Leider nein!: Die Absage als kulturelle Praktik 9783839450338

"Sorry, I can't!" Case studies on the phenomenon of rejection - considered for the first time from a lite

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German Pages 208 Year 2020

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Inhalt
Die Absage als kulturelle Praktik
»Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn,und Ihnen Mühe machen« – galante Absagen
Absagen an die neue Heimat
»I would prefer not to«
Absage mit Aufschub
»I can’t get no We don’t need no«
Der Gegenwart eine Absage erteilen
Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹als (versuchter) Akt der Epochenbildung
Urbarmachung des literarischen Feldes
»Ich kann das gar nicht« – Absagen als Toposder Gattung Poetikvorlesung
Absagen, verweigern und scheitern: Twitter-Aphorismen vonNein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte
Autorinnen und Autoren
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Leider nein!: Die Absage als kulturelle Praktik
 9783839450338

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David-Christopher Assmann, Kevin Kempke, Nicola Menzel (Hg.) Leider nein!

Lettre

David-Christopher Assmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt. Kevin Kempke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft (NDL II) der Universität Stuttgart. Nicola Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt und Koordinatorin des Fortbildungsprogramms »Buch- und Medienpraxis«.

David-Christopher Assmann, Kevin Kempke, Nicola Menzel (Hg.)

Leider nein! Die Absage als kulturelle Praktik

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften und das Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5033-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5033-8 https://doi.org/10.14361/9783839450338 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Die Absage als kulturelle Praktik Zur Einführung David-Christopher Assmann, Kevin Kempke, Nicola Menzel...................................... 7

»Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn, und Ihnen Mühe machen« – galante Absagen Ruth Florack................................................................................................. 19

Absagen an die neue Heimat Antiamerikanische Motive im deutschen Amerikadiskurs um 1700 Hartmut Hombrecher..................................................................................... 33

»I would prefer not to« Zur Ästhetik und Poetik der Absage in Herman Melvilles Bartleby, the Scrivener Claudia Lillge ............................................................................................... 53

Absage mit Aufschub Hofmannsthal und die Goethe-Gesellschaft David-Christopher Assmann............................................................................ 67

»I can’t get no We don’t need no« Pop als Medium der doppelten Verneinungen und halbierten Absagen Gerhard Kaiser ............................................................................................. 85

Der Gegenwart eine Absage erteilen Formen der Absage im literarischen und  nicht-literarischen konservativen Diskurs Hauke Kuhlmann ......................................................................................... 103

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹ als (versuchter) Akt der Epochenbildung Nikolas Buck .............................................................................................. 125

Urbarmachung des literarischen Feldes Zum produktiven Potenzial von Absagen am Beispiel der ›Parasitenpresse‹ Nicola Menzel ............................................................................................. 145

»Ich kann das gar nicht« – Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung Kevin Kempke ............................................................................................. 167

Absagen, verweigern und scheitern: Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte Miriam Zeh ................................................................................................. 183

Autorinnen und Autoren ....................................................................... 205

Die Absage als kulturelle Praktik Zur Einführung David-Christopher Assmann, Kevin Kempke, Nicola Menzel

Dort, wo sich Möglichkeiten potenzieren, da wird das Absagen von etwas oder die Absage an jemanden zur alltäglichen sozialen Praktik. Auf die moderne Gesellschaft trifft das in hohem Maße zu: Ob in brieflichen Korrespondenzen, in der Arbeitswelt oder als künstlerische Abgrenzungsstrategie; ob im politischen Diskurs, als Geste der Verweigerung oder als Medium der Popmusik – Absagen sind als kommunikativer Akt ein fester Bestandteil diverser öffentlicher und privater Zusammenhänge. Doch so unterschiedlich die sozialen Kontexte sind, in denen refüsiert werden kann, Ort der Absage bleibt zunächst immer die Absage selbst. Als performativer Sprechakt tritt sie nämlich überhaupt erst mit ihrer Mitteilung in Erscheinung: Eine Absage muss ausgesprochen werden, muss mitgeteilt sein, denn sonst wird man entweder erst noch absagen müssen oder bereits abgesagt haben. Als sprachliche Konstruktion tritt die Absage mithin nicht nur als formalisierte Erscheinung auf – sie verfügt über eigene spezifische Darstellungsformen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung gehen die Beiträge dieses Bandes den rhetorischen, semantischen und medialen Darstellungsformen der Absage und ihrer sozialhistorischen Verortung in exemplarischen Studien nach. Als theoretischen Bezugsrahmen machen sie Begriffe jener soziologischen Praxistheorie fruchtbar, die mit den Namen Andreas Reckwitz und Pierre Bourdieu verbunden ist. Mit Reckwitz gesprochen ist die Absage eine jener »know-how abhängige[n] und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene[n] Verhaltensroutinen«,1 mit denen Akteure2 sich am 1 2

Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 289. Wenn in Beiträgen dieses Bandes nur die männliche Funktionsbezeichnung genannt wird, ist immer auch die weibliche Form mitgemeint, sofern nicht anders gekennzeichnet.

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»nexus of doings and sayings«3 in sozialen Feldern beteiligen. Der Vollzug einer Absage aktualisiert ein spezifisches Performanzritual, das innerhalb eines bestimmten sozialen Feldes gegenbeobachtet und sanktioniert wird. Die Absage hat in dieser Hinsicht eine Öffentlichkeit zur Voraussetzung, in und vor der sie ihre Wirkung entfalten soll – ansonsten müssten die Akteure ihre Absage nicht sprachlich explizieren, sondern könnten durch ihren praktischen Vollzug (zum Beispiel durch Nichtbeachtung) mehr oder weniger unbemerkt Realitäten schaffen. In den Blick kommen so Fragen nach den vorstrukturierenden Routinen, Prinzipien, Wissens- und Darstellungsformen, über die Akteure verfügen müssen, um eine Absage erfolgreich zu realisieren – und das kann sowohl ›skandalträchtig‹ als auch ›möglichst geräuschlos‹ oder ›galant‹ heißen. Bei aller Vielfalt ihrer konkreten Realisierungsmöglichkeiten lassen sich für die Absage eine Reihe von typischen Merkmalen identifizieren, von Aktivitäten und Strategien des Formulierens, des Adressierens, der Wahl möglicher Gegenstände und Medien und ihrer aufmerksamkeitsökonomischen Funktionalisierung.4 Als Realisierungsform schriftstellerischer Inszenierungspraktiken kann die Absage die aufmerksamkeitsökonomischen Kalküle literarischer Akteure bestimmen.5 Literatursoziologisch verorten lässt sie sich an jener Funktionsstelle im literarischen Feld, die Bourdieu als ›Positionierung‹ bezeichnet. Das literarische Feld ist nicht nur ein Kräftefeld, »das auf alle einwirkt, die es betreten«.6 Die beteiligten Akteure strukturieren es auch selbst durch ihren »fortwährenden Konflikt[]«.7 Es geht darum, dominierende Positionen einzunehmen, um die Feldstruktur verändern oder den status quo beibehalten zu können. Literarische Texte, programmatische Essays oder Vorträge und grundsätzlich alle anderen schriftlichen oder mündlichen Äußerungen der Akteure dienen dazu, bestimmte Positionen einzunehmen oder abzusichern. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Bourdieu die Form von Positionierungen in besonderer Weise schärft: »Da die Positionierungen sich größtenteils negativ, in Beziehung auf andere, definieren, bleiben sie oft 3 4

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Schatzki: Social Practices, S. 89. Vgl. zur Formelhaftigkeit von Absagen aus pragmalinguistischer Perspektive und mit Blick auf Absagen als Reaktion auf Bewerbungsschreiben Szczȩk: Absageschreiben auf Bewerbungen, insbesondere Kap. 8.4. Vgl. Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 368. Ebd.

Die Absage als kulturelle Praktik

nahezu leer, eingeschränkt auf eine Geste der Herausforderung, der Verweigerung, des Bruchs«.8 Mit anderen Worten: Die Praktik der Absage ist, wenn sie in Kontexten sozialer Felder realisiert wird, die Strategie der Positionierung par excellence. Verstanden als Geste der Herausforderung oder der Verweigerung von etablierten Positionen und des Bruchs mit diesen ist die Absage für die »permanente Revolution«9 innerhalb des Feldes verantwortlich. In seiner relationalen Verfasstheit bildet sich ein soziales Feld damit nicht zuletzt auch durch permanentes Absagen heraus: Die wiederholte und stets erneuerte Absage an andere, konkurrierende Positionierungen macht die Fehde zu einem konstitutiven Antrieb sozialer Evolution. Die historische Semantik der Absage deutet diesen Zusammenhang an: Laut Zedlers Universal-Lexicon handelt es sich bei der »Absagung« um einen »Feind-Brief«, eine »Diffidation«, »so eine Ankündigung, inhalts deren einer den andern öffentlich anzugreifen, und mit Krieges-Macht zu überziehen drohet: heißt eigentlich die Fähde oder Fehde, welches Krieg, Verfolgung oder Feindschaft bedeutet.«10 In der feldtheoretischen Perspektive auf Praktiken des Absagens, die das Augenmerk grundsätzlich auf die wechselseitige Durchdringung von sozialer Verfasstheit und sprachlicher (literarischer) Form, auf die Homologie von Feldpositionen und Positionierungen zu einem gegebenen Zeitpunkt richtet, ist also auch bereits ein komplementäres Moment angelegt. In dieser diachronen Hinsicht kann die Bedeutung von Absagen in der literaturgeschichtlichen Entwicklung betont werden. Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit: »Die literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der vorhergehenden durch Widerspruch.«11 Dieser Satz enthält ein Modell literarischen Wandels, das den programmatischen Bruch mit der Tradition als Prinzip literarischer Entwicklung in den Blick rückt. Zumal für die Literatur der Neuzeit dürfte diese These Geltung beanspruchen können – zumindest, wenn man von den Selbstbeschreibungen der Akteure in poetologischen und (literatur)politischen Stellungnahmen ausgeht. Nicht nur für die Avantgarden stellt der rhetorische Bruch mit den Vorgängern mithin eine konstitutive Geste dar. In Harold Blooms Theorie der Einflussangst etwa, der Anxiety of Influence, vollzieht sich die Konstitution von Werk und Autorschaft generell im Modus der Absage. Dort sind Absagen als 8 9 10 11

Ebd., S. 379. Ebd. Art. Absagung, Sp. 174. Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 258.

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gewollte Fehllektüren, als »poetisches Fehlverstehen«12 der Vorgänger das Movens literarischer Innovation, die Bloom unter anderem als »korrektive Bewegung«13 versteht. Um eine bedeutungstragende Abweichung zu realisieren, muss bestehenden Formen und Formaten abgesagt werden. In den Blick kommt damit eine Aporie, die für die Absage – verstanden als soziale Praktik – synchron wie diachron konstitutiv zu sein scheint. Die Absage will als feldrelative Positionierung konkurrierende Aktivitäten oder Diskurse innerhalb des Feldes vermeiden oder aufkündigen. Genau damit provoziert sie aber weitere Positionsnahmen, die sie zwar antizipieren, aber nicht völlig kontrollieren kann. Gerade weil sie konkurrierende Positionierungen unterbinden will, ist die Absage ein Katalysator weiterer Positionsnahmen, bleibt doch der Bruch, die Verweigerung im literarischen (künstlerischen, politischen etc.) Feld gewöhnlich nicht unwidersprochen. Seien es Forderungen nach Erläuterung oder Kontextualisierung; sei es das Bedürfnis, die Ablehnung einer bestimmten Position zu legitimieren; sei es die Empörung, die Polemik oder das Bedauern darüber, dass etwas abgelehnt oder nicht stattfinden wird; seien es Bemühungen, sich wiederum gegenüber der kommunizierten Absage abzusetzen, der Absage also eine Absage zu erteilen – die Absage fordert dazu heraus, sich auf irgendeine Weise zu ihr zu verhalten. Als soziale Praktik ist jede Absage daher paradoxal gebaut: Im Versuch, konkurrierende Kommunikation zu unterbrechen, zu unterdrücken und zu vermeiden, trägt sie zum kommunikativen Fortbestand der abgelehnten Position und des Diskurses bei. Heuristisch davon zu unterscheiden ist noch ein weiterer, verdeckter Typus der Absage, der sich im Privaten abspielt. Er ist für denjenigen, dem abgesagt wird, mit Enttäuschung und Scham behaftet und wird gern unter Verschluss gehalten, denn er zeugt vom Ausschluss. Das gilt für die harsche oder liebevolle Absage eines Rendezvous ebenso wie für die Absagen, die Verlage hoffnungsvollen und weniger hoffnungsvollen Nachwuchsautorinnen und autoren auf ihre Manuskripte schicken. Am bekanntesten werden wohl die Absagen an die Harry Potter-Reihe sein, aber auch Musil schreibt über Die Verwirrungen des Zöglings Törleß: »Als ich fertig war, wurde mir das Manuskript von mehreren Verlagen mit Dank zurückgestellt und abgelehnt.«14 Das Nachdenken über poetologische und praxeologische Aspekte der Absage meint auch 12 13 14

Bloom: Einfluss-Angst, S. 11. Ebd., S. 16. Musil: Tagebücher, S. 912.

Die Absage als kulturelle Praktik

das Nachdenken über das Abseitige, das Nicht-Zugelassene, das Randständige, das Abgewiesene und Zurückgewiesene. Es bedeutet, nachzudenken über das Verpassen von Möglichkeiten, die Angst davor, nicht teilzuhaben, und es heißt auch ein Nachdenken über Abgrenzung, über Verweigerung; darüber, Grenzen auszutesten oder gerade noch im Rahmen des Höflichen, Gesellschaftsfähigen zu bleiben. Literarische Texte sind ein Medium, diese Zusammenhänge zu thematisieren, zu reflektieren und zu hinterfragen. Es gibt daher nicht nur Absagen an literarische Texte, bzw. ihre Autorinnen und Autoren. Auch in literarischen Texten spielen Absagen immer wieder eine Rolle. Im Zentrum der Handlung von Carl Sternheims komischem Drama Der Snob beispielsweise steht der Emporkömmling Christian Maske, der sich beharrlich und kompromisslos um seinen sozialen Aufstieg bemüht. Bei allem damit einhergehenden Kalkül verwundert nicht, dass Maske seine freudige Zusage auf eine Einladung des Grafen Palen, dem Aufsichtsratsvorsitzenden eines mächtigen Konzerns, mit Bedacht zu verfassen versucht: »Die Sache muß als erste schriftliche Äußerung meinerseits in diesen Kreis hinein tadellos korrekt und doch bedeutend sein.«15 Er bemüht sich um die Formulierung der Anrede, der Wahl des Tons, des Papiers, des Vokabulars und schließlich des rhythmischen Klangs »Dúm da da dúm da. Únaufgefórdert. Die zweite Silbe ist für mein Ohr länger als die erste. Falscher Takt. – Pränumerándo – das ists im Ton, gibt aber natürlich keinen Sinn. Dúm da da dúm da. Ich muß es finden.«16 Dabei gerät die Bedeutung, nämlich die eigentlich intendierte Zusage, in den Hintergrund. Mehr noch führt die Poetisierung des Schreibens und das Spiel mit der Form so sehr zur Desemantisierung, dass die eigentliche Botschaft ins Gegenteil kippt und die Antwort letztlich zufriedenstellend erst in Form einer Absage gelingt. Diese kann in einem Zug formuliert werden und liest sich ganz formelhaft: »Mannigfaltigkeit der Geschäfte, verehrter Graf Palen, verhindert mich leider, Ihre liebenswürdige Einladung anzunehmen.«17 Höflich eine Begründung anführend und mit der Äußerung seines Bedauerns, bedient sich Maske konventioneller Wendungen, die sich bei Absagen bewährt haben. In diesem Fall indes geht es nicht darum, einen bestimmten Inhalt zu transportieren – im Gegenteil: Der Sound muss stimmen.18 15 16 17 18

Sternheim: Der Snob, S. 17. Ebd. Ebd., S. 35. Wie wenig Bedeutung dem eigentlichen Inhalt der Absage zukommt, zeigt sich, wenn im mündlichen Gespräch mit dem Grafen diese gleich widerrufen und die Einladung

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Absagen im Kontext des Verlegens und Publizierens von Literatur können wiederum auch selbst literarisch verarbeitet werden. Das geschieht beispielsweise in der brieflichen Rahmung von E.T.A Hoffmanns Erzählung Rat Krespel. Der Erzählung ist im Erstdruck ein Brief Hoffmanns an Friedrich Baron de la Motte Fouqué vorangestellt, in dem Hoffmann sich dafür entschuldigt, seinen Text für das von Fouqué herausgegebene Frauentaschenbuch für das Jahr 1817 nicht rechtzeitig fertiggestellt zu haben – es sei ihm »dieses Mahl« aus verschiedenen Gründen nicht möglich gewesen, »etwas Würdiges für Ihr den Frauen zunächst gewidmetes Taschenbuch zu liefern.«19 Ins Feld geführt werden vor allem qualitative Kriterien: Ein geeigneter Text für das Jahrbuch müsse »anmuthig, geistreich, fantastisch, romantisch, witzig, empfindsam, humoristisch, heiter, tief«20 sein, genau ein solcher Text gelinge Hoffmann aber aktuell nicht. Er erteilt seinem Herausgeber also eine Absage, die aber schließlich doch noch positiv gewendet wird. In einem Postscriptum zum Brief erklärt Hoffmann, wie er (nach Verfassung des Briefes) letztlich doch noch zu einer Idee für einen Text gelangt sei, den er dem Brief ebenfalls anfügt – es handelt sich um die später als Rat Krespel bekannt gewordene Erzählung. Die briefliche Rahmung ist doppelt codiert: Einerseits stellt sie tatsächlich eine (faktuale) Absage an Fouqué dar – Hoffmann konnte keinen Text für die Anthologie von 1817 liefern –, bindet diese aber in die Konventionen der Herausgeberfiktion, in der die (oftmals fingierten) Entstehungsumstände des Haupttextes geschildert werden, ein. Die Absage an Fouqué liefert damit zugleich einen Einblick in die Kommunikation zwischen Autor und Herausgeber als auch eine mit dem literarischen Text verbundene poetologische Reflexion im Medium der brieflichen Absage. Die Erzählung erschien schließlich im Frauentaschenbuch für das Jahr 1818, also ein Jahr später – einschließlich der Brief-›Fiktion‹, die damit zum integralen Bestandteil der Erzählung erhoben wurde.21 Um die nur angedeutete Vielfalt des Absagens in soziokulturellen und speziell in literarischen Kontexten nachzugehen, schlagen wir vor, folgende vier Dimensionen einer Analyse der Absage als kulturelle Praktik systematisch zu unterscheiden:

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doch angenommen wird. Relevanz hatte demnach nur die Geste der Absage in schriftlicher Form. Hoffmann: Die Briefumrahmung des Erstdrucks, S. 1271. Ebd., S. 1270. Vgl. für diesen Abschnitt auch Segebrecht: Erläuterungen zur Briefumrahmung des Erstdrucks.

Die Absage als kulturelle Praktik









Die Semantik der Absage: Das, was eine Absage ›ist‹, ist das Ergebnis sozialer Konventionen und Konstruktionen, die kontextabhängig sind, von den beteiligten Akteuren abhängen und sich in diachroner Perspektive wandeln. Dabei steht die Absage in einem semantischen Austausch- und Abgrenzungsverhältnis zu anderen angrenzenden kommunikativen Formen (etwa des Danksagens, des Zusagens).22 Die soziale Funktion der Absage: Absagen sind stets in Akteurskonstellationen eingelassen, die darüber bestimmen, wem von wem überhaupt abgesagt werden kann – und wem nicht. In den Blick geraten damit Anleitungen des Absagens, in denen es darum geht, was ein ›richtiges‹, ›stilvolles‹ Absagen auszeichnet: Wann ist die Absage (noch) angemessen? Welche Irritationen treten bei zu späten oder zu frühen Absagen auf? Wann und wie werden Absagen überhaupt öffentlich gemacht? Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach einer Scham vor der Absage als Zeugnis des Scheiterns. Zusätzlich kommt auch die produktive oder destruktive Kraft, die Absagen entfalten können, in den Blick – und nicht zuletzt ihr kritisches Potenzial. Die Rhetorik der Absage: Eng verbunden mit der sozialen Funktion von Absagen sind Fragen der rhetorischen Form, mittels derer Absagen präsentiert werden. In dieser Perspektive geht es um die Topoi und rhetorischen Verfahren, die eine bestimmte Vollzugsform der Absage aktualisiert oder unterläuft. Mit welchem Redeschmuck wird die negative Botschaft eingekleidet und wahlweise euphemisiert? Welche Stilformen einer guten Absage sind zu unterscheiden? Das Medium der Absage: Schließlich kann nach den Formaten gefragt werden, in denen etwas oder jemandem abgesagt wird. Zu unterscheiden sind dabei zum einen schriftliche von mündlichen Absagen, die je eigene Formen der Gestaltung und der Beobachtbarkeit mit sich bringen. Zum anderen sind (im hier vor allem interessierenden schriftlichen Bereich) die Differenzen zwischen Formaten wie der brieflichen Absage, derjenigen per E-Mail oder derjenigen in fiktionalen Texten zu untersuchen. In den Blick kommt so nicht zuletzt die Frage nach der ›Angemessenheit‹ des Mediums der Absage.

Die Beiträge dieses Bandes gehen (in unterschiedlicher Gewichtung) einigen dieser Aspekte und ihren Verknüpfungen nach, und werfen ein Licht auf die 22

Vgl. dazu Binczek/Bunia/Dembeck/Zons: Dank sagen.

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vielfältigen Routinen und Praktiken der Absage, ihre Brüche und Ambivalenzen und ihre literarisch-ästhetische Produktivität. Ruth Floracks Beitrag »Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn, und Ihnen Mühe machen« – galante Absagen fokussiert die höfische Kultur um 1700. Mit Blick auf Briefsteller, also Anleitungen zum galanten Verhalten (›Anstandsbriefe‹) und zum Briefeschreiben, fragt sie danach, wieso in diesen Briefen die Absage eine nur marginale Rolle spielt. Absagen sind, so die Antwort, grundsätzlich zu vermeiden, um die gesellschaftlich angedachte Rolle beizubehalten, da sonst soziale Exklusion die Folge wäre. Zudem lässt sich zeigen, dass Absagen auch als reflektierte und fingierte Form der Aufrechterhaltung galanter Kommunikation dienen können. Hartmut Hombrecher beschäftigt sich in seinem Beitrag Absagen an die neue Heimat. Antiamerikanische Motive im deutschen Amerikadiskurs um 1700 mit der Rolle der Absage im Kontext der Diskussion um Emigration in die USA zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Er rekonstruiert diese bisher kaum wahrgenommene Debatte, in der bereits Grundzüge des späteren, ›eigentlichen‹ Antiamerikanismus angelegt sind, anhand von Narrativen und Topoi. Der Amerika-Begriff wird im Rahmen dieser Absagenform sowohl progressiv als auch konservativ funktionalisiert – und zwar jeweils im Modus der Absage, entweder an die alte oder an die neue Heimat. Der Beitrag »I would prefer not to«. Zur Ästhetik und Poetik der Absage in Herman Melvilles »Bartleby, the Scrivener« von Claudia Lillge nimmt mit Herman Melvilles Erzählung von 1853 einen Text in den Blick, dessen Aussage »I would prefer not to« für eine Literatur- und Kulturgeschichte der Absage geradezu Sprichwörtlichkeit beanspruchen kann. Lillge interessiert die poetischästhetische Performanz der Absage und deren narrative Rahmung und argumentiert, dass die Praktik in Melvilles Text als ein Zusammenwirken von Macht-, Sprach-, Körper- und Raumpolitiken inszeniert wird. Bartleby wird so als eine Figur erkennbar, die dem ewig Gleichen der Gesellschaft Widerstand leistet. Der Beitrag Absage mit Aufschub. Hofmannsthal und die Goethe-Gesellschaft von David-Christopher Assmann untersucht eine Episode aus der Korrespondenz Hugo von Hofmannsthals: die Form der brieflichen Reaktion des Autors auf eine Einladung seines Verlegers Anton Kippenberg zu einem Festvortrag in der Weimarer Goethe-Gesellschaft. Assmann argumentiert, dass Hofmannsthals zögerliche Absage an Kippenbergs Vorschlag vordergründig die Form einer aufschiebenden Ambivalenz performiert. Bei genauerem Hinsehen lässt sich der entsprechende Antwortbrief aber als größtmögliche Di-

Die Absage als kulturelle Praktik

stanzierung gegenüber dem Verleger lesen. In funktionalen Hinsichten zielt Hofmannsthals Reaktion mithin auf die Souveränität der eigenen posture im literarischen Feld der 1920er Jahre. Gerhard Kaiser liest in seinem Beitrag »I canʼt get no We donʼt need no« – Pop als Medium der doppelten Verneinungen und halbierten Absagen – im Anschluss an Diedrich Diederichsens Über Popmusik und Andreas Reckwitz’ These zur Singularisierung in Prozessen der Kulturalisierung des Sozialen – Pop als ›anschwellenden Bockigkeitsgesang‹. Am Beispiel der Beatles und Pink Floyd zeigt er, dass Absagen im Pop stets im performativen Modus der Zustimmung funktionieren: Popmusik stellt den performativen Akt der Absage als Distinktionsgeste auf Dauer. Hauke Kuhlmanns Beitrag Der Gegenwart eine Absage erteilen. Formen der Absage im literarischen und nichtliterarischen konservativen Diskurs zeigt anhand von Botho Strauß und Martin Mosebach, welche Rolle die Struktur der Absage im konservativen Diskurs der Gegenwart einnimmt. Während Strauß den Typus des Außenseiters inszeniert, der sich gegen die Funktionalisierung der Sprache sträubt, greift Mosebach die Freund-Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt auf, um ein Reformkonzept in Szene zu setzen: In einer Krisen- und Untergangsrhetorik und einer entdifferenzierten Sicht auf die Moderne zielt er darauf ab, Bewährtes zu bewahren und eine Frontstellung zum ästhetischen Gegner zu profilieren. Der Beitrag Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹ als (versuchter) Akt der Epochenbildung von Nikolas Buck zeigt anhand der provokativen Ausrufung eines sogenannten ›Relevanten Realismus‹ im deutschsprachigen literarischen Feld der Nuller Jahre des neuen Jahrtausends, dass im Kontext von exnunc-Epochenbildungen Absagen in Form von Negativbezügen zur Vorgängerepoche eine wichtige Rolle spielen. In seinem close reading des entsprechenden Programmtextes von Matthias Politycki und anderen Autoren aus seinem diskursiven Umfeld zeigt Buck, dass die Inszenierung einer forcierten Innovation bei gleichzeitiger Distinktion mit einem emphatischen Verweis auf das Kommende einhergeht. Nicola Menzel geht in ihrem Beitrag Urbarmachung des literarischen Feldes. Zum produktiven Potenzial von Absagen am Beispiel der ›Parasitenpresse‹ dem poetologischen und strategischen Potenzial von Absagen im literarischen Feld der Gegenwart nach. Am Beispiel des Lyrikverlags Parasitenpresse zeigt sie nicht nur, wie die Absage als soziale Praktik unter Rückgriff auf die Semantik des Parasiten zur Inszenierung eines verlegerischen Ursprungsmythos gelingt. Sie verdeutlicht auch, wie sich durch die Umdeutung einer

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eigentlich exkludierenden sozialen Praktik ein unabhängiges Unternehmen im sich wandelnden literarischen Feld um 2000 positionieren kann, sichtbar wird und Aufmerksamkeit generiert. Eine ähnlich dialektische Wendung sieht Kevin Kempke in seinem Beitrag »Ich kann das gar nicht« – Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung. Am Beispiel von Juli Zehs Treideln fragt er nach der Funktion des Absagentopos in Poetikvorlesungen. Die Absage an die Poetikvorlesung als Gattung und Institution im Rahmen der Vorlesung selbst liest er als Ausdruck einer Auseinandersetzung mit den Bedingungen philologischer und literaturkritischer Aufmerksamkeit und als auktoriale Legitimationsstrategie, die eben gerade nicht den Abbruch der Veranstaltung zur Folge hat. Miriam Zeh untersucht in ihrem Beitrag Absagen, verweigern und scheitern: Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte die über Twitter getätigten künstlerischen Absagen Eric Jarosinskis, die dieser unter dem Titel »Nein Quarterly« veröffentlicht. Ihr Beitrag zeigt, dass das formalisierte und komische Verfahren der pointierten Absagen an abstrakte Begriffe ein enormes kulturelles Wissen bei Autor wie Rezipienten voraussetzt. Zugleich lässt sich an den Tweets eine Verweigerung an wissenschaftliche Sprache und Publikationsformen zeigen, wobei sich Jarosinski in seiner Inszenierung doch in einen allgemeinen Habitus des Intellektuellen als Verweigerungskünstler einschreibt. * * * Die Beiträge dieses Bandes beruhen auf Vorträgen, die im Rahmen des Workshops »Poetik der Absage. Semantische, rhetorische und mediale Dimensionen einer sozialen Praktik« gehalten wurden. Der Workshop fand im Juni 2018 am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt a.M. statt. Wir danken der Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität, dem Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften und dem Fachbereich 10 der Goethe-Universität für die Förderung. Miriam Zeh danken wir für ihre Mitwirkung bei der Planung und Organisation des Workshops, Heinz Drügh und Susanne Komfort-Hein für ihre Unterstützung sowie allen Beiträgerinnen und Beiträgern dafür, dass sie unserer Einladung zur Mitwirkung zugesagt und mit uns über Absagen nachgedacht haben.

Die Absage als kulturelle Praktik

Literaturverzeichnis Art. Absagung. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges UniversalLexikon welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 1. Halle und Leipzig 1732, Sp. 174-175. Natalie Binczek/Remigius Bunia/Till Dembeck/Alexander Zons (Hg.): Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit. Paderborn 2013. Harold Bloom: Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. Frankfurt a.M. 1995. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M. 2001. Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Textkritisch durchgesehen von Lieselotte Blumenthal, kommentiert von Erich Trunz. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. 9: Autobiographische Schriften I. 12., durchges. Aufl. München 1994. E.T.A. Hoffmann: Die Briefumrahmung des Erstdrucks. In: E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 1269-1273. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 9-30. Robert Musil: Tagebücher. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1983. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), H. 4, S. 282-301. Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social. Cambridge 1996. Wulf Segebrecht: Erläuterungen zur Briefumrahmung des Erstdrucks. In: E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt a.M. 2008, S. 1274-1276. Carl Sternheim: Der Snob. Komödie in drei Aufzügen von Carl Sternheim. Leipzig 1914. Joanna Szczȩk: Absageschreiben auf Bewerbungen. Eine pragmalinguistische Studie. Berlin 2015.

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»Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn, und Ihnen Mühe machen« – galante Absagen Ruth Florack Allein die Schreibweise des Zitats in der Überschrift dieses Beitrags1 weist zurück auf Zeiten vor jeder Rechtschreibreform. Und in der Tat: Während die meisten Beiträge des vorliegenden Bandes sich Gegenwartsphänomenen widmen, führen die folgenden Überlegungen dreihundert Jahre zurück, in die Zeit um 1700. Zudem wird statt einer globalen Perspektive eine genuin europäische in den Blick genommen, mit Frankreich und Deutschland im Zentrum. Um galante Absagen soll es gehen – doch was ist Galanterie? Im Folgenden ist mehr und anderes damit gemeint als ein altmodisch höfliches Verhalten von Männern gegenüber Frauen,2 obwohl Galanterie durchaus mit beidem zu tun hat: mit Höflichkeit ebenso wie mit Interaktionen zwischen den Geschlechtern. Und da die Vorstellung, Absagen sollten höflich formuliert werden, sich im Alltag bis heute erhalten hat, lohnt es sich danach zu 1

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Im Zusammenhang heißt der Beispielsatz, mit dem eine Dame das Angebot eines Herrn, sie nach einer Hochzeitsfeier nach Hause zu begleiten, ablehnt: »Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn, und Ihnen Mühe machen, ich kan mich schon alleine finden, dancke inzwischen vor Dero gütiges Anerbieten, und wünsche wohl zu ruhen« (Ethophilus: Complimentir- Und Sitten-Buch, S. 112; Hinweis bei Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 227). Beetz deutet diese Absage als ein »uminterpretierendes Gegenkompliment«: »Indem sie den Wunsch des Herrn zu einer Mühe für ihn und ihr Entgegenkommen zu einer Unhöflichkeit umdeutet, gelingt es ihr, Höflichkeit als Distanzierungsmittel so einzusetzen, daß trotz auseinanderstrebender Wünsche die Harmoniefiktion gewahrt bleibt« (ebd., S. 227). Der Duden bezeichnet den Gebrauch des Substantivs »Galanterie« als »bildungssprachlich veraltend«. Als Beispiele werden die Ausdrücke »galantes Benehmen« und »galantes Kompliment« angeführt (Dudenredaktion: Galanterie), wobei auch das Adjektiv »galant« als »veraltend« ausgewiesen wird, um auszudrücken, dass Männer sich »betont höflich und gefällig gegenüber Damen« benehmen (ebd.: galant).

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fragen, welche Regeln für Absagen gegolten haben, als Höflichkeit noch unverzichtbar war für gesellschaftlichen Erfolg.

I.

Galanterie

In der Frühen Neuzeit war Galanterie ein umfassendes Verhaltenskonzept, das im Frankreich des 17. Jahrhunderts in den Pariser Salons und am Hof von Versailles Konjunktur hatte. Vermittelt, reflektiert – und wohl auch zum großen Teil allererst entworfen – wird dieses Verhaltenskonzept im Wesentlichen durch Literatur unterschiedlicher Gattungen. Vor allem der Roman spielt hierbei eine wichtige Rolle, denn er steht in der Frühen Neuzeit außerhalb der Normierung durch Poetiken und bietet daher Freiräume für Experimente mit neuen Formen und Inhalten. Die Galanterie hat, wie in jüngerer Zeit Alain Viala und Jörn Steigerwald in ihren einschlägigen Studien gezeigt haben,3 zugleich eine ethische und eine ästhetische Dimension. Sie umfasst sowohl »privatpolitische« Klugheit4 als auch eine befriedete, harmonische, auf Ausgleich bedachte gesellige Praxis. Als umfassendes Kommunikationsideal einer kultivierten Oberschicht lässt Galanterie sich nicht präzise definieren, allenfalls umschreiben. So, wie Vaugelas es beispielsweise getan hat, als er um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Bedeutung von galant als etwas Zusammengesetztes bestimmt hat, das aus einem gewissen Etwas besteht, aus Höfischem und Höflichkeit, aus Arglosigkeit und Ungezwungenheit, vereint mit Anmut, Esprit und Freudigkeit.5 In diesem Verständnis ist Galanterie eng mit dem Ideal des »honnête homme« verknüpft, sie setzt gleichermaßen intellektuelle Fähigkeiten und soziale Kompetenz voraus.6 Galanterie ist außerdem ein Distinktionsmodell.7 Wer in seinem ganzen Habitus, in Sprache, Gestik, Mimik und Kleidung, galant ist, gehört zur sogenannten guten Gesellschaft, zum ›monde‹, wie man in 3 4 5

6 7

Vgl. Viala: La France galante; Steigerwald: Galanterie. Beetz spricht vom »privatpolitische[n] Nutzwert der Höflichkeit« (Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 188). »[C]omposé où il entre du je-ne-sais-quoi, ou de la bonne grâce, de l’air de la Cour, de l’esprit, du jugement, de la civilité, de la courtoisie et de la gaieté, le tout sans contrainte, sans affectation et sans vice« (Vaugelas : Remarques sur la langue française [1647], zitiert bei Viala : La France galante, S. 33). Viala : La France galante, S. 33. Vgl. ebd., S. 33.

»Monsieur! Ich will so unhöflich nicht seyn, und Ihnen Mühe machen«

Frankreich sagte, oder zur ›galanten Welt‹, wie es auf Deutsch um 1700 hieß. Und die Alltagspraxis der guten Gesellschaft bedarf der Galanterie als eines Mittels sozialer Kohäsion in einer Kommunikation, die im Wesentlichen auf persönlichem Kontakt beruht. Dabei ist bewusst zu halten, dass es in der höfisch geprägten Gesellschaft Frankreichs nicht um Individualität geht, sondern um Soziabilität, die für die Existenz des Einzelnen – als Mitglied dieser exklusiven Gesellschaft – von vitalem Interesse ist. Zeitversetzt, etwa ab 1680 bis in die 1730er Jahre hinein, wird das Verhaltensmodell der Galanterie durch Kulturvermittler wie den Philosophen Christian Thomasius theoretisch und die (zeitweise freien) Schriftsteller und Juristen August Bohse und Christian Friedrich Hunold praktisch auch auf Deutsch verbreitet – für ein Publikum, zu dem außer Adligen auch Bürgerliche gehören, Beamte etwa oder angehende Akademiker.8 In Deutschland wird das galante Verhaltensmodell vor allem »in bürgerlichen Handelsstädten (Leipzig, Hamburg), Residenzen (Dresden, Berlin) und Universitätsstädten (Halle, Leipzig) propagiert.«9 Umgangsformen und Verhaltensregeln, die sich zumeist an junge Männer richten und ein karriereförderliches Auftreten bei Hof versprechen, werden – oft auf gefällig-unterhaltsame Weise – in Anstandsliteratur und Briefstellern ebenso formuliert und anschaulich dargestellt wie in fiktionalen Texten, wobei die Grenzen zwischen den Vermittlungsformen von Lehrbuch und Roman recht durchlässig sind.

II.

Höfliche Absagen in Anleitungsbüchern

Um 1700 haben die Romanautoren August Bohse (Talander) und Christian Friedrich Hunold (Menantes) eine ganze Reihe von Verhaltenslehren und Briefstellern auf den Markt gebracht. Dabei handelt es sich um Anleitungen zu galantem Handeln, sei es in mündlicher oder in schriftlicher Kommunikation, die seinerzeit populär waren, manche wurden mehrfach aufgelegt. Es ist auffällig, dass in diesen detaillierten, systematisch nach Gelegenheiten und Adressaten unterscheidenden Handbüchern kaum etwas zu Absagen zu finden ist. Nehmen wir zum Beispiel Bohses dreibändiges Werk Der allzeitfertige Brieffsteller / Oder Ausführliche Anleitung / wie so wohl an 8 9

Neue Erkenntnisse hierzu bietet die grundlegende Studie von Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 113-117. Hess: Art. »Galante Rhetorik«, Sp. 508.

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hohe Standes-Personen / als an Cavalliere / Patronen / gute Freunde / Kauffleute und auch an Frauenzimmer / ein geschickter Brieff zu machen und zu beantworten (1690). Nur wenige Stellen dieses umfangreichen Buchs kommen für unser Thema überhaupt in Betracht. So gehört etwa zu den möglichen Antworten auf ein »Bitt-Schreiben« neben der »Willfahrung« auch das »Abschlagen«.10 Dafür gilt grundsätzlich, dass es »höfflich eingerichtet« sein soll: »Wer aber was abschläget / soll es mit solcher Entschuldigung thun / daraus der Freund siehet / daß er ihm gerne dienen würde / wann es möglich wäre; Denn wer etwas mit wiedrigen Gesichte oder trotziger Antwort versaget / beschämet alzusehr den / der da bittet / und machet / daß er als sich verachtet haltend offtmahls aus seinem Freunde sein ärgster Feind wird.«11 Entscheidend ist also, dass die vertrauensvolle Beziehung zum Kommunikationspartner oder doch zumindest eine »Fiktion der Interessenharmonie« aufrechterhalten werden kann,12 zum eigenen Schutz. In dem gegebenen engmaschigen sozialen Netz könnte sonst aus dem Umschlag von Gewogenheit in Ablehnung leicht ein persönlicher Nachteil erwachsen, vielleicht sogar ein sozial folgenschwerer Konflikt entstehen. Damit steht die höfliche Entschuldigung gleichzeitig im Dienst der Soziabilität und der privatpolitischen Klugheit, das eine bedingt das andere. Das zeigt sich auch in dem Fall, in dem einer Einladung nicht nachgekommen wird: Bohse zufolge muss jede schriftliche Antwort auf ein »EinladungsSchreiben« »durch und durch voller Höffligkeit« sein; »und wann man auch nicht erscheinen will / sondern zu kommen abschläget / muß es doch mit aller Bescheidenheit geschehen / also daß man die Unmögligkeit vorstellet / warum man nicht des Freundes gütiger Invitation könne ein Genügen thun / 10 11 12

[Bohse:] Der allzeitfertige Brieffsteller [Teil 2], S. 164-165. Ebd., S. 165. »Vor nicht immer einfache Probleme stellt den verbindlichen Ansprechpartner die gelegentliche Unvermeidlichkeit, Bitten abzuschlagen; gefährdet sie doch die Leitbilder der Gefälligkeit und Zuvorkommenheit. Der frühmoderne Höflichkeitsdiskurs begegnet dem programmierten Interessenkonflikt mit Strategievorschlägen, die zu verhindern suchen, daß der Bittsteller die Ablehnung seines Ansinnens als Ablehnung seiner Person auffaßt. Je nach der Tragweite eines Ansuchens und der Konsequenzen, die es impliziert, stehen unterschiedliche Ablehnungsstrategien zur Verfügung. Das von Ausdrücken des Bedauerns flankierte Abschlagen kleinerer Bitten sucht die Fiktion der Interessenharmonie über die offensichtliche Interessenverletzung hinweg zu retten und vermeidet sorgsam jeden Anschein, durch die Bitte unangenehm berührt zu werden« (Beetz: Frühmoderne Höflichkeit, S. 229-230).

