Präpositionen) in eine gemeinsame Abfolge gebracht wurden. Sind mehrere T i t e l eines Autors verzeichnet, so wird die alphabetische O r d n u n g verlassen und die Publikationsfolge durch die R e i h u n g der Aufzählung angezeigt. B e i der B e s t i m m u n g der Anzahl von Ausgaben für die genannten Zeiträume wurden Übersetzungsausgaben nicht gesondert behandelt. Es ist dann aber an entsprechender Stelle ein Hinweis gegeben.

192

Flugschriften aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

Fortsetzung der Tabelle: Nr.

Autor (soweit bekannt), Titel und Jahr des Erstdrucks

5.

Dick, Leopold: Gnad, Fried und Barmherzigkeit von unserm Herrn Jesu Christo 1 5 2 2

1

_

6.

Diepold, Johann: Ein nützlicher S e r m o n zu allen Christenmenschen von der rechten evangelischen M e ß 1522





7.

Diepold, Johann: Ein S e r m o n , geprediget am Freitag vor Laurentii 1 5 2 2

1



8.

Diepold, Johann: Ein nützlicher S e r m o n von dem Wort Gottes & Ein S e r m o n von dreierlei Büchern' 2 ' 1 5 2 2

2



9.

Eberlin, Johann: Von Mißbrauch christlicher Freiheit 1 5 2 2

1

-

10.

Eberlin, Johann: Ein freundlich, tröstliche Vermahnung an alle frommen Christen zu Augsburg 1522

3



11.

Fener, Georg: Sturm wider ein leimen T u r m eins römischen Predigers 1521

12.

D e r gestryfft Schwyzer Baur 1522

3

13.

Güttel, Kaspar: Ein selig neu Jahr von neuen und alten Gezeiten' 3 ' 1522

3

Güttel, Kaspar: Dialogus oder Gesprächbüchlein, wie christlich und evangelisch zu leben 1 5 2 2

2

14.

Ausgabenanzahl Ausgabenwährend der anzahl Jahre um Worms nach 1 5 2 2 1521 1522 bis 1 5 3 0



3

-

1 (1538)

-

® Eine Ausgabe erschien lediglich als Teildruck. ® Eine Ausgabe davon ist niederdeutsch. ' 2 ' Es handelt sich hier um einen gemeinsamen Druck zweier Predigten, die zwar aufeinander aufbauen und in gegenseitigem Bezug stehen, aber j e eigene Titelformulierungen tragen. I3' Ein Nachdruck erschien unter dem veränderten Titel >Dialogus oder Gesprächbüchlein von einem rechtgeschaffen ChristenmenschenExsurge Domine< 1 , die den Bann über Luther aussprach und ihn der Ketzerei beschuldigte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte kein Zweifel mehr bestehen über die klare Frontstellung der sog. altgläubigen Seite gegenüber dem Bemühen des Wittenberger Reformators um evangeliumsgemäße Bibelauslegung als Korrektiv für das kirchliche Handeln. Trotz restriktiver Maßnahmen, die nach Luthers Bannung und der ihm kurz darauf erklärten Reichsacht auch seine Anhänger treffen sollten, wurde das grundlegende reformatorische Anliegen aber dennoch von großer Z u stimmung in weiten Bevölkerungsteilen getragen. Eine nicht zu unterschätzende Breitenwirkung der neuen Lehre hatte bereits in dieser Frühphase der Reformation stattgefunden und sich inhaltlich soweit verfestigt, daß sogar der Gedanke durchgespielt wurde, Luther für die Fortsetzung der begonnenen Bewegung notfalls (d.h. im Falle seines Todes; worüber aufgrund Luthers plötzlichen Verschwindens nach dem Wormser Reichstag tatsächlich Gerüchte in Umlauf kamen 2 ) auch entbehren zu können: »... aber got 1

Abgedruckt u.a. bei MIRBT/ALAND: Quellen 1, Nr. 789, S. 5 0 4 - 5 1 3 ; teilweise auch bei

D E N Z I N G E R : E n c h i r i d i o n s y m b o l o r u m , N r n . 1 4 5 1 - 1 4 9 2 , S.

487-492.

