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German Pages 205 [208] Year 1989
REIHE DER VILLA VIGONI Deutsch-italienische Studien Herausgegeben vom Verein Villa Vigoni e.V.
Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland Traditionen und aktuelle Probleme
Herausgegeben von Frank Baasner
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
Gedruckt mit Unterstützung des Vereins Villa Vigoni e.V.
Übersetzung aus dem Italienischen von Ursula Wagner-Kuon
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Literaturgeschichtsschreibung in Italien und Deutschland : Traditionen und aktuelle Probleme / hrsg. von Frank Baasner. Tübingen : Niemeyer, 1989 (Reihe der Villa Vigoni ; Bd. 2) NE: Baasner, Frank [Hrsg.]; Villa Vigoni (Menaggio): Reihe der Villa
ISBN 3-484-67002-9
ISSN 0936-8965
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Druckerei Maisch + Queck, Gerlingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Vorwort
Allen methodologischen Unkenrufen zum Trotz, ja geradezu in absichtlichem Widerspruch zu ihrer theoretischen Unmöglichkeit, erfreut sich die Literaturgeschichtsschreibung einer neuen Blüte. Zunehmender Pragmatismus und tatsächlicher Bedarf führen in diesen Jahren zu einer Fülle von literarhistorischen Projekten aller Neuphilologien und erfreulicherweise bleiben diese Unternehmungen nicht, wie viele ihrer unmittelbaren Vorgänger, im Keime stecken. Ist für die bundesdeutsche Hochschulsituation eine solche Tendenzwende der Erwähnung wert, so stellt sich in Italien die literaturgeschichtliche Praxis weniger als Comeback denn als ungebrochene, sehr lebendige und höchst innovative Tradition dar. Die Gegenüberstellung zweier nationaler Situationen im Bereich der Literaturgeschichtsschreibung erweist sich als fruchtbar, weil die Relativität der jeweiligen nationalen Diskussion und ihre Abhängigkeit von außer-wissenschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich werden. In den hier versammelten Beiträgen, die auf ein Kolloquium in der Villa Vigoni im Mai 1988 zurückgehen, läßt sich eine paradoxe Situation erkennen. Die theoretischen Überlegungen, Reserven und Prämissen heutiger Literaturgeschichtsschreibung verlaufen in beiden Ländern fast völlig parallel. Gemeinsame Traditionen des 19. Jahrhunderts bieten Modelle von Literaturgeschichte an, die ihren Reiz nicht verloren und doch den methodischen Ansprüchen der 70er Jahre unseres Jahrhunderts nicht standgehalten haben. Demgegenüber steht die unübersehbare Tatsache, daß die praktische Durchführung einer Literaturgeschichte (gleich welcher Ausrichtung, ob Werk eines Einzelnen oder einer Forschergruppe, ob in Form einer fortlaufenden Narration oder in der einer diskontinuierlichen Darbietung) für italienische Gelehrte offenbar kein sonderliches Problem darstellt. Deutsche Unternehmungen hingegen sind selten von Erfolg gekrönt gewesen - die eingangs erwähnte Tendenzwende betrifft wirklich erst die allerletzten Jahre. Die ausführlichen Diskussionen konnten diesen Sachverhalt erklären helfen. Eine zentralistische Schul- und Hochschulpolitik versus Kulturhoheit der Länder; damit einhergehender Absatzmarkt versus Zerstückelung des potentiellen Marktes; verlegerische Möglichkeiten ganz unterschiedlicher Größenordnung. Abgesehen von diesen - sicher nicht zu unterschätzenden - ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen bot sich auch auf geschichtstheoretischer Ebene ein unterschiedliches Bild: Den italienischen Literaturwissenschaftlern stand mit Gramscis Konzept einer Geschichte der Intellektuellen ein Modell zur Verfügung,
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Vorwort
das für die Ausarbeitung einer modernen Literaturgeschichte genügend Spielraum ließ. Deutsche Literarhistoriker hingegen fanden erst verhältnismäßig spät in der Sozialgeschichte der Literatur einen - dehnbaren - gemeinsamen Nenner. Dies sind, in gewiß sträflicher Verknappung, nur einige der Ergebnisse des deutsch-italienischen Treffens, die in teils hitzigen Debatten im Anschluß an die Vorträge erarbeitet wurden. Ohne die besondere Atmosphäre der Villa Vigoni, ohne die Geduld und Hilfsbereitschaft der Leitung und des Personals des Kulturzentrums hätte die Tagung sicher nicht so erfreulich verlaufen können. Besonderer Dank gilt den beiden Übersetzerinnen, Dörte Schmidt und Clara Hösle, die selbst in der lebendigsten Diskussion nie den Überblick verloren. Die Vorbereitung der Tagung von Tübingen aus wurde vom Istituto di Cultura Italiana in Stuttgart und von der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen unterstützt, auch ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Die mühevolle Übersetzung der italienischen Beiträge besorgte Ursula Wagner-Kuon. F. B.
Inhaltsverzeichnis
Frank Baasner (Tübingen): Deutsche Geschichten der italienischen Literatur. Ein historischer Abriß . .
1
Remo Ceserani (Genua): Der Literarhistoriker bei der Arbeit: Ein Beispiel
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Paolo Chiarini (Rom): Der »verborgene« Text. Überlegungen zu einigen hermeneutischen Hypothesen
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Jürgen Fohrmann (Bielefeld): Geschichte, Nation, Literaturgeschichte
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Gianni Grana (Rom): Literaturgeschichte und/oder Literaturwissenschaft? Die Mythisierung der Rezeption
60
Peter Kuon (Erlangen): Gattungsgeschich te, Literaturgeschichte, ästhetische Erfahrung. Zur Aktualität Benedetto Croces in Deutschland (und anderswo)
85
Franco Meregalli (Venedig): Über die literarhistorische Epocheneinteilung
106
Mario Pazzaglia (Bologna): Überlegungen zur gegenwärtigen Literaturgeschichtsschreibung in Italien . . 114 Giuseppe Petronio (Rom): Geschichtlichkeit der Literatur und Literaturgeschichte
133
Ulrich Schulz-Buschhaus (Graz): De Sanctis und Croce: Geschichte oder Enzyklopädie der Literatur
145
Maria Assunta del Torre (Mailand): Philosophie und Kultur in der italienischen Philosophiegeschichtsschreibung der Nachkriegszeit
158
Vili
Inhalt
Wilhelm Voßkamp (Köln): Theorien und Probleme gegenwärtiger Literaturgeschichtsschreibung Ulrich Wyss (Erlangen): Die Literatur und ihr Schatten
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Frank
Baasner
(Tübingen)
Deutsche Geschichten der italienischen Literatur Ein historischer A b r i ß
Zum Bildungsbestand jeder europäischen Nation gehört die Kenntnis der eigenen Literaturgeschichte. Aber auch die Kultur anderer Nationen kann bei der Stilisierung der eigenen literarisch-nationalen Vergangenheit verschiedene Funktionen erfüllen, sei es als Konkurrent, als Vorgänger oder als Kontrastfolie. Auf jeden Fall ist die Literaturgeschichte einer fremden Sprachgemeinschaft Teil des historischen Wissens über eine Kultur, die eben nicht die eigene ist und mit der nicht im selben Maße Identifikation zu erwarten ist. Ich möchte daher in den folgenden Überlegungen die Geschichte der italienischen Literatur, wie sie von Deutschen gedacht und geschrieben wurde, in zweierlei Hinsicht analysieren: Als Teil einer wissenschaftlichen Entwicklung, und als Teil der bestehenden bzw. aufeinander folgenden Fremdbilder. 1 Wer sich heute als historisch Interessierter oder als des Italienischen nicht mächtiger Literaturwissenschaftler mehr als einen oberflächlichen Eindruck von der Geschichte der italienischen Literatur verschaffen möchte, der sieht sich vor unerwartete Probleme gestellt. Im Kontrast zur Fülle an neueren Monographien zu einzelnen Werken, Autoren oder, seltener schon, Epochen oder Gattungen, nimmt sich die kleine Schar von Literaturgeschichten eher dürftig aus. Ganze drei Darstellungen der italienischen Literaturgeschichte sind in der Nachkriegszeit in Deutschland erschienen - wobei eine von ihnen mehr schlecht als recht aus dem Italienischen übersetzt ist. 2
1
Mit den gegenseitigen Klischees von Italienern und Deutschen in der Literatur hat sich vor allem Horst Rüdiger beschäftigt: Literarisches Klischee und lebendige Erfahrung. Über das Bild des Deutschen in der italienischen Literatur und des Italieners in der deutschen Literatur, Düsseldorf 1970; Wilhelm Emrich: »Das Bild Italiens in der deutschen Dichtung«, in: Studien zur Deutsch-Italienischen Geistesgeschichte, Köln 1959, S. 2 1 - 4 5 . Unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten kommt Giovanni Getto in seiner Storia delle storie letterarie, Milano 1942, auf die wichtigsten deutschen Geschichten der italienischen Literatur zu sprechen, so über Bouterwek 168ff., Gaspary 3 6 8 - 3 7 1 usw.
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Es handelt sich um Rudolf Palgen: Geschichte der italienischen Literatur, 1949; die aus dem Italienischen übersetzte Darstellung von G. Carsaniga 1970 sowie um Willi Wittschiers Einführung Die italienische Literatur, 1977, 2 1984. 1900 erschien die sehr erfolgreiche aber knappe Geschichte der italienischen Literatur von Vossler, die 1927 in die vierte Auflage ging. Im Gegensatz hierzu siehe die bedeutenden Geschichten einer Gattung (etwa Hugo Friedrichs Epochen der italienischen Lyrik, 1964) oder einer Epoche (aus neuester Zeit August Bucks Humanismus, 1987).
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Die magere Ausbeute an Literaturgeschichten deutscher Sprache mag durch geringe Präsenz des Italienischen an Schulen und Hochschulen mitbedingt sein, obwohl die Anzahl derer, die Italienisch auf dem Gymnasium wählen und derer, die Italienisch innerhalb der Romanistik den Vorzug geben, stetig im Steigen begriffen ist. 3 Vor allem aber verblüfft dieser Mangel angesichts der großen Beliebtheit italienischer Gegenwartsliteratur. Italien ist als europäische Kulturnation stärker als andere Länder, trotz aller Majorisierung der deutsch-französischen Freundschaft, im kulturellen Bewußtsein der deutschen Leser. Die Tradition, derzufolge Italien in Deutschland eine Sonderstellung unter den fremden Nationen hat, sei es als Land der Antike, der schönen Natur oder des unbeschwerten Lebens, ist noch heute lebendig. Gerade deshalb verwundert die geringe Neigung der Wissenschaftler, sich in ausführlichen Synthesen der Darstellung von Literatur- und Kulturgeschichte Italiens anzunehmen. Das große Interesse an Italien und italienischer Kunst steht, so scheint es jedenfalls, in Widerspruch zum bestehenden Angebot an sachlich dargebotenem Wissen. Tradierte Klischees, das muß man befürchten, werden umso selbstverständlicher beibehalten, je weniger eine differenzierte Sicht von den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und historischen Darstellungen angeboten werden. Ich möchte diesen widersprüchlichen Zustand zum Ausgangspunkt meines historischen Überblicks machen und versuchen, die wichtigsten Etappen in der Ausbildung einer deutschen Historiographie der italienischen Literatur nachzuzeichnen. Ich gehe hierbei von der Hypothese aus, daß sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit italienischer Literatur nur bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den gesellschaftlichen Klischeevorstellungen entwickelt, daß die Selbstbezogenheit der wissenschaftlichen Disziplinen an einigen markanten historischen Punkten durchbrochen wird.
I Die Klage über den Mangel an einer ausführlichen, wissenschaftlich fundierten und doch überblicksartigen Geschichte der italienischen Literatur ist nicht neu. Gustav Gröber sieht im Grundriß der Romanischen Philologie die Zeit für eine wissenschaftliche Synthese noch nicht gekommen. 4 Und selbst der im Grundriß veröffentlichte Abriß der italienischen Literatur von Tommaso Casini beginnt mit der Feststellung eines Mangels, der sich keineswegs auf die deutsche Romanistik beschränkt: 3
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Siehe Fritz Nies: »Italienisch und Italianistik in der Bundesrepublik. Zwischenbilanz und Perspektiven«, in: Italienisch 16/1986, S. 8 9 - 9 6 . Gustav Gröber: Grundriß der Romanischen Philologie, 1. Band, Straßburg 1904-1906, S. 178: »Gesamtdarstellungen einer romanischen Literatur auf philologischer Grundlage, die den Stoff geschichtlich durchdrängen, hat die neue Zeit nicht schon hervorzubringen vermocht.«
Deutsche Geschichten der italienischen
Literatur
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Italien mit seiner so glänzenden und reichen Literatur besitzt noch keine vollständige Geschichte derselben, in welcher die auf die Ergebnisse kritischer Forschung sich stützende Kunde vom Leben und Wirken der Schriftsteller sowohl mit dem Studium der sozialen und politischen Verhältnise, unter denen der Schriftsteller lebte und wirkte, als auch mit demjenigen der Ereignisse politischer Art, an denen er teilnahm, in Beziehung und Zusammenhang gebracht wäre. 5
Die Anzahl der Werke, die Gröber und Casini hier als unwissenschaftlich abtun, ist indessen groß und zeugt vom ungebrochenen Interesse an der älteren - und später auch der neueren - italienischen Literatur. Bei der pauschalen Disqualifikation ihrer Vorgänger mögen die Forscher dieser Generation von ihrem Standpunkt des erstarkten wissenschaftlichen Selbstbewußtseins aus recht haben inhaltlich aber verkennen sie die Kontinuitäten, die ihre eigene wissenschaftliche Arbeit mit den früheren Generationen von Literaturwissenschaftlern verbindet. Bis weit ins 17. Jahrhundert hinein hatte die italienische Literatur für die deutschen Dichter Vorbildcharakter. Sowohl in der gelehrten lateinischen Literatur des Humanismus als auch in der schönen Literatur deutscher Sprache des späten 16. und 17. Jahrhunderts gelten italienische Dichter als Modelle, die imitiert bzw. übersetzt werden. Neben den Humanisten Petrarca und Boccaccio sind es vor allem die Begründer der Schäferdichtung und des Petrarkismus, welche deutsche Barockautoren inspirieren und zur Imitation reizen. Sofern in dieser Zeit Epocheneinteilungen innerhalb der Literaturgeschichte vorgenommen werden, finden sie sich in Verbindung mit poetologischen Erörterungen, bei denen die früheren Autoren als Beispiel für einzelne Gattungen oder Stilfiguren angeführt werden. Was die italienische Literatur angeht, ist vor allem Morhof mit seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, deren Ursprung, Fortgang und Lehrsätzen (Lübeck 1682) zu nennen, wo in einem eigenen Abschnitt die Entwicklung der italienischen Poesie behandelt wird. 6 Im Ansatz finden sich dort bereits die drei großen Epochen, wie sie bis ins 19. Jahrhundert hinein die Auffassung der deutschen Historiographen prägen sollten: die Anfänge mit Dante, Petrarca und Boccaccio; dann das 16. Jahrhundert mit Ariost und Tasso; schließlich der Übergang zum Barock mit Guarini und Marino. Schon Morhof stellt sich auf den Standpunkt, Marino sei mit der Hauptqualität der Italiener, der kunstvollen Phantasie, allzu freizügig umgegangen. Mit dem Ende der literarischen Barockzeit ist auch die Vorrangstellung der italienischen Literatur beendet. Frankreich tritt ins Zentrum literarischer Kontroversen, die bis ins frühe 19. Jahrhundert immer mir für oder gegen die französische Klassik und kulturelle Vorherrschaft geführt werden. Italien hatte seinen Modell-
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Tommaso Casini: Geschichte der italienischen Literatur, in Grundriß Band II, 3, S. I. Außer Morhof siehe auch Hofmann von Hofmannswaldau: Deutsche Übersetzungen und Gedichte. Vorrede an den geneigten Leser. In seinem Aristarchus lobt Opitz die Feinheit der italienischen Sprache. Zu diesen frühen Formen von Literaturgeschichtsschreibung in Verbindung mit Poetiken siehe Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1920, bes. S. 130ff.
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Charakter im Bereich der Literatur verloren, eine Funktion, welche die italienische Literatur, wenn überhaupt, erst in neuester Zeit wiedererlangen konnte. Das Wissen über die Kunst und Wissenschaft Italiens wird in den unterschiedlichen Kompendien barocker Erudition aufgehoben und steht so späteren Historiographen zur Verfügung. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein beschränkt sich das Wissen der deutschen Historiographen auf wenige Epochenkonzepte und auf - allerdings umfangreiches - bio-bibliographisches Material. 7 II Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird Italien auf einem ganz anderen Gebiet für das deutsche Geistesleben wichtig: Italien wird mehr denn je zuvor als Heimat der antiken Kunst erfahren. Die unzähligen Reisen nach Italien, die den Übergang von der Kavalierstour zur Bildungsreise vollziehen, führen nicht eigentlich in die italienische Geschichte, sondern in die römische. Spätestens seit der Veröffentlichung von Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764) ist Rom diejenige Stadt, in der für deutsche Klassizisten die Antike hautnah erlebbar wird, zur unmittelbaren Anschauung kommt. Die meisten Italienreisenden, und allen voran Goethe, suchen also in erster Linie die Spuren einer vergangenen, und nicht die historischen Gründe der zeitgenössischen italienischen Kultur. Wer nicht ganz auf die Wahrnehmung antiker Bauwerke, Inschriften usw. konzentriert war, erlebte die italienische Realität in der Natur und im Volksleben: Heinses Aufenthalt (1780-83) oder Seumes Fußwanderung nach Syrakus (1802) seien hier stellvertretend genannt. 8 Es besteht ein auffälliger Kontrast zwischen der ungebrochen andauernden Italienbegeisterung und -sehnsucht, und der Wahrnehmung moderner kultureller Entwicklungen Italiens. Dies mag natürlich an der extrem auf sich selbst bezogenen ästhetisch-literarischen Diskussion in Italien selbst liegen - man denke nur an das Aufsehen, das Madame de Staël mit dem gutgemeinten Rat erregte, die Italiener mögen doch ein wenig transalpine Literatur zur Kenntnis nehmen und auch übersetzen. Aber auch der von vornherein eingeschränkte Blickwinkel der an Italien interessierten Deutschen versperrte den Blick. Nie-
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Die Anzahl der sogenannten Litterärgeschichten ist Legion. Zum Teil handelt es sich um lateinische Werke, die auch in Deutschland große Verbreitung gefunden hatten. Als die am häufigsten zitierten seien genannt: Giovanni Vittorio Rossi, alias Erythräus: Pinacoteca, Colon/Agrippinae 1643, Gregorio Leti: L'Italia regnante, 1675, Christoph August Heumann: Conspectus rei publicae literariae sive via ad historiam literariam inventuti studiosae aperta, Hannover 1746. Diese Form von Nachschlagewerk hielt sich bis ins 19. Jahrhundert, ein spätes Beispiel ist Johann Georg Theodor Grässe: Lehrbuch der allgemeinen Literärgeschichte aller bekannten Völker der Welt, Leipzig 1852ff. Wilhelm Heinse: Sämtliche Werke, Bd. 7: Tagebücher aus Italien, Leipzig 1909; Bd. 8, 2: Tagebücher und Aufzeichnungen aus Italien, Leipzig 1925. Georg Seume: Spaziergang nach Syrakus, Braunschweig / Leipzig 1803. Zum Wandel des Italienbildes im Spiegel der Reisebeschreibungen siehe das Buch von Stefan Oswald: Italienbilder, Heidelberg 1985.
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mand kam auch nur auf die Idee, das zeitgenössische Italien könne als sich regendes Kulturland von Interesse sein. Der Blick war, sofern er sich in der Gegenwart bewegte, ganz auf Frankreich konzentriert. Die Begeisterung, mit der Goethe auf die Entdeckung Manzonis reagierte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die vorhergehende Epoche, die dem modernen Italien mit Gleichgültigkeit gegenüberstand. Um so mehr sind diejenigen Bemühungen zu unterstreichen, die versuchten, den literarischen Kreisen die sehnsuchtsvoll idealisierte Fremde sachlich näherzubringen. Sieht man vom Zedlerschen Lexikon oder anderen enzyklopädischen Unternehmungen einmal ab, so versucht als erster Johann Nikolaus Meinhard, den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter (1763, 2. Teil 1764) zu erfassen. 9 Nach einem längeren Italienaufenthalt begann Meinhard mit seinem Hauptwerk, einem auf drei Bände geplanten Werk über die italienische Poesie. Die ersten beiden Bände, die noch zu Lebzeiten Meinhards erschienen, behandeln die großen Dichter des 14. Jahrhunderts und als Vertreter der zweiten großen Blütezeit Italiens vor allem Ariost. Es ist nicht eigentlich eine Geschichte der italienischen Literatur, sondern eine literaturkritische Präsentation (und auszugsweise Ubersetzung) der bedeutendsten Dichter Italiens. Angesichts des recht niedrig anzusetzenden Kenntnisstandes des deutschen Publikums ist sein »Versuch« eine wichtige Leistung, die der späteren Generation Texte und Informationen in moderner Aufbereitung an die Hand gab. Der Autor betont in seiner Vorrede ausdrücklich - und er bezieht sich dabei auf das eben skizzierte, eingeschränkte Bild Italiens - die Kenntnis der schönen Literatur sei für das Verständnis eines anderen Volkes genauso wichtig wie die Beschäftigung mit den Altertümern und der bildenden Kunst. Eine tiefere Kenntnis über Italien könne den Deutschen nicht schaden, da sie im allgemeinen außer den Namen Tasso und Metastasio wenig über die italienische Literatur wüßten. Zur Darstellung der neueren Literatur kam Meinhard selbst nicht, da der dritte Band nicht vor seinem frühen Tod erscheinen konnte. Die Nachfolge trat derjenige Kenner Italiens an, der neben Meinhard im 18. Jahrhundert die ausführlichsten Werke zur älteren und neueren Literatur Italiens vorgelegt hat: Christian Joseph Jagemann (1735-1804). Jagemann kann als wichtigster Divulgator der italienischen Literatur im 18. Jahrhundert gelten. Nach langen Jahren in Italien kam er 1775 als Bibliothekar der Herzogin nach Weimar. In schneller Folge erschienen nun seine bedeutenden Schriften zur italienischen Literatur; eine Anthologie, eine freie Übersetzung von Tiraboschis Storia della letteratura italiana, ein Magazin der italienischen Literatur und Künste, eine italienische Sprachlehre, ein Wörterbuch und schließlich, eine
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Johann Nikolaus Meinhard, eigentlich Gemeinhard, wurde 1727 in Erlangen geboren. Nach dem Studium der Theologie m I Minstedt kam er 1751 zum Studium der antiken und modernen Philologie nach Göttingen. A b 1755 bereiste er 4 Jahre lang Südeuropa, später kehrte er in den 60er Jahren noch einmal längere Zeit nach Rom zurück, dort lernte er Winckelmann persönlich kennen.