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saget dabey / wie hertzlich daß es uns leid wäre / daß wir es müsten versagen / und verspricht in andern Begebenheiten sich jedesmahl dienstfertig finden zu lassen«.13 Die höfliche Absage steht unter dem Vorzeichen des Bescheidenheitstopos, der den Adressaten erhöht, um ihn gewogen zu machen; so wird betont, dass die (unerwünschte) Antwort die gute Beziehung nicht in Frage stellen soll. Höflichkeit ist das Mittel dazu, dass diese Unterscheidung zwischen grundsätzlicher Sympathie und Ehrerbietung gegenüber der Person einerseits und einer einzelnen Absage im konkreten Fall andererseits gelingen kann – und gelingen wird, denn im gegebenen Interaktionskontext der ›guten Gesellschaft‹ wäre die barsche Zurückweisung einer höflichen Entschuldigung selbst grob unhöflich und damit normverletzend. Bescheidenheit und Höflichkeit als Ausweis der Ehrerbietung zum Zweck einer harmonischen Beziehung gilt auch für Absagen im Kontext familiärer Abhängigkeit. Dies zeigt Bohses Beispiel für ein »EntschuldigungsSchreiben«, in dem ein Student die Aufforderung seines Vaters, zügig sein Studium zu beenden, abschlägig bescheidet: Hochgeehrter Herr Vater. Ich bitte gehorsamst / derselbe wolle es vor keinen Ungehorsam außlegen / daß ich nicht alsofort seinem Befehl Folge leiste / und von der Universität nacher Hause kommen; Denn weil ich jetzo gleich mit der Verfertigung einer Disputation beschäfftiget / welche ich noch gern vor meinem Abzuge halten wolte / zudem auch nur ein Collegium Practicum vor vierzehen Tagen bey dem Herrn Doctor N. angefangen habe / welches in einem halben Jahre aus wird; als ersuche den Herrn Vater gehorsamst / er wolle mir doch immer diese sechs Monat biß auf Michaelis annoch zu bleiben vergönnen / denn ich gewiß / daß mir dieses letzte halbe Jahr mehr als die gantzen andern drey Jahre / so ich auf Universitäten gewesen / nutzen soll. Verhoffe demnach hochgeneigte Bewilligung / und verspreche meine Zeit also anzuwenden / daß ich es gegen dem Herrn Vater verantworten will / und er mit mir soll zu frieden seyn. Wormit unter Empfehlung Göttlicher Obhut verbleibe Lebenslang Meines Hochgeehrten Herrn Vaters gehorsamer Sohn.14 13 14

[Bohse:] Der allzeitfertige Brieffsteller [Teil 1], S. 374. Ebd. [Teil 2], S. 230-231.

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Das Beispiel ist übrigens insofern typisch für Bohse, als es zeigt, wie sehr sein Briefsteller noch der Disposition in der bewährten Tradition der Rhetorik verhaftet bleibt.15 Auf die »Salutatio« mit dem »gebührenden Ehrentitel« folgt im »Exordium« die »Einschmeichelung« um »Gunst und Beyfall«; die »Narratio« stellt den Sachverhalt (hier die anstehenden Verpflichtungen im Studium) möglichst anschaulich dar; die »Confirmatio« bietet die »Beweißgründe« für die vorgebrachte »Meinung« und führt zur »Petitio«, der Bitte um die Erfüllung des Begehrens (ein halbes Jahr länger an der Universität bleiben zu dürfen), bevor in der »Conclusio« die Hoffnung auf Akzeptanz der angeführten Gründe formuliert wird (und das Versprechen, dass ein Gewähren der Bitte positive Folgen haben werde).16 Erweitert man nun die Perspektive um einen Blick auf mündliche statt schriftliche Kommunikation, wie sie galante Verhaltenslehren – wie beispielsweise Hunolds Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben (1710) – vermitteln, so bestätigt sich der doppelte Befund, dass Absagen überhaupt nur eine marginale Rolle spielen und dass sie dort, wo sie vorkommen, aufs engste mit Höflichkeit verknüpft sind.17 Warum Absagen im Kontext galanter Anleitungsbücher keinen prominenten Raum einnehmen (können), verrät ein kurzes Kapitel in dem seinerzeit außerordentlich stark rezipierten Höflichkeitstraktat von Antoine de Courtin: Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnêtes gens. Dieser Text erscheint zwischen 1671 und 1702 in stets erweiterten Auflagen und wird in verschiedene Sprachen übersetzt, zu denen auch eine deutsche Übersetzung von Christian Friedrich Hunold zählt, La Civilité Moderne, Oder die Höflichkeit Der Heutigen Welt (1708), die auf eine frühe Fassung des Traité zurückgeht. Daher fehlt im Deutschen die aufschlussreiche Passage, die sich in der französischen Ausgabe von 1702 findet. Dort erklärt es Courtin für grob unhöflich und ausgesprochen ungehobelt, sich dem Ansinnen eines anderen entgegenzustellen, sei es durch offenen Widerspruch, sei 15

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Salutatio, Exordium, Narratio, Petitio und Conclusio waren prägend für die Briefkultur des deutschen Barock. Freier sind hingegen die Vorgaben zum Briefschreiben schon in de la Serres wirkmächtigem Secrétaire de la Cour aus dem frühen 17. Jahrhundert, denn sie beschränken sich schlicht auf Exorde, Discours und Conclusion. Vgl. hierzu Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern, S. 64. So grundsätzlich [Bohse:] Der allzeitfertige Brieffsteller [Teil 1], S. 21-26. Vgl. ergänzend, auf den Beispielbrief angewandt, ebd. [Teil 2], S. 223-226. Vgl. etwa [Hunold:] Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, S. 131 (Absage einer Einladung zum Spiel) oder S. 137 (Absage einer Einladung zur Kutschfahrt).

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es durch falsche Entschuldigungen, »fausses excuses«, wie er sagt.18 Damit sind Ausreden gemeint, die ihren Grund in egoistischem Interesse oder in Bequemlichkeit haben. Personen, die sich so verhalten, brandmarkt Courtin als »gens à négative«.19 Diese brächten den hellsichtigen Gesprächspartner, dem es widerstreben müsse, etwas gegen den Willen des anderen durchzusetzen, in eine unangenehme Situation und setzten damit seine Gewogenheit aufs Spiel.20 Das aber heißt nichts anderes, als dass in der direkten persönlichen Interaktion mit vornehmen Personen – und die Verhaltensliteratur will ja junge Menschen, junge Männer insbesondere, auf Verhaltenssicherheit im Umgang mit der ›guten Gesellschaft‹ vorbereiten – Absagen grundsätzlich zu vermeiden sind. Denn sie stehen der Gefälligkeit (»complaisance«) entgegen.21 »Gefälligkeit«, schreibt Hunold in seiner Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, »ist gleichsam die Seele höflicher und galanter Gesellschaft; denn durch diese verpflichten sich Personen unter einander / halten einander was zu gut / begegnen einander mit Sanfftmuht und Höflichkeit; dadurch gewehnt man sich / allerhand Gemühter zu vertragen / und contribuirt viel Anmuht zur Conversation«.22 Deutlich wird: In der exklusiven, höfischen oder wenigstens an höfischen Sitten orientierten Gesellschaft ist man darauf angewiesen, gut miteinander auszukommen – ein Aus-der-Rolle-Fallen kann den sozialen Tod bedeuten und zur existenziellen Bedrohung werden. Anders gesagt: Höflichkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für Dazugehörigkeit, für Inklusion.

III.

Galante Absagen in fiktionalen Texten

Anleitungen für junge Frauen – bezogen auf ihren möglichen Interaktionsradius in guter Gesellschaft – gibt es übrigens auch. Ein wegen seiner Machart besonders interessanter Text ist Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst oder Liebes- und Freundschaffts-Briefe (1692) von August Bohse. Diese Anleitung zum Briefschreiben enthält Musterbriefe für die unterschiedlichsten Situationen, in die eine vornehme junge Frau geraten mag, und unter ihnen fin18 19 20 21 22

Courtin : Nouveau traité de la civilité, S. 109. Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 110. »Que l’on entend parler ici d’une espèce de rusticité opposée à la complaisance« (ebd., S. 109). [Hunold:] Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, S. 556-557.

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den sich auch wieder Beispiele dafür, wie sie eine Bitte abschlagen oder eine Einladung ausschlagen kann.23 Erkennbar auch hier die ausgesuchte Höflichkeit und die Bemühung darum, die Beziehung aufrechtzuerhalten, etwa dadurch, dass ein Treffen zu einem späteren Zeitpunkt vereinbart wird. Aber anders als in seinem Allzeitfertigen Brieffsteller verzichtet der Verfasser Bohse in diesem mehr als tausend Seiten starken Werk auf Systematik und theoretische Ausführungen, und die meisten der insgesamt neunhundert Briefe sind fiktionalisiert.24 Es sind Briefwechsel fiktiver Paare, die einerseits Standardsituationen entsprechen – etwa Anknüpfung einer Bekanntschaft, Beglückwünschung, Dank oder Abschied –, andererseits Motive des Liebesromans aufweisen: Zweifel, Eifersucht, Treulosigkeit und Trennung oder Beständigkeit und glückliche Vereinigung. So werden aus Musterbriefen kleine Erzählungen, die sich als Fortsetzungsgeschichte eines Paares oder abwechselnd lesen lassen, als Variationen eines Musters, etwa einer Kontaktanbahnung. Damit betreibt Bohses Text, um einen zentralen Begriff von Isabelle Stauffer aufzunehmen – sie hat als Erste konsequent die performative Dimension der galanten Literatur herausgearbeitet –, eine regelrechte »Verführung zum Lesen«25 und ist so seinem weiblichen Publikum angemessen. Denn auf eine geradezu galante Weise, das heißt auf eine gefällige, geistreiche Art, ist Bohses Sammlung aus Briefen fiktiver Männer und Frauen, die gute ›Manieren‹ haben, also über savoir-vivre verfügen, darauf abgestellt, die Rezipienten zu einer aktiven und kreativen Lektüre anzuhalten, indem sie die Briefe auf einer paradigmatischen oder syntagmatischen Ebene miteinander verknüpfen können. Auf diese Weise werden sie gleichsam spielerisch in die Kompetenz galanter Kommunikation eingeübt. Und Galanterie lässt sich ja gerade nicht über ein starres Regelwerk lernen, da sie ein flexibles, auf Situation und Partner je angemessen reagierendes Verhalten voraussetzt, das grundsätzlich auf Gefallen abzielt – übertriebene Höflichkeit wird in Anleitungsliteratur ebenso der Lächerlichkeit preisgegeben wie das missratene Kompliment. Kompliment, das heißt, mit Hunold zu sprechen, die »höfliche Bezeigung der Estim und Ehrerbiethung« gegenüber seinem Gesprächspartner; Komplimente zu machen bedeutet, »sich […] auff eine angenehme Manier vor dem23 24

25

Vgl. die (nicht-fiktionalisierten) »Entschuldigungs-Schreiben« in: [Bohse:] SecretariatKunst, S. 358-363. Zu diesem Briefsteller (auch) für Frauen, der Züge eines Briefromans aufweist, vgl. Florack: Galante Kommunikation zwischen Lehre und Unterhaltung; sowie Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 149-187. Stauffer: Verführung zur Galanterie, S. 109.

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selben erniedrigen«, um ihn sich »unvermerckt zu verpflichten / und dessen Gunst zu gewinnen«.26 Kompliment und Absage schließen sich aber nicht aus. Im Gegenteil: Eine (nicht ernst gemeinte) Absage kann ein wichtiges Mittel sein, um den Austausch von Komplimenten – und damit den verbindlichen Ausdruck wechselseitiger Gewogenheit – zu befördern. Nehmen wir ein Beispiel aus der Secretariat-Kunst. Torismondo möchte Ismenie näher kennenlernen und bittet sehr höflich darum, sie besuchen zu dürfen: Mademoiselle. Da sie so gütig gewesen / und mein Hertz die Würckung ihrer schönen Blicke haben empfinden lassen / hoffe ich / daß sie nicht ungnädig werden auffnehmen / wann ich davon ihnen ein frey Bekäntniß thue. Ich besorge durch Schweigen ihnen den Gehorsam zu entziehen / welcher dero Annehmligkeiten gehöret. Dannenhero werden sie diesen Zeilen desto gütigere Augen schencken / weil dieselbigen als getreue Zeugen vor dero liebstes Gesicht kommen / umb ihnen zu melden / daß mein gantzes Gemüthe von Betrachtung dero Qvalitäten angefüllet: Mein Hertz würde sich eines harten Urthels befahren / wenn ich nicht hoffen dürffte / daß Mademoiselle so bescheiden als schöne seynd. Darumb ist nur mein gehorsamstes Suchen / daß sie erlauben wollen / ihnen auffzuwarten; Erhalte ich dieses Glück / so werden sie mich dadurch dahin bringen / daß ich ohne Ausnahme verbleibe Mademoiselle Dero ergebenster Knecht Torismondo.27 Ismenies (scheinbar) negative Anwort lautet: Monsieur. Sie schreiben meinen schwachen Blicken eine Würckung zu / die ihnen gantz unbekant ist. Ich habe niemals gelernet / dieselben also zu richten / daß sie biß in das Hertz einer so galanten Person gelangen solten / und also weiß ich nicht / warumb sie Beliebung haben / mir etwas Unglaubiges zu überreden. Vielweniger bilde ich mir ein / daß sie ihre Zeit also verderben / und an mich so offtmals dencken solten. Weil mir nun meine geringe Qvalitäten am besten bekant / werden sie nicht übel deuten / daß ich ihnen einige Unterredung zu verstatten anstehe. Denn wenn Monsieur durch die Conversation 26 27

[Hunold:] Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, S. 3. [Bohse:] Secretariat-Kunst, S. 11-12.

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mit mir meine Fehler kennen lernete / dürfften sie durch dieselben bald abgeschrecket werden / die Bekantschafft fortzusetzen. Darumb halte ich es vor rathsam / daß ich bleibe Monsieur Dero unbekante Freundin Ismenie.28 Ismenie schlägt die Bitte zunächst ab: Sie zögert (›steht an‹), Torismondo die erwünschte Unterredung zu ›gestatten‹ und möchte ›unbekannt‹ bleiben – und sie tut dies mit einer Geste der Selbsterniedrigung, indem sie von »schwachen Blicken« spricht und ihre Unerfahrenheit in Sachen Galanterie anführt, ihre »geringe[n] Qualitäten«, ja ›abschreckenden‹ »Fehler«. Damit aber stellt sie genau die Bescheidenheit unter Beweis, die er bei ihr zu finden hofft, sie kommt ihm also unterschwellig entgegen. Und auf Ismenies (erkennbar unernste) Absage antwortet nun der Verehrer: »Mademoiselle. Ihr höffliches Schreiben hat nicht sein Absehen erreichet. Ich sehe aus allen Zeilen so viel Verstand hervor blicken / daß ich dadurch nur desto begieriger gemacht werde / in meinen Bitten fort zu fahren«.29 Nach abermaligem, nun gesteigertem Kompliment – »keine Schreib-Art« könne ihre »Vollkommenheit« richtig wiedergeben – willigt die Umworbene denn auch freundlich ein: »Ich werde endlich durch dero Höffligkeit genöthiget / ihren wiederholten Bitten statt zu geben«.30 Die angedichtete Vollkommenheit weist sie zurück und betont, dass sie von ihm ein Verhalten erwarte, das ihren Ruf nicht in Gefahr bringt.31 Scheinbare Absagen spielen, wie an diesem Beispiel zu sehen, eine nicht unerhebliche Rolle für Anbahnung und Aufrechterhalten galanter Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Ebenso wie Absagen, die nicht akzeptiert werden, erlauben Schein-Absagen, die einmal angebahnte Interaktion aufrechtzuerhalten, Komplimente und Gegenkomplimente anzubringen und so mittelbar wechselseitiges Interesse zu signalisieren und eine Ebene von Vertraulichkeit aufzubauen. Eine solche Kommunikationssequenz übersteigt jedoch in ihrer Komplexität den traditionellen Musterbrief, der üblicherweise nur eine einzige Antwort als Beispiel bietet. Und so kann nicht überraschen, dass galante Anleitungsliteratur bisweilen romanhafte Züge annimmt, 28 29 30 31

Ebd., S. 12-13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13-14. Vgl. ebd., S. 14-15.

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indem sie Geschichten erzählt, die Figuren in Handlungszusammenhängen zeigen. Das gilt für Bohses Secretariat-Kunst, die sich partiell als Briefroman lesen lässt, ebenso wie für Hunolds Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, in deren letztem Teil die lehrhaften Beispiele von einer Erzählung abgelöst werden. Der Handlungszusammenhang einer erzählten Geschichte bietet zwangsläufig die »Gelegenheiten«,32 deren richtige Einschätzung für die Adäquatheit galanten Verhaltens – sowohl in Bezug auf die Situation als auch mit Blick auf den Partner – so entscheidend ist. Dem Erzählen sind Absagen als Motiv durchaus dienlich, denn sie führen auf der Figurenebene zu Verstimmungen (Enttäuschung, Trauer oder Wut) und auf der Handlungsebene zu Konflikten und abenteuerlichen Verwicklungen, die den Spannungsaufbau befördern. Dies sei abschließend schlaglichtartig an einigen Beispielen aus dem vielleicht bekanntesten galanten Roman gezeigt, Hunolds Liebenswürdiger Adalie von 1702. Der Roman ist die Bearbeitung einer französischen Vorlage und eine typische Liebesgeschichte in Heliodor-Manier: Nach Annäherung und Liebesgeständnis des vornehmen Paars Rosantes und Adalie tauchen alle möglichen Hindernisse und Gefahren auf, auch Nebenbuhler und Bösewichter, bis das Paar schließlich glücklich vereint wird. Zu Beginn reagiert Adalie zunächst scheinbar abweisend auf Rosantes’ Werbung, der Wechsel von Kompliment und scheinbarer Zurückweisung wird ausführlich gezeigt. Mühsam verstellt sich die Schöne, verbirgt ihr Gefallen an ihm (dissimulatio), »doch gleichwol schiene es ihr ein heimliches Ergetzen zu seyn / je mehr und mehr Verpflichtungen von ihm zu bekommen / und dadurch recht versichert zu werden / daß er sie liebete«.33 Ihre Körpersprache verrät sie schließlich, und es kommt zum ersten Kuss.34 Dafür antwortet sie einem anderen Werber höflich ausweichend, was einer Absage gleichkommt35 32

33 34 35

Die Reise / Einer höflichen und geschickten Person / Die In der Welt ihr Glück zu machen dencket / Oder: Die Fortsetzung der allerneuesten Art / höflich und galant zu reden und zu leben; In allerhand curieusen, und in vorigen nicht berührten / Gelegenheiten. In: [Hunold:] Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben, S. 301-440. Eines der folgenden Kapitel zur »höflichen Conduite« leitet Hunold mit dem Hinweis ein, dass er auf Beispiele aus seinen Romanen zurückgreifen wird: »Man wird mir nicht übel nehmen / daß an statt Gelegenheit der Conversationen und Complimenten von neuen auszudencken / solche aus meinen Romanen zum Theil ziehe« (ebd., S. 462). Hunold: Die liebenswürdige Adalie, S. 26. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 42-43.

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– und wiederholt diese Absage unter Tränen gegenüber ihrem Vater, der sie eben dem zweiten Bewerber versprochen hat.36 Eine Nebenhandlung wird später übrigens die Risiken der dissimulatio vor Augen führen: Wenn nämlich die vermeintliche Zurückhaltung als »Kaltsinnigkeit«, also als echte Absage, ausgelegt wird,37 droht die Anbahnung eines Liebesverhältnisses zu scheitern. Andererseits kann das Nicht-Verstehen-Wollen eines Kompliments oder anderer Gunstbezeugungen durchaus taktisch klug sein – indem man sich der Situation geschickt entzieht, das Kompliment beispielsweise für einen bloßen Scherz erklärt oder ein Entgegenkommen bloß höflich-unverbindlich pariert.38 Auch solch ein ›politisches‹ Verhalten39 ist eine Form der Absage in galanter Kommunikation. Hunolds Roman zeigt auch, dass Ablehnung im Gewand höflicher Entschuldigung nicht viel bei solchen Männern fruchtet, die sich um die Spielregeln der Höflichkeit nicht scheren. Das muss Adalies Schwester Barsine erfahren, die von Lionard rücksichtslos leidenschaftlich bedrängt und mit Vergewaltigung bedroht wird.40 Der Bösewicht als extrem ungalante Figur darf als Gegenbild im galanten Roman nicht fehlen, Galanterie allein scheint den Lesern kein ausreichendes Lese-Vergnügen garantieren zu können, zur Unterhaltung bedarf es offensichtlich eines groben Kontrapunkts. Da die Kommunikation mit einem Mann, der es an »Gedult und Respect« fehlen lässt, nun aber nicht als Vorbild taugt, lässt es der Erzähler beim lapidaren Bericht bewenden: Als Lionard erneut insistiert, »verlohre sich das [freundliche; RF] euserliche Wesen gantz wieder / und man wechselte lauter unangenehme Complimenten«.41 Wie diese »Complimenten« – der Begriff ist hier selbstverständlich ironisch zu verstehen – genau aussehen, wird freilich nicht gesagt. In ihrer Not greift Barsine zu einer List, vertröstet ihren Bedränger, indem sie ihm eine spätere Erfüllung seiner Wünsche in Aussicht stellt, sofern er ihre Bedingungen erfüllt (er soll ihr eine sichere Reise nach Paris ermöglichen).42 Sie verstellt sich hier, indem sie ihm (vermeintlich) eine bloß vorläufige Absage erteilt (simulatio), die für den Leser freilich als echte Absage kenntlich 36 37 38 39 40 41 42

Vgl. ebd., S. 48-49. Vgl. ebd., S. 370. Vgl. ebd., S. 396 und S. 420. Der Begriff »politisch« wird in Hunolds Roman explizit verwandt (ebd., S. 420, vgl. auch S. 127). Gemeint ist die geschickte Verfolgung eigener Interessen mittels Verstellung. Vgl. ebd., S. 95-97. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 124-127.

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wird. Dies führt wiederum zur Verstellung des Werbenden, der bloß zum Schein auf sie eingeht, im Grunde aber skrupellos seine Interessen verfolgt. Auf diese Weise wird die Intrige im Roman vorangetrieben. Mit Blick auf den Zusammenhang von unterhaltsamen Abenteuern und lehrhaftem Gehalt des Textes können die Beispiele verdeutlichen, dass der Handlungsverlauf der erzählten Geschichte die Anlässe zu galanter Interaktion bietet, die sich in Briefstellern und Anleitungsliteratur allenfalls schematisch benennen lassen. Die Äußerungsformen galanten Verhaltens und deren Wirkung auf den möglichen Partner werden im galanten Roman anschaulich vorgeführt und auf gefällige Weise durchgespielt, so dass die Leser und Leserinnen auf unterhaltsame Art lernen, wie man sich den Umständen entsprechend galant verhält. Dazu gehört auch die Kompetenz, gegebenenfalls eine höfliche Absage vorzubringen. Man sollte nur wissen, wie man sie so formuliert, dass man sein Ziel erreicht und zugleich die Gewogenheit oder gar Zuneigung seines Kommunikationspartners gewinnt oder erhält.

Literaturverzeichnis Quellen [August Bohse:] Der allzeitfertige Brieffsteller […]. Frankfurt, Leipzig, Dresden 1692. [August Bohse:] Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst oder Liebesund Freundschaffts-Briefe […]. Leipzig 1692. Antoine de Courtin: Nouveau traité de la civilité qui se pratique en France parmi les honnêtes gens. Hg. von Marie-Claire Grassi. Saint-Etienne 1998. Ethophilus: Neues und wohl eingerichtetes Complimentir- Und Sitten-Buch […]. 4. Aufl. Nordhausen 1745. [Christian Friedrich Hunold:] La Civilité Moderne, Oder die Höflichkeit Der Heutigen Welt. Hamburg 1708. Christian Friedrich Hunold: Die liebenswürdige Adalie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1702. Mit einem Nachwort von Herbert Singer. Stuttgart 1967. [Christian Friedrich Hunold:] Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben […]. Hamburg 1710.

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Forschungsliteratur Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990. Dudenredaktion: Galanterie, die. https://www.duden.de/node/708055/revisio ns/1928494/view [Stand: 12.2.2019]. Dudenredaktion: galant. https://www.duden.de/node/645456/revisions/17562 72/view [Stand: 12.2.2019]. Ruth Florack: Galante Kommunikation zwischen Lehre und Unterhaltung. In: Franciszek Grucza (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, Bd. 10. Frankfurt a.M. u.a. 2012, S. 209-214. P[eter] Hess: Art. »Galante Rhetorik«. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3. Darmstadt 1996, Sp. 507-523. Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969. Isabelle Stauffer: Verführung zur Galanterie. Benehmen, Körperlichkeit und Gefühlsinszenierungen im literarischen Kulturtransfer 1664-1772. Wiesbaden 2018. Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650-1710). Heidelberg 2011. Alain Viala: La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle, de ses origines jusqu’à la Révolution. Paris 2008.

Absagen an die neue Heimat Antiamerikanische Motive im deutschen Amerikadiskurs um 1700 Hartmut Hombrecher

I.

Absagen an Amerika

Auswandern lässt sich immer auch als eine Absage an die Heimat verstehen. In den seltensten Fällen geschieht diese Absage freiwillig; meist wird es zwingende Gründe geben, das gewohnte soziale Umfeld, bekannte Orte und oft auch das eigene Sprachgebiet zu verlassen. Wird jedoch die Erwartung an die neue Heimat nicht erfüllt, etwa durch ein Erleben als ›Nicht-Ort‹ (Augé) und Transitraum oder aufgrund enttäuschter Hoffnungen, kann es zur Remigration kommen. Die ist wiederum nicht immer als Affirmation der alten Heimat zu verstehen, wohl aber als Absage an die neue. Zur tiefergehenden Ablehnung des wieder verlassenen Orts kommt es vor allem dort, wo die Absage auf bestehende Topoi und Narrative zu diesem trifft, etwa im Antiamerikanismus deutscher Amerikaauswanderer und Amerikarückkehrer des langen 19. Jahrhunderts. Vorläufer dieses Antiamerikanismus finden sich aber bereits in Rückkehrertexten aus der deutschen Amerika-Debatte um 1700, die es nachfolgend zu analysieren gilt. Der Begriff des Antiamerikanismus ist relativ neu und taucht erst in den 1980er Jahren in der sozialwissenschaftlichen Forschung auf.1 Schon von Beginn an ist er umstritten. Auch wenn man sich Brendan O’Connors tautologischer Bestimmung des Antiamerikanismus wird anschließen können – »I know it when I see it«2 –, ersetzt sie freilich keine Definition nach wissen1 2

Für den deutschsprachigen Raum früh etwa Reuband: Antiamerikanismus. O’Connor: What is Anti-Americanism?, S. 7. O’Connor zitiert mit diesem Satz das Bonmot, das der US-amerikanische Richter Potter Stewart in Hinblick auf Pornographie prägte.

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schaftlichen Kriterien. O’Connor führt daher fünf verschiedene Vorstellungen an, als was ›Antiamerikanismus‹ verstanden wird: 1. Antiamerikanismus als der Gegensatz zum Pro-Amerikanismus in einem dichotomen Weltbild (entweder man ist pro- oder antiamerikanisch eingestellt); 2. Antiamerikanismus als Tendenz; 3. Antiamerikanismus als pathologischer Geisteszustand; 4. Antiamerikanismus als Vorurteil; und 5. Antiamerikanismus als Ideologie.3 O’Connor plädiert letztlich für eine Lesart der meisten Ausprägungen von Antiamerikanismus als Ideologie im Sinne eines komplexitätsreduzierenden Weltbilds. Diese Überzeugung aufnehmend knüpfe ich an die »weltanschauungstheoretische Ideologietheorie« an, die Peter Tepe als eines der Arbeitsfelder einer ideologiekritischen Literaturwissenschaft bestimmt.4 ›Ideologie‹ meint hier nicht notwendigerweise das »bedürfniskonforme Denken« als »Störung des Erkenntnisvermögens«,5 wie man es mit Blick auf den Alltagsbegriff vermuten könnte, sondern ein »Ideen- und Wertesystem« bzw. ein »soziopolitisches Programm«.6 Solche Ideen- und Wertesysteme lassen sich auch in literarischen Texten aufspüren, ohne dass damit etwas über die mentalen Repräsentationen des jeweiligen historischen Autors gesagt ist. Nähert man sich also einem literarischen Text mit Blick auf eine mögliche antiamerikanische Ideologie, scheint es sinnvoll, Motive und Vorwurfselemente zu analysieren.7 Den Versuch einer Klassifikation antiamerikanischer Vorwürfe hat Kreis unternommen: 1. Materialismus, Gewinnsucht, grober Erwerbstrieb, Oberflächlichkeit; 2. Tyrannei der Masse, Uniformität, Standardisierung auf niedrigstem Niveau; 3. Geschichts- und Wurzellosigkeit, Sitten- und Kulturlosigkeit, Dekadenz; 4. entweder Rassismus oder Vermischung der Rassen (hier die Ambivalenz); 5. Machbarkeitswahn, Neigung zu gewalttätigem Verhalten; 6. Überlegenheits- und Missionsidee (Weltherrschaftsanspruch/Isolationismus, auch hier die Ambivalenz).8 3 4 5 6 7 8

Vgl. ebd., S. 7-20. Tepe: Ideologie, S. 33. Ebd., S. 25. Ebd., S. 17. Bemerkenswert ist auch die Nähe von Antiamerikanismus und Antisemitismus. Vgl. dazu etwa Beyer/Liebe: Antiamerikanismus und Antisemitismus. Kreis: Überlegungen zum Antiamerikanismus, S. 10.

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Einige der Vorwürfe widersprechen einander, was Kreis unter dem Begriff »Ambivalenz« vermerkt. Man kann außerdem festhalten, dass sich die Vorwürfe je nach politischem Klima im Hinblick auf ihre Häufigkeit ändern und die von Kreis angeführten Elemente natürlich weder notwendig noch vollständig sind, sondern nur geläufig. Die Forschung befindet recht einhellig: Der Antiamerikanismus hat sich im 19. Jahrhundert entwickelt, nahm im 20. Jahrhundert merklich zu und hatte seine Vorläufer in der europäischen Rezeption des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ab 1775.9 Es sei nicht sinnvoll, für frühere Zeiten von Antiamerikanismus zu sprechen, weil sich dieser auf die Vereinigten Staaten von Amerika beziehe.10 Das ist natürlich letztlich ein definitorischer Taschenspielertrick oder zumindest eine Form von hasty generalization, denn die Vorwurfselemente lassen sich auch vor der Staatsgründung der USA in verschiedenen Texten ausmachen. Ein Blick in die Texte vor der Amerikanischen Revolution fehlt allerdings nach wie vor, auch wenn Andrei S. Markovits mehrfach die griffige, aber eher allgemein gehaltene These eines Antiamerikanismus seit Kolumbus vertreten hat. In mehreren Schriften diagnostiziert Markovits, dass Amerika schon vor seiner weltpolitischen Großmachtstellung und seit 1492 »both in the abstract and as a physical reality, represented something uncanny and dangerous for Europe and the Europeans«.11 Europa habe an Amerika von Beginn an »irgendetwas Unauthentisches« gefunden.12 Sicher kann man hier an frühe, auch literarisch verarbeitete Warnungen denken, die gottgegebene Küstenlinie nicht zu überschreiten, wie sie etwa der ›Velho do Restelo‹ in Luís de Camões’ Epos Os Lusíadas von 1572 äußert. Diese beziehen sich aber im Regelfall nur indirekt auf Amerika und leider bleibt Markovits für seine These auch sämtliche Belege schuldig, um wie die weitere Forschung zum Antiamerikanismus erst für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in eine genauere Analyse einzusteigen.13 9

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Vgl. unter anderem Schulte Nordholt: Anti-Americanism in European Culture; Conley: Ante-Americanisms; Fröschl: Historical Roots of European Anti-Americanism; Schwark: Zur Genealogie des modernen Antiamerikanismus, S. 36-38; Rubin/Colp Rubin: Hating America, S. 3-19; Freund: Affinity and Resentment. Vgl. explizit etwa Gulddal, S. 17. Auch die einflussreiche Definition von Hollander: AntiAmericanism, S. 339 ist nur geringfügig weiter, wenn er von Antiamerikanismus als »a predisposition to hostility toward the United States and American society« spricht. Markovits: Uncouth Nation, S. 40. Markovits: Antiamerikanismus – seit Kolumbus, S. 120. Vgl. Markovits : Uncouth Nation, S. 41-46.

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Für diese Zeit ist besonders der französische Naturforscher und Aufklärer George-Louis Leclerc, besser bekannt als Comte de Buffon, als einer der ersten Theoretiker des Antiamerikanismus von Bedeutung. Neben ihm ist es ab den 1760ern der niederländische Philosoph Cornelis de Pauw, der einen vermeintlich wissenschaftlich begründeten Antiamerikanismus befördert und auch im Supplément-Band zu Diderots Encyclopédie einen entsprechenden Beitrag publiziert.14 Buffons und de Pauws Theorien entstammten nicht nur klima- und geopsychologischen Überlegungen und sind sicher auch nicht lediglich als Reaktion auf die amerikanische Auflehnung gegen Europa zu deuten, die in den 1760er Jahren erst langsam begann. Übersehen wird häufig, dass auch die antiamerikanischen Argumentationsmuster des späteren 18. Jahrhunderts bereits auf konkrete Vorläufer bauen konnten, in Deutschland insbesondere auf die negative Rezeption Amerikas im Rahmen der Auswanderungsdebatte um 1700. Einige in diesem Kontext entstandene Texte möchte ich im Hinblick auf ihre Vorwurfselemente und Argumentationsstrukturen analysieren. Ob solche Texte von späteren Theoretikern wie de Pauw und Buffon rezipiert wurden, ist ungewiss; wichtig ist aber, dass sich schon deutlich vor den bisher angenommenen Ursprüngen des europäischen Antiamerikanismus Motive zeigen, die in enger Verwandtschaft mit späteren Vorwurfselementen stehen, auch um 1700 also bereits an einem negativen und spezifischen Amerikabild gearbeitet wurde. Der Kontext der Ablehnung Amerikas in dieser Zeit ist natürlich anders ausgeprägt als in diversen Texten des frühen 20. Jahrhunderts: Er speist sich nicht aus antikapitalistischen Kritiken und auch der biologistische Rassismus kann hier selbstverständlich noch nicht ausgemacht werden. Sicher wird, darin ist Markovits zuzustimmen, aber der neuen Welt eine Absage erteilt, die ein konservatives Moment und eine Form des Otherings beinhaltet: die Ablehnung des Neuen als des Anderen und die Festigung einer eigenen Identität, hier in Opposition zu Amerika bzw. den Amerikanern. Dass dem Antiamerikanismus ein antimoderner Bestandteil inhärent ist, wurde auch in der deutschen Forschung häufig festgestellt – dann allerdings fast immer mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert, so dass die Amerika-Debatte um 1700 übergangen wurde. 14

Vgl. de Pauw : Amérique.

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II.

Deutsche Amerikaauswanderung um 1700

Um 1700, also vor der Entstehung eines Nationalismus im engeren Sinne, sah das Selbstbild der meisten Auswanderer noch anders aus als zweihundert Jahre später und war vor allem religiös bestimmt. Die erste organisierte Auswanderung aus Deutschland fand entsprechend auch unter der Schirmherrschaft der pietistischen Frankfurter Landkompagnie im Jahr 1683 statt und wurde von dem fränkischen Juristen und Schriftsteller Franz Daniel Pastorius organisiert, der im Auftrag der Kompagnie Land vom Pennsylvanischen Gouverneur William Penn erworben hatte.15 Schon ab den 1670er Jahren reiste Penn durch Europa, um für neue Siedlungsprojekte in Amerika zu werben. Nach seiner Ernennung zum Gouverneur versprach er allen Siedlern auf seinem Gebiet Meinungs- und Religionsfreiheit und versuchte, die quäkerische Vorstellung einer Religious Society of Friends in Amerika umzusetzen. Penns Projekt, das er selbst als ›heiliges Experiment‹ bezeichnete, zog auch deutsche Siedler an. Im Oktober 1683 landeten zwölf vornehmlich mennonitische Familien aus Krefeld, die Pastorius’ Ruf gefolgt waren, in der neuen Welt. Wie schon Penn betätigte sich Pastorius als Städtebauer, indem er in unmittelbarer Nähe zu Philadelphia die deutsche Siedlung Germantown gründete, und trieb nun auch das Werbeprojekt für die Auswanderung nach Amerika weiter. Neben kleineren Schriften und Briefen ist insbesondere seine Umständige Geographische Beschreibung Der zu allerletzt erfundenen Provintz Pensylvaniæ von Bedeutung.16 Sie erschien 1700 in Nürnberg, auch wenn, wohl aus taktischen Gründen, die Messeorte Frankfurt und Leipzig angegeben waren, und wurde 1704 erneut und erweitert aufgelegt. Pastorius gehörte mit dieser Schrift zu den zentralen Publizisten, die den breiteren Amerika-Diskurs in Deutschland anregten, wenn nicht gar begründeten. In der Umständigen Beschreibung erläutert Pastorius, dass in der Kolonie alle Konfessionen willkommen seien,17 wobei man in Amerika aber nicht nur der Verfolgung aufgrund seines Glaubens entkommen und durch eigene Arbeit glücklich wer15

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Noch immer grundlegend für die Aufarbeitung von Biographie und Werk Pastorius’ ist die bereits 1908 erschienene Arbeit Learned: The Life of Francis Daniel Pastorius. Sie ist nur in einzelnen Fragen überholt, wobei für die neuere Forschung insbesondere hervorzuheben sind Erben: A Harmony of the Spirits; Grafton: The Republic of Letters; und Mack: Franz Daniel Pastorius. Vgl. Pastorius: Umständige Beschreibung. Zur Argumentation der Schrift vgl. insbesondere Becker-Cantarino: Neugefundenes Eden. Vgl. Pastorius: Umständige Beschreibung, S. 18 und S. 21.

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den könne, sondern sich sogar an der Christianisierung der ›edlen Indianer‹ beteiligen dürfe.18 Freilich sei die Reise beschwerlich, aber wer Vertrauen in Gott habe, »vor der harten Schiffs-Kost nicht erschrecke« und auch sonst für die richtige Entscheidung keine Entbehrungen fürchte, solle sich auf den Weg machen.19 Wichtig sei dabei aber die vollkommene Absage an die alte Heimat: Weme aber die jetzt erzehlte Puncten nicht zu hart fallen / der mag in dem Nahmen des HErrn aus dem Europäischen Babylon ausgehen / er muß es aber nicht also machen wie dorten des Loths Weib / welche zwar mit den Füssen fort ging / ihr Hertz und Zuneigung aber in der Stadt Sodoma bey ihren bequemlichen Hausrathe ließ / und sich darnach umsahe / so ihr aber übel bekommen.20 Pastorius und andere Werber waren erfolgreich: Neue religiöse Strömungen hatten einen großen Zuwachs an Mitgliedern, die zudem immer häufiger nach Amerika auswanderten. Dabei war natürlich nicht nur Germantown das Ziel, die meisten Migranten ließen sich an verschiedenen Stätten in Pennsylvania, New York, North und South Carolina nieder. Im Jahr 1709, nach einem besonders harten Winter, waren es allein aus der Pfalz etwa 4.000 bis 6.000 neue Siedler; eine immense Zahl für die damaligen Verhältnisse und damit die erste deutsche Massenauswanderung nach Amerika.21 Die Gründe für diese Auswanderungsbewegung sind vielfältig und heute nur noch schwer nachzuzeichnen, an öffentlicher Beeinflussung mag aber etwa der von dem lutherischen Geistlichen Josua Harrsch unter dem Pseudonym Kocherthal verfasste Bericht Von der berühmten Landschafft Carolina22 von Bedeutung gewesen sein. Er propagiert die Auswanderung in eine »Gegenwelt zur von Krieg und Hungersnot zerstörten Heimat«.23 Der Bericht erschien allein im Jahr 1709 in drei Auflagen und wurde offenbar recht breit rezipiert. Bei der Auswanderung gab es jedoch eine Reihe von Problemen. Insbesondere war der Weg nach Amerika nur über Großbritannien möglich und 18 19 20 21

22 23

Vgl. ebd., S. 27-30 und S. 34-35. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Das ist eine eher vorsichtige Schätzung, denn die Angaben für den Umfang der Auswanderung sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern auch sehr unzuverlässig. Heinz: Bleibe im Lande, S. 97 geht in seiner materialreichen Studie etwa in Summe von 13.000-15.000 Menschen aus, von denen aber freilich nicht alle Amerika erreichten. Kocherthal: Außführlich- und umständlicher Bericht. Diekmann: Lockruf der neuen Welt, S. 89.