Vgl. Albrecht Dürers Klage um Luther am 17. Mai 1521: »O Gott, ist Luther todt, wer wird uns hinfiirt das heilig evangelium so clar furtragen! Ach Gott, was hett er uns noch in 10 oder 20 jahrn schreiben mögen!« (ALBRECHT DÜRER: Das Tagebuch der Niederländischen Reise, in: Heiko A. Oberman [Bearb.]: Die Kirche im Zeitalter der Reformation, Nr. 34, S. 67). Zuversichtlicher äußerte sich in dieser Hinsicht ULRICH VON HUTTEN: »... denn wenn Luther auch tausendmal tot wäre«, so die Wiedergabe Aleanders in einem Nachrichtschreiben vom Wormser Reichstag an den Vizekanzler Kardinal Medici, »es würden hundert neue Luther erstehen« (Paul KalkofF: Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, S. 150). 2

200

Flugschriften

aus den ersten

sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

hab lob / doctor Martinus lebt noch / vnnd ob er todt / hett er on zweyffel so vil nottel [= Zeugnisse/Schriften] vn(d) ju(e)ngern hinter j m e gelassen do durch die go(e)tlich gerechtigkeyt vnd warheyt vormittelst go(e)tlicher hilff / wyder auffgericht ... wu(o)rd« 3 . Selbst durch Bannbulle und Schreibverbot für Luther ist die reformatorische Bewegung nicht aufzuhalten, denn »der Lutther hat das gantz land vol iunger« 4 . Eine neue Majorität war also im Entstehen begriffen. U n d mit diesem sich etablierenden Mehrheitsempfinden war häufig auch die Durchsetzung und der Erfolg der reformatorischen Uberzeugung gekoppelt. In bestimmter Weise konnte die rasche Z u n a h m e der Reformationsbefürworter geradezu selbst zum G r u n d der neuen Loyalität werden. So beeilt sich in Balthasar Stanbergers Dialogflugschrift über die rechte Glaubenslehre einer der drei Gesprächspartner, es ist der vom Laienbruder unterwiesene Bettler, am Ende klarzustellen, daß er doch »alWegen bey Martinus gestanden« sei, weil dieser »den grasten hauffen hat« 5 . Hatte man Luther wirklich verstanden u n d sein Anliegen erkannt? Die exakten Lehraussagen m u ß t e n demnach ja nicht unbedingt im Vordergrund der Entscheidung für oder gegen Luther stehen. Es kamen Motive ganz u n terschiedlicher Natur zusammen. Dies hat natürlich auch Mißverständnisse erzeugt, so daß die schroff aufeinander prallenden Haltungen von Ablehn u n g und Z u s t i m m u n g teilweise auch auf unzureichender Information beruhten. Aber auch innerhalb der reformatorischen Anhängerschaft war die Gefahr oberflächlicher Schlußfolgerungen und Interpretationen gegeben. Aus dieser Sorge heraus haben einige Flugschriftenautoren Luthers Lehre mit den Mitteln der Darstellung und Erläuterung einer eingehenden P r ü fung unterzogen, u m ein M a x i m u m an theologischer Klarheit für die Beurteilung zu erreichen.

i. Reflektierte

Luthereuphorie

Die Konzentration auf Luthers Lehre und ihren Skopus war in einer Zeit, da sich der Wormser Reichstag ereignete und das weitere Schicksal des W i t tenberger Reformators völlig im Unklaren schwebte, mehr denn j e nötig geworden. U n t e r dem tiefen Eindruck der umwälzenden Tagesgeschehnisse konnte dies freilich nicht auf dem Wege einer distanzierten Analyse unter 3 So ADAM VON SCHAUMBERG: Dieses Büchlein wird genennt der Laienspiegel, Köhler: Fiche 1 1 1 7 / N r . 2855 (= VD 16/18 S 2373), fol. A3v. 4 URBANUS RHEGIUS: Anzeigung, daß die römisch Bull merklichen Schaden in Gewissen mancher Menschen gebracht hab, Köhler: Fiche 1 8 7 / N r . 524 (= VD 16/17 R 1725), fol. Alv. Lutheranhänger gibt es seiner Aussage nach im Thurgau, in Schwaben, Bayern, Osterreich, im Vintschgau (»etschland«), in Franken, im Bodensee- und Rheingebiet; also überall in O b e r - und Mitteldeutschland (vgl. ebd.). 3 BALTHASAR STANBERGER: Ein Dialogus oder Gespräch zwischen einem Prior, Laienbruder und Bettler, das Wort Gottes belangend, Köhler: Fiche 1003/Nr. 2546 (= V D 16/ 19 S 8539), fol. F3v.

