Eine lutherische Ökonomie 9783110747935, 9783110744330

"Theology" and "economics" are two opposing logics of action in conflict with one another that colli

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German Pages 350 Year 2021

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie
3 Theological Economies
4 Exemplarische theologische Ökonomien
5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive
6 Lutherische Theologische Ökonomie?!
Literatur
Stichwortverzeichnis
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Eine lutherische Ökonomie
 9783110747935, 9783110744330

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Christian Pieritz Eine lutherische Ökonomie

Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs

Practical Theology in the Discourse of the Humanities |

Herausgegeben von Christian Bauer, Amy Daughton, Maureen Junker-Kenny, Thomas Klie, Martina Kumlehn und Ralph Kunz

Band 27

Christian Pieritz

Eine lutherische Ökonomie |

Gefördert durch einen Druckkostenzuschuss der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.

ISBN 978-3-11-074433-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-074793-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-074803-1 ISSN 1865-1658 Library of Congress Control Number: 2021940468 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: VTeX UAB, Lithuania Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

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Jennifer Silas Jaron Minea

Vorwort Den ganzen Tag begehrt die Gier; aber der Gerechte gibt und versagt nichts.1 Dies sind die Nachteile kommerzieller Gesinnung. Der Geist der Menschen wird eingeengt und unfähig, sich zu erheben. Bildung wird gering geschätzt oder jedenfalls vernachlässigt, und heroische Gesinnung wird beinahe gänzlich erstickt. Wie diese Schäden zu beheben sind, wäre ein ernster Aufmerksamkeit würdiges Thema.2 Angesichts der ökonomischen Zustände, ist die Predigt nicht nur zur Veränderung des ‚Wucherers‘ wichtig, sondern auch, damit jene uns nicht „als ihren Seelsorger die Schuld auflegen, das wir sie nicht vermahnt, gestraft und gelehrt hätten, und also mit ihnen um fremder Sünde willen auch zum Teufel müssten.“3

Sind sie christlich sozialisiert? Ich habe diese Frage schon mehrfach gehört und das meint wohl, dass einem bestimmte Dinge in Fleisch und Blut übergegangen sind. Ich bin ökonomisch sozialisiert. Ich habe eine Lehre zum Bankkaufmann gemacht und bin in eine ökonomische Volksfrömmigkeit hineingewachsen, die nicht wissenschaftlich reflektiert, sondern im Deuten und Handeln praktiziert wurde. Mit einer solchen Prägung im Theologiestudium lag mir immer an der Verbindung von Theologie und Ökonomie – an ökonomischen Lesarten der Theologie und theologischen Lesarten der Ökonomie. Die hier vorliegende Arbeit ist ein Ergebnis dieser Suchbewegung. Sie wurde von der Theologischen Fakultät der Universität Rostock im Jahr 2020 als Dissertation angenommen und geringfügig für die Drucklegung überarbeitet. In diesem Zusammenhang ist besonders Herrn Prof. Dr. Jan Hermelink für das Zweitgutachten und dem Herausgeberkreis ist für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs“ zu danken. Allergrößten Dank für die Betreuung dieser Arbeit gebührt Herrn Prof. Dr. Thomas Klie, der mit unendlichem Vertrauen in diese Arbeit immer wieder gefordert, gefördert und motiviert hat und mir die Freiheit zur ‚Eigensinnigkeit‘ geschenkt hat. Getragen wurde das Projekt von meiner Familie, die neben dem Vikariat gleichermaßen auch diese Arbeit mit unwahrscheinlicher Geduld unterstützt hat und so mancher Dreikäsehoch musste mir beim laut Denken im Alltag zuhören. Ihnen soll diese Arbeit gewidmet sein.

1 Prov 21,26. 2 A. Smith zitiert in Gerlach 2002a, 162. 3 WA 51,418. Vgl. Pawlas 2000, 109. https://doi.org/10.1515/9783110747935-201

Inhalt Vorwort | VII 1

Einleitung | 1

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4

Konstellationen von Ökonomie und Theologie | 5 Ökonomische Grundlagen | 5 Ökonomische Urgeschichten | 5 Das homo oeconomicus-Modell | 8 Neue Institutionenökonomik | 13 K. Homanns Entwurf von Ökonomik | 17 Marktkonzeptionen | 20 Extended Market Theory | 26 Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie | 38 Wirtschaftsethische Verhältnisbestimmungen | 39 Religion in ökonomischer Perspektive | 46 Ökonomie als Methode in der Kirche: Fallbeispiel eMp | 59 Ökonomie als Religion | 82 Economic Theology | 84 Die theologisch imprägnierte Genese der Ökonomie | 84 Theologie der Märkte | 87 Theorieeffekte eines ökonomischen Glaubens | 90 Zusammenfassung | 95

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Theological Economies | 101 Begrifflichkeiten im Feld der theologischen Ökonomien | 102 Konfessionelle Ansätze | 106 Grenzen und Möglichkeiten theologischer Ökonomien | 112 Zwischenfazit | 119

4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.5 4.6

Exemplarische theologische Ökonomien | 121 Gott als Economist | 121 Economy of Grace | 131 Biblische Ökonomie | 138 Alttestamentliche Wirtschaftsethik | 138 Covenant Economics | 145 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive | 157 Exkurs: U. Duchrows Ansatz | 167 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 170

X | Inhalt 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3

Zugänge zu einer lutherischen Perspektive | 181 Theologische und ökonomische Deutungen: Exkurs Marriage Wars | 183 Theologische Ausgangspunkte | 186 Neutestamentliche Zugänge | 187 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte | 190 Grundlegung zur Kollekte | 191 Deutungen der Kollekte | 198 Sozio-ökonomische Dimension der Kollekte | 214 Paulus als Schöpfer einer ökonomischen Struktur | 221 Reformation als Dekommerzialisierung | 231 Theologie in merkantiler Logik | 232 M. Luther und die Ethik der Ökonomie | 236 M. Luthers Gnadengabe | 245 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers | 249 Gesetz und Evangelium | 252 Zwei-Reiche-Lehre | 255 Tractatus de libertate Christiana | 258 Präzisierung: Simul iustus et peccator | 269 Lutherische Theologische Ökonomie?! | 282 Konstellationen einer lutherischen theologischen Ökonomie | 283 Der homo oeconomicus als peccator | 284 Der homo religiosus als iustus? | 287 Integration: simul oeconomia et theologia? | 293 Et theologia… | 294 Bifokal oder Deus Oeconomicus et Oeconomia Dei | 297 Konstanten und Konsequenzen | 302

Literatur | 317 Stichwortverzeichnis | 339

1 Einleitung ‚Mit Gott‘ stand früher auf dem Kontorbuch.1 Ökonomie mit Gott oder als Gott, durch oder von Gott? Eine Transformation religiöser Verheißungen in ökonomische Angebote und die Aufladung von Waren in das Versprechen von käuflichen Identitäten lässt sich an vielen Beispielen aufzeigen. Wird aber auch das ‚Buch des Lebens‘2 in den Händen des Marktes zu einem Katalog? Ein spezifisch ökonomischer Glaube lässt sich entdecken und dabei gehört es nicht nur für christliche Ökonomen zur intellektuellen Schizophrenieprävention, eine gewisse Konsistenz zwischen ökonomischem und theologischem Glauben herzustellen.3 Dieser Versuch wird hier aus einer theologischen Perspektive vorgelegt. Religiöser Glauben ist kein wirtschaftsethisches Zaubermittel,4 zur Frage steht jedoch, ob der christliche Glaube ökonomische Auswirkungen zeigt, die jenseits einer theologischen Ethik liegen könnten. Das Potential und die Grenzen einer ‚theologischen Ökonomie‘ sind für den lutherischen Bereich weitgehend unerforscht.5 Unter der offenen Leitfrage nach einer lutherischen theologischen Ökonomie werden folgende Schritte unternommen: Zunächst sind für das Themenfeld die ökonomischen Grundlagen eine Voraussetzung. Hier stehen das homo oeconomicus-Modell, die Neue Institutionenökonomik und Marktkonzeptionen im Fokus anhand ökonomischer Standardli1 Vgl. Pawlas 2000, 265. Ist Ökonomie immer ‚vom Teufel geritten‘ oder ‚slapped by the invisible hand‘? Ist eine etwaige theologische Ökonomie notwendig utopisch? Sir 26,29, Sir 27,2 und I Tim 6,9 legen das beispielsweise nahe. Auch Ps 119,36 in der Zürcher Übersetzung weiß um zwei konkurrierende Intentionalitäten: ‚Neige mein Herz deinen Vorschriften zu und nicht dem Gewinn.‘ G. Agamben verweist darauf, dass die paulinischen Christen den Glauben durch einen ökonomischen Wortschatz kennenlernten, nicht durch einen politischen. Christus ist der κύριος des οἶκος, kein ἄρχων. Agamben 2010, 39. 2 Ps 69,29, Phil 4,3, Apk 3,5 passim. 3 Vgl. Tiemstra 1994, 7. Vgl. K. Elzingas Kommentar zu D. Richardson in: Richardson 1994, 35. 4 A. Pawlas zitiert dazu M. Luther: „Wenn jemand nicht über die Brücke, sondern zu Fuß allein im Vertrauen auf Gott über die Elbe gehen wollte, der würde bestimmt ersaufen.“ Vgl. Pawlas 2000, 62. 5 Lutheranern wird gern vorgeworfen, sozial unproduktiv zu sein bzw. ‚Eigengesetzlichkeiten‘ hinzunehmen und teilweise zu legitimieren, oder durch Nicht-Stellungsnahme aller weltlichen Ökonomie zuzustimmen. Der Bezug auf M. Luther in der Wirtschaftsethik war lange marginal. Vgl. ebd., 1, 3 und 9. M. Luther dürfte Ökonomie besonders in der Einbettung in die gesamte Lebenswelt vor Augen gehabt haben, wodurch der Horizont der ganzen Weltdeutung zur Disposition steht. https://doi.org/10.1515/9783110747935-001

2 | 1 Einleitung teratur zum Thema, um eine ökonomische Anschlussfähigkeit zu ermöglichen.6 Angereichert wird die Darstellung durch soziologische Konzeptionen und erweitert durch plurale Akteursrationalitäten und deren kommunikative Bedingungen. Auf diese Weise wird ein ökonomischer Grundkonsens dargestellt und theologische Anschlussstellen identifiziert. Dass es sich in der Auswahl um Standards und Grundlagen der Ökonomie handelt, zeigt sich in der jeweiligen Anwendung selbiger Methoden in den Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie. Das Forschungsfeld ist geprägt von wechselseitigen Perspektiven und Anwendungsfällen, die es zu systematisieren gilt. Dabei zeigen die wirtschaftsethischen Verhältnisbestimmungen Zuordnungsmuster von Theologie und Ökonomie mit unterschiedlichen Argumentationen. Zur Disposition steht dabei immer die Frage, wie von einer theologischen Ethik her Ökonomie beraten und verändert werden kann. Ethik ist dabei ein Feld, mit dem sowohl in der Ökonomie als auch in der Theologie operiert wird, und das – je nach Argumentationsmuster – deutliche Grenzen hat. Eine Perspektive von Ökonomie auf Religion ist mit der Anwendung ökonomischer Methoden im Rahmen der Religionsökonomie gegeben. Dieses religionswissenschaftliche Forschungsfeld untersucht vom Ort der Ökonomie aus Religion. Hier wird eine ökonomische Außenperspektive angezeigt, die wertvolle Ergebnisse beiträgt, jedoch durch das methodischen Inventar zugleich die Innenperspektive nicht erfassen kann. Ökonomische Methoden in der Kirche verändern wiederum die theologische Innenperspektive, wie sich anhand eines Fallbeispiels zeigen wird. Dass Ökonomie in der Anwendung eine eigene Logik durchsetzt wird hier problematisiert. Klassisch muss noch auf Ökonomie als Religion hingewiesen werden, um die Verhältnisbestimmungen möglichst breit darzustellen. Diese Erarbeitung unterschiedlicher Konstellationen und Anwendungsfelder ist die Voraussetzung für eine instruktive Unterscheidung. Unter dem Stichwort economic theology werden die Glaubensstrukturen der Ökonomie in Genese und Geltung untersucht. Identifiziert wird ein Glaube am Ort der Ökonomie, der u. a über Theorieeffekte wirkmächtig ist. Kann mit economic theology am Ort der Ökonomie eine Theologie im weitesten Sinne aufgezeigt werden, hilft das einerseits der Aufklärung der Ökonomie über sich selbst,7 und andererseits ist damit zugleich nach einer Ökonomie 6 Die Auswahl der Literatur versucht einen gewissen Standard abzubilden, indem klassische Literatur und langfristig wirkmächtige Entwürfe des Faches dargestellt werden. Auf heterodoxe Ökonomien wurde bewusst verzichtet, um grundlegende Anknüpfungspunkte zu identifizieren. 7 Die Konstruktionsbedingungen von Ökonomien werden insbesondere durch theologische Bilder erkennbar.

1 Einleitung

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am Ort der Theologie gefragt. Ist neben einer economic theology auch eine theological economy denkbar? Die Unterscheidung und der Forschungsbereich sind kaum untersucht, und was als theologische Ökonomie gelten könnte strittig. Auch begrifflich gibt es keinen Konsens, sondern nur die Nutzung unterschiedlicher Begriffe für einen kaum definierten Forschungsbereich. Die Klärung dieser diffusen Lage führt zu dem Ergebnis, dass nur aus den jeweiligen Konstruktionsbedingungen einer theologischen Ökonomie erschlossen werden kann, was als ökonomisches Denken am Ort der Theologie gelten kann. Die theologischen Vorentscheidungen und konfessionellen Prägungen bestimmen maßgeblich die jeweiligen Argumentationen, und damit zugleich Aufgabe und Ziel der theologischen Ökonomie. Aufgrund dieser Sachlage werden unterschiedliche Ansätze untersucht, die sich implizit oder explizit im Rahmen einer theologischen Ökonomie verstehen lassen. Die Ansätze wurden so ausgewählt, dass sich unterschiedliche Argumentationsmuster identifizieren lassen, die exemplarisch einen Überblick vermitteln und die Konstruktionsbedingungen von theologischen Ökonomien darstellen. Ausgangspunkte sind dabei die ursprüngliche Bedeutung von Ökonomie bzw. die Metapher ‚Gott als Ökonom‘; Gnade als Grundprinzip einer theological economy; der biblische Bundesgedanke und das Begehren in theologischer und ökonomischer Dimension. Erweitert wird das durch eine alttestamentliche Ökonomie im Zeichen der Ethik und eine Position aus lutherischer Perspektive zur Marktwirtschaft. Dabei wird deutlich, dass es zwar konfessionell geprägte Ansätze und unterschiedliche theologische Zugänge zum Thema gibt, allerdings keine spezifisch lutherische Ökonomie, die von den konfessionellen Charakteristika her argumentiert. Damit steht zugleich zur Frage, ob das Nachdenken über Ökonomie in lutherischer Prägung allein in einem ethischen Rahmen möglich ist, oder ob die theologischen Ressourcen eine lutherische Ökonomie ermöglichen. Ein möglicher Zugang zu diesem Thema wird mit einem exegetischen, historischen und systematischen Dreischritt erarbeitet. Neutestamentlich steht dabei die paulinische Kollekte Pate, um ein biblisches Fundament auszuweisen, bei dem eine theologische Prägung von Ökonomie ersichtlich wird. Die Perspektive auf die Reformation als Dekommerzialisierung benennt und deutet die ökonomischen Kontexte der lutherischen Theologie, und die systematische Weiterführung von der Rechtfertigungslehre sowie dem simul iustus et peccator her entwirft eine konfessionell geprägte Perspektive auf das Themenfeld Theologie und Ökonomie. In einer abschließenden Integration wird diese Theorie konkretisiert und in einen homiletischen Kontext gesetzt. Letzteres schließt den Kreis, indem es die

4 | 1 Einleitung Schnittstellen und neuen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie verdeutlicht. Auf diese Weise entsteht eine konkrete lutherische Perspektive, die am Ort der Theologie entworfen ist und die Ökonomie integriert.

2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Nachfolgend sollen die Grundlagen der aktuellen Ökonomik anhand ausgewählter Standardwerke skizziert werden, sodass die ökonomische Theoriebildung einerseits erfasst wird, andererseits aber auch die Methoden, die (praktischtheologisch) in und (religionsökonomisch) auf Religion bzw. Kirche angewendet werden, mit ihrem theoretischen Hintergrund verständlich werden. Maßgeblich dafür ist das homo oeconomicus-Modell, das Thema des Ökonomieimperialismus, die Neue Institutionenökonomik und als integrierender Gesamtentwurf mit ethischen Reflexionen K. Homanns ‚Einführung in die Ökonomik‘.

2.1 Ökonomische Grundlagen 2.1.1 Ökonomische Urgeschichten Οἰκονομία und die abgeleitete lateinische Entsprechung oeconomia bedeuten soviel wie ‚Verwaltung des Hauses‘, was auch auf den Staat übertragen angewendet werden konnte. Der Bezug auf das Haus kann wegfallen, da der Begriff auch ‚verwalten‘ allgemein bedeuten kann. Damit verbunden ist der Ökonom – οἰκονόμος, der von οἰκονομέω her zu bestimmen ist und sich im Sinne von verwalten, anordnen und verteilen (νέμω) auf das Haus (οἶκος) bezieht. Die ältere Ableitung von οἶκος und νόμος scheint nicht treffend zu sein.1 Νόμος mit der Bedeutung von Brauch und Gesetz, kann auch eine Tonart, also eine melodische Ordnung bezeichnen und kommt seinerseits ebenfalls vom Verb νέμω. Eine sprachgeschichtliche Rekonstruktion führt an dieser Stelle zu weit, es soll jedoch mitbedacht werden, dass der griechischsprachige Hörer sowohl die Konnotation von νόμος, als auch die von νέμω gehört haben kann. Der letzte Wortbestandteil verweist in jedem Fall darauf, dass Verteilung und Verwaltung ein wesentliches Strukturmerkmal der Ökonomie ist. Literaturgeschichtlich bewegt sich die ökonomische Literatur, in welcher der Begriff explizit gebraucht wird, vom Mythos zum Logos, genauer: vom Epos (von Personen lernen) über das Lehrgedicht (isoliertes Thema) hin zur rationalen Reflexion. Bei Homer sind König und Hausverwalter noch nicht getrennt und die Verbindung von οἶκος und πόλις ist früh im Thema angelegt. So sind auch in Komödien und Tragödien ökonomische Sachverhalte verarbeitet worden. Mit Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage sind Themen der späteren ökonomischen Schriften bereits angespielt, wie z. B. die Bedeutung der Arbeit, Geräte, Vorrat und der 1 Vgl. Zoepffel 2006, 49. Bräuer 2003 leitet hingegen Ökonomie von οἶκος und νόμος ab. https://doi.org/10.1515/9783110747935-002

6 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Umgang mit Arbeitskräften. Das Thema des guten Lebens ist auch bei Hesiod präsent, die Unterthemen Haus und Herrschaft bzw. deren Verwaltung sind dann in den spezialisierten Bereich ‚Ökonomie‘ ausgelagert worden.2 Xenophons (*430–†354 vC) Οἰκονομικός ist das prominenteste Beispiel einer frühen Ökonomie. Er bezieht oἰκονομία direkt auf das Hauswesen, das als existenzsichernder Organismus erscheint. Landwirtschaft ist als gerechte ökonomische Form anzusehen, weil ihr Gewinn gerade nicht auf Kosten anderer Menschen erwirtschaftet wird. Aus ihr kann der gute Ökonom einen Lebensunterhalt beziehen, ohne an anderer Stelle einen Mangel zu produzieren, wie es bei einem ungleichen Handel wäre. Von Aristoteles sind verschiedene verstreute Bemerkungen in seinen Schriften zum Thema Ökonomie bekannt. Er behandelt sie etwas breiter zu Beginn seiner Politik. Die Hausverwaltung gehört für ihn zum sozialen und politischen Verhältnis zur Polis. Zudem sind drei Bücher, zusammengefasst als Οἰκονομικά (man denke πράγματα hinzu) bezeichnet, unter seinem Namen tradiert. Diese Bücher entstammen vermutlich dem Lehrbetrieb des Peripatos und dürften als pseudonyme Schriften auf verschiedene Schüler zurückgehen. Aristoteles selbst hat inhaltlich weniger Interesse an der Verwaltung des οἶκος als die früheren Autoren, sondern betrachtet die ‚Entartungen‘, also den grenzenlosen Besitzerwerb, in seiner ‚Politik‘ genauer.3 Er unterscheidet im Rahmen der Ökonomie bzw. Chrematistik4 zwischen limitiertem und unlimitiertem Besitz. In der Landwirtschaft ist Besitz begrenzt und wird gemäß seiner Funktion gebraucht. Der Tausch von nützlichen Dingen ist naturgemäß, und Geld als Mittel vereinfacht den Tausch.5 Der Struktur nach würde das folgendermaßen ausgedrückt: Ware → Geld → Ware. Durch die Verwendung von Geld (und Fachkenntnissen) kann aber auch Gewinn bzw. 2 Etwa zu gleicher Zeit entstehen auch Sexualhandbücher wie die Ars Amatoria als didaktische Schriften. Vgl. Zoepffel 2006, 119,128 und 135. 3 Ziel der Ökonomie ist für Aristoteles nicht der Gelderwerb. Die Sorge der Ökonomie bezieht sich in erster Linie nicht auf Dinge, sondern auf Menschen. Arist. Politik I 1259b 20: φανερὸν τοίνυν ὅτι πλείων ἡ σπουδὴ τῆς οἰκονομίας περὶ τοὺς ἀνθρώπους ἢ περὶ τὴν τῶν ἀψύχων κτῆσιν, – „Es ist offensichtlich, daß die Sorge der Ökonomik in größerem Maße den Menschen als dem Besitz an leblosen Dingen gilt“. Übersetzung aus: Schütrumpf 1991, 30. 4 Das Streben nach monetärem Gewinn im Gegensatz zur Selbstversorgung mit geringen Überschüssen wird als Chrematistik bezeichnet. Χρήματα im Plural sind etwas ‚Brauchbares‘, also Waren oder Geld. Vgl. Audring 1992, 16 f. 5 Bei den widernatürlichen Arten, die zuvor als Chrematistik zusammengefasst wurden, differenziert er den Tausch sowie das Geld hinsichtlich der Verwendung. Als Mittel ist es nützlich und gut, als Selbstzweck wird es verwerflich, weil es mit einer Ethik der ausgleichenden Gerechtigkeit (im Tausch) in Konflikt gerät. Gütertausch und Geldverkehr untersucht er nicht als ökonomische, sondern ethische Phänomene. Arist. Politik I 1257a 25–35.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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Einkommen aus dem Handel bezogen werden, womit Geld wiederum Geld produziert und zum Reichtum wird. Strukturell sieht das so aus: Geld → Ware → mehr Geld.6 Dieser Reichtum vermittelt den Eindruck unbegrenzt zu sein und das Ziel dieser Erwerbskunst ist nur Geld. Diese Art Reichtum ist aber nicht das Ziel der frühen Ökonomie: K. Polanyi referiert in einem Aufsatz7 Aristoteles’ Konzeption der Ökonomie, die von der Selbstgenügsamkeit des Menschen ausgeht und nicht von grenzenlosen Bedürfnissen bzw. dem Paradigma der ökonomischen Knappheit. Aristoteles schreibt laut K. Polanyi in der Situation erst entstehender Märkte in Griechenland. Für Aristoteles bezog sich Ökonomie auf die Beziehungen des οἶκος, wobei Gemeinschaft, Selbstgenügsamkeit und Gerechtigkeit die zentralen Topoi waren: „Die Gruppe als lebendige Wesenheit bildet eine Gemeinschaft (koinonia), deren Mitglieder durch das Band des guten Willens (philia) verbunden sind. In oikos und polis gibt es eine Art von philia, die für diese koinonia spezifisch ist, ohne die die Gruppe nicht bestehen könnte. Philia kommt im Vorgang der Reziprozität (antipeponthos) zum Ausdruck, das heißt in der Bereitschaft, abwechselnd Bürden zu übernehmen und miteinander zu teilen. Alles, was für die Fortdauer und Erhaltung der Gemeinschaft notwendig ist, einschließlich ihrer Selbstgenügsamkeit (autarkeia), ist »naturgemäß« und an sich richtig. Autarkie kann als die Fähigkeit bezeichnet werden, ein Auskommen ohne Abhängigkeit von äußeren Ressourcen zu finden.“8

Das bedeutet nach K. Polanyi, dass die Autarkie der Gemeinschaft der Dreh- und Angelpunkt der Ökonomie ist, vom dem sich sowohl der gerechte Preis als auch die Reziprozität der Tauschhandlungen (je nach Rang) verstehen lässt, ohne dass von Transaktionen mit Gewinn die Rede ist. Die Legitimität des Handels hängt damit von der Autarkie ab, reziproke Austauschprozesse dienen der Gemeinschaft und nicht dem Eigeninteresse.9 Die frühen ökonomischen Schriften befassen sich nicht mit dem, was heute allgemein als Ökonomie bezeichnet wird. Zumeist versteht man modern darunter ein System der Produktion, Verteilung und Verbrauch von Gütern, die rar sind bzw. nicht im Überfluss vorhanden sind. Dies ist hier noch kaum der Fall. Der moderne Ökonomiebegriff bezieht sich gewissermaßen auf eine Verzerrung von Ökonomie (Chrematistik) durch Händler. Geblieben ist dabei jedoch das Misstrauen gegenüber Gewinnen. Wenn über eine ‚evangelische Ökonomie‘ nachgedacht wird, müssen grundlegende ökonomische Ansätze dargelegt werden. Dafür war es einerseits notwen6 Beide Sequenzen entnommen aus: Söllner 2012, 218. Geld ist nach Aristoteles ein leeres Wort, weil es durch einen Wert gedeckt sein muss. 7 Vgl. Polanyi 2014, 268 ff. sowie Polanyi 2001, 78. 8 Vgl. Polanyi 2014, Zitat: 286. 9 Aristoteles erinnert an die drei Grazien. Vgl. ebd., 300.

8 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie dig zu erkunden, was von den Ursprüngen der Verwendung des Ökonomiebegriffs her einsichtig wird, weil hier ein erster Zusammenhang mit der Ethik zu entdecken ist. Der gute frühe Ökonom realisiert seine Weltanschauung in der Hausverwaltung. Dabei bildet er nicht nur seinen Charakter, sondern verwirklicht sich selbst mit seinen ethischen Prämissen. Reichtum wird in der Antike zwar meist als göttliche Gunst verstanden, aber auch als Werkzeug für weiteres gutes Handeln. In diesem Zusammenhang lassen sich die ökonomischen Schriften von Xenophon und Aristoteles von ihrem normativen Impetus her verstehen, der in der guten und schönen Ökonomie zugleich das gute Leben erkennt.10

2.1.2 Das homo oeconomicus-Modell Die Voraussetzung für eine autonome Ökonomik ist mit K. Polanyi gesprochen eine ‚great transformation‘, die zur Entkopplung des Wirtschaftssystems von der Lebenswelt führte.11 Ökonomik hat sich von seinen normativen Kontexten, bspw. der Moralphilosophie, gelöst und behauptet folglich eine Eigengesetzlichkeit, die sich z. B. bei Märkten auf die Ressourcenallokation bezieht und nicht mehr auf Verteilungsfragen. Der economic approach, wie ihn G. S. Becker dann ausweitet, kann zur Legitimation von Ungerechtigkeit führen, wenn die Logik der Ökonomie präskriptiv wird und versucht den Glauben an die Wohlstands- und damit Lebensqualitätsmaximierung mit einer utilitaristischen Sprache durchzusetzen. Utilitaristische Ethiken operieren in der Regel konsequentialistisch (von den intendierten Folgen her) und versuchen den Gesamtnutzen zu erhöhen.12 Die Axiomatik der ‚orthodoxen‘ bzw. neoklassischen Wirtschaftslehre bezieht wesentliche Grundannahmen von utilitaristischen Konzepten, jedoch ohne die inhärente ethische Maxime, dass die maximale Nutzensumme (die Summe der positiven und negativen Folgen) für alle Betroffenen zu berechnen ist. Die Neoklassik zielt allein auf die individuelle Nutzenmaximierung.

Der neoklassische Mainstream lässt sich am homo oeconomicus-Modell13 verdeutlichen, das maßgeblich nach G. Kirchgässner und erweitert mit K. Homann dargestellt wird: Der homo oeconomicus ist ein individueller, rationaler Akteur mit stabilen Präferenzen, der auf den größtmöglichen Nutzen zielt. Er trifft in der Si10 Vgl. Homann 1994, 387. Zur christlichen Verwendung des Begriffes vgl. den Absatz ‚Christianity as Economics‘ in Williams 2014, 411. Vgl. auch das umfassende Werk von Richter 2005. 11 Vgl. Egan-Krieger 2014, 49 f. und Polanyi 2001. Die Transformation erfolgt von Märkten hin zur Marktwirtschaft und von geregelten zu selbstregulierenden Märkten. 12 Vgl. Egan-Krieger 2014, 55 f. 13 Den homo oeconomicus führte John Stuart Mill 1836 ein. Vgl. Menzies 2008, 96 f.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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tuation der Knappheit eine rationale Auswahl zu seinen Gunsten, wobei Rationalität und Eigennutz bei diesem Verhaltensmodell grundlegend sind.14 Dabei geht es zunächst um die Beschreibung und Erklärung des menschlichen Verhalten im Horizont der Sozialwissenschaften, weil sich dieses Modell auf allgemeine Austauschvorgänge in der Gesellschaft bezieht. Die fünf zentralen Axiome der neoklassischen Ökonomik lassen sich wie folgt darstellen: Rationale Wahl: Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass zwischen Alternativen entsprechend der individuellen Präferenzen als Mittel-Zweck-Relation abgewogen wird. Zugrunde liegen der methodische Individualismus sowie freie Entscheidungen, die jedoch durch die Präferenzen und Restriktionen determiniert sind. Knappheit ist ein grundlegendes Axiom der Ökonomik: „Knappheit stellt eine Handlungsbedingung dar, die für jede Art von Handeln konstitutiv ist. Knappheit hat damit als Handlungsbedingung einen kulturinvarianten Aspekt, der neben der kulturbedingten Relativität der Knappheit stets zu berücksichtigen ist.“15 Präferenzen sind die Handlungsziele als Rangfolge der Individuen. Mit dem Präferenzbegriff kann man verschiedene Handlungsziele von Subjekten in der ökonomischen Theorie verwenden, ohne dass die subjektive Bewertung der Alternativen relevant wäre. Handlungsmaxime: „Akteure maximieren durch rationale Kalkulation ihren Nutzen entsprechend ihrer Präferenzen.“16 Restriktionen sind mehrdimensionale Handlungsbeschränkungen wie Gesetze (externe Restriktion), aber auch soziale Regeln (interne Restriktion). M. Erlei fasst vier einzelne Bausteine ähnlich zusammen als methodologischer Individualismus, strikte Trennung von Präferenzen und Restriktionen, Eigennutzannahme und Rationalitätsannahme.17

In Entscheidungssituationen sind die Präferenzen und Restriktionen für die rationale Wahl entscheidend. Präferenzen bilden sich im Sozialisationsprozess, die Restriktionen sind gesetzt, sodass Individuen in Situationen mit Unsicherheit und Nebenbedingungen versuchen, ihren Nutzen zu maximieren, der sich an den jeweiligen Präferenzen orientiert. Rational wird auch bei unvollständigen Informationen gehandelt, wenn die beste der Alternativen gewählt wird bzw. die Kosten

14 Eingeschränkt rational handeln Akteure auch, wenn sie sich mit der erstbesten Möglichkeit zufrieden geben. Dann ist zwar der Prozess nur eingeschränkt rational, das Ergebnis hingegen kann rational sein. Vgl. Frey 2011, 357. Eine Übersicht zu den zentralen Prinzipien des homo oeconomicus findet sich in Leschke 2015, 101 f. 15 Vgl. Gerlach 2002a, 235, Zitat: 98. 16 Dargestellt nach Kirchgässner 1991, 12 ff. und Zitate der Übersicht aus: Gerlach 2002a, 229. Zu Präferenzen verweist A. Sen auf den Unterschied von „personal choice and personal welfare“. Ökonomie identifiziert in der Regel beides. Vgl. Menzies und Hay 2014, 584. 17 Vgl. Erlei 2010, 31. Die beiden letztgenannten sind zentral für Brennan und Waterman 2008, 89. Rationalität betrifft dabei die Struktur der Präferenzen, Eigennutz den Inhalt der Präferenzen.

10 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie weiterer Informationsbeschaffung irrational wären.18 Rationalität erscheint hier nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv, wenn der Mensch systematisch durch Anreize determiniert und so voraussagbar ist. Dies gilt auch für die einschränkte Rationalität, die bei unvollständiger Informationen und Unsicherheit die vorteilhafteste Alternative wählt, um Präferenzen zu befriedigen.19 Die Präferenzen werden theoretisch als Konstant angesehen, obwohl Präferenzänderungen sich praktisch vollziehen. Präferenzänderungen lassen sich kaum im ökonomischen Modell erklären, dies ist jedoch durch Restriktionen der Fall. Mit den Restriktionen kann die Verschiebung von Vorteilen erklärt werden, ohne dass die Änderung von Präferenzen relevant wäre. Wertewandel ist somit ein vernachlässigbarer Faktor in der ökonomischen Erklärung des Menschen, obwohl diese Werte durch Institutionen gebildet werden, weil Verhaltensänderungen effektiver durch Restriktionen etabliert werden können als durch die Änderung der Präferenzen im Sozialisationsprozess.20 Diese Perspektive bezieht sich auf das Handeln von Individuen, die aggregiert Schlussfolgerungen auf der Makroebene zulassen. Es geht damit um typisches Verhalten, dass auf der Ebene des Marktes nicht-intendierte soziale und ökonomische Folgen hat. Den individuellen Akteuren wird ‚Egoismus‘ als realistische Modellannahme unterstellt und Opportunismus kann allein durch Restriktionen beherrscht werden. Eigensinn ist dabei jedoch nicht auf jede einzelne Situation bezogen, sondern Individuen können sich altruistisch verhalten bzw. kooperieren auch ohne einen unmittelbar konkreten Vorteil, in z. B. langfristig vorteilhaften Bindungen oder auf familiären Ebenen. Außerhalb enger Bindungen treffen sich Akteure in der Regel jedoch in einem Marktgleichgewicht als Konsumenten und Produzenten.21 Marktgleichgewichte und Preisbildungen entstehen durch Angebot und Nachfrage, und ein grundlegendes Axiom ist die vorausgesetzte Knappheit. Die18 Hier sowie bei K. Homann liegt J. Rawls’ Entwurf von Gerechtigkeit zugrunde. Vgl. Kirchgässner 1991, 16. Homann und Suchanek 2005, 1. 19 Ein ‚Stimulus-Response-Modell‘ anzunehmen greift jedoch zu kurz, weil Akteure strategisch auf einem Spielfeld gemäß ihrer (theoretisch konstanten) Präferenzen operieren. Vgl. Kirchgässner 1991, 36. 20 Das scheint gewissermaßen zirkulär: Die (staatlichen) Institutionen sollen z. B. durch Restriktionen ein umweltgerechtes Verhalten erzeugen. Fraglich ist dabei, ob nicht auch die individuellen Akteure – die Institutionen gestalten – wiederum eine umweltsensible Sozialisation benötigen, sodass dieser Wert überhaupt als Wert erscheint. Aufgrund langfristiger ökonomischer Folgen Restriktionen zu etablieren, widerspräche wiederum dem in dieser Hinsicht kurzfristigen Eigennutzaxiom. Vgl. zum Beispiel das Thema ‚Umwelt‘: ebd., 45, zu möglichen ‚altruistischen‘ Regierungen vgl. 192 f. 21 Vgl. ebd., 67.

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ser modellhafte Akteur kalkuliert seine beste Option. Ausgeblendet wird damit – neben Werten und Normen – die doppelte Kontingenz der Handlungsmöglichkeiten, aus der kalkulierbare Risiken und Unsicherheiten resultieren. Ökonomisch werden die Handlungsmöglichkeiten dann mit den Annahmen des Utilitarismus, Rationalismus, Individualismus und dem allgemeinen Gleichgewichtsmodell erklärt. Dabei wird auch von asymmetrischen Informationen ausgegangen und die Institutionen des Marktes bzw. die Situation des Marktgeschehen kommen in den Blick.22 In der Neuen Institutionenökonomik wird das Modell um ‚Institutionen‘ und eine Transaktionskostentheorie erweitert, die neoklassischen Grundlagen gelten jedoch weiter. Komplexe soziale Nebenbedingungen werden damit kaum erfasst und einzelne soziale Faktoren gehen nur als Transaktionskosten in die Kalkulation ein. Handlungen richten sich nach der individuellen Nutzenfunktion, andere Handlungsmotive werden auf dem modellhaften Markt mit vollkommener Konkurrenz und Information nicht berücksichtigt. Ökonomische Märkte sind neoklassisch zunächst zeit- und raumlos, sowie ohne exogene, historische oder soziale Faktoren. Allein (rechtliche) Institutionen als Restriktionen oder Anreize wirken auf das Verhalten des homo oeconomicus. Der homo oeconomicus wird in der Neuen Institutionenökonomik als REMM (Resourceful, Evaluating, Maximising Man) erweitert, wobei die vollkommenen Informationen eingeschränkt werden, und das Modell um Transaktionskosten und nicht-materielle Güter erweitert wird. Das Resourceful verweist auf die Kreativität des Menschen, der Alternativen erschaffen und beliebige Ziele haben kann. Das REMM-Modell erklärt nun nicht mehr das Verhalten, sondern die Verhaltensänderungen, die durch Restriktionen hervorgerufen werden. Zuweilen wird das Modell als RREMM erweitert, wobei das zweite R auf das restricted verweist.23 2.1.2.1 Neoklassik als Weltdeutung Gary S. Becker weitet die neoliberalen Handlungstheorien zu einer ‚Weltdeutung‘ aus, indem er auch in Bereichen außerhalb des Marktes die rationale Wahl unter dem Axiom der Knappheit als primäres Handlungsmodell identifiziert. Rationale Nutzenmaximierung – auch in Bezug auf immaterielle Güter – als ökonomisches 22 Doppelte Kontingenz, weil die Akteure sich selbst und ihrem Interaktionspartner Wahlfreiheit zuschreiben. Vgl. Ganßmann 2007, 63 ff. Vgl. auch Ganßmann 2009, 166 f. Zu Informationsasymmetrien vgl. Akerlof 1970. An dieser Stelle werden Werturteile bei Erfahrungsgütern relevant, deren Wert gerade nicht durch Informationen eingeschätzt werden kann. Kirchgässner 1991, 73. 23 Vgl. Gerlach 2002a, 230, 234 und das Morgenstern-Paradoxon: 233 f., sowie Kirchgässner 1991, 12. Vgl. auch Aaken 2002, 214 Fn. 10.

12 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Handeln wird so zur Deutungstheorie sozialen und kulturellen Handelns und betrifft alle Ressourcen. Das ökonomische Paradigma wird damit auf sozialwissenschaftliche Bereiche angewendet und als umfassendes Verhaltensmodell verstanden.24 Zentral sind bei G. Becker die stabilen Präferenzen: Jeder Mensch hat identische Präferenzen (Gesundheit, Heil etc.), nur so ist die Theorie auf das menschliche Verhalten zu verallgemeinern. Irrationales Verhalten existiert in diesem Erklärungsansatz nicht, nur die jeweiligen Situationen wirken auf das individuelle Kalkül und produzieren unterschiedliche Handlungen. Der Mensch ist praktisch ein rationaler Mechanismus in allen Lebensbereichen. Die Entgrenzung der Ökonomie auf Verhaltenstheorien bedeutet, dass ethische Kategorien, kulturelle Settings oder soziale Abhängigkeiten nur noch in der Kalkulation relevant sind, die Handlungsmotive können dann durch die Ökonomie selbst geklärt werden. Durch die abstrahierte ökonomische Perspektive wird zudem der Austauschprozess von allen symbolischen, kulturellen und sozialen Obertönen gereinigt. Diese Dimensionen bleiben unsichtbar. Die Ausweitung des Marktbegriffes auf nichtmaterielle Güter, d. h. die Entgrenzung des Vorteilsbegriffes unter den Axiomen des nutzenmaximierenden Verhaltens, der Marktgleichgewichte und der Präferenzstabilität führt dazu, dass prinzipiell jedes menschliche Verhalten ökonomisch gedeutet werden kann. Das Verhalten bezieht sich damit auf knappe Mittel und konkurrierende Ziele, wobei die Ökonomie der einheitliche und umfassende Bezugsrahmen zur Deutung von Interaktionen wird. Damit entstehen ‚Märkte‘ ohne (monetäre) Preise, wie der Heiratsmarkt, aber auch Schattenpreise, wie die Wartezeit beim Arzt und Opportunitätskosten für den entgangenen Nutzen der zweitbesten Alternative. Damit versucht das Modell Verhalten in einem breiten sozialwissenschaftlichen Setting zu erklären, mit dem Ziel, gestaltend einzugreifen. Können beispielsweise Geburtenraten ökonomisch erklärt werden, so sind die Funktionsmechanismen offenbar und dementsprechend können selbige gesteuert werden.25 Ökonomen grenzen sich dabei in der Regel von den normativen Implikationen ab und verstehen sich als positive Wissenschaft. Es geht 24 Vgl. Kuttner 2011, 84 f. und zum Ökonomieimperialismus: Kirchgässner 1991, 138 und 141. Vgl. auch zur ursprünglichen Anerkennung eines familiären Altruismus Menzies 2008, 95. 25 Dass G. S. Beckers „abstraktes Verhaltenssystem“ tatsächlich anthropologischen Charakter hat, legt A. Kuttner mit einigen Hinweisen dar; die Ubiquität der Ökonomie in seiner Theorie legt dies auch nahe. Ethik funktioniert dann über ein Anreizsystem, Willensfreiheit für einen so ökonomisch determinierten Menschen ist kaum denkbar. Vgl. Kuttner 2011, 97 f. Vgl. auch Becker 1993, 4, 7,15, zur ökonomischen Erklärung der Ehe vgl. 10 und 225 ff. und zu den Geburtenraten zitiert K. Homann G. S. Beckers instruktives Beispiel der Frauen von Milch- und Getreidebauern. Letztere arbeiten fern außerhalb des Hofes, Kinder kosten hier die Arbeitskraft. Frauen von Milchbauern entstehen – weil sie auf dem Hof arbeiten – hingegen geringere Kosten, weil Kinder mit

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der Ökonomik um allgemeine nomologische Gesetzmäßigkeiten, ein typisches und damit vorhersagbares Verhalten, wobei soziale Interaktionen konsequent im Tausch-Paradigma gedacht werden. Diese Verhaltensannahmen gehören in ein spezifisches kulturelles Setting, in dem diese Quasi-Gesetze Geltung beanspruchen können und sich so als Interaktionsdeutung auf allgemein menschliches Verhalten bei rivalisierenden (privaten) Gütern beziehen. Mit diesem Erklärwert der Ökonomik kann man einerseits für eine gestaltete Ordnung argumentieren, aber gleichermaßen auch gegen einen ‚undemokratischen Zwangswohlfahrtsstaat‘.26 Ökonomik erscheint so als ‚Denkweise‘27 und als Deutung der Welt. Die immer wieder angebrachten Kritikpunkte in diesem Rahmen sind das vereinfachte Rationalitätsmodell, die mikroökonomische Ausrichtung, die sich kaum auf komplexe Institutionen anwenden lässt, sowie die generelle Kommensurabilität von Gütern. Wirtschaftswissenschaftliche Theorien beziehen sich in der Regel auf Preismechanismen, Ressourcenallokation und Konkurrenz. Marktkonzepte hingegen sind in diesem Kontext meist nur für politische Dimensionen von Bedeutung, weil ein Markt in der ökonomischen Perspektive ein Funktionsbegriff für das spontane Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage ist.28 Dieser Fokus auf das individuelle Verhalten der Akteure wird in der Neuen Institutionenökonomik durch Institutionen ergänzt, sodass nun die Marktgestaltung in den ökonomischen Blick kommt.

2.1.3 Neue Institutionenökonomik Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) erweiterte zunächst das neoklassische Paradigma und zeichnet eine ‚begrenzte‘ Rationalität und eine Lenkung des Verhaltens durch Institutionen in das klassische Modell ein. Institutionen werden unterschiedlich definiert, fungieren aber ökonomisch in der Regel als Restriktionen. der Arbeit vereinbar seien. Homann und Suchanek 2005, 71. Kinder als Konsum- und auch Produktionsgüter variieren qualitativ nach G. S. Becker durch die Investition, und es gibt Güter, die ein „Substitut für Kinder-Qualität“ sind. Vgl. Becker 2014, 119 ff., Zitat: 129. Zu G. S. Beckers Analyse der Fruchtbarkeit siehe ebd., 117 ff. 26 Vgl. Kirchgässner 1991, 26, 207, zu öffentlichen und privaten (rivalisierenden) Gütern – bzw. der Figur des Trittbrettfahrers – vgl. 54 f. Zu den Alternativen ‚Gestaltung‘ oder Neoliberalismus siehe 220. 27 Einen Überblick über exemplarische Anwendungsgebiete bietet Frey 2011, 360. 28 Vgl. Mikl-Horke 2011, 32. Vgl. auch die Kritik an neoklassischen Modellen in Sen 2014. Für A. Sen gibt es eine begrenzte Rationalität durch Metapräferenzen.

14 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Das bemerkenswert Neue an diesem Ansatz ist, dass der Markt nicht mehr als normatives Ideal verstanden wird, sondern einer effizienten Institutionengestaltung bedarf. D. North erkannte zunächst in formalen und informalen Institutionen / constraints einen zentralen Faktor bei der Entwicklung von Gesellschaften. Es setzen sich die effizientesten Institutionen durch, um das Ziel der Wohlstandsmaximierung zu erreichen. Damit erklärt D. North wirtschaftliche Entwicklungen von den Institutionen her.29 Institutionen werden unterschiedlich definiert, dennoch lässt sich mit J. R. Searle die Genese von Institutionen theoretisch beschreiben: J. R. Searle fragt nach den Konstruktionsbedingungen einer institutionellen Realität über eine rein physikalische Wirklichkeit hinaus und nimmt Sprache als Ausgangspunkt für die Konstruktion von Institutionen. Er unterscheidet beobachterabhängige (z. B. Physik) und beobachterunabhängige (Sozialwissenschaft) Phänomene, sowie analog eine subjektive und eine objektive Ontologie und untersucht, wie aus der subjektiven Ontologie eine ökonomische Realität geschaffen werden kann.30 Sein Grundmodell besteht aus ‚kollektiver Intentionalität‘, der ‚Zuweisung einer Funktion‘ und Statusfunktionen. Damit sind zunächst kollektive Funktionszuweisungen möglich, zugleich aber auch Statuszuweisungen, die einer Person ohne spezifische Merkmale einen Status als Voraussetzung für eine Funktion zuweisen: J. R. Searles Kurzformel ist „X gilt als Y im Kontext C.“, wobei ‚Y‘ wiederum als ‚X2 ‘ abgeleitet werden kann.31 Dies – so J. R. Searle – ist die konstitutive Struktur von Institutionen, die schrittweise zur Kodifizierung führt und es damit im Rahmen von Institutionen „desire-independent reasons for action“ gibt (ebd., 116). Akteure sehen dann das Repräsentierte – einen Geldschein; nicht Papier, das einen Wert repräsentiert – und auch Sprache als Institution und linguistisches Medium kann Verpflichtungen repräsentieren.32

In der anhaltenden Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik grenzt sie sich immer weiter von neoklassischen Denkschemata ab und versucht einen neuen Denkstil zu etablieren, bei dem Institutionen als soziale Werkzeuge fungieren. Während das homo oeconomicus-Modell mikroökonomisch institutionenneutral angewendet werden kann, kritisiert die Neue Institutionenökonomik die Missach-

29 Vgl. Egan-Krieger 2014, 85 f. und Priddat 2014a, 87. 30 Damit wird objektiv ein ontologisch subjektiver Gegenstand untersucht. Vgl. Searle 2015, 106, 108. 31 Der „X-Term bestimmt Merkmale eines Objektes, einer Person oder eines Sachverhaltes und der Y-Term schreibt dieser Person, diesem Objekt oder diesem Sachverhalt einen speziellen Status zu. Menschen haben eine Fähigkeit […] einem Objekt eine Funktion zuzuweisen, wenn das Objekt diese Funktion nicht allein aufgrund seiner physischen Beschaffenheit erfüllen kann, sondern nur, weil sie ihm kollektiv zugeteilt wird oder anerkannt wird, dass das Objekt oder die Person über einen bestimmten Status verfügt und mit diesem Status über eine Funktion. Leicht nachvollziehbare Beispiele sind Geld [etc.]“ Vgl. ebd., 111 f., Zitate: 112 f. 32 Zur deontischen Macht vgl. ebd., 115.

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tung von Transaktionskosten, die reale unvollständige Voraussicht und die Missachtung der eingeschränkten Rationalität.33 Damit versucht das Modell realistischere Konzepte zu entwickeln und über den Begriff der Institutionen – als soziale Regelwerke, verinnerlichte Erwartungshaltungen, Sitten, aber auch Gewohnheiten, die sich auf das Handeln als Restriktion auswirken können – eine weitere Dimension in die ökonomische Modellbildung einzubringen. Institutionen können das Ergebnis oder die Regel eines Spiels sein, und sie können sich nur etablieren, wenn Akteure Vorteile von ihnen erwarten. Sie sind nicht grundsätzlich das Ergebnis eines speziellen Entwurfs, sondern können sich auch unintendiert in Interaktionen bilden (z. B. Sprachregeln). Die Definition von Institutionen bleibt dabei plural, aber einheitlich erscheint, dass es sich um Funktionsregeln handelt, die einen Entscheidungsspielraum kennzeichnen und damit individuelles Verhalten strukturieren.34 Die Restriktionen eröffnen einen Handlungsraum und reduzieren als Koordinationsmechanismen Ungewissheit. Bei externen Institutionen sanktioniert der Staat, bei internen erfolgt eine soziale Kontrolle der internalisierten und verobjektivierten Regeln. Im ‚UnsichtbareHand-Ansatz‘ generieren sie sich evolutionär selbst, im ‚Sichtbare-Hand-Ansatz‘ werden sie konstruktivistisch von einem Dritten gesetzt und in jedem Fall entstehen mit ihnen (Transaktions)Kosten, die im klassischen homo oeconomicusModell noch nicht einkalkuliert wurden.35 R. Richter zeichnet den homo oeconomicus in seiner Abgrenzung von der Neuen Institutionenökonomik als praktisch ‚allwissenden‘, vollkommen rationalen und vor allem ehrlichen Menschen, der sich an Verträge und Normen hält. Mit der Neuen Institutionenökonomik hingegen kann opportunistisches Verhalten einberechnet werden und die Unvollständigkeit und Ungewissheit von Regeln und Verträgen bearbeitet werden. Gefragt

33 Vgl. Richter und Furubotn 2010, 2 und 22. E. Göbel hingegen sieht auch in der Institutionenökonomik das Verhaltensmodell des homo oeconomicus als Leitidee. Göbel 2002, 37. 34 Vgl. Richter und Furubotn 2010, 7 f. und Voigt 2002, 19 f. S. Voigt merkt an, dass auch der Spieler eines Spiel eine Institution sein könnte (33). B. S. Frey identifiziert drei Arten von Institutionen: Entscheidungssysteme, Normen (sowie religiöse / implizite soziale Regeln) und Organisationen (Staat / Verbände). Frey 2011, 351. E. Göbel gibt einen Überblick über die Funktionen von Institutionen in Göbel 2002, 5 ff. Vgl. auch Koch 2014a, 104. Gegen diese institutionalistische Variante der Neoklassik wendet sich M. Granovetter mit der Netzwerktheorie als drittem Weg der ökonomischen Koordination. Vgl. Sparsam 2011, 112. 35 Im Rahmen eines methodologischen Individualismus wird im letztgenannten Fall der homo oeconomicus zum Schöpfer von Institutionen. Vgl. Göbel 2002, 35. Siehe auch Richter und Furubotn 2010, 8 und zu Transaktionskosten die Übersicht auf 85 f.

16 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie wird dabei u. a., wie Institutionen entstehen, sich durchsetzen (lassen) – dies ist zentral ein Problem der Glaubwürdigkeit – und von Dauer sind.36 Von den drei Grundtypen von Institutionen, die R. Richter exemplarisch darstellt, ist insbesondere der Markt relevant, weil ‚Markt‘ nun als soziales Ordnungssystem in den Blick kommt, der innerlich die Struktur eines sozialen Netzwerks hat und bei dem unter Transaktionskosten formale und informelle Regeln für langfristige Tauschhandlungen produziert werden. Privatwirtschaftliche Märkte werden so zu einem öffentlichen Netzwerkgut durch kollektives Handeln und in der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik sind institutionelle Arrangements keine Störfaktoren eines vollkommenen Marktes, sondern können gerade einen wohlfahrtssteigernden Einfluss haben, sofern es ein geeignetes Durchsetzungssystem gegen Opportunismus gibt.37 In Abgrenzung zum homo oeconomicus-Konzept kommen damit auch die subjektiven Gesichtspunkte der ökonomischen Entscheidungsfindung in den Fokus, weil nicht mehr von objektiven vollkommenen Informationen bei Interaktionen auf Märkten ausgegangen werden kann. Damit werden mikroökonomisch dann aber eben Sitten, Selbstverpflichtungen, generelle soziale Regelwerke und verinnerlichte Erwartungshaltungen sowie bestimmte Handlungsweisen im Sinne von kognitiven und normativen ethischen Handlungsmustern wichtig, die für den Handlungsspielraum auf Märkten ökonomisch relevant sind.38 Die Neue Institutionenökonomik versteht dies konsequent als Beschränkungen, die in der Situation der Ungewissheit Orientierung schaffen und Transaktionskosten langfristig senken. In der Tradition des ‚Sichtbare-Hand-Ansatzes‘, wie ihn z. B. K. Homann vertritt, geht es dann um die Gestaltung der Institutionen. Weiter zu fragen ist dann aber auch, ob die Behandlung von Institutionen als Restriktionen im religiösen Bereich nicht zu kurz greift. Evangelische Handlungsmodelle argumentieren gerade nicht im Zeichen des ‚Gesetzes‘ und soziologisch spielen zudem die je eigenen ‚Konstruktionen‘ von Märkten eine zentrale Rolle. Wenn soziale Interaktionen im Paradigma des Tausches unter Restriktionen verstanden werden, entstehen immense Plausibilitätsprobleme für evangelische / religiöse Interaktionen, die darauf aus sind, eben nicht ‚Tausch‘ zu sein.

36 Einen Überblick über die Forschungsbereiche und analytischen Methoden gibt: Richter und Furubotn 2010, 41. Auf S. 50 findet sich dort eine Zusammenfassung zu den Grundlagen der Neue Institutionenökonomik. Die zentrale Einsicht einer Welt ‚signifikanter Unsicherheiten‘, besonders in Bezug auf Qualitäten, stammt von Akerlof 1970. Vgl. auch Nelson 2001, 209 f. 37 Vgl. Richter und Furubotn 2010, 343 ff. und 387 f. 38 Praktisch die ‚rules of the game‘. Vgl. Koch 2014a, 104.

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Soziologische Institutionen J. Beckert untersucht aus einer soziologischen Perspektive die situativen Voraussetzungen von ökonomischem Handeln mithilfe des Einbettungsbegriffes und der ‚Ungewissheit‘. Im Konzept des Neo-Institutionalismus sind Institutionen nach J. Beckert (u. a. symbolische) Strukturen zur Reduktion der Kontingenz, die aus der Ungewissheit resultiert.39 Institutionen können Ordnungs- und / oder (symbolische) Orientierungsfunktionen haben: Die erste Funktion regelt Situationen, während die zweite sinnstiftende Orientierung gibt. Im Gegensatz zu den Institutionen der Neuen Institutionenökonomik – bei der es sich um Spielregeln für den (begrenzt) rationalen Akteur handelt – schließt der soziologische Institutionenbegriff auch Überzeugungen und kulturelle Bedingungen als Normen ein. Soziologische Institutionen wirken auf die Präferenzen der Akteure und bieten nicht nur den Handlungsraum für die individuelle Entscheidung. Es handelt sich um intersubjektive Erwartungszusammenhänge (z. B. auch Mythen, Traditionen), die Akteure aufgrund der zentralen Ungewissheit bzw. Kontingenz imaginieren. Diese Ungewissheit bezieht J. Becker auf homogene Güter, sodass die Akteure nur intentional rational handeln können.40 Urteilsinstanzen wirken sich dann nicht nur auf Präferenzen, sondern auch auf die Preisbildung aus. Wert wird aus einem Zusammenhang von Bedürfnis und Bedeutung konstruiert. Die religiöse Dimension – besonders bei kirchlichen Angeboten – wird damit zu einem wichtigen Faktor der Entscheidung für ein religiöses Gut oder für eine z. B. säkulare alternative Option.

2.1.4 K. Homanns Entwurf von Ökonomik Als Gesprächspartner und Standardwerk der Ökonomik soll K. Homanns Einführung in die Ökonomik zugrunde liegen, weil K. Homann an das homo oeconomicus-Modell anschließt und die Neue Institutionenökonomik im Rahmen seiner Interaktionsökonomik nutzt und so eine integrierende Deutung beider Konzepte vorgelegt hat. Der Entwurf verortet sich im neoklassischen Denkschema und reflektiert zudem die Grundlagen der Ökonomik auch ethisch und weitet so den Horizont auf gesellschaftliche Phänomene aus. K. Homann versteht Ökonomie als „allgemeine Theorie der Bedingungen und Folgen menschlicher Interaktionen auf der Grundlage von individuellen Vorteils-/ Nachteils–Kalkulationen“ und dringt auf eine neue gesellschaftstheoretische Relevanz der Ökonomik.41 An dieser Stelle sind die Konzepte der Ökonomik und die grundlegenden Argumenta39 Die symbolischen Strukturen orientieren, können aber auch abgelehnt oder modifiziert werden. Vgl. Sparsam 2011, 247. Funktional handelt es sich bei Institutionen um Organisationsmuster, die sich auf Interessen bzw. Handlungen auswirken. Schwedberg 2008, 73. 40 „Bewertungsstrategien begreift Beckert deshalb ebenfalls als Fiktionen, die den Akteuren Erwartungssicherheit suggerieren.“ Sparsam 2011, 253. Soziale Normen und kognitive Strukturen haben dann eine Kontingenzreduktionsfunktion, um eine profitable Interaktion zu ermöglichen. Vgl. Beckert 2007, 49. 41 Vgl. Homann und Suchanek 2005, IV.

18 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie tionen wichtig, die sich auf den Horizont allgemeiner menschlicher Interaktionen beziehen. Die inhärenten Logiken, Axiome und Glaubensstrukturen sollen folglich im Rekurs auf K. Homanns Entwurf entfaltet werden, weil es sich einerseits um ein repräsentatives Standardwerk der Ökonomik handelt und er andererseits für ein starkes Primat der Ökonomik wirbt, wie sich auch anhand der alternativen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie in der Wirtschaftsethik zeigen wird. K. Homanns Ökonomik bezieht sich auf die Möglichkeiten und Probleme der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Märkte sind in dieser Hinsicht Kooperationsinstrumente, mit denen durch die Verfolgung von Eigeninteressen ein gegenseitiger Vorteil entstehen kann.42 Dafür nutzt K. Homann das homo oeconomicus-Konzept auf der Ebene der Handlungstheorie, bei der sowohl individuelle als auch kollektive Akteure ihren Nutzen unter Bedingungen bzw. Restriktionen maximieren. Das homo oeconomicus-Modell gilt ihm zwar als präempirisches Schema, jedoch schließt K. Homann vom Modell auf die zu gestaltende Wirklichkeit. J. Gerlach identifiziert den Übergang von der Verhaltensauf die Handlungstheorie als kritischen Punkt, an dem ein Kurzschluss vom Modell auf die komplexere Wirklichkeit erfolgt. Damit wird ein ökonomischweltanschaulicher Hintergrund transportiert und bei der Gestaltung von (Dilemma)Situation appliziert.43 Auf der Ebene der Institutionentheorie verweist das Konzept der Neuen Institutionenökonomik auf die Regelsysteme des wechselseitigen Verhaltens. Die wirtschaftsethische Frage, die dahinter steht, lautet: Wie reizt man den homo oeconomicus zu einem bestimmten Verhalten, bei dem nicht nur er einen Vorteil hat, sondern auch sein Interaktionspartner? Damit ist Ökonomik nicht allein deskriptiv, sondern zielt auf die Gestaltung gesellschaftlicher Interaktionen.44 Unter der Überschrift Interaktionsökonomik werden so Neue Institutionenökonomik und Neoklassik verbunden. Eindrücklich ist dabei die Verschiebung des homo oeconomicus-Konzeptes, das nicht als Menschenbild oder Eigenschaften verstanden sein will, sondern als Situation in Interaktionen. K. Homanns Konzept bezieht sich damit auf Dilemmastrukturen, woraus folgt, 42 Marktwirtschaft ist in dieser Deutung praktizierte Solidarität. Vgl. Homann und Suchanek 2005, 16 und 407 f. und Gerlach 2002a, 226. K. Homanns Logik folgt dem Schema: Wettbewerb führt zum Wohlstand und damit zur persönlichen Freiheit, was wiederum eine moralische Qualität hat. 43 Während z. B. G. Kirchgässner einen empirischen Gehalt unterstellt – das Konzept modelliert dann menschliches Verhalten – sieht K. Homann keinen empirischen Gehalt, sondern ein methodisches Konzept, dass sich auf die Reaktionen in Situationen bezieht. Vgl. ebd., 212, 243 und 246 ff. 44 Vgl. Homann und Suchanek 2005, 24 und 349.

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dass „Ökonomik […] keine Verhaltenstheorie, sondern eine Situationstheorie‘ ist.45 Das homo oeconomicus-Modell bildet also keinen Menschen, sondern die grundsätzliche Situation von Interaktionen (Dilemmastrukturen / -situationen) ab. Damit spielen ganz klassisch wie auch bei A. Smith die individuellen Intentionen der Akteure keine Rolle, um Kooperationsgewinne oder Wohlstand zu produzieren. Auf der Ebene der Handlungstheorie handelt es sich damit um eine Apologie des [re]agierenden Nutzenmaximierers. Auf der Ebene der Institutionen gilt dann allerdings, dass die positiven Effekte aus den (Markt)Bedingungen resultieren müssen. Damit bezieht sich Ökonomik auf einen gesellschaftstheoretischen Horizont, weil nicht die individuellen Intentionen, wohl aber die Bedingungen veränderbar sind. Im Anschluss an die Neue Institutionentheorie geht es dann um die ‚Spielregeln‘, die bestimmte Spielzüge vorteilhaft erscheinen lassen. Der Mensch handelt rational aufgrund der Anreize, die so gestaltet werden sollen, dass Wohlstand als Nebenprodukt entsteht. Damit regeln Institutionen Dilemmasituationen, haben diese Anreizfunktion und in ihnen wird die unsichtbare Hand sichtbar.46 Die Interaktionen sollen durch Kooperationsgewinne zu einem Positivsummenspiel werden, wobei der Rahmen (Staat / Recht) für die Institutionen sorgt, sodass individuell vorteilhafte Handlungen nichtintendierte positive Resultate erzeugen. Der Markt wird hier positiv in seiner Dienstfunktion für gesellschaftliche Prozesse dargestellt, indem einerseits Dilemmastrukturen überwunden werden können, andererseits institutionell begrenzte Dilemmastrukturen als Wettbewerb aktiv Wohlstand produzieren. Damit ist Ökonomik in seiner positiv normierenden Dimension dargestellt, zugleich aber ein homo oeconomicus implizit, der nicht nur ein Eigeninteresse hat – das sich auch auf das Gemeinwohl beziehen könnte – sondern der in der ökonomischen Perspektive immer als potentiell opportunistisch Handelnder in den Blick kommt. Opportunismus ist für K. Homann keine Eigenschaft, sondern die Folge von Situationen mit mangelnden Restriktionen bzw. komplexen Anreizen, wobei die Perspektive auf dem Menschen als Opportunisten relativ identisch bleibt. Das Problem der Knappheit transferiert K. Homann auf die soziale Ebene, weil Knappheit ohne soziale Situation kein ökonomisches Thema sei. Damit geht 45 Hervorhebungen im Original. Homann und Suchanek 2005, 370. K. Homann geht von der Ubiquität von Dilemmastrukturen aus. Vgl. ebd., 383. M. Erlei weist darauf hin, dass es sich dabei auch um eine wissenschaftstheoretische Rechtfertigung für das Konzept handelt, neben dem homo oeconomicus als Approximation, als ‚Als-ob-Konstruktion‘ und dem Verständnis als Idealtyp. Vgl. Erlei 2010, 35. 46 Vgl. Homann und Suchanek 2005, 97 und 116 f. Im Anschluss an G. S. Becker funktioniert das grundlegende Schema K. Homanns dennoch zentral über Restriktionen. Vgl. Priddat 2014a, 40.

20 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie es noch nicht um die soziale Konstruktion von Knappheit, aber dass es sich um ein Interaktionsproblem handelt und kein technisches Problem, ist damit ökonomisch im Rahmen der Dilemmastrukturen wahrgenommen. Insgesamt handelt es sich um einen reflektierten und anschlussfähigen Gesamtentwurf, der die häufig kritisierten Standardkonzepte affirmativ nutzt und erklären kann, warum es (ökonomisch) richtig ist, dass sich ökonomisch geschulte Interaktionspartner wie das homo oeconomicus-Modell verhalten. Sie erkennen nach K. Homann Ausbeutungssituationen schneller als z. B. Altruisten und könnten sich durch präventive Gegenausbeutung schützen.47

2.1.5 Marktkonzeptionen Aber gemach! Die Zeit für all dies ist noch nicht reif. Für wenigstens weitere hundert Jahre müssen wir uns selbst und andere darauf verpflichten, daß Betrügen fair ist und Fairneß Betrug, denn Betrug ist nützlich und Fairneß ist es nicht. Gier, Wucher und Sicherheitsstreben müssen noch für ein wenig länger unsere Götter sein. Nur sie können uns aus dem Tunnel der ökonomischen Notwendigkeit hinaus ins Tageslicht führen.48

Mit dem Glauben, dass Marktgleichgewichte Wohlstand produzieren, hat die neoklassische Theorie einen normativen Anspruch, sodass reale Märkte der Theorie angepasst werden müssen, um die ‚Verheißung der Erlösung aus Armut‘ einlösen zu können. Dabei sind es unbewusste Vorstellungen von einem idealen und damit normativen Markt, die normative Ordnungen beeinflussen und bilden. Märkte werden klassisch als Forum äquivalenter (und nicht reziproker) Tauschvorgänge verstanden – im Gegensatz zur Umverteilung oder einer autarken Produktion, die in soziale Ordnungen eingebettet sind.49 Die Option für freie Märkte glaubt, dass die Steigerung der Gesamtproduktivität auch den Armen zugute kommt, sodass Ökonomie nicht primär für die ausgewogene Befriedigung grundlegender Bedürfnisse zu sorgen hat. 47 Vgl. Homann und Suchanek 2005, 399. Damit schützen sich die homines oeconomici effektiv vor langfristig negativen Interaktionen. Einen Zusammenhang mit der Identität stellt Menzies 2008, 95 f. her. 48 J. M. Keynes in der Übersetzung von Brodbeck 1999, 149. 49 Vgl. Herzog und Honneth 2014, 365. L. Herzog stellt eine implizite Normativität, die Verengung der ökonomischen Perspektive und eine mangelnde Grundlagenreflexion der Ökonomie fest. Herzog 2014, 13 und 26 f. sowie Sparsam 2011, 90–95. Unsicherheit am Markt besteht aufgrund der Gefahr von Opportunismus, nicht aufgrund der Informationslage. Zur Transformation des transzendenten Heils in ein geschichtsimmanentes Telos (Wohlstand) durch die moderne Ökonomie vgl. Priddat 2013a, 28 ff.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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Der Beginn der politischen Ökonomie und damit auch die Theorie der Märkte verhandelt primär das Verhältnis von Markt bzw. Eigeninteresse und Tugend, wie es sich an B. Mandevilles Bienenfabel (1705) zeigen lässt. Die Bienenfabel ist ein Spottgedicht, das den Dualismus von Tugend oder Reichtum polemisch verhandelt. Der Mensch ist für B. Mandeville immer ‚Sünder‘ und von Eigeninteressen getrieben, aber aus den private vices entstehen public benefits unter folgender Voraussetzung nach B. Mandeville: Da man auf Luxus jetzt verzichtet, so ist der Handel bald vernichtet. […] Stammt nicht des edlen Weines Saft / von einem garstig dürren Schaft? / Der, wenn man ihn nicht sorgsam pfegt, / Bloß nutzlos wuchert und nichts trägt, / Doch dessen Frucht uns Lust bereitet, / Wenn man ihn bindet und beschneidet, / Genauso uns das Laster nutzt, / Wenn das Gesetz es kappt und stutzt, […] Mit Tugend bloß kommt man nicht weit; / Wer wünscht, daß eine goldne Zeit / Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: / Man mußte damals Eicheln essen.50

J. Hörisch fasst zusammen: „Dass man für den Nä chsten mehr tut, wenn man das gar nicht will, sondern erst einmal nur an sich denkt, ist der skandalö se heiße Kern der Bienenfabel“, wodurch Tugend ökonomisch obsolet geworden ist, sogar verdächtig.51 Das Lob der Laster brachte B. Mandeville zwar die Verballhornung Man-Devil ein, A. Smith jedoch knüpfe sachlich – nun nicht mehr poetisch, sondern im Wissenschaftsduktus – an B. Mandeville an. Seinem ‚Wohlstand der Nationen‘ von 1776 geht die ‚Theorie der ethischen Gefühle‘ (1759) voraus. Das Setting der Ethik ist auch bei A. Smith der Ausgangspunkt der ökonomischen Überlegungen. Er versteht nicht alles menschliche Handeln als Eigennutz, weil es auch die Orientierung am Gemeinwohl geben kann.52 Der Markt aber bringt im Vergleich zum einschränkenden Feudalismus Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit, weil der Austausch auf Märkten freiwillig geschieht und daher nur wenn beide Parteien profitieren. Mit D. Ricardo (*1772–†1843) wird Arbeit zur Ware und die Mathematisierung der Ökonomie beginnt. Märkte können nun als Ausgleich von Angebot und Nachfrage verstanden werden, die Gleichgewichtstheorie wird jedoch erst in der Mitte des 20. Jh. bedeutsam.53 Von hier aus wird in der österreichischen Schule u. a. von F. A. von Hayek der Liberalismus theoretisch ausgeformt. Autonome Märkte, der methodische Individualismus und die Koordination über flexible 50 Vgl. Mandeville 2014, 38 f. 51 Vgl. auch Herzog 2014, 14 und 24. Hörisch 2013a, Zitat J. Hörisch: 43 f. 52 A. Smith identifiziert Eigennutz und Eigeninteresse, unter letzteres fällt z. B. der Missionar als Modell. Auch Marktakteure haben sympathy und Egoisten Mitgefühl nach der ‚Theorie der ethischen Gefühle‘. Vgl. Herzog 2014, 17 f. sowie Smith 2014, 41. 53 Vgl. Herzog 2014, 19.

22 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Preise werden zu zentralen Punkten dieser Ökonomie. Die Preise beinhalten hier bereits Informationen – sie funktionieren als Informationstransmitter und regulieren Wissensprobleme – und Märkte sind (gegen die Sozialismus gewandt) freie Systeme, die eine Gleichheit vor dem Markt beinhalten und zudem eine effiziente Ressourcenallokation gewährleisten können. Die Mission des freies Marktes treibt auch die Vertreter der Chicagoer Schule an, zu denen auch G. S. Beckers Mikroökonomik des menschlichen Verhaltens gehört. Für G. S. Becker wählen Individuen in Knappheit mit stabilen Präferenzen, um ihren [subjektiven, ggfs. nichtmateriellen] Nutzen zu maximieren. Dieser Ökonomieimperialismus deutet das ganze Leben als Markt.54 Märkte werden im ökonomischen Diskurs häufig als ‚natürlich‘ vorausgesetzt und sind kein bedeutender Forschungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaften. Ein Vergleich zu alternativen Koordinationsformen wie Netzwerken oder Hierarchien ist kein Thema der Ökonomie, sondern wird besonders von der Wirtschaftssoziologie in neuerer Zeit erforscht. ‚Markt‘ ist in der Ökonomik die gegebene, spontane Ordnung, die vom homo oeconomicus her ökonomisch unmittelbar evident erscheint.55 Daher kann die Darstellung von ‚ökonomischen Marktkonzepten‘ knapp ausfallen, da die Marktkonzeptionen der Soziologie die bereits dargestellten ökonomischen Konstanten in der Regel kritisch mitführen. Marktordnungen bleiben dabei von Deutungen nicht verschont. Die kritische Frage, die sich an diese Marktvorstellungen – und damit auch an das homo oeconomicus-Modell – anschließt, bezieht sich auf die dehumanisierenden Wirkungen neoliberaler Marktverständnisse. Die Ausdifferenzierung einer ökonomischen Sphäre führt zu einer ethischen Legitimierung von marktförmigem Handeln, wobei der Kapitalismus nach M. Weber gerade nicht intendiert, sondern das Resultat von individuellen religiös orientiertem Handeln war. Ist der implizierte homo oeconomicus dann überhaupt noch zu sozialem Handeln fähig, wenn die ökonomische Deutung bzw. die Vermarktlichung primär wird? K. Polanyi gehört zu den Kritikern des freien Marktes und argumentiert, dass (sozial) entbettete 54 L. Herzog verweist auf die ‚self-fulfilling prophecy‘, die damit einhergeht: Herzog 2014, 25. Für F. A. Hayek ist das Eigeninteresse der maßgebliche Antrieb des Menschen. Ein freier Wettbewerb ist dafür notwendig und Sicherheit auf Kosten der Freiheit keine gute Option. Nur eine minimale Absicherung vor äußerster Not erscheint ihm plausibel, um keine Hindernisse für den Wettbewerb entstehen zu lassen: Hayek 2014, 96. 55 Dabei liegt es nahe, religiöse und säkulare Konsumgüter als Äquivalente auf Freizeitmärkten zu verstehen. Religiöse Güter werden so mit ökonomischen Mustern erklärt, sodass die Anbieter von Religion untereinander in einem Wettbewerb stehen, sich zugleich aber auch gegen säkulare Optionen konkurrieren.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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Märkte nicht mehr sozial kontrolliert seien, wodurch soziale Verbindlichkeiten zerstört werden. Für ihn ist es „kontraintuitiv, marktvermittelten Tausch nicht als eine Form der ‚Reziprozität der Sittlichkeit‘ zu denken“.56 In seinem Hauptwerk ‚The Great Transformation‘ (1944) beschreibt er die Entbettung des Marktes und wirbt für die Rückeinbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft, u. a. weil kulturelle Reziprozitätsnormen existieren, die in der Marktlogik ausgeschaltet werden. Die moderne ökonomische Sphäre ist spezifisch motiviert in ihrer eigenen Logik und damit abgelöst bzw. entbettet von alternativen sozialen oder kulturellen Motiven. In der Logik des römischen Rechts handle es sich um die Differenz von status und contractus: Während Akteursrationalitäten und ihr Verhalten in Gemeinschaften von ihren statūs abhingen, sind Gesellschaften über contractūs – gegenseitige Verpflichtungen – organisiert.57 Während eine status-Gemeinschaft über Reziprozitäten funktioniert, stark in Institutionen eingebettet und abhängig ist und einer eigenen Ökonomie nicht bedarf, ist bei Gesellschaften mit der contractus-Form der Marktaustausch und eine ökonomische Sphäre maßgeblich.

Mit K. Polanyi ist bereits eine wirtschaftssoziologische Perspektive auf das Phänomen Markt angesprochen. Die wirtschaftssoziologischen Forschungen zeichnen sich durch einen alternativen Blickwinkel auf die soziale Institution Markt aus, wobei das homo oeconomicus-Paradigma nicht notwendig vorausgesetzt wird. In diesem Rahmen lässt sich die Kritik – auch aus dem ökonomischen Diskurs – in einem breiteren Horizont darstellen. 2.1.5.1 Soziologische ‚Markt‘-Forschung Soziologische ‚Markt‘-Forschung setzt bei „institutionellen Strukturen, sozialen Netzwerken und Sinnhorizonten an“, durch die Märkte einen Gütertausch gewährleisten können.58 Dabei spielen Ungewissheit – im Gegensatz zu neo56 Das religiöse Fundament wird in der Entwicklung des Kapitalismus nach M. Weber obsolet. Vgl. Aspers 2015, 63 f. und Beckert 2014, 554. Kritik an der orthodoxen Ökonomie argumentiert ökonomisch, gesellschaftstheoretisch oder normativ. Vgl. Honneth 2014, 155, Zitat: 168. 57 So unterscheidet auch M. Weber die Stellung der Ökonomie in der Gesellschaft / Gemeinschaft. Polanyi 2014, 273. Eine moderne Gemeinschaft wäre dann nicht über Ehrbegriffe, sondern als neue Kooperationsweisen zu denken. 58 „Die Kontingenzen des Markttauschs machen Mä rkte zu prekä ren Arenen sozialen Handelns“. ‚Markt‘ ist soziologisch mehr als nur ein Phänomen des Äquivalententausches. Beide Zitate aus: Beckert 2007, 45 f. Nachfolgend wird auf Marktmetaphern Bezug genommen, um die Objektivitätsansprüche von Marktmodellen zu kritisieren. So ist z. B. Nutzenmaximierung eine Metapher aus der agrarischen Ökonomie, weil hier mit beschränkten Ressourcen der Nutzen maximiert wird. Aristokraten hingegen maximieren nicht, sondern sind ‚sie selbst‘. Vgl. McCloskey 2015, 131 und 140.

24 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie klassischen Informationsasymmetrien auf unvollkommenen Märkten – und die Koordinationsprinzipien dieser Märkte eine entscheidende Rolle. Auch der subjektive Wert als Konstruktion und Bedeutungszuschreibung in sozialer Kommunikation eröffnet einen theoretischen Zugang zu Werten außerhalb des Angebotsund Nachfrageparadigmas. Märkte sind mit diesen Prämissen sozial und kulturell erzeugt. Während für Ökonomen Märkte emergente Ordnungen sind, sehen Soziologen die kulturellen Leistungen, auf denen (legitime) Märkte beruhen. Wirtschaftliches Handeln gilt hier als soziales Handeln, wobei der atomistische homo oeconomicus einer „Robinson-Crusoe-Ökonomie“ nicht mit sozialen Dimensionen angereichert werden soll, sondern das Grundparadigma geht von sozialen Interaktionen aus. Ökonomen rechnen mit einer objektiven Realität, die jedoch gerade bei religiöser Kommunikation auf Märkten reflektiert werden muss. Die Koordinationsform ‚Markt‘ als „soziale Struktur für den Austausch von Rechten“ ist zudem nur ein Teilbereich von Wirtschaft:59 Koordinationsformen der Wirtschaft: Hierarchie – Markt – Netzwerk – (Autarkie) Diese Koordinationsformen zeichnen sich durch unterschiedliche Mechanismen aus: Während auf Märkten die Bewertungen, Wahlhandlungen und Konkurrenzen zentrale Elemente der Ordnung sind, ist die Redistribution in einer Hierarchie (z. B. Unternehmen) durch asymmetrische Beziehungsgefüge geprägt und die Ordnung entsteht nicht spontan, sondern aufgrund von Entscheidungen. Netzwerke hingegen haben in Reinform keine zentrale Kontrolle und reziproke Interaktionsbeziehungen. Die Formen reduzieren Komplexität als gesellschaftliches Ordnungssystem zur Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern. Es treten in der Regel hybride Formen wie organisierte Netzwerke auf, und auch auf Märkten lassen sich Netzwerkbeziehungen beobachten. Eine Vermarktlichung verdrängt auch bei hybriden Formen alternative Koordinierungsmechanismen. Die Wirtschaftssoziologie geht hier aber nicht wie Ökonomen von natürlichen, emergenten oder evolutionär bedingten Marktphänomenen aus, sondern erkennt Märkte als Produkte von Theorien. Sie sind damit nicht nur kulturell erzeugt, sondern durch die ökonomische Theorie als Skript geschaffen. Märkte entstehen soziologisch nicht spontan, sondern sind kontinuierlich das Ergebnis von 59 Vgl. Aspers 2015, 24, Zitate: 29 und 19, zur folgenden Übersicht vgl. 33 und 40. Grundlegend für den Austausch von Rechten ist die Anerkennung von Eigentum im Sinne eines Nutzungsrechtes. Die (Il)Legitimität von Märkten zeigt sich unmittelbar bei politischen Entscheidungen und könnte zudem bei religiösen Gütern relevant werden. Es gibt auch illegale aber legitime Schwarzmärkte.

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sozialen Prozessen und Praxisformen.60 Trotzdem gilt auch P. Aspers die Marktkoordination als beste Option, jedoch nicht als perfekte. Darum müsse auch das homo oeconomicus-Konzept durch den homo sociologicus ersetzt werden, und nicht der homo oeconomicus mit sozialen Dimensionen angereichert werden. Als Forschungsbereiche geht es neben der politischen Ökonomie, der Finanzund Geldwirtschaft, um die Performativität von Wirtschaftstheorien und um Qualitätszuschreibungen auf Märkten. Im letztgenannten Bereich werden Güter ohne objektive Standardwert-Relationen untersucht, deren Wert sich zwar aus ästhetischen Kriterien ergibt, dabei aber ungewiss bleibt. Eine grundlegende Ungewissheit in Bezug auf die Qualität und den Wert – besonders, aber nicht nur bei symbolischen Gütern – ist neben dem Wettbewerbs- und dem Koordinationsproblem ein zentraler Bereich der Marktsoziologie. L. Karpik61 ist ein maßgeblicher Denker dieses Bereichs, der auf die Interpretationsleistungen hinweist, die mit einem Austausch von besonderen Gütern in Verbindung stehen.62 Die neueren soziologischen Perspektiven auf Märkte lassen sich als Reaktion auf einen ‚ökonomischen Imperialismus‘ deuten, wobei die Beziehung zwischen Soziologie und Ökonomie von einer kritischen Perspektive dominiert wird, besonders in Bezug auf den neoklassisch postulierten rationalen Akteur. Ausgehend von M. Granovetter identifiziert J. Sparsam dabei als leitende Theoriecluster die Social Network Analysis und den Neo-Institutionalismus in der New Economic Sociology.63 M. Granovetter stellte 1985 durch eine Netzwerktheorie einen alternativen Zugang zur ökonomischen Handlungstheorie in Abgrenzung zur Neuen Institutionenökonomik vor. Dabei zeigte er, dass die soziale Wirklichkeit Auswirkungen auf das konkrete ökonomische Handeln von Akteuren hat und die Normen nicht mit ökonomischen Nützlichkeitserwägungen erklärbar sind. Die Qualitätsunsicherheit wird nach M. Granovetter erst durch die soziale Einbettung überwunden, sodass ein Austausch erfolgen kann. Die ‚Neue Wirtschaftssoziologie‘ – seit den 60 Vgl. Diaz-Bone 2007, 254. P. Aspers spricht von Performativität und bezieht sich weiter auf Berger und Luckmann 1999. Das neoklassische Modellbildung orientiert sich wiederum an der Börse als realem Markt. Vgl. Aspers 2015, 51, 141 f. sowie 154. 61 Vgl. Karpik 2011. 62 Vgl. Beckert und Deutschmann 2009, 11–13. Vgl. auch Beckert 2007, 53. 63 Die ‚Neue Wirtschaftssoziologie‘ baut auf dem Konzept der ‚sozialen Einbettung‘ auf. Vgl. Sparsam 2011, 12. Mit der Social Network Analysis werden Märkte als Netzwerke oder als alternative Koordinationsform verstanden. Einen Überblick über soziologische Netzwerkansätze gibt Diaz-Bone 2010, 623. Beispiele finden sich in: Diaz-Bone 2006. Eine dezidiert alternative Theoriebildung – die sich von der Einbettungstheorie und Netzwerkansätzen abgrenzt – ist P. Bourdieus Verständnis der Wirtschaft als Feld. Vgl. dazu Schwedberg 2008, 79 und 261 ff. und Maurer und Mikl-Horke 2015, 201. Für N. Luhmann hingegen ist Wirtschaft ein Subsystem der Gesellschaft. Vgl. Luhmann 1994, u. a. 92 und 132.

26 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie 1980er Jahren – baut auf dem Konzept der Einbettung auf und versteht Austauschverhältnisse mit ihrer sozialen Bestimmtheit. Es handelt sich damit um eine Mischung von ökonomischen und nicht-ökonomischen Motiven (Status, Sicherheit, Solidarität), die auf Märkten wirksam sind.64 In diesem Horizont muss das Handlungsmodell des homo oeconomicus zumindest eingeschränkt werden, weil (besonders langfristige) Beziehungen eine andere Dimension der Kooperation aufweisen, bei der Gewinnmaximierung nicht per se im Vordergrund steht. Durch diese erweiterte Perspektive der Soziologie lässt sich auch die Ethik auf mehreren Ebenen mit Märkten in Verbindung bringen. J. Beckert unterscheidet eine marktermöglichende, marktbegleitende und marktbegrenzende Sittlichkeit, die jeweils ökonomisch relevant ist. Die marktermöglichende Sittlichkeit bezieht sich auf grundlegende Normen für das Funktionieren von Märkten, wie die soziale Legitimierung der Marktfähigkeit von Gütern oder grundsätzliche Vertrauensstrukturen. Diese grundlegenden Normen lassen sich kaum utilitaristisch herleiten, sind also ökonomisch anormal. Die marktbegleitende Sittlichkeit wirkt auf Präferenzen und zeigt an, dass die Ethik des Akteurs Teil des Marktgeschehens ist. Akteure können Präferenzen für symbolische Qualitäten entwickeln, die nicht stimmig durch Nutzenmaximierung erklärt werden können.65 Die marktbegrenzende Sittlichkeit zeigt sich an dem Verbot von Märkten (z. B. Organhandel), obwohl Angebot und Nachfrage existieren. Hier sind es wiederum Institutionen, die Begrenzungen aufgrund von ethischen Überlegungen durchsetzen. Der Sozialstaat versucht in diesem Kontext normative Standards zu etablieren, um Gerechtigkeit zu ermöglichen und so zwischen Markt und Werten auszugleichen.66 Nach J. Beckert stehen sich hier die Prinzipien von Effizienz und Gerechtigkeit gegenüber, wobei die Ökonomie nur das Effizienzkriterium hat und sich daher ihr Anwendungshorizont nur auf ein begrenztes Gebiet beziehen kann. 2.1.6 Extended Market Theory Märkte bieten in der Regel ein Gleichheitsversprechen, dass die Freiheit zum Handeln beinhaltet. K. H. Brodbeck weist auf den Utopie-Charakter der ökonomischen 64 ‚Ökonomisch‘ und ‚Rational‘ sind in dieser Perspektive sozial konstruierte Kategorien. Vgl. Mikl-Horke 2009, 199 ff. und den grundlegenden Aufsatz: Granovetter 1985. 65 Vgl. Beckert 2014, 552 ff. Zur Marktfähigkeit vgl. das Beispiel der Lebensversicherungen (ebd., 558.), die im Amerika des 19. Jh. keinen Markt hatten, weil man nicht vom Tod eines Menschen profitieren wollte. Erst die Neukodierung als verantwortliche Vorsorge für Hinterbliebene legitimierte den Markt. 66 „Zwischen der auf Wettbewerb beruhenden Effizienzlogik und den Wertorientierungen der Akteure kommt es zu Friktionen“. Vgl. Aspers 2015, 558 ff. und Zitat: 561.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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Marktmetapher hin: Das Marktgleichgewicht ist ein mechanisches Denkmodell, das im Markt eine Maschine sieht. Dieses mechanische Gleichgewicht impliziert eine Handlungsanleitung (als klassisches Dogma), und es handelt sich um eine Utopie, die geglaubt werden muss. Dieses Gleichgewicht ist praktisch nie gegenwärtig und selbst bei mehrheitlich nachteiligen Märkten lautet die Lösung ‚mehr Markt – mehr Globalisierung‘.67 Zur Utopie gehört, dass der homo oeconomicus vollkommene Voraussicht hat und die Neoklassik ein zeitloses Individuum unterstellt: ewig und allwissend. Mit der Mechanik verfehlt Ökonomie ihren Gegenstand, weil es die Möglichkeit einer creative response gibt, sodass Ungewissheit vorherrschen kann.68 K. H. Brodbeck kritisiert die Mechanik als grundlegendes Denkmodell der Ökonomie und plädiert für eine postmechanische Theorie, weil menschliches Handeln kreativ und frei ist. Auch er differenziert wie L. Karpik zwischen Entscheidung und Wahl, erweitert jedoch die Handlungsdimensionen um die Kreativität, mit der Alternativen erschaffen werden können. Mit einer ars iudicandi entscheidet man zwischen Alternativen, mit der ars inveniendi sind Menschen zudem in der Lage, neue Alternativen zu erschaffen. Zentral dafür ist eine kognitive Veränderung der Entscheidungssituation. Es handelt sich um eine NeuInterpretation der Rationalität, wenn man Rationalität als Verständigung über die Ziele vor dem Handeln versteht. Ökonomische Situationen haben eine „kognitive Relativität“ und eine „kommunikative virtuelle Realität“, sodass K. H. Brodbeck den Einbettungsbegriff neu akzentuiert: „Märkte sind kommunikativ und kognitiv eingebettet. Das, was ein ‚Markt‘ ist, wird immer wieder neu interpretiert“, aber nicht unabhängig von gewohnten Strukturen, Ordnungen und Ideologien.69 Rationalität ist dabei ein Modell, bei dem sich empirisch deutliche Anomalien in Form z. B. von Reziprozitäten oder Altruismen feststellen lassen. B. Priddat geht davon aus, dass auch ökonomisches Verhalten kontextbezogen ist und von der Beobachtung des Anderen her variiert.70 Damit ist ökonomisches Verhalten nicht berechenbar, weil es sich in sozialen Kontexten bildet und sich empirisch plurale Akteursrationalitäten aufzeigen lassen. 67 Vgl. Brodbeck 1999, 148. 68 Vgl. ebd., 148. Zur ‚Sinnlosigkeit‘ einer mechanischen Ökonomie vgl. Brodbeck 2002, 353 ff. und den Anhang I: 373. Ein Beispiel der econophysics ist: Preis 2011. 69 Vgl. Brodbeck 2002, 359 f. und Zitate: 357, 359 und 358. K. H. Brodbeck entfaltet K. Marx’ Beispiel: „Dieser Mensch ist z. B. nur König, weil sich andere Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist.“ Diese reflexive Struktur erkennt K. H. Brodbeck auch in ökonomischen Theorien wieder. 70 So beeinflussen auch Affekte rationale Entscheidungen. Vgl. Priddat 2013b, 137.

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So ist beispielsweise regelkonformes Verhalten effektiv, aber nicht immer effizient. Regeln entlasten gerade von einer choice, und shared beliefs bieten vor diesem Hintergrund Erwartungssicherheit. Damit zeigt sich neben dem rational-choice-Verhaltensmodell, die Alternative des rulefollowers.71

Wenn nun plurale Akteursrationalitäten gegen das ökonomische Modell sprechen und im Rahmen einer bounded rationality under constraints routinierte Entscheidungen (Konventionen) getroffen werden, dann ist zu fragen, wie eine coherence of beliefs zustande kommen kann. Praktisch: Wie produziert und kommuniziert man Werte und Normen in sozialen Kontexten, sodass Fairness oder ein reziproker Altruismus Teil eines Marktgeschehens werden können?72 B. Priddat argumentiert, dass Akteure ihre Situationen interpretieren müssen und kohärente Erwartungszusammenhänge und homogene Interpretationen, wie sie die ökonomische Rationalität postuliert, nicht per se existieren.73 Rationalität ist für ihn im Kommunikationssystem begründet, was besonders gegen den methodischen Individualismus der Ökonomie spricht, weil es um den kommunikativen Konsens bei pluralen Interessen geht. Tauschakte sind damit grundsätzlich soziokommunikativ beeinflusst und sozial in eine kulturelle Struktur eingebettet.74 Ökonomie werde erkommuniziert, weil die kommunizierte Weltsicht die Entscheidung mitprägt und nicht allein über den Preis als Signal entschieden wird. Diese Entscheidungen sind frame-related, plural abhängig von unterschiedlichen Interpretationen und damit von sozialen Aushandlungsprozessen.75 Das betrifft selbst die Deutung, ob jeweils eine Marktsituation vorliegt oder nicht: Die unklare Arena muss kommunikativ gedeutet werden. In dieser Hinsicht ist die ökonomische Freiheit auf Märkten asozial, weil sie mit dem homo oeconomicus als apersonalem Konstrukt und Systemoperator die Kommunikation ausklammert. Die subjektive Wahl des homo oeconomicus erscheint kommunikationsresistent. Akteure sind jedoch nicht unabhängig oder isoliert, sondern von Kommunikati71 Vgl. Priddat 2013b, 138 f. und 144. C. Herrmann-Pillath zu rule-followern: „following an institution is performing an institution“. Herrmann-Pillath 2010, 263. Rule-following hat damit auch eine aktive Dimension. 72 Vgl. Priddat 2013b, 142 f. 73 Akteure sollen dem Modell nach wie Ökonomen handeln, werden aber eher von ihren eigenen Interpretationen und Deutungen beeinflusst, auch wenn die ökonomische Situationsdeutung in außermarktlichen Bereichen weiter Raum greift. Vgl. ebd., 144. 74 Vgl. Herrmann-Pillath 2010 und Brodbeck 2002, 359. 75 Die ‚Semantik der Weltbilder‘ ist relevant für Wahlhandlungen. B. Priddats Beispiel sind Vorurteile wie ‚französische Autos sind nur Schrott‘, die Wahlhandlungen beeinflussen, aber kaum auf einer eigenen Abwägung beruhen. Vgl. Priddat 2008, 24 und 29. Märkte gewährleisten dennoch institutionelles Vertrauen. Personales Vertrauen kann – muss aber nicht – hinzukommen.

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onskontexten geleitet. Akteure handeln in dieser „extended market theory“ in einer „linguistic community“ und Güter werden als Kommunikationsereignisse verstanden. Dabei ist zentral, wie bzw. in welchen frames Güter interpretiert werden und dass Präferenzen transformierbar sind.76 Das gilt auch für homogene Güter, die ‚Bedeutung‘ bekommen müssen, um signifikant für Konsumenten zu werden. B. Priddat resümiert: „Kommunikation steuert die Märkte“, weil die Transaktionen erkommuniziert oder ausgehandelt werden müssen und erst final eine Entscheidung fällt. Das Urteil ist – analog zu L. Karpik – durch Beurteilungsinstanzen gebildet.77 Kommunikation hat eine soziale Eigendynamik, die im Zusammenhang mit den Bedingungen von sozialer Ordnung steht. Für die Funktionsweise von Kommunikation müssen die Teilnehmer und deren Spielräume untersucht werden. D. Baecker bringt damit die Selektion von Informationen je nach Kontext in Verbindung. ‚Ordnung‘ wird sequenziell er-kommuniziert, ohne ein statischer Rahmen zu sein: „Kommunikation […] arbeitet an der Bestimmung des Unbestimmten, aber Bestimmbaren, um Bestimmtes verstehen zu können.“ Der Selektionsbegriff deutet hier nicht die Schematisierung und Ordnung der Welt an, sondern „Selektionen […] bringen diese Welt allererst hervor.“78 Damit im Zusammenhang stehen Erwartungen, die akzeptiert und konstruiert werden, um Kommunikation zu ermöglichen: Wenn man eine Kirche betritt, erwartet man, dass der Priester erwartet, dass man sich in gewisser Weise gläubig benimmt, so vielfältig, modifizierbar und zivilisierbar dann auch diese vom Priester erwartete Erwartung ausfallen mag. Der Priester wird zur Projektionsfläche für Erwartungen, was selbiger erwarten könnte.79

In diesem Rahmen werden Institutionen als Konsens über bestimmte Verhaltensweisen und damit ‚sichere‘ Erwartungen verstanden. Im Theorem der doppelten Kontingenz sind jedoch genau diese Erwartungen nicht sicher: Zuweilen ist es nicht sicher, welche Erwartungen vom Gegenüber zu erwarten sind. D. Baecker verweist darauf, dass Situationen nicht mehr allgemein kulturell codiert sind und damit keine sicheren Erwartungen gegeben sind. Ein kultureller Konsens über76 Vgl. Priddat 2008, Zitate: 48 und 32 f. Die Ökonomie bzw. der Wettbewerb selbst hat mit der Werbung eine kommunikative Dimension: Es werden (zuweilen irrationale) Gründe für Produkte und ein bestimmtes Image als Präferenzgenerator kommuniziert. Es handelt sich um die Umkodierung von Präferenzen (ebd., 38). 77 Vgl. ebd., Zitat: 40. Zur Werbung als Präferenzverschiebung durch Kommunikation vgl. auch Priddat 2005, 227. 78 Vgl. Baecker 2013, 8, Zitat: 24 und 23. 79 Vgl. ebd., 90.

30 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie brückt in modernen Gesellschaften den kommunikativen Graben nicht mehr. Das heißt im Regelfall, dass Erwartungen zu testen und gegebenenfalls zu revidieren sind.80 B. Priddat erweitert die ökonomische Theorie um die kommunikative Dimension, weil Akteure so Alternativen generieren können. Ökonomie ist für ihn kein System effizienter Ressourcenallokation, „weil im Prozess dieser Allokation der Raum der Ressourcen erweitert werden kann. Damit sind Ressourcen aber keine physikalischen Knappheiten mehr, sondern kommunikativ änderbar in ihrer Extension“. Kommunikation ist dabei semantisch und interpretativ uneindeutig und kein linearer Informationsaustausch. Es geht nicht um Reiz-Reaktion-Schemata. Eine answer als passende Antwort bzw. Information unterbestimmt ökonomische Kommunikation, die als Anspruch und response einen (u. a. semantischen) Überschuss hat. Hier bilden sich frames und theoriegesteuerte sowie eigene perceptions. In der Folge geht es auf Märkten um „bedeutungsgenerierende Diskurse“, die Wahlhandlungen und das Verhalten beeinflussen.81 Damit spricht man nicht mehr von individuellen rationalen Entscheidungen, bei denen ein shared mental model konsensuell vorausgesetzt wird, sondern man geht von „minimalkollektive[n] Transaktionen“ aus, die eine bestimmte Sozialität kommunikativ generieren. Damit sind Märkte nicht mehr allein Konkurrenzsituationen, sondern zunächst Kooperationsettings, die auf Märkten gesucht und gefunden werden. Moralischer Konsum B. Priddat untersucht im Rahmen von ‚moralischem Konsum‘ die Gründe für einen möglichen Präferenzverzicht. Im homo oeconomicus-Modell sind die Präferenzen gesetzt und kaum hinterfragt, jedoch lassen sich moralisch modifizierte Präferenzen erkennen. Am Beispiel des homogenen Gutes Benzin kann gezeigt werden, dass die Opportunitätskosten für einen Markenwechsel aus moralischen Gründen marginal sind und Konsumenten einerseits darum moralisch Handeln können, andererseits einen Konsumentendruck anstelle von politischem Druck bei moralischen Verfehlungen aufbauen können.82 Gerade bei homogenen (sub80 Ein Standardbeispiel sind zwei Fremde im Zugabteil. Vgl. Baecker 2013, 90–97. Zu den Möglichkeiten einer Soziologie der Emotionen vgl. ebd., 96 ff. 81 B. Priddat fragt hier nach der Modellierung von Akteuren, bei denen ökonomische Alltagstheorien und deren Wahrnehmungen – und eben nicht ökonomisch-rationale Muster – handlungsorientierend sind. Im Rahmen dieser Arbeit steht hingegen zur Disposition, was für eine christlich-ökonomische Wahrnehmung handlungsleitend sein kann. Vgl. Priddat 2005, 220 f. und Zitat: 78. 82 Relevant ist die Kommunikation des moralischen Übels und die geringen Opportunitätskosten. Moral ist traditionell ein marktexternes Argument, verbindet sich aber im Subjekt des Kon-

2.1 Ökonomische Grundlagen

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stituierbaren) Gütern liegt zwar eine gleiche objektive Qualität vor, aber diese wird aufgrund von moralischer Kritik anders interpretiert. Ein als Umweltsünder gebrandmarkter Anbieter hat plötzlich ein Qualitätsproblem, obwohl sich am Gut Benzin nichts geändert hat. Mit den Rationalitätsannahmen des homo oeconomicus-Modells allein ist das kaum zu deuten, hier zeigt sich eine moralische Dimension. Moral wird hier nicht mehr als Restriktion bei der choice verstanden, sondern als content, wodurch eine moralische Intention nicht mehr im ökonomischen Effizienzschema deutbar ist, sondern ob die moralische Intention durchgesetzt werden konnte oder nicht.83 Von der Ethik her können eigene Qualitäten kommuniziert werden, die wiederum die Gültigkeit von Institutionen und shared mental models in Frage stellen kann. Narrative beispielsweise können so einerseits ökonomisch höchst ungewisse Situationen absichern durch geteilte Deutungen, können andererseits die Validität der Institutionen irritieren. B. Priddat geht grundsätzlich von Rationalität aus, die aber bei empirisch konkreten Akteuren dermaßen plural ist, sodass ökonomische Modelle unterkomplex deuten und in ihrer normativen Dimension eine moralische Rationalität ausblenden. Moralen unterliegen, wie andere Aussagesysteme, Rechtfertigbarkeitskriterien. Schwache Rechtfertigbarkeit hält eine moralische Ressource weniger stabil im Handlungsgeschäft als starke Rechtfertigbarkeit. Rechtfertigbarkeit wie auch die kommunikative Resonanz der Rechtfertigung spannen den jeweiligen Geltungsraum der Moral auf, als Selektat aus der Menge verfügbarer Moralressourcen der Akteure. Wir können Moral nicht als Faktum annehmen, wenn die Akteure über diverse Moralen verfügen, die sie unter verschiedenen Umständen für verschieden rechtfertigbar und damit verschieden anwendbar halten. Die Applikation einer Moral steht in einem erweiterten Kontext, der durch die jeweilige Entscheidung und ihren Inhalt, ihren Konsequenz- und Externalitätenraum kodeterminiert wird.84

Moral öffnet damit den Blick für alternative Kooperationsdesigns, und nicht zuletzt sind die Sprachspiele der lingiuistic community bzw. die Semantik der Kommunikation wichtig, weil sich an dieser Stelle moralische Kommunikation vollzieht. B. Priddat votiert für empirische Untersuchen dieser Kommunikation. Aus Richtung der Theologie ist hingegen zu fragen, wie eine christliche Kommunikation in ökonomischen Kontexten gestaltet werden kann. Damit sind alternative sumenten mit dem Markt, und wird zu einen marktinternen Faktor. Vgl. Priddat 1997, 175, 177 und 180 Fn. 5. Vgl. auch zum Thema: Priddat 1998. Für Ökonomen ist Moral eine Restriktion, als Alternative ließe sich von einer Kompetenz und Ressource sprechen. Vgl. Priddat 2005, 172. 83 B. Priddat schlägt als Kriterium eine moral efficiency vor. Vgl. Priddat 2014a, Zitate: 55–56. 84 Die Rede ist von fraktalen Moralen im Plural, die relevant werden können, aber nicht müssen. Vgl. besonders Priddat 2005, 184 ff. und Zitat: 186.

32 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Verhaltensangebote und Handlungsorientierungen aus ‚theologischen Ressourcen‘ auch ökonomisch wichtig, weil ökonomische Situationen für den Christenmenschen von spezifischen Meta-Präferenzen her gesehen werden. Diese müssen selbstredend kommuniziert werden, können dann aber als Referenzpunkt für Argumentationen und Begründungen dienen. Das narrative und imaginative Potential der Bibel und Theologiegeschichte, das sich auch in ökonomischen Metaphern widerspiegelt, wird so auch als gesellschaftliche Ressource relevant und durch (christliche) Kommunikation variabel aktivierbar. Es handelt sich dann um ein Kommunikationsereignis, wenn aus theologischen Gründen alternative Kooperationsmechanismen und Referenzpunkte aktiviert werden, um die Interaktionsqualität in social relations hin zur Kooperation zu erhöhen.85 Meta-Präferenzen B. Priddat führt Meta-Präferenzen ein, von denen her sich Rationalität erklären lässt. Moralische Meta-Präferenzen sind ein bestimmter point of view, eine Weltanschauung von der Identität einer Person her, durch die eine zunächst irrationale Entscheidung rational erklärt werden kann.86 Er versteht Meta-Präferenzen nicht als Restriktionen oder als direktes Bedingungsgefüge für Präferenzordnungen, sondern als „Vermögen, zu eigenen Wünschen Stellung zu nehmen“.87 Metapräferenzen sind dann, als ‚belief systems‘, keine Präferenzen, aber auch keine Restriktionen, da ‚belief systems‘ über (semantische) Gründe bestimmte Handlungsmöglichkeiten erschließen (indem sie andere ausschließen). Sie sind Prospektoren, die bestimmte Weltausschnitte (bzw. Präferenzausschnitte ‚naturalisieren‘. Innerhalb jeweiliger ‚belief systems‘ gelten deren Präferenzordnungen als ‚wahr‘, innerhalb anderer andere.88

Damit scheint einerseits eine Korrekturinstanz gegeben zu sein, andererseits bestimmen diese so verstandenen Meta-Präferenzen die Interpretation der Welt und schließen alternative Handlungsorientierungen ein oder aus. Es handelt sich bei den Meta-Präferenzen um belief systems und erweitert um Gründe und Rechtfertigungen für Handlungen, die wiederum allerdings nicht als Präferenzen zweiter Ordnung zu verstehen sind, sondern als aktivierbare Ressource. So ist Moral eine 85 Moral muss in ihrer eigenen Qualität kommuniziert werden, nicht im ökonomischen Sprachspiel als Restriktion. Es handelt sich um die „fluide Aktualisierung unserer ‚moral resources‘, die effektive aber temporäre Kooperationsformen generieren.“ Moral wird zur kritischen Instanz, nicht zur Regel! Vgl. Priddat 2005, 196 f. und Zitat: 199. 86 Der Begriff ‚Meta-Präferenzen‘ stammt von A. Sen. Vgl. Priddat 1997, 180 f. und Sen 1993, 501. J. Beckert sieht die Theorie der Metapräferenzen kritisch: vgl. Beckert 2014, 557 Fn. 33. 87 Zitiert wird M. Schefczyk: Personen und Präferenzen (1999) in Priddat 2005, 181. 88 Zitat im Original kursiv. Vgl. ebd., 189 f.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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solche Ressource, die in einer ökonomischen Situation aktiviert und kommuniziert werden kann. Dafür muss ‚Moral‘ einen content haben und für die jeweilige ökonomische Situationen relevant sein. Die naheliegende Frage ist dann, ob die Theologie relevanten content bzw. Ressourcen für ökonomische Situationen bereitstellt, die als legitime und valide Gründe kommuniziert werden können. Damit kommt in die Akteursrationalität eine reflexive Instanz, die über das belief system eine Idee von einem gelingenden Leben ins ökonomische Spiel einbringt. In dieser Perspektive sind Präferenzen variabel und die kommunikative Änderung von belief systems hat entsprechende Auswirkungen auf die ökonomische Situation. Gleichermaßen ist es jedoch auch wichtig, in welches belief system eine Entscheidung / Wahl gestellt wird. In der Extension der Ökonomie zeigt dann das Referenzsystem an, welches das bessere Ergebnis ist und Effizienz kann nicht mehr das alleinige Kriterium der Ökonomie sein. Im Rahmen von Identitätsbilanzen führt B. Priddat weiter aus, warum nur unter bestimmten (medial forcierten) Umständen moralisch gehandelt wird. Die Meta-Präferenzen werden nicht permanent umgesetzt. Menschen haben ein moralisches Urteil, die moralische Wahl hingegen bezieht auch andere Faktoren in die Entscheidung mit ein. Daher sind Meta-Präferenzen kein umfassendes Erklärungsmodell, sondern die Identitätsbilanz muss ausgeglichen sein. Die Entscheidung erfolgt demnach je nachdem, ob die Erhaltung der Identität (z. B. als ökologisch bewusst lebender Mensch) gesichert ist oder ob ein moralischer Konsum zum Identitätserhalt notwendig ist. Eine bestimmte Identität und deren Erhaltung wird hier als vorteilhaft angesehen, wodurch ökonomische Logiken in die Identitätskonstruktionen transferiert werden. Auch soziologisch wird mit dem Konzept der Identitäten gearbeitet: „Identitä ten sind wesentlich relational, und ihre Konstitution ist ein sozialer Prozess, was heißen soll, dass Identitä ten sich nicht selbst kontrollieren kö nnen.“89 Soziologisch geht es dann um die Bewahrung oder Veränderung von Identitäten u. a. durch Narrationen oder soziale Konstrukte in bestimmten Situationen. Damit gehen plurale, kontextabhängige Identitäten einher. Wichtig an diesem Ansatz ist besonders, dass Meta-Präferenzen in einer gewissen Analogie zu mentalen Modellen Auswirkungen auf das ökonomische Handeln haben. A. Sen versteht sie jedoch als Verpflichtung (commitment), bei der Akteure aufgrund einer Bindung (z. B. ein Versprechen) gegen den eigenen Vorteil handeln. Die ökonomisch stabilen Präferenzen öffnen sich so auch für religiöse 89 Vgl. Aspers 2015, 80 und folgendes Zitat: 82. „Identitä t bedeutet Kohä renz im Zeitablauf, und alle Kalküle und alle Handlungen einer einzelnen Person auf einem Markt müssen im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Erzä hlung gesehen werden.“ Zu Metapräferenzen vgl. Herzog und Honneth 2014, 367 f. und Sen 2014.

34 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Meta-Präferenzen, die Handlungen auf Märkten kanalisieren, deuten oder determinieren können. M. Erlei stellt folgende Wirkungskette von Religion auf Ökonomie dar: Religion – Identität – Präferenzen – Verhalten.90 An der Stelle der Identität werden mentale Modelle relevant, die auf Präferenzen wirken und damit auch ökonomische Handlungen kanalisieren. Damit ergeben sich wichtige Hinweise, dass der homo oeconomicus auch als Modell ohne seinen Kontext kaum sinnvoll anwendbar ist. An der Schaltstelle der mentalen Modelle und der commercial linguistic communities hingegen scheint die Wirkung auf ökonomische Märkte möglich und greifbar zu sein. Mit Meta-Präferenzen werden plurale Handlungsmöglichkeiten nicht mehr von den Restriktionen her erklärt, sondern am Subjekt selbst. Damit sind nicht mehr Präferenzhierarchien, sondern eine Theorie der Personalität in der Ökonomie wichtig. B. Priddat bringt das Konzept der Meta-Präferenzen in Verbindung mit belief systems als „prospects“, durch die Situationen und Präferenzen gedeutet und legitimiert werden. Das bedeutet, dass der Ausgang einer Entscheidung abhängig vom belief system ist, und die gleiche Situation in einem anderen belief system anders entschieden werden könnte. Diese belief systems sind „changeable through communication“ und funktionieren nicht im Sinne von Restriktionen, sondern einer bestimmten Perspektive auf eine Situation: If you understand fairy tales as stories from the time when ‚wishing still helped‘, then we are entering the post-fairy tale-epoch in economics in which ‚believing‘ is given a starring role – ‚after the linguistic turn‘.91

Wenn aber die Meta-Präferenzen, belief systems oder shared mental models durch kommunizierte Interpretationen veränderbar sind, werden ökonomische Akteure in ihrer Komplexität und ihrem Kontext wahrgenommen. B. Priddat differenziert zwischen einer ökonomischen (Fach)Sprache (E) und der alltäglichen ökonomischen Sprache von Nicht-Ökonomen (D). Ökonomen nehmen dabei an, dass das ökonomische Modell als „common belief “ gilt, dabei handeln Akteure aufgrund verschiedener Rationalitäten. In Sprache der Ökonomik wäre die Vorordnung von Gerechtigkeit vor Effizienz zunächst nicht rational, für konkrete Akteure kann es das aber auch mit einem in Kauf genommenen Verlust sein. In Bezug auf Kommunikation ist dann die These, dass der Sprachraum den

90 Vgl. Erlei 2007, 333. Für M. Erlei scheint der Sinn der Religion identisch mit dem Nutzen. Der Sinn eines Nagels ist sein Nutzen. Der Sinn der Religion ist die Produktion von Sinn, so legt es sein Beispiel nahe (ebd., 320 ff.). 91 Vgl. Priddat 2014a, 47, Zitate: 53, 55 und 98.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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Handlungsraum determiniert.92 Die ökonomischen Theorien wären dann nur korrekt, wenn der Akteur ein reines ‚ökonomisch (E)‘ spricht, was real selten der Fall ist. Daher muss nach B. Priddat die tatsächliche Kommunikation untersucht werden. Dann kann man aber auch fragen, was und wie kommuniziert werden soll. Hier kann eine religiöse Performativität ihrem Selbstverständnis nach Gutes bewirken, besonders wenn in der Sprache valide „social truths“ transportiert werden, die Individuen übernehmen.93

Das was Akteure glauben, hoffen und wünschen, wird nun ökonomisch wichtig, weil Meta-Präferenzen kommunikativ offen sind und auch Moral als (nicht normative) Ressource und Inhalt relevant wird. Damit sind Institutionen einerseits eine ökonomische Infrastruktur, die D. North als shared beliefs bzw. mentale Modelle bezeichnet, andererseits wird die konkrete ökonomische Situationsdeutung – und damit die Orientierung durch Kommunikation – nicht nur als Restriktionen generiert. Kommunikation wird so zu einem zentralen Faktor der Ökonomie, weil erst durch z. B. mentale Modelle oder kommunikativen Konsens in Netzwerken Transaktionen legitimiert werden können. A. v. Aaken weist auf Deliberation als gesellschaftlichen Koordinationsmechanismus hin und verbindet die Neue Institutionenökonomik mit der Diskursethik. Deliberative Theorien untersuchen die Transformation von Präferenzen durch Argumente. Damit stehen Präferenzen zur Disposition und müssen legitimiert werden. A. v. Aaken geht von einem homo communicans aus, der jedoch mit dem homo oeconomicus als homo rationalis communicans kompatibel sei, weil er grundsätzlich rational sei. Sie geht davon aus, dass die Ökonomik deskriptiv ist und die Modelle valide Prognosen erlauben. Diskurstheorien hingegen versucht sie als komplementäre normative Gesellschaftstheorie zu etablieren.94 Hieran zeigt sich ein alternativer Weg Kommunikation und Ökonomie zu verbinden, wobei jedoch das was (normativ) sein soll, kaum bestimmt ist. Ev.-lutherisch käme es hier wiederum auf den content der Kommunikation an, praktisch eine Transformation der Präferenzen ‚im Geiste Christi‘. Die sich anschließende Frage, wie die Situationsdeutung und die entsprechenden Argumente die Entscheidung oder Wahl beeinflussen, wird in der Ökonomie als Anomalie behandelt. Diese Anomalie des kommunizierenden und deutenden Akteurs, der zugänglich für Argumente und Narrationen ist, scheint der Normalfall zu sein, wenn man die Komplexität von ökonomisch / religiösen Akteure wahrnimmt.

D. McCloskey weist auf die Bedeutung von Metaphern für die Ökonomie hin, die als Konzepte / Strukturen Auswirkungen auf Situationsdeutungen haben. Sprache ist damit kein neutrales Mittel, sondern substantiell an der Handlungsori92 „The language E generates conceptual schemes which construct an ‘economic world view’.“ Aber auch E hat einen Dialekt je nach theoretischem Hintergrund. Vgl. Priddat 2014a, Zitate: 103 und 104. 93 Dieser deutende Akteur urteilt, er entscheidet kaum noch, und Urteile sind diskutabel. Vgl. ebd., 117, Zitat: 120. 94 Vgl. Aaken 2002, 212 Fn. 4, 226, 233 f. und 246.

36 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie entierung beteiligt. Das switching von einem Sprachregister in ein anderes kann dabei (de)legitimieren und alternative Handlungsorientierungen befördern. So können selbst die ökonomischen Modelle als Metaphern bezeichnet werden, die wie auch andere Metaphern ‚selbstverständlich‘ und damit unhinterfragt werden.95 Ebenso ist ‚Markt‘ eine mechanische Metapher und das homo oeconomicus-Modell die Metapher der kalkulierenden Maschine, die rational entscheidet. Märkte können aber ebenso in der Struktur von Kriegs- oder Sportmetaphern oder als Konversation kommuniziert werden. Narrationen werden auch in der Wirtschaft als „sinnstiftende Rahmungen“ eingesetzt, um Situationsinterpretationen zu beeinflussen und damit zu Handlungen anzuleiten. Aber auch auf der Nachfrageseite gelten ihr die verschiedenartigen Kommunikationen als „Eingeweide des Kapitalismus“:96 Wenn Konsumentscheidungen kommunikativ generierte Akte im Netzwerkkontext sind, dann ist die Entscheidung, die eine Person für einen Kaufakt bzw. für eine Transaktion trifft, keine individuelle Entscheidung. Zumindest schließt sich der individuelle Konsument der Bedeutung an, die ein Anbieter seinem Produkt via advertizing gab, und wie sie von seinem sozialen Netzwerk kokommuniziert wurde. […] Auch unabhängig von den unmittelbaren Netzwerkkommunikationen sind die individuellen Konsumakteure in die Netze der Sprachspiele inkludiert, die ihnen belief systems und Überzeugungen liefern.97

Für die Kommunikation in der Ökonomie spielen Netzwerke eine zentrale Rolle, besonders die von B. Priddat entworfenen ‚retro-nets‘ sind als lokale, informelle Netzwerke mit moralischen Diskursen zu verstehen, die netzwerkspezifische Sprachspiele bzw. Optionen und Grenzen sowie Geltungen von Handlungen produzieren. Netzwerke sind dabei das Medium der moralischen Kommunikation und Moral wird zur einer Urteilskompetenz – und keinem Appell – die nicht nach Preis / Leitung entscheidet, sondern nach gut / schlecht. Diese Differenzierung hat eine soziale Komponente, weil mit ihr das (temporäre) „social design der Gesellschaft“ verhandelt wird. Moral ist dabei nicht unbedingt normativ notwendig, sondern kann als „social selector“ fungieren, indem sie auf NichtKooperationen (schlecht) hinweist.98 Modern an diesen Netzwerken ist die Verbindung von sozialer Bindung und gleichzeitiger Beweglichkeit: Im Netzwerk ist, 95 D. McCloskey verweist auf ‚Kinder als langlebige Konsumgüter‘: Bei der ersten Verwendung war es ein „poetischer Moment“, danach nur noch eine tote Metapher. Vgl. McCloskey 2015, 131, 134, Zitat: 135. Zur These „Style is substance“ vgl. McCloskey 1998, Zitat: 188. 96 Vgl. Mützel 2015, 270 f. und McCloskey 2015, 141. 97 Advertising ist die Konstruktion eines Kontextes und des symbolischen Mehrwertes von Gütern. Vgl. Priddat 2005, 232 und Zitat: 233. 98 Vgl. ebd., 233 ff. und Zitate: 236. Netzwerke haben kritisches Potential und sind gerade darum vertrauenswürdig.

2.1 Ökonomische Grundlagen

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wer aktiv in der ‚semantischen Arena‘ mitspricht – die Enden der Netzwerke hingegen sind lose. Sie bieten Orientierung nicht als Zeit und Raum transzendierende Moral, sondern als aktuelle Geltungs-Supervision. Damit gibt es jedoch keinen Referenzpunkt, von dem aus die (kritische) Kommunikation bestimmt wird. Nach B. Priddat vertraut man dem Netzwerk nicht persönlich oder aufgrund des contents der Kommunikation, sondern weil es „Defekteure ausselegiert“. In dieser Kommunikationsarena komme es auf die Performance an, denn nicht zu kommunizieren bedeutet den Tod im Netzwerk.99 Eine kommunikative Governance von Märkten die eine moralische Dimension befördern will, muss daher eine inhaltliche Einspielung / Aktualisierung als kommunikatives Ereignis in einem lokalen und temporären Konsens strukturieren und nicht Geltung und Normativität voraussetzen. Bedeutungen und Sinn haben damit auf Märkten eine neue Funktion, bei der sie im sozialen Kontext handlungsleitend orientieren. Shared meanings zeigen die Verständigung über die Bedeutung und den Wert an, deren Geltung an den belief structures bzw. den Weltordnungen und Bedeutungsstrukturen hängt: „Wir schalten von ontologischem Naturalismus auf pragmatischen Kommunikationsrealismus um“, bei der nicht eine bounded rationality, sondern eine bounded epistemology – unvollständige, formbare Weltprospekte – zum ökonomischen Ausgangspunkt wird.100 In diesem Setting werden gesellschaftliche Diskurse u. a. aus Kultur, Gesellschaft und Politik wichtig, weil die (Be)Deutungen der Akteure auch von anderen sozialen Systemen / Feldern beeinflusst werden. Das führt zu der Frage, was ein evangelisch-lutherischer Beitrag zur ökonomischen Kommunikation sein kann und wie in der Theologie anschlussfähige Impulse für ökonomische frames konstruiert werden können. Wenn Werbung als kommunikative Technik eine „präferenzwandelnde Interaktion“ ist, ist zu fragen, ob nicht auch z. B. Predigt ökonomische Settings umdeuten kann.101 Der Inhalt wäre dann orientiert an den Konstanten einer religiösen Ökonomie. In dieser ökonomischen Perspektive haben Güter regelmäßig einen symbolischen Mehrwert, sind also gerade nicht homogen in ihrer spezifischen Kommunikationssituation, weil spezifische shared beliefs generiert werden. Damit sind Narrationen, evozierte Affekte und Imagina99 Vgl. Priddat 2005, 240. 100 Vgl. Priddat 2008, Zitate: 40 und 44. 101 Vgl. Priddat 2013b, 149 und folgendes Zitat: 152. Es geht dann nicht mehr um Gleichgewichte oder win-win-Situationen, sondern die kommunikative Erschließung dessen, was als Handlungsziel präferiert werden kann. B. Priddat beschreibt einen „homo eligens“, dessen Kreativität nach K. Ottomeyer jedoch deutliche Grenzen gesetzt sind, weil die ökonomische Katastrophe – handelt man gegen das homo oeconomicus-Modell – andere Handlungsalternativen abstraft. Vgl. Ottomeyer 2014, 230.

38 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie tionen wirkmächtig und die Wahl kann kaum noch als rational im Sinne einer Abwägung von Kosten und Nutzen beschrieben werden. Märkte sind dann kommunikative Arenen, in denen die Logik und Rechtfertigung von Transaktionen verhandelt wird. Dafür ist die Verbindung von Theologie und Ökonomie relevant.

2.2 Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie bzw. Religion kann einerseits in der Richtung untersucht werden, dass Ökonomie die Religion beeinflusst. Dann wäre z. B. eine protestantische Ethik die Folge von wirtschaftlichen Anforderungen. Der Einfluss von wirtschaftlichen Gesichtspunkten und Einsichten auf ‚Kirche‘ wird im Folgenden exemplarisch unter dem Stichwort ‚Ökonomie als Methode in der Kirche‘ bearbeitet. Die Gegenrichtung – Religion / Theologie beeinflusst Ökonomie – kann in drei Thesen unterteilt werden: – Unterstützungsthese (analog zu M. Weber, unterstützt Religion die ökonomische Entwicklung) – Hindernisthese (Religion wird hier als Störfaktor der Ökonomie perspektiviert) – Neutralitätsthese (kulturelle Phänomene werden durch den Wettbewerb zurückgedrängt). Religion bzw. religiöse Normen werden hier nach ihrer (Dys)Funktionalität und Neutralität bewertet. Beide Bereiche lassen sich jedoch abseits von Funktionalisierungen als interdependente Systeme mit gegenseitigen Abhängigkeiten beschreiben.102 Im Folgenden werden grundlegende Perspektiven und Konstellationen beider Bereiche aufeinander nachgezeichnet, sodass Interdependenzen und Zusammenhänge sichtbar werden. Eine Integration und vermittelnde Synopse von Theologie und Ökonomie bedarf eines differenzierten Fundamentes aus beiden Bereichen. Auffällig an den drei oben genannten Thesen ist, dass die aktive bzw. gezielte Wirkung von Religion auf ökonomische Modelle und Verhältnisse kaum in den Blick kommt. Hier sind entsprechende Möglichkeitsbedingungen auszuloten.

102 Grundlegende Verhältnisbestimmungen bietet Kubon-Gilke 2007, 13 ff. Zur religionswissenschaftlichen Perspektive vgl. Koch 2007.