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bereits dort strandeten viele Pfälzer mittellos: Tausende schafften es nicht weiter nach Amerika, konnten aber in fast allen Fällen auch nicht zurück.24 Ihre Mittel hatten sie oft für die Ausreise aufgebraucht. Zwar konnte schon seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 und insbesondere seit dem Osnabrücker Frieden 1648 von dem ius emigrandi Gebrauch gemacht werden, das Untertanen gestattete, aus religiösen Gründen das Land zu wechseln. Diese Migration wurde allerdings erheblich erschwert: Man musste eine hohe ›Nachsteuer‹ zahlen, bei Leibeigenschaft auch ›Manumissionsgebühren‹ zur Freilassung.25 Außerdem waren Auswanderer dazu genötigt, sämtliche wirtschaftlichen Verpflichtungen abzulösen und eine Erlaubnis des jeweiligen Landesvaters einzuholen.26 Diese organisatorischen und finanziellen Hürden führten oft zum Abbruch des Unterfangens oder aber zur Verelendung der Auswanderungswilligen – wie bei den tausenden in Großbritannien gestrandeten Pfälzern.

III.

Warnungen an die Auswanderer – Ablehnung der Auswanderer

Wohl auch vor diesem Hintergrund entstanden zahlreiche Publikationen, die vor der Reise nach Amerika warnten. Besonders eindrucksvoll ist die Warnung vor der Ausreise in der 1711 herausgegebenen Textsammlung, die sich schon im Titel auf den Bericht Kocherthals bezieht: Das verlangte / nicht erlangte Canaan bey den Lust-Gräbern; Oder Ausführliche Beschreibung Von der unglücklichen Reise derer jüngsthin aus Teutschland nach dem Engelländischen in America gelegenen Carolina und Pensylvanien wallenden Pilgrim / absonderlich dem einseitigen übelgegründeten Kochenthalerischen [sic!] Bericht wohlbedächtig entgegen gesetzt.27 Hinter der Herausgabe und auch dem Namen des Verfassers der Vorrede, Moritz Wilhelm Höen, verbirgt sich vermutlich der nach England entsandte Hallische Pietist Anton Wilhelm Böhm, der im Nicht erlangten Canaan auch unter seinem eigenen Namen für Texte zeichnet. Anders als später bei Buffon und de Pauw ist in dieser Vorrede noch nicht von geophysikalischen oder klimatischen Schwierigkeiten Amerikas die Rede, denn »denen Americanischen 24 25 26 27

Vgl. Heinz: Bleibe im Lande, S. 98-99. Vgl. ebd., S. 67-75. Vgl. ebd., S. 70-83. Vgl. [Böhm]: Das verlangte / nicht erlangte Canaan.

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Insulen / als welche von vielen Gütigkeiten GOttes trieffen« solle kein »böß Geschrey« gemacht werden.28 Wohl aber seien Zweifel an den positiven Berichten aus der neuen Welt angebracht, denn es gebe Aussagen, dass »es sich von allen gleichwohl also nicht verhalten soll / als man davon ausgesprenget«.29 Entsprechend versteht sich der Text als Hinweis auf Gefahren: Man wolle aus Nächstenliebe seine Mitmenschen, die »noch mit Americanischen Gedanken schwanger gehen«,30 warnen, sich selbst ins Elend zu stürzen.31 Als Ausnahme wird nur anerkannt, wer »um des Gewissens willen in Teutschland keine bleibende Stätte mehr finden oder haben könte / und also zuvor einen ungezweiffelten ausdrücklichen Befehl von GOTT in seinem Hertzen empfangen / mit Loth auszugehen«.32 Vielen Auswanderern wird der Empfang dieses Befehls allerdings offenbar nicht zugebilligt, denn gewarnt wird auch vor dem »Betrug der Vernunfft« an sich selbst.33 Man solle sich »von dem Schwindel- und Lügen-Geist nicht mehr bethören« lassen.34 Neben dem Hinweis auf die Gefahr von Verarmung, Krankheit und Tod durch die gefährliche Reise kritisiert die Ansprache an den Leser auch die Auswanderer. Es sei der Fall, daß der gröste Hauffen dieser Leuthen von allen Secten und Partheyen sich so übel aufgeführet / daß es eine Schande solches zu Papier zu bringen; dann die meisten […] in der Erkäntnüs himmlischer Dingen nicht allein dummer als die Thier / sondern auch die grosse Wolthaten / so sie von Engelland genossen / im Muthwillen verzehret und vergrasset / zugeschweigen der grossen Undanckbahrkeit / ja deß Lugs und Betrugs / so dieses rohe Volck mit Worten und Wercken gegen die empfangene Wolthaten von sich hören und spüren lassen […].35 Diese Anstandslosigkeit und das Nicht-Wissen werden auch in einem Ermahnungs-Schreiben Böhms aufgegriffen, der das ungebührliche Verhalten der Auswanderer aber in Asien und Amerika verortet: 28 29 30 31 32 33 34 35

Höen: Vorrede, Bl. [7r]. Ebd. Ebd, Bl. [2v]. Vgl. ebd., Bl. [2r]–[2v]. Ebd., Bl. [2v]. Ebd. Ebd., Bl. [3r]. Ebd., Bl. [3v]–[4r].

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Beydes in Ost- und West-Indien klagen die Heyden über das rohe und freche Leben der Christen. Sehet! sagen sie / wie sie sich untereinander hassen / beneyden / rauffen und schlagen! Sehet / wie sie geitzen / wuchern / und andere um das ihre bringen: Sehet! wie sie in Wollust und Völlerey leben.36 So liegt der Kern der Verderbtheit Amerikas auch nicht in der neuen Welt selbst begründet, sondern bei den Auswanderern. Sie hätten mit ihrem sündigen Verhalten sogar die Indigenen verführt: »Völlerey / Lügen und Triegen / sind Sünden / davon die meisten Heyden in West-Indien nicht eher etwas wusten / biß die Christen unter sie kamen / und jene zur Ausübung dieser Sünden verleiteten«.37 Für Höen ist es ohnehin kein Wunder, dass Gottes Zorn schon in London die pfälzischen Auswanderer getroffen habe, denn man solle nicht den Lügen glauben, die über die neue Welt erzählt würden. Viel eher müsse »das Reich GOttes / weil es nicht von dieser Welt ist / nicht ausser uns / sondern in uns gesuchet werden«.38 Generell sei Amerika eben nicht das gelobte Land, sondern genauso schlecht wie Europa, man müsse sich vorsehen, »damit er in America seines Lebens nicht beraubet werde / wo endlich nicht äusserlich / doch innerlich«.39 In diesem Zusammenhang bezieht sich der Text auch auf Lots Flucht aus Sodom, verwendet die Geschichte von Lots Frau (Gen 19,26 und in den Worten Jesu bei Lk 17,32) allerdings anders als Pastorius nicht zur Warnung vor der Umkehr, sondern als Warnung vor der Ausreise: »darum gedenckt an Loths Weib / und lasset uns in Teutschland nur alle Tage frömmer / heilige / gottseeliger des Reichs GOttes in unseren Seelen gewisser / und mit dem H. Geist erfülleter werden«.40 Höen spricht bei seiner Warnung auf Grundlage von – zumindest vorgeblich und im Falle der Identität mit Böhm auch tatsächlich – eigener Erfahrung in England und gibt an, die Mahnung bei seiner Rückkehr nach Deutschland geschrieben zu haben. Die angebrachten Punkte führen im Nicht erlangten Canaan zwei unter dem Namen Anton Wilhelm Böhm abgedruckte Texte weiter und ergänzen sie um diverse, insbesondere theologische Argumente. Dabei 36 37 38 39 40

Böhm: Ermahnungs-Schreiben, S. 43-44. Ebd., S. 52. Höen: Vorrede, Bl. [5r]. Vgl. zu dieser Argumentation auch Fertig: Lokales Leben, atlantische Welt, S. 181. Höen: Vorrede, Bl. [5r]. Ebd., Bl. [7v].

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ist es bemerkenswert, dass zumindest der erste Text um eine gewisse Neutralität bemüht ist: Er beantwortet Fragen zur Situation in Amerika, etwa zu Land- und Getreidepreisen oder zur Religionsfreiheit und ist dabei durchaus im genus humile gehalten.41 Nur in einzelnen Abschnitten schlägt er rhetorisch und argumentativ in die gleiche Kerbe wie die Vorrede Höens, indem er in großer Ausführlichkeit das Leid und die Verwahrlosung der in England gestrandeten Pfälzer darlegt.42 Böhm geht jedoch darüber hinaus und konstatiert: »Jede neue Lebens-Arth hat ihre neue [sic!] Versuchungen«.43 Für die Lebensart der neuen Amerikaner ist es die Gier, die angeführt wird: Mancher / nachdem er eigene Aecker in America erhandelt / hat den Stab seiner Geistlichen Pilgrimschafft […] wieder weggeleget / und sich in seinen Aeckern als Eigenthums-Herr fest gesetzet. Solche verfallen endlich so weit / daß sie nun mehr auff den Bau ihres Ackers / als ihrer Seelen bedacht seyn / indem ihnen die unschuldige Arbeit des Acker- und Vieh-Baues zum Strick worden ist.44 In seinem Ermahnungs-Schreiben bezieht sich Böhm erneut ausführlich auf den Ackerbau Amerikas. Der sei im Gegensatz zum gottesfürchtigen Ackerbau keinesfalls unschuldig, sondern »durch die eigensüchtige Begierden befleckt«.45 Zur Verdeutlichung aktualisiert er auch Jesu Gleichnis vom großen Abendmahl (Lk 14,16-24): »Sie höreten den Gnaden-Beruff wohl / der an sie ergieng; aber die armen Leute waren mit ihrer Liebe in den Acker-bau und die Vieh-zucht dermassen bewickelt / daß sie des HErrn Einladung nicht achteten / auch daher sein Abendmahl nicht schmäckten.«46 Weiter kritisiert Böhm: »Es heißt immer: meine Früchte / meine Scheunen / meine Güter / meine Seele. Kein Wort von GOtt und dem Nechsten !«47 Nichts könne verwerflicher sein, denn »GOtt solte der oberste Eigenthum-Herr / der Mensch aber nur ein Haußhalter seyn«.48 Dass solch unchristliches Verhalten an den Tag gelegt wird, gründet für Böhm auch darin, dass die Auswanderer nicht einmal grundlegende Kennt41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. Böhm: Beantwortungs-Schreiben, S. 1-7. Vgl. ebd., S. 7-10. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Böhm: Ermahnungs-Schreiben, S. 48. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd.

Absagen an die neue Heimat

nisse der christlichen Lehre hätten.49 Das sei letztlich die Schuld der oberen Stände, da diese ihre Aufsichts- und Bildungspflichten gegenüber dem gemeinen Volk vernachlässigten.50 Entsprechend seien bei den Pfälzern auch keine christlichen Bücher, insbesondere keine Bibeln, im Gepäck gewesen, als sie sich auf ihre Reise machten.51 Böhm stellt die Auswanderung hier in einen größeren Kontext von Obrigkeitskritik, spricht aber den Auswanderern gleichzeitig mit den mehrfachen Verweisen auf Irrlehren und eigensüchtiges Wirtschaften ab, dass die Gründe für ihre Auswanderung redlich sind. Wer doch aus gutem Gewissen ausreise, müsse sich aber in Pennsylvania vorsehen, denn dort gebe es noch mehr ›Secten‹ als in Deutschland, denen aber aufgrund der freiheitlichen Politik kein Einhalt geboten werde.52 Zwar bestehe »daselbst kein Päbstischer Gewissens-Zwang«, aber »so sind doch ausser demselben noch viel andere heimlichere und subtilere Arthen die Seele mit dem Secten-Geiste zu tingiren / und endlich gar gefangen zu nehmen«.53 Wer also nach Amerika ausreist und wirklich reinen Gewissens über seine Motive ist, der läuft auch dort Gefahr, vom rechten Wege abzukommen. Böhm fasst zusammen, dass er nicht erkennen könne, »wie ein Christ wegen der bisherigen Unterdruckung […] sein Vaterland verlassen / und ohne genugsame Erkentniß des Göttlichen Willens / gar in eine andere Welt flüchten solle«.54 Insgesamt sehen die Texte von Böhm/Höen die Problematik der neuen Welt in ihren (neuen) Bewohnern, nicht in ihrer Beschaffenheit oder gar geographischen Lage. Das ist eine grundsätzlich andere Kritik an Amerika, als sie Markovits mit seiner These eines ›Antiamerikanismus seit Kolumbus‹ vermutet. Der Antiamerikanismus bei Böhm/Höen ist nicht in Amerika selbst angelegt, sondern speist sich aus sozioreligiösen Bewertungen der angenommenen Motive und des Lebenswandels der Amerikaauswanderer. Hier steht die in Glaubensfragen liberale Gesetzgebung, wie sie etwa in Pennsylvania bestand, in der Kritik, weil sie den Irrwegen und Sünden der Menschen keinen Einhalt gebiete. Amerika wird also qua seiner Einwanderer von einem 49 50 51 52 53 54

Vgl. Böhm: Beantwortungs-Schreiben, S. 22. Vgl. ebd., S. 18-22. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 28-29. Ebd., S. 23-24. Diese Überzeugung verknüpft er mit einer Reihe von Argumenten, in denen er darlegt, wieso es für einen Christen geboten sei, nicht auszuwandern, bezieht sich in ihnen jedoch nicht mehr explizit auf Amerika.

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›neu entdeckten Kanaan‹ zu einem ›neuen Babylon‹.55 Damit ist aber ebenfalls mitgedacht, dass durch eine Verbesserung der Menschen auch eine Verbesserung der neuen Welt einhergehen könnte; Böhm mahnt entsprechend die Ausgewanderten in Amerika auch zur Nächstenliebe, zur Einigkeit, zur Abkehr von ihrem sündigen Lebenswandel und zur Mission.56 In eine ähnliche Richtung wie Böhm argumentiert auch der dänische Hofprediger Johannes Tribbechow in einer Predigt an die deutschen Auswanderer, die ebenfalls in Höens Textsammlung enthalten ist. Die Ausgewanderten hätten sich betrügen lassen oder selbst betrogen, aber kein Zeichen Gottes zur Auswanderung erhalten.57 In vielen Punkten glichen sie den aus Ägypten ausgewanderten Juden, insbesondere aber in der Hinsicht, dass sie sündhaft und ungläubig lebten.58 Sie seien wie die Juden »ein halsstarrig Volck«59 und ebenso wie diese auf der Suche nach großen Gewinnen gescheitert, das Reich Gottes zu finden.60 Die Juden hielten fälschlicherweise Jerusalem dafür, die deutschen Auswanderer Amerika, obwohl doch das Reich Gottes in der Kraft Gottes und in einem selbst zu finden sei, nicht an dem einen oder anderen Ort.61 Das Nicht erlangte Canaan enthält recht deutlich eine ganze Reihe von Argumenten gegen die Auswanderung, die in beachtlicher Ähnlichkeit zu späteren antiamerikanischen Vorwurfselementen gebaut sind: Kultur- und Sittenlosigkeit sowie Vergnügungssucht unter den Auswanderern bei Höen, dazu Gewinnsucht, Eigennützigkeit und Dekadenz bei Böhm, schließlich sogar eine Verquickung mit judenfeindlichen Motiven bei Tribbechow. Bei allen dreien ist außerdem die deutliche Kritik an einer amerikanischen Missionsidee zu finden, die als Lug, Trug und Schüren falscher Hoffnungen abgehandelt wird. Gerade diese Vorstellung einer Missionsidee wurde zum zentralen Angriffspunkt der deutschen Gesetzgebung. Man hatte in der Zeit um 1700 zu55

56 57 58 59 60 61

Die Metapher Babylons verwenden freilich auch die Auswanderer selbst, um ein negatives Bild Europas zu zeichnen. Hierauf ist im Kontext des Antiamerikanismus aber nicht einzugehen, weil das Motiv derart verbreitet ist, dass eine direkte Bezugnahme von Texten gegen die Auswanderung auf frühere Europabilder in Texten von Auswanderern sehr unwahrscheinlich ist. Vgl. Böhm: Ermahungs-Schreiben, S. 56-67. Vgl. Tribbechow: Treuhertzige Warnung, S. 119. Vgl. ebd., S. 121. Ebd. Vgl. ebd., S. 121-122. Vgl. ebd., S. 126-127.

Absagen an die neue Heimat

nehmend mit dem bevölkerungspolitischen Problem zu kämpfen, dass immer mehr Untertanen auswanderten, so dass Einnahmen für den Staat wegfielen. Im Kurfürstentum Bayern und in der Pfalz wurden deshalb Gesetze erlassen, die eine Auswanderung etwa durch Verbot verhindern sollten: Erbschaften unerlaubt Ausgewanderter wurden eingezogen und auch die Werbung für und Beihilfe zur Auswanderung wurden unter Strafe gestellt – in den 1760er Jahren bis zur Todesstrafe.62 Der Erfolg war indes mäßig, noch 1767, also 58 Jahre nach der Pfälzischen Massenauswanderung, sah sich Kaiser Joseph II genötigt, ein kaiserliches Edikt zu erlassen, das die Auswanderung deutscher Untertanen insbesondere nach Amerika verbot.63

IV.

Antiamerikanismus um 1700?

Doch auch vor 1709 schlugen verschiedene Texte eine antiamerikanische Richtung ein. Eine im Jahr 1701 anonym veröffentlichte Schrift, die zumindest in Teilen recht sicher dem lutherischen Theologen Johannes Michaelis zugeordnet werden kann,64 inszeniert sich als Tatsachenbericht zweier Remigranten und erzählt ihre Geschichte schon im Titel: Wahrhafftiger Bericht Des In derer Schwärmer und gute Tage Wehler Hertzen Feststehenden gelobten Landes Pensylvanien in America, Ein Land / darinnen Zucker und Holtz wächset; abgefasset von Zweyen gelahrten Männern / als treuen und wahrhafftigen Zeugen / Deren Der erste / von obgedachter Einbildung / der andere / von Gewissens-Bedrängung / hinein gejaget worden / Jener / sich betrogen gesehen / bald wieder nach Teutschland kommen; Dieser / nachdem er 2. Jahr drinnen gewesen / und sein Gewissen unruhig blieben / wieder heraus eilen müssen; Allen denen mit gleicher phantastischen Schwärmer-Einbildung besessenen Geistern zur Warnung mitgetheilet Im Jahr / da Babels Gefängnis in Pensylvanien noch hefftiger als in Deutschland war / Wie aus diesem Bericht kund und offenbar.65 Hier liegt nicht nur wie bei Höen bzw. Böhm eine aus englischer Sicht verfasste Absage an die potenzielle neue Heimat in Amerika vor, sondern der 62 63

64 65

Vgl. Heinz: Bleibe im Lande, S. 111. Die Formulierungen im Edikt sind komplexer als hier dargestellt werden kann und sollten vor allem verhindern, dass weiter nach Österreich ausgewandert werden konnte. Vgl. ausführlich dazu ebd., S. 122-123. So auch Jakubowski-Tiessen: Der frühe Pietismus, S. 138. Vgl. Wahrhafftiger Bericht.

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mutmaßlich nicht-fiktionale Bericht von zwei aus Amerika zurückgekehrten Männern. Die Schrift ist, insbesondere in den beiden abgedruckten Meditationen Michaelis’, vor allem gegen Pietisten gerichtet und schlägt einen scharfen, oft derben Ton an. In zum Teil gereimten, aber metrisch ungebundenen und als Prosasatz gedruckten Paragraphen legt der Text zudem dar, dass es sich bei den Erzählungen über die neue Welt um Lügen handle. Ziel des Angriffs ist neben August Hermann Francke und Philipp Jacob Spener insbesondere der Radikalpietist Johann Wilhelm Petersen, dem vorgeworfen wird, er habe durch sein Werben für die Auswanderung Menschen in Gefahr gebracht, sei selbst aber sicher in Deutschland verblieben.66 Amerika sei nämlich keineswegs das Land, in dem »eitel Zucker und Honig« fließe.67 Seine Einwohner seien vielmehr »sehr eigennützige Schinder und Schein-heilige Christen«.68 Wer nicht den Quäkern oder Mennoniten angehöre bzw. sich unter Zwang umtaufen lasse, erhalte in Amerika keine Unterstützung und müsse sein Leben bei trockenem Brot fristen und daran denken, wie schön es doch in Deutschland war.69 Dass es den Auswanderern so ergehe, sei letztlich ihre eigene Schuld, denn man folge aus Faulheit und Gewinnsucht den Pietisten in die neue Welt, was gute Christen von einer Reise abschrecken sollte: »Solches Gesindel ist es / so nach Americam reiset / ein rechter Christ sich gantz anders beweiset / nicht Menschen / nicht dem Bauch noch Sack zu gefallen / sondern wohin ihn GOttes klahres Wort gehen heist / dahin gehet er für allen«.70 Interessant ist, dass in diesem Wahrhafftigen Bericht die Pietisten nicht nur – wie weit verbreitet – mit der bloßen Bezeichnung ›Schwärmer‹ versehen werden. Die Verfasser verweisen auch auf die ursprüngliche Wortbedeutung: Die Auswanderer werden mit einem in die Irre gehenden Bienenschwarm verglichen.71 Sie seien leicht zu verführen, ihre Verführer aber in Deutschland geblieben, so dass der Schwarm nun auf sich allein gestellt sei. Vielleicht findet sich hier bereits eine Vorstufe des Vorwurfs, in Amerika herrsche die ›Tyrannei der Masse‹. Nicht zuletzt werden die Auswanderer in ihrer schwärmerischen Blindheit und als »das allerlistigste und verschlagenste Volck«72 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. ebd., S. [2]–[3], S. [6] et passim. Ebd., S. [3]. Ebd., S. [4]. Vgl. ebd., S. [5] und S. [9]. Ebd., S. [5]–[6]. Vgl. ebd., S. [12]–[13]. Ebd., S. [12].

Absagen an die neue Heimat

bzw. ein »böses Volck«73 mit den Juden parallelisiert. Wenn der Tag komme, wo sich herausstellt, dass nicht in Amerika, sondern in Asien das Reich Gottes zu finden sei, werde die Pietisten ebenso wie die Juden Gottes Strafe erwarten: Sehet doch auf CHRISTUM den HErrn / wenn ER anhebet die ChristenGemeine zu bauen / so schmeisset ER der Juden Gemeine zu Boden. Wolt ihr das nicht thun / sondern bleibet solche Zweyfäustler und hinckende Baaliten / wie ihr bißher gewesen / so glaubt sicherlich / der Teuffel wird euch bescheissen / GOTT wird seine Gnade gantz von euch reissen / und euch zu eurem Vater / dem Teuffel / in die Hölle schmeissen / Amen.74 In solchen Texten um 1700 zeigt sich zunächst einmal eine gesellschaftliche und theologische Debatte über Auswanderung und verschiedenste Glaubensfragen. Die Texte gegen die Auswanderung richten sich zu dieser Zeit wesentlich gegen die Auswanderer selbst, gegen ihr Verhalten oder gegen ihre religiösen Überzeugungen. Dabei werden aber bemerkenswerterweise Vorwürfe in den vornehmlich theologischen Diskurs eingebettet, die sich in späterer Zeit ähnlich im Antiamerikanismus finden: Sitten- und Kulturlosigkeit, Gewinnsucht, Eigennützigkeit, Missionierung und Verbreitung von Lügen sind motivisch sowohl um 1700 als auch im ›modernen‹ Antiamerikanismus nachzuweisen. Im Vorwurf des Schwärmertums finden sich möglicherweise außerdem schon Ansätze für die Vorwurfselemente der Oberflächlichkeit und der ›Tyrannei der Masse‹, auch wenn hier sicher viele Wandlungen bis zu einer Kritik der Populärkultur mitbedacht werden müssen. Keines der Elemente lässt sich freilich schon strikt im Sinne eines antikapitalistischen oder ›modernen‹ Antiamerikanismus deuten, wohl aber weisen alle Vorhaltungen starke Überschneidungen mit den Vorwurfselementen späterer Zeit auf. In säkularisierter Form könnten sie auch als rhetorische und argumentative Vorläufer eines negativen Amerikabildes im Europa des späten 18. Jahrhunderts gedient haben. Nicht erst hier oder gar im 19. Jahrhundert wird der Antiamerikanismus zu einer Absage an das Neue, an die Moderne oder an die neue Heimat; schon zweihundert Jahre zuvor lassen sich ähnliche Muster in Texten zur deutschen Debatte über die transatlantische Auswanderung finden. Die rhetorische Abwertung der ausgewanderten Pietisten und Quäker wird im Beispiel des Wahrhafftigen Berichts auch als Möglichkeit genutzt, die 73 74

Ebd., S. [24]. Ebd. S. [30].

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eigene lutherische Position oder Identität zu stützen. Für die Weiterentwicklung zum Antiamerikanismus ist dabei aber möglicherweise auch ein geographischer Aspekt von Bedeutung, der frühestens mit den ersten größeren Auswanderungen und den Werbeschriften bedeutsam wurde: Da die theologischen Gegenspieler nun durch die Auswanderungsbewegung nach Amerika auch mit einem konkreten Raum assoziiert werden konnten, ließ sich dieser Raum – und das freilich beidseitig – als Gegenraum zu Deutschland oder Europa auffassen. So wurde aus einer zunächst wohl vor allem theologisch motivierten Abgrenzung von den Auswanderern eine Abgrenzung von der sich neu entwickelnden und europäisch geprägten Gesellschaft in Amerika. Vorwürfe aus dieser Debatte wurden säkularisiert und generalisiert, sie reicherten sich mit neuen Begründungen an. Zugleich zeigt sich damit eine historische Deutungsmöglichkeit, wieso der Antiamerikanismus bis heute eng mit dem Antisemitismus verwoben ist: Auch der antiamerikanische Antisemitismus findet einen Ausgangspunkt im Amerika-Diskurs um 1700, in christlichen Vorstellungen und frühneuzeitlichen Stereotypen – diesmal die des geldgierigen, blinden oder ungläubigen Juden, der rhetorisch angeführt wird, um die Motive der Auswanderer nach Amerika zu diskreditieren.

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Absagen an die neue Heimat

jüngst dahin reisende Teutsche belangende. In: [Anton Wilhelm Böhm]: Das verlangte / nicht erlangte Canaan […]. Frankfurt [a.M.], Leipzig 1711, S. 1-32. Anton Wilhelm Böhm: Ermahnungs-Schreiben an die zerstreuten Pfälzer und übrige Teutsche / in Pensylvanien / Neu-Jork / Carolina / und anderen Americanischen Provincien: In wohlmeynender Liebe ertheilet. In: [Anton Wilhelm Böhm]: Das verlangte / nicht erlangte Canaan […]. Frankfurt [a.M.], Leipzig 1711, S. 33-68. Timothy Conley: Ante-Americanisms. Friendly Critique of the Emerging Nation. In: Michael Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Fröschl (Hg.): (Anti-) Americanisms. Wien 2004, S. 33-58. Patrick M. Erben: A Harmony of the Spirits. Translation and the Language of Community in Early Pennsylvania. Chapel Hill 2012. Georg Fertig: Lokales Leben, atlantische Welt. Die Entscheidung zur Auswanderung vom Rhein nach Nordamerika im 18. Jahrhundert. Osnabrück 2000. Michael Freund: Affinity and Resentment. A Historical Sketch of German Attitudes. In: Hollander, Paul (Hg.): Understanding Anti-Americanism. Its Origins and Impact at Home and Abroad. Chicago 2004, S. 105-121. Thomas Fröschl: Historical Roots of European Anti-Americanism in the 18th and 19th Centuries. In: Michael Draxlbauer/Astrid M. Fellner/Thomas Fröschl (Hg.): (Anti-)Americanisms. Wien 2004, S. 59-73. Moritz Wilhelm Höen: Vorrede. In: [Anton Wilhelm Böhm]: Das verlangte / nicht erlangte Canaan […]. Frankfurt [a.M.], Leipzig 1711, Bl. [2r]-[7v]. Anthony Grafton: The Republic of Letters in the American Colonies. Francis Daniel Pastorius Makes a Notebook. In: The American Historical Review 117 (2012), H. 1, S. 1-39. Jasper Gulddal: Anti-Americanism in European Literature. New York 2011. Joachim Heinz: »Bleibe im Lande, und nähre dich redlich!«. Zur Geschichte der pfälzischen Auswanderung vom Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Kaiserslautern 1989. Paul Hollander: Anti-Americanism. Critiques at Home and Abroad. 1965-1990. New York, Oxford 1992. Manfred Jakubowski-Tiessen: Der frühe Pietismus in Schleswig-Holstein. Entstehung, Entwicklung und Struktur. Göttingen 1983. Georg Kreis: Überlegungen zum Antiamerikanismus. In: Ders. (Hg.): Antiamerikanismus. Zum europäisch-amerikanischen Verhältnis zwischen Ablehnung und Faszination. Basel 2007, S. 9-27.

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Absagen an die neue Heimat

Wahrhafftiger Bericht Des In derer Schwärmer und gute Tage Wehler Hertzen Fest-stehenden gelobten Landes Pensylvanien in America, Ein Land / darinnen Zucker und Holtz wächset; abgefasset von Zweyen gelahrten Männern / als treuen und wahrhafftigen Zeugen / Deren Der erste / von obgedachter Einbildung / der andere / von Gewissens-Bedrängung / hinein gejaget worden / Jener / sich betrogen gesehen / bald wieder nach Teutschland kommen; Dieser / nachdem er 2. Jahr drinnen gewesen / und sein Gewissen unruhig blieben / wieder heraus eilen müssen; Allen denen mit gleicher phantastischen Schwärmer-Einbildung besessenen Geistern zur Warnung mitgetheilet Im Jahr / da Babels Gefängnis in Pensylvanien noch hefftiger als in Deutschland war / Wie aus diesem Bericht kund und offenbar. [o.O.] 1701.

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»I would prefer not to« Zur Ästhetik und Poetik der Absage in Herman Melvilles Bartleby, the Scrivener Claudia Lillge

I.

Arbeit und Absage

Dass das Thema Absage innerhalb des Kulturphänomens Arbeit einen nicht eben kleinen Raum einnimmt, erschließt sich nahezu unmittelbar: Bewerbungen – beispielsweise für eine Neu- oder Weiterbeschäftigung oder auch Projektanträge – können mit Absagen beschieden werden. Aber auch die umgekehrte Adressierung einer Absage, die ein bereits ausgewählter Bewerber oder eine Bewerberin einem potenziellen Arbeitgeber erteilt, gehört in den Bereich alltäglicher Arbeitspraxis. Manche Absagen beziehen sich auf ein ganz bestimmtes Tätigkeitsfeld oder ein Jobangebot: Man lehnt eine Tätigkeit ab, weil sie nicht den eigenen beruflichen Zielen, Fähigkeiten, Vorstellungen und Wünschen entspricht, weil sie wahlweise eine Über- oder Unterforderung darstellt oder weil sie unterbezahlt ist. Häufig sind es lediglich Teilaspekte einer Arbeit, denen in Form verschiedener Alltagstaktiken oder auch Alltagspolitiken abgesagt wird.1 Regulierungen der Arbeitszeit – wie die strikte Vorgabe einer Arbeitsstundenzahl oder auch die Erwartung von Pünktlichkeit – können etwa durch ein verspätetes Erscheinen am Arbeitsplatz, die Verlängerung der Pausenzeit oder durch einen heimlichen Mittagsschlaf im Büro eine individuelle Absage erfahren.2 Einheitlich gestalteten oder als zu unpersönlich empfundenen Arbeitsräumen 1 2

Zum Begriff der Alltagstaktik vgl. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 16. Zu unterschiedlichen Formen von Auszeiten in Arbeitskontexten vgl. etwa Peter Borscheids Ausführungen zur ›Pausenzigarette‹ oder Claudia Lillges Beitrag zum Phänomen des ›Mittagsschlafs‹: Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 297; sowie Lillge: Über die Mittagsruhe, S. 285-303.

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und Atmosphären sagen diejenigen ab, die ihre Büros oder Arbeitsplätze einer individuellen Gestaltung oder Umdekoration unterziehen.3 Machthierarchien in Arbeitskontexten, wie sie auf organisatorisch-struktureller Ebene eine Vorgesetzte oder ein Chef repräsentiert, kann hingegen abgesagt werden, indem ein Arbeitsauftrag direkt abgelehnt oder aber nur unvollständig oder ungenau erledigt wird. Absagen können explizit oder implizit, laut oder leise vorgetragen werden, sie können unter anderem als Protest oder Streik, Verweigerung oder aber in diversen Formen von Entpflichtungshandlungen – wie zum Beispiel Müßiggang und Faulheit – in Erscheinung treten.4 Selbstredend ließe sich diese kurze Reihe an Spielarten der Absage noch um ein Vielfaches ergänzen. Das Wesentliche indes dürfte bereits jetzt deutlich geworden sein: Absagen in Arbeitskontexten können in mannigfachen und häufig überaus kreativen Alltagshandlungen und -politiken erfolgen sowie auf vielfache Weise kommuniziert werden. Insbesondere literarische Texte eröffnen einen facettenreichen Blick auf Formen, Kontexte und Effekte von Absagen; dabei entfalten sie nicht selten die überaus produktiven Kräfte, die einem Nein innewohnen können.

II.

Die Absage als ›unerhörte Begebenheit‹

Würde man eine die westliche Weltliteratur umfassende Literatur- und Kulturgeschichte der Absage schreiben wollen, dann würde in dieser ganz zweifellos einem literarischen Text ein Sonderplatz zuteil, der eine Absagehandlung vorführt, die an Radikalität, aber auch an Rätselhaftigkeit ihresgleichen sucht. Gemeint ist Herman Melvilles 1853 zunächst in zwei Teilen in Putnam’s Monthly Magazine veröffentlichte Short Story Bartleby, the Scrivener, die den Leser in die New Yorker Wall Street führt. Letztere gilt seit dem 18. Jahrhundert nicht nur als eine der bekanntesten Straßen der Welt, sondern bildet zugleich auch das Zentrum des New Yorker Banken- und Finanzdistriktes. Als solche ist sie ein Ort, der für gewöhnlich mit Geldzirkulation sowie mit Handel und 3

4

Zum Zusammenhang von Arbeit, Atmosphäre und Raumgestaltung siehe insbesondere Böhme: Atmosphäre wahrnehmen, Atmosphäre gestalten, mit Atmosphäre leben, S. 38. Zur definitorischen Abgrenzung verschiedener Formen des ›Nichttuns‹ bzw. ›Nichtstuns‹ vgl. Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns, S. 14-23; sowie Barthes: Mut zur Faulheit, S. 367-374.

»I would prefer not to«

Börsenmarkt verbunden wird und insofern einen Inbegriff kapitalistischer Arbeit und Marktwirtschaft darstellt. In eben diesem Zentrum pulsierender Arbeit und fließender Kapitalströme situiert Melville den fiktiven Handlungsschauplatz seiner Erzählung, und zwar in einer Rechtsanwaltskanzlei, die gewissermaßen als ›Bühne‹ einer geradezu novellistisch anmutenden ›unerhörten Begebenheit‹ inszeniert ist. Denn an einem, wie es zunächst den Anschein hat, ganz normalen Arbeitstag weist einer der Angestellten, genauer: ein Kopist namens Bartleby, die für ihn vorgesehenen Arbeitsaufträge zurück. Kein Streit ist dieser Zurückweisung vorausgegangen, keine Beweggründe führt Bartleby für seine Absage an; alles, was von ihm verlautbar wird, ist jener ebenso irritierende wie enigmatische Satz: »I would prefer not to.«5 Melvilles Short Story hat von der amerikanistischen Forschung bereits umfassende Deutungen erfahren.6 Den Konsens dieser Vielzahl an Forschungsstimmen bildet die Einsicht, dass jeder Versuch, die Figur Bartleby und die Beweggründe ihrer Absage enträtseln zu wollen, zum Scheitern verurteilt sei, denn die Erzählung konfrontiere ihren Rezipienten auf beharrliche Weise mit den Grenzen jeder Erkenntnissuche oder – um es mit Harold Bloom zu sagen – »the impossibility of ever knowing the truth«.7 In den nachfolgenden Überlegungen soll sich daher keinesfalls an einer weiteren Gesamtinterpretation des Textes versucht, sondern sich ausschließlich auf die poetisch-ästhetische Performanz der Absage und ihre narrative Rahmung konzentriert werden, die sich, wie zu zeigen sein wird, als ein perfides Zusammenspiel von Macht-, Sprach-, Körper- und Raumpolitiken präsentiert.

III.

Die Absage im Kontext von Körperpolitik und Topologie

Wer ist Bartleby? – Bartleby ist ein Sonderling. Mehr lässt sich mit Bestimmtheit über ihn nicht sagen. Alles Wissen von ihm ist lediglich als vermitteltes Wissen verfügbar, das zudem von einer Erzählerfigur stammt, die gleich 5 6

7

Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 25. Vgl. lediglich in Auswahl und im historischen Querschnitt: Thompson: Bartleby and the Magazine Fiction, S. 99-112, Pinchevski: Bartleby’s Autism, S. 27-59; oder Barnett: Bartleby as Alienated Worker, S. 87-116. Bloom: Herman Melville’s Billy Budd, Benito Cereno, and Bartleby, the Scrivener, S. 10.

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zum Auftakt ihres Berichts eingesteht, dass ihre Menschenkenntnis im Hinblick auf diesen Schreiber – und zwar trotz langjähriger Vertrautheit mit der Berufsgruppe der Aktenkopisten – an ihre Grenzen stoße. Von allen Kopisten, denen der Erzähler in seinem Berufsleben begegnet ist, sei Bartleby mit Bestimmtheit der Seltsamste und dies vor allem, weil es über ihn keinerlei biografische Anhaltspunkte gäbe: I believe that no materials exist for a full and satisfactory biography of this man. It is an irreparable loss to literature. Bartleby was one of those beings of whom nothing is ascertainable, except from the original sources, and in his case those are very small. What my own astonished eyes saw of Bartleby, that is all I know of him, except, indeed, one vague report which will appear in the sequel.8 Eine Biografiearbeit, das heißt eine biografische Aufarbeitung der Vergangenheit Bartlebys, könnte dem Verständnis der Figur zweifellos zuträglich sein. Doch deutet sich hier bereits ein erster unüberwindlicher Widerstand an, denn Bartleby, der gewissermaßen keine Geschichte hat und der auch im Verlauf der weiteren Handlung nichts von sich preisgibt, erteilt all denjenigen – dem Erzähler ebenso wie auf metapoetischer Ebene dem Rezipienten – eine Absage, sprich: all jenen, die ihn zu ›lesen‹ versuchen, die seinem Handeln einen Kontext zuordnen wollen, die sich auf die Suche nach motivationalen Aspekten seines Handelns beziehungsweise seines Unterlassens begeben.9 Auch ein zentraler Prätext von Melvilles Erzählung, nämlich Nikolai Gogols Der Mantel aus dem Jahr 1842, liefert in der relationalen Lektüre diesbezüglich keine erkenntniserweiternden Befunde. Gogols Protagonist, Akaki Akakijewitsch, und Bartleby sind beide Kopisten, beide bevorzugen eine veränderungsarme Tätigkeit, die keine Innovation zulässt. Darüber hinaus aber verlieren sich die Gemeinsamkeiten. Denn während Akaki zumindest einige Antriebsmomente seines Handelns zeigt, bleibt Bartleby diese vollständig schuldig. Ein Vergleich der Texte betont vielmehr die Sonderbarkeit Bartlebys, erklären tut er sie nicht. Da nun keinerlei Innenansichten der Figur Bartlebys verfügbar sind und sich somit alle Interpretamente ausschließen, die sich der Psychomachie des Protagonisten zu nähern beabsichtigen, fällt der durch den Erzähler gelenkte 8 9

Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 17. Speziell zur Handlungstheorie des ›Unterlassens‹ vgl. den Überblicksartikel von Birnbacher: Unterlassungen, S. 90-98.