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absolute Rarität, ein italienisches Blatt namens Gazzetta di Weimar in italienischer Sprache (1787-89).'° Zwei Werke seien hier näher vorgestellt, da sie einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der deutschen Italianistik markieren. Mit Tiraboschis Literaturgeschichte wurde ein Werk nach Deutschland gebracht, das noch am Ende des 19. Jahrhunderts von den wissenschaftlichen Handbüchern als bedeutend und seriös empfohlen wird. Tiraboschi hat zwar noch die Schwerfälligkeit der gelehrten Kompendien, bemüht sich aber um eine philosophische Ordnung und chronologische Disposition der immensen Materie. Jagemann seinerseits trifft bei der Übersetzung eine Auswahl, strafft also den Stoff noch für eine elegantere Präsentation. Jagemann kam in seiner Darstellung nur bis an die Schwelle des 16. Jahrhunderts, konnte also dem in Deutschland ohnehin vorherrschenden Schwerpunkt bei den früheren Jahrhunderten mit dieser Übersetzung nichts entgegensetzen. Sein Magazin der italienischen Literatur aber vollzieht den Schritt in die Aktualität. In unterschiedlichen Abteilungen 1 1 versucht er, sowohl historische Information als auch Übersetzungen klassischer Meisterwerke und aktueller italienischer Texte zu bieten. Jagemann schafft so ein wichtiges Bindeglied des modernen Kulturaustausches. Wer Interesse am modernen geistigen Leben Italiens hatte, der konnte sich die erforderlichen und weiterführenden Informationen in seinem Magazin beschaffen. Jagemann bemüht sich um historische Einleitungen und will eine Stückelung des historischen Wissens, ein Auseinanderklaffen von Altem und Modernem bewußt vermeiden. Daß er in der 8. Nummer seines Magazins ankündigen muß, dies sei wegen mangelnden Abatzes der vorläufig letzte Band, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es zeigt vielmehr, wie gering die Bereitschaft eines breiteren Publikums war, Italien als moderne Kulturnation wahrzunehmen und so die bequemen Klischees vom italienischen Wesen aufzuweichen. Meinhard und Jagemann verdienen umso mehr Beachtung, als sie gegen das durch berühmte Gelehrte und Dichter verbreitete Ideal des antiken Italiens anzukämpfen hatten. Sie leisteten wichtige Vorarbeit für die Entwicklung des 19. Jahrhunderts, das seinerseits in der Folge der romantischen Neu- und Wiederentdekkung der italienischen Literatur der früheren Jahrhunderte neue nationale, auf die Poesie gründende Klischees hervorbrachte.
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Christian Joseph Jagemann (1735-1804) kam im Laufe einer Pilgerfahrt, die er zur Buße seiner Flucht aus dem Priesterstand antreten mußte, nach Rom. Jahrelang blieb er dann in R o m und vor allem Florenz. A m 25. 8. 1775 wurde er zum Bibliothekar der Herzogin Regentin in Weimar ernannt, wo er nach einem produktiven Leben 1804 starb. D i e Antologia poetica erschien 1776/77; die Übersetzung Tiraboschis in 5 Bänden 1777-81; das Magazin 1780-85; Briefe über Italien in 3 Bde. 1778-85, die italienische Sprachlehre 1792, 2 1801, das vierbändige zweisprachige Wörterbuch 1803. Die Gazzetta ist ein politisch-literarisches Wochenblatt, das Jagemann über TA Jahre lang alleine herausgab.
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Die 6 Abteilungen sind: 1. Auszüge und Übersetzungen von Neuerscheinungen, 2. detaillierte Übersetzungen von Meisterwerken (die gesamte Hölle der Commedia wurde hier in fünffüßige Jamben übersetzt), 3. Anzeigen von neuesten Büchern und Auszüge aus italie-
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III Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen die ersten Arbeiten, in denen die italienische Literatur in Verbindung mit einem postulierten Nationalcharakter zusammenhängend dargestellt wird. Die erste narrative Geschichte der italienischen Literatur ist der Italien betreffende Teil von Bouterweks Geschichte der Poesie und Beredsamkeit.12 Die ersten beiden Bände sind nicht von ungefähr derjenigen Nationalliteratur gewidmet, in der zum ersten Mal in Europa »die neuere Zeit« Ausdruck fand. Seinem literarhistorischen Konzept gemäß bemüht sich Bouterwek, über die bio-bibliographische Darstellung der wichtigsten Autoren und deren Werke hinaus zu einer kulturgeschichtlichen Gesamtdarstellung zu gelangen. In der praktischen Durchführung aber konkurrieren verschiedene Prinzipien: einerseits das Bewußtsein historischer Relativität der ästhetischen Werte in den unterschiedlichen nationalen Ausprägungen, andererseits ein Geschmacksbegriff klassizistischer Herkunft, der die Nähe zur französischen Klassik nicht verleugnen kann. Gelingt es ihm in den kurzen überleitenden Passagen, den Zusammenhang zwischen den Kunstwerken und den religiösen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen der einzelnen Epochen herzustellen, so fällt er in den biographischen Teilen und den Werkpräsentationen in kleinliche Pedanterie zurück. Die Einteilung der italienischen Literaturgeschichte ist recht konventionell: die erste Epoche reicht vom Ende des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, die zweite umfaßt das 16. Jahrhundert und die dritte wird mit Marino eingeleitet und hält bis in die Gegenwart an. Die starke Akzentuierung der beiden frühen Zeiträume kommt Bouterweks Vorstellung einer Abfolge der Nationen im Streit um den literarischen Lorbeer entgegen. Auf Italien folgt Spanien, und wenig später Frankreich und England. Der weitgehende Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der neueren Literatur Italiens scheint mit dem Hinweis auf die Vorherrschaft Frankreichs gerechtfertigt. Das Modell der neuzeitlichen translatio studii verknüpft Bouterwek mit dem Gedanken der Nationalkultur, die nur in gewisen Epochen zu sich selbst findet. Seine Darstellung der italienischen Literatur abschließend faßt er die Hauptcharakteristika des italienischen Nationalgeschmacks zusammen. Es sind vier Punkte, in denen sich die Eigenheit des Italienischen äußert. Erstens: Die frühe Blüte der italienischen Kultur sei dafür verantwortlich, daß der Nationalcharakter früh festgelegt wurde und damit nicht mehr an neuere Entwicklungen anpassungsfähig war. Das »romantisch-jugendliche Kraftgefühl« (II, 539) der ersten Zeit wird Eigentum des unverfälschten italienischen Genies. Fortan konstituiert der Kampf zwischen schulmäßiger Regelkunst und »romanti-
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nischen Zeitungen, 4. Bibliographie der besten italienischen Werke, 5. Verzeichnis der berühmtesten Werke seit der Renaissance, 6. Vermischte Nachrichten. Friedrich Bouterwek: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit, seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, Bd. 1, 2, Göttingen 1801. Zu Bouterweks Werk siehe Gustav Struck: F. Bouterwek: Sein Leben, seine Schriften und seine philosophische Lehren, Rostock 1919.
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schem« Übermut der Phantasie den Verlauf der italienischen Literatur. Hieraus folgt zweitens, daß ästhetische Qualität immer nur dann erreicht wird, wenn der Nationalcharakter vom Dichter berücksichtigt wird. Die Vermischung mit ausländischem Geschmack führt zu kalten Nachahmungen. Drittens sei die italienische Literatur durch exzessive Nachahmung der immer gleichen Formen und Stoffe geprägt, ein Mißstand, den der Protestant Bouterwek auf Angst vor der Kirche und zu große Gelehrsamkeit zurückführt. Und viertens ein Lob, das keines ist: die italienische Poesie sei der antiken in der Idealität des Stils vergleichbar. Obwohl die italienische Literatur ihrem Wesen nach romantisch (christlich, fabelhaft, wunderbar) ist, wirkt sie durch einfache Sprache, ihre Klarheit und Eleganz. Dies ist alles, was von der einstigen Vorbildhaftigkeit der italienischen Dichter übrigbleibt: kunstfertige Äußerlichkeit. Bouterwek eröffnet mit seiner Geschichte eine neue Phase in der Auseinandersetzung der Deutschen mit der italienischen Literatur. Die Darstellung der fremden Literatur wird mit Spekulationen um den Nationalcharakter eines anderen Volkes verbunden. Für Italien heißt dies, daß der Blick in die Vergangenheit durch ein zweiteiliges Argument neu gerechtfertigt ist: die beste Zeit der italienischen Literatur ist endgültig vergangen, und das Wesen des Italienischen läßt sich genau in jenen vergangenen Zeiten entdecken. Die wissenschaftliche Aufbereitung der Poesiegeschichte rechtfertigt die Gleichgültigkeit, mit der dem modernen Italien begegnet werden konnte. So groß Dante auch herausgestellt wird, so leer ist die Zeit nach ihm. Was Bouterwek mit seiner Geschichte der Beredsamkeit nicht geschafft hatte, lieferten die Gebrüder Schlegel in ihren Vorlesungen und Literaturgeschichten wenige Zeit später: die endgültige Verabschiedung der Gelehrsamkeit zugunsten eines essayhaften literaturkritischen Gesamtkonzepts. So sehr Friedrich und A. Wilhelm Schlegel sich von Bouterwek polemisch abgrenzen, so wenig unterscheiden sie sich doch in der Behandlung der italienischen Literatur. Die Bedeutung der spanischen Literatur und des in ihr länger als anderswo wirkenden Rittergedankens verdrängt die alte italienische Literatur. Dante ist der einzige, dem Ausdruck des nationalen Gefühls bescheinigt werden kann. Es gibt aber noch einen anderen, viel einfachem Standpunkt für den Wert einer Literatur und aus dem sich die Frage ungleich leichter und sichrer entscheiden läßt. Dies ist der moralische Gesichtspunkt, der alles darauf bezieht, ob eine Literatur durchaus national, der Nationalwohlfahrt und dem Nationalgeiste angemessen ist. In dieser Hinsicht wird fast jeder Vergleich zum Vorteil der Spanier ausfallen. Man nehme die Poesie und Literatur der Italiäner, die bloß als Kunstwerk betrachtet, an Bildung und Styl unstreitig den Vorzug vor vielen andern behauptet; wie sehr muß sie in dieser Beziehung zurück stehen gegen die spanische! Einige der ersten Dichter sind ganz ohne Beziehung auf die Nation, und ohne Gefühl von der Nationalwohlfahrt, wie Boccaz, Ariost, Guarini. 13
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Friedrich Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur, hrsg. von Hans Eichner, München / Wien 1961, S. 263.
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Literatur
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Von den Ependichtern der Renaissance bleibt bei Friedrich Schlegel eigentlich bloß Tasso übrig. Dieser glänzt durch die Qualität seiner Schilderung der Leidenschaften. Das aus früheren Jahrhunderten bekannte Urteil der Dekadenz seit Ende des 16. Jahrhunderts findet sich bei beiden Schlegels; bei August Wilhelm heißt es am Ende der Geschichte der romantischen Literatur lakonisch: »Späterhin geht die Poesie in Italien aus.« 14 Von der neueren Literatur Italiens finden lediglich einige Dramatiker des 18. Jahrhunderts Erwähnung, von denen aber nur Gozzi mit seinen Märchendramen vom Verdikt des französischen Stils freigesprochen wird. Die Schlegelschen Vorlesungen haben die Historiographie der italienischen Literatur nicht in dem Maße beeinflußt wie die spanische Literaturgeschichtsschreibung. 15 Italien ist in ein europäisches Gesamtkonzept eingebettet und hat den ihm früher zugestandenen Rang der ersten Renaissanceliteratur durch die Verschiebung des Interesses auf die Ritterthematik des Mittelalters (und die spanischen Fortsetzungen) eingebüßt. In den Urteilen zu pauschal und auch nicht radikal neu, wirken die Vorlesungen eher durch die Form des philosophischen Essays. Ihre geschichtsphilosophischen Entwürfe stecken einen neuen Rahmen ab, innerhalb dessen die in ihrer Nachfolge entstehenden Nationalphilologien sich entwickeln können. Der wissenschaftlichen Kleinarbeit, die Grundlage jeder Literaturgeschichte war und ist, wurde ein Konzept an die Seite gestellt, das sich zwar bei längeren Darstellungen der jeweiligen Nationalliteraturen verwässern mußte, das aber einzulösen immer wieder Anspruch war. Bevor wir uns den wissenschaftlichen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts zuwenden, sei noch nach dem zu Beginn der romantischen Epoche vorherrschenden Italienklischee gefragt. Die Darstellungen der Schlegel förderten genauso wenig wie die Geschichte Bouterweks eine Suche nach dem modernen Kulturland Italien, ja der Nationalgeist schien auf ewige Zeiten in die Vergangenheit gerückt. 1 6 14
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August Wilhelm Schlegel: Geschichte der romantischen Literatur, hrsg. Edgar Lohner, Stuttgart 1965, S. 222. Siehe auch die Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, hrsg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, Vorl. 16. Wirkungs- und folgenreicher waren die Geschichten von Jean Simon de Sismondi: La littérature du midi de l'Europe, Paris 1813 (ins Deutsche und ins Italienische übersetzt) und von Pierre Louis Guingené: Histoire littéraire d'Italie, Paris 1811-1819. Zu Guingené siehe Jürgen von Stackelberg: »La Histoire littéraire d'Italie di Pierre-Louis Guingené e le sue fonti italiane«, in: Problemi di lingua e letteratura del settecento, Wiesbaden 1965, S. 183-188. Eine Ausnahme zu Beginn des Jahrhunderts bildet das von Johann Wilhelm Heinrich Nolte und Ludwig Christian Ideler herausgegebene Handbuch der italienischen Sprache und Literatur (2 Bde, Berlin 1800, 1802, 2 1822), das in seiner Anthologie auch Autoren des 18. Jahrhunderts berücksichtigt. Eine literarhistorische Neuordnung findet indes nicht statt. Immerhin heißt es im Vorwort (S. IV): »Möge dieses Buch dazu beitragen, die italiänische Litteratur unter uns bekannter zu machen, als sie es trotz der vielen Chrestomathien, Lesebücher, Anthologien, womit wir gesegnet sind, bis jetzt zu sein scheint, und besonders das durch dieselben genährte Vorurtheil zu beseitigen, daß sie in Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariosto, Tasso und Metastasio abgeschlossen ist.«
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Baasner
Als Land deutscher Sehnsucht hatte Italien seinen Spitzenplatz behauptet. Die Suche nach romanischem Wesen, üppiger Natur und einfachem Volksleben prägte die Reiseerfahrungen der romantischen Generation. Das Interesse am katholischen Italien fördert ein Klischee, das gegenüber der Antikebegeisterung in den Hintergrund getreten war. Zwei Bilder schieben sich nun übereinander: das versunkene antike Rom und das aus den Trümmern entstandene prachtvolle päpstliche Rom. Eichendorff faßt es in Verse: Von kühnen Wunderbildern Ein großer Trümmerhauf In reizendem Verwildern Ein blühender Garten drauf. Versunkenes Reich zu Füßen Vom Himmel fern und nah Aus anderem Reich ein Grüßen das ist Italia! 17
Wenn das allein Italien ist, darf man bei den romantischen Dichtern keinen geschärften Blick für die historische und zeitgenössische Realität Italiens erwarten. Italiensehnsucht und Kenntnis Italiens gehen nicht miteinander einher. Victor Hehn, der als einer der ersten zum Historiographen der deutschen Italienbegeisterung wurde und die Italienliteratur zweier Generationen überblickte, bekennt in seinen Reisebildern aus Italien und Frankreich, daß er der italienischen Sprache überhaupt nicht mächtig ist. 18 Wenn er andererseits feststellt, Italien gehöre »zur nationalen Erziehung eines Deutschen«, 1 9 so bezieht sich dies auf bestimmte Bilder von Italien. Dieser Vorrat an Fremdklischees wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Literaturgeschichtsschreibung der Schlegel und der ihnen folgenden Italianisten erweitert. Dante blieb in der deutschen Italianistik derjenige Dichter, dem besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ja die deutsche Dantephilologie begründete eine eigenständige Tradition, die mit Hermann Gmelin bis weit in unser Jahrhundert lebendig blieb. So wichtig die Dante-Forschung bei der Herausbildung der universitären Disziplin Romanistik auch war (der erste Ordinarius für Romanische Philologie war ein Dantist), werden wir uns auf die Analyse von Gesamtdarstellungen der italienischen Literatur beschränken. 2 0 17
18
19 20
Joseph Frhr. von Eichendorff: Sämtliche poetische Werke, Leipzig 1883. Zum Italienbild der deutschen Romantik siehe die schönen Seiten bei Ricarda Huch: Die Romantik. Blütezeit. Ausbreitung. Verfall, Tübingen 1951, vor allem das Kapitel »Schöne Fremde und heimischer Nord«. Victor Hehn: Reisebilder aus Italien und Frankreich, hrsg. Theodor Schiemann, Stuttgart 1894. Briefe aus Florenz vom 17. 7. 1839: »Keinem konnte ich mich verständlich machen, keiner verstand mich«. S. 33. Ebda, S. 152. D i e deutsche Dantephilologie ist verhältnismäßig gut erforscht: E. Sulger-Gebing: »Dante in der deutschen Literatur bis zum Erscheinen der ersten vollständigen Übersetzung der Divina Commedia«, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, N.F., V I I I - X , 1895-97; A . Noyer-Weidner: »Das Dante-Verständnis im Zeitalter der Aufklä-
Deutsche Geschichten der italienischen
Literatur
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IV Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen der Literaturgeschichte als Suche einer historisch verbürgten nationalen Identität und Größe. Sowohl für Deutschland als auch für Italien ist Literaturgeschichte bei der Ausarbeitung der nationalstaatlichen Ideologie zentral. Der bedeutende Platz, den de Sanctis' Literaturgeschichte noch heute einnimmt, hängt mit den Zeiten des Risorgimento und dem endlich vereinten Königreich Italien zusammen. Wenn nun deutsche Autoren diesem romantischen Nationenkonzept bei der Abfassung einer italienischen Literaturgeschichte folgen, kann es nicht in erster Linie um die italienische Einigungs- und Befreiungsbewegung gehen, sondern vielmehr darum, dem deutschen Publikum das italienische Wesen in seiner Differenz oder Wahlverwandtschaft näherzubringen. Dies gilt für die erste Phase der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der italienischen Literatur, bis etwa 1860. Danach erst, und dies leitet die fruchtbarste Phase der deutschen Italianistik ein, rückt Italien als moderner Staat, dessen Einigungsbestrebungen mit dem deutschen Ringen um Einheit in Beziehung gesetzt werden, ins Blickfeld. Lange aber behinderte der ganz in die Vergangenheit projizierte Nationalcharakter des Italienischen die Wahrnehmung neuerer nationaler Bestrebungen. Die chronologische und epochale Anordnung der wichtigsten Autoren wird beibehalten. Was bei den Gebrüdern Schlegel als besonders lobenswerte Fälle italienischer Nationalliteratur herausgestrichen wurde, also Dante und Tasso, behält seinen privilegierten Platz in der italienischen Poesiegeschichte. Friedrich Wilhelm Genthe geht in seinem Handbuch der italiänischen Litteratur (1832)21 noch einen Schritt weiter: Dante sei dem italienischen Wesen eigentlich fremd, da er eine germanische Form des Strebens erreicht habe; Tasso stehe unverstanden alleine in seinem Jahrhundert, weil er »seiner germanischen Abstammung« gemäß tiefsinnig gedichtet habe, und Manzoni schließlich habe seinen Roman nicht schreiben können, wenn er nicht »mit warmem Eifer und dankbarer Anerkennung
rung:, in: Deutsches Dantejahrbuch 38/1960, S. 112ff.; Clara Charlotte Fuchs: »Dante in der deutschen Romantik«, in: Deutsches Dantejahrbuch 15/1933, S. 61—131 ; Joachim Storost: »Dante und die Entstehung der deutschen Hochschulromanistik«, in: Deutsches Dantejahrbuch 39/1961, S. 8 0 - 9 7 ; zur Entwicklung der Hochschulromanistik allgemein siehe die materialreiche Darstellung von Hans Helmut Christmann: Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19. Jahrhundert. Ihre Herausbildung als Fächer und ihr Verhältnis zu Germanistik und klassischer Philologie, Wiesbaden 1985. 21
Friedrich Wilhelm Genthe (1805-1866) war Schriftsteller, Lehrer und freiberuflicher Literarhistoriker. Er promovierte mit einer Arbeit über die makkaronischen Dichter. Von dem geplanten Handbuch der Geschichte der abendländischen Literaturen und Sprachen erschienen nur drei Bände, zwei über die italienische und einer über die französische Literatur. Der Erwähnung wert ist, daß Genthe engen Kontakt mit Karl Rosenkranz hatte und dessen einzige Schwester heiratete. Dies mag auch die im Vorwort seines Handbuchs geäußerte Polemik gegen geschiehtsphilosophische Modelle erkären.
22
S. 53, S. 94.
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Frank
Baasner
D e u t s c h e und Engländer« 2 2 studiert hätte. D i e erklärte Absicht des Autors, die Bildung der wißbegierigen reiselustigen D e u t s c h e n zu mehren, wird also dergestalt eingelöst, daß Fremdes, und vor allem fremde G r ö ß e , mit d e m eigenen Nationalwesen in Verbindung gebracht wird. In der Charakteristik des Anderen schreibt G e n t h e alte Klischees fort: Eine lebhafte Phantasie, ein mehr hüpfender als seines graden Weges gehender Verstand, ein rascher Witz, eine übermiithig muntere Laune, geringe Neigung zum ernsthaften Erfassen der Lebensereignisse, Mangel an eigentlichem Gemiithe, Abneigung gegen das Reflectiren über sich selbst, Selbstzufriedenheit und Genügsamkeit an der objectiven Welt und beharrliche Freude an bloß sinnlichen Ergötzlichkeiten, dieses sind die Hauptzüge des Italiänischen Nationalcharakters und damit zugleich die Gründe vorgelegt, weshalb der Roman unter dem Italiänischen Himmel selten gedeiht. 23 Oberflächliche
Kunstfertigkeit,
Mangel
an faustischem
Streben
und
tiefem
G e m ü t , eine seit Jahrhunderten versunkene Nationalkultur: auf diese Schlagworte legt sich die Literaturgeschichte in Deutschland fest. Sie überschneidet sich dabei teilweise mit denjenigen Vorstellungen deutscher Dichter derselben Generation, die gerade w e g e n der sorglosen Unbekümmertheit den italienischen Himmel suchten: deutsche Schwermut und hektischer Tatendrang lösen sich im Süden, in der dolce vita einer fröhlich dekadenten Welt spielerisch auf. D i e Wissenschaft liefert immer neue B e l e g e dessen, was schon festzustehen scheint. Emil Ruth, ein Heidelberger Romanist, liegt mit seiner Geschichte
der italienischen
Poesie
auf der-
selben Linie. Historisch, klimatisch und nationaltypologisch wird das statische Wesen des Italienischen in der Geschichte festgeklopft. Ein neues
Element
kommt indessen hinzu: Zur Erklärung vieler Erscheinungen im italienischen Charakter müssen wir hier die Bemerkung vorausschicken, daß in Italien das weibliche Element überwiegend ist. Es ist in seiner Art vollkommner ausgebildet als das männliche. Der italienische Himmel ist ein wahrer Weiberhimmel. Während der Mann dort von seiner Energie verliert, oder ein Geltendmachen derselben oft teuer mit seiner Gesundheit bezahlen muß, wirkt Alles, Luft, Sonnenglut, Nahrung und Sitte auf das Blut und die Nerven, auf die Irritabilität, das wahre Element des weiblichen Charakters. (I, 299) 24 In der Anordnung und Wertung der italienischen Literatur läßt sich bis 1860 keine wirkliche Tendenzwende erkennen. 2 5 D i e dritte E p o c h e , die im allgemeinen als Verfallsperiode bei Marino angesetzt wird, verlängert sich mittlerweile bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts. Mit d e m offensichtlichen Neuansatz, der späte23 24
25
S. 94. Emil Ruth: Geschichte der italienischen Poesie, 2 Bde., Leipzig 1844 und 1847. Ruth war nach seiner Rückkehr aus Italien in Heidelberg als Romanist tätig, erhielt aber nie einen Lehrstuhl. Eine erfreuliche Ausnahme ist der Artikel »Italienische Literatur« in Ersch/Grubers Allgemeiner Encyclopädie der Wissenschaften und Künste (2. Sekt, 26. Teil, S. 8 - 6 9 ) aus dem Jahre 1847. Der Verfasser, Ludwig Gottfried Blanc, war in erster Linie Dantist. 1822 wurde für ihn in Halle die erste speziell romanistische Professur eingerichtet, 1833 erfolgte die Berufung zum ordentlichen Professor (zu Blanc und seiner Berufung in der Hochschulromanistik siehe Christmann 1985, S. 17).