Die lutherische Rechtfertigungslehre

auf dem

Prüfstand

201

Trennung von Person und Werk erfolgen. Die päpstliche und kaiserliche Entscheidung in der Luthersache hatte j a auch ganz im Gegenteil stimulierend auf konkrete Parteinahme und eindeutigen Stellungsbezug gewirkt. So verband sich in manchen reformatorischen Flugschriften die Reflexion über die rechtfertigungstheologischen Aussagen Luthers mit einer Hommage seines Wirkens und Auftretens. Indem Luther die Glaubensgerechtigkeit verkündigte und die Botschaft des Gnadenevangeliums wieder an den Tag brachte, galt er vielen als von Gott gesandt 6 . »Christglaubiger seelen artzney ain Appotegger« 7 konnte er genannt werden, der, einem Elia redivivus gleich 8 , aus Irrlehre und Unterdrückung zu befreien vermochte. Man erblickte in Luthers Anliegen und Geschick regelrecht messianische Züge, so daß selbst die Passion Christi als Allegorie dafür herangezogen wurde 9 . Einige Flugschriften hatten daher nur die Deutung der Person Luthers zum Inhalt (vgl. Gruppe VII.E). Interessant aber wird das Lutherbild insbesondere in denjenigen Fällen, wo die ersten Rezipienten ihre Begeisterung für den Reformator anhand seiner zentralen Lehrmeinung kritisch durchleuchten und werbend zur Anschauung bringen. Die Euphorie für den Initiator der epochalen Veränderung am Ende des Spätmittelalters einerseits, und die sachliche Reflexion über das neugeformte theologische Denken andererseits stehen dabei nicht in Konkurrenz zueinander. Reflexion und Euphorie bilden hier vielmehr eine fulminante Einheit, die von enormer Uberzeugungskraft begleitet wird und so wohl einen

6

V g l . z . B . BALTHASAR STANBERGER: a a O . , fbl. B l v ; J O H A N N

EBERLIN: Ein

freundlich,

tröstliche Vermahnung an alle frommen Christen zu Augsburg, Köhler: Fiche 2 3 3 / N r . 652, Db 1, Nr. 788, fol. B 3 v ( = Enders: Eberhn/Schriften 2, S. 150f). 7 HANS SCHWALB: Beklagung eines Laien über viel Mißbrauch christliches Lebens, K ö h ler: Fiche 2 8 0 / N r . 803 ( = V D 1 6 / 1 8 S 4582), fol. B2r ( = Laube: Flugschriften 1, S. 70, Z. 7). 8 URBANUS RHEGIUS z.B. ruft dazu auf, Gott zu loben, weil er uns »ain semlichen [ = einen solchen] Helia(m) gesandt hat« (Anzeigung, daß die römisch Bull merklichen Schaden in Gewissen mancher Menschen gebracht hat, Köhler: Fiche 1 8 7 / N r . 5 2 4 [ = V D 1 6 / 17 R 1725], fol. B4r). Vgl. ferner MICHAEL STIFEL: Von der christförmigen, rechtgegründten Lehre Doctoris Martini Luthers, Köhler: Fiche 1 0 9 3 / N r . 2 7 7 3 ( = V D 1 6 / 1 9 S 9020), fol. a2r ( = Clemen: Flugschriften 3, S. 282, Z. 4 - 1 2 ; hierzu bes. Anm. 1 auf S. 343); DERS.: Wider D o k t o r Murnars falsch erdicht Lied von dem Untergang christlichs Glaubens, K ö h ler: Fiche 2 4 9 / N r . 695 ( = V D 1 6 / 1 9 S 9025), fol. F2r; HEINRICH VON KETTENBACH: Ein Sermon oder Predigt von der christlichen Kirchen, Köhler: Fiche 2 6 9 / N r . 762, Db 2, Nr. 2 0 2 4 , fol. c2v ( = Clemen: Flugschriften 2, S. 99; hierzu auch Anm. 9 auf S. 103); sowie MATTHIAS WURM: Balaams Eselin, Köhler: Fiche 1 4 9 7 / N r . 3 9 4 0 , fol. k4v. 9 Vgl. diesbezüglich insbesondere die Flugschrift >Doctor Martin Luthers Passion< von 1521. Abgedruckt bei Schade: Satiren und Pasquille 2, S. 1 0 8 - 1 1 3 ; siehe auch JOACHIM UFER: »Passion D. Martins Luthers«, in: Fritz Reuter (Hg.): Der Reichstag zu Worms von 1521, S. 4 4 9 - 4 5 8 ; MARC LIENHARD: Held oder Ungeheuer?, S. 64; neuerdings JOHANNES SCHILLING: Passio Doctoris Martini Lutheri, Gütersloh 1989. Andeutungen und kurze Ausführungen zum Passionsmotiv finden sich z.B. auch in der anonymen Flugschrift >Hab Gott lieb und diene ihm allein«, Köhler: Fiche 1 2 0 6 / N r . 3 0 5 3 , D b 2, Nr. 1461, fol. A 2 r - 4 r ; oder bei ADAM VON SCHAUMBERG: Dieses Büchlein wird genennt der Laienspiegel, Köhler: Fiche 1 1 1 7 / N r . 2 8 5 5 ( = V D 1 6 / 1 8 S 2373), fol. A3r.