»I would prefer not to«

Blick notwendig auf die äußere Erscheinung Bartlebys, um diese nach Antworten abzutasten: Bartleby wird als »motionless young man« vorgestellt,10 der seine Schreibarbeit »silently, palely« und »mechanically« erledige;11 sein Gesicht wirke »leanly composed«,12 seine grauen Augen werden als »dimly calm« beschrieben und sein Habitus provoziere durch »passivity«.13 Die charakterisierenden Bilder des Erzählers changieren, mal ist ihm Bartleby nichts anderes als ein ›störrischer Dummkopf‹ (»stubborn oaf«),14 mal ein ›ewiger Wachtposten‹ (»perpetual sentry«).15 Später häufen sich sprachliche Wendungen, die seine ›leichenhaft vornehme Nonchalance‹ (»cadaverously gentlemanly nonchalance«)16 oder aber seine geisterhafte Erscheinung (»[l]ike a very ghost«, später auch: »the apparition of Bartleby«) betonen.17 In der Summe dieser körperbezogenen Zustandsformen kristallisiert sich insbesondere das Moment der Starrheit heraus, das in Bartlebys Bewegungsarmut und Körpermechanik ebenso angelegt ist wie in seiner Passivität. Henri Bergson, der sich in seinem komiktheoretischen Essay Das Lachen (1900) ausführlich mit dem Begriff der Starrheit befasst hat, klassifiziert diese zuvorderst als einen Mangel an Anpassung, insbesondere wenn er konstatiert, »dass jede Erstarrung des Charakters, des Verstandes und selbst des Körpers verdächtig sein [muss; CL], weil sie Zeichen nachlassender Lebenskraft sein kann, die sich am Ende isolieren, loslösen will von dem gemeinsamen Mittelpunkt, um den das Ganze der Gesellschaft schwingt, Exzentrizität werden will.«18 Insofern steht auch Bartlebys Körperpolitik im Zeichen einer solchen Loslösung, die das »Leben [in; CL] der Gemeinschaft« betrifft.19 Dass der Erzähler bei Bartleby sukzessive tatsächlich immer stärker werdende Zeichen »nachlassender Lebenskraft« beobachtet, bestätigt und stützt diese Form der Absage, denn der immer blasser und geisterhafter werdende Bartleby ›bleicht‹ in der Gemeinschaft der Lebenden regelrecht aus. 10 11 12 13 14 15 16 17 18

19

Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 24. Ebd. Ebd., S. 26. Ebd. S. 26 und S. 29. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd., S. 30 und S. 32. Bergson: Das Lachen, S. 16. Eine Analyse von Melvilles Short Story mit Bezug auf Bergsons Komiktheorie bietet unter anderen Glasenapp: Todestrieb und Hungerspiele, S. 90-95. Ebd.

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Wie aber verhält sich dieser erstarrte Körper zum Raum? Wie lässt sich die entworfene Topologie, das heißt die Körper-Raum-Beziehung, näher beschreiben? Wer den Aufbau einer russischen Matrjoschka-Puppe kennt, mag in etwa eine Vorstellung davon entwickeln, wie sich bei Melvilles Handlungsort in der New Yorker Wall Street Mauer um Mauer schließt und die Kanzlei ebenfalls nur ein Behältnis ist, das wiederum einen kleineren Raumkörper enthält. Denn in einem ›Büro im Büro‹ sitzt Bartleby hinter einem Wandschirm. Wiewohl der Kopist einen kleinen Teil des Kanzleizimmers seines Arbeitgebers abgeteilt und zugewiesen bekommt, folgt die Bildung von Drinnen und Draußen sowie Inklusion und Exklusion hier einer ganz eigenen Dynamik. Beabsichtigt der Erzähler mit der vor Bartlebys Schreibpult aufgestellten ›spanischen Wand‹ ein Raumarrangement von gleichzeitiger Privatheit und Geselligkeit zu schaffen, so trägt eben dieser Paravent gleichzeitig zur Entstehung eines Winkels bei, in den sich Bartleby wie in einen schützenden Kokon zurückzieht. Insbesondere Gaston Bachelard hat in seiner bekannten Poetik des Raumes (1957) zur Topo-Analyse des Winkels betont, dass dieser eine Raumform bildet, in der sich ein Ich »selbst zusammenzieht«.20 Und eben diesem »körperliche[n] Zusammenschließen-um-sich-selbst« wäre »das Merkmal der Verneinung« eigen.21 Denn »in vielerlei Hinsicht«, so Bachelard, »verweigert der ›erlebte‹ Winkel das Leben, verengt das Leben, versteckt das Leben. Der Winkel ist dann eine Negation des Alls.«22 Eben in diesem Sinne ist für Bartleby der Winkel hinter dem Wandschirm, den er zunächst nur selten und später gar nicht mehr beziehungsweise nur unter Zwang verlässt, nicht allein ein Ort »der Zurückgezogenheit der Seele«,23 sondern auch »eine Zuflucht«,24 die, wie Bachelard es nennt, »einen ursprünglichen Daseinswert sichert: die Unbeweglichkeit«.25 Körperpolitik und Topologie werden auf diese Weise zu wichtigen Gestaltungsformen, in denen Bartlebys Negationshandlung, sein »I would prefer not to«, zugleich eine weitere, in diesem Fall eine körper- und raumästhetische Modulierung erfährt. 20 21 22 23 24 25

Bachelard: Poetik des Raumes, S. 144. Ebd. Ebd. Ebd., S. 145. Ebd. Ebd.

»I would prefer not to«

IV.

Die Absage als Sprachhandlung

Die direkteste Form der Absage ist das Nein. »Das Nein«, so pointiert ByungChul Han, »ist immer laut.«26 Wenn Han die akustische Qualität von Kommunikation beschreibt, dann ist damit im Wesentlichen ein Bild der Reibung gemeint. Denn während das »geräuschloser[e]« Ja reibungsarm ist,27 erzeugt das Nein eine Störung. Insofern ist Bartlebys mit sanfter Stimme (»mild, firm voice«)28 formuliertes »I would prefer not to« genau genommen so ›laut‹, dass es quasi mit höchster Schallstärke durch die Weltliteratur tönt. Denn eben diese Absage, so sanft und höflich sie auch vorgetragen sein mag, leitet, wie mit Han argumentiert werden kann, »einen beginnenden Zerfall der Macht« ein und kennzeichnet sich dabei als »ein Vermögen, einen bestehenden Zustand zu unterbrechen« sowie »einen neuen Zustand beginnen zu lassen.«29 Auch wenn ein Nein, dies zumal in seiner absoluten Form, nicht dialogisch ist, eröffnet es exakt in diesem Sinne einen »Spielraum für Handlungen«.30 Insbesondere Gilles Deleuze hat sich, und zwar in seiner nach wie vor einschlägigen Einlassung Bartleby oder die Formel (1989), unter anderem auf sprachphilosophischer Ebene mit Bartlebys Absageformel »I would prefer not to« auseinandergesetzt. Eben dieser Formel, betont Deleuze, sei nicht nur ein »gewisser Manierismus«, sondern auch eine »bestimmte Förmlichkeit« eigen; dabei verleihe gerade die »abrupte Endung«, also das »not to«, dieser spezifischen Rhetorik ihren »radikalen Charakter« respektive eine »Art GrenzFunktion«.31 Schließlich könne man bemerken, dass »bei jedem Vorfall […] in der Umgebung Bartlebys Verblüffung auf[kommt], als habe man das Unsagbare oder etwas vernommen, dem man nicht entgegentreten« könne.32 Ferner lenkt Deleuze den Blick auf die Effekte der Formel, die »verheerend« respektive geradezu »verwüstend« wirke.33 Als Beleg führt der Philosoph zunächst die ansteckende Kraft der Redewendung an, die regelrecht »sprießt und wuchert« und sich in kürzester Zeit auch in der Rhetorik an26 27 28 29 30 31 32 33

Han: Im Schwarm, S. 11. Ebd. Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 25. Han: Im Schwarm, S. 11 und S. 17. Ebd., S. 12. Deleuze: Bartleby oder die Formel, S. 8. Ebd., S. 12. Ebd.

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derer Kanzleiangestellter findet,34 sprich: quasi von Mund zu Mund wandert und die alltägliche Kommunikation zu infizieren beginnt: Somehow, of late I had got into the way of involuntarily using this word »prefer« upon all sorts of not exactly suitable occasions. And I trembled to think that my contact with the scrivener had already and seriously affected me in a mental way. And what further and deeper aberration might it not yet produce?35 Die Absage »I would prefer not to« wirkt sich, so ließe sich erneut mit Bergson argumentieren, demnach in ähnlicher Weise aus wie ein »Laster«.36 Laster nämlich setzen eine »Art Seelenlähmung« voraus und haften einem daher an.37 Sie bilden, wie es Bergson beschreibt, gewissermaßen einen »fertige[n] Rahmen, in den wir uns einfügen«, denn »[s]ie übertragen ihre Starrheit auf uns, statt daß auf sie unsere Lebendigkeit übergeht. Wir vervielseitigen sie nicht, im Gegenteil sie vereinseitigen uns.«38 Aber auch an Bartleby geht seine eigene Rhetorik keinesfalls spurlos vorüber, denn performativ mit jedem Sprechakt wird ein weiterer Handlungsakt aus dem Bereich der möglichen Handlungsakte eskamotiert. Darüber hinaus merkt Deleuze an, dass Bartlebys Formel weder eine »Affirmation noch eine Negation« sei.39 Vielmehr schafft seine Absage eine »Unbestimmtheitszone«,40 denn »Bartleby«, wie Deleuze unter Verweis auf Philippe Jaworski ausführt, »verweigert nicht, akzeptiert aber auch nicht, er tritt hervor und zieht sich in diesem Hervortreten zurück, er exponiert sich ein wenig in einem leichten Zurücktreten des Sprechens«.41 Wäre Bartlebys »I would prefer not to« eine reine Verweigerung, so wäre dieser leichter zu begegnen; die spezifische Herausforderung von Bartlebys sprachlicher Absageformel indes liegt gerade in jener unbestimmten, da referenzlosen Zurückweisung. 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd. Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 37. Bergson: Das Lachen, S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Deleuze: Bartleby oder die Formel, S. 13. Ebd., S. 20. Ebd., S. 13. Die entsprechende Passage findet sich bei Jaworski: Melville, le désert et l’empire, S. 19.

»I would prefer not to«

V.

Die Absage im sozialen Kontext

Bartlebys Absage ereignet sich in einem Arbeitskontext. Mit Bezug auf diesen sehr spezifischen Rahmen ist bemerkenswert, dass in Melvilles Erzählung nahezu das gesamte Figurenpersonal zu Entpflichtungshandlungen neigt. Auch der Rechtsanwalt, der Bartleby einstellt und aus dessen Perspektive die Handlung erzählt wird, ist durchaus kein Musterbeispiel an Arbeitswillen und Fleiß. Vielmehr gesteht er unumwunden im Zuge einer selbstreflexiven Ich-Beschreibung zu: I am a man who, from his youth upwards, has been filled with a profound conviction that the easiest way of life is the best. […] I am one of those unambitious lawyers, who never addresses a jury, or in a way draws down public applause […]. All who know me, consider me an eminently safe man. The late John Jacobs Astor […] had no hesitation in pronouncing my first grand point to be prudence; my next, method.42 Traut man diesen Worten, so steht die besagte Kanzlei nicht eben unter besonders ambitionierter und ehrgeiziger Führung. Vielmehr steht ihr ein Rechtsanwalt vor, der seiner Arbeit mit denkbar geringem Aufwand nachgeht und der vor allem und zuvorderst an seinem alltäglichen Frieden interessiert ist. Demzufolge begegnet er auch seinen Angestellten, den beiden Kopisten Turkey und Nippers, als vergleichsweise konfliktvermeidende Anti-Autorität, die ihnen allerhand Raum für allerlei Kuriositäten lässt. Denn obwohl beide Schreiber eine Vollzeitstelle besetzen, arbeitet keiner von ihnen länger als einen halben Tag. Letzteres wiederum ist einem höchst eigenartigen Geschehen geschuldet, das sich, erstens, täglich wiederholt, und das, zweitens, als eine geradezu befallsartig auftretende Arbeitsuntauglichkeit in Erscheinung tritt. Schließlich werden beide Kopisten, und zwar jeweils halbtags, von merkwürdigen Angewohnheiten und Spleens heimgesucht, die sie regelrecht aufhalten, sorgsam ihrer Arbeit nachzugehen. Während der vom Gemüt her hitzige und mit fahriger Sorglosigkeit arbeitende Turkey beispielsweise ab zwölf Uhr mittags zur Erzeugung von Tintenklecksen oder zum zornigen Zertreten seiner Schreibfedern neigt, zeigt sich Nippers immer vormittags als ein von Ehrgeiz und Verdauungsstörungen Gebeutelter, der in nervöser Unruhe fortwährend die Höhe seines Schreibtisches korrigiert. Da Turkey dementsprechend nur am Vormittag, Nippers hingegen 42

Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 17-18.

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nur am Nachmittag für das Kopieren von Akten verlässlich einsetzbar ist, verdrehen sich die einfachsten Grundsätze der Addition: Denn zwei Angestellte summieren sich hier nicht etwa zu einer doppelten, sondern lediglich zu einer einfachen Arbeitskraft: »Their fits relieved each other like guards. When Nippers’ was on, Turkey’s was off; and vice versa.«43 Genau beobachtet der Rechtsanwalt diese Marotten seiner Angestellten, unterbindet sie aber mitnichten. Denn als Mann, dessen vornehmliche Arbeitstugend Planung und Planbarkeit ist, ist ihm der immerhin beträchtliche Arbeitsausfall weitaus weniger wichtig als die Vorhersehbarkeit des Geschehens, das er schlicht als »natural arrangement« ansieht und als solches hinnimmt.44 Der soziale Kontext, in den der Schreiber Bartleby hineingestellt wird, ist demnach einer, in dem die Entpflichtung von Arbeit, die eine andere Form der Absage darstellt, nicht nur gelebt, sondern auch durchaus großzügig toleriert wird. Dementsprechend urteilt Wilhelm Genazino: Die fürsorgliche, ja barmherzige Atmosphäre lässt die Kanzlei als Ort der Arbeit ganz untypisch erscheinen. Es gibt in diesem erstaunlichen Büro keinen Anschiss vom Chef, es gibt keine Demütigungen, keine Arbeitsüberlastungen, keine Intrigen, keine Ausbeutung, keine Konkurrenz unter Kollegen und also auch keine Devotion und kein Strebertum. Im Gegenteil; das Anwaltsbüro ist eine Insel des Friedens und der Nachsicht, ein utopischer Ort, an dem die christliche Nächstenliebe die Hauptrolle spielt, die Caritas. Die Arbeit wird eigentlich nur nebenher erledigt; sie ist auch noch da, mehr nicht.45 Bartlebys wiederholter Akt der Zurückweisung erweist sich jedoch auch in diesem utopischen, für eine Unterwanderung von Arbeitsaufträgen geradezu prädisponierten Kontext dezidiert als etwas Fremdes, das sich insbesondere in ein Konzept wie Planbarkeit nicht integrieren lässt. Deleuze bringt diesen Umstand auf den Punkt, indem er schreibt: »Bei jedem Vorfall gewinnt man den Eindruck, daß der Wahnsinn zunimmt: nicht ›im besonderen‹ der Bartlebys, sondern um ihn herum und besonders der Wahnsinn des Anwalts, der sich zu sonderbaren Verhaltensweisen hinreißen lässt.«46 So sonderbar, wie Deleuze hervorhebt, sind die Verhaltensweisen des Anwalts indes nicht, denn 43 44 45 46

Ebd., S. 23. Ebd. Genazino: Die lächerliche Wahrheit, S. 84. Deleuze: Bartleby oder die Formel, S. 12.

»I would prefer not to«

er versucht, indem er auf Bartleby mit fast allen denkbar möglichen Registern des menschlichen Verhaltens reagiert (Nachsicht, Weitsicht, Fürsorge, Aggression, Selbstkritik, Hilfsbereitschaft, Beheimatung und erst ganz zum Schluss Distanzierung und Flucht), den Sonderling in die Sozialität seiner Sozietät zu inkludieren und erhält dabei, wie könnte es anders sein, eine Absage.

VI.

Die Absage als Widerstand in einer Positivgesellschaft

In einer Kurzcharakteristik hat Deleuze Bartleby als einen »Mann ohne Referenzen, ohne Besitztümer, ohne Qualitäten, ohne besondere Eigenschaften. [...] Ohne Vergangenheit und Zukunft« beschrieben.47 Als solcher ist er schwer ›verdaulich‹ und in den Sozialkörper nicht integrierbar. Er ist ein Prototyp des Fremden, der allerdings ein sehr bestimmtes soziales Außen markiert und besetzt. Genazino fasst es so: »[N]icht der arbeitslose, hungernde, ungebildete oder verlassene Mensch« ist »[bis heute; CL] für die anderen das größte soziale Problem, sondern der seltsame, sonderbare, unverständliche und auch nicht verstanden werden wollende Mensch: das nicht auf die Linie zu bringende Individuum, kurz: Bartleby.«48 Mit dieser Ausdeutung schließt Genazino an eine Deutungstradition der Erzählung an, die namentlich das Ende der Short Story in metaphorischer Weise liest und versteht. So berichtet der Erzähler über den Tod Bartlebys hinaus, dass ihm die Information zuteil wurde, der Schreiber hätte einst als Angestellter im sogenannten »Dead Letter Office« in Washington gearbeitet, in dem Briefe bearbeitet werden, die ihren Adressaten verfehlt und nie erreicht haben.49 Diese Information aufgreifend, erachtet Genazino auch Bartleby, im übertragenen Sinne, als »unzustellbar«, denn am »Fluchtpunkt seines Lebens« könne »[n]iemand, auch er selbst nicht, […] sagen, ob er je irgendwo hingehört habe.«50 Eine solche Lesart soll vor dem Hintergrund einer Reflektion der Poetik, Ästhetik und Kulturpraktik der Absage an dieser Stelle noch einmal in eine andere Richtung gewendet werden. Insbesondere gilt es zu fragen, ob nicht gerade die Sonderlinge in der Literatur, und zwar vor allem mit ihrer strikt zurückgewiesenen Transparenz, speziell heutige Leserinnen und Leser mit 47 48 49 50

Ebd., S. 20. Genazino: Die lächerliche Wahrheit, S. 86. Melville: Bartleby, the Scrivener, S. 54. Genazino: Die lächerliche Wahrheit, S. 83.

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einem Anderen konfrontieren können, das sonst möglicherweise dem Blick entgleiten und ihm fremd werden würde. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass der Gegenwartsphilosoph Byung-Chul Han in einem kürzlich erschienenen Essay die heutige Gesellschaft als sogenannte »Transparenzgesellschaft« charakterisiert hat, die er zuvorderst und maßgeblich als eine »Positivgesellschaft« verstanden wissen will. Denn »[d]ie Gesellschaft der Negativität weicht heute«, zu denken wäre etwa an das in sozialen Netzwerken vielfach zu beobachtende affektive Gefällt mir-Verhalten, »einer Gesellschaft, in der Negativität zugunsten der Positivität immer weiter abgebaut wird.«51 Han erklärt dazu: Transparent werden die Dinge, wenn sie jede Negativität abstreifen, wenn sie geglättet und eingeebnet werden, wenn sie sich widerstandslos in glatte Ströme des Kapitals, der Kommunikation und Information einfügen. […] Die Negativität der Anders- und Fremdheit oder die Widerständigkeit des Anderen stört und verzögert die glatte Kommunikation des Gleichen. Die Transparenz stabilisiert und beschleunigt das System dadurch, dass sie das Andere oder Fremde eliminiert. Dieser systemische Zwang macht die Transparenzgesellschaft zu einer gleichgeschalteten Gesellschaft.52 Gerade mit Bezug auf diese Positivgesellschaft mit ihrer Vermeidung von Widerstand erinnert uns Bartleby immer noch und weiterhin nicht nur an ein anderes, sondern eben auch an ein echtes Gegenüber, das der Transparenz ebenso wie dem ewig Gleichen eine Absage erteilt.

Literaturverzeichnis Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt a.M. 2003 [1957]. Louise K. Barnett: Bartleby as Alienated Worker. In: Studies in Short Fiction 11 (1974), S. 379-385. Roland Barthes: Mut zur Faulheit. In: Roland Barthes: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980. Frankfurt a.M. 2002, S. 367-374. Henri Bergson: Das Lachen. Meisenheim a.G. 1948 [1900]. 51 52

Han: Transparenzgesellschaft, S. 5. Ebd., S. 5 und S. 7.

»I would prefer not to«

Dieter Birnbacher: Unterlassungen. In: Michael Kühler/Markus Rüther (Hg.): Handbuch Handlungstheorie. Grundlagen, Kontexte, Perspektiven. Stuttgart 2016, S. 90-98. Harold Bloom: Herman Melville’s Billy Budd, Benito Cereno, and Bartleby, the Scrivener. Broomall 1996. Gernot Böhme: Atmosphäre wahrnehmen, Atmosphäre gestalten, mit Atmosphäre leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung. In: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hg.): Atmosphäre(n). München 2007, S. 31-43. Peter Borscheid: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a.M., New York 2004. Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988 [1980]. Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994 [1989]. Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. Paderborn 2008. Wilhelm Genazino: Die lächerliche Wahrheit. In: Herman Melville: Bartleby der Schreiber. München 2011, S. 83-90. Jörn Glasenapp: Todestrieb und Hungerspiele. Bartleby und Carl Haffner. In: Andrea Bartl/Jörn Glasenapp/Iris Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück. Thomas Glavinics Vermessungen der Gegenwart. Göttingen 2014, S. 89-102. Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2017 [2013]. Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft. Berlin 2017. Phillippe Jaworski: Melville, le désert et l’empire. Paris 1986. Claudia Lillge: Über die Mittagsruhe. Alltagspolitik und ästhetische Eigenzeit bei Eichendorff, Wordsworth und Courbet. In: Claudia Lillge/Thorsten Unger/Björn Weyand (Hg.): Arbeit und Müßiggang in der Romantik. Paderborn 2017, S. 285-303. Herman Melville: Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street. In: Herman Melville: Billy Budd, Bartleby, and Other Stories. New York 2016, S. 17-54. Amit Pinchevski: Bartleby’s Autism: Wandering along Incommunicability. In: Cultural Critique 78 (2011), S. 27-59. Graham Thompson: Bartleby and the Magazine Fiction. In: Robert S. Levine (Hg.): The New Cambridge Companion to Herman Melville. New York 2014, S. 99-112.

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Absage mit Aufschub Hofmannsthal und die Goethe-Gesellschaft David-Christopher Assmann

Am 13. Juni 1922 schreibt Anton Kippenberg, seit 1906 allein verantwortlicher Verleger des Insel-Verlags, an Hugo von Hofmannsthal. Zwischen allen anderen Dingen, die Verleger und Autor sonst noch zu klären haben, kommt Kippenberg recht abrupt auf ein Vorhaben zu sprechen, für das er seinen Autor vorgeblich erst gewinnen möchte. Tatsächlich stellt er Hofmannsthal aber bereits vor vollendete Tatsachen: Bei der Vorstandsitzung der Goethe-Gesellschaft, die am letzten Donnerstag gelegentlich der Tagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar stattfand, habe ich vorgeschlagen, Sie als Festredner für die nächste Festtagung der Goethe-Gesellschaft einzuladen. Dieser Vorschlag ist allseitig mit der wärmsten Zustimmung aufgenommen worden, und ich rechne darauf, daß Sie als Hauptbeteiligter den schönen Gedanken in die Wirklichkeit umsetzen werden. Über einzelnes, das ich nicht gern dem Papier anvertraue, hoffe ich noch mündlich mit Ihnen sprechen zu können.1 Hofmannsthal hat den Festvortrag nie gehalten – und das gerade weil er als »Hauptbeteiligter« dafür vorgesehen war, »den schönen Gedanken in die Wirklichkeit um[zu]setzen«. Dass Hofmannsthal Kippenbergs Vorschlag eine Absage erteilt, ist zunächst durchaus überraschend. Im literarischen Feld der Jahrhundertwende zählt er zu den »produktivste[n] und frömmste[n] dichterische[n] Goethe-Jünger[n]«,2 ja wird von Zeitgenossen mitunter als »Bruder Goethes«3 bezeichnet. Und doch sind die Gründe für seine Absage 1 2 3

Kippenberg an Hofmannsthal, 13. Juni 1922, Sp. 866-867. Böschenstein: Stationen der Goethe-Begegnung, S. 238. Seng: »Ein Bruder Goethes«. Auch in der Forschung wird von der »Sonderstellung« Goethes für Hofmannsthal gesprochen. Michel: Goethe, S. 116. Hofmannsthals Absage irritiert nicht zuletzt deshalb, weil der Autor bereits vor einer literarischen Gesellschaft

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schnell bei der Hand. In der Forschung werden »unwägbare[] menschliche[] Differenzen«4 zwischen Autor und Verleger, »sachliche Meinungsverschiedenheiten«5 und divergierende Ansichten über die kulturpolitische Ausrichtung der Goethe-Gesellschaft6 ebenso angeführt wie poetologische Motive Hofmannsthals.7 So plausibel diese Gründe sind, die Frage, wie Hofmannsthal auf Kippenbergs Einladung reagiert – und wozu er so reagiert, wie er reagiert –, ist damit noch nicht beantwortet. Dabei verspricht gerade das ›Wie‹ Aufschluss über das Verhältnis der Beteiligten zu geben. Meine These ist, dass Hofmannsthals Absage an Kippenbergs »Vorschlag« die Form einer aufschiebenden Ambivalenz performiert, die als größtmögliche Distanzierung vom Verleger zu lesen ist. In funktionalen Hinsichten zielt Hofmannsthals Absage auf die Souveränität der eigenen posture im literarischen Feld der 1920er Jahre.8 Es geht also um das, was Thomas Wegmann als »ästheti(zisti)sches Prestige«9 Hofmannsthals bezeichnet, das heißt den Namen des Autors als symbolisches Kapital. An Wegmann anknüpfend verstehe ich unter ›Absage‹ im Anschluss an Pierre Bourdieu die Praktik einer sozialen Positionierung. Das literarische Feld ist nicht nur ein Kräftefeld, »das auf alle einwirkt, die es betreten«.10 Strukturiert wird es durch den »fortwährenden Konflikt[]«11 der beteiligten Akteure. Absagen sind Vollzug dieses Positionskampfes – im vorliegenden Fall zwischen einem Verleger und seinem Autor.

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gesprochen hat, die sich dem Andenken und der Pflege von Goethes Werk widmet: Er hielt am 19. Februar 1902 den nur in Notizen überlieferten Vortrag Über Goethes dramatischen Stil in der »Natürlichen Tochter« im Wiener Goethe-Verein. Schuster: Einleitung, Sp. 86. Ebd. Kippenberg ist beteiligt an der »biographistischen Einengung des Blickfeldes der Goethephilologie« und trägt zu einer »betont konservativ-philologischen Behandlung und Würdigung Goethes« bei. Mandelkow: Goethe in Deutschland, S. 229. 1922 ist er zudem »maßgeblich« dafür verantwortlich, den Ordinarius für Deutsche Philologie an der Berliner Universität Gustav Roethe als Vorsitzenden zu installieren. Neumann: »Die Zukunft der Goethe-Gesellschaft erfüllt mich mit Sorge.«, S. 59. Vgl. darüber hinaus Karl-Heinz Hahn: Die Goethe-Gesellschaft in Weimar, S. 37-42. Bereits seit den 1910er Jahren sieht sich Hofmannsthal in der Auseinandersetzung mit Goethe einer »überfordernde[n] Fülle« des Materials ausgesetzt. Michel: Goethe, S. 118. Zum Begriff der ›posture‹ als »persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben«, vgl. Meizoz: Die posture und das literarische Feld, S. 177. Wegmann: Dichtung und Warenzeichen, S. 274. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 368. Ebd.

Absage mit Aufschub

Um der Form von Hofmannsthals Positionierung nachzugehen, untersuche ich zunächst Kippenbergs Rückfrage bei Hofmannsthal, die der Verleger gut ein halbes Jahr nach dem zitierten Briefauszug schreibt. In zwei weiteren Schritten nehme ich Hofmannsthals Antwort in den Blick. Bereits vorweggenommen sei, dass es eine konkret-manifeste Absage Hofmannsthals nicht gibt. Zwar nimmt die Forschung an, dass die entsprechenden Stellen in der Korrespondenz zwischen Autor und Verleger sich auf »offenbar nicht erhalten[e]«12 Briefe Hofmannsthals mit Gustav Roethe, dem damaligen Vorsitzenden der Goethe-Gesellschaft, beziehen. Doch auch wenn es einen Brief gegeben haben sollte, in dem Hofmannsthal die Einladung zu einem Festvortrag in Weimar explizit ausschlägt, liegt die Spezifik seiner Positionierung in ihrer zögernden Unentschiedenheit. Es ist diese Form, mit der Hofmannsthal seine Absage in Szene setzt.

Kippenbergs Brief Nachdem Hofmannsthals Verleger seinen »Gedanken« im Vorstand der Goethe-Gesellschaft durchgesetzt hat, entwickelt sich ein »sehr nette[r] sympathische[r] Briefwechsel«13 zwischen Roethe und Hofmannsthal, wie letzterer in einem Brief an Walther Brecht schreibt. Der Weimarer Vorsitzende lädt den Autor also offiziell ein. Hofmannsthal sagt den Vortrag jedoch letztlich ab oder meldet sich nicht mehr (das muss, wie gesagt, materialbedingt offen bleiben). Daraufhin wendet sich Roethe an Kippenberg und dieser fragt schließlich bei seinem Autor nach. Am 12. Februar 1923, also gut ein halbes Jahr nachdem er ihm seinen »Vorschlag« unterbreitet hat, schreibt Kippenberg an Hofmannsthal: Lieber Herr von Hofmannsthal! Herr Geheimrat Roethe teilt mir heute mit, daß Sie nachdem Sie zunächst sich bereit erklärt hatten, zu Pfingsten den Festvortrag bei der Tagung der Goethe-Gesellschaft zu halten, nunmehr abgesagt haben. Ich möchte Sie auf das allerherzlichste und dringendste bitten, es dabei nicht zu belassen, sondern Ihre Absage zurückzuziehen. Ich bin es gewesen, der in der Vorstandssitzung der Goethe-Gesellschaft Sie als Festredner für 12 13

Kommentar 6 zu Hugo von Hofmannsthal an Walther Brecht, Mittwoch, den 27.9.1922, S. 50. Hofmannsthal an Brecht, 27. September 1922, S. 46.

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dieses Jahr vorgeschlagen hatte, und allseitig wurde diese Anregung auf das allerwärmste begrüßt. Nun dürfen Sie mich keinesfalls im Stiche lassen. Abgesehen davon, daß es Ihnen doch Freude machen muß, gerade vor diesem Kreise zu sprechen, abgesehen ferner davon, daß für uns ein Vortrag von Ihnen überaus wertvoll ist, möchte ich auch die eminente kulturpolitische, wenn ich dieses schreckliche Wort gebrauchen darf, Bedeutung hinweisen, daß ein Österreicher, und zumal, ich darf das, ohne dabei in den Verdacht der Schmeichelei zu kommen, gewiß sagen, der prominenteste Vertreter des heutigen geistigen Österreich zu der Gesellschaft spricht, die sich die Pflege dessen, was uns Deutschen fast allein noch übriggeblieben ist, zur Aufgabe setzt. Sollte etwa Ihre Absage, was ich begreifen würde, damit zusammenhängen, daß die traurige Finanzlage der Goethe-Gesellschaft nicht in der Lage ist, ein genügendes Honorar für den Vortrag auszusetzen, so würde der Insel-Verlag mit besonderem Vergnügen bereit sein, einzuspringen, und dieses Honorar ganz nach Ihren Wünschen zu ergänzen. Ich bitte Sie also noch einmal auf das allerherzlichste, Ihre Absage in eine erneute Zusage zu verwandeln und mir möglichst telegraphisch ein Ja zu senden. Dann möchte ich Sie auch bitten, doch die Mitgliedschaft der GoetheGesellschaft baldigst zu erwerben. Wir haben die Absicht, Sie in den Vorstand der Goethe-Gesellschaft zu wählen, konnten das aber das letzte Mal nicht, da Sie nicht Mitglied waren. Räumen Sie bitte diesen Hinderungsgrund baldigst hinweg. Dies natürlich im Vertrauen. Mit den herzlichsten Grüßen der Ihrige (Kippenberg)14 Kippenberg will Hofmannsthals vermeintliche oder tatsächliche Absage nicht akzeptieren. Seine Annahme, Hofmannsthal verzichte darauf, die Einladung nach Weimar auszuschlagen, betont die Zeitdimension der von ihm unterstellten Entscheidung des Autors: Kippenberg deutet Hofmannsthals Absage als grundsätzlich reversibles Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, der noch nicht abgeschlossen ist. Ziel ist es, eine neue, revidierte Entscheidung zu motivieren, die Absage also, wie es Kippenberg selbst formuliert, »in eine erneute Zusage zu verwandeln«. Der Brief setzt mit einer Rekapitulation der bisherigen Korrespondenz ein. Diese legt die verschachtelte Kommunikationsstruktur offen, die Kippen14

Kippenberg an Hofmannsthal, 12. Februar 1923, Sp. 893-894.

Absage mit Aufschub

bergs »Vorschlag« zugrunde liegt. Kippenberg paraphrasiert Roethes Brief an ihn, der darüber informiere, dass Hofmannsthal in einer Mitteilung an Roethe abgesagt habe. Manifest werden durch die Paraphrase die Knotenpunkte eines »network of cooperation«,15 dessen Akteure in mehr oder weniger festen oder losen, mittelbaren oder unmittelbaren Geschäftsbeziehungen zueinander stehen: Der Weimarer Vorsitzende Roethe hat geschäftlich mit dem Verleger und Vorstandskollegen Kippenberg zu tun, der den Wiener Autor Hofmannsthal unter Vertrag und an die Goethe-Gesellschaft vermittelt hat (»Ich bin es gewesen«). Kippenberg erweist sich so als kommunikativ notwendige Schnittstelle zwischen Hofmannsthal und Roethe und setzt die sich selbst zugeschriebene Fähigkeit, Kontakte herzustellen, in Szene. Der Brief expliziert nicht nur die literaturbetriebliche Vernetzung Kippenbergs, sondern setzt dessen Vermittlerposition als Argument ein, um Hofmannsthal zu einer Zusage zu bewegen. Bezeichnend für den offensiven Umgang mit Hofmannsthals Haltung ist bereits Kippenbergs Wiedergabe des kommunikativen Geschehens. Denn der Verleger verwendet nicht, wie es die Darstellung indirekter Rede einfordert, den Konjunktiv. Er treibt Hofmannsthal vielmehr gleich im ersten Satz indikativisch in die Enge und stellt fest, dass sein Gegenüber doch eigentlich bereits zugesagt habe (»sich bereit erklärt hatten«). Unabhängig davon, ob diese Behauptung den Tatsachen entspricht bzw. sich aus der Korrespondenz mit Roethe ergibt, erzeugt Kippenberg damit die Verbindlichkeit einer Verabredung unter Kollegen – eine Verbindlichkeit, die Hofmannsthal nun aufkündigen müsste, wollte er die ihm unterstellte Absage aufrechterhalten. Einmal Zugesagtes, so der Subtext von Kippenbergs Brief, sagt man nicht ohne Gründe wieder ab. Durch wiederholte Superlative der Höflichkeit (»allerherzlichste und dringendste«, »allerwärmste«, »der prominenteste Vertreter«) nimmt die sich anschließende Aufforderung, die Absage ›zurückzuziehen‹, den Konfrontationskurs des Einstiegs gleichwohl wieder etwas zurück. Dabei wiederholt Kippenberg seinen zur Hyperbel tendierenden Appell am Ende des ersten Absatzes und markiert ihn zudem in seiner Wiederholungsstruktur (»Ich bitte Sie also noch einmal«). Diese Geste einer abgetönten Bestimmtheit, wie sie den recht forsch einsetzenden, dann abgeschwächten Beginn kennzeichnet, setzt sich im weiteren Verlauf des Briefs fort. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, versucht Kippenberg, seine professionelle Vernetzung mit Hofmannsthal als 15

Becker: Art Worlds, S. 191.

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eine persönliche, ja freundschaftliche Beziehung kenntlich zu machen. Die Semantik der Absage erlaubt es, das »gegenseitige[] Bedingungsverhältnis«16 von geschäftlichem Netzwerk einerseits und persönlichem Austausch andererseits sichtbar werden zu lassen, ja die beiden Sozialformen ineinander zu blenden. Kippenberg richtet seinen Brief thematisch völlig an Hofmannsthals Absage aus – und verzichtet auf die komprimierte Abhandlung gleich mehrerer Themenkomplexe, wie sie in anderen Briefen der Korrespondenz zu finden ist. Hofmannsthals Zusage ist dem Verleger offenbar zu wichtig, als dass sie mit anderen Themen zusammen behandelt werden könnte. Dabei bringt Kippenberg die Semantik der Absage innerhalb des Briefs gleich vier Mal ins Spiel. Vorbereitet und gerahmt durch die Behauptung, Hofmannsthal habe schon zugesagt, setzt er dessen Entscheidung über den Festvortrag in eine provozierende Nähe zu jener sozialgeschichtlichen Wurzel der renuntiatio, die die Praktik gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch prägt: Das GrimmWörterbuch versteht die ›Absage‹ vor allem als »aufkündigen der freundschaft und ankündigen der feindschaft«17 und führt die Praktik in einem weiteren Lemma mit dem Brief als zentralem Medium zusammen. Die Hofmannsthal von Kippenberg unterstellte briefliche Absage wird so als eine emotional codierte Bedrohung lesbar, die die freundschaftliche Beziehung zwischen Autor und Verleger aufs Spiel setzt. Die Absage des Festvortrags wäre eine Absage an das persönliche Verhältnis von Autor und Verleger. Und tatsächlich appelliert Kippenberg ja an die Person Hofmannsthals, ihn »keinesfalls im Stiche [zu; DCA] lassen«. So egozentrisch dieser Appell auch sein mag, er verdeutlicht, dass auch Kippenberg nur einen Knotenpunkt im literarisch-betrieblichen Netzwerk besetzt. Auch wenn der Brief anderes behauptet, ist er nicht dessen Zentrum. Folgerichtig hebt Kippenberg in einem zweiten Schritt auch selbst auf die Reziprozität des Austauschs der beteiligten Akteure ab. Er komplettiert die persönlich-vertraute Ebene seines Arguments mit der öffentlichen Seite. Auf die »eminente kulturpolitische Dimension« abzielend präsentiert er den geplanten Vortrag als eingelassen in eine Art Gabentausch (Mauss): Auf der einen Seite sei Hofmannsthals Rede als symbolische Gabe an die Goethe-Gesellschaft »überaus wertvoll«; auf der anderen Seite werde dem Autor als Gegengabe intellektuelle »Freude« und ein ausgewähltes, ja elitäres 16 17

Binczek: Einleitung, S. 7. Art. Absage, Sp. 92.

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Publikum zugesichert. Kippenberg expliziert damit die reziproke Ausrichtung der Konsekrationsinstanz ›Goethe-Gesellschaft‹ und präsentiert deren Funktion als auf soziale Strukturen bezogen, die über seine persönlichen Interessen hinausgehen: So wie die Weimarer Gesellschaft an Hofmannsthals symbolischem Kapital partizipieren will, so verspricht sie dem Autor durch die Realisierung des Vortrags eine symbolische Anerkennung, die in das literarische Feld hinein ausstrahlt.