2.2 Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie

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2.2.1 Wirtschaftsethische Verhältnisbestimmungen Eine Abgrenzung zur Wirtschaftsethik ist bei diesem Forschungsprogramm geboten, da einerseits in den frühen ökonomischen Schriften ethische Implikationen zu beobachten sind, andererseits jedoch nicht primär im Rahmen von praktischen Handlungsoptionen die Fragestellung bearbeitet wird, sondern auf der Ebene der Konsequenzen des theologischen Denkens für ökonomische Modelle und Axiome.103 Evangelische Wirtschaftsethiken bieten theologische Gestaltungspunkte und können die Selbstzwecklichkeit der Ökonomie problematisieren und mit ethischen Argumenten für eine Lebens- bzw. Gemeinwohldienlichkeit plädieren.104 Man kann nach deskriptiven und normativen Ethiken unterscheiden, die einerseits den religiösen Einfluss auf die Wirtschaft beschreiben (so z. B. M. Weber) und andererseits nach alternativen Konzepten suchen. Zur Disposition steht dabei die ethische Beeinflussung des ökonomischen Feldes oder Subsystems.105 Wird ein solcher Einfluss aufgrund der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie abgewiesen, spricht man von einem ‚Ökonomismus‘, bei dem der Glaube an die ökonomische Realität – immun gegenüber sozialen und empirischen Einsichten – auch Reflexion über den eigenen Gegenstandsbereich verhindert.106 Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie lässt sich von der Weltsicht über die Makroebene der Ordnungspolitik und der Mesoebene der Organisationen bis hin zur Mikroebene des individuellen Verhaltens skalieren.107 Durchgängig wird in theologisch bestimmten Wirtschaftsethiken auf die dienende Funktion der Wirtschaft verwiesen, aber auch auf den anti-ökonomischen Kern des christlichen Glaubens. In der Vermittlung bezieht sich die Wirtschaftsethik auf konkrete Fragen und plädiert 103 Nach A. Rich lassen sich aus „‚biblisch-theologischen Prinzipien‘ […] keine operationalisierbaren Normen deduzieren.“ Wirtschaftsethik ist dabei nur interdisziplinär im engen Bezug auf ökonomische Realitäten zu betreiben. Vgl. Gerlach 2002a, 22. Eine Beispiel gegen interdisziplinäre Ansätze wäre Duchrow 1986, der in einem radikalen wirtschaftsethischen Entwurf Widerstand und alternative Paradigmen fordert. Vgl. auch Duchrow 1993 und zur Systematisierung: Herrmann 2005, 156–160. 104 Vgl. Jähnichen 2015, 335. Eine Systematisierung der uneinheitlichen Ansätze findet sich in Herrmann 2005. Auch die Ausgangs- und Zielfragestellungen unterscheiden sich je nach wirtschaftsethischem Entwurf. ebd., 21. 105 Je nachdem ob man nach N. Luhmanns Tradition der Systemtheorie oder P. Bourdieus Feldtheorie argumentiert. 106 Vgl. Jähnichen 2008, 50 f. Ökonomismus kann soziotechnisch erscheinen, bei dem es auf den optimalen Prozess ankommt, oder sozial-evolutionär, bei dem sich sich die beste Koordination evolutionär durchsetzt. Zur Begriffsklärung vgl. Dietz 2010, 54 ff. 107 Vgl. Jähnichen 2015, 346. Zur Mesoebene bzw. Unternehmensethiken vgl. Küpper 2011.

40 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie hier häufig für die soziale Marktwirtschaft, wodurch ethische Korrekturen in die Marktwirtschaft eingebracht werden können. Verhältnisse von Ethik und Ökonomie können funktionalistisch, korrektiv oder als synthetisierende Vermittlung verstanden werden. Folgende Verhältnisbestimmungen haben sich in der wirtschaftsethischen Literatur durchgesetzt: Nebeneinander Ethik und Ökonomie stehen unverbunden und deutlich dualistisch nebeneinander; Primat der Ethik Ethik versteht sich als Leitdisziplin, verbleibt jedoch häufig im Appellativen; Primat der Ökonomik Die Ökonomie schließt nicht systemkonforme ethische Einsprüche aus; Durchdringung Eine synthetisierende Vermischung beider Bereiche bleibt in der Regel eklektisch.108 Als grundlegende Differenz stehen kategoriale und empirische Gewissheiten zur Disposition: „Kategoriale Leitbegriffe sind [u. a. …] Interaktion, Tausch, Gut, Knappheit“, die empirische Sachverhalte einerseits verständlich machen und andererseits durch das Wirklichkeitsverständnis geprägt werden.109 Ethiker argumentieren in der Regel von den Kategorien auf das konkrete Verhalten hin, während Ökonomen von Modellen mit einer gewissen empirischen Wahrscheinlichkeit her denken. Der Ausgangspunkt der wirtschaftsethischen Überlegungen kann daher der Ethik oder der Ökonomie das Primat zusprechen. Das Primat der Ethik zeigt sich in der Korrekturfunktion und der kritischen Begrenzung der Ökonomie durch ethische Appelle. Konfrontative Wirtschaftsethiken lehnen die Marktwirtschaft generell ab und produzieren eine Dualismus von theologischen und ökonomischen Logiken. In der Individualethik angesiedelt, sollen Akteure sich mit der normativen Ethik gegen die ökonomische Eigengesetzlichkeit verhalten, auf diese Weise soll eine interne Moralisierung des Marktes durch die Handlungssubjekte erfolgen. Ein Primat der Ökonomie hingegen wird in der funktionalistischen Indienstnahme der Ethik deutlich. Ein zentraler Vertreter ist K. Homann, der die in der Wirtschaft angelegte Moral untersucht und Ökonomik als Fortsetzung der Ethik versteht.110 Damit ist K. Homanns Konzeption auch als wirtschaftsethische Position relevant, die die ökonomischen Grundlagen als Ethik weiter denkt. 108 Vgl. Segbers 1999, 55–69 und den Verhältnisbestimmungen: 63. Vgl. auch Homann 1995, 179 f., Gerlach 2002a, 273 f. sowie Herrmann 2005, 190. 109 Vgl. Gerlach 2002b, 206. 110 Vgl. Jähnichen 2015, 340 ff. Vgl. auch Jähnichen 2008, 106, zu K. Homann vgl. 83. Kritisch auch Segbers 1999, 64.

2.2 Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie

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2.2.1.1 K. Homanns ökonomische Ethik Nach K. Homann muss Ethik in Vorteilen begründet sein, wobei er an G. S. Beckers offenen Vorteilsbegriff anknüpft und auf die Notwendigkeit der institutionellen Gestaltung von Anreizen verweist.111 Dementsprechend handeln Menschen gemäß ihrer Vorteilserwartung bzw. aufgrund von Anreizen und aus diesem Grund werden der Ökonomik zentrale Bereich der Sozialethik geöffnet, wie z. B. Gerechtigkeit, Liebe, Recht etc. Eine Moral, die innerhalb dieses ökonomischen Systems unvorteilhaft ist, kann sich in der Folge nicht bewähren, so die These K. Homanns, sodass es auf die ökonomische Fundierung der Ethik ankomme. Der Mensch ist jedoch kein permanenter Nutzenmaximierer, die „Akteure agieren nicht als homines oeconomici, aber sie reagieren als homines oeconomici auf das Verhalten anderer, das sie in Nachteil bringt.“ Bereits die Erwartung eines Nachteils reicht zur Reaktion aus, darum lassen nur „sanktionsbewehrte Regeln […] Moral zum Zuge kommen.“112 Damit ist Ethik nicht beim individuellen Akteur anzusetzen, sondern bei den Situationen, auf die er reagiert. Kulturübergreifende moralische Normen lassen sich so über eine Vorteilsbegründung herstellen und plausibel machen. Handlungs- und Bedingungsethik müssen konsistent sein, sodass über die Bedingungen die jeweilig erwünschten Handlungen erreicht werden können. Dieses Modell gilt ihm einerseits als Heuristik für die Empirie, die immer wieder Anomalien findet, andererseits hat dieses Konzept aufgrund der Anreize und Restriktionen normative Implikationen. Ökonomik ist demnach ‚Ethik mit besseren Mitteln‘, weil sie für die Normetablierung und Befolgung sorgen kann. Die Aufgabe der Theologie besteht in der Anpassung an die „Gesetzmäßigkeiten dieser Welt“, weil sie andernfalls ihre Problemlösungskompetenz und ihre „licence to operate“ verliert. Weiterhin produziert die Theologie Normen, die von der Ökonomik auf ihre Implementationsfähigkeit über Anreizstrukturen geprüft werden. Das zentrale Kriterium ist dabei die Kompatibilität mit der ökonomischen Systemlogik – die Geltung der Normen hängt von der „anreizkompatiblen Implementierbarkeit“ ab.113 Es handelt sich insgesamt um eine normative Institutionenökonomik, die Dualismen von Ethik und Ökonomik unter dem Primat der Ökonomie verhindert. Als Konsequenz dieses Ansatzes erscheinen Sätze wie „Wettbewerb ist solidarischer als teilen“, weil die Funktion, die diese Ethik erbringt, ein ethisch positives 111 Vgl. Homann 2002, 259. 112 Das Gewissen ist dann eine innere Sanktion. Homann 1994, Zitate: 397 und 401. 113 Vgl. Homann, Enste und Koppel 2009, 76–79, Zitate: 76 und 77. Zitat: Homann 2002, 244, siehe auch 257. Pädagogisch zu einem moralisch ‚besseren‘ Menschen zu kommen, erklärt K. Homann für gescheitert. Diese Ethiken bleiben für ihn idealistisch.

42 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Resultat zeigt und das Postulat der guten Markteffekte gilt nun aufgrund von anreizregelnden Institutionen unumschränkt,114 nicht mehr aufgrund der Eigenlogik des Marktgeschehens. K. Homanns instruktives Beispiel ist St. Martin: „In kalter Winternacht trifft er auf einen frierenden Bettler, nimmt sein Schwert, zerteilt seinen Mantel und gibt die eine Hä lfte dem Bettler. So die Legende, die Kindern als leuchtendes Vorbild für Mitmenschlichkeit erzä hlt wird. Jetzt die ö konomisch inspirierte Fortsetzung: Vermutlich haben dann beide gefroren, weil der Heilige Martin den Mangel nur gleich verteilt, nicht aber beseitigt hatte. Unter Bedingungen der modernen Marktwirtschaft hä tte er eine Mantelfabrik gebaut, dem Bettler und anderen Bettlern Arbeit gegeben, damit diese sich die Mä ntel selbst kaufen kö nnten. Und er hä tte dabei sogar selbst noch Gewinn erzielt – aber dann wä re er gewiss nicht heilig gesprochen worden! Wer Gewinn macht, kann kein moralisches Vorbild sein, selbst dann nicht, wenn er – um mit der Bibel zu sprechen – die Hungernden speist und die Nackten bekleidet.“115

Es geht damit zentral um die Realisierung von Ethik im ökonomischen Rahmen, weil die (gestaltete) Wettbewerbssituation aus der Systemlogik heraus Allgemeinwohl fördert, ohne vom individuellen Akteur abhängig zu sein. „Die Demarkationslinie zwischen unsittlichem und sittlichem Handeln ist nicht zwischen Egoismus und Altruismus zu ziehen, […] sondern zwischen individuellem Vorteilsstreben, bei dem andere ebenfalls Vorteile haben.“ Bei der Suche nach „paretosuperiore[n] Regelsysteme[n]“, die den doppelten Vorteil ermöglichen, kommt die Ethik als Suchanweisung in Spiel.116 Die Dilemmastrukturen, die mit der Marktwirtschaft etabliert worden sind, brauchen Anreize und ‚Spielregeln‘, um die Interessen zu kanalisieren. Die Dilemmastruktur als Modell lässt sich auf das ganze Feld moralischer Probleme beziehen, weil es in der Regel um gemeinsame und konfligierende Interessen geht. Der Ort der ‚ökonomischen‘ Ethik ist damit eine Rahmenordnung, die die Wettbewerbssituation nicht unterbindet und bei der Akteure Vorteile aus der Befolgung der Ordnung erwarten können. Die individuellen Akteure können sich damit auf ihre Vorteile konzentrieren und werden nur durch die Rahmenordnung eingeschränkt, die jedoch wiederum an 114 Im Grunde gilt der Markt als Lösung, nicht mehr die caritas. Seine A. Smith-Interpretation gibt der Ökonomik einen ethischen Freibrief. Vgl. Kuttner 2011, 137 und 143. 115 Aus Homann 2008, 7. 116 So das ökonomische Ideal nach Homann 2002, Zitate 254 und 262. Dabei ist Wirtschaft generell kein Nullsummenspiel, bei dem einem Akteur etwas zukommt auf Kosten eines Anderen. Freie ökonomische Tauschverhältnisse sind i. d. R. win-win-Situation, weil subjektive Bewertungen der je eigenen und fremden Güter für beide Akteure einen Vorteil beim Tausch anzeigen. So ist z. B. auch das Tauschangebot ‚Geld oder Leben?‘ zu verstehen, allerdings drängt sich hier die Beschränkung von Tauschmöglichkeiten auf. Vgl. Gerlach 2002a, 88 und 91.

2.2 Verhältnisbestimmungen von Ökonomie und Theologie

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die ökonomische Sachlogik gebunden scheint.117 Soziale Kontrolle erfolgt dann weder als Fremdkontrolle noch als Selbstkontrolle über eine internalisierte Moral, sondern über die eigene Verantwortung für die individuellen Vorteile. Damit entwirft K. Homann ein neues Paradigma, bei dem die Ökonomik wesentliche Bereiche der menschlichen Interaktionen über den offenen Vorteilsbegriff im Anschluss an G. S. Becker ethisch besser regeln kann als die Ethik, weil für die Etablierung und Befolgung von Normen in diesem System die Kongruenz von Sollen und Können über die Anreize möglich wird. Der Mensch muss so nicht mehr gegen eine Systemlogik handeln um sittlich zu agieren, sondern sein Handlungsspielraum wird so konstruiert, dass die Befolgung von ethischen Prinzipien und gegenseitige Vorteile das Ergebnis seines nutzenmaximierenden Handelns werden. Die Folie für K. Homanns Konzept ist das neoklassische Marktmodell, das zum Gleichgewicht mit ausgeglichenen Gewinnen tendiert. Ersetzt wird die ethische Metaebene der Reflexion und mangels Ethiktheorie fehlt auch die Rahmentheorie für die konkrete Gestaltung. Die Ausblendung von alternativen Motiven des moralischen Handelns entspricht dabei dem homo oeconomicus-Modell, das z. B. ein religiöses Wirklichkeitsverständnis unsichtbar macht und nicht mit u. a. christlich motivierten Interaktionen rechnet. J. Gerlach kritisiert insbesondere die Überinterpretation des Gefangenendilemmas als Marktsituation, „weil bereits ein potenzieller Defektierer das Institutionenarrangement zerstört“ und so den moralischen Grundkonsens erschüttern würde. Die ‚Überinterpretation‘ des Gefangendilemmas führt dazu, dass mögliches opportunistisches Verhalten bereits die Einhaltung von Normen insgesamt infrage stellt. Damit gibt es faktisch außerhalb von Restriktionen kein moralisches Handeln mehr.118 Normen setzen sich nach K. Homann nur durch, wenn sie einen individuellen Vorteil verheißen. Im Rückschluss sind es dann wieder die Vorteile – im Anschluss an A. Smith – die es zu steuern gilt, um das ethisch gewünschte Ergebnis zu erzielen. Ein grundlegend moralisches Handeln scheint es für K. Homann nicht zu geben und dadurch wird zweckrationales Handeln im Rahmen seiner Marktethik normiert. Mit E. Herms und P. Ulrich können demgegenüber deutliche Gegenstimmen dargestellt werden. 117 Die „wirtschaftsethischen Regeln [sind] in Wahrheit ökonomische Regeln, da sie allein aus der individuellen Vorteilsperspektive ermittelt werden.“ Kuttner 2011, 162. 118 „Homanns Auslegung des Gefangenendilemmas hat ihre Spitze darin, daß schon ein potentieller Defektierer die Einhaltung nicht sanktionierbarer Regeln für alle unmöglich macht.“ Gerlach 2002a, 248. Man kann – gerade theologisch – an der Ethik scheitern, ohne dass sie damit ungültig wird. Nach K. Homann wäre eine solche Ethik jedoch nicht implementierbar. J. Gerlach sieht das Verhältnis von Ökonomie und Ethik als Korrelation und plädiert für eine „Optionenethik der realistischen Handlungsalternativen“. Zitate aus Gerlach 2002b, 214 und 222.

44 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie 2.2.1.2 E. Herms’ und P. Ulrichs Wirtschaftsethik Ein profilierter Vertreter gegen K. Homann ist E. Herms, der auf einer anthropologischen Grundlage für ein ‚gereiftes Selbstinteresse‘ von der Perspektive der Institutionen her plädiert. Opportunismus bleibt hier ein anthropologisches Grundmuster, das durch Institutionen bzw. die Sozialisierung eingehegt oder korrigiert werden kann.119 Wirtschaftsethik ist dementsprechend ein Teilbereich der Sozialethik. Zentral ist im Anschluss an ökonomische Axiome der vorausgesetzte präsente Mangel, der durch Güter behoben wird, die eine Änderung der Mangelsituation herbeiführen. Rationales Handeln in dieser Situation hängt an den Rationalitätsmodellen bzw. der Weltanschauung.120 An dieser Stelle hat Religion Einfluss auf die orientierenden Institutionen der jeweiligen Rationalität. Es existiert damit ein wechselseitiges Bedingungsgefüge von weltanschaulichen und wirtschaftlichen Institutionen, und rationales Handeln ist eine wesentliche Eigenschaft des Menschen, die durch Institutionen geformt und gebunden wird.121 Damit gehört Ökonomik als funktionale Ausdifferenzierung in den Theoriehorizont der Ethik, weil das durch Institutionen ‚gereifte‘ Eigeninteresse sich auf Institutionen des Gemeinwohls beziehen kann und soll.122 An K. Homanns Entwurf kritisiert E. Herms, dass in der Trias von Normbestimmung, -etablierung und -befolgung, der Inhalt der Normen unbestimmt und wenig relevant bleibt. Die Ethik wird bei K. Homann zur Heuristik der Ökonomie, womit die Ökonomik als Leitwissenschaft die Pluralität ethischer Diskurse ausblendet und damit die Komplexität der conditio humana reduziert.123 E. Herms hingegen sieht in der Ökonomik einen Teilbereich der Sozialethik, der sich in den übergeordneten Theoriehorizont einzuordnen hat. P. Ulrich diagnostiziert eine ‚lebensfeindliche Ökonomie‘ und entwickelt eine ‚humanistische Vernunftethik‘ vom freien Willen des Menschen her. Dabei bearbeitet er die ‚Sachzwangthese‘ und die ‚Gemeinwohlthese‘ der neoklassischen Ökonomie kritisch.124 In der Wettbewerbssituation besteht ein Sachzwang zur Vorteilsnutzung, selbst ohne tatsächliche Interaktion, weil die Marktlogik dies fordert und der Ökonomismus das als Norm vorgibt, selbst gegen alternative Ideale. Darum braucht es nach P. Ulrich Räume, in denen dieser Sach- und Denkzwang nicht normativ ist. Die Gemeinwohlthese rehabilitiert dann die Ökonomie, weil sie als 119 Vgl. Jähnichen 2008, 89 f. 120 Vgl. Herms 2008, 13. 121 Vgl. ebd., 26–28, zum Rationalitätskonzept der Ökonomik vgl. 38 f. 122 Vgl. ebd., 61, 72 und 180 ff. E. Herms argumentiert gegen den Grundsatz der ‚private vices – public benefits‘ (virtus, arete) nach B. Mandevilles Bienenfabel. 123 Vgl. ebd., 229. 124 Vgl. Kuttner 2011, 176 ff. und Ulrich 2008, 137 ff.

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Lösung der (ethischen) Probleme erscheint, indem die Funktionslogik des Markes – abgeleitet von A. Smith – zum Wohlstand der Nationen führt. Diese Thesen weisen dann den Weg zur Weltanschauung, bei der die Ökonomik einen Glauben an diese ökonomische Rationalität bzw. sich selbst braucht. Es braucht nach P. Ulrich daher eine dualistische Gesellschaftstheorie, bei der die lebensweltliche Vernunft Vorrang vor der Systemrationalität hat. Moral wird so zentral am Individuum und in der Rahmenordnung bzw. den Institutionen verortet, sodass die Logik des Marktes im Dienst einer idealisierten Gesellschaftsvorstellung steht. In dieser Konzeption der „Ökonomie der Fülle“ geht es nicht darum den Markt, sondern den Menschen frei zu machen, sodass Wirtschaft nicht „sinnloser Selbstzweck“, sondern wieder zum Mittel einer sinnvollen Lebensgestaltung außerhalb des Marktes und Konsumwettbewerbs wird.125 Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Dekonstruktion der Moral in der Neoklassik und einem parallelen Individualismus zeichnen, bei dem die Orientierung an der Gemeinschaft zurücktritt; aber genau dieses Individuum soll sich in P. Ulrichs Konzept gegen die dominante Marktrationalität wenden, um ein sinnvolles Leben zu erreichen. Das Problem der Überforderung des einzelnen Akteurs tritt bei dieser dualistischen Zuordnung von Ökonomik und Ethik besonders deutlich in den Vordergrund, P. Ulrich versucht jedoch im Rahmen seiner Diskursethik durch die Grundlagenkritik die Normativität der ökonomischen Logik aufzudecken. Danach ist eine Kopplung von ökonomischer Rationalität und externalisierten Kriterien möglich, sodass eine rationale Vernunft mit dem Ziel einer lebensdienlichen Ökonomie – von einem moralischen point of view her – das Primat hat.126 2.2.1.3 Konstellationen von Ethik und Ökonomie Anhand der exemplarischen wirtschaftsethischen Entwürfe sollten erste Verhältnisbestimmungen deutlich werden, die für die Beziehung von Theologie und Ökonomie relevant sind. Unter dem Vorzeichen des ethischen Diskurses zeigte sich anhand von K. Homanns Entwurf das Primat der Ökonomie und bei P. Ulrich das Primat der Ethik sowie der Dienstcharakter der Ökonomie. Beide Konzeptionen zielen auf eine gesellschaftstheoretische Dimension, begründen ihre Argumentationen jedoch von gegensätzlichen Standpunkten aus. E. Herms ordnet die Ökonomik in die Sozialethik ein, bietet jedoch einige Konvergenzen im Bereich der 125 P. Ulrich führt das ‚Genug-haben‘ (genügsamkeitsorientiert) anstelle vom ‚Mehr-wollen‘ (konsumorientiert) als kulturelle Kategorie ein. Vgl. Ulrich 2008, 229, 234 und Zitat: 246. Vgl. zur Kritik Kuttner 2011, 193 ff. 126 Zur Darstellung und Kritik dieses Ansatzes vgl. Gerlach 2002a, 162 ff.

46 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Institutionen und den anthropologischen Grundannahmen. Unbearbeitet blieb in beiden Ethiken eine differenzierte Untersuchung der ökonomischen Konsequenzen der christlichen Theologie und ihre Auswirkungen auf die Institutionen. Nach diesen ersten Verbindungslinien von Ökonomie und Theologie sollen im Folgenden die wechselseitigen Perspektiven von Theologie und Ökonomie thematisiert werden. Dabei geht es zunächst um religionsökonomische Ansätze, die mit einem ökonomischen Instrumentarium Religion theoretisch untersuchen, dann aber auch um die praktische Anwendung ökonomischer Methoden in der Religion.

2.2.2 Religion in ökonomischer Perspektive Religionsökonomie ist ein junger Forschungsbereich der Religionswissenschaft, der in Deutschland gerade aus dem religionssoziologischen Teilbereich der Religionswissenschaft herauswächst. In der grundlegenden Systematik, die A. Koch für den Forschungsbereich vorgelegt hat, geht es im Horizont einer Kulturökonomik um die Anwendung ökonomischer Modelle auf kulturelle bzw. religiöse Phänomene und zugleich um eine ökonomische Ideologiekritik.127 Religionsökonomie: aufgrund ökonomischer Modelle – als Ideologiekritik

127 Zur Systematik innerhalb der Religionswissenschaft vgl. Hock 2014, 154 f. Eine systematisierte Methodik bietet Koch 2014a. Vgl. auch die früheren Ansätze: Koch 2007. Von der Religionsökonomie zu unterscheiden sind religiöse Ökonomien, in denen von den theologischen Prinzipien her ökonomische Einstellungen entstehen (Islamic-Finance, Halāl-Produkte). Diese religiösen Ökonomien können Objekte der Analyse sein. Vgl. Iannaccone 1998, 1466. R. Brinitzer differenziert analog nach religious economics und economics of religion vgl. Brinitzer 2001, 136. Zu den Leitparadigmen Individualisierung, Säkularisierung und religiöse Marktwirtschafts: Vgl. Kelle 2012, folgendes Zitat: 102. Auch die Religionssoziologie arbeitet mit einen Marktmodell der Religion(en). U. Kelle votiert hier für einen multiparadigmatischen Zugang, bei dem die einzelnen Paradigmen einen situativ begrenzten Erklärungswert haben, aber jeweils nicht als „unified grand theory“ fungieren können. Vgl. auch die Übersicht von Iyer 2016, 395 f., Richardson 2014, 286 ff. sowie den Sammelband von McCleary 2011. Vgl. auch Witham 2010. An dieser Stelle orientiere ich mich an der Systematik A. Kochs. Andere Zuschnitte des Forschungsfeldes sind möglich. Vgl. auch Iannaccone 2005. Noch 2010 ist die Religionsökonomie ein fluider und stark wachsender Forschungsbereich: „This […] is economic heaven: opportunities everywhere, scarcity nowhere, and extraordinary rates of return. And the same hold true for the economics of religion in 2010.“ Iannaccone 2010, 7.

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Religionsökonomie aufgrund ökonomischer Modelle: Ökonomische Modelle fungieren hier als Handlungstheorien in der Kultur und in Bezug auf Religion. Ziel ist es, ökonomische Theorien analytisch einzubringen. Hier wird Religion durch die Linse ökonomischer Theorien betrachtet. Religionsökonomie als Ideologiekritik: Hier wird der Einfluss von Wirtschaftsformen auf die Gesellschaft untersucht. Dabei geht es um Wertesysteme, das Medium Geld und Vertrauen. Weitere Beispiele wären der Finanzmarktkapitalismus als first truly world religion. Auch hier ist Kultur der Rahmen, weil sich religiöse und ökonomische Systeme in selbigem bewegen. Dabei gibt es Nähen von Religion und Wirtschaft, die Perspektive auf Religion als individuellem religiösem Konsum mit fortwährender Selbstkonstruktion bzw. die Parallele von Selbststilisierung und Produktdesign. Es gibt globale Märkte mit religiösen Dienstleistungen und Gütern und das Verhältnis von säkular und sakral steht zur Disposition, wenn man postuliert, dass Religionen sich auf einem ‚Markt‘ bewegen. Aus einer theologischen Perspektive kann Ideologiekritik an (quasi)religiös aufgeladenen ökonomischen Konzepten als ‚Dekonstruktion falscher Götter‘ verstanden werden, und Theologie kann so – nach dem bekannten Diktum D. Bonhoeffers – dem ökonomischen Rad und seinem Durchsetzungsanspruch in die Speichen fallen.128

Religionsökonomie konstituiert sich dabei aus den beiden Wissenschaftsbereichen Religion und Ökonomie, und nach P. Seele fungiert der methodische Individualismus als ein übereinstimmendes und verbindendes Axiom, dass die Vermittlung der Bereiche ermöglicht. Weiterhin ist mit shared mental models – mentalen Modellen – auf verschiedenen Ebenen von individuellen und geteilten mentalen Modellen über normativen Ideologien bis hin zu Institutionen ein Rahmen gegeben, sodass ökonomische, religionswissenschaftliche und soziologische Fragestellungen vermittelbar werden.129 Damit ist die Religionsökonomie – neben Wirtschaftsethiken – ein weiterer Ort, an dem Theologie und Ökonomie in spezifischer Weise Bezug aufeinander nehmen. Für den Zusammenhang der theologischen und ökonomischen Logiken sind dabei die methodisch reflektierten Perspektiven von zentraler Bedeutung, da die Religionsökonomik mit ökonomischen Methoden religiöse Phänomene untersucht. In Bezug auf die evangelisch-lutherische Version des Christentums ergibt sich nun das Problem, dass mit einer ökonomischen Logik eine Religiosität untersucht wird, die sich – wie später ausgeführt wird – regelmäßig im Schema der Gabe versteht. Anhand dieser ökonomischen Perspektive auf Religion, soll die ökonomische Selbst- und Fremddeutung zunächst dargestellt und in einem ersten Schritt problematisiert werden – bevor dann ökonomische Methoden in der Kirche exemplarisch relevant werden. 128 Vgl. Fleischmann 2007, Zitat: 3 f. und Koch 2014a, 24. Eine Bibliographie zur Religionsökonomie findet sich unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/12437/ (Koch, Anne: Partly Annotated Bibliography of Economics of Religion. Zuletzt abgerufen am 15.02.2019.) 129 P. Seele bietet einen Überblick über die Möglichkeiten einer kommensurablen Religionsökonomik und eine knappe Skizze der Entwicklung in: Seele 2011, 369 f. und 382 ff.

48 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Mit der religionsökonomischen Perspektive ist zunächst eine Brückentheorie gesucht, die Religion – Wirtschaft – Gesellschaft oder Markt – Organisation – Gemeinschaft in ein Übersetzungsverhältnis bringt. Das soll nach A. Koch Konkordanzen erbringen zum Einsortieren von Wirtschaft in Kultur- und Gesellschaftstheorien.130 In der Kulturökonomie – die religionsökonomisch ebenfalls rezipiert wird – orientiert man sich an der Trias: Produzieren – Distribuieren – Konsumieren und analysiert kulturelle Praktiken nach dieser Handlungssequenz, um die Zirkulation in Austauschprozessen analysieren zu können. Hier wird analog zur Religionsökonomie das ökonomische Instrumentarium auf Kunst und Kultur angewendet.131 Der Güterbegriff wird auf religiöse Güter erweitert und es kann von einem religiösen Kapital gesprochen werden, das erworben wird. A. Koch versteht diese Güter jedoch nicht klassisch als eigene Kategorie, sondern bestimmt sie von ihrem Kontext her als Mittel zur Erreichung eines bestimmtes (religiösen) Ziels. Die Distribution von Religion öffnet den Blick für parallele Praktiken und Konkurrenzen von säkularem und religiösem Konsum auf einem Freizeitmarkt.132

2.2.2.1 L. Iannaccones und B. Gladigows Ansätze Die neoklassische Theorie der Marktmodelle sieht den Markt in dieser Dimension als Austragungsort von religiösem Angebot und Nachfrage. Im Hintergrund steht eine soziale Austauschtheorie und Religion als Kompensation für Bedürfnisse, wodurch es auch bei Religion zu einer Konsumentscheidung kommt. Religiöse Akteure sind als Verbraucher, Anbieter, Nachfrager, Dienstleister etc. auf einem zum Gleichgewicht tendierenden Markt tätig.133 Als Bedürfnisse kann man jenseitigen Gewinn oder einen sozialen Nutzen postulieren. Der Ausgangspunkt und die Grundlagen basieren auf der Rationalwahltheorie und spätestens seit L. Iannaccones Monographie ‚Economics of Religion‘ aus den 1980ern erscheint ‚Religionsökonomie‘ auch begrifflich als Disziplin. L. Iannaccone argumentiert, dass Religionsökonomie nur im neoklassische Schema funktioniert und so die religiösen Austauschprozesse auf einem religiösen Markt zu untersuchen sind. Er erweitert das Programm von G. S. Becker (seines Doktorvaters) auf Religion im neoklassischen Paradigma des homo oeconomicus und unterscheidet zwei Religionstypen: private Produktion (Esoterik) und kollektive Produktion (Kirche). Die Nachfrage formt auf diesem Markt das Angebot, und religiöse Partizipation wird 130 Vgl. Koch 2014a, 47. 131 Zu den Grundlagen vgl. Gottschalk 2006. Anders als in der Religionsökonomik geht es hier auch um Optimierung von z. B. Kunst (ebd., 25). 132 Vgl. Koch 2014a, 131 ff. 133 Beispielhaft ist in der Regel der pluralistische amerikanische Markt. Vgl. ebd., 70.

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als Investment von Zeit und Geld beschrieben, anstelle anderer Konsummöglichkeiten. Die Substitutionsregel meint in diesem Rahmen, dass Zeitinvestment durch Spenden ersetzt werden kann, weil Zeit ein Opportunitätskostenfaktor ist. Je reicher die Kunden sind, desto weniger Zeitkosten dürfen die Angebote verursachen.134 In Deutschland führte B. Gladigow 1993 auf einer Tagung die neue Bindestrich-Disziplin ein und fragte nach Finanzierungsbedingungen von Religion und der Beziehung von Religion und Gesellschaft über das Medium Geld bzw. die Kosten und Nutzen von Religion für Gesellschaft. In seinem zentralem Aufsatz zur Religionsökonomie fragt er nach den Finanzierungsbedingungen und der religionsinternen Ökonomie. Er nennt Probleme wie fundraising und Folgefragen, z. B. wieviel Religion sich Gesellschaften leisten. Die Verbindung von Religion und Ökonomie erfolgt über Geld und Warenverkehr, sie werde aber zumeist kaschiert. Religion erscheint in der Religionswissenschaft als Kontingenzbewältigung und Risikomanagement. Die religiöse Versicherung schwindet, wenn es säkulare Sekurierung gibt.135 Für B. Gladigow ist die „Anwendung einfacher ökonomischer Beschreibungsmuster auf religiöses Handeln […] solange plausibel und kohärent, wie zwischen menschlicher (Vor-)Leistung und göttlicher Gegenleistung eine Äquivalenz-Beziehung besteht.“136 Er beschreibt die Äquivalenzleistungen u. a. mit Opfern: do ut possis dare; dem Tun-Ergehen-Zusammenhang; dem leidenden Gerechten – bei dem das ‚fromme Durchhalten‘ als system of rewards umkodiert werden muss; und zudem habe Religion ein einzigartiges (weil jenseitiges) Belohnungssystem.137 D. Schmidtchen versucht den homo oeconomicus und den homo religiosus zu versöhnen. Ökonomische Theorien werden auf den homo religiosus angewendet, weil der homo oeconomicus eben zugleich ein homo religiosus ist und umgekehrt. Nach D. Schmidtchen handelt auch der homo

134 Es gibt z. B. auch eine Zeitpräferenzrate: Je zeitnaher ein Gewinn ist, desto wertvoller erscheint er. Damit könnte man ökonomisch die Altersstruktur von Gottesdienstbesuchern erklären. Das Bekenntnis funktioniert ökonomisch dann als Erfahrungsbericht, der Unsicherheit minimiert. Das Bekenntnis eines (kirchlichen) Lohnempfängers minimiert dabei die Vertrauensbildung. Zu L. Iannaccone vgl. Koch 2014a, 82 f., Iannaccone 2005, 1 ff. sowie Iannaccone 2010. 135 Vgl. Gladigow 2009, 129. Hier finden sich auch einige Beispiele zu Finanzierungsbedingungen antiker Tempelkulte. Vgl. auch Koch 2014a, 258. 136 Vgl. Gladigow 2009, 129. 137 Auch der thesaurus ecclesiae als von Heiligen erwirtschaftet und damit als Sozialkapital zweiter Ordnung wird hier – theologisch unterdifferenziert – eingebracht. Vgl. ebd., 137. Vergebung aus dem Konzept des thesaurus ecclesiae aus dem 13. Jh. wurde mit Geld verrechnet und es erfolgte ein (inflationärer) Kapitaltausch von symbolischem und finanziellem Kapital – nach den Darstellungen der religionsökonomischen Untersuchungen. Vgl. Koch 2014a, 50.

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religiosus rational, was als generelles Vorteilsstreben gedeutet wird. Mit der Theorie der rationalen Entscheidungen gibt es eine Kosten-Nutzen-Abwägung, stabile Präferenzen und Gleichgewichte. Es ändern sich nie die Präferenzen, nur die Nebenbedingungen, die eben bei Menschen verschieden sind und darum verwirklichen auch nicht alle dieselben Präferenzen.138 Für den religiösen Bereich gilt ihm, dass Menschen auch aus einer potentiellen Fiktion Nutzen ziehen können, womit seine Entscheidungen rational werden. Mithilfe von Clubtheorien beschreibt er Kooperationen zum Vorteil aller, bei denen im religiösen Fall die Verhaltensregeln zentral sind. Himmel und Hölle werden als Belohnung bzw. Entzug der Heilsgewissheit funktionalisiert, Kirchen verkaufen dann praktisch die Eintrittskarten. Kirchen investieren so z. B. über Sakralbauten in Vertrauen und Reputation und analog zu Konzepten der Neue Institutionenökonomik zeigt D. Schmidtchen anhand der Ausbreitung des Islams entlang von Handelsrouten in Afrika, dass die gemeinsame Religion die Transaktionskosten durch die gemeinsame Sprache, Normen und Recht reduzierte.139 Die (mittelalterliche katholische) Kirche in ökonomischer Perspektive liest sich bei D. Schmidtchen so: „Die Kirche als Monopolanbieter des Gutes Seelenheil vergab Verwertungsrechte an lokale Anbieter gegen eine fixe Franchisegebühr (Eintrittsgebühr) und laufende jä hrliche Zahlungen (‚Zehnt‘). Da es sich beim Seelenheil um ein Glaubensgut (‚credence good‘) handelt, dessen Qualitä t sowohl vor dem Kauf als auch nach dem Kauf unsicher ist, wurde die Qualitä t durch die Kirche in Form der Gewä hrleistung der Reinheit ihrer Lehren und der Kontrolle der Ausbildung garantiert. Der Name der katholischen Kirche und ihre Symbole standen für einen Markenartikel.“ Hier zeigt sich deutlich, dass Kirche nun nicht religiös, sondern ökonomisch gedeutet wird, indem Verhalten und Organisationen von der Nutzenmaximierung und der Distributionsorganisation her interpretiert werden.140

In ökonomischen Aufsätzen und Untersuchungen sind es regelmäßig Ökonomen, die Religion mit ihren eigenen Methoden analysieren. Ihr Gegenüber ist teilweise eine mittelalterliche katholische Volksfrömmigkeit, weil sich am thesaurus ecclesiae oder dem Purgatorium tatsächlich ökonomische Logiken relativ offensichtlich aufzeigen lassen.141 In der Dimension der Güter und des Konsums kommen vor allem die jenseitigen Güter(versprechen) als Sondermerkmale in den Blick. Zentral zu problematisieren ist an dieser Stelle die angenommene Äquivalenzbeziehung von göttlichem und menschlichem Handeln. Genau diese Äquivalenz, die bei den Ökonomen implizit und explizit vorausgesetzt wird, gibt es nun zumindest evangelisch gerade nicht, wie die theologischen Einsichten später auf138 Vgl. Schmidtchen 2000, 24. 139 Vgl. ebd., 35. „Islam war ein Verfahren, Outsider zu Insidern zu machen. Man kann ihn deshalb auch als religiö sen Club interpretieren.“ Schmidtchen 2005, 16. E. Schlicht meint, dass der Islam für die wirtschaftliche Entwicklung geeigneter war und sich daher nicht z. B. das Christentum durchgesetzt hat. Schlicht 2007, 285. 140 Vgl. Schmidtchen 2005, 2 und Zitat: 7. 141 Inwieweit es sich bei der Reformation um ein Dekommerzialisierung handelt, wird unter Punkt 5.5 auf Seite 231 dargelegt.

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zeigen sollen. Damit wäre eine Grundbedingung für die Anwendung ökonomische Methoden auf (evangelische) Religion in Frage gestellt, weil die Selbst- und Fremddeutung der Handlungen die konträren Logiken von Ökonomie und Theologie abbilden. Gütertheoretisch dürfte es empirisch an Glaubenden vorbeigehen, wenn Ihnen der Bedarf eines jenseitigen Heiles unterstellt wird. Damit ist Glauben als besondere Art der Anschauung der Welt zur Unkenntlichkeit reduziert. Mit der Neuen Institutionenökonomik differenziert sich das Instrumentarium, sodass auch theologische Deutungen ökonomisch relevant werden. 2.2.2.2 Die Neue Institutionenökonomik in der Religionsökonomie Die Neue Institutionenökonomik gehört zu den neueren Standardmodellen der orthodoxen Ökonomik und wird von A. Koch zentral als ökonomisches Modell für die Religionsökonomik rezipiert. Die religionsökonomische Perspektive bietet dabei eine erste Anwendung auf Religion und methodische Klärungen über den Gegenstand. Für die praktisch-theologische Perspektive kann hier an eine methodische Grundlagenreflexion angeknüpft werden, um eine ökonomische Selbstdeutung kritisch zu ermöglichen. Während die grundlegende Theorie bereits in ihrem ökonomischen Setting skizziert wurde, soll nun auf methodische Bausteine im Rahmen der Religionsökonomik verwiesen werden, um so einen direkten Bezug zur Religion in der Anwendung aufzeigen zu können.142 Im Principal und Agent Konzept handelt es sich um Auftraggeber und Auftragnehmer. Religiöse Institutionen sind in dieser Perspektive Unternehmen und verkaufen Güter (Sinn, Lebenshilfe etc.). Sie sind keine Gewinnmaximierer, sondern Marktanteil- / und Umsatzmaximierer. Die wichtigste Aufgabe ist der Aufbau von Vertrauenskapital für Anbieter mit unsicheren Gütern. Wenn Religion in der Lebensführung praktiziert wird, dann wird die Produktion auf die Nachfrager appliziert, sie sind dann Produktionsfaktoren. Spräche man von Dienstleistungen als Vergleichspunkt, dann wären Nachfrager immer schon an der Produktion beteiligt. In der Regel handelt es nicht nur um passiven Konsum. Die Neue Institutionenökonomik geht im Rahmen von Organisationstrukturen davon aus, dass je marktförmiger die Struktur ist, desto stärker sind die Nachfrager in die Produktion eingebunden. Die Neue Institutionenökonomik fragt hier nach der Effizienz von religiösen Organisationsformen. Man unterscheidet prophetische, doktrinäre und kodifizierte Organisationen. Die Katholiken sind hier142 Ich orientiere mich dabei an der Darstellung und Systematik von Koch 2014a, 104 ff. und verstehe Institutionen im Anschluss an D. North als „the rules of the game in a society“ bzw. shared mental models. Regeln sind sowohl Gesetze als auch Gewohnheiten. Die konkreten Spieler am Markt sind Organisationen.

52 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie archisch organisiert, Protestanten eher demokratisch und Freikirchen tendenziell genossenschaftlich strukturiert.143 Die innere Struktur reagiert auf Marktsituationen, und wichtige Merkmale, wie z. B. staatlicher Schutz kommen als externe Faktoren hinzu. Im organisationalen Feld untersucht die Neue Institutionenökonomik, wie Institutionen ihre Rationalität z. B. in und durch mentale Modelle begründen. So können auch theologische Schulen und ideologische Vertriebssysteme untersucht werden. Gegen die Rationalwahl wird hier betont, dass Institutionen Entscheidungen beeinflussen. Es gibt in den Institutionen unintendierte Effekte, wie z. B. sinkende Kriminalität, Gesundheit durch Religion. Untersucht werden hier die ökonomischen Folgen von Religion, wie Sozialkapitalbildung, Tradierung von Kultur, Schrift und Forschung. In dieser Dimension wird auch deutlich, dass diese Güter auch säkular angeboten werden können. Die Transaktionskostentheorie gehört zu den zentralen Konzepten der Neuen Institutionenökonomik und bezieht sich z. B. auf Loyalität, Reputation, Vertrauen und Sozialkapital als Kostenfaktor. Die Abstimmung von Handlungen (Kooperationen) verursacht Kosten, wenn nicht mehr von vollständig informierten Akteuren ausgegangen wird. Religionen senken gesamtgesellschaftlich die Transaktionskosten, weil sie Werte und Normen schaffen.144 Es geht in der Neuen Institutionenökonomik nicht allein um Nutzenmaximierung (Neoklassik), sondern um ein Nutzenniveau. Die religiöse Nachfrage unterliegt einem Konsummotiv und ist in der Neuen Institutionenökonomik diesseitig ausgerichtet. Es geht damit in der Lesart von A. Koch um den Nutzenstrom des aktualen Glaubens. 2.2.2.2.1 Anwendung der Neuen Institutionenökonomie auf Religion A. Koch orientiert sich an der Arbeit von R. Brinitzer, der die Neue Institutionenökonomik auf eine religiöse Organisation bezieht. R. Brinitzer setzt voraus, dass Menschen per se religiös sind oder dementsprechend sozialisiert werden – also eine grundsätzliche Nachfrage besteht. Damit wird religiöse Nachfrage ein ökonomischer Prozess und Religion ein Gut, dass u. a. von Kirchen gehandelt wird. In seiner Dissertation arbeitet er eurozentristisch und bezieht sich faktisch nur auf einen von ihm konstruierten christlichen Glauben. Die Neue Institutionenökonomik erscheint als modifizierte rational choice-Theorie, die den Konsum in den Mittelpunkt stellt. Grundlegend für die ökonomische Untersuchung von Religion ist 143 R. Brinitzer sieht die Struktur in Abhängigkeit zu den Transaktionskosten der Vermarktung des Glaubensgutes. Vgl. auch die Literatur bei Brinitzer 2001. 144 Vgl. Koch 2014a, 108. Effiziente Strukturen können starr werden, wenn die Transaktionskosten der Umstellung zu hoch werden.

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ein umfassender Güterbegriff, der materielle und immaterielle Güter umfasst, sowie die These, dass auch religiöse Güter knapp sind.145 Mit der Anwendung neoklassischer Theorien wird religiöses Verhalten als rationale Maximierung eines Nutzens (unter Nebenbedingungen bzw. Restriktionen) verstanden. C. Azzi und R. Ehrenberg beziehen sich beispielsweise zentral auf das Heilsmotiv (Leben nach dem Tod als jenseitigem Konsum) und blenden methodisch alternative Konsumoder soziale Motive aus. Dann geht es in der Folge um knappe Zeit, die in das Heilsgut ‚jenseitiges Leben‘ investiert wird.146 Eine ökonomische Perspektive deutet ‚Glaubenskosten‘ dann im Paradigma von Versicherungen, besonders weil der tatsächliche Nutzen irdischer Einschränkungen durch den Glauben unsicher ist. Glauben erscheint hier als Kostenfaktor und als Restriktion – was analog zur pascalschen Wette – auf die wahrscheinliche Nutzenfunktion hinausläuft, wobei die Entscheidung nicht durch ein Risiko, sondern durch maximale Unsicherheit geprägt ist. R. Brinitzers Anwendung der Neuen Institutionenökonomik modifiziert diese ökonomische Sicht, indem er das Motiv des „Nachlebenskonsum“ zurückstellt und den Nutzen des Glaubens an sich in den Mittelpunkt stellt. Selbst der Glaube an eine Fiktion kann einen Nutzen produzieren, analoges gilt dann für Religionen.147 Ein ökonomisches Problem ist dabei jedoch die Unsicherheit und Komplexität, weil kalkulierte Entscheidungen im religiösen Bereich nur schwer möglich sind, da die Folgen nicht antizipierbar sind. In dieser Situation braucht der Mensch kognitive Systeme, um seine Umwelt zu Interpretieren: Das verweist auf bestimmte Weisen, die Welt anzuschauen bzw. auf ‚mentale Modelle‘. 2.2.2.3 Mentale Modelle der NIÖ und belief systems Das Konzept der ‚mentalen Modelle‘ wird in der Neuen Institutionenökonomik und davon abhängig auch in der Religionsökonomik verwendet. Der Be145 Zur Neuen Institutionenökonomik als modifiziertes homo oeconomicus-Modell und die Anwendung auf Religion vgl. Brinitzer 2001, 137 f. und 151. Religion ist ein öffentliches Gut, bei dem Bereitstellung Kosten verursacht, der Nutzen aber für alle gilt. Damit ist das ökonomische Problem der free rider angesprochen, die unentgeltlich diese öffentlichen Güter nutzen. Religionsgemeinschaften akzentuieren daher den Nutzen ihrer Mitglieder, sonst wäre das öffentliche Gut nicht finanzierbar. In diesem Paradigma ist Knappheit einerseits immer mitgesetzt im ökonomischen Entscheidungsprozess, andererseits nutzt sich das öffentliche Gut Religion kaum ab. D. h. wenn free rider einen Gottesdienst besuchen, verursachen sie kaum Mehrkosten. 146 Vgl. ebd., 138 und 140 f. Die Untersuchungen: Azzi und Ehrenberg 1975, Long und Settle 1977, Ehrenberg 1977. 147 Vgl. Brinitzer 2001, 153. Hier wird ernstgenommen, dass die Weltanschauung eine Realität ist, in der Menschen leben und Leben deuten. Damit können auch Fiktionen real werden und vor allem greifbare Auswirkungen haben.

54 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie griff stammt von D. North, der damit wirtschaftliche Entwicklungen und den Zusammenhang mit Institutionen erklärte. Es handelt sich um die Erweiterung des Präferenz / Restriktionen-Schemas in einem ‚cognitive turn‘ um die geteilten Wahrnehmungen der Welt, wobei mit mentalen Modellen ein Konsens in der Wahrnehmung der Welt angenommen wird.148 Mithilfe der individuellen und geteilten mentalen Modelle kann ‚Kultur‘ als Faktor der Ökonomie bearbeitet werden. Alternativ stehen belief systems zur Disposition, die auch eine Vergleichbarkeit zwischen Weltdeutungen herstellen können. Religion ist mit mentalen Modellen und belief systems nicht funktionalistisch oder substantialistisch definiert, sondern meint einen Regelzusammenhang von Deutungen und Deutungspraktiken. Damit kann im Schnittfeld von Theologie und Ökonomie eine vorschnelle Unterstellung von ‚Religion‘ (z. B. Kapitalismus als Religion) vermieden werden und dennoch Strukturanalogien und die Wirklichkeitsdeutung vom je eigenen Selbstverständnis her analysiert werden. Der übergeordnete Horizont sind kulturelle Praktiken, in denen bestimmte Weltanschauungen zum Ausdruck kommen.149 Religionen werden religionswissenschaftlich als ‚mentale Modelle‘ wahrgenommen, die Kontingenz reduzieren und als kulturelles Orientierungssystem fungieren. Diese kulturellen Ordnungssysteme reduzieren Komplexität in offenen Entscheidungsmodellen. Das homo oeconomicus-Modell ist hingegen ein geschlossenes Entscheidungsmodell, weil die Entscheidungsregel (Rationalität) und Präferenzen bzw. der höchste Zielerreichungsgrad bekannt sind. Offene Entscheidungsmodelle rechnen nicht mit vollständiger Markttransparenz oder Wissen, sondern die Akteure benötigen „komplexitätsreduzierende Heuristiken“.150 Individuelle mentale Modelle fungieren als Wahrnehmungsfilter in Situationen von Unsicherheit und entstehen aus den individuellen Erfahrungen. Geteilte mentale Modelle – wie z. B. Ideologien, Mythen oder Religionen – entstehen durch ähnliche Sozialisation, Erfahrung sowie aus der Kommunikation zwischen Individuen und gleichen sich so an. Dadurch wird wiederum Kommunikation und Verständigung erleichtert, aber auch die Koordination auf Märkten, wodurch 148 Der Zentrale Aufsatz: Denzau und North 1994. Vgl. auch Priddat 2014a, 88 und Priddat 2005, 175. 149 Zu belief systems vgl. Stoellger 2014, 4–8. Ebenso ist das Framing-Konzept eine Option, Sachverhalte von spezifischen Kontexten her zu verstehen. Frames sind in der Kommunikationstheorie Sinnhorizonte, die bestimmte Details betonen und andere ausblenden und so eine selektive Wahrnehmung bzw. gefärbte Perspektive generieren. Vgl. Matthes 2014, 10. 150 Vgl. Leschke 2015, Zitat: 100. Vgl. besonders 109 ff. Der zentrale Aufsatz zum Thema stammt von A. Denzau und D. North: Denzau und North 1994. Zur Verhaltenswirkung mentaler Modelle vgl. Kubon-Gilke 2007, 15.

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Transaktionskosten gesenkt werden. In Situationen mangelnder Informationen kann so der Suchprozess optimiert werden, und damit ist die Nutzung von mentalen Modellen wiederum rational. Die shared mental models sind flexibel und passen sich durch neue Erkenntnisse bzw. Problemstellungen und Erfahrungen an. Einerseits werden sie durch die Sozialisation innerhalb eines kulturellen Raumes geprägt, und die entsprechenden Institutionen werden internalisiert, andererseits werden (Deutungs)Muster, die nicht mehr zu den Problemstellungen passen, (langsam) korrigiert. Als solche Wahrnehmungsfilter sind mentale Modelle auch an der Bewertung von Sachverhalten beteiligt und beeinflussen dadurch Entscheidungen. Neben der Orientierungsfunktion tritt jedoch auch häufig ein normativer Anspruch auf, der sich auf die Entscheidungen von Individuen bezieht. Mithilfe von mentalen Modellen lassen sich irrationale Entscheidung aus Sicht des homo oeconomicus-Modells in der Neuen Institutionenökonomik ökonomisch erklären. Weiter zu fragen ist dann, wie ein evangelisches mentales Modell ökonomisch funktionieren könnte. Wird die ‚ökonomische Wahrheit‘ nur herausgefiltert oder kann ein shared mental model auch z. B. durch durch die Kommunikation des Evangeliums erzeugt werden? Könnte dieses Modell auf die ökonomische Entscheidungsfindung (positiv) wirken und gegebenenfalls zentrale Axiome des homo oeconomicus unterbrechen, ohne dass sich die Erklärungen nur auf Restriktionen (im Sinne des usus legis civilis) beziehen?151 Die Änderungen der geteilten mentalen Modelle tendieren hin zu win-winSituationen – analog zur Konzeption des doppelten Vorteils bei K. Homann – und bleiben in dieser Situation stabil. Die Entwicklungspfade von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen versucht man in diesem Modell über die Änderungen der mentalen Modelle zu erfassen, die sich dann auf veränderte moralische Vorstellungen, Ideologien, Religion bzw. informelle und formelle Institutionen beziehen. Damit wird Kultur im weitesten Sinne eine Variable des ökonomischen Denkens, weil Ökonomen erkennen, dass die ökonomische Sphäre durch religiöse Weltbilder beeinflusst wird.152 Religionen sind mentale Modelle und damit Institutionen, die durch Rituale internalisiert werden. Geteilte mentale Modelle schaffen Vertrauen. Werden z. B. Opfer, Heiligkeit oder Tabus als mentale Modelle gesehen, ist eine Komparatistik zwischen Religionen möglich. Die Wahl 151 Die Übersetzung von Restriktionen in den Kontext des usus legis civilis soll darauf hindeuten, dass Restriktionen systematisch-theologisch gesprochen zum Gesetz gehören, bei dem das Prinzip der Strafe und ausgleichenden Gerechtigkeit dominiert. Die zentrale Dualität von Theologie und Ökonomie kann im Gegensatz von Gesetz und Evangelium, Praxis und Poiesis oder Gabe und Tausch etc. ausgedrückt werden. 152 Vgl. Brinitzer 2001, 135.

56 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie eines Modells unterliegt einem Optimierungskalkül: der Auflösung einer kognitiven Dissonanz.153 Nach R. Brinitzer fungieren religiöse Organisationen als Lösung im Umgang mit einem prekärem Tauschgut. Eine weitere Differenz erfolgt mit mentalen Modellen und Ideologien. Mentale Modelle sind innere Repräsentationen zur Deutung der Umwelt. Sie senken genauso wie Institutionen die Unsicherheit, schaffen Ordnung und fungieren als „Navigationshilfe“ in unsicheren Situationen, sodass es einen realen irdischen Nutzen gibt, der als Nachfragemotiv ökonomisch erklärt werden kann.154 Religionen als Ideologien sind dabei nicht negativ konnotiert: Es handelt sich um überindividuelle mentale Modelle. Diese können im Rahmen von Institutionen als Werte und Normen verstanden werden, gegen die man nur handeln kann, wenn man die entsprechenden Sanktionen in Kauf nimmt. Sie erscheinen damit als Restriktionen, besonders wenn sie verinnerlicht sind und werden auch ohne Vorteil beibehalten. Ein Ausbrechen aus diesen Verhaltensnormen hat „psychologische Kosten“ (Gewissensbisse) zur Folge. R. Brinitzer unterscheidet dabei fundamentale (u. a. religiöse) und sekundäre Institutionen und geht davon aus, dass erstere aufgrund eines langen Evolutionsprozesses nicht gestaltbar sind.155 Damit argumentiert er auf einer ideologischen Makroebene. Im Bereich der individuellen Religiosität wird man hingegen eine fluidere Rezeption von Religiosität annehmen müssen. Weiterhin ist aber die Verkündigung und christliche Bildung doch an der Adaption der evangelischen Weltanschauung in konkreten Kontexten interessiert. Die im abstrakten geteilten mentalen Modelle könnten im Konkreten eine gewisse Variationsbreite unter Beibehaltung eines Grundkonsens aufweisen. Als Wahrnehmungsfilter bieten mentale Modelle jedoch in jedem Fall eine kontextabhängige Wahrnehmung, die in der Regel vom deskriptiven Schema hin zur Normativität tendiert. R. Brinitzer geht davon aus, dass „Institutionen das Abbild der ihnen zugrundeliegenden mentalen Modelle sind“ und von daher haben sie eine gestaltende normative Kraft. ‚Ausnahmen‘ vom Schema müssen nun erklärt werden, nicht die Tatsachen an sich.

153 Vgl. Koch 2014a, 108 ff. Dabei gibt es aber eine typische Starrheit, weil man beim Wechsel die Investition verliert: Windows Nutzer wechseln nicht zum Mac, weil sie gekaufte Programme nicht mehr nutzen können. 154 Neben Erklärungen zur Sinnfrage bieten Religionen Handlungsnormen nach R. Brinitzer, die die Handlungsfähigkeit in unbekannten Situationen herstellt. Zitat Brinitzer 2001, 159. 155 Zitat: ebd., 160.

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Ein einfaches Beispiel für eine kontextuelle Wahrnehmung zeigt die doppelte Lesart von B bzw. 13.156 Framing durch mentale Modelle setzt die Wahrnehmung in einen bestimmten Kontext und deutet den Gegenstand entsprechend. Damit können mithilfe von mentalen Modellen Erklärungen entstehen (z. B. ob es sich um ein B oder eine 13 handelt), wichtiger aber sind die Werturteile, die durch sie entstehen. Die Institutionen sowie die mentalen Modelle können auf der Mikro- und Makroebene angewendet werden, und zudem kann untersucht werden, wie Institutionen ihre Rationalität durch mentale Modelle plausibilisieren. Mit der Perspektive der NIÖ lässt sich ein Konnex von mentalem Modell und ökonomischen Verhalten etwa so beschreiben: Ob der Pastor Fahrrad oder Ferrari fährt, ist abhängig vom Symbolsystem. Wird Wohlstand gepredigt, kann der Ferrari gerechtfertigt sein, ist die Theologie hingegen asketisch geprägt, wäre dieses mentale Modell nicht mehr plausibel.157 In der Neuen Institutionenökonomik haben die Institutionen einen entscheidenden Einfuss auf Entscheidungen, aber auch unintentierte Effekte. Mit der Erweiterung durch die mentalen Modelle ist einerseits der Blick auf religiöse Hintergründe geöffnet, andererseits wird durch sie wiederum eine ökonomische Rationalität postuliert, weil mentale Modelle vorteilhaft sein sollen, um stabil zu bleiben (obwohl auch auf eine gewisse Starrheit hingewiesen wird). D. Schmidtchen wendet die ökonomische Perspektive auch auf (u. a. religiöse) Selbstmordattentäter an und konstatiert, dass ‚Konsum im Jenseits‘ als zu maximierender Vorteil zu kurz greift, weil das soziale Umfeld nicht ausreichend beachtet wird. Grundlage seiner Untersuchung ist das Rationalwahlmodell und die These, dass Ideologien funktionale Äquivalente zu Religionen sind. Damit kann er zunächst einen ökonomischen Zusammenhang von limitiertem (irdischen) Gegenwartskonsum und einem potentiell ewigen Jenseitskonsum herstellen. Im sozialen Umfeld muss dafür jedoch eine virtuelle Realität bzw. die Konfiguration eines bestimmten mentalen Modells für den Attentäter konstruiert werden. Selbstmordattentäter handeln dann aufgrund einer internalisierten Identität vom mentalen Modell her, das Vorteile wie Ehre, Status etc. verspricht. Ein geldwerter Vorteil spielt hier eine untergeordnete Rolle. Damit kann das Handeln rational erklärt werden, weil innerhalb des mentalen Modells – das bestimmte soziale Voraussetzungen hat: religiöse Fundierung, sektenartige Organisation – Attentäter trotz ihres Lebensverlustes ökonomisch handeln, so D. Schmidtchen.158 Instruktiv ist daran, dass die mentalen Modelle oder virtuellen

156 Vgl. auch die Beispiele Brinitzer 2001, Zitat: 170, vgl. 169 f. und den Bezug auf Schlicht 1995, 122 ff. bezieht, sowie Schlicht 1990. Zu Institutionen als Ausprägung von mentalen Modellen vgl. Denzau und North 1994, 22. 157 Vgl. Koch 2014a, 104 und 108 ff. M. Granovetter gestand mentalen Modellen keine kausale Wirkung zu. Vgl. Schwedberg 2008, 265. 158 Vgl. Schmidtchen 2010, 220, 223, 225. D. Schmidtchen stellt auch hier fest, dass ein Nutzen aus einer Fiktion bzw. einem Glauben gezogen werden könne, macht das aber an Probabilitäten analog zur pascalschen Wette fest. So ein Nutzen könnte jedoch auch von einem irdischen Ge-

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Realitäten auch das ökonomische Handeln determinieren. Was bei Selbstmordattentätern im Negativen funktioniert, könnte positiv mit einer christlichen Logik der Verausgabung ebenso im Guten ein dezidiert evangelisches Handeln in ökonomischen Kontexten möglich machen.

R. H. Nelson behandelt aus der ökonomischen Perspektive belief systems, die ökonomische Strukturen und das Verhalten beeinflussen. Die Frage, die hieraus ökonomisch resultiert, ist: Wie kann man ein mentales Modell erzeugen, durch das Vertrauen und Ehrlichkeit die Transaktionskosten senkt.159 Im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik stellt sich für R. H. Nelson darum die Anschlussfrage, wie sich die Ethik in die Ökonomie integrieren lässt. Soziale Motive existieren kaum im ökonomischen Vokabular, aber „complex group level arrangements“ beeinflussen das ökonomische Handeln. Es gibt „consumer illusions“ und „framing effects“, die sich auf die Präferenzen auswirken. Ein religiöses oder kulturelles Setting muss dabei ökonomische Bedürfnisse erfüllen und die Grundbedingungen für ökonomische Austauschprozesse liefern.160 Diese ethischen Systeme überbrücken die asymmetrischen Informationen, schützen vor Opportunismus und machen unvollständige Verträge möglich, da bestimmte soziale Bedingungen bzw. Pflichten gelten und so Transaktionskosten reduziert werden. 2.2.2.3.1 Fazit: Grenznutzen der Religionsökonomie Nach ersten Hinweisen zu den Grundlagen der Ökonomik sollte nun die religionsökonomische Perspektive auf Religion in ihrem Grundanliegen dargestellt werden. Die ökonomischen Modelle werden hier auf den Gegenstand Religion angewendet und so – mit P. Bourdieu gesprochen – die ökonomische Wahrheit religiöser Austauschprozesse entdeckt. Deutlich wird besonders an R. Brinitzers Versuch, Religion im Schema der Neuen Institutionenökonomik zu deuten, dass winn aus einer bestimmten Weltanschauung bzw. einem bestimmten Weltumgang heraus erklärt werden. Auf den Zusammenhang des ökonomischen Modells von Religion mit der Pascalschen Wette verweist auch Schmidtchen 2005, 3. 159 „Priesthoods […] define the culture of a society“, die ökonomisch erst in der Neue Institutionenökonomik Beachtung findet. Analog kann man auch von Managern als Priestern einer Unternehmenskultur im Sinne einer „firm religion“ sprechen. Vgl. Nelson 2001, 223 f. und 235, Zitate: 224. 160 R. H. Nelson scheint sich hier auf ‚Kulturkreise‘ zu beziehen oder abgeschlossene Kulturräume in denen bestimmte soziale Normen gelten. Diese Normen als Einheit müssen nicht religiös fundiert sein, sondern können auch national produziert werden. Ein kultureller Rahmen und eine Werteordnung werden damit zu einem zentralen Faktor, ohne den sich die neoliberale Marktwirtschaft nicht entwickeln konnte: „It takes a special form of religion to resolve the market paradox.“ Vgl. ebd., Zitate: 244, 245 und 260. Religion wird hier in Unterstützungsfunktion gedeutet, vergleichbar zu M. Webers Ansatz. Vgl. Kubon-Gilke 2007, 21.

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sich die ökonomische Fremd- und die religiöse Selbstdeutung nicht in Einklang bringen lassen, und es sich zunächst tatsächlich um zwei Wahrheiten handelt. Erkennbar ist jedoch auch, dass Ökonomen die theologischen Dimensionen der christlichen religiösen Praxis in ihrer differenzierten Form kaum wahrnehmen können, und sich daher auf Ablass, Purgatorium, Versicherungslogiken bei Heiligen (z. B. der Heilige St. Florian und die säkulare Feuerversicherung) oder dem jenseitigen Heil als zentrales religiöses Gut beziehen.161 Die wirtschaftssoziologischen und ökonomischen Methoden versuchen Religion im kulturellen Kontext rational zu greifen. Für kulturelle Phänomene scheint dies zu gelingen. Das jeweils Religiöse sperrt sich jedoch bei den ökonomischen Rationalitätskonzepten, weil der Glaube nur als Vorteil und in der Regel in seiner Nutzenfunktion in das ökonomische Theoriesetting passt. Eine religiöse Rationalität mit der ihr eigenen Logik kann die Religionsökonomie nicht im Kern treffen, weil ökonomische und soziologische Theorien als Voraussetzungen bereits religiöse Plausibilitäten ausschließen. Besonders ev.-lutherisch trifft diese ökonomische Logik den religiösen Kern kaum. Der Spagat zwischen einer möglichen Selbstdeutung im Zeichen der Gabe und einer Fremddeutung im Zeichen des äquivalenten Tausches wird ev.-lutherisch eher größer durch die Anwendung der ökonomischen Modelle, weil Phänomene die nicht in das Register des ökonomischen Tausches gehören könnten, zwangsläufig durch die Methodik ökonomisch verstanden werden müssten. Für (Hin)Gabephänomene zwischen Gott und Menschen oder in zwischenmenschlichen Interaktionen ist der ökonomische Deutungsrahmen blind. Zu den zentralen Fragen gehört hier, ob ein religiöses Handeln, dass sich als Gabe versteht, als Tausch entlarvt oder missgedeutet wird. Wie sehr diese Deutung auf ihren Gegenstand wirkt, soll im Folgenden anhand eines Fallbeispiels gezeigt werden. Werden ökonomische Methoden in der Kirche angewendet, hat das Auswirkungen, die aus den ökonomischen Grundlagen resultieren. Die Kontraste der verschiedenen Logiken zwischen Theologie und Ökonomie werden am Beispiel der Evangelischen München Programms augenfällig. 2.2.3 Ökonomie als Methode in der Kirche: Fallbeispiel eMp In der kirchlichen Praxis ist das Thema Ökonomie insbesondere über das Stichwort ‚Geld‘ wesentlich präsenter als in der akademischen Theologie. Die Ausein161 Vgl. Koch 2014a, 147. ‚Grenznutzen‘ bezieht sich auf Objekte und Dienstleistungen und zeigt an, dass der Nutzen (Freude oder die Abwendung von Leid) abhängig vom Kontext ist: Der erste Liter Wasser in der Wüste schmeckt besser als der zweite. In dieser Hinsicht kann der Mensch als ‚pleasure machine‘ verstanden werden. Vgl. Kuttner 2011, 70.

60 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie andersetzung mit finanziellen Mitteln und das Wirtschaften von Kirchen und Gemeinden zeigt einerseits, wie sehr Bestand und Gestaltung kirchlicher Arbeit von äußeren Faktoren bestimmt wird. Andererseits sind die theologischen Kriterien der Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen komplex, weil u. a. ekklesiologische, ethische, organisationstheoretische, theologische und ökonomische Dimensionen in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht werden müssen. Das nimmt einen breiteren Raum ein, weil es sich gewissermaßen um die gespiegelte Richtung der vorliegenden Arbeit handelt. Ob und wie das Evangelium in ökonomischen Kontexten gezeigt werden kann und welche ökonomischen Handlungen der christlichen Theologie widersprechen, kann kaum ohne eine Verständigung auf der Metaebene erreicht werden. Ethische Richtungsanzeigen und EKD-Texte können keinen verbindenden Deutungsrahmen produzieren, der eine christliche Orientierung in ökonomischen Kontexten auf einer strukturellen Ebene ermöglicht.162 H. Schnell stellt die Frage, ob Landeskirchen Geld als Mittel nutzen oder ihrerseits durch das Geld regiert werden. Mit der Frage nach Geld als sozialem Steuerungsmedium zieht sie das Fazit, dass Geld als „Tansmissionsriemen einer Selbststeuerung“ fungiert, um Ziele zu erreichen.163 Die Zielorientierung gehört jedoch bereits zu einer ökonomischen Organisationsform und die Perspektive des knappen Geldes lässt den reinen Mittelcharakter des Geldes eher als Ideal erscheinen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Geld ist zugleich eine ökonomische Logik und Denkweise präsent, die sich auf knappe Ressourcen, Effizienz, Nützlichkeitserwägungen etc. bezieht. Deutlich wird dies insbesondere anhand von gut dokumentierten Paxisbeispielen, weil auf diese Weise ökonomischer Versuch und theologischer Widerspruch erkennbar werden.164

162 Vgl. Hermelink und Bassler 2017, 67 ff. Vgl. auch exemplarisch Huber 2009. Auch hier geht es um das „ethische Fundament“ (6 und 9), Orientierung biete die biblische Botschaft, das Ziel ist eine lebensdienliche soziale Marktwirtschaft bzw. Ökonomie. Stichworte zur Erreichung dieses Ziels sind: Regulierung, supranationale Aufsicht, fairer Wettbewerb, globale Spielregeln, und dem Eigennutz soll eine „gemeinwohlverträgliche Gestalt“ gegeben werden, u. a. durch ethische Diskurse. ebd., 19 ff., Zitat: 21. Dass die soziale Marktwirtschaft bereits die Integration der christlichen Ethik [im Modus des Gesetzes] in die Ökonomie ist, argumentiert: Nutzinger 2006, 180. Zur Denkschrift ‚Gemeinwohl und Eigennutz‘ (1991) vgl. Herrmann 2005, 82 ff. 163 In Schnell 2017, 74 ff. und Zitat: 80. Vgl. zum Thema Geld im gleichen Heft: Petersen 2017, 81 ff. Vgl. auch Wicht-Stieber und Wulsdorf 2017, 86 ff. sowie Bassler 2017, 92 ff. 164 Eine zentrale Dimension der Praxis ist dabei die öffentliche Wahrnehmung. Negative Beispiele sind Legion, deutlich evangelische Handlungsmuster auf den Märkten des homo oeconomicus sind hingegen schwerer auszumachen.

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2.2.3.0.1 Das Fallbeispiel eMp Das Evangelische München-Programm165 kann als exemplarischer Praxisfall für das Verhältnis von Ökonomie und Kirche gelten, an dem sich kybernetische und theologische Chancen und Probleme darstellen und reflektieren lassen. Nach einer kurzen Darstellung des Programms soll die Kritik mittels der Publikationen des Initiativkreises ‚Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft‘ gegenübergestellt werden. In einem dritten Schritt werden die kybernetischen Konsequenzen gezogen. Dabei geht es um die inhärenten Steuerungsmechanismen der Logiken, die durch die Anwendung ökonomischer Methoden auf die soziale Form Kirche wirken. Genauer wird gefragt, inwieweit die Selbststeuerung des Systems von der Dynamik der ökonomischen Methoden beeinflusst wird. Mit dem vorgestellten Programm geht es nicht mehr um das reine Verwalten eines Zustandes, sondern die ökonomischen Instrumente werden zu einem integralen Bestandteil der konzeptuellen Gemeindearbeit.166 Das eMp ist ein Modellprojekt der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, das 1997 zeitlich (5 Jahre) und räumlich begrenzt, zusammen mit der Unternehmensberatung McKinsey im Dekanat München umgesetzt wurde. Entsprechend der identifizierten Problemlage eines „renommierten Unternehmens, aber distanzierter Kunden“, wurde der Fokus auf die Strukturen, die Personalführung sowie die Angebotskonzepte gelegt.167 Zunächst wurde die gesellschaftliche Ausgangslage analysiert. Die Lage der Kirche wird als Krise, aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen beschrieben.168 Der pluralistischen Gesellschaft wird eine Orientierungs- und Sinnkrise attestiert, worauf die Kirche mit Offenheit und „passenden Antworten“169 reagieren soll. Ein wichtiger Indikator ist die ökonomische Basis der Kirche, die eher noch als die Zahl der Kirchenaustritte als existenzgefähr-

165 Im Folgenden wird das ‚Evangelische München-Programm‘ mit ‚eMp‘ wiedergegeben. 166 Vgl. Breitenbach 1994, 202 und 212. Dies geht auch mit einem Wandel von einer ‚Kommstruktur‘ hin zu einer ‚Distributionsorientierung‘ einher. 167 Der McKinsey-Direktor Dr. Barrenstein initiierte das Modellprojekt, bei dem die Unternehmensberatung seine Dienste kostenlos (pro-bono) zur Verfügung stellte. Vgl. Herold 2004, 249 f. (G. Herold war ab 2000 Leiter des eMp). 168 Vgl. Dekanat München 1998, 3. McKinsey stellt einen dringenden Handlungsbedarf dar, der jedoch auch notwendig nachgewiesen werden muss, damit die Vorschläge von McKinsey plausibel und notwendig sind. Diesen Zusammenhang sieht auch: Herold 2004, 254. H. Lindner beschreibt die Herausforderungen der Großstadt / Gesellschaft auf gleiche Weise wie das eMpProgrammheft mit der Krisendeutung und betont besonders die resultierenden ökonomischen Probleme: Lindner 1997, 247 ff. R. Kunz bezeichnet H. Lindner als geistigen Vater des eMp in: Kunz 2007, 659. Der Einnahmeverlust erscheint als ursächliches Movens der Reform. Vgl. Beckmann 2007, 13–18. 169 Vgl. Dekanat München 1998, 5. Im Hintergrund kann man ein Reiz-Reaktionsschema vermuten. Wird eine Frage passend beantwortet, ist die Kommunikation aber in der Regel beendet.

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dend wahrgenommen wird. Die Wettbewerbsgesellschaft sowie instabile soziale Sicherungssysteme führen zu vermehrten seelsorgerischen Aufgaben und der Wettbewerb um Aufmerksamkeit erhöht die kommunikativen Anforderungen der Kirche. Weiterhin soll auf die Vereinzelung und die soziale Unfähigkeit von Menschen reagiert werden.170

Der Auftrag der Kirche wird als ‚Kommunikation des Evangeliums‘ beschrieben. Die Verkündigung der Liebe und Gerechtigkeit Gottes vermittelt Sinn, das zeichenhafte Handeln praktiziert Nächstenliebe, und die Gemeinschaft gibt Halt.171 In der Ausrichtung auf die Gesellschaft braucht es eine „bedeutsame Institution“172 auf dem Markt der Sinngebung. Bei der Untersuchung der Schwachstellen des Dekanates München wird das Ziel vorausgesetzt, das „Potential des Evangeliums“173 zu erschließen. Dabei muss die Kirche sowohl dem Auftrag, als auch den Mitgliedern gerecht werden. Ersteres wird nicht thematisiert. In Bezug auf die Mitglieder zeigen sich Defizite in der Orientierung an den Erwartungen der Mitglieder.174 In der Perspektive der Mitgliederorientierung finden sich die Schwachstellen hauptsächlich in folgenden Bereichen: Das Angebotskonzept ist nicht effektiv, da das bisherige unkoordinierte und profillose Breitenangebot kaum an Distanzierte kommuniziert wurde. Damit geht eine mangelnde Bedürfnisorientierung einher.175 Kirche wird so nur sozial-diakonisch und kasuell wahrgenommen. Die Struktur erschwert durch eine komplexe Entscheidungsfindung effektives Handeln als Konkurrent im Wettbewerb der Deutungssysteme. Die Institution soll als Instrument des Auftrages und als Dialogpartner der Mitglieder verstanden werden. Die Verbundenheit mit der Kirche soll durch die Orientierung im Glauben gestärkt werden. Die Mitarbeiterentwicklung gehört zu den dringendsten Aufgaben, um die Aktualisierung und Bewertung der Angebote, sowie die Orientierung am Auftrag und die Konzentration der Kräfte umzusetzen. Bei dieser Perspektive sind alle Mitglieder im Blick.

Aus der identifizierten Problemlage ergaben sich die folgenden Handlungsimpulse: Die Strukturen sollen zielorientiert ausgerichtet werden und eine Partizipation ermöglichen. Die Angebote werden von kompetenten und professionellen Mitar-

170 Vgl. Dekanat München 1998, 8. 171 Auch H. Löhr bindet das Programm an den Auftrag zurück. Die Auftragsbestimmung bleibt jedoch durchgehend allgemein. Löhr 2000, 28 f. Die Wendung ‚Kommunikation des Evangeliums‘ wurde von E. Lange geprägt und zielt auf das pro me, die faktische (aber kontingente) Wirkung der Kommunikation. Vgl. Pohl-Patalong 2011, 4. 172 Lindner 1997, 251. 173 Dekanat München 1998, 8. 174 Die Kirche orientiert sich nach Innen und verstärkt so einen negativen Regelkreis, der eine innere Distanz der Mitglieder zur Folge hat. Zitat und Vgl. ebd., 9. 175 Vgl. Lindner 1997, 250.

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beitern durchgeführt und am Auftrag sowie den Mitgliedern orientiert. Als Hauptziele erscheinen die Mitgliedergewinnung und die gesellschaftliche Relevanz.176 Die (Entscheidungs)Struktur wurde gestrafft und vier Stabsstellen wurden geschaffen: Angebotsberatung, Mitgliederforschung, Controlling und für die Mitarbeiterentwicklung. Zuständigkeiten wurden regionalisiert. In den Gemeinden sollte nach den Vorschlägen von McKinsey neben dem (strategisch arbeitenden) Kirchenvorstand ein Gemeindeteam, bestehend aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern, die Tagesgeschäfte führen.177 Die Stärken der Mitarbeiter sollen durch Personalgespräche, eine Entwicklungsorientierung mit Zielvereinbarungen sowie eine effiziente Einsatzplanung gefördert werden. Gleiches gilt in abgeschwächter Form auch für Ehrenamtliche, die Gemeindearbeit übernehmen sollen. Diese Zielorientierung gilt ebenso für die Gemeinden, die in halbjährlichen Planungsworkshops Schwerpunkte der Gemeindearbeit projektieren sollen. Die Angebote sollen an den Auftrag gebunden sein, sich aber maßgeblich an den Mitgliedern orientieren. Das wichtigste Instrument ist die Mitgliederforschung. Die Auftragserfüllung der Angebote wird an der Wirkung auf die Mitglieder gemessen.178 Dies wird aus Befragungen und dem Teilnahmeverhalten geschlussfolgert. Wie bei den Zielvereinbarungen für die Mitarbeiter, soll auch bei den Angeboten der Gemeinde kontinuierlich der Ist- und der Sollzustand abgeglichen werden, um die bestmögliche Auftragserfüllung zu gewährleisten. Stabsstellen bieten einen Angebotsbaukasten an und unterstützen bei der Öffentlichkeitsarbeit. Mit der Zielorientierung geht die Erfolgskontrolle einher. Über die Arbeit soll Rechenschaft abgelegt werden, sodass die Zielorientierung aktualisiert werden kann.179

Als Voraussetzung für diese Reform ist die Bejahung des Glaubensthemas, der Institution und der modernen Methoden sowie weiterhin eine Vision grundlegend, die auf eine zeitgemäße Erfüllung des Auftrages zielt. 1997 wurden Umstrukturierungen im Dekanatsbezirk München vorgenommen und bis zu 16 (von 66) Modellgemeinden für das Programm gewonnen. Im Jahr 2000 brach das Programm aufgrund mehrerer Probleme ab (Laufzeit ursprünglich bis 2002) und wurde 2001 für weitere fünf Jahre neu konzipiert, wobei die Mitgliederforschung und die Würdigung der ‚Distanzierten‘ im Mittelpunkt stand.180 Mit dem neuen Ansatz im Jahr 2001 wurden die Stichworte: Identität, Integration, Regionalisierung und Strukturreform leitend. Das Programm sollte nun als Prozess verstanden werden, der die corporate identity profiliert und die 176 Vgl. Dekanat München 1998, 15. Auch die biblische Botschaft muss hierfür neu übersetzt werden. 177 Vgl. Löhr 2000, 27. Dekanat München 1998, 20. 178 Vgl. ebd., 27. Nach H. Löhr ist alles, was die Gemeinde anbietet, ein Angebot. Löhr 2000, 28. 179 Der Kreislauf besteht aus: Datenbasis erheben, Strategie festlegen, Angebote einführen, Erfolgskontrolle. Vgl. Dekanat München 1998, Schaubild 8. 180 ‚Distanzierte‘ sollen aus der idealisierten Perspektive der ‚Stammkunden‘ nicht als defizitär bewertet werden. Vgl. Herold 2004, 251 f.

64 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Kernkompetenzen stärkt. G. Herold spricht nun von einer Ressourcenorientierung anstelle einer Defizitorientierung. Dabei kritisiert und modifiziert er die Perspektive auf die Kooperation von Wirtschaft und Kirche.181 Die Kirche solle nicht zum Produkt werden, sondern ihre gesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen. Der ‚Verkaufserfolg‘ lässt sich nicht messen, aber durch screenings kann diese Aufgabenerfüllung, die nun auch als Kulturarbeit gefasst wird, überprüft werden. 2004 wird die eMp Beratungsstelle aufgrund einer Lähmung des Umsetzungswillens, sowie eines „Gemeindepartikularismus“ geschlossen.182 2.2.3.1 ‚Evangelium hören I und II‘ Die Publikationen ‚Evangelium hören I und II‘183 reagieren auf das eMp. Der Initiativkreis mit dem ‚theologischen Ruf‘ zum Thema ging aus einer Konsultation von ‚Leidtragenden‘ des eMp 1999 in Erlangen hervor.184 Inhaltlich wendet sich der Initiativkreis gegen eine leitende Ideologie der Ökonomie in der Kirche. Im Verhältnis von Kirche und Welt soll sich die Kirche nicht den Markterwartungen unterwerfen, weil Glauben bzw. Glaubensvermittlung nicht im Modus des Warentausches funktionieren soll. Weiterhin werden die Selbstdeutung, die sich in einer Wettbewerbssituation versteht, und die theologischen Konsequenzen der ökonomischen Methoden und Terminologie kritisiert.185 In der Anpassung an ökonomische Denkgewohnheiten werde das Evangelium und die Kirche unfrei, da sie nach ‚fremden Gesetzen‘ handle. In den Thesen wird in Kontrasten formuliert: z. B. Kirche als creatura verbi oder Anbieter; Anbieter und Kunde; Habende und Nicht-Habende; Kommunikation im Evangelium oder Kommunikation des Evangeliums. Kritisiert wird auch die Gegenüberstellung von Kirche und Gemeinde und generell die Bedürfnisorientierung. Mit einem Verweis auf das Priestertum aller Gläubigen steht in diesem Zusammenhang die Gemeindeentwicklung von ‚außen‘ als Zielvorgabe der Institution Kirche in der Kritik.186 Favorisiert wird eine konziliare und egalitäre Verfassung der Kirche. 181 Z. B. modifiziert er die Deutung der Situation als Krise. Vgl. Herold 2004, 254. Zur Defizitorientierung vgl. Lindner 1997, 256. 182 Vgl. Beckmann 2007, 259 f. Faktisch ist das eMp gescheitert. Vgl. Hauschildt und PohlPatalong 2013, 194. Die lesenswerte Debatte zur Modernität der Kirche in der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2002 ist unter http://www.dekanat-hof.de/meinungdesmonats/meinungmaerz02.htm (Stand 27.4.2015) abrufbar. Diese Auseinandersetzung gehört in die Wirkungsgeschichte des eMp. 183 Im Folgenden kurz ‚Evh I und II‘. 184 Vgl. Forssman 2000, 7. Reagiert wird auch auf gleichartige Programme wie ‚Evangelisch in Nürnberg‘ bzw. die kirchlichen Tendenzen, sich als Kirche in der Wettbewerbssituation zu verstehen. 185 Die Anpassung an die ökonomische Sprachwelt führe zu falschen Vorstellungen. Die kirchliche Binnensprache hingegen ist notwendig für die analytische Präzision. 186 Vgl. die „Feldherrenhügelperspektive“ in: Wannenwetsch 1999, 14. Gegen das Argument des Priestertums aller Gläubigen ist einzuwenden, dass bei einer theologischen Erneuerung doch nur die theologisch Gebildeten erneuern und nicht alle Gläubigen.

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Die neue Perspektive, die die Autoren zur Diskussion stellen, geht von einem dogmatischen Ausgangspunkt aus. Während im eMp eine Methode zur Besitzstandswahrung vermutet wird, geht es dem Initiativkreis um eine Erneuerung, die sich nicht von äußeren Faktoren her bestimmen lässt, sondern von theologischen Überlegungen ausgeht.187 Das Evangelium wird als gänzlich andere Logik akzentuiert und damit die Kirche von der Welt getrennt. Der Hauptfokus liegt auf dem Gottesdienst und der Gemeinde. Eine Situationsdeutung wird nicht vorgenommen, sondern die alternative Perspektive lebt von der Abgrenzung zum eMp, indem sie nicht die Situation, sondern das Evangelium als Erkenntnisquelle priorisiert.188 Vertreten wird eine Amtstheologie, die sich auf ein gesellschaftliches Gut bezieht, im Gegensatz zu einem leistungsorientierten Arbeitnehmer bzw. der Orientierung an einem produzierten Leitbild und Zielen.189

In der Perspektive des Initiativkreises ist aus dem Experiment eMp ein Modell geworden, das von Beginn an der theologischen Fundierung ermangelte. Dargelegt wurde in den Veröffentlichungen dem Selbstverständnis nach kein alternatives Programm, sondern eine andere Perspektive. Wahrgenommen wurde hauptsächlich die geäußerte Kritik am eMp, die konstruktive Seite der Thesen aus Evh I führte nicht zum gewünschten Diskurs. Die Themen der Thesen werden in Evh II erneut entfaltet. 2.2.3.2 Kybernetische Konsequenzen des eMp Durch die Abgrenzung des Initiativkreises lassen sich verschiedene kybernetische Modelle vergleichen. Zu den Hauptdifferenzen zwischen dem eMp und Evh I und II gehört das Kirchenverständnis. Während das eMp die Institution Kirche betont, zielen die Autoren des Initiativkreises zuerst auf die Gemeinschaft der Glaubenden. Gedacht sind hier Parochialgemeinden, die aufgrund der lokal bestimmten Mitgliedschaft nicht in Konkurrenz zueinander stehen.190 Sie identifizieren im eMp eine Praxis, die zuvorderst organisatorische Fragen bearbeitet, ohne die theologischen Voraussetzungen ausreichend zu reflektieren. Dagegen sollten theologische Einsichten und Aufgaben strukturbildend sein. Während das 187 Mit jeder Reform werden die ekklesiologische Grundlagen (neu) definiert. Die Ev.-Luth. Kirche in Bayern formuliert ihr Selbstverständnis nicht dogmatisch-normativ, sondern personal und appellativ. Vgl. Bayern 1998, passim. Vgl. Beckmann 2007, 135. Die Hauptfelder werden als leiturgia, koinonia, diakonia und martyria beschrieben. 188 Argumentative Bezugspunkte sind häufig Röm 12,2 sowie CA 5 und CA 7. Gerade nach CA 7 ist Kirche funktional geprägt, so Laube 2011, 208. Vgl. auch Beckmann 2007, 304 f. sowie Wannenwetsch 1999, 5,14, 21 und zur CA: 2, 3, 12, 16, 19. 189 Vgl. Forssman 2000, 33 f. 190 Im Evh wird der kybernetische Anspruch der Institution Kirche als externe Gemeindeentwicklung, im Gegensatz zur innergemeindlichen Charismenentwicklung, interpretiert.

66 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie eMp mit seiner Nachfrageorientierung und Außenorientierung die Welt zum Ausgangspunkt macht, präferieren die kritischen Autoren eine Trennung von Kirche und Welt. Das Evangelium solle die Menschen verändern, nicht die Nachfrage der Menschen das Evangelium bestimmen. 2.2.3.2.1 Volkskirche Das eMp betont mit der Entscheidung zur Volkskirche, dass die Kirche Teil der Gesellschaft ist und sich von ihren Mitgliedern her versteht. Dabei soll die Volkskirche die Pluralität und den öffentlichen Auftrag in der Gesellschaft absichern. In der Regel sind volkskirchliche Modelle pfarramtlich als Betreuungskirche im Setting eines Kasualchristentums gestaltet. Die Institution hat ein Sachziel, vergleichbar mit Non-Profit-Organisationen (NPO). Im Fall der Kirche handelt es sich um den spirituellen Zweck der ‚Kommunikation des Evangeliums‘.191 Dabei versteht sich die (eMp)Kirche als Mitbewerber auf einem Markt und versucht die Konkurrenzfähigkeit durch geeignete Methoden zu erhöhen. Es gibt einerseits auch für NPOs einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und andererseits im religiösen Bereich alternative Deutungssysteme. Um in dieser Situation den Auftrag effizient zu erfüllen, braucht es eine prägende Identität, die nach Außen kommuniziert wird und nach Innen einen Leitbildcharakter hat (corporate identity). Zudem wird eine vertikale, rahmensetzende Hierarchie als erforderlich angesehen, um mit einer hohen Führungsdichte zu schnellen Entscheidungen zu kommen und so handlungsfähig zu sein. Hinsichtlich der Mitarbeiter verlangt das Führungskompetenz, aber auch den Willen, sich leiten zu lassen und sich in die Zieldefinition einzuordnen.192 Eine der Hauptintentionen hierbei ist die Entlastung der Mitarbeiter. Die Freiheit und der Individualismus der Mitarbeiter wird als Überforderung angesichts der ökonomischen Situation bewertet. Ein inhaltlicher Rahmen und Angebotsbausteine, sowie die Regionalisierung zur Nutzung von Synergieeffekten soll zu einem effizienteren Einsatz der Ressourcen führen. Damit wird der Konzentration auf die Kernkompetenzen Rechnung getragen.193 Kybernetisch optiert man hier für die Volkskirche und gegen Modelle der Gemeinschafts- oder Beteiligungskirche. Das volkskirchliche Modell lasse sich mit der Anwendung des Marktmodells vereinbaren, weil es die Pluralität mit einer einheitlichen Identität umklammert.194 Das eMp als kybernetische Antwort 191 Vgl. Lindner 1997, 255 und 257. 192 Vgl. Barrenstein 1997, 133. Vgl. Lindner 1997, 260. 193 Kernkompetenzen im Gegensatz zu einem Breitenangebot, das überall immer alles bieten will. Vgl. ebd., 252 f. 194 Vgl. Beckmann 2007, 112.

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auf die ökonomischen Herausforderungen will mit einer betonten Institutionalität der Kirche die ‚Marke‘ Ev.-Luth. Kirche in Bayern am Markt profiliert positionieren. Ökonomische Instrumente erscheinen im eMp als Lösung für eine veraltete und staatsanalog organisierte Kirche, die den Bezug zur modernen Welt sucht. Das neue Analogiemodell für die Optimierung der Auftragserfüllung sind Unternehmen. Vorausgesetzt ist dabei, dass Kirche kein Selbstzweck ist, sondern ihren Auftrag in der Welt zu erfüllen hat. Das Verhältnis von Welt und Kirche ist hierbei in besonderer Weise betroffen. Mit dem eMp ist die Richtung in die Welt, unter Anpassung an die Welt, vorgegeben. Mit der Orientierung an den Mitgliedern wird das Angebot der Kirche zunächst zu weiten Teilen von den Nachfragern gesteuert und nicht von der Institution selbst. Eine andere Option wäre die Randexistenz im Kontrast, bei dem versucht wird, eine weltliche ‚Kontamination‘ des Evangeliums zu vermeiden.195 Ekklesiologisch ist hier auf die Differenz von ecclesia visibilis und ecclesia invisiblis aufmerksam zu machen. Das eMp geht davon aus, dass die Mitglieds- und Teilnehmerzahlen der sichtbaren Kirche messbar sind. Damit ist dann auch die ‚glaubenweckende‘ Kernkompetenz richtig angewandt, wenn sich dies bilanzieren lässt. Im Programm wird die geglaubte Kirche und die kirchliche Organisation kaum differenziert. Dahinter verbirgt sich das institutionenlogische Problem, dass protestantisch die direkte Beziehung zu Gott primär zu fördern ist. Die Institution hingegen befindet sich in einer theologischen Nachrangigkeit. Das eMp hebt besonders den Aspekt der Institutionalisierung hervor, um so einem protestantischen Steuerungsdefizit entgegenzuwirken und strategiefähig zu werden. Gegen dieses Kirchenverständnis als Institution und der (aus der Sicht von Gemeinden) ‚externen‘ Zielsetzung regte sich Kritik, da hier eine übergriffige Steuerungsinstanz wahrgenommen wurde. Theologisch ist die Kirche weder Selbstzweck noch der Produzent einer herzustellenden Wirklichkeit, und in diesem Rahmen ist sie zu relativieren als irdische und geschichtlich kontingente Vergemeinschaftungsform.196 Ihre adäquate Gestalt ist eine Ableitung von ihrem Dienstcharakter, und ihre Leistung ist die Verkündigung des Evangeliums bzw. Wort und Sakrament nach CA VII. Damit bleibt der Zweck der Kirche unverfügbar und sie selbst von ihrer Grundlegung unterschieden.

Im eMp wird durch die Angebotssteuerung und Zielsetzungen die ecclesia visibilis derart in den Vordergrund gestellt, dass der Verdacht auf den Selbstzweck der Mitgliedergewinnung und den Selbsterhalt fiel. Die Alternative einer gemeindeorientierten konziliar-partizipatorischen Kirche versteht sich eher als ‚Familie‘ 195 Bspw. der Dualismus: ‚Getto oder Geistlos‘ von M. Herbst. U. a. Fn 240 in Kunz 2007, 651. 196 Vgl. Laube 2011, 134.

68 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie und nimmt die Idee einer congregatio sanctorum (CA VII) auf. Gegen eine Leitung als zentrale Führung (mit Partizipationsmöglichkeiten) stellen die Kritiker die dezentrale Beteiligung, denn damit würde die Freiheit des Evangeliums erhalten, was ebenso als Freiheit von der Leistungsgesellschaft verstanden werden kann. Weiterhin stehen zentrale Vorgaben strukturell in Konflikt mit dem Beziehungsgeschehen, das besonders im ehrenamtlichen Engagement bedeutsam ist. In der hierarchischen Führung wird das Ehrenamt potentiell zu einem Bereich des outsourcings von pastoralen Aufgaben. Damit fällt die Orientierung an den Charismen der Engagierten aus, da Zieldefinitionen erfüllt werden müssen. 2.2.3.2.2 Angebote Aus den Angebotskonzepten wird deutlich, dass das Programm eine modifizierte Versorgungskirche vor Augen hat.197 Die Mitgliederforschung dient der konsequenten Bedürfnisorientierung.198 Das Ziel ist die effiziente Auftragserfüllung in Form von Angeboten, in denen die ‚Kommunikation des Evangeliums‘ erfolgt. Dieses ökonomische Grundmuster von Angebot und Nachfrage geht davon aus, dass es eine Nachfrage gibt, die nur mit dem richtigen Angebot beantwortet werden müsse.199 Kybernetisch ist das eMp ein Werkzeug, um mit einem standardisierten Verfahren200 dem Anspruch aller Mitglieder zu begegnen. Die ökonomische Terminologie wird dabei nicht ungedeutet übernommen: z. B. wird die Bezeichnung der Mitglieder als Kunden benutzt, um die Perspektive auf alle Mitglieder auszuweiten und sich nicht nur an der Kerngemeinde zu orientieren. Dies entspricht dem Selbstverständnis von Distanzierten im Kontakt mit der Kirche,201 die sie als Dienstleister wahrnehmen und sich bewusst für eine Mitgliedschaft entscheiden und nicht mehr einer Tradition folgen. Dass die Terminologie aber auch prägend ist, zeigt sich vergleichbar an der Rede vom Sünder und Geschöpf, die nicht deskriptiv, sondern lokalisierend funktioniert. Mit der Zuschreibung ‚Kun197 H. Lindner präsentiert diesen Typus des Kasualchristentums. Vgl. Kunz 2007, 647. Nach J. Beckmann ist die Versorgungskirche überholt: Beckmann 2007, 177. 198 So in Dekanat München 1998, 35. J. Beckmann und G. Herold sehen die Nicht-Linearität von Angebot und Nachfrage. Beckmann 2007, 262. Herold 2004, 259 ff. Weiterhin kann mit Angeboten Nachfrage im Wettbewerb auch generiert werden. Die erste Phase des eMp ist jedoch streng nachfrageorientiert aufgebaut. 199 Ob im eMp die Bedürfnisse richtig eingeschätzt wurden, ist durchaus strittig. Hermelink 1999, 94. 200 Regelkreis: Zielsetzung, Durchführung, Bilanzierung und Zielrevision. Vgl. Lindner 1997, 260. 201 Z. B. bei Kasualien vgl. T. Klie in Kunz und Schlag 2014, 281 f. und aktueller Klie, Fendler und Gattwinkel 2017.

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de‘ wäre das Mitglied ein Objekt der Kirche, bei dem kein selbstständiger Glaube vorausgesetzt wird.202 Die Zielgruppe ist nur differenziert zu denken, da aus einem Teil der Zielgruppe die Kirche selbst besteht, wenn man eine universelle Sendung vor Augen hat. Das eMp verfährt jedoch häufig dualistisch und unterscheidet zwischen Kirche und Zielgruppe, Kunde und Mitarbeiter, Anbieter und Nachfrager. Das Angebot suggeriert einen Besitz der Kirche und die Weitergabe (Kommunikation) eines Objektes (Evangelium). Die ‚Außen‘orientierung wettet darauf, dass mit der Kirchlichkeit (visibilis) auch der nicht deckungsgleiche Glaube (invisiblis) einhergeht.203 In der Folge wird man damit einem individuellen Glauben nicht gerecht, besonders wenn man das Evangelium als passende Antwort versteht und somit nicht von einem selbstständigen Glauben ausgeht. 2.2.3.2.3 Ziele Die Zielorientierung wird auf allen Ebenen zur leitenden Methode. Dabei ist die Genese dieser Ziele wichtig, die ‚non vi humana sed verbo‘ (CA XXVIII)204 entstehen sollen. Hier wird auf die Beteiligung der Mitarbeiter gezielt, wobei ein kaskadierender Rahmen vorausgesetzt scheint. Sowohl das Dekanat, die Gemeindevorstände, als auch das Gemeindeteam und die individuellen Mitarbeiter unterliegen Zielvereinbarungen. Diese Ziele werden entsprechend der Marktsituation angepasst, um die Angebote sowie die Auftragserfüllung zu steuern. Der Rahmen der Zielvereinbarungen für das Gemeindeteam wird durch die Zielvorstellungen des Kirchenvorstandes abgesteckt. In der Personalentwicklung werden mittels jährlicher Gespräche die Entwicklungsziele der Mitarbeiter vereinbart.205 Bei einem Nichterreichen der Ziele wird mit ‚Unterstützung‘ nachgeholfen. Diese Gespräche werden auch auf Ehrenamtliche ausgeweitet, wodurch kirchliche Aufgaben ausgelagert werden. Den Rahmen steckt die Kirche ab, die Ehrenamtlichen integrieren sich in diese Strategie. Am Beispiel der Personalentwicklung zeigte sich jedoch, dass die Gespräche und Vereinbarungen ideal als Entwicklungsmöglichkeit, real jedoch als Kontrolle verstanden werden konnten. Im Hintergrund ist das 202 So Kunz 2006, 46. Die Kirche als creatura verba divini ist Adressat der Kommunikation des Evangeliums, mit der Aufgabe des ministerium verbi divini, womit die Differenz von Gottes- und Menschenhandeln betont ist. Vgl. Luther: WA 2,430,6 f. 203 An diesem Punkt ist Kontingenz zu markieren: Glaube ist kein Werk, das realisiert werden kann. Dem eMp wurde auch vorgeworfen, dass es strukturell keinen Platz für das ‚ubi et quando visum est Deo‘ (CA V) lässt. Zum Gabe-Charakter des Evangeliums: Auch hier sprechen Kirchen etwas zu, dass sie selbst nicht garantieren können. 204 M. Luthers Motto der Invokavitpredigten. Vgl. Lindner 1997, 259. 205 Es handelt sich um Gespräche unter vier Augen. Die Vereinbarung wird schriftlich fixiert, gehört aber nicht zur Personalakte. Lt. Barrenstein soll es jedoch Konsequenzen geben.

70 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Ziel der Leistungssteigerung deutlich. Theologisch ist es fragwürdig, das Verhalten von Gemeinden über Zieldefinitionen zu steuern. Sie werden damit zum ‚operativen‘ Bereich, im Gegensatz zum ‚Management‘, degradiert. Anders als z. B. die Friedhofsverwaltung entziehen sich Bereiche wie die Seelsorge einer direkten Operationalisierbarkeit und Evaluation durch Kennzahlen. Der Vorteil der Zielvereinbarungen ist neben einer Effektivitätskontrolle und der kontinuierlichen Aktualisierung der Angebote, dass damit auch die Verantwortung jeweils konzentriert wird. Verwaltung, Leitung und ausführende Organe stehen in einem solchen Zusammenhang, der auch die Verwaltung in die Zielorientierung einbezieht.206 Aus dem eMp und der darauf folgenden Kritik werden die grundlegenden Differenzen deutlich, die sich kybernetisch auswirken. Die Orientierung an der empirischen Realität einerseits und ein dogmatischer Determinismus auf Seiten der Kritiker markieren den unterschiedlichen Ausgangspunkt. Kirchlichkeit und Christentum sind nicht deckungsgleich, aber die geistliche Gemeinschaft soll in der sichtbaren Gestalt je ihren spezifischen Ausdruck zwischen religiöser Idealgestalt und empirischer Realgestalt finden. Zentral verhandelt wird das Verhältnis zur Welt, und damit steht zur Disposition, wie Kirche sich selbst und die Gesellschaft deutet.207 Aus dieser Selbstbestimmung folgen die kybernetischen Konsequenzen, die im Rahmen der Volkskirche als Dienstleister208 oder in einer Beteiligungskirche partizipatorisch akzentuiert werden. Die Deutung des Verhältnisses von Welt und Kirche entscheidet an dieser Stelle über die Methoden der Kirchenleitung. Bei einer Distanzierung von Kirche und Welt, einem Kulturpessimismus, erscheinen ökonomische Methoden als fremde Herrschaftsmittel, denen mit der „Prinzipalisierung des Evangeliums“209 begegnet wird. Im Rahmen des eMp wird die Gesellschaft nicht mehr als Bedrohung verstanden, sondern gerade die Integration ökonomischer Methoden zeigt die Anerkennung. Dadurch erscheint die Gesellschaft nicht nur als Rahmen von Kirche, sondern die Kirche ist eingebettet in die Gesellschaft. Die gegenseitige Anerkennung ist eine Voraussetzung für das konstruktive Mitwirken in der Gesellschaft, und auch die Kommunikation des Evangeliums ist nicht zuletzt auf Anerkennung angewiesen. Damit richtet sich kirchliches Handeln nicht nur exklusiv auf die Mitglieder (wie bei einem Welt-Kirche-Dualismus), sondern inklusiv und universal im 206 So kann vermieden werden, dass Verwaltung und Leitung aneinander vorbei arbeiten und z. B. finanzielle Folgen nicht von der Leitung verantwortet werden müssen. Vgl. Beckmann 2007, 126. 207 Vgl. Laube 2011, 133, 152. 208 Vgl. Klie und Kühn 2019. 209 Vgl. Grabenstein 2004, 75.

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Sinne der generellen Sendung auf die Gesellschaft. Potentiell entsteht durch die Verflechtung keine Konkurrenz, sondern ein Austausch.210 Das eMp zielt in seiner Ausrichtung jedoch nicht so weit, sondern auf die ‚Rückkehr‘ der Distanzierten. Diese Implikationen des eMp und seiner Kritik wirken auf die Vorstellungen von einer Kirchenleitung. Das geschichtliche Sein der Kirche wird mit Strukturen der Ökonomie dem Selbstverständnis eines Marktteilnehmers nach angepasst. Leitbilder und Visionen werden dabei als Zielsetzung und als Selbstreflexion genutzt, können aber kritisch als Linearisierung hin zu einer Einheitstheologie verstanden werden. Leitung schließt in der Regel eine Zielorientierung ein. Dadurch wird Macht über die Ausrichtung der Kirche und das Selbstverständnis ausgeübt. Im eMp wird die Richtlinie von der ‚Kirche‘, genauer dem Dekanat, an die nächsten Ebenen weitergegeben. Hier sind die Dualismen bzw. das Gegenüber von Kirche und ‚Kunde‘ in der Kritik problematisiert worden. Es stehen sich die zu einer äußerlich wahrnehmbaren Identität geführte Kirche und ein Organismus in pluralen Dimensionen gegenüber, der jedoch profillos erscheint. In der ausgewählten exemplarischen Diskussion treffen hier (auch aufgrund der Emotionalität in der geführten Auseinandersetzung) besonders scharfe Antithesen aufeinander. Eine weitere Möglichkeit wäre beispielsweise, Kirche als Verband zu verstehen, der die religiösen Interessen seiner Mitglieder vertritt. Die im eMp genutzte Marktmetapher erfordert nach Ansicht der Autoren ein stringentes Unternehmensbild sowie eine Bedürfnisanalyse. In diesem Rahmen können so Kosten und Leistungen zugeordnet werden. In einer staatsanalogen Verwaltung ist das nicht per se gegeben. Eine effiziente Ressourcenallokation soll passende Angebote zu einer vorausgesetzten Nachfrage liefern. Die Konzentration auf ‚erfolgreiche‘ Angebote setzt die Messbarkeit des Erfolges voraus. Mit der Methode wird so kybernetisch auch über die Gestalt von Gemeinden entschieden, indem der Effektivitätsanspruch leitend wird, der sich im Teilnahmeverhalten auslesen lässt.211 Im eMp erscheint mangels theologischer Ausführungen als Ziel die Sichtbarmachung der Glaubenden in der Institution Kirche.212 Die Gefahr ist eine Verzweckung der Kirche, die nach der Maxime der Zweckrationalität und der Nachfrageorientierung ihre eigene Wirklichkeit reduziert und damit u. a. nicht nachgefragte und unpopuläre Themen vernachlässigt.213 210 Mit gesellschaftlicher Relevanz und Nützlichkeit kann man jedoch nicht die ‚guten Gründe des Glaubens‘ legitimieren: so Jähnichen 1997, 174. 211 Vgl. Beckmann 2007, 265. 212 J. Hermelink spricht von „theologische[r] Sparsamkeit“. Vgl. Hermelink 1997, 576. 213 Mit der Nachfrageorientierung ist zugleich ein basisdemokratischer Zug verbunden, der die Dienstleistungen der Kirche an ihren Mitgliedern ausrichtet. Alternativ wäre eine ‚geistliche

72 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Die Perspektive, mit ‚Leistungen‘ zu operieren, entspricht dem Selbstverständnis eines Dienstleisters. Kirchliche Angebote als Produkte zu beschreiben, trifft den Sachverhalt aber kaum. Als Dienstleistung verstanden ist hingegen die Prozesshaftigkeit und die Abhängigkeit von den ‚Konsumenten‘ gewahrt. Zudem basieren Dienstleistungen auf externen Faktoren, die der ‚Kunde‘ beisteuert. Das ‚Dienstleistungsprodukt‘ gibt es dann immer nur zusammen mit dem Konsumenten im Gebrauch und nicht ohne ihn. Der Leistungsaspekt nimmt jedoch genauso wie die Marktmetapher die veränderte gesellschaftliche und ökonomische Situation war. Kirchenmitglieder sind häufiger Mitglieder aufgrund ihrer Entscheidung und nicht mehr aufgrund ihrer Sozialisation. Das fällt mit der Erosion der Oligopolstellung der Kirche zusammen. Diese Entscheidung zur Mitgliedschaft kann ebenso als Leistung gedeutet werden und ist mit einer Erwartung verbunden, operiert also wiederum mit dem Marktmechanismus von Leistung und Gegenleistung. Empirisch lässt sich ein Konnex zwischen Qualität bzw. Leistung und Mitgliedsverhalten aber gerade nicht darstellen.214 Die Veröffentlichungen Evh I und II hingegen geben einer Amtstheologie den Vorzug, die ihren Auftrag als gesellschaftliches Gut bezeichnet. Diese gesellschaftlichen Güter entzögen sich dem System ‚Markt‘.215 Gesellschaftliche Güter sind jedoch nicht frei von Leistungsaspekten und Erwartungen. Wenn hauptsächlich die Bedürfnisse der Mitglieder das Teilnahmeverhalten steuern, ist es folgerichtig hier anzusetzen, wenn das Ziel eine quantifizierbare Veränderung sein soll. Die Autoren von Evh gehen von einer intrinsischen Motivation zur Teilnahme in den Gemeinden aus, während man dem eMp durch die ‚passenden‘ Angebote eine extrinsische Motivierung unterstellen kann. 2.2.3.3 Ökonomische und theologische Logiken des eMp Mit dem eMp ist ein Verfahren der Ökonomie auf den Bereich der Kirche angewendet worden. Der systemorientierte Ansatz von McKinsey stellt dabei Methoden bereit, die sich auf die Strukturen beziehen. Zu unterscheiden sind Formalziele Priorisierung‘ der Aufgaben möglich, ebenfalls in der Perspektive von strategischem Handeln. Abromeit 2001, 30. Ökonomisch ist gar nicht eindeutig, welches Mittel welchen Zweck erfüllt. 214 Vgl. Meyns 2013, 130. Weiter kann man nach einer (religiösen) Vertrauensleistung und einer transzendenten Begründung von religiösen Beziehungen unterscheiden. Zumindest zeigt sich dadurch eine ‚Sensibilität für die Subjektempfindlichkeit‘. Vgl. Famos 2005, 15 f. 215 Als Beispiele gelten Mediziner, Juristen, Lehrer. Vgl. Beckmann 2007, 311. A. Grabenstein parallelisiert ‚nützlich‘ mit Gesetz und ‚übernützlich‘ (z. B. Sabbat) mit dem Evangelium. Grabenstein 2004, 77. H. Lindner meint, der Ausstieg aus dem Markt müsse auch auf dem Markt erscheinen, um wahrgenommen zu werden. Lindner 1997, 258 f.

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(z. B. Selbsterhalt) und Sachziele. Deutet man Kirche als NPO, so wird ein Sachziel festgestellt (Kommunikation des Evangeliums). McKinseys Verfahren sollen den strategischen und operativen Prozess der Zielfindung und Umsetzung optimieren. Die normative Definition des Sachziels bzw. des Inhaltes bleibt jedoch der jeweiligen Organisation vorbehalten.216 Das Selbstverständnis als NPO kann man als säkularisierte Selbstdeutung interpretieren. NPOs verhalten sich zudem häufig wie For-Profit-Organisationen, aufgrund ihres Finanzierungsbedarfes. Organisationstheoretisch kann man Kirche als Sozialform zur Bewältigung von Aufgaben unterschiedlich akzentuieren: Als Institution, die sich nicht in Konkurrenz sieht, als Organisation, die zweckrational handelt oder als Gruppe mit einem geringeren Organisationsgrad.217 Mit der Verschiebung von der Staatsanalogie hin zur Unternehmensanalogie wird die ökonomische Sichtweise in die Struktur der Kirche implantiert. Eine Konsequenz davon sind neue Deutungsmuster der kirchlichen Wirklichkeit. Die externe Vermarktlichung führt mit dem eMp zu einer internen Vermarktlichung, sodass mit neuen Instrumentarien auch die Selbstdeutung der Kirche verändert wird. Je nach Akzentuierung kann man Kirche im Rahmen des Staates (verwaltungsnah), des Marktes (wirtschaftsnah) oder als private Gruppe (basisnah) verstehen,218 und einer Institutionen-, Organisations- oder Gruppenlogik folgen. Mit dem eMp ist die Orientierung an der Organisations- bzw. Marktlogik erfolgt. In der Konsequenz ist damit zunächst ein Knappheitsparadigma vorausgesetzt.219 Der homo oeconomicus wählt (simplifiziert) in dieser Knappheit die vorteilhafteste Option. Mit diesem Modell ist ein einheitlicher Bezugsrahmen für menschliches Verhalten gegeben, der sich auf verschiedene Systeme anwenden lässt.220 Wendet man diesen Bezugsrahmen auf den homo religiosus an, so operiert man mit Glaubensgütern, die nicht überprüfbar sind und als immaterielle Güter nicht unabhängig von den Konsumenten entstehen. Die NichtÜberprüfbarkeit der Glaubensgüter geht mit einem Vertrauensproblem einher. 216 H. Löhr meint, das eMp ist eine „geistliche Aufgabe“. Damit ist Inhalt und kybernetisches Instrument verwechselt: Ökonomie wird so zur Leitideologie. Vgl. Löhr 2000, 25. Zum systemorientierten Ansatz vgl. Famos 2005, 69. 217 Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 117 und 137 ff. 218 Vgl. ebd., 186. Kirche befindet sich im intermediären Sektor. Ebenso Meyns 2013, 231. Auch ‚Institution‘ kann als säkulare Selbstbeschreibung verstanden werden lt. Schlamelcher 2009, 218. Alternativ ist die Wahrnehmung als Netzwerk. Vgl. T. Klie in Kunz und Schlag 2014, 283. 219 Vgl. Jähnichen 1999b, 224. Knappheit ist ein ‚Artefakt‘, ein soziales Konstrukt. Luhmann 1994, 177. 220 Das Modell hat Grenzen. Bildung wird in dieser Perspektive nur als Investition in Humankapital verstanden. Vorteile und Nachteile passen nicht immer. Vgl. Meyns 2013, 94, 106, 111.

74 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Erfahrungsgüter (z. B. soziale Interaktionen) hingegen können Vertrauen akkumulieren, dass dann auf die Glaubensgüter zu übertragen ist.221 Damit erscheint religiöses Handeln als Tauschgeschäft. Ernstgenommen wird damit eine Konkurrenz zu anderen Optionen der Freizeitgestaltung.222 Die Reduktion des eMp auf die Glaubensthematik reduziert in der Gütertheorie jedoch den Markt auf die bereits Glaubenden, weil der Zusammenhang von Inhalt und Effekt nicht beachtet wird. Die Konzentration auf das ‚Kerngeschäft‘ muss in der ökonomischen Deutung differenzierter vorgehen und kann die Erfahrungs- / Vertrauensgüter nicht vernachlässigen.223 Es verbietet sich dabei, Knappheit und Nutzenmaximierung oder ein finalistisches Denken auf den Glauben und das Verhältnis zu Gott anzuwenden, weil die Ökonomie Gottes mit einer Logik der Überfülle verfährt, die sich reformatorisch gerade jeder Rechnerei entzieht.224 Theologie entfaltet sich in Bezug zum Phänomen Gabe und nicht in Reziprozitätsstrukturen. Mit dieser grundlegenden Unterscheidung kann man, wie die Autoren von Evh I und II, von zwei entgegengesetzten Logiken sprechen. Man wird jedoch als ‚Kirche in der Welt‘ zur Ökonomie Stellung nehmen müssen. Die kritischen Autoren versuchen ihre kybernetischen Überlegungen von der Theo-Logik her zu denken.225 Die Idee des eMp hingegen geht davon aus, dass eine sachgemäße Integration der Ökonomie in die Kirche mit Gewinn möglich ist. Dabei ist das Verhältnis von Theologie und Ökonomie entscheidend: Bis zu welchem Punkt ist Ökonomie sachzieldienlich, und ab welchem Punkt beginnt die Ökonomie das Evangelium zu dominieren? Als kleines Beispiel kann auf die Verbeamtung verwiesen werden. Gezahlt wird eine Alimentation und keine Leistungsvergütung. Mit einer Sachzielorientierung und einer Leistungsüberprüfung wäre jedoch auch eine leistungsabhängige Bezahlung denkbar. Damit ginge ein grundsätzlicher Wandel des Berufsverständnisses einher.226

221 Vgl. Kunz 2006, 42. 222 Mitglieder ‚investieren‘ Zeit. In dieser Deutung unterliegt auch Zeit dem ökonomischen Paradigma. J. Stolz weist darauf hin, dass kirchliche Güter durch säkulare Güter ersetzt werden können. Stolz 2006, 115. Das Ende einer Kirchenmitgliedschaft bedeutet nicht, dass diese Menschen in alternativen religiösen Formen aktiv werden. So auch Meyns 2013, 123. 223 Vgl. McKinsey bei den Berliner Philharmonikern in: Kunz 2006, 32. 224 Vgl. dazu den Hinweis, dass mit der reformatorischen Kritik am Ablasshandel eine Dekommerzialisierung des Religiösen eingeleitet wurde. Jähnichen 2000, 128. Gottes Güter sind mehr als die Kompensation von Mangelerfahrung. Es gibt auch keine Entsprechungslogik. 225 Barmen III und IV verweisen auch auf die Korrespondenz von Bekenntnis und Gestalt der Kirche. 226 Auch hier kann man wieder befürchten, dass die extrinsische Motivation die intrinsische zerstört. Gleiches könnte man mit der vocatio interna und externa durchdenken. Vgl. Karle 2010, 213.

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Mit der Zielorientierung, die sich von einer Auftragserfüllung unterscheidet, ist das Handeln auf einen Zweck ausgerichtet. Ekklesiologisch aber gilt, dass die Aktivität der Kirche nicht zielentscheidend ist. Sie kann nur handeln, ‚als ob‘ es so wäre. Das bedeutet: Ob die (dialogische) Kommunikation des Evangeliums glückt, kann die Kirche nicht sicherstellen, weil sie den Raum für Gottes handeln prinzipiell offenlassen muss.227 Als Alternative zur ‚Kommunikation‘ weist E. Schmidt-Gräb darauf hin, dass Verkündigung, primär als Lob Gottes, nicht nutzenorientiert ist. Erst sekundär käme der Nächste in den Blick, wodurch die Verkündigung dann erst zu einem Instrument der Glaubensentwicklung würde. Krisenhaft ist nicht das organisatorische, sondern das inhaltliche Defizit.228 Damit ist nicht mehr auf eine Tausch-Struktur Bezug genommen, sondern auf das Bezeugen des Evangeliums. Hinzu kommt die aristotelische Unterscheidung von πρᾶξις und ποίησις, darstellendem und zweckgebundenem Handeln in der Kirche.229 I. Karle unterstreicht, dass kirchliches Handeln Praxis ist, seinen Zweck in sich trägt, und nicht der Zweckrationalität als Grundmuster der Zielorientierung unterliegen kann. Religion hat für sie nur einen Nutzen, wenn sie gerade keinen intendierten Nutzen hat. Der existierende Nutzen müsse latent bleiben.230 Die Bedürfnisorientierung und der Dienstleistungsgedanke blenden den Praxischarakter der Kirche aus, wodurch der ‚unbezahlbare‘ Glauben und die Botschaft von der Fülle kaum mehr mit der Struktur der Kirche korrespondieren. Die finanziellen Probleme der Kirche sind einerseits das Einfallstor der ökonomischen Geltungs- und Deutungsansprüche, andererseits auch eine Chance diese Methoden funktional in Dienst zu stellen und für den guten Sachzweck einzusetzen. Kybernetisch kommt es darauf an, das Verhältnis der Logiken und Gewichtungen auszutarieren, sowie die Geltungsansprüche zu klären. Kirchen müssen in ihrer Sachlogik gegen die ökonomische Vernunft entscheiden können. Es müssen Marktfähigkeit und Marktförmigkeit unterschieden werden. Ökonomische Methoden als Medium des Handelns wirken sich auf den Inhalt aus. Die Vorstellungen, die mit einer bestimmten Terminologie verbunden sind, führen ihre urspüngliche Verwendung und damit ihre Logik in die Kirche ein. Für J. Schlamelcher geht damit die Banalisierung und Desakralisierung religiöser Sprache einher. Wenn die ökonomische Deskription normativ wird, enthält sie 227 Vgl. Hauschildt und Pohl-Patalong 2013, 212. Vgl. ‚ὡς μη‘ I Kor 7,29–31. 228 Vgl. Gräb-Schmidt 1999, 73. 229 Vgl. Meyns 2013, 164. 230 Vgl. Karle 2010, 112 f. Sie setzt sich mit dem Impulspapier der EKD ‚Kirche der Freiheit‘ (2006) auseinander. Vgl. auch Fischer 2006b, 69 f.

76 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie zugleich den Imperativ zur Reform. Im eMp sowie auch im EKD Impulspapier ‚Kirche der Freiheit‘ bekommt die Theologie eine legitimierende Funktion und zentrale Theologumena werde „museal“ verwendet.231 In den Ausführungen um das eMp kamen die Mitglieder in der Funktion von Geldgebern in den Blick, deren Bindung an die Kirche gefestigt werden sollte. Bei einer Sozialform, die sich als Dienstleister versteht, ist die Gefahr, dass sich unzufriedene ‚Kunden‘ abwenden, ungleich größer als bei einer Institution. Kunden brauchen eine permanente Pflege der Kundenbeziehung. Mitglied einer Institution kann man ‚distanziert‘ sein, sofern die Institution bejaht wird.232 Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie besteht in einer Spannung von verschiedenen Logiken und Vorstellungen, die sich auf das Phänomen Kirche auswirken. Es gibt dabei Analogien in der Rezeption von soziologischen (50er) und psychologischen (70er) Vorstellungen in der Praktischen Theologie, jedoch sollte deutlich werden, dass die ökonomischen Vorstellungen (seit den 90ern) besondere kybernetische Implikationen haben, da sie die Struktur, die Steuerung und das Selbstverständnis der Kirche auf allen Ebenen beeinflussen können. Anzumerken ist in diesem Rahmen nur, dass sich am eMp und seiner Kritik ebenso der Diskurs zwischen einer empirischen Theologie und Barths Wort-Gottes Theologie ausmachen ließe. Damit ist das kybernetisch relevante Verhältnis von Kultur und Theologie in der Diskussion um die Real- und Idealgestalt von Kirche als Grundproblematik innerhalb der Praktischen Theologie angesprochen.233 Im Konzept des eMp drückt sich die Suche nach einer praktisch anwendbaren Form von Leitung aus. Der Ausgangspunkt des eMp wurde zunächst als Krise bestimmt. Mit den Leitungs- und Steuerungsformen, die der Ökonomie entliehen sind, wird jedoch nicht nur einer Krise begegnet. Diese Methoden können dazu beitragen, die Zukunft der Kirche unabhängig von der Krisendeutung zu gestalten. Sie können zu einem Instrument der Entfaltung kirchlicher Potentiale werden, wenn mit ihnen eine christliche Position gesellschaftlich Relevant bezeugt 231 Vgl. die Argumentationsstruktur: ‚es ist neu – wir müssen – wir dürfen‘ in Schlamelcher 2009, 181, 231 und 233. Zitat: Meyns 2013, 181. 232 K. Fechter weist darauf hin, das gerade die Volkskirche (als Wahrnehmungsweise und Konzeptbegriff) die Distanz ermöglicht. Das Verhältnis von Institution und Organisation, kann als Alternative, als kohärenter Zusammenhang oder als Hybrid mit „konträre[r] Eigenlogik“ bestimmt werden. E. Hauschildt in Kunz und Schlag 2014, 170; K. Fechter: 163. Im eMp ist die Unterscheidung zwischen Organisation und Institution nicht deutlich, weil sich die Institution, so die eigene Terminologie, wie eine Organisation strukturiert. 233 Vgl. die ‚Emigration der Kirche aus der Gesellschaft‘: zitert in: Grethlein 2012, 50 und 468. Mit Schleiermacher und Barth könnte ferner auch zwischen einer Theologie ‚von unten‘ (eMp) und einer Theologie ‚von oben‘ (Evh) unterschieden werden.