Deutsche Geschichten der italienischen
Literatur
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stens mit Goethes Teilnahme an Manzoni einen Fürsprecher gefunden hatte, an dem niemand vorbei konnte, wußten die Historiographen noch nicht viel anzufangen. Die romantische Schule erscheint bei Adolf Ebert (1854) als » n o t w e n d i g e r Übergang in der Fortentwicklung der italienischen Poesie« (426), Leopardi kann »den Weg einer neuen Entwicklung weisen«. 26 Einen Zusammenhang zwischen der nicht zu übersehenden Blüte der italienischen Literatur und der stärker werdenden patriotischen Bewegung stellt Ebert noch nicht her. Überhaupt wird erst sehr spät in Deutschland die Bedeutung und Tragweite des Risorgimento erkannt. Da Österreich die Lombardei und Venetien okkupiert hatte, waren die italienischen Freiheitskämpfer zunächst Feinde jedes deutschen Nationalgedankens. Die Unruhen im Frühjahr 1848 brachten zum ersten Mal das deutsch-italienische Verhältnis ins moderne politische Bewußtsein. Zwei nationale Bewegungen stritten gegen die restaurative Politik seit 1815 - und doch kollidierten scheinbar die Interessen. Erst mit dem Bruch des Deutschen Bundes 1866 veränderte sich die Situation: Preußen Schloß mit Piémont einen Pakt, der sich aus taktischen anti-österreichischen und anti-französischen Erwägungen aufdrängte. Nun konnten die beiden Einigungskämpfe in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden. Diese neue Sicht Italiens, 27 die bis zu einer detaillierten Parallelisierung reichte, hatte auch außerhalb der rein politisch-historischen Literatur Folgen. Der Abstieg italienischer Kunst seit dem 17. Jahrhundert wurde nun nicht mehr automatisch bis auf die Gegenwart verlängert, sondern man folgte dem in Italien verbreiteten Gedanken, es habe seit dem 18. Jahrhundert eine stetige nationale Befreiungsbewegung gegeben, die auch in der Literatur Niederschlag gefunden habe. Die Romantik um Manzoni ist nicht mehr Vorbote einer Veränderung, sondern bereits deren höchster Ausdruck. Das Bild vom italienischen Nationalcharakter als weibisch, überfremdet und oberflächlich mußte nun dahingehend korrigiert werden, daß auch die »männliche«, historisch bedeutsame Tat der politischen Befreiung und Einigung mit ihm vereinbar war. Der unpolitische, sehnsuchtsvolle Traum von Italien, den die Romantiker geträumt hatten, wurde von der Tagespolitik aufgelöst. Adolf Wolf 28 trägt diesem neuen Italienbild schon 1860 in seiner Darstellung der Italiänischen Nationalliteratur Rechnung. Die neue Epoche, die sich um die nationale Neubestimmung gruppiert, beginnt etwa Mitte des 18. Jahrhunderts und dauert in der Gegenwart an. Wolf bedient sich in seiner Geschichte einer Quelle, 26
27
28
Adolf Ebert: Handbuch der italienischen National-Literatur, Marburg 1854, S. 426. Ebert war Ordinarius in Marburg. Sein Schüler Gustav Koerting veröffentlichte später drei Bände einer monumentalen Geschichte der Literatur Italiens im Zeitalter der Renaissance, Leipzig 1878/80/84. Siehe in diesem Zusammenhang vor allem Theodor Schieder: »Das Italienbild der deutschen Einheitsbewegung«, in: Studien zur deutsch-italienischen Geistesgeschichte, Köln 1959, S. 141-162. Adolf Wolff: Die italiänische Nationalliteratur in ihrer geschichtlichen Entwicklung vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1860.
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Frank Baasner
die für die Kenntnis der neueren italienischen Literatur in Deutschland zentral ist: er zitiert wiederholt aus Paul Heyses Vorträgen und Übersetzungen, die erst 1889 gesammelt in vier Bänden veröffentlicht wurden. Heyse, der Italien gut kannte, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, »das letzte Jahrhundert italienischer Dichtung, das in Deutschland so wenig bekannt ist, sorgfältig zu durchforschen und in zusammenhängender Darstellung das Bild dieser anziehenden Epoche zu entwerfen.« 2 9 Heyse unterstreicht die Bedeutung guter Quellenkenntnis für die »neue Methode« der Literaturgeschichtsschreibung: In der methodischen Weise der neueren Literaturgeschichten, Dichter und ihre Werke betrachten, sie im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte als Produkte und Träger sozialer Stimmungen und Ideen darstellen und die Grundsätze irgend welcher Ästhetik auf sie anwenden kann nur dann von wahrhaft lebendigem Interesse sein, wenn wenigstens die Hauptwerke, um die es sich handelt, dem weiteren Kreis der Gebildeten nicht unbekannt sind. 30
Was Heyse hier die »neueren Literaturgeschichten« nennt, bezeichnet die letzte Phase der Literaturgeschichtsschreibung, die wir betrachten wollen. Die methodische Neuorientierung, die Aufgabe eingefahrener nationaler Klischees und das gestiegene Vertrauen auf den Wert eines historisch-positivistischen Ansatzes auf philologischer Grundlage brachte entscheidende Fortschritte in der deutschen Italianistik. Gustav Gröber setzt die zweite wissenschaftliche Phase in der Entwicklung mit dem Jahr 1859 an, als der erste Band des Jahrbuchs für romanische und englische Sprache und Literatur erschien und damit eine Grundlage für internationale Wissenschaftsdiskussion geschaffen war. 31 Im Bereich der italienischen Literaturgeschichte ist die Einbeziehung der modernen Literatur nun selbstverständlich, und auch die radikale Beschränkung auf die literarischen Blütezeiten wird aufgelockert, wenn nicht aufgehoben. Aber auch die Parteilichkeit der patriotischen Historiographie wird als einseitig und wissenschaftlich nicht stringent zurückgewiesen: Settembrini und de Sanctis (der übrigens 1876 ins Deutsche übersetzt wurde) seien den neuen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr gewachsen. Interessanterweise wird im Bemühen um Ausgewogenheit auf jene Forscher zurückgegriffen, die seitens der Romantik als Pedanten und Kleinkrämer in die Annalen der Erudition verwiesen worden waren: im Grundriß kommt Tiraboschi zu neuen Ehren. 3 2 Rückkehr zu philologischer Akribie und trotzdem keine Abkehr von der sprachlich eleganten, stellenweise essayistischen Darbietung des 29
30 31
32
Paul Heyse: Italienische Dichter seit der Mitte des 18ten Jahrhunderts. Übersetzungen und Studien, 4 Bde. Berlin 1889, hier I, S. VII. Ebenda. Grundriß, S. 119: »Die Wendung knüpfte sich an das von A. Ebert seit 1853 vorbereitete Und 1859 von ihm mit F. Wolf, später von L. Lemcke (bis 1876) herausgegebene Jahrbuch. ..« Grundriß II, 3, S. 5.
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Stoffs: diesen schwierigen Kompromiß haben sich die Literarhistoriker auf die Fahnen geschrieben. Der Name, der immer wieder mit bewunderndem Lob genannt wird, ist der von Adolf Gaspary. Seine Geschichte der italienischen Literatur, die wegen des früh eingetretenen Todes des Verfassers unvollendet geblieben ist, 33 erfüllt die hohen Erwartungen, die an eine synthetische Darstellung auf philologischer Basis gestellt wurden. Beide erschienenen Bände wurden ins Italienische übersetzt und galten damals auch italienischen Studienführern als eine der besten Gesamtdarstellungen der italienischen Literatur. 3 4 Die Möglichkeiten, vertiefte Kenntnis von der italienischen Literatur in Verbindung mit Kultur- und Sozialgeschichte zu erlangen, war nie so gut wie am Ende des letzten Jahrhunderts. Neben Gasparys Geschichte erschienen mehrere Handbücher der italienischen Literatur für ein größeres Publikum. Und zu einzelnen Gattungen oder Epochen wurden umfangreiche Geschichten publiziert. 35 Und doch hat die positivistische Schule nicht die Resultate erzielt, die sich Gröber zu Beginn unseres Jahrhunderts erhoffte. Seiner Konzeption zufolge hätte mittlerweile, nach einer langen Phase von wissenschaftlich akribischen Einzelstudien, die gelungene Synthese geschrieben werden müssen. Daß dies nie geschehen ist, daß vielmehr heute ein Mangel an modernen Gesamtdarstellungen, die mehr als Einführungscharakter haben, zu verzeichnen ist, hängt mit der methodologischen Neurorientierung der deutschen Italianistik zusammen.
V
Der historische Abriß hat auch in seiner knappen Form gezeigt, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literatur- und Kulturgeschichte eines fremden Volkes als Teil eines komplexen Mechanismus verstanden werden kann, in dem
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35
Adolf Gaspary: Geschichte der italienischen Literatur, Bd. I, Berlin 1885, Bd. II, 1888. Gaspary (1849-1892) studierte in Berlin, München und Freiburg, wurde 1879 Privatdozent in Berlin und 1883 als ord. Professor für Romanische Philologie nach Breslau berufen. Band 1 wurde von Nicola Zingarelli 1887, der zweite Band von Vittorio Rossi 1891 ins Italienische übersetzt. Guido Mazzoni empfiehlt die deutsche Geschichte in seinem Avviamento allo studio critico delle lettere italiane, Verona 1892, S. 132-133. K. Marquard Sauer: Geschichte der italienischen Litteratur von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit, Leipzig 1883; Berthold Wiese/Erasmo Percopo: Geschichte der italienischen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig / Wien 1899. Eine Sonderstellung nimmt die schon 1825 in der ersten Auflage veröffentlichte Storia della letteratura italiana (2 Bde) von Giuseppe Maffei ein. Dieser lebte und lehrte in München und hatte diese Geschichte der italienischen Literatur speziell für ein deutsches Publikum verfaßt. Eine Übersetzung des Werkes ist jedoch nicht bekannt. Einzelne Gattungen oder Epochen wurden in umfangreichen Werken behandelt; neben der in A n m . 26 genannten Darstellung der Renaissanceliteratur von Koerting siehe etwa die vierbändige Geschichte des italienischen Dramas von J. L. Klein (Leipzig 1866-1869).
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Frank Baasner
die vorherrschenden Fremdklischees gebildet und auch verändert werden. Sicher, niemand wird sich der Illusion hingeben, mit einer noch so fundierten Literaturgeschichte Italiens gegen tief verwurzelte Vorurteile ankämpfen zu können. Die fortschreitende Selbstbezogenheit des wissenschaftlichen Diskurses tut ein übriges, um die Wirkungsmöglichkeiten zu reduzieren. Und doch wäre es bei aller Skepsis falsch, für eine völlige Absenz der Wissenschaft im Bereich der nationalen Klischeebildung zu plädieren. Zudem haben nationale Literaturgeschichten in den letzten Jahren eine beachtliche Konjunktur: in Deutschland wetteifern die Verlage in der Publikation von meist sozialgeschichtlich vorgehenden Literaturgeschichten, und in Italien ist eine ganz ähnliche Tendenz zu beobachten. Dieses offensichtliche Interesse an kultureller, historischer Selbstversicherung sollte auch bei der kritischen Überprüfung der bestehenden Fremdklischees genutzt werden, wie überhaupt die nationale Perspektive zugunsten einer europäischen Perspektive aufgelockert werden sollte. Falls wir tatsächlich einer noch enger verflochtenen europäischen Gemeinschaft entgegengehen, sollte tatsächlich eine Verknüpfung und internationale Vermischung ganzer Berufsgruppen verwirklicht werden, dann wird das Bedürfnis nach sachlich gesicherter Kenntnis anderer Staaten auf allen Gebieten sprunghaft ansteigen. Die Bedingungen jeder Literaturgeschichte einer fremden Kultur sollten als Chance, nicht als Hindernis gesehen werden. Es wäre naiv, eine Beschäftigung ohne den Rückgriff auf irgendwelche Klischees, welcher Art auch immer, zu verlangen. Vielmehr kann die kritische Reflexion existierender oder auch historisch weit zurückliegender Fremdklischees Ausgangspunkt für eine Sichtung des Bildes einer anderen Kultur und für die Spiegelung der eigenen kulturellen Identität im Anderen sein. Erforderlich allerdings ist gerade diese kritische Brechung der tradierten Bilder, um ihr naives Fortwirken soweit wie möglich zu unterbinden. In diesem Bereich gibt es kulturelle Aufgaben, kulturelle und auch literarhistorische Verantwortung, der sich zu entziehen der Italianistik nicht gut anstünde.
Remo Ceserani (Genua)
Der Literarhistoriker bei der Arbeit: Ein Beispiel
Ich möchte im folgenden bei einem bestimmten und konkreten Beispiel, dem Entwurf einer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts in Italien, 1 und bei einem besonderen Aspekt dieses Entwurfs bleiben, der Untersuchung nämlich des Systems der literarischen Schreibweisen (»Modi«) und Gattungen und seines Bezugs zum thematischen System der Texte und zu umfassenderen kulturellen Systemen. Natürlich bin ich mir bewußt, daß der Entwurf einer Literaturgeschichte eine große Zahl weiterer Probleme aufwirft: die Wahl eines Erzählmodells, die Wahl einer Perspektive, eines chronologischen und geographischen Schnittes. Und ich weiß auch um die Unmöglichkeit des Versuchs, einen besonderen Aspekt des Textgeschehens historisch rekonstruieren zu wollen, ohne alle anderen »Serien« oder modellbildende Systeme, die in mehr oder weniger direkter Beziehung zur Textproduktion stehen, zu berücksichtigen: die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die Geschichte der Kultur, des Wissens, der Gedanken- und Gefühlsströmungen, die Geschichte der intellektuellen Gruppen, der kulturellen Institutionen (von den Akademien bis zu den Theatern, den Cafés), die Geschichte der Sprache, die Geschichte des literarischen und verlegerischen Marktes, die Geschichte der Textrezeption durch das Publikum, die Geschichte der Poetiken und Rhetoriken usw. Einige dieser »Serien« waren im kulturellen Leben des 18. Jahrhunderts außerordentlich wichtig (man denke beispielsweise an die enorme Bedeutung des aufklärerischen Ideenstreites oder an die große Neuerung, die das erstmalige Entstehen eines ziemlich breiten Buchmarktes darstellte) und von »literarischer Serie« zu sprechen, ohne diesen breiten Kontext zu berücksichtigen, muß in einem Jahrhundert wie dem 18. unvermeidlicherweise als problematische Verkürzung erscheinen. Nur aus praktischen Erwägungen, um die Argumentation und die Untersuchung auf einen genau umrissenen Aspekt des Problems zu konzentrieren, beschränke ich mich hier auf die Schreibweisen, die Gattungen und die dominan-
1
R e m o Ceserani und Lidia de Federicis haben gemeinsam eine mehrbändige, mittlerweile mehrfach wieder aufgelegte Geschichte der italienischen Literatur verfaßt, auf die sich der hier abgedruckte Aufsatz bezieht: II materiale e l'immaginario. Laboratorio di analisi dei testi e di lavoro critico, Torino, Loescher 1979ff. Siehe auch die Rez. von Johannes Hösle in Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1981, S. 118ff. (Anm. des Hrsg.).
18
Remo Ceserani
ten Themen der Textproduktion im 18. Jahrhundert. Ich hoffe, auf diese Weise >in concreto< einige Probleme veranschaulichen zu können, die sich dem Literarhistoriker bei seiner Arbeit stellen. Die literarischen Schreibweisen und Gattungen müssen meiner Ansicht nach funktional und unter besonderer Berücksichtigung der historischen Dynamik, die sie hervorbringt, untersucht werden. Jede historische Epoche ist nämlich durch eine unterschiedliche Hierarchisierung der literarischen Schreibweisen und Gattungen chrakterisiert, durch eine verschiedene Konkretisierung der Imaginationsweisen in verschiedenen historischen Formen und Gattungen, durch den Niedergang, die Umformung oder das Verschwinden einiger Gattungen und die Entdekkung neuer Schreibweisen und Darstellungsarten, die im Hinblick auf die Erkundung neuer Erfahrungsbereiche oder auf die Wahrnehmung neuer kognitiver, persuasiver und narrativer Strategien funktional sind. In einem außerordentlich wichtigen, eben der Untersuchung der Gattungshierarchie im 18. Jahrhundert gewidmeten Aufsatz stellt Ralph Cohen (1974)2 die These auf, daß es in den Augen der Literaten des 18. Jahrhunderts weder eine scharfe und konventionelle Unterscheidung zwischen den Gattungen noch spezifische Regeln oder klar definierte Wirkungsvorgaben für die einzelnen Gattungen gab: Rather, the poetic kinds were identified in terms of a hierarchy that may not have been all-inclusive (since not all possible forms were specified) but were all interrelated. A n d this hierarchy can be seen in terms of the inclusion of lower forms into higher - the epigram into satire, georgic, epic; the ode into epic; the sonnet into drama; the proverb into all preceptive forms. (Cohen 1974, S. 3 5 - 3 6 ) A shift in the importance of georgic forms was part of the didactic shift, altering the status of satire, epistle, and the fable, as well as that of smaller forms such as the epigram, aphorism, and the maxim, whether in prose or verse. I do not wish to imply that forms have a life of their own, some kind of metaphysical essence. Literary forms are written or spoken by people and they are addressed to people. When poets turn to one form rather than another, when critics defend o n e kind of hierarchy rather than another, they do so for reasons that are related to personal, public, and professional commitments. (Cohen 1974, S. 4 0 - 4 1 )
Über die Einführung der wichtigen Begriffe »Interrelation« und »Hierarchie« literarischer Schreibweisen und Gattungen hinaus leistet Cohen einen Beitrag zur Unterscheidung von Schreibweisen und Gattungen wie auch zur Definition von Schreibweise (»Modus«): >Form< refers to a combination of means to lead to a specific effect; >mode< refers to kinds of means. Thus there is a pastoral form - Pope's or Phillips' >Pastorals< - but pastoral as a mode can apply to different poetic kinds - to >Lycidasverso scioltoverso barbarostilus gravisstilus mediocris< und »stilus humilisEsprit des loisvorwärtsgerichtete< Funktion zu. G e g e n den Radikalismus einer gewissen Literaturkritik, die im N a m e n rigoroser Prinzipien treue häufig alles, was den R a h m e n des eigenen >Systems< sprengte, einfach amputierte oder verdrängte, wird hier Rationalisierung und Suche nach neuen methodologischen Gleichgewichten betrieben. Asor Rosa schreibt also: Io non avrei dubbi sul fatto che i metodi critico-letterari si presentino [...] come tipici >codici interpretative del testo/contesto letterario. Se l'affermazione non è infondata, ne derivano due conseguenze. La prima è che tali codici non fanno altro (non possono far altro) che tradurre la >verità del testo< in un linguaggio altrorivelazione< e >falsificazione< caratterizza praticamente ogni applicazione del metodo scientifico, non rifiuterei tale generalizzazione. La seconda conseguenza è che tali >codici< non sono meno degli »strumenti interpretativo-scientifici< che delle »categorie storico-culturalisistemasistemarlo< nel proprio >sistemaTextgedruckter< Text, der auf diese Weise ein je bestimmtes und bestimmbares >Publikum< erreicht. Sicher, es müßte theoretisch auch möglich sein, in vielleicht weniger systematischer Form, eine parallele >Rezeptionsgeschichte der Kladdenaufgenommen< wurden als später in veröffentlichter Form. Die Praxis der Lektüre von 3
4
G. Macchia: »II successo di Swann non può darmi alcun piacere«, in Corriere della Sera, 1 marzo 1986, S. 3; vgl. auch Le rovine di Parigi, Milano 1985, S. 301. H. R. Jauß: »La douceur du foyer: The Lyric of the Year 1857 as a Pattern for the Communication of Social Norms«, in: Romance Philology 65 (1974), S. 2 0 1 - 2 2 9 (die deutsche Fassung findet sich im Reader von R. Warning: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 401-434).
Paolo Chiarini
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Manuskripten vor einem breiteren, ja einem Massen-Publikum, die im Rahmen politischer und gesellschaftlicher Ausnahmezustände insbesondere in der slawischen Welt (wo es, darüberhinaus, das bekannte Phänomen des samisdat und seiner unterirdischen Kanäle gibt) seit langem üblich ist, ist im übrigen in neuerer Zeit wieder in Mode gekommen. Diese müßte aber, sieht man von dem Mangel an beweiskräftigen und sicheren Daten zur genaueren Bestimmung der Modalitäten und Auswirkungen dieser spezifischen Verbreitungsform von Literatur ab, eine nicht nur metaphorisch indirekte Problematisierung der oralen Dimension der Schrift, jenes »Mitschwingens der Stimme« also, von dem Paul Zumthor in seinem bekannten Buch spricht, 5 nach sich ziehen. Doch diese Frage möchte ich hier außer acht lassen. Nicht darin besteht jedenfalls die materielle Grenze des (ich wiederhole: modernen) Begriffs des literarischen Textes im Theoriezusammenhang der »Wirkungsästhetik«, und auch nicht in der Tatsache, daß aus ihm häufig - sieht man von kritischen Klassiker-Ausgaben ab - die philologische Dimension (im Sinne von Paul de Man) der Varianten, der Überarabeitungen, der Vor- und Zwischenstadien herausgeschnitten wird. Sie muß vielmehr (und es handelt sich hier, wohlgemerkt, um eine durchaus bewußte und einem bestimmten wissenschaftlichen Zweck angemessene Wahl) in einem rigiden Begriff des Textes als eines fertigen Produkts gesucht werden, das gleich anderen Produkten, wenn auch, versteht sich, mit seinen besonderen Merkmalen, in einen Konsumkreislauf eintritt. All dies ist natürlich legitim und wichtig, schöpft die Kategorie der Textualität aber gewiß nicht aus, wenigstens insoweit nicht, als eine derartige Konzeption eine bedeutsame kontrastive Dialektik, den Gegensatz nämlich zwischen »Produkt« und »Prozeß« (wobei der letztere Begriff nicht nur als »Produktionsprozeß«, sondern auch als »historischer Prozeß« verstanden werden muß), aus ihrem Problemhorizont ausschließt. Dazu aber später mehr.