Hofmannsthals »Einfall« Liest man Kippenbergs Brief als Versuch, über die Betonung der freundschaftlichen Vernetzung Hofmannsthals Festvortrag als feldrelevanten Gabentausch in Szene zu setzen, überrascht es nur auf den ersten Blick, dass der Verleger seinem Autor zehn Tage später die gerade neu edierten, bei Fischer erschienenen Sämtlichen Werke Hölderlins als Geschenk übersendet. Hofmannsthal hatte eine Woche zuvor in einem Brief an Fritz Adolf Hünich auf den lange geplanten Kauf der Hölderlin-Ausgabe aus finanziellen Gründen verzichtet.18 Als Verleger erfährt Kippenberg davon und lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, seinen Autor erneut an eine »zusagende Antwort für den Vortrag«19 zu erinnern. Dass er die symbolische mit einer ökonomischen Gabe verknüpft, kann er in Kauf nehmen. Die im vorherigen Brief nachgeschobene Frage nach einem »genügende[n] Honorar«, das sein Verlag großzügig übernehmen würde, hatte diese Verknüpfung ohnehin schon offen in Aussicht gestellt. Ob Hofmannsthal mit dem Brief an Hünich auf Kippenbergs Reaktion und das Hölderlin-Geschenk spekuliert hat, muss offen bleiben. Auf die erneute Anfrage seines Verlegers reagiert er jedenfalls erst am 24. Februar 1923, dann aber ausführlich: mein lieber Herr Professor Kippenberg, als Geheimrat Roethe mir im August den Wunsch der Goethe-Gesellschaft übermittelte sagte ich zu unter der Bedingung, daß ich ein Thema fände. Denn ich kann nicht als Dichter und im heutigen Zeitpunkt über irgend ein ›Goethe und …‹=Thema eine Rede halten, dazu ist mir das Phänomen zu groß, zu gewaltig umfassend mein eigenes geistiges Dasein. Mir ist, wenn 18 19

Vgl. Hofmannsthal an Hünich, 15. Februar 1923, Sp. 894. Kippenberg an Hofmannsthal, 22. Februar 1923, Sp. 894.

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ich Goethe denke zumut wie dem der auf dem Meere fährt; dort wo er ist, ist eine Grube über deren Ränder er nur kaum hinaussieht; ringsum herandrängend das ungeheure Element. Ein solcher Einfall hätte mir heraushelfen können. Ich ließ mir fünf Monate zur Überlegung Zeit, setzte mir erst den Anfang des neuen Jahres zum Termin, mich zu entscheiden. Ich glaubte eine Zeit lang es käme mir aus dem Innersten das entgegen, was Mittelpunkt der Crystallisation werden könnte. Aber ich fühlte es wieder sich verflüchtigen. So mußte ich abschreiben, nicht leichten Herzens. Die Aufgabe wendet sich ans Schöpferische in einem – verstandesmäßig läßt sie sich nicht bewältigen. So kann ich nur dies sagen: ich wills nicht von mir abwälzen, sondern in mir weitertragen. Vermag ichs zu finden, so melde ich mich. Daß Sie in diesem Zusammenhang des Geldes Erwähnung tun kränkt mich; so führe ich mein Leben nicht, daß ich ein Ja oder Nein dieser Ordnung vom Geld abhängig mache. – Auch sehe ich daraus daß Sie meine Lage nicht kennen. In Oesterreich hat der gemeine Lebensbedarf den Goldwert erreicht oder überschritten. Ich verbrauche bei peinlichster Sparsamkeit 120-150 Millionen Kronen im Jahr, das sind heute 30-40 Millionen Mark, morgen vielleicht ihrer 60-80. Was mir aus Deutschland einkommt, vom Schauspiel, von der Oper, von Bühnenauflagen deckt – das ganze deutsche Jahreseinkommen! – deckt vielleicht für 5 oder 6 Wochen des Jahres, oder sagen wir für 2 Monate, meinen Verbrauch – der doch weit geringer ist – in Gold gerechnet – als im ersten noch kinderlosen, fast verdienstlosen Jahr meiner Ehe! Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, ob ich mir die Reise nach Weimar hätte 100.000 Mark kosten lassen oder ob man mir ein Mehrfaches dieser Summe bezahlt hätte – es ist beides – fast nichts. Verzeihen Sie diese Abschweifung. Herzlich Ihr Hofmannsthal   PS. Eben Ihre so freundlichen Zeilen über den Hölderlin. Es macht mich fast ein wenig verlegen, daß Sie mir ein Buch zum Geschenk anbieten, über dessen Anschaffung ich mit Herrn Hünich gehandelt habe. Aber ich nehme es von Ihnen gerne und mit vielem Dank an. – Wenn demnächst durchaus die deutschen Bücher nicht mehr um ein paar Rappen, sondern um ein paar Franken werden verkauft werden (im Inland meine ich) dann wird sich ja alles regeln und ich werde auch wieder in mein finanzielles Gleichgewicht kommen, was mir, bei großer innerer Inanspruchnahme meiner Kräfte, lieb

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wäre. H.20 Während Kippenberg einerseits die persönliche Beziehung betont, andererseits die sozialstrukturelle Relevanz des geplanten Vortrags hervorhebt, konzentriert sich Hofmannsthal zunächst auf die Darstellung seines Entscheidungsprozesses. Ähnlich wie seinem Verleger geht es ihm um die Zeitdimension. Er setzt diese aber argumentativ so ein, dass seine Entscheidung über Zu- und Absage offen bleiben kann. Hofmannsthals Zusage an Roethe sechs Monate zuvor (»im August«) sei eine Zusage ›unter Bedingungen‹ gewesen, die noch keinerlei Festlegung bedeutet habe. Hofmannsthal bemüht sich, sowohl den Festschreibungen, in die Kippenberg ihn zu drängen versucht, als auch der sozialen Bedeutung aus dem Weg zu gehen, die eine Zu- oder Absage für das persönliche Verhältnis zwischen Autor und Verleger und die GoetheGesellschaft hätte. Was er beschreibt, ist nicht eine bereits getroffene Entscheidung, sondern allein eine Situation, die unentschieden zwischen Zuund Absage liegt. Alexander Košenina hat darauf hingewiesen, dass sich Hofmannsthals Briefkorrespondenz durch eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit auszeichnet. Jede Einzelkorrespondenz lässt sich »auf einen Grundton und einen anderen thematischen Nenner bringen«.21 Je nach Briefpartner spielt Hofmannsthal eine andere Rolle: vom bewunderten Kind in der Korrespondenz mit Stefan George, über den aufgeschlossenen älteren Freund im Briefwechsel mit Franz Karg von Bebenburg, bis zum jugendlichen Kavalier im schriftlichen Austausch mit verheirateten Adelsdamen. Hofmannsthal ist immer ein anderer und versteht es, das Rollenspiel gezielt für seine Interessen zu nutzen. Das gilt auch für die Briefe an Kippenberg. Während dieser sich als Vermittler im literarischen Feld versteht, der mit persönlichem Einsatz gemeinsame Projekte vorantreibt, bleibt Hofmannsthal auf Distanz.22 Er geht nicht auf Kippenbergs Avancen ein, ja ignoriert zunächst selbst die geschäftliche 20 21 22

Hofmannsthal an Kippenberg, 24. Februar 1923, Sp. 894-896. Košenina: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch«, S. 250. In habitueller Hinsicht zählt Kippenberg nicht zu jener für Hofmannsthal relevanten »generationell verankerten peer group unter gelehrten Männern mit homologer Position in den kulturellen Feldern und daraus resultierender persönlicher Affinität«, in deren Umkreis etwa die Germanisten Walther Brecht oder Josef Nadler zu sehen sind. Wolf: »Hybrid wie die Dichtkunst«, S. 143.

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Seite des geplanten Vortrags. Kippenberg gegenüber will Hofmannsthal vor allem als eines wahrgenommen werden: als »Dichter« – und dies im emphatischen Sinne. Er positioniert sich als ein literarisch Schreibender, der sowohl eine Verantwortung für seine Gegenwart (»im heutigen Zeitpunkt«) als auch für die sich ihm stellenden »Aufgabe[n]« hat. Beides zeichnet dafür verantwortlich, dass der Autor sich auch ein gutes halbes Jahr nach Roethes Anfrage nicht zu einer Zusage hat durchringen können: Er habe schlichtweg, so Hofmannsthal, bis jetzt kein angemessenes »Thema« gefunden, Goethe sei als »Phänomen zu groß«.23 Um dieses Argument zu plausibilisieren, führt Hofmannsthal die Konzeption der in Werkzusammenhängen gewöhnlich als Paratexte verhandelten Essays und Vorträge mit dem Verfassen seiner literarischen Werke eng. In produktionsästhetischer Hinsicht ist Hofmannsthal immer »Dichter« (kein ›Redner‹24 ), auch dann, wenn er einen Festvortrag vor der Goethe-Gesellschaft hält. Die Frage von Zu- und Absage erhält auf diesem Hintergrund einen ästhetisch-literarischen Eigenwert, lässt sich also nicht auf »Ordnung[en]« einer geschäftlichen oder persönlichen »cooperative activity of art world members«25 reduzieren. Hofmannsthals Selbstbeschreibung partizipiert einerseits am Konzept des poeta vates, jenem Autorschaftsmodell also, das den Schreibenden zum »inspirierten Sprachrohr der Götter«26 nobilitiert. Andererseits baut er dieses im Anschluss an den Geniebegriff um. Das transzendentale Element der traditionellen Konzeption ›schöpferischer‹ Eingebung wird in das »Innerste[]« des Autors verlegt, damit aber nicht weniger der »verstandesmäßig[en]« Kontrolle entzogen. Über Zu- und Absage des Weimarer Festvortrags entscheidet nicht der Autor, sondern das Moment des »Schöpferische[n]«. Von routinierter Auftragsarbeit kann im Falle des Wiener »Dichter[s]« also keine Rede sein. So sehr Hofmannsthal die Verantwortung für sein Zögern in Sachen Festvortrag jedoch an sein »Innerste[s]« abgibt und damit als seiner Kontrolle entzogen ausweist, so sehr ist das Verfahren seines Briefs kalkuliert. Jörg Schuster hat gezeigt, dass Hofmannsthals Korrespondenz insgesamt stets »zwi23

24 25 26

Christoph König liest Hofmannsthals Verzicht auf die Weimarer Festrede in diesem Sinne als poetologischen Beleg für die große »Bedeutung, die Goethe für Hofmannsthal hatte«. König: Hofmannsthal, S. 99. Das ist eine der Abgrenzungsfiguren der Genie-Semantik. Vgl. Weimar: Genie, S. 701. Becker: Art Worlds, S. 361. Hoffmann/Langer: Autor, S. 140.

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schen rein imaginativem Charakter und pragmatischer Bestimmung«27 oszilliert. Und tatsächlich arbeitet Hofmannsthal im Textverfahren des Briefs an einer an Kippenbergs »Vorschlag« orientierten posture, die seine Abhängigkeit von unkontrollierbaren Begleitumständen literarischen Schreibens sowohl bejaht als auch negiert und gerade in dieser Unentschiedenheit feldsensitive Form gewinnt. Im Zentrum dieses Verfahrens steht der zur Allegorie neigende Vergleich im ersten Teil. Im Anschluss an die bis in die antike und biblische Mythologie zurückgehende Vorstellung vom »unbezähmten Meer«28 als Quelle einer archaischen menschlichen Angst vergleicht Hofmannsthal seine Situation mit einem dem unüberblickbaren Wasser ausgelieferten Seefahrer. Dessen Fahrt findet ein jähes Ende in einer »Grube«, in der er sich dem »ungeheure[n] Element« konfrontiert und ausgesetzt sieht. Der Vergleich dient dazu, den unmittelbar vor der Stelle platzierten Ausdruck »mein eigenes geistiges Dasein« bildlich zu veranschaulichen. Dieser wiederum ist nicht nur durch die Assonanz um den Diphtong ›ei‹ lautlich hervorgehoben. Er stellt auch insofern eine textorganisatorische Gelenkstelle dar, als er über das Possessivpronomen »mein« die Anrede zu Beginn des Briefs wieder aufnimmt. Damit wird die Hinwendung Hofmannsthals zum Adressaten Kippenberg auf das eigene literarästhetische »Dasein« bezogen, um im zweiten Teil des Briefs in die (»meine«) ökonomische »Lage« Hofmannsthals überführt zu werden. Diese Achse um seinen Absender stellt der Brief auch dadurch her, dass er sich mit dem Lexem ›ich‹ wie mit einem Netz überzieht. Insgesamt 51 Mal findet dieses sich über den Brief verteilt, besonders prägnant im zweiten Satz: »Denn ich kann nicht als Dichter«. Es ist dieses ›ich‹, dem nach eigenen Angaben die Inspiration fehlt, um Kippenbergs »Vorschlag« unumwunden annehmen zu können, das aber gleichzeitig die Textur des Briefs dominiert. Das Schwanken zwischen der Behauptung, dem »Schöpferische[n]« ausgeliefert zu sein, und dem Bestehen auf darstellender Kontrolle, scheint mir deshalb das bestimmende Merkmal des Briefs zu sein. In der Tat gestaltet Hofmannsthal den syntaktisch-semantischen Übergang von der Bildebene des Vergleichs zu seinem Kommentar recht komplex. So wird das Bild der »Grube« in die sich anschließende Reflexion hinein ausgeweitet: und zwar über die räumliche Orientierung am Vertikalen 27 28

Schuster: »Kunstleben«, S. 38. Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 60.

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in der Semantik des Substantivs »Einfall« und des Verbs »heraushelfen«. Irritierend ist dabei auch die Referenz des Pronomens »solcher«. Syntaktisch bezieht dieses sich auf den Vergleich als produktionsästhetischen Ausgangspunkt und Mittel literarischer Darstellung: »solch[]« einen »Einfall« benötige Hofmannsthal, um Kippenberg zusagen zu können. Dabei koppelt sich der Kommentar mit dem Pronomen derart an die Bildebene, dass die Identitäten des in die »Grube« gefallenen Seefahrers und des nach einem »Einfall« suchenden Autors vergleichbar werden, aber nicht zusammenfallen. Der Autor hatte ja gerade keinen »Einfall«, befindet sich also – bildlich gesehen – nicht in einer »Grube« wie der Seefahrer. Andererseits spricht Hofmannsthal an dieser Stelle keineswegs im Allgemeinen. Die Passage vollzieht auch das, was sie thematisiert: nämlich einen »Einfall« als Text umzusetzen. Der präsentierte Vergleich mit dem »ungeheure[n] Element« ist ein »Einfall«, den der Autor vorgibt zu suchen, tatsächlich aber bereits gefunden hat – nur hat er nun mit den Umständen in der »Grube« zu kämpfen. Damit ergibt sich eine dreifache Lesart des »Einfall[s]« in Hofmannsthals Brief: Erstens referiert das Substantiv auf den Vergleich des in der »Grube« gefangenen Seefahrers; zweitens wird der »Einfall« über das Pronomen »solcher« als ein Beispiel für jene »verstandesmäßig« nicht kontrollierbaren Elemente präsentiert, die produktionsästhetische Verfahren kennzeichnen; und drittens ist mit dem »Einfall« via Vergleich der Fallstrick bezeichnet, der sich aus der Beschäftigung mit dem »ungeheure[n]« »Phänomen« ergibt.

Hofmannsthals »Lage« Diese Irritationen, wie sie die Vergleichs-Passage bestimmen, setzen sich im zweiten Teil des Briefs fort. Auch dort entwickelt der Text eine ambivalente Haltung zur Abhängigkeit von unkontrollierbaren Begleitumständen literarischen Schreibens und Entscheidens. Dabei ist es zunächst alles andere als überraschend, dass Hofmannsthal Kippenbergs Angebot, das Honorar durch den Insel-Verlag begleichen zu lassen, »[ge]kränkt« zurückweist. Folgt man Bourdieu, erscheint bereits der symbolische Gabentausch am autonomen Pol des literarischen Feldes als »etwas Suspektes«.29 Die dorthin strebenden Akteure erwerben Anerkennung gerade dadurch, dass sie ihre Gaben als 29

Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 238.

Absage mit Aufschub

eine symbolische Investition verstehen, die die Erwartung einer Gegenleistung, zumal einer ökonomischen, stets »kaschiert«.30 Hofmannsthals Brief bedient sich dieser Argumentationslinie. Gleichwohl macht er jedoch bemerkenswert umfänglich auf die Folgen künstlerischen Prekariats aufmerksam. In seinem als »Abschweifung« bezeichneten Exkurs weist er anhand von konkretem Zahlenmaterial auf seine finanzielle Situation hin. Versiert in Haushaltsrechnung präsentiert der »Dichter« seinem Verleger die Folgen der in Österreich spätestens nach Kriegsende grassierenden Hyperinflation, um zugleich die Irrelevanz der ökonomischen Zuwendungen durch Kippenberg zu unterstreichen.31 Dass in Hofmannsthals Abgrenzungsgeste gegenüber Kippenbergs Überredungskünsten das ökonomische Argument Platz findet, verdeutlicht auch der Umstand, dass der Brief Hofmannsthals finanzielle »Lage« unter der Hand mit dem im ersten Briefteil präsentierten »Einfall« zusammenführt. Das passiert am Ende des Briefs in einer Art conclusio die finanziellen Aspekte des Weimarer Vortrags betreffend: »Demgegenüber fällt nicht ins Gewicht, ob ich mir die Reise nach Weimar hätte 100.000 Mark kosten lassen oder ob man mir ein Mehrfaches dieser Summe bezahlt hätte – es ist beides – fast nichts.« Auffallend ist hier zum einen die zur Parallelstelle im ersten Briefteil analog gebaute syntaktische Struktur, die in beiden Fällen um das konjunktivisch realisierte Auxiliar ›haben‹ organisiert ist. Dadurch wird das Geschehen als ein vergangenes präsentiert, die Entscheidung zur Absage also als eine bereits vollzogene gesetzt. Der produktionsästhetische Aspekt, den Hofmannsthal strikt autonom denkt, vereinnahmt dabei den ökonomischen. So nimmt nicht nur das Verb ›fallen‹ den räumlich-vertikalen Vektor des »Einfall[s]« wieder auf. Auch die Substantivierung »Mehrfaches« knüpft am langen Vokal des unüberschaubaren »Meere[s]« des Phänomens ›Goethe‹ an und überführt dieses ins ökonomische Feld »ungeheure[r]« Zahlen. So sehr Hofmannsthal als Autor dem »Schöpferische[n]« ausgeliefert ist, so sehr ist er dem Ökonomischen ausgesetzt – und doch versteht es Hofmannsthal, beide sozialen Sphären sprachlich in den Griff zu bekommen: So wie der Vergleich im ersten Teil sprachmächtig von der eigenen ästhetischen Krise 30 31

Ebd. Die Inflationsrate liegt in Österreich 1922 bei 2.877 %. Das Verbraucherpreisniveau erhöht sich zwischen 1914 und 1922 um mehr als das 5.000-fache. Vgl. Christian Beer u.a.: Die wechselvolle Geschichte der Inflation in Österreich, S. 14-15.

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spricht, so präsentiert der zweite Teil ökonomisch versiert die Abhängigkeit von finanziellen Rahmenbedingungen. Hofmannsthals Brief beschreibt also nicht nur das Schwanken zwischen Zu- und Absage, auktorialer Kontrolle und Ohnmacht, der Ablehnung ökonomischer Interessen bei gleichzeitiger Betonung finanzieller Fragen. Der Brief ist auch selbst Ausdruck dieses Zögerns. Nimmt man beide Aspekte zusammen – das produktionsästhetische wie das finanzielle Argument –, liegt die Spezifik, ja das Perfide von Hofmannsthals Brief in dem Umstand, dass er gegenüber Kippenberg betont, nicht oder noch nicht zusagen zu können, gleichzeitig aber vorführt, prinzipiell zusagen zu können, ja eigentlich zusagen zu müssen. Hofmannsthal behauptet, ihm fehle ein »Einfall«, führt Kippenberg aber gleichzeitig vor, dass er einen »Einfall« hat. Er behauptet, nicht aus ökonomischen Gründen absagen zu müssen, führt aber gleichzeitig vor, dass er das Geld gut gebrauchen könnte. Obwohl oder gerade weil er in beiden Hinsichten zusagen müsste, zögert er und lässt Kippenbergs Anfrage schließlich ins Leere laufen. In dieser aufschiebenden Performanz liegt die Spezifik von Hofmannsthals Absage. Sowohl die Zusage als auch die explizite Absage hätte eine aus Hofmannsthals Sicht heteronome Vereinnahmung seines Selbstverständnisses als »Dichter« bedeutet. Über das Eingeständnis, prinzipiell zusagen zu können, sich aber trotzdem die Freiheit zur Absage zu nehmen, positioniert sich Hofmannsthal in größtmöglicher Distanz zu den Ansprüchen seines Verlegers. Bei dieser literaturgeschichtlichen Leerstelle bleibt es: Am 26. Mai 1923 spricht Wolfgang von Oettingen in der Goethe-Gesellschaft zum Thema »Goethe am Rhein und Main«.32

Literaturverzeichnis Art. Absage. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854-1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971. Bd. 1, Sp. 92. Online-Version vom 1. Juni 2018. Howard S. Becker: Art Worlds. Berkeley u.a. 1982. Christian Beer u.a.: Die wechselvolle Geschichte der Inflation in Österreich. In: Monetary Policy & The Economy (2016), H. 3/4, S. 6-35. 32

Vgl. Kommentar 6 zu Hofmannsthal an Walther Brecht, Mittwoch, den 27.9.1922, S. 51.

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Natalie Binczek: Einleitung. In: Natalie Binczek/Georg Stanitzek (Hg.): Strong ties/Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010, S. 7-14. Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 2004. Bernhard Böschenstein: Stationen der Goethe-Begegnung. Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2005), S. 230-246. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M. 2001. Karl-Heinz Hahn: Die Goethe-Gesellschaft in Weimar. Geschichte und Gegenwart. Weimar 1989. Torsten Hoffmann/Daniela Langer: Autor. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 131-170. Hugo von Hofmannsthal an Walther Brecht, 27. September 1922. In: Hugo von Hofmannsthal – Walther Brecht. Briefwechsel. Mit Briefen Hugo von Hofmannsthals an Erika Brecht. Hg. von Christoph König und David Oels. Göttingen 2005, S. 46. Hugo von Hofmannsthal an Fritz Adolf Hünich, 15. Februar 1923. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 894. Hugo von Hofmannsthal an Anton Kippenberg, 24. Februar 1923. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 894-896. Anton Kippenberg an Hugo von Hofmannsthal, 13 Juni 1922. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 865-868. Anton Kippenberg an Hugo von Hofmannsthal, 12. Februar 1923. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 893-894. Anton Kippenberg an Hugo von Hofmannsthal, 22. Februar 1923. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 894. Kommentar 6 zu Hugo von Hofmannsthal an Walther Brecht, Mittwoch, den 27.9.1922. In: Hugo von Hofmannsthal – Walther Brecht. Briefwechsel.

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Mit Briefen Hugo von Hofmannsthals an Erika Brecht. Hg. von Christoph König und David Oels. Göttingen 2005, S. 50. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001. Alexander Košenina: »Der wahre Brief ist seiner Natur nach poetisch«. Vom Briefschreiber zum Autor – am Beispiel Hofmannsthals. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart, Weimar 2002, S. 241-257. Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1773-1918. München 1980. Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houllebecq. In: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 177188. Christoph Michel: Goethe. In: Mathias Mayer/Julian Werlitz (Hg.): Hofmannsthal-Handbuch. Stuttgart 2016, S. 116-118. Thomas Neumann: »Die Zukunft der Goethe-Gesellschaft erfüllt mich mit Sorge.« Anmerkungen zur Diskussion um die Nachfolge Gustav Roethes. In: Wolfgang Bialas/Burkhard Stenzel (Hg.): Die Weimarer Republik zwischen Metropole und Provinz. Intellektuellendiskurse zur politischen Kultur. Weimar u.a. 1996, S. 57-70. Gerhard Schuster: Einleitung. In: Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hg. von Gerhard Schuster. Frankfurt a.M. 1985, Sp. 1-99. Jörg Schuster: »Kunstleben«. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes. Paderborn 2014. Joachim Seng: »Ein Bruder Goethes«. In: Joachim Seng: »Leuchtendes Zauberschloss aus unvergänglichem Material«. Hofmannsthal und Goethe. Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift. Frankfurter Goethe-Museum. 12. November 2001 bis 13. Januar 2002. Heidelberg 2001, S. 245-294. Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011. Klaus Weimar: Genie. In: Georg Braungart (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke u.a. Bd. I: A–G. Berlin, New York 2007, S. 701-703.

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Norbert Christian Wolf: »Hybrid wie die Dichtkunst«. Hofmannsthal und die Germanistik seiner Zeit. In: Stephan Kurz u.a. (Hg.): Der Dichter und sein Germanist. Symposium in Memoriam Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 2012, S. 131-154.

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»I can’t get no We don’t need no« Pop als Medium der doppelten Verneinungen und halbierten Absagen Gerhard Kaiser

I.

Pop-Musik als anschwellender Bockigkeitsgesang und als Feld der »Singularisierungs«-Avantgarde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Tatsächlich alles sagt nur ab, wer Hand an sich legt. Nicht von ungefähr hat Camus – der zwar vom Pop so recht noch nichts wissen konnte und der dennoch, bis hin zu seinem viel zu frühen Sportwagentod, so etwas wie einer der ersten Popstars der Philosophie gewesen sein mag – den Selbstmord als das einzige »wirklich ernste philosophische Problem« bezeichnet. Die »Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht«, sei »die Grundfrage der Philosophie«. »Alles andere«, so der französische Philosoph im Mythos von Sisyphos keinen Widerspruch duldend, »– ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien habe – kommt erst später. Das sind Spielereien.«1 Der Selbstmord ist, im wahrsten Sinne des Wortes, die ultimative Form der Absage, der performative Akt des – um hier die Formulierungen der Herausgeber aufzugreifen – »Nicht-Wollen[s]«, das Absagen allerdings nicht nur einer, sondern aller weiteren Möglichkeiten als ebenso verzweifelter wie »rebellische[r] Akt.«2 Vom Skandal einer solchen finalen Absage an das Leben erzählt auch Lukas Bärfuss’ 2014 erschienener Roman Koala. Der Bruder des Ich-Erzählers, eine Art postmoderner Bartleby, der sich im Laufe seines Lebens mit zunehmender Konsequenz allen Anforderungen einer postindustriellen Leistungsgesellschaft entzogen hat, begeht schließlich im Alter von 45 Jahren Selbst1 2

Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 9. Assmann/Kempke/Menzel/Zeh: CFP: Poetik der Absage.

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mord. »Das war«, so heißt es im Roman, »was man meinem Bruder und keinem Selbstmörder verzieh: Sie hatten endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert. Es gab [für die Zurückbleibenden; GK] nichts als den Ehrgeiz, den Fleiß, die Unterordnung unter die Arbeit, die Annahme dieser Strafe.«3 Nicht von ungefähr – um zum Pop zu kommen – erklingt bei der kümmerlichen Beerdigungszeremonie ein Song »aus der goldenen Ära der Rockmusik, ein Klassiker des Genres«4 , dessen Titel zwar ebenso wenig wie die Band genannt wird, aus dessen detaillierter Beschreibung indes eindeutig hervorgeht, dass es sich um Shine on you crazy diamond von Pink Floyd handelt:5 Dieser 1975 auf dem Album Wish you were here veröffentlichte Song handelt wiederum von dem frühen Prototypen des popmusikalischen Leistungsverweigerers, von dem Mitbegründer, Texter, Sänger und Gitarristen der Band, Syd Barrett, der nach seinen quasi-genialischen Anfängen – das erste, 1967 erschienene Album der Band besteht fast ausschließlich aus seinen Songs und Texten6 – angesichts konsequenter LSD-Einnahme »in den Wahnsinn geglitten und für die Musik verloren war, von dem aber die Eingeweihten wussten, dass er das wahre Genie und alles, was nach ihm folgte, bloß eine Kopie seines Universums war.«7 Ausgerechnet im Zuge jener ersten US-Tour im November 1967, die der englischen Band den globalen Durchbruch bringen sollte, mutiert Barrett vollends zum Wiedergänger des Melville’schen Absage-Stoikers, mit dem er bezeichnenderweise die ersten drei Buchstaben des Nachnamens gemeinsam hat: Bei Konzerten spielt er auf heruntergestimmter Gitarre in endloser Monotonie immer den gleichen Ton, bei Interviews in Fernsehshows verweigert er die Antworten und bei den betriebsüblichen Playback-Einsätzen 3 4 5

6 7

Bärfuss: Koala, S. 177. Ebd., S. 175. Pink Floyd: Shine on you crazy diamond. Der vom Bassisten und Sänger der Gruppe, Roger Waters, geschriebene Text gibt sich an mehreren Stellen als späte, pathetische Hommage an das früh verglühte Gründungsmitglied zu erkennen, etwa, wenn Barrett in der ersten Strophe zur Legende und zum Märtyrer stilisiert wird: »Remember when you were young, you shone like the sun. Shine on you crazy diamond./Now there’s a look in your eyes, like black holes in the sky […]/You were caught in the crossfire of childhood and stardom, blown on the steel breeze/Come on you target for faraway laughter, come on you stranger, you legend, you martyr, and shine!« (ebd.). Zur BandMythologie gehört zudem die Erzählung, dass just während der Aufnahmen zu diesem Album ein kaum wiederzuerkennender, derangierter Syd Barrett in den Abbey RoadStudios erscheint (vgl. etwa Blake: The Albums, S. 230). Vgl. dazu Kaiser: English Wildness. Ebd., S. 175.

»I can’t get no We don’t need no«

bleibt er stumm und regungslos. Nick Mason, der Drummer der Band, erinnert sich an einen Auftritt vom 7. November 1967 im Rahmen der Show »American Bandstand«: Nachdem sich Syd langsam aber sicher auf die totale Katatonie zubewegte […] hatte man den Eindruck, dass er es geradezu darauf anlegte. Bei der Durchlaufprobe machte er einwandfrei die richtigen Mundbewegungen, bei der Aufnahme stand er dann teilnahmslos da und ignorierte den Regisseur mit seinem ›Okay, das ist jetzt die Aufnahme.‹ Also mussten Roger und Rick [der Bassist und der Keyboarder der Gruppe; GK] den (stummen) Gesangspart übernehmen, während Syd stumpf und düster ins Leere starrte.8 Kurzum: Barrett erteilt den Usancen des Pop-Betriebes dergestalt offensichtlich eine Absage, dass er für die Band untragbar wird, oder, um es wieder mit dem Erzähler aus Lukas Bärfuss’ Roman zu formulieren: [I]n seinem Wahnsinn [wurde; GK] er untauglich für den Ehrgeiz dieser jungen Männer, die mit ihrer Musik die Welt erobern wollten. Sie schlossen den Verrückten aus und heilten ihre Gewissensbisse mit der Erfindung einer Mythologie, in deren Zentrum der verlorene Sohn stand, der Pfeifer, der Seher, der Gefangene, wie er in diesem Lied genannt wurde […].9 Shine on you crazy diamond, in dem Barrett – darauf spielt das obige Zitat an – unter anderem als »seer of visions«, »piper« und »prisoner« adressiert wird,10 sollte dann übrigens zu dem erfolgreichen Signature Song aller späteren Pink Floyd-Konzerte werden. Dieses Zugleich von Absage, Verweigerung, Regelbruch auf der einen, Ehrgeiz, Mitmachen und Erfolgsstreben auf der anderen Seite, das sich hier in der Bandgeschichte von Pink Floyd verdichtet, diese für die Geschichte der englischen Band bezeichnende Dialektik, in deren Zuge die Teilabsage von einst zum erfolgreichen Bestandteil der eigenen, öffentlichkeitswirksamen Bandmythologie wird und die erfolgreiche Partizipation am kulturkapitalistischen Betrieb noch verfestigt, scheint mir nun beispielhaft für den dialektischen Charakter des Phänomens Popmusik überhaupt zu sein. Denn, versteht man mit dem Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen unter Pop-Musik jenen »Zusammenhang aus Bildern, Performances, (meist 8 9 10

Mason: Inside out, S. 95. Bärfus: Koala, S. 175-176. Pink Floyd: Shine on you crazy diamond.

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populärer) Musik, Texten und an reale Personen geknüpften Erzählungen, […] den man ungefähr seit der Mitte des letzten Jahrhunderts beobachten kann«,11 dann kann man die mehr als ein halbes Jahrhundert währende Geschichte dieses gesellschaftlichen Teilbereiches – zunächst und auf den ersten Blick – auch hören, sehen und lesen als die Geschichte eines anschwellenden Bockigkeitsgesanges. Dann erscheint Pop-Musik als massenmediales, gesellschaftlich institutionalisiertes und legitimiertes Feld, in dem mit großer öffentlicher Resonanz und Vorbildwirkung Strategien und Verhaltenslehren des Trotzes, der Verweigerung und der Absage eingeübt und proliferiert werden. Ein wenig zugespitzt könnte man sagen: Pop-Musik stellt den performativen Sprechakt der Absage auf Dauer. Die Adressaten dieser jugendkulturellen Absage-Kommunikation differenzieren sich im Laufe der Popgeschichte aus: Sie reichen von der Elterngeneration – wie in dem Song My Generation von The Who, in dem es heißt: »People try to put us down (Talkin’ ’bout my generation)/just because we get around/[…] Why don’t you all fade away/[…]I hope I die before I get old«12 – über die von der kapitalistischen Werbeindustrie erzeugten Illusionen und Befriedigungsrituale eben dieser älteren Generation, deren Unzulänglichkeit etwa das Sänger-Ich in Satisfaction von den Rolling Stones eine Absage erteilt: »When I’m watchin’ my tv and a man comes on and tells me/How white my shirts can be/But, he can’t be a man ’cause he doesn’t smoke/The same cigarettes as me/I can’t get no satisfaction«;13 über die defizitären, weil emotionale Verkrüppelungen erzeugenden Erziehungs- und Bildungsinstanzen, denen im Pink Floyd-Song Another Brick in the Wall, Pt. 2 ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt wird: »We don’t need no education/we don’t need no thought control/No dark sarcasm in the classroom/Teachers leave them kids alone«;14 über den Glauben an die Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft überhaupt, wie etwa in Anarchy in the U.K. von den Sex Pistols: »No future for you and me«;15 bis hin – und damit sei hier die Reihe wenigstens einiger Beispiele, die man jedoch ohne Not noch seitenweise fortführen könnte, beendet – schließlich zur nietzscheanisch inspirierten Absage an jedwedes transzendente Obdach bei den Doors: »Cancel my sub11 12 13 14 15

Diederichsen: Über Pop-Musik, S. XI. The Who: My Generation. The Rolling Stones: Satisfaction. Pink Floyd: Another Brick in the Wall Pt. 2. The Sex Pistols: Anarchy in the U.K.

»I can’t get no We don’t need no«

scription to the Resurrection«,16 heißt es in deren Song When the music’s over. So klingt das ›Bedecke deinen Himmel, Zeus‹ des Popzeitalters. I can’t get no, We don’t need no – Absagen im vehemenzsteigernden Modus der falschen Litotes auf der ganzen Linie also? Nicht ganz. Das historische Phänomen Pop-Musik ist dann doch komplexer, weil dialektisch. Oder, anders gesagt: Es gibt in der falschen Litotes, der doppelten Verneinung als tatsächlicher, nonkonformistischer Verneinung, zugleich die abschwächende, weil zustimmende Ironie der echten Litotes. Es macht den Kern der Pop-Musik aus, dass sie das vielfach beschworene »We don’t need no« (»wir brauchen dies oder das nicht«) niemals so richtig (hin-)kriegt. »We want the world, and we want it now« und »Music is your only friend until the end« heißt es denn auch schon im gleichen Song der Doors,17 in dem die zuvor formulierte, prometheische Absage nicht zuletzt auch von der gleichsam orgiastisch anschwellenden Musik performativ und permanent unterlaufen wird. Pop-Musik ist – in der Regel – Absage im performativen Modus der Zustimmung, oder, wie Diederichsen aufzeigt: Pop-Musik inszeniert […] Individualismen und Kollektivismen (zunächst) in Sprachen und Bildern, die der Artikulation von Zustimmung gedient haben. Verständliche, rhythmisch markante Lieder. Das wird sie trotz aller Verselbständigung, die sie seitdem durchgemacht hat, nie ganz los. Sie ist affirmativ, sie sagt Ja. Und will doch Nein sagen. I can’t get no. It ain’t me. Dieses Nein, das für sein Publikum als Ja rüberkommt, ist eine große Stärke der Pop-Musik. […] Eine freudige und daher ermutigende, freundliche Verneinung des Bestehenden zugunsten der Umstehenden. Die beiden ewig konkurrierenden Beschreibungen der Pop-Musik […] – großes glückliches Ja und große sarkastische Verweigerung – bilden eine Einheit: ein Nein im Modus des Ja und umgekehrt. Eine Weigerung, die nicht mit einer Party zutiefst verbunden wäre, ein riesiger eskapistischer Exzess jenseits von Raum und Zeit, der nicht vor einer bestimmten und konkreten Hässlichkeit Reißaus nähme, wären nicht satisfaktionsfähig. Dieser dialektische Kern ist aber auch eine Schwäche: Das Verhältnis kann sich z.B. leicht und unbemerkt umdrehen, die jeweilige Funktion von Ja und Nein ist schon im Genre angelegt, wird nicht von den einzelnen zu beurteilenden Gegenständen her entwickelt.18 16 17 18

The Doors: When the music’s over. Ebd. Diederichsen: Über Pop-Musik, S. XIII.

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Was Diederichsen hier, vielleicht ein wenig vage, als dialektischen Kern der Pop-Musik umkreist, lässt sich aus der Perspektive der neueren soziologischen Theorie historisch präziser auf den Begriff bringen: Unlängst hat Andreas Reckwitz in seiner vielbeachteten Studie Die Gesellschaft der Singularitäten die These entfaltet, dass in der Spätmoderne, das heißt ungefähr seit den letzten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts, ein alle Gesellschaftsbereiche durchdringender Strukturwandel stattgefunden habe. Ein Strukturwandel, »der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen«, die das Leben in der industriellen Moderne das Jahrhundert über geprägt habe, »ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen.«19 Der Aufstieg des Kulturkapitalismus, der Siegeszug der digitalen Medientechnologien sowie die postromantische Authentizitätsrevolution seien die drei wesentlichen spätmodernen Strukturmomente, die – angestoßen nicht zuletzt durch die wirkungsmächtige Counter Culture der 1960er und 1970er Jahre – einen postmaterialistischen Wertewandel in der neuen Mittelklasse, der um die Ideen von Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung kreist, zeitigten. Die historische Ironie dieses Strukturwandels, so kann Reckwitz zeigen, liegt nun gerade darin, dass diese geschichtlich einmalige Kulturalisierung und Singularisierung der Mentalitäten, der Lebens- und Arbeitsverhältnisse sich zugleich mit einer so nie dagewesenen Intensivierung der gesamtgesellschaftlichen Vermarktlichungstendenzen kreuzt. Als singulär kann nur die, der oder das gelten, was sich permanent auf einem hochkompetitiven Markt einem Publikum, einer Öffentlichkeit präsentiert. Motor dieses Singularisierungsschubes sind nun gerade jene creative industries wie die Werbung, die Kunst, die Musik, die Mode oder die Medien, deren Inszenierungen des Einzigartigen, Besonderen, Originellen und Authentischen zu Leitmodellen für die Kommunikation in allen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (bis hinein in die Gestaltung der privaten Sphäre) geworden seien. Als einen der historisch relevanten Geburtsorte des diese Prozesse nachhaltig mitbeschleunigenden »Jugendkulturkapitalismus«20 markiert Reckwitz unter anderem das London der 1960er und 1970er Jahre, mithin genau jene Metropole, in die – neben Kalifornien – zwischen 1965 und 1970 die Sattelzeit der Pop-Musik fällt.21 Aus dieser soziologischen Perspektive gewinnt 19 20 21

Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 11. Ebd., S. 115. Zur Applikation von Kosellecks Begriff der Sattelzeit auf die Popgeschichte der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vgl. Kaiser: »Make them vomit«, S. 186.

»I can’t get no We don’t need no«

der von Diederichsen beschriebene dialektische Kern der Pop-Musik, ihr strukturkonstitutives Zugleich von Absage und Zustimmung, ein konkreteres sozialgeschichtliches Profil. Pop-Musik (und mit ihr das hochkompetitive popmusikalische Feld) figuriert dann als eine Art Singularisierungs-Vorhut, als gesellschaftliches Trainingslager für das Unterlaufen von tradierten Erwartungen und somit als Katalysator für jene Individualisierungsprozesse, die dann später wieder, als routinisierte, in einen kulturalisierten Kapitalismus eingespeist werden können. Dass und wie Pop-Musik als Absage an die Wertvorstellungen der industriellen Moderne inszeniert wird, zugleich aber das Transformationsmedium für den gleitenden Übergang westlicher Gesellschaften in einen spätmodernen Kulturkapitalismus ist, soll nun an einem Beispiel aus der Formationsphase des von Reckwitz diagnostizierten Strukturwandels gezeigt werden.