202

Flugschriften aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

ganz erheblichen Einfluß auf die beginnende Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie ausübte. Wo diese Einheit erreicht wurde, ging es bei der Rezeption des lutherischen Gedankenguts v.a. um eine mehr oder weniger intensive Form der >engagierten Reproduktivität< mit zusammenfassendem Charakter. Den Nachweis dafür erbringen nachfolgend die interpretierenden Darstellungen zweier Beispielschriften. a) Urbanus Rhegius' einer mißverstandenen

Rehabilitierungsversuch und irrtümlich verketzerten

Theologie

Die öffentliche Bekanntgabe der Bannbulle gegen Luther stieß vielerorts auf heftigen Widerstand und löste Unverständnis und Befremden über das Vorgehen der Kurie aus. So brannten z.B. in Köln und in manch anderen Orten anstelle der Lutherschriften die Werke seiner Gegner 10 . In der Reichsstadt Augsburg, wo seit dem 21. November 1520 Urbanus Rhegius 1 1 in der Nachfolge des Johann Oekolampad sein Amt als neuer Domprediger versah, war es ebenfalls zu einigem Unbehagen über die Proklamation der Bulle gekommen. Man versuchte die öffentliche Verlesung zu verschleppen. Als sich in Augsburg kein Drucker bereitfand, das päpstliche Urteil samt bischöflichem Mandat zu publizieren, besorgte Johann Eck persönlich die Drucklegung in Ingolstadt und machte dabei die von den Augsburgern vorgenommene Streichung der Aufforderung zur Verbrennung von Luthers Büchern eigenmächtig rückgängig 12 . Der durchaus lutherfreundliche Bischof Christoph von Stadion stand nun mit dem Rücken zur Wand und beauftragte schließlich Urbanus Rhegius mit der Promulgation der Bulle. Vier Tage später, am 30. Dezember 1520, verkündete Rhegius nach Rücksprache mit dem Domkapitel dann tatsächlich den Bannerlaß des Papstes von seiner Kanzel, wohl nicht ganz ohne Widerwillen, wie sein lavierendes Vorgehen zeigt 13 . Obwohl der 1489 in Langenargen am Bodensee geborene Gelehrte an der Universität Freiburg, wo er seit 1508 studierte und sich nach humanistischer und juristischer Bildung der Theologie zuwandte, in ein vertrautes Freundschaftsverhältnis mit Dr. Johann Eck, dem späteren Erzrivalen Luthers, eintrat, fand er nach seiner Priesterweihe in Konstanz 1519 und der theologischen Doktorpromotion in Basel 1520 dennoch einen eigenen Zugang zur lutherischen Lehre. Beschrieb der Konstanzer Domherr Johannes von Botzheim noch zu Beginn des Jahres 1520 die Stellung des Urbanus Rhegius zu 10

Vgl.

WALTHER

VON

LOEWENICH:

Martin

Luther,

S. 1 7 7 .

Siehe

auch

MARTIN

BRECHT: Martin Luther, Bd. 1, S. 408f. 11 Zur Biographie des Urbanus Rhegius vgl. v.a. MAXIMILIAN LIEBMANN: Urbanus Rhegius und die Anfange der Reformation, Münster 1980; GERHARD UHLHORN: Urbanus Rhegius, Elberfeld 1861; sowie JULIUS STUDER: Urbanus Rhegius und die päpstliche Bulle gegen Luther, S. 3 2 - 4 0 . 12

V g l . M A X I M I L I A N LIEBMANN: a a O . , S.