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werden kann und die Glaubenden in der Kirche Ressourcen und Strukturen vorfinden, die es ermöglichen, zu Medien des Evangeliums und der Fülle Gottes zu werden. Die Machtstrukturen, die mit den ökonomischen Methoden und Vorstellungen gegeben sind, stehen in einer bleibenden Spannung zum dogmatischen Ideal. Die Transformation von der Institution hin zur Organisation wird häufig als notwendiger Modernisierungsschritt gewertet, der mit einer veränderten gesellschaftlichen Situation einhergeht.234 Die ökonomische Terminologie bringt genauso einen Wahrnehmungsgewinn wie die Verfahren an sich, weil die Marktrückkopplungen sichtbar werden. Durch die Zuordnung von Kosten und Leistungen, der Definition von Zielen und der Evaluation kann die Kirche zu einem Akteur werden, der handlungsfähig wird und seine Mitglieder handlungsfähig macht. Zu diesem Wahrnehmungsgewinn gehört auch die Angewiesenheit auf die Bedürfnisse der Mitglieder und die konkurrierenden Alternativen. Das nimmt die Mitglieder in ihrer Lebenswelt wahr und ernst. Dennoch sollen mit diesen Mitteln Lebensräume ohne Nutzenkalküle und Zweckorientierungen eröffnet werden. Für die kirchliche Botschaft müssen sich einerseits Form und Inhalt für die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses entsprechen. Andererseits ist ein Dualismus im Sinne einer zwei Regimente-Lehre kaum der kirchlichen Situation angemessen, da die Organisation Kirche nicht nur zu einem Regiment gehört. Im eMp zeigt sich der dynamische Prozess des Ausgleichs dieser Forderungen.235 Entsprechend ist mit der augustinischen Unterscheidung von uti und frui das Verhältnis zu Gott und der Welt nicht allein kontrastiv geregelt. Die kybernetischen Werkzeuge sowie die Marktmetapher haben im Gebrauch (usus) zugunsten des Glaubens ihren relativen Wert (uti in deo). Die kybernetische Konsequenz ist dann, den Dienst- und Gebrauchscharakter deutlich werden zu lassen. Dabei muss gezeigt werden, ob sich die Kirche von den Bedürfnissen ihrer Mitglieder her rechtfertigen will oder von der Bezeugung ihrer Wahrheit.236 Die in diesem Beispiel angezeigten Differenzierungen weisen auf die Vielschichtigkeit dieses Ausgleiches hin, der die Gestalt und Steuerung von Gemeinde maßgeblich beeinflusst. Als Konsequenz erscheint die Ökonomie, trotz der Problematisierungen, als konstruktive Kooperationsdisziplin für die Kybernetik, da ohne diese Perspektive kirchliche Handlungsfelder und Kompetenzen ausgeblendet würden. Aus theologischen Gründen ist dabei aber immer wieder zu prüfen, inwieweit 234 Z. B. Grethlein 2012, 392. Anders Meyns 2013, 231 f. 235 Parallel in der Philosophie wäre das Verhältnis von Tausch- und Gabephänomenen zu nennen. 236 Dr. Barrenstein hält eine 25 % längere Lebenserwartung religiöser Menschen für ein Verkaufsargument. Eine solche Argumentation ist theologisch unterdifferenziert. Bildung wäre in diesem Schema nichts weiter als eine Investition in Humankapital. Vgl. Barrenstein 2009, 13.

78 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie sich dadurch eine ökonomische Ideologie Geltung verschafft. Weiterhin fehlt eine evangelisch-ökonomische Position, die biblisch und an theologiegeschichtliche Konstanten zurückgebunden ist, um den ökonomischen Methoden mit eigenen ökonomischen Einsichten im Diskurs auf Augenhöhe zu begegnen.237 Besonders die Marktmetapher und soziologische ‚Markt‘-Forschungen können dabei helfen, einerseits den Marktbegriff mit sozialen Komponenten anzureichern und andererseits die Konstruktion von Märkten und Güter in den Blick zu bekommen. Auf diese Weise könnte die theologischen Selbstdeutung sowie die ökonomische Deutung über einen Marktbegriff miteinander vermittelt werden, sodass das Narrativ sich nicht nur in Dualismen erschöpfen muss. Besonders wichtig ist hierfür, dass auch die Ökonomie auf Glaubensstrukturen basiert und es augenfällige Analogien gibt. Diese werden erkennbar, wenn Ökonomie als Objekt der Religionsökonomik perspektiviert wird. Zunächst soll jedoch die religiössäkulare Konkurrenz thematisiert werden, wobei religiöse und säkulare Angebote als funktionale Äquivalente analogisiert werden. Auch in der (religionsökonomischen) Fremddeutung von Religion wird häufig im Modus von Konkurrenzmärkten interpretiert, die auf der Differenz religiös vs. säkular beruhen. Nachfolgend soll ein knapper Einblick in die Deutung religiöser Gütern vom neoklassischreligiösen Marktverständnis her diese Perspektive erhellen, die religionsökonomisch verfährt, aber – wie sich im eMp zeigte – ebenso in der Selbstdeutung von Kirche und Gemeinde relevant ist. 2.2.3.4 Exkurs: Auf den Märkten religiös-säkularer Konkurrenzen J. Stolz entwirft eine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor einem neoklassisch bzw. institutionellen Hintergrund. Er geht von funktionalen Äquivalenzen aus, die auf ein Bedürfnis reagieren und kann so Imitationseffekte erklären, z. B. warum Gottesdienste zu ‚Events‘ werden.238 In einer Studie zu ‚religiös-säkularer Konkurrenz‘ untersuchen J. Stolz et al. Groß-, Freikirchen und religiös-spirituelle Anbieter in der ‚Ich-Gesellschaft‘ in der Schweiz.239 Das Forscherteam diagnostiziert eine sich verstärkende individuelle Konsumorientierung und entwirft ein ‚Konkurrenzregime der Ich-Gesellschaft‘, bei dem die Nutzenfunktion für den Einzelnen ein maßgebliches Kriterium ist. Aus der Perspektive der Nachfrager wird 237 Es sei auf eine erhellende biblische Rückbindung hingewiesen: Jesaja stellt Gott, um seines Volkes (und des Bundes) willen, als marktfähigen aber nicht marktförmigen Marktschreier dar: Jes 55,1–2 (Luther84 ) „[…] Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2 Warum zählt ihr Geld dar für das, […] was nicht satt macht?“ 238 Vgl. Stolz 2013 und zur Äquivalenz religiöser und kultureller Güter Stolz 2006, 115. 239 Im Blick sind dabei auch säkulare Anbieter und hybride Phänomene. Vgl. Stolz 2014, 216.

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tendenziell nach dem Preis- bzw. Leistungsverhältnis entschieden. Die Studie zeigt einerseits, dass die Synopse von säkularen / religionshybriden / spirituellen und traditionell religiösen Praktiken auf einem erweiterten religiösen Feld240 vom Individualismus her fruchtbar gemacht werden kann. Anderseits werden in der Studie neoklassische Paradigmen aufgerufen, sodass Kirchen und spirituelle bzw. säkulare Anbieter gleichermaßen in einem Konkurrenzkampf um die Bedürfnisse der Nachfrager stehen. Ernstgenommen wird damit eine Konkurrenz zu anderen Optionen der Freizeitgestaltung.241 Auch D. Schmidtchen setzt die Existenz von Religionsmärkten voraus und unterstellt, dass sich Nutzenkalkül und Religiosität nicht ausschließen, Religion also mit dem rational choice-Modell analysierbar ist. Er identifiziert drei zentrale Nachfragemotive:242 – Heilsmotiv (Tausch: Verzicht auf irdischen Konsum für jenseitigen) – Konsummotiv (Unterhaltungswert religiöser Aktivitäten) – Reputationsmotiv (sozialer Druck). Religiöse Programme bzw. die Theologie gelten ihm als Versprechungen und vermittelte Wege zur Erlangung des Versprochenen. Das bezieht sich auf eine virtuelle Realität, wobei die Heilsversprechen radikal ungewiss und weder vor noch nach der Investition überprüfbar sind. Trotzdem funktionieren religiöse Märkte nach D. Schmidtchen wie ‚ökonomische‘ Märkte, und von der „ökonomischen Qualität der religiösen Verhaltensregeln hängt der Zulauf der Religionen ab“. Auch B. Gladigow kann Religion ökonomisch als Belohnungssystem (system of rewards) verstehen, bei dem einerseits das religiöse Handeln nur plausibel ist, wenn eine Äquivalenzbeziehung zwischen menschlichen Leistungen und göttlichen Gegenleistungen besteht, und andererseits – bei ‚Jenseitsreligionen‘ – der

240 Mit erweiterten religiösen Feldern ist Religion nicht substantiell oder funktional, sondern von den ‚Anbietern‘ auf dem religiösen Feld her zu erfassen, die jeweils ihre Definition des Religiösen durchzusetzen versuchen. In dieser ‚Konkurrenz um die symbolische Manipulation der Weltsicht‘ löst sich das Monopol auf Heil auf, und es kommt zu einer Neudefinition des religiösen Feldes. Vgl. Wienold und Schäfer 2012, 103 f. und zur Monopolisierung sowie der Differenz von Spezialisten (Priester / Prophet / Zauberer) und Laien: Bourdieu 2011, 243 ff. 241 Mitglieder ‚investieren‘ Zeit. In dieser Deutung unterliegt auch Zeit dem ökonomischen Paradigma. J. Stolz weist darauf hin, dass kirchliche Güter durch säkulare Güter ersetzt werden können. Stolz 2006, 115. Das Ende einer Kirchenmitgliedschaft bedeutet dann nicht, dass diese Menschen in alternativen religiösen Formen aktiv werden. So auch Meyns 2013, 123. 242 Vgl. Schmidtchen 2007, 254. D. Schmidtchen orientiert sich an L. Iannaccone. Vgl. auch Schmidtchen 2005, 5.

80 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Wert des secondary system of rewards gelernt wurde.243 Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand an die Wahrheit des religiösen Programms glaubt (Qualität des Angebots) hängt von folgenden – vom Religionsanbieter zielgerichtet gestaltbaren – Faktoren ab: Reputation des Religionsanbieters, Dauer der Marktpräsenz (katholische Kirche: 2000 Jahre), Zahl der Gläubigen, Höhe irreversibler Investitionen, Ausbildung der Agenten Gottes auf Erden, Professionalität des Auftritts, Verwendung der Mittel, Rituale, Qualität der Bündelgüter wie Regeln für die Lebensführung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Lösung des Prinzipal-Agent Problems. Der Religionsanbieter setzt Mitarbeiter ein, die eigennützige Interessen verfolgen können; was die Reputation des Anbieters gefährden könnte […]. Letztlich geht es um die Erhöhung der religionsspezifischen Glaubensrendite […]. Höchste Glaubwürdigkeit erreicht der Religionsanbieter (Gründer), der für seine Ideen stirbt.244

Im Blick ist hier zunächst eine Konkurrenzsituation zwischen Religionsanbietern, wobei der Markt von der Nachfrage her konstituiert scheint. Säkulare Optionen oder religionshybride Phänomene kommen bei der spezifisch religiösen Nachfrage (Heilsmotiv) nicht in Betracht. D. Schmidtchen plädiert von der neoliberalen Marktlogik her für einen deregulierten Religionsmarkt und gegen eine staatliche Regulierung, und spekuliert so auf die Zunahme der religiösen Aktivität (besonders bei kleineren Gemeinschaften).245 Das Proprium religiöser Nachfrage auf diesem Märkten wird häufig als ‚Nutzenmaximierung im Jenseits‘ oder als ‚Jenseits-Konsummotiv‘ gefasst. Einen ‚irdischen‘ Nutzen sieht E. Schlicht in der Verknüpfung von Weltanschauung und Moral (Glaubensmotiv), behält aber das Jenseits als Konsequenz des Glaubensmotivs bei.246 Ökonomisch verfährt man hierbei mit einem ‚als ob‘ Nutzen im Jenseits, weil er nicht verifizierbar ist. Damit wird in ökonomischer Perspektive auf religiösen Märkten individuelles Heil gehandelt, mit dem ökonomisch durchaus intendierten Nebeneffekt der gesenkten Transaktionskosten durch Moralvorstellungen.

243 Vgl. Gladigow 2009, 129 und 137 f. Den thesaurus ecclesiae versteht er als Sozialkapital zweiter Ordnung – das dem Knappheitsparadigma unterliegt – und von daher als ‚kapitalgedeckte Jenseitsversicherung‘ verwendet wurde. 244 Zitate: Schmidtchen 2007, 265 und 267. 245 So ist z. B. der Körperschaftsstatus eine Verzerrung des Marktes, weil es nicht nur ökonomische Vorteile, sondern auch einen (staatl.) Zertifikatseffekt hat. Vgl. ebd., 269 ff. „Den Vorwurf, daß wir uns damit eine Amerikanisierung des Glaubens einhandeln, also eine ‚Verkürzung‘ auf ein bißchen ‚Happiness‘, beruht auf einer Anmaßung und sollte ertragen werden: Um was sonst geht es beim Seelenheil?“ Vgl. Schmidtchen 2005, 23. 246 Vgl. Schlicht 2007, 280.

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In evangelisch-lutherischer Perspektive wird man theologisch einigen Widerspruch entgegensetzen können. Die Logik bleibt in dieser religionsökonomischen Perspektive ein ökonomischer Tauschhandel hinsichtlich des Heils, der sich weder mit dem neutestamentlichen Zeugnis noch mit Luthers Rechtfertigungslehre vereinbaren lässt. Gerade bei letzterem ist das Heil als Gabe gerade vorgängig und der Nexus von Tat und Folge rechtfertigungstheologisch unterbrochen, weil sich die Struktur von ‚wenn … dann‘ – zu – ‚weil … darum‘ ändert: „salvation is no longer the goal of life but rather its foundation“.247 Die Marktförmigkeit von religiösen Produkten impliziert traditionell die neoklassische Logik von Angebot und Nachfrage, einen Dualismus von Kunde und Anbieter sowie die Effizienzorientierung. Kirche marktförmig als QuasiUnternehmen zu strukturieren hat durch die Ausweitung der Ökonomie auf viele Lebensbereiche eine vordergründige Plausibilität, aber auch breite Kritik erfahren.248 Kirchen auf dem Markt werden einerseits als Anpassung an moderne Erfordernisse bewertet, andererseits hat die ökonomische Deutung von Kirche Auswirkungen auf die Sozialgestalt, wodurch der Inhalt der Verkündigung und die strukturelle Dimension in Konflikt geraten. Mit L. Karpik wird der Kurzschluss deutlich, wenn Ökonomie und Neoklassik miteinander identifiziert werden. Die wirtschaftssoziologische Perspektive auf Märkte singulärer Produkte öffnet die Metapher ‚Markt‘ für die Interpretationstechniken der Produzenten und Bewertungsinstanzen. Damit geht einher, dass die neoklassischen Modelle die Realität religiöser Handlungslogiken gerade nicht abbilden können.249 Im Rahmen der Performativität ökonomischer Modelle zeigt sich nun, dass die Orientierung am homo oeconomicus zur Desingularisierung – zum Verlust des Besonderen, der religiösen Eigenheit – führt. Es geht nun nicht mehr um die Frage, ob religiöse Güter dem Markt entzogen sind bzw. sein sollten, sondern auf was für einem Markt Produkte mit religiösen Dimensionen zirkulieren können, ohne dass das singuläre Produkt zur homogenen Ware wird. In einer solchen ökonomischen Dimension ist die kirchliche Wirklichkeit an der Konstruktion des spezifischen Marktes beteiligt.250 Wenn nun Ökonomie und Glauben in Verbindung gebracht werden und gefragt wird, wie die theologischen Konsequenzen einer ‚Ökonomie des Glaubens‘ 247 Vgl. Lindberg 2010, 66. 248 Zur Differenz von πρᾶξις und ποίησις bzw. ökonomischen und theologischen Logiken vgl. Meyns 2013, 164 f., Karle 2010, 112 f. und Gräb-Schmidt 1999, 73. Einen Überblick über Genese und Akteure des Diskurses um Ökonomie und Kirche gibt J. Schlamelcher 2009, 227. 249 Vgl. Karpik 2011, 21 und 31. 250 Im Gegensatz zu einer Nachfrageorientierung, die ‚ungeliebte‘ Produkte vernachlässigt und damit die kirchliche Wirklichkeit reduziert.

82 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie kommuniziert werden können, dann müssen die Konstanten dieser religiösen Ökonomie geklärt werden. Die theologischen Einsichten sollen hier den orthodoxen ökonomischen Paradigmen als Gegenerzählung präsentiert werden können. Christliche Religionen können nach B. Priddat im Rahmen einer „double space economy‘ verstanden werden, bei der die Akteure eine „extended rationality“ aufweisen. Handlungen haben damit einen irdischen und einen himmlischen Wert. Teilweise wird Gott dabei als Buchhalter am jüngsten Tag gezeichnet, der über den Zugang und die Positionierung im himmlischen space 2 entschiedet. Mit dieser Logik erscheint das irdische Leben im space 1 als Optimierung der Position in space 2 und Religionsanbieter handeln auf einem Markt den entsprechenden Zugang. Gestört wird dieses System durch die Kontingenz der (ev.-luth. Deutung der) Gnade.251 Mit Gnade und Gabe sind Paradigmen aufgerufen, die zu den genuinen Kommunikationsbeständen der evangelischen Theologie gehören. Wird also die Gabe Gottes kommuniziert, dann geht es hier um die ökonomischen Auswirkungen dieser kommunizierten Gabe. Kurz gesagt: Was bedeutet die Kommunikation des Evangeliums ökonomisch, wenn einerseits von konträren Paradigmen und Logiken ausgegangen werden kann, und andererseits der homo oeconomicus zugleich ein homo religiosus und ein homo communicans ist und dadurch die ökonomische Dimension der Kommunikation des Evangeliums tatsächlich wirkmächtig sein könnte? Daran schließt sich die ganz praktische Frage an, welche ökonomischen Deutungen Pfarrpersonen predigen könnten, ohne in eine dualistische Kapitalismuskritik zu verfallen. Eines dürfte naheliegend sein: Die Ökonomie des Glaubens sollte irdische Folgen haben. Als simul iusti leben und deuten Menschen aus dem Glauben ihr Leben anders als ökonomisch. Wie aber kann man ökonomische Kontexte dann durch evangelische Augen wahrnehmen? In einem gewissen Rückschritt ist nun jedoch zunächst zu thematisieren, inwieweit ‚Glauben‘ bereits in den ökonomischen Methoden steckt, die u. a. in der Kirche angewandt werden. Die kapitalistische Version von Ökonomie als Religion zu verstehen, hat eine längere Tradition, die theologischen Implikationen der modernen Ökonomie zu untersuchen, ist demgegenüber ein jüngerer Forschungsbereich. 2.2.4 Ökonomie als Religion In der Religionsökonomik können Ökonomien als Untersuchungsobjekte – als Religionen bzw. Ideologien – untersucht werden. Ökonomie, speziell den Kapita251 Vgl. Priddat 2010, Zitate: 26.

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lismus, als religionsanaloges Phänomen zu betrachten, hat eine gewisse Tradition. Nach den Zusammenhängen von reformiert-amerikanischem Protestantismus und Kapitalismus, die M. Weber entdeckt hatte, ist in neuer Zeit besonders ein Fragment von W. Benjamin stark rezipiert.252 W. Benjamins Fragment von 1921 zielt nicht auf das Religiöse als Voraussetzung des Kapitalismus, sondern nimmt selbigen als religiöse Erscheinung wahr. Es handle sich um einen permanenten Kultus ohne Theologie und Gnade, der nicht entsühnt, sondern universal verschuldet. Der Gott dieser religiösen Bewegung müsse dabei verheimlicht werden, und der Mensch ist der stetig die Verschuldung steigernde, ohne den Ausweg einer Transzendenz. „Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt“, so eine These W. Benjamins, bei der er von einer funktionalen Äquivalenz von Kapitalismus und Religion ausgeht. Zentral ist bei W. Benjamin die Schuld im Kapitalismus, weil er am Menschen eine abgründige Schuldverstrickung erkennt, für die es eine Gabe braucht, um dieser Schuld zu entkommen.253 Die ewige Schuld wird in der Gestalt des Geldes ansichtig und mit dem Kult bearbeitet, ohne jedoch zu entsühnen, sondern die Schuld wird universalisiert und ausschließlich als Funktion der Zukunft denkbar. Als permanenter Kultus des Warenfetisches gehe es dann nicht mehr um Gebrauchswerte, sondern die „Phantasmagorie“: Die Aufladung der Ware als Kultobjekt mit „theologischen Mucken“.254 Kapitalismus ist so in der Lage, anstelle des Religionssystems, befriedigende Antworten auf grundlegende Fragen und menschliche Suchbewegungen zu liefern. Dabei ist der Kapitalismus als Religion zwar totalitär, verzichte aber auf ein Absolutes bzw. Transzendenz und integriert es in das irdische Schicksal.255 „Der Himmel klappt aus der Vertikalen in eine zeitlich expandierte Horizontale – in die Geschichte,“256 wodurch es nichts mehr zu erwarten gibt, außer dem irdisch Realisierbaren.257 Kapitalistische Akteure sind glä ubig, weil sie notwendig auf das System und die Investition in die erfolgreiche 252 Vgl. Gräb-Schmidt 2018, 460 ff. 253 Vgl. Benjamin 2004, 15 f. Zitat: 17. 254 Kapitalismus ist eine Kultreligion, weil der Kultus das Primat vor der Lehre habe. Zu Einkaufstempeln als Kirchenschiff und Banknoten als Heiligenbildern vgl. Bolz 2002, 64 f., Zitat: 65. Das zweite Zitat geht auf K. Marx zurück, der sich auf die „metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken“ der Waren bezog. Vgl. Hörisch 2013a, 61. Zum Zitat vgl. Marx 1962, 85. 255 Vgl. Bolz 2002, 67 ff. 256 Vgl. Priddat 2011, 6. 257 Hoffnungslosigkeit und Perfektion sind funktional Äquivalent, weil nichts mehr zu Ändern ist. Vgl. Bolz 2002, 72.

84 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Zukunft vertrauen müssen. Ob das auch als religiös zu bezeichnen ist, kann in Frage gestellt werden. D. Baecker steht der Identifikation von Kapitalismus und Religion kritisch gegenüber und differenziert zwischen dem Kalkül Gottes und des Kapitals. Gott ist ihm das Unbestimmte – eine ‚positiv codierte Negativformel‘– das sich nicht rechnen lässt, während es im Kapitalismus gegen W. Benjamin nicht um eine universelle Schuld geht, sondern eigene Entschuldung und die Verschuldung des Anderen (Wirtschaft als Streit um debit und credit). Religion konterkariert das ökonomische Spiel, weil sich mit der Gnade nicht rechnen lässt und Gott „unempfindlich gegenüber der Akkumulation guter Werke“ ist und sich auch an die richtet, die „im Distinktionsspiel der Gesellschaft längst verloren haben“. Kapitalismus als Religion würde bedeuten: alles rechnet (sich), während (ev.) Religion das Rechnen mit dem Unberechenbaren wäre, praktisch das Fernhalten des ökonomischen Kalküls vom Religiösen.258 Damit wird eine Differenz markiert und eine Identifikation von Kapitalismus und Religion abgewehrt. In jedem Fall lassen sich jedoch theologische Muster im Rahmen einer economic theology identifizieren. Die Genese und Struktur der modernen Ökonomie sind theologisch fundiert und die ökonomische Verwendung theologischer Metaphern zeigt die besondere Verwandtschaft beider Bereiche an.

2.3 Economic Theology Die religionswissenschaftliche Unterscheidung von Religionsökonomie und religiöser Ökonomie kann um den Diskursstrang der economic theology erweitert werden, die Ökonomie nicht als Religion untersucht, sondern die theologische Fundierung ökonomischer Vorstellungen nachvollzieht. Analog zu religiösen Ökonomien sind davon theological economies zu unterscheiden.259 2.3.1 Die theologisch imprägnierte Genese der Ökonomie B. Priddat untersucht den Übergang von der oeconomia divina zur modernen Ökonomie (als oeconmia humana). Die moderne Ökonomie habe theologische 258 Nach D. Baecker rechnet Gott anders, aber er rechnet. Vgl. Baecker 2012, 316, 319 und Zitate: 324. Vgl. auch Seele 2012, 335. C. Weber-Berg verweist darauf, dass der homo oeconomicus in seinem Selbstbezug permanent scheitert und erinnert an M. Luthers homo incurvatus in se ipsum – den in seiner Sünde selbstverkrümmten Menschen. Weber-Berg 2012. 259 Zur genaueren begrifflichen Klärung vgl. Kapitel 3 auf Seite 101 und weiterführend zum Thema Schwarzkopf 2020.

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Voraussetzungen und keine säkulare Genese.260 Bereits G. Agamben hat den Zusammenhang von Ökonomie und theologischer (Heils)ökonomie bearbeitet. B. Priddat reagiert auf G. Agamben und erweitert diesen Ansatz für die moderne Ökonomie.261 Die Verzahnung und den Übergang des Paradigmas von einer transzendenten theologischen οἰκονομία hin zu einer immanenten Ökonomie bearbeitet G. Agamben im Rahmen der theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Die Trinität als Ausgangspunkt ist nach G. Agamben weder Theogonie noch Mythologie, sondern lässt sich als οἰκονομία verstehen, bei der das Konzept des Göttlichen und seine Beziehung zur Schöpfung ausgedrückt wird: „Christus handelt also wie der Leiter der Exekutive einer gubernatio, deren höchster Gesetzgeber Gott ist. Doch wie die oikonomia keine Spaltung Gottes zur Folge hat, so bedeutet die Macht, die Christus gewährt wird, keine Spaltung der Souveränität Gottes.“ Die oeconomia divina besteht dann in der Verwaltung der Welt, die grundsätzlich im Rahmen der göttlichen Ordnung heilvoll gestaltet ist.262 Diese Heilsökonomie erstreckt sich auf die Schöpfung, und G. Agambens These ist nun, dass die politische Ökonomie ein Programm der Vollendung der providentiellen oeconomia ohne Gott vollführt, bei der das Heil innerweltlich integriert wird. Gottes οἰκονομία wird nun ohne Gott weitergeführt, indem geschichtliche Erlösungserwartungen – eine bessere Zukunft – vom Fortschrittsaxiom her generiert werden. Die theologische Idee einer göttlichen Ordnung als ‚sapientissimam dispositionem‘ entspricht einer Geschichtsauffassung mit einem Ziel und einer Bestimmung (und nicht einer ‚series temporum‘). Dieses „Weltzusammenhangskonzept“ stand dann für die moderne Ökonomie Pate, sodass der Wohlstand der Nationen bzw. das Heil nun über den Markt funktioniert, der sich wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, entsprechend der Heilsordnung, zum Guten wendet.263

B. Priddat erweitert und korrigiert das Programm: Das Verständnis von Märkten erfolgte zunächst im Setting der providentiellen Ökonomie, weil keine alternativen Weltdeutungskonzepte zur göttlichen Ordnung bereitstanden. Das Gleichgewichtsaxiom der Märke erfülle dann eine providentielle Funktion, weil sie berechenbar sind und zu einem (emergenten) optimalen Gleichgewicht tendieren. Damit kann man Märkten glauben, dass sie die ‚beste aller möglichen Markt-Welten‘

260 Vgl. Priddat 2013a, 25. 261 Vgl. ebd., 30 ff. und Agamben 2010. 262 „Jesus verwaltet […] das Verhä ltnis von Schuld / Erlö sung auf neue Art“– dabei muss zwischen auctoritas und potestas bzw. Souverän und Exekutive unterschieden werden – ‚rex regnat, sed non gubernat‘: Priddat 2013a, Zitate: 33 und 94, eine knappe Zusammenfassung von G. Agambens Konzept findet sich dort auf S. 30 ff. Vgl. auch Agamben 2010, 66 und Zitat: 319. 263 Vgl. ebd., Zitate: 333, 63 und zum theologischen Ursprung der (nur zwei mal benutzten) Metapher der unsichtbaren Hand: 338 f. Zu A. Smiths Ökonomie als ‚economic theology‘ vgl. Priddat 2013a, Zitat: 26. Der theologischen Fundierung der Ökonomie folgt eine Säkularisierung, bei der Zeichen und Begriffe vom z. B. Heiligen in den profanen Bereich verschoben werden, ohne semantisch neu bestimmt zu werden. Vgl. dazu Agamben 2010, 41 f. Fn. 78.

86 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie gleichsam automatisch herstellen.264 Märkte übernehmen „den Part der oeconomia divina, der ihre providentielle Bestimmheit ausmacht“ und sind so funktionale Äquivalente. Das Theologumenon der providentiellen Theodizee ist ins Credo der sich selbstoptimierende Märke übergegangen.265 Während B. Priddat in Leibnitz’ ‚beste aller Welten‘ noch einen transzendenten Übelsausgleich erkennt, fördern in A. Smiths Entwurf die Übel (Eigennutz) den Wohlstand. Auch in Voltaires ‚Ökonomie des Dr. Pangloß‘ sind die Übel notwendig, doch mit A. Smith fördern sie nun den geschichtlichen Wohlstand bzw. das immanente Heil. Die unintendierten Effekte des eigennützigen Verhaltens – Wohlstand als geschichtsmögliches Telos – sind zunächst höchst unwahrscheinlich. Anhand der Metapher der unsichtbaren Hand zeigt sich jedoch wieder das providentielle Setting: Die Ordnung ist auf das Heil (Wohlstand) hin geordnet, und weil offensichtlich niemand aktiv dazu beiträgt, braucht es einen vorhersehenden Ordner: Gottes invisible hand als Referenzordnung, weil sich autonom regulierende Märkte (noch) nicht denkbar sind. Die Metapher der invisible hand bezieht sich dann auf die providentia – die die Märkte emergent auf das Wohl aller hin ordnet – und ist zugleich die „sich selbst organisierende Erwartungsspiegelung aller untereinander“.266 Das Credo der freien Märkte wird dann umso verständlicher, weil ein (z. B. staatlicher) Eingriff in die Gleichgewichtsmechanik gegen eine göttliche οἰκονομία und den verbundenen Heils- und Wohlstandswillen handelt. Das mentale Modell im Hintergrund ist die providentia, woraus sich das Dogma der „autoregulative[n] Kompetenz“ entwickeln kann,267 bei der die Konkurrenz die Habgier (self interest) der Einzelnen beschränkt und – so das Prosperitätsversprechen – zur irdischen Erlösung, dem Wohlstand führt. Damit muss – analog zu K. Homanns Anreizethik – nicht mehr an den Tugenden korrigiert werden, sondern der „Markt wird, als ökonomische Instanz, zur ethischen Instanz.“268 Damit geht ein Fortschritts- und Wachstumssteigerungsaxiom ein264 Zur ‚Ökonomie des Dr. Pangloss‘ in Anspielung auf Voltaires Candide gegen Leibnitz’ ‚beste aller möglichen Welten‘ vgl. Kirchgässner 1991, 165. Siehe auch Priddat 2013a, 72 ff. Nach G. Kirchgässner sehen Ökonomen jedoch nicht die ‚beste aller möglichen Welten‘, sondern gestaltbare Verhältnisse. 265 B. Priddat zeigt den religious impact auf J. Lockes Arbeits / Eigentumstheorie (Arbeit an der Schöpfung – Abarbeitung der Ursünde): oeconomia humana als Exekutive der oeconomia divina von Gen 1,28 – dem dominum terrae her – hin zur Vollendung der Schöpfung; auf die franz. Physiokraten und bei A. Smiths politischer Ökonomie. Vgl. ebd., 43 ff., Zitat: 28. Vgl. auch Priddat 2014b, 381 ff. 266 Vgl. ebd., 408. 267 Vgl. Priddat 2013a, 67 f., Zitat: 74. Vgl. auch zur Scholastik als ‚pre-Adamite economics‘ (vor A. Smith) Gabrill 2008, 26 und 31. 268 Zu K. Homanns Ethik vgl. Punkt 2.2.1.1 auf Seite 41. Zitat bei Priddat 2013a, 58.

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her, dass sich auf das Zeitverständnis auswirkt. Die irdische und damit knappe Zeit steht betont im Fokus, sodass Nutzenmaximierung geboten ist. Der „Tod [wird nicht mehr …] als entry (in die Ewigkeit), sondern als exit (aus der Zeit, d. h. einer weltlichen Zeit)“ verstanden, womit die Ewigkeit als transzendenter Ausgleich für entgangenes / verfehltes / mißglücktes Leben nicht mehr zur Verfügung steht: Darum werden aus Schuld und Erlösung – Schulden und Erlöse.269 Der Glaube an die prosperierenden zukünftigen – potentiell unlimitierten – Möglichkeiten verweist bereits auf die universale Schuld, einer unabzahlbaren Kreditschuld auf die Zukunft. Das System Kapitalismus braucht den Wachstumsglauben und den Machbarkeitsglauben, die irdische Zeit immer produktiver bewirtschaften zu können: Die totale Fälligstellung der Schuld wäre die Apokalypse des Systems. Modern entstehen dann Kritiken am ‚ewigen Wachstum‘ sowie die Frage, ob die Gleichgewichtsmechanik (der providentielle Glaube) in komplexen Systemen wirklich funktioniert. Moderne Ökonomien funktionieren nicht mehr im providentiellen Oikos-Modell, sondern bewirtschaften als politische Ökonomien die Zeit (Gottes). In einer Diagnose der aktuellen Situation, erscheint die ‚Erlösung von der Armut‘ erreicht, sodass der Glaube an eine „potenzierte mundane ‚Ewigkeit‘“ (zukünftiges Wachstum) leere Formeln werden. Mehr Gegenwart (parasitär) von der Zukunft zu erbeuten, ist die Reaktion auf diese Glaubenskrise.270 Kapitalismus in der Perspektive von Religion zu deuten, fördert einige Überschneidungen und Zusammenhänge zu Tage, die die religiösen Implikationen des ökonomisches Systems aufzeigen.

2.3.2 Theologie der Märkte Strukturanalogien von Ökonomie und Theologie hat im Besonderen J. Hörisch bearbeitet.271 Er arbeitet medientheoretisch und identifiziert Leitmedien, ohne die man aus Gesellschaften ‚herausfällt‘. Dabei zeigt er die abfolgende Symbolanalogie von Hostie, Geldstück und CD. Im Mittelalter konnte man zwar ohne Geld, 269 B. Priddat spricht von ‚Lebenszeitkompression‘. Vgl. Priddat 2013a, 78, 86 und Zitat: 30. 270 Zitat: ebd., 112 ff. C. Fleischmann zitiert hinsichtlich des systemimmanenten Wachstumszwanges Goethes Zauberlehrling: „‚Besen! Besen! Seid’s gewesen‘, klappt eben nicht mehr ohne weiteres; denn ein Zaubermeister, der den rettenden Zauberspruch kennt, ist nicht in Sicht.“ Vgl. Fleischmann 2007, 8. 271 Ich beziehe mich maßgeblich auf Hörisch 2013a. Vgl. auch Nelson 2001, 208 ff. und Hörisch 2013b. Sowohl eine ‚Theologie der Ökonomie‘ als auch eine ‚ökonomische Theologie‘ reflektieren die ökonomische Wirklichkeit theologisch, bei letzter ist die Ausrichtung jedoch eine andere ökonomische Wirklichkeit. Vgl. Ulrich 1992, 87.

88 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie aber nicht ohne Abendmahl in der (christlichen, primär deutschen) Gesellschaft leben. Heute kann man – so J. Hörisch – ohne Abendmahl leben, aber nicht ohne Geld. Das nächste Leitmedium sind die neuen Medien mit der CD als symbolischer Analogie zur Hostie. Hier zeigt sich der gesellschaftstheoretische Horizont, der für die Verbindung von Theologie und Ökonomie grundlegend ist, denn diese Leitmedien etablieren eine Ordnung sowie eine Sinnstruktur.272 In seiner ‚Theologie der Märkte‘ beschäftigt er sich mit den Glaubensstrukturen der modernen (kapitalistischen) Ökonomie und weist einleitend darauf hin, dass die Betriebs- und Volkswirtschaftlehre gerade nicht als Wissenschaft firmieren und keine secondorder observation hätten, analog zur Konstellation von Theologie und Religion.273 Das wirkt sich zentral auf den Zusammenhang von ökonomischen Modellen und der ökonomischen Realität aus, weil eine Meta-Theorie fehle und so Interdisziplinarität und die Reflexion der eigenen Modellbildung kaum möglich ist. Das homo oeconomicus-Modell und die angewendeten rational choice-Theorien (in der Erweiterung gilt das ebenso für die Neue Institutionenökonomik) sind in der Folge primäre Theorien, die geglaubt werden müssen, gerade weil sie durch empirische Untersuchungen falsifiziert werden können. Wenn jedoch der Übergang von der Deskription zur Präskription erfolgt, zeigen sich Theorieeffekte – die Anpassung realer Märkte und Menschen an die ökonomischen Modelle – die aus den Glaubensstrukturen der Ökonomie resultieren. Der homunculus oeconomicus274 wird so zu einer wirkmächtigen Figur, die beglaubigt werden muss. J. Hörisch zielt auf eine ökonomische Aufklärung, die bisher hinter dem Stand der theologischen Aufklärung zurückbleibt. Dabei ist zu problematisieren, dass Ökonomen ihre Wirtschaftstheorien als Wissenschaft missverstehen, obwohl es sich um einen Glauben handelt. Hier ist die Metareflexion notwendig, um eine ‚Theologie der Märkte‘ wissenschaftlich zu verantworten. Gegen neoliberale Modelle soll der homo oeconomicus daran erinnert werden, „wie viel kontraproduktiver Irrglauben in seinen egoistisch auf Nutzenmaximierung zielenden Kalkülen steckt“.275 272 Vgl. die Trilogie Hörisch 1992, Hörisch 1996, Hörisch 1999 und zur grundlegenden Medientheorie vgl. Hörisch 2010. 273 Vgl. Hörisch 2013b, 141 f. und Hörisch 2013a, 15. 274 Homunculus verweist auf die Abstraktheit des Verhaltenskonzeptes, das mit dem irrationalen ökonomischen Verhalten des Menschen kaum etwas zu tun hat. Vgl. ebd., 54. 275 Auch damit sind die Auswirkungen dieses Glaubens bzw. die Theorieeffekte gemeint. Vgl. ebd., 81 und besonders 93, Zitat: 123. J. Hörisch arbeitet als Germanist z. B. mit der Analogie von Goethes Faust und B. Mandevilles Bienenfabel bzw. A. Smiths gemäßigter Version von Private Vices – Public Benefits (verkürzt: Wohlstand aus dem individuellen Eigennutz). Mephisto stellt sich parallel vor mit: ‚Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft‘.

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Folgende theoretische Grundannahmen der Ökonomie werden identifiziert: „…dass alle Mitspieler an der Maximierung von Gewinn oder Nutzen interessiert sind; dass sich eine selbstregulative Beziehung zwischen unterschiedlichen Größen, Kräften und Faktoren einstellt; dass sich die Mechanismen des Austauschs proportional zur Verminderung von willkürlichen Eingriffen und Interventionen optimieren; und dass sich der Markt darum als beispielhafter Schauplatz zur Klärung eines anderswo unübersichtlichen und opaken sozialen Verkehrs präsentiert.“276

J. Hörisch versteht nicht nur Religion als vernünftige Kontingenzbewältigung, sondern auch die Ökonomie, indem Geld zum Medium des Kontingenzmanagements wird („Heilungen sind das Kleingeld des Heilsschecks“). Er arbeitet die Strukturanalogien von Geld und Geist als reine, körperlose und universale Medien heraus, die als allgemeine Äquivalente fungieren können.277 Die Bezüge von Transzendenz und Immanenz erfolgen mit umgekehrten Vorzeichen: Während sich Religion irdisch zu bewähren hat, ist mit dem Geld eine transzendente Zeitlogik gegeben. Es kann den (individuellen) Tod überdauern, Vergangenheit für die Zukunft speichern / aufsparen oder einen Kredit auf die Zukunft aufnehmen. Dabei muss daran geglaubt werden, dass auch zukünftig noch an das Geld geglaubt wird – gedeckt ist Geld nur durch den Glauben an das Geld, es bleibt ein leerer Signifikant – andernfalls verliert das Geld die Funktion, Vergangenheit zu speichern und wird wertlos, real sind Wandlungen / Transsubstantiationen daher nur in der Gegenwart möglich. In der funktionalen Ausdifferenzierung von Religion und Ökonomik kann sich die Ökonomie nicht von den religiösen Implikationen lösen, weil sie auf die Akkreditierung angewiesen ist und sich auf die irdische Welt des systematischen Mangels bezieht,278 dabei jedoch immanente Erlösungsoptionen verheißt. J. Hörisch kritisiert diesen unreflektierten alltagsreligiös praktizierten Irrationalismus, der aus seiner Perspektive gerade nicht das Postulat der Rationalität für sich behaupten kann.279 Anhand dieser Perspektive werden die Glaubensstrukturen innerhalb der Ökonomie erkennbar, die an das gute Walten einer unsichtbaren Hand glauben, zum Wohle aller. Etwas differenzierter wird im ökonomischen Diskurs jedoch auch von den sichtbaren Händen (u. a. in der Institutionenökonomik) gespro276 Vgl. Hörisch 2013a, 18. 277 Er spricht von Moneytheismus statt Monotheismus. Vgl. ebd., Zitat: 25. Im Hintergrund steht die These, dass die ökonomischen Begriffe säkularisierte theologische Begriffe sind. Vgl. auch Ulrich 1992, 88. 278 Vgl. Hörisch 2013a, 47 und 57 f. Zur Kulturgeschichte des Geld vgl. Braun 2012. Zu immanenten Erlös(ungs)vorstellungen vgl. Hörisch 2013b, 151. 279 P. Oslington schreibt: „Natural theology was a framework that made the development of political economy possible. Much theology was built into economic theory and remains with us.“ Vgl. Oslington 2008, 72.

90 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie chen, und der Gestaltungskraft der Ökonomie. Die Perspektive – ‚Kapitalismus als Religion‘ wahrzunehmen (so wie Religion mit ökonomischen Methoden untersucht wird) – macht in den ökonomischen Strukturen die Analogien zu christlichen Phänomenen sichtbar. Damit könnte, zugespitzt formuliert, der Glaubensbestand beider Bereiche in einer Komparatistik evaluiert werden. Die resultierende Frage wäre dann, ob es Güter oder Märkte gibt, die mit einem anderen als dem ökonomischen Glauben lebensdienlicher funktionieren.280 Einerseits geht es dann um eine Religionskritik am Ort der Ökonomie und den Versuch, für zunächst lokale Märkte – wie christliche Gemeinden – einen anderen ökonomischreligiösen Glauben zu etablieren, weil in evangelischen Gemeinschaften elementare Austauschprozesse gerade nicht unter das Diktum der ökonomischen Modelle fallen sollen. Da Menschen jedoch mit einem Ökonomieimperialsmus in fast allen Lebensbereichen konfrontiert sind, scheint oft kaum vorstellbar, anders als ökonomisch-rational zu handeln. 2.3.3 Theorieeffekte eines ökonomischen Glaubens Ökonomische Modelle changieren zwischen Deskription und Normativität und betonen teilweise ihren empirischen Gehalt oder die Gestaltungskraft, die von ökonomischen Modellen ausgehen kann. Obwohl es sich beim homo oeconomicus nach J. Hörisch eher um einen homunculus oeconomicus – eine abstrakte Marionette aus der Gedankenretorte – handelt,281 hat dieses Konzept Auswirkungen auf die Handlungen von Individuen. So verhalten sich besonders Ökonomen analog dem Modell und internalisieren die ökonomische Logik, die auf weite Lebensbereiche ausgreift. K. Homann bewertet das positiv, weil ökonomisch geschulte Akteure sich so besser vor Ausbeutung und negativen Interaktionen schützen könnten.282 K. H. Brodbeck weist zudem darauf hin, dass ökonomische Modelle ihre eigene Verwendung nicht modellieren können, zugleich jedoch Erwartungen aus 280 Ökonomische Märkte und Transaktionen haben gerade den Vorteil keinen Unterschied zwischen dem Fremden und dem Bruder zu machen. Austauschprozesse sind so ohne ‚Ansehen der Person‘ möglich. Das ist der gute Sinn einer effizienten Allokation von Ressourcen. Damit einher geht aber auch die Logik der individuellen Vorteilserwartung, die nicht in jeder vermarktlichten Situation angemessen ist. 281 Vgl. Hörisch 2013a, 54. 282 Vgl. Homann und Suchanek 2005, 399. R. H. Nelson zitiert H. Boyte folgendermaßen: „‚today, we are like the citizens of the Soviet bloc in 1989, governed by a dead ideology few believe in, but one that shapes our lives.‘ The economics profession has been the leading priesthood of this secular religion“ Nutzenmaximierung ist dann das neoklassische Dogma: homo oeconomicus „is saying that people behave according to individual advantage and are not much swayed

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ökonomischen Modellen zu einer selbständigen Realität werden können. Dann finden sich Handlungsresultate, die untersucht werden können. Empirisch aussagekräftig ist dies nach K. H. Brodbeck aber nicht, weil die Ökonomie Ideale formuliert und damit zugleich soziale Fakten schafft. Die ökonomische Sprache ist oft ‚non-descriptive‘ und erschafft performativ eine „economic reality“.283 T. v. Egan-Krieger untersucht die instrumentelle Rationalität des Ökonomischen, die sich auf andere Handlungszusammenhänge auswirkt. Dabei impliziert das (abstrakte) homo oeconomicusKonzept Präskriptivität, auch wenn der Modellcharakter von Ökonomen betont wird: „Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich […] stets in einem performativen Setting“. Die Idealtheorie ist performativ nach T. v. Egan-Krieger wirksam, wie eine self-fulfilling prophecy. In der Folge ist z. B. die Wohlstandsmaximierung über die sich selbstregulierenden Märkte eine ‚krypto-normative‘ Aussage und zudem eine Rechtfertigungsstruktur für das individuelle nutzenmaximierende Handeln.284

Mit ‚Theorieeffekten‘ sind die performativen Wirkungen gemeint, die von den jeweiligen Modellen ausgehen. Damit beeinflussen die Theorien die Organisationsform und die ‚Feldlogik‘ von Märkten, indem sie nicht die ökonomische Realität beschreiben, sondern prägen. Die Akteure haben einen spezifischen erworbenen Habitus, der das Wahrnehmen, Denken und Handeln als inkorporiertes Handlungsprinzip prägt. Die Eigenlogik des ökonomischen ‚Subsystems‘ legitimiert das eigennützige ökonomische Kalkül und die Ausblendung des Sozialen.285 J. Beckert weist darauf hin, dass der homo oeconomicus als quasi-Naturkonstante zu einer kulturellen Prägung werden kann, weil der normative Charakter der Nutzenmaximierung verhindert, dass andere Normen ökonomisch relevant werden können. Ein besonderes Problem ergibt sich, wenn Wirtschaft als „Sphäre ‚normfreier Sozialität‘“ wahrgenommen wird. Der Begriff ‚Eigenlogik‘ impliziert by appeals to ideology, religion, culture, altruism, or other ideas in the mind (beyond individual utility). What Chicago is doing is spreading this particular idea with all the power of a modern religious movement. Nelson 2001, Zitate: 327 und 233. K. H. Brodbeck urteilt pauschal: „Ökonomie ist keine empirische Theorie, sie ist eine implizite Ethik“. Vgl. Brodbeck 1999, 147. Auch M. Weber sah eine Annäherung von Theorie und Praxis, mit der Folge, dass die Theorie empirische Geltung bekommen kann. Vgl. Mikl-Horke 2009, 191. 283 Vgl. Brodbeck 2002, 355, 359 und 372 f. und Herrmann-Pillath 2010, 243 f., Zitat: 248. 284 Vgl. Egan-Krieger 2014, 54 und 61 f. Ökonomisch gilt zugleich: „Morality does pay“. Eine ökonomisierte Ethik verliert jedoch den Charakter des Moralischen durch die Indienstnahme. Zitat: Zichy 2005, 37 Fn. 4. Auf die handlungsorientierende Wirkung des Nutzenmaximierungsaxiom des homo oeconomicus-Modells im Sinne einer self-fulfillung prophecy verweist auch: Herzog und Honneth 2014, 368. 285 Vormoderne Habitusformen zeichnen sich nicht durch symbolische Tauschhandlungen aus, bei denen die ökonomische Logik ‚weggeglaubt‘ wird. Der Begriff ‚Theorieeffekt‘ stammt ebenfalls von P. Bourdieu. Vgl. Diaz-Bone 2007, 254 und 260. Vgl. auch Fn. 73 in Sparsam 2011, 59.

92 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie dann eine Legitimität dieser Logik innerhalb der ökonomischen Sphäre. Das geht – im Rahmen einer Differenzierungstheorie – davon aus, dass das Subsystem Wirtschaft von ‚Gesellschaft‘ abgegrenzt werden kann. Erst mit dieser gesellschaftlichen Differenzierungstheorie gibt es somit eine Eigenlogik, die jedoch auf andere Subsysteme ausgreift und nicht auf die eigene Sphäre begrenzt bleibt. Daher ist im Rahmen von Theorieeffekten zu problematisieren, dass eine ‚Eigenlogik‘ bereits eine legitime Funktionsweise außerhalb des Sozialen zuschreibt.286 Das zeigt sich an folgendem bekannten Beispiel: M. F. Garcia beschreibt die Errichtung eines Erdbeermarktes u. a. mit Investitionen in die Habitusformierung der zuvor nicht marktlich denkenden Produzenten. Konstruiert wurde der perfekte neoklassische Markt, bei dem die vormals wichtigen sozialen Komponenten eliminiert wurden. Hieran lässt sich einerseits die Bildung eines ökonomischen Habitus nachvollziehen, aber andererseits auch, wie die neoklassische Theorie ihr Objekt bildet. Die Theorie schafft hier explizit den Markt und die ökonomisch handelnden Akteure. Ein Verhalten entsprechend des homo oeconomicus-Modells bedarf also einer sozialen Legitimierung und der Einübung. Das öffnet Perspektiven für alternative ökonomische Handlungsprinzipien, die sich aus einer ‚religiösen Ökonomie‘ ergeben und auf eine ähnliche Performativität zielen. Zugleich zeigt M. F. Garcia in einem Postskript auch, dass die Integration neuer sozialer Konstruktionen abhängig vom Kontext und den sozialen Dispositionen der Akteure ist: „markets […] are never rootless“, was im konkreten Fall zu einer „more solidarity-oriented attitude“ führte.287

Der Diskurs um Ökonomie übt somit Deutungsmacht über seinen Gegenstand aus und verändert die Funktionsweise von Märkten und die Handlungsmodelle von Akteuren zugleich. Von Performativität kann im Anschluss an J. L. Austin und J. R. Searle gesprochen werden, weil durch die Artikulation und Kommunikation ökonomischer Modelle soziale Konsequenzen erkennbar werden. Dabei ist die „performativity of economics still under construction“, wie D. MacKenzie feststellt und muss von alternativen Konzepten abgegrenzt werden. Der Zusammenhang von economy und economics bzw. das Verhältnis von der ökonomischen Theorie und ihrem Objekt, ist der zentrale Ausgangspunkt, weil die Modelle ein konstituierender Teil von marktförmigem Handeln sind. In den Sozialwissenschaften ist die Unterscheidung von „scientists as describers and scientists as innovators“ – anders als z. B. in der Physik – zentral, weil im letztgenannten Fall die Ökonomik 286 Vgl. Beckert 2014, 548, 568 und Zitat: 551. J. Beckert plädiert dafür, Wirtschaft als Feld zu verstehen. 287 Vgl. Diaz-Bone 2007, 261–263. Vgl. zur Verkörperung einer abstrakten Theorie auch Karpik 2011, 141 f. Beide beziehen sich auf: Garcia, Marie-France: La construction sociale d’un marché parfait: Le marché au cadran de Fontaines-en-Sologne, in: Actes de la recherche en sciences sociales (65 / 1986), 2–13. Vgl. auch das Postskript und die Übersetzung in: Garcia-Parpet 2007, Zitat: 50. Siehe auch MacKenzie 2007, 8.

2.3 Economic Theology

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selbst Teil des Untersuchungsobjektes wird und den Untersuchungsgegenstand damit korrumpiert. M. Callon geht z. B. nicht davon aus, dass Märkte spontan entstehen, sondern er untersucht die Ökonomik – genauer das homo oeconomicus-Modell – als Produzent der Handlungsorientierung und als konstruierender Teil von Mäkten.288 Er spricht von ‚performation‘ anstelle von Performativität, um auch tatsächliche Handlungen (activities) in das Konzept zu inkludieren und grenzt sich von alternativen Konzepten wie self-fulfilling prophecies ab, bei denen ein geteilter Glaube Realität wird: „If I believe this statement and if this belief is shared by the other agents, and I believe that they believe it, then what was simply an assumption turns into a reality“. Ebenso ist die Präskription ein mögliches Modell, das M. Callon als repetitiven Sonderfall der Performativität einordnet. Sein Ansatz bezieht dabei die ‚Einbettung‘ mit ein, weil Performativität nicht ex nihilo von der tabula rasa her eine Realität schafft, sondern einen Kontext als zentrale Voraussetzung braucht.289 Dennoch ist mit der Performativität eine Dimension eröffnet, die zwischen Interpretation und Transformation vermittelt, und M. Callon sieht damit die Möglichkeit, „to multiply possible worlds“.290 Das hat Auswirkungen auf plurale Akteursrationalitäten und macht zugleich einen performativen Wettbewerb alternativer Handlungsorientierungen möglich, sodass z. B. Vermarktlichung nicht alternativlos bleiben muss. Dann kann auch ökonomisch mit anderen performativ wirksamen Modellen und Marktdeutungen gerechnet werden. Das hinterfragt die Normativität der Ökonomik einerseits und bietet andererseits Potential für Marktkonstruktionen und Handlungsoptionen, die sich aus theologischen Deutungen ergeben. Damit wäre Vermarktlichung ein doppeldeutiger Begriff, weil auch mit unorthodoxen Marktbegriffen gerechnet werden muss. Eine zentrale Frage wäre dann, welche Wirkungen die Theologie haben könnte, wenn sie denn ökonomisch-performativ in Tat und Rede wirksam werden wollte, um Märkte für (religiöse) Menschen mitzukonstruieren. 288 Vgl. MacKenzie 2007, 14 f. und Zitat: 9. Vgl. auch Aspers 2015, 153 f. und Callon 2007, zweites Zitat: 314. M. Callon unterscheidet die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Verhältnisse von Zeichen, deren Bedeutungen und den Kontext (ebd., 317) und schließt an J. L. Austins Sprechakttheorie an. 289 Anders als das göttliche ‫ ְיִהי אֹור ַו ְיִהי־אֹור‬/ Γενηθήτω φῶς. καὶ ἐγένετο φῶς / fiat lux et facta est lux in Gen 1,3. Vgl. ebd., Zitate: 322 und 326 f. Zur Präskriptivität vgl. 325 f. Auch ein „I hereby pronouce you man an wife“ (ebd., 327) braucht ein williges Paar vor dem Altar, und am zuvor genannten Erdbeermarkt zeigte sich, wie sich solidarische Strukturen trotz eines perfekten Modells etablieren. 290 Vgl. MacKenzie 2007, 15. Zum Zitat siehe Callon 2007, 352. Vgl. auch MacKenzie 2006.

94 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie

A. Ebner diskutiert das Konzept ‚Vermarktlichung‘, bei der die ökonomische Logik als Strukturprinzip eines sozialen Feldes dominiert. Die Vermarktlichung bezieht sich auf zuvor nicht marktlich organisierte Bereiche und in der Folge sind diese Felder nicht mehr über soziale Beziehungen strukturiert, sondern die sozialen Beziehungen sind in die ökonomische Struktur eingebettet, wodurch eine Umformung sozialer Beziehungen entsteht.291 Wenn ‚Markt‘ mit seinem gewinnorientierten Verwertungskalkül zum gesellschaftlichen Ordnungsmodell mit normativer Orientierungskraft wird, dann erscheinen (neoliberale) Strukturprinzipien auch in außermarktlichen Feldern. Diese Strukturprinzipien können als Dimensionen von Vermarktlichung folgendermaßen skizziert werden: Ökonomisierung verweist auf das Kosten-Nutzenkalkül, Kommerzialisierung auf die Nachfrage / Bedürfnisorientierung, mit der Kommodifizierung versteht sich z. B. Arbeit als Ware, und die Monetarisierung zeigt geldwirtschaftliche Kalküle an.292 Mit dem Konzept der Vermarktlichung ist Ökonomie keine separierte Logik eines Feldes oder Subsystems von Gesellschaft mehr, sondern wirksames Deutungsmodell von gesellschaftlichen Strukturprinzipien.

Hier wird besonders von der Wirtschaftssoziologie deutlich gemacht, dass auch die ökonomische Rationalität eine sozial konstruierte Kategorie ist. Dass Ökonomen tatsächlich rational und nutzenmaximierend entsprechend des homo oeconomicus-Modells handeln, ist nachvollziehbar, wenn Theorien ihr analysiertes Objekt zugleich formen.293 Gerade von Seiten der Soziologie ist das Leitkonzept problematisiert worden, besonders in Bezug auf Marktmetaphern. Hier zeigt sich die Kurzschlüssigkeit vom Marktmodell auf reale komplexe Marktsituationen, in denen auch kulturelle Faktoren zur Handlungslogik und zur Marktkonzeption gehören können. Werden die ökonomischen Marktmodelle normativ verstanden, so werden reale Märkte an das Modell angepasst, um die Utopie eine Gleichgewichtsmarktes zu erreichen, der Wohlstand für alle produzieren soll.294 Der Marktbegriff erscheint von der Soziologie her als möglicher Ort für die Integration verschiedener Logiken. Dafür muss die Marktmetapher für die religiöse Dimension geöffnet werden, sodass positive Theorieeffekte auf religiöse Märkte wirken können. Zu fragen ist dann auch, welche religiösen Deutungsmuster zu einer alternativen Handlungslogik führen, die zwar marktfähig ist, aber sich nicht marktförmig macht.

291 Zuvor war die ökonomische Logik vom sozialen Handlungsmustern begrenzt. Vgl. Ebner 2014, 99 f. Der Sozialstaat ist in dieser Hinsicht eine Rückbettungsstrategie, die versucht, das soziale Moment zu stärken. 292 Vgl. ebd., 108 f. Die Begrenzung des Marktes auf die ökonomische Sphäre ist in diesem Konzept kaum denkbar. Vgl. auch Herzog und Honneth 2014, 357. 293 Vgl. Hörisch 2013b, 179. Vgl. auch Mikl-Horke 2011, 54. 294 Fraglich geworden sind die normativen Prinzipien der Marktwirtschaft besonders seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008. Vgl. Herzog und Honneth 2014, 365.

2.4 Zusammenfassung

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2.4 Zusammenfassung Die Entkoppelung von Wirtschaftssystem und Lebenswelt – von K. Polanyi als great transformation ausgeführt – ist die Voraussetzung eines ökonomischen Feldes und des neoklassischen homo oeconomicus-Modells. Aus einem konsequentialistisch-utilitaristischem Geist, der auf einen Gesamtnutzen zielt, entsteht das neoklassische Eigennutzaxiom und ein methodologischer Individualismus, der prägend für die ökonomische Deutung des Menschen ist. G. S. Becker weitete die Ökonomie zu einer Deutungstheorie des sozialen und kulturellen Handelns aus und bezog immaterielle Güter in das Modell ein. Damit erfolgt eine Ausweitung des Marktbegriffes auf nichtmaterielle Güter. Das Ziel hierbei ist, die Funktionslogik des Verhaltens ökonomisch zu erklären und mit ökonomischen Mitteln zu gestalten. Mit der Neuen Institutionenökonomik werden soziale Faktoren im Rahmen von Transaktionskosten verstanden, wobei die soziale Dimension in diesem Modell funktionalisiert wird. Im Schema geht es folglich zentral um Anreize und Restriktionen, die das individuell nutzenmaximierende Verhalten erklären und steuern. Neben externen Institutionen wie rechtlichen Regelungen kommen mit der Neuen Institutionenökonomik auch internalisierte und verobjektivierte Regeln als interne Institutionen in den Blick. ‚Gewissensbisse‘ werden so zu einem ökonomisch relevanten Faktor des Modells, und kulturelle Gegebenheiten sind für Märkte nun keine Störfaktoren, sondern gestaltbare – kulturell determinierte – Bedingungen für das Funktionieren von Märkten. Diese Funktionsregeln bestimmen den Handlungsspielraum von Akteuren, die in ihrem opportunistischen Verhalten begrenzt werden sollen. Was zunächst wie ein ‚gesetzliches‘ Restriktionsmodell erscheint, wendet K. Homann in seiner Interaktionsökonomik ins Positive. In einer Verbindung von homo oeconomicus-Modell und Neuer Institutionenökonomik weitet er den Horizont auf gesellschaftliche Phänomene (Interaktionen) aus. Auf dieser Ebene steht die Frage im Fokus, wie gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil gestaltet werden kann. Märkte werden bei K. Homann nicht mehr im Paradigma der Konkurrenz, sondern der Kooperationspotentiale erfasst. K. Homann ändert hier das Narrativ und deutet Märkte um. Gesucht sind daher die Anreize, die den homo oeconomicus zu Interaktionen mit gegenseitigen Vorteilen drängen. Ökonomie zielt in diesem Konzept auf die Gestaltung von Win / Win–Situationen – hier wird A. Smiths unsichtbare Hand sichtbar. Ökonomik wird damit zu einer Situationstheorie, die Dilemmasituationen295 institutionell so reguliert, dass 295 Analog zum homo oeconomicus-Modell, das bei K. Homann kein Verhaltens- sondern ein Situationsmodell ist.

96 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Kooperationsgewinne bei opportunistischem Verhalten und als Nebenprodukt Wohlstand entstehen. Die gesellschaftstheoretischen Dimensionen, die in dem Modell stecken, führt K. Homann insbesondere in der Ethik aus, wodurch die Ökonomik zur ‚Ethik mit besseren Mitteln‘ wird. Nach K. Homann reagieren homines oeconomici auf Situationen, die einen potentiellen Nachteil erahnen lassen. Damit wird nicht mehr der Mensch mit dem Modell des homo oeconomicus identifiziert, sondern Situationen, die so geregelt werden sollen, dass Moral zum Zuge kommen kann. In dieser normativen Institutionenökonomik ließen sich nach K. Homann kulturübergreifende moralische Normen über den offenen Vorteilsbegriff und Restriktions- sowie Anreizstrukturen etablieren. Dabei gilt ganz grundsätzlich auch für die Theologie, dass nur Normen gelten können, die anreizkompatibel implementiert werden können. Kurz: Ohne Vorteil – keine Moral. In diesem Konzept wird der Ökonomie eine gesamtgesellschaftliche Gestaltungskraft zugesprochen, weil Dilemmasituationen – wie z. B. Märkte – generell zum gegenseitigen Vorteil konstruiert werden sollen. Die Idee argumentiert mit Anreizen, die einen Handlungsspielraum erschaffen, der durch Restriktionen eingegrenzt ist. Gegen dieses Primat der Ökonomie wendet E. Herms ein, dass Ökonomie ein Teilbereich der Sozialethik ist und in diesem Theoriehorizont von einem ‚gereiften‘ Selbstinteresse geleitet sein sollte. Hier steht der Mensch über der ökonomischen Systemlogik und kann diese von einer Metaperspektive aus bewerten. P. Ulrich hingegen verfährt dualistisch und plädiert für Bereiche, in denen die ökonomische Logik nicht gelten soll. Eine lebensweltliche Vernunft soll unbedingten Vorrang vor der ökonomischen Rationalität haben, sodass Ökonomie nicht als Selbstzweck, sondern in ihrer lebensdienlichen Funktion wahrgenommen wird. Der moralische point of view des Menschen hat das Primat, wodurch Individuen gegen die Marktlogik handeln sollen. Genau das ist nach K. Homann jedoch höchst unplausibel und eher ein Ideal. In diesen Konstellationen zeigte sich eine erste Zuordnung der Bereiche und die Überschneidungen von Ethik und Ökonomie. Neben die jeweilige Zuordnung des Primates von Ökonomie und Theologie kann ebenso nach der Wirkrichtung gefragt werden: Wie beeinflusst Ökonomie Religion bzw. wie wirkt Religion allgemein und spezifischer Theologie auf Ökonomie ein? Die Religionsökonomie als Teilbereich der Religionswissenschaft verortet sich in einem kulturellen Horizont zwischen Religion und Ökonomie. Dadurch entsteht eine doppelte Perspektive: einerseits eine ökonomische Perspektive auf Religion, andererseits kommen auch die religiösen Dimensionen von Ökonomie in den Blickpunkt. Inhaltlich wird hier mit shared mental models, Institutionen und der Untersuchung normativer Ideologien gearbeitet. In Bezug auf die evangelisch-lutherische Version von Religiosität ergibt sich die Problemstellung, dass mit einer ökonomischen Tauschlogik

2.4 Zusammenfassung

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eine Religiosität untersucht wird, die sich besonders im Schema der Gabe verstehen lässt. L. Iannaccone und B. Gladigow argumentieren exemplarisch im neoklassischen Schema und unterstellen Äquivalenzbeziehungen zwischen Gott und Mensch sowie Nutzenmaximierungen für das Individuum. Damit ist eine Fremddeutung von (u. a. evangelischer) Religiosität angesprochen, die sich konträr zur theologischen Selbstdeutung verhält. Mit den Methoden der Neuen Institutionenökonomik wird das methodische Instrumentarium erweitert, sodass nun auch theologische Inhalte und geprägte Weltsichten in ökonomische Theorien einbezogen werden können. Die Komplexität und Unsicherheit bzw. die Schwierigkeit zu kalkulierten und rationalen Entscheidungen im religiösen Bereich zu gelangen, wird in der Neuen Institutionenökonomik u. a. durch mentale Modelle und Institutionen bearbeitet. Hier zielen ökonomische Theorien auf konsensfähige Weltwahrnehmungen, die Unsicherheiten überbrücken. Mental models haben als individuelle – als Wahrnehmungsfilter – sowie geteilte – als austauscherleichternde Institutionen – die Funktion, Komplexität und offenen Entscheidungssituationen zu reduzieren. Sie fungieren dabei als Deutungsmuster, die u. a. kulturell geprägt sind, aber auch geprägt werden können. Die Anwendung ökonomischer Methoden in der Kirche zeigte am Beispiel des eMp, wie eine interne religiöse Logik durch die ökonomische Logik beeinflusst werden kann. Ein alternatives ökonomisches Modell ist von den performativen Implikationen her für religiöse Produkte gefragt, weil diesen Modellen in der Regel anthropologische Grundannahmen anhaften, die im Konflikt zu religiösen Sichtweisen des Menschen stehen und ihre Wirkung auch gegen den religiösen Sinn verwirklichen können.296 Es könnte sein, dass der evangelische Mensch etwas zu sehr an das ökonomische Evangelium glaubt und dabei übersieht, dass Märkte soziale Konstruktionen sind und es an den mentalen Modellen, Narrativen oder frames liegt, ob es sich überhaupt um eine Marktsituation handelt und wenn ja, welche Handlungslogik auf diesem Markt gilt. In der Regel ist die ökonomische Logik auf Märkten nicht gesetzt, sondern wird gesetzt. Es ist zu vermuten, dass sich über die Marktmetapher evangelische und ökonomische Paradigmen treffen können und die Logiken von äquivalentem Tausch mit universaler Knappheit und Eigennutzorientierung sowie eine theologische Gabe vermittelt werden können. Das wird unmittelbar relevant, wenn Kirche als 296 Das zeigt sich z. B. an der problematischen (neoklassisch-) ökonomischen Terminologie im EKD-Impulspapier ‚Kirche der Freiheit‘ (2006), in dem eine Zweck-Mittel-Verkehrung zu beobachten ist.

98 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Mitspieler auf einem Markt beschrieben wird. Dann sind Akteure versucht, in das orthodoxe ökonomische Sprachspiel einzufallen, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass Märkte nicht identisch mit neoklassischen Theorien sind. Hier werden Theorieeffekte wichtig, die Kriterien für das Verhalten auf Märkten setzen. Wenn nun aber Märkte erzählt werden können; wenn das Kriterium des richtigen, guten, nützlichen Handelns in Kommunikation erschlossen wird, dann wirft das die Frage auf: Warum erzählen und kommunizieren Theologen dort nicht mit? Zu weiten Teilen überlassen Theologen das Feld einer ökonomischen Deutung, die überaus wirkmächtig ist. Um aber mitkommunizieren zu können, müssen die ökonomischen Implikationen der eigenen Theologie-Geschichten bekannt sein. Das mechanische ökonomische Denkmodell mit Entscheidungen in Situationen kann erweitert werden um die Kreativität des Menschen, der nicht nur zwischen A und B – mit einer methodischen omniscientia – entscheidet, sondern C erfinden kann. Dafür braucht es aber eine kognitive Veränderung der Entscheidungssituation, eine Neu-Interpretation der situativen Rationalität. K. H. Brodbeck akzentuiert den Einbettungsbegriff dafür neu: „Märkte sind kommunikativ und kognitiv eingebettet. Das, was ein ‚Markt‘ ist, wird immer wieder neu interpretiert“ und damit die Rationalität der Handlungslogik neu gesetzt. Das geschieht aber nicht unabhängig von gewohnten Strukturen, Ordnungen und Ideologien.297 Es gibt nun plurale Akteursrationalitäten wie – neben dem Rationalwähler – eben z. B. den Regelbefolger, der sich von Entscheidungen befreit und nicht nach dem Kriterium der Effizienz handelt, denn sonst müsste er wiederholt prüfen, ob Regelbefolgung effizient für ihn ist. B. Priddat begründet z. B. Rationalität im Kommunikationssystem, weil Tauschakte soziokommunikativ beeinflusst und kulturell eingebettet sind. Die kommunizierten Weltsichten prägen damit die Entscheidungen und nicht allein die Preise. Es geht dann wieder um frames, belief systems, mental models oder um kommunikativ gedeutete Arenen des sozialen Handelns, z. B. die Frage, ob überhaupt eine solche Arena als Markt zu verstehen ist. Der homo oeconomicus hingegen ist in der Theorie kommunikativ völlig isoliert. Das Modell des homo oeconomicus könnte dabei selbst so wirkmächtig sein, dass sich die Frage verbietet, ob eine Situation eine Handlung nach der Marktlogik erfordert oder nicht.298 297 Vgl. Brodbeck 2002, 359 f. und Zitate: 357, 359 und 358. K. H. Brodbeck entfaltet K. Marx’ Beispiel: „Dieser Mensch ist z. B. nur König, weil sich andere Menschen als Untertanen zu ihm verhalten. Sie glauben umgekehrt Untertanen zu sein, weil er König ist.“ Diese reflexive Struktur erkennt K. H. Brodbeck auch in ökonomischen Theorien wieder. 298 Z. B. handelt man weniger auf Märkten, deren Erlöse gespendet werden. Auch dürfte sich das Kaufverhalten ändern, je nachdem wie stark die neoklassische Prägung leitend ist.

2.4 Zusammenfassung

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Für religiöse Produkte geht es damit um die Frage, in welchen Kontexten oder frames sie interpretiert werden. Wenn die Selbstdarstellung als Marktakteur das ökonomische Paradigma des homo oeconomicus-Modells nahe legt, wird damit das Handlungskriterium zugleich gesetzt. Die zentrale Frage wäre dann, wie ein evangelisch-ökonomischer Handlungsraum kommunikativ zu konstruieren wäre. B. Priddat beschreibt das über belief systems, die einerseits durch Kommunikation änderbar sind und andererseits eine bestimmte Perspektive auf eine Situation produzieren. Zu dieser Situationsdeutung gehört dann zentral das Handlungskriterium, das entsprechend den ökonomischen Konsequenzen evangelischer Theologie gestaltet sein könnte. Dafür wiederum sind Narrationen, Metaphern etc. wichtig, weil der Wechsel des Sprachregisters – von einer ökonomischen ‚Marktmetapher‘ – hin zu evangelisch-ökonomischen Marktmetaphern wiederum die Handlungsorientierung der nun nicht mehr kalkulierenden Maschine Mensch verändert.299 Damit ist die Folgefrage aufgeworfen, wie man ökonomische Kontexte durch evangelische Augen wahrnehmen kann – denn allein dadurch könnte sich die Situationsdeutung völlig verändern. D. A. Hay nennt christliche Ökonomen ‚implicitly schizophrenic‘,300 weil die jeweiligen Handlungslogiken von Theologie und Ökonomie derart unterschiedlich sind. Dabei bietet der homo oeconomicus durchaus einen Erklärungswert für ökonomische Praktiken, jedoch sind alternative Handlungslogiken a priori nicht im Blickfeld der jeweiligen Untersuchungen, da ein utilitaristisches Framework vorausgesetzt wird. Das homo oeconomicus-Modell zeigt mit den Erklärungen des menschlichen Verhaltens in beinahe allen Lebensbereichen eine Dimension, die theologisch mit dem peccator-Status des Menschen bezeichnet wird. Damit ist das Modell angemessen, aber unvollständig.301 Diese schizophrene Situation ergibt sich nicht nur für christliche Ökonomen, sondern für jeden Christen, der seine präferierte Handlungslogik in allen 299 Mit B. Priddat: Wechsel vom ontologischen Naturalismus hin zum pragmatischen Kommunikationsrealismus. Werbung ist präferenzwandelnde Kommunikation, Kommunikation kann zudem die Handlungskriterien auf Märkten verändern. 300 Vgl. Hay 2001, 172. 301 D. A. Hay sucht Wege, die Schizophrenie aufzulösen. Der Konstruktion einer alternativen Ökonomie nach christlichen Prinzipien erteilt er eine Absage, weil er die Wirkungslosigkeit einer solchen Ökonomie befürchtet. Seine favorisierte Option ist, innerhalb des neoklassischen Paradigmas zu arbeiten, aber die normativen Setzungen kritisch zu hinterfragen. Dabei geht er fest davon aus, dass Christen das ökonomische Verhalten moralisch verurteilen und anders handeln können: ‚by the grace of God people can live their lives differently and virtuously‘. Vgl. ebd., 187, 175 und Zitat der Fn: 176. Ähnliche Parallelisierungen finden sich u. a. in North 1974, viii f., der den Fluch der Knappheit als Ausgangspunkt aller Ökonomie versteht.

100 | 2 Konstellationen von Ökonomie und Theologie Lebensbereichen abwägen muss. Wenn der peccator mit dem ökonomischen Paradigma beschrieben und durch Institutionen ‚behandelt‘ werden kann, dann ist lutherisch nach dem simul iustus zu fragen. Eine theologische Ökonomie ginge dann vom gerechtfertigten Menschen aus, dem aus der theologischen Perspektive durchaus eine Wirksamkeit zugetraut wird. Mit dem folgenden Kapitel der theological economies wird auf diese Fehlstelle gezielt, um einen theologischen Beitrag zur Ökonomie im Anschluss an die vielfältigen Bezüge beider Disziplinen zu leisten.

3 Theological Economies Die Vielzahl an Publikationen und wechselseitigen Perspektiven von und auf das Thema ‚Theologie und Ökonomie‘ erfordern eine Systematisierung der Begrifflichkeiten. Eine instruktive Unterscheidung erfolgt mit der Differenzierung von einerseits economics of religion sowie andererseits economic theology und theological economy: Economics of religion bezeichnet hauptsächlich die Untersuchung von Religion mithilfe ökonomischer Methoden. Das hat Analogien in der Religionssoziologie und Religionspsychologie. Das Forschungsfeld der Religionsökonomie etablierte sich seit 1990 und differenzierte sich seither kontinuierlich aus. Zu den maßgeblichen Unterscheidungen gehört die Differenz von economics of religion und religious economics: Whereas the former analyzes religion and its consequences from social and economic perspectives, the latter evaluates social and economic action from the perspective of sacred truth.1

Als religious economics versteht L. Iannaccone theologisch orientierte Argumentationen zu ökonomischen Themen.2 Hinzu kommt die Ideologiekritik in der Ökonomie nach der Systematik von A. Koch, die erweitert werden kann um den Forschungsbereich der economic theology, der als Teilbereich der religionsökonomischen Perspektive die theologischen Implikationen der Neoklassik untersucht. Es geht dabei häufig um das Aufzeigen säkularisierter theologischer Paradigmen, die ökonomisch produzierten Hoffnungs- und Glaubensstrukturen sowie die immanenten Heilserwartungen.3 R. H. Nelson spricht sich dafür aus, dass Ökonomen theologische Paradigmen studieren sollten, um die Konstruktionsbedingungen 1 Vgl. Iannaccone 2005, 3. Zu den Analogien der Religionssoziologie und Religionspsychologie vgl. Iannaccone 2010, 2. Die Forderung, Religion mit einem ökonomischen Ansatz zu untersuchen, provoziert geradezu die komplementäre Bewegung, Ökonomie in einem religiösen Sprachmuster zu deuten. Letzteres wird jedoch kaum deskriptiv verfahren können. 2 Vgl. Iannaccone 2005, 8, Anm. 9. „Islamic economics, Christian economics, Catholic social doctrine, rabbinic writings on commerce, or biblical teachings about wealth and poverty“ gehören in diese Kategorie, jedoch damit nicht zum Forschungsfeld der economics of religions. In A. Kochs Systematik ist auf die objektsprachliche Verwendung des Begriffes verwiesen: Koch 2014a, 182. Sie verweist auf die problematische Verbindung der Bereiche. Es kann bei religiösen Ökonomien nicht um hegemoniale Ansprüche gehen, sondern um die ökonomische Selbstaufklärung u. a. auch konkreter Akteure, wie z. B. christlicher Banken etc. 3 Darunter fällt B. Priddats Beschreibung der theologisch imprägnierten Genese der Ökonomie sowie exemplarisch die semantischen Überschneidungen des ökonomischen und theologischen Wortschatzes. Vgl. Hörisch 2013a, 29 ff. Vgl. zur Einführung Nelson 2004, 58 ff. G. Agamben kann https://doi.org/10.1515/9783110747935-003

102 | 3 Theological Economies ihrer ökonomischen Theorien zu erkennen. Wenn es aus dieser Perspektive um die ‚beliefs‘ geht, die in der Ökonomie wirken, dann können im Rahmen einer economic theology diese säkularisierten theologischen Paradigmen auf einer deskriptiven Ebene identifiziert werden. In normativer Hinsicht ist hingegen die Theologie aufgerufen, ökonomische Diskurse mit alternativen ‚beliefs‘ zu bereichern. Die Schnittmenge einer theologischen Ökonomie ist dabei bisher noch kein relevantes Gegenüber für christliche Ökonomen. Unter dem Titel theological economy firmieren Ansätze, die sich im weitesten Sinne als religiöse Ökonomien verstehen. J. Atherton verweist auf die noch junge Erkenntnis, dass eine theological economy als Gegenüber zu einem ‚ökonomischen‘ Glauben bisher fehlt. Während religiöse Ökonomien und theologische Ethiken häufig zu ökonomischen Einzelaspekten und Handlungsanleitungen tendieren, zielen theological economies in dieser Systematik auf die Erarbeitung der Prinzipien eines theologischen Ökonomieverständnisses. Damit soll auf einer akademischen Ebene eine Verbindung von christlichem Glauben und ökonomischen Theorien ermöglicht werden. Im Rahmen von theological economies geht es darum, zuallererst eine religiöse Ökonomie zu konstruieren, die sowohl im theologischen Diskurs eingebettet ist und zugleich eine Auseinandersetzung mit ökonomischen Theorien und Praktiken ermöglicht.4 Zunächst müssen jedoch die Begrifflichkeiten dieses breiten Forschungsfeldes geklärt werden, sodass eine Einordnung des eigenen Ansatzes erfolgen kann und der Begriff ‚theological economy‘ geschärft wird.

3.1 Begrifflichkeiten im Feld der theologischen Ökonomien Zur Differenz von religious economics, economics of religion, oikotheology, christian economics, theological economy/ics und economic theology: Religiöse Ökonomien sind aus der Perspektive der Religionswissenschaft Praktiken, die das Ökonomische in sozialen Beziehungen religiös verblenden. A. Koch führt im Anschluss an P. Bourdieu dazu aus, dass die Funktionslogik des Religiösen in der Verneinung des Ökonomischen besteht. Das Deutungsmuster von sozialen Handlungen wechselt vom ökonomischen zum religiösen. In der Systematisierung kann ‚religiöse Ökonomie‘ einerseits analog zur politischen Ökonomie ganz Ökonomie grundsätzlich als säkularisiertes theologisches Paradigma beschreiben und damit die Theologie selbst ökonomisch verstehen. Vgl. dazu Agamben 2010, 16. 4 Vgl. Atherton 2008, 266 f. K. Tanner konstruiert ausdrücklich eine theological economy. Vgl. Tanner 2005, 31. Zu R. H. Nelson und J. Atherton vgl. auch Hay 2001, 172.

3.1 Begrifflichkeiten im Feld der theologischen Ökonomien

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allgemein bezeichnen, wie religiöse Institutionen mit anderen Gesellschaftseinheiten interagieren. Andererseits sind auch religiös-normative ökonomische Prinzipien unter dem Begriff zu verstehen.5 Beispiel Islamische Ökonomie: Mit religiösen Ökonomien geht es nicht nur um die ökonomischen Implikationen religiöser Sozialpraktiken, sondern um religiös bestimmte ökonomische Vorstellungen, wie sie der Islam ausgebildet hat. Scharia-konforme Finanzdienstleistungen geben einen knappen Eindruck dieser religiösen Ökonomie: Die in Europa angebotenen schariakonformen Finanzprodukte reagieren auf den Grundsatz des Zinsverbotes und das Verbot von Glücksspiel.6 Finanzgeschäfte müssen dabei an realwirtschaftliche Werte gekoppelt sein, und Handel mit diesen Werten ist erlaubt (halāl), Zinsen (riba) als Mehrung ohne reale Gegenleistung hingegen verboten (harām). Ausgeschlossen sind damit nicht-äquivalente Tauschverhältnisse, um die Solidarität der Gemeinschaft ökonomisch zu regulieren.7 Die (europäische) islamische Ökonomie versteht sich einerseits als Gegensatz zum westlichen Kapitalismus, muss sich andererseits jedoch in diesem neoklassischen Handlungsraum formieren und funktionieren.8 Ökonomisch wird mit ethischen Überlegungen das neoklassische Gewinnschema durch eine genossenschaftliche, solidarisierte Ökonomie zum Schutz der Gemeinschaft durchbrochen.9

Islamische Ökonomien entsprechen der Definition von religious economics nach R. Brinitzer und L. Iannaccone, weil aufgrund theologischer Prinzipien und Heiliger Texte ökonomisches Verhalten kritisiert und vorgeschlagen wird. Im Gegensatz dazu entspricht economics of religion der Religionsökonomie, indem sowohl die ökonomischen Konsequenzen einer religiösen Form bzw. Gestaltung untersucht werden, als auch religiöses Verhalten mit den Mitteln ökonomischer Methoden.10 5 Vgl. Koch 2014a, 66 f. und 182 ff. und 203. 6 Geschlussfolgert wird das aus Koranversen wie: ‚Du sollst kein unreifes Korn kaufen‘. Vgl. ebd., 185. Zentral ist die Berechenbarkeit bzw. Risikolosigkeit von Transaktionen. 7 Analog funktioniert Aristoteles’ Differenzierung des Geldes nach ‚Tauschmittel‘, ‚nichtäquivalentem Handel‘ und ‚Geldverleih‘. Bei den beiden letztgenannten Formen (Chrematistik) erzeugt Geld direkt Geld, was im Konflikt mit der Ethik der ausgleichenden Gerechtigkeit steht. Vgl. Arist. Politik I 1257a–1259a, Söllner 2012, 13 f. und Schütrumpf 1991, 30. Vgl. zur Übersicht Zoepffel 2006. 8 Das Verbot von Krediten und von der Realwirtschaft abgekoppelten Finanzprodukten führt dazu, dass die islamische Wirtschaft auf den Primärmarkt beschränkt bleibt. Weiterhin sind Geschäfte mit Pornographie, Alkohol, Drogen, Waffen und Schweinefleisch verboten. 9 Auch Dtn 12–26 überträgt die Rechtssituation innerhalb der Familie auf das Volk, ebenfalls mit ökonomischen Folgen: Vgl. jüdische Schuldsklaven nach Ex 21, Dtn 15 und Lev 25. Jeremias 2015, 195–204. Analog bestehen in der Umma als geschwisterlicher Gemeinschaft ökonomische Regeln. Vgl. zu Halālprodukten Waarden und Dalen 2013, 197 ff. und zum Thema allgemein Waibl 2006, Kuran 1994, Leipold 2006 und Kalisch 2006. 10 Vgl. Iannaccone 1998, 1466. R. Brinitzer differenziert analog nach religious economics und economics of religion vgl. Brinitzer 2001, 136. Die Differenz von Religionsökonomie und religiöser

104 | 3 Theological Economies Der Begriff oikotheology bezeichnet Ansätze, die in der Doppelperspektive sowohl ökologische als auch ökonomische Themen bearbeiten. Zentral ist dabei die Haushaltsmetapher, die auch ökumenisch erweitert werden kann, wenn es um den globalen Haushalt Gottes geht. Das Bild entspricht der christlichen Vision einer inklusiven Gemeinschaft, in der zentrale familiäre und christliche Werte verwirklicht werden.11 Ein theologisches Haushaltsmodell wird global ausgeweitet, um auf diese Weise einer identifizierten ökologischen und ökonomischen Doppelkrise zu begegnen. P. Oslington untersucht das Verhältnis von Theologie und Ökonomie unter den Überschriften theological economics und christian economics. Der Begriff theological economics wurde zunächst von P. Heyne 1986 geprägt, der jedoch theological economics und economic theology als austauschbare Bezeichnungen anführt.12 P. Oslington versteht unter theological economics sowohl die Möglichkeit einer alternativen christlichen Ökonomie, als auch die „theology implicit in contemporary economics“. Jedoch sollte eine religiöse Ökonomie nach P. Oslington nicht aus der Theologie deduktiv erschlossen werden, sondern „theological economics […] means that economics is subject to theology in that it is positioned, relativised and criticised by theology“.13 Ökonomie vergleicht D. Richardson im Anschluss an L. Iannaccone mit folgendem Bild: „If the economics of religion is ‚when economics drives up to the door of a church,‘ […] then religious economics is perhaps when religious engines replace the original equipment in economics vehicles.“ Richardson 2014, 296 Anm. 8. Vgl. das titelgebende Bild in Fn. 290 auf Seite 93 bzw. MacKenzie 2006, 11. 11 Vgl. zum Begriff: Kagema 2016, 87 ff., Warmback 2007, Alokwu 2009 und Conradie 2011, 115 f. 12 Vgl. Heyne 1986, 147. Eine ‚theological economics‘ identifiziert S. Long in der Untersuchung von B. Dempsey: „What the Enlightenment had rent asunder (economics, theology, and morality) Dempsey joined together. He accomplished this through his careful analysis of the prohibition against usury.“ Vgl. Long 1996, 693 f. B. Dempseys Ansatz geht von der Scholastik aus und versteht den ökonomischen Prozess auf die Entwicklung der Persönlichkeit hin. Die Traditionsgeschichte der Ökonomie zeigt eine Entwicklung, bei der die theologische Relevanz ökonomischer Handlungen verdeckt wurde: „First, it was freed from theology in the 18th century to become political economy. Then it was freed from political philosophy in the later- 19th and early-20th century. Now, through its utilization of mathematical models, it increasingly looks like an autonomous science.“ ebd., 706. Obwohl B. Dempsey eine normative Ethik vertritt, positioniert er das Zinswucherverbot so in den sozialen Kontext einer funktionierenden Ökonomie, dass es sich als theologisches Argument homogen in die Ökonomie einfügt, zumindest unter der vorausgesetzten Zielstellung von Ökonomie. Vgl. auch Dempsey 1948 und Dempsey 1958. 13 Vgl. Oslington 2000, 11, 14 und Zitate: 1, 6. R. Tatum verweist auf eine Konferenz in Rom 2014 unter dem Titel: ‚Economic Theology, Theological Economics‘. Vgl. Bruni, Oslington und Zamagni 2016, 1 ff. und Tatum 2016b, 3.

3.1 Begrifflichkeiten im Feld der theologischen Ökonomien

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Eine Einführung in eine christliche Ökonomik unter dem Begriff christian economics legte G. North 1974 vor.14 Er gehört zu einer Bewegung, die von einem ‚christian reconstructionism‘ her eine christliche Theokratie unter alttestamentlichen Bundesgesetzen und einem freien Markt propagiert.15 Diese Begriffsverwendung unterscheidet sich erheblich von P. Oslingtons Verwendung und zeigt an, wie uneinheitlich von christlicher Ökonomie gesprochen wird. In der Literatur zum Thema wird der Begriff auch im weiteren Sinne als ‚christliche Art und Weise Ökonomie zu treiben‘ verstanden.16 Begriffliche Ein- und Abgrenzungen Im Folgenden soll die Unterscheidung von economic theology und theological economy leitend sein: Zunächst präzisieren die Begriffe, dass es sich nicht um allgemein religiöse Ausgangspunkte handelt, sondern um theologische Ansätze von einem spezifischen Bekenntnis her.17 Economic theology – ökonomische Theologie – meint nach R. H. Nelson die theologischen Dimensionen der Ökonomie, die verdeckte Theologie hinter der ökonomischen Hoffnung das Grundübel Armut zu besiegen und so ‚den Himmel auf Erden zu schaffen.‘18 In der economic theology geht es somit zunächst darum, die Ökonomie über ihren Glauben aufzuklären und die inhärenten theologischen Paradigmen am Ort der Ökonomie aufzuweisen.19 Deutlich wird durch diese begriffliche Differenzierung der jeweilige Ort, von dem aus das Verhältnis von Ökonomie und Theologie in den Blick genommen wird. Bei der economic theology werden am Ort der Ökonomie die theologischen oder religiösen Dimensionen aufgezeigt. Theological economies hingegen versuchen, von den theologischen Einsichten her Ökonomie zu betreiben. Es geht dabei um die Möglichkeiten konkreter economies. Theological economics hingegen 14 Vgl. Oslington 2014a, xiv. Zum Folgenden vgl. North 1974. 15 Im Anschluss an Gen 3 ist der Fluch der Knappheit der Ausgangspunkt aller Ökonomie. Nach dem Sündenfall brauche die Menschheit external restraints (viii). Vgl. ebd., sowie den Internetauftritt www.garynorth.com mit zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema. 16 Vgl. Oslington 2009, Webb 1994, Hay u. a. 2006, Oslington 2000 und Tatum 2016a 17 Vgl. zum Begriff der Religion (im Gegenüber zur ‚Kommunikation des Evangeliums) Grethlein 2015. 18 Vgl. Nelson 2004, 58, 60 f. Für R. H. Nelson sind „economists […] still the modern priests of economic progress“ (ebd., 62), mit dem Ziel, materiellen Wohlstand zu ermöglichen und so moralische Tugendhaftigkeit zu etablieren. R. H. Nelson sieht eine Notwendigkeit für Theologie in der Ökonomie: „top universities will have to address theological issues with a new explicitness and I suspect they will.“ (ebd., 79). 19 Vgl. exemplarisch nur die folgende Auswahl an Literatur: Hörisch 2004, Hörisch 2013a, Hörisch 2013b, Priddat 2004, Priddat 2008, Priddat 2013a, Priddat 2014b, Nelson 2001, Oslington 2014b.

106 | 3 Theological Economies würde auf der Metaebene der wirtschaftswissenschaftlichen Ökonomik angesiedelt und Methoden sowie die Theorieebene reflektieren. Diese Trennung ist einigermaßen unscharf, weil die ökonomische Theoriebildung Auswirkungen auf die ökonomische Praxis hat und sich theologische Ökonomien zentral mit den ökonomischen Grundannahmen auseinandersetzen müssen, um nicht in einem theologischen Reinraum Utopien zu produzieren. Daher muss in Abgrenzung und im Rekurs auf ökonomische Diskurse dargelegt werden, warum gegebenenfalls theologisch ideale Entwürfe dennoch einen konstruktiven Beitrag leisten.20 Zugleich sollen theologische Ökonomien unterschieden bleiben von Ansätzen, die zwar theologisch argumentieren, sich aber primär kritisch oder unterstützend auf bestehende ökonomische Strukturen und Theorien beziehen. Da die Möglichkeit einer theologischen Ökonomie in lutherischer Prägung zur Disposition steht, sollen zur weiteren Abgrenzung zumindest exemplarisch die Ansätze anderer Konfessionen angezeigt werden. In der Darstellung einzelner christlicher Ökonomien verschwimmen diese Grenzen wiederum, weil zunächst die grundsätzlichen Konstruktionsweisen dieser Entwürfe von Interesse sind und erst in einem zweiten Schritt das spezifisch Lutherische im Fokus steht.

3.2 Konfessionelle Ansätze Die Unterscheidung von konfessionellen Ansätzen zum Verhältnis von Theologie und Ökonomie dient der Verdeutlichung der konfessionell gebundenen Perspektiven auf Ökonomie. Katholische Ökonomie Katholisch wird die Autonomie der einzelnen Wissenschaftsbereiche geschätzt und keine integrierte katholische Ökonomie ins Auge gefasst, sondern ein interdisziplinärer Austausch, mit dem Ziel sozialer Reformen und moralischer Evaluation.21 Katholische Ökonomie bezeichnet daher eine Verhältnisbestimmung von 20 Eine afrikanische theologische Ökonomie nach Mt 25,31–46 orientiert an den Situationen: „hungry, thirsty, stranger, naked, sick and imprisoned“ versucht: Adegbite und Adegbite 2015, Zitat: 5. Eine echte theologische Ökonomie entsteht dabei jedoch nicht im vorliegenden Sinne, da der Aufsatz auf individuelle Handlungsanweisungen allgemeiner Art zielt und keine eigenständige Ökonomie intendiert. Zu den weiteren Forschungsfeldern, zu denen auch religionswissenschaftliche Fragen gehören vgl. Hay u. a. 2006, 2 f., sowie Oslington 2009, 2 f. 21 Vgl. Yuengert 2014, 153 ff. Die Vielzahl der Arbeiten zur Wirtschaftsethik aus einer katholischen Perspektive soll hier nicht aufgeführt werden, da Ansätze zu theologischen Ökonomien im Fokus stehen.

3.2 Konfessionelle Ansätze |

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katholischer Soziallehre und Ökonomie, besonders in ihrer normativen Dimension. Die katholische Soziallehre dient als Ideal zur Orientierung, um Ziele einer Gesellschaftsordnung und eine Vision von den Menschen in dieser Ordnung zu entwickeln. Sie ist keine theoretische Reflexion, sondern auf eine praktische Anwendung hin entwickelt. Hier biete sich nach A. Yuengert eine Überschneidung von normativer Ökonomie und der kath. Soziallehre an.22 In den temporären weltlichen Ordnungen – die von Knappheit geprägt sind – ist die Expertise der Ökonomie ein wichtiger Diskursbeitrag im Zusammenhang mit der moralischen Zielorientierung der katholischen Soziallehre. Die normative Dimension der Ökonomie soll sich einerseits an den katholischen Vorgaben orientieren, andererseits wird die deskriptive Ökonomie geschätzt, um die tatsächlichen Gegebenheiten zu erkennen. Ein interdisziplinärer Nexus, bei dem Einflussmöglichkeiten entstehen, ist Utopien vorzuziehen. Katholische Ökonomie tendiert dabei deutlich in die Richtung von Wirtschaftsethiken und produziert keine theological economy im zuvor skizzierten Verständnis. Anglikanische Ökonomie Die anglikanische Kirche war kirchenhistorisch bei der politischen Formierung der Gesellschaft stark involviert und hat von diesem Erbe her auch in pluralen Gesellschaftsordnungen ein Interesse an christlicher Ökonomie. Dabei gibt es verschiedene – u. a. kritische – Ansätze, die z. B. darauf hinweisen, dass eine biblisch-familiäre Solidarität nicht auf Industriegesellschaften angewendet werden kann oder der christliche Standpunkt nicht auf die ökonomischen Methoden zu beziehen ist (weil es bspw. auch keine christliche Technik für das Klavierspielen gibt). Daneben gibt es Hinweise, dass christliche ökonomische Theorien möglich sind, z. B. besonders von Israels Beziehung zum Land her. Die Unterscheidung von „stewardship“ und „ownership“ kann als überzeitliches Paradigma für Gesellschaften dienen. Anglikanische Ansätze zur Ökonomie sind vielstimmig und uneinheitlich in ihrer Bewertung ökonomischer Paradigmen.23 In der Regel zielen sie auf eine Balance der Kräfte, und die entsprechenden Korrekturen bezeichnen das Optimum des Verhältnisses. Die Alternativen zu dieser Verhältniskonstellation werden aus theologischen Gründen gemieden: 22 Das kann auf die Methodik der positiven Ökonomie zurückwirken, indem ein katholisches Menschenbild in das Modell integriert wird. Vgl. Yuengert 2014, 163. 23 Vgl. Hawtrey 2014, 183. „Looking at economics through the prism of Anglicanism is ironic. […] If you ask an Anglican whether capitalism is good or bad, they would probably answer ‚Yes‘.“ (ebd., 191.)

108 | 3 Theological Economies

[E]vangelical Anglicanism sees the gospel as the controlling motif of biblical Christianity and disavows an idealistic theological economics project because constructing a ‚Christian economic utopia‘ risks obscuring the unique role of the gospel. This guards against the temptation, dangerous for Christian economists especially, to see economic order as a substitute means to engineer the kingdom of God.24

Erkennbar wird in anglikanischen Diskursen die Korrekturfunktion des Glaubens, bei dem die gestalterische Komponente des Glaubens nicht entwickelt wird, weil die Spannung von ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ im Hinblick auf das Reich Gottes aufgeweicht werden könnte. Hierbei handelt es sich um einen ernstzunehmenden Einwand, der die Zielsetzung theologischer Ökonomien betrifft. Dabei ist jedoch gar nicht ausgemacht, dass theological economies auf die praktische Umsetzung drängen. Auch könnten sie als Ideale für Korrekturen fungieren, als Positivfolie, deren vollständige Umsetzung unter weltlichen Bedingungen schlicht unrealistisch bleibt und bleiben muss.25 In dieser Hinsicht könnte eine theologische Ökonomie auch die Verhältnisbestimmung von Theologie und Ökonomie verdeutlichen.

Orthodoxe Ökonomie Die orthodoxe Theologie ist von der Patristik her geprägt. Daher dominieren zunächst patristische Forschungen zum Thema ‚arm und reich‘, bei dem die Armen ihr Schicksal erleiden und die Reichen ihr Vermögen für Almosen aufwenden sollen. Ansätze zu einer theological economy sind nicht belegt. In Schriften, die ökonomische Themen tangieren, wird einer materialistischen Weltsicht eine spirituelle Dimension entgegengesetzt.26 Exemplarisch ist der Aufsatz von D. P. Payne und C. Marsh über die sophistische Ökonomie von Sergei Bulgakov. S. Bulgakov wendet sich gegen Kommunismus und Kapitalismus als ökonomischen Materialismus und plädiert für eine sophistische Ökonomie. Postlapsarisch kämpft der Mensch gegen die Natur zum Lebenserhalt und die deskriptiven ökonomischen Methoden zeigen diesen Kampf an. Für die präskriptive Dimension von Ökonomie unterscheidet S. Bulgakov zwischen der sophia als natura naturans und der materialistischen Natur als natura naturata. Durch Teilhabe an der göttlichen Sophia soll die natura naturata transformiert werden. Das Evangelium kann hier als 24 Vgl. Hawtrey 2014, 191, sowie Zitat: 192 Note 1. 25 H. Nutzinger präzisiert zum Thema: Menschen können ‚zeichenhaft‘ Elemente des Reiches Gottes verwirklichen, nicht aber das Reich selbst. Vgl. Nutzinger 2006, 177. 26 Vgl. Payne 2014, 201.

3.2 Konfessionelle Ansätze |

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Befreiung von der Ökonomie gedacht werden, sodass Glaubende von der natura naturans her an der „re-creation of Eden“ teilhaben können.27 Reformierte Ökonomie An reformierten Publikationen existiert ein breites Spektrum zum Thema, das B. Goudzwaard und R. Jongeneel systematisiert haben. Sie unterscheiden ‚thematische‘, ‚eingebettete‘, ‚Wohlfahrts-‘ und ‚erneuerte normative‘ ökonomische Ansätze:28 Thematic type „Uses one single normative key-concept“; Embedded inputs „Participate in existing [economic] school, but bring in correction“; Welfare economics „Use own normative ‚welfare‘ concept“; Renewed normative economic analysis „Propose revisions of economic theory“. Die in der Systematisierung unterschiedenen Typen in der reformierten Tradition werden folgendermaßen beschrieben. Thematic Type: Diese Arbeiten zeichnen sich durch ein normatives, meist biblisches Grundkonzept aus. Ausgangspunkte können eine Ökonomie des Genug, der Solidarität, Almosen, Gerechtigkeit, stewardship, compassion oder care sein. Embedded Inputs: Dieser Typus von christlichen Ökonomien verortet sich in der Regel in spezifischen ökonomischen Schulbildungen und versucht innerhalb eines ökonomischen Systems Beiträge zu ökonomischen Themen zu liefern. G. Norths Christian economics gehört zu diesem Typus, der im Rahmen eines Christian Reconstructionism für eine liberale Marktwirtschaft und gegen eine Umverteilung von Eigentum votiert.29 Die mosaische Gesetzgebung ist die zentrale 27 Vgl. Payne und Marsh 2009, 45 und Zitat: 48. 28 Die folgende Übersicht findet sich durch Beispiele erweitert in Goudzwaard und Jongeneel 2014, 208. Vgl. auch die Beschreibung einer reformierten Agenda für ökonomische Fragen bei Webb 1994, 47 f. sowie die zwei Hauptströmungen reformierter Ökonomie: christian reconstructionism und die kyperian tradition. Vgl. dazu Noell 1993, 20 ff., sowie Hoksbergen 1992. 29 „Mosaic law was pro-market, pro-private property, pro-foreign trade, and so these insights ought to also govern all forms of modern economic policy.“ Vgl. Goudzwaard und Jongeneel 2014, 213.

110 | 3 Theological Economies Perspektive auf die (ökonomische) Welt, da der Mensch als Verwalter eingesetzt und mit entsprechenden Weisungen ausgestattet wurde. Auf diese Weise kann sehr detailliert Stellung zur ökonomischen Praxis bezogen werden. Zum Beispiel sollen Banken ein Gleichgewicht zwischen Krediten und Einlagen vorweisen, weil andernfalls der Geldwert sinke. Dieser Wert werde mit steigender Inflation unglaubwürdig und für Geld als Maßeinheit kann die Kritik vom zweierlei Maß eingebracht werden. (Dtn 25,13–15)

Sonderform: Theonomy Besonders von der reformierten Tradition ausgehend sind Theonomien eine weitere Möglichkeit theologischer Ökonomien. Diese Ansätze setzen voraus, dass die alttestamentlichen Gesetze bleibend gültig sind und damit im Kontext einer reformierten Bundestheologie für das normative institutionelle Arrangement Bedeutung haben und für Wohlstand sorgen können. Die Transformation des ökonomischen Lebensbereiches entsprechend der biblischen Weisungen bedarf daher der Anpassung der sozialen Institutionen. G. North gehört zu den wirksamsten und prominentesten Vertretern dieses christian reconstructionism.30 Bei diesem Ansatz sind die biblischen Schriften das maßgebliche Kriterium für die Wahrnehmung ökonomischer Situationen. Dadurch ist eine autonome Ökonomie als Disziplin obsolet, und die Legitimität von z. B. freien Märkten und den nötigen Institutionen wird aus den biblischen Quellen konstruiert. Die Übertragung der Bundesgesetze auf heutige ökonomische Situationen gehört zu den größten Herausforderungen dieses Ansatzes. Theonomien liefern instruktive Perspektiven auf ökonomische Probleme, da die Kritik der ökonomischen Methoden von den biblischen Einsichten her nicht allgemeinen verbleibt, sondern sich regelmäßig auf konkrete und detaillierte Problemstellungen bezieht. Die Ergebnisse können als Korrektiv innerhalb eines ökonomischen Paradigmas verstanden werden. Die Autoren stimmen in einem Teilziel mit der Ökonomie überein: „nations obedient to God’s law tend to prosper materially.“31 Welfare economics: Christliche Wohlfahrtsökonomien stimmen darin überein, dass Märkte den Wohlstand steigern können. Auf der normativen Ebene sind jedoch auch Faktoren wie Gerechtigkeit und Tugend relevant, die durch die Ethik bei der Gestaltung von 30 Vgl. Noell 2014, 225 f. 31 Vgl. ebd., 239. Anders als bei einem individuelleren prosperity gospel, ist Wohlstand nicht das Hauptziel, sondern entsprechend des göttlichen Willens zu leben. Wohlstand wäre der Nebeneffekt, der sich dadurch ergibt.

3.2 Konfessionelle Ansätze

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Ökonomie einbezogen werden sollen, sodass Menschen ihre Verantwortung gegenüber Nächsten und der Umwelt wahrnehmen können. Renewed normative economic analysis: Auf der Theorieebene versuchen diese Ansätze die ökonomische Theorie über sich selbst und ihre normativen Implikationen aufzuklären. Der homo oeconomicus ist als methodisches Konstrukt derart abstrakt, dass zwar Ergebnisse produziert werden, diese aber praktisch und sozial irrelevant sind: „economists should always be prepared to study and explain concrete human economic behavior against the background of some kind of normative contextuality.“32 Die ökonomische Rationalität ist nie in Reinform vorzufinden, sondern immer zugleich mit historischen, juristischen und sozialen etc. Aspekten der wahrgenommenen Realität. Damit sind Normativitäten der Familie, des Glaubens, oder des politischen Systems immer auch bei ökonomischen Entscheidungen einzubeziehen.33

Weitere Ansätze Auch in anabaptistischen und pentekostalen Strömungen wird die Beziehung von Ökonomie und Theologie bearbeitet. Die Ergebnisse reichen hier von separatistischen Bestrebungen im Rahmen einer Zwei-Reiche-Lehre bis zum Engagement in ökonomischen Kontexten, um das Ziel der Ökonomie durch ein verändertes Begehren zu transformieren. Die These dahinter ist häufig, dass Gottes Reich als Ziel auch den ökonomischen Wohlstand impliziert.34 Die theologisch motivierten Publikationen ringen um eine Integration und einen Beitrag zur ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft, während aus der religionswissenschaftlichen Perspektive eher kritische Impulse stammen. Eine Christianisierung ökonomischer Methoden ist mit der Quadratur des Kreises vergleichbar, weil es sich um zwei Sphären handle, die in modernen Gesellschaften getrennt sind.35 Mit diesem kritischen Votum ist zum einen nach den Möglichkeiten 32 Vgl. Goudzwaard und Jongeneel 2014, 216. 33 Vgl. ebd., 217 f. Einige Autoren verändern zudem das mechanische Kausalitätsprinzip der Ökonomie zugunsten einer personalen Perspektive auf Kausalität, sodass Veranwortung konkret bei den Akteuren und nicht im System lokalisiert wird (219). 34 Vgl. Clifton 2014, 273 f. und Halteman 2014 und Webb 1994, 47. 35 Vgl. z. B. L. Iannaccone zitiert in Richardson 2014, 293. Der Islam hingegen habe durch die Verbindung des Politischen mit der Theologie die Möglichkeit über Rechtsgestalten Ökonomie zu gestalten.

112 | 3 Theological Economies und Grenzen einer theologischen Ökonomie gefragt, zum anderen aber auch, worauf sich theological economies genau beziehen. Diese kurzen Hinweise auf konfessionell geprägte Ansätze zeigen zudem deutlich, dass ein möglicher Praxisbezug und die Implementierung religiöser Ökonomien in reale Wirtschaftssysteme höchst abhängig von der jeweiligen Konstruktion der religiösen Ökonomie ist. Daher reichen an dieser Stelle die allgemeinen Hinweise auf konfessionelle Ansätze, da die konkreten Integrationsmöglichen und Verbindungsmöglichen nur von den spezifischen Ökonomien her untersucht werden können. Oberhalb der Konkretionen ist jedoch nach der grundsätzlichen Plausibilität und Legitimität von christlichen Ökonomien zu fragen.

3.3 Grenzen und Möglichkeiten theologischer Ökonomien Die Frage nach der Möglichkeit und der Legitimität von christlichen Ökonomien wird besonders seit 1994 in der Association of Christian Economists behandelt und hat noch keinen Konsens, aber plurale Ansätze befördert.36 So wägte J. Tiemstra aus einer reformierten Perspektive die möglichen Ansätze für christliche Ökonomien ab, die sich kritisch zur Neoklassik positionieren müssten. Der Zwiespalt – zwischen utilitaristischem, selbstbezogenem Handeln mit dem Ziel einen Mehrwert zu erzeugen und dem christlichen Anspruch, durch den Glauben auch das Handeln in der Welt in einen neuen Kontext zu setzen, – erfordere eine Integration, wenn eine schizophrene Ignoranz ausgeschlossen werden soll. Eine der komplexeren Optionen ist dabei eine christliche Ökonomie, die nach J. Tiemstra nicht von Ökonomen geleistet werden kann.37 Er erhofft sich von der Institutionenökonomik, dass christliche Einflüsse in die ökonomischen Methoden eingetragen werden können, und auf diese Weise auch beeinflusst werden kann, was als normengemäß und richtig qualifiziert wird. J. Tiemstra verspricht sich davon, dass der homo religiosus auch ohne eigene religiöse Ökonomie in die ökonomischen Erklärungsmuster einbezogen werden kann und damit die Dissonanz von ökonomischem und theologischem Glauben aufgelöst werden kann. Auch P. Heyne spricht sich gegen eine christliche religiöse Ökonomie – und dabei besonders gegen die ethischen Folgen – aus, weil auf diese Weise der de36 Vgl. Oslington 2011. Die ACE ist online unter http://christianeconomists.org zu finden (letzter Abruf am 13.12.2018) und publiziert in der Zeitschrift Faith & Economics halbjährlich wissenschaftliche Aufsätze zum Thema. Bis 1999 hieß die Zeitschrift Bulletin of the Association of Christian Economists. 37 J. Tiemstra spricht aus Erfahrung, er ist mit dem Versuch gescheitert. Vgl. Tiemstra 1994, 4. In der Kritik an der Neoklassik geht es mit einer religiösen Ökonomie darum, die Normalitätserwartungen und Wertungen von ökonomischem Verhalten zu hinterfragen.

3.3 Grenzen und Möglichkeiten theologischer Ökonomien

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mokratische Prozess der Gestaltung von ökonomischen Strukturen ‚verunreinigt‘ (pollute) werde.38 Das Argument blendet aus, dass die politischen Entscheider nicht wertfrei urteilen, sondern im Rahmen ihrer Einstellungen und Überzeugungen, die eben auch religiös gebildet werden können. Ein zweites Gegenargument bezieht sich auf die ethischen Aspekte, weil eine christliche Ökonomie – die vergleichbar mit christlichen Wirtschaftsethiken ist – dem Evangelium nicht angemessen wäre. Dieser Einspruch kann aber auch konstruktiv gewendet werden: ‚Evangelium‘ geht nicht in der Ethik auf, gerade daher könnte eine religiöse Ökonomie in Abgrenzung zu Ethiken notwendig sein. Mit dieser Kritik ist einer theological economy aufgegeben, nicht nur evangeliumsgemäß konstruiert zu sein, sondern analog zum Evangelium. Damit wäre zudem P. Heynes Beobachtung ausgeschlossen, dass ökonomische Beiträge aus biblischer Perspektive von vornherein ökonomisch verortet und ausgerichtet sind und die theologischen Inhalte passend ausgewählt werden.39 P. Oslingtons Suche nach einer Verbindung von Theologie und Ökonomie geht vom Primat der Theologie aus, das nur theologisch zu begründen ist und ökonomisch keineswegs geteilt werden muss. Er spricht sich gegen die Deduktion ökonomischer Prinzipien von der Theologie her aus und versteht die Theologie in Bezug auf die Ökonomie als Metadiskurs, der ökonomische Diskurse qualifiziert und kritisiert. P. Oslingtons Ansatz entspricht dabei den möglichen wirtschaftsethischen Konstellationen:40 Das Verhältnis von Theologie und Ökonomie wird unter der Frage nach christlichen Ökonomen bzw. einer christlichen Ökonomie ähnlich dargestellt wie in wirtschaftsethischen Publikationen. Die Parallelität liegt an der inhaltlichen und strukturellen Nähe, dennoch gehen die hier genannten Autoren über ethische Fragestellungen hinaus. Das Verhältnis von Theologie und ‚Außenwelt‘ steht grundsätzlich zur Frage und kann als Opposition, Übereinstimmung, Synthese, Paradox oder Transformation verstanden werden. Das leitende Konzept hängt dabei nicht zuletzt an den theologischen Vorentscheidungen.41 Die Verbindung der beiden konkreten Disziplinen kann nicht nur einseitig von der Theologie aus gestaltet werden, sondern auch öko38 J. Tiemstra, P. Heyne und D. Richardson unterrichten an Lehrstühlen für Ökonomie. Vgl. Heyne 1994, 9 f. 39 D. Richardson ist etwas zuversichtlicher, was die Integration von Theologie und Ökonomie betrifft und votiert für eine ‚gute‘ mainstream-Ökonomie, die von christlichen Ökonomen infiltriert wird. Vgl. Richardson 1994, sowie den nachfolgenden Kommentar von K. Elzinga (ebd.). Vgl. auch Henley 2004, 5. 40 Vgl. Oslington 2000, 3 und 6 f. 41 Vgl. K. Schaefers Besprechung von Heyne 1994 in der selben Ausgabe (38). Er bezieht sich auf H. R. Niebuhr: Christ and Culture (1951).

114 | 3 Theological Economies nomische Ansätze sind dann in der Theologie einzubeziehen.42 Zugleich lassen sich theologische Traditionen (sowie im weiteren Sinne Konfessionen) und ein ökonomisches Paradigma parallelisieren, weil in beiden Fällen Vorannahmen und Werteentscheidungen zugrunde liegen, die als Ausgangspunkt und Suchraster fungieren.43 Für eine theologische Ökonomie wäre dieser Ausgangspunkt im Gegenüber zur Ökonomie zu klären, sodass die Paradigmen vergleichbar werden, das theologische Paradigma in seiner konfessionellen Prägung bestimmt werden kann und mögliche Verhältnisse und Verbindungen dargestellt werden können. Diese Verortung in zwei Disziplinen und mögliche Ansatzpunkte für einen Austauch bezweifelt P. Oslington:44 Is ‚Christian Economics‘ a helpful label? There are some problems with it. Labelling work Christian Economics concedes there is another economics which is autonomous and devoid of theological content. This reinforces the secular assumption that such work is surely trying to question. Using the label also seems to go with withdrawal from both mainstream economic and theological discourse, which cuts the work off from the standards of evidence and argument in mainstream economics and theology.

Der Autor geht nicht davon aus, dass die Arbeit an christlichen Ökonomien konstruktiv ist und verweist auf das breite Forschungsspektrum, das sich im Verhältnis von Theologie und Ökonomie bietet und bereits von wechselseitigen Bereicherungen geprägt ist. Was genau unter dem Begriff einer dezidiert christlichen Ökonomie zu verstehen ist, bleibt jedoch kontrovers, weil es keinen Konsens der Kriterien gibt.45 D. Hay systematisierte 2006, was christliche Ökonomik konstituiert und sieht den größten Nutzen in einer christlichen Ethik, die konkrete Probleme bearbeitet. An theological economies kritisiert er, dass sie häufig generalisierend sind und entweder theologisch oder ökonomisch nicht auf dem Stand des jeweiligen Diskurses. Eine konkrete Alternative an ökonomischen Verhaltensmustern zeichne dementsprechend eine mögliche christliche Ökonomie aus.46 A. Britton hingegen 42 Vgl. Oslington 2009, 5. Siehe auch Hay u. a. 2006, 7. Beispielsweise sei, neben der Religionsökonomie, auch an eine ökonomische Exegese biblischer Schriften zu denken bzw. an eine ‚rational choice theology‘. P. Oslington versteht darunter die Anwendung ökonomischer Methoden auf die Inhalte der Theologie in Analogie zu Verfahren der Philosophie bei der Klärung der göttlichen Attribute. Ein exemplarischer Versuch findet sich in Oslington 2017, 25 und 28 f. Eine Kritik des Ansatzes findet sich u. a. in Kelly, Ormerod und Oslington 2009. Vgl. auch Tetens 2017, 531 ff. 43 Vgl. Webb 1994, 53. 44 Vgl. Oslington 2000, Zitat: 14. 45 Vgl. Oslington 2009, 4 f. P. Oslington verweist auf neo-calvinistische Ansätze (kuyperian economics), die theologisch problematisch seien. 46 Vgl. Hay u. a. 2006, 2 f.

3.3 Grenzen und Möglichkeiten theologischer Ökonomien

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votiert für die Suche nach alternativen ökonomischen Modellen, weil die neoklassischen Grundlagen (Rationalität, Individualismus und Utilitarismus) nur ein mögliches Konzept neben anderen sind. Auch M. Pollitt drängt auf eine „distinctively Christian economics“, u. a. mit dem Argument, dass Ethik keine spezifisch christliche Disziplin ist und bei theologischen Ökonomien die theologischen Argumentationen relevanter sind.47 Ob eine christliche Ökonomie zur Verständigung der Disziplinen beitragen kann, wenn sie sich auf ihre theologischen Konstruktionsbedingungen bezieht und sich nicht ökonomisch vereinnahmen lässt, sondern als Gegenüber und alternative Ökonomieanschauung funktioniert, wird sich anhand konkreter Beispiele zeigen müssen. Der Bezug auf die Ökonomie erscheint auch R. Tatum als konstitutives Merkmal für ein alternatives Narrativ der Ökonomie.48 Theologische Ökonomien könnten die Aufmerksamkeit auf alternative Kriterien fokussieren und grundlegende Annahmen wieder zur Disposition stellen: So ist bspw. Knappheit theologisch das Symptom einer problematischen Beziehung zu Gott und den Nächsten. Der Praxisbezug ist jedoch fraglich und im wirksamsten Fall könnten auch theologische Ökonomien wiederum selbst zum Objekt von Glauben werden. Dennoch hätte sich die Theologie am Diskurs über das Ziel von Ökonomie zu beteiligen, weil die Ökonomik in der Regel die Mechanismen untersucht, die teleologische Dimension jedoch vernachlässigt. In diesem Punkt kann die Theologie die Ökonomie bereichern, indem sie auf blinde Flecken hinweist und zunächst Fragen in der Ökonomie generiert. Im Anschluss an P. Oslington kann man theologische Ökonomie49 betreiben und so Verhalten in ökonomischen Kontexten bewerten – auch ohne eine dezidierte religiöse Ökonomie zu erarbeiten. Für christliche Ökonomen – und damit abgestuft auch für (Berufs-)Christen in ökonomischen Kontexten – erweitert sich die Aufgabe jedoch: Die ökonomischen Entscheidungen müssen reflektiert und durchargumentiert an die Theologie zurückgebunden werden können. Diese Rückbindung soll argumentativ anschlussfähig sein, sodass auf akademischer Ebene ein Dialog entstehen kann. Dann hat eine theological economy die Chance selbst zu einem konstruktiven Beitrag im Zwischenraum zweier souveräner Disziplinen zu werden. 47 Vgl. Hay u. a. 2006, 9. 48 A „separatist theological economics is not warranted. If there is to be a theological economics though, its scholarship should be not only theologically sound, but also able to answer questions asked of its secular counterpart.“ Vgl. Tatum 2016a, 4 und 7. 49 P. Oslington und R. Tatum nutzen theological economics für das Spektrum, dass hier nach economic theology und theological economy unterschieden wird.

116 | 3 Theological Economies

As theological economics seeks to cross our culture’s public‐private, fact‐value, and secular‐religious divides, theological economics can be both misappropriated by zealots and misconstrued by critics, but the potential impact may be worth the risk.50

Theologie kann nach I Petr 3,15 auf diese Weise Rechenschaft ablegen über ihre ökonomische Agenda und Zielstellungen. Es ist nach R. Tatum dabei nicht notwendig, eine Offenbarungswahrheit zu postulieren, weil auch ‚a socially‐constructed worldview‘ nützlich wäre, um ökonomische Analysen zu erweitern.51 Eine separatistische Ökonomie von der Theologie ausgehend, produziert eine einseitige Ökonomie, die weder der Theologie noch der Ökonomie angemessen ist. Eine Integration der Disziplinen ist daher notwendig, die R. Tatum mit der Unterscheidung nach natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie vergleicht und analog zu Gen 2–3 konstruiert:52 In some sense then, homo economicus is an appropriate persona of fallen man; we draw on our earthly wisdom to make choices in a world of scarcity. […] as they were no longer in such direct communion with God as they were in the Garden. […] Their access to received knowledge is limited by what has since been revealed through scripture and the like, which is arguably a subset of total knowledge than which would have been directly available through communion with God in the Garden.

Das Verhältnis von Ökonomie und Theologie wird auf diese Weise als grundsätzlich komplementär beschrieben, sodass weder Theologie noch Ökonomie ohne einander die Wirklichkeit angemessen erfassen. Für eine theological economy heißt das, dass sie ohne Bezug auf die Ökonomie den Realitätsbezug verpasst. Dieses Verhältnis kann im Anschluss daran mit theologischen Begriffen weiter differenziert werden: Der status corruptionis entstand durch das peccatum originale, mit der Folge des Verlustes der iustitia originalis und des status integritatis. In dieser Narration ist der status corruptionis die Situation, die die Ökonomie empirisch feststellt und damit den peccator identifiziert. R. Tatums offenbarungstheologische Antwort verweist bereits in eine Richtung, die rechtfertigungstheologisch erweitert werden kann: Mit dem Zusatz ‚simul iustus‘ trägt die Theologie Handlungsmotivationen ein, die den ökonomischen Handlungsmaximen widersprechen. Die Perspektive, von der her theologische Ökonomien operieren, entspricht im Regelfall nicht im Eigennutzaxiom, sondern einer Handlungslogik die theologisch vom Gerechtfertigten erwartet wird. Mit der lutherischen Matrix von 50 Vgl. Tatum 2016a, 18. 51 Vgl. Tatum 2016b, 3. 52 Der Beginn der Ökonomie wird häufig mit der Knappheit und Sterblichkeit ab Gen 3,24 in Beziehung gesetzt. Das folgende Zitat stammt aus ebd., 14 f.

3.3 Grenzen und Möglichkeiten theologischer Ökonomien

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peccator et iustus bzw. den ökonomischen und theologischen Handlungsmotivationen ist ein Konzept aufgerufen, das für theologische Ökonomien fruchtbar gemacht werden kann. Das lutherische Spezifikum einer theologischen Ökonomie wird sich dabei auf die Performanz des iustus beziehen müssen. Damit scheint dann aber auch eine radikale theological economy möglich zu werden, wenn man das ‚simul‘ ernst nimmt. Aus der theologischen Perspektive erscheint die Konstruktion eines Ideals zunächst weniger separatistisch, weil die Vermittlung von Ideal und Realität eine theologische Tradition hat, die in der Regel nicht separatistisch verfährt. A. Henley verweist auf die grundlegenden Probleme einer solch spezifischen Ökonomie: There may be considerable intellectual merit in pressing on with the task of constructing a distinctive Christian economic paradigm, but we need to be realistic about such a project. It is extremely unlikely to result in a mainstream paradigm-shift, not least because the potential mainstream audience is unlikely to have the opportunity to pay much attention. Furthermore the theological and economic disagreements that need to be overcome are considerable.53

Diese Anfrage setzt das Ziel voraus, einen Paradigmenwechsel zu initiieren und die ‚disagreements‘ zwischen Theologie und Ökonomie zu überwinden. Eine evangelische Ökonomie kann m. E. auch mit dem Ziel der ökonomischen Selbstaufklärung der Theologie konstruiert werden, um sich der bleibenden Differenz der Handlungslogiken bewusst zu werden. Eine Integration über das Konzept des simul iustus et peccator würde die Spannung von Ideal und Wirklichkeit bzw. Theologie und Ökonomie konstruktiv am Ort der Akteure in Beziehung setzen. Ebenso könnte eine theologische Ökonomie als Ressource für wirtschaftsethische und politische Beiträge fungieren. Damit würde eine solche Konzeption nicht auf Realisierung dringen, sondern als alternatives Modell Werte und Normen nicht über die Ökonomie herstellen, sondern ein Gegenbild neben dem ökonomischen Modell positionieren, als eine von vielen Alternativen. Diese Vielfalt bezieht sich dann nicht nur auf verschiedene ökonomische Modelle, sondern auch auf theologische Ökonomien. In pluralen, demokratischen Gesellschaften kann eine religiöse Ökonomie nicht das Ziel haben, verbindlich real zu werden. Sie kann jedoch eine Option aufzeigen, die eine ökonomische Praxis beeinflussen kann. R. Hoksbergen argumentiert, dass sich gerade in postmodernen Gesellschaften die Notwendigkeit einer theologischen Ökonomie begründen lässt. Als Kennzeichen der ‚Postmoderne‘ beschreibt er die Anerkennung individueller Reali53 Vgl. Henley 2004, 7.

118 | 3 Theological Economies täten, das Aufgeben eines objektiven Standpunktes, sowie eine hermeneutische Tradition, die auch soziale Interaktionen textanalog versteht, die ‚gelesen‘ und interpretiert werden müssten. Wenn die Existenz eines objektiven Metanarrativs fehlt, dann sind jegliche Narrative an ihre spezifische Perspektive gebunden. In diesem Rahmen sind (ökonomische) Theorien „linquistically communicated ideas“, die innerhalb einer Tradition verstanden und akzeptiert werden.54 Theorien sind damit keine Abbildungen von Kausalitäten, sondern narrative Interpretationen von ökonomischen Situationen in einem spezifischen Kontext. Die neoklassische story ist eine besonders überzeugende Narration, die nicht nur als positive Ökonomie etwas beschreibt, sondern Konzepte und Vorstellungen in ihre Theorien einträgt und von der Deskription zur Normativität übergeht. Neoklassik als narrative Tradition muss erlernt werden und biete dann eine Sprachund Denkgemeinschaft, in der eine Arbeit innerhalb dieser Tradition möglich ist. Ähnlich ließen sich die binnenkirchliche Kommunikation, sozialistische oder heterodoxe ökonomische Traditionen beschreiben. R. Hoksbergens zentrales Argument für eine christliche Ökonomie bezieht sich einerseits auf die Pluralität dieser Narrative und andererseits auf die Konstruktion der ökonomischen Theorien selbst. Weil neoklassische Theorien von Vorannahmen bestimmt sind, die christlich nicht geteilt werden, sind die nachträglichen Einflüsse von christlicher Seite marginal. Darum ist es aufgrund der Pluralität der ‚Weltanschauungen‘ geboten, systematisch die Grundlagen einer christlichen Ökonomie zu erarbeiten, um so mit den normativen Fragen und Antworten der Ökonomie in Auseinandersetzung zu kommen. R. Hoksbergen wählt zur Verdeutlichung das Beispiel der Rede von der Sünde: Sie beschreibt zunächst eine Situation und führe zugleich ihre normativen Implikationen mit sich.55 Er spricht sich dafür aus, mit einer theologischen Rede ökonomische Phänomene zu untersuchen, weil sich nur so christliche Perspektiven zeigen können und ein spezifischer Beitrag geleistet werden kann. In diesem Rahmen ist „a new framework for our thinking of economics“ legitim und

54 Vgl. Hoksbergen 1994, Zitat 130 und 128 ff. sowie McCloskey 1990, 59 ff. und Homann und Suchanek 2005, 399. Vgl. auch die Differenzierung: „a pre-modern approach to interpretation as one of trust, in which community beliefs […] form the individual“ – „a modern approach which replaces trust with doubt and detaches the individual from the community“ – „a post-modern approach acknowledges the important role of the community and its conventions in forming the individual’s beliefs“ in Williams 1996, 35. 55 Die Rede von der Sünde kann zwar keine objektive Beschreibung einer Situation sein, sondern lässt sich eher als Lokalisierung der menschlichen Situation vor Gott verstehen. Dennoch lassen sich analog ökonomische Deutungen ebenso als Lokalisierung in einem bestimmten Kontext verstehen. Die normativen Implikationen blieben jeweils identisch.