II.

»You can count me out…and in«: Die Beatles und die große Kunst des Jeins

Wenn der kreativindustrielle Komplex der gegenkulturell sich gerierenden Pop-Musik eines der Beschleunigungszentren des von Reckwitz beschriebenen Strukturwandels gewesen ist, dann erscheint ein genauerer Blick auf die Beatles unumgänglich, ist es doch zweifellos die Band aus Liverpool, die – zumindest in der Sattelzeit der Pop-Musik-Geschichte zwischen 1965 und 1970 – im Zentrum wiederum der Pop-Musik steht. Beispielhaft lässt sich deshalb auch sowohl der von Reckwitz beschriebene Strukturwandel, mithin das Umschalten von einer standardisierend-normierenden Logik der industriellen Moderne auf eine singularisierende, die Abweichung prämierende Logik der kulturkapitalistischen Spätmoderne, wie auch der von Diederichsen diagnostizierte dialektische Kern der Pop-Musik an der Geschichte der Band beobachten. Wie kein Pop-Ensemble vor ihnen verkörpern und perfektionieren die Beatles die für die Pop-Musik konstitutive, große Kunst des Jeins. Am Anfang und im Zentrum steht eine der popgeschichtlich vielleicht bedeutendsten Absagen, nämlich die öffentlich lancierte Weigerung der Band, weiterhin Live-Auftritte zu absolvieren. In Zukunft – so ließ die Band im August 1966 verlauten – »they would prefer not to« und erteilte damit öffentlichkeitswirksam den auf getaktete Präsenz setzenden Zumutungen der industriellen Moderne (zunächst) eine entschiedene Absage. Ermüdet und verschlissen von der zwischen 1963 und 1966 massenmedial erzeugten und nahezu weltweit wirk-

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samen ›Beatlemania‹, das heißt von der unablässigen, den Erfordernissen des Marktes geschuldeten Album-Tournee-Album-Routine, den kreischenden und ihren Idolen zusetzenden Teenagern vor, während und nach den Konzerten und von dem eigenen, massenkompatiblen ›moptop‹-Image, beschließt die Gruppe nach einem der damals handelsüblichen halbstündigen Konzerte vor 25.000 Zuschauern im Candlestick Park von San Francisco am 29. August 1966 ihre Karriere als Live-Band zu beenden. Fun war ein Stahlbad geworden: »I reckon we could send out four waxwork dummies of ourselves and that would satisfy the crowds. Beatles concerts are nothing to do with music anymore. They’re just bloody tribal rites«,22 so John Lennon despektierlich. »Niemand konnte mehr etwas hören«, so kommentiert auch George Harrison diese weltweit mit Fassungslosigkeit aufgenommene Absage an die Standardisierungsmechanismen des Pop-Rituals ganz ähnlich, »es war nichts weiter als ein übler, gewaltiger Tumult. Als Musiker wurden wir immer schlechter. Jeden Tag spielten wir den gleichen alten Mist. Nein, darin lag überhaupt keine Befriedigung mehr.«23 Im von Harrison verwendeten Begriff der »Befriedigung« vibriert jener Mentalitäts- und Strukturwandel bereits mit, den Reckwitz für diese Phase diagnostiziert, artikuliert sich in ihm doch ein ästhetischer Sinnes- und Imagewandel, der statt auf eine quasi-fordistische, das heißt routinisierte, aber gut bezahlte Akkord-Arbeit auf eine kreative (und ökonomisch riskantere) Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung setzt. Der von Diederichsen als Kennzeichen der Pop-Musik bestimmten Dialektik ist es wiederum geschuldet, dass auch eine solche Teilabsage an die standardisierten Erwartungen der Öffentlichkeit nicht das letzte Wort der Beatles bleibt und deshalb zugleich mit großem Öffentlichkeitsbezug auf den nächsten beiden regulären Studio-Alben der Beatles, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band und The Beatles (bekannter als das White Album), musikalisch, textlich und verpackungsstrategisch in Szene gesetzt wird. Dass es sich beim ersten Studio-Album der Beatles nach ihrer Absage aller künftigen Live-Auftritte um eines handelt, dass die Aufführung eines Live-Konzertes durch eine fiktive Alter-Ego-Band simuliert, ist nur eine jener musikalischen Paradoxien,24 die 22 23 24

Lewisohn: The Complete Beatles Chronicle, S. 210. Zitiert nach Kemper: The Beatles, S. 77. Das Nebeneinander und Zugleich von dezidierter Absage an eingeschliffene, popmusikalische Hörgewohnheiten und deren (bisweilen ironischer) Übererfüllung prägt auch das musikalische Gesamterscheinungsbild der LP, deren Spektrum von fernöstlich tingierten, rhythmisch komplexen Stücken (Within You Without You) und avantgardistischen, an Stockhausen und Ligeti erinnernden Sound-Experimenten (die or-

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das pop-konstitutive Oszillieren zwischen Nein und Ja hörbar werden lässt.25 Auch textlich changiert Sgt. Pepper zwischen Absage und Bejahung, wenn es immer wieder den generationenbedingten, historischen Abgrund zwischen einer älteren, traditionellen, noch von der industriellen Moderne geprägten Lebensweise und einer neuen, auf immaterielle Werte und Selbstverwirklichung gleichermaßen setzenden Spätmoderne ausleuchtet. Der für dieses oppositionell strukturierte Gesamtnarrativ zentrale, weil programmatischste Song ist George Harrisons Within You Without You, der – an dramaturgisch gewichtiger Position – die zweite Seite des Albums eröffnet: Der dreistrophige Songtext entwirft das Szenario einer nicht näher charakterisierten Gesprächsrunde (»we were talking«), deren Fragen um das Thema der Vereinzelung und Einsamkeit kreisen: »We were talking – about the space/between us all/[…] We were talking about the love that’s/gone so cold«,26 heißt es dort. Diese Einsamkeit, so die Diagnose des offensichtlich initiierten ›Wir‹, sei das

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chestralen Crescendo-Passagen in A Day in the Life) auf der einen Seite bis zu melodiösem Mitsing-Pop (With a Little Help from my Friends) und gefälligem Salonjazz (When I’m Sixty-Four) auf der anderen reicht. Wiederholt und weitgehend unwidersprochen hat Paul McCartney die Grundidee, das Konzept des Albums, für sich reklamiert. Diese Grundidee ist folgende: Insinuiert wird, dass wir, die Hörer, für knapp 40 Minuten dem Live-Konzert einer fiktiven, irgendwie feuerwehr- oder blaskapellenähnlichen Band, eben der Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, beiwohnen, die ihren regulären Set mit dem Titelstück, in dem sie sich selbst vorstellen, eröffnen (extradiegetische Ebene), die dann (intradiegetische Ebene) zehn Songs (in einer für eine herkömmliche Unterhaltungskapelle freilich immens vielseitigen, weil musikalisch ein breites Spektrum von Genres und Stilen abdeckenden Weise) darbietet, um dann in einer Reprise des Titelsongs (Rückkehr zur extradiegetischen Ebene) das reguläre Konzert zu beenden (das mit ca. 30 Minuten Dauer tatsächlich den damals üblichen Standard eines Beatles-Konzertes reproduziert), und schließlich mit einer Zugabe (A day in the life) zu schließen. Durch die Verschachtelung der ›Erzählebenen‹ (die Beatles schicken sozusagen die Sgt. Pepper-Band vor, die dann wiederum weitere ›Erzähler‹, etwa den crooner Billy Shears in With a little help, in deren Erzählwelten begleitet) entsteht ein relativ komplexes fiktionales Geflecht, das – zusammen mit der eklektizistischen high-and-low-Stilmischung der übergangslos ineinander geblendeten Stücke – in der Summe jenes postmoderne Artefakt ergibt, das Leslie Fiedler vorgeschwebt haben mag, als er seine Forderung nach einer grundlegenden, kulturellen Grenzüberschreitung zwischen den ›hohen‹ und den populären Kunstformen erhob. Vgl. Fiedler: Cross the Border – Close the Gap. The Beatles: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Auf der Rückseite dieser Jubiläumsedition sind – wie auch bei der Originalausgabe – die Texte der Songs abgedruckt. Die folgenden Zitate aus Songs dieser LP stammen ebenfalls aus dieser Quelle.

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Resultat des Verhaltens jener Leute (hier kommen die ›anderen‹ also ins Spiel), »who hide themselves/behind a wall of illusion/Never glimpse the truth – then it’s far/too late – when they pass away« und »who gain the world and lose their soul«. »[A]re/you one of them?«, so wendet sich das Sprecher-Ich, gleichsam aus dem Szenario heraustretend, unmittelbar an den Hörer. Oder gehörst du zu uns, so könnte man diese Frage auch fortschreiben, das heißt zu jenen, die nicht nur der Diagnose zunehmender gesellschaftlicher Vereinzelung fähig sind und ihr zustimmen, sondern auch über das entsprechende Therapieangebot verfügen. Da die Vereinzelung, die Individuation lediglich eine Täuschung – ein Schleier der Maya, wie es etwa bei Schopenhauer im Anschluss an die »uralte Weisheit der Inder«27 heißt – sei, die auf dem Verkennen der wahren Alleinheit (»we’re all one, and life flows on within/you and without you«) allen Lebens beruhe, könne sie auch überwunden werden: Nämlich in dem und durch das die Weltwahrnehmung erweiternden und vertiefenden, die Vereinzelung auflösenden Medium der Liebe: »With our love – we could save the world«. Einziges Problem (hier greift wieder das oppositionelle Narrativ): » – if they only knew.« In dieser hier philosophisch-abstrakt ausgeleuchteten ›Wir‹-›sie/die anderen‹-Opposition manifestiert sich nicht nur und ausschließlich ein zeitspezifischer Generationenkonflikt, sondern auch ein historischer Abgrund zwischen einer älteren, traditionellen, noch von der Nachkriegszeit geprägten Lebensweise und einer neuen, auf immaterielle Werte und Selbstverwirklichung gleichermaßen setzenden. Die narrative Grundstruktur des gesamten textlichen Pepper-Universums wird konfiguriert von dieser Absage an die trostlose Welt diesseits der Pforten einer durch Musik, Liebe oder Drogen erweiterten Wahrnehmung, in dem die philiströsen Anderen ihr Dasein im Modus der Uneigentlichkeit fristen. Diese Welt wird in den Texten schemenhaft aufgerufen und anhand der üblichen gesellschaftlichen Repräsentanten der alten Lebensweise illustriert: der Lehrer im Song Getting better (»I used to get mad at my school/The teachers that taught me weren’t cool/You’re holding me down, turning me/round/Filling me up with your rules«); der schockierten Eltern, deren Tochter, »after living alone/for so many years«, im TeenagerMinidrama She’s leaving home von zu Hause wegläuft (»We gave her most of our lives/[…]Sacrificed most of our lives/We gave her everything money could buy«/[…] Why would she treat us so thoughtlessly«); der Ordnungshüterin in 27

Schopenhauer: Die Welt als Wille, S. 37.

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Gestalt einer Strafzettel schreibenden Politesse, Lovely Rita, deren Schultertasche »made her look a little like a military man«; der pedantisch-kleinbürgerlichen Bürokraten, die, wenn sie nicht gerade die 4.000 sehr kleinen Straßenlöcher in Blackburn, Lancashire (A day in the life) zählen,28 von ihrer Partnerin eine präzise formulierte, schriftliche Bestätigung verlangen, dass sie sie auch mit 64 noch brauchen und füttern werden (When I’m Sixty-Four); und schließlich all die Vorstadtzombies, die in Good Morning Good Morning von der Früh bis zum Fünf-Uhr-Tee somnambul im Hamsterrad einer ereignislosen Alltagsroutine leerlaufen: »Everybody knows there’s nothing doing/everything is closed it’s like a ruin/Everyone you see is half asleep./And you’re on your own you’re on the street«. Allerdings: In der Pepper-Welt der Beatles wächst das Rettende, das aus dem Nein dann zumindest wieder ein Jein macht, doch auch. Denn neben die eingedunkelte Diagnose einer abzulehnenden Lebensweise der Uneigentlichkeit tritt ein Spektrum von Therapieangeboten, deren wahrnehmungserweiternde Medien zumindest der Möglichkeit nach einen Sprung in eine neue, authentischere Lebensweise erlauben: Von der Musik selbst, über ein durch Drogen erweitertes Bewusstsein bis hin zur Liebe in ihrer transzendenten, uneigennützigen Gestalt der agape (Within you Without you), der freundschaftlichen Liebe, der philia (With a little help from my friends) und schließlich der Liebe in ihrer erotischen Spielart: »I’d love to turn you on« heißt es schließlich im Song A Day in the life. Dieses Zuwendung signalisierende Schlusswort des gesamten Albums war für die BBC immerhin anzüglich genug, um dann wiederum den Beatles eine Absage zu erteilen und den Song auf den Index zu setzen. Abschließend soll nun aber noch ein genauerer Blick auf den verpackungsstrategischen Aspekt jener popspezifischen Paradoxie geworfen werden, die sich in den Beatles so beispielhaft verkörpert. Die musikalische und textliche Selbstverkunstung, die die Beatles in ihrer Spätphase durchlaufen, wird eingebettet und im wahrsten Sinne des Wortes verpackt in einen Imagewandel, der vor allem durch die Gestaltung der entsprechenden Album-Sleeves inszeniert wird. Zurecht warnt der Poptheoretiker (und 28

»And though the holes were rather small/They had to count them all/Now they know how many holes it takes/to fill the Albert Hall«, so wird das gleichsam Beckett’sche Unterfangen der Bürokraten beschrieben, ein Unterfangen, dem dann zu allem Überfluss doch noch so etwas wie bildungsbürgerliche Weihen (»Albert Hall«) erteilt werden.

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-musiker) Brian Eno davor, die Aspekte des Images und der Verpackung, verstanden etwa als bloße Zugabe zum Eigentlichen, zu einer wie auch immer als authentisch gedachten Substanz, zu unterschätzen: »[O]ne of the messages of pop culture is that you can’t usually seperate them: image is constantly turning into substance, and vice versa. The package is part of the contents.«29 Die große Kunst des Jein, die die Beatles beispielhaft für das Phänomen Pop-Musik überhaupt ausagieren, wird nirgends augenfälliger als in den Album-Sleeves der Jahre 1967 und 1968. Allerdings soll es an dieser Stelle nicht noch einmal um die mittlerweile in die Kunstgeschichte eingegangene Verpackung des Pepper-Albums gehen.30 Denn die Selbstverkunstung im Populären, die eine ironische, die eigene künstlerische Souveränität ausstellende Absage an die Regeln und Funktionsweisen der Popkultur zugleich mit deren Bejahung verbindet, findet einen noch deutlicheren (und paradoxeren) Ausdruck in der Verpackung des Pepper-Nachfolgers; jenes 1968 erschienenen Doppelalbums, dessen eigentlicher, ebenso schlichter wie Bedeutsamkeit anzeigender Titel relativ schnell durch das vom Pop-Art-Künstler Richard Hamilton gestaltete Album-Sleeve außer Kurs gerät: Aus The Beatles wird das White Album, das Weiße Album. Plakativer noch als bei Sgt. Pepper fällt hier sowohl die kunstanzeigende Verweigerungsgeste als auch deren Zurücknahme aus. Das vollständig in Weiß gehaltene Cover weist – allerdings erst bei näherer Betrachtung – in der Mitte den in Blindprägung und wie beiläufig angeschrägt platzierten Titel »The Beatles« sowie rechts unten eine fortlaufend aufgedruckte Seriennummer des jeweiligen Exemplars auf. Die Innenhülle listet auf der linken Seite die Titel der Kompositionen auf und präsentiert auf der rechten Seite vier Einzelportraits der Musiker. Dass die Musiker hier – gegenläufig zum Corporate Identity suggerierenden Bandnamen – einzeln (sowie mit für Beatles-Verhältnisse vergleichsweise ernsthafter Mimik) und nicht als Gruppe portraitiert werden, mag durchaus auch als Indikator für den sich seit 1967 beschleunigenden Zerfalls- und Singularisierungsprozess innerhalb der Band gelesen werden können. Doch zurück zur Außenhülle: »I proposed to Paul Mc Cartney that he should have a white sleeve to the new album«, so Hamilton, »because sleeves in general were getting a bit hyperactive, espe29 30

Eno: Edges and Center, S. 212. Vgl. dazu die vorzügliche Analyse von Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Auch die folgenden Ausführungen stützen sich vornehmlich auf Grasskamps Untersuchung.

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cially Sergeant Pepper.«31 Das Bedeutungsspektrum der Hülle ist jedoch mit diesem distinktionslogischen Effekt inmitten der kunterbunten Psychedelia noch nicht erschöpft. Die an die Kulturindustrie und an die Fans gerichtete, doppelte Absage, in den Bahnen eines einmal eingeschliffenen Images etablierte Erwartungen zu erfüllen, die die Beatles bereits mit der Verweigerung weiterer Live-Konzerte inszenierten, wird hier zunächst noch radikalisiert. Das Cover des Weißen Albums inszeniert in aufmerksamkeitsträchtiger Weise die völlige Bildverweigerung und unterläuft damit sowohl die gesichts- bzw. personenfokussierten Distributionsrituale der Popindustrie als auch die Erwartungen der Fans. Das fanbezogene Desillusionierungspotenzial der Hülle wird durch die aufgedruckte Seriennummer noch potenziert. Missversteht man sie nicht als Insignie einer Exklusivität suggerierenden Limitationspraxis (was angesichts der Auflagenzahl der in Umlauf gebrachten LPs unsinnig wäre), dann enthüllt die aufgedruckte Nummer ungefiltert die Warenförmigkeit des Kunstproduktes, das der Fan gekauft hat und nun in Händen hält. Diese augenfällig gemachte Produkthaftigkeit bricht nun aber nachhaltig gerade mit jenen ungeschriebenen Regeln der Popkultur, die das Verhältnis zwischen Produzent und Rezipient, zwischen Star und Fan als Projektionsfläche für ein Nähe- und Wärmeverhältnis inszeniert. Mitten im vermeintlich unmittelbaren Anspracheverhältnis des From me to you, das gerade die frühen Beatles wie kaum eine zweite Band in Szene zu setzen verstanden, reckt also auf dem Cover des Weißen Albums die kulturindustrielle Vervielfältigungsinstanz ihr hässliches Haupt. Die Seriennummer legt die Warenförmigkeit des populärkulturellen Verwertungskreislaufs offen und macht aus dem Fan, der eine individuelle Ansprache imaginiert, einen nummerierbaren Kunden unter Millionen. Aus kulturkritischer Perspektive ließe sich dies als ein Akt der subversiven Affirmation der Warenhaftigkeit von Popmusik lesen. Allerdings – und dies ist wiederum bezeichnend für das paradoxale Zugleich der Beatles-Inszenierung, für das Vermögen der Gruppe, sich den Regeln der Kulturindustrie zu verweigern (hier sozusagen durch deren Übererfüllung) und gleichzeitig die Bedürfnisse des populärkulturellen Feldes zu bedienen – wird auch diese radikale Bildverweigerung im Gesamtverpackungskontext wieder zurückgenommen, wird die doppelte Verneinung an Fan und Industrie wieder in eine halbierte Absage transformiert: Was nämlich das Cover vehement verweigert, liefert dann sein Inneres umso üppiger. Findet man doch dort als Beilage und als Konzession an popkulturelle 31

Zitiert nach ebd., S. 69.

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Bedürfnisse vier einzelne, aufwändig gedruckte Farbfotografien der Musiker in DIN-A4-Größe. Die Initiative zu dieser weihebildartigen Beilage ging nicht von Hamilton aus, sondern von den Beatles selbst oder – das ist nicht mehr zu rekonstruieren – von ihrer Plattenfirma EMI. Vom Inneren des Albums aus darf sich dann der Fan schließlich doch wieder ein Bildnis machen von jenen Akteuren, deren ebenfalls zwischen sperrigem Kunstanspruch und mitsingfähigem Kommerz changierendes Hörgut sich auf seinem Plattenteller dreht. Dieses dialektische Spiel aus Verweigerung und Präsenz, Absage und Zustimmung, kurzum: das große Jein des Pop, spiegelt sich dann auch auf der Mikroebene des Albums wider: Wenn Revolutionen die gewaltsamen Absagen an das Bestehende sind, dann gibt der Song Revolution 1, der die vierte Seite des Albums eröffnet, auf die Gretchenfrage der linksbewegten Jahrzehnte – wie hältst du es mit der Gewalt? – eine äußerst zwiespältige Antwort: »If you’re talkinʼ about destruction/don’t you know that you can count me out«, singt John Lennon zunächst, um dann sogleich noch ein »in« anzufügen.32

III.

Kurzer Abgesang

Dass, wie T.S. Eliot vermutete, die Dinge nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln zum Ende kommen, gilt – zumindest aus einer skeptischeren Optik – auch für die Geschichte der Pop-Musik: Dass sie sich in der durchkulturalisierten Spätmoderne gleichsam zu Tode gesiegt hat und in Zeiten der freundlichen Übernahme durch jene, gegen die man einst ansang, noch ihre halbierten Absagen obsolet geworden sind, ließ sich unlängst etwa im mittlerweile dem Springerkonzern angehörigen Zentralorgan des popmusikalischen Feldes, dem Rolling Stone, beobachten. In der Maiausgabe des Jahres 2018 inszeniert sich die bisher in Sachen Pop eher unverdächtige Supermarktkette Lidl anlässlich der Eröffnung der alljährlichen PopfestivalSaison als »[i]hre Survival-Station bei Rock am Ring & Rock im Park« und garantiert in einer ganzseitigen Anzeige die »Vollversorgung« der Festivalbesucher mit »Melonen, Bananen und anderen leckeren Obstsorten [sowie mit; GK] Hygiene-Essentials wie Toilettenpapier und Kondomen [und; GK] Frühstücksbrötchen«. Dies, so die Versicherung der Anzeige, die als »Fun Facts« 32

The Beatles: Revolution 1. Zum »›out/in‹-Dilemma« vgl. MacDonald: Revolution in the head, S. 280-286.

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gleich noch die Liter- und Kilomengen der bisher verkauften Produkte präsentiert, sei »[a]lles für die ›Crew‹«, wie Lidl die Besucher und ihre Freunde nennt (vgl. Abb. 1).33 Wir können also unbesorgt sein, und ein unterversorgter Schelm nur mag derjenige sein, der dies noch als subversive Affirmation lesen kann.

Abb. 1  Lidl-Werbung im Rolling Stone

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Art.: Lidl-Rockshop, S. 7.

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Literaturverzeichnis Art.: Lidl-Rockshop. Ihre Survival-Station bei Rock am Ring & Rock im Park. In: Rolling Stone 283 (Mai 2018), S. 7. David-Christopher Assmann/Kevin Kempke/Nicola Menzel/Miriam Zeh: CFP: Poetik der Absage. Semantische, rhetorische und mediale Dimensionen einer sozialen Praktik. Workshop am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt a.M., 28. und 29. Juni 2018. https://networks.h-net.org/node/79435/discussions/18 7889/cfp-poetik-der-absage-semantische-rhetorische-und-mediale [Stand 25.08.2019]. Lukas Bärfuss: Koala. 2. Auflage. München 2016. Mark Blake: The Albums. In: Pink Floyd. Their Mortal Remains. Hg. von Victoria Broackes und Anna Landreth Strong. London 2017, S. 147-306. Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Übersetzt von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch. Hamburg 1988. Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Köln 2015. Brian Eno: Edges and Center. In: Anton Corbijn: everybody hurts. Hg. von der Kestner Gesellschaft Hannover. Schirmer/Mosel, S. 212-224. Leslie A. Fiedler: Cross the Border – Close the Gap. In: Playboy 12 (1969), S. 151, S. 230, S. 252-254 und S. 256-258. Walter Grasskamp: Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur. Berlin 2004. Gerhard Kaiser: »Make them vomit«. Heroin von The Velvet Underground. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 46 (2016), H. 2: 8 Lieder – Pop und Philologie, S. 183-200. Gerhard Kaiser: English Wildness. Pink Floyd: The Piper at the Gates of Dawn. In: Gerhard Kaiser/Christoph Jürgensen/Antonius Weixler (Hg.): Younger Than Yesterday. 1967 als Schaltjahr des Pop. Berlin 2017, S. 52-69. Peter Kemper: The Beatles. Stuttgart 2007. Mark Lewisohn: The Complete Beatles Chronicle. London 1992. Ian MacDonald: Revolution in the head. The Beatles Records And The Sixties. Third Revised Edition. London 2008. Nick Mason: Inside out. Mein persönliches Porträt von Pink Floyd. Übersetzt von Martina Tichy, Franca Fritz, Heinrich Koop. Schlüchtern 2005. Pink Floyd: Another Brick in the Wall Pt. 2. 1979: Harvest HAR 5194. Pink Floyd: Shine on you crazy diamond. Auf: Wish You Were Here. 1975: EMI Harvest SHVL 814.

»I can’t get no We don’t need no«

Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a.M. 2017. The Beatles: Revolution 1. Auf: The Beatles. 1968: Apple Records. The Beatles: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band [1967]. 2 LP Edition. 2017: EMI Records. The Doors: When the music’s over. Auf: Strange Days. 1967: Elektra EKS-74014. The Rolling Stones: Satisfaction. 1965: Decca DL 25 200. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1991. The Sex Pistols: Anarchy in the U.K. 1976: EMI 2566. The Who: My Generation. 1965: Brunswick Records 05944.

Abbildungsnachweis Abb. 1: »Lidl-Werbung im Rolling Stone«: Art.: Lidl-Rockshop. Ihre Survival-Station bei Rock am Ring & Rock im Park. In: Rolling Stone 283 (Mai 2018), S. 7.

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Der Gegenwart eine Absage erteilen Formen der Absage im literarischen und  nicht-literarischen konservativen Diskurs Hauke Kuhlmann

I.

Von Reaktionen und Inszenierungen: Der Konservatismus und die Absage

Im usuellen Sprachgebrauch ist konservativ, wer an Althergebrachtem festhält und dieses gegen das Neue verteidigt. Das geht oft mit einer Selbstpositionierung konträr zur gegenwärtigen Lage einher, die diesem Althergebrachten nicht (mehr) zu entsprechen scheint. Man denke nur an den politisch etablierten, populistischen Konservatismus der AFD und an die sich gemäßigter gebende ›WerteUnion‹ innerhalb der CDU/CSU, die sich einen neuen Konservatismus auf die Fahnen schreibt, die der Immigrations-, Flüchtlings, Familien- und Wissenschaftspolitik der letzten und der gegenwärtigen Regierung entschieden widerspricht und die Rückbesinnung auf christlich fundierte Werte fordert. Auf Seiten des publizistisch agierenden Konservatismus wäre Ulrich Greiners umfangreicher Essay Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen von 2017 zu nennen, der der Gegenwart eine abschlägige Antwort erteilt. Bei Greiner bedeutet das unter anderem eine Verabschiedung der Idee des ›Multikulturalismus‹ und stattdessen eine Hinwendung zur Idee einer »deutsche[n] kulturelle[n] Identität«.1 Die Affinität des konservativen Denkens zur entschiedenen Kritik an der jeweiligen Gegenwart tritt schon an seinen historischen Ursprüngen zutage. Gleich, ob man es als Abwehr der societas civilis gegen ihre Auflösung seit dem 16. Jahrhundert, als Antwort auf die Aufklärung und ihr naturrechtliches Denken, als Reaktion auf die Französische Revolution oder als Gegen1

Greiner: Heimatlos, S. 48.

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bewegung zum bürgerlichen Kapitalismus versteht:2 In jedem Fall hat es seinen Ort jeweils in einer zunehmend dynamisch werdenden Welt, in der sich die Bedingungen des sozialen und kulturellen Lebens der Beteiligten schleichend oder abrupt in Richtung Moderne verändern.3 Konservative Diskurse sind stets Krisenphänomene, die auf diese Veränderungen reagieren, indem sie sie kritisch reflektieren. Sie versuchen dasjenige am status quo aufrechtzuerhalten, was sich aus konservativer Sicht bewährt hat,4 und reagieren auf die Veränderung der Zustände mit dem Hinweis auf deren historische Ursprünge. Einen jetzt immerhin als möglich erscheinenden Bruch mit diesen Ursprüngen und sich aus ihnen speisenden Traditionen gilt es zu verhindern. Ein solcher Bruch würde die, um in den historischen und bis heute gebrauchten Metaphern zu sprechen, geschichtlich ›organisch-gewachsenen‹ Zustände, die sich gerade aufgrund dieser naturhaften ›Gewachsenheit‹ historisch bewährt haben, nicht erhaltend modifizieren, sondern unangemessen, nämlich ›revolutionär‹ verändern und durch etwas ›Gemachtes‹ ersetzen.5 2

3

4 5

Wenn hier von ›Konservatismus‹, ›konservativem Denken‹ oder ›konservativem Diskurs‹ die Rede ist, dann soll damit nicht versucht werden, den Konservatismus in welcher Weise auch immer zu essentialisieren, sein »Wesen« letztgültig festzulegen (Hohendahl/Schütz: Perspektiven, S. 14) oder ihn als anthropologische Konstante auszugeben. Zur Geschichte des Konservatismus und des ihn kennzeichnenden ›Denkstiles‹ (Mannheim) vgl. ›klassische‹ Arbeiten wie Mannheim: Konservatismus und Kondylis: Konservativismus. Vgl. des Weiteren Schoeps: Konservativismus. Zum deutschen Konservatismus der Nachkriegszeit vgl. Liebold/Schale: Neugründung und (im Vergleich mit dem Amerikanischen Konservatismus) Hohendahl/Schütz: Perspektiven. Zum Konservatismus und der Neuen Rechten vgl. Weiß: Die autoritäre Revolte. Zu den in historischer Perspektive wiederkehrenden Argumentationsstrategien reaktionärer und konservativer Diskurse vgl. Hirschman: Denken gegen die Zukunft. Einen neuen Ansatz zur Identifizierung und Analyse (politisch) konservativer Inhalte bietet Müller: Comprehending conservatism. Schoeps erklärt das konservative Denken mit einer »Veränderung der Lebensgrundlagen«, die »ins Bewußtsein getreten« sei (Schoeps: Konservativismus, S. 12). Mannheim führt es darauf zurück, dass »die moderne Welt dynamisch geworden« sei (Mannheim: Konservatismus, S. 109). Dass es sich dabei nicht nur um Gegentendenzen zu den je unterschiedlichen Effekten von einsetzenden oder sich mit voller Wucht vollziehenden Modernisierungsprozessen handelt, sondern dass sie diesen gerade inhärent sind, hat Claus Michael Ort betont: »Die ›Moderne‹ inkludiert somit paradoxerweise immer schon ihre Kehrseite, ihren ›konservativen‹ Antagonisten« (Ort: Literarischer ›Konservativismus‹, S. 38). Vgl. Mannheim: Konservatismus, S. 119-120. Zu diesem Unterschied zwischen ›Machen‹ und ›Wachsen‹ vgl. die prägnanten Ausführungen in Schoeps: Konservativismus, S. 15. Dieses negative Verständnis des (mensch-

Der Gegenwart eine Absage erteilen

Der Konservatismus reagiert im ursprünglichen Wortsinne: Er wirkt Bestrebungen entgegen, die Bestehendes bedrohen, indem sie es verändern wollen.6 Noch heute reagiert er auf sich abzeichnende oder sich gerade mit voller Wucht vollziehende Umbrüche und ist in dieser Sicht durchaus zeitdiagnostisch.7 Er ist von Beginn an auf das bezogen, was er ablehnt. Diese Struktur hält sich bis heute durch und lässt fragen, ob es überhaupt einen Konservatismus ohne Krise geben kann, ob sich sinnvoll von Konservatismus ohne Gegner sprechen lässt, von dem er sich abgrenzt und auf den er kritisch reagiert. Karl Mannheim hat diese Struktur für den Zusammenhang von Konservatismus und Progressismus beschrieben: Der Unterschied zwischen »konservativen« und »progressiven« Elementen der Gegenwart besteht hauptsächlich darin, daß in einer progressiven Welt das Konservative nicht tragend, originär schöpferisch, sondern in dem Sinne »reaktiv« ist, als es seiner Selbst erst als Antithesis (und zwar in Antithese zum Neuen) bewußt wird, und erst in dieser Form schöpferisch werden kann.8 So wie der Konservatismus an die Krise, die ihn hervorruft, gebunden bleibt, so bleibt er auch an die Form seiner Reaktion auf diese Krise gebunden. Der Konservatismus erhält sich durch seine Kritik und Absage, die er seiner jeweiligen Gegenwart erteilt. Vor allem in der jüngsten Gegenwart hat sich gezeigt, dass er Abzusagendes voraussetzt, um sich durch seine Kritik zu definieren und sich in der Öffentlichkeit, deren Diskurse anders funktionieren mögen, als es dem Konservativen zusagt, bemerkbar zu machen. Auch gelingt es ihm hierdurch, sich von anderen Positionen zu unterscheiden oder gar eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, in der der Gegner des Konservatismus zum gemeinsamen Gegner aller an dieser Gegenöffentlichkeit Beteiligten erklärt

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lichen) ›Machens‹ lässt sich in Sachen Konservatismus bis zur »Rechtsauffassung der societas civilis« zurückverfolgen: »Das Recht wird nicht gemacht und läßt sich auch überhaupt nicht machen, es ist einfach« (Kondylis: Konservativismus, S. 65). Zu dem von der Forschung immer wieder hervorgehobenen »reaktiven Charakter« des Konservatismus vgl. jüngst Bartels: Sprache und Ideologie, besonders S. 218-219 (das Zitat auf S. 218). Zur kritischen Diskussion des Versuches, den Konservatismus als Reaktion (vor allem auf den aufklärerischen Rationalismus und die Französische Revolution) zu verstehen vgl. Kondylis: Konservativismus, S. 16-17. Vgl. auch Hohendahl/Schütz: Perspektiven, S. 14. Mannheim: Konservatismus, S. 71. Vgl. dort auch S. 125. Zu solchen dialektischen Verflechtungen vgl. auch Greiffenhagen: Dilemma, S. 62-70.

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wird. Dabei richtet sich die Kritik des gegenwärtigen Konservatismus nicht alleine gegen einzelne im öffentlichen Diskurs formulierte und politisch umgesetzte Vorhaben und Haltungen, sondern auch gegen die diskursiven Voraussetzungen selbst, die solche Vorhaben und Haltungen erst hervorbringen, begünstigen oder durchsetzen. Sie richtet sich gegen die »linke Meinungsvorherrschaft«,9 von der der CSU-Politiker Alexander Dobrindt gesprochen hat, und die, wie es Ulrich Greiner formuliert, »linksgrüne ›kulturelle Hegemonie‹«.10 Eine solche behindere, so die Kritik, die öffentliche Artikulation von abweichenden Meinungen zu sozialen, politischen und kulturellen Themen. So würden nach Greiner die »Leitmedien, von den tonangebenden Zeitungen bis hin zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten, ganz überwiegend einen Anpassungsmoralismus pflegen, der gegensätzlichen Meinungen keinen Resonanzboden bietet«.11 Unter diesen Voraussetzungen erscheint dann jede Äußerung aus dieser Geisteshaltung heraus immer auch als ein Akt des Widerstandes, der sich bis zum medienwirksamen Skandal auswirken kann. Dadurch geht freilich die ›metapolitische‹12 Strategie des Konservatismus, Aufmerksamkeit für als ›abweichend‹ markierte Meinungen zu erzeugen und ihnen einen sich letztlich auf die Politik auswirkenden Platz im öffentlichen Diskurs zu ermöglichen, nur umso mehr auf. Der Konservatismus gibt seinem Gegner eine (wenn auch verzerrte) Gestalt und bildet seine eigene Gestalt an der des Gegners, von dem er sich profilgewinnend absetzt.13 Im Falle des ›links-grünen Mehrheitsdiskurses‹ ist damit vor allem die Essentialisierung und Dämonisierung von bestehenden diskursiven Regeln gemeint, was – nebenbei bemerkt – nicht zuletzt auch 9 10

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Dobrindt: Bürgerliche Wende, S. 2. Greiner: Heimatlos, S. 14. In diese Richtung ging auch Uwe Tellkamp, als er im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Durs Grünbein in Dresden (8. März 2018) von einem »Gesinnungskorridor« sprach, der »zwischen erwünschter und geduldeter Meinung« liege (Podiumsdiskussion zwischen Durs Grünbein und Uwe Tellkamp, Min. 01:34:4701:34:51). Greiner: Heimatlos, S. 12. Zum Begriff der ›Metapolitik‹ und ihrer Rolle in der Neuen Rechten vgl. Weiß: Die autoritäre Revolte, S. 54-57. Mannheim weist diese Struktur für die Entstehung des »Altkonservatismus« (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) nach (Mannheim: Konservatismus, S. 47, vgl. auch S. 127). Mit Kondylis ließe sich das auf die folgende, prägnante Formel bringen: »[J]ede Position entsteht als Gegenposition« (Kondylis: Konservativismus, S. 17). Die Bezüge zu Kondylis Auffassung, »Denken sei in seinem Wesen polemisch«, vollziehe sich also in seinem Verhältnis zu einem »Gegner«, sind dabei offensichtlich (Kondylis: Aufklärung, S. 20).

Der Gegenwart eine Absage erteilen

stattfindet, um sachlich begründete Kritik ablehnen zu können. Durch die Kritik am als undurchdringbar dargestellten Diskurs und die Äußerung von Inhalten, die als nicht opportun geltend gemacht werden, gewinnt der Konservatismus seine Position und Rolle als rebellische Opposition, die das ausspricht, was auszusprechen vermeintlich verboten ist. Auch das Vorhaben der ›WerteUnion‹, das »konservative Profil der Unionsparteien [zu] schärfen«,14 kann nur dann gelingen, wenn sie sich im politischen Spektrum nach rechts und links sowie parteiintern gegenüber anderen Strömungen abgrenzt. Ermöglicht wird diese Abgrenzung dadurch, dass andernorts geduldete oder gar begünstigte Positionen so dargestellt werden, dass man ihnen eine harsche Absage erteilen kann oder sogar muss. Das passiert etwa, wenn im »Zusammenhang« mit der Rede vom »Leitbild ›Vater, Mutter, Kinder‹« die »staatliche Förderung der ideologisch motivierten sogenannten Genderforschung« abgelehnt wird.15 Die zu bekämpfende Gegenposition wird als »ideologisch« gebrandmarkt, wodurch sich ihre Ablehnung letztlich von selbst verstehen soll. Die mit dieser Ablehnung verknüpfte eigene Position erscheint demgegenüber dann als das genaue Gegenteil: als nicht ideologisch. Der hier insbesondere für den gegenwärtigen Konservatismus angedeutete Zusammenhang von einer durch den Akt der Absage erzeugten Abgrenzung und einer von dieser Abgrenzung ausgehenden Bestimmung der eigenen Position lässt sich noch näher bestimmen, wenn man sich die Struktur der Absage vergegenwärtigt: A sagt B gegenüber C aus den Gründen X ab, um dadurch die Alternative Z wahrzunehmen. Ein fiktives Beispiel, an dem man diese Struktur veranschaulichen kann, sieht wie folgt aus: Jutta sagt zu Bernd: ›Entschuldige bitte, aber ich kann heute Abend leider doch nicht kommen, da mein Bruder seinen Geburtstag feiert.‹ Zu einer Absage gehört jemand, der absagt (A = Jutta), der Gegenstand der Absage (B = Treffen am heutigen Abend), ein Adressat der Absage (C = Bernd), eine Alternative, für die sich A entscheidet (Z = Geburtstagsfeier des Bruders). Die Absage vollzieht sich im Kontext von kulturellen Rahmenbedingungen, die historisch verschieden sind und Regeln für die Gestaltung der 14 15

Vgl. die Homepage der WerteUnion Deutschland. Vgl. Der Bundesvorstand der WerteUnion: Konservatives Manifest der WerteUnion Deutschland.