II Am Horizont des literaturwissenschaftlichen Diskurses der Gegenwart, der eher einem Nebelfleck als Kants »gestirntem Himmel« ähnelt, treffen wir an hervorragender Stelle eine Methodenkonstellation an, die, wie heutzutage viele andere, aus der Krise der Historizismen und vor allem des marxistischen entstanden ist, die aber nicht gegen die Geschichte im Namen einer rein formalen und jedenfalls spezifischen Interpretation die Alterität des literarischen Textes postuliert, sondern den Text selbst als Wegweiser ex negativo im Innern dieser Krise angesiedelt wissen möchte, als »epochale Linienführung«, die mitten durch den Nihilismus läuft und das Weltbild des klassich-bürgerlichen Humanismus von innen heraus zermürbt und unterminiert. Es handelt sich hier um einen Prozeß, der ausgeht 5
P. Zumthor: Introduction
à la poésie
orale, Paris 1983, S. 9ff.
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Der »verborgene« Text
vom verführerischen Reiz des Chaos, von den Konturen jener terra incognita, die die Romantik jenseits der von den beiden scheinbar gegensätzlichen, in Wirklichkeit aber komplementären Elementen - Bewahrung und Fortschritt - getragenen fragilen Sicherheit der »Weimarer Klassik« eröffnet hat. Dies ist der Grundzug, der die kulturelle Dialektik in Europa zwischen 19. und 20. Jahrhundert charakterisiert. Ferruccio Masini (in Italien ein Hauptvertreter dieser »Hermeneutik des Nihilismus«) formuliert es sehr schlagkräftig so: mentre [ . . . ] l'ideale del progresso si profila [ . . . ] come idea regolativa di una Veredlung che di contro al Naturstaat assolutistico-feudale giustifica lo stato borghese proiettandolo utopisticamente, come >Stato della libertà« [ . . . ] , nel superamento artistico della religione (cioè del momento feudale), il motivo della conservazione viene dal canto suo idealizzato mediante il riferimento normativo all'antichità classica. 6
Gegen eine derartige »connessione armonica di questi elementi, alla loro perfetta saldatura nell'ambito di una prospettiva totalizzante del processo storico interpretato secondo una linea di sviluppo volta a realizzare un' >emancipazione universalmente umanainterpretierteText< zum Begriff >Textfeld< oder (was dasselbe ist) >Text als historischer Prozeß< betreffen, als einer Hypothese, die geeignet sein könnte, die >Amputationen< der Kommunikationsästhetik wieder rückgängig zu machen; auf der anderen Seite haben wir einen meiner Meinung nach exemplarischen Fall von >Latenz< des Textes als spezifischen literarischen Gegenstandes im Umkreis eines Ansatzes analysiert, den wir als philosophische Hermeneutik bezeichnen könnten (vgl. Abschnitt II.). Es ist nun vielleicht an der Zeit, auch bezüglich des ersten Falles die Karten aufzudecken und auf den Tisch zu legen.
15
16 17
W. Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Bd. I, 1, Frankfurt/M. 1974, S. 226. W. Benjamin: Gesammelte Schriften, a . a . O . , Bd. II, 2, 1977, S. 468, A n m . 4. J. W. Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 575.
Der »verborgene« Text
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IV Im Jahre 1922 verlieh Herbert Ihering, der allseits geachtete Theaterkritiker des Berliner Börsen-Courier, den hochangesehenen »Kleist-Preis« an einen nahezu unbekannten Schriftsteller für ein Werk, das seiner Meinung nach einen völlig neuen Ton in die deutsche Literatursprache gebracht und »über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert [hatte].« 18 Das Paradox dabei ist folgendes: eben die entschlossene Geste, mit der sich der junge Brecht Ende der zehner und Anfang der zwanziger Jahre auf der Bühne einer noch ganz und gar dem Expressionismus verhafteten Generation bemerkbar machte, indem er in seinem ersten Drama - Baal - die Genialität als poetologische Kategorie explizit parodierte, jedoch als expressive Kraft dieser neuen Schreibweise wieder legitimierte, stellte er gleichzeitig eine traditionelle >Figur< und einen >heiligen< Gegenstand der modernen Kultur zur Diskussion: den Autor und den Text. Es handelt sich hier offenkundig um eine kreative Praxis, die innovatorische Elemente zuerst in der expliziten, direkten Polemik gegen eine >institutio< einführt, die, wie avantgardistisch auch immer, in den neuen literarischen Zirkeln des wilhelminischen Deutschland sich etabliert hatte - gemeint ist der Expressionismus - , und die erst später (und, wie sich versteht, nach allerlei Wandlungen) zu vollem theoretischem Bewußtsein kommt. Versuchen wir, die wichtigsten Etappen auf diesem Weg nachzuvollziehen. Als Brecht 1929 von Alfred Kerr beschuldigt wurde, in der Dreigroschenoper19 Villon plagiiert zu haben, tat er die Polemik mit dem Hinweis auf seine »grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums« 20 ab. Drei Jahre später kam Brecht in einer seiner Geschichten vom Herrn Keuner auf das Thema zurück, in einem geradezu beispielhaft prägnanten Apolog: >Heutegibt es Unzählige, die sich öffentlich rühmen, ganz allein große Bücher verfassen zu können, und dies wird allgemein gebilligt. Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigner Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt. Freilich gibt es dann auch keinen Gedanken, der übernommen werden, und auch keine Formulierung eines Gedankens, die zitiert werden könnte. Wie wenig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein Federhalter und etwas Papier ist das einzige, was sie
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H. Ihering: »Der Dramatiker Bert Brecht«, in: Theater in Aktion. Kritiken aus drei Jahrzehnten 1913-1933, hrsg. von E. Krull und H. Fetting, Berlin 1986, S. 98. A . Kerr: »Brechts Copyright«, in: Berliner Tagblatt vom 3. Mai 1929 (später in Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte Materialien Dokumente, Frankfurt/M. 1960, S. 2 0 2 - 2 0 4 ) . B. Brecht: »Erklärung«, in: Berliner Börsen-Courier, Mai 1929, und in »Die Schöne Literatur«, Juli desselben Jahres (später in Gesammelte Werke, Bd. XVIII, Frankfurt/M. 1967, S. 100).
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vorzeigen können! Und ohne jede Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, das ein einzelner auf seinen Armen herbeischaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Größere Gebäude kennen sie nicht als solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!uti singulus< einige der dichterisch schönsten Texte der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts verdanken, und daß auch seine Stücke, die im Kreise eines Mitarbeiterteams diskutiert und erarbeitet wurden, ohne den subjektiven >Schmelztiegel< von Brechts Persönlichkeit und ohne eine genaue, eben seine, auktoriale Vorstellung ganz und gar undenkbar wären. Trotzdem bleibt als gesicherte Tatsache der Bezug auf den Text als Prozeß bestehen, und somit - als unvermeidliche Folge - eine kräftige Relativierung des Prinzips der auktorialen Legitimation gegenüber einer bestimmten Form des Textes selbst. Mit deutlicheren Worten: In der Vergangenheit wurde von der Textphilologie unter der Vielfalt der Fassungen bekanntlich meist die sogenannte Fassung »letzer Hand« bevorzugt, als ob diese >letzte< Form durch eine unwiderrufliche testamentarische Willensbekundung autorisiert wäre (wobei das Adjektiv >letzt< zeitlich, aber auch qualitativ, als Ergebnis einer konstanten Entwicklung >in meliuserster Hand< herauszuheben, als diejenige, die der ursprünglichen Eingebung am nächsten kommt und die, wenn sie veröffentlicht wurde, Gegenstand einer historisch >primären< Rezeption war (man denke z. B. an Goethes Werther von 1773-1774 und an die Neufassung von 1783-86). Meiner Überzeugung nach ist es unmöglich, auf diesem Gebiet strenge und eindeutige Kriterien aufzustellen. Eingedenk der soeben benannten Tendenzen erfordert gerade ein >moderner Klassiker< wie Brecht eben aufgrund der Eigenheiten seiner Arbeitsmethode - eine diachronische und die verschiedenen Fassungen vieler seiner Werke grundsätzlich gleichberechtigende Lektüre. Abgesehen von den Fällen, wo nur eine einzige Fassung existiert, 21 22
B . B r e c h t : Gesammelte B. Brecht: Gesammelte
Werke, a . a . O . , Bd. XII, S. 379f. Werke, a . a . O . , Bd. XVII, S. 1215.
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ist es nutzlos - und wissenschaftlich gesehen ein Irrtum - den >textus optimus< ermitteln zu wollen, da wir uns hier nicht dem Text und seinen >Varianten< gegenüberstehen, sondern vielmehr einer Textdimension bzw. einem Textfeld. Dies ist bis heute nicht verstanden worden, ja - eben im Fall von Baal - ist die ab 1955 allgemein anerkannte Lesart diejenige, die der Autor selbst nahezu 30 Jahre nach der eigentlich letzten (der vierten) Überarbeitung eines noch >in fieri< befindlichen Stoffes aufstellte: aus einer sehr distanzierten oder, wenn man so will, historisierenden Perspektive also, wie sie dem Vorwort zum Neudruck seiner Jugenddramen (Bei Durchsicht meiner ersten Stücke, 1954) zu entnehmen ist, das zumindest teilweise den Versuch legitimiert, diese Fassung selbst zu historisieren und als fünfte und angeblich letzte, keinesfalls aber als gegebenenfalls >beste< Fassung auszugeben. Diese revidierte Fassung, die 1955 in Band I der im Aufbau-Verlag (Berlin-DDR) erschienenen Stücke und 1957 in die parallele Suhrkamp-Edition (Frankfurt am Main) aufgenommen wurde und somit die >Vorlage< für die zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen abgab, pfropft einfach dem Text aus dem Jahre 1922 (d.h. der dritten Fassung) die erste Szene aus der zweiten Version aus dem Jahre 1919 (mit einigen Veränderungen) auf und greift für die Schlußszene auf eine in der gedruckten Ausgabe dann weggelassene Variante aus eben dem Jahr 1922 zurück. Das alles erlaubt uns nicht, vom Text aus dem Jahre 1955 als von einer eigenständigen Bearbeitung zu sprechen; es handelt sich bestenfalls um eine Kontamination verschiedener Fassungen, und überdies um eine äußerst beschränkte. Seine Grundlage ist noch immer der zwischen 1919 und 1920 verfaßte und 1922 publizierte Text, von dem sich Brecht (kaum hatte er den IV. Akt von Trommeln in der Nacht beendet) in einer Tagebuch-Aufzeichnung vom Juli 1920 bereits kritisch distanziert: D e n vierten Aktk neu durchgearbeitet, diesmal ganz anders als bei Baal, den ich gründlich verpfuscht habe, wie ich jetzt einsehe. Er ist zu Papier geworden, verakademisiert, glatt, rasiert und mit Badehosen usw. Anstatt erdiger, unbedenklicher, frecher, einfältiger! 23
Ihm vorausgegangen war eine erste, im Frühsommer 1918 als >Replik< auf das expressionistische Drama Der Einsame. Ein Menschenuntergang von Hanns Johst geschriebene Fassung; und eine zweite aus dem Sommer 1919, als sich Brecht, nach der Arbeit an einem Spartacus (der ersten Version der späteren Trommeln in der Nacht) wieder dem Baal-Stoff zuwendet und in einem einzigen Monat intensiver Arbeit eine neue Fassung des Textes erstellt: die breiteste (29 Szenen im Vergleich zu den 26 des Jahres 1918), die expressivste und poetisch genialste, die sich überdies nunmehr vollständig vom Einsamen gelöst hatte. Obwohl sie zum Druck bestimmt war, wovon die Existenz einer sauberen Reinschrift zeugt, bleibt
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B. Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiographische von H. Ramthun, Frankfurt/M. 1975, S. 21.
Aufzeichnungen
1920-1954,
hrsg.
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sie bis 1966 unveröffentlicht. Eine der außergewönlichsten Leistungen des jungen Brecht, die erst posthum - zehn Jahre nach dem Tode des Autors - aus dem Nachlaß wiederaufgetaucht ist, wartet noch darauf, von Literaturwissenschaft und Theaterwelt in ihrer genauen Bedeutung und spezifischen Tragweite als erster Höhepunkt der dichterisch-dramatischen Arbeit Brechts anerkannt zu werden. Auf die Fassung von 1922 folgt schließlich Ende 1925/Anfang 1926 die dramatisierte Biographie< Das Leben des Mannes Baal, die vom Versuch zeugt, auf eine so schillernde, subjektive und von einer unbändigen lyrischen Spannung gezeichnete Materie die Prinzipien des im Entstehen begriffenen >epischen Theaters< und die funktionaleren Formen der >Neuen Sachlichkeit* anzuwenden. Die Bedeutung dieses Leben des Mannes Baal besteht gerade darin, daß es an der Scheide zweier verschiedener Phasen von Brechts poetisch-dramatischem Schaffen steht, folglich von beiden geprägt ist und die äußersten Grenzen der >Baalschen Dimension*, die von der panischen, >naturhaften< Lyrik der Anfänge bis zur Schwelle des technischen Zeitalters* reicht, aufzeigt. 25 Fassen wir zusammen: ein literaturwissenschaftlicher Diskurs über Baal (das Beispiel steht hier wohl für viele andere) ist nur dann sinnvoll, wenn gleichzeitig die Gesamtheit von Brechts >Experimenten* in Betracht gezogen wird, in denen er zwischen 1918 und 1926 versuchte, seinem Stoff eine Form zu geben. Diese Gesamtheit ist in der Kontinuität, aber auch in den Brüchen, bezüglich Ausgangspunkt und Endpunkt erkennbar, entlang eines >textuellen Weges*, der ästhetische oder wertende Entscheidungen zuläßt, aber keinesfalls, um es so zu sagen, hermeneutische Optionen, die sich nur auf ein einzelnes Segment gründen. Denn der Text des Baal existiert, letzten Endes, nicht.
V Das letztgenannte Beispiel konkreter Latenz unterscheidet sich also von den anderen Formen metaphorischer Verborgenheit, auf die ich mich im Laufe meiner Überlegungen bezogen habe. Und es trifft sich auch nicht (hier kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück und schließen somit den Kreis dieser, wie ich schon sagte, sehr fragmentarischen Ausführungen) mit den Thesen, die Asor Rosa ein Jahr nach dem Vorwort, von dem ich ausgegangen bin, formulierte. Auf die
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B. Brecht: Baal, Drei Fassungen, hrsg. u. kritisch kommentiert von D . Schmidt, Frankfurt/M. 1975. A b 1926 kann man diese 'Konstellation* in ihrer >Gesamtform· als endgültig überwunden ansehen, wie das Fragment des >Lehrstückes* Der böse Baal, Questo dannato candore*. Metamorfosi e omologie di una testualità corporea«, in: TS, Ν.F., Η. 33, Trieste 1986, S. 6 - 9 .
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Frage, ob hinter all den literaturwissenschaftlich konstruierten >Masken< ein >nackter< Text existiere, antwortet er: »L'oggetto >nudoalten< Literator, gegen den Ästhetiker, gegen den Philosophen und gegen den Philologen. Als Programm der »inneren« und der »äußeren« Geschichte der Literatur kann sich am Beispiel von Gervinus und Koberstein ein Diskussionszusammenhang entfalten, der das geschichtliche Projekt gegen unhistorische Modelle durchzusetzen versucht. D e r Literator habe es nicht auf Sinnzusammenhänge abgesehen, der Ästhetiker verfolge nur das Verhältnis von Werk und generischem Ideal, und der Philosoph verstehe zwar manches von Philosophie, aber gar nichts von Geschichte. Lassen sich diese Positionen unter dem Stichwort des >unhistorischen Apriorismus< leicht ausgrenzen, so fällt es schwerer, die Differenz von Philologie und Geschichtsschreibung näher zu bestimmen. Kann man das »kulturelle Kapital« allein vom Detail oder nur aus »größerer Übersicht« erschließen? Benötigt man eine Sicht »von unten« oder einen Blick »von oben«? Gervinus' »Poetische Nationalliteratur« stimuliert diesen Streit, in dem sich insbesondere die Grimms auf der einen und Gervinus auf der anderen Seite gegenüberstehen. Die Konfrontation zwischen der »Andacht zum Unbedeutenden« und der »genetischen Methode«, die strikt auf einer grundsätzlichen Verbundenheit besteht, grenzt (zumindest in der Praxis) die Geschichtsschreibung über Literatur gegen die Philologie ab. Literaturgeschichtsschreibung heißt die Rede von einem Zusammenhang, der >unterhalb< der nur chronologischen oder generischen Verbindung literarischer Werke erst zu suchen ist. Gervinus (wie auch andere Vertreter des Historismus) favorisiert hier die A n n a h m e von Ideen, die vor der Geschichte liegen und in der Geschichte wirksam werden. Sie zu finden und in ihrer Entfaltung zu beschreiben, macht die Arbeit auch des Poesiehistorikers aus. Kunstcharakter und Hermeneutik finden hier ihren systematischen Ort. D e n n ohne divinatorische Fähigkeiten (und ohne genaue Quellenkenntnis) erscheint es unmöglich, zur Ideendimension der Geschichte vorzudringen. A n diese Theoriestelle konnten sich folgenreiche Entwicklungen anschließen. Konstruktion hat sich nicht als fähig erwiesen, ganz in Rekonstruktion aufzugehen. Die Differenz von Schaffen und Nachschaffen eröffnet den unabschließbaren Prozeß historischer Sinnauslegung, wie er bereits in den 1820er Jahren von Ludwig Tieck ironisch prognostiziert wurde. Stets neue Literaturgeschichten wußten sich daher aus den rekonstruktiven Mängeln und falschen Selektionen ihrer Vorgängerinnen zu legitimieren. Mittels ideologiekritischer Verfahren ist zu zeigen, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Funktionen bestimmte Weltanschauungen oder religiös-ethische Zugriffe die Literaturgeschichte als ideellen Zusammenhang neu zu entwerfen versuchten, ohne am Verfahren der Sinnauslegung selbst etwas ändern zu wollen. Und eine Reihe binnendifferenzierender
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Sorten konnte sich - adressatenspezifisch - für Haus, Schule oder Weiblichkeit als probate Zusammenschau je anempfehlen. Für die Literaturgeschichtsschreibung bis etwa 1840 lassen sich eine Vielzahl solcher Varianten angeben (katholisch, protestantisch, legitimistisch, demokratisch usw.; Mädchenschulen, Gelehrtenschulen, Mittelschulen usw.). Erst die Differenz von Konstruktion und Rekonstruktion eröffnet die Chance für ideologische Umbesetzungen und für eine breite Sortenausfächerung. Jenseits aller ideologischen Differenzen aber läßt sich eine entelechische Struktur für alle mir bekannten Literaturgeschichten nachweisen. Entelechische Modelle stehen dabei vor zumindest drei zentralen Schwierigkeiten. Einmal benötigen sie einen klar ausgrenzbaren Gegenstand, der auch im Entwicklungsprozeß stets als Gegenstand bewahrt bleibt. Zweitens müssen sie zeigen, daß dieser Gegenstand erst in der Entwicklung zur Erscheinung kommt, drittens jedoch in seinem ideellen Gehalt immer schon präsent war. Die Herdersche Rede vom »Innersten« und von der Geschichte findet in der Entelechie ihr Konzept. Auch an der Menschheitsgeschichte hätte versucht werden können, einen entelechischen Verlauf nachzuweisen. Im Umkreis der Frühromantik und auch Goethes sind ja weltliterarische Konzepte durchaus diskutiert und eingefordert worden. Aber nicht die Welt-, sondern die Nationalliteratur hat als Gegenstand der Entelechie Erfolg gehabt. Um nationale Kultur hat man sich seit dem deutschen Humanismus verstärkt bemüht, und die ersten Versuche über deutsche Sprache und Literatur haben hier (inspiriert von der Taciteischen »Germania«) ihren Ausgangspunkt. So entsteht eine Tradition, in der das gegenwärtige Deutschland mit seiner Vergangenheit, die deutschen Anfänge mit der Antike, vor allem aber die deutschen >Leistungen< mit denen der anderen Nationen (vornehmlich Frankreich und Italien) verglichen werden. Von Opitz über Morhof, Gottsched, Bodmer und Justus Moser bis hin zu Mme de Staël und noch Carlyle geht es um den Wertnachweis gerade auch der deutschen Poesie im Angesicht etwa französischer Suprematieansprüche. Es handelt sich um eine Art agonaler Querelle, die sich der chronologischen Anordnung nur im Sinne litterärhistorischen Aufzählens bedient, noch nicht aber einen Sinnzusammenhang zwischen den literarischen Texten herzustellen versucht. Die Zeitalter-Schemata etwa von Ortlob oder Morhof haben stets nur eine Rahmenfunktion, gleichwohl schon hier zwei folgenreiche Tendenzen sich andeuten: einmal die Annahme von Blütezeit und Niedergang (im Sinne einer Wellenbewegung) und dann die Ableitung von Dekadenz jeweils aus ausländischer Hegemonie. Da es um den Wertnachweis des Deutschen geht, müssen alle Werke aber ununterschieden gelobt werden, wobei man sich noch ganz an poetischen Geschmacksidealen orientiert. Aus solch' patriotischen wie auch aus systematischen Gründen spezifiziert sich die Litterärgeschichte zusehends nationaler und koppelt seit Morhof eine eigenständige Gattung, die »Poesie und Beredsamkeit der Deutschen«, aus der historia literaria aus; bis in die 1830er Jahre sind solche litterärhistorischen Derivate in
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Deutschland nachweisbar und wirkungsmächtig. D e r seit den 1760er Jahren verstärkt a u f k o m m e n d e >Plan einer deutschen Literaturgeschichte< steht in dieser Traditionslinie und hofft, würde nur die Kenntnis des deutschen Altertums quantitativ wachsen, sich über kurz oder lang realisieren zu können. Gerade Literatoren suchen darum bewußt ihr Bündnis mit der vermeintlich ähnlich arbeitenden neuen deutschen Philologie. Zweifellos ging es zwischen dem 16. und dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch um die Vorstellung deutscher Identität. Aber das Eigene wurde höchstens als ein Tugendkatalog, der nicht durch Fremdes verdeckt werden durfte, in diesen litterärhistorischen Versuchen reflektiert, nie aber als der Entfaltungszusammenhang nationalen Sinns. Das unterscheidet eine nationale Ordnungs- von einer nationalen Sinnkonzeption. Für ein nationales Ordnungskonzept (selbst bei Moser, Z i m m e r m a n n und Abbt) steht, auch wenn es die Deutschen noch als Sprach- oder schon als Kulturnation begreift, nicht im Vordergrund, das >Nationale< zum archimedischen Punkt, zum wichtigsten Bedingungsgrund der Moderne, zu erklären. Dies ändert sich grundlegend seit H e r d e r und den Schlegels. In Ansätzen bei Herder, dann aber insbesondere bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel läßt sich zeigen, wie die Nation als Gegenstand der Entelechie eingeführt wird. Nach 1800 wird in den literarhistorischen Darstellungen beider Schlegels eine Theorie von M o d e r n e als Theorie des Romantischen verfolgt, die die Nation zu ihrem Kernstück gemacht hat. Es läßt sich nachweisen, daß zugleich eine Hegemonie der Deutschen, als Stellvertretern von Universalität, aus den Abstammungsverhältnissen der Moderne zu konstruieren versucht wird. Diese deutsche Universalität hat die Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert fast durchgängig bestimmt. Auf G r u n d ihrer prominenten Stellung vermag so die deutsche Literatur zugleich zum Abbild der Weltliteratur zu werden. Das Nationalkonzept hat sich als besonders günstig für entelechische Vorstellungen erwiesen. »Innerstes« heißt jetzt: Innerstes der deutschen Nation, und es verkörpert sich nun in den als gesteigerten Sinnverhältnissen ausgelegten Blütezeiten, die schon bald als die zwei großen deutschen Klassiken firmieren werden. Entfaltung heißt: Entfaltung des deutschen Geistes insbesondere in der deutschen Literatur. G e r a d e in der nachhegelschen Diskussion wird die These vom Ende der Kunst zugunsten der These, daß nur in der Kunst sich Geschichte als Leben verkörpere, fallengelassen. Einhergeht, daß der alte Begriff von Literatur im Sinne von Literalität aufgegeben und ersetzt wird von einem emphatischen Begriff der Poesie. Nationalliteratur definiert sich daher seit etwa den 1820er Jahren kaum noch im gelehrten Sinne. Gemeint sind nicht mehr die »schriftlichen Erzeugnisse der deutschen Nation«; Nationalliteratur heißt jetzt der »Spiegel des inneren Volkslebens«, und der Entfaltungszusammenhang der deutschen Literatur läßt ein Selbstbewußtsein entstehen, das nur aus der Poesie bislang zu gewinnen ist. Soll dieses Selbstbewußtsein verallgemeinert werden, ist Bildung, nicht mehr Gelehrsamkeit erforderlich. Ganz bewußt setzt die Literaturgeschichtsschreibung sich deshalb