3.4 Zwischenfazit |

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notwendig.56 Damit ist einerseits eine christliche Position und Identität markiert und andererseits ein Dialog über das Ziel und die Perspektive auf ökonomische Situationen ermöglicht, bei dem die Theologie nicht von vornherein ein moralisches Primat beansprucht. Dann würden die „stories we tell and the guidance we give“ entscheidend dafür sein, was als Option Normativität erlangen kann.57

3.4 Zwischenfazit Die begriffliche Klärung hat gezeigt, wie uneinheitlich das Forschungsfeld der religiösen Ökonomien im christlichen Bereich ist. Reflexionen auf der Metaebene sind seltener als praktische Entwürfe zum Thema. Die Stichworte zu den konfessionell geprägten Ansätzen machen zweierlei deutlich: Einerseits wird ersichtlich, wie sehr die Konstruktion und Integration theologischer Ökonomien von den theologischen Prägungen abhängt. Wenn am Ort der Theologie über Ökonomie geforscht wird, dann sind die theologischen Traditionen und Akzentuierungen wichtige Bausteine für die eigene Plausibilität der Entwürfe. Andererseits zeigt sich eine Leerstelle. Eine dezidiert lutherisch geprägte theologische Ökonomie wird in der Forschungsliteratur nicht bearbeitet. Dabei muss auch die Möglichkeit eingeräumt werden, dass eine lutherische Ökonomie aus theologischen Gründen keine Legitimation hat. Die theologischen Gründe dafür wären zu untersuchen und das ‚Unökonomische‘ der Theologie zu identifizieren. Theologische Ökonomien können nach konfessionell geprägten Ansätzen geordnet werden und zusätzlich in das zuvor skizzierte Schema der reformierten Tradition.58 Beide Ordnungsmuster funktionieren als Suchraster, um Eigenheiten 56 Vgl. Hoksbergen 1994, 135 f. und Zitat 138. R. Hoksbergen zielt auf eine christliche Ökonomie. Seine Argumentation führt jedoch gerade in die (notwendige) Pluralität von theological economies. Vgl. auch Tiemstra 1994, 4. 57 Zitat: Hoksbergen 1994, 142. Mit Dank an R. Hoksbergen, der mir seinen (vergriffenen) Aufsatz trotz einer Forschungsreise nach Peru kurzfristig zur Verfügung stellen konnte. Für die Verbindung der Bereiche schlägt D. Butner drei Verbindungsstellen vor, die er unter den Leitworten ‚Orthodoxie, Orthopraxie, and Orthopathie‘ erarbeitet. Das Ziel ist die Verbindung von theologischen Perspektiven mit ökonomischen Fragestellungen, weil nur so alternative Perspektiven ökonomisch rezipiert werden könnten. Orthodoxie verbindet auf der Ebene der Konzepte z. B. über das Thema ‚Identität‘; Orthopraxie meint die Verbindung auf der Ebene der sozialen Praktiken und Orthopathie zielt auf die Theorieeffekte der Ökonomie und Affekte, die vor aller Reflexion eine grundlegende Perspektive auf die Welt anzeigen. Vgl. Butner 2016b, 85 ff., 92 und 95. D. Butner bezieht sich hier auf J. Sobrino: „By orthopathy I mean the correct way of letting ourselves be affected by the reality of Christ.“ vgl. Sobrino 2001, 209 f. 58 Vgl. Goudzwaard und Jongeneel 2014, 208.

120 | 3 Theological Economies aufzudecken. In vivo ist die Typisierung jedoch in der Regel nicht immer eindeutig, da das Themenspektrum unter dem Stichwort ‚Theologie und Ökonomie‘ eine deutliche Breite und Komplexität hat, und sich daher kaum scharf abgrenzen lässt. Zur weiteren Klärung sollen im Folgenden theologische Ökonomien und Ansätze, die in diese Richtung arbeiten, dargestellt werden. Die ausgewählten Monographien entwerfen jeweils einen exemplarischen Ansatz, um von einem theologischen Standpunkt aus einen ökonomischen Diskursbeitrag zu leisten. Die ausgewählten Entwürfe verstehen sich teilweise explizit als theologische Ökonomien. Einige Ansätze verorten sich im Bereich der Wirtschaftsethik, gehen darüber aber hinaus, indem sie alternative Deutungen von Ökonomie produzieren. Die konkrete Abgrenzung lässt sich anhand der gewählten Beispiele verdeutlichen. Die Entwürfe sollen im Folgenden dargestellt, systematisiert und kritisiert werden. Neben dem Vergleich der Konstruktionsmöglichkeiten von christlichen theologischen Ökonomien soll ein besonderer Fokus auf die praktischen Dimensionen gelegt werden. Die Vermittlung von theologischer Idealgestalt und ökonomischen Realitäten dürfte sich als Prüfstein aller religiösen Ökonomien ausweisen. Anschließend sollen im Rekurs auf die orthodoxe ökonomische Theoriebildung die Legitimität und Möglichkeitsbedingungen eines lutherischen Ökonomieverständnisses ausgelotet werden.

4 Exemplarische theologische Ökonomien Das Ziel des folgenden Kapitels ist ein Einblick in ausgewählte Ansätze, um Möglichkeiten und Grenzen theologischer Ökonomien zu vergleichen. Zugleich sind die Beispiele so ausgewählt, dass sich an ihnen zeigt, wie sich theologische Ökonomien im christlichen Bereich darstellen und konstruieren lassen. D. Meeks Entwurf erschien bereits 1989 und gehört zu den ‚Klassikern‘, weil er sowohl Gott als auch Ökonomie neu konzeptualisiert. K. Tanners ‚economy of grace‘ (2005) bezieht sich im Zeichen der Gabe auf eine christliche Vision von Ökonomie. Die beiden Entwürfe sind grundlegend, weil sie ökonomische Fragen am Ort der Theologie untersuchen. Die Nähe und Abgrenzung zu biblischen Wirtschaftsethiken wird mit F. Segbers dargestellt und aus einer bundestheologischen Perspektive erweitert R. Horsley das Programm um eine biblische Vision ökonomischer Gerechtigkeit. Neben den systematischen und den biblischen Ausgangspunkten werden auch Ansätze dargestellt, die das Thema Konsum und Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive bearbeiten. U. Duchrows Position wird als Exkurs eingeführt, da er explizit mit lutherischer Theologie argumentiert. Damit ist die Breite der christlich-ökonomische Literatur kaum abgebildet, aber argumentative Grundmuster im Bereich der Theologie können an den Beispielen aufgezeigt werden.

4.1 Gott als Economist D. Meeks Monographie ‚God the Economist‘ ist der Versuch, Ökonomie aus einer theologischen Perspektive zu bedenken. Der Ausgangspunkt dafür ist die antike Bedeutung des Wortes ‚Ökonomie‘, da so die zentrale Aufgabe wieder in Erinnerung gebracht werden kann: „Economy in its ancient sense is about access to what it takes to live and live abundantly.1 Theologisch basiert diese theological economy auf der Trinität als Ressource, von der her systematisch aufgezeigt wird, welche Konsequenzen Gottes Gaben in einer politischen Ökonomie haben. Zentral ist dafür das Verständnis Gottes als Gemeinschaft im Gegenüber zum methodologischer Individualismus der Ökonomie, weil sowohl Gott als auch Ökonomie – in ihrer frühen Bedeutung – nicht individualistisch, sondern nur als Gemeinschaft gedacht werden sollen. Der Entwurf zielt dabei nicht auf die Ethik, sondern auf eine Neukonzeptualisierung der 1 D. Meeks Ansatz bezieht sich auf die Schöpfung als Haushalt nach Eph 1,9–10; 3,9–10 und nicht allein auf die Kirche. Vgl. Meeks 1989, 29. Zum Zitat vgl. Meeks 2004, 2. Zur theologischen Verwendung des Wortes ‚οἰκονομία‘ vgl. Richter 2005. https://doi.org/10.1515/9783110747935-004

122 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Rede von Gott und der Ökonomie, weil zuerst die theologische Perspektive verändert werden müsse, damit die Theologie die Ökonomie transformieren kann. Diese doppelte Neukonzeptualisierung wird nötig, weil ein säkularisiertes Gottesbild den Glauben an die Marktlogik bestimmt. Hier argumentiert D. Meeks vergleichbar zu den aktuellen Forschungen der economic theology und problematisiert die Grundlagen neoliberaler Ökonomie. Durch die Neuakzentuierung Gottes als economist soll der globale irdische Haushalt Gottes neu verstanden werden. Über die Metapher ‚Gott als Ökonom‘ stellt D. Meeks die Beziehung – vermittelt über die antike Bedeutung – zur modernen Ökonomie her. Nun sind allerdings die religiöse und ökonomische Sphäre derart getrennt, dass nicht einmal eine gemeinsame Grundlage für Konflikte gegeben ist und die konträren Logiken somit kaum erkannt werden können. Nötig erscheint zunächst eine Entmythologisierung der Ökonomie, dann aber auch eine Kritik der Gottesbilder, weil ein theistisches Gottesbild mit metaphysischen Attributen den neoliberalen Glauben legitimieren kann. Freiheit und Gerechtigkeit stehen sich nach D. Meeks in modernen Ökonomien, die auf Wachstum und Reichtum zielen und nicht die Distribution von Lebensgrundlagen in den Mittelpunkt stellen, konträr gegenüber. Ökonomie soll im Dienst einer globalen οἶκος-Perspektive stehen und existiert nur um der Gemeinschaft willen und ihrer Beziehung zu Schöpfer und Schöpfung. Dabei können Konzepte und Metaphern, die über Gott ins Spiel gebracht werden, ökonomische wie politische Herrschaft (de)legitimieren. Eine christliche politischökonomische Theologie müsse sich darum auf die maßgeblichen Bereiche Macht, Eigentum, Arbeit und Konsum beziehen. Power / Macht ist dabei ein zentrales Problem der Ökonomie: Die moderne Ökonomie hat zwar Gottes Herrschaft eliminiert, ist sich aber über die Herrschaftsprinzipien innerhalb der Ökonomie nicht bewusst.2 Forschungen zu theologischen Hintergründen bei der Entstehung der modernen Ökonomie können hier eine Aufklärung der Ökonomie über sich selbst leisten. Ziel der Kirche und der Theologie ist jedoch nicht primär die Aufklärung der Ökonomie, sondern die Transformation der Welt in den Haushalt Gottes, in dem „creatures can find abundant life“.3 So soll die Theologie zur Humanisierung der 2 Vgl. Meeks 1989, 9–10. Er wendet sich auch gegen naturalistisch verstandene Prinzipien der Ökonomie, die er mit einem metaphysisch konstruiertem Gottesbild parallelisiert. Ebenso ist der menschliche Charakter nicht unveränderlich: Theologisch handelt nicht nur der peccator, sondern es sollte mit dem Handeln von Gerechtfertigten gerechnet werden. 3 Die Kritik der Gotteskonzepte soll die Verwobenheit der politischen Ökonomie mit der Theologie aufzeigen. Vgl. ebd., 23 f., 26 f. und Zitat: 24.

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Ökonomie beitragen, indem die Ökonomie in den größeren Kontext der Ökonomie Gottes gestellt wird und zum Referenzpunkt für Ökonomie und Politik bzw. institutionelle Arrangements wird. Genauer wird der neutestamentliche Gedanke der οἰκονομία θεοῦ und alttestamentlich ‫ ַּב ִית‬als ‚Haus Israel‘ in Verbindung mit dem Bund zum Paradigma.4 Mit Dtn 9,5 und Ex 20,1 beschreibt D. Meeks Gottes Handeln als Exodus aus einer ökonomischen Sklaverei. Die drei Gesetzeskorpora der Tora versteht er als Regeln für eine gerechte Distribution.5 Fünf zentrale Prinzipen bestimmen dabei die Logik von Gottes Haushalt: Don’t charge interest to the poor Wenn Zinsen in eine erneute Sklaverei führen, sind sie in Gottes Haushalt illegitim, weil der Zugang zu den Lebensgrundlagen damit beschnitten würde. Leave gleanings Die Nachlese durch Arme zeigt eine Einschränkung des exklusiven Eigentums an, sofern die Grundversorgung von Mitmenschen gefährdet ist. Die Ermöglichung der Nachlese ist dabei kein gnädiger Akt, sondern das Recht der Mittellosen. Practice tithing Die Abgabe des Zehnten diene den Armen und zeigt die Distribution in Gottes Ökonomie an.6 Practice hospitality D. Meeks’ Ökonomie bezieht sich auf den Tisch des Hauses, der für Bedürftige geöffnet werden soll, so dass eine Inklusion in Gottes Haushalt ermöglicht wird. Practicing the sabbath Am Sabbat wird von Eigentum, Arbeit und Konsum pausiert und das Sabbatjahr fungiert zugleich als Befreiung der Sklaven von Schulden und ökonomischen Machtverschiebungen.

Anhand der Vermarktlichung zeigt D. Meeks auf, dass Gnade und Gottes Ökonomie nicht in dieser ökonomischen Logik und Sphäre erscheinen kann. Seinen ökonomischen Ausführungen liegt maßgeblich K. Polanyis Konzept der ‚market society‘ zugrunde, die soziale Beziehungen durch Austauschverhältnisse ersetzt. Märkte sind notwendig, aber aus der theologischen Perspektive zu begrenzen und in Dienst zu stellen. Sie werden klar der göttlichen Ökonomie untergeordnet, die einen Zugang zu livelihood / Lebensgrundlagen auch für ökonomisch Exkludierte bieten will. Die Bedeutung des antiken οἶκος-Begriffes ist beschnitten, wenn Ökonomie modern nur noch als Markt erscheint. In Gottes Haushalt, wie im antiken Haushalt, geht es hingegen um das gute Leben und die Objekte und Beziehungen die dafür nötig sind. In einem globalen Haushalt, sollte die Ökonomie den Bedürftigen dienen, aber diese Ressourcenallokation bzw. die Orientierung 4 Vgl. Meeks 1989, 33 f. ‚Haushalt Gottes‘ meint dann inhaltlich soviel, dass jeder bekommt, was er zum Leben braucht. Andererseits sind Schulden auch nicht mehr nur individueller Natur, sondern die Vergebung der Schulden wird in der göttlichen Ökonomie eine globale Aufgabe. Die Versammlung um den (Abendmahls)Tisch des Hauses ist das Zentrum, weil Zuhause dort ist, wo man die Gaben des Tisches teilt. Zudem symbolisiere z. B. Paulus’ Verwaltung der Gemeinde die οἰκονομία θεοῦ. 5 Vgl. Meeks 2004, 9 f. und zur folgenden Übersicht 13 ff. 6 Vgl. ebd., 15.

124 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien an den Armen und Bedürftigen vollbringen Märkte gerade nicht. D. Meeks denkt Ökonomie ‚von unten‘ – von den Bedürftigen – her, im Gegensatz zur neoliberalen Fokussierung auf Wohlstandsgewinner. Der christliche Anspruch gebiete, die Ökonomie an den ökonomischen Verlierern auszurichten, analog zum jesuanischen Modell sich denjenigen zuzuwenden, die aus Gottes Haushalt ausgeschlossen wurden. Das zentrale Kriterium einer theologischen Ökonomie ist dann die livlyhood / Lebensgrundlage für alle Menschen im Gegensatz zum profitablem exchange als Inhalt und Motor der Ökonomie. Mit einer Neuakzentuierung des Gotteskonzeptes können alternative ökonomische Bilder kommuniziert werden, obwohl es kein „Christian economic system“ gibt, das direkt auf moderne ökonomische Fragen Bezug nehmen könnte.7 Christen als homines oeconomici handeln gemäß ihres Glaubens an Gottes Gerechtigkeit und von daher sind die ökonomischen Implikationen dieses Glaubens zu erarbeiten. Gott wird in diesem Konzept schöpfungstheologisch als οἰκονόμος aller Haushalte (Israel, Kirche, Nationen etc.) verstanden und so die Notwendigkeit einer theologischen Perspektive auf Ökonomie erwiesen. Damit geht zugleich eine inklusive Perspektive auf die Welt einher, die grundlegende ökonomische Rechte auf einer globalen Ebene anerkennt. Gottes Herrschaft versteht D. Meeks als von ökonomischer Herrschaft befreiende Macht, die zur equality führt, sodass soziale Güter keine Herrschaft mehr produzieren. Diese Egalität drückt sich nicht in gleichen Besitzständen aus, aber in der Entmachtung von der Herrschaft vermittels von Gütern bzw. ökonomischen Machtfiguren. Gegen das homo oeconomicus-Modell mit dem methodischen Individualismus stellt der Entwurf die immanente Trinität mit dem Konzept der Perichorese auf. Da Gott selbst immer schon Gemeinschaft ist bzw. sich jede Person nur von der Gemeinschaft mit den Anderen her konstituiert, kann dieses Konzept ebenfalls für Menschen gelten, deren Personsein sich vom Anderen her bestimme. Diese Kombination von gemeinschaftlich zugeeigneten Gütern und der Herrschaft Gottes als die Güterherrschaft beendende Herrschaft ist die Voraussetzung für eine distributive Gerechtigkeit. Dabei gilt, dass nicht Knappheit – so wie sie die Ökonomie als Grundaxiom anführt – sondern Fülle (abundance / πλήρωμα) überall dort ist, wo Gottes Gerechtigkeit präsent ist.8 Knappheit verortet D. Meeks nicht bei den Ressourcen, sondern der Zugang zum Lebensnotwendigen ist für viele Menschen 7 Vgl. Meeks 1989, Zitate: 2 und 3. S. Long bezeichnet den Ansatz als „theological economics“. Vgl. Long 2000, 30. 8 D. Meeks verweist auf den Zusammenhang von scarity, satiation und security als Anästhetikum in modernen Gesellschaften, weil Mitleid, Hoffnung und Erinnerung ausgeschaltet werden, zugunsten der Besitzstandswahrung. Vgl. Meeks 1989, 12 und 17 f.

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knapp. Das berührt die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und die Unterscheidung von den Dingen, die Menschen besitzen wollen und die sie zum Leben brauchen: wants / needs. Zugleich werden Gaben damit neu verstanden: Das was kirchlich unter dem Stichwort charity subsumiert werden kann, zeigt keine Verhältnisbestimmung von Theologie und Ökonomie, sondern verschleiere, dass Ökonomie in den Haushalt Gottes gehört, weil es hier um die theologisch legitimierten ökonomischen Rechte der Gemeinschaftsmitglieder im globalen οἶκος geht. Notwendig ist demnach ein „nondominative view of rights arising out of common social meanings“, sodass z. B. kirchliche Spenden nicht mehr als ‚milde Gaben‘, sondern als gerechte Reallokation von Überschüssen verstanden werden können.9 Für diese praktische Dimension einer theological economy werden drei Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie unterschieden, wobei das Hauptgewicht auf dem transformative approach liegt:10 disclosive approach Dieser Ansatz untersucht, wie Gotteskonzepte mit ihren Vorstellungen und normativen Implikationen auf soziale Strukturen und damit Ökonomie wirken. Als Beispiel führt D. Meeks M. Weber an. critical approach Die gegenläufige Untersuchungsrichtung versteht Gotteskonzepte als Reflexionen sozialer Bedingungen, im weitesten Sinne als Götterbildung. Diese Richtung erkennt D. Meeks im Denken von K. Marx. transformative approach Während die ersten beiden Ansätze deskriptiv angelegt sind, führt D. Meeks einen transformative approach ein, bei dem die Praxis Grundlage und Ziel der Theorie zugleich ist. Ausgangspunkt ist „the intend of conversion“ und die Grundfrage lautet: „how faith transforms human action“.11

9 Vgl. Meeks 1989, 19, 21 und Zitate: 5 f. D. Meeks verweist auf A. Carnegie 1889. Nach A. Carnegie basiert die Zivilisation auf der „Heiligkeit des Eigentum“, die Grundlage ist der Individualismus – womit wesentlich die Eigennutzorientierung gemeint ist – als Wesen des Menschen. Das Erbe eines großen Vermögens – das als Gnade verstanden wird – soll nach A. Carnegie jedoch nicht an die Kinder oder den Staat gehen, sondern zu Lebzeiten der Gemeinschaft zugänglich gemacht werden. Die Vermögenden sollten sich als Vermögensverwalter der Armen verstehen und denen helfen, die würdig sind, weil sie sich selbst helfen wollen (Hilfe fördert bei Unwürdigen nach A. Carnegie nur Laster). Es handelt sich um christlich verstandene, aber nicht um bedingungslose Zuwendungen, sodass ‚Frieden auf Erden zwischen den Willigen‘ entstehen kann. Die Aktion ‚giving pledge‘ bezieht sich auf A. Carnegies Text. 10 Für D. Meeks scheinen livelihood und der antike οἰκονομία-Begriff bedeutungsgleich zu sein. Vgl. Meeks 1989, 52; folgende Übersicht nach 41 f. 11 Zitate: ebd., 42.

126 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Mit dem transformative approach sollen die oben genannten Ansätze um einen produktiven Faktor erweitert werden, der nicht von sozialen Bedingungen, sondern von Gottes Ökonomie ausgeht, die sich dadurch auszeichnet, dass Gott die Ausgeschlossenen durch Christus wieder inkludiert. Damit geht es ökonomisch um die Befreiung von ökonomisch Ausgeschlossenen und Unterdrückten – den ‚Opfern‘ des Kapitalismus – die nicht mehr durch Konsum kulturelle Akzeptanz herstellen können. Zugleich gehe es aber auch um die Befreiung der im Marktsystem gefangenen ökonomischen Unterdrücker, sodass die Dehumanisierungen des ökonomischen Systems begrenzt werden können. Ein solcher transformativer und solidarischer Ort ist die Kirche. Theologie sollte hierfür ökonomischbefreiungstheologisch argumentieren und sich die ökonomischen Folgen und je eigene (ökonomische) Mission von der Theologie her bewusst machen. Damit soll Kirche gegen Unterdrückung wirksam sein und alternative Modi von Eigentum, Arbeit und Konsum bieten. Die Diakonie als konstituierender Teil des Haushaltes Gottes wirke dann das ökonomische Werk Gottes in der Welt, bei dem die Welt der Haushalt ist und alle Geschöpfe Zugang zum Leben bekommen sollen.12 D. Meeks macht dabei im Gegenüber zu gängigen politischen Metaphern (Herrscher, Richter, König) die ökonomischen Dimensionen mit einer Differenzierung stark: Er unterscheidet zwischen dem householder als freiem homo politicus und dem steward, dem unfreien Haushalter. Die biblischen Traditionen sprächen von Gott weder analog zum antiken Ökonomen oder modernen Konzepten, sondern von Gott als household servant für die Menschen – analog zur Struktur des Philipperhymnus.13 Gottes Ökonomie wird dann am deutlichsten in der Gabe von Gerechtigkeit durch Christus: An den Erzählungen von und über Jesus, seiner Verkündigung, Tod und Auferstehung zeige sich Gottes Ökonomie, die nicht auf Knappheit (scarity) basiert und bei der Gott nicht wie im griechischen οἶκος als freier pater familias agiert, sondern der Haushalt Gottes besteht nach dem biblischen Zeugnis aus Sündern und Ausgeschlossenen, die sich um den (Abendmahls)-Tisch und in der βασιλεία τοῦ Θεοῦ versammeln.14 Eigentum wird in diesem Rahmen bestimmt als Ermöglichung von Autarkie, weil sich damit die Gefahr von Abhängigkeit und Unterdrückung verringere. Eigentum verspricht dabei Freiheit und Sicherheit, birgt aber zugleich die Gefahr 12 Vgl. Meeks 1989, 44 f. 13 „God takes the form of a household servant, a homemaker, and thereby radically subverts the patriarchal hierarchie that excludes some from livelihood.“ D. Meeks versteht dies im Rahmen der Gerechtigkeit Gottes, die ex nihilo Leben schafft. Vgl. ebd., 75 f. Zum Philipperhymnus vgl. 92 f., Zitat: 96. 14 Ein wesentliches Merkmal dieser Gemeinschaft ist equaility. Vgl. ebd., 94.

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von Herrschaft durch die Eigentumsverhältnisse. Folglich wird zwischen Eigentum unterschieden, dass „access to life“ bietet oder die „power to exclude and hence control others“ ausübt. Letztere Form von Eigentum im Sinne von Kapitel ist auf Legitimation angewiesen.15 D. Meeks verbindet das Thema Eigentum mit der Trinität und verweist auf darauf, dass Gott kein „self-possessor“ ist, sondern eine „community“, bei der sich die trinitarischen Personen selbst geben.16 Der Aspekt der Gemeinschaft fehlt im methodischen Individualismus und in Marktkonzeptionen, das theologische Paradigma hingegen ist die Perichorese der immanenten Trinität, bei der – in einer gegenseitigen ‚Durchdringung‘ zu einer Einheit ohne Vermischung – alles geteilt wird, außer die wesentlichen Eigenschaften der Personen.17 Hier zeigt sich ein Modell, das auf die Beziehungen innerhalb οἶκος abzielt, die analog zum trinitarischen Modell gestaltet werden sollen. Die κοινωνία in der Kirche soll sich die Perichorese und Selbstgabe Gottes – als Korrektiv der ökonomischen Realität – zum theologischen Vorbild in Sachen Eigentum machen und reziproke Redistributionsformen finden, sodass Eigentum zu einer sozialen Funktion der Gemeinschaft werden kann.18 Eigentum werde so im Rahmen eines usus fructus in den Dienst der Gemeinschaft gestellt. Das Modell hierfür ist die Arbeit der trinitarischen Personen innerhalb der Trinität und für die „divine community“, die perichoretisch als Kooperation gestaltet ist.19 Mit der Unterscheidung von exklusivem und inklusivem Eigentum wird der Dualismus von Ökonomie und Theologie erneut deutlich. Exklusives Eigentum wird nur individuell genutzt und kann Herrschaft und Macht implizieren. Inklusives Eigentum hingegen biete freien Zugang zu Lebensgrundlagen und kann funktional als Mittel für Gottes Wille verstanden werden. Ein bestimmtes Maß an gemeinschaftlichem Eigentum kann daher Zugang zu Lebensmöglichkeiten eröffnen und soziale Rechte sollten exklusives Eigentum begrenzen. Die theologische Begründungsfigur hierfür ist die Differenz von Schöpfer und Geschöpf. In der οἰκονομία θεοῦ sind die Geschöpfe nicht als Eigentümer, sondern als Verwalter zu verstehen. 15 Vgl. und Zitat: Meeks 1989, 101. Gott wird schöpfungstheologisch als Geber von Eigentum ausgewiesen, das zum Leben ausreicht. 16 Vgl. ebd., 110, Zitate: 111. 17 Vgl. Butner 2016a, 97. D. Meeks kann Eigentum auch als Identifikationsmittel der Person verstehen: „Property in this sense is a way of identifying or describing a mode of being of a person or thing.“ Vgl. Meeks 1989, 112, Zitat der Fn.: 102. 18 Vgl. ebd., 113. 19 Vgl. ebd., 122, 133, Zitat: 132. Zur Sabbatorientierung dieser Ökonomie vgl. ebd. 139 und 143 die Problematisierung eines vorherrschenden Arbeitsverständnisses, indem Identität und Wert über die Arbeit konstruiert werden. Arbeitsmarkt verweist in diesem Zusammenhang bereits auf die Kommodifizierung von Arbeit (147).

128 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Instruktiv ist es im Anschluss, Gott und Besitz zu verbinden, weil für D. Meeks gilt: „The mode of God’s possessing ist giving“.20 Das hat deutliche Analogien zur Gerechtigkeit Gottes nach lutherischer Einsicht. Er besitzt als Gabe – so wie seine Gerechtigkeit gerecht machend ist – so ist sein Haben zugleich Haben ermöglichend zur Überwindung der inequality im (familialen) οἶκος Gottes. Beschrieben wird eine Zirkulation, bei der die Kommodifizierung eine Exklusion aus der Zirkulation von Gaben bedeutet. Es geht dabei nicht um äquivalente Reziprozität, sondern um den verpflichtenden Charakter von Gaben und die Beziehungen, die daraus entstehen. Auch diese Dimension lässt sich rechtfertigungsheologisch analogisieren, wenn parallel nach dem Zusammenhang der Gabe der Rechtfertigung und den Folgen dieser Gabe gefragt wird. D. Meeks scheint eine Distribution vor Augen zu haben, die zu einer Fülle führt, die sich auf die Lebensnotwendigkeiten bezieht. Damit seien dann ökonomische Machtstrukturen geschwächt. Wie ‚rein‘ die analoge göttliche Gabe ist und welche expliziten Gabestrukturen D. Meeks hier voraussetzt, wird kaum erkennbar. Deutlich wird jedoch, dass es sich um eine Ökonomie des ‚Genug-Habens‘ handelt, bei der die Orientierung an grundlegenden Bedürfnissen für das Lebens zum Organisationsprinzip wird. Neben dem Verständnis von Eigentum sind daher Bedürfnisse entscheidend für Gottes Haushalt, weil Menschen per se begehren und bedürfen. Eine Bedürfnisorientierung erscheint hier jedoch problematisch, weil D. Meeks die infinite needs des Menschen als Faktum voraussetzt.21 In früheren kulturellen und sozialen Settings waren diese potentiell unendlichen Bedürfnisse durch den sozialen Rahmen begrenzt. Mit dem Glauben an ein ewiges ökonomisches Wachstum sind permanent erweiterte Bedürfnisse denkbar und kapitalistisch erforderlich, die jedoch zugleich künstlich und damit sozial verknappt werden. Hier zeigt der Autor erneut auf, dass eine narzisstische Individualität mit einem theistischen Gottesbild parallelisiert werden kann, das trinitarische Paradigma hingegen den Fokus auf die Gemeinschaft legt.22 In einer theologischen Ökonomie sollten die Lebensnotwendigkeiten bestimmend sein und nicht die Erzeugung von permanentem Konsum: Marketing and consuming ultimately reveal us to ourselves as things. ‚We are only insofar as we possess. We are what we possess. We are, consequently, possessed by our possessions, produced by our products. Remade in the image and likeness of our own handiwork, we are revealed as commodities.23 20 Vgl. Meeks 1989, Zitat: 114. Gleichermaßen gilt dann für die Vergötterung von Besitz: „Idolatry is being possessed by a possession“ (ebd., 117). 21 Vgl. ebd., 158 ff. 22 Vgl. ebd., 163 und 167. 23 Vgl. ebd., 170.

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Im ökonomischen Bereich kritisiert D. Meeks zentral Eigentum und Besitz, den Glauben an die ‚unsichtbare Hand‘, die den Markt zum Wohlstand für alle lenkt und den Konsumenten mit unerschöpflich erzeugbarem Begehren. Die allgegenwärtige Marktlogik verunmögliche zudem christliches Verhalten in ökonomischen Kontexten, wobei im Anschluss an K. Polanyis Darstellung der market society die Marktlogik auch für die Ökonomie selbst kritisiert wird, weil sie ihrem Dienst, Lebensressourcen gerecht zu verteilen, nicht nachkommt.24 Theologisch werden theistische Attribute Gottes von der Trinität her problematisiert. Gott wird als „community of righteousness united in self-giving love“ verstanden, während der homo oeconomicus in der Moderne mit den metaphysischen Attributen Gottes versehen wird. Die traditionellen metaphysischen Attribute Gottes lassen sich im Marktglauben auffinden, sodass mit einem trinitarischen Konzept gleichermaßen Gottesmetaphern und ein ökonomischer Glaube kritisiert werden kann. Das zeigt sich insbesondere am exklusiven und individualistischen Verständnis von Eigentum, das christlich von der communio der Trinität her neu gedeutet werden soll. Die Gottesvorstellung die bei der Entstehung von Markttheorien zugrunde lag, versteht Freiheit in Form von individuellem Besitz. Von der Trinität aus werden Marktmechanismen kritisiert, die der Gemeinschaft schaden und damit zu Unterdrückungen, Macht-Asymmetrien und der Erosion von Demokratie führen. Ökonomie steht modern nicht mehr im Dienst der ‚livelihood‘ bzw. der Gemeinschaft, die wiederum auf Gott ausgerichtet sein soll.25 Die Bereiche, in denen Marktmechanismen angewendet werden, müssen in der Folge begrenzt werden, sodass es vitale Felder geben kann, in denen soziale Güter nach anderen Logiken ‚gehandelt‘ werden können und nicht zu Waren werden. Sowohl für die Begrenzung als auch für die anderen Logiken braucht es „communities of shared values, die sich an den „peculiar ‚economic instruments‘ of the Holy Spirit“ orientieren: „Word as Gospel, baptism, the eucharist, hospitable koinonia, and diakonia“.26 Damit zeigt D. Meeks über die Metapher ‚Gott als Ökonom‘ alternative Produktions- und Distibutionsmodelle, die transformativ u. a. über die Kirche als Vorbild realisiert werden sollen. Die Kirche und im besonderen die diakonischen Einrichtungen sollen sich daher nicht an einer Marktlogik orientieren, sondern an theologischen Modellen, die nicht mit Leistungen, Knappheit und Austauschverhältnissen argumentieren. Soziale Güter wie Gerechtigkeit, Sicherheit, Grundnahrungsmittel, 24 Problematisch ist die Marktlogik, weil die Ineffizienten dem übergeordneten Ziel geopfert werden. Vgl. Meeks 2004, 3 f. und Webb 1996, 134. 25 Vgl. Meeks 1989, Zitate: 181. D. Meeks problematisiert in diesem Zusammenhang theistische Gottesbilder, die von Gott individualistisch als „self-sufficient“ sprechen und fundiert seine ökonomischen Einsichten kreuzestheologisch: ebd., 120 und Zitat: 170. 26 Vgl. ebd., Zitate: 182. Hervorhebungen im Original.

130 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Wohnraum, Arbeit, Bildung und Krankenversorgung sollen in dieser Perspektive nicht wie exklusives Eigentum bzw. Waren gedeutet werden, sondern mit einer Distribution außerhalb der Marktlogik verteilt werden. Wenn sich Kirche als lebendiger Haushalt Gottes versteht, ist das Handlungsschema am Evangelium zu orientieren und nicht nach einer Marktlogik, die über ökonomische Systemzwänge Herrschaft ausübt. Kirche und Gemeinde sollen dabei in der Welt sein, aber nicht von der Logik dieser Welt bestimmt sein und immer wieder den Exodus aus der ökonomischen Herrschaft ermöglichen, hin zu einem „Resurrection Household, with new household rules“: „God’s economy depends upon the retaught and relearned generosity of God, upon gifts that give in being given and create dignity in being received.“27 In diesem Konzept sind Gottes Gaben Verbindlichkeiten, die frei machen, und diese Freiheit und Gaben bedürfen der Weitergabe.

Zwischenfazit D. Meeks erarbeitet die Metapher von Gott als dem Ökonomen über allen irdischen οἶκοι, wobei das Gotteskonzept produktiv zur Neuperspektivierung von Ökonomie eingebracht wird. Der Referenzpunkt bleibt die Theologie, an deren Primat festgehalten wird. Von der theologisch beeinflussten Genese der Ökonomie her scheint es denkbar, dass ein Wandel der Gottesmetapher sich auch auf das ökonomische Denken auswirken könnte, zumindest für den Bereich der christlichen Gemeinschaften. Die Marktlogik der Ökonomie soll als Phänomen begrenzt werden und sich dem christlichen Anspruch oder dem höheren Wert der angemessenen Distribution von Lebensgrundlagen fügen. Konzeptionell wird die Ökonomie zugleich im theologischen Bereich entgrenzt und als Gottes Haushalt für die Weltgemeinschaft relevant. Unterschiedliche Besitzstände sind in diesem Entwurf nicht das Problem, sie werden erst problematisch, wenn mit ihnen Herrschaft ausgeübt wird. D. Meeks macht die equality zum zentralen Kriterium seines transformative approach, der den ökonomisch Ausgesonderten wieder Handlungs- und Lebensmöglichkeiten zueignen will. Der Glaube soll über das Gotteskonzept die – nun ökonomisch akzentuierte – βασιλεία τοῦ Θεοῦ zunächst am Ort der Kirche verwirklichen. Das macht jedoch wieder einen Dualismus zwischen theologischen und ökonomischen Handlungsbegründungen auf und fordert vom individuellen Akteur ein Handeln gegen ökonomische Marktlogiken. 27 D. Meeks wendet sich gegen den Wandel von extra ecclesiam nulla salus est hin zu „outside the market, there is no salvation“. Die Logik der Gnade ist den Menschen mit diesem Wandel fremd geworden. Vgl. Meeks 2004, 5, Zitate: 10, 17 und 6.

4.2 Economy of Grace |

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S. Webb kritisiert zudem, dass Gott bei D. Meeks im Sprachspiel der antiken Ökonomie – und damit in einem extrinsic framework – entfaltet wird.28 Dieser gemeinsame Punkt von Ökonomie und Theologie macht zugleich deutlich, dass die Unterscheidung des homo oeconomicus, der unfrei im Dienst des Haushaltes steht, während der homo politicus frei und damit mächtig ist, kaum mehr für die moderne Ökonomie gilt, in der besonders wirtschaftliche Macht auf andere Bereiche transferiert werden kann. So überzeugend D. Meeks argumentiert, so offen bleibt die praktische Umsetzung seines Konzeptes. Gott ökonomisch als paradigmatischen Geber von der Trinität her zu verstehen, bricht theistische Gottesbilder auf für eine Kritik der Ökonomie. Mehr noch stehen aber kirchliche Strukturen in der Kritik, die diese Ökonomie durch Teilnahme legitimieren. Die Marktlogik soll auf ihren spezifischen Anwendungsbereich begrenzt bleiben und ‚Kirche‘ der Ort eines alternativen Verständnisses von Eigentum und Verteilung werden. Der transformative Zugang entfaltet dafür die theoretische Dimension, während die praktische Dimension der Umsetzung in kirchlichen Strukturen problematisch bleibt. D. Meeks setzt voraus, dass bereits der Neukonzeptualisierung eine Wirksamkeit – analog zu den Theorieeffekten der Ökonomie – zu eigen ist. Das neue Verständnis ermögliche dann alternative Handlungsmöglichkeiten, deren Umsetzung wiederum der Motivation des Glaubens bzw. der Glaubenden anheimgestellt wird. Die Verbindung von Theologie und Ökonomie über den antiken Ökonomiebegriff konstruiert eine konsistentes theologisches Ökonomieverständnis, das produktives Potential hat. Das Primat der Theologie verhindert jedoch eine echte Integration von modernder Ökonomie und theologischer Vision in einem umfassenden Deutungsrahmen, wodurch die Vermittlung von Ideal- und Realgestalt von Ökonomie offen bleibt.

4.2 Economy of Grace K. Tanner geht in ihrem Entwurf einer economy of grace davon aus, dass es eine christliche Vision von Ökonomie gibt, die sich als radikale Alternative zum vorherrschenden Ökonomieimperialismus aufzeigen lässt. In ihrer Bestandsaufnahme bestimmt sie Geld und Ökonomie als universelle Heilsmittel für Wohlstand und gutes Leben, dem politische und soziale Dimensionen des Handelns untergeordnet werden. Das generelle Kriterium ist die gut laufende Wirtschaft und der eigene Platz darin. K. Tanner kontrastiert ihre christliche Version von Ökonomie 28 Vgl. Webb 1996, 135. S. Webb kritisiert zudem, dass die göttliche Gabe, die nicht verbraucht und daher nicht getauscht werden kann, kaum zum Thema wird.

132 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien im Zeichen der Gnade im Gegenüber zur neoklassischen Ökonomie, weil es ihr um die Delegitimierung einer inhumanen Wirtschaftsordnung geht. Dabei ist der Ansatzpunkt nicht ‚Ökonomie als Religion‘ zu entlarven, sondern ‚Theologie als Ökonomie‘ zu entdecken.29 Entworfen werden soll so eine „theological economy“, die inhaltlich als ‚economy of grace‘ ausgerichtet ist. Theologische Aussagen werden als kritische Kommentare zur soziokulturellen Umwelt verstanden und sind damit grundsätzlich ökonomisch relevant.30 K. Tanner bezieht sich mit ihrem Entwurf auf strukturelle Phänomene: Eine Individualisierung des Glaubens und besonders die reformatorische Besinnung auf einen privaten Glauben hemmen den direkten Bezug von Welt und Glauben. Das Potential des Glaubens wird bei einem individualistischen Verständnis zu einer Überforderung, bei der sich einzelne Subjekte gegen eine Systemlogik und Strukturen durchsetzen sollen, obwohl sie durch diese fundamentalen ökonomischen Prinzipien in ihrem Handeln regelmäßig bezwungen werden. Methodisch ist in diesem strukturellen Ansatz einerseits die Beziehung und Differenzierung von money und grace („where either money or grace is sign or signifier“ ebd., 8) zu klären sowie der analytische Rahmen. K. Tanner setzt sich dafür mit P. Bourdieus Feldern auseinander, weil die spezifischen Feldlogiken nicht generell nach dem Muster der Nutzenmaximierung funktionieren. So ist Kunst, die nur aus der Motivation des Geldverdienens produziert wird, verdächtig und wird unplausibel, weil sie dem Kunstbegriff der Feldlogik nicht mehr entspricht.31 Konstruiere man nun ein Feld der Gnade – auf die das Knappheitsaxiom nicht zutrifft – dann scheinen Verteilungskämpfe kaum möglich, weil die Distribution keine Grenze hätte. Für Gnade bzw. Gaben gibt es dann keine Konkurrenzmärkte, sondern nur den Streit um die Koordinationsform competitive oder noncompetitive. If the field of grace is determined, as every field is, by a fight, it is primarily a fight between those favoring noncompetitive forms of exchange, on the one hand, and those trying to institute the competitive forms characteristic of other fields, on the other.32 29 Vgl. Tanner 2005, Preface: IX f. und 12. Um das Beispiel Bildung wieder aufzugreifen: Eine gute Ausbildung hat ökonomisch ihren Sinn im wirtschaftlichen Erfolg, der sich aus ihr ergibt. Vgl. auch Hoffmann 2013, 139 ff. 30 Vgl. Tanner 2005, 1 f., Zitat: XII. Theologische Aussagen versteht K. Tanner als kritisches Korrektiv: Im Abendmahl ist die theologische Aussage nicht von der ökonomischen zu trennen, weil die christliche Tischgemeinschaft etwas über nicht-adäquate ‚pagane‘ Tischgemeinschaften aussagt. Was ‚wahre‘ Tischgemeinschaft ist, kann nur vom Abendmahl her verstanden werden, so wie Liebe nur von Gott her in ihrer ganzen Dimension erkannt werden kann. 31 Vgl. ebd., 13 f. und 20. 32 Vgl. ebd., 21–24, Zitat: 21. Besonders die vom ökonomischen Spiel Exkludierten suchen in der Religion Auswege aus permanenten Wettbewerbssituationen.

4.2 Economy of Grace |

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Ein derart konstruiertes Feld der Gnade macht Statusunterschiede unsichtbar und sollte keine bevorzugten Feldpositionen erzeugen. Gnade ist dann ein derartiges Gut, dessen (göttliche) Distributionslogik durch uns imitiert werden soll. Nicht exklusiver Besitz, sondern Weitergabe mit dem Ziel der equality ist dann das maßgebliche Paradigma in einer noncompetitive economy of grace.33 Dieses Modell ist zunächst ganz theologisch konstruiert und in Abgrenzung zu aktuellen Kapitalismen entworfen. In einem weiteren Argumentationsschritt geht es um die Applikationsmöglichkeiten dieser spezifischen Ökonomie. K. Tanner geht davon aus, dass soziale Strukturen nicht ‚natürlich‘ sind und Modifikationen möglich sind. Ihr Entwurf ist dabei eine Imagination, die gleichsam von einem theologischen Punkt außerhalb der Ökonomie einen erweiterten Imaginationsraum für ökonomische Veränderungen eröffnet. Dabei werden fundamentale ökonomische Wahrheiten, z. B. in Bezug auf eine material gegebene Knappheit, irritiert.34 In Abgrenzung zu M. Mauss’ Gabeverständnis bereinigt K. Tanner ihr Verständnis von Gabe von den sozialen reziproken Strukturen, bei denen nicht die materiale Hilfe im Vordergrund steht, sondern die soziale Bedeutung der Gabeobjekte, mit denen Statusunterschiede aufgebaut werden. Sie versucht den Verpflichtungs- und gegenseitigen Verschuldungscharakter von Gaben und Machtunterschiede in Tauschhandlungen zu eliminieren.35

Gabentausch und Kapitalismus haben damit Analogien, weil es regelmäßig nicht um materielle Bedürfnisse geht, sondern um einen Status in einer sozialen Ordnung. Der anonyme Austausch im Kapitalismus produziert ebenfalls durch den Konsum eine soziale Positionierung. Das bedeutet, dass die effiziente Ressourcenallokation des Kapitalismus nicht das Proprium ist, sondern die Organisati33 „The good is distributed by God and is to be distributed by us in imitation of God“ Vgl. Tanner 2005, 25. 34 Vgl. ebd., 33. Sie bespricht zudem Alternativen von J. Locke her („property rights are inclusive or common at their roots“: 40) und zeigt, dass moderne kapitalistische Wirtschaftsordnungen und damit der Wettbewerb nur noch mit exklusivem Eigentum und privaten Rechten argumentieren. Mangel ist auch für K. Tanner sozial konstruiert und erst nach der Konkurrenz existent. Zur Knappheit vgl. ebd., 38. Sie illustriert mit einem Beispiel, dass Subsistenzwirtschaft nicht der Mangellogik folgt. Erst wenn es ein privates Recht auf Land gibt, folgt das Knappheitsparadigma. Privates Eigentum höre dann da auf, wo der andere die Lebensgrundlage verliert, weil Gott schöpfungstheologisch Eigentümer bleibt. Diese Argumentation hat deutliche Analogien bei Meeks 1989. 35 Vgl. Tanner 2005, 50. Wie bei P. Bourdieu ist auch bei gegenseitigen sich steigernden sozialen Verbindungen / Verpflichtungen die Zeit zwischen den Gaben zentral, um den Gabecharakter der Handlungen zu erhalten. Auch M. Hämmerli nimmt auf M. Mauss’ „threefold obligation (to give, to receive and to return)“ Bezug und verweist zusätzlich auf A. Caillés Dimension der ‚Freiheit zum Geben…‘. Vgl. Hämmerli 2011, 196 f.

134 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien on von sozialen Beziehungen über Statuskäufe.36 Das problematisiert auch Gott als Geber von M. Mauss her, weil die Machtimplikationen und Verschuldungen durch Gaben nicht auf Gott übertragen werden sollen. K. Tanners Vorschlag wendet sich gegen die permanente (soziale) Zirkulation von Gaben, weil Gaben sich am Bedürfnis orientieren sollen. Es geht ihr nicht um die Aufrechterhaltung von Beziehungen, sondern um die tatsächliche materielle Hilfe. Damit ist der Fokus nicht mehr auf Geber und Empfänger gerichtet oder das beide verbindende Band. Im Zentrum steht die Gabe, deren Gabecharakter sich gerade in der Stillung eines Bedürfnisses artikuliert. Das Paradigma wechselt hier von der Zirkulation hin zur intendierten Konsumtion der Gabe. K. Tanners Modell der theologischen Gabe zeigt sich in anonymen, freiwilligen „no-strings-attached transfers“: „Giving is completely disinterested, without self-concern, solely for the well-being or pleasure of others.“37 Diese ‚emotionalen‘, altruistischen und moralischen Gaben sind zunächst auf der Ebene unmittelbarer sozialer Beziehungen (z. B. in Familien) denkbar. Sie sind jedoch ebenso in einem gesellschaftlichen Horizont möglich, als „principle for social relations generally“.38 Hier braucht die Gabe die Ablehnung des Eigeninteresses und eine ‚reine‘ Intention der Wohltätigkeit. Damit geht es zentral um die Ausweitung von Vorteilen, nun aber nicht im Schema von gegenseitigen Vorteilen beim Tausch, sondern um Vorteile aus bedingungslosen Gaben, die nicht dem ökonomischen Paradigma verfallen. Diese Gabetheorie wird auf eine strukturelle Ebene verlagert, sodass alle Akteure zugleich Geber und Empfänger sind. Die Struktur von Gottes bedingungslosen Gaben wird somit als Imitation auf die sozialen Strukturen gelegt, mit dem Fokus auf dem Vorteil für Andere, weil keine Gabe Gottes Gott selbst zum Vorteil gereichen kann.39 Damit werden Gottes Gaben im36 In dieser Perspektive erfolgt auch der Austausch von Gaben in einem kompetiviten Paradigma: „Gifts in fact circulate similarly to the way money does when it becomes capital.“ Vgl. und Zitat siehe Tanner 2005, 53. Sowohl bei Gaben als auch beim Kapital gehe es um eine Verschuldungskonkurrenz in einer „world of infinite debt[s]“ (ebd., 54.), die zur größtmöglichen Verschuldung – dem Phänomen des ‚Potlatsch‘ – führt. 37 Zitate siehe ebd., 56 f. Diese Gaben müssen frei sein und nicht aus einer sozialen Rolle bzw. den damit einhergehenden Verpflichtungen resultieren. Gaben sollen damit von zweifelhaften Motiven ‚gereinigt‘ werden. 38 Vgl. ebd., Zitat: 60. 39 Im Hintergrund steht ein kreuzestheologisches Modell, dass gerade nicht davon ausgeht, dass Christus eine Schuld der Menschen am Kreuz beglichen hat, weil Schuld theologischen vergeben und nicht beglichen wird. Trotzdem wird Gott theistisch als Geber vorgestellt, der bedürfnislos ist. Die Begründung bezieht sich auf die Trinität: Im Austausch der drei göttlichen Personen bekommt bspw. der Vater nur unnötige Gaben und nimmt diese dennoch an. Am Abendmahl zeige sich die Struktur deutlicher: „we offer up to God the bread and wine that are already God’s gifts

4.2 Economy of Grace |

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mer ebenso bedingungslos auf den Nächsten hin umgeleitet, dessen Antwort auf die Gabe jedoch nicht ausgeschlossen wird: Die Motivation der zweiten Gabe entspringt der Wohltat der ursprünglichen Gabe. Hier gilt M. Luthers Prinzip, dem Nächsten ein Christus zu werden in Gaben,40 die nicht sichtbar gemacht werden müssen und gegebenenfalls nur im Rückblick zu erkennen sind, weil Gott ebenso an den Menschen handelt. Eine Rückgabe der Gaben Gottes besteht nun in der Weitergabe an den Nächsten und das hat Auswirkungen auf Besitzstrukturen. The primary gift of God […] is a gift directly to community. God’s primary gift is the gift of a particular sort of community, one without boundaries and organized so as to make common possession rights a reality, a community in which common possession rights are the social priority, a community dedicated to the well-being of all, without exception.41

Die vorliegende theologische Ökonomie spielt in verschiedenen Konstellationen das Imitationsverhältnis nach, bei dem Gottes Beziehung zu den Menschen analog von den Menschen untereinander realisiert wird. M. Luthers Diktum ‚Dem Nächsten ein Christus werden‘ soll über einen theologischen Gabebegriff ökonomisch nachvollzogen werden. Dabei wird einerseits deutlich, dass nur ein ‚Heiliger‘ in einer Welt der Konkurrenzen zu diesem bedingungslosen Geben in der Lage ist. Anderseits stellt K. Tanner fest: Wenn die ökonomische Grundstruktur noncompetitively organisiert ist, wiederum eine ‚Systemlogik‘ dafür sorgt, dass bedingungsloses Geben die einzig vernünftige Handlungsform ist, die sich ‚auszahlt‘. The triune God is a God that communicates the goodness of the dynamic go-round of God’s own life outward in love for what is not God. The whole point of God’s dealings with us as creator, covenant partner, and redeemer in Christ is to bring the good of God’s very life into our own. Our lives participate in that divine mission and thereby realize the shape of God’s own economy by giving that follows the same principle: self-sharing for the good of others.42

Der Prüfstein einer theologischen Ökonomie bleibt die praktische Dimensionen. K. Tanner bezieht sich nicht auf kirchliche Gemeinschaften, sondern – gemäß ihres theologischen Ansatzes – auf die Ökonomie als Gesprächspartner. Theologie als Korrektiv zu kulturellen, politischen und ökonomischen Diskursen und Praktiken müsse dann im Rahmen einer theologischen Ökonomie mit den ökonomischen Grundlagen ins Gespräch kommen. Das Ziel ist die Veränderung vom Into us as creator, empowered to do so by gifts already received in Christ.“ Zitat und vgl. Tanner 2005, 68. Das Abendmahl kann für Gaben eine gute Analogie sein, jedoch ist das Abendmahlsverständnis lutherisch zu präzisieren und der Gabebegriff zu klären. 40 Vgl. WA 7, 35,34 f. und WA 7, 66,3 f. bzw. Rieger 2007b, 297. 41 Vgl. Tanner 2005, 74. 42 Vgl. ebd., 76 und Zitat: 85.

136 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien neren der Ökonomie her. Für diese Veränderungen gibt es points of relevant intersection and intervention,43 ökonomische Ansatzstellen für theologische Ökonomien. Als sozial konstruierte Phänomene sind Kapitalismen – in den je verschiedenen lokalen Ausprägungen – durch politische Entscheidungen veränderbar.44 Was dabei fehlt, ist eine globale Gerechtigkeitsperspektive, die z. B. Entwicklungsländern ein Recht auf Teilhabe zusichert. Die Ansatzpunkte hierfür sind die nichtkompetitiven Elemente im Kapitalismus selbst. Monopolstellungen im Unternehmensbereich verhindern den Wettbewerb und die Großunternehmen können so die Vorteile – im negativen Beispiel – zu ihren Gunsten verschieben. Kapitalismen funktionieren jedoch nur mit Vorteilsgleichgewichten gut, sodass hier der Markt (durch Kartellregelungen) wieder zu einem Markt mit Wettbewerb gestaltet wird. Auf der Makroebene hingegen werden die Monopolstellungen einzelner reicher Länder nicht zureichend problematisiert. Das theologische Prinzip der universalen Gemeinschaft zeigt sich also global nicht in einem ökonomischen Gleichgewicht. Hier ist für K. Tanner der erste größerer Ansatzpunkt, um die Ökonomie von innen heraus auf eine zentrales Problem aufmerksam zu machen. Mögliche Interventionen gehen in der Folge davon aus, dass die theologische Ökonomie eine Geltung habe, die sich global auswirkt. Das trägt das mikroökonomische Problem der Eigennutzorientierung auf die Ebene der politischen Entscheidungsträger, und ausgeweitet auf globale Kontexte und von dort wieder auf die jeweiligen lokalen demokratischen Strukturen. K. Tanner wendet sich mit mehreren Beispielen an die Politik und internationale Institutionen. Neben einem Plädoyer für öffentliche Güter – deren Kosten gerade nicht nach der Marktlogik kompensiert werden – stellt sie einen Maßnahmenkatalog vor, der hier im einzelnen nicht relevant ist. In den öffentlichen Gütern sieht sie jedoch die theologischen Prinzipien verwirklicht, weil sie davon ausgeht, dass selbige nicht knapp sind (ihr Beispiel sind Leuchttürme). Ein weiteres bekanntes Beispiel ist Stonehenge, an dem sich schnell zeigen lässt, dass das öffentliche Gut ‚Stonehenge‘ doch knapp bzw. rivalisierend wird, sobald der Parkplatz voll ist.45 K. Tanner zielt damit auf Gemeinschaftseigentum – insbesondere Land –, weil damit sowohl das Knappheitsproblem als auch der Wettbewerb ausgeschaltet sind. 43 Vgl. „from within the belly of the beast“. Tanner 2005, Zitate: 89. 44 Gedacht wird hier anscheinend an einen Mentalitätswandel: Beispielsweise kann eine gesteigerte Produktivität zu Entlassungen führen, aber auch zu einer Arbeitszeitreduzierung bei gleichem Lohn. 45 Vgl. „In short, private goods at a society-wide level turn into public ones.“ ebd., Zitat: 140 und vgl.134 ff. und dazu auch Koch 2014a, 142. Öffentliche Güter sind nicht im Überfluss da, sondern transzendieren das Schema von Quantitäten: Sie verbrauchen sich einfach nicht. Damit entfällt tatsächlich der Gegensatz von Knappheit und Überfluss.

4.2 Economy of Grace |

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Zwischenfazit Für die universale Gemeinschaft, die K. Tanner aus der theologischen Perspektive im Blick hat, entwickelt sie praktische ökonomische Konsequenzen. Vorausgesetzt für die Umsetzung ist allerdings ein Wille auf internationaler Ebene und eine globale Geltung der von K. Tanner vertretenen ethischen Normen und Begründungen. Die Parallelisierung der kompetitiven Distribution von Geld und der nichtkompetitiven Distribution von Gnade im theologischen Bereich zeigt die problematischen Kontraste von Theologie und Ökonomie im Horizont von Gütern auf. Diese Antithese ist das Grundproblem, das K. Tanner mit einer Synopse der Möglichkeiten von Theologie und Ökonomie bearbeitet. Zu ihren Axiomen gehört dabei, dass Gott in seiner Beziehung zu Menschen als reiner Geber erscheint und das von Menschen in ihren Beziehungen untereinander imitiert werden soll. Einerseits handelt es sich hierbei um eine Handlungsorientierung, die geglaubt werden muss und andererseits wird nicht begründet, warum die göttlichen Gabebeziehungen auch eine ökonomische Priorität haben sollen. Damit wird die Theologie der Ökonomie wiederum übergeordnet und das Machtgefälle der Auseinandersetzung verschiebt sich. Der Anspruch, die Ökonomie von innen heraus zu verändern, kann dann nicht mehr eingehalten werden, weil grundlegende Axiome wie die Knappheit von Ressourcen oder die Notwendigkeit von privaten Eigentumsrechten für die Ökonomie verletzt werden. Favorisiert wird ein unbedingtes Geben, das an Bedürfnissen orientiert ist und zu gegenseitigen Vorteilen führen soll. Die Abgrenzungen zwischen bedingungslosen Gaben – an deren Selbstzweck man glauben muss – und dem Glauben an die resultierenden gegenseitigen Vorteile, bleiben unscharf. Die Autorin spricht den utopischen Charakter ihres Entwurfes einer theologischen Ökonomie an, zeigt aber zugleich, an welchen Stellen eine theologische Ökonomie wirkmächtig sein könnte – abhängig vom Willen der politischen Gestaltungskraft – und konstruiert zuallererst eine systematisch konsistente theologische Ökonomie. Dies wird entfaltet im engen Bezug zur Ökonomie, wobei die gute Theorie das Problem der praktischen Umsetzung nicht lösen kann, weil der Adressat eine einheitliche globale politische Kraft sein müsste, die einer theologischen Ökonomie Geltung verschafft.46 46 Dass es eine Weltgemeinschaft nicht gibt, die sich als Gemeinschaft versteht, ist nach R. Peccenino kein ökonomisches, sondern ein theologisches Problem. Sie verteidigt in einer Kritik kompetitive Marktsysteme, weil sie die Ziele von K. Tanners theologischer Ökonomie gerechter erreichen würden. Vgl. Pecchenino 2007, 96 und 104.

138 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien

4.3 Biblische Ökonomie 4.3.1 Alttestamentliche Wirtschaftsethik Biblische Ökonomien, wie die folgende von R. Horsley, haben Parallelen in wirtschaftsethischen Entwürfen. Die biblisch fundierte Wirtschaftsethik von F. Segbers soll hier als Einleitung zur biblisch-religiösen Ökonomie skizziert werden, weil es im Bereich der exegetischen Erarbeitungen deutliche Überschneidungen gibt. Während sich wirtschaftsethische Autoren in den Konsequenzen ihrer Arbeit im Rahmen ethischer Fragestellungen bewegen, versuchen die als theologische Ökonomien angelegten Entwürfe jedoch Ökonomie zunächst von einem theologischen Konzept her zu bedenken. Damit geht die Frage einher, wie theologische Vorstellungen und Konzepte die ökonomische Gestaltung bestimmen, während theologische Wirtschaftsethiken sich i. d. R. an den sozialethischen Ordnungen orientieren und biblische Bezüge teilweise nur „tendenziös“ und stichwortgeleitet benutzt werden.47 F. Segbers’ Hausordnung der Tora wird hier dargestellt, weil in diesem Entwurf nicht ausgehend von ethischen Erwägungen auf biblische Schriften referenziert wird, sondern von der Tora her argumentiert und so das Alte Testament in seiner ökonomischen Dimension ausgelotet wird, um zu einer lebensdienlichen und menschenwürdigen Gestaltung der Wirtschaft beizutragen.48 Dieser Ansatz versteht sich als Wirtschaftsethik und bearbeitet zugleich die Frage nach einer ‚Ökonomie der Tora‘. Dieser Ansatz bewegt sich damit im Schnittfeld von Ethik und theologischer Ökonomie. Wenn die hebräische Bibel als Grundlage einer christlichen Ethik verstanden werden soll, muss das Verhältnis von christlicher Ethik und Tora geklärt werden. F. Segbers stellt vier Grundmodelle dieses Verhältnisses dar und plädiert für den vierten Punkt.49 Antithetisches Grundmodell AT und NT stehen im Gegensatz, weil das NT keine normativen Gesetze kenne und eine Differenz von Theologie und Sozialordnung postuliert wird. Überbietungsargumentation Mit dem NT ist nach diesem Modell erst die Erfüllung des AT geschehen, das Letztgenannte ist somit immer defizitär. 47 Zitat vgl. Segbers 1999, 35. 48 Vgl. ebd., 10 f. und 22. Damit orientiert sich F. Segbers an P. Ulrichs integrativer Wirtschaftsethik, fragt jedoch nach einer biblischen Begründung, sodass eine theologische Wirtschaftsethik etwas beiträgt, das nicht bereits an sich im allgemeinen ethischen Diskurs zur Sprache steht. 49 Vgl. ebd., 42–44.

4.3 Biblische Ökonomie

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Selektion der bibl. Tradition Das NT fungiert in diesem Modell als Maßstab für die Beurteilung des AT. Ein ethisches Eigengewicht kann die hebräische Bibel daher kaum entwickeln. Referenzrahmen Eine gesamtbiblische Orientierung nimmt die hebräische Bibel mit ihrem sozialethischen Beitrag ernst und bedarf hermeneutischer Übersetzungen. Es ist zudem entscheidend für das Vorhaben einer biblischen Wirtschaftsethik, „den garstigen Graben zwischen Galiläa und dem globalen Markt zu überwinden“.50 Zum Ausgangspunkt hierfür macht F. Segbers einen Perspektivwechsel, der in der Tora selbst angelegt ist. In der Tora wird die (Exodus-)Vergangenheit erinnert, um ägyptische Verhältnisse abzuwehren. Alttestamentlich wird daher von den Rationalisierungsverlierern und Armen her gedacht und nicht aus der Perspektive der Gewinner von ökonomischen Strukturen. Die zentrale These seiner Habilitationsschrift lautet daher: Die hebräische Bibel, die Tora oder allgemeiner: die biblischen Schriften stehen für eine material bestimmte Traditionslinie, die konkretisieren kann, was die Wertkategorie ‚menschengerecht‘ bedeutet. Wie ein roter Faden durchzieht die Bibel eine normative Logik der Humanität, die in Auseinandersetzung mit der Ökonomie ihrer Zeit entstanden ist. Die Tora enthält eine eindeutige Vorzugsregel: Die Logik der Humanität erhält einen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Ansprüchen.51

F. Segbers fragt damit nach der ökonomischen Struktur, die in der Tora ausgebildet ist. Die Tora kann christlich zur ethischen Urteilsfindung beitragen, weil einerseits die Tora den Bundesvollzug in seiner sozialen Gestalt regelt – dies aber nicht im Schema der systematischen Differenz von Gesetz und Evangelium, sondern im Sinne einer „Erwartungskultur“,52 bei der eine lebensdienliche Verlässlichkeit etabliert wird. Zentral ist dabei der Begriff der Gerechtigkeit. Sein hermeneutischer Ausgangspunkt sind die Armen, weil ihr Recht auf Teilhabe ökonomischen Systemen vorausliegt. Der Arme legt mit der Exklusion die 50 Vgl. Segbers 1999, 20 f., Zitat: 20. 51 Vgl. ebd., 56 und Zitat: 25. F. Segbers orientiert sich zudem an der aristotelischen Unterscheidung von Ökonomie und Chrematistik, wobei die biblischen Texte maßgeblich den οἶκος / ‫ַּב ִית‬ gestalten. 52 Eine alttestamentliche Ethik ist dabei universal ausgerichtet und nicht nur als Identitätsethik zu verstehen. Daher gebe sie auch einen Orientierungsrahmen für neutestamentliche Ethiken. Vgl. ebd., 106–113, Zitat: 111. F. Segbers stellt analog zu den oben genannten Grundmodellen Jesu Stellung zum Sabbat exemplarisch dar als: Aufhebung des Sabbats; kritische Stellung zum Sabbatverständnis und Wiederherstellung des ursprünglichen Sinnes.

140 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien ausschließenden Mechanismen dar, die ihn zum Armen gemacht haben. Mit diesem hermeneutischen Ansatzpunkt ist eine absolute ethische Perspektive von der Tora her möglich, die für verschiedene ethische Systeme gelten würde. Moralische Urteile sind hingegen als Wertung innerhalb eines Kommunikationssystems zu verstehen.53 Die Perspektive ‚von unten‘ – von den Armen bzw. Opfern ökonomischer Prozesse her – versucht den kategorischen Imperativ ‚Befreie den Armen‘ mit Inhalt zu füllen. Dabei geht es um eine biblische Gerechtigkeit, weil Lebensbedingungen ermöglicht werden sollen, die einerseits von der Bundesgemeinschaft zwischen Gott und Mensch bestimmt werden, sich andererseits als Sozialbegriff auf das Verhältnis zwischen Menschen bezieht. Beides hat einen Bedingungszusammenhang, weil so – von der Exoduserfahrung her – eine soziale Ordnung von (ökonomisch) freien Menschen denkbar wird. Dieses Recht der Benachteiligten liegt dem Sozialsystem voraus, wodurch Zuwendungen nicht als Gaben, sondern Herstellung von Gerechtigkeit verstanden werden. Damit verschiebt sich die Wahrnehmung des Armen: Er ist nicht mehr der Empfänger von Wohltaten, sondern hat von der Toratheologie her – und nicht von einem systemimmanenten Operator – einen Rechtsanspruch auf die Abhilfe aus seiner Armut.54 Die Ökonomie wird damit von der Tora begrenzt und auf den übergeordneten Sinn hin orientiert. Im Gegensatz zu den grundlegenden Axiomen der Ökonomie geht die biblische Ökonomie von einer Fülle aus, die maßvoll und solidarisch sein kann und nicht unbegrenzt wachsen muss, wie es im Modell der Chrematistik nötig wäre. Der Autor stellt der konkurrenzorientierten Ökonomie der Knappheit die Hausordnung der Tora gegenüber, die als Ökonomie des Vertrauens solidarisch und gerecht sein könne, weil als kulturelles Kriterium ein ‚Genug-haben‘ möglich wird.55 Dieses ‚genug‘ ist dementsprechend ethisch zu bestimmen. Vergleichbar mit D. Meeks Monographie bestimmt er die Ökonomie der Tora in Abhängigkeit von der Vorstellung Gottes als Ökonomen. Dadurch würde der größere Rahmen der ökonomischen ‚Schöpfungsverwaltung‘ an die ethischen Ziele angebunden, wodurch die strukturelle Gewalt der ökonomischen Sphäre mithilfe rechtlicher Regelungen eingedämmt wird.56 53 Vgl. Segbers 1999, 80, 83, 85 und zum Folgenden: 88. 54 Nach F. Segbers ist Armut eine Objektrolle die aus einem Missverhältnis zum ökonomisch Mächtigen entsteht. Vgl. ebd., 102 und 114. Die Tora als ‚Recht Gottes‘ steht alttestamentlich über dem König und kann der politischen Macht, und darum auch der ökonomischen Macht, gegenübertreten. 55 Vgl. ebd., 134. F. Segbers orientiert sich dabei wiederum an Ulrich 2008. 56 Inwieweit die sozialen Regelungen der Tora historisch tatsächlich gegen gewinnorientierte Arten von Wirtschaft gerichtet sind, ist umstritten. Dennoch stellt die Tora eine soziokulturelle Orientierung dar, die grundlegende ökonomische Mechanismen in den Dienst einer Lebensge-

4.3 Biblische Ökonomie

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Das ‚Recht auf Arbeit‘ und die Sabbatordnung gelten in diesem Ansatz als Zentrum einer Ökonomie nach der Tora. F. Segbers versteht Arbeit als Sinnzentrum des Lebens und kann von einer Würde sprechen, die sich durch Erwerbsarbeit vermittelt. Die Arbeit eines Menschen kann damit christlich nicht allein als Produktionsfaktor wahrgenommen werden, sondern muss in seinen sozialen, anthropologischen und gesellschaftlichen Dimensionen wahrgenommen werden. Eine ökonomische Trennung von Arbeit und Kapital zeigt einen gesellschaftlichen Dualismus auf. Eine Priorisierung des Kapitels macht Menschen zu Objekten und kann daher nicht lebensdienlich sein. Die ‚Option für die Armen‘ und ein Primat der Arbeit konvergieren an dieser Stelle, weil sowohl der Vorrang der Arbeit als auch die Logik des Humanen – ausgehend von den Rechten der von System Exkludierten – die ökonomische Systemlogik bricht. Der Autor votiert damit deutlich für ein Primat der Ethik vor der Ökonomie.57 Die biblische Sabbat-Ökonomie unterbricht die Logik der Ökonomie und unterläuft die Statusdifferenz zwischen Herr und Knecht. Mit dem Sabbat wird eine dritte Zeit jenseits von Arbeit und Ruhe etabliert, von der her Ökonomie alternativ verstanden werden kann.58

Biblische Ökonomien beziehen sich entweder auf ein ausgewähltes biblischenökonomisches Konzept oder versuchen der Fülle der ökonomischen Hinweise der Bibel gerecht zu werden. Die zentralen Stellen aus den Rechtskorpora der Tora werden nachfolgend als Übersicht dargestellt, da sich theologische Beiträge zu ökonomischen Fragen regelmäßig auf einzelne Regulierungen beziehen. 4.3.1.1 Biblische Hinweise Die ‚Hausordnung der Tora‘ orientiert sich an der Rechtsgestalt des Bundesbuches (Ex 20,22–23,33), des Deuteronomiums (Dtn 12–26) und dem Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) und klassifiziert in Anlehnung an R. Kesslers Wirtschaftsrecht der Tora, folgendermaßen:59 1. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung (a) Zinsverbot: Durch das Zinsverbot wurden Abhängigkeiten begrenzt, die zur Verelendung führen könnten (Ex 22,24; Lev 25,35–38 und Dtn 23,20 f.). meinschaft mit ethischen Prämissen stellt. Vgl. Segbers 1999, 145 ff. Zur Gegenüberstellung von Markwirtschaft parallelisiert mit der Chrematistik und der Hausordnung der Tora vgl. 148. Zur ‚Option für die Armen‘ als zentrale Perspektive für eine biblisch-ökonomische Ethik, bei der die ökonomisch Ausgeschlossenen eine gesellschaftliche Integration erfahren sollen, vgl. 155 ff. 57 Vgl. ebd., 169 f., 175 und das folgende Zitat: 177. Der „kritische und ethische Maßstab zur normativen Beurteilung ökonomischer Systeme“ ist die Situation der ökonomischen Verlierer. 58 Vgl. ebd., 339. 59 Die folgende Übersicht gibt einen Überblick nach ebd., 130 und 184 f. Vgl. auch Kessler 2009, 11 ff.

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(b) Pfandrecht: Die Pfandnahme wurde beschränkt, um permanente Neuverschuldung zu verhindern (Ex 22,25 f.; Dtn 24,12 f.). (c) Identische Maße: Unterschiedliche Maße und Gewichte bei Verleih und Rückzahlung konnten eine Verzinsung auf Umwegen realisieren (Dtn 25,13–15). Gesetze zum Schutz der sozial Schwächeren (a) Sabbatgebote – nicht nur Israeliten (Dtn 5,12 ff.; Ex 23,12; Ex 20,8 ff.) (b) Schutzgesetze für Abhängige: i. Schutz vor körperlicher Gewalt (Ex 21,20 f.26 f.) ii. Schutz der geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f) iii. Schutz vor sexueller Ausbeutung (Ex 21,8) iv. Tägliche Lohnzahlung für Tagelöhner (Dtn 24,14 f.) v. Unterdrückungsverbot (Lev25,43.46.53) (c) Almosenwesen i. Almosenwesen und Nachlese (Lev 19,9f; 23,22; Dtn 24,19–22) ii. Recht an der Ernte des Sabbatjahres für die Armen (Ex 23,10 f.; Lev 25,6 f.) iii. Der Zehnte als Sozialabgabe für Witwen und Waisen (Dtn 14,22–29; 26,12 f.) Gesetze zur Regulierung der Wirtschaft (a) Schuldenerlass alle sieben Jahre nach Dtn 15,1 f. (b) Schuldsklaverei ist grundsätzlich zeitlich befristet (Ex 21,2–6; Dtn 15,12– 18) (c) Jobeljahr: Nach 7x7 Jahren wird die Akkumulation von Bodenbesitz und die Schuldknechtschaft unterbrochen, um einen einen gerechten Ausgangszustand herzustellen (Lev 25,10 ff.).

Diese Rechtsgestalt hat einen normativen Charakter, woraus sich einerseits eine Identitätsbildung ergibt, andererseits jedoch nicht auf die soziale Wirklichkeit geschlossen werden kann. Trotz des geschichtliches Wachstumsprozess lasse sich die solidarische Grundtendenz erkennen, die ökonomische Asymmetrien verhindern will.60 Insgesamt werden für die ‚Hausordnung‘ sechs wirtschaftsethische Impulse erarbeitet, die deutlich unter dem Kriterium der Lebensdienlichkeit stehen. Wirtschaft soll als Mittel verstanden werden, wodurch die entscheidenden Kriterien nicht durch die Wirtschaft selbst zur Norm gemacht werden könnten (Effizienz 60 Vgl. Segbers 1999, 190.

4.3 Biblische Ökonomie

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oder Produktivität), sondern die Funktionalisierung der Ökonomie ist auf das externe Kriterium des Humanen hin geordnet. Was ‚lebensdienlich‘ heißt, wird aus den ökonomischen Bestimmungen der Tora erhoben und auf diese Weise der Logik der Ökonomie eine Logik des Humanen vorausgesetzt, die inhaltlich von der Tora her gefüllt wird. Das wirtschaftsethische Viereck A. Richs wird dazu auf eine Sechseck erweitert um biblisch-ethische und ökonomisch-sachgerechte Argumente kritisch integrieren zu können.61 ‚Arbeit vor Kapital‘ erscheint dabei als eine Quintessenz der wirtschaftsethischen Bemühungen, weil die markwirtschaftliche Abhängigkeit der Arbeitnehmer von Kapitaleignern, als strukturelles Problem, eine wirtschaftsethische Perspektive von diesen Abhängigen her erfordert. Daher schlägt F. Segbers drei arbeitsethische Impulse vor, die um drei institutionenethische Impulse erweitert werden, um individualethische und Aspekte des institutionellen Rahmens zu integrieren.62 Würde der menschlichen Arbeit: Der biblische Exodus in die Freiheit soll am Umgang mit der Arbeit erkennbar bleiben. In Verbindung mit dem Sabbat ist das Ziel nicht Arbeit, sondern die Ruhe des siebenten Tages. Arbeit soll in seiner anthropologischen Qualität erkannt werden und nicht auf eine Ware bzw. einen Produktionsfaktor reduziert werden. An dieser Stelle könnte das AT als Sozialordnungskraft helfen, den Subjektcharakter von Arbeit wieder zu verstärken. Dann bedeutet das Recht auf Arbeit mehr, als nur sein Humankapital am Markt zu veräußern. Ziel dabei ist eine Humanität und Würde der Arbeit in einer dreipoligen Konstellation von Kapital, Arbeit und einer (demokratischen) Leitung (ebd., 346). Solidarisch arbeiten verweist auf die Machtstrukturen, die sich aus der Positionierung am Markt ergeben. Das gesellschaftliche Ergebnis der Arbeit soll nicht nach der erstgenannten Konstellation verteilt werden, sondern in Analogie zum biblischen Zehntgebot umverteilt werden. In Bezug auf die Arbeit wird das Thema des gerechten Lohns virulent. Nach der ‚Hausordnung der Tora‘ kann Lohn nicht im Spiel von Angebot und Nachfrage entschieden werden, sondern müsse durch zwei Grenzbestimmungen eingehegt werden: Einerseits auf ein Existenzminimum als Unter- sowie andererseits eine Grenzproduktivität als Obergrenze.63 Damit würde der Produktionsprozess wieder zu einem Sozialprozess. 61 Vgl. Segbers 1999, 324 f., 327. A. Rich formulierte ein ausbalanciertes Viereck aus fundamentalen, humanen, sozialen und ökologischen Zwecken der Wirtschaft. 62 Vgl. ebd., 329 ff. 63 Als Kriterien für einen gerechten Lohn kämen Leistung, Lebenslage und Solidarität hinzu. Vgl. ebd., 352 f. Ein Grundeinkommen ist keine Option, weil auf diese Weise die sozialen Dimensionen der Arbeit aufgelöst würden.

144 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Mit der Schöpfung versöhnt arbeiten heißt nach der ‚Hausordnung der Tora‘ in der Schöpfung mehr als ihren Nutzen zu erkennen und damit die Umwelt nicht als beliebig benutzbares Objekt zu verstehen. Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen: Die effiziente Allokation von Gütern nach Bedürfnissen gehört zu den Vorteilen der Marktwirtschaft. Diese Effizienz soll jedoch eingebettet werden in die Sozialordnung und eingeschränkt, vergleichbar dem Verbot des Zwischenhandels und der künstlichen Verknappung von Lebensmitteln. Grundlegend ist die wirtschaftliche Freiheit an die Gerechtigkeit gebunden.64 Sorgsam haushalten: Mit der aristotelischen Unterscheidung von Ökonomie und Chrematistik argumentiert F. Segbers für die Rückverortung der Wirtschaft in den Rahmen der gesellschaftlichen Beziehungen. Die Abkopplung und Eigendynamik einer Wirtschaft erfüllt nicht die grundlegende Aufgabe der gerechten grundlegenden Güterversorgung. Bereicherung begrenzen: Die Fokussierung auf die grundlegenden Mittel zum Leben tendiert einerseits zu einer Begrenzung der Wünsche und andererseits wird die Perspektive auf diejenigen gelenkt, denen die grundlegenden Lebensmittel fehlen. Im Anschluss an die EKD Denkschrift ‚Gemeinwohl und Eigennutz‘ ist auch für die Ökonomie der Tora der Eigennutz als Grundstruktur der Menschen zu akzeptieren, solange der Eigennutz in den Rahmenbedingungen begrenzt wird und eine Wirtschaftsordnung ethisch angemessen ist.65 Entsprechende Regulierungen bietet die Tora zu genüge, wie anhand von Erlaßjahr, Zinsverbot und den Schutzgesetzen vor ökonomischen Abhängigkeiten u. v. m. aufgezeigt wird. Die hebräische Bibel als „größte Sozialordnungskraft der vorchristlichen Antike“ zu verstehen, führt zunächst zu einer biblisch begründeten Kapitalismuskritik.66 Die Appelle bzw. Impulse verweisen auf das Primat der Ethik, das in diesem Entwurf von der Tora her begründet wird. Die Darstellung dieses Ansatzes soll dabei zweierlei verdeutlichen: Zunächst handelt es sich ausdrücklich und besonders inhaltlich um eine theologische Ethik, die sich kritisch mit ökonomischen Grundsätzen auseinandersetzt. In den Abschnitten, in denen die Sozialordnung der Tora untersucht wird, werden die Konstanten einer jüdischen religiösen Ökonomie ersichtlich, die in wirtschaftsethische Impulse übersetzt werden. Der Ausgangspunkt der Arbeit ist ein theologisch 64 Vgl. Segbers 1999, 378. 65 Vgl. ebd., 402 f. Zur Denkschrift vgl. auch Herrmann 2005, 82 ff. 66 Vgl. Segbers 1999, 331 und 430.

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motiviertes Konzept des Wirtschaftens, das mit der aristotelischen Unterscheidung von der Hausverwaltung und der Chrematistik die gegenwärtige Ökonomie deutet. Im Rahmen dieser Arbeit ist die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsethik und theologischer Ökonomie zu thematisieren. Theologische Ökonomien als konkrete Utopien von theologischen Deutungen her zu entwickeln muss nicht zwangsläufig in ethische Impulse übersetzt werden. Ebenfalls steht zur Disposition, ob religiöse Ökonomien nur eine Sammlung von Wirtschaftsgesetzen bezeichnen, die in der Summe das Ganze der Ökonomie ausmachen oder ob die theologisch begründeten Grundpfeiler eine solchen Ökonomie nicht eher als Werkzeuge verstanden werden können, um ganz verschiedene ökonomische Situationen aus einer theologischen Perspektive zu verstehen. Damit sind theologisch motivierte Konzepte von Ökonomie zunächst als Kommentar zu realen Situationen zu verstehen, die an dieser Stelle noch nicht auf eine direkte Wechselwirkung aus sind. Sie könnten damit als Deutungsalternative ökonomischer Vorgänge fungieren, die durch die alternative Deutung neue Handlungsmotive / -ergebnisse als legitime Optionen ins Spiel bringen. Die wirtschaftsethischen Impulse bieten einen praktischen Zugang, dessen Umsetzungsbedingungen wiederum fraglich sind. Am Beispiel dieser Wirtschaftsethik zeigt sich, dass einerseits biblische Ökonomie mit dem Ziel der Handlungsorientierung betrieben werden kann und auf diese Weise der ökonomische Diskurs mit einer christlichen Perspektive bereichert werden kann. Andererseits entstand auf diese Weise keine konsistente eigene Ökonomie, die sich bspw. als modernes Gegenbild oder als integrierende Deutung von Ökonomie und Theologie lesen ließe. Die direkte Übersetzung in die Ethik zeigt zwar die Ressourcen für eine theologische Ökonomie an, lässt sich jedoch nur vage mit den anderen Ansätzen vergleichen, weil das Kriterium der Lebensdienlichkeit auch in allgemeinen ethischen Diskursen als argumentatives Zentrum gelten kann. R. Horsleys Entwurf bezieht sich ebenfalls auf alttestamentliche Voraussetzungen, erweitert dass Programm jedoch um neutestamentliche Perspektiven, um eine biblische Ökonomie zu erarbeiten, die nicht vorrangig im Zeichen der Ethik verstanden sein will. 4.3.2 Covenant Economics R. Horsley veröffentliche 2009 unter dem Titel ‚Bundes-Ökonomie‘ eine biblische Vision ökonomischer Gerechtigkeit. Dabei knüpft er an die Bundesvorstellungen in der US-Geschichte an, legt aber dar, dass sich z. B. die Verfassung auf „civil rights“ beziehe, in den biblischen Bundesvorstellungen jedoch auch ökonomi-

146 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien sche Rechte entfaltet werden. R. Horsley konstatiert eine Erosion von ökonomischen Rechten in der US-Marktgesellschaft und zeigt demgegenüber auf, dass „economic concern run through the Bible“.67 Die Bundesvorstellungen sind dabei zentral, weil mit ihnen in Schlüsseltexten ökonomische Grundrechte und kooperative Mechanismen für eine Gesellschaft entworfen wurden. Die Verbindung von aktuellen ökonomischen Theorien und biblisch-ökonomischen Einsichten schließt R. Horsley jedoch aus, weil es ihm anachronistisch erscheint, Theorien über Marktmechanismen auf eine Gesellschaftsform zu beziehen, in der es weder eine Trennung von religiös und säkular, noch Märkte im heutigen Sinne gab. Mit einer ökonomischen Situationsbeschreibung beginnt ein Durchgang durch zentrale alt- und neutestamentliche Texte mit dem Ziel, die biblische Version ökonomischer Gerechtigkeit darzustellen. Das hat zunächst den Anschein einer historisch-exegetischen Darstellung. Die Einsichten, wie biblische Bundesvorstellungen die ökonomischen Rechte geformt haben und aufgrund welcher theologischen Motive, sollen jedoch dazu befähigen, als Kirche Stellung zu vorherrschenden ökonomischen Entwicklungen zu beziehen. Bei der covenant economics handelt es sich um eine biblische Ökonomie als Korrektiv und Handlungsorientierung. Sein Entwurf gehört damit in die Reihe der theologisch motivierten ökonomischen Konzepte, weil die Konsequenzen dieses biblischen Ausgangspunktes auf eine religiös motivierte ökonomische Einstellung zielen. Altorientalische Ausgangspunkte Der Ausgangspunkt ist eine Beschreibung von Gesellschaftsformen in der biblischen Umwelt. Dabei wird das altorientalische Bedingungsgefüge von Religion, Politik und Ökonomie dargelegt, bei der z. B. Pyramiden und Ziggurate religiös legitimiert waren und zur Errichtung einer ökonomischen Struktur beitrugen, die zentral vom König als sakralem Herrscher ausging. Damit wird zunächst deutlich gemacht, dass die ökonomischen Erfordernisse sowie der Handel von der Zentralgewalt ausgingen und nicht von Märkten im heutigen Sinne gesprochen werden kann. Die Bevölkerung finanzierte diese irdische Repräsentation der göttlichen Kräfte, die das Leben bestimmten, aus Angst und Dankbarkeit und manifestierte das System zugleich. Damit konnte sich über das System von Abgaben eine zentrale Elite finanzieren und die Risiken der Landbevölkerung bestanden im Landverlust und der Schuldknechtschaft.68 R. Horsley weist die Unterdrückung aufgrund 67 Vgl. Horsley 2009, Zitate: XI und XVI. 68 Die Gewalt, der gedient wurde, erschufen die Menschen durch ihren Dienst und ihre Steuern. Vgl. ebd., 10–15. Für Josef in Ägypten vgl. Gen 47,20 ff. Auch hier wird die Enteignung der Ägypter – aufgrund von Armut – erzählt.

4.3 Biblische Ökonomie

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ökonomischer (und politischer) Macht in der Umwelt Israels als Negativfolie aus, sodass im Folgenden die Befreiungserfahrungen des Exodus auch in der ökonomischen Dimension erkennbar werden. Die Bundesgesetze, die das soziale, politische und ökonomische Leben Israels strukturieren, sollen als Weisungen für den Erhalt der ökonomischen Freiheit dienen.69 Bundestheologie Zur Bundestheologie findet sich nur eine kurze Einleitung und der Dekalog dient für erste Hinweise auf die ökonomischen Implikationen der Gesetzgebung. Die Bundestheologie des Alten Testaments referiert der Autor nur kurz und orientiert sich in der Regel an der deuteronomistischen Theologie. Wichtiger erscheinen ihm die ökonomischen Regelungen des Bundes. Um einen differenzierten Blick auf die Bundestheologie und deren ökonomische Folgen zu ermöglichen, sollen an dieser Stelle grundlegende Unterscheidungen und der Stand der aktuellen exegetischen Forschung zur Bundestheologie nachgetragen werden, um die ökonomischen Mechanismen in ihrem theologiegeschichtlichen Kontext genauer erfassen zu können. Ein ‫ ברית‬wird ursprünglich befohlen und ist mit Gesetz und Gebot gleichbedeutend. Deuteronomistisch gilt: Jahwe gewährt den Bund und stiftet ein verpflichtendes Gemeinschaftsverhältnis im Sinne eines zweiseitigen Vertrages (Segen / Fluch). Der Bund (‫ )ברית‬wird geschlossen (‫)ָּכ ַרת‬ und nicht einseitig aufgerichtet (‫)קּום‬. Die Partner sind nicht symmetrisch, eher Großkönig und Vasall. Trotzdem der Bund nicht einklagbar ist, soll er doch ein Verhältnis des ‫ ַשׁלֹום‬herstellen. Altorientalisch wurde das Konzept ‚Bund‘ kaum auf das Verhältnis von Gott und Mensch übertragen. Es ist aber auch hier ein Ausschließlichkeitsverhältnis. Als Begriff ist ‫ ְּב ִרית‬erst im 7. Jh. mit der deuteronomisch / deuteronomistischen Bewegung geprägt worden. Zuvor garantierte Gott nur zwischenmenschliche Bünde wie in Gen 21 zwischen Abraham und Abimelech. Noch bei den Propheten des 8. Jh. gibt es ein Bundesschweigen bis auf eine diskutierte Hoseastelle (Hos 8,1). Das Besondere am Bund Israels ist die Abwesenheit des Königs. Sonst sind die Götter Zeugen und Garanten des Bundes, jedoch nicht unmittelbare Vertragspartner. So ist der assyrische König Repräsentant und Stellvertreter Assurs und stellt auch eine Handlungseinheit zwischen Gott und König dar, sodass hinter den Verträgen des Königs auch Assur als Vertragspartner steht. Dies ist aber in der Königsideologie begründet. Standard ist also eine göttliche Urheberschaft von Verträgen, die königlich vermittelt sind. Dabei ist die Vereidigung ein Königsprivileg, das deuteronomistisch übergangen wird. Mit der biblischen Bundestheologie ist die königliche Vermittlung zugunsten einer Gott–Volk-Beziehung aufgegeben.70

69 Vgl. Horsley 2009, 28. F. Segbers schlussfolgert ähnlich einen kategorischen Imperativ, die Armen zu befreien. Vgl. Segbers 1999, 84. 70 Nach 722 vC hatte das Nordreich schon den Verlust der Staatlichkeit zu verarbeiten. Das scheint mit der Moseerzählung erfolgt zu sein. Hier ist nicht mehr ein naturgegebenes Gottesverhältnis leitend, sondern die Beziehung zu Gott beruht auf einer Wahl und einer Rettungstat.

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Der deuteronomistische Bund ist am Sinai gegründet, und der Zusammenhang von Bund und Geboten entsteht vor dem Hintergrund des assyrischen Vertrags- und Bundesdenken. Bund und Erwählung dürften auf die deuteronomistische Reformbewegung im 7. Jh. zurückgehen, und bezeichnen das besondere Verhältnis von ‫ ְיה ָוה‬und Israel. Das Innenverhältnis wird durch den Bund charakterisiert, das Außenverhältnis durch die Erwählung. Deuteronomistisch wird der Verpflichtungscharakter der göttlichen Willensbekundung erzählt, um die Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden. Retrospektive Texte deuten die Schuld Israels als Bundesbruch. Ex 19, Ex 24, Ex 34 erzählen daher eine Verpflichtung Israels, aber zugleich die Eröffnung einer intimen Gottesbeziehung, aus der sich Pflichten ergeben. Die deuteronomistische Theologie warnt damit vor einem Bundesbruch und im deuteronomistischen Geschichtswerk ist der Bundesbruch dann die dominante Deutekategorie. Der retrospektive Bundesbruch in II Reg 17 zeigt, dass Israel den Bund gebrochen hat, indem es die Satzungen verwarf und damit eine Pflichtverletzung beging. Der deuteronomistische Gipfel ist dann Ex 19–24, wo Israel sich auf den Dekalog und das Bundesbuch verpflichtet, wodurch eine Sonderstellung unter den Völkern verheißen wird.71 In Ex 24 ist das Bundesbuch dann die justiziable Grundlage. Der Begriff repräsentiert in der Folge verschiedene theologische Konzeptionen, die sich aus der Verpflichtungssituation herausbilden lassen: Fremdverpflichtung, Selbstverpflichtung und die seltenere gegenseitige Verpflichtung. Es stehen sich maßgeblich zwei Konzeptionen / Schulen gegenüber: Priesterschrift und Deuteronomismus, die beide – in exilischer Zeit – Bundestheologie betreiben.72 ‫ברית‬ Dtr: verpflichtender Sinaibund – P: Väter und Verheißungsbund Die Priesterschrift schreibt zur Vergewisserung für die, die Gottes Strafe im Exil erleiden und erzählt die Selbstbindung Gottes (gegenüber allen Menschen: Gen 9; gegenüber dem Volk Israels: Gen 17), der einen ewigen Bund herstellt. Diese Bundeskonzeption entsteht erst aus dem Bruch des Sinaibundes im 6. Jh und die Priesterschrift löst die Verbindung zwischen Bund und Gesetz durch den Noah- und Abrahambund. Der Bund ist in diesem Konzept ein Evangelium vor aller Möglichkeit, sich als Volk Gottes zu bewähren. Gottes bindendes Versprechen wird zur Lebensgrundlage seines Volkes im Exil. In Gen 9 und Gen 17 sowie Jer 31 findet man die freie Selbstbestimmung Gottes zum Bund. Deutlich wird der exilische Sitz dieser Bundeskonzeption in Gen 6,18: An dieser Stelle wird der Bund bereits vor der Strafe verheißen und in Gen 9 vollzogen. Gen

C. Koch zeigt analoge Strukturen der Übertragung: Die Heilsorakel, die eigentlich Königsorakel sind, werden auf das ganze Volk angewendet. Ebenso wird die königliche Sprachform der imago dei-Metapher auf das Volk angewendet. Auch der Bund war zunächst ganz traditionell im judäischen Königtum beheimatet und wurde dann auf das ganze Volk appliziert bzw. in nachstaatlicher Zeit übertragen. Vgl. Koch 2008, 249 und 259. Vgl. Horsley 2009, 17 ff. sowie grundsätzlich Levin 2013, 242 ff. und Aurelius 2014, 357 ff. 71 Nach Dtn 7,6 ist Israel Gottes Sondereigentum und ein heiliges Volk. Als solches ist es ein Modell für die Völkerwelt. 72 Vorexilisch hat das Deuteronomium den Loyalitätseid der Vasallenverträge Assarhaddons auf ‫ ְיה ָוה‬übertragen, jedoch den Begriff noch nicht explizit als theologische Figur gefüllt. Vgl. Jeremias 2015, 301–318.

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17 – der Abrahamsbund – ist ein Bund mit Israel, jedoch ohne Verpflichtung, sondern mit der Beschneidung als Bundeszeichen. Gen 15 ist redaktionell umstritten. Erzählt wird eine Selbstverfluchung Gottes bei einem Bundesbruch. Es gibt keine Verpflichtung Abrahams, sondern Gott verpflichtet sich auf das Land. Zudem hängt der Bund nicht am menschlichen Verhalten. Dieser Bund gilt grundsätzlich, auch wenn eine Generation das Land verliert. Ein ‚neuer Bund‘ findet sich in Jer 31–34, der von der menschlichen Unfähigkeit ausgeht, Gottes Willen zu tun. Der Inhalt des Bundes ist aber die gleiche ‚Tora‘, neu ist die Art der Mittteilung. Das Herz (Wollen), bringt die anthropologische Wandlung. Der Mensch kann nicht mehr anders wollen als Gottes Willen zu tun. Das ist dann auch die Voraussetzung, um ein neues Scheitern des Bundes zu verhindern.

R. Horsley argumentiert im Anschluss an die deuteronomistische Konzeption, die in den Bundesgeboten soziale Regeln sieht, die die Befreiungserfahrung des Exodus bewahren sollen. Ihm geht es spezifisch um die ökonomische Freiheit, die zentral für das eigenverantwortliche Leben in einer unmittelbaren Gott–Mensch Beziehung notwendig ist. So ist das Bilderverbot der Israeliten gegen die Verehrung von vergöttlichten „heavenly and earthly forces with their produce and labor“ gerichtet und hat damit einen bedeutenden ökonomischen Impetus, weil ökonomische Machtstrukturen verhindert werden sollen.73 Der Bund als Weisung für die ökonomische Freiheit schließt einen König aus und ersetzt ihn durch Gott. Nur zeitweilige Befreier nach dem Richterschema sind mit der ‚ursprünglichen‘ Situation der dörflichen Gemeinschaften vor der Königszeit vereinbar. Aus diesen village communities erwuchsen nach R. Horsley die grundlegenden Prinzipien der Bundesgestaltung, weil kaum eine soziale und ökonomische Stratifikation gegeben war. Durch Kooperation und reziproke Austauschverhältnisse konnten Risiken vermindert werden, um die ökonomische Überlebensfähigkeit der einzelnen Familien in der dörflichen Struktur zu sichern. Zwei Grundprinzipien sichern dabei die ökonomische Freiheit: Die Eigentumsrechte am Land hält Gott und das Land der einzelnen Familien ist unveräußerlich (so z. B. Lev 25,23).74 Damit ist ein unveräußerliches Recht auf Land als Gottesgabe die Grundlage der agrarischen Gesellschaft, um die Lebensfähigkeit und Handlungsfreiheit im familialen οἶκος zu sichern. Land kann damit nicht im Rahmen von Eigentumsverhältnissen verstanden werden, sondern als öffentliches Gut (commons). Hinzu kommen Mechanismen, die ökonomische Interessen begrenzen, Einzelne schützen und weitgehend analog zu den Befunden von F. Segbers dargestellt werden. Mit diesen Regelungen soll der Bund ökonomisch gestaltet und eine 73 Vgl. Horsley 2009, 28 und Zitat: 25. 74 Vgl. ebd., 38 f.

150 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien ökonomische Gerechtigkeit verwirklicht werden. Die Überschüsse, die in Gemeinschaften erwirtschaftet werden, stehen den Bedürftigen zu, weil das Land als öffentliches Gut mit seinen Früchten kein privates Eigentum ist. Nur die Nutzung bis zur eigenen Versorgung ist garantiert, auf alles weitere hat die Gemeinschaft ein Recht, um inhumane Verschuldungen und Risiken zu minimieren.75 Strukturell arbeitet R. Horsley in der biblischen Auseinandersetzung um das Königtum den Dualismus von Freiheit und Sicherheit heraus. Monarchie steht für eine ökonomische Zentralisation. Der König versklavt erneut, weil er ökonomische Ressourcen beansprucht, um (militärische) Sicherheit zu garantieren. Der Tempel wurde dabei zum Zentrum der monarchischen Ökonomie.76 Im Gegensatz zu den dörflichen Gemeinschaften entstand nach dem Typus altorientalischer Königtümer eine politische und ökonomische Macht, die zu prekären wirtschaftlichen Situationen in den Dörfern führte, aufgrund von Abgaben und Steuern. Damit zerstört die königliche Ökonomie die Grundlage, auf der sie beruht und nicht zuletzt durch diese Situation ist die deuteronomistische Bewertung der Könige in I Reg–II Reg beinahe durchgehend negativ.77 Bundestheologisch zeigt sich für David ein Bund in II Sam 7,4–17, den R. Horsley als Gegenüber zum Sinaibund versteht. Mit diesem Individualbund ist ein Königtum außerhalb des Sinaibundes legitimiert,78 gegen den die Propheten predigen: The very center of the classical prophets’ message was God’s condemnation of the rulers and their officers for violating the Covenant by oppressing the people. […] The criteria that the prophets applied were covenantal. The crimes for which the rulers were indicted and sentenced were violations of the commandments and principles of the Mosaic Covenant.79

Das Exil ist dann als radikaler Bruch Gottes mit diesem zentralen ökonomischen System verstanden worden. Thus asserted in public in the face of the rulers and officials, the covenantal principles gained further resonance as a convincing explanation of the Babylonian destruction of Jerusalem. The scribes advising the priestly aristocracy that replaced the monarchy then included the covenant and covenantal laws in the books of the Pentateuch written to guide and aut-

75 Vgl. Horsley 2009, 48. 76 I Sam 8,11–17 kritisiert diese Situation als Antwort auf den Wunsch nach einem König. Zentral ist hier die Schuldknechtschaft sowie die Landenteignung genannt. Vgl. ebd., 52 und 56 f. 77 Alle Nordreichkönige werden negativ bewertet, im Südreich sind nur Joschia und Hiskia durchgehend positiv. Vgl. ebd., 62 f. R. Horsley bezieht sich mit der Bewertung auf das Königtum generell. Genauer geht es im Bewertungsschema um die Monolatrie und Kultzentralisation. 78 Vgl. ebd., 62. Jes 55,3–5 weitet diesen Bund wieder auf ganz Israel als Nachfolger des Davidbundes aus. 79 Vgl. ebd., 69.

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horize the temple-state. The covenantal laws were thus available as checks on abuses within the system. But the books of the Pentateuch also required the centralization of economic resources in the Temple economy. Almost unnoticed in the Pentateuch, however, was the new imperial dimension in the economy, with the priestly aristocracy now serving the interests of the imperial regime as well as their own, at the expense of the Judean peasantry.80

R. Horsley liest die Schriften des Alten Testaments konsequent von ihren ökonomischen Problemstellungen her. Er versucht dabei eine Bundesökonomie sichtbar zu machen, die als grundlegende Tendenz für die Schriften des Alten Testaments gilt. Aufgrund des Materialbreite orientiert sich der Entwurf an elementaren Strukturen und exemplarischen Mechanismen. Die Darstellung zeigt zunächst die ökonomischen Implikationen der deuteronomistischen Bundesgestaltung. Damit ist bereits auf das Fehlen der anderen Bundeskonzeptionen hingewiesen. Der Ansatz versteht das Bundesrecht als Begrenzung der Eigeninteressen, das nun nicht als politisches Recht eines Souveräns verstanden wird, sondern als religiös fundierte Ausgestaltung. Für Gesellschaften, in denen sich Religion und Ökonomie nicht trennen lassen, erscheint dies als eine Möglichkeit, um ökonomische Unterdrückung und Machtkonzentrationen zu verhindern. Der erste Teil der ‚covenant economics‘ intendiert keine umfassende ‚Ökonomie des Alten Testaments‘. Dafür sind genauere historische und literaturgeschichtliche Einordnungen notwendig und eine Auseinandersetzung mit der Frage in wieweit z. B. prophetische Kritik ökonomisch, kultisch, politisch oder sozial motiviert ist. Dennoch zeigt sich die ökonomische Seite der Theologiegeschichte in nachvollziehbarer Stringenz und eröffnet damit den exegetischen Fachbereichen der Theologie einen ökonomischen Zugang zu biblischen Schriften außerhalb unmittelbar wirtschaftsethischer Argumentationen. NT-Bundesökonomie Als Ausgangspunkt für den zweiten Teil der Bundesökonomie wird die ökonomische Situation in Juda und Galiläa zur Zeit Jesu gewählt. Damit schlägt er einen Bogen von deuteronomistischen Konzeptionen auf der alttestamtlichen Textebene hinüber in die neutestamentliche Zeit. Die Idealvorstellungen der village communities im Anschluss an die Befreiungserfahrung des Exodus, die zur ökonomisch ausdifferenzierten Bundesgestaltung geführt haben, stehen dabei für die grundlegende Zielrichtung der alttestamentlichen Ökonomie.81 Mit dem Wechsel in die neutestamentliche Zeit stellt R. Horsley wiederum eine ökonomische 80 Vgl. Horsley 2009, 78. 81 Vgl. ebd., 81 ff.

152 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Unterdrückungssituation durch Zehntabgabe, Steuern und Tribute dar, die von der Tempelökonomie und dem römischen System getragen wird. Dabei sind Juda und Galiläa zu unterschieden, weil in Galiläa Dörfer auf einem Subsiztenzlevel die Regel waren und die Menschen zumeist auf ihren Erbteilen lebten.82 In Galiläa und Juda ist eine bedrückende ökonomische Situation und zugleich die Lebendigkeit der ökonomischen Dimension von Bundesvorstellungen erkennbar, die besonders in der Zeit des zweiten Tempels bei Nehemia tradiert wurden. In diesem Zusammenhang ist die Bundesgestaltung zu einem Kriterium für Kritik und Reformen geworden, und es zeigt sich zudem, wie sehr diese Vorstellungen in der Lebenswirklichkeit verwurzelt waren. R. Horsley argumentiert, dass das Sabbatjahr in den Tribut an Rom eingerechnet war und es Mechanismen gab, um Kredite über das Sabbatjahr nach Dtn 15 hinaus zu vergeben. Dem gegenüber steht die römische Fremdherrschaft, und auch die Hohepriester sind zunehmend von der Tora her infrage gestellt worden. Jesu Verkündigung ist tief in „covenantal economic principles“ verwurzelt gewesen.83 Die Dimensionen von Bundeserneuerung und ökonomischen Themen in Jesu Verkündigung zielen auf die ökonomische Lebensfähigkeit der Menschen, ihr täglich Brot und der wechselseitige Erlass der Schuld(en). Die Bergpredigt sowie die lukanische Feldrede (Mt 5–7, Lk 6,20–49) sind auf die Bundeserneuerung hin angelegt.84 Die Seligpreisung der Armen und die Feindesliebe sowie die ReichGottes-Predigt wird auf Erneuerung des Bundesgedanken im Sinne einer Revitalisierung gegen die Fremdherrschaft zurückgeführt. Sowohl bei Matthäus als auch bei Lukas sind die textimmanenten Adressaten Dorfgemeinschaften, die ebenfalls, exemplarisch in Mk 10,17–31, als egalitäre Gemeinschaft verstanden werden. Hier wird deutlich, dass Reichtum in einer agrarischen Gesellschaft nur durch die Verletzung des Bundes erworben werden kann (durch Zinsen, Verschuldung der Landbevölkerung etc.), weil die ökonomischen Prinzipien des Bundes genau solche Machtkonstellationen verhindern sollten: 82 Während Galiläa ökonomisch seit 104 v. C. zu Juda und Jerusalem gehörte, ändert sich das mit Herodes Antipas 4 v. C., sodass nach Sepphoris ab 19 n. C. Tiberias als neues ökonomisches Zentrum entsteht. Vgl. Horsley 2009, 89. 83 Vgl. die Nachweise ebd., 93 und Zitat: 95. Der Schuldenerlass konnte durch formelle Deponierung des Schuldbriefes im ersten Jahrhundert vor Christus umgangen werden. Das hilft den Armen, weil sie sonst nicht kreditwürdig wären im Jahr vor dem Schuldenerlass. Das gute Instrument hätte negative Folgen. Vgl. Nutzinger 2006, 170. Ob die ökonomischen Bundesgesetze tatsächlich praktiziert wurden, kann historisch bezweifelt werden. 84 R. Horsley meint aus den Parallelen beider Texte die Verkündung Jesu rekonstruieren zu können in Anlehnung an Q. Vgl. Horsley 2009, 103.

4.3 Biblische Ökonomie

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Jesus’ declaration about the restoration of households is one of the key indications in the Gospel that the agenda of the Jesus movement was the renewal of Israel in village communities and their constituent households, which were the fundamental economic basis and social forms of life in such a society. […] Observance of the egalitarian economic principles of the covenant, where no one seeks to become wealthy by taking advantage of others’ circumstances, will result in sufficiency for all in the community, albeit with no illusions about the continuing political power relations in the Roman imperial world.85

Der markinische Jesus verkündige primär die Erneuerung der Bundesgemeinschaft im Kontext des Reiches Gottes, indem Solidarität und Kooperation durch Gottes anbrechendes Reich ermöglicht wird. In Abgrenzung zur früheren prophetischen Verkündigung, ist das anbrechende Reich ein Handeln Gottes, in das man durch die Beachtung der Bundesgesetze eintreten kann.86 Die Vision sind alternative Gesellschaften, die sich durch die Kriterien des Bundes konstituieren. Anhand der paulinischen Korrespondenz lässt sich aufzeigen, wie in frühen Gemeinden politisch-ökonomische und religiöse Aspekte der Gemeinschaften kaum voneinander zu trennen waren. Während jedoch Jesu Verkündigung auf diese Erneuerung bestehender dörflicher Gemeinschaften zielte, so geht es mit Paulus um die Etablierung neuer Gemeinschaften im Kontext griechischer Städte, bei denen die Bundesvorstellungen als kultureller Rahmen nicht mehr vorausgesetzt werden konnten. Auch die Adressen unterscheiden sich: Nicht mehr agrarische Gemeinschaften mit engen Bindungen sind der Ausgangspunkt, sondern anonymere Strukturen und Menschen, die innerhalb der Stadt arbeiteten und von der Versorgung durch das umliegende Land abhängig waren, welches häufig im Besitz der lokalen Elite war. R. Horsley geht davon aus, dass es in den Städten kaum mehr soziale Verbünde gab, die solidarisch Risiken mindern und den ökonomischen Status sichern konnten. Paulus’ Verkündigung ziele in ökonomischer Hinsicht nicht auf eine Kirche, sondern auf eine ἐκκλησία im Sinne einer alternativen politischen und religiösen Sozialform, die sich weitestgehend von der dominieren Gesellschaftsform separieren sollte (z. B. die Vermeidung öffentlicher Gerichte in I Kor 6).87 85 Vgl. Horsley 2009, 122. Anhand von Mk 10,17–31 zeige sich, dass ‚ewiges Leben‘ bei Markus nur eine Frage für Reiche sei, Jesus hingegen auf die sozialen Gegebenheiten seiner Zuhörer eingehe. R. Horsley bearbeitet auch politische Dimensionen der Bundesvorstellungen und kommentiert ausgewählte Texte zum Thema. Eine breite Wiedergabe der einzelnen exegetischen Befunde ist für das Verständnis seiner Bundesökonomie nicht zwingend erforderlich, weil es in diesem Rahmen um die konstituierenden Strukturmerkmale einer evangelischen Ökonomie geht. 86 Vgl. ebd., 132. 87 Bereits bei den Dorfgemeinschaften stand diese Dimension im Vordergrund: „The form of local governance as well as social coherence was the village assembly (synagoge in Greek).“ Vgl.

154 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien

The nascent assemblies of Christ were thus, in anticipation of the full establishment of the kingdom at the Parousia of the Lord, the local communities of a new international society that was an alternative to the Roman political order.88

Diese alternativen Gemeinschaften sind durch Gemeinschaftseigentum in der Lage, soziale Notlagen in der Gemeinde abzusichern und so eine solidarische Gemeinschaft über die Statusunterschiede hinweg zu begründen. Anhand der Kollekte für Jerusalem, sind die bundestheologisch begründete Kooperation und Solidarität über die lokalen Gemeinschaften hinweg auf einer internationalen Ebene ausgeweitet worden. In dieser horizontalen Umverteilung ist die ökonomische Dimension des Bundes von Dorfgemeinschaften und dem Volk Israels auf die christlichen Gemeinschaften und über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg ausgeweitet worden. Für R. Horsley geht es nach der Darstellung dieser Grundprinzipien und der ökonomischen Dimension der Bundesgestaltung um die Etablierung dieser Einsichten in aktuellen Gesellschaftsordnungen. Die Bundestheologie fungiert dabei als Begründungsfigur für ökonomische Rechte mit dem Ziel, die ökonomische Lebensfähigkeit von Individuen und Familien abzusichern. Während dafür in agrarischen Gesellschaften Land eine Grundbedingung war, sind es heute plurale Faktoren wie Bildung, Gesundheitsfürsorge, Arbeit etc. Trotzdem sind die Grundbedingungen vergleichbar: In ancient empires from Mesopotamia and Egypt to Rome, the holders of political power could manipulate the economy to enhance their own economic and political power. In the contemporary United States as well as other countries of the world, the holders of economic can now manipulate the political arm of society in order to enhance their economic an political power.89

Damit sind die Ideen des Exodus als Befreiung von ökonomischer Herrschaft und Machtasymmetrien genauso aktuell, wie paulinische alternative solidarische Gemeinschaften. Die resultierenden gesellschaftspolitischen Vorschläge bleiben weitgehend traditionell, werden aber nun von der Bundestheologie her begründet: z. B. gehöre Werbung als Wecken von unendlichem Begehren in das biblische Gebot des begrenzten Begehrens, um nicht zukünftigen GeneratioHorsley 2009, 139 f. und Zitat: 89 (vgl. auch 150). Ebenso ist die Verweigerung des Kaiserkultes ein Hinweis auf eine alternative Sozialform und die Ablehnung der vorherrschenden Sozialordnung. Siehe auch die Warnung in Apk 13,16 f. sich das Prägezeichen (vom Kaiserkult) geben zu lassen, das zum Kauf und Verkauf berechtigt und damit in die ökonomischen und politischen Kreisläufe einbindet. Vgl. Ebner 2012, 161. 88 Vgl. Horsley 2009, 141. 89 Vgl. ebd., 170.

4.3 Biblische Ökonomie

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nen und ärmeren Teilen der Welt die Ressourcen zu verknappen. Analog zur Landgabe ist modern ein Einkommen, welches das Überleben sichert ein ökonomisches Grundrecht. Die heutigen Äquivalente zu früheren „covenant renewal communities“ sind Kirchen (sowie Synagogen und Moscheen), die jedoch nicht allein lokal den Bundesvorstellungen verpflichtet sind, sondern als ökumenisches und interreligiöses Netzwerk selbst die ökonomische Dimension des Bundes verkörpern (sollen). Dabei geht es um die Umverteilung von Ressourcen, zugleich aber auch um eine ‚prophetische‘ Funktion, um bei Missständen zu protestieren und die ökonomischen Rechte bei politischen Entscheidungen einzufordern. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür ist, dass sich Kirchenmitglieder als „members of the larger covenantal society with the rights and responsibilities of citizens“ verstehen.90 Zwischenfazit R. Horsleys Entwurf einer Bundes-Ökonomie versucht ein leitendes Konzept zur Konstante einer biblischen Ökonomie zu entwickeln. Die ökonomischen und theologischen Einsichten, die mit dieser Perspektive produziert werden, können als alternative Regulation von Ökonomie verstanden werden. Eine BundesÖkonomie als theological economy entsteht dabei im Ansatz, obwohl ökonomische Praktiken vorausgesetzt werden, die begrenzt und reguliert werden müssen. Das Selbstverständnis als Mitglied einer Bundesgesellschaft hingegen könnte ein produktiver Deutungsrahmen für ökonomische Kontexte sein. Einen solchen Deutungsrahmen füllt R. Horsley inhaltlich, die praktische Dimension bleibt unbearbeitet.91 R. Horsleys Orientierung an der deuteronomistischen Bundeskonzeption legt eine Regelbefolgung in praktischer Hinsicht nahe, jedoch lassen sich mit der Veränderung des Bundesverständnisses andere Deutungen von Ökonomie entwickeln, die bspw. näher am Gabecharakter stünden und die restriktiven Implikationen weniger betonen. Würde man versuchen, mit dieser deuteronomistisch geprägten BundesÖkonomie ein christlich-ökonomisches Feld zu konstruieren, so hätte man eine Feldlogik der ‚Befreiung der Unterdrückten‘ als Grundprinzip. Ähnliches gilt auch für F. Segbers, der allerdings über eine Sabbatökonomie zudem Statusdifferenzen ausschließt und über das Kriterien der Lebensdienlichkeit weitere soziale Dimensionen einträgt. Die Perspektive beider Entwürfe auf dieses 90 Vgl. Horsley 2009, Zitate: 178 und 180. 91 Eine häufige Argumentation an dieser Stelle ist, dass die Erkenntnis einer Alternative bereits wirksam sei.

156 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien christlich-ökonomische Feld ist jedoch, dass eine dem Feld inhärente und vorausgesetzte Feldlogik begrenzt und reguliert werden muss, sodass es ein christlich-ökonomisches Feld wird. Die Entwürfe konstruieren somit nicht die eigentliche Feldlogik, sondern bieten Institutionen, Deutungen, Restriktionen, Parameter und Kriterien, womit eine ökonomische Logik wiederum vorausgesetzt wird, die es zu korrigieren gilt. Die biblischen Entwürfe können damit im strengen Sinn nicht als theologische Ökonomien gelten, sondern eher als christliche Bearbeitungen und Veränderungen gegebener Ökonomien, wenn das Kriterium eine theologische Feldlogik ist. D. Meeks Ansatz steht dabei durch die Neukonzeptualisierung auf der Schwelle zu einer eigenständigen christlichen ökonomischen Feldlogik und deutlich stellt sich das Prinzip bei K. Tanners Konstruktion einer Ökonomie dar, weil hier die Feldlogik vollständig von einem theologischen Gabebegriff her bestimmt ist. Damit zeigt sich, dass ein Kriterium theologischer Ökonomien – die gänzlich vom Standpunkt der Theologie aus argumentieren (aber nicht ohne Bezug zur Ökonomie) – sein könnte, ob sie eine alternative Feldlogik für eine christlichökonomisches Feld produzieren, oder eine ökonomische Feldlogik voraussetzen und selbige christlich bearbeiten. Letzteres dürfte wirtschaftsethischen Publikationen entsprechen, wodurch mit der ‚Testfrage‘ nach der Feldlogik eine Unterscheidung von Wirtschaftsethik und theologischer Ökonomie erkennbar wird.92 Damit wird deutlich, dass die Vision einer christlichen Ökonomie u. a. von pluralen Impulsen je nach Ansatz und theologischer Prägung lebt. Besonders bei biblischen Entwürfen entsteht das Problem der Verbindung biblischer Einsichten mit modernen ökonomischen Fragen. Die Existenz einer einheitlichen biblische Ökonomie erscheint vor dem Hintergrund der Vielfältigkeit der biblischen Zeugnisse kaum möglich. Daher sind Beispiele wie diese Bundes-Ökonomie oder Sabbat-Ökonomien Bausteine, an denen sich alternative Perspektiven auf Ökonomie in den Diskurs einbringen lassen. Problematisch bleibt jedoch der Schnittpunkt dieser Alternative mit dem ökonomischen Mainstream. Deutlich mehr Nähe zu klassisch-ökonomischen Fragen haben Entwürfe, die ökonomische Themen wie Konsum und Begehren bearbeiten. 92 Erweitert werden kann das durch die Frage, welcher Bezugspunkt intendiert ist: Wenn sich Wirtschaftsethik auf die Moralvorstellungen in den Regeln der Rahmenordnung bezieht (Langer 2006, 219 f. im Anschluss an K. Homann), ist eine alternative Handlungsorientierung nicht im Blick. Im Islam könnte man nach diesem strengen Kriterium ebenfalls fragen, ob es sich um eine religiöse Ökonomie handelt. In der Anlage scheint das durch die Verbindung der Bereiche Politik, Ökonomie und Theologie durchaus naheliegend. In der Praxis in westlichen Staaten scheint es sich eher um Regeln zu handeln, die Glauben und Identität versichern. Vgl. zum Thema Waibl 2006, 201 ff.

4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive

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4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive Mit dem Stichwort ‚Konsum‘ ist die Frage nach einem christlichen Konsumverständnis unter normativen Aspekten aufgeworfen. L. Hartman differenziert dabei consumerism und consumption. Ersteres – am ehesten mit Konsumismus zu verdeutschen93 – versteht sie als konkurrierende Religion und Idolatrie, die Menschen nur als Konsumenten deutet, wodurch Ungleichheit und individuelle Vorteile im Mittelpunkt stehen. Die Alternativen ‚Bürger‘ oder ‚Geschöpf‘ verdeutlichen den Unterschied am Beispiel verschiedener Identitäten: Bürger sind politisch gleichwertig und arbeiten kollektiv an einer besseren Gesellschaft. Ein Ziel ist ein alternatives Ethos für Konsum, das nicht die Übersteigerungen des Konsumismus zeigt und sich aus christlichen Ressourcen speist. Dafür setzt sie beim Konsum an und fragt, was ein christliches Konsumverständnis konstituieren könnte bzw. wie christlicher Konsum aussehen würde. L. Hartman entwirft vier primäre Perspektiven, die sich auch als Suchraster und Bewertungsschema verstehen lassen:94 To Avoid Sin bezieht sich auf overconsumption und zielt auf eine Theologie des Genug-Habens. To Embrace Creation eröffnet die Perspektive auf die Umweltfolgen des Konsums. To Love the Neighbor zielt auf die Beziehungen, die der Konsum herstellt oder verhindert. To Envision the Future betont die eschatologische Dimension des Konsums, wodurch Handlungen vom kommenden Reich Gottes her qualifiziert werden.95 Mithilfe dieser Typologie versucht L. Hartman auf der Metaebene eine christliche Ethik des Konsums zu konstruieren, bei denen die vier Perspektiven ‚are actions that produces virtues‘.96 Sie setzt voraus, dass die Typologie die Handlungsmoti93 Konsum als Lebensform bearbeitet auch Bolz 2002, 110. 94 Als Adressat sind Akteure vorausgesetzt, die ökonomisch überhaupt eine Wahl haben. Vgl. Hartman 2011, 7, 11, 14; Grundfragen: 8 und 21. Ziel ihrer Untersuchung ist nicht „how Christians do consume“, sondern „how Christians should consume“ Vgl. ebd., 5. J. F. Hoffmeyer stellt den Bedeutungswandel von consumerism dar und verweist auf darauf, dass die aktuelle Konnotation nur temporär sei. Es gab eine Zeit, in der das Wort einen ethisch anspruchsvollen Konsum anzeigte. Vgl. Hoffmeyer 2014, 416. 95 Der Hauptteil der Dissertation befasst sich mit den vier Perspektiven. In diesem Zusammenhang hingegen ist von Interesse, wie die alternative Handlungsorientierung Realität werden kann. Hartman 2011, 30–168. 96 Vgl. ebd., Zitat: 27.

158 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien vation beeinflusst. Die Motivation zum ethischen Handeln wird nicht eigens expliziert, weil zunächst ein alternatives Ethos entworfen werden müsse, um andere Handlungsoptionen zur Wahl zu haben. Mithilfe der oben genannten Typologie soll das Urteilsvermögen bereichert werden, sodass Konsumsituationen anhand der christlichen Kriterien evaluiert werde können. Dadurch ist es möglich, „longterm habits and modes of being“ zu verändern.97 Anhand der Beispielüberlegungen zeigt sich, dass die gleichwertigen Perspektiven bei der Urteilsfindung regelmäßig im Konflikt miteinander stehen und die ethische Urteilsbildung damit eher paralysiert wird, als dass sich auf diese Weise eine konstruktive Alternative erarbeiten lässt. Die Motivation, überhaupt die einzelnen Perspektiven auf eine Konsumsituation anzuwenden, wird durch die Existenz des Suchrasters als gegeben gesetzt. Ein alternatives Konsumethos geht damit in der komplexen Abwägung der vier christlichen Perspektiven auf Konsum unter, weil das Begehren bzw. die Veränderung des Begehrens nicht in den Blick kommt. Derartige Ansätze im Register der Ethik verdeutlichen, dass die Konstruktion einer alternativen Handlungsorientierung nicht ohne eine dezidierte Begründung der Realisierungsmöglichkeiten erfolgen kann, weil andernfalls die Wirksamkeit der Alternative unplausibel bleibt. Zugleich bietet das Schema jedoch Fragerichtungen, anhand derer sich Konsum und Begehren christlich prüfen lässt. Durch die Relationen zum Individuum, zu Anderen, der Umwelt und zu Gott können konkrete Konsumentscheidungen umfassend untersucht werden. Das spezifische Begehren wird dabei zunächst beim und für das Individuum relevant, die Auswirkungen des Begehrens dann deutlicher in Bezug auf die Schöpfung, die Nächsten und Gott. Eine große mikroökonomische Schnittmenge zwischen Ökonomie und Theologie bieten Ansätze, die sich direkt mit dem individuellen Begehren auseinandersetzen. Zur Disposition steht dabei nicht allein, was und ob zu begehren sei, sondern auch wie sich christliches Begehren in ökonomischen Situationen von einem ökonomischen Begehren unterscheidet. Mit dem Stichwort Begehren sind daher Entwürfe aufgerufen, die dieses Thema explizit behandeln. Sie gehen in der Regel mikroökonomisch vom Individuum aus und beziehen sich auf eine theologische Analyse der consumer culture. Zentral im Fokus steht die Idee der unbegrenzten Bedürfnisse bzw. des unersättlichen Begehrens. Während biblische Schriften in der Regel vor dem Reichtum warnen und das Prinzip ‚more is better‘ zurückweisen, gehört gerade das potentiell unbegrenzte Begehren zu den Voraussetzungen der Ökonomie. Gegen diesen Dualismus des biblisch ‚bescheidenen‘ Menschen und dem unendlichen ökonomischen Begehren argumentiert A. Yuengert. Er geht 97 Vgl. Hartman 2011, 181 und Zitat: 182.