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Absage vorgeben (beispielsweise Höflichkeitsformen; im Beispiel entspräche das der einleitenden Bitte um Entschuldigung).16 Betrachtet man diese Struktur nun im Kontext des Konservatismus, so zeigt sich, dass alle Strukturelemente das Ergebnis einer Setzung oder Inszenierung sein können. Dass A (derjenige, der absagt) und B (der Gegenstand der Absage) sich gegenseitig bedingen und konturieren können, wurde bereits angedeutet. Die Gründe für die Absage können hergestellt (und möglicherweise wenig plausibel) sein und auch die Alternative, für die man sich entscheidet, kann das Ergebnis einer willkürlichen Konstruktionsleistung sein.17 Schließlich kann selbst der Adressat der Absage Teil der Konstruktionsleistung sein. Das passiert, wenn er mit dem zu bekämpfenden Gegner zusammenfällt: Die Kritik am Werte und Traditionen zersetzenden ›Liberalismus‹ ist zugleich an diesen, das heißt an all jene gerichtet, die ihn durch unterschiedliche kulturelle Praktiken zu verbreiten versuchen. 16

17

Exemplarisch seien nur die Konventionen der galanten Briefkultur genannt, mit denen sich Ruth Florack in ihrem Beitrag in diesem Sammelband beschäftigt. Wichtig scheint mir zu sein, dass die Gründe für die Absage (X) nicht mit der Alternative (Z) identisch sein müssen. Der eigentliche Grund für die Absage im obigen Beispiel ist nicht der Geburtstag des Bruders, sondern der, dass letzterer für Jutta eine höhere Priorität als das abendliche Treffen mit Bernd besitzt. Der eigentliche Grund für die Absage ist die Antwort auf die Frage, warum sich A für die Alternative Z und gerade nicht für B entscheidet. Solche Gründe können verschwiegen, andere, nicht entscheidende Ursachen können wiederum aus strategischen Gründen vorgeschoben werden. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man sich, wie es die rechtspopulistische Gruppierung ›Pegida‹ versucht, angesichts einer als bedrohlich empfundenen Migrationspolitik oder angesichts der, um im Jargon zu reden, drohenden ›Islamisierung des Abendlandes‹ gegen diese wendet und sich für den Erhalt des ›Abendlandes‹ einsetzt. Dabei ist das ›Abendland‹, mit dessen Vorstellung in diesen Kreisen operiert wird, allerdings, wie Volker Weiß jüngst in Erinnerung gerufen hat, ein historisch äußerst vielgestaltiges, seit jeher religiös, gesellschaftlich oder politisch instrumentalisiertes Konstrukt: »Das von Dresdner und Leipziger Redebühnen verteidigte ›Abendland‹ ist tatsächlich nichts als ein Kampfbegriff, dessen Bedeutung geradezu willkürlich geändert werden kann. Von einem ethnokulturellen Konzept getragen, dient es zur Verbrämung eines neu aufgelegten ›Rassenkampfes‹« (Weiß: Die autoritäre Revolte, S. 186, vgl. dort zu diesem Thema insgesamt S. 155-186). Weiß gebraucht hier den Ausdruck »Kampfbegriff« im Sinne Carl Schmitts (vgl. ebd., S. 177).

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II.

Von Revolutionen und dem Rätsel der Gnade: Martin Mosebach

Häresie der Formlosigkeit Im konservativen Diskurs – das zeigten die vorangegangenen Überlegungen – ist also mit speziellen profilbildenden Inszenierungsstrategien zu rechnen. Von hier aus wende ich mich nun im zweiten Teil dieses Aufsatzes Inszenierungsstrategien im literarischen Konservatismus,18 namentlich bei Martin Mosebach, zu.19 Dabei werde ich von Mosebachs Textsammlung Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, die erstmals 2002, dann in erweiterter Fassung 2007 erschienen ist, ausgehen.20 Von dort aus soll den Spuren der Auseinandersetzung, die Mosebach in diesem Band führt, im Roman Der Mond und das Mädchen (2007) nachgegangen werden. 18

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20

Dem Konservatismus in der Gegenwartsliteratur widmet sich ein jüngerer Sammelband, vgl. Schmidt: Gegenwart. Zur grundsätzlichen Frage, was eigentlich unter ›literarischem Konservatismus‹ verstanden werden kann und sollte, vgl. Ort: Literarischer ›Konservativismus‹. In jüngerer Zeit rückten Strategien und Praktiken der Autorinszenierung vermehrt in den Blick der Forschung, vgl. Künzel/Schönert: Autorinszenierungen; Grimm/Schärf: Schriftsteller-Inszenierungen, Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken; sowie Kyora: Subjektform. Die Autoren und Autorinnen gehen dabei von Bourdieus Analysen des literarischen Felds und des Habitus, Genettes Begriff des ›Paratextes‹ sowie von Überlegungen des Kultursoziologen Andreas Reckwitz aus. Mosebach versteht sich – einem Interview von 2007 zufolge – eher als reaktionär denn als konservativ: »Ich würde das Wort reaktionär dem Wort konservativ deshalb vorziehen, weil es mir mehr entspricht. Es ist weiter weg von konkreten politischen Programmen« (Art. Unbeirrt vom Zeitgeist, S. 36). Diese wahrscheinlich an dem kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila geschulte Unterscheidung ist hier nur von untergeordneter Relevanz. Einer solchen vom Kriterium des politischen Programms geleiteten Selbstverortung stehen die Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Prämissen und rhetorischen Strategien von Mosebachs Argumentation (Stellenwert der Tradition, organologische Metaphorik) und dem sich im Verlaufe der Geschichte herausgebildeten konservativen Denkstil entgegen. Zu Dávila vgl. Mosebach: Am Ende der Welt. Für die Unterscheidung vom Reaktionär und Konservativen vgl. dort S. 98 und Kaiser: Inszenierungspraktiken, S. 81. Zum diskursgeschichtlichen Kontext des ›Feuilletonkatholizismus‹ vgl. die Analyse von Stockinger: Feuilletonkatholizismus (zu Mosebachs Häresie der Formlosigkeit vor allem S. 28-38). Gerhard Kaiser hat Mosebachs Häresie der Formlosigkeit hinsichtlich der Inszenierungspraktiken des Autors analysiert. Seine Überlegungen berühren und decken sich stellenweise mit meinen (vgl. Kaiser: Inszenierungspraktiken; und Jürgensen/Kaiser: Abgrenzung, S. 222-232).

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Die Textsammlung Häresie der Formlosigkeit besteht aus Aufsätzen, Reden und einem Auszug aus Mosebachs 2000 erschienen Roman Eine lange Nacht. Sie ist der Reform der katholischen Liturgie kritisch gewidmet, die im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils, das von 1962 bis 1965 unter den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. stattfand, erarbeitet wurde.21 Mosebach ist ein dezidierter Gegner dieser Reform. Er kritisiert an ihr den Bruch mit tradierten und bewährten Gebetsformen sowie, dass sie am »eigentlichen Geist der Liturgie«22 vorbeigehe. Mosebach versteht die katholische Liturgie als Mysterium der Vergegenwärtigung Christi. Von hier aus erklärt er in seinen Texten die Bedeutung von vermeintlich überflüssigen und obsoleten Bestandteilen der alten Liturgie, die er hierdurch zugleich zu rechtfertigen sucht.23 An Mosebachs Ausführungen lassen sich unterschiedliche Inszenierungsstrategien beobachten. Sie zielen in grundsätzlicher Hinsicht auf die Präsentation der einzelnen Texte in Form des Buches: Indem die für Text- und Aufsatzsammlungen gängigen Titelbegriffe wie ›Aufsätze‹ oder ›Essays‹ fehlen, wird der Sammlungscharakter der Anthologie durch einen monografischen Werkanspruch ersetzt. Mosebachs Buch wirkt ausgehend von seinen Paratexten oder besser: ausgehend davon, dass solche fehlen, weniger wie eine Sammlung verschiedener Texte zu einem Oberthema und mehr wie eine monografische Abhandlung mit mehreren Kapiteln.24 Die in dem Band Häresie der Formlosigkeit zu beobachtenden Inszenierungsstrategien zielen des Weiteren unter anderem auf (1) die Reform selbst sowie (2) auf den Kritiker der Reform. Insbesondere diese beiden Aspekte, die den Bestandteilen B (Gegenstand der Absage) und A (Subjekt der Absage) in der oben vorgeschlagenen Strukturformel entsprechen, sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Zu (1) Die Veränderungen an der Liturgie stellt Mosebach als Ausdruck revolutionärer Geisteshaltung dar. Vom Frontispiz an werden sie als revolutionärer Gewaltakt inszeniert: 21 22 23

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Zur Liturgiereform und ihren historischen Kontexten vgl. die konzisen Auskünfte in Bieritz: Liturgik, S. 512– 536. Mosebach: Häresie, S. 43. Im Folgenden mit der Sigle HdF im Fließtext zitiert. Die Frage, ob die Häresie der Formlosigkeit auch als »letztlich selbstironische und resignative ästhetische Donquijoterie« zu lesen ist, »deren Verfasser sich des Anachronismus seiner Forderungen bewusst ist und mit diesen ein gezieltes Signal gegen polit. opportunere Diskurse setzen will«, wurde von Monika Schmitz-Emans aufgeworfen (Schmitz-Emans: Mosebach, S. 287). Zu derartigen »paratextuelle[n] Inszenierungspraktiken« vgl. Jürgensen/Kaiser: Heuristische Typologie, S. 11-12.

Der Gegenwart eine Absage erteilen

Das Zweite Vatikanische Konzil, das 1965 endete, hatte einen der revolutionären Kulturbrüche des 20. Jahrhunderts zu Folge. In einem autokratischen Akt und gegen den Rat vieler Bischöfe ordnete Papst Paul VI. das Ende der alten römischen Liturgie und die Schaffung einer neuen an. (HdF, [2]) Mosebach insistiert auch an anderer Stelle des Buches darauf, dass es sich bei der Reform um eine Revolution (vgl. HdF, 10, 216), einen »Gewaltakt« (HdF, 18) und um einen »in der Geschichte einzigartigen Gewaltstreich« (HdF, 116) handelt. In diesen Zusammenhang gehört auch die Entgegensetzung von ›gemachter‹ und im historischen Prozess ›organisch gewachsener‹ Liturgieform. Am prägnantesten ausgedrückt findet man sie dort, wo er einen Satz Benedikts XVI. aus dessen Kardinalszeit aufgreift, den er als das »härteste Verdikt über die neue Messe« versteht: »[M]an habe ›eine gewachsene durch eine gemachte Liturgie‹ verdrängt« (HdF, 152). Die mit der organologischen Metapher des ›Wachsens‹ und seiner Unterscheidung vom menschlichen ›Machen‹ verknüpfte rhetorisch-argumentative Strategie, die sich, wie oben angedeutet, bis in die Anfänge des Konservatismus zurückverfolgen lässt, hat zum Ziel, die alte Form gegen die neue auszuspielen: Ihr »Gewachsensein« ist »Zeichen« und »bildliche[r] Ausdruck« für ihre »göttliche Stiftung« (HdF, 30). Der sich für den Gläubigen einstellende Eindruck, man habe es bei der Liturgie mit etwas »Ewige[m] und nicht von Menschenhand Gemachte[m]« zu tun, wird von Mosebach gerade zur »entscheidende[n] Voraussetzung« erklärt, »um die Heilige Messe richtig feiern zu können« (HdF, 29)25 – eine Voraussetzung, die so nicht mehr für die neue Liturgie gelten dürfte. Mit der Betonung der ›natürlichen Gewachsenheit‹ der alten Liturgie weist Mosebach auf die lange Tradition der religiösen, seiner Ansicht nach im geschichtlichen Prozess hervorgebrachten Gebetsformen hin. Das Revolutionäre des Zweiten Vatikanischen Konzils bestand, der Argumentation folgend, darin, mit dieser langlebigen Tradition, mit der »seit über eintausendfünfhundert Jahren ununterbrochenen überlieferten Form« (HdF, 17), gebrochen zu haben (vgl. HdF, 40-41).26 Mithilfe einer dezidierten 25

26

Vgl. auch Kaiser: Inszenierungspraktiken, S. 93-94. Interessant, gleichwohl etwas forciert ist Matthias Schaffricks Versuch, die von Mosebach behauptete Autorlosigkeit der alten Liturgie mit neueren Autorschaftskonzepten abzugleichen (vgl. Schaffrick: Gesellschaft, v.a. S. 86-93). Kritisch dazu Stockinger: Feuilletonkatholizismus, S. 31. Vgl. auch die Überlegungen von Jakubów: Spuren von Gottes Wirklichkeit, S. 227-228. Mosebach setzt einem solchen Bruch mit der Tradition ein Reformkonzept entgegen, das darin besteht, alte und

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Krisen- und Untergangsrhetorik wird diesem Prozess sowie dessen Folgen die Aura einer tiefgreifenden Katastrophe gegeben: Man habe es hier mit der »große[n] historische[n] und religiöse[n] Katastrophe« (HdF, 20), der »grundsätzliche[n] Beschädigung der Brücke des Menschen zu Gott« (HdF, 20) zu tun; Paul VI sei ein »Tyrann der Kirche« (HdF, 18) gewesen, die Rede ist vom »Trümmerfeld« (HdF, 33), von »Zerstörungswellen« (HdF, 40), dem »liturgischen Ikonoklasmus« (HdF, 59) und »den furchtbaren Prüfungen des Jahrhunderts« (HdF, 87). Dieses Ziel verfolgt Mosebach auch an den Stellen, an denen er die Liturgiereform neben andere, historisch sehr viel bedeutsamere und folgenschwerere Ereignisse stellt, die er sämtlich um das symbolträchtige Jahr 1968 herum gruppiert: »Studentenrevolten in Deutschland, Frankreich, in den Vereinigten Staaten; der Beginn der chinesischen Kulturrevolution mit Millionen Toten, mit ihrer Bilderstürmerei, der Verwüstung von Tempeln und Kulturschätzen – und das Jahr der Liturgiereform.« (HdF, 76) Diese erstaunliche Zusammenstellung macht die Liturgiereform als einen Effekt der allgemeineren Modernisierungs- und Wandlungsprozesse des 20. Jahrhunderts begreifbar, was durchaus eine plausible These darstellt.27 Eine solche Verortung der Liturgiereform innerhalb der kritisch beargwöhnten Moderne als »eine Phase des kulturellen Niedergangs«28 wird an anderen Stellen noch ausdrücklicher durchgeführt. Daraus folgt gleichwohl nicht ein klares Bild dieser Moderne, die in letzter Konsequenz für die Liturgiereform verantwortlich gemacht wird. Einmal ist die Rede vom modernen,

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bewährte Formen beizubehalten und sie mit Neuem zu verbinden (vgl. HdF, 67, 109). Damit ist die Pointe verbunden, dass jahrhundertelang tradierte und bewährte Gebetsformen selbst dann nicht aufzugeben sind, wenn sie dem eigentlichen Kern der Liturgie nicht angemessen sind: »Überlieferte Bräuche haben Anspruch auf Ehrfurcht, solange sie bestehen« (HdF, 41). Die Bedeutung von alten (Gebets-)Formen und von Form überhaupt wird in Mosebachs Textsammlung mehrfach betont. Der allgemeinen (und letztlich modernen), »in Kunst und Literatur, Architektur, Politik und eben auch Religion« eingetretenen »Formzerstörung« und dem »Aufstand gegen die große Form« (HdF, 166, 216) und damit der im Titel genannten Häresie der Formlosigkeit wird so ein entschiedenes Formbewusstsein entgegengehalten. Diese Überlegungen haben bei Mosebach auch poetologische Implikationen: Das Neue in der Kunst entstehe dann, wenn die Künstler »glaubten, einer großen überlieferten Form besonders liebevoll und verehrend zu dienen« (HdF, 106). Vgl. dazu auch Lang: Poetologie; und Schmitz-Emans: Mosebach. Vgl. auch Kaiser: Inszenierungspraktiken, S. 95-97; sowie Schaffrick: Gesellschaft, S. 83. Wittstock: Gesellschaftsroman, S. 113.

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nicht religiösen Menschen, der sich ab dem 18. Jahrhundert entwickelt habe (vgl. HdF, 50), dann von der Zeit vor der industriellen Revolution, in der die »Zeichensprache« der alten Liturgie noch lebendig war (HdF, 241, vgl. 241242), von der Entstehung der abstrakten Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. HdF, 72) sowie von der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, die Mosebach sogar als Ursprung weiterer Phänomene der Moderne auszumachen meint: Sie ist der große Ideenkochtopf des Jahrhunderts. Politische Bewegungen, die Todfeinde wurden, haben Pate gestanden, man denke an den Kommunismus und Nationalsozialismus. Und nicht nur Nacktkultur, Feminismus, Vegetarismus, Lebensreform, Neuheidentum, pseudoindische Meditation, Gay Liberation, Klampfenmusik und das Bauhaus haben hier Wurzeln und Ursprünge, sondern auch die Liturgiereform. (HdF, 77) Einer solch tendenziösen Zusammenstellung von zu Unterscheidendem und ganz sicher nicht Gleichbedeutendem kommt die kulturhistorische Erkenntnis, die Liturgiereform sei Teil von umfassenderen Modernisierungsprozessen, zunehmend abhanden. Hier geht es denn auch nicht um eine differenzierte Ursachenforschung, sondern vor allem um die Schaffung eines entdifferenzierten Bildes der Moderne, der man eine Absage erteilen kann, weil sie nicht nur die angefeindete Liturgiereform hervorgebracht hat, sondern zugleich als Ursprung von vielem Suspekten angesehen werden muss. Eine solche Absage an die Moderne aus konservativem Geist heraus betrifft dann auch die Bedingungen für diesen Konservatismus selbst, da er, wie ja auch andere konservative Strömungen, gerade diese Moderne zur Voraussetzung hat. Zu (2) Mosebach nimmt in seinen Aufsätzen unterschiedliche Rollen ein. Ziel ist es dabei jeweils, sich in Frontstellung zum Gegner, dem er im Text entgegentritt, zu bringen. An diesem Gegner profiliert sich die eigene Rolle;29 vice versa bildet sich an ihr die Gestalt der Opponenten. So, wie dem römischen Ritus der »Feind«30 entgegengesetzt wird, womit die Reform, aber auch die sie durchsetzenden Funktionsträger der Kirche gemeint sind, so 29

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Das ließe sich als konkretes Beispiel für jene »distinktionsstrategische[n] Positionierungshandlungen« verstehen, von denen Jürgensen und Kaiser mit Blick auf Autorinszenierungen sprechen (Jürgensen/Kaiser: Abgrenzung, S. 219). Zum Verhältnis zu Carl Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen und der dort wichtigen Freund/Feind-Unterscheidung vgl. Kaiser: Inszenierungspraktiken, S. 91-92.

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wird auch dem »skeptische[n] Anhänger der Tradition« der »modernistische Priester« (HdF, 231) gegenübergestellt. Analog dazu stellt er dem »Modernisierer und Fortschrittsgläubige[n] Paul VI.« sich selbst als »Steinzeitmenschen« entgegen, dem es aufgrund seiner besonderen Zeiterfahrung möglich sei, die erfolgten Veränderungen zu ignorieren: »Steinzeitmenschen haben ein unterentwickeltes Verhältnis zur Zeit. Unter Zukunft können sie sich überhaupt nichts vorstellen, von der Vergangenheit vermuten sie, daß sie so ähnlich wie die Gegenwart war« (HdF, 18). Dem steht die Erfahrung der Liturgiezeit zur Seite: In der Liturgie »wird die Zeit aufgehoben. […] Es ist die Zeit Golgathas, die Zeit des einzigen und einmaligen Opfers – ›hapax‹ –, und diese Zeit enthält alle Zeiten und keine.« (HdF, 26) So unterschiedlich beide Erfahrungsmodi von Zeit auch sein mögen, so deutlich ähneln sie sich nicht nur darin, dass in ihnen die strenge Aufteilung des Zeitkontinuums in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterlaufen wird, sondern auch darin, dass mit ihnen eine andere als die beschleunigte Zeit erfahren wird, die der Moderne mit ihren historischen und kulturellen Umbrüchen und Veränderungen zugrunde liegt. Ist die Kritik an der Liturgiereform zugleich auch eine (indirekte) Kritik an der Moderne, so ist die Selbstinszenierung als ›Steinzeitmensch‹ und die Berufung auf die jeden zeitlichen Verlauf aufhebende Liturgiezeit als Versuch zu verstehen, dem Zeitkonzept der Moderne eine Alternative entgegenzustellen. Noch zwei weitere Rollen entwirft Mosebach für sich als Kritiker an der Reform. Er versteht den alten Ritus im Unterschied zum neuen, öffentlich gefeierten als einen nunmehr »tödlich gefährdeten Kult« (HdF, 119), der ›unterdrückt‹ (HdF 217), ›verboten‹ und ›verfolgt‹ und der jetzt »im Verborgenen« (HdF, 13-14) zelebriert werde. Das Festhalten an der römischen Liturgie sei hoffnungslos, den Priestern, »die in Treue zur Liturgie den Ungehorsam wagen«, drohen »Bannflüche«, die »gehorsamen Priester, die dennoch nicht von diesem Ritus lassen wollen, werden von der zölibatären Bürokratie […] genußvoll zermahlen« (HdF, 42). Mit all dem ruft Mosebach Erinnerungen an Verfolgungen wach, denen sich insbesondere das frühe Christentum unter römischer Herrschaft ausgesetzt sah. Hierdurch wird die Reform in das Licht eines großen Unrechts gerückt, die Opponierenden und dem alten Ritus treuen Gläubigen erscheinen hingegen als Gerechte.31 Schließlich stellt sich Mosebach den professionalisierten Theologen als »Außenseiter« (HdF, 218) und als 31

Die 2007 erfolgte Erklärung Benedikts XVI., die vorkonzilianische Liturgie werde als »außerordentliche Form der Liturgie der Kirche« gestattet, nimmt einer solchen Dar-

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ein – in erzählerischen Dingen versierter – »Laie« (HdF, 18) dar: »Man gestatte mir, das Letzte Abendmahl […] in aller Unschuld so zu betrachten, wie es sich mir bei der Lektüre der Evangelien darstellt, in der Verantwortungslosigkeit des Privatmannes, der für seine Deutung keine Geltung beansprucht« (HdF, 184). Dass dieser Laie sein Publikum dann gleichwohl belehrt, lässt wiederum an die Laienfigur, den ›Idioten‹, von Cusanus denken, die in dessen Dialog Idiota de sapientia (1450) ganz analog dazu einen ausgebildeten Redner über dasjenige – hier ist es die Weisheit – unterrichtet, von dem dieser etwas zu verstehen vorgibt. In dem in der Sammlung Häresie der Formlosigkeit aufgenommenen Auszug aus Mosebachs Roman Eine lange Nacht aus dem Jahr 2000 wird die in den anderen Texten auf theoretischer Ebene geführte Kritik literarisiert. Ein solcher Moduswechsel in der Auseinandersetzung mit der Liturgiereform deutet sich bereits in den übrigen Texten des Bandes an: Indem Mosebach seine Sprecherposition durch die Ausgestaltung oder Andeutung von Rollen, die er einnimmt, fiktionalisiert, nähert er sich den Bedingungen des fiktionalen Romans an. In dem aufgenommenen Auszug nun findet eine in weiten Teilen deutliche Thematisierung des Streits um die Liturgiereform statt.32 Die im Roman exemplarisch an der Figur des Kirchengeschichtsprofessors und Priesters Gessner vorgeführte Position des Reformers ist der Gegenstand der satirischen Darstellung. Im Text wird die religiöse Wirkmächtigkeit des alten Ritus gegen Gessners Reformwillen ausgespielt. Obwohl Gessner den Ritus als »ein auslaufendes Modell« ablehnt und die von ihm geleitete Messe lediglich ein nicht öffentliches, »besonderes seelsorgerisches Entgegenkommen für einen eher problematischen Kreis von Gläubigen« (HdF, 205) ist, bewirkt sie doch im Protagonisten des Romans, Ludwig Drais, der der Messe beiwohnt, einen Moment der Epiphanie: Er »sah diese weiße Scheibe [gemeint ist die Oblate; HK] in der Rauchwolke gar nicht als etwas Materielles an oder jedenfalls doch als etwas sehr Zartes, verfestigtes Licht, einen stillen Augenblick lang« (HdF, 213). Auch erweist sich die als obsolet verschriene Form als derart zwingend, dass sie Gessners persönliche Einstellung zum Geschehen voll-

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stellung der ›alten‹ Messe und der ihr Treuen freilich die kritische Spitze (Papst Benedikt XVI.: Summorum Pontificum; Stockinger: Feuilletonkatholizismus, S. 30-31). Vgl. zu diesem Ausschnitt aus dem Roman auch Stockinger: Feuilletonkatholizismus, S. 29-34.

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ständig verdrängt (vgl. HdF, 210).33 An dieser Stelle bestätigt die Literatur so das theologische Diktum, die »Voraussetzung« dafür, den »christlichen Kult« im Sinne Mosebachs »zu erleben«, sei »eine Unterwerfung unter die Form, die jede Spur des Subjektiven auslöscht« (HdF, 18).

Der Mond und das Mädchen In Mosebachs 2007 erschienenem Roman Der Mond und das Mädchen lässt sich eine verstecktere und subtilere Auseinandersetzung mit den Konflikten feststellen, die sich an der Liturgiereform entzündet haben. Die von diesem Text erteilte Absage wird nicht explizit ausgesprochen, sondern vor allem über die Struktur der Erzählung vermittelt. Der Roman handelt von dem jungen Ehepaar Hans und Ina, das nach Frankfurt zieht. Während Hans sich neue gesellschaftliche Kreise erschließt, isoliert sich Ina und wird zunehmend schwermütig. Nachdem sich Hans mit der Schauspielerin Britta Lilien eingelassen hat, sich Inas Schwermut verschlimmert und sie Hans mit einer Flasche verletzt, um eine Änderung der für sie unerträglich werdenden Situation zu provozieren, verlassen sie die Stadt und führen schließlich ein glücklicheres Leben. Bezüge zwischen Mosebachs Roman und seiner Kritik an der Liturgiereform lassen sich dann herstellen, wenn man bedenkt, dass Mosebach das Geschehen der Eucharistie als Mysterium und Geheimnis begreift, dem der alte Ritus mit verschiedenen Techniken der Verhüllung entsprochen hatte: »Zwischen Hostie und Priester fand etwas Geheimes statt« (HdF, 176). Die Liturgiereform habe, dem Autor zufolge, diesen Charakter der Liturgie allerdings nicht angemessen berücksichtigt (vgl. nur HdF, 85-86, 137-150). Am auffälligsten ist das daran zu bemerken, dass der im alten Ritus noch von der Gemeinde abgewandt betende und die ›Wandlung‹ vollziehende Priester nach der Reform die Gemeinde nun während des Hochgebetes anblickt und so das Geheimnis gleichsam öffentlich macht. Es ist gerade dieses Geheimnisvolle des liturgischen Vollzugs, das in den Roman hinübergerettet wird. Das geschieht vor allem am Ende des Romans, wenn die problembelastete Situation der Hauptfiguren in die offenbar problemfreie Situation des Romanschlusses übergeht. Nur wird der Übergang bloß impliziert, nicht aber auserzählt. Das vorletzte Kapitel des Romans endet mit Inas Angriff auf Hans, um dann nach einem Zeitsprung, der sich er33

Vgl. auch Rathjen: Allegorie, S. 195.

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zählkompositorisch sowie buchorganisatorisch im Wechsel des Kapitels sowie lektüretechnisch im Umblättern spiegelt, den glücklichen, den Roman abschließende Zustand aus der Sicht von Inas Mutter, Frau von Klein, zu beschreiben: Zielsicher ging sie [Ina; HK] auf Wittekind zu, erwiderte seinen Gruß nicht, bückte sich nach der Bierflasche, wandte sich zu Hans und schlug ihm die Flasche mit einer weiten Bewegung auf den Kopf. Die Flasche zerbrach. Ina stand still da mit dem gezackten Hals in der Hand. Hans bewegte sich nicht. Blut quoll aus seiner Stirn und lief ihm in die Augen. Es rührte sich keine Hand in der verzauberten Stille. Ina stand mit geschlossenen Augen. Sie wartete. Irgend etwas, das wußte sie, würde geschehen. [Kapitel- und Seitenwechsel; HK] Frau von Klein pflegte so viele Bekanntschaften, […].34 Dadurch, dass die hier geschehene Veränderung gerade nicht ausführlich erzählt wird, sondern in motivationaler Hinsicht völlig offen bleibt, wird sie in den Bereich des Geheimnisvollen gerückt.35 Ironischerweise handelt es sich damit um eine jener »unmotivierte[n] Stellen« und »unmotivierte[n] Vorgänge«, gegen die sich der Autor an anderer Stelle eine »Abneigung« bescheinigt.36 Das Verbleiben im Opaken, die Verunklärung von Zuständen (»während dieses gesamten bedrückenden und letztlich ungeklärten Zustandes« [MuM, 183]) und Handlungsmotiven (»Warum? Souad, das ist eine sinnlose Frage. […] Es gibt für jede Handlung tausend Gründe; hoffnungslos, die zu erforschen« [MuM, 186]), das gleichsam Wunderbare der Lösung – alles dies ist grundsätzlich als Reaktion auf die von der Figur des Kunsthistorikers Elmar Wittekind vorgebrachte kulturkritische These zu verstehen, die Gegenwart sei »[p]hönizisch« (MuM, 73) geworden. Damit meint Wittekind unter anderem, dass sie »jedes Lebensverhältnis, jeden Gedanken, jede Realität noch als Zahlenketten verstehen und darstellen wolle« (MuM, 73), alles also zu rationalisieren trachte. Gegen einen solchen Zugriff auf Welt richtet sich der Roman, indem 34 35

36

Mosebach: Mond, S. 189-190. Im Folgenden mit der Sigle MuM im Fließtext zitiert. Zu anderen Momenten des Geheimnisvollen und Wunderbaren bei Mosebach und insbesondere in Der Mond und das Mädchen vgl. Rohde: Beschreibungsversuch, insbesondere S. 103 und 105. Art. Ein Gespräch mit Juli Zeh und Martin Mosebach, S. 200.

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er durch die punktuelle Preisgabe der narrativen Kohärenz das Geschehen verrätselt. Die den Roman abschließende Wendung zum Guten betrifft nicht alleine Ina und Hans, sondern auch noch weitere Figuren wie den Hausmeister Souad, der die Verwaltung einer neuen Immobilie übernimmt. Diese allgemeine Problemlösung, die das Romanende kennzeichnet, steht im Kontext der christlichen Religion, die im Text mithilfe von Zitaten und Allusionen, von christlichen Narrativen, Symbolen und Begriffen aufgerufen wird.37 Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die nach Hansʼ Fehltritt im Text gesetzten Hinweise auf die Begriffe Schuld, Buße, Taufe, Reue und Gnade (vgl. MuM, 134, 138, 144, 172, 178) und damit auf christliche Erlösungs- und Gnadennarrative. Am Romanende, kurz vor der Wendung zum Guten, verdichten sich diese Hinweise noch einmal: Hier wird nicht nur mit Hansʼ blutendem Kopf der leidende und für die Sünden der anderen gestorbene Christus mit der Dornenkrone38 aufgerufen, sondern auch auf den alten Brauch rekurriert, in der Vorhalle altchristlicher Kirchen die Büßer mit einem Stock schlagend von ihren Sünden loszusprechen. In der Häresie der Formlosigkeit beschreibt Mosebach diesen Brauch wie folgt: Die Liturgie verstand sich im ersten Jahrtausend von den Aposteln her als Mysterienfeier, bei der Unbefugte und Uneingeweihte nichts zu suchen hatten. Deren Ort war der Narthex, die Vorhalle der Kirche, in der der Priester den Büßer mit dem Schlag eines langen Stabes lossprach; ein solcher Stab […] heißt Narthex, und von ihm her wurde diese Halle der von den Mysterien Ausgeschlossenen benannt. […] Lateinisch hießen die Stäbe vindicta. Der Prätor gab in der Antike durch Berührung mit einem solchen Stab einem Sklaven die Freiheit – der Beichtvater befreite dementsprechend durch die Berührung mit dem Stab von der Knechtschaft der Sünde und dem Unterworfensein unter das Gesetz. (HdF, 144) Im Roman erinnert die Flasche, mit der Ina Hans schlägt, an die vindicta; die Vorhalle des Tempels wird von dem Hinterhof repräsentiert, in dem sich das Geschehen abspielt und von dem aus man das Haus betritt, in dem sich die Wohnung der Protagonisten befindet, die wiederum vom Grundriss her stark 37

38

Zu solchen Anspielungen vgl. auch Lorenz: Schleier, unter anderem S. 353-354. Dass ein Ausspruch Jesu (vgl. Mt 12,43-44; Lk 11,24-25) dem Entstehungsprozess des Romans zugrunde liegen soll, verwundert nicht. Vgl. dazu Rathjen: Allegorie, S. 253. Vgl. auch Lorenz: Schleier, S. 353-354 und S. 358.

Der Gegenwart eine Absage erteilen

an eine Kirche samt Apsis erinnert: »Die Wohnung bestand aus einem langen Schlauch, an dem sich mehrere kleine Zimmer, das Bad und die Küche aufreihten. Schließlich gelangte man in einen größeren Raum mit drei Fenstern, der an der Spitze des tortenstückartigen Hauses lag« und der »fünf Wände hatte« (MuM, 26). All diese Anspielungen lassen den Eindruck entstehen, hinter der erzählten Geschichte vollzöge sich noch eine andere, geheimnisvollere Geschichte: die von der Erlösung und der gnädigen Zuwendung Gottes zum Menschen.39 Im literarischen Erzählen bestätigt sich so die autorspezifische »Gewißheit […], in allem Wirklichen, das ich beobachte und in die Erzählung einfließen lasse, Spuren von Gottes Wirklichkeit zu begegnen«.40 Die Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften wiederum entsteht aus der punktuellen Aufkündigung der narrativen Kohärenz. Insbesondere diese Kopplung von Gnade und Rätsel besitzt für Mosebach einen grundsätzlichen Charakter: »Der Mensch ist ein Rätsel, sein Glück ist ein Rätsel, das größte Rätsel ist die Gnade, die nach unauslotbarem Entschluß glücklich oder unglücklich macht.«41 Hatte die Liturgiereform das Geheimnis aus der Messe, die der Vergegenwärtigung des von den Sünden erlösenden Messias gewidmet ist, vertrieben, so sichert Mosebachs Roman diesem Geheimnis einen Platz in der literarischen Fiktion.42 Damit erteilt der Roman der von ihm thematisierten rationalisierenden Weltsicht sowie den Konsequenzen der Liturgiereform auf indirekte Weise, das heißt auf der Ebene der Erzähl- und Bedeutungsstruktur eine Absage.

Literaturverzeichnis Art. Ein Gespräch mit Juli Zeh und Martin Mosebach. »Über Recht und Literatur«. In: Hermann Weber (Hg.): Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005. Berlin 2007, S. 183-204. 39

40 41 42

Ähnlich Rathjen: Allegorie, S. 249: Im Roman werde suggeriert, dass »übernatürliche Mächte am Werk sein könnten«. Rathjen beschäftigt sich allerdings nicht mit dem hier beschriebenen christlichen Modell. Mosebach: Katholische Literatur, S. 118. Ebd. Vgl. Rathjen: Allegorie, S. 182, die mit Blick auf die Darstellung der Liturgie in Mosebachs Roman Eine lange Nacht zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt.

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Art. Unbeirrt vom Zeitgeist. Martin Mosebach. Seine Romane schreibt er mit der Hand, sich selbst nennt er gern reaktionär. Der Büchner-Preisträger im Gespräch mit Literaturkritiker Martin Lüdke. In: Börsenblatt 26 (2007), S. 34-37. Tobias Bartels: Sprache und Ideologie des Konservatismus. Zur Differenz vom moderaten und radikalen konservativen politischen Denken in der Bundesrepublik Deutschland. In: Sebastian Liebold/Frank Schale (Hg.): Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik. Baden-Baden 2017, S. 209-232. Karl-Heinrich Bieritz: Liturgik. Berlin 2004. Der Bundesvorstand der WerteUnion: Konservatives Manifest der WerteUnion Deutschland. https://werteunion.net/wofuer-wir-kaempfen/konservat ives-manifest [Stand: 19.12.2018]. Alexander Dobrindt: Für eine bürgerliche Wende. In: Die Welt vom 4. Januar 2018, S. 2. Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. München 1977. Ulrich Greiner: Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen. Reinbek bei Hamburg 2017. Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008. Albert O. Hirschman: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion. Aus dem Amerikanischen von Daniel von Recklinghausen. München, Wien 1992. Peter Uwe Hohendahl/Erhard Schütz: Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945. Einleitung. In: Peter Uwe Hohendahl/Erhard Schütz (Hg.): Perspektiven konservativen Denkens. Deutschland und die Vereinigten Staaten nach 1945. Bern 2012, S. 1340. Marek Jakubów: »Spuren von Gottes Wirklichkeit begegnen.« Martin Mosebachs Auffassung von der katholischen Literatur. In: Aleksandra Chylewska-Tölle (Hg.): »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe.« Die christliche Botschaft in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Nordhausen 2011, S. 225-235. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen/Ger-

Der Gegenwart eine Absage erteilen

hard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 9-30. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: Abgrenzung, Re-Kombination, NeuPositionierung. Strategien der Autorinszenierung in der Gegenwartsliteratur. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014, S. 217-245. Gerhard Kaiser: »Wir glauben mit den Knien oder wir glauben überhaupt nicht« – Inszenierungspraktiken bei Martin Mosebach. In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013, S. 79-98. Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007. Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014. Daniel Lang: Im Wert des Verbietens liegt die Bewahrung der Form. Über die Poetologie Martin Mosebachs. In: Akzente 61 (2014), H. 2, S. 150-161. Sebastian Liebold/Frank Schale (Hg.): Neugründung auf alten Werten? Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik. Baden-Baden 2017. Markus Lorenz: Schleier und Bogen. Zur Poetik Martin Mosebachs. Würzburg 2013. Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Hg. von David Kettler/Volker Meja/Nico Stehr. Frankfurt a.M. 1984. Martin Mosebach: Der Mond und das Mädchen. Roman. München 2016. Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. München 2016. Martin Mosebach: Am Ende der Welt. Ein Besuch bei Nicolás Gómez Dávila. In: Martin Mosebach: Schöne Literatur. Essays. München 2009, S. 95-104. Martin Mosebach: Was ist katholische Literatur? In: Martin Mosebach: Schöne Literatur. Essays. München 2009, S. 105-129. Jan-Werner Müller: Comprehending conservatism: A new framework for analysis. In: Journal of Political Ideologies 11 (2006), H. 3, S. 359-365.

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Claus-Michael Ort: Literarischer ›Konservativismus‹: Denkstil – Habitus – Diskurs? In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013, S. 19-40. Papst Benedikt XVI.: Summorum Pontificum. Über den Gebrauch der Römischen Liturgie in der Gestalt vor der Reform von 1970. http://w2.v atican.va/content/benedict-xvi/de/motu_proprio/documents/hf_ben-xvi_ motu-proprio_20070707_summorum-pontificum.html [Stand: 19.12.2018]. Podiumsdiskussion zwischen Durs Grünbein und Uwe Tellkamp (Dresden, 8. März 2018): https://www.youtube.com/watch?v=V6nSgCCZM2Q [Stand: 19.12.2018]). Kirsten Rathjen: Vom Sinn und Unsinn aller Allegorie. Das Versteckspiel mit dem Leser im Romanwerk Martin Mosebachs. Würzburg 2013. Carsten Rohde: Die mimetische und poietische Linie im Roman der Gegenwart. Ein idealtypischer Beschreibungsversuch am Beispiel von Martin Mosebach. In: Carsten Rohde/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S. 89-109. Matthias Schaffrick: In der Gesellschaft des Autors. Religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft. Heidelberg 2014. Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013. Monika Schmitz-Emans: Mosebach, Martin. In: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann/Manfred Schmeling (Hg.): Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Berlin 2009, S. 287. Claudia Stockinger: »Es liegt viel Romantik in der Luft«. Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000. In: Albert Meier/Alessandro Costazza/Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 3: Diversifizierung des Konzepts um 2000. Berlin, Boston 2014, S. 11-42. Julius H. Schoeps: Konservativismus. In: Julius H. Schoeps/Joachim H. Knoll/ C laus-E. Bärsch: Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus. Einführung/Texte/Bibliographien, München 1981, S. 11-46. Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart 2017. WerteUnion Deutschland. https://werteunion.net/[Stand: 19.12.2018].

Der Gegenwart eine Absage erteilen

Uwe Wittstock: Erinnerung an den Gesellschaftsroman. Martin Mosebach. In: Uwe Wittstock: Nach der Moderne. Essay zur deutschen Gegenwartsliteratur in zwölf Kapiteln über elf Autoren. Göttingen 2009, S. 105-121.

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Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹ als (versuchter) Akt der Epochenbildung Nikolas Buck

I.