13

Vgl. aaO., S. 137f.

135f.

Die lutherische Rechtfertigungslehre

auf dem

203

Prüfstand

Luther und seiner Anhängerschaft als äußerst distanziert und kühl 14 , so konnte er bereits am 3. März in einem Schreiben an den Wittenberger Reformator Grüße von ihm bestellen, verbunden mit einer wichtigen Bemerkung zu dessen theologischer Entwicklung: »Urbanus Regius te salutat, Martine doctissime, qui ob id amicior tibi videri debet, quod non temerario adfectu, sed iudicio ad te amandum ductus est«15. Ein Ubergang zu Luther aufgrund eines diskursiven Erkenntnisprozesses scheint also im Gange gewesen zu sein. U m so verwunderlicher ist freilich, daß sich Rhegius kurze Zeit später in Augsburg der Verlesung der Bannbulle nicht entzogen hat. Die Verpflichtungen der neu angetretenen Stelle haben wohl den noch ungefestigten Positionswandel überlagert, so daß die Entscheidung nicht zu einem konfessorischen Gewissenskonflikt stilisiert werden darf. Es mag zwar zutreffen, daß Rhegius sich in einer inneren Zerrissenheit befand, doch erscheint es weit überzogen, die sich ausprägende lutherische Uberzeugung des neuen Dompredigers mit einem kategorischen »Nein« in Abrede stellen zu wollen 16 . Der Beginn der Wirksamkeit in Augsburg fiel für ihn in die Phase der Neuorientierung und des Umbruchs 1 7 . Ein halbes Jahr nach diesen Ereignissen zeigte er dann deutlich, wie er das Geschehen verarbeitet hatte. Unter dem Pseudonym Henricus Phoeniceus von Roschach 1 8 veröffentlichte Rhegius im Sommer 1521 — die Vorrede ist auf den Tag Johannes des Täufers ( = 24. Juni) datiert — eine »Anzaygung dasz die R o misch Bull mercklichen schaden in gewissin manicher menschen gebracht hab / vnd nit Doctor Luthers leer« 19 . Diese Schrift versucht die bis zu diesem 14 »Urbanus satis frigide de Luthero et suis iudicat« teilte damals Botzheini dem Freiburger Juristen Ulrich Zasius mit (so nach WA Br 2, S. 61, Anm. 2). 15 WA B r 2, Nr. 264, S. 61, Z. 2 1 - 2 3 . Kritisch zu Rhegius' theologischem Standort in Konstanz und seiner Entwicklung äußert sich MAXIMILIAN LIEBMANN: Urbanus Rhegius und die Anfänge der Reformation, S. 1 2 7 - 1 3 1 : DERS.: Urbanus Rhegius - Vom R e f o r m e r zum Reformator, S. 30. Die ältere Forschung wollte an dieser Briefäußerung den reformatorischen Umschwung bei Rhegius festmachen (vgl. z.B. GERHARD UHLHORN: Urbanus Rhegius, S. 19f; oder GUSTAV BOSSERT: Luther und Württemberg, T h S W 4 [1883], S. 263, Separatabdruck S. 41). Vorsichtiger drückt sich JULIUS STUDER bei seiner Interpretation der Briefnotiz aus und richtet den Blick auf einen Prozeß des Ubergangs: »Schon in Konstanz begann die Umwandlung, vollzog sich aber erst allmählich unter ernsten Studien und tiefen Kämpfen« (Urbanus Rhegius und die päpstliche Bulle gegen Luther, S. 36). Freilich darf Botzheims Bemerkung zu Rhegius' Gruß an Luther nicht überbewertet werden, doch wird man insgesamt wohl mehr dahinter vermuten können als lediglich förmliche Freundlichkeit und Anerkennung gegenüber einem progressiven Theologen neben anderen. 16 Gegen MAXIMILIAN LIEBMANN: Urbanus Rhegius und die Anfänge der R e f o r m a tion, S. 137: DERS.: Urbanus Rhegius - Vom R e f o r m e r zum Reformator, S. 31. 17

Vgl. FRIEDRICH

ROTH: Augsburgs Reformationsgeschichte

1 5 1 7 - 1 5 3 0 , S.

58.