4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive

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vom postlapsarischen Menschen aus, der Geschöpf und Schöpfer verwechselt: „When goods [Schöpfungsgaben bzw. Geschöpfe] become absolute ends, they become idols.“98 A. Yuengert identifiziert daher eine „preference-wellbeing disjunction“: […] consumers may act on preferences which do not reflect their true interests. Departures from true preferences are a result of the Fall, and are thus systematic […]. If consumption becomes an idol, preferences are skewed.99

Die Differenzierung zwischen dem, was Menschen wollen und dem, was sie wollen sollen, verlagert Fragen nach der Handlungsmotivation an den Ort der Präferenzen. Damit steht ein Begehren im Fokus, das in einer theologischen Perspektive gedeutet werden kann. Mit dem Stichwort Sünde ist Begehren zugleich in einer bestimmten Weise qualifiziert, sodass die Präferenzänderungen anschlussfähig werden für theologische Argumentationen. J. F. Hoffmeyer untersucht Begehren unter einer theologischen Perspektive von Augustinus und Gregor von Nyssa her. Zu seinen Prämissen gehört dabei, dass Geld und Märkte nicht zwangsläufig zu einer Konsumkultur führen. ‚Märkte‘ ließen auch andere Verständnisse mit alternativen Koordinationen zu.100 In Konsumkulturen wird jedoch ein permanentes und immer wieder erneuertes Begehren erzeugt, bis dahin, dass das Begehren selbst begehrenswert wird. Anhand des Slogans „I am what I shop“ wird gezeigt, wie Identität durch andauerndes und nur kurzfristig gestilltes Begehren konstruiert wird.101 Für seine Argumentation bezieht sich J. F. Hoffmeyer im Besonderen auf Augustinus, der ein fundamentales Begehren beschreibt, das aufgrund der Geschöpflichkeit grundlegend auf den Schöpfer gerichtet ist. Jeder Versuch, dieses Begehren mit Irdischem zu befriedigen, kann nur in ein rastloses Scheitern münden: „we are created in such a way that we come to our own center by being centeded in God. In this sense we are ek-centric“102 Das Begehren Gottes ist jedoch im Glauben nicht gestillt, sondern beziehe sich immerwährend (nach Gregor von Nyssa) auf das unendlich Göttliche. Was keine Grenze hat, kann unendlich begehrt werden. Zugleich schließt 98 Vgl. Yuengert 2009, 32 und Zitat: 34. Das Kriterium der Transzendenz gilt ebenso bei W. Cavanaugh im Folgenden. 99 Vgl. ebd., Zitat: 36, vgl. auch 48. 100 Z. B. auf Marktplätzen für Ideen werde nicht gehandelt, sondern argumentiert. Vgl. Hoffmeyer 2014, 414. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist das ‚erfundene‘ Begehren der Werbeindustrie, das ein permanent neues Begehren erschafft. 101 Vgl. ebd., 423 f., Zitat: 424. 102 J. F. Hoffmeyer zitiert Augustinus’ ‚Fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te‘ (Confessiones I, 1, 12–13). Vgl. ebd., 426.

160 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien das eine communio von Gott und Mensch nicht aus. Anhand der augustinischen Unterscheidung von uti und frui lässt sich das Begehren von Konsumenten zunächst nur dualistisch deuten. Werden Waren und Güter um ihrer selbst willen genossen, so ist eine Verkehrung des grundlegenden menschlichen Begehrens zu diagnostizieren. Konsumgesellschaften versuchen dann, das Begehren nach Gott in Waren und Geschöpfen zu finden, die für den Gebrauch (uti) vorgesehen sind. Diese Argumentation ist gewissermaßen ein christliches Standardmuster für das Begehren. Problematisch an dieser Unterscheidung ist die Gleichwertigkeit der Dinge und Personen des Gebrauchs. Augustinus schließt die Liebe zum Nächsten um seiner selbst Willen praktisch aus: „To enjoy [frui] something is to love it for its own sake; to use [uti] something is to use it, even to love it, for the sake of something else.“103 Irdisches kann mit dieser Unterscheidung nur gebraucht werden, genossen werden kann im Sinne eines erfüllten Begehrens nur Gott. Die irdischen Objekte des Begehrens unterscheiden sich zudem im Grad ihrer Kommodifizierung und in der Art des Begehrens: Während Luxusartikel als Waren wenig problematisch erscheinen, ist das Grundnahrungsmittel Wasser als Ware auf Märkten mindestens zweifelhaft und Menschen mit Preisschildern einen deutliche Problemanzeige. Das bedeutet für J. F. Hoffmeyer, dass die Unterscheidung von uti und frui als genereller Indikator für eine unbefriedigende Zielrichtung des Begehren dienen kann. Er schlägt vor, nach den spirituellen Bedürfnissen zu fragen, die Produkte und Waren stillen wollen.104 Damit geht es um die Korrespondenz von spezifischem Begehren und passendem Objekt. Der ökonomische Ort sind die Präferenzen, in denen sich das Begehren im Zeichen des Genusses auf Objekte bezieht und dabei potentiell Identität stiftet. W. Cavanaugh und D. Bell entwerfen zwei prominente Beispiele, die mit unterschiedlichen theologischen stories für die Veränderung des Begehrens argumentieren. Der Fokus bei der Untersuchung ihrer Ansätze liegt auf den Argumentationsmustern im begrenzten Rahmen von theologischen Ökonomien. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass beide folgenden Beiträge aus dem Spektrum der radical orthodoxy stammen und den Hintergrund dieser spezifischen theologischen Denkrichtung mit sich führen.105 103 Damit wird jede irdische Liebe verdächtig. Vgl. Hoffmeyer 2014, 432. 104 Vgl. ebd., 437. 105 Die radical orthodoxy (RO) ist eine anglokatholische theologische Bewegung, die von patristischen und mittelalterlichen Traditionen her die Moderne kritisiert. Siehe zur Einleitung den Tagungsband Grosse und Seubert 2017 und darin Grosse 2017, 14 f. Vgl. auch Milbank 2017, 44. Zu den maßgeblichen Gründungstexten gehört Milbank 2006 (1990) und siehe auch Milbank, Pickstock und Ward 1999. Zur Kritik vgl. Hankey und Hedley 2005, 81 ff. und Joas 2004, 78 ff. sowie die radikale Verhältnisbestimmung zur säkularen Vernunft (ebd., insbesondere 85 f.). Vgl. dazu auch

4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive |

161

W. Cavanaugh: Beeing Consumed W. Cavanaugh setzt sich aus einer theologischen Perspektive mit freien Märkten, Globalisierung, Knappheit und der Konsumentenkultur auseinander, um den Diskurs von christlichen Einsichten her zu verändern. Er zielt damit auf eine theologische Mikroökonomie („theological microeconomics“).106 So bräuchten freie Märkte aus theologischer Perspektive eine Zielrichtung für das Begehren. „Consumerism“ ist ein Begehren ohne τέλος, wobei vorausgesetzt ist, dass diese Ziele nicht materiell sein können (ebd., 74). Materielle Dinge kommen nicht als τέλος in Frage, weil sie Mittel sind und es eine Transzendenz braucht, die als höheres Ziel Handlungen orientiert und so Freiheit und Gerechtigkeit schafft. Weder staatliche Eingriffe noch reiner Liberalismus führen zu wirklich freien Märkten, weil erstere durch Restriktionen wirken und letztere über ökonomische Macht wiederum zu Unfreiheit führt. Transaktionen zum Vorteil aller sind damit kaum denkbar, solange kein Ziel außerhalb der Kommodifizierung leitend ist. Kirchen und Gemeinden können in dieser Hinsicht ein exemplarischer Ort wahrer ökonomischer Freiheit durch christliche Praktiken sein.107 Die ‚consumer culture‘ in westlichen Staaten scheint prägender als das Christentum zu sein. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass das Begehren nicht gestillt werden kann, sondern immer wieder neu entfacht wird: „We desire because we are alive“ gehört zu den Grundeinsichten, worauf auch W. Cavanaugh mit der augustinischen Unterscheidung von uti und frui reagiert. Die Welt sollen Menschen gebrauchen und Gott genießen. Eine Verkehrung ist Sünde.108 Mit Thomas von Aquin ist Gott owner und der Mensch user, daran habe sich der Gebrauch der Welt als Leihgabe zu orientieren.109 Wannenwetch 2017, 219 und 221 f., der darauf hinweist, dass in der RO die Theologie als ‚master discourse‘ vom Gegenstand zum Agenten der Aufklärung wird. Das Verhältnis zu anderen Disziplinen, der Gesellschaft, dem Staat etc. wird jedoch problematisch, wenn die Genealogie des Säkularismus von einer ‚falschen‘ Theologie ihren Ausgangspunkt nimmt, wie die RO nahelegt. Vgl. Grosse 2017, 24. 106 Vgl. Cavanaugh 2008, viii. 107 Vgl. ebd., 2, 32 und 58. W. Cavanaugh schreibt aus einer katholischen Perspektive und argumentiert im Anschluss an Augustinus. Zu denken ist auch an G. Simmel, für den Geld als das absolute Mittel zum absoluten Endzweck und somit zum Äquivalent aller Werte erhoben wird. Gott als τέλος wird durch den Endzweckcharakter des Geldes (auf Märkten) ersetzt. Simmel 1989, 304 ff. 108 Zitat: Cavanaugh 2008, 49. Vgl. auch Leonhardt 2012, 312 ff. Damit geht für Augustinus die Wendung von amor sui zum amor dei einher. 109 Jüdisch-christlich ist die Einstellung zu materiellen Gütern an die Solidarität gebunden.

162 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Als theologisches Paradigma für diesen Konsum ist die Eucharistie als christliche Praxis beispiel- und titelgebend für diesen Ansatz einer theologische Mikroökonomie. Der eucharistische Zugang zur Ökonomie führt zu einer Heilung des ökonomischen Begehrens unter der anthropologischen Voraussetzung, dass jeder begehrt und damit Konkurrent ist. In der Eucharistie ist Christus kein individueller Vorteil oder ein Gut, sondern das unlimitierte Begehren werde von der Überfülle Gottes ‚absorbiert‘. Der Mensch konsumiert nicht Christus, sondern wird von Christus konsumiert und in den Leib Christi integriert. Christi Identifikation mit den Armen und ökonomisch Ausgeschlossenen ermögliche dann, sich selbst mit Benachteiligten zu identifizieren. Christen würden so Konsumenten auf eine andere Weise: „For becoming the body of Christ also entails that we must become food for others“.110 Die Globalisierung erscheint in diesem Entwurf als säkularisierte Katholizität und weltweite communio, die jedoch von der Trinität her christlich neu verstanden werden soll:111 If Christ is the concrete universal, then it suggests an aesthetic in which the particular is given its particularity precisely by incorporation into the universal. The subject becomes a subject by being sent out of the self. The form of human life is, then not consumption but kenosis. However, this kenosis is not mere altruistic self-emptying but participation in the infinite fullness of the Trinitarian life. If economic relations are not to be excluded in the drama of divine-human relations, then the form of economic life is the life of the Trinity, which is mutual self-giving and mutual receiving.

Markt und Eucharistie sind zwei stories über die Welt, bei denen es um Austausch und Gaben sowie aktive und passive Konsumtion gehe. Durch die Integration in den Leib Christi kann nach diesem Ansatz Knappheit kein zentrales Axiom christlicher Praktiken mehr sein. W. Cavanaugh stellt eine freie und gerechte Ökonomie vor, die aus mikroökonomischen Praktiken erwächst. Vorausgesetzt ist dabei, dass Christen auch in ökonomischen Kontexten entsprechend ihrer Maximen handeln. Das eröffnet wiederum die Anforderung, dass Menschen sich gegen die ökonomische Systemlogik verhalten. Die Vermittlung von Ideal- und Realgestalt der Handlungsorientierung bleibt als Aufgabe zurück, gerade weil der Ansatz im theologischen Bereich argumentativ eine Fülle von Ressourcen eröffnet, um Theologie und Ökonomie in Beziehung zu setzen. 110 Vgl. Cavanaugh 2008, 54, Zitat: 55. Die praktischen Auswirkungen (ebd., 57 f.) sind knapp und klassisch gehalten. Das Fokus liegt auf der Argumentation für eine „theological microeconomics“. 111 Formen der Globalisierung ließen sich als „parody of true catholicity“ bezeichnen. Vgl. ebd., 60, Zitat der Fn.: 71 und nachfolgender Auszug: 86.

4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive |

163

D. Bell: Economy of Desire D. Bells ‚Ökonomie des Begehrens‘ versteht sich als Beitrag zur Beziehung von Kapitalismus und christlicher Weltanschauung im Kontext des PostmoderneDiskurses. Die Vergleichspaare sind Kapitalismen und eine göttliche Ökonomie in Bezug auf das Begehren. Ein kontrastierender Vergleich allein ist jedoch wenig hilfreich, da aus der Erkenntnis einer besseren Alternative nicht zwangsläufig eine bessere Praxis resultiert.112 Das Begehren ist für D. Bell die Zentralstelle, weil „beliefs and convictions“ sowie „practices and institutions“ das Begehren formen und gestalten.113 Die Fragerichtung zeigt an, dass Kontexte und Überzeugungen entsprechende Formen des Begehrens produzieren, sodass für Veränderungen die Kontexte gewandelt werden müssen und damit das Begehren selbst verändert würde. Märkte sind dabei nicht mehr begrenze Plattformen zum Austausch, sondern es kann alles der Logik von freien Märkten unterstellt werden. D. Bell bezieht sich auf die neoliberale Version von freien Märkten und orientiert sich an den allgemeinen Standards des homo oeconomicus, weil eine weitere Differenzierung der ökonomischen Strömungen für seinen Ansatz wenig beiträgt. Die Ökonomisierung wird anhand der Grundkonstanten bearbeitet um aufzuzeigen, dass die Marktgesetzlichkeiten nicht die leitenden Institutionen von Gesellschaften sein sollen. Auch in diesem Entwurf wird die Ökonomie der Theologie untergeordnet, was jedoch nicht eine Antithese oder die Flucht in eine dualistische religiöse Ökonomie zur Folge haben soll. Ökonomie ist nicht durch theologische Einsichten zu ersetzen, sondern die Art der Subordination der Ökonomie unter die Theologie nach den jeweiligen Verständnissen von Ökonomie zu erfassen. Wird Ökonomie als neutrale und wertfreie Wissenschaft verstanden, dann ist das Ziel undefiniert und damit ein theologischer Beitrag zur Ökonomie möglich. Wird Ökonomie als abhängig von Werten und Normen verstanden, so ist die Unterordnung unter die Theologie wiederum deutlich. Wird Ökonomie als Produzent von Werten und Tugenden angesehen, dann ist eine christlich normative Version von Ökonomie notwendig.114 D. Bell zielt nicht auf eine einzelne ökonomische Alternative, sondern auf die Konsequenzen des Glaubens in ökonomischen Situationen, die das Begehren christlich ausrichten und damit die Ökonomie als Funktion benutzen. Voraussetzung dafür ist ein geheiltes und geschultes Begehren nach Tugenden wie „charity, justice, and generosity“. Diese Heilung und Schulung ist 112 Vgl. Bell 2012, 19 f. 113 Vgl. ebd., 22. 114 Vgl. ebd., 26 f.

164 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien durch die Partizipation in der „divine economy“ möglich, wodurch das Christentum als alternative „economy of desire“ vorgestellt wird.115 Von Interesse für diese Arbeit ist weniger die Untersuchung des Begehrens in der Ökonomie, sondern die mögliche Alternative für das Begehren von einer ‚divine economy‘ her. Die Alternative zu Kapitalismen und einer Ökonomisierung der Lebenswelt ist theologisch zunächst das Reich Gottes.116 Zur Frage stellt D. Bell damit, ob das Reich Gottes auch ökonomisch nahe ist und welche Auswirkungen im Rahmen der Unterscheidung nach ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ möglich sind.117 Diese Alternative kann nicht konstruiert und durchgesetzt werden, sondern ist eine Gabe, zu der sich Menschen bekennen können. Die Alternative kann nicht ‚gemacht‘ werden, sondern ist schon durch Gottes Handeln präsent, aber noch nicht vollendet. D. Bell zeichnet ein durch Sünde verkehrtes Begehren nach, dass sich durch den Glauben wieder auf Gott richten kann. Der Glauben bzw. die Kirche trage damit als Institution für die Ausrichtung des Begehrens Verantwortung, das leitende Paradigma ist dabei die Heilsökonomie.118 D. Bell verbindet einerseits die Kapitalismen mit einen sündigen Begehren und stellt als Alternative eine ‚theological economics‘ von der Heilsökonomie her vor.119 Unter dem Stichwort Sühne wird die theologische Ökonomie erkennbar: 115 Vgl. Bell 2012, Zitate: 29. 116 Unter Berücksichtigung der gegebenen Alternativen, ist auch im Vergleich zum Sozialismus eine kapitalistische Wirtschaftsordnung die beste Alternative, wenn man nur ökonomische Möglichkeiten in Betracht zieht. Vgl. ebd., 123 f. 117 „Said in theological terms, Christian defenses of capitalism release the tension between the ‚already‘ and ‚not yet‘ that properly characterizes Christian faith. The Christian faith does not rest solely on promises that are not yet fulfilled. Rather, the faith rests as well on promises that already have been fulfilled – such as the coming of the Holy Spirit […]“. Vgl. ebd., 124 f. 118 Das erscheint analog zu Augustinus: Für ihn ist Glaube, Gott zu begehren, Sünde hingegen die Welt (bzw. sich) zu begehren. Vgl. ebd., 145 f. 119 Verkürzt gesagt ist die immanente Trinität die spekulative Entfaltung des Seins Gottes. Die in diesem Kontext wichtige ökonomische Trinität ist die Beschreibung Gottes aufgrund seines Heilswirkens. Sein und Wirken Gottes können auf diese Weise differenziert gedacht werden, bilden aber nur Unterscheidungen und keine Trennung der Einheit. G. Agamben bezieht sich auf die Heilsökonomie, um ein ökonomisches Muster in der Theologie auszumachen: „Christus handelt also wie der Leiter der Exekutive einer gubernatio, deren höchster Gesetzgeber Gott ist. Doch wie die oikonomia keine Spaltung Gottes zur Folge hat, so bedeutet die Macht, die Christus gewährt wird, keine Spaltung der Souveränität Gottes.“ Vgl. Agamben 2010, 44 ff. 57 ff. und Zitat: 319, und zum Folgenden: 94. Der Begriff ‚οἰκονομία‘ (Eph 1,10) wird theologisch genutzt, weil mit ihm verschiedene Relationen und die Unterscheidungen zwischen Sein und Praxis ausgedrückt werden können. Das politische Paradigma des Liberalismus, das Herrschaft und Regierung trennt, und das theologische Paradigma, das zwischen ἀρχή und δύναμις Gottes unterscheidet, sind einander ähnlich. Modern politisch gesagt, herrscht der Souverän, aber er regiert nicht. Für die Trinität ist

4.4 Begehren in ökonomisch-theologischer Perspektive |

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… rightly understood, the cross reveals the gift of Christ as the incarnation of a divine economy that turns the capitalist order on its head. In particular, Anselm discloses how Christ’s work on the cross cannot be correlated with a capitalist economic logic that revolves around scarcity, with its calculi of debt, equity, and death, but instead illuminates a divine economy of charity, an economic order characterized by plenitude and generosity that exceeds the strictures of capitalism as surely as Christ burst the bonds of death.120

Damit führt Gottes Handeln am Kreuz eine Ökonomie im Zeichen der Überfülle und der Gabe ein, die im Kontrast zur modernen ökonomischen Logik steht. Die ‚Sühne‘ am Kreuz richte das Begehren neu aus, sodass Menschen auch ihre ökonomische Praxis zum Wohl des Nächsten ausrichten. In der economy of desire wird das gesamte Begehren durch Glauben an den Sühnetod geheilt, was in der Praxis wiederum problematisch erscheint.121 Mehrere Bezüge auf Augustinus verdeutlichen, dass eine jegliche Gabe in dieser theologischen Ökonomie keine individuelle sein kann, sondern nur die Weitergabe einer zuvor von Gott empfangenen Gabe. Das bedeutet in der Folge, dass materielle Güter mit einem geheilten Begehren nur in ihrer sozialen Funktion erscheinen. Die radikale Folge ist dann, im Rahmen einer imitatio Christi alles zu geben, mit der Begründung, dass man Gott nicht ausgeben kann.122 Zugleich soll keine Utopie gezeichnet werden, weil Produktion, Konsumption, Privateigentum und Gewinnstreben nicht ausgeschlossen werden. Die theologische Ökonomie soll den Ursprung der ökonomischen Paradigmen bzw. exemplarisch der Knappheit in der Sünde aufzeigen. Dies ist eine Realität, die theologisch nicht übersprungen werden kann. Die christliche Ökonomie ist nur fragmentarisch im Zeichen des ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ gegeben und als solche eine Orientierung und Handlungsoption (im Besonderen für Kirchen), aber keine ökonomische Alternative. Um diesen deutlichen Dualismus zu bearbeiten, bezieht sich D. Bell auf Augustinus’ De Civitate Dei:123 Die civitas terrena und die civitas dei sind nicht dualistisch angeordnet, sondern die civitas dei konstitiert sich durch diejenigen, deren Begehren auf Gott gerichtet ist. Die civitas terrena hingegen bilde das abgeirrte menschliche Begehren ab. Beides ist als cordas die Unterscheidung zwischen Sein und οἰκονομία/πρᾶξις. Eine weitere Differenz ist diejenige zwischen auctoritas und potestas. 120 Er grenzt sich von Anselms ‚Cur Deus Homo‘ ab, weil diese Sühnevorstellung in der Logik von Knappheit, Schulden, äquivalentem Austausch und Ausgleich sowie klarer Aufrechnung funktioniert. Vgl. Bell 2012, 148. 121 D. Bell verweist knapp auf M. Luthers Freiheitsschrift, findet dort jedoch keine weiteren Klärungen für das Zugleich von sündigem und gottgefälligem Begehren. 122 Mit diesem geheilten Begehren ist der Mensch ein homo adorans, weil ein irdisches Begehren nicht nötig sei. Vgl. ebd., 159 f. 123 Vgl. ebd., 187 ff.

166 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien pus permixtum nicht separat zu identifizieren.124 Damit votiert der Autor gegen die Praxis einer eigenständigen theologischen Ökonomie, da sich die Kirche nicht separieren solle, sondern in der Welt ihrer (ökonomischen) Mission nachgehen soll. Damit ist das Wirtschaften des homo oeconomicus einerseits akzeptiert und andererseits sollen christliche Akteure diese Praxis verändern und orientiert an einer nicht selbst zu realisierenden theologischen Ökonomie ausüben. Der Dualismus von homo oeconomicus und homo religiosus wird auf institutioneller Ebene bearbeitet: Die Begründungsfigur der Ökonomie des Begehrens argumentiert mit dem individuellen Begehren, woraus sich Folgen auf institutioneller Ebene und der äußerlichen Praxis ergeben sollen. Der Augustinusverweis trägt den Gegensatz der klassisch ökonomischen und der religiösen Logik in das Äußere, ohne dass die Logiken im individuellen Subjekt – naheliegend am Ort des Begehrens – in Beziehung gesetzt werden. Dadurch entsteht ein Schematismus, der von Glaubenden mit geheilten Begehren ausgeht, die dann theoretisch ein ökonomisch verändertes Verhalten zeigen sollten. Andererseits gibt es die ‚homines incurvati in se ipse‘, die entsprechend des homo oeconomicus-Modells agieren. Entsprechend identifiziert D. Bell Praktiken, die als Zeichen des Reiches Gottes oder einer göttlichen Ökonomie gedacht werden können. Diese Praktiken und ‚Werke der Barmherzigkeit‘ gelte es auszubauen, aber zunächst wird durch sie angezeigt, dass eine alternative Ökonomie bereits nahe ist. Große Teile dieser ‚Ökonomie des Begehrens‘ kritisieren die Kapitalismen vom Begehren her. Das ist zugleich auch der Ausgangspunkt für die Utopie, die entwickelt wird, aber in der Übertragung von der Theorie auf die konkrete Praxis undeutlich bleibt. Der Adressat ‚Kirche‘ ist aufgerufen eine alternative Praxis darzustellen, obwohl die ökonomischen Verfahren bei aller Kritik akzeptiert werden. Inwieweit Gewinn, Konkurrenz, Privateigentum mit einem Begehren Gottes anders gebraucht werden, wird nicht erläutert. Ob kapitalistische Wirtschaftsordnungen in einem säkularen Umfeld nicht auch die gerechteste Form des Wirtschaften sein könnte, steht nicht zur Disposition, ergibt sich jedoch aus dem Dualismus. D. Bell setzt grundsätzlich voraus, dass ein ‚geheiltes‘ Begehren die Logik des homo oeconomicus überwinden kann. Das erscheint zunächst als mögliche Argumentation, ist aber klärungsbedürftig und für konkrete Individuen sowie im Grundgedanken sehr schematisch, weil es nur die binäre Option civitas terrena oder civitas Dei für einzelne Individuen zu geben scheint. Trotzdem wird durch den Anschluss an Augustinus über das Begehren ein Zugang zur einer theologischen Ökonomie erarbeitet, der im Besonderen durch die Differenzierung nach 124 Vgl. zur Civitate Dei J. van Oort in Drecoll 2007, 347 ff.

4.5 Exkurs: U. Duchrows Ansatz |

167

‚schon‘ und ‚noch nicht‘ heilsgeschichtlich verortet ist und die Konsequenzen des Glaubens ausführt. Ebenfalls ist der Zusammenhang des Begehrens mit der kreuzestheologischen Veränderung des Ökonomiegedankens eine theologische Argumentationslinie, die als Zentrum einer theologischen Ökonomie tragfähig erscheint.125

4.5 Exkurs: U. Duchrows Ansatz U. Duchrows radikale Kritik an der Marktwirtschaft im Zeichen lutherischer Theologie ist bereits 1986 erschienen und verdeutlicht, dass evangelische Wirtschaftsethik auch außerhalb von interdisziplinären Mustern als gestalterische Aufgabe entworfen werden kann. Dabei ist zunächst der Widerstand gegen neoklassische ökonomische Paradigmen relevant, für den sich U. Duchrow mit M. Luthers ZweiRegimenter-Lehre auseinandersetzt und den Bekenntnisfall (status confessionis) gegen die Eigengesetzlichkeit der Ökonomie durchdenkt.126 Das erfüllt nicht die Kriterien einer theologischen Ökonomie, jedoch drängt der Entwurf auf theologische Kompetenzen in ökonomischen Fragen. Im Zeichen der Nachfolge (im Anschluss an D. Bonhoeffer) ist das theologische Nachdenken über Ökonomie auf die Fragen verwiesen, welche Folgen das Wirken des Heiligen Geistes habe und wie soziale Kontexte gestaltet sein sollten, die sich in Institutionen realisieren.127 Die lutherische Perspektive sowie die durchgehend theologische Argumentation machen diesen Ansatz zu einem wichtigen Beitrag, um die Möglichkeitsbedingungen einer lutherischen theologischen Ökonomie zu erarbeiten. Für diesen Zusammenhang zentral ist die Verbindung der Zwei-Reiche-Lehre mit ökonomischen Fragestellungen und den entsprechenden Folgen für die Annahme einer Eigenlogik der Ökonomie. Die ursprünglichen Argumentationsanliegen, die in der Zwei-Reiche-Lehre später verbunden wurden, systematisiert U. Duchrow folgendermaßen, um sich von dualistischen neulutherischen Interpretationen abzugrenzen, die auf eigengesetzliche Bereiche des Lebens zielen. – Mit Augustinus unterscheidet M. Luther die civitas dei und widerstreitende civitas diaboli.

125 D. Bells monastische geprägte Ausführungen seiner „divive economy“ (Bell 2012, 123 ff.) finden sich ähnlich in Smith 2009. 126 Vgl. Herrmann 2005, 156 ff. Dass auch M. Luther bei ökonomischen Fragen implizit den „casus confessionis stantis et cadentis ecclesiae“ berührt sieht, schreibt Prien 1992, 221 f. 127 Vgl. Herrmann 2005, 157. Duchrow 1986, 59 f.

168 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien –



Zwei komplementäre Regimente Gottes regieren gegen die civitas diaboli. Das geistliche Regiment regiert durch den Geist.128 Das weltliche Regiment hingegen ermögliche auch ohne den Glauben Institutionen zum Guten hin zu gestalten. Die Institutionen der Realisierung der Regimente sind die Stände: ecclesia, politeia und oeconomia. Christen erfüllen in diesen Lebensbezügen die Erfordernisse der Stände freiwillig. Ohne den Glauben wird er im Modus des usus politicus legis erfüllt. Eine Eigengesetzlichkeit gibt es für M. Luther dabei nicht, weil das weltliche Regiment ebenso am Gotteswillen orientiert sei.129

Diese knappe Systematisierung der Unterscheidungen, die M. Luther in verschiedenen Problemkonstellationen nutzt, soll aufzeigen, dass aus einer theologischen Perspektive ein Dualismus von Ökonomie und Theologie bzw. eine ökonomische Autonomie lutherisch nicht vertretbar sei. Auch K. Barth und die Bekennende Kirche beziehen den „Begriff der Königsherrschaft Christi“ auf alle Lebensbereiche.130 U. Duchrow wendet sich gegen die Eigengesetzlichkeit eines ökonomischen Systems und die damit verbundene Marktrationalität, weil es innerhalb dieses Systems – sobald es akzeptiert ist – keine ethische Verantwortung mehr gibt. Dementsprechend ist nur Systemkritik eine ethische Denkmöglichkeit.131 Als alternative Handlungsweisen der Kirche werden folgende Modelle vorgestellt: das großkirchliche Modell (‚Zähmung der Macht‘); das friedenskirchliche Modell (‚Verweigerung und alternative Gemeinde‘) sowie das nachkonstantinische befreiungskirchliche Modell (‚Kritik an der Ideologie zerstörender Machtsysteme und eine ökumenisch bekennende Kirche…‘).132 Die theologischen Ausgangspunkte „Rechtfertigung, Befreiung und Heiligung“133 für diese Kritik setzen gerade nicht bei ethischen Fragen an, sondern gehen von den theologischen Topoi aus. U. Duchrow bringt Rechtfertigung und Befreiung in einen Zusammenhang, der reformatorische Elemente mit befreiungstheologischen Ansätzen in Verbindung 128 Vermittelt durch das Wort wird die Gottes-, Selbst-, und Weltrelation verändert. Vgl. Duchrow 1986, 24 f. 129 „Gottes Gebote werden im Modus des usus theologicus als an das Gewissen gerichtet verstanden und gleichzeitig im Modus des usus politicus legis als konkrete Handlungsanleitung zur Ausgestaltung der sozialen Gemeinschaft.“ Zitat Herrmann 2005, 158. Für das weltliche Regiment wird auf die Vernunft und das Naturrecht Bezug genommen. 130 Hervorhebungen im Original; Duchrow 1986, 33. In Analogie zur Bekennenden Kirche wird der besondere Bekenntnisfall hinsichtlicher der Ökonomie konstruiert. Bezugspunkt ist Barmen II. 131 Vgl. ebd., 182. 132 Vgl. ebd., 196, 199, 202. 133 Vgl. ebd., 227.

4.5 Exkurs: U. Duchrows Ansatz |

169

bringt. Als Herrschafts- und Ortswechsel aus einem verhängnisvollen System ist die Rechtfertigung die Befreiung zum Bekenntnis der eigenen ökonomischen Schuld, der Ideologiekritik und neuen Handlungsorientierungen.134 Zentral ist der Ortswechsel: Kirche kann sich nicht am ‚privilegierten Ort‘ zu einem Herrn bekennen, der nach Mt 25,31–46 bei den ‚Verlierern‘ zu finden ist: Jesus sagt hier nicht mehr und nicht weniger, als daß sich an unserem Verhalten gegenüber den Grundbedürfnissen unserer Mitmenschen nicht etwa unsere Ethik, sondern unser Heil entscheidet.135

Als pecctores in re und iusti in spe ist Heiligung ökonomisch von denen her zu denken, deren Grundbedürfnisse nicht gedeckt werden. Heiligung bedeutet dann nicht eine karitative Reaktion aus einer privilegierten Perspektive, sondern folgende Schritte: Einwirken auf die Verantwortlichen, Verweigerung bei notorischem Unrecht, Öffentliche Kritik, Legitimationsentzug für unverantwortbare Institutionen und (Wert-)Systeme sowie Mithilfe beim Aufbau von Gegenmacht.136 Die Bestreitung der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie erfordere ein intensives Engagement in Wirtschaftsfragen und im Zweifelsfall den status confessionis. Die Frage nach der Feststellung des Bekenntnisfalles in Bezug auf das Weltwirtschaftssystems ist für U. Duchrow identisch mit der Frage nach der eigenen Rechtfertigung, Befreiung und Heiligung.137

Kurzfazit U. Duchrows überarbeitete Aufsätze gehören in den Zusammenhang der ökonomischen Theologie, weil der Ausgangspunkt seiner Überlegungen die Kirche ist und die Folgen seiner Auseinandersetzung mit dem Thema sich auf die Kirche be134 Vgl. Duchrow 1986, 216 f. Dem menschlichen Vermögen nach befinden sich Menschen in der Situation „der ausweglosen Verfallenheit an die Gesetze der Sünde und des Todes“, erst die Rechtfertigung eröffne neue Handlungsräume aus der Perspektive der Reichen bzw. Schuldigen. ebd., 216. 135 Hervorhebungen im Original ebd., 218. Zugespitzt ist eine theologia crucis nur als theologia paupertatis zu vertreten. 136 Aufzählung nach ebd., 220 f. Das biblische Beispiel für eine privilegierte Kirche ist Zachäus. 137 Vgl. ebd., 227. Praxisbeispiele, die für diesen Kontext nicht zentral sind, bietet U. Duchrow anhand von exemplarischen Initiativen. Vgl. dazu auch die Übersichten in Duchrow 1993, 214– 217. „Das Hauptziel muss dabei sein, globale demokratisch-politische Institutionen zu schaffen, die die transnationalen Kapitalmä rkte kontrollieren und in den Dienst eines sozial-ö kologischen Wirtschaftens für das Leben zwingen.“ ebd., 219.

170 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien ziehen. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht Handlungsmodelle, sondern ein Herrschaftswechsel, womit eine Grenzüberschreitung der Ethik angezeigt ist.138 Problematisch an der Frage nach dem status confessionis sind jedoch die Konsequenzen in Bezug auf die Ökonomie. Der Bekenntnisfall beendet in der Regel zunächst den Diskurs und schließt die Ökonomie aus, weil nur binär mit diesem Fall umgegangen werden kann.139 Gerade wenn vom Ort der Theologie ‚Ökonomie‘ konstruiert werden soll, ist die Integration der Ökonomie zentraler Bestandteil, um eine Vermittlung von Ideal- und Realgestalt leisten zu können. Der Kirche als ecclesia permixta wird die Entscheidung für oder gegen den Bekenntnisfall kaum gerecht, da die Komplexität des Zusammenhanges von Ökonomie und Theologie und Gesellschaften reduziert wird.140 Auch hinsichtlich einzelner Menschen scheinen vom simul iustus et peccator her Eindeutigkeiten kaum möglich zu sein. Zugleich ist die Perspektive von der Zwei-Reiche-Lehre ein bereichernder Beitrag für die Konstruktion einer lutherischen Ökonomie und die Verbindung von reformatorischer Theologie mit den Ideen der Befreiungstheologie ein konstruktiver Ausgangspunkt für weitere Entfaltungen des Themas. U. Duchrow verbindet dabei die Zwei-Reiche-Lehre mit der Königsherrschaft Christi, sodass nicht zwei unterscheidbare Sphären (mit einer weltlich autonomen) zugrunde liegen, sondern die universale Herrschaft Christi in beiden Sphären auf unterschiedliche Weise wirksam ist. Dieses Verständnis entschärft einen strengen Dualismus, der auch bei M. Luther kaum nachweisbar ist. Insgesamt kann dieser ältere radikale Ansatz einen Eindruck davon vermitteln, dass einerseits mit lutherischer Theologie ‚ökonomisch‘ argumentiert werden kann. Andererseits warnt das Beispiel vor einer solitären theologischen Perspektive auf ökonomische und ethische Problemlagen.

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge Die dargestellten Zugänge zum Thema Theologie und Ökonomie lassen sich nach den zugrundeliegenden Ansätzen zum Thema systematisieren. Die Zugangswei138 Vgl. Nürnberger 1988, 71 f. 139 Auch wenn U. Duchrow das Prozesshafte bis zu diesem Fall betont. Danach ist jedoch zugleich der ethische Diskurs und die sachliche Auseinandersetzung mit der Ökonomie beendet. Vgl. Steinjan 1988, 309 f. Damit würde Theologie nur unkonkrete ökonomische Utopien produzieren. 140 Kritik an der Dependenztheorie und der Simplifizierungen stellt K. Nürnberger dar. Vgl. Nürnberger 1988, 71 ff. Die Perspektive auf die Entwicklungspolitik kritisiert Steinjan 1988, 309 f. Vgl. auch Diefenbacher 1989, 148 f.

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 171

sen bieten ein Spektrum an Dimensionen für eine theologische Ökonomie und werfen zugleich die Frage nach Möglichkeitsbedingungen einer christlichen Ökonomie neben wirtschaftsethischen Zugängen auf. C. Frey kritisiert einen Analogieschluss von einer göttlichen Ökonomie der Fülle oder biblischen Aussagen auf die menschliche Ökonomie unter dem Vorzeichen eines ethischen Voluntarismus als „biblizistischen Linksprotestantismus“. „Solch groteske Aussagen“ hätten systemkonformes Verhalten zur Folge, sobald praktische Knappheit dies erfordere. Es kann nicht um Regeln für die moderne Ökonomie gehen, sondern um die Einbettung der Ökonomie in Gesellschaften, weil auf diese Weise der Diskurs um Ziele und Grenzen aus der biblischen Perspektive bereichert werden kann.141 Ethische Fragen beziehen sich damit auf die Rahmenbedingungen, da in der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft die Religion ihren Platz in einem Teilsystem hat und die Steuerung der Handlungsintention konkreter Akteure in diesen Systemen kaum mehr möglich sei: Lebensweltlich findet Handlungskoordination durch die Koinzidenz von Handlungsorientierungen auf der Grundlage normativer kultureller Übereinkunft statt, während in systemischen Zusammenhängen Handlungskoordination ‚über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen‘ geschieht.142

Die politischen Rahmenstrukturen sind in einer globalen Marktwirtschaft auf nationaler Ebene kaum kontrollierbar. Zur Disposition steht mit den exemplarischen Entwürfen, ob es valide christliche Alternativen zu wirtschaftsethischen Verbindungen von Theologie und Ökonomie geben kann oder ob die Verbindung von Theologie und Ökonomie allein über die Wirkung auf Rahmenbedingungen aus ethischen Perspektiven möglich ist. Damit ist die ‚Testfrage‘ nach dem Beitrag einer christlich-ökonomischen Feldlogik wieder aufgerufen. Es kann mit theologischen Ökonomien keine Aufhebung der ökonomischen und theologischen Perspektiven in einer christlichen Ökonomie intendiert sein, sondern eine Korrelation, die die Möglichkeit einer christlichen ökonomischen Perspektive beinhaltet, die ebenfalls neben einer ökonomischen Logik wirksam sein könnte. J. Gerlach votiert für eigenständige Methodiken im Rahmen der jeweiligen Wirklichkeitsverständnisse, die auf der Metaebene des ethischen Urteilsprozesses miteinander 141 Die Kritik regiert auf D. Meeks, dessen Ansichten der Wirtschaftsethik nicht angemessen seien. Zudem beziehen sich die Gebote als „partikulares Ethos“ nur auf Volksgenossen und sind nicht global zu verstehen. Vgl. Frey 2006, 188 und Zitate: 183 f. sowie 185. 142 Vgl. Laux 2006, 198 f. B. Laux plädiert im Rahmen einer Strukturethik für eine kritische Begleitung von der Perspektive der Opfer her.

172 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien in Verbindung treten sollen. Der empirische Gehalt der ökonomischen Methoden lasse sich mit „der christlichen Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen“ in Verbindung bringen.143 Der Gegenbegriff, wenn Ökonomie und Fehlbarkeit in Verbindung gebracht werden, ist (lutherisch) Rechtfertigung. Was von Seiten der Theologie unterhalb des Rahmenkonzeptes in diese Korrelation eingebracht werden soll, bleibt zumindest in einer deutlich lutherischen Prägung unbestimmt. Der naheliegendste Grund für diese häufige Leerstelle dürfte sein, dass das Christentum in seiner Frühzeit – anders als der Islam – weder ein eigenes Recht noch eine eigene Ökonomie ausgebildet hat, sondern sich an der jeweiligen Umwelt orientiert.144 Eine christliche Wirtschaft, die auf Realisierung dringen würde, scheint auch zu verpassen, dass Systemveränderungen kaum mehr zur Disposition stehen. Es bleibt jedoch die Aufgabe, christliche Individuen in ökonomischen Handlungen zu orientieren und auch als Kirche in der ökonomischen Dimension ein Zeichen des Evangeliums zu sein. Ob über die Kritik und den Diskurs über die Rahmenbedingungen hinaus die theologischen Ressourcen der skizzierten Entwürfe hilfreich sein können, soll die folgende Systematisierung und die Ansätze zu einer lutherischen theologischen Ökonomie erweisen.145

Theologische Motive und ökonomische Zugänge Die Gruppierung der ausgewählten Monographien zeigt bereits eine erste Systematisierung an. Neben D. Meeks und K. Tanner finden sich Zugänge, die einen 143 Vgl. Gerlach 2002b, 223. J. Gerlach spricht von einer kritischen Rezeption ökonomischer Modelle, wodurch wiederum das ethische Rahmenkonzept trotz der Korrelation ein Primat beansprucht und Ökonomie auf ihre Funktionalität reduziert wird. (Die „theologische Wirtschaftsethik [… kann] als kritische Rahmentheorie in dieser Korrelation gelten“ [Hervorheb. i. Orig.]) Vgl. Gerlach 2002a, 279 ff. Zitat: 281. U. Herrmann versucht in ihrer Systematisierung wirtschaftsethischer Ansätze von der Denkschrift ‚Gemeinwohl und Eigennutz‘ (1991) her, die Möglichkeiten einer integrierten Evangelischen Soziallehre auszuloten. Dabei ginge es um die Methodik der Wissenserarbeitung, um Orientierungswissen aus einer evangelischen Perspektive zu Gehör zu bringen. Vgl. Herrmann 2005, 89. 144 Vgl. Koch 2014b, 24. Das Idealbild der lukanischen Urgemeinde zeigt eine innergemeindliche Solidarität und keine Tendenz der Veränderung der Wirtschaftsordnung. B. Laux identifiziert das Prinzip: „Armenhilfe statt struktureller Veränderungen zur Armutsvermeidung“. Vgl. Laux 2006, 193 f. Auch das Abendmahl ist nach der Trennung von (häuslichen) Sättigungsmahl und Herrenmahl (I Kor 11,17–34) kaum mehr eine soziale Umverteilung in der Gemeinde. Vgl. Ebel 2004, 175. 145 Diese Systematisierung der zentralen Motive liegt quer zu Systematisierung der wirtschaftsethischen Entwürfe, weil an dieser Stelle nur die theologischen Motive relevant sind und nicht der gesamte Ansatz. Vgl. Herrmann 2005.

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 173

biblischen Ausgangspunkt haben und Ansätze, die im Schnittfeld des theologischen und ökonomischen Begehrens argumentieren sowie die Idee vom Bekenntnis her das Verhältnis von Ökonomie und Theologie zu prüfen. Vergleichbar werden sollen die verschiedenen Entwürfe hinsichtlich ihrer theologischen Ressourcen, aus denen sie argumentieren, weil sich an diesem Punkt auch das mögliche ökonomische Alternativmodell am deutlichsten zeigt. Anhand dessen ist besonders der hauptsächliche Differenzpunkt zu den Grundsätzen der Ökonomie erkennbar. Damit ist einerseits auch das Verhältnis zur Ökonomie relevant, in Abgrenzung oder Analogie zur wirtschaftsethischen Zuordnung und andererseits die Funktion (bzw. die ökonomische Zielrichtung der theologischen Grundidee) sowie Realisierungspotentiale dieser theologischökonomischen Konzepte. Für die zuletzt genannten Punkte sind die intendierten Adressaten bzw. Akteure der ökonomischen Veränderungen von Interesse und gegebenenfalls methodische Hinweise ergänzen die Übersicht. Damit ergibt sich ein Vergleichsschema mit den folgenden Punkten:146 – Theologische Grundideen – Ökonomische Alternative – Differenz zu ökonomischen Grundsätzen – Verhältnis von Theologie und Ökonomie – Funktion / Ziel – Intendierte Akteure – Realisierung – Methodische Hinweise D. Meeks D. Meeks theologische Grundidee geht von Gott als trinitarischer Gemeinschaft aus, der als οἰκονόμος über alle irdischen Haushalte herrscht und dessen Herrschaft eine von ökonomischer Herrschaft befreiende Macht ist. Das zentrale Kriterium ist die livlyhood statt des Profits aus der Perspektive der ökonomisch Benachteiligten. Notwendig ist dafür eine distributive Gerechtigkeit, die über gemeinschaftlich zugeeignete Güter den Zugang zum Lebensnotwendigen ermöglicht und auf diese Weise sollen soziale Güter keine Herrschaft mehr über konstruierte und produzierte Knappheiten erzeugen. 146 Systematisierungen und Schematisierungen reduzieren notwendig die Komplexität und den Detailgrad der Konzepte. Der Gewinn einer solchen groben Einordnung liegt in der vergleichenden Übersicht, wodurch ökonomische Konsequenzen spezifischer theologischer Argumentationen erkennbar werden.

174 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien Als Funktion und Ziel dieses Ansatzes kann die Schwächung der ökonomischen Machtstruktur gelten und die equality im Bereich der ‚needs‘. Die ‚wants‘ drücken sich in ungleichen Besitzständen aus, die jedoch keine akute Machstellung mehr implizieren. Produktiv und wirksam erscheint bei D. Meeks bereits die Veränderung des Gottesbildes und die Transformation der Perspektive auf die Ökonomie. Die Metapher ‚Gott als Ökonom‘ soll bereits Auswirkungen auf den Hauptakteur ‚Kirche‘ haben. Für die Handlungsmotivation der Kirche gilt das Primat der Theologie, damit sie zum Zeichen einer alternativen ökonomischen Praxis werden kann. D. Meeks God the Economist Theologische Grundideen Trinitarische Gemeinschaft, Gottes Herrschaft als Befreiung von ökonomischer Herrschaft Ökonomische Alternative Gerechte Distribution der Fülle an Lebensnotwendigem Differenz zu ökonomischen Axiomen Knappheit, Individualismus Verhältnis von Theologie und Ökonomie Primat der Theologie (Gott als Ökonom eines globalen Haushaltes) Funktion / Ziel Schwächung ökonomischer Machtstrukturen, equality Akteure ‚Kirche‘ als Vorbild Realisierung Transformative Approach, wirksame Veränderung des Gottesbildes Methodische Hinweise Rückgriff auf einen antiken Ökonomiebegriff Der Ertrag dieses Ansatzes für die nachfolgenden Überlegungen ist zum einen die Problematisierung der ökonomischen Herrschaft in Verbindung mit dem Knappheitsparadigma. Zum anderen ist der transformative Anspruch ein Ausgangspunkt der inhaltlich weiter gefüllt werden kann. Die Verbindung von Theologie und Ökonomie am dritten Ort des antiken Ökonomiebegriffes ist ein methodischer Kunstgriff, der nicht notwendig auf ein problematisches Primat der Theologie hinauslaufen müsste. K. Tanner K. Tanners christliche Vision von Ökonomie im Zeichen der Gabe versteht sich explizit als theologische Ökonomie. Als solche soll Theologie als Ökonomie entdeckt werden. Methodisch funktionieren diese theologischen Argumentationen als Korrektiv und soziokultureller Kommentar zur Ökonomie. Ein Primat der Theologie ist auch hier impliziert. K. Tanner arbeitet mit einem strukturellen Ansatz im Anschluss an P. Bourdieus Feldtheorie. Eine alternative Feldlogik der Gnade, von der her eine göttliche Distributionslogik imitiert wird, erscheint aus der theologischen Perspektive als denkbare Option, sodass nicht individuelle Akteure ge-

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 175

gen eine ökonomische Systemlogik handeln müssen. Die göttliche Gabe wird verstanden als nahezu reine Gabe, bei der es nicht auf die Geber, Empfänger oder die Verbindung beider ankommt, sondern auf das zu stillendende Bedürfnis. Diese bedingungslosen Gaben werden – in einem Imaginationsraum für ökonomische Alternativen – auf die sozialen Strukturen gelegt.147 Damit könnten Machtund Statusunterschiede eliminiert werden und eine nichtkompetitive Distribution realisiert werden. In der praktischen Dimension verweist K. Tanner auf öffentliche Güter, deren Distributionslogik das Schema von Knappheit und Überfluss transzendiert und sich ein ökonomisches Beispiel für eine nichtkompetitive Verteilung zeigt.148 Für die Korrektivfunktion der theologischen Ökonomie und die Dimension der Realisierung werden ökonomische Anschlusspunkte (points of relevant intersection and intervention) identifiziert: Wenn Kapitalismen sozial konstruierte Phänomene sind, dann sind sie auch unter einer globalen Gerechtigkeitsperspektive politisch veränderbar. Im Fokus steht eine universale Gemeinschaft, für die ein ökonomisches Gleichgewicht hergestellt werden soll. Die hauptsächlichen Akteure für Veränderungen sind daher politische Entscheidungsträger. Tanner Economy of Grace Theologische Grundideen Gabe aus einer theologischen Perspektive Ökonomische Alternative Nichtkompetitive Felder der Gnade Differenz zu ökonomischen Axiomen Knappheit, Wettbewerbslogik Verhältnis von Theologie und Ökonomie Korrektivfunktion und Überordnung der Theologie; zugleich ist die Geltung der theologischen Ökonomie auf politische Durchsetzung angewiesen Funktion / Ziel Etablierung einer Feldlogik der Gabe, Anwendung der Logik öffentlicher Güter Akteure (Globale) politische Akteure Realisierung Durch ökonomische Anschlussstellen alternative Visionen einbringen Methodische Hinweise Die Differenz von Gabe und Tausch ist zentral für die theological economy Der Ertrag dieser dezidiert theologischen Ökonomie für die nachfolgenden Überlegungen besteht einerseits maßgeblich im Verständnis des Verhältnisses von Theologie und Ökonomie. Wenn Theologie als Ökonomie betrieben wird, so sind 147 Gegen eine permanente Zirkulation von Gaben votiert K. Tanner für die Verausgabung und Konsumption der Gaben. 148 Vgl. zur Differenz von öffentlichen Gütern und den common goods, Barrera 2014, 541.

176 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien zunächst die theologischen Visionen als Korrektive und Kommentare zur gesellschaftlichen Realität Beiträge, die ökonomische Diskurse produktiv irritieren können. Der Ausgangspunkt des theologischen Gabebegriffes erscheint philosophisch anschlussfähig und kann zugleich zentrale systematisch-theologische Beiträge einbringen. Die Ausweitung auf die strukturelle Ebene über P. Bourdieus Feldbegriff schließt den Entwurf an soziologische Fragestellungen an. Biblische Ökonomien R. Horsleys Bundesökonomie zielt von der Idee der Bundesgemeinschaft her auf ökonomische Grundrechte und kooperative Handlungsintentionen. Das Bundesrecht dient der Begrenzung individueller Eigeninteressen und soll auf diese Weise die ökonomische Freiheit sichern. Das Ziel sind Kooperationen und reziproke Austauschverhältnisse, die durch die sozialen Regelungen geordnet werden. Dafür ist sowohl bei F. Segbers als auch bei R. Horsley die Übertragung der alttestamentlichen Sozialgesetzgebung in die Gegenwart notwendig. So wird Gott als Eigentümer des Landes mit gemeinschaftlichen Gütern parallelisiert, um moderne Analogien herzustellen. Weitreichender als die Orientierung an den alttestamentlichen Regulationen ist die Metapher des Bundes selbst. Im neutestamentlichen Teil wird anhand der paulinischen Mission deutlich, wie sich die Deutung als Bundesgemeinschaft auswirken kann. Anders als in den alttestamentlichen Beispielen realisiert sich die Bundesgerechtigkeit nicht mehr in dörflichen Gemeinschaften ohne soziale Stratifikation, sondern in den Städten wird ein neuer sozialer Leib etabliert, der durch die Minderung ökonomischer Risiken und die Relativierung sozialer Unterschiede einen gewissen Grad von Freiheit und Sicherheit zugleich realisiert.149 Einen vergleichbaren sozialen Körper, der die Ideale der Bundesgemeinschaft in gesellschaftliche Diskurse einträgt, sieht R. Horsley auch in ökumenischen Glaubensgemeinschaften. Das Verständnis der eigenen ökonomischen Situation vom Bundesgedanken her, soll prophetische Kritik und alternative Handlungen ermöglichen. R. Horsley Covenant Economics Theologische Grundideen Bundesgestaltung als Begrenzung des Eigeninteresses Ökonomische Alternative Begrenzung von Machtasymmetrien und Ungerechtigkeit Differenz zu ökonom. Axiomen Bundesgemeinschaften anstelle individueller Eigeninteressen 149 Im Gegenüber von politischer Machtstruktur und autonomen Gemeinschaften standen sich in R. Horsleys erstem Teil noch Freiheit und Sicherheit gegenüber.

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 177

Verhältnis von Theologie und Ökonomie Theologie als Korrektiv Funktion / Ziel Darstellung ökonomischer Bundesgerechtigkeit, prophetische / kritische Funktion Akteure Glaubensgemeinschaften, Ökumene als sozialer Bundesleib Realisierung Etablierung der Bundesökonomie in aktuelle gesellschaftliche Ordnungen Methodische Hinweise Die deuteronomistische Bundestheologie dient als Begründungsfigur für ökonomische Rechte Der Ertrag für die folgenden Überlegungen besteht insbesondere in der Bundesmetapher, die als Deutungsschema selbst Auswirkungen auf das Verständnis ökonomischer Situationen haben kann. Die Dimension eines sozialen Verbandes als Bundesgemeinschaft kann Handlungsperspektiven eröffnen, die sich an der Bundesgestaltung orientieren. Während die Deutungsperspektive produktiv erscheint, bleibt die Konkretisierung im Anschluss an die deuteronomistischen Konzeptionen im Restriktionsmodell. Bei einer Differenzierung der Bundestheologien ist der Zusammenhang von Sozialgesetzgebung und Erwählung aus einer lutherischen Perspektive zu problematisieren. In der vorliegenden Form bietet R. Horsleys Bundesökonomie jedoch bereits eine Integration der alttestamentlichen Normen in ein Bundesschema, das neutestamentlich ausgeweitet wird. Erkennbar und ertragreich ist, dass anhand eines biblischen Motivs ökonomisch alternative Verständnisse produziert werden können, die als Orientierungshilfe dienen. Begehren Die Unterscheidung von consumerism und consumption problematisiert Arten des Konsums, denen das unbegrenzte Begehren zugrunde liegt. A. Yuengert zeichnet diesen Konsum in das abirrende Begehren des postlapsarischen Menschen ein und verweist auf die individuellen Präferenzen als Ort, an dem ein alternatives Ethos für den Konsum und ein christliches Begehren entstehen kann. W. Cavanaugh argumentiert schließlich direkt im Rahmen einer theologischen Mikroökonomie, die nach dem Telos des Begehrens fragt. Da materielle Dinge keinen Endzweckcharakter hätten, brauche es ein Ziel außerhalb des consumerism. Das Paradigma der Eucharistie nimmt dabei ein Sakrament auf und setzt es in Beziehung zur Ökonomie. Das Begehren bzw. die Präferenzen der zentralen Akteure ‚Kirche und Gemeinden‘ soll verändert und auf das Immaterielle ausgerichtet werden. Durch die Inklusion in den Leib Christi werden Handlungen auf den Nächsten bzw. die Weitergabe hin orientiert. Inwieweit die Veränderung

178 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien des Begehrens bzw. die alternative story in ökonomischen Kontexten realisierten werden kann, hängt entweder an einer starken Betonung der sakramentalen Veränderung oder wiederum an den individuellen Handlungen im Kontrast zur ökonomischen Logik. Anders als bei W. Cavanaugh sind es bei D. Bell die Kontexte und Überzeugungen, die das Begehren formen können. Auch hier ist das Ziel ein geheiltes Begehren, das durch die Partizipation in einer göttlichen Ökonomie verändert wird. Eine theologische Ökonomie kann dabei nicht ‚konstruiert‘ werden, weil sie mit dem Reich Gottes identisch ist. Das heißt zugleich, dass die theologischen Bestimmungen für das Reich Gottes mutatis mutandis anzuwenden sind. Damit steht die irdische Durchsetzung einer theologischen Ökonomie grundsätzlich unter einem eschatologischen Vorbehalt und zugleich ist die göttliche Ökonomie bereits zeichenhaft nahegekommen. D. Bell argumentiert schließlich gegen eine konkrete ökonomische Alternative und für die Orientierung an der göttlichen Ökonomie, die an der Stelle des ‚Begehrens‘ entfaltet wird. Kirchliche Gemeinschaften tragen dann Verantwortung für die Prägung des Begehrens im Geiste Christi. Weiterhin sind sie der Ort, um zeichenhaft die ökonomische Dimension des Reiches Gottes darzustellen. Das Verhältnis zur Ökonomie ist geprägt von der Wertschätzung ökonomischer Einsichten, die theologisch nicht zu ersetzen sind. Dennoch ist ein Subordinationverhältnis je nach ökonomischem Selbstverständnis inhaltlich zu füllen. Die theologischen Beiträge können sich auf die Ziele beziehen, die grundlegenden Werte oder alternative normative Visionen erarbeiten. W. Cavanaugh Beeing Consumed Theologische Grundideen Eucharistie, (Begehren im Anschluss an Augustinus) Ökonomische Alternative Verändertes Begehren Differenz zu ökonomischen Axiomen Unendliches Begehren, Konkurrenz, Knappheit Verhältnis von Theologie und Ökonomie Konkurrierende stories Funktion / Ziel Zeichen der eucharistischen story über die Welt werden Akteure Kirchen und Gemeinden Realisierung Durch Inklusion in den Leib Christi150 Methodische Hinweise Dezidierte theologische Mikroökonomie D. Bells Economy of Desire Theologische Grundideen Theologische Ökonomie wird identifiziert mit dem Reich Gottes, Ausrichtung des Begehrens auf Gott 150 Die Wandlung der Konsumenten beim Abendmahl hat eine lutherische Dimension.

4.6 Ertrag der exemplarischen Zugänge | 179

Ökonomische Alternative Keine ökonomische, sondern Reich Gottes als theologische Alternative Differenz zu ökonomischen Axiomen Verhältnis von Theologie und Ökonomie Subordination der Ökonomie Funktion / Ziel Zeichen des ökonomisch schon anbrechenden Gottesreiches Akteure Kirchen Realisierung Durch Partizipation in einer göttlichen Ökonomie Methodische Hinweise Unmöglichkeit der (menschl.) Konstruktion einer theol. Ökonomie Für den Ertrag dieser Perspektiven ist bei W. Cavanaugh die mikroökonomische Dimension zentral, die mit einer Wandlung der Konsumenten durch das Abendmahl gedacht werden kann. Die Idee der ‚zwei stories‘ über die Welt schließt diesen Ansatz an die pluralen Narrative innerhalb der Ökonomie an. D. Bell hingegen nimmt eine Identifikation von theologischer Ökonomie und der ökonomischen Dimension des Reiches Gottes vor. Dadurch ist sie einerseits präsent und zugleich entzogen. Die Unterscheidung nach ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ bewahrt theologische Ökonomien vor der irdischen Realisierung durch Menschen, wodurch Kapitalismen wiederum mit einer alternativen Ideologie als Selbstzweck ersetzt würden. Das entzieht kirchlichen Akteuren jedoch nicht die Verantwortung, über Kontexte und Überzeugungen das Begehren christlich zu Formen und selbst als Zeichen – über ein spezifisches Gabeverständnis – auf die ökonomische Dimension des Reiches Gottes zu hinweisen. *** U. Duchrows Argumentation mithilfe der Zwei-Reiche-Lehre bietet einen klaren reformatorischen Bezugsrahmen. Rechtfertigung, Befreiung und Heiligung in einer ökonomischen Perspektive zu bearbeiten, fragt nach den ökonomischen Konsequenzen der Theologie. Bei U. Duchrow läuft das auf einen Sonderfall, den status confessionis, zu. Daneben ist es wohl bereichernder, theologische Ökonomien als Diskursbeitrag zu verstehen, die ökonomischen Erkenntnisse wertschätzen und in einen theologischen Kontext integrieren kann. Eine schlüssige Integration der verschieden Logiken,151 die deutlich lutherisch geprägt ist und eine reflektierte praktische Dimension zeigt, kann aus den 151 Den Kontrast stellt T. Jähnichen im Anschluss an P. Ricœur folgendermaßen dar: „[Die christliche Religion ist] in ihren Kernbereichen anti-ökonomisch, da die Heilsökonomie Gottes jeder auf Knappheit basierenden Ökonomie widerstreitet. Diese Heilsökonomie kann als eine ‚Ökonomie der Gabe‘ charakterisiert werden, deren ‚Logik der Überfülle‘ der utilitaristisch geprägten, be-

180 | 4 Exemplarische theologische Ökonomien genannten Ansätzen bisher nicht konstruiert werden. Dafür ist die konfessionelle Prägung auszubauen und eine verbindende Deutung beider Bereiche darzulegen. Zugleich ist in Abgrenzung zur Wirtschaftsethik aufzuzeigen, worin der Mehrwert einer lutherischen theologischen Ökonomie besteht, deren Ziel nicht die unmittelbare Anwendung ethischer Maximen ist.

rechnenden ‚Entsprechungslogik der Alltagsethik‘, wie sie speziell die Ökonomie repräsentiert, ‚völlig entgegengesetzt ist‘.“ Jähnichen 2015, 393 f. Vgl. auch Ricœur 1990, 49.

5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Die Konstruktion einer theologischen Ökonomie muss sich einerseits von der theologischen Ethik unterscheiden und sich andererseits vom Forschungsfeld der Religionsökonomie abgrenzen, weil dort Religionen i. d. R. mit ökonomischen Methoden untersucht werden und sich ein zentrales Problem vieler religionsökonomischen Verfahren zeigt: Die ökonomischen Methoden setzen Motivationen und Handlungsziele in einer Form des Utilitarismus voraus. Andere Entscheidungslogiken kommen dabei gar nicht erst in den Blick. If one takes religious belief seriously, therefore, as the basis on which people really do make choices, then the standard model must be seriously incomplete, or indeed misleading, as a description of their behaviour in many, perhaps in all, important contexts.1

A. Britton vergleicht den homo oeconomicus sowie den homo religiosus als deskriptive Instrumente. Zur Disposition steht bei diesem Vergleich, ob die ökonomischen Theorien um eine religiöse Komponente erweitert werden können, sich die ‚Ökonomieanschauungen‘ gegenseitig ausschließen oder noch ein dritter Zusammenhang denkbar wäre. Er stellt dabei fest, dass es noch keine Brücke zwischen dem homo oeconomicus und dem homo religiosus gibt, sondern nur Anknüpfungspunkte in einem problematischen Verhältnis. A. Britton argumentiert, die Ökonomie ist in ein religiöses ‚Meta-Narrativ‘ einzubinden, im Sinne einer story, die verschiedene stories im Rahmen einer Weltanschauung lokalisiert. Dabei gibt es keine objektiven und allgemeingültigen Metanarration – im Anschluss an postmoderne Konzeptionen – jedoch ist für das jeweilige Subjekt eine solche Metanarration als Möglichkeit zu erarbeiten, um den Zusammenhang von Theologie und Ökonomie darzustellen. Dann geht es nicht mehr darum, Elemente des homo religiosus in ökonomische Theorien zu integrieren, sondern eine theologische Perspektive auf Ökonomie zu entwickeln, die selbige anerkennt und die Ergebnisse theologisch einbindet und deutet.2 Diese Bewegung von der Theologie aus muss nicht zwangsläufig auf ein Primat der Theologie hinauslaufen, sondern kann analog zu systematisch-theologischen Rechtfertigungsstrukturen einen Dualismus verbinden. Diese Rechtfertigungsstrukuren sind dann deutlich lutherisch und konfessionell geprägt. Eine 1 Vgl. Britton 2003, 27. 2 Für den Vergleich sind u. a. folgende Punkte ausschlaggebend: Rational Choice, Individualismus, Knappheit. Vgl. ebd., 28 und 35. A. Brittons Buch stellt homo oeconomicus und homo religiosus aus der Perspektive eines Ökonomen und eines Theologen gegeneinander. Vgl. Britton und Sedgwick 2003. https://doi.org/10.1515/9783110747935-005

182 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive theologische Ökonomie steht dann im Kontext heterodoxer Ökonomien und würde sich neben naturalistischen, marxistischen oder feministischen Ökonomien positionieren.3 Ein möglicher Anschlusspunkt an ökonomische Theorien ergibt sich im Bereich der behavioral economics: Eine Spielart dieser ökonomischen Richtung beschäftigt sich mit Identitäten und den entsprechenden ökonomischen Auswirkungen. Der Zusammenhang von Religion und dadurch geprägte Präferenzen und Motivationen könnte über Identitätsdiskurse verbunden werden bzw. sich auf das Konzept der identity economics beziehen.4 Identity economics kann sowohl die Kosten der Erhaltung von Gruppenwerten und Identität bezeichnen, als auch veränderte ökonomische Handlungsmuster anzeigen. Durch den Einbezug der Identität wird die ökonomische Perspektive auf das Individuum durch soziale Kontexte und die Situationen bereichert. Damit sind Präferenzen nicht mehr individuelle Charakteristiken, sondern sozial geprägt und von der Identität her bestimmt.5 Weiterführend ist die Idee, das individuelle Verhalten von der je konstruierten Identität zu verstehen. Damit entsteht die Frage, welche religiöse Identität zu welchem ökonomischen Verhalten tendiert. G. Akerlof und R. Kranton erläutern: „agents follow prescriptions, for the most part, to maintain their self-concepts“. Damit grenzt sich der Mensch von Normen ab, deren Nichteinhaltung zu Nachteilen führt.6 Neben vielen Beispielen, die für diese Arbeit nicht instruktiv sind, führt G. Akerlof das ‚alumni giving‘ auf, das sich nicht allein dadurch erklären lässt, dass Spenden den Ruf der alma mater verbessern und in der Folge das Ansehen des eigenen Abschlusses. Loyalität und Identifikation sind Handlungsmotivationen, die klassisch ökonomisch schwer greifbar sind.7 ‚Prescriptions‘ bedeuten in der Folge Bilder und Ideale, die – u. a. durch Werbung (z. B. der Marlboro Mann) – veränderlich sind und gerade nicht im Restriktionsschema funktionieren. Analog kann man auch politische Identitäten deuten. Der Nutzen ökonomischer Handlungen ist in dieser Perspektive abhängig von der jeweiligen Identität und gebildet durch internalisierte prescriptions. Der homo oe3 Vgl. mit Bezug auf postmoderne Theorien Tiemstra 2009, 20 und 26. Die ökonomischen Standardlehrbücher wissen dabei um ihre methodischen ‚blinden Flecken‘: z. B. bei der Frage, warum jemand auf Reisen in einem Restaurant Trinkgeld gibt, obwohl er nie wieder dieses Restaurant besucht. Damit gilt es diese Perspektive zu würdigen und theologisch fruchtbar zu machen. 4 J. Tan deutet ein gesetzliche Schema an, das lutherisch wenig treffend ist. Vgl. Tan 2014, 512. 5 Vgl. Akerlof und Kranton 2010, 7 f. und 10. In der Regel wird ‚Identität‘ in die utilitaristische Funktion – und damit in das ökonomische Modell – eingebunden. Akerlof und Kranton 2000, 715 und 720. Theologisch ist Identität auch außerhalb von Nützlichkeitserwägungen relevant. 6 Vgl. ebd., Zitat: 716, Fn. 2 und für die folgenden Beispiele: 722 und 726 f. 7 Vgl. dazu auch: Akerlof und Kranton 2010, 122.

5.1 Theologische und ökonomische Deutungen: Exkurs Marriage Wars |

183

conomicus ist in diesem Modell nur eine mögliche Identität.8 Damit entsteht die Frage, wie die religiöse Identität des homo religiosus in ökonomischen Situationen wirken könnte.9 Die Autoren weisen in diesem Zusammenhang auf religiöse Stifterfiguren hin, die als Ideal Handlungsmuster vorschlagen. Als Grundsatz gilt: ‚Identity affects individual behavior directly‘.10 Erweitert hieße das: Eine religiöse Identität müsste ökonomisches Verhalten direkt beeinflussen, wobei die religiöse Identität eine ökonomische Dimension haben müsste, die aus ihrem religiösen Glauben abzuleiten sei. Diese Dimension kann inhaltlich von einer Wirtschaftsethik gefüllt werden oder von einer theologischen Ökonomie als „a rebellion of the mind“ konstruiert werden.11 Einen Identitätswechsel als Situationswechsel, z. B. mit der Taufe, nehmen auch G. Akerlof und R. Kranton an12 und setzten voraus, dass damit auch die ökonomischen Handlungsmuster verändert werden. Zu den offenen Fragen dieses Ansatzes gehört dann die Suche nach dem Ausgangspunkt und den Veränderungen von Identitäten. Theologisch müsste das Konzept der Identität nochmals differenziert werden, weil der homo religiosus wie auch die Kirche ein corpus permixtum ist. Das bedeutet, dass eine religiöse Identität selbst nicht einheitlich ist, sondern den Menschen wiederum als eine Verbindung von Real- und Idealgestalt deutet.13 Ein instruktiver Ansatz in dieser Richtung wurde unter dem Stichwort ‚Marriage Wars‘ erarbeitet und kann als Ausgangspunkt dienen.

5.1 Theologische und ökonomische Deutungen: Exkurs Marriage Wars G. Menzies und D. Hay versuchen sich an einem alternativen Verständnis von (ökonomischer) Identität unter den Vorzeichen von ‚Creation and Redemption‘ 8 G. Akerlof und R. Kranton gehen von pluralen Identitäten aus, die Effekte auf ökonomisches Verhalten haben, u. a. weil sie Präferenzen formen, die abhängig von der jeweiligen Identität sind. Vgl. Akerlof und Kranton 2010, 13 f. und Akerlof und Kranton 2000, 731 und 748. 9 Im Zeichen der Gabe ist zu genauer zu fragen, ob es eine theologische Identität gibt, bei welcher der Nutzen der Handlungen aus dieser Identität nicht einmal dem Selbsterhalt der Identität dient und diese Identität damit gänzlich aus dem homo oeconomicus-Paradigma fiele. 10 Vgl. Akerlof und Kranton 2010, 121. 11 A. Bendenbender bezieht sich auf das Markusevangelium, dass nicht auf die praktische Umsetzung von Maximen zielt. Vgl. Bedenbender 2013, 98, Fn. 80. 12 Die Autoren unterscheiden nach Identitätswechsel mit geringster Frequenz (z. B. Geschlecht), geringer Frequenz (Taufe, Hochzeit, Renterstatus) und reguläre Wechsel (Angestellte – Mutter). Vgl. Akerlof und Kranton 2010, 126. 13 Einen Vergleich von homo oeconomicus und christlicher Identität – allerdings dualistisch – findet sich in Menzies 2008, 95 ff.

184 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive bzw. natürlicher und spiritueller Person.14 Neutestamentlich zeige sich ein Mix aus beiden Naturen, während die erste den status corruptionis anzeigt und mit dem homo oeconomicus beschrieben werden kann, ist die spirituelle hingegen über die Agape und Nächstenliebe zu charakterisieren. Christen sind in dieser Hinsicht ‚work in progress‘.15 Diese Dichotomie der menschlichen Natur setzen die Autoren als bleibend voraus und versuchen die Ehe in diesem Schema zu deuten. Am Beispiel der Ehe sind theologische und ökonomische Deutungen formuliert, die jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die Ehe zeigen: G. Menzies und D. Hay beziehen sich auf G. S. Beckers ökonomische Analyse von Ehe und Fruchtbarkeit16 und stellen zwei exemplarische ‚Visionen‘ gegenüber. In der ökonomischen Deutung basiert die Ehe auf einem impliziten Vertrag der gegenseitig vorteilhaft erscheint. Während für G. S. Becker Beziehungen auch von Altruismus geprägt sind, erkennen Folgeforschungen hingegen ‚Schattengewinne‘ bzw. immaterielle Vorteile. Die ökonomische Deutung der Ehe reiht sich nahtlos in die ökonomische Methodik ein und muss an dieser Stelle nicht eigens referiert werden. Die gegenübergestellte Deutung der Ehe in der jüdisch-christlichen Tradition bezieht sich auf die Vorstellung vom biblischen Bund als Leitmotiv für die Verbindung, die nicht im Vertragsdenken mit Leistungen und Vorteilen, sondern als ‚bedingungslose‘ Bindung und innere Hingabe vorgestellt wird. Das verändert die Perspektive auf die Beziehung: „Within the covenant view divorce is always regarded as a second-best outcome, while in the economic view it need be no more than a re-casting of an otherwise inefficient arrangement – without any sense of moral compromise.“17 Während im ökonomischen Ansatz der Zugewinn im Vergleich zum Singleleben zum Ausgangspunkt wird, ist es bei der Bundesvorstellung die – je nachdem welche Bundeskonzeption man aufruft – gegenseitige innere Bindung im Zeichen der Agape. ‚Gewinne‘ die daraus entstehen, sind äußere Zeichen dieser Bindung (Monogamie) oder Nebenprodukte (Fruchtbarkeit), sodass diese Bindung beim Fehlen der Gewinne nicht automatisch zerfiele. Ein Vorteilsabgleich wäre in diesem Verständnis unplausibel, da sofern die Gewinne als eigentliches Ziel erscheinen, die innere Bindung im Zeichen der gegenseitigen Hingabe zerfällt und nur die Nutzenmaximierung zurückbleibt.18 G. Menzies und D. Hay rechnen damit, dass keine Vorstellung in einer Reinform besteht und verstehen die jeweiligen Verständnisse im Rahmen von Ideal und Realität: Die ökonomische Deutung treffe empirisch eine Realität, die unter theologischen Vorzeichen als Wirklichkeit des ‚gefallenen Menschen‘ zu bezeichnen ist, der nicht aus Liebe zum anderen, sondern nur aufgrund eigener Nutzenmaximierung handeln kann. Da aber die Motivationen der Menschen eben nicht 14 Vgl. Menzies und Hay 2014, 582. 15 Vgl. ebd., 587. 16 Vgl. Menzies und Hay 2008, 3 ff. sowie Becker 1993, 187 ff. und Becker 2014, 97 ff. 17 Vgl. Menzies und Hay 2008, 4 und Zitat: 11. Vgl. auch die befremdliche Deutung von Sexualität in einer ökonomischen Perspektive bei Posner 1992. („Clear thinking about sexuality is obstructed by layers of ignorance, ideology, superstition, and prejudice that the acid bath of economics can help us peel away“ ebd., 437.) 18 Analog: Ist eine Gabe nicht mehr Ziel in sich sondern ein Instrument, löst sich jeder Altruismus auf.

5.1 Theologische und ökonomische Deutungen: Exkurs Marriage Wars |

185

‚rein‘ sind, sondern auch Elemente der Bundesvorstellung beinhalten, sind beide Visionen zutreffend. Mit der Struktur des simul iustus et peccator kann auch hier die Verbindung differenzierter dargelegt werden, weil dadurch das Zugleich von Ideal und Realität in einem theologischen Deutungsrahmen verständlich ist. Die Autoren zielen jedoch auf die Frage, ob die ökonomische Deutung der Ehe selbst einen Effekt auf das Eheverständnis hat. Im Anschluss an Framing-Konzepte verstehen sie das jeweilige Verhalten in der Ehe abhängig von den gesetzten frames: Kontrakt oder Bund. Dann ist es in der Folge wichtig, den Zusammenhang von Handlungsmotivation und Verkündigung zu beachten.19 Die Reinform einer Ehe nach einem Bundesmodell im Zeichen der Agape dürfte sich weder empirisch noch historisch erheben lassen und doch ist dieser frame sozial relevant, wenn dieses Verständnis die Handlung(smotivation) beeinflusst.20

Mit diesem Exkurs sollte wiederum kurz aufgezeigt werden, dass die jeweiligen ökonomischen und theologischen Deutungen wirkmächtig sind, und analog sollte eine theologische Deutung der Ökonomie Auswirkungen produzieren. Durch komplementäre Strukturen wie die Unterscheidung nach natürlicher und spiritueller Person zeigt sich zunächst, dass die ökonomische Deutung ergänzungsbedürftig ist, und es stellen sich theologisch die Anschlussfragen, ob die Identifikation von homo oeconomicus und peccator angemessen ist und in den homo religiosus integriert werden kann. In einer theologischen Ökonomie ist dann auszuführen, was dem iustus potentiell zugetraut werden könnte; praktisch, womit in vivo zu rechnen ist. Das leitet die Folgefrage ein, wie dieser iustus in einer theo19 Für G. Menzies und D. Hay gehören dazu auch Normen die beworben werden müssen. Vgl. Menzies und Hay 2008, 20 f. 20 Den Unterschied von Glaubenserkenntnis und weltlicher Vernunft sowie den korrespondierenden Handlungen zeigt auch M. Luther am Beispiel der Ehe auf: „Wenn die natürliche Vernunft, […] das eheliche Leben ansieht, so rümpft sie die Nase und spricht: Ach, sollte ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nacht wachen, beim Schreien für es sorgen, seinen Ausschlag und Geschwür heilen, danach das Weib pflegen, sie ernähren, arbeiten, hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden und was denn mehr an Unlust und Mühe der Ehestand lehrt. Ei, sollte ich so gefangen sein? O du elender, armer Mann, hast du ein Weib genommen, pfui, pfui des Jammers und der Unlust. Es ist besser, frei bleiben und ohne Sorgen ein ruhiges Leben geführt […]. Was sagt aber der christliche Glaube hierzu? Er tut seine Augen auf und sieht alle diese geringen, unangenehmen und verachteten Werke im Geist an und wird gewahr, dass sie alle mit göttlichem Wohlgefallen wie mit kostbarstem Gold und Edelsteinen geziert sind, und spricht: Ach Gott, weil ich gewiss bin, dass du mich als einen Mann geschaffen und von meinem Leib das Kind gezeugt hast, so weiß ich auch gewiss, dass dir’s aufs allerbeste gefällt, und bekenne dir, dass ich nicht würdig bin, das Kindlein zu wiegen, seine Windeln zu waschen und für seine Mutter sorgen. Wie bin ich in die Würdigkeit ohne Verdienst gekommen, dass ich deiner Kreatur und deinem liebsten Willen zu dienen gewiss geworden bin? Ach, wie gerne will ich solches tun, auch wenn’s noch geringer und verachteter wäre. Nun soll mich weder Frost noch Hitze, weder Mühe noch Arbeit verdrießen, weil ich gewiss bin, dass dir’s so wohlgefällt.“ WA 10II,295.16296.11 (‚Vom ehelichen Leben‘ 1522) nach Bayer 2006, 132.

186 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive logischen Ökonomie konstruiert werden müsste und ob dies nicht nur deskriptiv, sondern auch performativ oder als frame oder im Sinne von Theorieeffekten wirksam sein könnte. Die konfessionell gebundene Prägung einer theologischen Perspektive auf Ökonomie dient dabei der Konkretion, sodass nicht abstrakt christliche ‚Werte‘ zu maßgeblichen Kriterien werden, sondern spezifische theologische bzw. religionskulturelle Prägungen, die konstruktiv mit dem Feld der Ökonomie in Beziehung gesetzt werden.

5.2 Theologische Ausgangspunkte Der Weg zu einer lutherischen theologischen Ökonomie setzt die Positionierung im Feld anderer Entwürfe voraus. Leitend können dafür zunächst die theologischen Distinktionsmerkmale sein. Von diesen Unterscheidungsmerkmalen lutherischer Theologie her, können grundlegende Konstanten einer theologischen Ökonomie entworfen werden. Dabei sollen parallel die jeweiligen Konstruktionsbedingungen einer lutherischen Ökonomie mit dem üblichen Standards des ökonomischen Mainstreams in Verbindung gebracht werden. Auf diese Weise können Überschneidungen, Wechselwirkungen, Parallelitäten und Abgrenzungen aufgezeigt werden. Die Axiome dieser theological economy können nur anhand von exemplarischen Texten und Themenfeldern ausgeführt werden, sollen jedoch übertragbar bleiben. In praktisch-theologischer Hinsicht wird es im Rückgriff auf die ökonomische Theorien um die Möglichkeiten der Anwendung und Auswirkungen gehen. Die Konsequenzen werden sowohl in mikroökonomischen als auch in makroökonomischen Kontexten aufgezeigt. Hierbei kann es sich jedoch nur um erste Hinweise handeln, die durch eine detaillierte Forschung ergänzungsbedürftig bleiben. Als Ausgangspunkt für eine lutherische theologische Ökonomie bietet sich die Reformationsgeschichte unmittelbar an, dem ein exegetisches Schlaglicht vorangestellt wird. Der größere Zusammenhang von theologischer Ökonomie und klassischer Ökonomie wird in einem systematischen Arbeitsschritt verbunden. Die praktischen Konsequenzen runden den Ansatz ab. Auf diese Weise wird nicht ein Konzept oder eine leitende Metapher zur zentralen theologischen Perspektive erhoben, sondern exegetisch, kirchengeschichtlich und systematisch ausgelotet, woher eine theologische Konstruktion von Ökonomie sich speist. Die praktischtheologische Dimension wird final zum Prüfstein der Möglichkeit einer lutherischen Ökonomie.

5.3 Neutestamentliche Zugänge

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5.3 Neutestamentliche Zugänge E. F. Lupieri untersucht in einem Aufsatz, inwieweit die geistesgeschichtliche Umwelt Einfluss auf die Verkündigung Jesu und die Redaktion der neutestamentlichen Schriften gehabt haben kann. Die Verfügbarkeit von Geld und die Möglichkeiten einer Marktökonomie sind unter römischer Herrschaft – spätestens ab 70 nC deutlich angestiegen. Dabei handelt es sich um ein städtisches Phänomen, das unter anderem für die Zeit der paulinischen Verkündigung relevant ist. Jesu Verkündigung scheint Städte zu meiden und bezieht sich auf die Landbevölkerung.21 Die Botschaft Jesu unterlag damit einem soziokulturellen Wechsel, sodass kritische Stimmen des Neuen Testaments zum Thema Ökonomie vor diesem Hintergrund gelesen werden müssen. Zudem bezieht sich die Rede vom ‚Kaufen‘ und ‚Verkaufen‘ regelmäßig auf theologische Reflexionen, bei denen gilt, dass Gott alle Gaben frei (δωρεά ν) gibt bzw. spendet und nicht verkauft (Mt 10,8).22 Von der jesuanischen Verkündigung her und im Kontext früher städtischer Gemeinden ist wahrscheinlich die Bedeutung von Gaben und Spenden betont worden. Möglicherweise wurde das „as an alternative to an economy based on a selling/buying mentality“ verstanden.23 Die Kenntnis der städtischen Umwelt der frühen Gemeinden zeigt hier den Kontext des neuen sozialen Körpers an. Unterhalb der ‚globalen‘ Ebene der römischen Vormachtstellung, ist über dem pater familias die Ekklesia das entscheidende Organ der städtischen Organisation.24 Durch den römischen Einfluss ist die Selbstverwaltung der städtischen Ekklesia außer Kraft gesetzt worden, sodass eine ‚mittlere Ebene‘ in der Form des Vereins als „Ekklesia im Kleinen‘ entsteht,25 21 Das NT erzählt zudem keine Szene Jesu auf einem Markt. Vgl. Lupieri 2014, 381 f. und auch Ebner 2012, 15 f. weist auf den Wechsel von der Jesusbewegung als Landbewegung zu einem Stadtphänomen hin. Paganus im Bedeutungswechsel vom Landbewohner zum ‚Heiden‘ erinnert an diesen Umstand. 22 Für die Deutung des Kreuzes sind Auslösung und Kauf gängige Bilder z. B. in Apk 5,9. Auch Reichtum (πλοῦ τος) bezieht sich paulinisch auf den Glauben. Vgl. Lupieri 2014, 384 und 387. Für den Umgang mit materiellen Gütern werden neutestamentlich regelmäßig die Alternativen, alles zu verkaufen und zu spenden oder Besitz zu teilen, dargestellt. Beides lässt sich als Imitation der göttlichen Gaben verstehen. Vgl. ebd., 381 f. 23 Ökonomie war in den ländlichen Gebieten der jesuanischen Verkündung wohl keines seiner Hauptthemen. Die Konsequenzen seiner Theologie wurden jedoch in den Städten der frühen Christen relevant. Vgl. ebd., 413. 24 Die Bereiche Kult, Politik und Bildung werden über die Ebenen Imperium, Stadt, mittlere Ebene und Haus abgebildet. Vgl. Ebner 2012, 35 f. 25 Vgl. ebd., 37. Christen verbinden Glauben und Umwelt unterschiedlich, und haben selbst ‚Stadtvisionen‘ in der Funktion der kritischen Opposition (Hebr 13,14). L. Welborn untersucht die

188 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive um Autarkie, Identität und Vernetzung unterhalb der obsoleten Strukturen zu praktizieren. Christliche Gemeinden werden paulinisch als Ekklesia im Präskript angesprochen, wodurch das Konzept der Versammlung freier Entscheider aufgerufen wird. Neben den deutlichen Analogien zur klassischen Ekklesia, sind es nun die Veränderungen aufgrund theologischer Einsichten, die die christliche Ekklesia ausmachen: Es ist kein Bürgerrecht Voraussetzung des Beitrittes, sondern die Taufe notwendig. Auch Frauen und Sklaven haben Sitz und gleiches Rederecht in der christlichen Ekklesia Gottes. Analog zur ‚globalen‘ Perspektive des Kaisers (bzw. des röm. Bürgerrechts) über der Ekklesia, ist die christliche Version ebenso über die Polis hinaus im Leib Christi vernetzt, durchbricht dabei aber die „juristischen, gender- und schichtspezifische Schranken“.26 Die virtuelle Alternative greift dabei bemerkenswerterweise gerade nicht die jüdische Rechtskonstruktion des Politeumas zurück.27 Die christlichen Gruppen fügen sich somit nicht in die Rechtsstrukturen des römischen Reiches ein, sondern Paulus provoziert „alternative gesellschaftliche Entwürfe (Ekklesia Gottes) und alternative religiöse Grenzziehungen (Politeuma im Himmel)“.28 Damit geht auch die Verlagerung der Ekklesia in die Schnittstelle von öffentlicher und privater Sphäre – das Haus – einher, sodass die Überschreitungen der gesellschaftlichen Grenzziehungen in einem geschützten Rahmen erprobt werden können.29 Dabei wirkt sich der Gleichheitsgrundsatz aus Gal Vitalität des demokratischen Konzeptes der Ekklesia in Welborn 2019, 290. Für die Zeit und den Kontext ist die Ekklesia in Korinth außergewöhnlich demokratisch verfasst gewesen. Zum Begriff δῆμος als „imagined community“ vgl. ebd., 308 f. 26 Vgl. Ebner 2012, 87. M. Ebner weist auf die Konzeption des Freien auf Stadtterritorium ohne Bürgerrecht hin (Paröke/Beisasse): Christen leben auf städtischem Territorium ohne politisches Entscheidungsrecht, beanspruchen jedoch über den Begriff der Ekklesia das Bürgerrecht, durch die Berufung Gottes. 27 Die Voraussetzung für die Anerkennung des Rechtsstatus sind erkennbare Identitätsmarker. Durch Paulus’ beschneidungsfreie Heidenmission und die Nichtobservanz jüdischer Speisegebote werden die Grenzen des Rechtsbereiches tangiert und die Christen als Gruppe neben der Synagogengemeinschaft erkennbar. Vgl. ebd., 88 f. Vgl. auch das virtuelle Politeuma in Phil 3,20. 28 M. Ebner nennt das christliche Konzept „Antikonzeptionen von Ekklesia bzw. Politeuma“. Vgl. ebd., 90. Vgl. auch die Ökonomik als ein Weg neben der Herrschaftspyramide des pater familias: ebd., 173. Die Binnenstruktur des Hauses ist symptomatisch für die gesamtgesellschaftliche Struktur, wobei in der Ökonomik die Relationen und der Gewinn des ganzen Hauses im Vordergrund steht. Modern daran ist die Arbeitsteilung und die Stellung der Frau. Vgl. auch die Postenauflistung des Hauses in Mk 10,29 f., in der der pater familias eliminiert wird. Die neue familia hat nur einen einzigen Vater im Himmel (Mk 3,20ff). 29 Zum Anknüpfungspunnkt der christlichen Botschaft werden z. B. die Verkaufsgespräche des Zeltmachers (Act 18). Frauen, Freie, Metöken, Juden, römische Bürger, Sklaven überschreiten im

5.3 Neutestamentliche Zugänge

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3,28 auch auf die materielle Versorgung der Gemeinde aus: Paulus wie Lukas unterbrechen die Reziprozität der Patronatsidee innerhalb der christlichen Vereine und bauen auf diese Weise Alternativstrukturen auf, die mit der Isonomie der Polisstrukturen belegt wird.30 Die alternativen Identitätskonstruktionen die Paulus entwickelt, funktionieren über die Inkorporierung in den neuen Leib und die Vermittlung des Geistes durch die Taufe, wodurch eine spezifische Weltdeutung bewirkt wird.31 Pneuma und Weltdeutung führen paulinisch dann gleichsam automatisch zur Korrespondenz von Glauben und Ethik, ohne dass Restriktionen und eine Vergesetzlichung notwendig wären. In lutherischer Terminologie glaubt Paulus an die Gestaltungskraft des iustus. Glaube weist sich christlich demnach nicht durch eine spirituelle Überzeugung, bestimmte Identitätsmerkmale oder Riten aus, sondern durch eine besondere soziale Kommunikation innerhalb christlicher Gemeinden.32 Anhand dieser kurzen frühchristlichen Einleitung wird zweierlei deutlich: Einerseits erhalten Tauschprozesse im weitesten Sinn neue Deutungen und folgen einer christlichen Logik. Andererseits bezieht sich dieses neue Verständnis sozialer Kommunikation zunächst auf den Binnenkreis. Für das Verständnis von Theologie und Ökonomie ist daher die Frage nach den Grenzbereichen und Geltungsräumen relevant.

neuen Bezugssystem die rechtlichen und sozialen Bestimmtheiten. Das Abendmahl wird in diesem Rahmen zur praktizierten Ekklesia. Vgl. Ebner 2012, 94 und zu den Statusunterschieden bei römischen und griechischen Mählern: 183 f., 186 ff. Zur Taxonomie aus religiösen, wirtschaftlichen, kommunitären und politischen Interessen in Vereinen und den jeweiligen Entsprechungen Tempel, Agora, Haus und Forum vgl. ebd., 198 und 203. Zu den Analogien und Unterschieden (z. B. wöchentliches Stiftergedenken mit der Testamentformulierung oder die Problematik der Patrone [I Kor 1,12 oder Jak 2,2–4]) und zu Vereinen vgl. ebd., 228. 30 Vgl. hierzu und der Rückentwicklung der Pastoralbriefe (Tit 1,7) ebd., 230. 31 Vgl. zu den Analogien zu Stoa ebd., 274 ff. und 287 f. 32 Vgl. ebd., 364. J. Barclay verdeutlicht, dass im antiken Verständnis freie Gaben verpflichtend sein können, ohne den Aspekt ihrer freien Hingabe zu verlieren. Im modernen Denken hingegen schließt die Verpflichtung die Freiheit in der Regel aus. Aus der Gnade kann so ein Gehorsam des Glaubens folgen. Vgl. Barclay 2015, 563. Die für die lutherische Theologie zentrale Stelle Röm 7, die traditionell zum simul gehört, erarbeitet W. Christes Untersuchung, dass die Rede vom Menschen außerhalb und vor Christus sei. Röm 7,25b als M. Luthers Zentralstelle für das simul iustus et peccator ist die erste „interpretatio christiana“, die den Abschnitt auf den Christenmenschen bezogen hat. Zu M. Luthers Internalisierung des Konflikts von Röm 7 und zur neueren interpretatio christiana vgl. Christe 2014, 530 ff. und Zitat 535. Weder das simul noch die Dialektik von Gesetz und Evangelium lassen sich bei Paulus direkt belegen. Vgl. ferner Holm 2006, 142 ff.

190 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte Die Frage nach den Geltungsräumen einer alternativen christlichen Ökonomie lässt sich durch einen kurzen Verweis auf die Attraktivität früher christlicher Gemeinden klären. P. Pilhofer zeigt anhand der ökonomischen Funktionen der Gemeinden ihre Anziehungskraft auf. Ihre Bedeutung als Wirtschaftsfaktor zeigt sich daran, dass die Mitgliedschaft sowohl Sterbevereine als auch eine Tempelbank ersetzen kann. Die Eintrittsbarriere ist gering, da anders als in anderen Vereinen als Zugang nur das Ritual, jedoch keine Zahlungsverpflichtung besteht. Zu bieten haben diese Gemeinden über 50 Mahlfeiern pro Jahr (in Kultvereinen sonst nur ca. sechs) – ein bedeutsamer Faktor für Mittellose – und eine überregionale Vernetzung mit Kontakt und Übernachtungsmöglichkeiten. Letzteres ist ein zentrales Argument für Geschäftsleute und bessergestellte Personen. Mit einer Mitgliedschaft geht nicht nur eine religiöse Umkehr einher, sondern auch eine Umorientierung des finanziellen Engagements. Tempelanlagen und gesponsorte Projekte der Stadt verlieren finanzielle Zuwendungen in bedeutendem Maße.33 Neben dieser historischen Situation gilt es, die kommunikative Dimension zu beachten. Paulus nutzt in seinen Briefen häufig ökonomische Heilsmetaphern, tatsächlich ökonomisch relevante Transaktionen hingegen beschreibt er mithilfe anderer Kategorien. C. Gerber schlussfolgert, dass für Paulus Gaben und Austausch primär „Beziehungstaten“ sind, die das Verhältnis unter christlichen Geschwistern beeinflussen können.34 Wenn die Theologie die Sozialität prägen soll, dann ist Paulus’ Mission ohne Unterhaltsforderungen „der realökonomische Niederschlag der Metapher vom Evangelium als Geschenk Gottes“.35 Inwieweit sich das Evangelium und die paulinische Theologie auch in konkreten übergemeindlichen Transaktionen niedergeschlagen hat, dem soll im Folgenden anhand der ‚Ökonomie der paulinischen Kollekte‘ nachgegangen werden, weil sich anhand dieses exegetischen Themen-

33 Der Aufstand der Silberschmiede in Act 19 mag das verdeutlichen. Vgl. Pilhofer 2002b, 40 ff. 34 Einige Stellen mit ökonomischer Metaphorik finden sich in Gerber 2012, 112, Fn. 7, Zitate: 113. Zur Kollekte vgl. ebd., 114 ff. sowie im Folgenden dort zum Unterhaltsverzicht und der Gabe aus Philippi. 35 Vgl. ebd., 129. J. Barclay differenziert verschiedene Dimensionen von Gabe und Gnade und weist darauf hin, dass auch frühjüdisch Gnade ein zentraler, aber pluraler Topos war. Paulus hat dann eine spezifische, an das Christusereignis gebundene Gnade gepredigt, die nicht Ehre, Status oder Werte als Voraussetzung hat und so eine neue Gemeinschaft konstituiert. Vgl. Barclay 2015, 565 f.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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feldes zentrale paulinische Positionen zur Ökonomie erarbeiten lassen.36 Dabei ist es zunächst nötig, ein grundlegendes Verständnis der Kollekte zu skizzieren, auf dem weitere Fragen aufbauen können. Ein Durchgang durch den Text soll auf relevante Aspekte in II Kor 8–9 aufmerksam machen.37 In einem weiteren Schritt sollen Theologie und Ökonomie in exemplarisch-exegetischer Hinsicht aufeinander bezogen und schlussendlich die Konsequenzen aus der Erarbeitung namhaft gemacht werden.38 Zentral ist dabei, inwieweit sich Vorstellungen und die realen Auswirkungen einer möglichen paulinischen Ökonomie identifizieren lassen. Die Kollekte kann als Praxistest einer paulinischen Ökonomie verstanden werden, die sich in seiner Theologie und seinem Glauben gegründet sieht. Erkennbar wird eine deutlich theologisch geprägte Ökonomie für einen spezifischen Fall, der Modellcharakter haben könnte. Daher erscheint eine gründliche Auseinandersetzung mit der Kollekte als ein zentraler Baustein für das biblisch fundierte Denken im Zusammenhang von Ökonomie und Theologie.

5.4.1 Grundlegung zur Kollekte Der ursprüngliche Anstoß für die Kollekte ist bekanntlich in Gal 2 zu finden, wo Paulus berichtet, dass er, Barnabas und der unbeschnittene Titus39 sich mit den ‚Säulen‘ in Jerusalem besprachen. Paulus war als Vertreter der Gemeinde in Antiochia am Orontes nach Jerusalem gereist. Eine Spur dieser Gemeinde kann man von Act 6 und Act 11,19–21 her deuten, wo zunächst ein Dissens zwischen Ἑλληνισταί / griechisch- und Ἑβραῖοι / aramäischsprechenden Christen vorliegt. Auf theologische Unterschiede kommt man, wenn man beachtet, dass die Diakone ausnahmslos griechische Namen tragen, sowie durch den Vorwurf der Ablehnung von Tempel und Gesetz. In der zweiten Stelle berichtet Lukas dann die Beziehung zu Antiochia. Interessanterweise verkündeten dort einige πρὸς τοὺς Ἑλληνιστὰς, womit 36 Der Ansatz zu diesem Abschnitt geht auf eine Anregung zur Ökonomie der paulinischen Kollekte von E. Reinmuth zurück. Paulus unter dem Aspekt der Gabe untersucht J. Barclay: Barclay 2015, jedoch ohne konkret auf die Kollekte einzugehen. 37 Dass Geld immer ein heikles Thema ist, zeigen die restriktiven Regelungen in Did 11–12. Wo Geld im Spiel ist, wird nicht einfach geglaubt, sondern geprüft. Vgl. Löhr 2012, 189. 38 Eine „Ökonomie der Generosität“ identifiziert J. T. Nielsen im Gleichnis vom Schalksknecht, und wie weit Theologie in ökonomischen Bildern sprachfähig ist, zeigt auch G. Andersons Aufsatz über den Zusammenhang von ökonomischen Metaphern und Sünde. Vgl. Nielsen 2013, 38 f. sowie Anderson 2013, 61 f. 39 Titus ist in II Kor 2,13, II Kor 7,6.13.14, II Kor 8,6.16.23 und II Kor 12,8 ein Hauptakteur der Sammlung.

192 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive keine Juden gemeint sind.40 In der Diasporagemeinde gab es sicher eine hohe Anzahl an Gottesfürchtigen und mit einer gesetzeskritischen Sicht der Ἑλληνισταί ist der Überschritt zur Mahlgemeinschaft zwischen beschnittenen und unbeschnittenen Christen dann eine naheliegende Konsequenz. Eine Unterscheidbarkeit in der Lebensweise scheint auch der dort zuerst gebrauchte Name Χριστιανοί nach Act 11,26 zu implizieren. Es ist davon auszugehen, dass die beschneidungsfreie und gesetzesfreie Mission das theologische Programm der antiochenischen Gemeinde und somit auch Paulus’ theologischer Entwurf war. Nach Gal 2 hat Paulus sein Evangelium den Führern der Jerusalemer Gemeinde vorgelegt. Er vermeidet jeden Anschein der Abhängigkeit von Jerusalem, will den Galatern jedoch auch die theologische Übereinstimmung mit den ‚Säulen‘ aufzeigen, um so judaisierenden Missionaren den Wind aus den Segeln zu nehmen.41 Bei der Abstimmung der verschiedenen theologischen Entwürfe hatte Paulus eine starke Verhandlungsposition, weil die antiochenische Gemeinde in der Weltstadt eine bedeutende Größe gehabt haben dürfte. Im Apostelkonvent wurde dann die beschneidungsfreie (nicht die gesetzesfreie) Heidenmission (quasi post factum) theologisch ins Recht gesetzt.42 Einzig der Armen zu Gedenken, bitten sich Jakobus, Petrus und Johannes aus. Was mit πτωχοί tatsächlich gemeint ist, bleibt an dieser Stelle noch fraglich. Die Aufteilung der Missionsgebiete ist von Exegeten sowohl ethnographisch als auch geographisch durchdacht worden, ohne dass sich abschließende Argumente finden ließen. In Paulus’ jüdischem Selbstverständnis orientiert er sich an Synagogen und predigt das Evangelium allen Menschen. Es reicht an dieser Stelle festzuhalten, dass nur eine Anerkennung zwischen Antiochia und Jerusalem zustande kam. Die in Gal 2,7 mit Handschlag, also mit einem vertraglichen Hintergrund, ausgemachte Vereinbarung ist als Akzeptanzvertrag verständlich. Es sind zwei Missionsweisen als ranggleich angesehen worden; die Folgen scheinen jedoch nicht bedacht worden zu sein und von einer κοινωνία kann kaum die Rede sein. Im antiochenischen Zwischenfall zeigen sich dann theologische Unterschiede und dass die Vereinbarung mehrdeutig war: In Antiochia ist es usus, dass Juden- und Heidenchristen zusammen essen, und Petrus passt sich diesen Gegebenheiten an. Die Mahlgemeinschaft mit Heidenchristen führt für Juden je40 Dies ergibt sich aus dem Kontext. Im vorhergehenden Vers werden die Juden als Gegensatz genannt. In Act 6,1 Act 9,29 und Act 11,20 sind nicht jeweils dieselben Personengruppen mit dem Begriff bezeichnet. 41 Judaisierende Missionare wollten durch die Beschneidungsforderung eine ‚Integrierung‘ der Gemeinden in das Judentum, wobei Paulus für den Gott Israels missionierte und sich aus seiner Perspektive im Rahmen des Judentums bewegte. Spätestens ab 70 nC dürften diese Gegenmissionare stark geschwächt worden sein. 42 Vgl. Sänger 2012, 260.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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doch zur Unreinheit und Petrus ordnet sich den ‚Leuten von Jakobus‘, also dem strengeren Jerusalemer Entwurf unter, der auch die Beschneidung für eine Mahlgemeinschaft für notwendig erachtet, zumindest aber ein Minimum an Ritualvorschriften. Das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen war mit der Formulierung in Gal 2,7 f. genauso wenig geklärt wie die Lebensweise (ἐθνικῶς – Ἰουδαϊκῶς) von christlichen Gemeinden.43 Aus heutiger Perspektive lässt sich fragen, ob Jerusalem und Antiochia tatsächlich dasselbe Evangelium verkünden.44 Theologisch differenzierte Inhalte sind vom Apostelkonzil nicht überliefert und in Paulus’ Bericht wird hauptsächlich die Beschneidung betont.45 Damit eine Toraobservanz gleichzusetzen wäre ein Kurzschluss, weil die Bekehrung zum Monotheismus einen Eigenwert in der paulinischen Mission hat, wie I Thess 1,9b zeigt.

Danach weist Paulus den Galatern die Freiheit vom Gesetz durch Christus nach, und mit Paulus’ Predigt haben sie bereits die Berufung in die Gnade Christi angenommen. Diese Heilswirklichkeit würde durch die Beschneidung zerstört. Sollten sich Paulus’ Gegner also auf Jerusalem berufen, verkündigen sie ein ἕτερον εὐαγγέλιον. Wie sich im antiochenischen Zwischenfall zeigte, waren bestimmte Strömungen in Jerusalem keineswegs der gleichen Auffassung vom Evangelium und in der Folge führte die Gesetzeskritik des Galaterbriefes sicher zu einigen Verstimmungen in Jerusalem. Nimmt man nun das Traditionsstück I Kor 15,3–546 als gemeinsames Evangelium an, so geht es um die Schlussfolgerungen aus diesem Glauben. Bei einer Identität des Evangeliums des einen Gottes ist Paulus also bei seiner Mission nichts auferlegt worden. In diesem Zusammenhang ist die Kollektennotiz in Gal 2,10 geradezu kontradiktorisch. Paulus betont, dass ihm nichts Zusätzliches (ἐμοὶ γὰρ οἱ δοκοῦντες οὐδὲν προσανέθεντο) auferlegt wurde. Es ist nun zu fragen, ob das Gedenken an die Armen eine Bedingung der Heidenmission ist oder eine Nebenbestimmung. Gal 2,9 ist eine abgeschlossene Vereinbarung, und Paulus könnte hier rhetorisch geschickt eine kleinere Auflage verstecken. Es ist ebenso möglich, wie D. Georgi formuliert, dass es sich um eine bewusste Verklammerung von Juden- und Heidenchristen handelt.47 Wenn dem so wäre, ist 43 Zur Inklusion von Unbeschnittenen: „For most Jewish Christians (e. g. the author of the Gospel of Matthew), the key issue apparently was not the Judaizing of Gentiles but the Gentilizing of Jews.“ Muddiman und Barton 2010, 89. Die Frage der Lebensweise ist dann im antiochenischen Zwischenfall mit Petrus als prominentem Beispiel dringend geworden. 44 Nach U. Schnelle handelt es sich um zwei Evangelien: Ev. der Unbeschnittenheit und der Beschneidung, die gleichrangig aber nicht identisch sind. Vgl. Schnelle 2012, 309. 45 Titus als Beispiel des Unbeschnittenen, sowie die Missionsausrichtung auf ἀκροβυστίας und περιτομῆς weisen besonders auf das Thema hin. 46 Vgl. Lindemann 2000, 328. Vgl. dazu auch I Thess 4,14. 47 Vgl. Georgi 1994, 22.

194 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive es irritierend, dass Paulus diesen für ihn wichtigen Aspekt nur als ‚Nachklapp‘ zur Verhandlung nennt, wobei die Information im Rahmen seiner Argumentation nicht nötig ist. Es handelt sich also um eine neue Mitteilung, die nicht conditio sine qua non für die Heidenmission ist, auch weil die Anerkennung durch die ‚Säulen‘ für ihn keine Priorität hat. Sein Evangelium und Apostolat leitet sich von einer Offenbarung her. Zudem erwähnt er die Vereinbarung nicht, wenn er direkt für seine Kollekte argumentiert. In ihrer Wirkung für die Galater beteiligte sich die Gemeinde mit ihrer Kollekte jedoch aktiv an der Umsetzung der Vereinbarungen, weil Paulus in Gal 2 einen Zusammenhang herstellt. Paulus konnte seine Position in Antiochia wohl nicht durchsetzen, sonst hätte er dies für die Argumentation des Gal benutzt. Ein folgender Kompromiss für Antiochia oder eine harmonisierende Fiktion von Lukas könnte das Aposteldekret sein. In der Folge trennt er sich von der Gemeinde in Antiochia und macht sich auf selbstständige Missionsreisen. Dabei könnte er von vornherein Rom und Spanien (Jes 66,18–20) im Blick gehabt haben und nur aufgrund des Claudiusediktes nicht nach Rom gereist sein. In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarung: μόνον τῶν πτωχῶν ἵνα μνημονεύωμεν für ihn der Anstoß für seine Kollekte.48 Paulus beginnt die Kollekte also auf eigene Faust nach der Ablehnung der Jerusalemer Theologie(n), obwohl diese ihm auf dem Apostelkonvent die Gleichrangigkeit seines Apostolats bestätigten. Es ist dabei erneut zu fragen, aus welcher Motivation heraus er die Kollekte in seinen Gemeinden initiiert, wo er doch mit judaisierenden Gegenmissionaren in seinen Gemeinden den theologischen Entwurf Jerusalems (argumentativ) bekämpft. Die Kollekte als Vertrag mit Jerusalem zu sehen, wäre die einfachste Lösung. Jedoch ist Paulus’ Evangelium eben nicht abhängig von der Anerkennung in Jerusalem. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich Paulus’ Kollektenverständnis und deren Bedeutung entwickelte, so bleibt die theologische Bedeutung der Kollekte eine weit höhere Motivation als ein Vertrag. Die Anfänge der Sammlung sind dann in I Kor 16,1–4 zu erkennen, bei denen Paulus noch davon ausgeht, dass eine Gesandtschaft auch ohne ihn die Kollekte nach Jerusalem bringen könnte. Genutzt wird hier die Bezeichnung λογεία im Singular und Plural sowie Χάρις. Die letztgenannte Vokabel ist dabei bereits eine 48 Wie das weiter in Antiochia aussah, weiß man kaum. Die Apostelgeschichte erzählt in Act 11,29 ff. von einer Spendenaktion wegen einer Hungersnot, die Barnabas und Saulus überbrachten. Dies passt aber nicht zur langfristig angelegten Kollekte, die Paulus im Sinn hat. Act 20,4 beschreibt die Kollektendelegation und Act 21,15–40 die Ankunft in Jerusalem. Von einer Übergabe berichtet Lukas nichts, und das hätte er aufgrund seiner Theologie sicher getan, wenn Paulus Erfolg gehabt hätte. D. Downs bezweifelt hingegen stark, dass aus der Apostelgeschichte historische Informationen zur Kollekte gewonnen werden können. So besonders in Downs 2006.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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theologische Explikation der Sammlung, u. a. weil dieser Begriff mit Gott als Urheber operiert und die Gabe als freiwillig charakterisiert wird.49 In diesem Sinn handelt es sich um die ‚Wohltat‘, die Gott bei den Korinthern gestiftet hat, und somit geht es nicht um eine Sammlung, die sich Paulus als Ehre zurechnen kann. Folgerichtig ist dann, dass seine Anwesenheit bei der Übergabe nicht notwendig ist. Einerseits scheint hier der persönliche Kontakt zwischen Jerusalem und Korinth gewünscht zu sein, andererseits schickt Paulus auch Briefe mit. Anzumerken ist zudem, dass scheinbar noch jede Gemeinde einzeln die Kollekte überbringen soll. Dies ändert sich in Röm 15,25–32, wo der Plan zur Ablieferung feststeht und zur ‚Chefsache‘ wird. Nachdem er im Galaterbrief die gesetzesfreie Existenzweise der galatischen Gemeinde gegen judaisierende Missionare mit deutlichen Worten durchgekämpft hatte, dürfte der Zwiespalt zwischen Jerusalem und der paulinischen Theologie erneut sehr deutlich geworden sein. Die Grenzen der Vereinbarung des Apostelkonzils wurden aus Sicht der Judenchristen somit weit überschritten und Paulus dürfte als Apostat angesehen worden sein. Im Römerbrief wird die Kollekte der galatischen Gemeinden nicht erwähnt, woraus man schlussfolgern kann, dass sie sich gegen die paulinische Theologie entschieden haben.50 Im Römerbrief ist die Annahme der Kollekte dann wirklich zweifelhaft und gewinnt zudem eine politische Bedeutung, weil sie die Einheit von Juden- und Heidenchristen buchstäblich manifestieren soll. Ich gehe aufgrund des lukanischen Schweigens zur Kollekte davon aus, dass weder im ‚Hinterzimmer‘ noch über eine Nasirätsauslösung51 die Kollekte angenommen wurde. Nach der paulinischen Argumentation bedeutet die Ablehnung auch die Ablehnung seiner Interpretation des Evangeliums, wie es im Röm vorliegt. Die Heilsteilhabe der Heiden an Gottes Geschichte mit den Juden ist in Frage gestellt, weil die Judenchristen in Jerusalem der repräsentative ‚Rest‘ sind, der das Bestehen von Bund und Erwählung zeigt und Gott nicht als wortbrüchig erscheinen lässt.52 49 Vgl. Lindemann 2000, 377. 50 A. J. M. Wedderburn ist der Meinung, dass sich die Galater zwischen der Abfassung des I Kor und II Kor gegen die Kollekte und Paulus entschieden. So in Wedderburn 2002, 103. Nach I Kor 16,1 gibt es eine Anordnung für die galatischen Gemeinden, im II Kor werden sie nicht genannt, was mit einer besonderen Beziehung von Paulus zu Makedonien und Achaia erklärt werden könnte. Vgl. Betz 1993, 98. Aber auch in Röm 15,25–27 bleiben sie unerwähnt. Die von keinem Apostel gegründete und heidenchristliche römische Gemeinde wurde nicht aufgefordert, sich an der Kollekte zu beteiligen. Die Thessalonicher hingegen dürften an der Kollekte beteiligt gewesen sein. Vgl. Wilckens 2010, Bd. I, 45 und Bd. III, 146. 51 Act 21,18–26 – So argumentiert Georgi 1994, 89. In Act 24,17 ist wiederum auf eine ‚Kollektenübergabe‘ angespielt. 52 Vgl. Wilckens 2010, Bd. II,127 f.

196 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Πτωχοί und Ἅγιοι Die Empfänger der Kollekte bezeichnet Paulus in I Kor 16,1,53 II Kor 8,4 und 9,1 als ἅγιοι, wobei aus dem Kontext deutlich wird, dass es sich um die Jerusalemer Gemeinde handelt. Paulus verwendet ἅγιοι auch für Christen allgemein, sodass sich daraus kein Vorrang oder eine bestimmte Auszeichnung ableiten lässt. In Röm 15,26 wird zusätzlich Jerusalem explizit erwähnt. In der letztgenannten Stelle ist die Sammlung für τοὺς πτωχοὺς τῶν ἁγίων τῶν ἐν Ἰερουσαλήμ. In erster Instanz sind die Armen hier Empfänger. Der Zusatz τῶν ἁγίων ist in der Forschungsliteratur sowohl als genitivus epexegeticus und genitivus partitivus verstanden worden. U. Wilckens plädiert für die letztgenannte Möglichkeit54 und meint, der materielle Aspekt der Kollekte für tatsächlich Bedürftige ist hier dargestellt. Es ist in diesem Zuge denkbar, dass Paulus angesichts der ihm bevorstehenden Situation den karitativen Aspekt der Kollekte hervorhebt und in diesem Zusammenhang seine eigene Beteiligung herunterspielt. Wenn man die Kollekte in diesem Sinn versteht und die theologischen Implikationen weniger betont, ist eine etwaige Ablehnung der κοινωνία umso unverständlicher. Wer mit πτωχοί ursprünglich gemeint war, schwankt von religiöser Ehrenbezeichnung bis hin zu soziologisch bzw. materiell Armen. Es ist wahrscheinlich, dass die Jerusalmer Gemeinde tatsächlich materiell arm war. Wenn Paulus im Gal die Absprachen zumindest sinngemäß zitiert, dann ist fraglich, ob sich die Säulen selbst als πτωχοί bezeichnet haben oder nur einen Teil ihrer Gemeinde oder die gesamte Gemeinde. Die jüdische Vorstellung, dass die Armen unter dem Schutz Gottes stehen und der Begriff ‚πτωχοί‘ (in Analogie zur Doppelform ‫ – ָע ִני ְוֶאְביֹון‬sie bezeichnet die Haltung des bittenden Beters vor Gott) verweist noch nicht auf einen titularen Gebrauch.55 Ein „Armenenthusiasmus“ ist im relevanten Zeitraum nicht kontinuierlich belegt, könnte aber dennoch die Urgemeinde beeinflusst haben.56 B. Longenecker bezweifelt, dass es bei den Armen in Gal 2,10 speziell um die Jerusalemer ging, weil diese Deutung bis ins 5. Jh. kaum belegt ist. Die Frage, wer die Armen sind, beantwortet er folgendermaßen: Das μνημονεύωμεν deutet darauf hin, dass es sich um eine kollektive Aufgabe handelt, die sich sowohl auf Paulus, als auch auf die Jerusalemer bezieht. Dieser generelle Hinweis, der Armen 53 I Kor 16,1 Περὶ δὲ τῆς λογείας τῆς εἰς τοὺς ἁγίους … – in Vers 2 steht λογεῖαι im Plural. λογεία ist im NT ein Hapax legomenon. An dieser Stelle wird die Kollekte ebenso als χάρις bezeichnet. 54 Vgl. Wilckens 2010, 126. 55 ThWNT Artikel: πτωχος Bd. VI, 887 ff. ‫ ָע ִני‬ist ein Verhältniswort, dass die Abhängigkeit anzeigt, ‫ ֶאְביֹון‬ist, wer sich tätig um ein Almosen bemüht. 56 ThWNT Artikel: πτωχος Bd. VI, 910 f.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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zu gedenken, gelte dann für beide Seiten und wurde auf Initiative Jerusalems angesprochen.57 Die späteren paulinischen Präzisierungen ergeben sich dann aus einer Notsituation in Jerusalem. Damit ist eine Umverteilung auch in die andere Richtung denkbar. Schwieriger wird es dann, die Ablehnung der Kollekte zu erklären. Hier scheinen die theologischen Motive ausschlaggebender gewesen zu sein. Bei einem ‚ökonomischen‘ Nachdenken über die Kollekte ist in dem Zusammenhang wichtig, auf welcher Ebene die Kollekte ursprünglich angedacht war. Ob es sich um einen sozialen Ausgleich oder eine intendierte Verklammerung von verschiedenen Missionsstrategien handelte, ist zunächst unabhängig von der weiteren paulinischen Entwicklung des Kollektenthemas zu betrachten. Dass Gottes besondere Fürsorge den Armen gilt, ist ein genuin jüdisches Motiv.58 Dass sich daraus ein titularer Gebrauch in der jungen Jerusalemer Gemeinde ergeben haben soll, steht noch nicht fest. Mit dem Wort geht einher, dass sie sich als heiligen Rest und quasi eschatologischen Vorposten verstanden hätten. Diese Deutung z. B. wäre aus dem messianischen Prädikat ‫ אביונים‬bei den späteren Ebioniten bezogen. Zudem könnte an dieser Stelle ein Führungsanspruch der στῦλοι angenommen werden. Der Gebrauch des Wortes πτωχοί ist bereits mit einem traditionsgeschichtlichen Hintergrund bei Paulus zu verstehen. So handelt es sich um materiell Arme, die jedoch in bestimmter Weise theologisch qualifiziert werden. Dies wohl jedoch nicht im Sinne eines Titels, durch den auch immer eine hervorragende Stellung im Sinne einer Machtkonstellation kundgetan wird. Davon unabhängig kann die Bezeichnung ganz frei als Marker für das Selbstverständnis als eschatologischer Rest genutzt worden sein und als Substitut für fromm und gerecht, was dann für das ‚wahre Israel‘ stünde. Hierbei ist anzumerken, dass Paulus πτωχός nicht theologisch überformt oder besonders konnotiert benutzt, und ebensowenig beschreibt es für ihn die christliche Existenz per se. Die Einmaligkeit der Kollektenaktion, die gesammelte Abgabe der Gelder und der (relativ) lange Zeitraum der Sammlung sprechen gegen ‚nur‘ materiell Arme. Stellt man in Rechnung, dass die paulinische Kollekte erst nach dem antiochenischen Zwischenfall und damit nach dem ‚Bruch‘ mit Jerusalem initiiert wurde – dann scheint die theologische Bedeutung zumindest im Römerbrief besonders wichtig zu sein. Aus theologischen Gründen sammelt er für die ἅγιοι in Jerusalem, die als πτωχοί eine besondere theologische Konnotation haben, mit dem vordergründigen Zweck, der materiellen Bedürftigkeit Abhilfe zu schaffen.59 Eine Ana57 Vgl. Longenecker 2009, 207. So auch in Longenecker 2010, 338 f. 58 Vgl. Wißmann und Reinmuth 1977, 76. 59 Es wäre an dieser Stelle zwischen drei Kollekten zu unterscheiden. Einerseits was die Jerusalemer ggfs. mit μνημονεύειν τῶν πτωχῶν gemeint haben, dann was Paulus als Antioche-

198 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive logie zu den freiwilligen Gaben von Nicht-Proselythen ist damit noch nicht ausgeschlossen. Sieht man vom theologischen Spezialfall Jerusalem ab, wird die Kollekte durchsichtig auf eine weiter gefasste Solidarität, wie sie Paulus auch in anderen Bereichen versucht durchzusetzen. Es scheint ratsam, den Unterschied im Blick zu behalten zwischen einer Sammlung für Jerusalem, die theologisch nach Röm 9–11 ein besonders gedeuteter Fall ist, und einer Kollekte, die auch zwischen den paulinischen Gemeinden theologisch bedeutsam wäre.

5.4.2 Deutungen der Kollekte Bei der Vielzahl an Deutungen der Kollekte sind hier nur ausgewählte relevante Sichtweisen zu erwähnen.60 Als Deutungsmodelle wurden das Tempeltsteuermodell, das Liebesgabemodell, das Motiv der Völkerwallfahrt und das Almosenmodell ins Spiel gebracht. Mit dem Völkerwallfahrtsmodell, das D. Georgi präferiert, nimmt er besonderen Bezug auf (Trito-) Jesajatexte und stellt die Kollekte in den Rahmen eines eschatologischen Geschehens an Israel.61 Intertextuell ist dann von Texten wie Dtn 32,21 und Jes 61,1 auszugehen. Zunächst spiegelt Paulus’ Sprache jedoch Jes 66,18–23 wider, eine prophetische Beschreibung der eschatologischen Inkorporation der Völker in Israel. Da Paulus als eschatologisch orientierter Denker und Praktiker diese Motive sicher kannte, kann dieser Aspekt auch in einer ökonomischen Perspektive auf die Kollekte nicht vernachlässigt werden. Näher am ‚ökonomischen‘ Thema scheint jedoch K. Bergers Entwurf mit dem Modell der Almosen von Gottesfürchtigen zu sein, die so Ihre Beziehung zu Israel ausdrückten. Ließe sich eine Zugehörigkeit zum Gottesvolk ohne Beschneidung durch einen monetären Transfer nachweisen, so wäre ein Analogiemodell für die Kollekte gegeben, an dem sich auch Jerusalem und Paulus orientiert haben könnten, um eine Einheit darzustellen. K. Berger geht der Frage nach, ob ‚Almosen für Israel‘ theologisch und soziologisch relevant gewesen sind. Dabei untersucht er nischer Gesandter verstanden hat und weiterhin, wie Paulus die Aktion, die auf diesen Halbvers zurückgeht, bei seiner selbst initiierten Sammlung versteht. Diese Diskontinuitat schlussfolgert A. J. M. Wedderburn aus dem Gegensatz von μνημονεύωμεν im Plural und dem Singular ἐσπούδασα im Folgenden. Wedderburn 2002, 98 und 101. 60 Eine breitere Übersicht findet sich u. a. in Beckheuer 1997, 13 ff. 61 Die Meinung, dass Paulus die Jesajatexte lebt, wird vielleicht in seiner Berufungsbeschreibung in Jes 49,1 und Gal 1,15 am deutlichsten.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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zunächst Almosen und ihre Sühnefunktion, die jedoch für Paulus nicht in Anrechnung gebracht werden kann.62 Almosen haben für die Gottesfürchtigen die κοινωνία mit der Gemeinschaft demonstriert, und sie spielen nach K. Berger eine Rolle, wenn sich ‚Heiden‘ zu dem einen Gott ohne Beschneidung bekehren. Damit sind sie zunächst hauptsächlich ein Diasporaphänomen.63 Gal 2 nehme dann diesen jüdischen Brauch auf, wenn die Armen gemeint sind. Das Gedenken der Armen stehe so im Zusammenhang mit der Beschneidung und der Gesetzesobservanz. Die κοινωνία durch diese Kollekte stellt dann, so K. Berger, eine Gemeinschaft und Akzeptanz zwischen verschiedenen Gruppen her, auf die das Verhältnis von Gottesfürchtigen zu Israel abgebildet wird (aus Sicht der judenchristlichen Partner).64 Die Annahme der Kollekte hätte dann die Anerkennung des Gruppenstatus und der Unabhängigkeit bedeutet. In der Folge ist ihm im antiochenischen Zwischenfall sonderlich das Problem der Vermischung der Gruppen wichtig. Es bleibt dabei nicht aus, dass die paulinischen Gemeinden aus Jerusalemer Sicht Christen zweiter Klasse sind. Aus paulinischer Perspektive kann das so nicht gesagt werden. Paulus geht von einer gleichrangigen Gemeinschaft und vollen ‚Mitgliedschaft‘ aus. K. Berger argumentiert weiter, dass Paulus in den heidenchristlichen Gemeinden auf sekundäre Motivationen zurückgreift, und er setzt das Prinzip der ‚Almosen für Israel‘ interessanterweise als unbekannt voraus. Die Kollekte hat demnach die Aufgabe, „deren eigenen Status und die Berechtigung ihres Bekenntnisses“ zu bekräftigen.65 S. Joubert deutet die Kollekte nicht im jüdischen Kontext, sondern durch den Interpretationsrahmen des griechisch-hellenistisch benefit exchange. Dabei nutzt er Marcel Mauss’ Theorien über den Gabentausch in frühen Gesellschaften und als Modell Senecas Gedanken in De Beneficiis. Er stellt dar, dass durch freiwillige ‚Wohltaten‘ ein Verhältnis und eine Verbindung zwischen Geber und Empfänger aufgebaut wird, und der Empfänger seinen Dank auch sichtbar machen muss.66 Er unterscheidet dabei zwischen dem Interpretationsrahmen und der theologischen Bedeutung der Kollekte. Die Kollektenvereinbarung ist in der Folge nicht Bestandteil der Abmachung, die mit Handschlag besiegelt wurde. Es handelt sich hierbei um einen reward, weil die ‚Säulen‘ durch ihre Anerkennung Paulus’ sozial62 Er weist auf II Clem 14,4 hin, wo Almosen und μετάνοια eine Vergebung der Sünden verursachen. 63 Siehe Dan 4,27.33 f. Lxx: Nebukadnezar ist am Ende ein Gottesfürchtiger. 64 Vgl. Berger 1977, 197. 65 Vgl. ebd., 204. 66 In dem Zusammenhang untersucht er auch die Patronatsvorstellungen und den Euergetismus. Vgl. Joubert 2000, 70 ff.