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von einem gelehrten Adressatenkreis ab und will für das gebildete Publikum schreiben oder aber durch (schulische) Erziehung wirken. In diesem Sinne hat die Literaturgeschichte bis zumindest in die 1840er Jahre hinein einen operativen Charakter. Sie will, so Danzel, eine >verhaltene Parlamentsrede< sein, in der die Entelechie deutscher Nationalliteratur zugleich als Entelechie des deutschen Volkes zu erweisen versucht wird. Taten sollen nun folgen. Daher mußte die politisch-aktionistische Stoßrichtung der neuen Literaturgeschichte zunächst im Vordergrund stehen. Daß eine neue Zeit angebrochen und eine alte, einseitig auf die Kunst ausgerichtete Epoche an ihr Ende gekommen sei, galt nicht nur Junghegelianern und Jungdeutschen als offensichtlich, sondern bestimmte auf breiter Front die Literaturgeschichtsdiskussion. Die Theorie vom Ende der Kunstperiode versprach zugleich eine neue Rückführung der Erudition ins Leben, die nun nicht mehr als »tote Gelehrsamkeit^ sondern als Bildung erscheint. Der Kritik sind dann alle Formen auszusetzen, die entweder der alten Kunstperiode verhaftet bleiben oder aber sogar noch hinter ihre Errungenschaften zurückgehen wollen. Diesen (am Katholizismus orientierten) Ausgrenzungsnachweis zu führen, versucht - grob gesprochen - die Literaturgeschichtsschreibung von Jungdeutschen (Gutzkow, Wienbarg, Mündt, Laube, Heine) und Junghegelianern (bes. Echtermeyer und Ruge). Ihr Novum lag darin - an Echtermeyer/ Ruges Artikelserie »Der Protestantismus und die Romantik« kann man es exemplarisch untersuchen - eine Verdopplung der deutschen Literaturgeschichte (in eine rechte und eine schlechte) zu konstruieren und dann nur eine als Spiegel des wahren Volkscharakters auszugeben. Die Entelechie der einen deutschen Nation war dadurch in Frage gestellt und wurde ersetzt durch gegeneinander agierende Traditionen - so jedenfalls erscheint es jener Historiographie, die strikt an Einheitsvorgaben festhält und nichts mit der frühen Kritik der jungen Bewegung gemein haben will. Von Gervinus über Hillebrand, Prutz, Hettner bis zu Geizer, Vilmar und Brederlow geht diese zweite Form von Literaturgeschichtsschreibung (die Karriere macht) von der Entelechie einer einheitlichen Nation aus und erklärt nicht ins Schema passende Autoren schlechthin für überfremdet. Der Ausschluß soll so nicht zu unterschiedlichen Traditionen, sondern zur Verbannung aus der Nation führen; die Kehrseite von Einheits- und Kanonbildung war so die folgenreichnegative Etikettierung von Autoren oder ganzen Epochen als jüdisch, jesuitisch, frivol oder >schwülstigSittlichkeitTat< bedarf, sich immer stärker an den Staat an. Die Lessing-Legende kommt nicht erst mit der >Scherer-ZeitEwig-SchönenEwig-Schöne< tritt seit den 1840er Jahren seinen Siegeszug an und findet seinen theoretischen Ausdruck in der Kontroverse zwischen Julian Schmidt und Rudolph Gottschall. Das >ReinMenschliche< sei erst - so Gottschall - im Medium des >Ewig-Schönen< des 19. Jahrhunderts entfaltet worden, und daher rechtfertige sich nun eine Literaturgeschichtsschreibung, die höchstens bis ins 18. Jahrhundert, aber nicht weiter zurückgehe. Während die Vergangenheit so musealisiert wird, erhöht sich die Leistung der Poesie als Darstellung des >Ewig-SchönenGelehrtenGebildetenGemeinschaftParteiKlassischejungdeutschen Unrat< bezieht, wird in groben Umrissen entworfen. Damit ändert sich der Bildungsbegriff. Für die junge Bewegung galt Bildung als das angeeignete kulturelle Kapital, das - aus dem Volk stammend - auf die Befreiung des Volkes ausgerichtet werden mußte. Dem Bildungsbürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber, wie es in den Literaturgeschichten sich adressiert findet, wird Bildung zum Gegenstand anlaßbezogener Geselligkeit. Ihre soziale Organisationsform ist der Verein, und es ist kein Zufall, daß seit den 1840er Jahren (die 1848er Revolution bildet hier keinen Einschnitt) viele Literaturgeschichten aus öffentlichen Vorträgen im Rahmen von Vereinen oder Gesellschaften hervorgehen. In solchem Kontext wird Literatur zum Gegenstand von Inszenierung und dient nicht mehr dem politischen Engagement, sondern der Ästhetisierung von Alltagsleben. Dies hat einschneidende Folgen für die Struktur der Literaturgeschichte. Einmal sind die Darstellungen seit den 1850er Jahren - als »dem deutschen Haus« zugeeignet - viel stärker auf lebendige Anschauung< ausgerichtet, was eine durchgängige Vermehrung der Narration und ein Herausstellen der > menschlichen Seite< zur Folge hat. Zweitens nähert sich diese Literaturgeschichte immer deutlicher der Anthologie an oder geht ganz in ihr auf. Dies kann drittens zu einer vollständigen Auflösung der Form (»Bilder und Skizzen«) führen oder dann im Kaiserreich (Leixner u.a.) die Ornamentalisierung der Gattung, die vor allem im Prachteinband zu überleben vermag, nach sich ziehen. Hand in Hand damit geht sowohl das Eingeständnis historiographischer Epigonalität als auch die Musealisierung des literarischen Gegenstandes. Die deutsche Literatur wird hier gänzlich zum beliebten und beliebigen Gegenstand der Konversation oder der feierstündlichen Inszenierung, und die Literaturgeschichtsschreibung selbst gerät zum Thesaurus wichtiger Namen oder »schöner Stellen«. Schon in den 1850er Jahren hatte Kurz hierzu die Theorie geliefert, und in den 1860er Jahren spielen Ettmüllers »Herbstabende und Winternächte« die Konversations-Geselligkeit dann selbst am Beispiel alt- und mittelhochdeutscher Literatur durch. Das emphatische Programm einer nationalen Literaturgeschichte als Entelechie des deutschen Volksgeistes ist hier verabschiedet worden. Scherer versucht in den 1880er Jahren dann einen Einbruch in dieses museale Feld, eine Renationalisierung des ästhetischen Historismus mit seinen eigenen Mitteln und mit dem Gewicht, als Wissenschaftler zu sprechen. Nun läßt sich fragen, ob parallel zum Versanden des literarhistorischen Projekts im ästhetischen Historismus die Arbeit auch an umfassender Literaturgeschichte gerade von dieser Wissenschaft jetzt übernommen wurde. Versuche der Philologie, zu einer Gesamtgeschichte der Literatur zu gelangen, lagen durchaus vor. In allen Fällen führten solche Versuche allerdings lediglich zu einem eine Vielzahl von Informationen gammelnden, ungeordneten Handbuch. Der Philologie gelang es daher nicht, eine Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen zu
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erstellen; das philologische Ziel lag vielmehr, bei grundsätzlicher Geistteilhabe des einzelnen Forschers, im allmählichen Hervorbringen eines sich auf Miszellen aufbauenden Mosaiks, dessen Erreichen aber stets futurisiert wurde. Übrig blieb daher nur ein kompliziertes Netzwerk nicht mehr vom einzelnen überschaubarer Bezüge. Führte dies, wie bei Wackernagel oder Ettmüller, zur Literaturgeschichte, so entstand keine Gesamtdarstellung, sondern ein Thesaurus von Informationen, bei dem die Anmerkungen stets wichtiger als der Text erschienen. Insgesamt kam es bei dieser Ausrichtung zu einer historistischen Nivellierung der Geschichte, der auch Historiographien unterlagen, die weniger Miszellen, sondern ein Gesamtbild produzieren wollten (Scherer). Dieses philologische Verfahren wird nun seit den 1880er Jahren als >naiv< stigmatisiert. Seit Scherer selbst datiert der Versuch, sich solcher Naivitäten zu entziehen, indem man nicht den Gegenstand selbst sich offenbaren läßt, sondern ihn durch systematisch gewonnene Fragestellungen erst zum Sprechen bringt. Damit ergibt sich in der Wissenschaft eine Verschiebung von der Objekt- zur Metaebene, die dazu führte, daß der poetische Gegenstandsbereich durch übergreifende Interessen (allgemeine Gattungsforschung, Textsortenmorphologie, vergleichende Literaturgeschichte usw.) bestimmt und die Signifikanz der nationalen Eingrenzung bestritten wurde. Zwischen den 1880er und 1920er Jahren konnte die Philologie damit überlagert oder umgebaut und das Projekt der deutschen Literaturgeschichte für beendet erklärt werden, da ein nationaler Fokus nun nicht mehr sinnvoll erschien. Nicht nur in der sich verwässernden Gebildeten-Kultur, sondern auch in der Wissenschaft wurde das Projekt der deutschen Literaturgeschichte damit zunächst aufgegeben. U n d dieses Aufgeben ist noch in einem weiteren, letzten Areal deutlich zu bemerken: eben in dem Erziehungssystem, das gerade f ü r national-pädagogische Zwecke sich programmatisch der Literaturgeschichte bedienen wollte. Es läßt sich aber nachweisen, daß auch hier der nationalpoetische Imperativ erst im Gefolge des Neuhumanismus überdeckt, später pädagogisiert und in formalen Unterrichtstechniken kanalisiert wurde, deren Zielsetzungen weniger in patriotischer Erziehung, sondern in der Optimierung der Pädagogik lagen. Parallel dazu vollzieht sich eine immer stärkere Abkoppelung von Schule, Universität und Kultursystem. In allen drei Bereichen (Schule, Universität, Kultur) also hätte sich das Projekt der deutschen Literaturgeschichte so nicht weiter durchsetzen können, hätte es nicht durch die präfaschistische Formierung, die sowohl im kulturellen System, der Universität und der Schule sich geltend zu machen versuchte (um alle drei Systeme zum >Leben< erneut zusammenzuschließen) neue Impulse erhalten allerdings um den Preis einer sterilen Transformation. In den Ansätzen von Koch, Bartels oder Hildebrand u. a. wird das Nationale nämlich jetzt erbbiologisch fundiert und damit ein Auswicklungsprozeß des deutschen Nationalcharakters in der Literatur nicht mehr für gegeben gehalten. Dieser Richtung ging es nur noch darum, das immer schon bestehende Genetische als Kriterium zu nehmen, um das Fremde endgültig aus der deutschen Literaturgeschichte auszusondern. Solcher
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Haltung, die die Entelechie durch ein Walhalla ersetzte, hat der Nationalsozialismus dann nach 1933 zum Sieg verholfen und hat damit zugleich das Projekt der deutschen Literaturgeschichte fürs erste vernichtet.
Gianni Grana (Rom)
Literaturwissenschaft und/oder Literaturgeschichte? Die Mythisierung der »Rezeption«
Schon seit geraumer Zeit beunruhigt uns eine Frage, die ihrerseits ein Knäuel von theoretischen und technischen Problemen in sich birgt. Vereinfacht gesagt: Wie läßt sich, wenn man die redundante »moderne« und zeitgenössische Literaturkritik und die überbordende ästhetische und literaturtheoretische Produktion des 20. Jahrhunderts betrachtet, aus der vielbeschworenen und noch immer vergeblich erwarteten »Literaturwissenschaft« ein gangbarer Weg ableiten und wie läßt sich theoretisch und praktisch eine »Literaturgeschichtsschreibung« auf und zu diesem Weg situieren? Es wird niemanden überraschen, wenn ich - zugegebenermaßen summarisch - behaupte, daß die theoretischen und methodologischen Antworten, die wir bisher gefunden haben, uns noch lange nicht genügen können, da wir ja Gewißheit suchen und nicht Unsicherheit. Ein recht genaues Indiz äußerster theoretischer Ratlosigkeit und tatsächlicher operativer Ergebnislosigkeit liefern uns die ständig wiederkehrenden »Diskussionen«, Tagungen, Kongresse, Seminare über Literaturgeschichte, über Didaktik der Literaturgeschichte usw. Nur nach außen hin sind sie Ausdruck einer stolzen Gewißheit, die dem »Publikum« mitgeteilt werden soll; von innen betrachtet müßte man sie weit eher als typische rituelle Ausdrucksformen der Wichtigtuerei und des rhetorischen Wortgeklingels einer orientierungslosen Gemeinschaft Gleichgesinnter auf der Suche nach wechselseitiger Beschwichtigung bezeichnen. Und es steht zu befürchten, daß auch wir hier mit unserem pathetischen Vertrauen in das gesprochene Wort, in die improvisierte Diskussion nichts als intellektuelle Gymnastik betreiben, wenn es uns nicht einmal gelingt, in unseren durchdachteren schriftlichen Texten weniger zufällige theoretische Wegweisungen zu setzen. Im Bereich der Naturwissenschaften dienen wissenschaftliche Kongresse dazu, genau geplante Ergebnisse experimenteller Forschungen, manchmal unvorhergesehene, aber immer nachprüfbare und wiederholbare Entdeckungen und die theoretischen Rechtfertigungen, die der wissenschaftlichen Diskussion bedürfen, mit Hilfe geeigneter Multiplikatoren bekannt zu machen. Wir »Schwätzer« hingegen, wir Literaturkritiker, -historiker und -theoretiker haben nichts, was der (im übrigen nicht unumstrittenen) Seriosität dieser »erkenntnisbildenden« Verfahren, was der Unbestechlichkeit dieser technologischen Sichtung und Gewichtung, was der Widerstandsfähigkeit dieser theoretischen Konstrukte, die die experimentelle Praxis heuristisch stützen und ihrerseits durch sie pragmatisch abgesichert werden, auch nur im entferntesten vergleichbar wäre. Wir breiten hier die Früchte unserer theoretischen Reflexion und unsere spärlichen oder übergro-
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ßen Gewißheiten, bisweilen auch die uns bewegenden Fragestellungen aus - dies alles in dem Versuch, die inadäquaten theoretischen und methodologischen Grundlagen unseres Metiers zu bekräftigen und dabei die Beschränktheit scholastischer Wiederholung zu überwinden. Unsere »wissenschaftlichen« Instanzen erscheinen im formalistischen Ränkespiel bestimmter technizistischer Theorien und Praktiken in der Tat ungeeignet, wenn nicht gar falsch. Die »Literaturwissenschaft« als Erbin der heute wieder zu Ehren gekommenen antiken Rhetorik ist in ihren historischen Wurzeln wie in ihrer atemlosen Suche nach den funktionalen Prinzipien, den typologischen Modellen und den konstruktiven Mechanismen der nie in Frage gestellten Einheit des »literarischen Systems« noch von einer Logik beherrscht, die nicht »experimentell«, sondern theoretisch, d. h. philosophisch ist. Sie ist also in Wirklichkeit eine Pseudo-Wissenschaft und meint durch normative Abstraktionen einem »experimentellen«, d. h. literaturkritischen Material Gesetze diktieren zu können, das einer unbeugsamen individualisierenden und assimilierenden Energie, einem notwendigerweise »persönlichen«, wenn auch »dialogisch« ausgerichteten, auf logisch-intuitiven und vor-ästhetischen Wahrnehmungseindrücken beruhenden Antrieb entspringt. Hier fehlt somit die »Objektivität«, die notwendige Voraussetzung für Invarianz und Wiederholbarkeit ist, und das heißt für einen möglichen experimentellen »Beweis«, selbst innerhalb der Grenzziehungen, die die »Wissenschaftsphilosophen«, seltener die »Wissenschaftler«, gegenüber den Naturwissenschaften vornehmen. Wenn auch Literaturkritik nicht die Nachschöpfung oder, schlimmer, die eigentliche Erschaffung des »Werks« darstellt, wie einige degenerierte zeitgenössische Theorien vermuten lassen könnten, so setzt sie doch unleugbar hermeneutische Verfahren voraus, die die »Historizität« des literarischen Werkes nicht ersetzen, sondern in die Gegenwärtigkeit und Geschichtlichkeit der Interpretationen integrieren. Trotz ihrer Weiterentwicklung zu einer »literaturwissenschaftlichen Forschung«, die das technische Instrumentarium eines experimentellen »Labors« zur Schau stellt, bleibe ich doch der festen Überzeugung, daß technizistische Grammatiken nur Grundregeln, von philologischem Detailkram bis zu strukturellen Funktionen, zusammenzusetzen imstande sind, eine präskriptive Normativität also, die sich an bereits erloschenen oder im Augenblick ihrer Ausarbeitung und Weitergabe erlöschenden Konventionen ausrichtet. Auch der allgemein beobachtete Unterschied zwischen Theorie und Praxis bestätigt, wie diese ganze vorwissenschaftliche Kodifizierung nur sehr wenig mit den wirklichen Funktionsmechanismen kritischer Erfahrung zu tun hat. Wie es im künstlerischen Schaffensprozeß der Fall ist, so äußert sich in gewissem Maße auch das kritische Talent, das ihn zu vermitteln versucht, nicht so sehr in der Beachtung, sondern in der Abweichung, in der relativen Überschreitung und in Überwindung der institutionell vorgegebenen Normen, die ihm in seiner Lehrzeit als Grundlage gedient hatten. Dies mag auch die willentliche oder unwillentliche Demütigung kritischen Geistes bestätigen, die sich in manch scholastischer Wiedergabe zur Erlangung akademischer Grade zeigt. Wenn man andererseits von einer Literaturgeschichtsschreibung
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sprechen will, die im Gegensatz oder zumindest in Distanz zum offiziellen Strickmuster verfährt, dann wäre es doch allzu einfach zu verlangen, daß sich ihr struktureller Kern und ihre spezifische Identität nur an der Diachronie oder gar an der »Narrativik« orientieren sollten. Es mag offenkundig erscheinen, aber ich halte es für nützlich, an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, daß, wenn die sogenannte »synchronische« Analyse immer von historischen Durchschüssen markiert ist, die historiographische Synthese doch stets auf das Bedürfnis des Literaturkritikers nach einer diachronischen Konstruktion, die komplexe konzeptionelle Strukturen zueinander in Beziehung setzt und die Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Ereignissen aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet, antwortet. Die logisch-diskursive Textur ist immer von der kritischen Neubewertung literarischer Institutionen und literarischer »Praxis« durchzogen, auch in der Interpretation epochaler Phänomene mit all ihren historisch-kulturellen Implikationen, sozio-ökonomischen Auswirkungen, technisch-strukturellen Traditionen usw. Ich glaube also, daß die Unterscheidung einiger Theoretiker zwischen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik künstlich ist, da beide in einen gemeinsamen Wirkungsbereich, in die gleiche alltägliche »Forschungspraxis«, in eine instrumenteile und problematische Interdependenz mit einer je eigenen Organisationsstruktur und technisch-komparatistischen Zielsetzung eingebunden sind. Wenn überhaupt davon geredet werden soll, daß den theoretischen und normativen Exzessen der Kritik, insbesondere semiotisch-linguistischer Ausrichtung, eine Krise der Ordnungsprinzipien und -kriterien der theoretischen und praktischen Historiographie entspreche, dann nur im Sinne einer Infragestellung der diachronischen Koordinierbarkeit - in sich autonomer - literarischer Fakten. Denn wie die Literaturkritik so entwickelt auch die Literaturgeschichtsschreibung technische Regelwerke und methodologische bzw. heuristische Ansätze und folgt bestimmten fachspezifischen und fachübergreifenden Wegweisern; sie sucht aber gleichfalls, will sie sich nicht auf didaktische Beschreibungen und Paraphrasen beschränken, die Fesseln eben dieser Regeln immer wieder abzustreifen. Dies erfolgt »ursprünglich« innerhalb der Grenzen jener restitutiven Annäherung an die offenen »Formen« und »Wahrheiten« der Fiktion, jener auf Vertrautheit mit den historischen Gegenständen der Literatur beruhenden Interpretation, die wir aufgrund ihrer hermeneutischen Funktion »produktiv« nennen wollen. Was diese bisher noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeit betrifft, ist Literaturkritik wie Literaturgeschichtsschreibung das Bestreben gemeinsam, die Struktur und Historizität literarischer Texte zu erkennen, deren Grenze und deren Stärke, laut Gadamer, ja nicht nur in ihrer eigenen Geschichtlichkeit liegt, sondern in der unbegrenzten Vielfalt gegenwärtiger und zukünftiger Zugriffe. Aber für jemanden wie mich, der größte Achtung vor der Wissenschaft und Kunst als kultureller Avantgarde empfindet, muß dann die »Literaturwissenschaft« mehr als andere »Geisteswissenschaften« als illusionistische Spekulation erscheinen, die von dem ganzen Schaffensprozeß und selbst von den Reflexionen über Technik und Theorie des literari-
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sehen Schaffens weit entfernt ist. Und vielleicht gäbe es auch gar keinen Grund, darüber zu klagen, wenn wir uns über unsere spezifische Verpflichtung im klaren wären und jene pseudo-wissenschaftlichen Einschüchterungsversuche zurückwiesen, die in anderen historischen Disziplinen so durchschlagenden Erfolg haben. Wenn eine Literaturkritik und folglich auch eine Literaturgeschichte innerhalb der Normen einer »Literaturwissenschaft« tatsächlich die disziplinierte Vorgehensweise, die technologische Strenge, die strukturelle Quantifizierung von der experimentellen Wissenschaft oder der mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen operierenden Kybernetik, und zwar auch über die angestrebte Vermittlung der »Geisteswissenschaften« hinaus, übernehmen würde, dann geschähe dies um den Preis, daß die »Historizität« von Autor und individuellem Text unterdrückt, ja vielleicht selbstmörderisch auf den ihnen eigenen logisch-intuitiven Reichtum, auf die ihnen eigene Imagination im hermeneutischen Prozeß der Nachschöpfung verzichtet werden müßte. Aber bemerken wir, wenn wir uns umsehen, nicht genau dieses Phänomen in der wachsenden technischen, ja technizistischen Hypertrophie unseres Handwerks, in seinen immer mechanisierteren, elektronisierten Werkstätten, in den verbreiteten normativen und grammatikalischen Rationalisierungsversuchen? Dieser Entwicklung entspricht meiner Meinung nach aber kein »wissenschaftlicher« Fortschritt, sondern eher die Gleichschaltung und Entpersönlichung der kritischen Fähigkeiten und der kritischen »Funktion« an sich, wie man dies von Generation zu Generation in der universitären Lehre beobachten kann. Ich möchte mir hier, wohlgemerkt, nicht erlauben, diese zunehmende Tendenz zur Technologisierung in der Literaturkritik pauschal abzuqualifizieren. Sie entspricht dem Mißbrauch quantitativer Arbeitsmethoden in anderen historischen Disziplinen und spiegelt einen langen Prozeß der fachimmanenten Spezialisierung auch der früher »humanistisch« genannten Kultur wider. Ich halte aber die plump mimetische Vorgehensweise, die pseudo-wissenschaftliche Verbrämung und das Wiederkäuen philosophischer Schlagworte, die gewisse »literaturwissenschaftliche« Theorien durchziehen und die letztlich einer effizient arbeitenden experimentellen Wissenschaft entliehen sind, für unproduktiv. Diese Phänomene bezeugen meiner Meinung nach nicht die Herausbildung einer neuen »wissenschaftlichen« Literaturkritik, vielmehr reproduzieren sie auf das Schlimmste die vorerst ungelöste interdisziplinäre Verwirrung innerhalb der »Geisteswissenschaften«. Im folgenden möchte ich mich, da die »Literaturwissenschaft« ursprünglich im deutschsprachigen Raum verkündet wurde und dort auch heute noch zwischen »Geisteswissenschaft« und »Geschichtswissenschaft« in einer von Dilthey über Weber und Husserl bis zu Gadamer reichenden Tradition gelehrt wird, auf einige neuere deutsche Beispiele beschränken. Man möge mir verzeihen, wenn ich als Beispiel akademischer Pseudo-Wissenschaftlichkeit die schematische Theorie der »literarischen Kommunikation« von Harald Weinrich heranziehe. 1 Weinrich, der sich für »Rezeptionssoziologie« inter1
H . Weinrich: Grundlagen
der Literaturwissenschaft,
M ü n c h e n 1972.