Zur Identifizierung des Pseudonyms vgl. OTTO CLEMEN: Henricus Phoeniceus = Urbanus Rhegius, B B K G 9 (1903), S. 7 2 - 8 1 ( = ders.: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte 1, S. 5 1 2 - 5 2 1 ) . 19 URBANUS RHEGIUS: Anzeigung, daß die römisch Bull merklichen Schaden in Gewissen mancher Menschen gebracht hab, Köhler: Fiche 1 8 7 / N r . 5 2 4 ( = V D 1 6 / 1 7 R 1725). ls

204

Flugschriften

aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

Zeitpunkt erschienenen Publikationen des Reformators zu einem Kompendium seiner Theologie zusammenzustellen und umfassend zu würdigen. Zu R e c h t kann daher die >Anzeigung< als »Rhegius' >Summa theologica Lutherana«* bezeichnet werden 20 . Hier offenbarte sich Rhegius als leidenschaftlicher Verfechter der zentralen Lehraussagen Luthers, so daß der Traktat zugleich seine eigentliche reformatorische Schriftstellerei einleitete 21 . Im Vorwort, das an einen gewissen Jakob N ä f aus Tettnang gerichtet ist 22 , beklagt der Augsburger Domprediger sofort die Situation mangelhafter Lutherrezeption, die sich seiner Ansicht nach in dieser Zeit um Worms eingestellt hatte: Etliche Gelehrte und Verständige würden Luther zurückweisen und auf ihrem Irrtum beharren, weil sie entweder Ireniker oder dem Hochmut verfallen seien; das >gemeine Volk< wiederum, das Luther gewogen sei, finde v.a. Gefallen an der antiklerikalen Stoßrichtung, habe aber von seiner Lehre nur wenig begriffen. Obwohl Luther viele deutsche Schriften veröffentlicht habe, sei es zu diesen mißlichen Rezeptionsverhältnissen gekommen, »dan(n) es hond sine biecher vil lewt nit / oder sy vor lenge nit gelesen«, und so erkennt Rhegius »als sin iunger« die Notwendigkeit zu komprimierter Klarheit, »damitt man sin mainung in ainem kurtzen begriff hie findt« 23 . Dementsprechend befaßt sich Rhegius zunächst ausfuhrlich mit Luther und seiner Lehre, bevor er abschließend und nur noch verhältnismäßig kurz auf die >Römische Bulle< zu sprechen kommt. Es liegt ihm jedoch viel daran, deutlich zu machen, daß es mit der Bannbulle um weit mehr geht als einen Parteienstreit zwischen E c k - und Lutheranhängern, nämlich um Gottes Ehre allein, um den christlichen Namen und die christliche Freiheit 24 . Es steht kurz gesagt das Heil bei Gott auf dem Spiel. Haß, Neid und die Furcht, Privilegien zu verlieren, sind anscheinend der Wurzelgrund für die Vorwürfe gegen Luther: er bringe Aufruhr, zerstöre den Frieden wider Christi Gebot, verwirre die Ordnung der Sakramente, stifte eine neue Lehre, richte einen neuen Glauben auf etc. Seit vielen hundert Jahren aber, so Urbanus Rhegius, habe sich kein Doktor mehr so intensiv um die Gewissen der Menschen gemüht wie Luther. Schädlich ist in seinen Augen vielmehr Druckbeschreibung bei MAXIMILIAN LIEBMANN: Urbanus R h e g i u s und die Anfänge der R e f o r m a t i o n , S. 3 6 7 , Nr. 2 7 . Das Interesse an dieser Schrift war immerhin so groß, daß ein Jahr später, 1 5 2 2 , ein N a c h d r u c k erschien (vgl. Köhler: Fiche 144/Nr. 3 9 7 [= V D 16/17 R 1726]). 211 MAXIMILIAN LIEBMANN: aaO., S. 148. In diesem Traktat hat R h e g i u s seinen »geistigtheologischen Standort« um die Z e i t 1 5 2 1 / 2 2 »am prägnantesten niedergelegt« (DERS.: Urbanus R h e g i u s — Vom R e f o r m e r zum R e f o r m a t o r , S. 32). 21 Vgl. OTTO SEITZ: D i e T h e o l o g i e des Urbanus R h e g i u s , speziell sein Verhältnis zu Luther und zu Zwingli, S. 7. 2 2 Vgl. URBANUS RHEGIUS: Anzeigung, daß die römisch Bull merklichen Schaden in Gewissen mancher M e n s c h e n gebracht hab, Köhler: Fiche 187/Nr. 5 2 4 , fol. A l v . Z u m Adressaten siehe JULIUS STUDER: Urbanus R h e g i u s und die päpstliche Bulle gegen Luther, S. 82f. 23

URBANUS

24

Vgl. aaO., fol. A2r/v.