200 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive religiösen Status erhöht haben.67 Diese Anerkennung des paulinischen Evangeliums schafft eine Verbindung, die als κοινωνία bezeichnet werden kann. Durch die Kollekte für tatsächlich Arme wird dann Paulus’ Dankbarkeit sichtbar und materialisiert, um das Verhältnis zwischen Paulus und Jerusalem zu festigen. In dieses System werden die paulinischen Gemeinden einbezogen, um die Einheit und Verbindung zu stärken. Die Kollekte ist somit nicht nach jüdischen Bedingungen, sondern nach paulinisch-hellenistischen Vorstellungen zu deuten. Paulus wird dann durch die Kollekte zum benefactor. S. Joubert geht weiterhin davon aus, dass Paulus in Jerusalem kurz als öffentlicher Wohltäter auftrat und plädiert für die Nasirätslösung bei der Annahme der Kollekte. Die Kollekte selbst entwickelte sich im paulinischen Denken von einem dreifach reziproken Verhältnis, das einen gegenseitigen Austausch beinhaltet, zu einer eigenständigen inneren Bedeutung, die von der Annahme in Jerusalem unabhängiger war. Betont wird bei den beiden letztgenannten Modellen, dass materielle und nichtmaterielle Güter im Austausch eine Verbindung schaffen und eine Zusammengehörigkeit ausdrücken. Von materiellen Gaben (ἐλεημοσύνη) wurde bereits in Tob 4,11, Tob 12,9 und Sir 3,33 gesagt, dass sie Sühnefunktion haben und vom Tod erretten können bzw. das ewige Leben bringen. Mit den Gaben, die aus der Anerkennung der Gleichrangigkeit des paulinischen Evangeliums kommen, wird also eine Einheit hergestellt, die bedeutend mehr ist, als eine rein soziale Unterstützung, auch ohne die theologischen Ausführungen, die in Röm 9–11 entfaltet werden. D. Downs baut auf dem Modell der benefactions auf und betont den ökumenischen Aspekt stärker (partnership-forming contribution).68 Sein Hauptanliegen sind die conceptual metaphors, von denen er zwei identifiziert: ‚Collection as Worship‘ und ‚Collection as Harvest‘, die sich teilweise überlagern.69 Dabei nutze Paulus eine kultische Sprache, die einerseits darauf hinweist, dass die Erfüllung gegenseitiger Wohltaten nicht im Lob der Wohltäter (wie im paganen Kontext: Geld gegen Ehre), sondern im Lob Gottes mündet, und andererseits Gott verantwortlich für die reichen Gaben sei. D. Downs betrachtet dabei die Analogie zu antiken Vereinen genauer und zeigt, dass es auch dort translokale ökonomische Verbindungen gab. Für heidenchristliche Gemeinden ergab sich ein besonderes Verständnisproblem, falls die translokalen ökonomischen Verbindungen doch nicht flächendeckend gängig waren. Die Mitglied-

67 Vgl. Joubert 2000, 102 f. 68 Titelgebend für seine Monographie ist Röm 15,16: ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν. Der Genitiv ist ein subjektivus, sodass: „the offering given by the gentiles“ zu übersetzen sei. Vgl. Downs 2008, 150. 69 Er bezieht sich dabei genauer auf II Kor 8,6 und II Kor 9,6–10 Vgl. ebd., 163.

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schaft in antiken Kultvereinen war heidenchristlichen Gemeindemitgliedern sicher bekannt. Mitglieder dieser Kultvereine zahlen in eine Kasse für den Verein. Diese Kasse ist eine Solidaritätskasse untereinander. Das Geld wird vereinsintern und meist lokal für die Mitglieder benutzt. Damit hat es eine sozial-kohäsive Kraft und ist als Mitgliedschaftsbeitrag auch ein boundary-marker. Dass ein Teil des Geldes der christlichen Gemeinde nach Jerusalem, einer vielleicht völlig unbekannten Gemeinde geschenkt werden soll, kann in diesem Verständnis schnell zu einem Unwillen führen. Daher will Paulus in I Kor 16,1–4 nicht, dass in einen ‚Gemeinen Kasten‘ gezahlt wird, sondern jeder für sich wöchentlich etwas zurücklegt. Damit ist die Analogie zum Mitgliedsbeitrag eines Kultvereins verringert, die Summe dürfte sich erhöhen und Paulus kann die Kollekte als ein Liebeshandeln charakterisieren, das nicht den eigenen Vorteilsgewinn im Sinn hat, sondern bei dem der Handlung selbst Bedeutung zukommt.

Durch die kultische Sprache stellt Paulus die Kollekte dann in den Kontext der religious offering, die ihr Ziel in der Ehre Gottes hat.70 Er unterstreicht, dass die christlichen Gemeinden ohne geweihte Altäre oder Bilder eher kultlos agierten, weshalb die Partizipation an der Kollekte zwar ein kultisch sakraler Akt ist, jedoch nicht im Sinne des Tempelkultes oder der Tempelsteuer zu verstehen ist. Die Metapher ‚Collection as Harvest‘ betont dabei, wie menschliche Handlungen durch Gott ermöglicht werden (I Kor 3,6–9). Er stellt dabei eine Verbindung zwischen Gottes initiativem Rechtfertigungshandeln und der xάρις als vorgängigem Gnadenhandeln her. Als Bewegung beschreibt er die Kollekte mit II Kor 9,14–15 so: der Ursprung ἡ χάρις τοῦ θεοῦ resultiert in der χάρις τῷ θεῷ.71 Zwischenfazit Die Kollekte ist ein besonderes Phänomen der paulinischen Gemeinden und auch in ihrer Entwicklung Ausdruck der paulinischen Theologie. Mit der Kollekte stehen sich Empfänger und Geber in einer speziellen Konstellation gegenüber. Zunächst sind theologische Unterschiede sowie differierende religiöse Lebensweisen auszumachen. Dazu kommen unterschiedliche politische, ökonomische und ethnische Voraussetzungen. Die Transaktion findet auch zwischen einer innerjüdischen Gruppe und Gemeinden statt, die aus der Außenperspektive nur locker an das Judentum angebunden sind. Der einende Punkt ist das Bekenntnis zu Christus. Grundlegend ist zudem, dass Geld von A nach B transferiert werden soll, es sich also augenscheinlich um einen ökonomischen Transfer handelt. Welche Mo70 D. Downs macht an Beispielen deutlich, dass die metaphorische Sprache eine Handlung in einen bestimmten Kontext setzt: Argument is War – ‚Your claims are indefensible‘. Andere konzeptuelle Metaphern sind auch möglich wie: Argument ist Dance/Journey/Building. Im Deutschen ist die monetäre Behandlung von Zeit beispielgebend: Zeit ist Geld – keine Zeit verschwenden. Vgl. Downs 2008, 124 und 145. 71 Dabei müsste noch auf die Bedeutungsbreite von χάρις eingegangen werden. Vgl. ebd., 164.

202 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive tivation und welcher Zweck sich genauer dahinter verbirgt, wird je mit anderen Akzenten erklärt. So werden je nachdem die Abhilfe des materiellen Mangels, zum Lob und zur Ehre Gottes, als Zeichen der Einheit der Gemeinden, zum Erweis der rechten Gnade in der Gemeinde durch die ἁπλότης, als eschatologisches Symbol, als sakralrechtliches Zeichen der Konversion oder der Ausgleich für geistliche Gaben stärker betont. Die vorgestellten Deutungen von D. Georgi, K. Berger, S. Joubert und D. Downs unterstreichen je einen bestimmten Aspekt, der einen Sinn in der Sammlung ausmachen soll. Die realen sozio-ökonomischen Bereiche, die die Sammlung tangiert, werden nur wenig mit der paulinischen Verkündigung in Beziehung gesetzt. Sieht man die Kollekte als praktische Gestaltung des Glaubens, muss noch einmal genauer gefragt werden, wie sich Inhalt und ökonomische Praxis zueinander verhalten. Inwieweit die paulinische Theologie auf die Ökonomie ausgreift, ist im Folgenden zu bearbeiten. Dabei sollen die bisher dargestellten Deutungen kritisch mitgedacht werden, sodass Aspekte wie beispielsweise das Almosen für Israel oder das Prinzip des benefit exchange Beachtung finden. Auf diese Weise sollen die weiteren theologischen Linien in einem ökonomischen Verständnis so berücksichtigt werden, dass die jeweiligen Aspekte nicht aus dem Blick geraten. Es ist dann zu kritisieren, dass die beschriebenen Deutehorizonte die realen ökonomischen Gesichtspunkte vernachlässigen und in diesem Zusammenhang gabetheorische Aspekte kaum beschreiben. Was ‚ökonomisch‘ in diesem Horizont heißt, wird ebenfalls genauer zu klären sein. Weiter zu fragen ist auch, inwieweit die vor Gott schon bestehende Gleichheit ökonomisch realisiert wird und wie ein Zusammenhang mit Gottes rechtfertigendem Handeln zu beschreiben ist. Dazu gehört das Nachdenken darüber, inwieweit aus dem Spezialfall ‚Kollekte für Jerusalem‘ tragfähige Impulse für eine neutestamentlich fundierte theologische Ökonomie ersichtlich werden. Die Kollekte für Jerusalem bekennt die bleibende Abhängigkeit von Israel. Zu diesem Bekenntnis muss sie nicht angenommen worden sein. Diese Komponente wird jedoch erst im Römerbrief expliziert. In den Korintherbriefen stehen weitere Motive im Vordergrund, die eine allgemeinere Deutung der Kollekte als in bestimmter Weise reziprok-soziales Handeln zulassen. II Kor 8 Im Folgenden gehe ich bei Kenntnis der Teilungshypothesen davon aus, dass zumindest II Kor 8–9 zusammen gehören. In einem ersten Schritt soll mit einem Durchgang durch den Text die inhaltliche Struktur deutlich werden. Der zweite Korintherbrief ist formal an alle Christen in Korinth und Achaia adressiert.72 Glei72 Die Adressierung könnte jedoch auch auf den Redaktor zurückgehen.

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che Begriffe, die im griechischen Text dennoch unterschiedliche Bedeutungen haben, kennzeichne ich mit hochgestellt römischen Ziffern. Paulus beginnt den Abschnitt ab II Kor 8,1 mit einer Information zum Stand der Kollekte. Grundlage des Fortschritts der makedonischen Kollekte ist die xάριςI τοῦ θεοῦ, die in73 den Gemeinden gewirkt hat.74 In II Kor 8,2 steht die Folge: das Übermaß (περισσεία) ihrer Freude und ihre Armut sind übergeströmt, hin zum Reichtum ihrer selbstlosen Gabe.75 Der Genitiv von ἁπλότης kann hier epexegetisch verstanden werden. Der Reichtum ist so als ‚einfältige‘ Gabe charakterisiert.76 Die materielle Armut ist ein Faktum, die aufrichtige Gesinnung beim Geben ist erst ermöglicht durch die Gnade, so deutet Paulus die Kollektenbeteiligung trotz der Armut. Als Einstieg bleibt jedoch ein Paradox, das den Abschnitt bestimmt: die abgrundtiefe Armut fließt über in Reichtum. Die Auswirkungen der Χάρις werden in den Versen 3-5 skizziert. Die Makedonier geben [sogar] über ihr eigentliches Vermögen hinaus freiwillig (αὐθαίρετοι). Ermöglichungsgrund ist textlogisch die xάριςI . Der Sprachduktus entspricht hier dem Modus des Zeugnisses. Paulus theoretisiert nicht die Folge von göttlichen Gnadenzuwendungen, sondern deutet und bezeugt, was er in der makedonischen Handlung erkennt. Der Vers 4 verdeutlicht den eigenen Wunsch der Makedonier zur Teilnahme an: τὴν χάρινII καὶ τὴν κοινωνίαν τῆς διακονίας für die Heiligen. Τὴν χάρινII kann hier nicht mehr als göttliche Gnadengabe verstanden werden, sondern bezieht sich entweder auf die Kollekte als Synonym oder auf die ‚Gunst‘ der Teilnahme. S. Münch plädiert für die Bedeutung ‚Spende, Almosen‘ und macht einsichtig, dass sich xάρις auf die innere Disposition der Gabe bezieht und κοινωνία auf den helfenden Aspekt der Spende.77 Διακονία ist dann die Umschreibung der Kollekte, wobei das Verständnis als ‚Dienst‘ zu offiziellen und verpflichtenden Charakter haben dürfte. Vers 5 bestimmt das Verhalten der Makedonier dann entsprechend dem Willen Gottes, indem sie sich erst dem Herrn und in der Folge dem Apostel (ἡμῖν) übergeben haben. Der Wille Gottes und das Wohlgefallen Gottes entsprechen sich in dem Fall. Paulus stellt auch die Hingabe der Makedonier als seine Erwartung übertreffend dar. Das führt er auf den Willen Gottes zurück, dessen Gnade schon hier einen ‚Überfluss‘ an Hingabe stiftet. Die Hingabe zeigt noch einen weiteren 73 ‚In‘ ist lokal: ἐν, im Sinne von ‚unter den Christen in…‘ verständlich. 74 Χάρις ist hier als Befähigung zu einem bestimmten Tun zu verstehen. 75 II Kor 8,2 NA28 εἰς τὸ πλοῦτος τῆς ἁπλότητος αὐτῶν. 76 Vorsichtig generalisierend formuliert sind griechische Gaben auf das Gute aus, während jüdische Gaben Gott ehren. 77 Vgl. Münch 2012, 99.

204 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Aspekt, der in der Synopse mit II Kor 1,1 deutlich wird. Dort wird Paulus’ Apostolat mit dem Willen Gottes begründet, und die Hingabe bzw. Teilnahme an der Kollekte ist die Anerkennung von Gottes Wirken in Paulus’ Dienst und damit eine Legitimationsstrategie für die Kollekte.78 Das εἰς τὸ des Verses 6 zeigt die Folge, dass Paulus Titus sendet, um τὴν χάριν ταύτην auszuführen. Die Übertragung mit ‚vollenden‘ erscheint hier weniger angemessen, weil ein Bezug zur XάριςI vorliegt und die initiale göttliche Gabe sicher nicht zu einem Ende, sondern zur Materialisierung und Anwendung gebracht werden soll.79 Der erste Abschnitt führt den Korinthern das Beispiel der Makedonier vor Augen. Paulus deutet die Erfahrung eines Gebens, das trotz Armut zu einem Reichtum führt (V. 2) mit der Gnade Gottes. Es stehen hier ein geschenkter geistlicher Reichtum derart mit materieller Armut in Verbindung, sodass ein Geben initiiert wird, das materiell gesehen eigentlich kaum möglich ist, wenn man von permanentem Mangel ausgeht. Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass das Geben nicht zum Mangel, sondern zum Überfluss führt, erfolgt der Appell and die Korinther. In II Kor 8,7 wird den Korinthern ein Überreichtum an Glauben, Rede, Erkenntnis, Eifer und Liebe zugeschrieben, der sich nun in dieser betonten xάριςII ausdrücken soll. Dabei handelt es sich nicht um einen apostolischen Befehl, sondern dargestellt wird ein ‚reizen‘, um die Echtheit der Liebe zu erweisen und damit um ein sichtbares Zeichen des Glaubens.80 Bei der Kollekte als Demonstration der Ernsthaftigkeit des Glaubens wird die Liebe zu einer Handlung. Sie ist damit auch ein fundamentaler Ausdruck des Gehorsams und der Anerkennung des Evangeliums. Die Liebe bezieht sich auf den, der reich war und arm wurde, um die Korinther reich zu machen. Reich und Arm sind hier in Anlehnung an Phil 2,6–11 nicht materiell zu verstehen, sondern als Beschreibung des Handelns und der Gemeinschaft Gottes. Aus diesem soteriologischen Gnadenhandeln ergeben sich dann Aktionsmöglichkeiten für die Gemeinden, deren geistlicher Reichtum in diesem Geschehen wurzelt. ‚Christi arm werden‘ ist die Logik, in der Fortgeben nicht zur Armut führt, sondern zum Überfluss. Christus hielt an seiner Gemeinschaft mit Gott nicht fest, wie an einer Beute oder einem Raub (Phil 2,6) und Gott sorgt dafür, dass aus dieser Armut ein Reichtum für die Korinther entsteht. Die 78 Das πρῶτον muss dann nicht unbedingt temporal gedeutet werden. 79 Vgl. Münch 2012, 108. 80 Ein solches ‚reizen‘ und Eifersucht ist traditionell biblisch belegt in Dtn 32,21 (Gott reizt durch ein Nicht-Volk [‫לא־ָ֔עם‬ ֹ ‫ ַאְק ִני ֵ ֣אם ְּב‬/ κἀγὼ παραζηλώσω αὐτοὺς ἐπ᾽ οὐκ ἔθνει] und erscheint wieder in Röm 10,19, Röm 11,11.14 sowie I Kor 10,22). Paulus kennt und nutzt diese Argumentationsstruktur.

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selbstlose Gabe wird hier als ein Modell vorgestellt, das von einem reichen geistlichen Besitz ausgeht und als materielle Gabe vom eigenen Mangel absehen kann. Ab Vers 10 geht Paulus zunächst mit einer captatio benevolentiae auf die guten Absichten der Korinther ein, um dann auf das fehlende Tun hinzuweisen. Die προθυμία τοῦ θέλειν muss ihre Entsprechung in der Tat finden. Die Vollendung (ἐπιτελέω) sieht R. Ascough nicht als verwaltungstechnischen Terminus, sondern als „religious duty“, weil er davon ausgeht, dass solche Wohltaten grundsätzlich zur religiösen Praxis gehörten. H. D. Betz hingegen beschreibt das Auseinanderfallen von Wollen und Tun als typischen ‚Gemeinplatz‘, der zur Vollendung der bereits in Gang gebrachten Kollekte motivieren soll.81 Der Maßstab (V. 11b–12) für das Geben ist dann das Mögliche. Paulus fordert keine ruinösen Gaben, die eine sklavische Schuld bereinigen sollen, sondern angemessen soll gehandelt werden. Es liegt dann im Maßstab, dass sowohl kleine als auch größere Spenden ihren Wert unabhängig von der Anzahl der ‚Münzen‘ haben und dass proportional zum Vermögen quasi ein gleich großer Wille bei unterschiedlicher Spendenhöhe vorhanden ist.82 Diese Angemessenheit (V. 13) findet ihr Ziel in einem Ausgleich: ἰσότης. Mit der proportionalen Gleichheit wird eine starre Gleichheitsvorstellung aufgebrochen zugunsten einer flexiblen, die unter individuelleren Gesichtspunkten gerecht erscheinen kann. Dabei kann es bei dem ausgleichenden Umgang mit Geld um keine andere Gerechtigkeit gehen als die Rechtfertigung. Diese muss im Güteraustausch unter den Christen ihre Realität und Wirklichkeit erweisen. Die Gleichheit hat dabei eine mehrfache Relation. Die Gleichheit vor Gott ist eine Voraussetzung, die aus der Gnadenzuwendung resultiert. Das Ziel ist eine Gleichheit, die die Gemeinschaft mit Gott voraussetzt und nicht allein einen Ausgleich zwischen Juden- und Heidenchristen bedeutet. Es geht hier um einen übergeordneten Ausgleich zwischen Mangel und Überfluss, wobei die Kategorien von Armut und Reichtum mit geistlichen und materiellen Gütern verschränkt werden. Mangel und Überfluss in 8,14–15 Vers 14 verschränkt den Reichtum und die Armut von Korinthern und Jerusalemern in besonderer Weise. In der jetzt eschatologisch qualifizierten Zeit wird ein Überschuss zum Ausgleich eines äußeren Mangels herangezogen. Man kann fragen, um welchen Überschuss es hier genau geht. Im Kontext geht es mit dem Stichwort meist um die geistlichen Gaben, doch hier bezieht sich Paulus konkret auf 81 Vgl. Ascough 1996, 587 ff. Die administrative Deutung von ἐπιτελέω in: Betz 1993, 122. 82 In den Evangelien ist das traditionell am Scherflein der Witwe ausgeführt (Mk 12,41–44). Zu einer gänzlich anderen Deutung kommt Lau 2016.

206 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive die Kollekte. Damit ist angespielt, dass hier die Kategorien von arm und reich miteinander in Beziehung stehen. Die Korinther sind reich an geistlichen Gaben, wie Vers 7 bescheinigt, und sollen auch im Kollektenwerk, also dieser Gnade, überreich werden. Hinzu kommt, dass die Korinther zwar arm, jedoch wohl nicht so arm wie die Makedonier waren. Sie sollen ihre materielle Armut und ihre geringen Überschüsse im Rahmen der göttlichen Zuwendungen verstehen und Vers 7 zeigt den Korinthern, dass Gott sie ausreichend gnädig bedacht hat, sodass sie in Vers 14 erkennen können, dass aus diesem ‚mehr als genug‘ haben auch etwas folgt. Gnadenzuwendungen nur zu behalten, entspricht nicht dieser Zueignung. Aus dem, was sie zu viel haben, geben sie dann nicht aus eigener, sondern aus fremder Hand. Damit sind geistliche wie äußerliche Zuwendungen als von Gott abhängig erfahren, und ökonomisch besehen ändert sich die Eigentümerstruktur in der Kollekte. Das Ziel ist dabei kein äußerlicher Überfluss, sondern äußerlich ein Ausgleich sowie ein geistlicher Überfluss. Der Mehrwert der Gabe liegt dann zum einen in der Solidarität unter den Christen. Mit einem ἵνα καὶ wird der gegenläufige Austausch beschrieben. Interessant ist hierbei, ob eine zukünftige Rückabwicklung im Blick ist oder man die Reziprozität anders zu verstehen hat. In der Kombination von ἵνα mit γένηται (Konj. Aorist Med. Sg.) ist grammatisch eine finale Deutung des Halbverses anzuwenden. Impliziert ist damit die Frage, ob das paulinische Gabemodell auf eine Antwort oder eine Gegengabe ausgerichtet ist. Dies ist schwer vorstellbar, weil Paulus die Kollekte stark an die unkonditionale Gabe Gottes bindet, auf die zwar zu antworten ist, die jedoch nicht auf Lohn aus sein kann. Zudem ist die jüdische Almosenlogik ebensowenig auf Lohn aus und mehr auf die Ehre Gottes. S. Münch legt für ἵνα eine kausale, anstelle einer finalen Übersetzung nahe, die sich im Gedankengang und auch im Vergleich zu Röm 15,27 anbietet.83 Ziel ist in jedem Fall die Gleichheit oder besser Ausgeglichenheit. Je nachdem, welche Übersetzungsvariante man für Vers 14 annimmt, betont man entweder den Antwortcharakter der Kollekte auf eine geistliche Gabe oder die durch den Gabentausch entstehende Gemeinschaft und Verbindung. S. Friesen geht hingegen davon aus, dass hier eine „multidirectional, need-based redistribution“ vorliegt,84 und mit dem Ziel der ἰσότης auch eine neue ökonomische Praxis ins Feld geführt wird. Zu diesen Thema müssen Gabe und Tausch als ökonomische Phänomene genauer betrachtet werden. Das Beispiel aus Ex 16,13f, mit dem Paulus die Gleichheit beschreibt, erhellt diesen Zusammenhang näher. Paulus zitiert aus der Septuaginta das Manna83 Vgl. Münch 2012, 145. 84 Vgl. Friesen 2010, 51. Ebenso geht J. Meggitt davon aus, dass die materielle Unterstützung im umgekehrten Fall eben aus Jerusalem käme. Es handle sich zudem nicht um eine geistliche Rückgabe, da die Korinther nach I Kor 1,7 hier kaum Bedarf hätten. Meggitt 1998, 159 und 161.

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Wunder, um mit dem Vergleichspunkt ‚Bedarf‘ einen Verstehenskontext von proportionaler Gleichheit darzustellen. Er zitiert explizit eine Zentralstelle aus dem Kontext Ex 16,13–36.85 Das Stichwort ἰσότης fällt in diesem Abschnitt nicht, ist aber traditionell, u. a. durch Philo mit dieser Geschichte verbunden.86 Paulus verweist auf eine Gleichheit, die sich am Bedarf orientiert, darüber aber nicht hinausgeht. Die Versorgung mit Manna87 beweist geradezu die Sorge und Gegenwart Gottes. Die Fürsorge ist dabei insoweit angemessen, dass egal wie viel die Israeliten sammelten, genau der Tagesbedarf gedeckt wurde. Nicht mehr und nicht weniger. Deutlich wird im Zitat, dass nicht das menschliche Engagement beim Sammeln den Ausschlag auf die Menge des Manna gibt, sondern dass die Zuwendung unbedingt ausreichend bemessen ist. Im Verlauf von Ex 16 versuchen dennoch einige am Sabbat Manna zu sammeln, obwohl am Tag zuvor die doppelte Ration gesammelt werden konnte und auch haltbar war. Das bedeutet, dass diejenigen, die am Sabbat sammelten, ein Übermaß anhäufen wollten, weil aus der Logik der Geschichte evident ist, dass sie grundsätzlich versorgt waren. Das was ökonomisch dann als Überschuss betrachtet werden müsste, ist den Israeliten durch die Haltbarkeit und die wundersame Relation zum Bedarf verwehrt. Das Manna-Bild beinhaltet einen Grundgedanken, der nicht auf dem Mangelprinzip fußt. Aus diesem Denken heraus konnte ein jeder sammeln soviel er wollte, ohne dass ein anderer Mangel erleidet bzw. sich Unterschiede im Ergebnis der Sammlung finden ließen. J. Barclay weist darauf hin, dass das Manna-Zitat von Paulus zwar in Verbindung gebracht wird mit dem „pattern of the mutual sharing of grace-in-surplus“, jedoch an sich kein Teilen oder einen Ausgleich von Ressourcen beinhaltet.88 Es zeigt hier also zunächst, wie die Korinther ihre eigenen Gaben verstehen können: nämlich geistlich und materiell im Rahmen der Manna-Erzählung. Im Bild steckt dabei auch, dass das Zuviel nicht produktiv ist, sofern gehortet wird, denn es ist nicht haltbar. Das betont noch einmal, dass das Sammeln in Scheunen, um das Bild aus Lk 12,16–20 zu bemühen, nicht der ursprünglichen Gnade entsprechen kann. Im größeren Kontext der Wüstenwanderung, darauf ist hinzuweisen, ist die Narration eingebettet in die Situation des Mangels. In der Vergangenheit stehen die Fleischtöpfe der Ägypter und in der Zukunft ist das Land verheißen, in dem sprichwörtlich Milch und Ho85 LXX: … οὐκ ἐπλεόνασεν ὁ τὸ πολύ, καὶ ὁ τὸ ἔλαττον οὐκ ἠλαττόνησεν· ἕκαστος εἰς τοὺς καθήκοντας παρ᾽ ἑαυτῷ συνέλεξαν. NA28 II Kor 8,15 … ὁ τὸ πολὺ οὐκ ἐπλεόνασεν, καὶ ὁ τὸ ὀλίγον οὐκ ἠλαττόνησεν. 86 Vgl. Betz 1993, 131. 87 Volksetymologisch nach der Frage: Ex 16,15 ‫ ָ֣מן ֔הּוא‬/ τί ἐστιν τοῦτο in Ex 16,31 ‫ ָ֑מן‬/ Μαν gedeutet. 88 Vgl. Barclay 2008, 411.

208 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive nig fließen. Letzteres dürfte dann besonders mit Gedanken der Überfülle und des Überflusses konnotiert sein. Tatsächlich scheint es in beiden Texten zunächst darum zu gehen, den Mangel zu eliminieren. Die erste überfließende Gabe ist dabei Voraussetzung und Grund für die ‚Ent-Mangelung‘ unter Christen. Mit dem Mannawunder ist nachgezeichnet, inwiefern die Logik des Mangels keine Berechtigung mehr hat. Ausreichend und immer neu im Überfluss beschenkt, so die Mannalogik, ist die Gabe von ganz anderer Art, denn Sie erschöpft sich nicht. Sie produziert keinen Mangel auf Seiten des Gebers, aber Fülle auf Seiten des Empfängers. Von einem Überfluss ist an dieser Stelle nur in begrenztem Maß zu reden. Die willkommene Gabe der Korinther ist nach dem Vermögen begrenzt. Das Manna in seiner Haltbarkeit. Überfluss besteht in dieser Denkweise nicht in der Akkumulation einer quantifizierbaren Menge, für die es im Zweifelsfall gar keinen Bedarf gibt. Aus dem Mannawunder gilt Überfluss als das, was den aktuellen, wiederkehrenden Bedarf deckt. Der Ausgleich, der mit der Kollekte vorgestellt wird, ist in dieser Hinsicht abstrakter. Ausgeglichen wird nicht in erster Linie ein akuter Bedarf aufgrund einer Hungersnot. Aus karitativer Sicht wäre die Kollekte sonst fehlgeplant. Ein materieller Mangel kann dabei bei der Jerusalemer Gemeinde dennoch bestehen. Überschießend ist die finanzielle Zuwendung jedoch, wenn sie als ungeschuldete Anrede an die ‚Urgemeinde‘ verstanden wird. Dann verwalten die Korinther nicht ihren finanziellen Mangel, sondern geben aus einem Glauben heraus, der um die Fülle der göttlichen Gnadenzuwendungen weiß. Diese Zuwendung wird dann sichtbar in der selbstlosen und aufrichtigen Gabe, deren Anlass nur die xάριςI sein kann. Paulus spricht von einer Logik des Überflusses (V. 14 περίσσευμα vs. ὑστέρημα), die auf beiden Seiten besteht. Im Überfluss der Korinther ist vorausgesetzt, dass ihr Bedarf, das was sie benötigen, gedeckt ist. Die Verschränkung des Überflusses der Korinther mit dem Mangel der Jerusalemer und umgekehrt, zeigt zusammen mit der Begrenzung der Kollekte, dass die Gleichheit nicht in einem materiellen Überfluss bei den Empfängern mündet. Es muss hier also etwas anderes gemeint sein. Von der Struktur her stehen sich materieller Überfluss bei den Korinthern und geistlicher Überfluss bei den Jerusalemern gegenüber. Dabei ist nicht ausgemacht, dass der Überfluss der Jerusalemer im zweiten Versteil anschließend auch materiell sein muss. Zieht man Röm 15,27 hinzu, geht es nicht nur um einen sozialen Ausgleich, sondern um eine Verbindung zwischen τὰ ἔθνη und τοὺς πτωχοὺς τῶν ἁγίων τῶν ἐν Ἰερουσαλήμ. Diese Verbindung wird näher qualifiziert als Austausch von geistlichen (πνευματικοί) und leiblichen (σαρκικοί) Gütern. Mit einem solchen Austausch geht es dann tatsächlich um Gleichheit, genauer um Gleichstellung. Dass sowohl die materiellen wie auch die geistlichen Gaben auf der Χάρις

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Gottes beruhen, ist dabei ein paulinisches Axiom. Wird jedoch ein Austausch und Ausgleich beschrieben, so geht es darum, dass beide Seiten eine gleiche Stellung bekommen und so ethnisch und sozio-ökonomisch nicht mehr mit Unterschieden operiert wird. Die Kollekte leistet somit einen Beitrag zur Aufhebung der gesellschaftlichen Differenzen.89 Der jeweilige Überfluss führt beim Geber also nicht zum Mangel, beim Empfänger hingegen zu einer gewissen Bedarfsdeckung, aber auch zu mehr als einer materiellen Zuwendung. II Kor 8,13–15 Der Abschnitt ab Vers 8 und besonders 13–15 stellt konzentriert eine Ökonomie dar, in der geistliche und äußerliche Gaben in einem komplizierten Verhältnis stehen. Für alle Gaben gilt die Manna-Analogie, die zeigt, dass materielle wie immaterielle Gaben nicht einer menschlichen Eigentumslogik entsprechen, sondern Geschenke sind. Wenn man sie als solche betrachtet und erfährt, dass man genug hat und darauf vertrauen kann, verändert sich der Umgang mit äußerlichen Gütern. In der Mannaerzählung ist auch die Gegenwart und Fürsorge Gottes in besonderer Form aufgerufen, sodass mit dem materiellen Ausgleich auch eine Dimension des Handelns sichtbar wird, die dem Glauben entspricht. Die materiellen Gaben sind insoweit kein Eigentum, sondern ein Mittel und Werkzeug zur Lebenssicherung, zum Ausgleich und zum geistigen Überfluss. Unter der initialen Gnade verändert sich der Umgang mit dem Materiellen entsprechend der zitierten Christuslogik im Philipperhymnus und dem Mannazitat. Während der Mannaverweis die Sichtweise auf das Eigene verändert, zielt die Christuslogik auf die Ursprünge des korinthischen geistlichen Reichtums. In dieser Entsprechung ist ‚Weitergabe‘ (V. 8) der Erweis der Liebe, weil auch der geringe Überschuss als Anlass zum Teilen begriffen wird. Die Selbsthingabe der Makedonier (V. 5) entspricht dieser Eigentumslogik: Wenn man nur aus Gottes Hand geben kann, ist man selbst das einzige (auch nur bedingte) Eigentum, das man Gott selbst hingeben kann. II Kor 8,16–24 In II Kor 8,16–24 geht es um die Boten, namentlich Titus, dessen besonderer Eifer betont wird. Er scheint einer der Hauptakteure der Kollekte gewesen zu sein. Mit Titus reist ein Bruder, der nicht nur lobenswert ist, sondern auch von den Gemeinden offiziell (wörtlich: per Hand) gewählt wurde. Dieser Bruder hat die Aufgabe, die xάριςII –Kollekte, die von Paulus und Titus (ἡμῶν) verwaltet wird, zu begleiten. 89 Theologisch kann dabei auch an Gal 3,28 gedacht werden, wo zwar nicht die Aufhebung einen Sklavenstandes gefordert wird, die Gleichstellung von Christen vor Gott jedoch unaufgebbar ist.

210 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Die Kollekte hat hier die Funktion wie ein Almosen: zur Ehre Gottes und als Erweis der Bereitwilligkeit (προθυμία).90 Wichtig ist Paulus, den Eindruck zu vermeiden, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. Überhaupt vermeidet Paulus griechische Entsprechungen für Geld (ἀργύριον, χρυσίον) und es scheint in II Kor 12,16–18, als sei Paulus misstraut worden und eine Art Gutachter nötig (Vers 8,19).91 Mit einem weiteren Bruder hat die Vorabdelegation einen offiziellen Charakter. Vers 24 verweist darauf, dass die Korinther ihnen gegenüber ihre Liebe zeigen und so den Ruhm rechtfertigen sollen. Die καύχησις leitet dabei über zu II Kor 9,2, wo Paulus diese Bereitschaft lobt. Da die Delegation dafür Sorge tragen soll, dass die Gemeinde bei der Ankunft des Apostels ‚bereit‘ ist, ist der Erweis der Liebe nicht nur auf den Umgang mit den Abgesandten zu beziehen, sondern auch auf die Kollektengabe. Die Liebe soll Gestalt gewinnen (ἐνδείκνυμι) und ein sichtbares Zeichen werden. Dabei ist mit der Sammlung auch die Zustimmung zum paulinischen Apostolat bewiesen. Die von Paulus veranstaltete Kollekte ist sicher soweit mit seiner Person verbunden, dass gerade bei Spaltungen in der Gemeinde oder Zweifel am Apostolatsanspruch die Kollekte ins Stocken geraten würde. Damit ist sie auch ein Zeichen und eine Zustimmung für das paulinische Evangelium. 2Kor 9 Die Bereitschaft und das Rühmen bieten einen inhaltlichen Übergang von Kap. 8 zu Kap. 9 an,92 bei dem die Bereitschaft zum ‚Dienst für die Heiligen‘ der Grund des Ruhmes ist. Hier scheint paulinische Vorsicht durch, sodass die Korinther (väterlich) ermahnt werden, nicht hinter ihren (frommen) Absichten zurückzubleiben. Paulus argumentiert hier mit Vorschusslorbeeren, denen die Korinther gerecht werden sollen. Dazu sollen die Vorausgesandten τὴν προεπηγγελμένην εὐλογίαν bereit machen, sodass die Segensgabe auch wirklich eine solche ist, und nicht eine Gabe des Geizes. Πλεονεξία ist im Kontext als unwilliges Tun verständlich, bei dem im Vordergrund steht, nicht zu viel von dem Eigenen zu geben. Eine solche Gabe rechnet damit, dass immer Mangel besteht, also nicht frei gegeben werden kann. Die Kollekte wurde bereits in I Kor 16,4 als λογεία bezeichnet und hier mit dem Zusatz εὐ-λογία - ‫ ְב ַרַכה‬modifiziert. Damit ist der Gegensatz zum Geiz nicht nur eine neutrale Sammlung, sondern eine Segensgabe. Aus dem Wortfeld ‫ברך‬ sind dann auch die Mehrung und der gute Ertrag für das Bild des Säens und Erntens von Bedeutung. Dabei beinhaltet der Begriff auch die Dankesgabe, die auf 90 Vgl. Joubert 2000, 187. 91 Dass die Korinther Paulus unterstützen wollten, geht aus I Kor 9,13 hervor. 92 Mit dem Neueinsatz: Περὶ μὲν γὰρ oder dem Lob der Korinther in II Kor 9,2 im Vergleich zum Lob für Achaia in II Kor 8,2 allein sind keine zwei Einzelschreiben zu erklären.

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empfangene Wohltaten reagiert,93 dies allerdings nicht als Akt der ausgleichenden Rückzahlung, sondern als Ausdruck der Freigiebigkeit aufgrund der empfangenen Gnade Gottes. Im Bild des Säens werden, ökonomisch gesprochen, Investition und Ertrag korreliert. Der kärglichen Aussaat steht das Ausbringen des Samens mit Segensfülle (ἐπ’ εὐλογίαις Pl.) gegenüber. Will man also in Segensfülle ernten, soll die Gabe dem auch entsprechen. Dabei muss hier nicht in einem zeitlichen Verlauf gedacht werden, sondern die Ernten sind die Folge und Konsequenz der Gabe. Diese beziehen sich sowohl auf die Geber als auch auf die Empfänger. Die Verbindung von agrarischen Motiven mit moralischen Einsichten ist in Prov 22,8 sowie dem Gegenstück Prov 11,25 als Vorlage zu finden. Dem Bild selbst liegt zugrunde, dass ohne den Segen Gottes keine Ernte möglich ist. In den Versen 5 und 6 ist es die fröhliche, überreichliche Gabe, die Gott entspricht. Gott liebt den fröhlichen Geber, weil er der fröhliche Geber par excellence ist und diese menschliche Art des Gebens die rechte Antwort auf die freie Gnadengabe ist. Gott als ursprünglicher Geber ist besonders in I Chr 29,1494 zu finden. Daher wurde auch vermutet, dass Davids Gebet eine Vorlage für Paulus’ Kollektenargumentation bildet. Die Bereitwilligkeit, mit der die Obersten gegeben haben, wird betont, und auch Davids Gabe wird als aufrichtige (I Chr 29,17: ἁπλότητι) Gabe charakterisiert.

II Kor 9,8 stellt den Überfluss der Gaben und den Bedarf genauer in Relation: Die überfließenden Gaben an die Korinther sind auf ihre αὐτάρκεια hin bezogen. Dieses ‚ausreichende Auskommen‘, die Souveränität befähigt zum guten Werk, ohne dies als Schuld zu tun, sondern unabhängig und aus freiem Willen. Der Glaube an die überfließenden Gaben Gottes ermöglicht die Gabe, und Gott lässt sie nicht durch einen Mangel bezahlen, sondern macht sie zum Segen für den Empfänger. Dadurch gewinnt die xάριςI in der Welt Gestalt und wird zur erkennbaren Wirklichkeit.95 Das περισσεύειν an Gnade zeigt dabei die Abhängigkeit von Gott, aber auch, dass Gott die Möglichkeit zum Geben schafft. Das ‚gute Werk‘ ist dann näher durch das Zitat von Ps 112,9 illustriert. Die Gerechtigkeit Gottes erweist sich in seiner Gabe an die πένησιν – ‫ָלֶאְביֹו ִ֗נים‬, und analog wird er die Gerechtigkeit der Geber in Korinth wachsen lassen, weil er sowohl den Samen gibt als auch die Saat vermehrt. Durch die Anspielung auf Jes 55,10 (auch Hos 10,12) wird die menschliche Situation als mehrfach von Gott begabte gesehen. „Der Gebende sieht sich beschenkt; statt zu verlieren, gewinnt er 93 Vgl. Joubert 2000, 192. 94 Weiterhin relevant: I Chr 29,6.9. Vgl. Georgi 1994, 78. 95 Vgl. Reinmuth 2003, 629.

212 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive dazu, statt sich im Geben zu verausgaben, sieht er sich plötzlich vor einem unerschöpflichen Schatz“.96 Eine solche Erfahrung führt zu einem Handeln, das nicht aus dem Mangel heraus gibt, sondern aus einer geschenkten Fülle. Das Bild des Säens und Erntens von leiblichen und geistlichen Gütern funktioniert für Paulus auch in Bezug auf seinen Unterhalt in I Kor 9,11. Er bleibt dabei soweit im Rahmen, dass der Apostel nur die Aussaat übernimmt, (τὰ πνευματικὰ sind von Gott gegeben) und die Ernte einem Aspekt nach auch materiell sein kann. Dies ähnelt strukturell dem Austausch von geistlichen (πνευματικοί) und leiblichen (σαρκικοί) Gaben in Röm 15,27. In Gal 6,8 hingegen ist das Bild auf das geistliche Säen und geistliche Ernten abgewandelt, wie auch in II Kor 9,6.97

Die Kollekte als ‚Frucht‘ der Gerechtigkeit ist dabei auch ein deutliches Zeichen für Gottes rechtfertigendes Handeln an den Heiden. In Vers 11 werden dann die Korinther als ‚reich gemachte‘ angesprochen, was zur Aufrichtigkeit oder Freigiebigkeit (ἁπλότης98 ) führt. Diese Aufrichtigkeit bewirkt die Danksagung (εὐ-χαριστία) Gott gegenüber. Die gütige Gabe an den Nächsten scheint dabei die Form zu sein, die den Dank an Gott am besten darstellt, weil sie nicht allein wegen des Mangels erfolgt. Einer möglichen Übersetzung nach wirkt der Dienst überreich durch den Dank der Vielen. Versteht man nun im Vers 12 λειτουργία als priesterlichen Dienst, kann man mit D. Georgis Akzentuierung der Völkerwallfahrt auf einen „weltweiten Gottesdienst“ hin interpretieren. Anders geht S. Münch vor, der sich gegen einen ‚Kreislauf‘ der xάρις99 abgrenzt und den Dank als Antwort auf die ἁπλότης erklärt. S. Joubert spricht von einer „three-way reciprocal relationship“ und der Transformation des Systems des benefit exchange, bei der die innere Disposition der Geber wichtiger wird als der Dank der Empfänger.100 Die Bewährung des Dienstes ruft den Lobpreis Gottes hervor, der Grund ist mit ἐπὶ nachgestellt. Fraglich ist nun, wer das Subjekt des Lobpreises ist. Der Form nach findet sich keine sofort passende Entsprechung, sodass in der Kommentarliteratur auf die Christen in Jerusalem und auf die Vielen (πολλῶν εὐχαριστιῶν) in V. 12 verwiesen wird. Der Dank der Vielen beziehe sich dann nicht direkt auf die Kollekte, sondern auf die Zustimmung zum paulinischen Evangelium. Die Gemeinden Makedoniens preisen dann Gott für die Unterordnung unter die Anerkennung des Evangeliums. Es bleibt, dass die Gabe, die aus der Verkündigung heraus in Aufrichtigkeit gege96 Vgl. Georgi 1994, 70. 97 Vgl. Münch 2012, 174. 98 Ἁπλότης ist im II Kor einer der Zentralbegriffe. Genannt wird er in II Kor 1,12, II Kor 8,2, II Kor 9,11.13, II Kor 11,3; sonst bei Paulus nur in Röm 12,8. 99 Er deutet II Kor 1,11 und II Kor 4,15 als einen andauernden Prozess. Vgl. ebd., 204. 100 Vgl. Joubert 2000, 216.

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ben wird, Dankbarkeit und das Lob Gottes zur Folge hat, weil sie im Geist Christi erfolgt und als Gemeinschaftsgabe auch die Anerkennung des einen Evangeliums bedeutet. In II Kor 9,13b: καὶ ἁπλότητι τῆς κοινωνίας εἰς αὐτοὺς καὶ εἰς πάντας – zeigt die Kollekte nicht nur die Gemeinschaft mit den Jerusalemer Christen (αὐτοὺς), sondern mit einem erweiterten Auditorium. Der Dank und Lobpreis bezieht sich so nicht nur auf diejenigen, die materiell etwas von der Kollekte haben. Die Unterordnung unter das eine Evangelium wird durch die Kollekte evident, und damit ist dafür zu danken, dass die Gnade Gottes auch in der korinthischen Gemeinde gewirkt hat (vgl. II Kor 8,1), wie Vers 14 im Ausblick auf eine erfolgreiche Sammlung feststellt. Die xάριςI weist als inclusio wieder zurück zu II Kor 8,1, woraufhin im Folgenden xάρις im Sinne von Dank in der Doxologie gebraucht wird. 5.4.2.1 Exegetisches Ergebnis In II Kor 8–9 wird die Kollekte als ein Geben ausgeführt, das dem Überfluss der göttlichen Zuwendungen entspringt und nicht zu einem Mangel führt, sondern zu einem weiteren Überfluss. Mit dem Werkzeug Geld wird ein Segen verbunden, der die freiwillige Gabe zur Voraussetzung hat und darauf vertraut, dass Gott nicht nur die Existenzsicherung (αὐτάρκεια) verbürgt, sondern auch einen Überfluss schafft, der gute Taten ermöglicht. Gottes Gnade modifiziert den Umgang mit Geld und Eigentum, sodass es nicht mehr ‚das mir Zustehende‘ ist, sondern das mir Geschenkte. Das Saatgut wird dann zum Segen, wenn es reichlich gesät wird und die Selbstlosigkeit entspricht dem ‚genug haben‘. Eine ähnliche Struktur wird in Phil 4,17 an der Unterstützung für Paulus sichtbar, wo die Gabe eine Frucht ist, die den eigenen Gewinn mehrt. Es ist ebenso eine Gemeinschaft des Gebens und Nehmens dargestellt, und die Gabe der Philipper reagiert auf Paulus’ Mangel. Zudem unterstützen die Philipper so die Arbeit in Korinth (II Kor 11,8). Das Beispiel der Makedonier ist das Zeugnis der Gnade, die sich die Korinther nach Vers 14 sogar noch mehr leisten könnten. Dabei geht es Paulus mit dem Verweis101 auf den Philipperhymnus nicht um eine radikale imitatio christi und damit um das Aufgeben von Gütern, sondern er plädiert für eine Balance, die auf eine Partnerschaft und Solidarität hinausläuft, die soziale Konventionen hinter sich lässt. Gerade hinsichtlich einer möglichen Auseinandersetzung um ein Patronatsverhältnis zwischen den Korinthern und Paulus, gegen das sich Paulus wehrt, ist mit der Kollekte kein solcher Anspruch verbunden. Paulus verweist auf Gott als 101 Tatsächlich verweist Paulus nicht nur auf den ‚Hymnus‘, sondern ruft ihn in paradigmatischer Weise auf.

214 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive den „ultimate benefactor“.102 Angesichts dessen scheinen Asymmetrien wie im Patronat kaum christlich denkbar. Des Weiteren scheint die Begründungsstruktur anders als im Römerbrief zu verlaufen, wo die Kollekte eine weitere theologische Bedeutung erhält. Die Absicht und Ausrichtung des Römerbriefes passen zur dortigen Kollektenargumentation. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die geistlichen Gaben im zweiten Korintherbrief nicht von Jerusalem abhängig sind oder ein Austausch zwischen Juden- und Heidenchristen beschrieben wird. Geschildert wird eine theologisch gedeutete Ökonomie, die sich an dieser Stelle durch eine besondere Redistribution zeigt. Mit dieser Umverteilung wird zusätzlich sozioökonomisch etwas verwirklicht, das auch mit dem Reichwerden in Zusammenhang steht. Neben dem Textbefund ist bei der Kollekte darum auch die Umwelt, in der sie ein Zeichen setzt, relevant. Zur Interpretation gehört, wie bereits im Bereich der Ökonomie vorgezeichnet war, die Situation von Gebern und Nehmern sowie das Verhältnis. Dies ist unter dem Stichwort ‚Ökonomie der Kollekte‘ weiter auszuführen.

5.4.3 Sozio-ökonomische Dimension der Kollekte S. Friesen beschäftigt sich mit den ökonomischen Aspekten in den paulinischen Briefen und stellt dabei fest, dass Paulus mehr über Geld als über die Taufe und das Abendmahl schrieb. Er kritisiert, dass die inequalities in der Forschungslandschaft weitgehend ignoriert werden, weil vorausgesetzt wird, dass Religion keine wesentliche Verbindung zur Ökonomie hat und die Entstehung des Christentums nichts mit ökonomischen Faktoren zu tun hat.103 Zudem werde Religion in Sinne von Marktmechanismen interpretiert, wobei sie auf geistliche Bedürfnisse reagiert und in diesem Sinne eine Marktgleichheit bestehe. S. Friesen macht hingegen stark, dass Armut das grundlegende Paradigma für die Interpretation sein müsse, da die christliche Praxis davon grundsätzlich, bis auf wenige Ausnahmen, auszugehen hatte.104 Armut beziehe sich demnach auf eine „social location that is created by society“. Das bedeutet, dass sich christliche Gemeinden im System der 102 Vgl. Muddiman und Barton 2010, 140. 103 Anders sieht dies auch P. Pilhofer, der viele ökonomische Vorteile für die verschiedenen Milieus der frühen Gemeinden identifiziert. Pilhofer 2002a, 194 ff. Vgl. auch Pilhofer 2002b, 40 ff. 104 „The hijacking of the early churches by the powerful“ ist demnach heute eine undenkbare historische Metanarration. Friesen 2010, 30. Bereits die Act verschleiere die Armut, indem sie aus verschiedenen Gründen eine positive Beziehung zwischen Paulus und der offiziellen Elite zeichne. Damit werden jedoch auch Paulus ökonomische Praktiken verschleiert (45).

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römischen inequalities befanden und auch die Kollekte vor diesem Hintergrund zu interpretieren sei. Auch J. Meggitt geht von der grundständigen Armut christlicher Gemeinden aus und wurde von G. Theißen dafür kritisiert.105 Es bleibt jedoch das Argument stehen, dass die Korinther nach der paulinischen Argumentation die Armut der makedonischen Delegation sehen können müssen. Das Gleiche gilt für die Korinther und Makedonier in Bezug auf Jerusalem. Bei der Abgabe der Kollekte muss die Wirklichkeit der paulinischen Argumentation grundsätzlich entsprechen. Es ist also von einem Armutsniveau auszugehen, das jedoch vielschichtig ist. Bei S. Friesen steht A. Sen mit seinen ökonomischen Vorstellungen im Hintergrund. Um den frühen ökonomischen Gedanken ein modernes Pendant entgegen zu stellen, bietet sich A. Sen in besonderer Weise an. Der Nobelpreisträger ist ein indischer Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler und aktuell einer der maßgeblichen theoretischen Ökonomen. 106 Zielführend ist diese ökonomische Perspektive auch, weil ökonomische Theorien in der Regel keine Teleologie außerhalb der Nutzenmaximierung haben. A. Sen hingegen unterscheidet „sympathy“ und „commitment“ im Rahmen von Wohlfahrtmotivationen. Letzereres ist in der Motivation frei von „self interest“.107 Ökonomische Entscheidungen im Rahmen von commitment könnten – eine übergeordnetes Ziel vorausgesetzt – auch gegen das Eigeninteresse fallen.108 Wirtschaftliche Entwicklung orientiert sich bei A. Sen an der Erweiterung realer Freiheiten als übergeordnetem Ziel. Er lenkt die Aufmerksamkeit von der Konzentration auf ein geringes Einkommen hin zur weiter gefassten Idee eines Mangels an Verwirklichungschancen. Freiheiten sind dabei nicht nur Ziel der Entwicklung, sondern auch deren Voraussetzung.109 A. Sen hat bei seiner Orientierung 105 Siehe zu „mutualism as a survival strategy“ Meggitt 1998, 163. Vgl. auch Theißen 2001 als Antwort und die Reaktion von Meggitt 2001, sowie die Weiterführung Theißen 2003. 106 A. Sen kennt Armut und führt sein Nachdenken über eine gerechte Ökonomie auf ein Initiationserlebnis mit zehn Jahren zurück. Ein Mann musste sich aus wirtschaftlicher Unfreiheit in eine gefährliche Situation begeben, die ihn das Leben kostete. Entwicklung beschreibt er in der Folge als Freiheiten und kritisiert die Schere zwischen Turbokapitalismus und Verarmung. Sen 2011, 19. Der Freiheit weist A. Sen eine intrinsische Bedeutung zu und dadurch ist sie ein Faktor des wirtschaftlichen Fortschritts. 107 Vgl. Butner 2016b, 96. 108 D. Butner zielt dabei auf ein ethisches Telos und im Schnittfeld von Ökonomie und Theologie auf „developing models of individual action that allow for ethical commitments“. Vgl. ebd., 97. 109 Freiheit ist konstitutiv, also oberstes Ziel und zugleich instrumentell, eben wichtigstes Mittel der Entwicklung. (Instrumentelle Freiheiten sind u. a.: politische Freiheit; ökonomische Vorteile; soziale Chancen; Garantien für Transparenz und soziale Sicherheit.) A. Sen geht dabei nicht von Entwicklung als ‚grimmigem‘ Prozess aus, bei dem erst nach wirtschaftlicher Prosperität sozial

216 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive auf das Subjekt ein sehr positives Menschenbild. Er sieht den Menschen nicht als passiven Empfänger von Wohltaten, sondern Individuen können ihr Schicksal erfolgreich gestalten, sofern sie die nötigen Freiheiten haben. Die Rede von einer Befreiung, die ein Handeln erst möglich macht, ist auf der theologischen Seite vertraut und muss im Folgenden übersetzt werden. Für A. Sen ist Reichtum ein Nutzwert, um größere Freiheit bei der Wahl der Lebensführung zu gewinnen. Mit Lebensführung sind hier existentielle Unfreiheiten gemeint, wie das Fehlen solch grundlegender Chancen, wie die Vermeidung von vorzeitigem Sterben, von Krankheiten oder Hungersnot.110 Die Informationsbasis sind für ihn die individuellen Freiheiten, und Einkommen kann hierbei ein Indikator für Mangelerscheinungen sein. Wichtig sind die Umstände, um die tatsächlichen Verwirklichungschancen zu bewerten.111 A. Sen fragt also danach, was zum Kern unseres normativen Interesses gehört und untersucht, auf welchen Informationen die Werturteile verschiedener Wohlfahrtsökonomien politischer Philosophien beruhen. Dabei betont er, dass bei der Betrachtung der Marktwirtschaft nicht allein die Ergebnisse wichtig sind, sondern die Freiheit selbst.112 A. Sens gedankliche Grundlagen auf die sozialen Verhältnisse in neutestamentlicher Zeit anzuwenden, ist dabei nicht zwangsläufig anachronistisch. W. Scheidel führt aus, dass die Armut ebenso in dieser Zeit je nach Zeit und Region unterschiedliche soziale Konstellationen beinhaltet. Mit A. Sens „human capabilities“ als Deutungsebene sind Armut an politischer Partizipation, mangelnder Wasserversorgung oder von Gewalt bestimmte Lebensverhältnisse in einem breiteren Kontext verstehbar.113 Armut und Ökonomie sind also sowohl in den paulinischen Gemeinden als auch in modernen Entwürfen mehr als ein finanzieller Mangel. Es geht im weigehandelt werden kann. Sieht man die Wirtschaft als ‚freundlichen‘ Prozess, kann man durch Sozialprogramme Freiheiten schaffen, die zur Entwicklung führen. Vgl. Sen 2011, 64. Zu kritisieren ist die logische Tautologie: Wenn die Freiheit als Mittel vergrößert wird, ist das Ziel ‚Entwicklung‘ nominell zugleich erreicht. 110 Vgl. ebd., 28 f. 111 In der Perspektive der Verwirklichungschancen geht es nicht um einen singulären Maßstab, sondern es gibt heterogene Faktoren. So können Hosen lebenswichtig sein, weil man das Haus in einigen Kulturen nicht ohne verlassen kann. Mit dieser Einschränkung der Verwirklichungschancen wäre von Armut zu reden. Vgl. ebd., 92 und 101. 112 Vgl. ebd., 140. A. Sen wird gern als ‚Mutter Theresa der Ökonomie‘ bezeichnet. Dies dürfte nicht zuletzt an seiner sehr positiven Anthropologie liegen. Er geht davon aus, dass sich jeder Mensch aktiv im Sinne eines Freiheitsgewinns verwirklicht, der die Möglichkeit bekommt. Diese Grundlage kann man mit guten Argumenten kritisieren, sie könnte jedoch einer reformatorischen Rechtfertigungstheologie entsprechen. 113 Zitat und vgl. Scheidel 2006, 57 f.

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testen Sinne um lebensbehindernde Einschränkungen und damit um das Zugeständnis eines Status, der Verwirklichung ermöglicht. Wenn jedoch von Mangel gesprochen wird und nur die Knappheit von Gütern gemeint ist, sodass Wirtschaften eine distributive Notwendigkeit wird, so ist weniger von Ökonomie als von Volkswirtschaftslehre zu sprechen. In diesem Kontext wäre dann der Markt der ökonomische Ort des Handelns und Tauschens.114 Wie bei A. Sen Freiheiten bzw. Verwirklichungschancen zugeteilt werden, deren Mangel auch als Verknappung von Entfaltungsmöglichkeiten gesehen werden kann, ist hier speziell auf Knappheit als Konstruktion der Ökonomie zu verweisen, die nicht alternativlos ist und von einem theologischen Glauben in Frage gestellt werden kann. Ökonomie verfährt in der Regel im Paradigma des Knappheitsaxioms, weil Überflusssituationen keiner ökonomischen Regulierung bedürfen. Die Maximalnutzung begrenzter Ressourcen ist ein ökonomisches Grundthema des homo oeconomicus. B. Priddat hingegen geht davon aus, dass im Prozess der Allokation der Raum der Ressourcen erweitert werden kann: „Damit sind Ressourcen aber keine physikalischen Knappheiten mehr, sondern kommunikativ änderbar in ihrer Extension“.115 In diesem Rahmen steht folgendes zur Disposition: Wenn Theologie nicht im Modus der Knappheit, sondern der Überfülle verfährt – welche Konsequenzen sind ökonomisch zu denken? Das heißt genauer, kann eine Kommunikation von Überfluss ökonomische Situationsdeutungen beeinflussen. Dafür sind einige Hinweise zum ‚Artefakt‘ Knappheit notwendig: Exemplarisch bespricht A. Sahr Verknappung am Beispiel von Kreditgeld. Er geht von der Wahrnehmung aus, dass Geld knapp sei, was als unverfügbares Faktum angenommen wird. Dabei unterstreicht er, dass Knappheit das Grundparadigma der Ökonomie sei.116 Sprachlich differenziert er, im Anschluss an N. Luhmann, zwischen Knappheit und Endlichkeit. Letzteres kann von Ressourcen ausgesagt werden, wohingegen Knappheit ein ‚Artefakt‘ und sozial geformt ist.117 Eine Knappheit des Geldes ist notwendig, um die Beschränkung von Gütern abzubilden. In dieser Relation kann es wertstabil auch in der Zukunft genutzt werden. Geld ist dann ein Kontingenzreduktionsmittel, weil die Zukunft gestaltbar wird.118 Ökonomie ist grundsätzlich dann das gesell-

114 Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen sowie andere Wirtschaftsindikatoren können in der Regel nicht den gesellschaftlichen Wohlstand abbilden, da sie selten Bildung oder Umweltaspekte mitberechnen können. A. Sen war am ‚Human Development Index‘ (HDI der UN) maßgeblich beteiligt, der mehrere Indikatoren in den Maßstab integriert. 115 Vgl. Priddat 2005, 78. Vgl. auch Gottschalk 2006, 16. 116 A. Sahr referiert die ‚Natur‘ des Geldes vor und nach der Deckung durch Edelmetalle. Vgl. Sahr 2013, 5. 117 So sind u. a. der Bedarf und auch das Angebot gesellschaftlich gesteuert. Vgl. ebd., 8. Dahinter steht Luhmann 1994, 177. 118 In der übertriebenen Form des Geizes drückt sich die Hoffnung auf eine andere Wirklichkeit aus. Das entwertet die jetzige Zeit, und Glück ist nur noch im Konjunktiv, in den durch Geld entste-

218 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive

schaftliche System, das bei konkurrierenden Bedürfnissen Entscheidungen über die Verwendung von Gütern ermöglicht.119 A. Sahr liest die gegenwärtige finanzpolitische Entwicklung unter dem Aspekt der Verknappung. Dabei kritisiert er, dass Banken gegenwärtig auf die Abschaffung monetärer Knappheit hinwirken, weil die Geldschöpfung kaum noch an externe Verknappungsindikatoren gebunden ist und der Zugriff auf Geld den Zugriff anderer nicht vermindert.120 Die Mangellogik am Beispiel der (monetären) Ökonomie soll nun anhand von N. Luhmanns Überlegungen zum Thema Mangel weitergeführt werden.

A. Sahr schreibt in der systemtheoretischen Tradition N. Luhmanns, der sich mit dem Thema Knappheit gesondert auseinandergesetzt hat. Knappheit ist ein Zugriff auf eine Menge, der andere Zugriffe beschränkt. Knappheit ist dabei sowohl Motiv als auch Ergebnis des Zugriffs.121 Diese konstituierende Paradoxie ist innerhalb des Systems nicht sichtbar.122 Ein Beobachter sieht Knappheit als Allokations- oder Verteilungsmengenproblem. Ein Kondensat des Zugriffs auf Güter, die als knapp wahrgenommen werden und es somit auch tatsächlich werden, ist Eigentum. In Bezug auf Güter ist also jeder Eigentümer oder Nichteigentümer und nimmt so an der Wirtschaft teil. Der Tausch von Eigentum verdeckt dann die ursprüngliche Paradoxie in der Herkunft der Knappheit. N. Luhmann zeichnet eine Entwicklung der Knappheit nach, bei der zunächst die Selbsterhaltung durch das Eigentum und dann der Genuss am Selbigen, das Eigentum an sich rechtfertigt. In der moderneren Ökonomie ermöglicht Geld dann ein unlimitiertes Besitzstreben und die Knappheit verlagere sich auf das Geld.123 Der Übergang von der Eigentums- hin zur Geldwirtschaft geht mit der Entwicklung von der statischen zur dynamischen Stabilisierung einher und die ‚soziale Synchronisation‘ wird unterbrochen. In der Folge wurde das Paradigma des ‚Gleichgewichtes‘ relehenden Möglichkeiten erfahrbar. N. Luhmann schreibt dazu, dass ‚NichtZahlen‘ die „Gesamtheit der anderen Verwendungsmö glichkeiten“ darstellt. Luhmann 1994, 198. 119 Vgl. Sahr 2013, 7. 120 Ein Überfluss an Geld korreliert mit einem Mangel an Gegenwert. Die rechtliche Lücke zur Produktion einer 1 Billion Dollar Nennwertmünze stellt dabei die reine Produktion von Geld dar, ohne einen Mangel anderswo zu produzieren. Vgl. ebd., 30, Anm. 91. 121 „Der Zugriff schafft das, was er beseitigen will. Er will sich eine zureichende Menge sichern und schafft dadurch die Knappheit, die es erst sinnvoll macht, sich eine zureichende Menge zu sichern.“ Dabei verringert sich die Knappheit für den Zugreifenden, für alle anderen vergrößert sie sich. Luhmann 1994, 179 und 181. 122 Hier spielt N. Luhmann auf Adam Smiths (einmalig erwähnte) unsichtbare Hand an. Vgl. ebd., 182. 123 Vgl. ebd., 195. Den unlimitierten Besitz als ethisches Problem sahen bereits Xenophon und, deutlicher artikuliert, Aristoteles in Arist. Politik I 1257a f. Sie verwandten nicht den Begriff der Ökonomie, sondern der Chrematistik.

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vant.124 Der Tausch von ungebrauchtem Eigentum in Brauchbares wird abgelöst durch den Aspekt des verursachten Gewinns oder Verlustes des Handels. Damit wird durch das Geld Knappheit dupliziert, so N. Luhmann.125 In einem weiteren Schritt prolongieren Banken das paradoxe System, indem sie zugleich zum Sparen und Geld-Ausgeben anreizen müssen. Eine Deckung des Geldes durch ein dahinterstehendes knappes Gut ist dann nicht mehr nötig, weil die Knappheit selbst die Wertgarantie des Geldes ist. Für den Kontext hier ist die Prämisse relevant, dass „nur eine gegebene Menge verteilt und Zwecken zugeordnet werden kann, wä hrend umgekehrt diese Verteilung die Menge nicht mehr ä ndert.“126 N. Luhmann bezieht das aus Sicht des Eigentumsrechtes zunächst auf die Geldmenge, in der Folge gilt dies jedoch auch für die wahrgenommene Beschränkung von Ressourcen. Nach dem Kriterium einer moralischen Verteilung kommt die Gewinnorientierung; wobei ‚Menge‘ und ‚Verteilung‘ immer noch Kriterien einer Mangellogik sind. Etwas überraschend führt N. Luhmann als Lösung aus dem Knappheitsparadox die Arbeit ein, die jedoch dann nicht an Eigentum als Faktor gebunden sein kann, sondern nur mit dem Vertrauen auf die Arbeit anderer aus dieser Logik ausbricht. Geld als symbolisch generalisierte Sinnbildung: Geld als der ‚große Gleichmacher‘ – als Medium überbrückt es Verschiedenes und stellt Differenzen (N. Luhmann: Alter und Ego) in eine Beziehung, die jedoch nicht in eine Einheit führt. In einer ökonomisierten Perspektive kann jedoch alles wirtschaftlich Verwendbare zu einem Geldausdruck reduziert werden, was die Orientierung an anderen Werten (caritas oder einfach nachbarschaftliche Hilfe) zurückdrängt. Soll Geld karitativ eingesetzt werden, muss es sich somit an anderen Verwendungszwecken messen.127 Es ist dabei nicht zu vergessen, dass Geld Gewalt reduziert, weil akzeptiert wird, dass jemand für seine eigene Zukunft sorgt und so andere vom Zugriff auf diese Ressource ausschließt, solange er dafür bezahlt.128

124 N. Luhmann illustriert dies mit dem Gefühl der ansteigenden Sünde im Mittelalter. Hier sieht er auch den Übergang von Gütern zu Waren (Doppelexistenz als Gut und Geld). Gewinnstreben ist nicht mehr sozial kontrolliert, sondern Transaktionen haben einen höheren Distanzierungsgrad von gesellschaftlichen Strukturen. Vgl. Luhmann 1994, 196. 125 N. Luhmann beschreibt eine Struktur (Eigentum – Geld – Eigentum vs. Geld – Eigentum – Geld), die auch schon Aristoteles identifizierte. Vgl. ebd., 197. 126 Zu einer Redistributionswirtschaft vgl. ebd., 206. 127 Zu Geld als Gleichmacher ruft D. Georgi das Sprichwort „Dat census honorem“ aus Ovid: Amores 3,8,55 und Fasti 1,217 auf. Vgl. Georgi 1994, 136, Anm. 137. Vgl. Luhmann 1994, 236f und Zitat: 246 mit dem Verweis auf M. Serres’ Bezeichnung als „Parasiten“. 128 „Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt.“ Vgl. ebd., 253.

220 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Bei seiner Untersuchung der Knappheit kann er darauf hinweisen, dass sie ein kapitalistisches Prinzip ist und archaische Gesellschaften ohne Knappheit gelebt haben könnten. Im Hintergrund steht hier M. Sahlins, der frühe Gesellschaften beschreibt, bei denen eine entsprechende Fülle (prodigality) die Sorge um die Zukunft gänzlich zurücktreten lässt. Was erjagt wurde, wird geteilt mit dem Vertrauen darauf, dass es beim nächsten Hunger wieder genügend gibt. Das planvolle ‚horten‘ von Nahrung hat demgegenüber negative soziale Auswirkungen.129 Hunger ist in der Folge ein kulturelles Phänomen, das erst durch veränderte Aufwandund Ertragskonstellationen entsteht. Primitive Völker hingegen können trotz eines nur sehr geringen Besitzes nicht arm genannt werden, weil Armut ein sozialer Status und ein kulturelles Verteilungsproblem sei. T. Jähnichen weist darauf hin, dass Armut vorneuzeitlich nur zyklisch und konkret erfahrbar, aber nicht als Abstraktum relevant war.130 Die ursprünglich ‚im Überfluss schwimmende‘ (affluent) Gesellschaft kannte etwas nicht, was heute eine Grundannahme der Ökonomie ist: Infinite Needs. Die Voraussetzung dafür ist die Vorstellung einer begrenzten Menge für das Lebensnotwendige.131 Anhand des Geldes zeigte sich, dass Knappheit auch im Überfluss notwendig behauptet werden muss, allerdings als soziales Phänomen.132 A. Sens moderner Ansatz, steht in kritischer Beziehung zu diesem sozialen Phänomen, wenn ökonomische Entwicklung in einem ‚freundlichen Prozess‘ als Zuwendung von vorgängigen Freiheiten bzw. Verwirklichungschancen zu übersetzen ist, hat das seinen Anknüpfungspunkt in einem theologischen Äquivalent. Eine Befreiung zum Leben kann mit den geistlichen Gaben in den paulinischen Gemeinden gedacht werden. Ebenso scheint die paulinische Kollekte auch auf mehr als den materiellen Mangel in Jerusalem zu zielen. Mit dem finanziellen Beitrag wird nicht nur eine qualifizierte Anerkennung der dortigen Gemeinde ausgesagt, sondern das Geld ermöglicht gegebenenfalls auch, dass sich die Gemeinde verwirklicht und einen lebendigen Glauben leben kann. Neben A. Sens breitem Armutsbegriff ist mit S. Friesen, N. Luhmann und A. Sahr dann Armut als sozialer 129 M. Sahlins schreibt genauer zur Abgrenzung zwischen Jägern und Bauern: Sahlins 1972, 30– 32. 130 Vgl. Jähnichen 1999a, 23. 131 M. Sahlins schließt seinen Aufsatz mit den Infinite Needs. Eine ökonomische Grundannahme ist der unbegrenzte Bedarf, weil er immer vermutet wird. Er muss nur ‚geweckt‘ werden. Vgl. Sahlins 1972, 37 und 39. Auch Aristoteles lehnt das Knappheitsaxiom ab. Vgl. auch Polanyi 2014, 285 und 288. 132 Vgl. Baecker 2012, 317. Vgl. ebenso Jähnichen 1999a, 23, der darauf hinweist, dass Verteilungskonflikte keine Krisen, sondern „Bestandteil der Sozialpolitik in demokratischen Gesellschaften“ sind.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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Status und das Phänomen der Knappheit als Artefakt genauer gefasst. Knappheit ist dabei eine Hauptursache für die Zweckmaximierung bei gegebenen Gütern.133 Die Kollekte ist ein Transfer, der Bezug nimmt auf limitierten und unlimitierten Besitz bzw. Eigentum; die Begriffe müssen jedoch auch in theologischer Perspektive eingeordnet werden. Dabei gilt, dass sowohl unlimitierter Besitz als auch grenzenlose Armut in der Logik des Mangels an den eigenen Anstrengungen hängen. Dieser Zugriff auf Ressourcen setzt ein ‚Nicht-genug-Haben‘ als Motiv voraus und produziert zudem einen Mangel, den er selbst fürchtet. Umgeben von Mangel geht es dann darum, den eigenen Anteil zu sichern. Die Legitimität, mit der man andere Zugriffe begrenzt, liegt im Geld. Wer bezahlt, scheint im Recht zu sein. In dieser Logik geht es also um die Verteilung eines für wahr genommenen Mangels. Dass Knappheit ein Kommunikationsgeschehen ist und nicht das einzige ökonomische Sprachmuster sein muss, ist an der Kollekte ersichtlich. Ökonomie hat modern zudem eine zirkuläre Struktur, die Kollekte hingegen geht nicht in Äquivalenzen auf. Mit A. Sahr und N. Luhmann wird deutlich, dass nicht mehr der Mangel ein Kommunikationsgeschehen in der Kollekte ist, sondern die Weitergabe des Überflusses das neue Sprachparadigma ist. 5.4.4 Paulus als Schöpfer einer ökonomischen Struktur To give is not to lose but to sow seed. Ein Schlüsselbegriff für die Untersuchung von II Kor 8–9 hinsichtlich der ökonomischen Folgerungen ist ἰσότης (ἴσος) – aequalitas.134 Der Begriff begegnet bereits ab dem 5. Jh. vC und wurde in unterschiedlichen philosophischen Kontexten verwendet. Dabei hat der Begriff aufgrund seiner positiven Konnotation eine rhetorische Kraft, die ihn auch als politisches Programm im klassischen Griechentum erscheinen lässt (besonders in Gestalt der ἰσονομία). Die ἰσότης bezieht sich in der griechischen Verwendung meist auf Rechts- und Staatslehren, wobei damit der Genuss einer gleichen Stellung und gleichen Rechten ausgesagt wird. Dabei bezieht sie sich jedoch in der Regel auf eine begrenzte Gruppe von Menschen, z. B. diejenigen mit Bürgerrecht. Sklaven oder ‚Barbaren‘ fallen nicht unter diese Gleichheitskonzepte.135 Die ἰσότης ist dennoch ein konstruktives Merkmal von 133 K. H. Brodbeck stellt fest, dass eine dynamische Wirtschaft damit gerade nicht auf ein Gleichgewicht zusteuert. Vgl. Brodbeck 1999, 150. 134 Letzteres ist zu unterscheiden von der aequitas –‚Billigkeit, Angemessenheit‘ in späterer Verwendung. ‚To give is not to lose but to sow seed.‘ aus: Martin 1998, zu II Kor 9,15. 135 So argumentiert Aristoteles, dass die Differenz zwischen Sklaven und Freien ‚natürlich‘ sei und sogar zum Überlebensvorteil gereicht. Arist. Politik I 1254b. sowie 1255a.–1255b.

222 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Gerechtigkeit (formale Gleichheit – Gleichbehandlung), und so konnte dann der Begriff – über die Gleichheit vor dem Richter – eine Bedeutungsnähe mit δίκαιος annehmen.136 Es ist an dieser Stelle zwischen verschiedenen Gleichheitskonzepten zu unterscheiden. Eine deskriptive Gleichheit bezieht sich auf die Gleichheit zwischen A und B in Hinsicht auf ein Merkmal X. Eine präskriptive Gleichheit hingegen bezieht sich auf eine Norm, etwa: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Weiterhin steht der quantitativen oder numerischen Gleichheit die proportionale Gleichheit gegenüber. Gleichheit als Verteilungskriterium ist, streng angewendet, politisch wenig plausibel. Ein gleiches Niveau an Gütern bei einer Verteilung missachtet die individuellen und situativen Differenzen, und daher sind für eine tatsächliche Gleichheit die Unterschiede relevant. Rechtfertigen die Differenzen eine ungleiche Behandlung, entsteht zwar zunächst eine Ungleichheit, die jedoch als gerecht verstanden werden kann. Gleichheit bei der Verteilung kann sich also in Proportionen entfalten. Auch Philo geht es hauptsächlich um die proportionale Gleichheit in der Gesellschaft, und er sieht die ἰσότης als Grundprinzip des Kosmos. Ethisch weitergedacht ist sie die Grundlage guter Taten.137 Ab dem 4. Jh. vC wurde die Gemeinschaft von Freunden nach den ἰσότης-Prinzip gedacht, und es zeigt sich eine Nähe zur φιλία.138 L. Welborn bezeichnet die equality als Grundlage und Ziel christlicher Verhältnisse und beschreibt den Begriff in verschiedenen Kontexten. Dabei unterscheidet er numerische und proportionale Gleichheit, wobei letztere sich auf die Freundschaft zwischen Ungleichen bezieht. In der Folge ist weiter nach charity und partnership zu differenzieren, um die aequalitas vom Patronat zu unterscheiden. L. Welborn will den Ausgleich der Verhältnisse nicht wie S. Joubert im Rahmen des benefit exchange sehen, da sowohl die Jerusalemer wie auch Paulus als Wohltäter gezeichnet werden und so die Asymmetrie der Beziehung verschleiert wird. S. Friesen gibt zum Patronat zudem zu bedenken, dass es sich bei der Kollekte um eine Gemeinschaftsgabe handelt und nicht um eine Individualgabe, wie beim Patronat üblich, bei der der Spender namentlich geehrt wird.139 Auf das Modell der ungleichen Freundschaft scheint ihm durch den Begriff κοινωνία hingewiesen, der mit griechisch-hellenistischen Freundschaftstexten verbunden ist. 136 In Kol 4,1 erscheinen beide Begriffe in der Art eines Hendiadyoins (τὸ δίκαιον καὶ τὴν ἰσότητα). 137 Wegen einer ‚Ausgewogenheit der Seele‘. RAC11: Gleichheit (1981), 141. 138 Biblisch ist an Dtn 13,7 Lxx zu denken: ὁ φίλος ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς. Vgl. ThWNT: Art. ἰσότης (1938) 348 139 Vgl. Welborn 2013, 78. Dazu auch Friesen 2010, 48–50. Die Spende kam von Armen, nicht von Gönnern. Arme helfen also noch Ärmeren.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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Der χάρις als Gabe wohnt in diesem Kontext ein Moment der Reziprozität inne. Περίσσευμα und ὑστέρημα bezieht er auf den Status der Beteiligten. Aus Sicht der Korinther ist Paulus’ Argumentation nur als „restitution of a balance within an unequal friendship“ zu verstehen.140 L. Welborn erkennt die umgekehrte Logik, dass die Armut der Makedonier die Quelle des spirituellen Reichtums ist. Sie funktioniert auf der Folie des Philipperhymnus, wo die κένωσις Christi (auch als materielle Armut) eine soteriologische Funktion bekommt. Materielle Armut ist also ursprünglich für spirituellen Reichtum.141 Er setzt dabei voraus, dass die Jerusalemer die superior party sind, die bereits dem spirituellen Mangel der Korinther Abhilfe geleistet hätten. Gleichheit ist dann auch Grundlage der Demokratie und beziehe sich auf Rechte und den Status, nicht jedoch auf den materiellen Ausgleich. Von einer politischen Einheit in Bezug auf den Status zwischen Griechen und Juden kann nach A. Kasher jedoch nicht gesprochen werden. Es handelt sich eher um zwei Organisationen, die nicht denselben Status haben. Den Diasporajuden wurde die „social, legal, or political equality“ verwehrt.142 Mit diesem Hintergrund befasst sich L. Welborn mit der Wendung aus II Kor 9,13: ἐπὶ τῇ ὑποταγῇ τῆς ὁμολογίας ὑμῶν, wonach hier eine vertragliche Vereinbarung durch die Spende deutlich gemacht wird, bei der sich diejenigen mit dem höheren (politischen) Status unterordnen, um eine ἰσότης zu erreichen. Die Kollekte ist dann eine Demonstration der Unterordnung. H. Klein untersucht die Konstruktion in einer Miszelle der ZNW genauer. Er kommt zu dem Ergebnis, dass von den vier Substantiven ὑποταγή als nomen actionis verstanden werden muss und ὁμολογία im Sinne von ‚Vereinbarung‘ Objekt ist (genauer: als epexegetischer Genitiv). Er übersetzt die gesamte Wendung folgendermaßen: „eure Unterordnung unter die Vereinbarung hinsichtlich der Evangeliumsverkündigung von Christus“,143 und rückt sie damit in den Bereich der in Gal 2,9 getroffenen Vereinbarung.144

140 Vgl. und Zitat in Welborn 2013, 80. 141 An dieser Stelle ist Vorsicht vor Armutsidealen walten zu lassen, die damit nicht ausgedrückt sind. 142 So meint „isopoliteia […] the desire for equality between two political bodies.“ (Als Gleichheit zwischen πολιτεύματα und πόλεις) Kasher 1985, 356. Vgl. Welborn 2013, 84. 143 Er interpretiert ebenso εὐαγγέλιον als nomen actionis, also nicht als Inhalt des Evangeliums, sondern die Verkündigung. Auffällig ist zudem, dass Paulus nicht ὑπακοή in Bezug auf das Evangelium benutzt, sondern den spezielleren Gehorsamsbegriff. Vgl. Klein 2012, 150. 144 H. D. Betz nimmt an, dass die Doppeldeutigkeit der Formulierung Paulus’ Ausweg war, eine Unterordnung unter das Evangelium in seinem Sinne sinnvoll zu formulieren. Eine Jerusalemer Lesart, die eine Demonstration der Unterordnung erkennt, wäre damit ein positiver Effekt der Formulierung, obwohl Paulus verschiedene Status sonst nicht zulässt. Vgl. Betz 1993, 222.

224 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Das Mannawunder zitiert Paulus als Paradigma einer göttlichen Distribution, die nun als ökonomisches Konzept darauf abzielt, durch Verteilung unterschiedliche Ressourcen zur equality zu führen.145 Dabei ist die κένωσις Christi der Ermöglichungsgrund, warum nun auch Menschen durch freiwillige Umverteilung eine ἰσότης über soziale Unterschiede hinweg realisieren können. Denkbar ist die neue ökonomische Struktur für Paulus aus der eschatologischen Dimension heraus, die einen Raum öffnet für ein anderes Handeln. J. Ogereau untersucht den Begriff κοινωνία näher, um aufzuzeigen, dass die Kollekte eine neue sozio-ökonomische Ordnung herstellt, die kulturelle und ethnische Differenzen überbrückt. Neben der theologischen Bedeutung der Kollekte hat sie ökonomische Aspekte und politische Dimensionen, die in einer eschatologisch qualifizierten Zeit eine neue soziale Realität befördern. Dabei bewertet er im Anschluss an S. Friesen146 Armut und ungleiche Status als Realität der frühen christlichen Gemeinden höher. Eine proportionale Gleichheit als regulatives Prinzip zwischen verschiedenen Gruppen würde damit die gesellschaftliche Stratifikation durchbrechen.147 Κοινωνία ist entsprechend kein Begriff, der im Sinne von Gabe, Spende oder Sammlung verwendet wurde, sondern in der Bedeutung geht es um ein Gemeinschaftsverhältnis. In Röm 15,26 geht es dann auch nicht um einen Betrag an sich; sondern um eine Partnerschaft, die sozio-politische Auswirkungen hat, welche in der Kollekte augenfällig werden. Der Begriff ist kein genuin religiöser Terminus, sondern gehört in den Bereich der „civic benefaction(s)“.148 Die Verbindung von κοινωνία und ἰσότης erhellt dann erst die ökonomischen und sozialen Aspekte der Kollekte, die auf eine Neuformierung der strukturellen Ungleichheiten hinausläuft. R. Horsley hat darauf hingewiesen, dass Paulus den neuen Äon auch politisch verstehen kann: „the assembly of saints is to constitute a community of a new society alternative to the dominant imperial society“.149 Im Besonderen verweist er dazu auf die Selbstverwaltung der Gemeinde, gerade um in einer neuen 145 Für L. Welborn zeigt das Mannazitat keine von der Vorhersehung bestimmte Zuteilung, sondern die „perfectly equitable distribution“, die nur von Gott ausgehen kann. Welborn 2013, 87. 146 Vgl. Friesen 2004, passim. Die Antwort von Oakes 2004, sowie die Kritik: Barclay 2004 Notabene: J. Ogereau kann sich eine Kontinuität der ‚Ur‘christlichen Gütergemeinschaft (Act 2,44 und Act 4,36 f.) in das paulinische Kollektenkonzept vorstellen. Lukas’ Ziel war dabei eine Gemeinschaft über soziale Grenzen hinaus, einen „eschatological egalitarianism“. Ogereau 2012, 363 und 376, Zitat aus Fn. 88. 147 J. Ogereau verweist darauf, dass ἰσότης nur für den männlichen Teil der Gesellschaft gelten konnte. Die Begriffe Ἑλληνιστής und Ἑβραῖος, als ethnische Marker verstanden, können ebenso eine Ungleichheit ausdrücken. Vgl. ebd., 366 Anmerkung 31. 148 Vgl. ebd., 373. 149 Siehe Horsley 2004, 230.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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sozialen Gemeinschaft nicht die Ungerechtigkeiten der vorherrschenden Gesellschaft erneut abzubilden. Die Gemeinschaft der Heiligen steht gleichsam unter Gottes Jurisdiktion und ist in besonderer Weise eine Alternative zum römischen System. Auf das Selbstbewusstsein der Christen weist auch G. Theißen hin und stellt dar, dass die neue Gemeinschaft soziale Kategorien übersteigt.150 Eine Auswirkung ist dann auch die Ablehnung der korinthischen Unterstützung, um nicht in das Patronatssystem zu geraten. Paulus’ Vorstellungen von equality sind ebenfalls im Abendmahl erkennbar, als Ideal, das die soziale Stratifikation egalisiert und so die Ideen aus Gal 3,28 trotz einer ganz anderen sozialen Realität in der Umwelt umsetzt. Als weiteres Indiz gegen Hierarchien und Differenzen ist noch auf A. Merz’ Hinweis zur Patronin Phöbe hingewiesen. Diese Form der Asymmetrie im Patronat werde durch Paulus’ Notiz über sie unterlaufen und im Rahmen der christlichen Dienste neu bewertet.151 5.4.4.1 Die Kollekte als Tausch-Gabe Bei den meisten Deutungen der Kollekte ist die initiale Gnade Gottes als Gabe zu verstehen.152 Die daraus hervorgehende Kollekte hingegen wird mehrdeutig beschrieben. So beschreibt M. L. Frettlöh die Kollekte als „geschuldete Gegengabe“ für geistliche Gaben bzw. die Evangeliumsverkündigung. Die Kollekte ist auch für sie freiwillig und nicht entsprechend eines do ut des-Prinzips, sondern nach dem Schema damus, quia dedisti zu erschließen.153 Bei der Herkunft der geistlichen Gaben hält sie sich an den Römerbrief und erläutert die ‚Übergabe‘ der geistlichen Gaben nicht näher. Eine Kollekteninitiative, die auf eine Schuld in Bezug auf die Evangeliumsverkündigung zurückgeht, entspricht jedoch nicht der paulinischen Kommunikation in II Kor 8–9. Der Prozess der Gabe im Rahmen der Kollekte führt nicht zur Verarmung, sondern zum ‚reich sein in allen Dingen‘ (II Kor 9,11) bei den Korinthern. Geteilte Gaben sind also vermehrte Gaben. Es geht hier offensichtlich nicht um den typisch zirkulären Austausch der Ökonomie,154 weil die Kollekte die Zirkulation, 150 Vgl. auch die Übersicht zur familia Dei in Theißen 2001, 73 f. Gnade beinhaltet auch die Autorität des Gesetzgebers nach Hénaff 2009, 581. 151 Sie deutet προστάτις als patrona in Röm 16,2. Vgl. Merz 2011, 112. 152 J. Barclay stellt die Bedeutung der ‚Gabe‘ in den biblischen Sprachen dar in: Barclay 2015, 575 f. und zur Gnade als Gabe vgl. ebd., 562 ff. 153 Zitat aus: Frettlöh 2001, 31. 154 U. Schnelle sieht eine zirkuläre Gabe, deren Unterbrechung gerade problematisch ist. Vgl. Schnelle 2012, 315. Im Hintergrund steht wohl das Motiv der drei Grazien, ein Reigen von Geben, Empfangen und Erwidern.

226 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive die auf einen direkten Ausgleich aus ist, übersteigt. Andernfalls ginge es um einen Tauschsystem, aber genau diesen reziproken Aspekt erwähnt Paulus nur ansatzweise in II Kor 8,14. Hierbei ist nicht an eine gegenseitige Verpflichtung zu denken. Hinzu kommt, dass Gaben einen Anspruch auf Dankbarkeit haben und Paulus diesen Dank folgerichtig an Gott adressiert (V. 12).155 Die Sammlung ist also eine spezielle Form der Gabe, die Paulus als dem Glauben entsprechende Form darstellt. Die Prinzipien, die er für diese Gabe aufstellt, können für eine christliche Ökonomie verallgemeinert werden. Als These steht die Frage im Raum, ob mit der Gabe etwas übereignet wird, was gerade keinen Preis hat und das Geld dabei als Vermittler von etwas ganz anderem gedacht ist. Die dem Tauschverhältnis entzogenen Güter sind es, die in der Regel unveräußerlichen Wert haben und für kollektive Identitäten notwendig sind. Im Modell der Gabe und Gegengabe wird dann etwas transportiert, das die moderne Ökonomie ausschließt. Die universelle Äquivalenz der modernen Ökonomie hat ein Verhältnis zur Welt, das aus quantifizierbaren Gütern besteht und „zur materiellen Unschuld“ führt.156 Damit wird alles ausgeschieden, was nicht als Preis ausgedrückt werden kann. Wenn aber der Eigentumsaspekt im Umgang mit dem Materiellen fehlt, kann auch von Mangel nicht mehr gesprochen werden, weil die Zueignung die Aneignung ersetzt. In der paulinischen Ökonomie, die auf der Gnade fußt, kann vorausgesetzt werden, dass auch die göttliche Gabe nicht von einer Antwort entpflichtet ist.157 Nach M. Mauss gibt es Kräfte, gleich einem Reflex, die eine Gabe immer erwidern wollen. Das ist auch insoweit nötig, als sie soziale Verhältnisse konstituieren und Gabe sowie Tausch eine grundlegende Rolle bei der Vergesellschaftung spielen.158 Die Schuld gegenüber der göttlichen Gnade begleichen zu wollen, entspricht einem ‚sein wollen wie Gott‘. Da Gott kein Mangel entsteht, wird dieser Reflex gewissermaßen umgebogen in die Weitergabe statt einer Rückgabe.159 Mit M. Hénaff kann man weiter fragen, was neben dem Erwidern überhaupt zum Geben reizt. Er untersucht den Zusammenhang zwischen Gabe / Tausch und 155 Vgl. Hénaff 2009, 84. 156 M. Hénaff stellt fest, dass so mit Gnade, Opfer, Schuld und Gabe auch Götter aus dem Bild fallen. Zitat bei ebd., 40. 157 Vgl. Fischer 2012, 84 f. Sie verweist schon auf das Problem der Annahme: Gaben können auch abgelehnt werden, weil sie Verpflichtungen mit sich bringen. So gibt es zudem auch Gaben, die Unheil bringen, wie das Danaergeschenk. 158 Vgl. Grund 2012, 45 und 69. Sie bezieht sich auf Mauss 1990, 18. 159 Vgl. Ostmeyer 2012, 233 und 255. Er dreht das Sprichwort (legitimiert als Herrenwort in Act 20,35) um: Der Empfänger hat einen sozialen Kredit beim Geber und ist sozial verschuldet. Damit entsteht eine Statusasymmetrie, sofern die Gabe nicht erwidert wird oder anonym gegeben wurde. Vgl. Grund 2012, 70.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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Ökonomie. Für die Arbeit wichtig sind die Unterscheidungen zwischen der Gnade als einseitiger Gabe und der zeremoniellen Gabe. Gaben sind dabei eine totale soziale Tatsache, weil sie u. a. sowohl politische wie auch religiöse Bereiche des Lebens umfassen. Der nützliche Tausch und ökonomische Markt ist daneben in einer Gesellschaft nicht wegzudenken. Die zeremonielle Gabe ist institutionalisiert, muss bekannt sein, ist als frühe Form öffentlich und schafft ein Netz interpersoneller Beziehungen. Sie ist keine rudimentäre Ökonomie im Sinne eines Tauschprinzips. Bei diesen ‚Luxusleistungen‘ liegt der Fokus nicht auf den Individuen, sondern auf der Repräsentation einander dann anerkennender Partner. Auf diese Weise werde in segmentierten Gesellschaften eine gegenseitige Anerkennung geschaffen. Diese Gegenseitigkeit schließt Bewertungen aus, da sich die Gaben in einer symbolischen Ordnung vollziehen, wobei sich im Symbol, anders als im Zeichen, tatsächlich etwas verwirklicht.160 Mit diesen Gaben gibt der Geber mit der Gabe einen Teil von sich selbst (als Pfand) und setzt sich so aufs Spiel, um ein soziales Band zu ermöglichen. Diese gegenseitigen Gaben können eine Gemeinschaft jenseits von politischen Institutionen und Marktbeziehungen realisieren. Zudem ist zu betonen, dass die Beziehung bei dieser Art der Gabe wichtiger ist als die Güter. Der Übergang von lokal segmentären zu politischen Gesellschaften macht es nach M. Hénaff nötig, das partnerschaftliche Band durch ein kollektives zu ersetzen. In diesem Zusammenhang kommt die einseitige Gabe / Gnade ins Spiel, die eine radikale Asymmetrie offenbart. So schreibe Seneca im „Goldenen Zeitalter“ des Euergetismus, wo die gegenseitige Gabe im Begriff sei, zu zerfallen. Daher kommt er zu einer Gabenvorstellung, die keine Erwiderung erwartet. Die einseitige Gabe ist so universell, dass sie aus der Vielfalt der Nationen und Status eine Gemeinschaft machen kann.161 Zu verweisen ist hier auch auf den Statuswechsel in christlichen Gemeinden vom Sklaven hin zur Adoption als Kinder Gottes mit der entsprechenden Metaphorik als Brüder bzw. Vater. Dieses Geben entwickelt sich von der Beziehungsgabe weg und bezieht sich auch nicht auf die Grundlagen des öffentlichen Lebens, da z. B. Wohltaten nichts an der politischen Anerkennung als Rechtssubjekte ändern oder in den nützlichen Austausch eingreifen. Hiervon abzugrenzen sind Tauschbeziehungen, bei denen die Güter im Vordergrund stehen und Aspekte wie Anerkennung oder die Herstellung einer Beziehung keine Rolle spielen können. Der nützliche Tausch bleibt dabei ein Werkzeug zur Lebensgestaltung.

Die paulinische xάριςI entspricht der absolut intransitiven Gabe Gottes. Diese Gabe ist konstitutiv für ein Kollektiv. Die universelle Zuteilung durchbricht hierarchische Strukturen und verweist auf eine Gemeinschaft, in der das Geben neu bedacht werden muss. Die Gnade ist dann das integrierende soziale Band, das im Glauben gestaltet werden soll. M. Hénaff weist besonders darauf hin, dass die zeremonielle Gabe ein symbolischer Gabentausch sei. Symbolisch, weil sie sich der Bewertung anhand des übereigneten Gutes allein entzieht und einen Mehrwert im sozialen Bereich verwirklicht sowie nach Höherem zielt. Zudem geht mit der zere160 Vgl. Hénaff 2009, 170 und 178. 161 Vgl. ebd., 387 sowie Zitat: 396.

228 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive moniellen Gabe kein Schuldverhältnis einher, wie es ökonomisch zu denken wäre. Die zeremonielle Gabe ist eine teilweise Selbstübereignung, ein Beziehungsrisiko, das keine Gegengabe fordert, aber sozial appelliert. Der Empfänger der Gabe sieht sich in eine Gemeinschaft eingebunden, die er bestätigen und bekräftigen kann. Diese Gemeinschaft liegt für den paulinischen Fall auf einer besonderen sozio-ökonomische Ebene. Diese Logik der unschuldigen Gabe referenziert Paulus auf die Gnade Gottes, modifiziert sie jedoch so, dass sie kein Einzelfall, sondern ein Modell werden kann in einer „economy of voluntary redistribution“.162 5.4.4.2 Schluss & Folgerungen Die Konsequenzen aus der grundlegenden Darstellung beider Themenbereiche sind an dieser Stelle aufeinander zu beziehen. Dabei müssen sich die Setzungen der Schwerpunkte in den einzelnen Bereichen mit guten Gründen rechtfertigen lassen. Die Untersuchung der Kollekte hat ergeben, dass die paulinische Kollekte keine Bedingung der Heidenmission ist und somit das Geld nicht als (vertragliche) Schuld anzusehen ist. Eine Diskontinuität zwischen einer Abmachung nach Gal 2,10 und Paulus’ eigener Kollekte wurde anhand verschiedener Argumente deutlich. Weiterhin ist die Kollekte in II Kor 8–9 von der Argumentation im Römerbrief abzugrenzen, wo sie nach Röm 9–11 eine weitere theologische Funktion erhält. Dabei gilt das Element der κοινωνία auch für den Röm. Den direkten Austausch von geistlichen und materiellen Gütern unter einem Schuldverhältnis, wie es Röm 15,27 darstellt, und es Paulus vielleicht als Analogie aus I Kor 9,11 her entwickelt, zeigt sich im II Kor als Argumentationsprinzip nicht. Auf diesen Austausch verzichtet Paulus, und er könnte im II Kor auf diese Analogie zurückkommen, um die Kollekte zu begründen.163 Dass er dies nicht tut, könnte in der ökonomischen Idee der Kollekte begründet sein. Bereits bei seiner Unterstützung in Phil 4,17 ist es nicht sein eigener Dank, der wichtig ist, sondern in der Gabe zeigt sich das Wachstum der Philipper im Glauben. Darauf reagiert der Zuspruch, dass Gott jedem Mangel Abhilfe schaffen wird. Damit beschreiben aber ein sozialer Vertrag wie im Almosenmodell oder die wiederkehrenden Asymmetrien im benefit exchange nicht die ‚Gemeinschaft im Geben und Nehmen‘, wie sie ohne Forderungen auskommt und zudem geistliche und materielle Gaben korrelieren kann. Aus der frühen Ökonomie ist die Unterscheidung des Geldgebrauches als Mittel oder Selbstzweck in die Kategorien von Mangel und Überfluss zu übertragen. 162 Für den Spezialfall Kollekte gilt wahrscheinlich, dass „pauls economy … among the saints has failed.“ Friesen 2010, 51. 163 In II Kor 11,8–9 wird erneut eine solche Konstellation ins Feld geführt.

5.4 Präzisierung: Die Ökonomie der paulinischen Kollekte

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Unter den Stichworten Ökonomie und Chrematistik kann das unlimitierte Gewinnstreben einer Wirtschaftsform gegenübergestellt werden, die auch als ethische Grundlage einer Politik wirkt. In den antiken Schriften wird ein Wirtschaften beschrieben, das von den ethischen und weltanschaulichen Grundlagen ausgeht und sich daraufhin realisiert. Diese enge Verknüpfung ist heute kaum mehr sichtbar in einer Welt der beinahe universellen Äquivalenzen. Damit geht einher, dass mit Preis und Eigentum ein permanenter Mangel produziert wird. Wie weit Mangel bzw. Armut reicht, kann mit A. Sens Perspektive auf die Verwirklichungschancen und Freiheiten ermessen werden. Für die Kollekte bedeutet das, dass mit der Übereignung von Geld nicht nur ein finanzieller Mangel ausgeglichen wird. Mit dem Geld sind realisierbare Freiheiten verbunden, mit der Übergabe oder dem Angebot besteht auch ein Bekenntnis der Zusammengehörigkeit und der Anteilnahme. Dies ist auch auf der politischen Ebene als eine Zueignung und als Eröffnung eines Kommunikationsraumes zu sehen. Knappheit als Artefakt begründet sich im unlimitieren Bedarf, der paradoxerweise aus einer geglaubten Knappheit heraus wirkt. Paulus hingegen beschreibt einen anderen Glauben, der vom Überfluss der Gnade ausgeht und sich so imstande sieht, frei zu geben. An dieser Stelle ändert sich mit dem Glauben die Sicht auf das Gegebene. Nicht mehr mein Verdienst führt zu meinem Eigentum oder Verlust, sondern was ich zur Verfügung habe, ist in Fülle geschenkt, sodass trotz äußerlicher Armut gegeben werden kann, weil meine Lebenserhaltung nicht allein an meinem Hab und Gut hängt. Es gibt also nach Paulus im Umgang mit dem Eigenen einen ‚gnädigen Bruch‘. Paulus stellt dies sehr realistisch dar, indem er aufzeigt, dass in der Gemeinschaft mit Gott anerkannt werden kann, dass man nichts hat, was man nicht vorher empfangen hat (I Kor 4,7). Realistisch ist daran auch, dass er die Gaben der Kollekte begrenzt und den Lebensanspruch und die Zuwendung für die Existenzsicherung jedem zuspricht. Realistisch ist weiterhin die Orientierung an der Not. Geben ist kein Selbstzweck, und Reichtum wird nicht von vornherein verteufelt. Angesichts eines Mangels wird eine Gabe initialisiert, die eine Balance schafft und doch die Linderung der Not übersteigt. In der Kollekte drückt sich nun der Dank für die gefüllten Hände aus, und dies hat soziale, ökonomische und theologische Folgen. Die Sicht auf äußerliche Güter entspricht dann nicht mehr einer Leistungslogik, die das Eigene für sich behaupten kann, sondern der überfließenden Alimentation. Aus dieser Hinsicht wird Teilen und Weitergeben zur angemessenen Reaktion. Diese Folge führt in einen geistlichen Reichtum, der im Rahmen eines Tausches nicht kommensurabel ist. Dies gilt allein schon deswegen, weil ein Tausch ohne Bindung und Anerkennung auskommt und auch auskommen muss. Paulus sieht hier einerseits den Dank sowie das Lob Gottes und weiterhin ein Anwachsen der

230 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Gnade in den Gemeinden. Darüber hinaus jedoch fördert dieser Umgang im Glauben ein neues soziales Gefüge, das der Rechtfertigung entspricht. Glauben kann so auch ökonomisch Gestalt gewinnen. Beispielgebend ist dafür der Unterschied zwischen der Kollekte und der frumentation,164 weil so der Kontrast zwischen einer horizontalen und vertikalen Bewegung von Ressourcen im römischen Reich deutlich wird. Durch die Kollekte wird ein internationales Netzwerk von christlichen Gemeinden in Palästina, in Galatien, in der Asia, in Makedonien und in Achaia sichtbar, das in dieser Größenordnung soziale, ökonomische und politische Dimensionen hat, wenn sie aufgrund der Gnade sozial und kulturell präformierte Handlungsmuster und Normen durchbricht. Ursächlich dafür ist die Erfahrung der Gnade, so deutet Paulus, und durch diese Erfahrung können die inequalities überwunden werden. Am Beispiel Philemons (V. 17) wird diese Gleichrangigkeit deutlich, wenn Paulus Philemon die Gleichrangigkeit mit sich und Onesimus zuspricht.165 In ähnlicher Weise bildet die Kollekte, mit ihrer Verkehrung von arm und reich, eine neue Wirklichkeit ab, die sich nicht von sozialen Stratifikationen einengen lässt. Dazu gehört, dass die tatsächlich armen Makedonier zu Gebern werden können und so als reich angesprochen werden können. Mit A. Sen gesprochen erschließt das Lebensmöglichkeiten, die nicht aus der statischen Verortung in einem System entstehen, sondern aus der überfließenden Zuwendung Gottes, die sich in der Freiheit der Gabe zeigt. Das stoische Stichwort αὐτάρκεια begegnet dabei auch mit Paulus als Beispiel in Phil 4,11.13. Ermöglichungsgrund der Autarkie ist wiederum die Gnade Gottes. Hier wird die andere Seite einer Gabe, der Empfang, gedeutet. Es geht in der Analogie bei der Gabe nicht um eine Reziprozität, wie sie im Tausch gegeben ist. Mit der Kollekte als Gabe ist die Autarkie einerseits dargestellt und auch, dass sie über den materiellen Austausch hinausgeht. Es wird etwas übereignet, das mit dem monetären Wert nicht messbar ist und nur im Lob Gottes gewürdigt werden kann. Dieses Solidarisierungsangebot, das von dem Eigenen absehen kann, muss dabei nicht unerwidert bleiben, weil ihm ein Appell zur Verwirklichung einer neuen Ökonomie innewohnt. Sie ist somit einerseits von der reinen Gabe zu trennen, die eine Tendenz zur Beziehungslosigkeit hat und auch von einer asymmetrischen Gabe, die immer auch Schuld und Machtverhältnisse konstituiert. Die Kollekte ist 164 Vgl. Meggitt 1998, 51. 165 Dazu ist auch das Bild vom Leib mit den Gliedern zu nennen, in dem die Glieder füreinander sorgen (I Kor 12,25). Gerade auch als politisches Bild, sorgt der Kopf nicht für die Glieder, sondern es ist im Sinne eines (horizontalen) Ausgleichs verständlich, der sich nicht als LiebesPatriarchalismus oder Patronat versteht.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung |

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damit eine totale Beziehungsgabe, indem sie ökonomisch versucht zu realisieren, was in der paulinischen Verkündigung theologisch expliziert wird. Die Gnade steht damit einer Ungerechtigkeit entgegen, wie sie sich in mangelnden Verwirklichungschancen durch soziale Kategorisierungen ausdrückt, aber auch durch Ungleichverteilung bzw. die Unausgeglichenheit zwischen zu viel und viel zu wenig. Wenn eine Perspektive von der Gnade her eine Eigentumsund Verdienstlogik aushebelt, dann muss diese Gnade zum Teilen und zum Ausgleich angesichts einer Not drängen. Andernfalls führte das zu einem Beziehungsbruch zum ersten Geber der Gnade. Das Gottesverhältnis schlägt sich dann auf die soziale Interaktion nieder und wird zu einer erfahrbaren Lebenswelt. Gnade und Gottes Zuwendungen sind damit kein Besitz, und das verändert den Umgang mit Zugeeignetem. Geld, das einen Überfluss und Mangel ausgleichen kann,166 bekommt einen weiteren Stellenwert. Wer Gnade als Besitz betrachtet, verspielt sie gerade, weil das dem Glauben nicht angemessen ist. Die Weitergabe ist nach Paulus eine Reaktion, die zu einer dynamischen ökonomischen Bewegung führt, die die Kraft hat, reich zu machen in allen Dingen.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung Während mit dem exegetischen Schlaglicht der Fokus deutlicher auf zwischenmenschlichen Gaben lag, gewissermaßen die horizontale Ebene exemplarisch in den Blick kam, wird mit der reformationsgeschichtlichen Perspektive die vertikale Dimension genauer untersucht. Es geht dabei zentral um die Beziehung von Gott und Mensch, die in der Reformationsgeschichte eine Neuakzentuierung erfahren hat. Dafür ist ein Referat der Reformationsgeschichte an dieser Stelle kaum zweckdienlich,167 jedoch hat sich M. Luthers Theologie im Rahmen eines ökonomisierten Gottesverständnisses entwickelt, weshalb einige Hinweise sachdienlich erscheinen, um die Reformation als Dekommerzialisierung zu beschreiben. Die Verbindung der horizontalen und vertikalen Ebene sollen anschließende systematische Überlegungen zum simul iustus et peccator ausführen.

166 So auch Aristoteles, Nikomachische Ethik 1133a-b. Hier auch die proportionale Verteilung nach Würdigkeit. Dabei fügt sich für Paulus die proportionale Gerechtigkeit nicht in die Statusordnung. 167 Zur sozioökonomischen Lage und M. Luthers Perspektive darauf als Überblick vgl. Lindberg 2010, 23 ff. Siehe auch Beyer 2002, 103 f. und Prien 1992, 31–55.

232 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive 5.5.1 Theologie in merkantiler Logik B. Hamm untersucht die heilskommerziellen Dimensionen des 14.–16. Jahrhunderts und zeigt anhand eindrücklicher Beispiele, wie sehr die merkantile Terminologie Eingang in die religiöse Semantik gefunden hat. Es handelt sich dabei nicht um eine ‚uneigentliche‘ Sprache, sondern die Semantik und Metaphorik ist unlösbar an bestimmte Vorstellungen gebunden: „Die Logik des marktorientierten Waren- und Geldverkehrs bemächtigt sich der Gottesbeziehung des Menschen“. Die merkantile Logik formt eine do ut des-Beziehung nach, eines extrem gewinnträchtigen Tauschhandels, bei dem das „wertlose Irdische gegen den unendlichen Wert himmlischer Herrlichkeit“ eingewechselt wird.168 Bei diesen Tauschverhältnissen ist zwar keinerlei Äquivalenz zu erkennen, die merkantile Logik wird jedoch mutatis mutandis auf die Gottesbeziehung übertragen, indem Irdisches in den Gewinn himmlischer Güter investiert wird. Nach einer „kommerziellen Revolution zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert“169 ließen Gewinnstreben, die Abwägung der Nutzenkalkulation und merkantile Tauschlogiken eine marktorientierte Mentalität entstehen. Zu einem zentralen Problem im Übergang zum Frühkapitalismus wurde der ‚Wucher‘. 5.5.1.1 ‚Wucher‘

Geldverleih und Zinsen gehören zum Motor kapitalistischen Wirtschaftens und ermöglichen Investitionen und den Kapitalerwerb. Dagegen stand im Mittelalter ein kanonisches Zinsverbot, das Kaufleute in dieser Hinsicht als Wucherer und der Todsünde ‚Habgier‘ (avaritia) beschuldigte. Das Phänomen des Wuchers im Mittelalter hat J. Le Goff für das Schnittfeld von Ökonomie und Religion maßgeblich untersucht:170 Wucher ist ein Phänomen, dass eng an die Deutung des Geldes gebunden ist. Bei einem Tausch oder Verleih von Sachgütern gehören Gewinn und Zins nicht in die Kategorie Wucher. Wird hingegen Geld gegen Zins verliehen, dann ist von Wucher zu sprechen, weil der Konzeption des Geldes der Äquvalententausch innewohnt und hier keine Sachgüter, sondern Zeit gehandelt wird. Reziprozität in sozial eingebetteten Transaktionen ist die leitende Vorstellung, weil die soziale und ökonomische Sphäre noch kein Instrumentarium zur Differenzierung entwickelt hatte.171 Zudem wird Geld als unfruchtbares Tauschmittel verstanden, während Gewinne aus reinem Geldverleih einer Kapitallogik folgen und als widernatürliche bzw. widergöttliche Vermehrung gebrandmarkt werden.172

168 Vgl. Hamm 2006, 239–242, Zitate: 242 und 243. Vgl. auch die Übersetzung Hamm 2014. 169 Vgl. Le Goff 1993, 12. 170 Vgl. Le Goff 1988, 16 f., Pawlas 2000, 103 ff. und Prien 1992, 56. 171 Vgl. Polanyi 2001 und die biblischen Texte zum Thema Le Goff 1988, 18 f. 172 Nach Aristoteles: ‚Nummus non paris nummos‘ ebd., 28. Zugleich wird die Erfahrung gemacht, dass Geld tatsächlich ‚arbeitet‘ (problematischerweise auch am Sabbat). J. Le Goff zitiert Papst Leo I (5. Jh.) als Leitsatz für das Mittelalter: „Fenus pecuniae, funus est animae. (Des Geldes Zinsgewinn ist der Seele Tod.)“ ebd., 31.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung |

233

Der Geldverleih und die Zinsnahme wurden historisch zum Fortschrittsmotor einer frühkapitalistischen Entwicklung, obwohl gerade Selbiges zu den größten Übeln gezählt wurde und Wucherer zu den verfluchten Berufen gehörten.173 Die religiöse Bewertung des Wuchers behindert in diesem Fall die wirtschaftliche Entwicklung, kann sie jedoch kaum aufhalten. Die Kirche reglementiert in der folgenden Entwicklung die Höhe des Zinses, sodass ‚Wucher‘ ein Übermaß an Gewinn beschreibt. Geldverleih wird zu einem Graubereich, der die wirtschaftliche Entwicklung anschiebt und für den es im religiösen Bereich das Fegefeuer als Hoffnung gibt, da nach einer höllischen Läuterung nur ein paradiesischer Ausgang existiert. Die kategorische Blockade des Kapitalverkehrs wird daher aufgeweicht, reglementiert und religiös verarbeitet, indem auch Strafen ‚abgezahlt‘ werden können.

Spätestens seit dem 14. und 15. Jahrhundert war ein Zinsverbot kaum noch durchsetzbar und kirchlich entwickelte sich ein positiveres Verhältnis zum Kapitalerwerb. In Analogie zum frühkapitalistischen Austauschsystem entstanden Möglichkeiten, „auf merkantilem Wege in den Himmel zu gelangen“:174 Durch Almosen, Stiftungen und Zuwendungen entstand ein Frömmigkeitskreislauf, der irdische und geistliche Gegengaben in Beziehung setzte. Reichtum als Segen Gottes konnte erhalten werden, wenn Teile des Gewinns für die Jenseitsvorsorge bzw. der Vermehrung des himmlisches Lohns investiert wurden. Den Armen kommt in diesem Kreislauf einerseits eine soteriologische Funktion zu, und andererseits wird das karitative Gemeinwesen durch Stiftungen und Spenden gesichert. Gelderwerb in der merkantilen Logik bleibt religiös problematisch, und zugleich kann es dem Heilserwerb dienen. Am Vorabend der Reformation gilt dann: „Worship and welfare became avenues, paved by money, for the achievement of salvation“.175 Die Voraussetzung dafür ist die Prägung der Theologie und Frömmigkeit in einer merkantilen Logik. Dazu gehört das Individualgericht, was das unmittelbare Bewerten und Entscheiden über eine etwaige Aufenthaltsdauer im Purgatorium beinhaltet. Jenseitsvorsorge bezieht sich also auf das individuelle Schuldkonto, das im Fegefeuer ausgeglichen wird. Das Fegefeuer entspricht der kaufmännischen Logik im besonderen Maße, da es – im Gegensatz zu Himmel und Hölle – nicht abgeschlossen ist; sondern einen Ausgang gen Himmel hat.176 Für Kaufleute, die nach kanonischen Recht keinen Zugang zum Himmel bekommen konnten, bot sich durch das Purgatorium ein Weg an, der dem zählenden und rechnenden

173 Zu unterscheiden sind Händler und Wucherer. Vgl. Le Goff 1988, 52, 58. 174 Vgl. Hamm 2006, 247. 175 Lindberg 2010, 109 f. Die Investition in jenseitige Genugtuung ist abhängig vom individuellen Besitz: Bei Armen kann ein Gebet reichen, während Reiche Unsummen einsetzen müssen. 176 „Das Purgatorium ist eine Bank, die zwischen Soll und Haben, Hölle und Himmel, Verdammnis und Erlösung vermittelt und die Heils-Risiken managt.“ Vgl. Hörisch 2013a, 33.

234 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Geist der Zeit entsprach.177 Der thesaurus ecclesiae als Gnadenschatz Christi, aus dem die Kirche Ablass austeilt, gehört zu dieser ökonomisch geprägten Perspektive auf das Jenseits. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch wurde in bekannten Strukturen gestaltet, und die Kirche bot nach der eigenen Jurifizierung, Fiskalisierung und Zentralisierung seit dem 13. Jahrhundert ein Instrumentarium an, das Heilsmöglichkeiten sicherstellte.178 R. Ekelund argumentiert aus einer wirtschaftstheoretischen Perspektive, dass diese Ökonomisierung und Monopolbildung der mittelalterlichen Kirche die Reformation begünstigt habe: The advent of Protestantism as a belief system meant that consumers seeking redemption could take a more direct, less expensive path to salvation. Protestantism made redemption cheaper, and it increased benefits to believers by reducing transaction costs.179

Die Frage nach den Kosten und dem Gegenwert für Konsumenten muss dabei erweitert werden um das Verhältnis von menschlichen und göttlichen Gaben. Den Tauschkreislauf von irdischen Gaben zu himmlischem Lohn sicherte ein Vertragsdenken (pactum Dei), das von einer freien Bindung Gottes ausging, die geringe Kaufkraft für das jenseitige Gut zu akzeptieren. Außerordentliche Gewinne in Rahmen sicherer Verträge gehörten in die kaufmännische Praxis der Zeit. Eine Voraussetzung des himmlischen Lohns ist in diesen Vorstellungen immer ein Verdienst bzw. eine Gabe des menschlichen Handelspartners. Während in der scholastischen Theologie die Werke an eine Rechtfertigungsgnade zurückgebunden werden können, sind in der Frömmigkeit der kommerzialisierten Städte diese irdischen Investition in jenseitiges Kapital finanziell berechenbar geworden: „Diesseits und Jenseits bilde eine Welt des ökonomischen Kalküls“, und ‚Wucher‘gewinn wird auf diese Weise für Bedürftige in Dienst genommen.180 Die extreme Nichtäquivalenz von irdischer Gabe und jenseitigem Lohn konnte im Rahmen der merkantilen Logik als Gnadentheologie charakterisiert werden, 177 Dogmatisiert wurde das Fegefeuer 1439. So gehörten auch Reliquien zum Heilsmathematik: „Cardinal Albrecht believed his relic collection was worth 39,245,120 years off purgatory“. Vgl. Lindberg 2010, 59. 178 „The Middle Ages was primarily concerned with the guarantee of security which the Church offered to believers.“ Vgl. ebd., 41. 179 Vgl. Ekelund, Hebert und Tollison 2002, 668. Die katholische Kirche wird in dieser Perspektive als Unternehmen verstanden, das bestimmte Leistungen an Kunden verkauft. Diese religionsökonomische Perspektive „holds that state-supported religious monopolies behave inefficiently in many ways, thereby opening up the possibility of entry by more efficient competitors.“ ebd., 647. Vgl. auch Iannaccone 1998. Dass ‚Monopol‘ ein negativ besetztes Schlagwort dieser Zeit war zeigt Prien 1992, 43. 180 „Wer den Armen gibt, gibt Gott“. Vgl. Hamm 2006, Zitate: 252 und 255.

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indem die Diskrepanz explizit gemacht wird. B. Hamm stellt die Argumentation folgendermaßen dar: Weil Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit den Menschen über alle Maßen beschenken will, kann der Mensch wie ein kluger und erfolgreicher Kaufmann handeln und mit sehr geringem Aufwand immensen jenseitigen Reichtum erwerben, d. h. Befreiung von allen zeitlichen Sündenstrafen und den sofortigen Eintritt in die ewige Seligkeit.181

Merkantiler Tausch und eine theologische Gabe (Gnade) bilden in diesem religiösen Setting keinen Gegensatz. Das agierende Individuum ist aktiv in das Heilsgeschehen involviert, indem es ein Minimum investiert und es zu großem Gewinn bringt. Eine Kapitallogik – gewissermaßen die aristotelisch unnatürliche Kapitelvermehrung – wird auf diese Weise theologisch fruchtbar gemacht. Dieser selige Handel impliziert durchgängig die menschliche Aktivität bzw. den armseligen irdischen Einsatz für den übergroßen himmlischen Lohn. Der ‚fröhliche Wechsel und Streit‘ in M. Luthers Freiheitsschrift lehnt sich an diese ökonomische Metaphorik an, verändert jedoch die Bedeutung signifikant, sodass die merkantile Tauschlogik ausgeschlossen wird: „Bei Luther und in der Reformation allgemein trat somit […] die religiöse Logik der Gabe in radikale Konkurrenz zur merkantilen Logik des Warentausches.“182 Mit dem kommerzialisierten Heil durch die „Verquickung von Jenseitsangst, Heilssicherung und Geldinvestition“ und dem „merkantilen Apparat“ Kirche, brach die Reformation durch die Entgegensetzung einer Gabe-Logik für das Verhältnis von Gott und Mensch.183 Besteht theologisch zwischen Gott und Mensch ein Gabeverhältnis, dann ist rechtfertigungstheologisch unter dem Anspruch ‚dem Nächsten ein Christus zu werden‘184 nach den ökonomischen Auswirkungen der Rechtfertigung in horizontalen Verhältnissen zu fragen.185 Mit C. Lindberg lassen sich die Veränderungen folgendermaßen zusammenfassen: Luther understood his task as theologian and preacher as to provide a clear critique of existing social structures, and to call the community to work in the different ‚estates‘ for the well-being of the neighbor and the common good. This preaching included freeing people from their ideologies and for service. Justification by grace alone unmasked all claims for the 181 Vgl. Hamm 2006, 256. Vgl. auch die ars moriendi als geistliches Handelsgeschäft von Johann von Paltz, bei dem als Gabe der eigene Tod zum Zahlungsmittel werden kann. ebd., 257 f. Hamm 2004, 88 ff. 182 Vgl. Hamm 2006, Zitat: 268 f. 183 Vgl. ebd., Zitat: 268 f. 184 Vgl. WA 7, 35,34 f. und WA 7, 66,3 f. bzw. Rieger 2007b, 297. 185 In der Kirchengeschichte haben sich die Evangelischen und das Kapital symbiotisch arrangiert, wobei der Frühkapitalismus nicht mehr als Heilsmathematik relevant war. Vgl. Hamm 2006, 275.

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redemptive power of human works, including all economic and political systems. Neither renunciation nor acquisition is redemptive or identifiable with the Kingdom of God. Because salvation is the foundation of life rather than its goal, the energy and resources previously devoted to acquiring both this-worldly and other-worldly capital can be redirected to thisworldly service to the neighbor. For Luther and his colleagues this meant that faith active in love to the neighbor is incarnated not only through the web of social relationships rooted in marriage and family, but also through government legislation for the common good.186

Um die lutherische Ethik, die sich daraus ergibt, geht es im Folgenden in ökonomischer Hinsicht und in der Perspektive einer theologischen Wirtschaftsethik.

5.5.2 M. Luther und die Ethik der Ökonomie Einen Forschungsüberblick (bis zum Beginn der 1990er Jahre) über M. Luthers Sozialethik stellt H.-J. Prien in seiner Wirtschaftsethik dar. Erhellend ist der von E. Troeltsch identifizierte Dualismus von ‚Christperson‘ und ‚Welt-/Amtsperson‘,187 wodurch der Christ der weltlichen Eigenlogik strukturell machtlos gegenüberstünde. Genauer betrachtet ist der Christ als Individuum zwiegespalten und in seiner jeweiligen Rolle – nach E. Troeltsch – auf das Evangelium verpflichtet oder aber auf den Dekalog und das Naturrecht. G. Wünsch vermittelte beide Seiten als gegenseitige Korrektive innerhalb einer Ordnung.188 Auch K. Barth unterstellte der lutherischen Tradition einen dualistischen Ansatz, wodurch die politische und geistliche Gemeinde unterschieden sind und eine Sozialgestaltung von M. Luthers Theologie her kaum relevant ist.189 Den Vorwurf, dass die lutherische Theologie ‚sozial unproduktiv‘ sei, ‚Eigengesetzlichkeiten‘ hinnehme, sie legitimiere und durch die Nicht-Stellungnahme zu aller weltlichen Ökonomie zustimme, nimmt auch A. Pawlas auf und zeigt in seiner lutherischen Wirtschaftsethik, dass noch im Jahr 2000 der Bezug auf Luther in der Wirtschaftsethik marginal und bis auf wenige Ausnahmen die lutherische Theologie nicht prägend war für ein wirtschaftsethisches Modell.190 Diese Leerstelle bearbeitet A. Pawlas als Berufs- und Wirtschaftsethik, wobei die erarbeiteten theologischen 186 Vgl. Lindberg 2008, 174. 187 Vgl. Prien 1992, 13–23, besonders 17 f. A. Pawlas trägt aktuellere Hinweise nach Pawlas 2000, 1 ff. und M. Beyer verweist auf die vielfältigen Veröffentlichungen in jüngerer Zeit. Vgl. Beyer 2002, 86. 188 Zur dahinterstehenden ‚Troeltsch–Holl Kontroverse‘ vgl. Prien 1992, 18 ff. und Pawlas 2000, 1 f. 189 Vgl. Prien 1992, 20. 190 A. Pawlas verweist auf den Widerspruch zur Barmer Theologischen Erklärung, die wesentlich von K. Barths Theologie beeinflusst ist. Vgl. Pawlas 2000, 1, 3 sowie Fn. 8. Die ‚Königsherr-

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und ökonomischen Grundlagen von M. Luther her auch für diesen Zusammenhang zentral sind, da bei der Suche nach einer lutherischen Verbindung von Theologie und Ökonomie eben dieses Schnittfeld der Ausgangspunkt ist. Für die gegenwärtige Ausprägung und Bedeutung müssen sich die theologischen Muster dann aber im aktuellen Kontexten bewähren. Gegeneinander stehen in der Folge ein historisches und ein systematisches Interesse, wobei letzteres für die Gegenwartsbedeutung entscheidender ist.191 Das historische Interesse wird bei A. Pawlas in seiner systematischen Relevanz aufgenommen werden, weil sich M. Luthers ökonomische Ausführungen in der Regel auf spezifische Situationen beziehen, die er von seinen zentralen theologischen Überlegungen her – im Kern die Rechtfertigungslehre192 – bearbeitet. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur aktuellen Orientierung im Bereich zwischen Theologie und Ökonomie geleistet werden, für den sich A. Pawlas im Anschluss an T. Rendtorffs weitem Ethikbegriff orientiert. Auf diese Weise gerät dann „ganz von selbst […] der ganze Horizont von Weltdeutung und Weltgestaltung und persönlicher Lebensführung in den Blick.“193 Der Ausgangspunkt des Denkens bei M. Luther war dabei das Verhältnis von Gott und Mensch, das er auf die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme bezog. Ökonomie entwickelte sich in dieser schwierigen sozioökonomischen Übergangsphase zu einem selbstreferenziellen Systemzusammenhang, der für kirchliche und ethische Fremdbestimmung immer weniger zugänglich wurde.194 Auch der Verweis auf die Vernunft in diesem Zusammenhang bedeutet bei Luther eine ‚befreite‘ Vernunft, die sich nicht mehr einer totalen Egozentrierung unterwirft, sondern zum Nächsten hin orientiert ist.195 schaft Christi‘ ist das reformierte Gegenkonzept. Vgl. Bayer 2006, 283. Auch nach H.-J. Prien lehnt M. Luther eine Eigengesetzlichkeit von Ökonomie ab. Prien 1992, 220. Hinzukommt, dass M. Luther traditionell als mittelalterlich und wenig kompetent in Wirtschaftsfragen bewertet wird; sein Antagonist Johannes Eck hingegen – damals beschimpft als „apostolus mercatorum“ – habe „geradezu die Tür zur Moderne aufgestoßen“, weil er einen fünfprozentigen Zins rechtfertigte. Zitate aus Pawlas 2000, 108 f. und Beyer 2002, 88. Vgl. auch Prien 1992, 66 f. 191 Vgl. Pawlas 2000, VI und 13. Auch hier steht das systematische Interesse im Vordergrund. Zum Beruf nicht als Erwerb, sondern als Dienst am Nächsten und zur Frage, ob sich historisch eine lutherische Berufsethik entwickelt hat vgl. ebd., 64 und 75. 192 Für A. Pawlas gehört auch die Zwei-Reiche-Lehre in diesen wirtschaftsethischen Zusammenhang. Vgl. ebd., 86 ff. und Prien 1992, 141 ff. 193 „In der Weise dürfte auch M. Luther gedacht und dabei nie allein die Ökonomie, sondern immer auch ihre Einbettung in die gesamte Lebenswelt vor Augen gehabt haben.“ Vgl. Pawlas 2000, 9. 194 Vgl. ebd., 101 f. und Prien 1992, 31 ff. 195 Auch eine autonome Vernunft ist eine Fiktion, da sie mit Vorstellungen und Werten gebildet wurde. Vgl. Pawlas 2000, 13 und 11.