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essiert und Untersuchungen über »Metapher und Lüge« sowie über den Tempusgebrauch im Text verfaßt hat, schlägt die Literaturkritik dem unbestimmten Bereich der »literarischen Kompetenz« zu, die weder spezifischer Untersuchungen bedarf noch den wissenschaftlichen Adel besitzt, den akademische Forschung verleiht. Mit bemerkenswert hohem Vertrauen in die universitären Institutionen glaubt er, daß Literatur nur dann wissenschaftlicher Praxis unterworfen werden könne, wenn diese verifizierbare Methoden anwendet, ihre Beobachtungen rational ordnet und ihre Ergebnisse veröffentlicht. Was für eine »Literaturwissenschaft« aber schlägt Weinrich vor? Schließlich kommt er doch immer wieder auf die »historische Methode« zurück, wenn er »Epochen«, »Schulen«, »Gattungen« und »Untergattungen« sicherer zu definieren sucht und diese häufig zufälligen Schemata als »Äquivalente« der Gesetze und die vorgeblichen Quellen und Einflüsse als »Äquivalente« der Ursachen in den experimentellen Wissenschaften betrachtet, ohne freilich anzugeben, wie diese Metaphorik zu verstehen ist. Weinrich präsentiert als aktuellere, fortschrittlichere, »wissenschaftlichere« Alternative zur alten Literaturgeschichtsschreibung eine Methode, die auch die Literatur als einen »Kommunikationsprozeß« ansieht, genauer: als den »Kommunikationsprozeß, in dem der Text als Botschaft fungiert«. Ein heute verbreitetes und in gewissem Sinn restauratives Modell, in dem der Autor, diesmal im Verein mit dem Leser, in einem durch einen angeblich »gemeinsamen Kode« verbundenen Kommunikationszusammenhang wieder auftaucht, in dem auch die berüchtigte »Botschaft« in formalisierter Verkleidung zu neuen Würden kommt. Insofern liefert uns die in ihrem kybernetischen Universalismus vieldiskutierte »Kommunikationswissenschaft« keine anwendbaren Versuchsmodelle, sondern einfache Metaphern für die scheinwissenschaftlichen Spiele einer künftigen »Literaturwissenschaft«. Dies ist also der in lapidaren Sentenzen niedergelegte strenge Mechanismus, demzufolge sich der Kommunikationsprozeß zur literarischen Text-Botschaft wie das Gesetz zum Naturereignis verhält. Vorausgesetzt und folglich auch undiskutiert bleibt die exakte Vergleichbarkeit der formalisierten Kommunikation in der Informatik mittels zwangsläufig allgemeingültiger Botschaften und Kodes mit der über ausgearbeitete geschlossen-offene Strukturen ablaufenden literarischen Kommunikation in der Literatur, von der man ohne Willkür nicht behaupten kann, daß sie auf dem Autor-Sender und dem mutmaßlichen Leser-Empfänger oder Adressaten gemeinsamen Kode gegründet sei. Eingesponnen ins riesige Netz der sprachlichen Kommunikation müßte somit die literarische Kommunikation (um das Spiel der Analogien fortzusetzen) das literarische Werk mit dem Sprachsystem, das Besondere mit dem Allgemeinen verbinden, d.h. wie durch ein Wunder »erklären«, wie »ein in seiner sprachlichen Substanz unverändertes Werk eine unterschiedliche Bedeutung für unterschiedliche Leser mit ihren unterschiedlichen Erwartungshaltungen annehmen kann«. Diese höhere akademische Wissenschaft, die sich »vorwissenschaftlicher Urteile über literarische Texte« enthält und Interpretationen auf der Grundlage einer niedrigeren »literaturkritischen Kompetenz« ausschließt, müßte dann freilich in
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der Lage sein, allgemeine Regeln für das Funktionieren, für die Entfaltung des unabsehbaren Sinnpotentials eines Textes aufzustellen. Und tatsächlich ist sie ja so entschlossen und selbstsicher, daß sie sich im Bereich der Schrift keine festen Grenzen setzt und nicht nur alle literarische Gattungen umfassen, sondern sich auch auf eine Menge weiterer textueller Wissenschaften beziehen will, wie beispielsweise der Rechtswissenschaft, der Geschichtswissenschaft und selbst der Theologie. Aber die hier ein weiteres Mal eingestandene Verständnislosigkeit gegenüber einer solchen Literaturgeschichtsschreibung, die sich auch auf eine andere Form der Historiographie, die ohne eine solche Literaturwissenschaft auskommt, bezieht, ist in gewisser Hinsicht tatsächlich begründet und einsichtig für jeden, der heutzutage das wenig angesehene Handwerk eines Literaturkritikers und -historikers betreibt und sich um die technisch-theoretische Überholung seines Instrumentariums bemüht. Er sieht rings um sich her eine wunderbare wissenschaftliche Renaissance Gestalt annehmen, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar gewesen wäre. Zwischen struktureller Linguistik, allgemeiner Semiotik und Kommunikationstheorien, Pseudo-Wissenschaften also, die auch die Vorherrschaft über die Literatur als bloßer Informationsproduktion anstreben, ist eine beeindruckende Vielfalt von »Theorien« entstanden, deren Wissenschaftlichkeit sich nur in ihrem Bemühen um Literaturtheorie erschöpft. Hinzu kommt noch, als technologische Mitgift, die Computerisierung, die sich in den »Geisteswissenschaften« lawinenartig über die Textanalyse ergießt - und das Bild »wissenschaftlicher« Evidenz ist perfekt. Nichts ist aber trügerischer und irreführender als die in den Geisteswissenschaften überaus verbreiteten spielerischen Abstraktionen - ermutigen sie doch viele »Wissenschaftsphilosophen«, die nie experimentelle Forschung betrieben haben, mit großer Gelehrsamkeit den rein theoretischen Charakter von Wissenschaft zu behaupten. Und diese traditionsreiche philosophische Behauptung beweist nicht zuletzt, daß sie außerhalb der experimentellen, laizistischen und atheistischen Kultur und außerhalb der Technologie stehen, die die moderne Wissenschaft pragmatisch verankert. In zahlreichen Literaturtheorien, wie auch in den anerkanntesten linguistischen und semiotischen Doktrinen, lassen sich technologisch und terminologisch verbrämte Mini-Philosophien erkennen, rein verbal-logische Konstrukte, rhetorische Strukturen eines »wissenschaftlichen« Zeitalters, die aber gleichzeitig jeglicher »wissenschaftlichen« Grundlage ermangeln und von jeglicher produktiven oder rezeptiven Texterfahrung abgekoppelt sind. Wie die Wissenschaft von den sprachlichen »Universalien«, so ist auch diese »Wissenschaft« darauf aus, nur sich selbst und ihre akademischen Hüter mit theoretischen Abstraktionen und typologischen Verallgemeinerungen zu bedenken, autonomen Modellen und Kodes, die weder auf die konkrete Hervorbringung literarischer »Werke« beziehbar ist, noch auf die experimentelle Praxis einer Literaturkritik, die zur Wahrnehmung der einem Text innewohnenden Werte wirklich fähig ist. Sie haben somit auch keinen Bezug zu der komplexen und produktiven »Geschichte« der Literatur und der literarischen
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Kultur, die immer in den Texten ihre erste Quelle und entscheidende Konkretisierung findet, auch wenn sie, wie wir wissen, sie nicht erschöpfend erfassen kann. Sie haben schließlich auch keinen Bezug zu der schwierigen historiographischen Rekonstruktion der Ereignisse, die, ausgehend von einer spezifischen Kultur und ihren wichtigsten technischen Faktoren, eben diese literarischen Produkte an den Ursprung und ins Zentrum eines von der literaturkritischen Rezeption abhängigen Folgeprozesses von Nachwirkung und Weiterleben stellt. Wenden wir uns nun einem Überblick über die theoretische »Revolution« der vergangenen Jahrzehnte und ihren historischen Vorläufern zu. In Auseinandersetzung mit der »Massengesellschaft« hat sich eine anspruchsvolle »Rezeptionsästhetik« entwickelt, die in den Augen ihrer Anhänger eine allgemeine Neubegründung der Literaturgeschichtsschreibung legitimiert und damit, wenn ich den Titel einer der grundlegenden Schriften von Hans Robert Jauß richtig verstanden habe, 2 einen Beitrag zur Verbreitung der »Literaturwissenschaft« leisten möchte. Vor allem anderen sei aber zunächst die Frage aufgeworfen, welche Mechanismen und Kanäle die Übertragung von Schriften und Texten, von literaturkritischen und »literarischen« Vorstellungen und, ganz allgemein, von Ideen >tout court< in den einzelnen Disziplinen regeln. Die Antwort scheint einfach: zuständig für die öffentliche Rezeption literarischer Erzeugnisse in der industrialisierten Welt sind, eng miteinander verknüpft, die Kommunikationsmittel der Publizistik und die kulturellen Institutionen. Dabei darf man aber einen oft unterschätzten strukturellen Aspekt nicht vergessen: Wieviel verdankt die Übertragung kritischer Vorstellungen und literarischer, kultureller usw. Neuerungen den öffentlichen und den privaten Organisationsformen von Kultur? Hier haben wir, institutionell konkretisiert, den wahren »Erwartungshorizont«, der theoretisch alle intellektuellen Produkte eines Autors »erwartet« - nicht aber in dem undifferenzierten Publikum, das Sartre in der Massengesellschaft in Passivität verharren sieht: jenem bislang aus Mangel an Untersuchungsmethoden, Kontrollinstanzen und Berechnungsmöglichkeiten unfaßbaren imaginären Wesen; und auch nicht in dem wesentlich begrenzteren »Publikum« der (so wenig gemeinschaftlichen) Gemeinschaft der »Leser«, die sich aus beruflicher Notwendigkeit und mit häufig fragwürdigen Fähigkeiten auf die mehr oder weniger kompetente technische »Beurteilung« schriftstellerischer Produkte und ihrer problemorientierten Diskussion in der Fachpresse spezialisiert haben. Noch vor dem »Publikum«, zwischen den Produzenten und den Konsumenten der literarischen Erzeugnisse, stehen nämlich die komplizierten »Organisationsformen von Kultur«, ob sie nun öffentlichen Institutionen anvertraut sind oder aus Privatinitiative gespeist werden. In aller Kürze und in der Reihenfolge ihrer funktionalen Bedeutung sind dies das Verlags- und Pressewesen mit seinem Netz von Buchhandlungen, mit dem Netzwerk politischkultureller Informationsvermittlung, dem System des Ratenverkaufs u . a . m . und
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H. R. Jauß: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«, in: ders.: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M., Suhrkamp 1970, S. 144-207.
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die höhere Schule, die ja seit langem in einer immer größer werdenden Krise steckt. Es gibt Länder mit traditionell effizienten Organisationsformen von Kultur, wie Frankreich, dessen Vorherrschaft in den letzten Jahrhunderten sich einer ausgeprägteren öffentlichen Meinung und dem Bemühen um wirtschaftliche und politische Zentralisierung verdankt, und Länder, in denen der öffentlichen Organisation von Kultur nur wenig Erfolg beschieden ist und die andererseits in ihrem Chaos dennoch sehr lebendig sind, wie Italien, das sich bis vor kurzem und z.T. noch heute so abhängig von den euro-amerikanischen Trägern der kulturellen Innovation zeigte. Und dies allein trägt, sogar wenn man die bezüglich der Übertragungskanäle und -mechanismen doch sehr unterschiedlichen Rezeptionsvoraussetzungen in Betracht zieht, zu einer außerordentlichen Diversifizierung der tatsächlich vorhandenen, aber unbestimmten »Erwartungshorizonte« einer jeden Text- oder Ideenproduktion bei. Man denke nur an die Leichtfertigkeit, die »Normalität«, mit der heutzutage innerhalb und außerhalb Europas in der Presse und in der universitären Lehre die verschiedenen, überaus aktiven philosophischen und kritischen »nouvelles vagues« aus Paris aufgenommen und weitergetragen werden; man beobachte nur, wie in den Diskussionen gedankenlos übernommene, nicht »wissenschaftlich« erworbene, sondern in illusorischem Aktualitätswahn nachgeplapperte Formeln und Terminologien wiederholt werden. Dies gilt auch für die sozio-literarische Mythisierung des »Publikums«, die Escarpit und Jauß - von italienischen Verlagen als »große Theoretiker der zeitgenössischen Ästhetik«, einer (wer könnte daran zweifeln!) natürlich »wissenschaftlichen« Ästhetik gepriesen - mit großem Erfolg in Szene gesetzt haben. Hier wird in der Tat das »Publikum«, Sammelbegriff bis dahin für soziologische Analysen, für Perspektiven künftiger Forschung, die in ihren strukturalistischen und linguistischen Spezifizierungen noch zu umreißen, zu definieren und zu planen waren, mit einemmal zu einem kanonisch gültigen geschichtlichen Subjekt/Objekt gemacht, das eine »neue« Art von Literaturgeschichtsschreibung bestimmen soll. Versuchen wir nochmals die »wissenschaftliche« Verläßlichkeit einer derartigen heuristischen und technischen Perspektive realistisch zu überdenken. Natürlich schreibt jeder Schriftsteller mit Blick auf mögliche Leser, denen er rationale Zustimmung abverlangt oder ästhetisches Vergnügen bereitet, von denen er sich seinerseits Berühmtheit und Erfolg, möglicherweise auch Geld und Unterstützung erhofft. »Publikum« ist potentiell jeder mögliche Leser einer jeden nicht zur Privatlektüre bestimmten Schrift, wie dies auch für jeden Besucher einer Kunstausstellung oder eines Museums, jeden Zuschauer einer Theatervorstellung, jeden Zuhörer/Zuschauer eines Radio/Fernsehprogramms gilt. In der zeitgenössischen Gesellschaft wie schon in den antiken Gesellschaften sind wir praktisch alle miteinander bald Subjekt, bald Objekt sprachlicher Kommunikation. Die Daten und den strukturellen Aufbau, die Verfahren, Mechanismen und Richtungen dieser beeindruckenden ununterbrochenen Massenkommunikation zusammenzufügen, ist eine ungeheure pluri-disziplinäre Aufgabe, der vielleicht die Zukunft gerecht
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werden kann. Die gegenwärtig florierenden psycho-soziolinguistischen und semiotischen Studien mitsamt der Unterstützung durch die gängigen Informationsund Kommunikationstheorien usw. sind aber kaum erste fachbezogene Anfänge, geschweige denn »wissenschaftliche« Ansätze einer systematischen, gegenwärtig noch gar nicht vorstellbaren Planung. Aber auch wenn wir uns auf den ohnehin schon umfangreichen Umkreis der literarischen Produktion und ihrer hypothetischen Adressaten in der modernen Gesellschaft beschränken, müssen wir uns doch fragen, welche Theorien und Ergebnisse der Forschung uns auch nur im geringsten dazu ermächtigen können, in eine soziokulturell angelegte Literaturgeschichte den gesamten Produktionszyklus (von der Produktion über den Vertrieb und Verkauf bis zum Konsum der literarischen Produkte) der auf ihrem kapitalistischen Markt miteinander konkurrierenden Industriezweige einzubeziehen. Die Antwort muß lauten, daß wir über wenig oder nichts verfügen, was eine ausreichende materielle Basis für eine so ehrgeizig ausgelegte umfassende »Geschichte« abgeben, was die historisch unter »Literatur« zu verstehenden Produkte in den Mittelpunkt stellen und zugleich die Mechanismen von Produktion und Distribution, von Verlagswesen und Schule, von Rezeption und sozio-kulturellem Konsum in einem übergreifenden kulturellen Kontext berücksichtigen könnte. Die Verfechter dieser »neuen« Methodologie, die nach einer langen Phase des Niedergangs die Wiedergeburt der Geschichtsschreibung einläuten soll, gehen aber in ihrem gutgemeinten Bemühen um eine »wissenschaftliche« Reform viel zu weit. Ihre abstrakten Theorien unterstellen, daß ein Schriftsteller immer für ein fest umrissenes »Publikum«, für genau bestimmbare Leser schreibt und so seinerseits in seinem Schreiben, in der praktischen Ausarbeitung seines Produkts von ihnen beeinflußt wird. Escarpit, um nur ein Beispiel zu nennen, machte dies zum Angelpunkt seiner neomarxistischen Sociologie de la littérature,3 ja er verankerte die literarische Produktion in den Bedingungen und Erwartungen gesellschaftlicher Schichten und gab somit, in seiner soziologischen Willkür, dem Leser als mutmaßlichem »Mit-Schöpfer« des Werks den Vorrang. Mir scheint, daß Hans Robert Jauß, wenn er sich in seiner schon erwähnten, umstrittenen und doch erfolgreichen Reformschrift vornimmt, die »Grenzen« sowohl der Literatursoziologie als auch des strukturalistischen Formalismus zu überwinden, diese doch wieder bestätigt und legitimiert, und zwar mit Formulierungen, die vor allem von Gadamer inspiriert sind. Eine Erneuerung der Literaturgeschichte erfordert, die Vorurteile des historischen Objektivismus abzubauen und die traditionelle Produktions- und Darstellungsästhetik in einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik zu fundieren. D i e Geschichtlichkeit der Literatur beruht nicht auf einem post festum erstellten Zusammenhang literarischer FaktenReihen1 viceré< e la patologia del reale. Discussione e analisi storica delle strutture del romanzo, Marzorati, Milano 1982. 3 B d e . , Milano 1986.