RHEGIUS:

ebd.

Die lutherische Rechtfertigungslehre

auf dem Prüfstand

205

»die verdampt Bull / die gantz die seel verderpt vnd ketzerisch ist«,ja von der brüderlichen christlichen Lehre und Liebe weiter entfernt sei als die Hölle vom Himmel 25 . Wie es überhaupt zu ihr kam, wird knapp skizziert26, um dann Luthers Lehre zur Uberprüfung ihrer Schriftgemäßheit »in ainer sum(m)«27 darzulegen und im Vergleich mit der Bulle zu bewähren. Unter Hinweis auf die einschlägigen Lutherschriften 28 und mittels ihrer intensiven Benutzung handelt Rhegius im einzelnen vom Papsttum, von den sieben Sakramenten, vom Fegfeuer, vom Ablaß, von der Heiligenverehrung, vom rechten Glauben und seinen Werken, vom freien Willen und von der fragwürdigen Unfehlbarkeit der Konzilien. Immer wieder rückt dabei die mißverstandene Rechtfertigungslehre in den Mittelpunkt. Von ihrem unverfälschten Grund her hatte Luther z.B. die beiden biblisch abgesicherten Sakramente Taufe und Abendmahl inhaltlich neu gefaßt, was Rhegius hier wiederholt. So fuhrt seiner Darstellung zufolge die Taufe zur vollkommenen unio mit Christus, die in die rechtfertigende Gottesgemeinschaft einmündet, indem der Christenmensch als lebendiges Glied in den geistlichen Leib Christi eingebunden wird und damit ein Leib und ein Geist mit Gott wird, ein Sohn und Erbe Gottes, ein Bruder und Miterbe Christi. Das Theologumenon von der königlichen Priesterschaft aller Gläubigen (vgl. I Petr 2,9) wird in diesem Zusammenhang stark betont 29 . Was die Messe anbelangt, beschreibt Rhegius Luthers Deutung als Testament und Sakrament, worin Gott dem Menschen Gnade und Barmherzigkeit zusagt. Die Elemente Brot und Wein sind dabei Zeichen dieser Verheißung und der Gegenwart Christi. Die Opferauffassung wird entschieden zurückgewiesen 30 .

25

Vgl. aaO., fol. A2v. A n g e f a n g e n v o m Ablaßstreit u n d den 95 T h e s e n wird die E n t s t e h u n g der »causa L u theri< in ihren wichtigsten Entwicklungsschritten bis zur B a n n u n g durch den Papst n a c h g e zeichnet. Vgl. aaO., fol. A 3 r / v . 27 AaO., fol. A3v. 28 MAXIMILIAN LIEBMANN hat die von R h e g i u s v e r w e n d e t e n Lutherschriften zusammengestellt u n d n e n n t 19 Titel, w o b e i in m a n c h e n Fällen keine eindeutigen Z u w e i s u n g e n möglich sind (vgl. U r b a n u s R h e g i u s u n d die A n f ä n g e der R e f o r m a t i o n , S. 149f). Z u ergänzen bleibt Luthers »Unterricht auf etliche Artikel, die i h m von seinen A b g ö n n e r n aufgelegt u n d zugemessen werden< 1519 (BoA 1, [148] 1 4 9 - 1 5 3 = W A 2, [66] 6 9 - 7 3 ) . R h e g i u s zitiert aus dieser Schrift in seinem Abschnitt ü b e r das Fegefeuer (vgl. B o A 1, 150, 6 - 1 9 = W A 2, 26

7 0 , 1 4 - 2 7 m i t URBANUS RHEGIUS: a a O . , f o l . C 2 r ) u n d ü b e r d i e H e i l i g e n (vgl. B o A 1, 1 4 9 ,

2 1 - 1 5 0 , 5 = W A 2, 69, 1 7 - 7 0 , 13 mit URBANUS RHEGIUS: aaO., fol. C 3 v - 4 r ) . D i e mit d e m Titel »Vonn der heyligenn erhe« versehene Predigt Luthers (vgl. W A 10/111, N r . 59, S. [ C L X V I I - C L X X ] 4 0 7 - 4 1 9 ) scheidet damit als Vorlage für R h e g i u s aus u n d braucht nicht vordatiert zu w e r d e n (gegen MAXIMILIAN LIEBMANN: aaO., S. 150, A n m . 204). 29

30

Vgl. URBANUS RHEGIUS: aaO., fol. A4v.