238 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive In M. Luthers Sermon ‚Von den guten Werken‘ versucht er, von der Rechtfertigungslehre u. a. ökonomisches Handeln zu orientieren. A. Pawlas verweist dabei auf ein zentrales theologisches Problem: Die Tatsache, daß Luther so herausstreicht, daß der nicht mehr unter dem Gesetz stehende, gerechtfertigte Glaubende keiner ausdrücklichen Unterrichtung in Fragen der […] Wirtschaftsethik mehr bedarf – auch keines ‚tertium usus legis‘ –, müßte jedoch eigentlich alles weitere Reflektieren und Publizieren seinen ethischen Ansatzes aus diesem Sermon in Frage stellen.196

Als Antwort wird eine anthropologische Unterscheidung M. Luthers aufgemacht, nach Gläubigen, Menschen die den Glauben mißbrauchen, bösen Menschen und schwachgläubigen Anfängern sowie Kindern. (Wirtschafts)Ethik bezieht sich auf die letztgenannte Gruppe und dient der Stärkung des Glaubens.197 Ob es einen ‚Gläubigen‘, der keiner Unterrichtung mehr bedarf in vivo geben kann, oder ob nicht noch einmal eine Unterscheidung auch bei den Gläubigen erster Kategorie gemacht werde müsse und hier weniger Lehre, mehr Kommunikation des Evangeliums lebenslang notwendig wäre, steht an dieser Stelle nicht zur Disposition.198 Die ‚Heiligung‘ des Christenmenschen als Wachsen im Glauben könnte hier einen weiteren Aspekt beitragen.199 Im Ergebnis stellt A. Pawlas fest, sind die konkreten Vorschläge Luthers wirkungslos geblieben, und die von M. Luther angedeutete ‚christliche Art‘ des Wirtschaftens im Zeichen der Nächstenliebe ist heute kaum erkennbar. Seine breite Analyse zielt auf die kritische Frage einer christlichen ‚Perspektive‘ oder ‚Illusion‘. Die Wahrnehmung der ethischen Dimension und der Ruf in die Verantwortung vor dem Hintergrund der Botschaft des Evangeliums gehören zum erhofften Ergebnis dieser Wirtschaftsethik. Einen empirischen Effekt kann A. Pawlas im Rahmen seiner Einführung nicht nachweisen, jedoch akzentuiert er die wirtschaftsethische Verantwortung als Verantwortung vor Gott. Der Mensch steht auch in ökonomischen Zusammenhängen und als homo oeconomicus unter Gottes Herrschaft und hat dieses Feld zur Bewährung übertragen bekommen.200 Wie die Bewährung un-

196 Vgl. Pawlas 2000, 114. 197 Vgl. ebd., 114. Vgl. auch Bayer 2006, 262. 198 Auch B. Holm orientiert sich an der Unterscheidung der Menschen und weist darauf hin, dass es in M. Luthers Schrift ‚Von den guten Werken‘ um das exemplum christianum gehe, also den Menschen, bei dem Inneres und Äußeres in völliger Einheit agieren. Vgl. Holm 2006, 109 f. 199 Heiligung ist dabei ein Partialaspekt, der sich der Rechtfertigung des ganzen Menschen unterordnet. Vgl. Bayer 2006, 264.

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ter den Bedingungen einer eigengesetzlichen Ökonomie im Zeichen der Nächstenliebe möglich sein kann, ist damit kaum geklärt.201 H.-J. Prien erarbeitet, dass M. Luthers Ethik auf einem Verständnis der Bergpredigt beruht, dem die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zugrunde liegt. In Sinne des usus theologicus legis gilt die Bergpredigt für alle Christen, sodass eine gestufte und geordnete ‚Liebe‘ wie in der scholastischen Tradition ausgeschlossen wird. Dennoch kann M. Luther ‚Grade‘ unterscheiden: Erleiden von Unrecht, Freigebigkeit für Notleidende und Verleihen ohne Zins.202 Neben dem Besitz- und Gewaltverzicht der Bergpredigt ist die ‚Goldene Regel‘ (Mt 7,12) als Liebesgebot einerseits im Rahmen des Naturrechts und damit besonders für Nichtchristen verständlich, weil es die Bedürfnisse des Mitmenschen anerkennt und die eigenen durch die Anerkennung begrenzt. Andererseits gilt sie mit Christus gerade für den Menschen im status corruptionis, weil auf diese Weise die Egozentrierung produktiv wird, indem sich der Christ an die Stelle des Nächsten setzt und dort in der Nächstenliebe aktiv wird. Zugleich fungiert sie als kritisches Korrektiv gegen den Menschen.203 Bei aller normativer Potenz der Weisungen der Bergpredigt bleibt M. Luther zugleich Realist in Wirtschaftsfragen und sieht einerseits den Handel als Notwendigkeit an, andererseits aber auch die Gefahr eines Missbrauchs des Liebesprinzips.204 Auf Seiten der Christen sind die freien Gaben durch die Fürsorgepflicht für den Nächsten – M. Luther denkt an die Familie – begrenzt. Ein Eigentum der Gemeindemitglieder ist dafür notwendig, allerdings nicht als private Verfügungsgewalt, sondern in der Perspektive seiner Gemeinschaftsfunktion.205 Das weltliche Regiment ist auf der anderen Seite als Schutz gegen die Ausbeutung der Christen ebenfalls notwendig. Hier zeigt sich die typische Dialektik in M. Luthers Denken und die Unterscheidung von ‚für sich‘ und ‚für andere‘:

200 Vgl. Pawlas 2000, 246, 262 und 264 f. 201 WA 12, 685: „Also ist jetzt dein Gut nicht mehr dein, sondern deines Nächsten.“ O. Bayer verweist auf M. Luthers Thesenreihe ‚Von den drei Hierarchien‘, analog zur Ständelehre, anhand derer sich zeigt, dass Güter als Gaben Gottes verstanden werden sollen, deren Weitergabe sich aufdrängt, nicht deren Vergötterung. Bayer 2006, 276. 202 Vgl. Prien 1992, 84, 218 und folgendes Zitat: 223. Zu den Graden in umgekehrter Reihenfolge: „umsonst Geben, Verleihen ohne Bedingungen, mit Liebe Hinter sich lassen“. Vgl. auch Beyer 2002, 94 und Zitat: 96. Ein gesetzliches Verständnis für die Ethik im Sinne eines „primus seu politicus usus legis“ wird damit ebenfalls abgewehrt. 203 Vgl. Prien 1992, 93 f. 204 Vgl. ebd., 87 und 89. 205 Die Grenze ist im status oeconomicus die Verantwortung für die Familie. Vgl. ebd., 224.

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Eigener Gewaltverzicht dispensiert also weder Mitchristen noch die Obrigkeit von der Durchführung des Rechts206 [für mich als Nächsten].

Die unausgeglichene Spannung zwischen der Christ- und Weltperson entspricht einer Realität, bei der eine Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft ethisch inakzeptabel bleibt, aber im Rahmen des weltlichen Regiments die Obrigkeit die Durchsetzung einer evangelischen Ethik erzwingen soll. Die Obrigkeit soll offenes Unrecht nach dem Grundsatz der Billigkeit eindämmen, die Kirche hingegen regiert mit dem Predigt- und Wächteramt, aber auf eine Weise, die nicht zwingend sein kann, „denn das Evangelium erfordert willige Herzen, die der Geist Gottes treibet.“207 H.-J. Prien resümiert: „Luther ist trotz aller Widerstände, die er sieht, überzeugt, daß die Verhältnisse sich ändern werden, wenn Gottes Wort gehört wird.“208 Auch M. Beyer bearbeitet den Zusammenhang von Predigt und Ethik, weist aber deutlich darauf hin, dass die evangelischen Werke – besonders im höchsten Grad der Bergpredigt – aus dem Glauben kommen und daher gerade kein Strukturelement einer Gesellschaft sein können. Deutlich wird das anhand der weltlichen Ordnungen oeconomia, politia und ecclesia. Die Predigt des Evangeliums erzeugt „einen vierten, den alles verbindenden Orden der christlichen Liebe“.209 Die Verkündigung ist das einzige wirksame Mittel, um innerhalb der gesetzmäßigen Ordnungen Menschen mit der christlichen Freiheit auszustatten. Deren alternatives Verhalten und deren Umorientierung ist dann verursacht von der Kraft des Evangeliums. M. Beyer spricht von einer Entscheidungssituation, in die der Mensch gestellt ist, indem die Predigt eine alternative Perspektive auf ökonomische Situationen anbietet und zu christlichem Verhalten reizt.210 5.5.2.1 Charakteristika einer christlichen Ökonomie? J. Wieland beschreibt M. Luthers Einstellung zum Ökonomischen ausgehend vom Wandel des Warentauschs hin zur Geldökonomie im 15. und 16. Jahrhundert. Hier beginnt die funktionale Ausdifferenzierung von Gesellschaftsstrukturen, die sich 206 Vgl. Prien 1992, 89. 207 Vgl. ebd., 228, vgl. auch 232–234. Zur Billigkeitsurteilen, bei denen für den Menschen trotz des status corruptionis die Fähigkeit vorausgesetzt wird, Gutes zu entscheiden vgl. ebd., 204 ff. In diesen Kontext gehört auch ein nichtchristliches Verständnis der Goldenen Regel. O. Bayer führt Billigkeit als „salomonische Weisheit, Fingerspitzengefühl und Augenmaß“ aus, im Gegensatz zu strengstem Recht, das nur höchstes Unrecht produziere (Summum ius, summa iniuria). Bayer 2006, 289. 208 Vgl. Prien 1992, 222. 209 Vgl. Beyer 2002, 108. 210 Vgl. ebd., 91 f.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung

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hin zu einem distinkten selbstreferentiellen Systemzusammenhang entwickelt, in dem ethische Fremdsteuerungen problematisch werden.211 M. Luthers Argumentation gegen Wucher und marktförmiges Verhalten bezieht sich am Beispiel der Teuerung zentral auf das ökonomische Vorteilsstreben: Er unterscheidet die willkürliche Teuerung durch Spekulation von der natürlichen und notwendigen Teuerung durch bspw. Missernten.212 Dabei ist M. Luthers ‚Wucherkritik‘ nicht mit der mittelalterlichen Kritik gleichzusetzen, die auf eine einfache Warenwirtschaft abzielte. Zur Zeit der Reformation herrscht eine sehr veränderte (‚frühkapitalistische‘) Situation, auf die er sich maßgeblich bezieht.213 Grund und Ursache der willkürlichen Teuerung ist πλεονεξία – die Sünde des ‚Mehr-Haben-Wollen‘, weil durch sie die selbstsüchtige Vorteilssuche bewirkt wird. M. Luther richtet sich gegen die Orientierung am eigenen Vorteil entsprechend des 7. Gebots und der Goldenen Regel als Richtschnur des ökonomischen Handelns.214 Die Rückbindung von Preisen und ökonomischen Entscheidungen an das Gewissen gelte dabei für alle Wirtschaftssubjekte. Ökonomie wird im Rahmen von personalen Beziehungen gedacht und kann mit folgenden Deutungen illustriert werden: Durch die Umstellung der Wirtschaft von Kost auf Geldlohn konnten zwar Handwerker mit ihren Löhnen auf Teuerungen reagieren, Bauern und Dienstpersonal hingegen kaum. Eine Orientierung des Verhaltens am Markt erscheint notwendig, wird aber von M. Luther als Habsucht und Werk des ‚alten Adams‘ gebrandmarkt.215 J. Wieland identifiziert in M. Luthers Schrift von ‚Kaufhandlung und Wucher‘ vier Charakteristika einer christlichen Ökonomie:

211 Vgl. Wieland 1991, 269. Bereits M. Luther ahnte, dass theologische Argumentationen fruchtlos an den „ökonomischen Systemimperativen“ abprallen werden, weil die wechselseitige Nützlichkeit zum entscheidenden Kriterium wurde. Vgl. ebd., 270. Theologie, so scheint es, bleibt zunächst ‚zahnlos‘ hinsichtlicher einer ökonomischen Systemlogik. 212 Vgl. ebd., 271. 213 Vgl. Prien 1992, 48 und 216–218. Wirtschaftsethisch ist zwischen kaufmännischem und karitativem Leihen – bzw. konsumtiven (praktische Nothilfe) und produktiven (Praxis der Wirtschaftsordnung) Darlehen – zu unterscheiden. Zu dieser Differenzierung war M. Luther in den Veränderungen seiner Zeit kaum in der Lage. 214 J. Wieland argumentiert gegen M. Luther, dass gerade der Markt Willkürpreise ausschließt und die Vorteilssuche Einzelner sich in den Vorteil aller umwandelt. Wieland 1991, 272. Mit K. Homanns gegenseitigen Vorteilen ist das Nächstenliebegebot nicht verletzt. Das gälte nur, wenn ein ökonomischer Vorteil immer einen ausgleichenden Nachteil produziere. 215 Die Konkurrenz führe nach J. Wieland auf diesem ‚Arbeitsmarkt‘ zu gerechten Preisen und die „funktionale Äquivalenz von Moral und wirtschaftlicher Konkurrenz“ ist modern zu akzeptieren, obgleich M. Luther das nie konnte. Vgl. ebd., 273.

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– Sich nehmen und rauben lassen sein Gut, – Jedermann umsonst geben, der es bedarf, – Leihen und Borgen, ohne Zwang zu Rückgabe und Zins, – Kauf und Verkauf nur auf dem Wege der Barzahlung.216

Als Handlungsanweisungen sind diese Merkmale einer christlichen Ökonomie weder praktikabel noch realistisch. J. Wieland deutet sie als „gegenstrebigen Pol zur weltlichen Ökonomie, damit ein Punkt existiere, von dem aus [… die] Eigenlogik des ökonomischen Handels hinterfragbar bleibe“:217 Man kann es auch so formulieren, daß der ökonomische Determinismus mit Kontingenz ausgestattet wird. […] Gerade die jeder ökonomischen Alltagserfahrung hohnsprechende Aufforderung, sich berauben und bestehlen zu lassen und obendrein den Rest noch freiwillig dazuzugeben, schafft, wenn sie als dem Menschen prinzipiell zugängliche Möglichkeit ernstgenommen wird, die Distanz und innere Freiheit, aus der gute und richtige wirtschaftliche Entscheidungen in der Welt getroffen werden können. Was die Religion der Ökonomik für Luther zu sagen hat, kann nicht in der Rechtfertigung dessen bestehen, was diese ohnehin schon vollzieht. […] Es geht darum, in der Ökonomie Kontingenz verfügbar zu halten, die sich erst aus der Menschen nicht zugänglichen Perspektive Gottes als determiniert herausstellen kann. Kluge Ökonomie rechnet daher damit, daß in der scheinbar determinierten Gegenwart immer auch offene Zukunft mitläuft. […] Nur die Religion stellt sicher, daß die Möglichkeit eines wirklich Guten in der weltlichen Kommunikation durch die Zirkulation des Wortes Gottes zugriffsfähig bleibt. Die Sicherung des Zugriffs auf diese Kommunikationsmöglichkeit ist Aufgabe der Kirche und der Theologie. Durchführbar ist diese Kommunikation aber nur in Form unentscheidbarer paradoxer Antinomien: Etwas ist nur, weil auch sein Gegenteil ist.

Für M. Luther heißt das in Bezug auf die Ökonomie, dass das Oszillieren zwischen den Oppositionen das Christliche in der ökonomischen Kommunikation ausmacht. Die Differenzen der Theologie – wie Reich Gottes und Reich der Welt; Gesetz und Evangelium; Glaube und Werk – schaffen auch ökonomisch einen Raum für alternative Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten über ökonomische Sachzwänge und Eigenlogiken hinaus. Vernunft, Gewissen und Glauben haben ihre Aufgabe in der Ökonomie: Die Vernunft leitet das Handeln während das Gewissen als moralischer Bezugspunkt fungiert. Der Glaube schafft nach 216 Vgl. Wieland 1991, 278. Bei M. Luther (WA 15.300,26 ff.): „So sprichstu denn: wie sollen denn die leut mit eynander handeln […]? […] Antwort. Es sind vier weyse, eusserlich gutt Christlich mit andern zu handeln […]: Die erste ist, das man lasse nemen und rauben unser gutt, wie Christus leret Matth. 5. ’Wer dyr den mantel nympt, dem las auch den rock und fodder es nicht widder von yhm’. […] Die ander ist, Jderman geben umb sonst der es darff. […] Die dritte ist leyhen odder borgen, das ich meyn gutt hyn gebe und widder neme, so myrs widder bracht wird, und emperen mus, wo mans nicht widder bringt […]“ 217 Zitate ebd., 278.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung

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J. Wieland die nötige Distanz, sein ‚Herz‘ nicht an die Ökonomie zu hängen, sodass ‚Metapräferenzen‘ und christliche Ideale wirksam werden können.218

5.5.2.2 ‚Woran du dein Herz hängst…‘

F.-W. Marquardt untersucht M. Luthers Ausführungen zur Ökonomie ausgehend von dem bekannten Satz: ‚Woran du […] dein Herz hängst […], das ist eigentlich dein Gott‘ aus dem Großen Katechismus zum ersten Gebot. Als „Konkurrenz-

bereich“ des 1. Gebots fungiert ‚Mammon‘ als Referenz auf das Wirklichkeitsverhältnis der Adressaten und als „Exempel des Widerspiels“, womit anhand

eines alltäglichen Gegenbeispiels die Frage nach dem ‚Gott-Haben‘ untersucht wird. F.-W. Marquardt führt aus, dass Ökonomie als „Basiselement von Wirklichkeit“ und damit im Gegenüber zum 1. Gebot steht. M. Luthers Verlagerung der

ökonomischen Kritik in die Erklärung zum 1. Gebot ist eine „schwerwiegende hermeneutische Entscheidung: Ökonomie wird zu einem Problem im Bereich der Rede von Gott, aus einer ethischen zu einer dogmatischen Frage“.219

M. Luthers antikapitalistische Einstellung wird deutlich anhand G. Fabiunkes

ökonomischer Positionsbestimmung:

M. Luther „schaffe ideologisch die Voraussetzung für den Übergang vom außerökonomischen Zwang der feudalen Produktionsweisen zum Begreifen des stummen Zwanges der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Seine Zwei-Reiche-Lehre anerkenne nämlich erstmalig in der Wirtschaftsgeschichte die Eigengesetzlichkeit der Ökonomie, trage zur Anerkennung objektiver, d. h. unabhängig vom Willen und Wissen der Menschen wirkender ökonomischer Gesetze bei. Aber unter dieser Voraussetzung leide Luthers Ökonomieverständnis noch unter einer naturalwirtschaftlichen Befangenheit. Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion gelten ihm noch als direkte Naturzusammenhänge, er orientiere sich faktisch nur am Gebrauchswert und ist so ein typischer Ökonom der einfachen Warenwirtschaft. Er bejahe Geld als Zirkulationsmittel, bekämpfe es aber sofort, wenn es sich zum naturwidrigen Kapital […] verwandle“.220

218 J. Wieland plädiert dafür, in der Wirtschaftsethik die paradoxe Struktur von Religion und Ökonomie mehr zu bearbeiten. Vgl. Wieland 1991, 281. 219 Vgl. Marquardt 1983, 176 ff. und Zitate: 182,177 und 183. Zur Verlagerung von M. Luthers „Anrennen gegen die ökonomische Wirklichkeit“ vom 7. Gebot auf das 1. Gebot vgl. ebd., 183. M. Luther zum ersten Gebot: „Mancher meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Besitz hat […]. Sieh, der hat auch einen Gott, der heißt Mammon […], worauf er sich voll und ganz verlä sst.“ VELKD 2013, 515.. Auch H.-J. Prien verweist auf die grundlegende Antithese von ‚Gott oder Mammon‘ bei M. Luther. Prien 1992, 220. Siehe dazu auch Gräb-Schmidt 2018, 460 f. mit Bezug auf W. Benjamin. 220 Vgl. Marquardt 1983, 185 f. und Fabiunke 1963, 105–156. Naturwidrigkeit heißt bei M. Luther Gottwidrigkeit.

244 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Aus einer wirtschaftsethischen Perspektive sind die Ausführungen G. Fabiunkes Explikationen von M. Luthers Schriften zum 7. Gebot. F.-W. Marquardt verweist auf die Ausführungen zum 1. Gebot, bei denen der Rahmen explizit theologische Fragestellungen betrifft, die ebenfalls den ethischen Problemanzeigen zugrunde liegen. Gott und Abgott bzw. Gottwidrigkeit stünden im antikapitalistischem Kampf zur Disposition, darum sind die Auswirkungen des Kapitalismus nicht nur eine ethische, sondern eine theologische Frage, weil der rechte Gott auf dem Spiel steht. Theologie wird dabei – nicht mehr theistisch, sondern – im neuen Sprachund Erfahrungsraum des Frühkapitalismus betrieben.221 Eine Eigengesetzlichkeit der Ökonomie legen die Argumentationen Luthers über Zins, Wucher, Geiz etc. kaum nahe, da mit der Auslegung u. a. des 7. Gebots den Systemzwängen der Ökonomie widerstanden werden werden soll. Durch das Gebot lässt sich die ökonomische Wirklichkeit kritisieren, in welcher der Gott ‚Mammon‘ als „Totalität und als ein System von Wirklichkeit“ verstanden wurde.222 Im Bereich der Ökonomie gibt es für M. Luther vom 1. Gebot her keine absolute Unterscheidung der Regimenter. Ökonomie wird auf ihre Funktion gerahmt: Die Wirtschaftssubjekte sind nicht „causa efficiens“, „sed instrumentalis causa, per quam Deus operatur“.223 Damit geht eine Orientierung am Nächsten einher, und zugleich gehört Wirtschaft in den Bereich des anbrechenden Gottesreiches und unter einen tertius usus legis, wodurch M. Luther theologische Weisungen an die Ökonomie richten kann. Zentral dafür ist das Verständnis der christlichen Gemeinden als eigene ökonomische Subjekte, in denen Widerstand gegen ökonomische Systemzwänge möglich wird, effektiv nach dem evangelischen Wort gehandelt wird und der Dualismus von Gott und Abgott entschieden ist.224 Die Konstitution dieser neuen Subjekte kann an die Rechtfertigungstheologie zurückgebunden werden, wodurch eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Ökonomie ermöglicht werden soll. F.-W. Marquardts Ausführungen bewertet A. Pawlas als überzogene Interpretation, weil ein Dualismus von Gott und (kapitalistischer) Ökonomie entsteht, in den Gott wirkend eingreife. Moderat unterstützt wird diese Deutung hinge221 Vgl. Marquardt 1983, 186 und 207 f. Weil der sündige Mensch nicht wolle, dass Gott Gott sei, sind die hindernden Wirklichkeitsverhältnisse theologisch zu bearbeiten. 222 „Gerade weil durch den Kapitalismus das Realitätsprinzip aller Wirklichkeit tangiert, verletzt, aufgelöst wird, kann er ein Thema der Gottes-, sprich Rechtfertigungslehre Martin Luthers werden.“ Vgl. ebd., 189 und Zitat der Fn. 192. Vgl. zur Legitimierung der Stellvertretung von Juristen und Herrschern auf der Kanzel: ebd., 202 f. 223 Also „ministri et cooperatores Dei“ Vgl. ebd., 196. 224 M. Luther treibt „Theologie angesichts des Kapitalismus.“ Vgl. ebd., 205. Dass M. Luther nur einen duplex usus legis verwendet und ein tertius usus legis für die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium problematisch ist, wird im Folgenden gezeigt.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung |

245

gen von H.-J. Prien. Abstrahiert von der konkreten Kapitalthematik scheint die dahinterstehende ökonomische Logik in Gänze kritisiert, ohne dass der Dualismus produktiv in Spannung gesetzt oder aufgelöst wird. F.-W. Marquardts Ansatz lässt sich näherhin als Überführung der ökonomischen Frage in eine systematische Dimension neben der Ethik lesen.225 Das entspricht M. Luther, dessen Denken ebenfalls beim Verhältnis des Menschen zu Gott einsetzt und von dort aus ökonomische Fragen bearbeitet.226 Für das Verhältnis von Theologie und Ökonomie bzw. die Möglichkeit einer lutherischen Ökonomie muss sich die Produktivität dieser Verlagerung des Themas in die Systematik anhand von M. Luthers theologischer Kernüberzeugung erweisen. Ob eine Verbindung der beiden Bereiche bereits in der Rechtfertigungslehre alternative Auswirkungen auf die Handlungsorientierung des Christen hat, wird sich zeigen.

5.5.3 M. Luthers Gnadengabe Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck.227

Gnade im Modus der Gabe steht theologisch im Fokus der Reformation als Dekommerzialisierung. Zentral ist dabei ein bestimmtes theologisches Verständnis von Gnade und Gabe, das sowohl die Reformationsgeschichte betrifft als auch für die Dimension einer lutherischen Ökonomie wichtig erscheint. Gabe und Tausch als Antithesen parallel zur (reformatorischen) Theologie und Ökonomie können weiter differenziert werden. Die Opposition von (reiner) Gabe und (ökonomischem) Tausch hält J. Barclay für eine spezifische Konfiguration des Gabebegriffs in der Moderne. Die freien und bedingungslosen Zugänge zu Verträgen auf Märkten stehen dabei als Analogie Pate, nur sind jetzt Gaben in Opposition zur Tauschlogik geraten. Gabentausch hingegen integriere „person and things, interest and disinterest“; die Opposition von Gabe und Tausch hingegen polarisiere.228 Er unterscheidet sechs „perfections of grace“: „superabundance, singularity, priority, incongruity, efficacy, and 225 Vgl. Pawlas 2000, 109 und 246–248. Zur Kapitalkritik vgl. Prien 1992, 139. 226 Die Begründungsfiguren stammen in der Regel aus der Rechtfertigungslehre und erst in einem zweiten Schritt geht es um konkrete Handlungen. Nach A. Pawlas ist das Verhältnis von Theologie und Ökonomie nicht ohne die Begründungen zu bestimmen, aber erst im Rahmen der Handlungen der Christen bzw. in der Ethik relevant. Pawlas 2000, 110. 227 WA 10 I 1;11. Vgl. auch Barclay 2015, 109 f. und Holm 2006, 172. 228 Vgl. Barclay 2015, 59.

246 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive non-circularity“.229 Jede dieser Dimensionen konfiguriert die Gabe in einer Dimension in ihrer maximalen Form. Das Verständnis von Gabe als reinem Altruismus ist dabei die spezifisch lutherische Form, die Gottes Gnade allein und gratis zum Wohl des Menschen versteht.230 Das wirkt sich in Analogie auch auf zwischenmenschliche Gaben aus. Auch sie sollen frei von Eigennutz und nicht zirkulär sein, sondern rein zum Nutzen des Nächsten, um zum Christus für andere zu werden. Gottes Gnade ist dabei ursächlich für menschliche Hingabe, selbst jedoch bedingungslos. Reziprozität ist kein Strukturelement der lutherischen Gabe, sondern die κένωσις und die Linearität zum Nächsten prägend.231 J. Barclay schlussfolgert: At the heart of the Lutheran Reformation was the reconfiguration of Paul’s theology of grace, with a set of perfections not entirely identical to those developed by Calvin. Luther did not ‚rediscover‘ grace (which was near the center of practically every form of medieval theology), nor did he simply reinvigorate the augustinian tradition. As an isolated slogan, sola gratia tells us far too little about its precise Lutheran configuration. What is distinctive in Luther is not only relentlessly Christological reference of grace, but also its permanent state of incongruity. On these grounds, believers live perpetually from a reality outside of themselves, a status of divine favor enjoyed only in and from Christ. Their agency does not need to be re-attributed to the agency of grace, because their works are non-instrumental, and are performed in faith, that is, from the security of salvation already granted. On the same grounds, gift-giving is stripped the instrumental reciprocity that had been basic to its rationale since time immemorial. In this sense, Luther did not just reform the church. He offered a new theological definition of gift whose ramifications continue to be felt today.232

Im Anschluss an Paulus habe M. Luther dessen missionarische Theologie der Gnade in eine innere Mission als tägliche Umkehr unter dem Vorzeichen einer spezifisch altruistischen Gnade transformiert.233 Das hat Auswirkungen, die sich insbesondere in der Rechtfertigungslehre zeigen. In den verschiedenen Argumentationen, besonders zur Rechtfertigungslehre, identifiziert B. Holm eine ‚Ökonomie der Gabe‘, bei der sich trotzdem Reziprozitätsstrukturen finden lassen. Diese „Gabe-Ökonomie im Herz der Theologie“ wird traditionell als ‚reine Gabe‘ verstanden, ohne jedoch die vielfältigen reziproken Strukturen zu beachten, die zu einer 229 Vgl. Barclay 2015, Zitate: 70 ff. und 563. Was sola gratia unter den Unterscheidungen bedeutet, kann durch Zusammenstellung verschiedener Dimensionen unterschiedlich sein. 230 Vgl. ebd., 97. 231 Aus dem Glauben ist die Handlungsmotivation gerade nicht Eigennutz. Vgl. ebd., 113 f. 232 Vgl. ebd., 116. 233 „Paul’s polemics against ‚works of the law‘ are taken to be directed not against an external (and no longer valid) definition of worth (Torah-practice) but against the subjective evaluation of one’s own good works as effective for salvation.“ Vgl. ebd., 571 f.

5.5 Reformation als Dekommerzialisierung

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lutherischen theologischen Gabe gehören.234 Jede Gabe ist dabei von einer Reziprozitätsstruktur geprägt, und damit ökonomisch, wenn auch nicht notwendig im merkantilen Verständnis von Ökonomie. B. Holm setzt M. Mauss Gabeverständnis voraus und legt M. Sahlins Reziprozitätsspektrum für die Untersuchung eines lutherischen Gabebegriffs zugrunde.235 M. Sahlins unterscheidet Reziprozität in: generalisierte Reziprozität – bei der die materielle Seite der Transaktion von der sozialen überlagert wird (Verwandte). Die ausgeglichene Reziprozität entspricht einer zeitverzögerten äquivalenten Transaktion, die keine Sozialität voraussetzt (Warentausch). Die negative Reziprozität ist die Aneignung gegen andere Interessen. Ökonomie spielt in allen drei Varianten eine Rolle.236 Die soziale Distanz determiniert die Art und Weise des Tausches.

Die freie Gabe gehört in den Bereich der generalisierten Reziprozität, da sie zwar die Erwiderung der Gabe impliziert, die Verpflichtung aber nicht durchsetzt bzw. keine Gegengabe vereinbart. Anschlussfähig erscheint dieses Modell, da hier Reziprozität verschiedene „Grade von Soziabilität“ darstelle und auch auf Strukturen anwendbar ist, die nicht reziprok erscheinen (sollen).237 Für M. Luthers theologische Gabe ist dabei zentral, dass nicht der Ausschluss jeglicher Gegenseitigkeit notwendig ist für eine Ökonomie der Gabe, sondern die neu etablierte Reziprozität durch die Rechtfertigung prägend ist für dieses Verständnis von Ökonomie. Dafür unterscheidet B. Holm zwei Gerechtigkeiten und Rechtfertigungen, um den positiven Aspekt der Rechtfertigung – im Gegensatz zur reinen Annullierung einer Schuld – darzustellen. In diesem Rahmen evozieren göttliche Gaben notwendig menschliche Gegengaben, weil man im Glauben Empfänger ist, hinsichtlich des Nächsten als Folge aber zum Geber wird.238 234 Die Hauptthese lautet: „Luthers Verständnis von der Rechtfertigung und dem neuen Leben hängt eng mit einer Vorstellung von Gegenseitigkeit oder Reziprozität zusammen.“ Vgl. Holm 2006, Zitat im Text: 1 und zur These: 4. 235 Vgl. ebd., 8. 236 Vgl. Sahlins 2005, 84. Siehe auch Adloff und Mau 2005, 15. 237 Vgl. Holm 2006, 10. B. Holm unterscheidet eine emische (innen) sowie etische (äußere) Perspektive bei seiner Untersuchung und thematisiert die erlebte und objektivierte Wahrheit. Aus der Innenperspektive von Akteuren mag es sich um reine Gaben handeln, aus der Außenperspektive könnten hingegen Reziprozitätstrukuren sichtbar gemacht werden. Analog identifizierte auch P. Bourdieu die Doppelbödigkeit der sozialen Gaben. Das Verhältnis zwischen sozialen Vorgängen und der Selbstbeschreibung der Akteure unterscheidet sich. Der Tausch und der Zyklus von Gabe und Gegengabe werden verschleiert. Die materiellen Akte werden von symbolischen Konstruktionen begleitet. Die Teilnehmer setzen sich so in Unkenntnis über die Struktur. Vgl. Bourdieu 2005, 140. Neben der ‚doppelten Wahrheit‘ ist das ‚Verbot der expliziten Formulierung‘ ein Grundpfeiler der Ökonomie der symbolischen Güter. 238 Vgl. Holm 2006, 179.

248 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive

Den Aspekt der Passivität angesichts der göttlichen Gnadengabe betont besonders I. Dalferth, indem er in der Reformation den Kerngedanken der göttlichen Gabe identifiziert, die sich ihren Empfänger erschafft. Rechtfertigung ist Schöpfung e contrario und creatio ex nihilo, weil dem homo vetus die Disposition für die Annahme der Gabe fehlt.239 Diese Gabe ist gratis und umsonst, weil man sie vorher subjektiv gar nicht gebraucht hat und ihr Eintreffen erst aufdeckt, was einem hätte fehlen können, wenn einem etwas gefehlt hätte. Das argumentative Ziel ist die unbedingte Heilsgewissheit, weil der Mensch über den Gabebegriff die Rechtfertigung nicht hat – und somit nicht verspielen kann – sondern begabt ist. Soteriologie ist in dieser Dimension „radical divine gift-giving“.240 Die Passivität hinsichtlich der ersten Gabe, schließt jedoch nicht die Weitergabe aus.

B. Holms Ökonomie der Gabe schließt über die Vergebung von Schuld eine positive Gabe ein, bei der es möglich werde, „Rechtfertigung nicht nur im Sinne einer negativen Selbstpreisgabe […], sondern ist als Ermöglichung einer positiven Selbsthingabe zu fassen“. Hier muss das Handeln des Einzelnen gerade aus dem Überschuss der Heilswirklichkeit geschehen und nicht ausgehend vom Defizit des Zweifels, denn nur auf diese Weise kann die ökonomische Logik der Kalkulation vermieden werden.241

B. Holm entwickelt über M. Sahlins Reziprozitätstruktur eine effektive Gabe, deren Wirklichkeit nicht in ökonomischen Tauschmustern aufgeht. Dieser von der Theologie ausgehende Gabeansatz produziert besonders von der Rechtfertigungslehre her eine theologische Ökonomie der Gabe. Erkennbar wird daran besonders, dass die Verbindung von Theologie und Ökonomie und der Versuch einer lutherischen Ökonomie vom Zentrum der konfessionell geprägten Theologie ausgehen sollte, will er den Christenmenschen sowohl in der Ökonomie als auch in der Theologie zusammenhängend verorten. Der Ansatz bringt notwendige Unterscheidungen und Klärungen ein, da die Untersuchung einen wesentlich breiteren Zugang zur Entwicklung der lutherischen Theologie im Kontext der Gabe eröffnet, als es in der Erarbeitung dieses Themas möglich wäre. Relevant ist das im Rahmen des Rechtfertigungsverständnisses.

239 Gott gibt die Gabe und ermöglicht zugleich den Empfang. Vgl. Dalferth 2009, 54. Er versteht die Reformation nicht als komplexes historisches Ereignis, sondern als geistliche Revolution, die sich fundamental von der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf her verstand. Im Originalwortlaut eine „spiritual revolution“, die eine neues Verständnis von Gott, Mensch und Welt eröffnet. Vgl. Dalferth 2017, 550 f. und zur Unterscheidung von Reform und Revolution: 552 ff. 240 Vgl. ebd., 558. 241 Beide Zitate aus Holm 2006, 237 f.

5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers |

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5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers Rechtfertigungstheologie ist elementar für lutherische Theologie und kann kaum als abgegrenztes Einzelthema verstanden werden, sondern nur als prägendes Element der reformatorischen Theologie.242 Zentral dafür sind die Verhältnisbestimmungen zu Gott, der Welt und dem Selbst.243 Die Bedeutung der Rechtfertigungslehre als theologisches Referenzsystem M. Luthers beschreibt A. Pawlas mit den vielzitierten Belegen folgendermaßen:244 Dabei gilt nach Luther: ‚Isto articulo stante stat Ecclesia, ruente ruit Ecclesia‘a und ‚Wer diesen Artikel nicht versteht, noch glaubt, der hat zugleich den Herrn Christus verloren‘b Denn dieser Artikel sei ‚Meister und Fürst, Herrscher, Lenker und Richter über alle Arten von Lehre; er erhält und regiert jegliche kirchliche Lehre und richtet unser Gewissen vor Gott auf. Ohne diesen Artikel ist die Welt durch und durch Tod und Finsternis‘.c a Vgl. WA 40 III, 352,3. Diese Formulierung faßt ja Valentin Ernst Löscher in der bekannten Formulierung als ‚Articulus stantis et cadentis Ecclesiae‘ zusammen. […] b Vgl. WA 40 III, 335 c Vgl. WA 39 I, 205,2: ‚Articulus iustificationis est magister et princeps, dominus, rector et iudex super omnia genera doctrinarum, qui conservat et gubemat omnem doctrinam ecclesisasticam et erigit conscietiam nostram coram Deo. Sine hoc articulo mundus est plane mors et tenebrae‘.

Als ‚Haupt‘ und ‚Eckstein‘ kann M. Luther die Rechtfertigung bezeichnen und versteht sie nicht als gleichgeordnetes Lehrstück, sondern als integrierenden Sinnzusammenhang.245 W. Härle spricht vom Rechtfertigungsartikel als „umfassende Selbstauslegung des christlichen Glaubens“,246 wodurch im Zusammenhang von Theologie und Ökonomie nicht ein theologischer Topos mit ‚der‘ Ökonomie in Verbindung gebracht wird, sondern eine theologische Leitperspektive mit einer ökonomisch leitenden Perspektive in Kontakt gerät. Diese „organisierende Sinnmitte“247 gilt es, für den genannten Zusammenhang inhaltlich sowie konzeptionell fruchtbar zu machen. Mit der Rechtfertigungserkenntnis änderte sich die Struktur der lutherischen Theologie grundlegend: „salvation is no longer the goal of life but rather its foun242 Dennoch gibt es Schriften M. Luthers, die das Thema explizit aufgreifen. Vgl. Härle 2011, 1 ff. 243 Die Verhältnisse als Foren bzw. coram Dei/mundo/meipso Relationen hat G. Ebeling ausgeführt. Vgl. Ebeling 1987, 354. 244 Zum nachfolgenden Ausschnitt vgl. Pawlas 2000, 86. Vgl. auch Hauschild 2010, 290. 245 Vgl. Schwarz 1998, 16. T. Kaufmann spricht von einer „fundamentalhermeneutische[n] Leitperspektive“ in Kaufmann 1998, 50. 246 Hervorhebung im Original. Vgl. Härle 1998, 112. 247 Vgl. Schwarz 1998, 50.

250 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive dation.“ resümiert C. Lindberg.248 Gute Werke braucht es nicht, um bei Gott akzeptiert zu werden, sondern weil der Mensch akzeptiert wird, ist er konsekutiv zu guten Werken im Modus der Gabe befähigt. Zuerst ist damit Gottes Tat zu predigen, und erst das zweite Wort fragt, was mögliche Antworten auf dieses Ereignis sein können. Die Struktur der Theologie ändert sich von: wenn … dann – zu – weil … darum und das Handeln des Gerechtfertigten – als freiem Herrn über alle Dinge – geschieht vom coram Deo her coram mundo – in freier Liebestat als dienstbarer Knecht.249 Verschiedene Rechtfertigungsverständnisse lassen sich dabei unterschieden: Als forensisch wird Rechtfertigung verstanden, wenn es sich allein um eine Gerechterklärung vor einem göttlichen Gericht handelt. Dieses Verständnis trifft M. Luthers Theologie nicht, weil es die Kraft und Wirksamkeit der Gnade Gottes nicht erfasst, die den Menschen substantiell verändert.250 Ein imputatives Verständnis von Rechtfertigung geht davon aus, dass die Gerechtigkeit Christi dem Sünder ‚imputiert‘ wird, er auf diese Weise zum simul iustus et peccator wird. D. Korsch führt anhand von Röm 1,17 (‚iustus ex fide vivit‘) aus, dass traditionell der Glaube als Anfang des geistlichen Lebens verstanden wurde, der vollendet werden müsse. M. Luther hingegen ziehe Glaube und Gerechtigkeit zusammen, wodurch sie im Glauben vollständig gegeben ist.251 Sünde ist für M. Luther eine Bestimmung des Seins der Person mit resultierenden Taten. Die Erkenntnis des Sünderseins und das Zustimmen zu Gottes Urteil setzen dabei bereits Gottes Handeln voraus.252 Ganz Sünder bleibt der Mensch auch nach der Rechtfertigung,253 wodurch er die beiden Prädikate iustus und peccator vor unterschiedlichen Foren auf sich zieht. Coram Deo gilt das iustus, coram meipso hingegen das peccator, weil die Sünde dem Subjekt anhängt, das Gerechtsein zugleich als verheißene Totalität Realität ist. Dadurch entsteht ein ‚Kampf‘ und eine Entwicklung:

248 Vgl. Lindberg 2010, 63. 249 Vgl. Prien 1992, 144 f. und Lindberg 2010, 106. 250 Härle 2011, 7. Gerechtigkeit Gottes lässt sich als genitivus subjektivus als Eigenschaft Gottes, als genitivus auctoris (Gott stellt Gerechtigkeit her) und als genitivus relationis (Gerechtigkeit die vor Gott gilt) unterscheiden. Vgl. Herfeld 2001, 33. 251 Vgl. (auch zur iustitia passiva) Korsch 2005a, 375. Vgl. Christe 2014, 176 ff. 252 Vgl. Danz 2010, 31. Siehe auch Bayer 2006, 57. 253 Zur scholastischen Differenz von similitudo und imago bzw. der reformatorischen Position des totalen Verlustes der imago Dei bis zur Pervertierung in die imago diaboli vgl. Jüngel 1999, 103 Fn. 52.

5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers |

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Die bei­den existentialen Orte ‚in mir selbst‘ und ‚in Christus‘ vertragen sich nicht. Der in Christus Gerechte kämpft gegen sich selbst, kämpft gegen das Ich, das bei sich selbst zu sich selbst kommen will: ‚dauernder Kampf: pugna perpe­tua‘.254

Mit dieser Tendenz ist die Bewegung vom Menschen incurvatus in se auf das ‚in Christus‘ als Zentrum, in der Totalität beider Wirklichkeiten verzeitlicht: Von der Vergangenheit her wirkt der alte Adam – von der verheißenen Zukunft her die neue Kreatur in einer eschatologischen Differenz. Das Alte soll vergehen, macht jedoch seine „illegitimen Herrschaftsansprüche mit mehr oder weniger Erfolg geltend […], wo der eine und einzig legitime Herr bereits mit der Autoritä t befreiender Freiheit regiert.“255 Zugleich entsteht mit der Rechtfertigung eine neue differenzierte Identität, die einen effektiven Unterschied macht. Lutherisch hat die Rechtfertigung eine effektive Dimension, in der die bleibend fremde Gerechtigkeit (iustitia aliena) wirksam zur Heiligung (sanctificatio) drängt.256 Mit theological economies geht es um diese effektive Seite der Rechtfertigung, die deutlich vom Rechtfertigungsglauben zu unterscheiden ist. Gefragt ist damit nach den horizontalen Konsequenzen einer in der Vertikalen gerechtgemachten Gottesbeziehung. Dabei ist rechtfertigungstheologisch vorauszusetzen, dass das Handeln des Christen nur als „nachlaufende Darstellung der Wirklichkeit der Gnade“ in Betracht kommt.257 Darzulegen ist zunächst das Vokabular zum Thema, sowie die verbundenen reformatorischen Grundunterscheidungen mit einer knappen Skizze.258 In diesem Zusammenhang relevant sind zunächst die Unterscheidungen von ‚Gesetz und Evangelium‘ sowie die ‚Zwei-Reiche-Lehre‘. Zugrunde liegt die These, dass eine lutherische theological economy vom Gerechtfertigten, näherhin vom iustus konstruiert werden sollte, und in einem zweiten Schritt das Verhältnis von Theologie und Ökonomie analog zum Verhältnis von altem und neuen Menschen beschrieben werden müsste, um eine transformative und produktive Dimension selbiger sichtbar zu machen. Die genannten Unterscheidungen sind somit für die 254 Vgl. Jüngel 1999, 188. Trotz der imputatio bleibt der Kampf gegen die Sünde, obwohl „die imputative Gerechtigkeit als Gabe Gottes, […] mit dem Glauben an Christus identisch ist.“ Vgl. Prien 1992, 144 und Zitat: 172. Auch C. Danz beschreibt den Glauben selbst als gerecht machende Gnade. Vgl. Danz 2010, 31. 255 Vgl. Jüngel 1999, 191. 256 Vgl. Leonhardt 2012, 227. Vgl. auch Jüngel 1999, 180 und 191. 257 Vgl. Korsch 2005a, 374. 258 B. Wannenwetsch geht davon aus, dass M. Luthers Denken kohärent und als Harmonie durch die verschiedenen Sprachspiele hindurch erfasst werden kann. Vgl. Wannenwetsch 2008, 120.

252 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Konstruktion einer theologischen Ökonomie von Bedeutung, um das Setting einer lutherischen Ökonomie auszuloten. Ein Verständnis der grundlegenden Unterscheidungen soll nachfolgend geklärt werden.

5.6.1 Gesetz und Evangelium Sowohl in Bezug auf die Gewissheit des Glaubens als auch hinsichtlich der Werke als Früchte des Glaubens – ohne soteriologische Funktion – ist die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium zentral.259 Das Evangelium als Verheißung pro me schafft eine Gewissheit, weil die kategorische Gabe alle Reziprozität und Mitarbeit hinsichtlich des Gottesverhältnisses ausschließt und damit zum Motor der reformatorischen Theologie wird: Zuvor mangelte mir nichts, außer dass ich keinen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium machte, beides für eines hielt und meinte, Christus unterscheide sich von Mose nur der Zeit und dem Grad der Vollkommenheit nach. Aber als ich die Unterscheidung fand, dass eines das Gesetz, ein anderes das Evangelium ist, da brach ich hindurch.260

Die Unterscheidung erschließt das Eigentümliche des Evangeliums in Abgrenzung zum Gesetz für den alten Adam und wehrt zugleich einer Moralisierung des Evangeliums.261 ‚Gesetz und Evangelium‘ sind als doppelte Anrede an den Menschen eine Konkretion des Wortes Gottes, in der sich die Rechtfertigung vollzieht.262 Im Rahmen der vierfachen Gestalt des Wortes Gottes führt das Evangelium – anders als das Gesetz – als opus proprium seine Erfüllung mit sich, indem es Zuspruch und die promissio zueignet. Darum ist das Evangelium schöpferisches Wort Gottes im eigentlichen Sinn und verbum efficax.263 259 WA 40 I, 207.17 f. (Galatervorlesung 1531): „Qui igitur bene novit discernere Evangelium a lege, is gratias agat et sciat se esse Theologum“– Wer das Evangelium recht vom Gesetz unterscheiden kann, der sei dankbar und wisse, dass er ein Theologe ist. Vgl. zu M. Luthers Theoriebildung als „konstruktive Differenzbildung“ vgl. Rieger 2007a, 426. Siehe auch Beutel 2005a, 450 ff. und zum Gebots- und Verheißungscharakter vgl. Beutel 2005b, 370. Vgl. auch Christe 2014, 136 ff. 260 WA TR 5,210,12–16 nach Bayer 2006, 53. 261 O. Bayer macht das deutlich durch die Unterscheidung Christi als donum (Gabe) und exemplum (Vorbild). ebd., 57. 262 Selbst das „Wesen des Menschen wird durch die Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium konstituiert“, und modifiziert die anthropologische These vom Menschen als animal rationale. Vgl. Korsch 2005b, 356 und Zitat: 359. 263 Vgl. „In dem Wort Gottes, das wir sehen (verbum creatum), lesen (verbum scriptum) und hören können (verbum praedicatum), begegnet uns dessen verbum aeternum und also Gott selbst.“ Vgl. Beutel 2005b, 365. Vgl. auch Prien 1992, 170.

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Klassisch ergeht das Wort Gottes als Gesetz und opus alienum, indem es den Sünder überführt und das Scheitern des Menschen am Anspruch Gottes erkennbar macht im usus theologicus. Dieses Gesetz überführt den simul peccator immerwährend und zeigt zugleich den gültigen Willen Gottes an. Das Gesetz zeigt die Sünde an, die ohne Gesetz zwar vorhanden ist, aber unbekannt.264 Die Erkenntnis seines Gerichtes und die Rettung durch den Glauben an seine Gnade passieren ohne menschliche Mitwirkung, aber durch das Medium der Verkündigung vermittelt. Die fides apprehensiva greift nach Christus als Heilstat extra nos und lässt sie pro me als fides iustificans gelten. Damit kann sich der Sünder als Sünder verstehen, und zugleich ist die Gewissheit der promissio Werk Gottes.265 Von diesem theologischen / zweiten Gebrauch unterscheidet M. Luther einen primus usus des Gesetzes (usus politicus legis) in einer zivilen Dimension, die coram mundo als iustitia civilis für den Menschen erfüllbar ist. Den usus theologicus sowie den usus politicus in einen Gesetzesbegriff zu integrieren fällt theologisch schwer. O. Bayer plädiert dafür, den politischen Begriff kategorial selbstständig zu fassen.266 Gesetz als lex naturae und seiner offenbarten mosaischen Form prägt M. Luther von Christus her. Das äußerliche Tun des Gesetzes ohne die Korrespondenz mit dem Inneren entspricht nicht der Erfüllung des Gesetzes.267 Die Goldene Regel und die zweite Tafel des Dekalog konnten dabei als grundlegendes Naturrecht gelten. Die Goldene Regel ist dabei doppelt verstehbar: Im Bereich des Naturrechts wurde die Forderung, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, im Zeichen der Reziprozität verstanden. Die ethische Idee ist rational nachvollziehbar. In Christus hingegen ist die Alternative Eigen- oder Nächstenliebe gesetzt: „in the light of Christ, all the fervor that is naturally directed toward the safeguarding of one’s own interest is now free to turn to the neighbor – without return.“268 Die Reziprozität fällt in Christus weg zugunsten einer Selbsthingabe für den Nächsten. Durch den Zuspruch des Evangeliums entsteht eine neue Kreatur mit einer bleibend fremden Identität als Gerechter, die sich dem Nächsten zuwenden kann.269

264 „Denn erst das Gesetz sagt nach Röm 7,7: ‚Non concupisces!‘“ Vgl. Christe 2014, 267. 265 Vgl. Danz 2010, 31 f. Das Gesetz zeigt den Unglauben auf, dadurch setzt es zugleich den Glauben voraus. D. h. auch der Gesetzesgebrauch im usus theologicus ist Werk Gottes. Bayer 2006, 57. 266 Vgl. Prien 1992, 173. Vgl. Bayer 2006, 55, besonders Fn. 27. 267 Vgl. Wannenwetsch 2008, 121 f. Die Erkenntnis, dass Gott ist, ist durch das Naturrecht möglich, die Erkenntnis wer Gott ist, gehört hingegen in den Wirkungsbereich des Heiligen Geistes. WA 19, 207.11 268 Vgl. ebd., 124. 269 Vgl. Bayer 2006, 56. Nicht primär in die lutherische Tradition gehört ein usus in renatis: H.-J. Prien schreibt: „Tertius usus legis hieße, daß die Wirksamkeit des Evangeliums von einer menschlichen Vorleistung abhängig gemacht wird, daß nämlich das ethische Verhalten der Gläubigen, das von Dankbarkeit für die Rechtfertigung gegenüber Gott und deshalb von Liebe zu den Mitmenschen bestimmt ist, zur gesetzlichen Norm der Gesellschaft erhoben würde.“ Vgl.

254 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive B. Wannenwetsch argumentiert, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium nur systematisch gelesen vereinfacht sei, und untersucht sie in einer narrative dramatic perspective.270 Versteht man ‚Gesetz‘ in seiner sich verändernden Rolle in der Heilsgeschichte, ist eine ‚dramatische‘ Perspektive eingenommen, bei der das Gesetz eine komplexere Rolle einnimmt als in der systematischen Unterscheidung. B. Wannenwetsch weist darauf hin, dass das Gesetz bereits prälapsarisch in Geltung und Funktion war (Gen 2,16 f.) und zu Adams iustitia originalis gehörte. Gesetz kann in diesem Stand weder als Korrektur oder als Rechtfertigungsinstrument verstanden werden, sondern als Gestaltungsform der Liebe und Gottesdienst. Erst mit dem Fall verändern sich Adam und die Bedeutung des Gesetzes. Es wird zum alia lex, zum „external code“.271 Damit ist die Korrespondenz von Innen und Außen aufgehoben durch den Fall, und das Gesetz erscheint als Forderung. Vom Ausgangspunkt her zielt das Gesetz zwar nur auf äußere gerechte Werke, aber hat dafür eine gerechte Person zur Voraussetzung. Der usus theologicus zeigt in seiner geistlichen Dimension dann auf, dass es den Gerechtfertigten im Menschen nicht mehr gibt. Die Folge ist die Differenz von Alt und Neu. Das Subjekt des Gesetzes muss neu – christusgleich – werden, um das Gesetz als external code und Forderung zu überwinden.272 In dieser Perspektive wird das Gesetz zu einem freien Gestaltungsinstrument und Werkzeug des Gerechtfertigten, praktisch zu einem ‚internal code‘ des iustus in seiner orientierenden und mit dem Willen Gottes bekanntmachenden Funktion. Geändert hat sich das Verhältnis des Christen zum Gesetz: Durch den Geist wird ein zustimmendes Verhältnis mit dem neuen Menschen wiederhergestellt.273 Davon unbenommen unterstreicht M. Luther, dass dem Gerechten kein Gesetz gegeben ist, weil die Werke soteriologisch irrelevant sind. Das entbindet einerseits nicht von einem dem Glauben entsprechenden Handeln, andererseits befreit es gerade zu einem Handeln ohne Rücksicht auf die eigene Heilsfrage. Den Inhalt des Handelns scheint der neue Mensch instinktiv zu Prien 1992, 175. Vgl. auch Hauschild 2010, 296 f. Die Scholastik konnte das Evangelium noch als lex Christi verstehen. 270 Vgl. Wannenwetsch 2008, 124. 271 „We see the reformer emphasizing that the existence of the law presupposes grace and not sin.“ B. Wannenwetsch bezieht sich auf M. Luthers Genesisvorlesung (WA 42, 71 ff.) Vgl. ebd., Zitate: 126 und 125. Vgl. auch Christe 2014, 405 ff. und zur Funktion des Gesetzes im Urstand: 425. 272 „It means dying to the external code, […] and rising again to the law in its original sense, as that which gives concrete form and order to the joy of a life in Christ. The restitution of the law that accompanies the mortification and resurrection of its subject leads to knowing God’s law in a new form, as the ‚law of the spirit of life in Christ‘ (Rom. 8:2).“ Vgl. Wannenwetsch 2008, 126. 273 Vgl. Christe 2014, 424 f. und folgendes Zitat: 428. W. Christe spricht von einem „usus practicus evangelii“ als „Implikat des Evangeliums, welches die Heilsfrage nicht mehr vor sich, sondern im Rücken hat.“

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wissen bzw. situativ zu erheben. Dem Gesetz kann hier eine orientierende Funktion zukommen. Da der Christenmensch jedoch nicht ausschließlich als iustus zu beschreiben ist, kann die Funktion des Gesetzes auch hinsichtlich des simul iustus et peccator noch einmal differenziert werden. Der Christ, der neuer Mensch ist und Gottes Gebot hört bzw. dem es als ihm erfüllbares gepredigt wird, erfährt sich im Hören des Wortes sofort auch als alter Mensch, dem das Gebot zum Gesetz wird, welches ihm seine Sünde offenbart und ihn erneut zum Evangelium treibt. Zudem ist der neue Mensch keine konstatierbare, fixierbare Gegebenheit, sondern ersteht je neu im Transitus von der Anklage des Gesetzes zum Freispruch des Evangeliums, also in der je sich wiederholenden Totalrechtfertigung. Der wie auch immer ‚bekehrte‘ Mensch ist für Luther nicht mit dem neuen Menschen identisch, sondern auch der ‚bekehrte‘ Mensch ist zeitlebens neuer und alter Mensch zugleich.274

In der Dimension des Außenbezuges dieses doppelt bestimmten Christenmenschen ist nachfolgend, zumindest andeutungsweise, auf die Figur der ZweiReiche-Lehre einzugehen.

5.6.2 Zwei-Reiche-Lehre „Mit dem Evangelium lässt sich die Welt nicht regieren“ schreibt M. Luther und bezieht sich in der Schrift ‚Von Kaufshandlung und Wucher‘ auf ‚die Bösen‘, die einen evangelischen Handel ausnutzen würden.275 Zugleich würde das Evangelium gesetzlich in der willentlichen Anwendung in der Welt. Die Bildung einer ‚Zwei-Reiche-Lehre‘ in der Dogmengeschichte reagiert auf zwei verschiedene Sichtweisen. Durch den Glauben entsteht dem Menschen eine Gewissheit, die „seinen Affekt“ und seine Präferenzen bestimmt.276 Damit ist einerseits das Wirken Gottes durch das weltliche und das geistliche Regiment bezeichnet und andererseits ein paralleles Wirken des Menschen im Blick. Dabei können nur Christen als Geschöpfe des geistlichen Regiments beide Regierweisen repräsentieren. Sie sind nicht aus dem weltlichen Regiment entnommen, sondern erkennen das weltliche in seiner geistlichen Dimension neu. Christen haben an beiden Regierweisen teil: Unterschieden wird nicht nach zwei Bereichen 274 Vgl. Christe 2014, 429 und 435. 275 WA 15,302,14 ff. und Prien 1992, 155. Siehe auch WA 11, 251.22 ff. in der sich M. Luther auf die ‚bösen‘ Getauften bezieht. 276 E. Herms unterscheidet nach lumen naturale und lumen gratiae Vgl. Herms 2005, 425. Vgl. auch den Überblick Bayer 2006, 281.

256 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive – oder civitates mit Augustinus –, sondern die Unterscheidung „geht gleichsam mitten durch den Christenmenschen hindurch“, obwohl Christen als geistliche Menschen der weltlichen Regierweise nicht mehr bedürfen.277 Von besonderer Bedeutung ist dabei die Spannung von wirksamer Rechtfertigung und dem Verhaftet-Sein in der Welt, wodurch sich Rechtfertigung als Prozess vom Tun Gottes her begreifen lässt.278 Den Hintergrund der Rechtfertigungslehre bildet nach A. Pawlas die Vorstellung, dass der Mensch in zwei Relationen lebt: coram Dei und coram mundo et hominibus. Er akzentuiert diese Foren als Perspektiven göttlicher Wirksamkeit, womit der Christ Bürger zweier Reiche sei. M. Luthers Argumentation zu den regna richtet sich in ihrer theologischen Dimension auf das Problem der Geltung der Bergpredigt und einer notwendig weltlichen Regierung. Historisch markiert sie eine Grenzbestimmung, die Übergriffe in den geistlichen Bereich ausschließen und einer Vermischung wehren soll.279 Im Bereich zur Linken gelten ‚Grundrechte‘ zur Sicherstellung der Existenzbedingungen des Menschen,280 die die Obrigkeit mit Recht und Gesetz zu schützen, und so die Ordnung Gottes zu sichern hat. Dabei ist zwischen Person und Amt zu unterscheiden, wobei sich die Loyalität besonders im weltlichen auf das Amt bezieht, Kritik aber nicht ausschließt. Damit ist einerseits bearbeitet, dass Recht nicht eingefordert werden soll, es andererseits Institutionen gibt, die im Rahmen eines ‚Nächstenamtes‘ oder des kirchlichen Wächteramtes (wie M. Luthers Stellungnahmen) auf die gute Ordnung achten und als Anwalt eintreten.281 Das weltliche Amt in Politik und Ökonomie wird bei M. Luther nicht im Rahmen eines Dualismus bearbeitet, sondern in eine „unmittelbare Beziehung zu Gott gestellt“282 und zugleich der Sorge der Menschen anvertraut. Die Goldene Regel kann in diesem Rahmen als Richtschnur dienen. Die Trennung nach Amts277 Vgl. Bayer 2006, Zitat: 283 und vgl. 286. Vgl. auch Herms 2005, 427 f. 278 Vgl. WA 39 I, 252: „Iustificatio ergo nostra nondum est completa.“ A. Pawlas zitiert WA 39 I, 521: „Der Mensch, der an Christus glaubt, ist durch göttliche Zurechnung gerecht und heilig. Er befindet sich und ist bereits im Himmel, umgeben vom Himmel der Barmherzigkeit. Aber während wir hier im Schoße des Vaters getragen sind, bekleidet mit dem schönsten Gewand, reichen unsere Füße unten aus dem Mantel heraus, und die beißt der Satan, wie er nur kann.“ Vgl. Pawlas 2000, 88 und zur Problematik dieser ‚Lehre‘: 96 f. Vgl. auch Prien 1992, 146 f. 279 Vgl. ebd., 146 f. 280 Vgl. ebd., 156, besonders Fn. 60 f. Der Zusammenhang von weltlichem Recht und Gerechtigkeit wird durch die reformatorische Theologie insoweit aufgebrochen, dass weltliches Recht und Gerechtigkeit Gottes nicht mehr gleichbedeutend sein müssen. Zum Hintergrund des Fehdewesens vgl. ebd., 152. 281 Zu den vielen Personengruppen, die das weltliche Amt ausführen vgl. ebd., 159. 282 Vgl. ebd., 161. Der usus civilis des Gesetzes zur Linken bezieht sich auf das lex naturae, das Reich zur Rechten hingegen wird mit Wort und Sakrament regiert. Vgl. Pawlas 2000, 96 f.

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person und Christperson bleibt schwierig in diesem Zusammenhang, weil die mittelalterliche Zwei-Stufen-Ethik aufgehoben und die consilia Evangelii – die hohen Maßstäbe der Bergpredigt – nun für jeden Christenmenschen gelten sollen.283 Das macht Entscheidungsalternativen im Schnittfeld von Person und Amt im Subjekt des Christenmenschen komplex, und auf einer institutionellen Eben ist die sichtbare Kirche selbst von dieser Unterscheidung nach weltlicher Notwendigkeit und geistlicher Regierweise im Zeichen des Evangeliums betroffen.284 Erweitert wird das Problem, wenn auch der neue Mensch sich zum alten und sündigen Menschen in sich verhalten muss, der das Gesetz und weltliche Regiment noch braucht, zumindest bis zum Eschaton. Präzisiert und eingebettet wird die Zwei-Reiche-Lehre als irdisch notwendige Unterscheidung durch die Dreiständelehre, durch die Gott in der Welt an den Menschen handelt.285 Oeconomia, politia und ecclesia Ob die Drei-Stände-Lehre eine besondere Anwendung der Zwei-Reiche-Lehre oder ein alternatives Deutungsschema ist, ist strittig. H.-J. Prien bezieht sich mit dem Lehr-, Wehr- und Nährstand auf die Lebensbereiche Gemeinde, Hausstand und Gemeinwesen, die funktional als Herrschaftsbereiche des Menschen am Nächstendienst orientiert sind.286 Oeconomia, politia und ecclesia können als elementare soziale Bezüge verstanden werden, die als „con-creatures“ zum Leben notwendig sind.287 In diesen Ordnungen verwirklichen sich die Liebeswerke und der Christ im Sinne von Heiligung. Eine Hierarchie der Stände wird einerseits durchbrochen und zugleich ist der Glaube als Stand über / in / durch alle Stände wirksam. Der Glaube und christliche Stand ist so ein frei Ding, dass er an keinen Stand verbunden ist, sondern ist über alle Stände, in allen Ständen und durch alle Stände.288

283 Vgl. Bayer 2006, 258 und 291. Siehe auch Rieger 2007b, 242. 284 O. Bayer verweist darauf, dass es sich nicht um einen Widerspruch handelt, sondern um eine bestimmte Ausführungsform des Amtes. Bayer 2006, 293 und 295. 285 Vgl. ebd., 295. 286 Vgl. Prien 1992, 165 ff. Besonders für den status oeconomicus sieht M. Luther die Dienstfunktion von Arbeit, Eigentum und Obrigkeit: vgl. ebd., 168. C. Lindberg erinnert daran, dass oeconomia nicht nur den Haushalt, sondern auch „social welfare and local and national economic concerns“ betrifft. Lindberg 2008, 167. Genauso Bayer 2006, 129. 287 Die ‚heiligen Stände‘ „are like the elements in sacramental theology: ‚natural material‘ created by God and entrusted to humankind, always in danger of being misread.“ Zitate Wannenwetsch 2008, 130 und 131. 288 WA 12, 126.17 f. Liebe ist das zentrale Kriterium. Vgl. Bayer 2006, 139.

258 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Während mit der Zwei-Reich-Lehre eher eine Separierung zwei verschiedener Regierweisen Gottes angelegt ist und der Vermischung zweier Autoritäten gewehrt wurde, erscheint nach B. Wannenwetsch die Ständelehre als Revision und Rahmen, in die die Zwei-Reich-Lehre eingebettet ist: the ‚Three‘ is a way of expressing how God’s rule and faith penetrate the elementary forms of social life alike, bringing the worldly (politics and economics) and the spiritual (religion) into line.289

Das bedeutet in Bezug auf die drei Stände als elementare soziale Sphären, dass der Mensch, sich selbst nicht als Ursache und Schöpfer des ökonomischen Lebens verstehen und „ego feci“ sagen kann.290 M. Luther denkt Gottes Herrschaft in den Ständen als Durchdringung, sodass eine Antinomie von Theologie und Ökonomie durch den Glauben verbunden wird. Die Deutung der Differenz von Innen und Außen hinsichtlich eines inneren Glaubens und äußeren Liebeswerken kann nicht anhand der Zwei-Reiche-Lehre durchdekliniert werden, sondern immer schon tätiger Glaube durchzieht die sozialen Sphären. Eine Verbindung von Theologie und Ökonomie im Zeichen der Rechtfertigung hat zudem das Subjekt in diesen Unterscheidungen zu verorten. Dazu soll M. Luthers „Tractatus de libertate Christiana‘ nachfolgend für die Präzisierung des Zusammenhangs von Theologie und Ökonomie im Fokus stehen.

5.6.3 Tractatus de libertate Christiana Die Freiheitsschrift (1520) bietet als eine der reformatorischen Hauptschriften eine Sichtweise auf das Individuum in lutherischer Perspektive im Zeichen der Rechtfertigung. Sie erschien in einer deutschen (in 30 Artikel gegliederte) sowie einer längeren lateinischen Fassung. Die jeweiligen Fassungen zielen auf unterschiedliche Adressaten, wobei der selbe Gedanke an die jeweiligen Leser angepasst wird.291 Von zentraler Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang sind die Unterscheidungen, die M. Luther innerhalb des christlichen Subjekts vornimmt. Die Schrift lässt sich nach innerem und äußerem Menschen strukturieren. Nach 289 Vgl. Wannenwetsch 2008, 132. 290 Vgl. ebd., 133. 291 M. Luther hielt die (lateinische) Schrift für „die ganze Summe des christlichen Lebens […], wenn der Sinn verstanden wird.“ Vgl. Korsch 2016, 75. Siehe auch Holm 2006, 111. Nach R. Rieger könnte die Schrift auch „De fide christiana“ heißen. Vgl. Rieger 2007b, 15, zu den Fassungen 5 ff. und zum summa christianae vitae: 292. In der Regel ist die lateinische Fassung präziser formuliert und expliziter.

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einer Einleitung (§ 1–2 der dt. Fassung) geht es zunächst um den inneren Menschen, und ab § 19 um den äußeren Menschen. Ein Schlussabsatz (§ 30) schließt die Schrift ab.292 Zugleich muss nach altem und neuem Menschen unterschieden werden, weil der Fokus auf der Freiheit und dem Dienst des neuen Menschen liegt. Hinzu kommt die lutherische Formulierung vom ‚simul iustus et peccator‘, die im Zusammenhang der Rechtfertigungslehre wirkmächtig geworden ist. Ziel dieser Präzisierung ist es, den Zusammenhang von Glauben und Werken in ökonomischer Dimension zu erhellen und andererseits Anknüpfungspunkte für eine lutherische theologische Ökonomie zu identifizieren. Zentral dabei ist die Frage, welche Bausteine aus dem Kern reformatorischer Theologie ökonomisch relevant sind und welche theologische Kernüberzeugung gegebenenfalls eine theologische Ökonomie erfordern oder verbieten. Das admirabile commercium – der fröhliche Wechsel – wird dabei im Vordergrund stehen und die Frage, in welchem Verhältnis der Christenmensch zum alten und neuen Menschen in sich steht. Die Doppelthese Die Doppelthese aus der Einleitung der Freiheitsschrift entspricht der Struktur der Gesamtschrift. Die Aufteilung nach innerem und äußerem Menschen bzw. Glaube und Liebe, wird am deutlichsten anhand der Doppelthese. Christianus homo omnium dominus est liberrimus, nulli subiectus; Christianus homo omnium servus est officiosissimus, omnibus subiectus.293 M. Luther stellt mit der Doppelthese zwei Allaussagen als Leitthese für seine Schrift voran, die formal als konträre Aussagen zu bezeichnen sind. Beide Aussagen könnten falsch sein und ein dritter Satz richtig. Wenn das nicht gelten soll und beide Sätze zugleich wahr sein sollen, ist nach den Subjekten und Prädikaten der Sätze zu fragen. Die Subjekte sind in beiden Fällen wortgleich beschrieben, eine Identität ist damit noch nicht ausgesagt. Als Prädikate steht das Gegensatzpaar dominus und servus.294 Während das Subjekt als ‚Christenmensch‘ genauer bestimmt ist, wird mit omnium keine Einschränkung gemacht. Der Mensch, für den diese Sätze gelten, ist der gerechtfertigte Mensch. Sie gelten in Bezug auf alles, darunter sind alle Menschen bzw. das Außen der Welt zu verstehen. Das 292 Vgl. Rieger 2007b, 12 ff. und Korsch 2016, 166. 293 Aus: Rieger 2007b, 49. M. Luther bezieht sich auf I Kor 9,19, Röm 13,8, Gal 4,4. Vgl. Korsch 2016, 77. 294 Vgl. Rieger 2007b, 53 ff.

260 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Verhältnis vom Christenmenschen zum omnium ist zweifach als herrschende und dienende Relation bestimmt. Entsprechend der Gesamtanlage der Schrift ist der erste Teil der Doppelthese auf den Glauben bzw. den inneren Menschen zu beziehen. Der zweite Teil hingegen verweist auf die Liebe bzw. den äußeren Menschen. Der für den Christenmenschen vorausgesetzte Glaube ist für M. Luther keine Tugend oder Eigenschaft, die zum ethischen Handeln befähigt. Der Glaube an das Evangelium – im Schema von Gesetz und Evangelium – führt seine Erfüllung mit sich, und der innere Mensch bedarf nur des Wortes Gottes, um gerecht und gut zu sein.295 Nach D. Korsch beschreibt die Doppelthese ursprünglich Jesus Christus: „Er ist als Sohn Gottes Herr über alle Dinge und niemandem Untertan. Und er hat umfassende Dienstbarkeit erwiesen und sich selbst jedermann Untertan gemacht, indem er sein Leben für alle gegeben hat.“296 Ein Christenmensch hat damit eine parallele Existenzstruktur zu Christus, wobei das Christusereignis als Initialereignis zu verstehen ist. Zu M. Luthers Freiheitsverständnis aus seiner Doppelthese ist hinsichtlich der Handlungsdimension festzustellen, dass es sich um eine heteronome Freiheit handelt. In Bezug auf den inneren neuen Menschen macht sie frei von Allem. Sie ist aber nicht als abgesonderte Freiheit zu verstehen, sondern geht mit der Dienstbarkeit einher. Die innere Freiheit zeigt sich äußerlich in ihrem Gegenteil. Dabei ist nicht jeder Dienstbare automatisch innerlich frei, aber wenn der innere Mensch frei ist, zeigt sich der Äußere dienstbar. Für M. Luther gilt also eine Freiheit, die nicht selbstgemacht und dem Menschen anthropologisch erst einmal nicht zu eigen ist. Der Mensch wird erst durch die Rechtfertigung bzw. seinen Glauben zur Freiheit befähigt. Ohne Glauben ist der Mensch wieder unfrei, sie ist also eine verlierbare Gabe. Wenn der Mensch erst nach der Rechtfertigung die Freiheit hat, nach der bestmöglichen Wahl zu handeln [posse non peccare], dann fällt notwendigerweise die Entscheidung, dem Willen Gottes entsprechend zu handeln. Die gnadenhafte Rechtfertigung lässt für M. Luther keinen freien Willen (coram deo!) zu, weil der Mensch nicht durch willentliche Werke zu seinem Heil beitragen kann. Dahinter steht die Vorstellung, dass vor der Rechtfertigung keine tatsächlich guten Werke getan werden können, weil der Mensch sie immer mit der Aussicht auf seinen Vorteil tut. Nach der Rechtfertigung hingegen ist der Mensch erst zur Liebe Gottes fähig und hat an den gnadenhaften Gaben genug, sodass er ohne eigene Absichten Gutes tun kann. Das tendiert in die Richtung einer reinen Gabe, bei der die 295 Vgl. Rieger 2007b, 49. Siehe auch Korsch 2016, 17, 23. 296 Vgl. ebd., 81 f. Im Hintergrund ist der Philipperhymnus (Phil 2) als Motiv erkennbar.

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soziale Dimension und die Verbindungen, die Gaben und Gegengaben schaffen, weniger relevant erscheinen.297 Mit der zugeeigneten Freiheit des Christenmenschen geht die Dienstbarkeit einher, also eine Auswirkung des Glaubens auf ‚alles‘. Dabei hat M. Luthers Freiheit keinen Übergang zum Moralischen. Liebe als Verbindung zwischen den Thesen charakterisiert eine Freiheit, die aus Liebe Selbstverzicht üben kann. Aus Dankbarkeit und Liebe können dann gute Werke entstehen, die jedoch eine Folge und nicht ursächlich sind. Alt und Neu – Innen und Außen – Geistlich und Fleischlich Wichtig zur Orientierung sind die Abgrenzungen, die innerhalb des christlichen Subjektes vorgenommen werden. Dadurch entsteht ein hochdifferenziertes Verständnis des Christenmenschen. Diese Unterscheidungen sind nachfolgend darzulegen, weil sich hier deutliche Analogien zu ökonomischen Modellen zeigen. Für die Verbindung von Ökonomie und Theologie ergibt sich daraus eine komplexe Verhältnisbestimmung. Die klassische Leib–Seele Differenz ist nach D. Korsch kritisch und alternativ mit der ‚Alt‘ und ‚Neu‘ Unterscheidung überschrieben worden. Während der Mensch nach der Seele ein geistlich, neuer, innerer Mensch ist, bleibe er dem Fleisch nach ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch.298 Dieser Gegensatz von ‚alt‘ und ‚neu‘ kann irdisch nicht überwunden werden, sondern bezieht sich auf einen immerwährenden Prozess des Wachsens. Zugleich ist aber der ganze Mensch gerecht und müsse es nicht erst werden. R. Rieger hingegen präzisiert die Zuordnung der Bestimmung, indem er die Begriffe des Inneren und Äußeren als den philosophischen Leib-Seele-Dualismus versteht, und die Bestimmung ‚geistlich / fleischlich – Alt und Neu‘ als theologische Unterscheidungen anführt. Der Mensch erscheint in „zwei Aspekten (duplex natura)“ – geistlich, innerlich sowie leiblich, äußerlich – die den ganzen Menschen kennzeichnen.299 W. Christe hingegen ist beim Leib-Seele-Dualismus skeptisch und weist darauf hin, dass gerade ‚innerlich‘ und ‚äußerlich‘ in ihrer anthropologischen und soteriologischen Bedeutung nicht eindeutig zu identifizieren sind. Die zweifache 297 O. Bayer spricht von der ‚kategorischen Gabe‘: „Der Glaube ist jenes Werk Gottes (opus dei), das die menschlichen Werke (opera hominum) gut macht.“ Vgl. Bayer 2006, 257. 298 Vgl. Korsch 2016, 87. 299 Vgl. Rieger 2007b, 73 und Zitat: 80. Vgl. auch Holm 1998, 185 f., der geistlich / innerlich mit forma dei und leiblich / äußerlich forma servi parallelisiert. Siehe auch Holm 2006, 112. Die Rechtfertigung beziehe sich auf den inneren Menschen.

262 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Natur des Menschen ist jedoch in jedem Fall eine fundamental-anthropologische Unterscheidung.300 M. Luther argumentiert anhand von drei Aspekten hinsichtlich des Christenmenschen: Als materielles Bild ist der Mensch Geist und Fleisch zugleich, räumlich anhand von innerem und äußerem Menschen und zeitlich als neuer und alter Mensch erkennbar.301 Nach D. Korsch soll das Geistliche das Leibliche bestimmen, aber der alte Mensch kann diese Imperative der Seele nicht umsetzen. Der ‚alte Mensch‘ fungiert als Qualifizierung des Menschen um anzuzeigen, dass der Mensch nicht seiner Bestimmung entspricht.302 Die Existenzstruktur ist innen gekennzeichnet vom Selbstbezug (incurvatio in seipsum) und außen von Taten, die nicht als ethisch gut bewertet werden können bzw. der Erfüllung der Gebote nicht entsprechen. Die Selbstbeziehung der Seele führt zum Zwang des Begehrens, sich die Welt aneignen zu müssen.303 Durch den Glauben erfolgt eine Neubestimmung der Seele und die Konstitution des neuen Menschen, der ganz aus dem Bezug zu Gott lebt und nach dem ersten Gebot, Gott allein als Gott anerkennt. Dadurch ist er als ganzer Mensch gerechtfertigt und will tun, was er nach dem gültigen Willen Gottes tun soll. Im neuen, befreiten Menschen koinzidieren Glaube / innere Freiheit und äußere Liebe bzw. Seele und Leib. Diese Korrespondenz von innerem und äußerem Menschen wird einerseits von Gott her bestimmt und ist andererseits in Konformität gebracht, weil das Innere das Äußere bestimmen kann.304 Alt und Neu sind als Prozess zu beschreiben, bei dem der Mensch final ganz aus Gott heraus lebt und aus freiem Gehorsam und in Übereinstimmung mit Gottes Willen.305 Das gute Handeln des Gerechtfertigten wird dem eigenen Widerstand abgetrotzt und zugleich ist beides im Menschen wirksam.306 Liebe (Röm 13,8) ist dann die Lebensgestalt der Freiheit (I Kor 9,19), für die Christus ursäch300 Vgl. Christe 2014, 343 f. 301 Die zwei zentralen Naturen des Christenmenschen sind spirituali et corporali Vgl. Rieger 2007b, 65 und 68. 302 Vgl. Korsch 2016, 86 f. 303 Das alte Innen verhindert praktisch die Erfüllung der Gebote. Vgl. ebd., 100 ff. und zum Begehren als Zentrum des Unwillens: 108. Vgl. auch Bayer 2006, 265. 304 Vgl. Korsch 2016, 87 f. Der Dualismus von Leib und Seele ist damit für den neuen Menschen überwunden und durch die Alt-Neu-Differenz vertieft zugleich. Vgl. auch ebd., 108. 305 Vgl. ebd., 156 und160 f. 306 R. Rieger stellt die unterschiedlichen Aussagen zu den Verhältnissen dar: z. B. dass der alte Mensch einerseits noch wirksam ist im Sinne des simul, aber auch mit Christus gekreuzigt sei. Vgl. Rieger 2007b, 66.

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lich (Gal 4,4) ist.307 Dadurch, dass der Mensch von seinem Selbstverhältnis befreit wird, kann er zum Nutzen des Nächsten – wie Christus – handeln.308 Die Unterscheidung von altem und neuem Menschen ist hinsichtlich der ökonomischen Dimension zentral, weil die Eigenschaften des alten Menschen in seinem Selbstbezug und seinem Begehren der Welt auffallende Analogien zu den ökonomischen Modellen zeigen. Aus der theologischen Perspektive wird diese Struktur der Eigennutzorientierung und des Selbstbezuges als ‚alt‘ und unter der Macht der Sünde stehend qualifiziert. Auch A. Yuengert geht vom postlapsarischen Menschen aus, dessen Begehren auf die Welt gerichtet ist, ebenso R. Tatum, jedoch mit dem wichtigen Hinweis, dass Ökonomie und Theologie als komplementäres Verhältnis zu beschreiben sind, um die Wirklichkeit angemessen zu erfassen.309 Für den Christenmenschen gilt nun nach der Rechtfertigung, dass die resultierenden Werke gerade im Zeichen des posse non peccare Adams, des praelapsarischen Menschen getan werden. Die Werke Adams mussten dem Gottesverhältnis nichts hinzufügen und dienten keinem eigenen Nutzen in systematischer Hinsicht. Der neue Mensch kann so seine Selbstrechtfertigung und Eigenbegründung durch sein Handeln aufgeben und sein Ungerecht-und-UnfreiSein be- und erkennen, sowie darauf vertrauen, dass seine Rechtfertigung und Selbstbegründung von Gott kommen.310 Der Bezug auf die Werke Adams dient nicht allein als Vergleich, sondern fungiert als soteriologisch-eschatologische Begründung für die Freiheit von Werken im status originis. Im Modus der freien Rückgabe geschehen die Werke aus reiner Freiheit umsonst und sie suchen nicht den eigenen Nutzen, sondern nur, was dem Anderen nötig ist und dem Nächsten zum Nutzen. Erst der Glauben – und die Befreiung des Menschen vom Selbstbezug – macht die Werke gut.311 Das scholastische Konzept hinter der Formel fides caritate formata geht davon aus, dass der Glaube durch die Liebe geformt und vollendet wird. M. Luther hingegen hatte einen effektiven Glaubensbegriff, der Liebe als Instrument benutzt und so die obige Formel umkehrt: „Caritas fide formata; love is in need of being oriented an formed by faith“.312 Liebe(swerke) und Tugenden können in der Konsequenz nicht mehr als menschliche Möglichkeiten in Betracht kommen, sondern

307 Vgl. Korsch 2016, 78. 308 Das Begehren ist nach D. Korsch dabei Ausdruck des Selbstverhältnis ohne Gott und äußerlich. Vgl. ebd., 152. 309 Vgl. Yuengert 2009 und Tatum 2016b. 310 Vgl. Rieger 2007b, 258 und 260. 311 Siehe § 22 und vgl. Korsch 2016, 45 und 51 ff. Vgl. auch Rieger 2007b, 259. 312 Vgl. Wannenwetsch 2008, 128. Vgl. auch Bayer 2006, 260 f., Barclay 2015, 106 f. und Korsch 2005a, 373.

264 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive ‚der Glaube [bleibt] der Täter und die Liebe bleibt die Tat.‘313 B. Wannenwetsch zieht die Konsequenz: „If the heart is set right and the affects are renewed, the resulting works must be good in the fullest sense.“314 Der externe Charakter der guten Werke legt zudem nahe, dass nur im Glauben überhaupt selbige als tatsächlich gut bezeichnet werden können, weil sie jeden menschlichen Egoismus oder die Reziprozität ausschließen.

In der Außenperspektive handelt es sich um ein ‚wie Christus sein‘ in Analogie zum Philipperhymnus (Phil 2), weil auch Christi Werke nicht auf einen Beitrag zu seinem Gerechtsein zielten und nicht das Eigene suchten, sondern nur den Menschen zum Nutzen waren.315 Die Neubestimmung der Seele stellt sich im Leben dar und realisiert sich im Handeln. Es ergibt sich ein Zusammenhang zwischen der Umwandlung des inneren Menschen und der folgenden Handlungslogik des äußeren Menschen. In den Erläuterungen von D. Korsch ist eine Substitution der Bestimmung der Seele / des inneren Menschen anzunehmen. Diese neue Seele kämpft mit dem Begehren, dessen Ursache jedoch der Selbstbezug ist.316 Das bedeutet aber, dass auch das Innere als alt und neu zu beschreiben ist. Das trifft die Wahrnehmung, dass Menschen sowohl nach der Handlungslogik der klassischen Ökonomie als auch nach einer außerordentlichen Handlungslogik der Theologie im Modus der Gabe miteinander interagieren können. Die Prozesshaftigkeit des Neuwerdens legt das ebenfalls nahe. Hier ist ein zugleich von theologischer und ökonomischer Handlungslogik angedeutet, die seine Ursache in einer doppelten Bestimmung des Menschen hat. Die Unterscheidung von ‚innen‘ und ‚außen‘ muss also jeweils unter dem Kennzeichen von ‚alt‘ und ‚neu‘ durchgeführt werden. Neben die Unterscheidung von ‚alt‘ und ‚neu‘ wird nach ‚innerem‘ und ‚äußerem‘ Menschen differenziert. Die Existenz in der Welt besteht in der Dualität von innerer Freiheit und äußerer Knechtschaft, prägendem Inhalt und geprägter Form.317 Diese Unterscheidung wurde zuweilen als Unterscheidung von religiösem und weltlichem Bereich weitergeführt und in Analogie zur Zwei-Reiche-Lehre entfaltet. Eine strenge Trennung führt zur Schizophrenie des christlichen Subjektes, und zugleich nährt es den Vorwurf der sozialen Unproduktivität lutherischer 313 WA 17/II, 98.25. CA XX: ‚Et quia per fidem accipitur spiritus sanctus, iam corda renovantur et induunt novos affectus, ut parere bona opera possint‘ – „und weil durch den Glauben der Heilige Geist gegeben wird, darum wird auch das Herz erneuert, gute Werke zu tun.“ VELKD 2013, 60 ff. 314 Vgl. Wannenwetsch 2008, 129. 315 Die Voraussetzung dafür ist beim Menschen die Gerechtmachung. M. Luther bezieht sich als Beispiel auf die Bischofsweihe, die den bischöflichen Handlungen vorausgeht. Vgl. Korsch 2016, 61. Vgl. auch Rieger 2007b, 263. 316 Vgl. Korsch 2016, 108 und 142. 317 Vgl. Rieger 2007b, 239.

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Theologie.318 Innen und Außen bezeichnen die interne und externe Relationalität des Menschen, wobei die interne Relation nur durch einen absolut externen Bezug (Gott) seine (fremdbegründete) Identität erhält. Das vermeintlich selbstbegründete Innere ist in Wahrheit ein falsches Äußeres (vetus homo), das von der Außenwelt abhängig macht und zur Unfreiheit führt. […] Erst im Widerspruch zur falschen Innerlichkeit entsteht das wahre Innere (novus homo).319

Das Ziel ist eine mehrfache Gottes-Übertragung: Der innere Mensch wird Gott gleichgestaltet und der äußere Mensch dem Inneren. So wie der innere Mensch durch den Glauben Gott entspricht (conformis deo), so muß der äußere Mensch dem Inneren entsprechen (in libera charitate). Dadurch überträgt sich Gott durch das Innere des Menschen auf den äußeren Menschen und von ihm auf die anderen Menschen.320

Aus dieser funktionalen – nicht ontologischen– „Transitivität Christi in den Christen“321 ergibt sich das Folgende: Christsein heißt, wie ein Christus für den anderen sein. Das ist keine imitatio Christi, sondern eine repraesentatio Christi, in dem Christus nicht einfach äußerlich nachgeahmt, sondern in seinem Wirken dargestellt wird.322

Das Äußere jedoch widersetzt sich durch den Bezug zur Selbstbegründung und die Suche nach dem Eigenen. R. Rieger beschreibt hier ein Restriktionsmodell in Bezug auf das Alte / Äußere, weil die eigensüchtigen Begierden gebändigt werden sollen. Die Werke des neuen und vom Inneren bestimmten Menschen hingegen geschehen umsonst und im quasi supralapsarischen Status. Die Taufe und der Glaube verursachen den Statuswechsel von infra- zu supralapsarischen Werken der neuen Kreatur, der noch nicht vollendet ist, weil sich Glaube und Liebe noch nicht vollkommen entsprechen. R. Rieger zeigt hier an, dass die Prozessualität, die M. Luthers Konzept innewohnt, systematisch problematisch ist, weil Glaube vollkommener werden soll, auf die Predigt zurückgeführt wird, und doch Werk 318 Vgl. Wannenwetsch 2008, 127. Für J. Tiemstra gehört die Verbindung von ökonomischem und theologischem Glauben daher zur Schizophrenieprävention. Tiemstra 1994, 7. Vgl. auch Pawlas 2000, 1 f. und Prien 1992, 20. 319 Vgl. Rieger 2007b, 81. 320 Vgl. ebd., 248. 321 Vgl. ebd., 300, Zitat: 324. 322 Im Sein für andere Menschen erscheint das Wesen Christi und der von der Sünde Befreite handelt als Christus dem Status nach für andere. Das jedoch kann so umfassend nur für den iustus gelten. Vgl. ebd., 306.

266 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Gottes ist, ein Wachstum in der Liebe für M. Luther jedoch zu wenig ist und die Heilsgewissheit mit dem Stichwort ‚Vervollkommnung‘ wiederum zur Frage steht. Es könnte sich um „monastische Eicherschalen“ handeln. B. Holm betont hingegen gerade den dynamischen Prozess zwischen Innen (forma dei) und Außen (forma servi), die keine statischen Naturen sind, sondern ständig den Philipperhymnus nachvollziehen.323 Die Unterscheidung von Innen und Außen beim Christenmenschen ist daher auf Seiten des neuen Menschen von einem Konformitätsgedanken geprägt. Der neue Mensch ist erst im Eschaton ganz innerlich, in der Welt kann es nur ein Anfangen geben, das Äußere dem Inneren gleichförmig zu gestalten. Das Äußere zeigt sich als widerspenstiger Wille, zugleich gilt jedoch auch, dass das Äußere nicht auf das Innere wirken kann.324 R. Rieger verweist daneben auch darauf, dass aus dem neuen Sein ein entsprechendes Äußeres entstehe, dass nicht nach dem eigenen Vorteil suche.325 Das Verhältnis von neuem Innen und dem Außen bezieht sich auf die Werke in der Welt. Diese Werke fließen aus dem inneren Glauben nach außen, und die Doppelthese kann nach der Wirkung unterschieden werden: Der dominus wirkt nichts, aber der servus alles, ohne Verlangen nach einer Gegenleistung spontan aus eigenem Antrieb. Die Voraussetzung dafür ist der durch den Glauben geschaffene Überfluss.326 Selbstlos und ohne Eigeninteresse haben weltliche Werke keine Funktion für den Handelnden, sondern nur für den Nächsten. Sie sind frei und gut, weil sie gerade nicht der eigenen Rechtfertigung dienen müssen.327 Da323 Vgl. Rieger 2007b, 256 f. und Zitat: 258. Holm 1998, 189 f. T. Kaufmann weist darauf hin, dass Heilsgewissheit Glaubensgewissheit sei, weil Gottes Gegenwart im Glauben gegeben sei. Vgl. Kaufmann 1998, 60. Vgl. dazu und zur Unterschiedung von certitudo und securitas auch Ringleben 1998, 89 und 94. 324 Vgl. Korsch 2016, 15, 41 und 47. Darum können äußere Werke nicht innerlich gerecht machen, und zugleich zeigen schlechte Werke nicht zwangsläufig ein schlechtes Inneres an. Das Bild von Baum und seinen Früchten (Mt 7,18), zerbricht systematisch durchdacht schnell. ebd., 51. Vgl. auch Rieger 2007b, 243. Nach B. Wannenwetsch sind innerer und äußerer Mensch keine anthropologischen Bereiche des ganzen Menschen, sondern der ganze Mensch in innerer (coram Deo) oder äußerer (coram mundo) Perspektive stehe zur Disposition. Daher ist Freiheit und Knechtschaft jeweils nicht nach innerem und äußerem Menschen aufzuteilen. Aus einem „NeoProtestant point of view“ schaffe das Innere dann die Motivation für (rational) gute Werke. Vgl. Wannenwetsch 2008, 127. 325 Vgl. Rieger 2007b, 265. Die Ethik begründet M. Luther damit christologisch. ebd., 296. Ob das noch als Ethik verständlich ist, erscheint fraglich, weil jeder Hinweis auf nötige Werke im Verdacht steht, wieder im Modus des Gesetzes zu verfahren. 326 Die Freiheit wird irdisch nur begonnen, weil der Mensch nicht nur geistlich ist, sondern noch im Fleisch lebt. Vgl. ebd., 234 und 292 f. 327 Vgl. ebd., 296.

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mit steht zur Frage, ob zugleich jeder eigene Nutzen ausgeschlossen ist oder nur diejenigen Nutzenfunktionen, die sich auf die eigene Selbstbegründung beziehen könnten. Gute Werke – außerhalb klassisch ökonomischer Transaktionen – sind in jedem Fall nur ‚gut‘, wenn sie im Glauben geschehen. Stellt man in Rechnung, dass auch das weltliche Handeln des Christen als Dienst am Nächsten in der Ständelehre charakterisiert ist, werden etwaige Grenzen zwischen gerechtem und sündigen Handeln problematisch. Die Knechtschaft des Christenmenschen unter der Sünde hört mit der Rechtfertigung nicht auf, aber sie ist in ihrer verurteilenden Bedeutung aufgehoben. Das Innere ist vom Äußeren unabhängig, das Äußere wird aber vom Inneren bestimmt. Ein bloßes Inneres würde gar nicht in Erscheinung treten; christliche Freiheit muss sich entäußern als esse omnium servum und so dem Inneren (imago dei) gleichförmig werden, obwohl sich ein Außen dagegen auflehnt. Der Mensch soll durch die Befreiung Herr über sich selbst und die Begierden werden. Auch der Dualismus von Alt und Neu ist in dieser Hinsicht eine kämpferische Auseinandersetzung, weil auch der Glaube unter den endlichen Bedingungen nichts Unanfechtbares ist.328 Der Mensch kann nicht als in sich einheitlicher verstanden werden, sondern nur im Rahmen des Unterschiedes zweier gegenseitiger zeitlicher Existenzweisen, die zugleich wirksam sind. Daher gibt es auch im gerechtfertigten Menschen noch einen Widerspruch zwischen geistlich und fleischlich, der zur Sünde führen kann.329 Zwischen altem Adam und neuem Menschen wird ein stetiger Kampf geführt: „Zwischen dem ‚Christen‘ […], sofern er alter Mensch ist, und dem ‚Ungläubigen‘ […] besteht kein Unterschied!“330 R. Rieger schreibt: Aus der Simultaneitä t von Geist und Fleisch folge die von Gerechtigkeit und Sünde. Nach dem inneren Menschen sei der Sünder zugleich getö tet und befreit, was dem ganzen Menschen zukomme und dem fleischlichen oder ä ußeren Menschen mitgeteilt werde (WA 56,344). […] Weil der Geist und das Fleisch zusammen den einen Menschen ausmachten, wenn sie auch in entgegengesetzte Richtungen strebten, schreibe er das Handeln beider sich als ganzem zu, so als ob er zugleich ganz Fleisch und ganz Geist sei (WA 56,344 f.). Also sei der Mensch zugleich Sünder und Gerechter. Damit ist theologisch-anthropologisch das simul iustus et peccator abgeleitet. Aber Luther betont die Simultaneitä t und die Totalitä t der Geltung der Kontraria.331

328 Vgl. Rieger 2007b, 241 und 254. 329 Vgl. ebd., 69 und 71. 330 Vgl. Bayer 2006, 267. 331 Vgl. Rieger 2007b, 76.

268 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Die Beziehungen der Contraria in sich sind vielschichtig: So fließen aus dem Glauben bzw. dem neuen inneren Menschen die Werke im Rahmen eines nun zumindest teil- oder zeitweise konformen Außen. Das heißt, dass der Gotteswille in dieser Perspektive gleichsam als internal code verinnerlicht wurde und das Außen analog strukturiert ist. Zugleich widerstreitet eine fleischlich-äußere Dimension im selben Menschen. „Die beiden Teile des Traktats spiegeln [zudem] die Simultanität von Gerechtigkeit und Sünde, die den Menschen prägt.“ Die Dienstbarkeit stehe – auch nach der Rechtfertigung – im Zusammenhang mit der Sünde, die Freiheit hingegen mit der Gerechtigkeit, die Folgen für das Handeln des Menschen hat. Der Zusammenhang zwischen Sünde und Dienstbarkeit überrascht in R. Riegers Kommentar. Wenn die Dienstbarkeit doch eine Konsequenz der Freiheit ist, dann sollte doch die Konformität von Innen und Außen ursächlich für den Zusammenhang von Freiheit und Dienstbarkeit im neuen Menschen sein. Daneben hingegen könnte es ein ‚altes‘ Äußeres geben, dass unfrei unter dem Weltbezug geknechtet ist. Das vom neuen Inneren geprägte Außen ist ja gerade frei, ohne Lohn und eigenen Vorteil Dienst zu tun.332 R. Rieger spricht von der zweifachen Natur des Menschen, – analog zur Christologie – die er mit Innen und Außen beschreibt.333 Quer dazu scheint im Zeichen des simul iustus et peccator sowohl Innen und Außen noch einmal mit der Alt/Neu Differenz unterschieden werden zu müssen. Eine systematisierte Matrix hilft, die folgende Beschreibung des Christenmenschen als ‚simul religiosus et oeconomicus‘ näher zu erfassen. Wesentlich sind dafür die Relationen von altem und neuem Menschen, sowie die Unterscheidung von Innen und Außen. Horizontal entsteht in der Systematisierung die Leitdifferenz von Alt und Neu. Vertikal die Differenz von Innen und Außen. Der Christenmensch ist einmal als alter Mensch nach Innen und Außen verfasst und zugleich als neuer Mensch, wiederum nun mit einem neuen Innen sowie einem neuen Außen.

332 Zur These ‚omne opus bonum est peccatum‘ Vgl. Christe 2014, 254. Wenn der ganze Mensch zugleich vom alten und neuen Menschen bestimmt ist bzw. vom Kampf zwischen beiden Intentionen, besteht das ‚Außen‘ ebenfalls aus zwei konkurrierenden Bestrebungen. 333 Vgl. Rieger 2007b, 238, 245 und 248. Hierauf lasse sich auch die Unterscheidung von Glaube und Unglaube anwenden sowie der Mensch nach und vor dem Sündenfall. Gerade ersteres legt nahe, dass es im Christenmenschen auch ein Außen im Glauben geben müsse. Das ist für eine theologische Ökonomie hochrelevant. (Davon unbesehen bleibt die Unterscheidung von Person und Werk.) Nach R. Rieger „stellt der innere Mensch […] sein Äußeres in den Dienst am Geistlichen, andererseits kann er als äußerer Mensch nicht anders, als das Seine zu suchen und wird so zum Knecht der Sünde.“ Vgl. ebd., Zitat: 248, siehe auch 273 und 276.

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Während der alte Mensch innen unfrei ist, wird Freiheit zum Kennzeichen des neuen inneren Menschen. Während der alte Mensch außen Sünder ist, wird die dienstbare Liebe zum Kennzeichen des neuen äußeren Menschen. Die Unterscheidung im ganzen Menschen erfolgt durch den Glauben bzw. die imputative Rechtfertigung. Das Sterben des peccator und das Wachsen des iustus ist dann als Heiligung zu bezeichnen.334 Festgestellt werden muss, dass diese Darstellung den ganzen Menschen beschreibt.

Während eine lutherische Ökonomie vom neuen geistlichen Menschen ausgehen könnte, dabei jedoch die eschatologische Differenz von ‚schon und noch nicht‘ missachten würde, so scheint die Unterscheidung von alt und neu zugleich auch die produktive Spannung von Theologie und Ökonomie zu beinhalten. Zur Frage steht dann: Welches Korrektiv braucht die Ökonomie des alten Menschen und welchen Realitätsgehalt hätte diese Alternative. Wie dieses Zugleich denkbar und produktiv für das Verhältnis von Theologie und Ökonomie werden kann, lässt sich im Zusammenhang mit dem simul iustus et peccator darstellen.

5.6.4 Präzisierung: Simul iustus et peccator W. Christe versteht M. Luthers simul als Zusammenfassung seiner Theologie, die stark an seine eigene Erfahrung angebunden ist. Die Erkenntnis des Scheiterns und Versagens zugleich mit der Gewißheit der Gerechtigkeit vor Gott, bringt er auf die Spitze durch die Formel der ‚gerechten Sünder‘ (iusti peccatores).335 An dieser Stelle zeigt sich bereits, dass es sich um einen genuin lutherischen Traditionsbestand handelt: Katholisch ist mit der Taufe die Erbsünde, der Mangel der ursprünglichen Gerechtigkeit, vergeben und getilgt. Die selbstsüchtige Neigung (Konkupiszenz / concupiscentia) des Menschen ist Zunder (fomes) und nicht Sünde selbst. Zur Sünde wird sie erst durch die Einwilligung in die Begierde und resultierende Tat. Ein simul von Gerechtigkeit und Sünde im Menschen kann es aus dieser Perspektive nicht geben.336 Entscheidend ist diese Differenz, weil sich M. Luther auf die „bleibende sündige Grundhaltung“337 des Menschen bezieht und nicht auf einzelne Tatsünden. 334 Von der Heiligung wie vom Reich Gottes ist jedoch jeder Fortschrittsgedanke fernzuhalten, weil sonst wieder Werke als Förderung und Zutun infrage kämen. Vgl. Bayer 2006, 265. 335 Vgl. Christe 2014, 15 f. Auch G. Ebeling sieht in der simul-Struktur das lutherische Denken zum Ausdruck gebracht (z. B. durch die Spannung von Gesetz und Evangelium). Vgl. ebd., 92 f. 336 Vgl. ebd., 16 f. und 119. Zum Forschungsüberblick vgl. besonders ebd., 69 ff. 337 Vgl. ebd., 119.

270 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Für ihn ist die Konkupiszenz eine sündige Grundhaltung, die sich auf den ganzen Menschen bezieht und aus der Aktualsünden hervorgehen. Sie ist Sünde als peccatum radicale, weil sie als „Hinneigung zu einer ichsüchtigen, auf sich verkrümmten, gott- und nächstenfeindlichen Grundhaltung (‚curvatio in se ipsum), […] nur das ihre sucht“.338 Die Konfrontation mit dem Willen Gottes und der Gabe der Rechtfertigung zugleich – der Dissens zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit – ist bei M. Luther biographisch erfahrungsgesättigt. Es handelt sich um einen Kampf im Subjekt, der theologisch von wesentlicher Bedeutung ist. Die Rechtfertigung bezieht sich primär auf die Nichtanrechnung und Vergebung (nicht der Vernichtung) der Konkupiszenz als Sünde (Singular, nicht die Tatsünden), die sich durch die Taufe hindurch erhält.339 Die Rechtfertigung ist dadurch eine bleibende Gabe Gottes, die sich nicht nur einmalig auf die Taufe bezieht, sondern immerwährend zugeeignet wird und zugleich fremd bleibt. Das simul M. Luthers hat in dieser Dimension die Funktion, eine Beziehung zu Gott trotz der Sünde denken zu können.340 M. Luther identifiziert ausgehend von Röm 3,28 zwei Arten der Rechtfertigung: coram Deo wird der Mensch durch den Glauben gerecht, coram hominibus hingegen durch Werke. In beiden Fällen gibt es eine eschatologisch begrenzte Toleranz Gottes. Die guten Werke für das eigene Ansehen toleriert Gott zur Erhaltung der irdischen Ordnung, obwohl es sich nur um eine geheuchelte Gerechtigkeit handelt, wenn sie nicht eine Folge der Glaubensgerechtigkeit ist. Im letzteren Fall können sie nicht dem Ansehen des Menschen dienen, sondern nur zur Ehre Gottes, weil Christus sie wirkt.341 Die Toleranz erstreckt sich auch auf Christen durch den Anfang (initium) der Neuschöpfung. Mit ihr ist die Verheißung der gewissen Vollendung vorweggenommen. Rechtfertigung hat einen Totalitätsaspekt, weil sie sich auf den ganzem Menschen bezieht und total gilt, 338 M. Luther versteht das peccatum orginale als Ursprungssünde. Vgl. Christe 2014, 120. 339 „Da die Wurzelsünde eine falsche Grundhaltung ist, kann sie durch gute Werke nicht geheilt werden“ und mündet gerade nicht in einem „ethischen Vollkommenheitswahn“. Vgl. ebd., Zitat 121 und 131. Jedes gute Werk bleibe zugleich Sünde, weil die Konkupiszenz latent mitbestimmend sei. Zur Identifikation der Erbsünde bei Augustinus mit der Konkupiszenz durch M. Luther vgl. ebd., 124 f. 340 W. Christe zeichnet auch M. Luthers theologische Entwicklung nach. In einem frühen Stadium war die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium noch nicht klar vollzogen und darum „gilt von den sancti: ‚Ignoranter iusti et scienter iniusti‘“. ebd., 135. Es fehlte zu dieser Zeit noch der imputative Aspekt der Rechtfertigung. 341 „Iustificati autem gratis, tum facimus opera, imo Christus ipse in nobis facit omnia.“ Die imputative Rechtfertigung kann nicht als neue Qualität oder Habitus verstanden werden, sondern relational, weil Christus im Menschen wirkt und keine Eigenschaft des neuen Menschen die Werke vollbringt. Vgl. ebd., 169 ff., Zitat: 172.

5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers |

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zugleich aber auch einen Interimsaspekt, da sie eschatologisch begrenzt ist bis zur Vernichtung der Sünde. Das initium creaturae novae zeigt sich in guten Werken, die sich spontan und ohne durch ein Gesetz motiviert zu sein, selbstlos ergeben. Werke mit der Hoffnung auf Lohn oder Taten, die der Selbstrechtfertigung dienen, sind hingegen die Werke des Gesetzes ohne Glauben. M. Luthers Unterscheidung nach opera legis und opera gratiae differenziert nun nicht allein zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, sondern zugleich im christlichen Subjekt, indem es die zwei konträren Begehren des Menschen bezeichnet.342 Die zwei Willensausrichtungen existieren in der lutherischen Perspektive auf den Christen, weil die ‚Erbsünde‘ nicht durch die Taufe eliminiert wurde. Diese Sünde bestimmt M. Luther als existentielle Bestimmung des Menschen, genauer als inquietum malum, das efficax „zu bösen Neigungen treibt“.343 Sie ist jedoch nach der Taufe in ihrer Wirkung verändert: Ihre von Gott trennende Funktion kann sie nicht mehr durchsetzen. Wirksam auf gute Werke hin ist hingegen der Glaube.344 Hinsichtlich einer lutherischen Ökonomie lässt sich nun einerseits vom rein Gerechtfertigten ausgehen, ohne die existentielle sündige Bestimmung des Menschen anzurechnen. Andererseits ist der homo oeconomicus als Gegenbild leicht mit dem Gegenteil zu identifizieren. Die Spannung der simul-Struktur scheint in der Dimension der Werke etwas zu verklammern, das die Faktizität der ökonomischen Einsichten bestätigt und zugleich die Alternative beim Christen impliziert. Zunächst sind aber von der Denkfigur des simul iustus et peccator noch einmal der innerliche und äußerliche Mensch zu präzisieren. Auch im inneren Christenmenschen ergibt sich die bleibende Alternative von Freiheit und Unfreiheit, zwei gegensätzliche Willensausrichtungen bzw. Intentionalitäten, die miteinander in einem bleibenden Kampf stehen. Glaube und Unglaube koexistieren zugleich, trotz der Rechtfertigung des ganzen Menschen durch einen permanenten fröhlichen Wechsel. Das Außen als Ort des Handelns wird dann von diesem doppelten Innen bestimmt, im Fall des Christen maßgeblich durch den Kampf gegen

342 Vgl. Christe 2014, 182 f. Zum Total- und Partialaspekt vgl. auch ebd., 184 und 199. 343 Vgl. ebd., 184 f. Vgl. zur verdorbenen Natur durch die Erbsünde auch Rieger 2007b, 280. 344 Vgl. Christe 2014, 254. Für M. Luther ist der problematische Rückschluss von den Taten auf den Glauben vorläufig möglich, die finale Beurteilung der Motivation liegt jedoch ganz bei Gott. Das simul gilt dennoch auch auf die Werke bezogen, nicht aber für Menschen, die in offenbar sündigen Verhältnissen leben. Es kann nicht als Entschuldigung gebraucht werden. ebd., 187, 190.

272 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive die gott- und nächstenfeindliche Selbstsucht.345 Der totus homo ist in allen seinen Relationen durch die jeweiligen gegensätzlichen Prädikate gekennzeichnet. Von zentraler Bedeutung an dieser Perspektive ist die doppelte Intentionalität des Christen in der Glaube und Unglaube dauerhaft miteinander im Widerstreit stehen. Hinsichtlich des äußeren Menschen und seiner Werke gilt dabei ebenfalls das simul: „omne opus bonum est peccatum“.346 Dass die Werke des Christen gut sind, liegt allein an Gottes Barmherzigkeit, in sich sind sie immer noch vom doppelten Streben charakterisiert, können also irdisch nicht ganz im Modus des neuen Menschen getan werden, weil ihnen der Fehler der bleibenden concupiscentia anhaftet.347 Im Vergleich zum Menschen außerhalb der Rechtfertigung ist dort nur das eigennützige Streben dominierend und wird durch das Gesetz zum Guten bewegt. Das bedeutet für den Zusammenhang von Theologie und Ökonomie, dass das Paradigma des homo oeconomicus sowohl den Nichtchristen als auch den alten Menschen im Christen beschreiben könnte und damit insofern eine Geltung hat, die in beiden Feldern relevant ist. Nach der Rechtfertigung ist damit zugleich der Widerstreit konstatiert, indem der iustus in genau diese Ökonomie nicht einwilligen will. Die „voluntas und noluntas“348 gelten zugleich für die Werke des Christen, wobei der auf Gott ausgerichtete Wille dominierend ist. Dieser Kampf des inneren Menschen und die Zwiespältigkeit des äußeren Menschen ist für M. Luther bereits ein Heilsstand, weil die Herrschaft über die Sünde nur aufgrund der neuen Identität bzw. der Differenz im Christen möglich wird. Die konkupiszente und geistbestimmte Intentionalität beschreibt damit die partiale Perspektive auf das 345 Zugleich kann das Außen als Leib zur „Chriffre für den Menschen als Sünder“ bei M. Luther werden, weil der Leib eine Affinität zur Selbstsucht hat durch die Bedrohungen durch Krankheit und Tod. Vgl. Christe 2014, 352. 346 Vgl. ebd., 254. B. Holm weist darauf hin, dass es keinen sichtbaren Unterschied zwischen Werken des Gesetzes und Werken der Liebe gibt, unsichtbar unterscheidet sich jedoch die Motivation: Sie werden entweder um des Nächsten willen oder für sich selbst getan. Vgl. Holm 2006, 96, er bezieht sich auf WA 2,562,29–38. Neben dieser strengen Alternative mag es auch hier ein Zugleich geben. 347 „Diese voluntas [des iustus] ist der reine, gottgewirkte Willensimpuls, der dem Glauben entspringt. Zum andern ist da aber jenes Nichtwollen, […] das aus der caro, der ichsüchtigen Verkrümmtheit des Menschen, hervorgeht und jenen guten Willensimpuls trübt und einschränkt.“ Vgl. Christe 2014, 257. 348 Vgl. ebd., 259 f. Die Sünde bleibt durch die Taufe dieselbe, das Verhältnis verändert sich jedoch: Sie wird von der peccatum regnans und zur peccatum regnatum. Die Konkupiszenz kann beherrscht werden. Für M. Luther ist sowohl das Bestehenbleiben der Sünde als auch die Heilsbedeutung der Taufe gültig und daher die Unterscheidung notwendig. Vgl. Holm 2006, 134.

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spezifische Subjekt des Christen, während in der Totalperspektive der Christ in der Relation zu Gott ganz gerecht gesprochen ist. Die Partialperspektive „beschreibt quasi die anthropologische Verfasstheit (besser: das Kampfgeschehen) des Christenmenschen als Mit- und Gegeneinander zweier Streberichtungen, welche in quantitativ unterschiedlicher Intensität ineinander liegen. Erstere [die Totalperspektive] blickt dagegen streng rechtfertigungstheologisch auf das Verhältnis des Christen zu Gott, […] Und hier vermögen eben die guten Werke aus sich heraus nicht zu bestehen, nicht zu rechtfertigen, weil das ihnen zugrunde liegende Wollen gebrochen und gespalten ist und deshalb als Ganzes hinter Gottes Willen zurückbleibt.“349

Das simul macht den Menschen vor Gott ganz zum Sünder (totus peccator), weil der ganze Mensch aus Geist und Leib nicht vollkommen der Intention Gottes entsprechen kann. In Bezug auf die Werke gilt, dass bene facere und peccare gleichzeitige Bestimmungen der Handlungsorientierung der Gerechtfertigten sind.350 Die Vermittlung von Totalperspektive (iustus esse) und Partialperspektive (partim iustus – partim peccator) erfolgt bei M. Luther durch die Unterscheidung von gratia und donum.351 Das Evangelium gibt als donum internum und donum externum die Gabe als Glauben(nsgerechtigkeit) im Menschen (donum) als auch die Gnade (gratia). Die Gnade bleibt extern, die Gabe hingegen vermittelt die Gnade Gottes. Dabei gilt: „Allein die gratia ist die ‚Gerechtigkeit, die vor Gott gilt‘, nicht aber das donum als anfängliche, unvollkommene, von der Sünde noch durchwirkte Gerechtigkeit in uns.“352 Die Gnade wird dabei nicht ohne die Gabe als Folge gegeben, ursächlich für die Gnade ist die Gabe in keinem Fall. Während die Gnade sich auf den ganzen Christen erstreckt, bezeichnet das donum das prozesshafte Geschehen des Widerstreites der Natur hin zur Heiligung. Die Sünde ist hinsichtlich der Person vergeben und ihre von Gott trennenden Funktion eleminiert, jedoch wirkt sie im Subjekt als noluntas. Auf diese Weise kann M. Luther die Total- und Partialperpektive vermitteln. Die Idee der (reinen) Gabe gehört traditionell zur Rechtfertigung, wobei zugleich im Anschluss an Phil 2 gilt, dass die Weitergabe trotz aller Ablehnung einer Reziprozität im Gottesverhältnis ein zentraler Modus des Umgang mit der Ga349 Vgl. Christe 2014, 263. Vgl. auch Holm 2006, 100. 350 Vgl. Christe 2014, 265. 351 Das peccator esse als Totalperspektive hängt an der Partialperspektive. Vgl. zur Vermittlung ebd., 266 ff. 352 Vgl. ebd., 268.

274 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive be selbst ist.353 Im Schema der generalisierten Reziprozität handelt es sich um eine Gabe, die aus dem Überfluss auf eine Gegengabe verzichtet und das kalkulierende Moment der Ökonomie durchbricht. „Göttlichkeit wird mit Sündigsein vertauscht. Für den Christen ist dies eine Befreiung, nicht von Reziprozität, sondern zu Reziprozität“ schreibt B. Holm.354 Zentral für diese Dimension nach der Rechtfertigung ist die Unterscheidung der Gerechtigkeit aus M. Luthers Sermo de duplici iustitia nach einer iustitia prima, aliena die im Glauben bzw. der Taufe gegeben wird, und mit Gott in Gütergemeinschaft verbindet, und einer „zweiten Gerechtigkeit (iustitia propria, nostra, actualis)“ (donum), die sich auf das Verhältnis zum Nächsten und dem neuen Verhältnis zu Gott bezieht. Während die fremde Gerechtigkeit Tat Christi ist und an die Stelle der verloren gegangenen Urstandsgerechtigkeit tritt, bezieht sich die zweite Gerechtigkeit als Gabe auf die Aktivität der Gerechtfertigten. Während der Christ nach der ersten Gerechtigkeit „simul totus iustus et totus peccator“ ist, ist er nach der zweiten Gerechtigkeit „simul partim iustus et partim peccator“355 Die Gabe Gottes ermöglicht die Gegengabe als Antwortgeschehen und Kooperation mit der Gnade bzw. der fremden Gerechtigkeit, deren Ursache die Rechtfertigung bleibt. Auf diese Weise kann Glaube als Gabe und Aktivität zugleich dargestellt werden, weil die Gegengabe des Christen aus dem Überschuss der geschenkten göttlichen Gestalt erfolgt. Die Unterscheidung und Folge von fides abstracta (Rechtfertigung) und fides incarnata (Liebe) zeigt den Zusammenhang der Reziprozität an.356 Das bedeutet, dass in einer lutherischen Ökonomie mit einer soteriologisch reinen Gabe argumentiert werden kann, die im Idealfall dem iustus entspricht und so ganz dem Nächsten zugutekommt, ohne eigene Vorteile zu implizieren. Die resultierenden Werke sind dabei nicht irrelevant: In loco iustificationis kommt den Werken keine Mitsprache zu. Vielmehr gilt hier streng 1.Kor 4,4: Aus meiner Tadellosigkeit folgt nicht meine Rechtfertigung! Aber innerhalb der Klam-

353 Es „darf der Christ auch seine eigene Göttlichkeit nicht als ‚geraubte Beute‘ für sich behalten, sondern muss sie dem Nächsten weitergeben, weil die Gabe sonst zur Beute und der Empfänger zum Räuber würde.“ Vgl. Holm 2006, 118. Auch B. Holm weist auf die Unterscheidung von donum und gratia hin, sowie auf die lutherische Abneigung gegen jede Reziprozität im Modus von do ut des im Verhältnis von Gott und Mensch. Vgl. Holm 1998, 183. 354 Hierin besteht der beziehungsstiftende Aspekt der Gabe. Vgl. Holm 2006, 122 und Zitat: 129. 355 Vgl. ebd., 60, Zitate: 63 f. Vgl. auch Christe 2014, 280. 356 Vgl. Holm 2006, 193. Die ‚zweite Gerechtigkeit‘ bezieht sich bei M. Luther auf alle Verhältnisse der coram Relationen: Kreuzigung der Begierden, Liebe gegenüber dem Nächsten und Gottesfurcht. Vgl. Christe 2014, 281. Die Gnade bzw. erste Gerechtigkeit ist „bleibend reine Gabe“ und kann suspendiert werden. ebd., 286.

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mer dieser bergenden Zuflucht zur fremden Gerechtigkeit Christi, also extra locum iustificationis und abgesehen von ihrem strengen Beurteilungsmaßstab, kann Gott den Werken ihren je unterschiedlichen Lohn zukommen lassen. Insofern ist also auch die unterschiedliche ethische Wertigkeit menschlichen Handelns coram deo nicht irrelevant oder gar nivelliert (weil ja doch alles Sünde sei), sondern wird zur Geltung gebracht.357

Ausgehend von W. Christes differenzierten Untersuchung des simul iustus et peccator lässt sich feststellen, dass der Christenmensch von einer inneren Duplizität und Spaltung geprägt ist, die den einen ganzen Menschen durchzieht. Das christliche Subjekt liegt im Kampf mit sich selbst und ist sich durch die Rechtfertigung partiell zum Feind geworden. Diese Differenz im Menschen ist bereits ein christlicher Heilsstand und setzt den Glauben voraus.358 Hinsichtlich des Verhältnisses von ‚Ökonomie und Theologie‘ zeigt sich einerseits, dass die Deskription der Ökonomie – wenn man sie mit dem partim peccator identifiziert – eine Geltung besitzt, die auch für den Christen besteht. Andererseits wird damit deutlich, dass die Ökonomie hinsichtlich des christlichen Subjekts nur den einen von zwei Willensbestrebungen widerspiegelt. Eine lutherische Ökonomie wird sich darum auf die Alternative des partim iustus beziehen und den Widerstreit von ökonomischer und theologischer Handlungslogik bearbeiten. Relevant dafür ist die Frage nach der Wirklichkeit und gewissermaßen Wirksamkeit der Rechtfertigung. Die Differenz im Subjekt durch die Rechtfertigung hat Folgen, aber die Bedingungen, die Gestalt und der Inhalt die sich ergeben können und realistisch erscheinen, stehen zur Disposition. Zunächst ist hier ein spannungsvolles Wahrnehmungsmuster zu erkennen, dass z. B. ebenfalls die Zweideutigkeit von Gaben und guten Werken thematisiert. Auch die Perspektive der Religionsökonomie auf religiöse Phänomene nimmt eher Tauschvorgänge war und differenziert nach den sozialen Vorgängen und der Selbstbeschreibung der Akteure. Die voluntas des partim iustus steht jedoch dringend im Verdacht, die Gabe als Weitergabe nicht nur soteriologisch (coram deo) rein zu halten, sondern auch in der Relation zum Nächsten im Modus der Gabe zu verfahren und den Eigennutz zu bekämpfen. Die bleibende Doppeldeutigkeit von Weiter-Gaben hat P. Bourdieu in kulturtheoretischer Perspektive thematisiert und verweist auf die je eigene Rationalität von Gaben. Zugleich erscheint dort bei der ‚doppelten Wahrheit‘ der zwischenmenschlichen Gabe der zugrundeliegende verschleierte Tausch als elementar.359 357 Vgl. Christe 2014, 293. 358 Vgl. ebd., 324 f. und 455 f. Sünden wie ‚Wucher‘ erscheinen damit als Verleugnung des Glauben, wodurch der Mensch aus der simul-Bestimmung wieder herausfallen würde. 359 P. Bourdieus ‚Ökonomie der symbolischen Güter‘ nimmt die Doppelbödigkeit des (sozialen) Schenkens ins Visier und die Akkumulation von verschiedenartigem Kapitel. Vgl. Hoffmann

276 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive Theologisch würde man hingegen nach der Rechtfertigung vom guten Werk ausgehen, das jedoch immer noch von der Sünde verunreinigt ist. Elementar ist hier die gute Gabe, der noch der Makel des partim peccator anhaftet. Zur Frage steht nun auch, inwieweit die Perspektive des partim iustus allein religiöse Selbsttäuschung ist oder einen Wirklichkeitsgehalt hat. Diese potentiell effektive Gerechtigkeit (iustitia actualis) des neuen Menschen untersteht nicht mehr dem Gesetz, sondern wird durch das Gesetz nur orientiert und ‚werkelt‘ frei und spontan.360 Die Taten des neuen Menschen sind als äußere Manifestation des permanenten Transitus vom alten zum neuen Menschen zu verstehen, die letztendlich der widerstreitende Wille des Geistes im Menschen hervorbringt. Diese Heiligung bzw. der Fortschritt des Glaubens lässt sich wieder nach den Relationen differenzieren, als Wachsen des Glaubens, Kreuzigung des alten selbstbezogenen Menschen und in der liebenden Zuwendung zum Nächsten. Von diesen Relationen ist für eine lutherische Ökonomie das Verhältnis zum Nächsten (coram hominibus) maßgeblich, wobei die vorhergehenden geradezu zur Voraussetzung der Inkarnation des Glaubens in die Liebe werden. Selbstvergessenes Handeln am Nächsten setzt voraus, dass der Progress im Glauben gerade nicht in einer verkrümmten Selbstreflexion evaluiert wird, sondern sich je neu unkalkuliert in Taten der Liebe verwirklicht.361 2013, 68. P. Bourdieus zentrales Problem ist das Verhältnis zwischen sozialen Vorgängen und der Selbstbeschreibung der Akteure. Ein Tausch und der Zyklus von Gabe und Gegengabe wird verschleiert: Die materiellen Akte werden von symbolischen Konstruktionen begleitet. Die Teilnehmer setzen sich so in Unkenntnis über die Struktur. Die erwiderte Gabe muss dabei zeitlich verschoben sein, sonst käme sie einer Ablehnung gleich. Das zeitliche Intervall zwischen Gaben ist notwendig, damit zwei symmetrische Handlungen, Gabe und Gegengabe voneinander abgegrenzt werden: So können sie als zwei Einzelhandlungen angesehen werden. Dieser zeitliche Intervall ist auch die Differenz zum do ut des. Grundsätzlich ist ein Geschenk in dieser Hinsicht ein Unglück, weil es bindet und verschuldet; eine Gabe ist ein Eingriff in die Freiheit des Anderen und enthält eine Drohung: Bindung durch Dankbarkeit. Vgl. Hoffmann 2013, 74. Diese Struktur ist aber kollektiv verdrängt von beiden Partnern. Dadurch wird die Gabe, die interessenfrei sein will, auch so erlebt. Sie ist kein zynischer Akt. Die Vermittlungsinstanz sind erworbene Dispositionen, ein geprägtes Verhalten. Dieser Habitus ist handlungsleitend, aber nicht bewusst und reproduziert sich. Die sozialen Akteure sind Produkte ihrer Welt, die zugleich mitproduzieren. Diese Dualität der subjektiven Wahrheit und der objektiven Realität ist die kollektive Selbsttäuschung, denn wer die Wahrheit des Tausches offenbar macht – das Preisschild am Geschenk – macht die Gabe zunichte. Es ist ein Handeln mit der Prämisse: ‚als ob‘. P. Bourdieu denkt dabei nicht in Handlungsintentionen, sonst wären die Akteure schizophren. Bei einer sozialer Disposition müsse man nicht bewusst wissen, was man tut. Vgl. Bourdieu 2005, 140. 360 W. Christe parallelisiert peccatum originale und iustitia coram deo sowie iustitia actualis und peccatum actuale. Vgl. Christe 2014, 466. Eine Taxonomie der Werke bietet Holm 2006, 82. 361 W. Christe präzisiert das Fortschreiten als Gottes Kommen zum Menschen, und nicht im Sinne einer Annäherung an das Ideal einer Vervollkommnung. Irdisch verbleibt die Heiligung innerhalb des simul. Vgl. Christe 2014, 473 f.