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zu berichten. Unter diesem Aspekt möchte ich, was meine Arbeiten betrifft, nochmals die Problematik des historiographischen Diskurses verdeutlichen, gleich auf welchen Bereich sich eine neue Interpretation der Fakten erstreckt. Ob dieser den mehr durch Rhetorik als durch Fakten bestimmten Weg inhaltsleerer Begriffe wie »Dekadenz« oder »Hermetismus« nachzeichnet; ob er in der poetischen Erfahrung und der »Poetik« der Pascoli, d'Annunzio, Lucini die historische Perspektive eines »italienischen Symbolismus« aufzeigt; ob er mühsam, unter Widerlegung hartnäckiger Vorurteile, eine historische, kulturelle, ideologische und technische Bestimmung der »futuristischen Revolution« als ultra-dynamischer europäischer Bewegung versucht, die im Einklang mit den epistemologischen »Revolutionen« der Zeit dem »Neuen« in Kunst und Literatur zum Durchbruch verhelfen will; ob er mit unverändert »progressiver« Unvoreingenommenheit die Mißverständnisse vieler Genossen herausfordert, wenn er die vorherrschende ideologisch-politische Geschichtsschreibung zum Faschismus zur Diskussion stellt, der mit zeitgleichen Totalitarismen unter besonderer Berücksichtigung seiner ideologisch-kulturellen Entstehung, der Daseinsbedingungen der Intellektuellen im System usw. verglichen wird; ob er die allgemeine und problematische historisch-epistemologische Diskussion um das Verhältnis von Theorie, Logik und Methode der Naturwissenschaften zu den pseudo-wissenschaftlichen Geisteswissenschaften wiederaufnimmt und dabei einen kritischen Überblick über die für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidenden Bereiche, Krisen und Mißstände in den einzelnen Disziplinen gibt, über die typischen, nach und nach dominierenden unwissenschaftlichen Verallgemeinerungen, von der Soziologie über die Psychoanalyse bis zum Marxismus, von der Linguistik über die Anthropologie bis zum Strukturalismus usw.; ob er einen »prä-Surrealismus« und einen autonomen »italienischen Surrealismus« ausführlich darstellt oder schließlich die jüngsten Entwicklungen des Neo-Realismus oder der Neo-Avantgarde neu diskutiert oder historisch rekonstruiert - in Wirklichkeit handelt es sich immer um parallele Bahnen, die unentbehrlich sind, um wenigstens ansatzweise das Beziehungsgeflecht einer »historischen Synchronie« zu knüpfen, auch wenn sie sich natürlich in einem diskontinuierlichen Entwicklungsprozeß befinden, der Kunst und Wissenschaft der zeitgenössischen Avantgarde in kontrastive und parallele Beziehungen einbindet. Und dies gilt nicht nur für die offenkundigen umjubelten Höhepunkte im 20. Jahrhundert, sondern schon für die Geburt der modernen Experimentalwissenschaft, die mit den Anti-Traditionen, den morpho-linguistischen Regelverletzungen zwischen Manierismus und Barock zusammenfallen. Diese haben nämlich in der Tat weitreichende Auswirkungen, in ideologischer wie technischer Hinsicht, auf die wiederholten neo-barocken und neo-manieristischen Wiederaufnahmen in der Avantgarde und der technologischen Neo-Avantgarde bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Diese vereinfachte Übersicht kann natürlich weder die Problemfülle noch den Perspektivenreichtum des Werkes wiedergeben. Aber gerade die angedeuteten Züge werfen mit aller Schärfe die traditionellen Fragestellungen wieder auf, angefangen bei Croces Diktum, es sei unmöglich,
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eine »Geschichte« der Literatur zu verfassen, das heißt die Gesamtheit des literarischen Schaffens einer E p o c h e in diachronische Strukturen zu gliedern und die Epochenbilder, die sich aus einfachen monographischen Annäherungen zusammensetzen und angeblich »Strömungen«, Bewegungen, Autoren, Werke, Poetiken usw. umfassen, zu überwinden. Heißt das, daß »Literaturgeschichte« heutzutage machbar ist oder nicht? Nach allem, was gesagt wurde, kann man leicht antworten, daß die »Literaturgeschichte« - die j a als Ding an sich inexistent ist und nur durch unsere Bemühungen um eine logische Ordnung entsteht - nichts als eine unwissenschaftliche und zugleich a-historische kategoriale Abstraktion ist. Ihre unüberwindliche Problematik scheint in ihrem geheimnisvollen Gegenstand - dem literarischen Werk - zu liegen, der ein für allemal gleichsam außerzeitlich gegeben ist. Im Unterschied, so heißt es, zur politischen, ökonomischen usw. Geschichte, die sich auf »objektive«, menschengeschaffene prozeßhafte Ereignisse bezieht, die sich erklären und fortlaufend erzählen lassen, auch wenn die selbsternannte »Politikwissenschaft« und »Wirtschaftswissenschaft«, die oft nur scheinlegale ideologische Programme sind, sie nicht selten außer acht lassen. A b e r wenn die Geschichte als rhetorischer Mythos ein beziehungsloses Konstrukt ist, gleicht dann nicht die pragmatische Geschichte
in ihrer historiographischen
Fülle eher einem
aufnahmebereiten
G e f ä ß , das seine Eigenart erst durch die eingegossenen »Wirklichkeiten«, die Phänomene und Prozesse erhält, aus deren Elementen es eine
»Bewegung«
zusammenzusetzen, deren Ausrichtung und innere Logik es zu verstehen gilt? Auch die »Literaturgeschichte« ist eine Vielheit, die ein in Schriften und Texten niedergelegtes »produktives« Schaffen, eine Neugestaltung von Sprache, Invention und Vorstellungsbildern umfaßt, eben alles, was der Konvention zufolge gemeinhin als »Literatur« bezeichnet wird, mit ihren historischen Gattungen und Untergattungen, die um Dichtung und Erzählung, Epik und Lyrik, Novelle und R o m a n , Tragödie und Komödie kreisen, um den offenkundigen Primat der literarischen »Kreativität«, ganz im Gegensatz zur modernen
literaturtheoretischen
Reflexion, die sich heutzutage die Identifikation mit »Literatur« anmaßt. E i n e Geschichtsschreibung, die sich als »literarisch« ausgeben möchte, nicht weil sie literarisches Schaffen ersetzen könnte, sondern weil sie die Literatur als Ganzes oder als Teil zum Gegenstand hat, muß sich dieser eindrucksvollen Produktion literarischer Texte unter allen ihren Aspekten zuwenden: den Werken, die sich in ihrer strukturellen Individualität deutlich und unverwechselbar von anderen unterscheiden, wie auch j e n e n , die genetisch in den oft diskontinuierlichen technischen Traditionen und Anti-Traditionen und ihren ideologisch-kulturellen Umfeldern verwurzelt sind. O h n e Zweifel sind die in sich polarisierten Geschichten der literarischen Techniken und Umfelder, die daher die Texte als » D o k u m e n t e « der jeweiligen diachronischen Umstände in Anspruch
nehmen,
»andere Geschichten«, die untereinander verbunden und komplementär, auch aufschlußreich sind, jedoch, ohne ihm deshalb äußerlich oder fremd zu sein, über den für die ursprüngliche Textproduktion zentralen historischen Kern weit hinaus-
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oder an ihm vorbeigehen. Man hat wiederholt gesagt, daß letztere nur Gegenstand der Literaturkritik, nicht aber der Literaturgeschichte sein könne; dies ist aber, meine ich, auch abgesehen von der grundsätzlichen Relativität historiographischer Theorien, nur zu einem Teil richtig. Es stimmt nur dann, wenn man sich eine der wohlbekannten progressiven und organischen Geschichtsvorstellungen, die zwar als untauglich erkannt, aber zählebig sind, zum absoluten Bezugspunkt erwählt: sie werden zwar mit wenig »wissenschaftlicher« Metaphorik »Geschichte« genannt, gemeint ist damit aber nicht der Gegenstand, sondern die historiographische Tätigkeit. Und auch in der Praxis der gängigen historiographischen Disziplinen, der vorgeblichen »Geschichtswissenschaften«, stellen sie sich immer als konstruktive Synthese dar, die häufig die kritische Analyse und Diskussion ebenso wie die unvermeidliche monographische Parteilichkeit umgreift. Man könnte eine Tabelle zwingender Analogien aufstellen, sobald man abschätzen könnte, in welchem Ausmaß die historiographische Arbeit fast immer aus Induktion und Deduktion, aus Interpretationen und Darstellungen besteht und nicht - wie ständig behauptet wird - auf der Unmittelbarkeit realer Fakten (der »gelebten Wirklichkeit«), sondern auf ihrer dokumentarischen Erfassung beruht, die sich zwar mechanischer, quantifizierender, statistischer Verfahren bedienen mag, aber doch immer Schriftstücke zur Grundlage hat, und seien es auch nur dokumentarische Berichte von Ereignissen und »Beweisstücke« politischer, wirtschaftlicher oder anthropologischer Fakten und Motive, nicht Dokumente textueller Eigenschaften und Verfahren, die man »literarisch« nennen könnte. Es ist, meine ich, einfach nicht wahr, daß der historiographische Verstehensprozeß auf in Bewegung befindliche »Wirklichkeiten« gerichtet ist, im Gegenteil: er bezieht sich immer auf Umstände und Situationen, die in Wahrheit schon abgeschlossen und registriert, somit im Rahmen schematischer Entwicklungssequenzen und in Übereinstimmung mit unseren gewohnten raumzeitlichen Abstraktionen beobachtet, zusammengesetzt und fixiert sind. Auch das »Werk« des Schicksals oder des historischen Zufalls, wie es sich im Handeln und Erleben des Menschen konkretisiert und sich dem Historiker als abgeschlossenes Ereignis und »Faktum«, somit als vollendeter und archivierter Prozeß darbietet, ist also, wenn man etwas darüber nachdenkt, objektiv ein phänomenologisch unveränderbares Faktum wie das Kunstwerk. Und genau das erlaubt es uns, Lektüre- und hermeneutische Dekodierungshypothesen zu bilden und darüber hinaus ein Geflecht von Ursachen, Wirkungen, Beziehungen usw. im Hinblick auf die Konstruktion einer ökonomisch-politischen »Logik« zu erstellen, die im übrigen immer von der Relativität auch »uneigennütziger« und annähernd »wissenschaftlicher« Interpretationen bedroht ist. Wenn man heute bestimmte psycho-heuristische Selbstdarstellungen der modernen historiographischen Tradition von Humboldt über Droysen zu Croce wiederliest, ist man überrascht von den übertriebenen - philosophisch begründeten Analogien zur Literaturkritik, wenn nicht sogar zur Kunst, im Rahmen eines ununterbrochenen Kreislaufs des erhabenen »Geistes« und einer gefährlich vereinnahmenden, die Philologie als minderwertig abqualifizierenden Identifikation von
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Philosophie und Historiographie. Der Abstand zwischen den miteinander konkurrierenden historiographischen Verfahren ist also, theoretisch gesehen, minimal, auch wenn sich die Vorgehensweisen hinsichtlich der technischen Besonderheit, der kulturellen und sprachlichen Dichte und der hohen Artifizialität von Kunstwerken, im Vergleich zu den Dokumenten kollektiven oder individuellen Handelns in seinem spezifischen politisch-ökonomischen Zusammenhang, radikal unterscheiden. Findet sich nicht in der Theorie der Geschichtsschreibung, gegen und jenseits aller angeblichen Ansprüche auf »Wissenschaftlichkeit«, immer wieder der Versuch, der historiographischen Prosa literarische Qualitäten und der historiographischen Ausarbeitung selbst einen inneren »ästhetischen« Wert zuzuschreiben? Ist nicht »Geschichte als Kunst« eine bekannte Formel Croces, die heute wieder u.a. von Veyne aufgegriffen wird? Deshalb meine ich (ohne daß ich die bestehende babylonische Verwirrung noch vergrößern wollte), daß wir unbeirrt unsere historisch-textuellen Forschungen und auf deren Grundlage literar-historische Konstruktionen in dem methodologischheuristischen Bestreben fortführen sollten, auf alle, auch auf die von der historiographischen Tradition ererbten »Systeme« zu verzichten und nicht fachfremde »Modelle« zum Vorbild zu nehmen, sondern unsere eigenen Kriterien und Zielsetzungen ausschließlich aus der spezifischen, gedanklichen und sprachlichen Gestaltung der literarischen Texte und ihrer Traditionen abzuleiten. Nicht um abstrakte Textualität geht es, sondern um die »Texte« in ihrer radikalen Geschichtlichkeit, die sich in ihrer unauflöslichen Autonomie nur in einem breiten historischen Spektrum biogenetischer, interstruktureller, historisch-linguistischer usw. Beziehungen analysieren, auflösen und werten lassen. Aber jenseits der »Physik« der strukturellen De-komposition, der Mechanik des »Laboratoriums« und der Normativität der Rhetoriken und Grammatiken ist es immer noch die Originalität der Erfindung, die die Grenzen des Imaginären erweitert; sie drückt sich in der qualitativen und »historischen« Besonderheit morpholinguistischer »Innovationen« aus und verlangt auch dem Historiker ein intuitives Verstehen ab, das im Kontext einer qualifizierten Rezeption den Schaffensprozeß nachvollzieht. Und hier verdichten sich in unserer Arbeit die permanenten Zweifel, die uns nach dem Zusammenbruch der illusorischen Gewißheiten, die uns noch in den vergangenen Jahrzehnten aufrechthielten, möglicherweise noch stärker beunruhigen. Ein Prozeß, den man - sieht man einmal von Scheinerfolgen in Publizistik und Schule ab - in der Krise, ja im Verfall der »Systeme« zusammenfassen könnte, die sich im allgemeinen eher von ideologisch-philosophischen als von »experimentellen« Konstruktionen der in ihrer »Hegemonie«, »Universalität« und »wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit« bedrohten »Geisteswissenschaften« herleiten. Welches ist nun die spezifische »Funktion« der Historiographie in ihrem diachronischen Aufgabenbereich? Ist die »Diachronie« absolut gesehen als »Dauer« und »Kontinuität« oder als »Prozeß«, »Entwicklung«, »Fortschritt« oder »Wandel« zu bestimmen - zwei Definitionen, die sich gegenseitig ausschließen? Und die Antwort ergibt wieder eine Frage: Warum müssen wir weiterhin diesen
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schematischen Apriorismen verhaftet bleiben, wenn doch immer alles mitsamt seinem Gegenteil ins Spiel kommt? Welche Ordnungskriterien, welche Beziehungskoordinaten und -parameter, welche gedanklichen und materiellen Verknüpfungen, welche »historischen Konzepte« (wie man früher sagte), welche raum-zeitlichen Strukturen und Abmessungen stehen uns in der grenzenlosen Vielfalt der »Wahrnehmungen« und kombinatorischen Möglichkeiten, die auch auf dem untersten Niveau von Massenliteratur alle Ansprüche einer technisch-systematischen Serialität zunichtemacht, zur Verfügung? Werden wir, was das Verstehen »literarischer Werke« angeht, außer einfachen institutionellen »Geschichten«, immer konventionelle, unwirkliche »Geschichten«, pseudo-wissenschaftliche, auf abstrakt vereinheitlichende Hypothesen gegründete Werke schreiben, um uns dann ständig an den unterschiedlichen, untypischen und relativen Erscheinungsformen der imaginären Zeiten und Räume zu stoßen? Solange man versucht, der historischen Erkenntnis (auch des literarischen Schaffens) Systeme und Strukturen überzustülpen, wiederholt man meiner Meinung nach aus »wissenschaftlich« verbrämter Trägheit die metaphysische Willkür, mit der die zum Glück ihrem Ende entgegendämmernden philosophischen Systemkonstruktionen des 20. Jahrhunderts ihren Mißbrauch getrieben haben. Welches sind also die Gegenstände, über die man berichten kann, welches sind die historisch darstellbaren Erscheinungen, Epochen, Perioden, Strömungen, Generationen, die Gattungen, die Poetiken, die Bewegungen, die Bereiche, die Schulen und Affinitäten, die kommunikativen Kodes, die Epochenmodelle, die literarischen Systeme? Ich will keinesfalls den praktisch-didaktischen Nutzen dieser Kriterien und Hilfsmittel zur Schaffung einer äußerlichen Ordnung leugnen, sie übertreiben allerdings häufig die museographische Fiktion, wenn sie nicht überhaupt völlig fiktiv sind. Aber man kann sie benutzen, sofern man sich bewußt ist und von vornherein erklärt, daß es sich im allgemeinen um strukturelle Fiktionen handelt, die nicht mit der tatsächlichen Wirklichkeit verwechselt werden dürfen, obwohl die Kritik ihre respektiven »Geschichten« mit einer der tatsächlichen Geschichte vergleichbaren Eigendynamik versieht. Auch in der »Literaturgeschichte« ist m . E . eine experimentelle Annäherung innerhalb der Grenzen einer unüberschreitbaren und durchaus zweckmäßigen monographischen Diskontinuität nur durch eine induktive Vorgehensweise möglich, die sich an die biographischen und intertextuellen Gesamtdaten hält und an die spezifischen Probleme literarischer Erfahrung in ihrem mittelbaren und unmittelbaren Kontext und ihren wahrscheinlichsten und nachweisbaren Beziehungen zur literarischen Tradition und zur zeitgenössischen Kultur. Daher gibt es keinen Zweifel, daß die üblichen Instrumente der Literaturkritik zur Unterscheidung, zur vergleichenden und differenzierenden Analyse und möglichst präzisen technischen Definition durchaus brauchbar sind. Und es versteht sich von selbst, daß unser induktiver Ansatz, zu einer tatsächlichen Geschichte des literarischen Schaffens vorzustoßen, nur dialektisch im Rahmen der Anlagen unseres Erkenntnisvermögens, der gegensätzlichen kritischen Reaktionen, des den Historiker stets anlei-
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tenden Begleit-, nicht Erwartungshorizonts, durchzuführen ist. Aber das gehört zum Alitag der historiographischen Arbeit, die nicht nur in Italien traditionell »historizistisch« ist, ohne daß es deshalb erlaubt wäre, ihr neo-historiographische Theorien und substitutive Geschichten ihrer selbst unsicherer Institutionen überzustülpen. Dieser induktive Realismus trägt meiner Meinung nach dazu bei, die festgefügten theoretischen und methodologischen Schemata zu überwinden, von dem einer künstlichen raum-zeitlichen Periodisierung, die als rein konventionelle Leerformel übernommen wird, bis zu dem tatsächlich handelnder oder nur hypothetischer »Gruppen« und nebeneinander existierender Generationen. Die traditionellen und kanonischen Gattungen als strukturelle, nicht kommunikative Konventionen, die epochalen, saisonalen, strukturellen und individuellen Poetiken, die unbestimmten ausdrücklich oder mutmaßlich durch programmatische Manifeste, Aufrufe, Erklärungen, Zeitschriften und Aktionsgruppen ausgerufenen Gruppierungen, ganz zu schweigen von den unwahrscheinlichen »Schulbildungen« ohne Schule, »Strömungen« ohne Fluß, unsichtbaren »Bewegungen« usw. Diese und alle anderen metaphorischen Hülsen bedeuten das Ende einer jeden allgemeineren historischen Definitionsmöglichkeit, die nicht der didaktischen Vermittlung oder, in einer Literaturkritik, die einer Vielfalt von historischen Teilgeschichten illusorische Konsistenz verleihen möchte, der unendlichen rhetorischen Variation zu Diensten ist. Nur in der präzisen, vor allem philologischen Rekonstruktion der in den Texten als Elemente kritischen Bewußtseins, kultureller Bildung usw. tatsächlich auffindbaren Fakten können sie zum Teil wieder eine konkrete historische Bedeutung annehmen. Ich glaube, um noch einmal persönliche Beispiele anzuführen, mit der poly-strukturellen und narratologischen Analyse des Romans I Viceré, unter Berücksichtigung von De Robertos gesamter Narrativik und einer vergleichenden Diskussion der Romanstrukturen im 19. Jahrhundert, nicht einfach nur einen literaturkritisch, sondern auch literarhistorisch wertvollen Beitrag geliefert zu haben. Nicht weniger wichtig, meine ich, sind die umfangreichen monographischen Kapitel des Werkes Le avanguardie letterarie, die aus einer komplexen, pluridisziplinären, politisch-kulturellen, historisch-epistemologischen usw. Perspektive ein ganzes Jahrhundert literarischer Innovation umfassen. Auch in der ganz unterschiedlichen Gestaltung, die sich aus dem andersartigen thematischen Zusammenhang und der andersartigen perspektivischen Breite der behandelten Geschehnisse und textuellen Fakten ergibt, scheint mir, daß dieselben Instrumente: die kritisch-theoretische Diskussion, die wertende Synthese und die Textanalyse zu ein und demselben historiographischen Ergebnis führen, nämlich zu einer in sich gegliederten, auf Fakten gegründeten Geschichte, die in ihrer dialektischen Perspektive vielleicht auf eine kulturelle Gesamtschau vorausdeutet, die Literaturgeschichte jedoch nicht nur durch den riesigen institutionellen Apparat ersetzen will, der, bürokratisch verwaltet, sich öffentlich zur Schau stellt und mit der Eliminierung des »Autors« und seiner »Texte« die gesamte Identität der Literatur usurpiert.
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Wenn wir abschließend zu unserer ursprünglichen Fragestellung zurückkehren, können wir feststellen, daß glücklicherweise die Vielfalt menschlichen Schaffens und menschlicher Erzeugnisse künftiger Kreativität breiten R a u m läßt. In unserer horizontalen Oligarchie des Schaffens und des Wissens sollten wir freilich die Wissenschaft als »Organon« hochhalten, welches die kritische und experimentelle Erkenntnis der universalen Wirklichkeit, der Entwicklung der Natur und des Wandels der vom Menschen geschaffenen, seine eigene Natur vervollständigenden Welt aus sich selbst hervortreibt. Bis jetzt steht uns als Instrument der kritischen Erkenntnis a-mythologischer und a-theistischer Wahrheiten nur die experimentelle Wissenschaft mit ihren sich ausbreitenden Grenzen und ihrer außerordentlichen Wachstums- und Wandlungsfähigkeit zur Verfügung, und der Mensch hat die Verantwortung, sie konstruktiv oder destruktiv einzusetzen. A b e r in unserem irdischen Horizont sollten wir weiterhin auch die »Kunst« der Summe ihrer authentischen Unwahrheiten hochhalten, und zwar - dieses Paradox sei G a d a m e r entgegengehalten - als unbeschränkte D o m ä n e des Imaginären, nicht der »erlebten«, sondern der »lebendigen« Wirklichkeit, der immer wieder neu erfundenen Sprache, der weder »kognitiven« noch »selbstbewußten«, sondern »tiefgründigen« Ausdrucksformen des Menschen als Subjekt der Erfahrung, der Gefühle und Leidenschaften, der signifikanten und prägenden »bildlichen« Wahrnehmungen. Damit trägt die Kunst zwar zur suggestiven Gestaltung der Welt als »Kultur« bei, das darf aber keineswegs mit der experimentellen Erfahrbarkeit der Wirklichkeit verwechselt werden, wie viele zeitgenössische Philosophen mit vagen Metaphern und pseudo-logischen Schlüssen glauben machen möchten. Erfahrene »Wahrheit« und erkannte »Wahrheit« sind nicht vergleichbar; und dies ist erneut eine Antwort auf Gadamer, der meint, trotz des virtuellen Gegensatzes, die eine durch die andere ersetzen zu können. A b e r in diesem Fall ist eine »Wissenschaft« von der Kunst und von der Literatur als Kunst in sich offenkundig widersprüchlich und damit zur Sterilität, zur abstrakten Vergeblichkeit verdammt. Wir müssen daher vor allem diese verwirrende Terminologie - »Literaturwissenschaft« und »Kulturwissenschaft« - , die den sogenannten »Geisteswissenschaften« nur Fallen stellt, beiseite lassen, und aus Gründen heuristischer Klarheit andere Termini prägen, die der allgemeinen literaturkritischen Reflexion und den theoretischen Ansätzen zur künstlerischen und literarischen Technik, zur Gesellschaft und zur menschlichen Praxis inhärent sind. D i e terminologische Vielfalt würde auch in diesem Fall eine andere Vorstellung von Kultur signalisieren, eine Vorstellung, die die Pluralität und Autonomie ihrer »Funktionen« und »Instrumente« und damit auch ihrer Vorgehensweisen und »Methoden« respektierte. Dies ist also das historiographische Material, das vor uns ausgebreitet liegt und an dem wir unsere theoretischen und methodologischen Hypothesen für die konkrete historiographische Praxis sehr viel strenger erarbeiten müssen. Solange wir weiterhin allgemeine, mißverständlich als »wissenschaftlich« ausgegebene Systeme nicht nur analogisch übernehmen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes
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überstülpen oder sogar »neue« apriorische, kaum »ästhetisch« zu nennende Systeme errichten, lassen sich die alten Mißverständnisse nicht bei der Wurzel packen. Das gilt auch für den Irrweg der soziologischen Rezeptionsästhetiken und benachbarter sozio-technologischer Theorien, die alle jeder theoretischen und vor allem experimentellen Grundlage entbehren. Deren weitgespanntes historiographisches Programm kann höchstens zur notwendigen Vervollständigung einer Geschichte des literarischen Schaffens dienen, die ihrerseits schon so reich, vielschichtig und nur mit Mühe »historisierbar« ist. Unberechtigt aber ist der Anspruch auf »Wissenschaftlichkeit«, der Anspruch auf Vorherrschaft über das neubegründete Universum der »Literaturgeschichte«.