»Jtem er [sc. Luther] sagt die m e ß sy ain testament vnd sacrament darin(n) sich gott verspricht gegen vns vn(d) gibt gnad vn(d) barmhertzigkait / sy ist ain testament vnd sacrame(n)t das ist gots w o r t vnd zu(o) sagung / vn(d) ain hailigs zaiche des brots v n d wins / d a r u n d e r Christus fleisch v n d blu(o)t warhaftigklich ist d a r u ( m ) b soll die m e ß an j r selbs nit ain opffer haisse(n) des sacrame(n)ts halben« (aaO., fol. B l r ) .

206

Flugschriften

aus den ersten sog. »Sturmjahren«

der

Reformation

Die Zwei-Naturen-Christologie als gedanklicher Hintergrund des fröhlichen Wechsels wird dann bei den Ausfuhrungen zu Luthers Eheverständnis sichtbar. Nicht die leibliche Ehe zwischen M a n n und Frau bezeichnet ein sakramentales Geschehen, sondern ihre D e u t u n g auf Christus u n d die Gemeinde, denn sie ist, so zitiert Rhegius Luther nach der Vorlage des >Sermon[s] von dem ehelichen Stand< (1519), »ain figur ... der verainigung menschlich vnd go(e)tlicher natur in Christo dem herren« 31 . W i e stark zersetzend Luthers Rechtfertigungslehre auf die scholastische Theologie gewirkt haben muß, wird aber insbesondere an der Kritik des spätmittelalterlichen Bußsakraments deutlich. Entgegen der Forderung nach attritio, wodurch der Mensch aus eigenen Kräften mit schmerzlicher FurchtR e u e die Voraussetzung zum Gnadenempfang schaffen m u ß u n d so aufgrund seiner Disposition zu satisfaktorischen Leistungen, sei es im Bußakt oder durch Überpflichtige Werke, mit der Vergebung seiner Sünden rechnen darf, ruft Luther zum Glauben auf, der aus Gottes Gnade die sündige Seele zu einer neuen Kreatur in Christus macht (vgl. II Kor 5, 17). Für Rhegius verkündigt Luther damit ein Evangelium, das nichts anderes ist »dan(n) ain gutte fro(e)liche botschafft Vergebung vnser sünd / nit durch vnsere werck oder verdinst / sonder durch das groß vnseglich [= unsagbare] verdinst Christi« 32 . Die Ablaßpraxis wird mit dem evangelischen Bußverständnis aus den Angeln gehoben 3 3 , und in puncto Heiligenverehrung besteht kein Zweifel, daß alles allein von Gott getan wird und die Heiligen als Beispiele des göttlichen Gnadenhandelns anzusehen sind 34 . Bei der Frage nach d e m Verhältnis von Glaube und Werken rekapituliert Rhegius die Kernaussagen Luthers im >Sermon von den guten WerkenRömische Bulle< — sie verhindert die Predigt der Wahrheit und die Erläuterung der Lehre Luthers; sie steht wider den Glauben und das Rechtfertigungsevangelium, indem sie den freien Willen und das Eigenvermögen des Menschen betont 40 . Der Charakter der Schrift dürfte damit deutlich sichtbar geworden sein. Alles in allem läßt der Rhegius-Traktat eine im wesentlichen an der Rechtfertigungslehre orientierte Luthervermittlung erkennen — und die Belege hierfür sind leicht zu vermehren. War Rhegius auch primär reproduktiv tätig gewesen 41 , so erging er sich doch nicht nur in einer Gesamtparaphrase der Schriften Luthers. Er versuchte die Lehre Luthers nachvollziehbar zu prüfen und das Urteil über ihn zu berichtigen, indem er die inhaltliche Konzentra-

36 URBANUS RHEGIUS: ebd. D i e Fundstelle des Zitats liegt fast ganz am A n f a n g des >Sermon[s] von den g u t e n Werken< (vgl. StA 2, 17, 24f = W A 6, 204, 2 5 f ) . 37 URBANUS RHEGIUS: aaO., fol. C4v. W i e d e r u m greift R h e g i u s die F o r m u l i e r u n g e n Luthers auf, insbesondere aus d e m Traktat >Von der Freiheit eines Christenmenschen