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Das simul kann dabei einerseits als heuristisches Schema dienen, um zu erkennen, welches Streben sich erkennen lässt, und andererseits kann jeweils eine Alternative konstruiert werden. Vorausgesetzt ist dabei, dass die partim – partim Formel gerade nicht in einem gemischten Willen aufgeht oder einem Subjekt als Synthese, sondern die Dialektik beider Orientierungen zugleich bleibend bestehen bleibt. Die Analogie, aus der sich diese Dialektik speist, ist die Christologie, aus der M. Luther die Idiomenkommunikation als Denkfigur übernimmt. Die communicatio idiomatum bezieht sich in Analogie zur Zweinaturenlehre rechtfertigungstheologisch auf die unio von Christus und Seele. Hier verbinden und kommunizieren Gott und Mensch mit dem Ergebnis, dass eine Differenz entsteht: Die Selbstbegründung wird aufgehoben und mit einer fremden Identität konfrontiert. Dadurch entsteht der Widerstreit von altem und neuem Menschen. Die Idiomenkommunikation interpretiert die Wiederspruchseinheit der zwei Naturen im Christen.362 J. A. Steiger stellt fest, dass die communicatio idiomatum der hermeneutische Motor der Theologie M. Luthers ist und das Grundparadigma seines theologischen Denkens. Er kann so eine unerhörte ‚Gott ist tot‘ Theologie predigen, weil für ihn die Eigenschaften total gelten und nicht nur als modus loquendi.363 In soteriologischer Hinsicht ist die communicatio idiomatum im fröhlichen Wechsel und Streit (admirabile commercium) des 12. Abschnitts der Freiheitsschrift zu finden. In Bezug auf die soteriologische Wirklichkeit zielt der § 12 der Freiheitsschrift auf die Frage, warum begangene oder zukünftige Sünden nicht mehr von Gott trennen können. Nach der Vereinigung der Seele mit dem Wort durch den Glauben erfolgt in einem weiteren Schritt die Mitteilung der Eigenschaften Christi an den Menschen sowie die Vereinigung.364 Diese Mitteilung der Eigenschaften ist im Modus der Gnade zu verstehen, die Sünden hingegen nimmt Christus auf sich, nun jedoch nicht als Gegengabe, sondern – aufgrund der Passivität des Menschen – als WegNahme oder ‚Raub‘. Zugleich wird durch den fröhlichen Wechsel dem Menschen eine Differenz ermöglicht, die sich auf sein Handeln auswirkt. Die Handlungen des (neuen) Christenmenschen haben einen Status und eine Qualität, die ganz von Christus bestimmt ist. Dass dies in der Regel 362 Vgl. Bayer 2006, 212 f. R. Rieger spricht von einer völligen Auflösung der eigenen Identität und einer radikalen Fremdbegründung. Rieger 2007b, 351. 363 Als Bsp: ‚nascitur creator‘ oder seine Weihnachtspredigten vom Windelherrn und Krippenfürsten. Vgl. Steiger 1996, 4. Gott wird Mensch und nimmt die Eigenschaften an, der Mensch (Christus) bekommt die göttlichen Eigenschaften. Bei Christus und dem Sünder geht durch den Glauben ein fröhlicher Wechsel und Streit vor sich, bei dem Christus zum Sünder gemacht wird und die Schuld des Menschen trägt. Die iustificatio impii sowie die imputatio iustitiae alienae sind eine Perichorese und Antidosis zwischen Gott und Mensch, der göttliche Attribute wie ‚Gerechtigkeit, Leben etc.‘ bekommt. Per communicatio idiomatum gilt dann auch für den ganzen Menschen, iustus wie peccator, dass die ganze Person gerechtfertigt ist. Sola fide kommt der Mensch in diese Kommunikation und muss sie sich aneignen, sich Gott ein-bilden. Vgl. ebd., 8 und 10. Vgl. auch Hauschild 2010, 288. Die Gemeinschaft von Gott und Mensch wird auf diese Weise – in Abgrenzung zu reformierten Traditionen (finitem non capax infiniti) – dargestellt (finitem capax infiniti [non per se sed per infinitum]). 364 Vgl. Rieger 2007b, 181 f. und Korsch 2016, 120. Diese ‚Ehe‘ – nicht die zwischenmenschliche Ehe – hat zudem eine sakramentale Kraft.

278 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive

nicht permanent Realität wird, liegt auf der Hand und ist mit der Prozessualität von Innen und Außen sowie dem Stichwort der Heiligung bereits angeklungen. Die unio von Christus und Mensch wird u. a. anhand der Ehemetapher und eines besonderes ‚Tausches‘ dargestellt,365 um den Zusammenhang von Geist und Fleisch zu präzisieren: „So sehr Fleisch und Geist widereinander sind, sie tangieren sich doch wechselseitig kraft der Idiomenkommunikation: Der Geist ist wegen des hemmenden Einflusses des Fleisches infirmus, wie umgekehrt das Fleisch nicht zum Zuge kommt.“366 Auf diese Weise beziehen sich Geist und Fleisch einerseits auf den ganzen Menschen und überwinden so eine dualistische Anthropologie, andererseits bleiben sie in ihren gegensätzlichen Intentionalitäten unvermischt und ungetrennt.367

Christologisch ist diese Denkfigur sinnvoll, um sowohl die Einheit der Person als auch die Integrität der beiden Naturen zu wahren. Gleiches kann mutatis mutandis für den Christen gelten, der seine „konträren Idiomata“ als „simultane Dualität von altem und neuem Menschen“ behält und nicht als „‚synthetisierter‘ Mensch“ aus ihnen hervorgeht.368 Es bleibt ein existentieller Widerspruch im Menschen bestehen. Christologisch geht mit diesem Lehrstück eine Doppelperspektive auf Jesus Christus, und erweitert auch auf den Christen, einher. J. Fischer kritisiert für die Idiomenkommunikation in der Christologie, dass es sich bei dieser Doppelperspektive nicht um intersubjektive Bestimmtheiten und Prädikate handeln kön365 Das Bild der Ehe entspricht einem Akt der Anerkennung, nicht des Tausches und vollzieht sich gerade nicht in einem vertragsförmigen Tauschverhältnis. Diese Anerkennung ist ein Überschuss im Modus der Gabe. Vgl. Korsch 2016, 119 f. Zur Gütergemeinschaft siehe Rieger 2007b, 179. Die unio und communicatio zwischen Mensch und Christus wird mit Metaphern aus dem Bereich Ehe / Krieg und Handel ausgeführt: una caro, matrimonium (Ehe), salutare bellum (heilbringender Krieg), dulcissimus spectaculus (liebliches Schauspiel), stupendus duellus (erstaunlicher Zweikampf) und admirabile commercium – Fröhlicher Wechsel. Commercium verweist auf eine Tauschstruktur und ‚Heilsökonomie‘, die jedoch gerade nicht als reziprokes Verhältnis funktioniert. Die Ehemetapher bezieht sich auf Eph 5,21–23. Bayer 2006, 204 ff. 366 Vgl. Christe 2014, 318 f., Fn. 640. 367 So wie bei Christus die Eigenschaften der Naturen der Person kommuniziert werden, in gleicher Weise gelten die ‚zwei Naturen‘ des Christen, sodass ihm alle Gegensätze zugleich zugehören. Vgl. ebd., 494 f. und Rieger 2007b, 75. Die Unterscheidung von drei Genera geht auf Martin Chemnitz 1561 zurück und lässt sich im Anschluss an die Formula Concordiae [FC 8] präzisieren. Genus idiomaticum: Die Eigenschaften beider Naturen werden der Person als Ganzer zugeordnet. Genus apotelesmaticum: Das Heilswerk Jesu Christi wird mit beiden Naturen vollzogen. Genus maiestaticum: Die Eigenschaften der göttlichen Natur werden der menschlichen Natur real mitgeteilt, während das Umgekehrte – die Mitteilung der menschlichen Eigenschaften an die göttliche Natur – nicht gilt. Nach Hauschild 2010, 428. Reformiert gilt die Ubiquität Jesu Christi nicht, weil das genus maiestaticum aufgrund der Unterscheidung von Gott und Mensch nicht anerkannt wird. Vgl. Danz 2013, 104. Kühn 2003, 210 f. und Dalferth 1994, 146 ff. Ein genus tapeinoticum würde auch die Mitteilung der menschlichen Eigenschaften an die göttliche Natur denken. 368 Hervorhebungen im Original. Vgl. Christe 2014, 498.

5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers |

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ne, sondern um unterschiedliche Erkenntnisweisen im Bereich der Christologie. Das vere homo ist eine intersubjektive Bestimmtheit, das vere Deus hingegen eine transsubjektive Bestimmtheit, die eine qualifizierte Wirklichkeit abbildet.369 Analog erscheint gerade das partim peccator, wenn es mit der Handlungslogik des homo oeconomicus identifiziert wird, intersubjektiv anschlussfähig.370 Diese Natur des Menschen wird als ökonomisches Lehrbuchwissen vorausgesetzt und die ökonomische Umwelt entsprechend dieser Annahmen gestaltet. Auch im christlichen Subjekt ist dies partial intersubjektiv gültig. Die transsubjektive Ebene hingegen als neue Wirklichkeit des Gerechtfertigten – in Analogie der partim iustus – gehört allein auf die Seite der Theologie, und der Widerstreit von ökonomischen und theologischen Motivation und Intentionalitäten wird in das christliche Subjekt selbst integriert. Inwieweit diese transsubjektive Perspektive bzw. die neue Wirklichkeit der Rechtfertigung ‚effektive‘ Implikationen hat, ist für eine lutherische Ökonomie höchst relevant. Zugrunde liegt die Frage, ob der Christ peccator zwar in re, iustus aber nur in spe ist, oder inwieweit es einen Realgehalt über die Hoffnung auf spontan uneigennützige Werke hinaus gibt. Die Formel selbst bezieht sich einerseits auf das Bleiben der Sünde: Der Sünder wird gerecht gesprochen, die Sünde aber bleibt, während das Gerechtsein auf die eschatologische Vollendung hofft. Diese Hoffnung verändert bereits die gegenwärtige Realität des Gerechtfertigten, weil es sich bei der Gerechtigkeit nicht um ein futurisches Phänomen handelt. Sie ist bereits als verborgene Gerechtigkeit gegenwärtig und wird zukünftig unverdeckt offenbar und somit vollendet.371 M. Luther betont die effektiv-sanative Dimension der Rechtfertigung, obwohl es sich bleibend um eine iustitua aliena handelt und der Glaubende simul peccator bleibt. Der Realitätsgehalt der Rechtfertigung bleibt dennoch häufig strittig, da die neue Wirklichkeit unterbestimmt und im Modus eines ‚als ob‘ gedeutet wurde.372 Die Abkehr von ontologischen Beschreibungsmustern bei M. Luther trägt dazu bei, diese Unbestimmtheit zu fördern, weil sich die Wirklichkeit der Rechtfertigung nicht anhand eines neuen Habitus oder einer zusätzlichen Qualität zeigt, 369 Die transsubjektive Bestimmtheit ist historisch nicht ableitbar, sondern eine Erkenntnis der neuen Wirklichkeit. Vgl. Fischer 1995, 171 & 187. Auch Danz 2013, 192 f. und Fischer 2006a, 190. 370 Die Qualifizierung von Menschen ohne Glauben als Sünder im Sinne des simul peccator, aber ohne die Differenz des simul ist schwierig, weil sie nur aus der Perspektive des Glaubens bzw. der gültigen Anklage des Gesetzes funktioniert. 371 Vgl. Christe 2014, 487 f. B. Holm parallelisiert mit der Christologie: „Ebenso wenig wie Christus damit aufgehört hat, Gott zu sein, weil er ein Mensch gewesen ist, ebenso wenig hört der Christ damit auf, gerecht zu sein, nur weil er auch noch Sünder ist.“ Holm 2006, 194 f. 372 Dazu in forensischer Dimension vgl. Jüngel 1999, 177 f.

280 | 5 Zugänge zu einer lutherischen Perspektive sondern in Relationen: Das Subjekt wird durch die (coram) Relationen konstituiert und primär bestimmt. Die versöhnte Gottesbeziehung beraubt der alternativen Selbstsucht geradezu den Realitätsgehalt.373 M. Luthers Rechtfertigungsverständnis lässt sich kaum ohne die Folgen und innerliche Verwandlung aus der Begegnung mit Gottes schöpferisch wirksamen Wort denken. Eine erste Folge ist das simul selbst als Heilsstand, weil sich einerseits der Mensch ohne Rechtfertigung nur mit der Sünde identifizieren lassen kann und keine differenzierte Intentionalität hat; und andererseits der eschatologisch vollkommene Mensch ganz frei von der Sünde ist und daher in gleicher Weise eine nun ganz gerechte Willensbestrebung hat. Der Christ hingegen ist durch die dialektische Spannung gekennzeichnet und uneins mit sich. Er ist nicht mit sich identisch, sondern liegt im Kampf mit sich selbst. Diese Differenz und das Zerbrechen der Identität des Sünders verdankt sich der Gnade, gehört bereits zur Heiligung und ist zugleich Voraussetzung, um die eigene Sünde an sich zu erkennen. Aus der neuen Identität folgt gerade der Protest und Wiederstreit gegen die concupiscentia als sündige Egozentrierung. Das Nichteinwilligen macht die Sünde zur beherrschten Sünde, indem dieser Intentionalität des peccator durch die zugeeignete Gerechtigkeit abgesagt werden kann. Die Rechtfertigung als täglicher Transitus wird so zum Möglichkeitsgrund einer echten Handlungsalternative, bei der iustus und peccator aber gerade nicht symmetrisch nebeneinander liegen: Der Gerechtfertigte hat im Fortschritt der Heiligung das deutliche Übergewicht.374 Einzelne Tatsünden und die Rechtfertigung als innerer Vollzug können dabei nicht miteinander kurzgeschlossen werden, jedoch geht M. Luther von einem wahrnehmbaren Wachsen in der Liebe aus und entsprechenden Taten, die sich als Frucht des Heiligen Geistes – nicht als Taten des Gerechtfertigten – qualifizieren lassen.375 Fazit: Insgesamt lässt sich von der Formel ‚simul iustus et peccator‘ ausgehend feststellen, dass eine gewisse Schizophrenie im Christen heilvoll angelegt ist und gerade nicht eine Konsistenz von ökonomischem und theologischem Glauben herzustellen ist. Fruchtbar und heilvoll ist insbesondere die Dialektik, die sich analog als simul theologia et oeconomia im Rahmen einer lutherischen Ökonomie denken lässt. Die Integration der vielfältigen bis hierher eröffneten wechselsei373 Aus der herrschenden Sünde wird die beherrschte Sünde, sie kann die Wirklichkeit des neuen Menschen nicht mehr einschränken, obwohl M. Luther sie teilweise als substantiell im Menschen verstehen kann. Vgl. Christe 2014, 655 ff. 374 Vgl. Jüngel 1999, 188. 375 Der Gerechtgesprochene ist gerecht, Täter der Gerechtigkeit bleibt jedoch Christus bzw. der Heilige Geist. Vgl. Christe 2014, 663 f. und folgendes Zitat: 665. Glaube kann M. Luther einerseits als Gerechtigkeit erfassen und andererseits als „Transmissionsriemen“ verstehen, der die unio mit Christus vollzieht.

5.6 Die (Un)ökonomische Rechtfertigung M. Luthers |

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tigen Perspektiven von und auf Theologie und Ökonomie soll im Folgenden unter der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer lutherischen Ökonomie versucht werden. Dafür soll unter der Leitfrage noch einmal kursorisch das bisherige Material überblickt werden, um die Frage nach einer theologischen Ökonomie an den jeweils entscheidenden Punkten verschiedener Konstellationen zu bearbeiten. Eine eigene theologische Perspektive für das Programm einer theological economy, eine praktisch-theologische Dimension, sowie einige knappe praktische Hinweise schließen sich daran an.

6 Lutherische Theologische Ökonomie?! Auf dem Weg zu einer lutherischen theologischen Ökonomie waren zunächst die Konstellationen von Theologie und Ökonomie relevant. Die modernen ökonomischen Grundlagen – das Lehrbuchwissen – sowie die Erweiterung durch Theorien des Marktes sollten eine wirkmächtige Variante des ökonomischen Denken darstellen. Zu dieser Variante gibt es eine Vielzahl von Verhältnisbestimmungen, die sich u. a. im Rahmen von wirtschaftsethischen, religionsökonomischen oder methodischen Zugänge zeigen ließen. Dass der Ökonomie selbst theologische Momente und Theorieeffekte innewohnen, wurde unter dem Stichwort economic theology deutlich. Die Gegenseite der economic theology kann mit – Ökonomie am Ort der Theologie – theological economies gefasst werden. Methodisch war zunächst anhand exemplarischer Entwürfe zu klären, dass es im Gegenüber einer economic theology auch theological economies geben kann.1 Die exemplarischen theologischen Ökonomien konnten wiederum eine Vielzahl an möglichen Zugängen anzeigen. Was überhaupt als theologische Ökonomie gelten kann und den Bereich der Wirtschaftsethik transzendiert, ist abhängig von den zugrundeliegenden theologischen Entscheidungen. Die Pluralität der Christentümer zeigt sich in grundverschiedenen Ansätzen, vom Ort der Theologie aus Ökonomie zu denken.2 Die Unterscheidung von economic theology und theological economy ermöglicht dabei eine präzisere Differenzierung, als es mit dem religionsökonomischen methodischem Inventar bisher möglich war, und zudem ist damit ein Forschungsbereich neben der Wirtschaftsethik angezeigt. Bei der Identifikation möglicher Ansätze für theologische Ökonomien wurde offenbar, dass es bisher keine lutherische Perspektive im Rahmen einer theologischen Ökonomie gibt. Dabei steht zur Disposition, dass entweder die theologischen Grundlagen eine theologische Ökonomie verbieten oder es bisher keinen Versuch gab, in diese Richtung zu forschen. Letzteres zeigte sich bei der Sichtung der relevanten Literatur. Ersteres ist abhängig vom spezifischen Zugang und könnte zugleich gelten. Als Zugang zu einer möglichen lutherischen Ökonomie bot sich ein Dreischritt aus Exegese, Reformationsgeschichte und systematischen Überlegungen an.3 Ex1 Inwieweit die theologischen Ökonomien praktisch relevant werden können, ist abhängig vom jeweiligen Konzept. Ob lutherisch eine theologische Ökonomie als Forschungsfeld ge- oder verboten ist, soll im folgenden einsichtig werden. 2 Vgl. Laux 2006, 190. 3 Die wirtschaftsethischen Implikationen des Alten Testamentes können grundsätzlich einbezogen werden. Auf ein alternatives Verständnis der Bundesthematik wurde im Rahmen der ‚covenant economics‘ hingewiesen. https://doi.org/10.1515/9783110747935-006

6.1 Konstellationen einer lutherischen theologischen Ökonomie | 283

egetisch ist mit der paulinischen Kollekte ein neutestamentliches Thema ökonomisch fruchtbar bearbeitet worden, das im Rahmen eines zwischengemeindlichen Austausches idealen Modellcharakter hat. Deutlich lutherischer ist der historische Zugang, der die Reformation als Dekommerzialisierung nachzeichnet, und in der ‚unökonomischen‘ Rechtfertigung als lutherischem Kernstück mündet. Das inhaltlich verbindende Element ist die ‚simul iustus et peccator‘-Struktur. Innerhalb einer lutherischen theologischen Ökonomie verbindet die genannte Struktur Ökonomie und Theologie in ihrer dialektischen Bezogenheit aufeinander. Dieser systematische Zugang erlaubt, das Verhältnis am Ort der Theologie neu zu bestimmen. Auf Seiten des ‚iustus‘ scheint ein theologisch wirkmächtiges Ideal auf, auf Seiten des ‚peccator‘ hingegen eine zu akzeptierende Realität. Die systematische ‚Schizophrenie‘ des Christenmenschen ist theologisch hochgradig differenziert. Sie kann als dialektische Integrationsfigur für zwei Weltanschauungen fungieren, ohne die problematischen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie zu wiederholen.4 Zudem erlaubt die Unterscheidung sowohl die theologischen als auch die ökonomischen Anschauungen gänzlich ernst zu nehmen, ohne eine weltanschauliche Mixtur im religiösen Subjekt zu konstruieren. Ein simul theologia et oeconomia erhält gerade die Spannung, und kann so die Möglichkeitsbedingung einer lutherischen theologischen Ökonomie werden. Die Präzisierung dieser Überlegungen und die Anzeige möglicher Forschungs- und Anwendungsfelder schließen diese Suche nach einer lutherischen theologischen Ökonomie ab.

6.1 Konstellationen einer lutherischen theologischen Ökonomie Während zu Beginn die Konstellationen von Theologie und Ökonomie relevant waren, sind es nun die Verhältnisbestimmungen innerhalb einer lutherischen theologischen Ökonomie. Die Leitdifferenz von ‚alt‘ und ‚neu‘ im christlichen Subjekt ermöglicht das Zugleich von Theologie und Ökonomie im Christenmenschen. Die Voraussetzung für diese Verlagerung des Verhältnisses in das Subjekt, ist die Identifikation des peccator mit der Ökonomie. Dabei wird bereits eine theologische Perspektive eingenommen, indem diese Ökonomie auf eine bestimmte Weise qualifiziert wird. Zugleich widerfährt der Ökonomie damit die volle Anerkennung als grundlegendes irdisches Prinzip im status corruptionis. Mit der Qualifizierung (peccator / status corruptionis) ist einerseits eine ökonomische Realität anerkannt, andererseits steht in dieser Perspektive umgehend das Gegenbild auf 4 Vgl. dazu Punkt 2.2.1 auf Seite 40.

284 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! dem Plan, welches als Antithese theologisch konstruiert werden kann. Insbesondere diese Rahmung des Problems verspricht Hinweise auf transformative und praktische Elemente. 6.1.1 Der homo oeconomicus als peccator Auf den Zusammenhang, dass Kapitalismen und die Maximen der modernen Ökonomie aus der theologischen Perspektive mit der Rede vom postlapsarischen Menschen bewertet werden, ist bereits bei mehreren Autoren hingewiesen worden (R. H. Nelson, G. Menzies, D. Hay, J. Gerlach, R. Tatum, A. Yuengert). Wesentlich zugrunde liegt die Fokussierung auf den Eigennutz, den bereits B. Mandevilles ‚Bienenfabel‘ auf die sündige Grundverfasstheit des Menschen bezog. R. H. Nelson weist spezifischer auf die Situation unter der Sünde hin und die Notwendigkeit der Anpassung: In a perfect world, divisions among people, the pursuit of self-interest, the existence of markets, the ownership of individual possessions, and thus private property rights should and would not exist. Since the world we live in is still in the grip of sin, it must inevitably fall far short of the ideal, and it will be necessary to make some major compromises to allow for the existence of property.5

G. Menzies und D. Hay unterscheiden nach natürlicher und spiritueller Person, wobei sich neutestamentlich ein Mix aus beiden Naturen zeige. Die erste zeigt dabei den status corruptionis an, der mit dem homo oeconomicus beschrieben werden kann. Die spirituelle Person hingegen ist über die Agape und Nächstenliebe zu charakterisieren. Im Christenmenschen ist damit eine Dichotomie angelegt, die sich in einem fortwährenden Prozess befindet.6 Anschlussfähig ist hier die Argumentation von der Rechtfertigungslehre her, bei der jedoch gerade kein ‚Mix‘, sondern eine bleibende Dichotomie betont wird. Spezifischer hinsichtlich des Akteurs schreibt J. Gerlach: „Nach der christlichen Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen hat die Eigennutzannahme einen empirisch relevanten Gehalt.“7 Das bedeutet, dass sich im Rahmen einer lutherischen theologischen Ökonomie von diesem empirischen Gehalt nicht absehen lässt, sondern selbiger zu integrieren ist. Auch R. Tatum identifiziert den homo oeconomicus mit dem Menschen nach dem Sündenfall: „In some sense then, homo economicus is an appropriate persona 5 Vgl. Nelson 2001, 272. 6 Vgl. Menzies und Hay 2014, 587. 7 Vgl. Gerlach 2002b, 223.

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of fallen man.“8 Daher ist das Verhältnis beider Disziplinen grundsätzlich komplementär zu beschreiben. Für eine theological economy heißt das wiederum, dass sie ohne die Integration der Ökonomie den Realitätsbezug verpasst. Auf die unterschiedlichen Handlungslogiken weist auch D. Hay hin und bezieht den peccator-Status des Menschen auf die ökonomischen Handlungsanahmen. Das klassische ökonomische Modell ist somit angemessen, aber aus der theologischen Perspektive unvollständig, weil die Dimension der durch Gottes Gnade veränderten Menschen fehlt.9 Im Anschluss an die Rechtfertigung muss bereits die Option einer alternativen Handlungslogik als Heilsstand bewertet werden.10 Auch A. Yuengert geht vom postlapsarischen Menschen aus, dessen Präferenzen problematisch sind.11 Damit wird der Ort der individuellen Präferenzen zentral für ein alternatives Ethos und die simul-Struktur setzt die Handlungslogiken im ökonomischen Setting in Spannung zueinander. Im Beispiel der orthodoxen Ökonomie wurde im Blick auf die Ökonomie folgendermaßen unterschieden: Die deskriptiven Methoden der Ökonomie zeigen den Kampf des postlapsarischen Menschen an, die präskriptive Dimension hingegen kann überwunden werden. Das Evangelium ist mit dieser Unterscheidung die Befreiung von der präskriptiven Dimension der Ökonomie. Erweitert ließe sich auch an die Befreiung von ökonomischen Theorieeffekten denken oder die Vervielfältigung von mentalen Modellen und wirkmächtigen ökonomischen Situationsdeutungen. Da die präskriptive Dimension ökonomischer Modellbildungen sich häufig ‚unter der Hand‘ Geltung verschafft,12 erscheint hier als Suchfrage, wie die Kommunikation des Evangelium als Befreiung von der ökonomischen Selbstdeutung fungieren kann. Eine Möglichkeit sind Gegenerzählungen, die in Kommunikation zugeeignet werden. Die Identifikation der ökonomischen Handlungsbeschreibung mit dem Sündersein fördert einerseits die Einsicht, dass Christen zu zwei Welten gehören.13 Während die ökonomische Situationsbeschreibung jedoch grundsätzlich vorausgesetzt wird, ist das Sündersein bereits eine Erkenntnis des Glaubens. Das Verständnis als peccator ist gerade nicht der natürliche Zustand des Menschen, son8 Vgl. Tatum 2016b, 14 f. 9 Vgl. Hay 2001, 175 ff. und 187. 10 Die handlungstheoretische Schizophrenie eines christlichen Ökonomen ist damit bereits heilvoll, ohne dass die Alternative prazise ausgewiesen werden müsste. 11 Vgl. Yuengert 2009, 32 ff. 12 Zur Prägekraft ökonomischer Modelle als Verhaltensaufforderungen vgl. Dietz 2010, 53. 13 Vgl. Pawlas 2000, 8.

286 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! dern wird erst vom Glauben her als Qualifizierung verständlich.14 Das bedeutet, dass die Identifikation des homo oeconomicus als peccator nur aus der Perspektive des Glaubens sichtbar wird, nicht aber allgemein festgestellt werden kann. Dabei ist auch anzumerken, dass die Präskription der Ökonomie keine Sünder macht, sowie die Kommunikation des Evangeliums nicht automatisch Christen erzeugt. Da eine lutherische Ökonomie den Gerechtfertigten als Adressaten herausstellt und am Ort der Theologie operiert, kann dennoch in diesem Schema argumentiert werden. Das gilt besonders, da die Anerkennung der ökonomischen Perspektive eine direkte Anschlussfähigkeit ermöglicht. Der ökonomische Kontext wird so zu einem integralen Bestandteil einer lutherischen theologischen Ökonomie in der Spannung von alt und neu, aber die ökonomische Situation wird durch eine theologische Perspektive erweitert. Da diese Dialektik (irdisch) nicht aufgelöst werden kann, gilt die Deskription der Ökonomie bleibend und ist zudem durchdrungen von ‚gesetzlichen‘ Grundannahmen, die sich normativ in ökonomischen Kontexten auswirken. Der ökonomische Kontext Für den homo oeconomicus wird eine spezifische ökonomische Situation vorausgesetzt, die grundlegend von Knappheit geprägt ist. Die vorausgesetzte Knappheit erfordert rationale Wahlhandlungen anhand von Präferenzen. Die Subjekte maximieren grundsätzlich durch die Abwägung der Mittel-Zweck-Relationen ihren materiellen und immateriellen Nutzen. Sie stehen in Wettbewerbssituationen und sind von mehrdimensionalen externen und internen Restriktionen betroffen. Das potentielle Begehren erscheint dabei unendlich. In ethischer Hinsicht setzt das Sollen das Können voraus, weshalb Ethik nur innerhalb der ökonomischen Systemlogik umsetzbar sei.15 Verhaltensänderungen erfolgen dabei über Restriktionen und Anreizstrukturen, nicht über die Veränderung von Werten oder Intentionen. Nicht die ökonomischen Subjekte werden verändert, sondern die jeweiligen Bedingungen.16 14 Zumindest solange man den Menschen in das Schema des Sündenfalls einzeichnet und so nicht davon ausgeht, dass die ökonomische Struktur grundlegend zum Menschen als Geschöpf gehört. 15 Ultra posse nemo obligatur: posse wird hier auf die Anreizstrukturen hin gedeutet. Vgl. Homann 2002, 257. Eine ökonomische Systemlogik, die als zwingend beschrieben wird, entspricht einer Unterscheidung nach simul servus et liber. Vgl. Holm 1998, 186. A. Suchanek argumentiert bei dieser Frage mit einer Doppelnatur. Der Mensch selbst ist in normativer und empirischer Hinsicht unterschieden: normativ mit Würde begabt, empirisch unzulänglich. Vgl. Suchanek und Kerscher 2010, 99. 16 Theologisch hingen ist die Veränderung des Subjektes mit seinen Intentionen der zentrale Punkt, vom dem aus sich Verhaltensänderungen erwarten ließen.

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Hier zeigt sich ein gesetzliches Schema, und nur „sanktionsbewehrte Regeln [… lassen] Moral zum Zuge kommen.“17 In dieser Deutung werden (Dilemma-)Situationen so reglementiert, dass Handlungen zu Vorteilen führen. Die ökonomischen Akteure werden durch Restriktionen gesteuert und durch Institutionen geleitet, die Vorteile versprechen. Ziel sind bei dieser Steuerung gegenseitige Vorteile. Der homo oeconomicus bzw. in der Doppelperspektive der peccator wird durch Regeln in seinem opportunistischem Verhalten gebremst und zu vorteilhaftem Verhalten gedrängt. Hier scheint eine deutlich gesetzliche Perspektive auf, die so aus der theologischen Perspektive nicht durchgängig auf einen Christenmenschen anwendbar ist, weil das Gute in dieser Perspektive nur durch das Gewissen als innere Sanktion und äußere Regeln getan werden könnte. Aus dem Subjekt heraus, erscheint die freie Möglichkeit des Guten nicht. Es handelt sich um den Menschen unter dem Gesetz und der ökonomischen Systemlogik. Diese Perspektive gilt es theologisch zu bereichern.

6.1.2 Der homo religiosus als iustus? Eine Identifikation des homo religiosus mit dem gerechtfertigten Menschen liegt durch die Struktur des simul iustus et peccator gerade nicht nahe, da diese Unterscheidung den ganzen Menschen betrifft. Alter Mensch und neuer Mensch gelten zugleich in einem Prozess im Christenmenschen. Das bedeutet, dass die Perspektive einer lutherischen theologischen Ökonomie grundsätzlich beide Bereiche integrieren muss. Während die ökonomische Perspektive im ersten Teil dargelegt wurde, sind an dieser Stelle einige Hinweise auf theologische Dimension des iustus nachzutragen. Diese Hinweise beziehen sich streng auf den Menschen, wie er aus der Rechtfertigung im Ideal handeln würde. Damit wird ein Dualismus eröffnet, der jedoch keine „antiökonomische Weltablehnung“ produziert, sondern eine produktive Spannung darstellt.18 Für die ‚iustus-Perspektive‘ einer lutherischen Ökonomie kommt insbesondere der Hinweis von D. Bell zum tragen, dass die Alternative zu postlapsarischen Ökonomien zunächst das Reich Gottes ist.19 Alternative Handlungslogiken ent17 Vgl. Homann 1994, 401. 18 Das Zitat von M. Weber im ganzen lautet: „Je prinzipieller aber eine Religiosität ihren Gegensatz gegen den ökonomischen Rationalismus als solchen empfindet, desto näher liegt dem religiösen Virtuosentum als Konsequenz die antiökonomische Weltablehnung.“ Vgl. Wieland 1991, 274 f. aus M. Webers: Wirtschaft und Gesellschaft, 353. 19 Vgl. Bell 2012, 123 f. Das Reich Gottes verweigert sich der menschlichen Realisierung, nicht aber einer zeichenhaften Vergegenwärtigung.

288 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! sprechend dem ‚nahen‘ Reich Gottes, können mit der Unterscheidung von ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ aber nicht konstruiert und durchgesetzt werden, sondern sind bleibend eine Gabe. D. Bell spricht von einer präsenten Alternative, zu der man sich verhalten kann. Das entspricht der iustus-Perspektive auf den homo religiosus insoweit, als er durch die Rechtfertigung zuallererst in den Möglichkeitsraum dieser Alternative gestellt wird. Bei D. Bell entsteht daraus die Verantwortung der Kirche, das Begehren in der Kommunikation des Evangelium zu formen. A. Grözinger hingegen verweist auf den Eigenwert von Utopien und präsenten Alternativen, die über die gegenwärtige Wirklichkeit hinausreichen und auf diese Weise ihre ‚inspirierende Kraft‘ entfalten und sich zugleich der Realisierung verweigern.20 Sie wirken als Impulse zur Wirklichkeitserweiterung, nicht als Aussagen zu einer Gegenökonomie. Aus der neuen Identität der Gerechtfertigten entsteht damit kein neues Regelsystem, sondern eine neu konstituierte Perspektive der Glaubenden auf die Wirklichkeit.21 Auch D. Meeks hat mit dem transformative approach einen produktiven Faktor, der davon ausgeht, dass der Glaube die Handlungen verändert. Das Evangelium von der Befreiung aus dem peccator-Status macht jeweils die alternative Ökonomie bzw. das veränderte Begehren möglich. R. Horsleys setzt dem vorherrschenden ökonomischen Denken das alternative Konzept einer Bundesgemeinschaft entgegen. Durch die deuteronomistische Prägung liegt eine Regelbefolgung nahe. Eine Ausweitung auf bedingungslose Bundeskonzeptionen würde dem Gerechtfertigten entsprechen, weil hier keine gesetzlichen Schemata anzuwenden sind, sondern eher im Modus der Gabe zu argumentieren ist. Die Imitation Gottes als Geber – besonders in der Rechtfertigung – ist bei K. Tanner Kennzeichen der theologischen Ökonomie. Ihre Konstruktion bezieht sich, so wird man mit der Unterscheidung von iustus und peccator schlussfolgern, zentral auf die Möglichkeiten des iustus. Frei zu geben als grundlegende Handlungsorientierung ist zunächst erst eine Möglichkeit des Gerechtfertigten und kann im Rahmen einer lutherischen Ökonomie damit kaum universal auf jeden Menschen oder auf eine Wertegemeinschaft angewendet werden. Dem utopischen Charakter ihrer theologischen Ökonomie entspricht dabei die Einsicht, dass gerade dieses dem Reich Gottes analoge Handeln keinen Ort hat, sondern ein emergentes Geschehen bleibt, das zum Beispiel aus einem veränderten Begehren durch eine ökonomisch sensible Kommunikation des Evangeliums entstehen kann. K. Tanner weist auf die strukturellen Möglichkeiten hin, durch die ‚reine‘ Gaben im gesellschaftlichen Horizont tatsächliche Bedürfnisse stillen 20 Zitat und zur ‚Rettung der Utopie vor ihrer Verwirklichung‘ vgl. Grözinger 2002, 96 f. 21 Vgl. zu Reich-Gottes-Gleichnissen Frey 2006, 185 f.

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können. Dadurch würde das einzelne Subjekt von der Forderung einer ReichGottes-analogen Gabe befreit durch den strukturellen Ansatz. Die Akteure, die Strukturen prägen, sind dabei nicht im Blick. Im Anschluss an die Ausführungen zur lutherischen Rechtfertigung erscheint jedoch gerade das individuelle Geben als eine Möglichkeit des gerechtfertigten Akteurs. Die Fokussierung auf individuelle Akteure auf theologischer Seite bietet zudem Anknüpfungspunkte beim methodologischen Individualismus der Ökonomie. Erst in der Erweiterung auf die Meso- und Makroebene folgen die strukturellen Dimensionen sowie Institutionen. Der bei K. Homann vertretene Grundsatz: ultra posse nemo obligatur – kurz: Sollen setzt Können voraus – kann in die Theologie überführt werden. Posse wird ökonomisch auf die Anreizstrukturen hin gedeutet.22 Theologisch hingegen würde die Befähigung zum Handeln außerhalb von K. Homanns ökonomischem Paradigma erst mit der Rechtfertigung entstehen.23

Auch im Anschluss an die neutestamentliche Hinweise zur Kollekte zeigte sich eine neue soziale und ökonomische Realität auf der individuellen Ebene und folglich als Gemeinde, die von der Weitergabe geprägt ist.24 Gabe als Grundmetapher für den ‚iustus‘ Die Leitdifferenz von Gabe und Tausch liegt der Doppelperspektive auf den Menschen zugrunde, weil die Frage nach dem ‚Anderen‘ der Ökonomie auf etwas außerhalb der Ordnung des Tausches verweist. Die Tauschökonomie, die rein reziprok, symmetrisch und äquivalent verfährt, ruft das Gegenbild der nichtäquivalenten, nicht-reziproken und nicht-symmetrischen Gabe auf den Plan, die als Selbstzweck ein Ereignis ist. Während der Warentausch beziehungslos und ohne symbolische Obertöne innerhalb der Ordnung ablaufen kann und soll, wohnen der Gabe außerordentliche Momente inne.25 Die Gabe im christlichen Horizont wird zwar versuchsweise konsequent von Tausch unterschieden, ist jedoch auch in theologischer Rede „durchgängig von Fi22 Vgl. Homann 2002, 257. Vgl. der gleiche Grundsatz bei Kirchgässner 1991, 176. 23 Die Inkongruenz von Sollen und Können wird bei Brennan und Waterman 2008, 91 f. auf die theologische Bestimmung zurückgeführt: „Man is sinful“. 24 Vgl. Ogereau 2012, 363 ff. und die Untersuchung der Kollekte in dieser Arbeit. 25 „Die Gabe ‚ohne Gegenleistung‘ […] kehrt als Mängelkompensat [des Markes] zurück“ nach M. Godelier. Vgl. Stoellger 2004, 192 f. und Zitat: 200 f. Der anonyme Tausch ist notwendig, weil andernfalls Transaktionen ‚ohne Ansehen der Person‘ kaum möglich wären, jede Gabe und Gegengabe beziehungsstiftend wäre und die Partner um Anerkennung ringen würden. Zur phänomenologischen Differenz von Tausch und Gabe als Formen von Ordnung und Außerordentlichem vgl. ebd., 197 f.

290 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! guren des Tauschs kontaminiert“.26 Eine Tauschökonomie ohne die Denkbarkeit der Gabe ist jedoch ebenso problematisch, wie eine Theologie, die nicht wahrnimmt immer in Tauschhorizonten zu sprechen. Die Antinomie von Gabe und Tausch läuft u. a. auf eine „differenzbewusste Paradoxierung“ hinaus, weil sich alles als Tausch und Gabe verstehen lässt, und kann als „regulative Differenz“ und „Orientierungsfigur“ fungieren.27 Dass Gabe (ohne Tausch) und Tausch (ohne Gabe) in vivo nur als Grenzfälle denkbar sind, schließt nicht aus, dass in der Ordnung des Tausches das Außerordentliche der Gabe ‚in, mit und unter‘ dem Tausch möglich ist.28 So ist das Evangelium eine Überschreitung der Ordnung in der Ordnung. Die Kommunikation des Außerordentlichen hat bei M. Luther zu einer neuen Ordnung geführt, die wiederum vom Außerordentlichen irritiert wird. Wichtig ist die Leitdifferenz, weil die „irreduzible Alterität des Außerordentlichen“29 christlich bestehen bleibt. Gerade das scheint die simul-Struktur einer lutherischen theologischen Ökonomie ausdrücken zu können. Auf Seiten des iustus ist die inhaltliche Beschreibung damit ein Grenzfall und könnte auf ein Zugleich von Tausch-Gaben hinauslaufen, in denen sich ein Überschuss ereignet. Die theoretische Innenseite der Gabe weist auf die deutliche Polarität zum ökonomischen Tausch hin, die zunächst als Differenzbewusstsein im Rahmen einer lutherischen Theologie als ein zentraler Bestandteil gelten kann. Instruktiv sind die Überlegungen von P. Ricœur zu Gaben in ihrer Polarität zu Reziprozitätsmustern.30 Die dialektische Differenz besteht bei P. Ricœur zwischen amour et justice – Liebe und Gerechtigkeit, wobei sich die ἀγάπη nicht auf Äquivalenzen bezieht, und damit ganz unökonomisch in den Kontext der Ökonomie und Gerechtigkeit einbricht.31 Paradigmatisch stellt er die Goldene Regel und das Gebot der Feindesliebe nach Lk 6,27.31 gegenüber. Während die Goldene Regel im Modus der Entsprechungslogik und der Gerechtigkeit verbleibt und damit im Kontext des do ut des beheimatet ist, ist die jesuanische ‚Fernstenliebe‘ als ἀγάπη das Korrektiv der Goldenen Regel. Das ‚damus, quia dedisti‘ bezieht sich dann auf die Überfülle der Schöpfung als der

26 Gabe als Außerordentliches dürfte nicht als etwas gegeben werden und nicht als Gabe erscheinen. Zur aporetischen Figur vgl. Stoellger 2004, 203. 27 Vgl. ebd., 206 und Zitat: 211. 28 Vgl. ebd., 214 ff. 29 Vgl. ebd., 221. 30 Vgl. Bizeul 2013, 6. Vgl. auch Hoffmann 2013, 264. Siehe auch Ricœur 2006, 273. 31 Die Agape, als Liebe zu Gott, entspringt einer höheren Ordnung und spricht eine andere Sprache als die Gerechtigkeit. Poetisch gibt es eine Begriffserweiterung bei ‚Du sollst … lieben‘ – wobei ein Imperativ in der Liebe keine Befehlsform sei. Das Liebesgebot fordere zwar Liebe, sei aber zunächst Zeugnis der Liebe selbst: Liebe mich sagt nur, wer liebt. Vgl. Ricœur 1990, 13 f., 21, 29; zur Logik der Überfülle vgl. 49 und 65.

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vorgängigen Gabe.32 Der Glaube hat für P. Ricœur dabei seine eigene handlungstransformierende Ökonomie, die im Zeichen der Gabe auf Kooperation statt Konkurrenz hinausläuft. Die ἀγάπη hat eine Kritik- und Korrektivfunktion gegen die Logik der Reziprozität, weil sie als überschwängliche Gabe ohne Gegengabe gibt, ohne selbst zu begehren.33

Für I. Dalferth ist der Horizont der Tauschökonomie grundsätzlich nicht tauglich, um die Gabe als Gabe erscheinen zu lassen. Er versteht Gabe als Kommunikationspraxis und als bestimmten Gebrauch von Objekten. Gaben sind kein Mittel zum Zweck, sondern ein Selbstzweck, der eine soziale Identität schafft.34 Mit J. Derrida ist sie kein Phänomen, weil die reine Gabe unsichtbar bleiben muss, und im Horizont einer Tauschökonomie (reziprok / symmetrisch / äquivalent) kann Gabe kaum als Gabe erscheinen. Dennoch gibt es Gaben nach I. Dalferth, die sich dem Tausch entziehen, und so die (ökonomische) Ordnung transzendieren. Gaben sind in dieser Perspektive hermeneutische Phänomene, deren ‚pro me‘ bzw. Empfangen zentral für die Gabe ist.35 Diese theologische Gabe gibt es nicht, ohne einen zunächst ganz passiven Empfänger, der die Gabe jedoch als für sich da seiend verstehen muss.36 Sowohl zum Geber als auch zum Empfänger wird man passiv durch die Gabe, und dabei macht die Gabe erst den Empfänger selbst: Die Empfangenden werden zu dem, was die Gabe aus ihnen macht – sie haben sie nicht. Die Gabe konstituiert eine symbolische Identität, indem sie zum Empfänger macht. Ein durch die Gabe veränderter Mensch muss sich zur Gabe verhalten: annehmen oder ablehnen. An dieser Stelle ist der Mensch jedoch bereits passiv zum Empfänger geworden. Der Empfänger wird dies jedoch nicht durch einen machtvollen Gestus, sondern positiv, weil die Gabe eine Möglichkeit herstellt, die vorher nicht existierte und nicht selbst produzierbar war. Es handelt sich um die Zueignung von Lebensmöglichkeiten, bei denen der Mensch Subjekt wird. Im Hintergrund dieses Gabeverständnisses ist deutlich die Rechtfertigung mit der Zueignung der heilvollen Differenz von alt und neu erkennbar. Für I. Dalferths Gabe ist weder die Intention, noch das Was, Wie oder für Wen relevant, weil der Mensch mit einer Gabe bereits etwas bekommt, bevor er über die Annahme oder Ablehnung entscheiden konnte. In dieser Situation ist man Adressat im Dativ, weil das 32 Dieser Ansatz ist kredittheoretisch begründet. Zum Thema Schuld und Schulden ließe sich in diesem Rahmen ein weiterer großer Forschungsschwerpunkt ausmachen. Zitat: Priddat 2005, 5. Vgl. zum Thema: Ricœur 1990, 41 und 55. Vgl. Hoffmann 2013, 122. Siehe auch Priddat 2011, 3. 33 Siehe dazu F. Dostojewskies Idiot als Agape-Mensch. Vgl. Ricœur 2006, 274 und 280. 34 Vgl. Dalferth 2007, 171. 35 So gibt es im Schenken einen Überschuss über das Objekt hinaus. Vgl. ebd., 167 f. 36 In theologischer Diktion wird hier das pro nobis der Zueignung zum zentralen Punkt.

292 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! Bekommen bereits den Empfänger zum Empfänger und zum Begabten macht. Erst danach kann der Mensch entscheiden, ob man in diesem neuen Möglichkeitshorizont leben will oder ihn ablehnt. Zentral ist daran, dass der so Begabte die Gabe auch nach der Annahme nicht besitzt, sondern ein Begabter geworden ist – die Gabe darum nicht verlieren kann. Resultierende Aufgaben sind in diesem Gabeverständnis keine Schuld gegenüber einem Geber, sondern die Lebensbestimmung des neuen Lebenshorizontes,37 der durch die Gabe als Möglichkeit erschaffen wurde. Als ökonomische Konsequenz dieser Lebensbestimmung ist die Perspektive auf kooperative Settings und die Einsetzung einer neuen Reziprozität als Weitergabe zum Nächsten gelenkt.38 Anders als die Argumentation bei P. Ricœur über Schuld bietet I. Dalferth keine Mängelanthropologie: Der Empfang gleicht nicht einen Mangel aus, der immer schon bestand, und die Gabe des Glaubens gleicht dann diesen anthropologischen Mangel aus. Im Gegenteil: Die theologische Gabe muss ein Überschussphänomen sein.39 Wird der homo oeconomicus mit dem Sünder identifiziert und durch den Gerechtfertigten erweitert, scheint das einen Mangel zu kompensieren. Dieser ist jedoch nicht anthropologischer Natur, sondern bezieht sich auf die ökonomische Modellbildung. Die Perspektive einer lutherischen Ökonomie bezieht sich auf Selbstidentifikationen, nicht auf anthropologische Feststellungen, die empirisch verifizierbar sind. Glaube als Kurzformel für das Bestimmtwerden durch das, was Gott im menschlichen Leben Gutes bewirkt, ist ein Überschussphänomen und keine Korrektur. So definiert nicht ein anthropologischer Mangel, was Glaube ist, sondern der Glaube respondiert einer Gabe, die man weder gebraucht noch erwartet hätte. Man hat sie nicht einmal gesucht. Glaube ist so immer mehr, als anthropologisch nötig wäre, und das wirkt sich auch auf ökonomische Konsequenzen aus.

Rechtfertigung ist damit passiv als Schöpfung e contrario zu verstehen, weil der Sünder wider Willen gerechtfertigt wird. Alle Aktivität kommt erst danach durch die Identität als Empfänger und Begabter bzw. neuer Mensch. In der Gabe wirkt so eine Logik der Überfülle und nicht die Logik des Mangels wie in der Wirtschaft. Diese Perspektive kann den Gerechtfertigten bestimmen und damit die Identität als iustus prägen. 37 Nach I. Dalferth ist man für etwas dankbar, aber nicht jemandem. Vgl. Dalferth 2007, 175. Theologisch läuft diese Gabekonzeption auf die unbedingte Heilsgewissheit hinaus, weil der Mensch die Gabe nicht verspielen kann. Er bleibt begabt – und ist sich selbst keine Dauergefährdung für sein Heil. Der Titel des Aufsatzes deutet bereits an, dass Gottes Gnade ‚umsonst‘ ist: d. h. sie war vor ihrem Eintreffen subjektiv gar nicht notwendig. Erst in der Rückschau zeigt sich die Gabe und was fehlte. 38 Dass soteriologisch jeder Tausch ausgeschlossen wird, heißt nicht, dass die Gabe passiv macht, sondern eine Reziprozität zum Nächsten hin fördert. Vgl. Holm 2006, 179. 39 Sonst wäre der Glauben nur eine nachträglich Korrektur des Menschen. Hoffmann 2013, 173 f.

6.2 Integration: simul oeconomia et theologia?

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Eine analoge Handlungslogik aus der Überfülle steht dabei im deutlichen Widerstreit zu ökonomischen Paradigmen, weil ein spontanes, unwillkürliches, unberechenbares Geben denkbar wird, das weder ein Instrument der Herrschaft ist, noch der Willensdurchsetzung dient, sondern streng dem Nächsten zugute kommen soll. Das ist zunächst eine denkbare Möglichkeit und produziert eine Spannung in der Perspektive auf soziale Austauschverhältnisse, die in der Regel auch im Zeichen des Tausches verstanden werden können. Es ermöglicht vom symbolischen Lohn wegzusehen und einen alternativen Fokus zu setzen. Wird der (symbolische) Lohn als Motivation kommuniziert, verändert sich die Gabe. Kann hingegen auch mit einem Handeln aus der Rechtfertigung gedeutet werden, dann wird der immer unterstellbare symbolische Lohn ein Nebenprodukt und nicht zur Motivation.40 Eine lutherische theologische Ökonomie kann aufgrund der Simultanität im Christenmenschen weder allein von der ökonomischen, noch allein von einer theologischen Handlungslogik ausgehen, sondern besteht grundsätzlich in der Spannung von Ökonomie und Theologie. Das ‚et iustus‘ schafft demnach eine Differenz, die als Überschuss den Möglichkeitshorizont erweitert und eine symbolische Identität konstituiert, die vom Gegenteil der klassischen Ökonomie bestimmt ist. Die Integration dieser zwei gänzlich unterschiedlichen Perspektiven auf den Christenmenschen soll folglich unter dem Titel simul theologia et oeconomia ausgelotet werden.

6.2 Integration: simul oeconomia et theologia? Die These hinter dem Stichwort ‚simul theologia et oeconomia‘ ist, dass es aus theologischer Perspektive durch die Rechtfertigung möglich wird, entsprechend einer alternativen Ökonomie zu handeln. Die heilvolle Differenz ermöglicht, nicht allein im Muster von Knappheit, Eigennutz, Zweck-Mittelabwägung und Tauschlogiken zu handeln und Situationen zu verstehen. Mit der Differenz geht die Befähigung einher, eine alternative Situationsanschauung und Handlungslogik anzuwenden, die Analogien zum Handeln Gottes am Menschen hat. 40 Eine intrinsische Motivation kann durch eine extrinsische Motivation leicht verdrängt werden, wodurch das Ziel sich verändert. Das ursprüngliche Interesse wird durch die Betonung des (symbolischen) Lohns verändert. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie kann nach dem gedachten Adressaten gefragt werden: Wird der Mensch nur als homo oeconomicus angesprochen oder ihm der Möglichkeitsraum der Hingabe eröffnet? Vgl. Karle 2010, 213. Vgl. auch Harper und Jones 2008, 162.

294 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! Zugleich wird deutlich, dass durch die Dichotomie im gerechtfertigten Menschen ein rein ökonomisches Paradigma bestimmte Handlungsmuster ausblendet. Eine lutherische theologische Ökonomie muss daher für ein ‚et theologia‘ in der Ökonomie votieren. Vorausgesetzt ist durch das ‚et‘ bereits die Ökonomie in ihrer theologischen Qualifizierung. Das integrierende Moment findet sich im gerechtfertigten Subjekt, dass als Glaubender zwei konkurrierende Weltanschauungen vereint.

6.2.1 Et theologia… Ökonomien, die alternative Handlungslogiken der Gerechtfertigten nicht als Möglichkeit integrieren, beschränken und begrenzen sie. Die Theorieeffekte der klassischen Ökonomie suggerieren, dass es ökonomisch nur ein Handlungsmodell gibt, dem umfassende Geltung beigemessen werden kann. Die – aus der orthodoxen Tradition – Befreiung von der prä skriptiven Dimension der Ökonomie kann damit bereits als Wirklichkeitserweiterung gedacht werden. Der Bruch mit den Theorieeffekten der Ökonomie schafft eine Differenz, die es überhaupt zulässt, nach alternativen Mustern zu handeln.41 Es schließt an die Erkenntnis der Wirtschaftssoziologie an, dass auch ökonomische Rationalität eine sozial konstruierte Kategorie ist.42 Die hier herausgearbeitete Perspektive auf die christlich handelnden Subjekte eröffnet eine Spannung und zugleich einen höheren Differenzierungsgrad, wenn neben den ökonomischen Paradigmen auch das theologische Gegenstück in den Blick kommt. Anhand zweier gegensätzlicher Beispiele haben sich hier bereits einseitige Perspektiven angedeutet. Im Fallbeispiel des ‚Evangelischen München-Programms (eMp)‘ reagierte ein Initiativkreis mit einem ‚theologischen Ruf‘ gegen eine Ökonomisierung mittels starker Kontraste. Unter anderem wird das Evangelium als gänzlich andere Logik akzentuiert, die Auswirkungen auf die Gestalt und Struktur der Kirche haben soll.43 Diese alternative Perspektive entsteht aus dem Glauben in geradezu dialektischer Differenz zu den angewandten ökonomischen Handlungs- und Gestaltungsmustern. Ist das simul iustus et peccator das prägende Strukturelement einer 41 Vgl. Callon 2007, 352. 42 Insbesondere in der Deutung eines Marktes spielen kulturelle Faktoren eine wichtige Rolle. Vgl. Hörisch 2013b, 179. Vgl. auch Mikl-Horke 2011, 54. Siehe auch K. H. Brodbecks Hinweis, dass Märkte kommunikativ und kognitiv eingebettet sind. Vgl. Brodbeck 2002, 357 ff.. 43 Vgl. dazu Punkt 2.2.3.1 auf Seite 64.

6.2 Integration: simul oeconomia et theologia?

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lutherischen Ökonomie, wird der präzise Adressat des Initiativkreises erkennbar. Ekklesiologisch wird von iustus her argumentiert. Für das eMp gilt gleicherweise, dass durch die durchgängige Anwendung der ökonomischen Methoden hauptsächlich der homo oeconomicus bzw. der Mensch im status corruptionis im Fokus stand, der als Kunde über Anreizstrukturen angesprochen wurde, als Mitarbeiter hingegen über Zielvereinbarungen gesteuert wurde. Das simul ist in diesem Fall deutlich durch zwei widerstreitende Positionen angezeigt, die ein grundsätzliches praktisches Problem beschreiben. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie wird diese dialektische Differenz von alt und neu erkennbar, aber an den Ort des Subjektes verlagert. ‚Kunde‘ und Mitarbeiter vereinen selbst diese Spannung. Zugleich wird die Gültigkeit beider Paradigmen ernstgenommen, die jedoch konkret für alle christlichen Akteure gelten. Damit braucht es auf der individuellen wie auch auf der strukturellen Ebene sowohl den ökonomischen Kontext als auch Möglichkeitsräume und Schnittstellen, in denen sich zeichenhaft etwas von der Ökonomie Unterschiedenes realisieren kann. In beide Richtungen fungiert das theologisch-ökonomische Denken anhand des simul als Suchraster für die Doppelperspektive von Theologie und Ökonomie. Das zweiten Beispiel macht auf ein methodisches Problem der Religionsökonomie aufmerksam. Werden ökonomische Methoden zur Untersuchung von Religion – im spezifischen Fall: die Handlungen der Gerechtfertigten – angewendet, scheint aus der Perspektive einer lutherischen Ökonomie nur eine ökonomisch erklärbare Handlungslogik möglich zu sein. Andere Logiken können kaum sichtbar werden.44 Eine ökonomische πλεονεξία, das Mehr-haben-Wollen dürfte theologisch auf das gänzliche Gegenteil treffen: auf eine transformierende Gabe, die voraussetzt, dass man bereits alles hat und darum selbst zum Geber zweiter Ordnung werden kann. Diese Handlungsorientierung des iustus kann mit der Anwendung ökonomischer Methoden nur als Werk im Modus des Tausches qualifiziert werden, da das Theoriesetting keine Alternative zulässt. In dieser Perspektive wird somit nur der ‚alte Mensch‘ untersucht, und jede potentielle Gabe wandelt sich von einem Selbstzweck zu einem Instrument, wodurch nur eigennützige Motivationen zurückbleiben. Die Möglichkeit der Gabe wird methodisch eliminiert und der Untersuchungsgegenstand bei einer allein ökonomischen Perspektive reduziert. Ist aber Gabe das Urwort der Theologie,45 muss die Perspektive auf Christen durch das simul 44 Durch die Anwendung der Rationalwahltheorie wird Religion auf Tauschprozesse reduziert. Vgl. Stoellger 2004, 206, Fn. 62. 45 Für O. Bayer drückt promissio „den ‚Gaben‘-Charakter der Rechtfertigung aus“: „Das Evangelium ist wie promissio die Verkündigung Christi als ‚Gabe‘ für den Christen. Hier ist der positive

296 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! erweitert werden. In der theologischen Logik werden weder Gabe noch Gnade ertauscht, auch nicht symbolisch. Eine unökonomische Akteursrationalität kann zumindest als Deutungshorizont für die Handlungslogik der Gerechtfertigten angenommen werden, die im Widerstreit zur ökonomischen Deutung steht.46 Eine lutherische Ökonomie könnte also als eine Doppelperspektive selbst hilfreich sein, indem sie zunächst etwas in seiner inneren Spannung sichtbar macht, das im Rahmen der Ökonomie allein nicht existiert. Das ‚et theologia‘ ist in dieser Hinsicht ein Zeichen auf eine der Ökonomie verborge Handlungsdimension, und gleicherweise für die Theologie ein Hinweis auf ihre ökonomischen Kontexte. In dieser Hinsicht handelt es sich um ein konfessionell gebundenes „framework for linking economics and theology“.47 Zudem lässt sich mithilfe der Doppelperspektive ein Ökonomieimperialismus in Frage stellen, da die Entscheidungssubjekte aus theologischen Gründen frei sind, dem ökonomischen Modell, „das man als genetische, soziale oder ö konomische ‚Determination‘ interpretieren kann,“ zu folgen. Freiheit besteht damit in der Wahl, auch anders als im ökonomischen Paradigma zu handeln.“48 Erweitert ist eine lutherische Ökonomie im gesellschaftlichen Horizont eine Heuristik, die sichtbar macht, welche Akteursrationalität vorausgesetzt wird.49 Aus der Theologie sind zudem zunä chst Impulse wichtig, die eine Alternative überhaupt sichtbar macht. Die den Menschen in seinen ö konomischen Handlun-

Ausgangspunkt für das Verständnis des Christen anzusiedeln.“ Vgl. Holm 2006, 42 f. B. Holm erarbeitet eine Ökonomie der Gabe im Rahmen der lutherischen Theologie. „Das hewbtstuck und grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe und geschenck“ WA 10 I 1;11. Vgl. auch Barclay 2015, 109 f. Vgl. auch zur Komplexität der Gabe als Grundmetapher religiöser Rede Stoellger 2004, 190. 46 Dass Handlungen ökonomisch erklärbar sind, bedeutet nicht, dass dies auch die grundlegende Motivation der Handlung ist. 47 P. Oslington argumentiert, dass eine „natural theology“ das ‚framework‘ der politischen Ökonomie war, es modern jedoch eine neue Verbindung beider Disziplinen braucht: „we need an adequate intellectual framework for linking…“. Vgl. Oslington 2008, 72 f. 48 Vgl. Brodbeck 2002, 357. 49 Mit dem Suchraster des simul könnten auch unterschiedliche Perspektiven auf das Grundeinkommen untersucht werden. Die bedingungslose Gabe von grundlegenden Lebensmöglichkeiten kann mit dem Muster der Rechtfertigung durchdekliniert werden. Es läuft vermutlich auf die Idee hinaus, dass sich der so begabte Mensch wie ein ‚iustus‘ verhält. Dass der Mensch auch peccator bleibt, wird wahrscheinlich in Gegenargumentationen erkennbar. Welche ökonomischen Folgen sich aus der Anwendung dieser Perspektive ergeben, erscheint als fruchtbare Anschlussfrage. Auch für die Diakonie sollte diese Doppelperspektive wertvoll sein, weil hier direkt aus der Unternehmensidentität heraus der Zwiespalt eines diakonischen Unternehmens ersichtlich wird.

6.2 Integration: simul oeconomia et theologia?

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gen nach der Rechtfertigung anders beschreiben als es klassische ö konomische Theorien nahelegen. Eine gewisse deskriptive Kreativitä t50 kö nnte Reich-Gottesanaloges Handeln imaginieren und damit auch die Identität der Hö rer neu akzentuieren. Im ökonomischen Horizont betrifft das zunächst weniger die alltägliche Handelspraxis, jedoch die Perspektive auf zwischenmenschliche Handlungen, die einer ökonomischen Perspektive entsprechend gestaltet werden können oder durch andere Deutungen bestimmt sind.51 Das ‚et theologia‘, das über das lutherisch-ökonomische Denken in den Diskurs eingebracht wird, orientiert sich dabei an der Simultaneitä t von Gegensä tzen. Diese Simultaneitä t ist ein „Strukturprinzip der Theologie Luthers“52 und hält die Spannung unterschiedlicher Deutungen. Der Beitrag einer theologischen Ökonomie besteht in dieser Hinsicht nicht in konkreten Handlungsanweisungen. M. Luthers vier Charakteristika einer christlichen Ökonomie sind genausowenig realistisch wie die alleinige Fokussierung auf Handlungen, die das Reich Gottes imitieren. J. Wielands Hinweis auf einen „gegenstrebigen Pol zur weltlichen Ökonomie“, der den ökonomischen Determinismus mit Kontingenz ausstattet, kann in diesem Rahmen geboten sein.53 Aus der Rechtfertigungslehre ist dieser gegenstrebige Pol direkt in das Subjekt verlagert, das selbst durch zwei widerstreitende Identitäten charakterisiert ist. Die ‚ökonomische Identität‘ kann dabei vorausgesetzt werden, die Alternative hingegen wird durch den Glauben konstituiert und bleibt angewiesen auf die Zueignung des Evangeliums. Sowohl ‚Glaube‘ als auch das Thema Identität sind ökonomisch anschlussfähig und erhellen den vorliegenden Zusammenhang, weil das Widerspiel von Ökonomie in seiner prägenden und präskriptiven Dimension und Theologie in der dialektischen Spannung unter diesen Stichworten in Verbindung gebracht werden kann.

6.2.2 Bifokal oder Deus Oeconomicus et Oeconomia Dei Unter dem Titel ‚Deus Economicus OR Economia Dei?‘ untersuchen P. Oslington et al die Vereinbarkeit von theologischer und ökonomischer Weltanschauung und weisen auf die sich diametral widersprechenden Grundannahmen hin: For theology is essentially oriented to the superabundance of the divine gift; […]

50 Vgl. Priddat 2005, 83. 51 Vgl. das Beispiel der Deutung der Ehe unter Punkt 5.1 auf Seite 183. 52 Vgl. Rieger 2007b, 60. 53 Vgl. Wieland 1991, 278.

298 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?!

It is ‚new creation‘ compared to the ‚real world‘ of rational choices, cost-benefit analysis, contracts, market supply and demand, limited commodities, the inevitable bias of selfinterest.54

In einer lutherisch-ökonomischen Perspektive wird ‚ökonomischer Glauben‘ im Rahmen von economic theology erkannt und in Beziehung gesetzt zum ‚neuen‘ Menschen aus der Rechtfertigung. Die Entgegenstellung im oben genannten Titel mit ‚oder‘ wird im Subjekt verbunden, sodass aus dem ‚entweder – oder‘ ein ‚und‘ wird, das zugleich im immerwährenden Prozess im Gerechtfertigten gültig ist. Die resultierende Perspektive auf die Akteure ist damit grundlegend bifokal in der Weise, dass die dialektische Spannung bestehen bleibt und der Fokus auf den Menschen verdoppelt wird. Die Dialektik dieser Perspektive kann gerade nicht in einer Mixtur aufgehen oder sich im Mittel treffen, sondern besteht bleibend in der wechselseitigen Anerkennung beider Perspektiven, die aufeinander bezogen sind. Für eine ‚bifokale Schau‘, mit der man neu sehen (und auch handeln) lernen kann, votieren C. Campell und J. Cilliers in ihrem homiletischen Werk.55 Sie beziehen die Bifokalität auf das Zugleich der alten und neuen Zeit, wobei die Bilder der neuen Zeit paradox56 sind und als destabilisierende Gegensatzpaare einen Entscheidungsraum eröffnen. Im Zeichen des simul iustus et peccator wird die Identität vor der Erstarrung bewahrt, weil auch der Glaube um sich selbst kreisen kann und so erweitert eine theologische Ökonomie zum Gegenstand des Glauben werden könnte. Die heilvolle Differenz besteht dann in einem Leben als Fragment, einer Distanz zur alten Schöpfung und zugleich in einer neuen Schöpfung, die schon und noch nicht zugleich da ist.57 Spezifischer auf eine theologische Ökonomie gewendet heißt das, dass eine Rechtfertigung und eine Kommunikation des Evangeliums im Zeichen einer Gabeökonomie nicht allein als gegenstrebiger Pol, sondern auch als dauernde Infragestellung der (ökonomischen) Identität – 54 Vgl. Kelly, Ormerod und Oslington 2009, 5 f. Siehe auch dort zu den Gleichnissen Jesu N. Ormerod: „In its place God displays the economics of grace, of divine liberality and generosity.“ Sie beschäftigen sich mit der Rationalwahltheorie in diesem Zusammenhang, die nützlich zur Vorhersage von Verhalten ist, zugleich aber nicht universell normativ gelten kann, da sie historisch gewachsen ist. 55 Vgl. Campell und Cilliers 2015, 23 und Fn. 63 zur Klärung dieses Ansatzes. 56 Paradox wird hier als neben / außerhalb der Ansicht (δόξα) verstanden. Vgl. ebd., 32 f. und Fn. 101. Das Konzept der Liminalität wird zudem in der Differenz von alt und neu benutzt: Christen leben auf einer Achse am Knotenpunkt der Zeit bzw. auf einer Grenze. Aber auch hier bleibt der Fokus bifokal und kann nicht aufgelöst werden. Auch die Kirche lebt „zu früh für den Himmel, aber zu spät für die Erde“ ebd., 63. 57 Vgl. ebd., 49 f. und 179.

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und der Neukonstituierung einer Identität des iustus – wirksam ist. Auf dieser Schwelle zwischen alter und neuer Zeit gilt es damit, das Alte als altes anzuerkennen und zugleich auch ökonomisch die neue Zeit für den Gerechtfertigten zu entfalten. Homililetisch wird das als ‚durchkreuzen der Realität‘58 gedacht, wozu es auch ökonomische Gegenbilder braucht: Theologisch gesprochen ist die Aufgabe des Predigens damit eine proleptische, eschatologische. Der predigende Narr intendiert und antizipiert die letztgültige Transformation der Welt in die Fülle von Gottes neuer Schöpfung.59

Mit einer bifokalen Schau werden unvereinbare Gegensätze zusammengehalten.60 Hier werden Imaginationen relevant als Erweiterung und Bereicherung der Realität. In gleicher Weise verstand auch K. Tanner ihren Entwurf einer theologischen Ökonomie: Als Imaginationsraum für ökonomische Veränderungen.61 Sind ökonomische Entscheidungen kommunikativ generierte Akte,62 dann sind die theologisch-ökonomischen Imaginationsräume und ihre Auswirkungen auf die Metapräferenzen und die konkreten ökonomischen Entscheidungen relevant. Haben ökonomische Situationen eine „kommunikative virtuelle Realität“ und existieren plurale Akteursrationalitäten, so sind Imaginationen innerhalb der Ökonomie, aber auch aus der Theologie heraus notwendig, weil die kommunizierten Weltsichten die Entscheidungen mitprägen. Ökonomische Entscheidungen sind frame-related und abhängig von unterschiedlichen Interpretationen.63 Die bifokale Perspektive in homiletischer Dimension bezieht sich auf das Refraiming als Veränderung des ‚konzeptuellen‘ Gesichtspunktes. Die der Situation eigene Bedeutung wird verändert und theologisch zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ rekonfiguriert.64 Sowohl die Veränderung von Metapräferenzen als auch die Deutung von Märkten sowie das Selbstverständnis ökonomischer Subjekte wird damit an58 Vgl. Campell und Cilliers 2015, 126 f. mit Verweis auf A. Grözinger. Vgl. dazu auch das Beispiel ‚die zweite Meile mitgehen‘ ebd., 131 f. 59 Der Narr ist die zentrale Figur des Buches und bezieht sich auf die aus der alten Welt nicht ableitbare oder antizipierbare Botschaft Gottes. Analog ist dem homo oeconomicus eine Ökonomie der Gabe nur eine Narretei. Vgl. ebd., 181. Auf den antizipativen Redemodus der (Rechtfertigungs)Predigt beziehen sich auch Bieler und Gutmann 2008, 98. 60 Dadurch wird Liminalität erzeugt. Ein Zwischenraum zwischen alter und neuer Zeit. Vgl. Campell und Cilliers 2015, 198. 61 Auch hier werden fundamentale ökonomische Wahrheiten irritiert. Vgl. Tanner 2005, 33. 62 Wie auch Werbung die Konstruktion einen Kontexte und Imaginationsraumes mit einem symbolischen Mehrwertes bei Gütern ist. Vgl. Priddat 2005, 232. 63 Die ‚Semantik der Weltbilder‘ ist relevant für Wahlhandlungen. Vgl. Priddat 2008, 24–29. 64 Vgl. Campell und Cilliers 2015, 182.

300 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! schlussfähig im Zeichen eines simul valider ökonomischer Dimension und einer Imagination der potentiellen ökonomischen Dimension des iustus. In diesem sich anschließenden Forschungsbereich sind im Rahmen einer lutherischen Ökonomie die Orte zu klären, an denen die alternative Weltsicht und der andere ökonomische Rahmen eingespielt werden können. Die kommunikationstheoretische Dimension der Ökonomie bietet vielfältige Anschlussmöglichkeiten, um die Auswirkungen religiös-ökonomischer Kommunikation in einem Schnittfeld zu untersuchen, das in beiden Disziplinen relevant und anerkannt ist. Der Rahmen einer lutherischen Ökonomie beschreibt dabei das Verhältnis als ‚zugleich‘ unterschiedlicher Deutungen, die in ihrer Dialektik bestehen bleiben. Ausgehend vom reformierten Theoriedesign wird kein ökonomisch-normatives Konzept angewandt und damit das ökonomische Paradigma ungültig erklärt, und ebensowenig wird an einer ökonomischen Richtung partizipiert oder die ökonomische Theorie als fehlerhaft erklärt. Die Dialektik ermöglicht ein Zugleich zweier Perspektiven, die sich über mentale Modelle, refraiming, belief systems und die Kommunikation in der Ökonomie am Ort des Subjektes begegnen. Durch das simul wird der Präskription der Ökonomie eine Alternative entgegengesetzt, die jedoch nicht erneut einen normativen Anspruch durchsetzten muss, sondern rechtfertigungstheologisch damit rechnet, dass sich die Handlungslogik des iustus oder ein verändertes Begehren durch die (bifokale) Kommunikation des Evangeliums Geltung verschafft. Diese Verbindung von Rechtfertigung und Ökonomie ist homiletisch bereits bedacht worden: A. Bielers und H.-M. Gutmanns Überlegungen in ‚Die Rechtfertigung der Überflüssigen‘ verbinden die Rechtfertigung mit einer ökonomischen Perspektive. Ihr ökonomischer Ausgangspunkt ist die ‚Option für die Armen‘ und das Primat der Ökonomisierungsdebatte in Kirchengemeinden. Gemeinden sind Räume, in denen „Zivilgesellschaft Gestalt gewinnen kann“, aber dafür muss die Zentralstellung der ökonomischen Fragen als „grundlegendes Lebensgefühl“ gebrochen werden.65 Dafür votieren die Autoren für eine Homiletik in performativer Dimension und eine Rechtfertigungspredigt als „wirklichkeitsschaffende Rede“, die dem Menschen „in einem paradoxen Gegensatz zu seiner Wirklichkeit zugesprochen wird.“ 66 Der Fokus liegt auf der durch fehlende Arbeit zerbrochenen Ich-Identität, die das Gefühl der titelgebenden Überflüssigkeit hervorruft. Die Identitätskonstuktion von der „Externität des Lebens, die sich aus dem 65 Beide Zitate vgl. Bieler und Gutmann 2008, 42. Zum Verständnis von Armut als ‚Lebenslage‘ vgl. ebd., 30 f. und zu prinzipieller, materialer und formaler Homiletik vgl. ebd., 59 ff. Das homiletische Überblickswissen ist durch den Rekurs auf K. Barth geprägt. 66 Zitate ebd., 17 und 22.

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In-Christus-Sein ergibt“, steht der Anerkennung durch Eigenleistung diametral entgegen.67 Die kreatorische Rede bezieht sich sodann auf Verkrümmungserfahrungen des heillos auf sich selbst zentrierten Sünders.68 Hier ist einerseits die Ambivalenz des simul iustus et peccator darzustellen, zugleich befreit der Glauben zu einer Praxis, die „nicht mehr am narzisstischen Impuls ausgerichtet sein muss.‘69 Die Alternative ‚Gott oder Geld‘ wird lebenspraktisch vor allen Dingen darin konkret, wie angesichts einer Situation von Knappheit zwei Haltungen unterschieden werden kö nnen: die Haltung der Verausgabung und die Haltung der Sorge. Die Ökonomie, die in der biblischen Religion vorherrscht, kann als eine Ökonomie der Verausgabung verstanden werden.70

Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die performative Dimension der Gottesdienstlehre in Bezug auf die Fremdkonstitution des Gerechtfertigten. A. Bieler und H.-M. Gutmann beziehen sich dazu auf die Konstitution des Christen durch das Wort in Anschluss an M. Luthers Invokavitpredigten.71 Die Wirksamkeit von Gottes Wort ist dabei nicht zu verwechseln mit der performativen Zueignung des Rechtsfertigungsgeschehens. Die Predigt einer heilsamen Differenz im Subjekt ist mehr als bloße Information und darf zugleich nicht als ‚machbar‘ gedacht werden.72 Während bei A. Bieler und H.-M. Gutmann insbesondere die vermeintlich ‚Überflüssigen‘ im Blick sind, so ist für eine lutherische Ökonomie grundlegend die bifokale Perspektive auf das Subjekt in theologischer und ökonomischer Hinsicht relevant und insbesondere dabei die fortwährende Kommunikation des Evangeliums in seiner ökonomischen Dimension. N. Slenczka präzisiert von der promissio her, dass „durch den Glauben der Mensch mit Christus identifiziert wird“, Christus eine Gabe ist.73 Analog zur Idiomenkommunikation der Zweinaturenlehre gilt vom neuen Menschen die Identität Christi und damit auch die entsprechende Handlungslogik. Die Eigenschaften 67 Vgl. Bieler und Gutmann 2008, 52 und Zitat: 57 f. Der (biblische) ‚Fluch‘ Arbeit wird modern verkehrt in einen Segen. Vgl. ebd., 13. 68 Auch hier erscheint die Bescheibung des Sünders als selbstzentriert und mit M. Luther als homo incurvatus in se ipsum. Vgl. ebd., 75. 69 Vgl. ebd., 86 f. Homiletisch geht es damit um die Potentialität der Menschen, systematischtheologisch wird auch mit dem fröhlichen Wechsel argumentiert. Siehe dazu ebd., 122 ff. 70 Vgl. ebd., 129. Sünde und die ökonomische Perspektive werden auch hier in einen engen Bezug gebracht. 71 Zum Wort als ‚Schwert des Geistes‘ und der Macht des (göttlichen) Wortes vgl. ebd., 207. 72 Besonders praktisch anschlussfähig für diesen schmalen Grat erscheint im Anschluss an J. R. Searle die Deklarationen. ‚Ich taufe dich‘ / ‚Ich schlage dich zum Ritter‘. Vgl. ebd., 210 und 219. 73 Christus als sakramentum und nicht exemplum. Vgl. Slenczka 2005, 384 f.

302 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! des Wortes werden der Seele zu eigen, und R. Rieger formuliert: „Das Wort Gottes und der ihm entsprechende Glaube sind Grund der Rechtfertigung“.74 Der Mensch wird durch die Predigt „performativ ins Wort verwandelt“. Damit gehe die „völlige Auflösung [… der] eigenen Identität durch ihre radikal externe Begründung“ einher.75 Die Predigt von Christus fördert die Wirksamkeit Christi im Gläubigen, indem sie eine individuelle Applikation herstellt, wodurch der Ökonomie eine Alternative entgegengesetzt wird: „Wenn aber das Evangelium im Glauben des Menschen präsent ist – und darin die Gottesgemeinschaft –, dann ist das Wesen des Menschen prinzipiell definiert, sein Handeln prinzipiell orientiert und die Umsetzung in tatsächliche Handlungen garantiert.“76 Die homiletische Dimension bezieht sich damit auf die geistliche Nahrung des inneren Menschen, um die conformitas mit dem äußeren Menschen zu erreichen. Wie die äußerliche Deutungsund Handlungsweise evangelisch gestaltet sein könnte, weiß man im theologische Sprachspiel durch das Gesetz, die Erfüllung ist jedoch auf das Evangelium angewiesen. Die zugrundeliegende These einer theologischen Ökonomie ist dann, dass die ökonomische Identität anerzählt, angepredigt und kommuniziert werden kann – unter Beachtung der Differenz, dass performative Sprechakte nicht rechtfertigen, sondern das Wort Gottes – und somit die Bildung der Identität des iustus in die Kommunikation des Evangeliums gehört, um die Dialektik und bifokale Perspektive im Subjekt zu verbinden.

6.3 Konstanten und Konsequenzen Eine wesentliche Einsicht aus der Untersuchung exemplarischer theologischer Ökonomien war die Feststellung, dass die theologischen Grundentscheidungen maßgeblich für die Frage sind, was als theologische Ökonomie gelten kann.77 Die dargestellten Entwürfe konstruieren jeweils aus einer spezifischen Perspektive am Ort der Theologie. Auch die konfessionellen Unterschiede zeigen sich in unterschiedlichen Ausgangspunkten und Ergebnissen. Eine gewisse Nähe zu wirtschaftsethischen Fragestellungen ist dabei gegeben, und dennoch handelt es sich um eigenständige Ansätze neben der Ethik. 74 Vgl. Rieger 2007b, 273. Siehe auch § 10 in der deutschen Ausgabe, vgl. Korsch 2016, 25. 75 Dennoch bleibt zugleich der Selbstbezug im Menschen bestehen. Vgl. Rieger 2007b, Beide Zitate: 351. 76 Vgl. Korsch 2005b, 360. Die Begegnung von deus loquens mit dem homo audiens ist dafür ursächlich. Vgl. Beutel 2005b, 362. Vgl. dazu auch Vgl. Rieger 2007b, 62. 77 Ganz grundsätzlich ist die Verbindung von Religion und Ökonomie durch die Pluralität der Christentümer gekennzeichnet. Vgl. Laux 2006, 190.

6.3 Konstanten und Konsequenzen

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Eine lutherische Perspektive auf Ökonomie besinnt sich daher auch auf die konfessionelle Eigenart. Zur Frage stand dabei, ob es eine theologische Ökonomie in lutherischer Version geben kann, und wie sie gegebenenfalls zu konstruieren ist. Das zentrale Gelenkstück dafür war die simul iustus et peccator-Struktur und rechtfertigungstheologische Überlegungen. Anhand dieses Forschungszuschnitts zeigte sich, dass eine Integration der klassischen Ökonomie in eine theologische Ökonomie möglich und lutherisch notwendig ist. Zugleich wurde erkennbar, dass die theologische Alternative jeder weltlichen Ökonomie dialektisch gegenübersteht, indem sie gerade nicht im Paradigma des utilitaristischen Tausches verfährt. Während theologische Wirtschaftsethiken von einem gereiften Selbstinteresse oder einer lebensdienlichen Einhegung der Ökonomie sprechen, besteht die Perspektive einer lutherischen Ökonomie in der Anerkennung der grundlegenden Ökonomie des peccators. Die Reaktion darauf besteht nun jedoch nicht in Appellen oder der gesetzlichen Begrenzung der Ökonomie. Eine wesentliche Erkenntnis besteht in der heilvollen Differenz, die den Gerechtfertigten bereits vorgängig trifft. Daraus folgt, dass sich die Beziehung zu dieser alten Ökonomie verändert und eine zwingende Systemlogik unterbrochen wird. Diese Unterbrechung wird nicht durch Appelle ermöglicht, sondern durch die Rechtfertigung. Christlich-ökonomische Akteure sind in der Folge zunächst Adressaten der Kommunikation des Evangeliums. Die Möglichkeitsbedingung einer alternativen Ökonomie wurde ihnen bereits zugeeignet, und die weiteren Schritte sind homiletischer Natur. Eine Doppelnatur des Menschen zeigt sich auch in der experimentellen Wirtschaftsforschung anhand unterschiedlicher Verhaltenstypen. In Gemeingutsituationen lässt sich eine nicht-egoistische und kooperative Präferenz bei Akteuren aufzeigen, die R. A. Klein als homo cooperativus beschreibt.78 Der homo oeconomicus gleicht der selbstbezogenen Verkehrung des menschlichen Verhaltens in der Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz und der homo cooperativus der Überwindung dieser Verkehrung durch die Öffnung hin zu anderen (Gott, Nächster) in der erlösten Existenz.79

Altruistische Handlungen sind empirisch nachweisbar und die Neuroökonomik geht davon aus, dass uneigennütziges Handlung zur (biologischen) Natur des Menschen gehöre. Hier scheinen zwei grundlegende Handlungslogiken auf, die jedoch in ihrer empirischen Grundanlage wenig mit den vorgenannten Unter78 Vgl. Klein 2010, 73 f. Diese Kooperation braucht in den Beispielen jedoch wieder Restriktionen und Gesetze als Ermöglichung der Kooperation. 79 Vgl. ebd., 77 f.

304 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! scheidungen gemeinsam haben. Hier wird aus der Wahrnehmung heraus ontologisch eine Natur des Menschen konstatiert.80 Theologisch hingegen sind mit iustus et peccator Selbstidentifikationen des Menschen angesprochen, die sich nicht als empirisch identifizierbare Verhaltenstypen klassifizieren lassen. Die theologische Doppelbeschreibung des Menschen erfolgt nicht als anthropologische Zuschreibung, sondern als zweifache Identifikation der Lebenswirklichkeit zugleich auf den einzelnen Akteur. Das bestimmt die Perspektive der Glaubenden doppelt und in dieser Hinsicht auch die Handlungen. In der vorfindlichen Realität ist der Tausch präsent, mindestens als symbolischer Tausch ist er beinahe immer identifizierbar. Dabei macht es jedoch einen Unterschied, wie Handlungen gesehen werden und sich selbst verstehen. Im Zeichen des Tausches wird die Kalkulation der realen oder symbolischen Vergeltung Vorrang haben. Im Zeichen der Gabe hingegen ist vom Lohn abzusehen und mit M. Luthers ethischer Leitformel zu verstehen: Der Glaube ist in der Liebe tätig „Gott zum Lobe und dem Nächsten zu Nutz“.81 Die zweifache Perspektive kann damit auch auf die einzelnen Handlungen angewandt werden,82 und dies verändert die Situationsdeutung. Ökonomie lokalisiert den Menschen in bestimmten Situationsdeutungen durch sprachlich kommunizierte stories, die normative Auswirkungen haben. Ähnlich existiert neben der Erzählung des Menschen als Sünder auch die Perspektive des Gerechten, der sich und seine Kontexte in den stories des Evangeliums neu versteht. Aus diesem Theoriesetting ergeben sich interdisziplinäre Verbindungen, die sowohl ökonomische als auch theologische Forschungen zum Thema verbinden können, obwohl in der ökonomischen Theorie des homo oeconomicus diese Deutungsebene ursprünglich nicht angelegt ist. Für diese Variante von Ökonomie ist Wertewandel vernachlässigbar, weil eine Steuerung über Restriktionen effektiver ist. So sind in der Theorie häufig die symbolischen, kulturellen und sozialen Obertöne von Austauschprozessen eliminiert bzw. nicht integriert. Zugleich gilt es in der Praxis, Präferenzen durch Kommunikation zu verändern, 80 Vgl. Klein 2010, 78 f. Auch M. Erlei weist auf das breite Spektrum der Handlungsmotivationen hin (Gerechtigkeit, Identität, Fairness), dabei allerdings immer mit einer impliziten Tauschlogik. Vgl. Erlei 2010, 32. R. A. Klein macht darauf aufmerksam, dass anthropologische Fragen in der Ökonomie stets auf ontologische, biologistische und behavioristische Zuschreibungen hinauslaufen, um stabile Präferenzen als ökonomische Grundlage annehmen zu können. Vgl. Klein 2010, 79. 81 Vgl. Herms 2008, 22. 82 Bei der Einwerbung von Spenden kann das beispielsweise relevant sein: Ein symbolischer Lohn wie Ehre oder Ansehen, kann das gute Werk der Spende vertreiben und auch die Spender, wenn der symbolische Lohn ausbleibt.

6.3 Konstanten und Konsequenzen

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eine corporate identity zu kreieren und die Produkte symbolisch durch Kommunikation aufzuladen. Erzählungen über eine ökonomische Identität spielen auch dabei eine wesentlich Rolle.83 Die Ausweitung der Ökonomie als einheitlicher und umfassender Bezugsrahmen für verschiedene soziale Interaktionen lebt gleichermaßen von der Modellierung jeder Situation als ökonomischer Situation. In der normativen Dimension hat sich die Ökonomie eine Gestaltungsaufgabe gesetzt für die Steuerung des Verhaltens. Dabei ist besonders von Bedeutung, wie über eine Situation gesprochen wird. Einerseits führt die Ausdifferenzierung einer ökonomischen Sphäre zu einer ethischen Legitimierung von markförmigem Handeln, und andererseits greift diese Legitimierung auch in anderen Bereichen Raum. Auf diese Weise werden auch andere Sphären kulturell und sozial entbettet und den ökonomischen Sprachmustern angepasst. Das was Märkte sind, kann mit den Untersuchungen der Wirtschaftssoziologie als Produkt von Theorien verstanden werden, weil häufig eine nicht-deskriptive Sprache eine ökonomische Realität erschafft und damit wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt. Kann die Ethik beispielsweise aus der Perspektive der Ökonomie nur in Vorteilen begründet sein, ist damit eine Erzählung über Akteure aufgerufen, die grundsätzlich die Erwartung von Nachteilen unterstreicht und in der Interaktion von Akteuren um die Vermeidung der gegenseitigen Ausnutzung ringt. Erfolgreich opportunistisches Verhalten würde so jeden sozialen und moralischen Grundkonsens sowie Institutionen nachhaltig erschüttern. Die Interpretation von sozialen Interaktionen als Gefangenendilemma ist jedoch nicht so zwingend, wie es ökonomieimperialistische Tendenzen nahelegen, um Ökonomie als gesamtgesellschaftliche Gestaltungskraft verständlich zu machen. Kognitive Veränderung von Entscheidungssituationen, Neuinterpretation von Rationalität und die kommunikative und kognitive Einbettung von Märkten stehen hier zu Disposition. Auch plurale Akteursrationalitäten bilden sich kommunikativ und in sozialen Kontexten. Werden Ökonomie und Marktsituationen kommuniziert und gedeutet, geht es um die Generierung von Bedeutungen und Diskurse, die Marktsituationen und Wahlhandlungen beeinflussen. Theologische und ökonomische Narrative können ganz unterschiedlich ungewisse Situationen absichern durch geteilte Deutungen, und verschiedene Gründe und 83 Untersuchungen im Rahmen von identity economics dürften im Rahmen einer lutherischen Ökonomie eine fruchtbare Erweiterung sein. Ein typisches Beispiel lautet: Das Gefängnis entwertet das angesammelte Identitätskapital, und damit steht einer kriminellen Karriere nichts mehr im Weg, weil das Selbstbild bereits entwertet ist. Kurz: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Theologisch sind hier sämtliche Vorzeichen zu verändern. Es wird ökonomisch vorausgesetzt wird, dass Identität das individuelle Verhalten beeinflusst. Vgl. Homann und Suchanek 2005, 380.

306 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! Rechtfertigungen für die jeweiligen Interaktionen bereitstellen. Das narrative und imaginative Potential der Theologie ist auch ökonomisch relevant und kann aktiviert werden, um alternative Referenzpunkte für das Verstehen von Situationen anzubieten, um Kooperationsmöglichkeiten statt universaler Konkurrenz zu erkennen. Das switching zwischen verschiedenen Sprachregistern kann Handlungsorientierungen legitimieren oder desavouieren. Wie Entscheidungssituationen erzählt werden, wirkt sich auf die Kriterien aus, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Hier sind es vor allem lokale Einspielungen als kommunikative Ereignisse, die einen temporären Konsens herstellen und Situation determinieren. Zugrunde liegt dabei die These, dass der Sprachraum den Handlungsraum bestimmt.84 Eine lutherische Ökonomie bietet in dieser Hinsicht einen Deutungsrahmen, der aus einer Doppelperspektive besteht. Auf diese Weise werden die üblichen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Ökonomie (nebeneinander, Primat der Ethik / Ökonomie, Synthese) unterlaufen. Theologische und ökonomische Deutung liegen nebeneinander, aber nicht unverbunden, sondern über die kommunikative Dimension im Subjekt verbunden. Das Primat von Theologie und Ökonomie gilt zugleich, allein eine Synthese ist mit dem Ansatz einer lutherischen Ökonomie nicht naheliegend.85 Im Theoriesetting des simul kooperieren Theologie und Ökonomie mit einer theologischen Alternative, die nicht in Konkurrenz stehen kann aufgrund des eschatologischen Vorbehalts, sondern als paradoxe Unterbrechung die Ökonomie des Menschen bereichert und alternative Identitäten aktiviert. In der Verbindung von Theologie und Ökonomie sind damit nicht mehr Räume im Visier, die frei sind vom ökonomischen Sach- und Denkzwang bzw. ein oberhalb der Ökonomie positioniertes ‚gereiftes Eigeninteresse‘. Lutherische Ökonomie stellt konkrete Logiken nebeneinander in einer spannungsvollen Antithese, die einen Verstehensüberschuss für konkrete soziale Interaktionen produziert. Besonders über mentale Modelle scheint hier eine Verbindung zur Neuen Institutionenökonomik gegeben zu sein, in der Theologie auch Deutungsmodelle einbringen kann, die von anderen als ökonomischen Handlungsorientierungen ausgehen. Bereitgestellt wird damit auch eine Perspektive – von Religion auf Ökonomie – , die die Religionswissenschaft nicht leisten kann86 und die über die 84 Vgl. Priddat 2014a, Zitate: 103 und 104. 85 Damit wird auch einem Machtgestus einer primären ökonomischen oder theologischen Deutung gewehrt. 86 In der häufigen Funktionalisierung von Religion zur Auflösung einer kognitiven Dissonanz und der ökonomischen Kontingenzbewältigung bleiben die eigen Ressourcen der Theologie un-

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theologische Ethik hinaus fruchtbar ist. Hier zeigt sich im Rahmen einer lutherischen Ökonomie die Besonderheit, dass allen wirtschaftsethischen Appellen der iustus zuvorkommt. Das heißt, der Adressat einer lutherischen Ökonomie ist bereits vorgängig in den Handlungsraum der Theologie versetzt und ‚spricht‘ als Selbstidentifikation bereits im Sprachregister der Theologie. Das bezieht sich zunächst auf eine doppelte ‚Weltanschauung‘, die sich erst in Einzelaspekten konkretisiert.87 Auf diese Weise wird die Dissonanz von ökonomischen und theologischem Glauben im Subjekt mithilfe des Kernstücks reformatorischer Theologie bearbeitet, das jedoch in hohem Maß anschlussfähig ist für die kommunikative Dimension, in der sich Ökonomie bewusst oder unbewusst befindet. Wesentlich ist dabei die Einsicht, dass das Evangelium nicht in der Ethik aufgeht und Appelle in ökonomischer Dimension erweitert werden müssen. Ist eine lutherische Ökonomie analog zum Evangelium zu konstruieren, dann geht es insbesondere um die Neubelichtung von ökonomischen Situationen, Kontexten und Intentionen. Evangelium informiert nicht über eine Wahrheit, sondern macht diese Wahrheit zur Wirklichkeit der Akteure. Das kann Folgen für das Verstehen und Handeln des Menschen haben. Dabei wird einerseits wie in den katholischen Ansätzen die deskriptive Ebene der Ökonomie hoch geschätzt, andererseits ist die Korrekturfunktion, wie sie häufig in anglikanischen Ansätzen vorkommt, spezifisch lutherisch angewandt, indem das transformative Element genauer bestimmt wird: Es bleibt nicht bei einer Opposition und einer Auswahl an Handlungslogiken, sondern die Alternative im Zeichen der Gabe ist eine paradoxe Möglichkeit, die in aller Freiheit und Kontingenz ein Resultat des Evangeliums sein kann. Durch die Akzentuierung der Möglichkeiten des iustus als ‚außerordentlich‘ hinsichtlich der ökonomischen Logik ist auch die Differenz von ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ gewahrt. Handeln im Zeichen des iustus bleibt zeichenhaft und unverfügbar, wodurch dieser Bereich einer lutherischen Ökonomie nicht selbst wiederum zum Objekt des Glaubens werden kann. Konkret ist eine lutherische Ökonomie grundsätzlich komplementär angelegt, um eine bifokale Wirklichkeitserfassung zu ermöglichen. Das dient der ökonomischen Selbstaufklärung der Theologie und bringt zugleich alternative kommunikative Erschließungen von ökonomischen Situationen in die Ökonomie ein. Erst von diesem methodischen Rahmen erscheint es sinnvoll, spezifische Konzepte zu integrieren, weil nun erst der Adressat und terbestimmt. Ihr Beitrag könnte auch gerade die Dissonanz als Störung des ökonomischen Rades sein und die Ökonomie mit Kontingenz ausstatten. 87 Eine lutherische Ökonomie bezieht sich damit nicht primär auf einzelne ökonomische Fragestellungen, sondern auf die grundlegende Doppelperspektive.

308 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! die Möglichkeitsbedingungen für alternative Deutungsmuster anhand des simul oeconomia et theologia erkennbar sind. Dass dieses vorgängige ‚iustus sein‘ auf aktualisierende Angebote der Selbstidentifikation angewiesen ist, ist eine Frage der Homiletik. F. Lütze hat 2006 eine Untersuchung vorgelegt, die einerseits das Thema Rechtfertigung aufnimmt, und andererseits in einem sprachtheoretischen und theologischen Schnittfeld wiederum anschlussfähig ist für Kommunikation im Schnittfeld von Ökonomie und Theologie. Diese homiletische Untersuchung im Anschluss an das Thema Rechtfertigung stellt die Predigt als Tatgeschehen heraus. Es handelt sich potentiell um wirklichkeitsschaffende Rede mit dem Ereignischarakter der Zueignung.88 Damit sind verbum efficax und kommunikationstheoretische Performativität in einen Zusammenhang gebracht. Zugrunde liegt die These, dass Predigen dem Wesen nach eine sprachliche Form schöpferischen Handelns ist. Es geht F. Lütze „um eine Predigt die zugleich tut, was sie sagt“.89 Predigen ist so intentionsgeleitet, wobei der Prozess von der Entstehung bis zur Rezeption unter der Kontingenz des Heiligen Geistes steht. Dieser Ansatz will nicht im Sinne sprachmagischer Deklarationen – die wiederum mehrheitlich geglaubt werden müssen – verstanden werden, sondern die Predigt schafft Wirklichkeit, indem „sie den Hörer zur Kooperation herausfordert, Räume eröffnet, in denen sich der Hörer als Anderer, als ‚neue Kreatur‘ erfahren kann“.90 Das intentionale Moment der Predigt macht dabei nur wahrscheinlich, dass die Predigt im Akt der Rezeption wirklichkeitsverändernd wirksam sein kann. Der Predigt ist sprachtheoretisch durchaus zuzutrauen, bei aller empirischer Kontingenz, dass sie Wirklichkeit nicht nur darstellt, sondern auch schaffen kann.91 Das entspricht wiederum in besonderer Weise dem Evangelium, das nicht über eine Wahrheit informiert, sondern: „Es macht die Wahrheit, von der es 88 Wenn ein Vorgang zum Ereignis für den Hörer wird, dann ist Gott am Werk. Vgl. Lütze 2006, 42. Ein Überblick über die zentralen Thesen findet sich ebd., 65. 89 Predigen im Präsens, nicht im Perfekt vergangener Heilstaten oder im Futur eschatologischer Erlösung. Vgl. ebd., 25. 90 Kurz: „Rechtfertigende Predigt statt eine Predigt über Rechtfertigung“. Vgl. ebd., 45 und 55. Das zugrundeliegende Rechtfertigungsverständnis bearbeitet die forensische Dimension und bezieht sich auf die incurvatio als ‚Spiel ohne Ende‘. 91 Es gibt keine eigene Klasse religiöser Sprechakte. Verbindungsmöglichkeiten zur Kommunikation einer Unternehmenskultur, Werbung und die symbolische Aufladung von Produkten liegen auf der Hand. Vgl. ebd., 87 und 126 f. F. Lütze untersucht ganze Texte, keine Sätze auf rechtfertigende Muster, die aus Unterbrechen (Gesetz) und Eröffnen (Evangelium) bestehen. Für die ‚Behandlung‘ der incurvatio eignen sich besonders Witze in ihrer paradoxen Dimension. Vgl. ebd., 129 und 209.

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spricht, zur Wirklichkeit seiner Hörer.“92 Mit Appellen gerate die Predigt auf die Metaebene, und die Rechtfertigung wird zum Objekt und als Information zugleich dem Hörer verweigert.93 Hinsichtlich der Logik des Evangelium verhindert aufforderndes Reden geradezu eine sprachliche Durchführung, d. h. die Zueignung einer neuen in Gott gegründeten Identität. Die sprachliche Durchführung hingegen antizipiert das Leben im Horizont des Glaubens. In der Terminologie dieser Arbeit ist damit die kreatorische Kraft benannt, wenn sich der peccator als iustus imaginiert. Die kreative Potenz liegt dabei in der Rezeption, in der Selbstidentifikation als Annahme der zugeeigneten Freiheit von der ökonomischen incurvatio. 94 In ökonomischer Hinsicht ein iustus sein mit der Entfaltung alternativer und aus der ökonomischen Perspektive paradoxer Handlungslogiken kann als produktive Unterstellung und kontrafaktische Zuschreibung Konsequenzen haben.95 Erst an dieser Stelle – nach der Rechtfertigungspredigt – erscheint es naheliegend, die ökonomischen Konsequenzen zu spezifizieren. Der Rezipient erkennt sich im Möglichkeitsrahmen alternativer Deutungsmuster, und hier können verschiedene Konzepte in einer analogen Kommunikationsform integriert werden. Die exemplarischen theologischen Ökonomien haben hier verschiedene Muster aufgezeigt, die teilweise Ähnlichkeiten aufweisen und inhaltlich verbunden werden können. D. Meeks’ transformativer Ansatz96 ging davon aus, dass alternative Konzepte und Metaphern bereits Veränderungen zur Folge haben. Hier standen die Neudeutung von Theologie und Ökonomie im Vordergrund. Eine praktische Dimension dafür wird jedoch erst durch die Zueignung eines neuen Selbstverständnisses produktiv. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie gibt es gerade dafür homiletische Einsichten. Die Kriterien der Befreiung von ökonomischen Machtfiguren und die Perspektive ‚von unten‘, von den ökonomischen Verlierern kann als inhaltliche Dimension einer lutherischen Ökonomie verstanden werden. Dieser Exodus 92 Vgl. Lütze 2006, 211. 93 Vgl. ebd., 211 und 218. In gleicher Weise erscheinen die Appelle der theologischen Wirtschaftsethik häufig als fruchtlose Informationen. 94 Vgl. ebd., 281 f. 95 Vgl. ebd., 288. Auch F. Lütze bezieht sich auf Refraiming als Umdeutung des Bezugsrahmens. Mit Theologie und Ökonomie bzw. Gesetz und Evangelium sind zwei konträre Punkte benannt, die in einem Verstehenszirkel zwei Aspekte an einem Subjekt zur Geltung bringen. ebd., 67. 96 Auch D. Meeks geht davon aus, dass der Glaube die Handlungen verändert. Vgl. Meeks 1989, 42. Darum ist die Rede von Gott zentral, weil sich hieraus Konsequenzen ergeben, wie sich in der Untersuchung zur Reformation gezeigt hat. F.-W. Marquardt kontrastiert: „Hier stehen sich […] zwei Welten, Totalitäten, Systeme des Redens von Gott gegenüber: die Theologie des ewig reichen Gottes und die Theologie des Rechner- und Raffergottes“ (O non Theologi, sed Plutologi – Ach, nicht Theologen, sondern Reichtumswissenschaftler). Vgl. Marquardt 1983, 193.

310 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! aus einer ökonomischen Herrschaft geht im Rahmen einer lutherischen Ökonomie jedoch nicht mit einem Primat der Theologie einher, sondern nur in der Zweiheit von Ökonomie und Theologie. Die Zentralstellung der Gabe bei K. Tanner führt zu einer radikalen christlichen Ökonomie, wie sie auch hier aus der Reformation als Dekommerzialisierung erarbeitet wurde. Gottes bedingungsloses Geben auf die sozialen Strukturen als imitatio zu legen, dreht die ökonomischen Grundmuster gänzlich um. Diesen Ansatz als Korrektiv zur Ökonomie zu verstehen unterschreitet den Anspruch K. Tanners, die Ökonomie von innen zu verändern. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie wird ersichtlich, dass die christlichen Akteure bereits verändert sind und in den Möglichkeitsraum der Imitation des göttlichen Gebens versetzt sind. Bei K. Tanner wirkten die veränderten Strukturen zurück auf die Akteure. Lutherisch wird hingegen jedem Akteur in der Folge der Rechtfertigung unterstellt, dass er nicht im ökonomischen System gegen die Systemlogik handeln muss, sondern neben der ökonomischen Logik eine differierende Handlungsoption außerhalb der Ökonomie zur Verfügung hat. Diese Handlungsperspektive steht gerade in äußerer Polarität zur Ökonomie. Die Idee, Theologie als Ökonomie zu entdecken entspricht dem Grundgedanken einer lutherischen Ökonomie in paradoxer Hinsicht: Die Selbstidentifikation, ein von ökonomischer Herrschaft befreiter und zur Gabe bereiter Mensch zu sein, ist auf den permanenten Transitus vom peccator zum iustus angewiesen. Diese Transformation kann homiletisch wahrscheinlich gemacht werden, und die ökonomische Dimension ist häufig mitgesetzt, wenn theologische Aussagen eine ökonomische Umwelt kommentieren.97 Dafür könnte auch eine ‚Hausordnung der Tora‘ als Imaginationsraum gedacht werden, der – ohne gesetzliche Sprachmuster – das Wirken der ‚neuen Kreatur‘ kommentiert. Dabei sind Regeln im Sinne von Appellen an sich unproduktiv, jedoch können solche biblischen Bilder ökonomisch fruchtbar sein. Wird beispielsweise das Bundesrecht als Begrenzung der Eigeninteressen verstanden, so scheint das weder dem iustus zu entsprechen, noch der homiletischen Unterscheidung von ‚Unterbrechen‘ (Gesetz) und ‚Eröffnen‘ (Evangelium) gerecht zu werden. Auch die Geltung des Rechts sowie die Motivation stehen zur Disposition. Für den Gerechtfertigten kann jedoch das Bild des Bundes einen alternativen Handlungsraum eröffnen, wie sich am Beispiel der Unterschiedlichen Deutung der Ehe zeigen ließ.98 97 Das Abendmahl ist dafür häufig beispielgebend, weil von den theologischen Aussagen her eine alternative Ökonomie der Tischgemeinschaft erschlossen werden kann. Vgl. Tanner 2005, XII und 1 f. und Cavanaugh 2008, 54. 98 Vgl. dazu den Exkurs: Marriage Wars auf S. 183. Auch zu nennen sind die unterschiedlichen Identifikationen ‚Bürger‘, ‚Kunde‘ und ‚Geschöpf‘.

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Alternative stories sind besonders mikroökonomisch am Ort des Begehrens zu identifizieren. Ökonomisch sind das Wecken von Begehren, und ein Konsum der Identität stiftet wirksame Kommunikationsmuster. Das τέλος des Begehrens steht dabei in der Regel in einer theologischen Mikroökonomie zur Frage. Der Bezug auf materiellen Konsum wird von A. Yuengert als Abirren der Präferenzen qualifiziert.99 In einer lutherischen Ökonomie gilt diese Qualifizierung ebenfalls, wird aber durch das simul um konträre Präferenzen erweitert, die auf Seiten des iustus eine Präferenzordnung wie im status originis erwarten lassen. Die Perspektive auf christliche Akteure bleibt damit gerade nicht in der ‚Behandlung‘ verfehlter Präferenzordnungen behaftet, sondern die produktive Unterstellung einer heilvollen Differenz schafft die Möglichkeit zu alternativen ökonomischen Verständnissen. Auch für D. Bell formen beliefs das Begehren: Werden Kontexte verändert, so ändere sich auch das Begehren. In einer lutherischen Ökonomie hingegen ist jedoch die Perspektive auf Situationen und Kontexte im Licht des Glaubens durch den Akteur ein zentraler Ausgangspunkt für ein verändertes Begehren. Eine Heilung und Schulung des Begehrens – wie bei D. Bell angedacht – kann in Verbindung gebracht werden mit der unabgeschlossenen Bewegung vom peccator zum iustus. Zugleich ist trotz dieser Tendenz die Gabe als imitatio Christi für den gerechtfertigten Menschen möglich. Der Einwand einer nicht selbst zu realisierenden theologischen Ökonomie bleibt dabei auch für eine lutherische Ökonomie bestehen. Zeichenhafte Handlungen einer bereits nahen gottesreichanaloge Ökonomie können in dieser Hinsicht gedacht werden, nicht aber eine lutherische Ökonomie als Zielprogramm und Handlungsfolie. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie ist das auffälligste Merkmal die Integration der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie. U. Duchrow sah den status confessionis betroffen und drängte auf Systemkritik und eine Herrschaftswechsel. Letzterer ist jedoch im christlichen Akteur nach lutherischer Einsicht bereits vorausgesetzt und vollzogen, trotz der gleichzeitigen Anerkennung der ökonomischen Logik. Erst aus dieser Perspektive kann eine transformative Dimension und Motivation erschlossen werden, wenn vorausgesetzt wird, dass der Glaube sich auf der Handlungsebene auswirkt. Das ökonomische Denken in der christlichen Ökonomie und Theologie wird so durch die konträre Punkte des simul charakterisiert, sodass immer bifokal die Alternative potentiell mitgesetzt ist. Die Wahrnehmung dessen, ist bereits eine Diskursbereicherung. Wie der theologische Pol dieser bifokalen Perspektive dargestellt werden kann, zeigte sich exegetisch, historisch und systematisch. Neutestamentlich ist hier vor allem der neu geprägte soziale Körper Ekklesia zu nennen, in dem die 99 Vgl. Yuengert 2009, 36 und 48.

312 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! vorherrschenden sozialen Voraussetzungen gerade nicht gelten, sondern eine Antikonzeption von christlicher Gemeinschaft sich über soziale und ökonomische Schranken hinwegsetzt. Glaube weist sich in diesem Binnenkreis durch eine spezifische soziale Kommunikation und eine veränderte Weltdeutung aus. Dem folgen veränderte Handlungsmuster, die sich auch ökonomisch auswirken. Das Abendmahl als theologischer Kommentar und die veränderte soziale Situation beim gemeinsamen Mahl geben deutliche Hinweise darauf, dass die Theologie die Sozialität prägte. Auch die paulinische Mission ohne Unterhaltsforderungen als realökonomischer Niederschlag des geschenkten Evangeliums ist ein Hinweis auf die veränderte ökonomische Situationsdeutung. Die differenzierten Bedeutungsebenen von Transaktionen wurden anhand der Kollekte exemplarisch erarbeitet. Hier zeigte sich eine Verschränkung von geistlichen und materiellen Gaben, insbesondere aber auch, dass finanzielle Transaktionen frei von typisch ökonomischen Kalkülen aufgrund theologischer Einsichten denkbar sind. Der Bezug zur Gnade Gottes setzte die Transaktion in einen spezifischen Verständnisrahmen, der Ausdruck der paulinischen Theologie war. Motivation und Zweck wurden so frei von Selbstbezug neu konfiguriert, weil derartige Sammlungen in der Regel nur für den unmittelbaren Binnenkreis möglich waren. Die Kollekte als Weggabe von Ressourcen zeigt kaum eine direkte Reziprozität zwischen den Gemeinden und Jerusalem, in ihrer Konstruktion jedoch eine Struktur die vom einem ersten Geber aller Gaben ausgeht und als Nutznießer Jerusalem intendiert. Die unbedingte Zuwendung der Kollekte ging einher mit der Kommunikation im Paradigma des Überflusses100 und der Freiheit zur Kollektengabe. In den paulinischen Gemeinden lässt sich daher eine ökonomische Struktur und Motivation entdecken, deren konstitutiver Grund die Gnade Gottes ist. Im Ideal scheint damit eine Ökonomie der freiwilligen Redistribution auf, die durch die Gnade kulturell präformierte Handlungsmuster und Normen verändert. Die Merkantilisierung der Volksfrömmigkeit zu M. Luthers Zeit zeigt, dass ökonomische Vorstellungen auch auf theologische Konzeptionen wirken können. Purgatorium und thesaurus ecclesiae sind in Anlehnung an ökonomische Muster gestaltet und versuchen zugleich ein theologisches Moment zu bewahren. Die Reformation als Dekommerzialisierung zu verstehen nimmt diese Mischformen wieder auseinander und bezieht sie als konträre Pole aufeinander. Die Charakteristika einer christlichen Ökonomie – z. B. jedermann umsonst zu geben, der es bedarf – entsprechen einer Logik der bedingungslosen Hingabe. Als 100 Überfluss unterscheidet sich von der Idee des Schlaraffenlandes: Letzteres ist antiökonomisch in einer Weise, die keine Zukunft und kein Begehren mehr hat. Hier gibt es nur noch Hoffnungslosigkeit.

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solche sind sie weder praktikabel noch realistisch, und die Herkunft dieser potentiellen Handlungsweisen stammt aus dem Glauben, wodurch sie gerade kein Strukturelement einer Gesellschaft sein können. Andernfalls würde das Evangelium gesetzlich und das simul iustus et peccator würde kaum ernstgenommen. Für M. Beyer ist darum die Kommunikation des Evangeliums das wirksamste Mittel, um Menschen mit Freiheit zur Alternative auszustatten.101 Auf diese Weise wird der ökonomische Determinismus mit Kontingenz ausgestattet, und das ‚Gute‘ bleibt in der ökonomischen Kommunikation zugriffsfähig. Dieser Zugriff erfolgt jedoch durch die Polarität von Theologie und Ökonomie kommunikativ „nur in Form unentscheidbarer paradoxer Antinomien“.102 Gerade das scheint im Anschluss an das simul iustus et peccator eine kennzeichnende Perspektive lutherischer Ökonomie zu sein: Das Oszillieren zwischen den Oppositionen der ökonomischen Deutung und einer Handlungslogik im Geiste Christi. Diese Distanz und damit auch die Freiheit von einem ökonomischen Systemzwang für soziale Kontexte bzw. der präskriptiven Dimension bedürfen der Differenz im Akteur selbst, um produktiv sein zu können. Die Wandlung von einer ethischen Frage zu einer systematisch-theologischen Begründung zeigt in der Konsequenz die Möglichkeitsbedingungen für eine lutherische Ökonomie an: Der iustus wird grundsätzlich fremd begründet als ‚in Christus sein‘. Erst diese Inkongruenz ermöglicht die Gabe frei von instrumenteller Reziprozität.103 Die so unterstellten Möglichkeiten bleiben in den einzelnen Phänomenen nachlaufende Darstellungen des Rechtfertigungsgeschehens und eines Akteurs, dem Eigen- durch Nächstennutz ersetzt wurde.104 Insofern sind gute Gaben erst nach einer Befreiung vom permanenten Selbstbezug als tatsächlich gute Gaben und Handlungen denkbar. Aber auch das muss noch einmal durch das simul von alter und neuer Handlungslogik differenziert werden, und selbst hinsichtlich einzelner Werke sind bene facere und peccare gleichzeitige Bestimmungen der Handlungsorientierung.105 Ohne den gegenstrebigen Pol aus der Perspektive einer lutherischen Ökonomie würde jedoch diese fragile Dimension des iustus als Möglichkeitshorizont verloren gehen. Aus der Untersuchung der Rechtfertigungslehre ergaben sich die doppelten Intentionalitäten des Christen, wie sie im Widerstreit stehen und realistischen Anhalt haben könnten. Theologisch ist die Zwiespältigkeit für M. Luther bereits ein Heilsstand, bei dem das Verhältnis zur Sünde vom peccatum 101 102 103 104 105

Vgl. Beyer 2002, 91 f. Vgl. Wieland 1991, 278. Vgl. Barclay 2015, 116. Vgl. auch Wannenwetsch 2008, 124. R. Rieger spricht von repraesentatio. Vgl. Rieger 2007b, 306. Vgl. Christe 2014, 265.

314 | 6 Lutherische Theologische Ökonomie?! regnans zum peccatum regnatum verändert wird. Vergleichbar kann das simul als Befreiung von der determinierenden ökonomischen Systemlogik in sozialen Bereichen verstanden werden. Ökonomische Präskriptivität wird durch die Differenz im Akteur zur beherrschten Logik aus der Perspektive des Gerechtfertigten. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie gilt damit sowohl die Anerkennung der deskriptiven Perspektive der Ökonomie, als auch die Stärkung des Widerstreits durch die Imagination der Adressaten im Möglichkeitsraum einer evangelischen Handlungslogik, das Refraiming ökonomisch geprägter sozialer Situationen und die inhaltliche Stärkung der christlichen Identität. *** Das was als lutherische Ökonomie gelten kann, lässt sich als eine konfessionell geprägte Perspektive auf Ökonomie darstellen. Diese Sicht auf das Verhältnis von Theologie und Ökonomie lässt sich als Meta-Narration verstehen, die verschiedene stories für den Menschen einbindet und als doppelte Identifikationsfigur anbietet. Damit wird nicht etwas Religiöses in die Ökonomie eingeführt, sondern die Perspektive auf den ökonomische Akteur wird erweitert durch die gegenpolige story des gerechtfertigten Menschen. Das Andere der menschlichen Möglichkeiten außerhalb der ökonomischen Systemlogik kommt damit in ein Blickfeld, das systematisch differenziert durchdacht ist. Die deskriptive Ebene des homo oeconomicus findet darin ihre spezifische Anerkennung als grundlegendes Prinzip, das jedoch allein auch ökonomisch unvollständig ist. Diese Perspektive auf soziale Interaktionen hat ihren empirischen Wahrheitsgehalt, wird aber unter der Hand normativ, sobald es die einzige Deutungsmöglichkeit von im weitesten Sinn ökonomischen Situationen bleibt. Ökonomische Theorien werden so zu einer intersubjektiven Bestimmtheit. Im Rahmen einer lutherischen Ökonomie wird durch die Qualifikation dieser Perspektive als Prinzip des ‚alten Menschen‘ diese Wirklichkeit anerkannt, aber den präskriptiven Elementen zugleich widersprochen. Evangelium ist hier der Zuspruch der Möglichkeit des anders als ökonomischen Verstehens und Handelns. Theorieeffekte und ökonomieimperialistische Tendenzen, kommunikativ generierte (Meta-)Präferenzen, symbolische Konstruktionen in der Ökonomie, kommunizierte Konsumidentitäten, Glaubensstrukturen in der Ökonomie und das Design von Unternehmenskulturen neben vielen weiteren Beispielen sind Bereiche, für die Theologie sowohl eine hochgradig differenzierte Expertise als auch eine eigenständige Perspektive auf ökonomische Subjekte bieten kann. In lutherischer Prägung Ökonomie zu denken, heißt im Anschuss an die Rechtfertigung und das simul iustus et peccator ein Höchstmaß an Realismus und ein Höchstmaß an Idealismus bifokal zusammenzudenken und so unterschiedliche Akteursrationalitäten zu unterstellen. Die auf diese Weise immer mitgesetzte

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paradoxe Alternative befreit von Determinismus und einer alternativlosen ökonomischen Systemlogik. Transformativ ist das in homiletischer Hinsicht, nicht als Anspruch und Appell, sondern als Zuspruch der vorgängigen Befreiung von ökonomischer Herrschaft und der Bereicherung um alternative Interaktionsdeutungen.106

106 Theologisch konsequent ist der Grenzbereich der Subjekte einer lutherischen Ökonomie mit den Gerechtfertigten definiert. Über die konkreten Adressaten auf die das Evangelium wirkt ist damit nichts gesagt. Als Perspektive aus dem Glauben auf Gottes Handeln durch Menschen mag dieser Rahmen allerdings weiter gefasst sein. Als ‚Objekte‘ wiederum kommen ebenfalls ‚Brüder und Schwestern im Glauben‘ in Betracht, wobei klassisch der Nächste durch die Not zum Bruder wird.

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Stichwortverzeichnis Abendmahl 123, 126, 132, 134, 135, 162, 172, 179, 312 Almosen 198, 199, 202, 203, 228 Altruismus 42, 134, 184, 246, 303 Aristoteles 6, 7 Armut 140, 193, 196, 204–206, 214–216, 233, 300 Autarkie 7, 24, 126 Begehren 128, 154, 158, 159, 220, 263, 311 Belief system 32–34, 54, 58, 234 Benefit exchange 199, 212, 228 Bifokalität 298, 302, 307, 311, 314 Bund 139, 140, 145, 147–149, 184, 310 Chrematistik 6, 7, 144, 229 Corporate Identity 63, 66 Dekommerzialisierung 231, 245, 310 Economic theology 84, 101, 122, 282 Eigeninteresse 21, 44 Eigenlogik 91, 168, 236 Eigennutz 86, 116, 136, 215, 246, 263, 275, 284 Eigentum 126, 127, 129, 150, 209, 213 Ekklesia 187, 188, 311 Ekklesiologie 67, 295 Ethik 8, 21, 26, 40, 41, 43, 138, 144, 158, 170 Feld 156 Feldtheorie 132, 174 Framing 57, 185, 314 Freiheit 216, 251, 260, 263 Freiheitsschrift 235, 258, 259 Gabe 82, 125, 133, 134, 164, 165, 179, 225, 246, 264, 273, 289, 291 Gesetz und Evangelium 239, 252, 254, 260 Gnade 123 Homo oeconomicus 8, 11, 15, 17, 19, 22, 27, 48, 54, 88, 163, 166, 181, 284, 295

Identität 33, 34, 119, 142, 157, 160, 182, 227, 251, 265, 291, 297, 299 Idiomenkommunikation 277, 278, 301 Individualismus 21, 45, 47, 79, 115, 121 Institutionen 13, 35, 42, 44, 110 Interaktionsökonomik 17, 18 Kapitalismus 83, 84, 87, 126, 133, 163 Kirche 61, 62, 64, 67, 76, 81, 126, 129, 131 Knappheit 9, 10, 19, 74, 132, 161, 165, 179, 217–220 Kollekte 154, 191, 201, 312 Kommunikation 28–31, 35, 36, 118, 189, 285, 290, 304, 312 Konkupiszenz 269, 270, 272 Konsum 50, 126, 157, 159, 161, 162, 311 Kulturökonomie 48 Kulturökonomik 46 Kybernetik 61, 65, 70, 77 Markt 12, 14, 16, 20–24, 27, 36, 45, 51, 71, 73, 75, 77, 78, 85, 93, 123, 129, 131, 162, 241, 305 Marktsoziologie 25 Marktwirtschaft 40 Mentales Modell 34, 35, 47, 53, 54, 57, 86, 285, 306 Meta-Präferenzen 32, 34 Mikroökonomie 161, 311 Mikroökonomik 22 Moral 8, 30–32, 36, 45, 80 Narrationen 305 Neoklassik 11, 18, 52, 101, 112, 118, 167 Netzwerk 16, 24, 25 Neue Institutionenökonomik 11, 13, 14, 16–18, 51, 57, 306 Normen 43, 44 Nutzenmaximierung 9, 11, 19, 74, 87, 88, 132, 184, 215, 232 Opportunismus 19, 44 Organisation 73 Ökonomie – Anglikanisch 107

340 | Stichwortverzeichnis

– Christlich 104, 113–115 – Islam 103 – Katholisch 106 – Orthodox 108 – Reformiert 109 Paulus 153 Performativität 91, 93, 117, 301, 302, 308 Predigt 240, 265, 285, 299, 300, 302, 308, 309 Providentia 85, 86 Präferenzen 9, 10, 12, 26, 34, 159, 160, 182, 255, 285, 311 Purgatorium 50, 233, 312 Rationalität 10, 13, 27, 28, 31, 52, 89, 111, 275 Rechtfertigung 168, 237, 248, 249, 263, 270, 287 Reformation 231, 235, 245, 310 Reich Gottes 153, 164, 166, 244, 287, 288, 297, 311 Religionsökonomie 46, 48, 51, 59, 81, 82, 84, 101, 181 Religiöse Ökonomie 84 Ressourcen 30, 71, 217 Restriktionen 9, 13, 41, 43, 189 Reziprozität 7, 23, 189, 202, 206, 212, 246–248, 264, 274

Sabbat 141, 142, 152, 155 Schöpfung 122, 124, 248, 292, 298 Simul iustus et peccator 117, 189, 231, 250, 255, 268, 271, 280, 298, 313, 314 Situationstheorie 19 Sozialethik 41, 44, 107, 138 Ständelehre 257, 258 Theological economy 101, 116, 132, 145, 162, 186, 281 Theorieeffekte 88, 90–92, 186, 282, 285, 294, 314 Thesaurus ecclesiae 49, 50, 80, 234, 312 Transaktionskosten 11, 16, 52, 80 Trinität 121, 124, 127, 129, 134, 162, 164 Volkskirche 66, 70 Wirtschaftsethik 18, 38–40, 44, 107, 113, 117, 138, 139, 143, 145, 167, 171, 181, 236, 238 Wirtschaftssoziologie 17, 23, 25, 94 Wort Gottes 252, 253, 302 Wucher 232, 234 Zwei-Reiche-Lehre 167, 170, 251, 255, 257, 258