Peter Kuon
(Erlangen)
Gattungsgeschichte, Literaturgeschichte, ästhetische Erfahrung Zur Aktualität Benedetto Croces in Deutschland (und anderswo)
Ma il trionfo più cospicuo dell'errore intellettualistico è nella dottrina dei generi artistici e letterari, che ancora corre nei trattati e perturba i critici e gli storici dell'arte. 1
Einleitung 0. Wer nach den Gründen fragt, warum sich die in der Estetica geübte Kritik an den literarischen Gattungen, die, zum Verdikt übersteigert, in Italien jahrzehntelang die Theoriebildung und, wenn nicht alles täuscht, bis heute die praktische Gattungsforschung blockierte, in Deutschland nie ernsthaft durchsetzen konnte, wird in erster Linie darauf verweisen, daß es hierzulande nicht genügte, das Kartenhaus der normativen Poetik, gegen die Croce in der Hauptsache polemisierte, umzublasen, sondern daß es die weit besser gesicherte Festung der idealistischen Gattungslehre zu nehmen galt. Diese leistete aber, mit ihrem Postulat eines über den Begriff der »innern Form« 2 vermittelten »notwendigen« Zusammenhangs zwischen ontologisch begründeten »Naturformen« (Epik, Dramatik, Lyrik) und historischen »Dichtarten«, 3 bis in die jüngste Gegenwart nachhaltigen Widerstand, sei es gegen crocianische Einflüsse, sei es gegen das Aufkommen neuer historistischer Gattungsvorstellungen. Inzwischen gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von theoretischen Arbeiten, die, wie auch immer argumentierend (hermeneutisch, strukturalistisch, system- oder sprachtheoretisch), Gattungen als geschichtliche Fakten, als im kollektiven Gedächtnis verankerte Konventionen oder Institutionen auffassen, 4 -
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B. Croce: Estetica come scienza dell'espressione e linguistica generale. Teoria e storia. Bari "1965 (1902), S. 40. J. W. v. Goethe: »Aus Goethes Brieftasche« (1776), in: J.W. ν. G.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. XII, Hamburg 12 1982, S. 2 1 - 3 0 , hier: S. 22. J. W. v. Goethe: »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-östlichen Divans« (1819), in: J.W. v. G.: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. II, Hamburg 12 1982, S. 126-267, hier: S. 189. Siehe u.a. die Untersuchungen von U . Suerbaum: »Text und Gattung«, in: B . F a b i a n (Hg.): Ein anglistischer Grundkurs, Frankfurt/M. 1971, S. 104-132; H. R. Jauß: »Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters«, in: H. R. J. / E. Köhler (Hg.): Grundriß
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doch sind entsprechende monographische Untersuchungen, die einzelne literarische oder nichtliterarische Gattungen beschreiben, ohne die sakrosankte Trias der Naturformen zu b e m ü h e n , nach wie vor Mangelware. 5 D i e Ablösung des idealistischen Paradigmas zeichnet sich immerhin ab. U m so erstaunlicher ist freilich, daß sich die Vertreter der neuen historistischen Konzeptionen mit den Erben der goethezeitlichen Gattungspoetik in einem Punkt einig sind: B e n e d e t t o Croce ist, sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab, 6 kein T h e m a mehr, - wenn überhaupt, so wird allenfalls seine »radikale Leugnung der Gattungen« erwähnt und als »extremer Nominalismus« 7 verworfen: »das Durchschlagen eines gordischen Knotens«, meint Hans-Robert Jauß, »führt bekanntlich zu keiner Dauerlösung eines wissenschaftlichen Problems«. 8 Es ist ein leichtes nachzuweisen (und dies wird im folgenden geschehen), daß B e n e d e t t o Croce die Gattungen nie pauschal negiert hat, zumindest nicht, wenn man im nachhinein Polemik und Argumentation auseinanderhält (1.2 und 2.2). Mir geht es aber um mehr: Ich möchte in einer bewußt >positiven< Interpretation 9 seines literarästhetischen Systems (1.1 und 2.1) aufzeigen, daß Croce, vielleicht
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der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. I, Heidelberg 1972, S. 107-138; W. R. Berger: »Probleme und Möglichkeiten vergleichender Gattungsforschung«, in: H. Rüdiger (Hg.): Die Gattungen in der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Berlin - New York 1974, S. 63-92; G. R. Kaiser: »Zur Dynamik literarischer Gattungen«, in: Rüdiger, a . a . O . , S. 33-62; E. Köhler: »Gattungssystem und Gesellschaftssystem«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 7-22; W. Voßkamp: »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, in: W. Hinck (Hg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27-44 und P. Kuon: »Möglichkeiten und Grenzen einer strukturellen Gattungswissenschaft«, in: J. Albrecht / J. Lüdtke / H. Thun (Hg.): Energeia und Ergon. Sprachliche Variation - Sprachgeschichte - Sprachtypologie. Studia in honorem Eugenio Coseriu, Tübingen 1988, Bd. III, S. 237-252. Siehe etwa (im Bereich der Romanistik) die Monographien von L. Matthes: Vaudeville. Untersuchungen zu Geschichte und literatursystematischem Ort einer Erfolgsgattung, Heidelberg 1983; M. Wodsak: Die Complainte. Zur Geschichte einer französischen Populärgattung. Heidelberg 1985 und P. Kuon: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und Frühaufklärung. Heidelberg 1986. Vgl. K.W. Hempfer: Gattungstheorie, München 1973, S. 37-56 und Kaiser, a . a . O . , S. 34-37. J. Strelka: Methodologie der Literaturwissenschaft, Tübingen 1978, S. 146 und K. MüllerDyes: Literarische Gattungen. Lyrik, Epik, Dramatik, Freiburg - Basel - Wien 1978, S. 9. Jauß, a . a . O . , S. 108. Vgl. hierzu E. Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Übersicht, Teil II: »Von Leibniz bis Rousseau«, Tübingen 1972, in seiner Vico-Interpretation: »[...] es ist allgemein interessant und ratsam, die Autoren im Sinne der Wahrheit zu interpretieren, auch über das hinaus, was sie eigentlich gesagt haben. Es muß versucht werden, das zu identifizieren, was die Autoren meinten oder welches der Ansatz bei den Autoren gewesen ist, auch wenn er nicht im ganzen zum Ausdruck kam. Diese >Wahrheit< ist eine Wahrheit, die der Hermeneutiker annimmt.« (S. 106).
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wider Erwarten, aktuell geblieben ist, 1 0 - nicht nur innerhalb der Gattungswissenschaft, wo sich seine Kritik in wesentlichen Punkten als richtig erwiesen hat (3.1), sondern auch innerhalb der literaturtheoretischen Diskussion, die die auf einem unzureichenden Sprach- und Dichtungsverständnis beruhende Trennung von Ästhetik und Literaturwissenschaft (3.2 und 3.3) zwar aus heutiger Sicht ablehnen, die Dringlichkeit eines ästhetischen Blickpunkts auf literarische Texte (3.4) aber anerkennen muß. Die provozierende These vom begrenzten, da die Ästhetik ihres Gegenstands immer aufs Neue verfehlenden, Erkenntniswert stenographischer Annäherung verweist auch die moderne Gattungs- und Literaturwissenschaft in die Schranken (4.1 und 4.2). Die Verweigerungshaltung der meisten deutschen Gattungstheoretiker hat, so meine ich, auch etwas mit Berührungsangst zu tun, mit mangelnder Bereitschaft, sich in Frage stellen zu lassen. G e n a u darin liegt aber der heuristische Wert einer erneuten Auseinandersetzung mit Croces Ästhetik. D e r Satz, den Johannes Hösle 1970 in der Einleitung zur (erstaunlich spät erschienenen) deutschen Übersetzung von La Poesia schrieb, scheint mir immer noch Gültigkeit zu besitzen: Ein Blick in deutschsprachige methodische Untersuchungen der letzten Jahre zeigt, daß die Thesen von Croces La Poesia ihre Aktualität nicht verloren haben und daß man immer dafür bezahlen muß, wenn man glaubt, Croces Ästhetik aussparen zu k ö n n e n . "
Darstellung 1. Alle Äußerungen Croces zu den literarischen Gattungen sind in den übergeordneten Zusammenhang seiner Ästhetik eingebettet. Bevor ich sie im einzelnen erörtere, möchte ich daher in aller Kürze ihre philosophischen Grundlagen darlegen. 1 2
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Zur Aktualität Croces aus deutscher Sicht äußerten sich 1952 A . Buck: »Benedetto Croces Literaturkritik«, in: Romanistisches Jahrbuch 5, S. 3 2 2 - 3 3 5 , der vor der Gefahr der Unterschätzung warnt, 1963 W. Koppen: »Benedetto Croce als Theoretiker der Dichtungskritik und Literaturgeschichte«, in: Die Neueren Sprachen N. F. 12, S. 241-252 und S. 2 8 9 - 3 0 2 , der die Beschäftigung mit Croce im Sinne einer Schocktherapie befürwortet, 1973 K . W . Hempfer, a . a . O . , S. 3 7 - 5 6 , der (nicht nur) die Gattungstheorie einer vernichtenden Kritik unterzieht, und 1983, einfühlsamer, wenn auch entschieden kritisch, U . Schulz-Buschhaus: »Benedetto Croce und die Krise der Literaturgeschichte«, in: B. Cerquiglini / H. U . Gumbrecht (Hg.): Der Diskurs der Literatur• und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt/M., S. 2 8 0 - 3 0 1 .
" J. Hösle: »Einführung«, in: B. Croce, Die Dichtung. Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur, Tübingen 1970, S. V I I - X V I , hier: S. XII. 12 Eine prägnante Darstellung von Croces Sprachphilosophie findet sich in H. Aschenberg: Idealistische Philologie und Textanalyse. Zur Stilistik Leo Spitzers, Tübingen 1984, S. 7-37.
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1.1. Croce bestimmt die Sprache als >ExpressionExpressionsRomans< oder der >Novelle< begründet. E r hält gleichzeitig an seiner Überzeugung fest, daß die aus der Ästhetik ausgeschlossenen Gattungen im Rahmen der Empirischen Poetik den Status und die Berechtigung von klassifikatorischen Begriffen haben, fügt nun aber hinzu, daß es durchaus sinnvoll sein könne, die tatsächliche Wirkung der Gattungsbegriffe, die sich geschichtlich herausgebildet und f ü r eine bestimmte Zeit normative Kraft erlangt haben, zu untersuchen, freilich nicht im R a h m e n der Dichtungsgeschichte, sondern im R a h m e n der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte: [...] col reciso rifiuto del loro uso [delle dottrine dei generi letterari] nella storia della poesia, non si rifiuta la considerazione di esse nella storia culturale e sociale e morale, in quanto le loro regole, esteticamente arbitrarie e insussistenti, rappresentavano bisogni di altra natura. Cosi, per esempio, la restaurazione, dei generi antichi nel Rinascimento, con la quale si volle metter fine alla elementarità e rozzezza medievali; cosi per un altro esempio, la concezione del dramma borghese contro la tragedia di corte, che era uno degli aspetti della trasformazione sociale che si andava compiendo nel secolo decimottavo. 32
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Hempfer, a.a.O., S. 51f. Croce, Poesia, S. 163f. »In queste storie i generi e i sottogeneri e i sottosottogeneri si vedono spuntare, nascere, crescere, toccare la perfezione della maturità, e, ahimè, anche invecchiare e morirsene, perché, come nel cielo par che ci siano gli astri spenti, c'erano fra le eterne categorie della poesia i >generi mortigenere< è servito finora a designare non le affinità reali e storiche (per le quali si diceva invece >scuolagruppo letterariocorrente d'idee e di sentimentorealistischen< Begrifflichkeit erneut ins A u g e zu fassen, wenn er Gattungen als kulturelle Konventionen, ja (in einem überraschend modernen Sinn) als eine Art (wie Wilhelm Voßkamp sagen würde) >Bedürfnissynthesen< 36 definiert: La sola ricerca che si possa fare circo un genere è d'indole storica, cioè dei bisogni sociali e culturali che hanno portato a certe costumanze e consuetudini, dalle quali, per astrazione, s'è formato il cosiddetto genere. Ma son cose che non hanno che vedere con la poesia propriamente detta. 37 Es ist wohl kein Zufall, daß sich Croce auf die geschichtliche Realität der Gattungen zu einem Zeitpunkt besinnt, als er sich verstärkt um die Klärung des der Empirischen Grammatik zugrundeliegenden Sprachbegriffs bemüht 3 8 und Sprache in dieser Hinsicht, ähnlich wie die Gattungen, als »istituto«, als »fare pratico« bestimmt.
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Β. Croce: Problemi di estetica e contributi alla storia dell'estetica italiana, Bari 61966 (1910), S. I l i Anm. 1. - Siehe auch die folgende Äußerung Croces in einer 1903 geschriebenen Antwort auf eine Besprechung seiner Estetica: »I generi (dice il Bertana) sono [...] ammissibili, >se ce li figuriamo formati di gruppi di opere d'arte in cui variamente si ripete il medesimo conato d'arte< [. . .]. Anch'io sarei disposto ad ammetterli, quando fossero stati intesi o s'intendessero, cosi; ma chi mai li ha intesi in tal modo?« (ebd., S. 472). Vgl. Voßkamp, a . a . O . , S. 32. Croce, Poesia, S. 352. Siehe hierzu Aschenberg, a . a . O . , S. 22-23.
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Würdigung 3. Während in Deutschland die mangelnde Auseinandersetzung 3 9 mit Croces berechtigter Kritik die Menge der schon im Ansatz verfehlten Gattungsuntersuchungen weiter anschwellen ließ, brachte in Italien der Erfolg der Polemik gegen alle normativen und idealistischen Gattungsvorstellungen die Gattungsforschung für Jahrzehnte praktisch zum Erliegen, um so mehr als Croce darauf verzichtete, den angedeuteten historischen Gattungsbegriff als Alternative einzuführen. Dieser Verzicht offenbart, so meine ich, eine grundlegende Schwäche seines literarästhetischen Systems: Croce muß die Gattungen, auch in einem historischen Verständnis, mit Verachtung strafen, weil er mit der Alteritätsdimension der Sprache Geschichtlichkeit überhaupt aus der Dichtung verbannt und diese als ontologisch distinkten Bereich von der Literatur getrennt hat. Gibt man diese künstliche Trennung wieder auf, stellt man das sprachliche Kunstwerk also auf eine Stufe mit den übrigen Akten sprachlicher Kommunikation, dann kommen die historischen Gattungen wieder zu ihrem Recht. Die ästhetische Dimension des Textes, die Croce ins Zentrum seiner theoretischen Reflexion und literaturkritischen Praxis rückte, braucht deshalb nicht abgeschrieben zu werden; sie muß aber, will man sie retten, auf eine andere E b e n e verschoben werden: War sie bei Croce objektive Eigenschaft des Gegenstands, so ist sie nun als subjektives Wahrnehmungsphänomen zu werten. 3.1. Ungeachtet zahlreicher Versuche, vor allem in Deutschland, die idealistische Gattungspoetik fortzuschreiben, ungeachtet auch der Tatsache, daß essentialistische Gattungsbegriffe und die ehrwürdige Trias der Naturformen noch keinesfalls aus den Lehrbüchern verschwunden sind, kommt Croce das historische Verdienst zu, dieser Gattungskonzeption argumentativ den Todesstoß versetzt zu haben. Und so ist es nur mit mangelnder Croce-Rezeption zu erklären, wenn in Deutschland noch 1981 eine im übrigen ausgezeichnete Dissertation erscheinen mußte, die den Drachen ein weiteres und hoffentlich letztes Mal durchbohrt. Gottfried Willems weist nach, daß die Vorstellung des »innern Gesetzes« als Grundstein der
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Ein Beispiel: Koppen, a . a . O . , S. 302, beschreibt den inhaltlichen Nutzen, den die deutsche Literaturwissenschaft aus der Beschäftigung mit Croce ziehen könnte, mit den folgenden Worten: »So etwa könnte eine Auseinandersetzung mit Croces Lehre von den Gattungen (Gattungen keine echten ästhetischen Kategorien, nur didaktische Einteilungsprinzipien) zu einem Zeitpunkt, wo man bei uns in den Gattungen eine >ontische GrundhaltungExpressionpar excellences Während sich in der Dichtung Sprache absolut, in ihrem Wesen als intuitive Expression, verwirkliche, vermische sich in der Prosa die wesentliche poetische Qualität von Sprache mit mehr oder weniger dominanten, aber kontingenten pragmatischen Momenten. Der berühmte Satz aus der Estetica: »Vi è poesia senza prosa, ma non prosa senza poesia.« 45 macht unmißverständlich deutlich, daß Croce die unter dem Begriff Prosa gefaßte kommunikative Dimension der Sprache als ihrer expressiven Funktion nicht gleichwesentlich erachtet. Dichtung ist in seinen Augen etwas kategorisch anderes als Prosa; zwischen »poesia« und »non-poesia« (oder »letteratura«), zwischen Werken (oder Teilen von Werken) also, die als zweckfreier Ausdruck eines universalen Ichs nur dem ästhetischen Urteil zugänglich sind, und Werken (oder Teilen von Werken), die als zweckgebundene, in der Lebenspraxis verankerte Äußerungen eines bestimmten Individuums geschichtlich analysiert und beschrieben werden müssen, besteht ein ontologischer Unterschied. Die Tatsache, daß Croces Ästhetik ein um die pragmatische Dimension verkürzter Sprachbegriff zugrundeliegt, schlägt sich in einem, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, grundsätzlich ahistorischen Verständnis von Produktion
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essi rimangono alla realtà storica che son chiamati ad ordinare e che costituisce il loro effettivo contenuto. Per questo simili studi si varranno di generi che si riferiscano a un soggetto storicamente ben circoscritto e limitato e non invece di quelli così comprensivi da raccogliere sotto di sé le opere più disparate senza dire sostanzialmente nulla sul loro essere [...].« Vgl. Kaiser, a . a . O . , S. 37. Croce, Estetica, S. 30.
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Kuort
wie Rezeption des sprachlichen Kunstwerks nieder. 46 Wenn Sprache in der Dichtung ihrer Historizität, d . h . ihrer kommunikativen Funktion als »fare pratico« eines in einer bestimmten soziokulturellen Wirklichkeit verankerten Individuums entkleidet und zur reinen Expression eines sich absolut setzenden Subjekts entgrenzt wird, dann hat auch der Rezipient, so er denn das im individuellen Kunstwerk beschlossene universelle Schöne erfassen will, sein historisches Ich zu suspendieren. Der Moment der ästhetischen Perzeption ist somit nicht weniger geschichtstranszendent als der Moment der poetischen Expression. Die Geschichte kommt, in rudimentärer Gestalt, erst dann wieder zu ihrem Recht, wenn es gilt, den Nachvollzug der Intuition des Autors als ästhetisches Urteil zu formulieren und in Form einer »Charakterisierung* des Kunstwerks zu explizieren. Mit anderen Worten: Kritiker, auch verschiedener Räume, Zeiten und Ideologien, werden, wenn sie die Intuition des Autors richtig, d . h . kongenial nachempfinden, zu ein und demselben Urteil gelangen, dieses aber in unterschiedlicher Weise plausibel machen. Daraus folgert Croce, daß die Abfolge der ästhetischen Urteile die einzig mögliche Geschichte der Dichtung abgibt. Die Geschichtslosigkeit der Dichtungsvorstellung mündet in einen interpretatorischen Subjektivismus 47 ein, der insofern unkontrolliert ist, als er mit dem Anspruch auf Objektivität auftritt. Dies wird unter rezeptionsästhetischem Gesichtspunkt deutlicher als aus der produktionsästhetischen Perspektive. Der Sinn eines Sprechakts, der, wie die Dichtung bei Croce, absolut gesetzt, d. h. jenseits der sprachlichen Alterität angesiedelt wird, läßt sich nur durch Intuition erfassen. Der intuitive Nach Vollzug der kreativen Syntheseleistung des Autors entzieht sich aber intersubjektiver Nachprüfbarkeit. Somit kann kein Kriterium angegeben werden, das zur Beurteilung der Adäquatheit einer Interpretation herangezogen werden könnte. Da aber Kritiker nicht nur, wie Croce einräumt, bei der Formulierung des ästhetischen Urteils irren können, sondern auch schon im Moment der intuitiven Rezeption, müßte ihre Tätigkeit in totaler Beliebigkeit enden, - wenn sie nicht in Croces universellem Schönheitsbegriff ein scheinbar objektives, in Wirklichkeit aber willkürlich gesetzes Korrektiv hätte. 4 8 3.3. Die Kritik an Croces Ästhetik hat bei dem ihr zugrundegelegten Sprachbegriff anzusetzen. Eugenio Coseriu hat in seinen »Thesen zum Thema »Sprache und Dichtung«< darauf hingewiesen, daß Croce Sprache unterdeterminiert, wenn er sie ausschließlich als schöpferischen geistigen Ausdruck faßt: 46 47 48
Vgl. Hempfer, a . a . O . , S. 53 und Schulz-Buschhaus, a . a . O . , S. 290f. Vgl. Buck, a . a . O . , S. 328, Koppen, a . a . O . , S . 2 9 0 und Hempfer, a . a . O . , S. 52. »Im crocianesimo wird [ . . . ] nicht etwa auf Wertungen verzichtet, ganz im Gegenteil; nur die Grundlage des Wertungssystems hat sich gegenüber der poetisch-rhetorischen Tradition verändert. Anstelle der >Gattungen< fungiert nun der universal gesetzte Schönheitsbegriff als sich selbst ewig gleiche Idee, wobei das Erkennen dieses Allgemein-Schönen wie jedes Universalbegriffs, durch einen Rekurs auf die - modifizierte - Kantische Synthesis a priori zu erklären versucht wird.« (Hempfer, a . a . O . , S. 42).
Zur Aktualität
Benedetto
Croces
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Die Objektivierung der Intuition, das Verhältnis Sprachschöpfer - Sprache ist nämlich nur eine Dimension der Sprache. Die Sprache hat aber noch eine andere Dimension, die durch die >Alterität< des Subjekts gegeben ist, durch die Tatsache, daß das sprachschaffende Bewußtsein ein offenes ist. Dies ist nicht bloß im Sinne der Kommunikation als Mitteilung zu interpretieren. Die Kommunikation als Mitteilung an einen anderen ist etwas Praktisches, sie kann unter Umständen fehlen und muß von der Kommunikation mit einem anderen getrennt werden, die dagegen in jedem sprachlichen Akt vorausgesetzt wird. Die Sprache ist nämlich immer, auch als primäre Sprachschöpfung auf einen anderen ausgerichtet. 49 Seine entschiedene Kritik am Sprachbegriff läßt den Dichtungsbegriff Croces aber unangetastet (»Dichtung [ . . . ] ist wesentlich Tätigkeit eines absoluten Subjekts; der Dichter spricht mit niemandem, er objektiviert einfach sich selbst.«) 5 0 D a g e gen hat Hans Robert Jauß in der Diskussion der »Thesen« zu Recht, wie ich meine, und unwidersprochen eingewandt, daß auch »die einzelne Dichtung wie jeder literarische Text auf jene Alterität angewiesen ist, die E. Coseriu als konstitutiv für Sprache überhaupt ansieht«. 5 1 Das literarische Werk [schreibt er an anderer Stelle] ist auch als Kunst des rein individuellen Ausdrucks (in der epochal begrenzten, von Croce zu Unrecht verallgemeinerten Gestalt der Erlebnis- und Genieästhetik) durch >AlteritätGattung< an [.. ,]. 52 D i e Untersuchung der Gattungshaftigkeit eines literarischen Werkes wird so zum entscheidenden heuristischen Instrument einer genaueren, möglichst wertungsfreien, intersubjektiv vermittelbaren Bestimmung seiner Individualität.
Wenn
heute allgemein anerkannt wird (und hieran hat Croces Expressionsbegriff sicher seinen historischen Anteil), daß die forminhaltliche Gestalt eines Textes Ergebnis
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E. Coseriu: »Thesen zum Thema >Sprache und DichtungSprache und Dichtung