Einleitung

Unter dem Titel »Was soll der Roman?« veröffentlichten Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm in der Zeit vom 23. Juni 2005 ein Manifest, in dem sie sich sowohl vom vermeintlichen »Anything goes« der Postmoderne als auch von der scheinbaren »Pseudospontaneität« der jüngeren Popliteratur distanzierten und einen »Relevanten Realismus« auslobten, der sich im »Brennpunkt der gesellschaftlichen Diskurse« befinden und (im ästhetischen und politischen Sinne) parteiisch sein sollte.1 Nach der Veröffentlichung hagelte es zum Teil harsche Kritik an dem Text. Geradezu harmlos wirkt noch die Entgegnung Uwe Tellkamps, die zusammen mit weiteren Kommentaren direkt im Anschluss an die Proklamation abgedruckt wurde: »Werte Kollegen vom Relevanten Realismus! Wir müssen gute Bücher schreiben und schlechte vermeiden. The rest is irrelevant.«2 Deutlich ungehaltener reagiert der damalige Feuilleton-Chef der Welt Eckhard Fuhr: »Was sind das für Sprachkünstler und Dichter, die so etwas aufschreiben, statt sich schon beim Gedanken an diese Mischung aus ausgeleiertem Politjargon und Literatur-Funktionärsdeutsch zu erbrechen?«3 Wohl auch als Reaktion auf die zunehmend polemisch geführte Debatte um den Begriff des ›Relevanten Realismus‹ distanzierten sich in der Folge alle beteiligten Autoren mit Ausnahme Matthias Polityckis von dem Positionspapier. Im Neuabdruck des Textes im Rahmen von dessen Essayband Vom Verschwinden der Zukunft (2007) sind die Namen der anderen Autoren denn auch 1 2 3

Dean u.a.: Was soll der Roman. Tellkamp: Antwort. Fuhr: Was soll dieses Manifest. Beistand erhielten Politycki und die anderen beteiligten Autoren von Burkhard Spinnen. Vgl. Spinnen: Politische Phantomschmerzen.

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geschwärzt, was die Beteiligung dieser natürlich eher noch einmal besonders markiert, als dass es sie verdecken würde.4 Auch wenn heute, 14 Jahre später, nur wenige auf die Idee kämen, von einer nunmehr hereingebrochenen Epoche des Relevanten Realismus zu sprechen, zunächst also berechtigte Zweifel an einer langfristigen diskursverändernden Wirkung des Textes bestehen dürften, kann die Analyse des ZeitArtikels aus dem Juni 2005 doch zweierlei aufzeigen. Zum einen – so die zentrale These dieses Beitrags – kann das Manifest als ›häretischer Akt der Epochenbildung‹ charakterisiert werden. Hierunter sollen programmatische Zäsursetzungen gefasst werden, mithilfe derer sich (jüngere) Akteure im literarischen Feld von der dominanten literarischen Produktion abzugrenzen versuchen, indem sie den ›Begüterten‹ zugunsten einer projektierten zukünftigen Erneuerung der Literatur eine Absage erteilen. Die dabei wirksam werdenden Mechanismen haben sich in den letzten 200 Jahren erstaunlicherweise kaum verändert, weshalb das zeitgenössische Beispiel durchaus in eine Reihe zahlloser vorheriger Proklamation wie die des Poetischen Realismus oder auch der ›Ismen‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt werden kann.5 Zum anderen bieten der Text und die Reaktionen darauf die Gelegenheit, die Frage zu diskutieren, ob man in diesem konkreten Fall von einer gescheiterten Epochenbildung sprechen muss oder ob das Manifest nicht vielleicht Teil einer übergreifenden Entwicklung ist und somit doch als kleiner Beitrag zu einem allgemeinen Wandel der an Literatur herangetragenen Wertmaßstäbe interpretiert werden kann, der sich auch in Projekten anderer Autoren manifestiert und letztlich in eine neue Epochenkonstellation münden kann. Kurzum: Es kann ein Licht auf die Gelingensbedingungen von Akten der Epochenbildung geworfen werden. Bevor jedoch en détail auf die Proklamation des Relevanten Realismus eingegangen wird, muss zunächst das zugrundeliegende Modell der Exnunc-Epochenbildung (zumindest in seinen Grundzügen) skizziert und an einem historischen Beispiel exemplifiziert werden, um überhaupt eine Vergleichsbasis zu erhalten. 4 5

Vgl. Politycki: Relevanter Realismus, S. 102. Dieser Beitrag ist im Umkreis meines Dissertationsprojektes mit dem Titel Der Prozess der literaturgeschichtlichen Epochenbildung entstanden, in dem diesem Umstand systematisch nachgegangen wird.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

II.

Das Modell

Versteht man Epochenkonstruktionen nicht als statische Gebilde, sondern als beschreibbare, wenn auch stets vorläufige Ergebnisse eines dynamischen Prozesses, ist es essentiell, zwischen zwei Arten der Epochenbildung zu unterscheiden, und zwar der Entstehung von Ex-post- und Ex-nuncEpochenkonstruktionen, also einerseits nachträglichen wissenschaftlichen Konstruktionen und andererseits begrifflichen Konstruktionen, die zur Beschreibung aktueller kultureller Phänomene von den Zeitgenossen selbst geprägt werden. Ohne die unabdingbare Leistung wissenschaftlicher Periodisierungsversuche für die Kommunikation über Literatur in Abrede stellen zu wollen, verdienen auch solche Epochenkonstruktionen Aufmerksamkeit, die nicht ex post, sondern ex nunc entstanden sind – und zwar zum einen, weil aus ihnen ein Großteil der heute in Gebrauch stehenden Epochenbegriffe hervorgegangen ist, zum anderen, weil trotz aller Kritik auch aktuelle kulturelle Selbstbeschreibungen nach wie vor mit Zäsursetzungen operieren.6 Die im Kontext von Ex-nunc-Epochenbildungen hervorgebrachten programmatischen Äußerungen können als performative Akte der Epochenbildung beschrieben werden und erstaunlicherweise haben sich die in diesen Akten wirksam werdenden Mechanismen (mitsamt ihrer inhaltlichen und rhetorischen Prägung) auf einer abstrakten Ebene vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute kaum verändert. 6

In Folge einer kontrovers geführten Theoriedebatte seit den 1960er Jahren wurde auch die Kategorie der literarischen Epoche zunehmend fragwürdig. Um der Heterogenität der gebräuchlichen literarhistorischen Begriffe entgegenzuwirken und sie ihres weitergetragenen ideologischen Ballasts zu entledigen, kristallisierte sich spätestens in den 1980er Jahren ein Ideal wissenschaftlicher Epochenbildung heraus, dem zufolge Epochenabgrenzungen stets nur nachträglich, mit gehörigem zeitlichem Abstand, vorgenommen werden sollten und ihre Extraktion strengen wissenschaftlichen Kriterien zu folgen habe. Bahnbrechend hierfür war Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs, S. 98-131. Ein Problem dieses Ideals wissenschaftlicher Ex-post-Epochenbildung besteht darin, dass es eine Geringschätzung zeitgenössischer kultureller Selbstbeschreibungen impliziert, da eine Kennzeichnung der Gegenwart als Epoche der Annahme gemäß nicht möglich wäre. Die Erforschung ihrer Funktionen und ihrer prozesshaften Entwicklung geriet damit fast vollständig aus dem Blick. Einer der wenigen Beiträge, die eine solche Perspektive in den letzten Jahren eingenommen haben, stammt von Claudia Stockinger. Vgl. Stockinger: Die Konstruktion von Alterität. Stockinger bezieht sich vor allem auf Barner: Zum Problem der Epochenillusion.

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Um die bei Versuchen der Ex-nunc-Epochenbildung auftretenden Mechanismen zu erklären, scheint es zielführend zu sein, verschiedene Bezugstheorien heranzuziehen: erstens Performativitätstheorien,7 zweitens Bourdieus Theorie des literarischen Felds8 sowie drittens neuere Theorien der Kanonisierung und Wertung.9 Prototypisch entstehen solche Epochenkonstruktionen durch performative Akte, und zwar indem am literarischen Diskurs beteiligte Akteure (stilisiert und wiederholt sowie öffentlichkeitswirksam) auf einen Neubeginn in der literarischen Produktion hinweisen bzw. diesen einfordern. Im Hintergrund stehen dabei in der Regel Versuche jüngerer Autorengruppen, ihre Position im Feld zu verbessern, indem sie sich radikal von der etablierten Literaturproduktion absetzen, um ein Mehr an symbolischem Kapital zu erwerben.10 Es geht also um die Deutungsmacht im Feld, um die Dominanz über die Frage, was als zeitgemäße Literatur gelten kann. Entscheidend ist nun die besondere sich in den Äußerungen der Häretiker zeigende Verbindung von Distinktionsbedürfnis und Zukunftserwartung, aus welcher sich ein für die häretischen Akte charakteristisches inhaltliches und rhetorisches Profil ergibt – ein Profil, das aus einem seit der Autonomwerdung des literarischen Felds ähnlich bleibenden Bündel allgemeiner Merkmale besteht. Neben dem schon erwähnten performativen Gehalt von derartigen Akten der Epochenbildung betrifft dies das explizite Auftreten der Initiatoren 7 8 9

10

Vgl. zuletzt das die verschiedenen Theoriekerne zusammenfassende Handbuch von Fischer-Lichte: Performativität. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst. Bei Ex-nunc-Epochenbildungsprozessen ist eine enge Verbindung zu gleichzeitig stattfindenden Kanonisierungsprozessen anzunehmen. Dabei scheint der Rückgriff auf neuere Theorien der Kanonisierung und Wertung, speziell auf die Betrachtung von Kanonisierungsprozessen als invisible-hand-Phänomen (vgl. Winko: Literatur-Kanon als ›invisible hand‹-Phänomen), insbesondere für die zweite Phase der Konsolidierung von Ex-nunc-Epochenkonstruktionen zweckhaft zu sein. Da im vorliegenden Beitrag vor allem die Phase der Einführung einer neuen Epochenkonstruktion im Fokus stehen soll, wird an dieser Stelle nicht ausführlich hierauf eingegangen. Modell- bzw. skizzenhaft sind die Mechanismen in dieser späteren Phase wie folgt zu beschreiben: Nach der Einführung von Epochenkonstruktionen werden diese von anderen am Diskurs beteiligten Akteuren aufgegriffen und erfahren gleichzeitig eine Übertragung auf andere Autoren bzw. Kontexte. Die Zahl der am Prozess beteiligten Akteure steigt nun rasch an, wobei deren Intention im Einzelnen nicht unbedingt darin bestehen mag, einen neuen Epochenbegriff zu etablieren, deren kumulierte Begriffsverwendung zusammengenommen aber genau dies bewirkt. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 253-256.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

als Häretiker im Feld, die doppelte zeitliche Perspektive, das heißt der Negativbezug zur Vorgängerepoche bzw. das In-die-Vergangenheit-Verweisen konkurrierender zeitgenössischer Strömungen bei gleichzeitigem emphatischem Verweis auf die Verwirklichung des neuen Paradigmas in einer nahen Zukunft. Ebenfalls hervorzuheben ist die Tendenz zur forcierten Innovation und zu simplifizierenden Abwertungen sowie die damit zusammenhängende Entwicklung von Epochenbegriffen als Distinktions- und Erkennungszeichen. Zuletzt ist noch der Gruppencharakter der Unternehmungen hervorzuheben, der sich auch in Form der Beschwörung eines Generationenzusammenhangs oder eines bestimmten unhintergehbaren Zeitgeistes manifestieren kann. Bei den soeben in aller Kürze dargestellten Mechanismen, die bei Exnunc-Epochenbildungen wirksam werden, handelt es sich jedenfalls weder um Einzelphänomene noch um Beobachtungen, die etwa für die Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts reserviert wären. Im Gegenteil muss betont werden, dass es sich um Mechanismen handelt, die in analoger Form fortlaufend nachweisbar sind. Dies kann nicht zuletzt ein diachroner Vergleich von Textbeispielen aus verschiedenen Epochen aufzeigen. Zur Illustration des bisher nur abstrakt beschriebenen Modells sei daher im Folgenden ein historisches Textbeispiel aus dem Poetischen Realismus gewählt, das natürlich auch deshalb interessant ist, weil es mit dem Relevanten Realismus das zentrale Bezugswort teilt. Es handelt sich um einen programmatischen Artikel von Theodor Fontane aus dem Jahr 1853 mit dem ursprünglichen Titel »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848«. Schon in den ersten Sätzen des Aufsatzes reflektiert Fontane über die eigene Rolle als Häretiker und – dies ist eine kleine Besonderheit – über die Strategien der Orthodoxen im Feld: Es gibt neunmalweise Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goetheschen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären. […] Wollten jene Herren, die so grausam über alles Neue den Stab brechen, nach der eigensten Wurzel ihres absprechenden Urteils forschen, sie würden sie in selbstsüchtiger Bequemlichkeit und in nichts Besserm finden. […] Was uns angeht, […] so bekennen wir unsere feste Überzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten […].11 11

Fontane: Realismus, S. 140.

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Aussagen mit performativem Gehalt sind dann vor allem solche, die apodiktisch das gegenwärtige Zeitalter charakterisieren und erklären, was der Realismus (als neuer Zeitgeist) wolle: »[K]ein Zweifel bleibt: die Welt ist des Spekulierens müde und verlangt nach jener ›frischen grünen Weide‹, die so nah lag und doch so fern.«12 Dass sich Fontane als Teil einer größeren Gruppe bzw. Zeitströmung verstand, wird durch den durchgängigen Gebrauch der ›Wir‹-Form deutlich. Fontane war eng mit dem Grenzboten-Realismus von Julian Schmidt und Gustav Freytag verbunden und eine Aussage, wie diejenige, dass sie drauf und dran seien, einen neuen Dichtertypus zum Durchbruch zu verhelfen,13 ist eben nur im Kontext einer (wenn auch vagen) Gruppenzusammengehörigkeit verständlich.14 Im engen Zusammenhang mit dem Distinktionsbedürfnis der Gruppe zu sehen ist das Merkmal der forcierten Innovation und simplifizierenden Abwertung, das sich bei Fontane etwa in der Verwendung der positiv besetzten, aber eben äußerst vagen Kategorie des »Wahre[n]« sowie in einer plakativen Negativcharakterisierung der Vorgängerepoche der Romantik widerspiegelt, in der er »die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene« erkennt.15 Besonders interessant ist die diachrone Perspektive von Fontanes Aufsatz: So grenzt er sich – wie soeben beschrieben – einerseits nach ›hinten‹ ab. Andererseits macht er deutlich, dass man erst im Begriff sei, eine mit dem realistischen Paradigma verknüpfte »neue Blüte« der Literatur herbeizuführen.16 Es ist nicht das Lob dessen, was schon da ist, sondern der emphatische Verweis auf das Kommende, der diesen Text (und die Akte der Epochenbildung insgesamt) prägt.17 Zuletzt sei noch auf die Vehemenz hingewiesen, mit der die vermeintlich innovative Schreibweise mit einem Begriff, dem »Realismus unserer Zeit«,18 versehen wird und dieser mit übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen – er kennzeichne ihre Zeit »nach allen Seiten hin« – in Verbindung gebracht wird.19 12 13 14 15 16 17

18 19

Ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 140-141. Vgl. unter anderem Becker: Bürgerlicher Realismus, S. 95-98. Fontane: Realismus, S. 147. Ebd., S. 141. Im Kontext des Poetischen Realismus lassen sich die betrachteten Mechanismen zum Beispiel ähnlich prägnant auch bei programmatischen Artikeln Julian Schmidts nachweisen. Fontane: Realismus, S. 141. Ebd.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

III.

Die Proklamation des Relevanten Realismus als häretischer Akt der Epochenbildung

Zwischen Fontanes Text und der Proklamation des Relevanten Realismus durch Politycki und seine Mitstreiter liegen mehr als 150 Jahre. Auf Basis des soeben skizzierten allgemeinen Modells lässt sich aber auch diese als Akt der Ex-nunc-Epochenbildung, und zwar im Kontext eines postulierten Endes der Postmoderne, beschreiben.20 Eingangs seien dafür einige Textstellen aus dem besagten Zeit-Artikel zitiert: Vorn, ganz vorn sind immer noch die großmäuligen Alten, die Deutungshoheiten mit oder ohne Pfeife. Dicht gefolgt von den einst nicht minder lärmenden Damen und Herren um die sechzig. Den Emanzipierten um jeden Preis, die sich in splendider Isolation eingerichtet haben und aus dieser von Zeit zu Zeit mit steiler Geste zu Wort melden. […] Wir sind zu jung, um unsere Erfahrung weiter in den stickigen Kathedralen einer selbstreferenziellen Literatur verglühen zu lassen. Gleichzeitig sind wir zu alt, um einem populistischen Begriff von Realität aufzusitzen, wie ihn die jüngere Generation zum Markenzeichen ihrer Pseudospontaneität gemacht hat. Die Popliteratur ist tot, vorbei der Versuch, Problemdarstellung über die Infantilisierung der Gesellschaft zu betreiben. An den vorlauten Zeitgeistverlautbarungen und den Berührungsängsten der Sprachartisten vorbei ist unser Ziel eine relevante Narration, denn wir glauben, dass dem Roman heute eine gesellschaftliche Aufgabe zukommt: Er muss die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen, er muss die Problemfelder […] in eine verbindliche Darstellung bringen. Die Forderung nach mehr Relevanz leiten wir nicht nur aus unserem Alter ab, sondern auch aus dem Zustand einer »unheimlich« gewordenen Welt. Ihre Bewohnbarkeit beizubehalten und weiter zu erschließen ist die Aufgabe des Romans. Dies setzt voraus, dass der Schreibende eine erkennbare Position bezieht, die moralische Valeurs mit ästhetischen Mitteln beglaubigt. […] Wir leben nicht auf den Schultern, sondern auf den versatzstückhaften 20

Eine feldanalytisch andere Akzentuierung nimmt Heribert Tommek vor, der das Manifest als Versuch deutet, »die repräsentative, zwischen Moral und Ästhetik, politischem und literarischem Feld situierte Stellung der Gruppe 47 unter gewandelten, flexibel ökonomisierten und medialisierten Verhältnissen« einzunehmen (Tommek: Der lange Weg, S. 295).

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Trümmern von Riesen, doch was da von manchen als postmodernes Spiel des Anything goes betrieben wird, ist nach wie vor todernst: Erzählen ist die verkappte Äußerungsform des Moralisten […] Ein aus dem Druck zeitgenössischer Erfahrung resultierendes Erzählen könnte versuchsweise als »Relevanter Realismus« bezeichnet werden. Ebenso weit entfernt von Pseudoavantgarde wie von Zeitgeisterei, arrangiert der Relevante Realist seinen Stoff so kunstvoll zur Fiktion, dass sie beim oberflächlichen Lesen mit einem Abbild der Realität verwechselt werden könnte: inszenierter Realismus.21 Wie auch im Fontane-Beispiel lässt sich in dem Text von Politycki & Co. eine Vielzahl von Aussagen mit performativem Gehalt identifizieren. Dies betrifft insbesondere die Totsagung der Popliteratur und die Charakterisierung der poetischen Arbeit, die dem Relevanten Realisten zugeschrieben wird. Es wird deutlich, dass die Initiatoren als Häretiker auftreten. Dies offenbart schon der Einstieg in den Text, der die immer noch mit großem symbolischem Kapital ausgestatteten ehemaligen Vertreter der Gruppe 47, das heißt die Orthodoxen im Feld, anspricht. Zusätzlich wendet sich der Text gegen weitere Konkurrenten im Feld: gegen die in den Jahren zuvor äußerst erfolgreiche Popliteratur, gegen die ›um jeden Preis emanzipierten‹ 68er-Literaten sowie gegen die Vertreter einer genuin postmodernen Literatur, denen der Text mit dem mittlerweile fast zum Topos gewordenen Vorwurf begegnet, sie würde ein folgenloses »Spiel des Anything goes« betreiben. Letzteres leitet auch bereits über zu einem weiteren Merkmal von Akten der Ex-nunc-Epochenbildung: der forcierten Innovation und simplifizierenden Abwertung. So wird die postmoderne Literatur neben dem »Anything goes« nur mit einem weiteren Merkmal, dem der ›Selbstreflexivität‹, gekennzeichnet und aufgrund dessen als »stickige[] Kathedrale[]« gebrandmarkt. Die Popliteratur wiederum wird mit den Begriffen der »Pseudospontaneität« und ›Infantilität‹ abgewertet, ohne dass auch hier näher auf die konkrete Schreibweise eingegangen wird. Umgekehrt bleibt auch die Beschreibung der eingeforderten relevanten realistischen Literatur extrem vage: Denn aus der Erklärung, ein Autor solle seinen »Stoff so kunstvoll zur Fiktion [arrangieren; NB], dass sie beim oberflächlichen Lesen mit einem Abbild der Realität verwechselt werden könnte«, eröff21

Dean u.a.: Was soll der Roman.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

nen sich letztlich mehr Fragen, als dass sie beantwortet würden.22 Mit Blick auf das nächste Merkmal, der doppelten zeitlichen Perspektive, wurde ja bereits auf das Negieren von Traditionen hingewiesen. Konkurrierende poetische Konzepte wie die Popliteratur oder die Postmoderne werden als nicht mehr zeitgemäß in die Vergangenheit verwiesen. Gleichzeitig wird das vermeintlich neue Konzept des Relevanten Realismus nicht als ein bereits bestehendes vorgestellt, sondern als ein Projekt mit einer vagen Zielvorstellung, die es – rhetorisch unterstützt durch den Modalverbgebrauch – in der Zukunft zu verwirklichen gilt. Auch die letzten beiden Merkmale der Ex-nuncEpochenbildung treffen auf den Zeit-Artikel aus dem Juni 2005 zu: Es wird ein Epochenbegriff eingeführt, der theoretisch als Distinktions- und Erkennungszeichen dienen könnte, eben der Begriff des ›Relevanten Realismus‹, und mit der durchgängigen Verwendung der ersten Person Plural der Gruppencharakter der Unternehmung betont. Wie bereits angedeutet, sahen sich die Verfasser nach der Veröffentlichung des Artikels mit heftigem Gegenwind konfrontiert. Ein Hauptkritikpunkt war dabei – und nicht zu Unrecht, wie die soeben thematisierte Forciertheit des Textes offenbart – die Vagheit der Begriffe ›Realismus‹ und ›Relevanz‹. Zumindest den Begriff des ›Realismus‹ versucht Politycki in einem die Entstehungsgeschichte des Pamphlets und die anschließende Diskussion resümierenden Artikel aus seinem Essayband Vom Verschwinden der Zukunft näher zu fassen – wenn auch, wie er nunmehr betont, allein für sich selbst. Er erklärt, dass es sich bei der Proklamation des Relevanten Realismus keineswegs um die Huldigung eines »platten Abbildungsfuror[s]« gehandelt habe.23 Vielmehr sollte man stattdessen von einem »artistischen« bzw. »sentimentalischen Realismus« sprechen, der »auf einer idealistischen Haltung« beruhe.24 Eine gewisse Nähe dieser Begrifflichkeit zum Poetischen Realismus, dessen Vertreter sich ebenfalls gegen eine bloße Wiedergabe kontingenter Wirklichkeit wandten, ist nicht zu verkennen; jedenfalls wird letztlich auch hiermit das angeblich neue literarische Paradigma inhaltlich kaum gefüllt. In einem weiteren in der Welt erschienenen Artikel aus dem Dezember des Jahres 2005 mit dem Titel »Dies ist kein Manifest« weist Politycki schließlich 22

23 24

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die von Annette Keck beobachtete rhetorische Strategie des Textes, mittels Singularsetzungen »Relevanz zu behaupten« (Keck: Relevanter Realismus, S. 98). Politycki: Ohne Titel, S. 107. Ebd.

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darauf hin, dass die Untertitelung mit dem Manifest-Begriff gar keine eigene Entscheidung war, sondern von der Zeit-Redaktion eigenmächtig vorgenommen wurde: »alles hätte über unserem Text stehen dürfen, nur nicht das anmaßende 68er-Wort ›Manifest‹, das jede, wirklich jede damit verknüpfte Sache diskreditiert.«25 Der Impuls Polityckis, sich von früheren Versuchen, ein neues literarisches Paradigma zu begründen, abzugrenzen, mag aus den oben genannten Gründen nachvollziehbar sein. Die soeben vorgenommene Analyse des Artikels dürfte hingegen ebenfalls aufgezeigt haben, dass dieser hinsichtlich der hier wirksam werdenden Mechanismen in gleicher Weise als häretischer Akt der Epochenbildung gelten kann wie diejenigen früherer literarischer Strömungen, und zwar unabhängig davon, ob es als Manifest oder gänzlich neutral betitelt wird.26

IV.

Ein gescheiterter Versuch der Epochenbildung?

Interpretiert man die Proklamation des Relevanten Realismus als versuchten Akt der Epochenbildung, so stellt sich unweigerlich die Frage nach den Gelingensbedingungen. Dass das Manifest überwiegend kritisch aufgenommen wurde, ist dabei nicht von Vornherein als Indiz für ein Scheitern der versuchten Epochenbildung zu deuten. Die Heftigkeit, mit der Widerspruch eingelegt wurde, könnte umgekehrt sogar für ein Aufbrechen von Positionskämpfen zwischen den Verfechtern der dominierenden literarischen Paradigmen 25 26

Politycki: Ein Manifest, S. 110 [Neuabdruck des Artikels im Essayband Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft]. Annette Keck sucht in ihren Ausführungen zur Proklamation des Relevanten Realismus (vgl. Keck: Relevanter Realismus, insbesondere S. 95-96) vor allem den Vergleich zu den Manifesten der historischen Avantgarde und kommt dabei mit Blick auf die Charakteristika des Textes zu ganz ähnlichen Ergebnissen: So weist sie sowohl auf die »Performativität« einzelner Aussagen als auch auf »die Betonung der Gegenwart und de[n] Anspruch auf deren Transzendenz« hin; sie notiert die Begründung einer »kollektive[n] Identität« und einen »Angriff auf den Literaturbetrieb« wie auch einen »Anspruch[] auf literarische Innovation«. Wie der Vergleich mit dem Fontane-Aufsatz zeigt, gibt es jedoch nicht nur eine Schnittmenge mit dem avantgardistischen Manifest. Vielmehr ist der Blick unter Betonung der spezifisch-diachronen Perspektive auf häretische Akte der Epochenbildung insgesamt zu weiten und Kecks Aussage, Anklänge des Relevanten Realismus zum Konstrukt des Bürgerlichen Realismus seien zwar nicht zufällig, letzterer habe jedoch ironischerweise keine Manifeste produziert, zu relativieren (ebd., S. 93-94).

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

und einer mit geringerem symbolischem Kapital ausgestatteten Generation von Schriftstellern sprechen. Auch die Kritik an der mangelnden Füllung des Begriffs ›Relevanter Realismus‹ kann nicht per se als Grund für ein Scheitern der versuchten Epochenbildung gelten. Vielmehr ist bei der Einführung eines neuen Paradigmas eine gewisse Offenheit durchaus vonnöten, um letztlich ähnlich laufende Projekte zu absorbieren. Ein auf den ersten Blick schwerer wiegender Kritikpunkt hängt mit der Verwendung der ›Wir‹-Form zusammen. So kritisiert Juli Zeh in ihrer Entgegnung auf den Zeit-Artikel das vermeintlich unzeitgemäße Sprechen in der ersten Person Plural: Dem Manifest ist das tiefe Bedürfnis nach einem »wir« anzumerken – bei ebenso tiefsitzender Scheu, zu entscheiden, unter welchen Vorzeichen dieses »wir« stehen soll. […] Abgesehen davon ist dieses »wir« in einem so individualistischen Zeitalter wie unserem äußerst problematisch geworden, und vielleicht sollte man sich lieber entspannt-spielerisch zum »ich« bekennen, das ja nicht notwendig gesellschaftsfern sein muss, anstatt noch immer den kuscheligen Studentengruppen-Zeiten hinterherzuweinen.27 Mit dieser These steht Zeh nicht allein da. So erklärt Maxim Biller etwa im Jahr 2011 – und zwar in einem Artikel, der ebenfalls einen neuen Realismus postuliert – unser gesamtes Zeitalter zu einer »Ichzeit«, deren Protagonisten jede Form von Gruppenzwang, Massenidiotie und Ideologie ablehnen würden.28 In Kontrast zur Vorgängergeneration, die Biller als »im Stechschritt marschierende 68er« bezeichnet,29 und auch zur Kultur der ›Ismen‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die polemisch gefärbte Zeitdiagnose Billers wohl in der Tat ihre Berechtigung. Es muss jedoch angemerkt werden, dass derartige Vorbehalte gegenüber ausgreifenden Kollektivierungsversuchen mitnichten ein neues Phänomen sind, dass sie in der Geschichte vielmehr immer wieder geäußert wurden. Über Umwege vermochten es die handelnden Akteure in der Regel dennoch, einen über die Bedeutung für den Einzelnen hinausgehenden Zusammenhang herzustellen, indem sie alternativ etwa auf einen Generationszusammenhang oder einen herrschenden Zeitgeist verwiesen. 27 28 29

Zeh: Gesellschaftliche Relevanz. Biller: Ichzeit. Ebd.

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Und auch der bereits erwähnte Artikel »Ichzeit« von Maxim Biller ist interessanterweise durch einen solchen ›sekundären‹ Kollektivismus geprägt – wie der fast paradoxe Vergleich der beiden nachfolgenden Zitate verdeutlicht: Wir – Leser, Schriftsteller, Kritiker – leben, lesen und schreiben schon lange in einer literarischen Epoche und wissen es nicht. […] Die Literatur der Ichzeit ist natürlich nie auf die altmodische Art realistisch. Das darf sie auch nicht sein. Sie ist mal Cut-up, mal ein Hin und Her zwischen Gedicht und Roman, sie ist mal linear, mal irre Montage, und sie ist in dem Sinne post-postmodern, dass keiner ihrer schreibfertigen Autoren so tut, als wäre er ein auktorialer Tyrann; aber gleichzeitig, im Gegensatz zu Calvino und seinen ironischen Schülern, meint er jedes Wort ernst, todernst, denn er und sein blutendes Ich sind der Star, sind der Text, und vielleicht ist es auch genau andersrum.30 So individualistisch ein Zeitalter auch sein mag: Um der eigenen Programmatik Relevanz zu geben, müssen Formen der Kollektivierung – hier im Sinne einer Beschwörung eines epochalen Zusammenhangs bzw. einer neuen Dichtergeneration – gefunden werden, weshalb auch der von Zeh geäußerte Einwand gegen den Kollektivismus letztlich zu relativieren ist. Zwei andere Argumente, die für ein Scheitern des häretischen Akts von Politycki & Co. sprechen, sind dagegen gewichtiger: Erstens muss als eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein Akt der Epochenbildung gelingen kann, die Produktion von literarischen Texten gelten, die tatsächlich von vielen als distinkt wahrgenommen werden können. Der Neuheitswert mag zwar in der Regel in den Proklamationen übertrieben dargestellt werden, doch muss zumindest ein plausibler Zusammenhang zwischen der Stoßrichtung der Programmatik und der eigentlichen poetischen Textproduktion bestehen. Im Fall von Politycki scheint ein solcher jedoch nur bedingt herstellbar zu sein, wie die Reaktionen auf seinen drei Monate nach dem Zeit-Artikel erschienenen Roman Der Herr der Hörner zeigen. In einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schreibt Julia Encke: Wir haben uns zu Tode aufgeklärt, behauptet Politycki, jetzt brauchen wir Gegenaufklärung und einen neuen Glauben. Und er meint das ernst. […] Er hat den »relevant-realistischen« Roman »Herr der Hörner« geschrieben, der 30

Ebd. [Herv. N.B].

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seine Kuba-Reise in Fiktion verwandelte […] Was so schrecklich wild daherkommt, ist, man muß das sagen, allerdings ausgesprochen bieder geschrieben, so daß man dem Auf-der-Suche-nach-der-verlorenen-Frau-Broschkus [der Hauptfigur; NB] seine Entfesselung leider gar nicht abnimmt. […] Matthias Politycki hat die deutsche Wohlstandsbürgerlichkeit satt. Er wollte raus in eine wilde, vitale Welt. Nie wieder Deutschland! Endlich leben! Sein Roman, der unbedingt der Roman einer Grenzüberschreitung sein will, könnte deutscher aber gar nicht sein. Denn der Traum vom wilden Leben ist nur die Kehrseite des Spießigen, also genauso spießig.31 Auf den ersten Blick deutlich positiver bewerten Eberhard Falcke und vor allem Jörg Magenau Polityckis Roman. Dabei fällt jedoch auf, dass sich ihre Positivwertungen zuvorderst auf formal-stilistische Wertmaßstäbe stützen. So lobt etwa Falcke die »federnde[] narrative[] Rhetorik« des Romans,32 für Magenau wiederum ist Herr der Hörner ein »opulenter, funkelnder, sprachbesessener Roman«.33 Mit Distanz bzw. Befremdung begegnen sie dagegen der inhaltlichen Stoßrichtung des Romans, die auf die Gegenüberstellung eines – so Politycki – vitalen »Kraftüberschu[sses]« in Ländern Süd- und Mittelamerikas, Afrikas und Asiens und einer »epochale[n] Erschöpfung der gesamten alten Welt« zielt.34 Durch Vergleiche mit Oswald Spengler (Falcke) und dem Faust-Stoff (Magenau) wird das Innovationspostulat derselben relativiert, während die beiden Rezensenten mit der ironischen Erzählhaltung des Romans gerade einen Aspekt positiv hervorheben, den zumindest Magenau nach eigener Aussage auch bereits an Polityckis Weiberroman geschätzt hat.35 Pointiert gesagt: Nicht wegen, sondern trotz Polityckis Bemühungen, seiner literarischen Produktion eine ›relevante‹ inhaltliche Richtung zu geben, können sie dem Roman Herr der Hörner einiges abgewinnen. Das letzte Argument gegen eine diskursverändernde Wirkung des Manifests betrifft schließlich eine biographische Besonderheit der beteiligten Akteure: Es handelt sich nämlich nicht um eine Verlautbarung von neu ins Feld 31 32 33 34 35

Encke: Was nützt der Sex in Gedankenstrichen. Falcke: Abrakadabra, Tod und Teufel. Magenau: Das Ewig-Karibische. So Matthias Politycki in einem die Romanveröffentlichung begleitenden Aufsatz. Vgl. Politycki: Weißer Mann – was nun, S. 24. Vgl. Falcke: Abrakadabra, Tod und Teufel; Magenau: Das Ewig-Karibische. Eine ganz ähnliche Tendenz weisen auch die Besprechungen von Sandra Kerschbaumer und Maike Albath auf. Vgl. Kerschbaumer: Im Schweinsmaul; Albath: Alles so schön wild hier.

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eintretenden Akteuren, sondern, wie sie selbst schreiben, um eine des »adulte[n] Mittelfeld[s]«, das bereits seit Längerem im Feld aktiv ist.36 Auch wenn Politycki und die anderen beteiligten Autoren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine dominante Feldposition innehatten, so waren sie doch etabliert und – zumindest für Politycki gilt dies – auch schon an früheren Debatten, etwa um die ›78er‹-Generation beteiligt. Dies bildet den Hintergrund für die bereits zitierte polemische Entgegnung Eckhard Fuhrs: »Wir sind Zeugen eines Anfalls von Torschlußpanik. Vier Schriftsteller der mittleren Generation, drei Deutsche und ein Schweizer der Jahrgänge 1955, 1960 und 1964, treten mit einem ›Manifest für einen Relevanten Realismus‹ an die Öffentlichkeit.«37 Nun könnte man im Sinne der Performativitätstheorie John Austins argumentieren, dass mit einem höheren Grad an Etabliertheit im sozialen Raum auch die Sprecherautorität zunehme und damit letztlich die Chance, dass ein Sprechakt gelingt. Im literarischen Feld herrschen diesbezüglich durch »die Logik der permanenten Revolution« jedoch besondere Bedingungen.38 Die Spielregeln des literarischen Feldes besagen demnach, dass die permanente Erneuerung des Feldes häufig von jungen, nicht-etablierten Autoren ausgeht.39 Und dahingehend scheinen Politycki und seine Mitstreiter in der Tat nur bedingt berechtigt, in der dargestellten Weise als Häretiker aufzutreten. Trotz dieser berechtigten Einwände stellt sich die Frage, ob der Begriff des ›Scheiterns‹ für die Proklamation des Relevanten Realismus wirklich passt. Denn sie reiht sich ein in eine große Zahl von Stimmen, die zumindest inhaltlich in eine ganz ähnliche Richtung weisen. In diesem Sinne kann das Manifest des Relevanten Realismus durchaus als Symptom eines umfassenden Wandels in den an Literatur herangetragenen Wertmaßstäben gedeutet werden. Es lässt sich etwa beobachten, dass seit Ende der 90er Jahre die Postmoderne, die häufig plakativ mit Selbstreferenz und Offenheit identifiziert wird, zunehmend für beendet erklärt wird. Damit zusammenhängend beziehen sich die Akteure im literarischen Feld verstärkt auf inhaltliche Werte wie Wahrheit/Erkenntnis oder Moralität, auf relationale wie Realismus und Zeitgemäßheit sowie auf praktische Werte wie Lebensbedeutsamkeit und Sinnstiftung.40 Dies lässt sich sowohl auf Mikroebene – etwa in der veränderten 36 37 38 39 40

Dean u.a.: Was soll der Roman. Fuhr: Was soll dieses Manifest. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 202. Vgl. ebd., S. 269. Vgl. die Typologie axiologischer Werte in Heydebrand/Winko: Einführung in die Wertung, S. 114.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

Wertungspraxis einzelner Kritiker41 – als auch auf Makroebene – etwa in der sogenannten ›Kessler-Debatte‹ aus dem Jahr 201442 oder der Wertungspraxis bei wichtigen Konsekrationsinstanzen wie dem Deutschen Buchpreis43 – feststellen. Hiermit und mit den anderen aufgeführten Beispielen ist sicherlich eine Tendenz zur Konstruktion einer Epochenzäsur angedeutet.44 Letztgültig verifiziert werden kann sie zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht.

V.

Fazit

Der Vergleich der beiden Texte von Theodor Fontane und von Matthias Politycki – Texte, die zu einem gänzlich anderen Zeitpunkt erschienen sind – konnte zeigen, in welch großem Maße sich die Mechanismen der Ex-nuncEpochenbildung trotz eines großen zeitlichen Abstands zwischen den Zeitpunkten der Veröffentlichung und des gänzlich anderen gesellschaftlichen Kontexts, in dem diese stattfanden, ähneln. Diese erstaunliche Kontinuität lässt vermuten, dass es sich bei derartigen performativen Akten der Epochenbildung um ›quasi-rituelle Ausdrucksformen‹ handelt, die in der Geschichte des literarischen Feldes erprobt sind und die in dem unbewussten Glauben an dessen Spielregeln als notwendige Triebfedern seiner permanenten Erneuerung erachtet werden. Semantisch handelt es sich bei diesen Akten im Wesentlichen um (mehr oder weniger radikale) öffentliche Lossagungen von der etablierten literarischen Produktion, wobei sich eine doppelte zeitliche Perspektive daraus ergibt, dass gleichzeitig auf die mögliche Verwirklichung des neuen (noch nicht vollumfänglich umgesetzten) literarischen Paradigmas in einer nahen Zukunft verwiesen wird. Feldtheoretisch handelt es sich dabei 41

42 43 44

Ein prägnantes Beispiel bietet Frank Schirrmacher: Noch 1990, in einer späteren Phase des ›deutsch-deutschen Literaturstreits‹, verabschiedet dieser die deutsche Nachkriegsliteratur mitsamt der von ihren Kritikern so benannten ›Gesinnungsästhetik‹ (vgl. Schirrmacher: Abschied). 20 Jahre später kommt er dann zu einer geradezu konträren Einschätzung, wenn er die Frage stellt, ob die völlige Entpolitisierung von Literatur und literarischem Leben nicht ein ernstes Problem werde (vgl. Schirrmacher: Eine Stimme fehlt). Vgl. Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn. Vgl. Jürgensen: Würdige Popularität, S. 297. So spricht beispielsweise Walter Görner dem Manifest von Dean, Hettche, Politycki und Schindhelm den Status »einer literarischen Schlüsseldebatte unserer Tage« zu, indem er es als Symptom einer nunmehr angebrochenen »Zeit des Fraktalen« deutet (Görner: Sehen lernen, S. 124-127).

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wiederum um strategische Positionierungen der Häretiker im Kampf um die Deutungsmacht über die Frage, was als zeitgemäße Poetik gelten kann – wodurch sich letztlich auch die Rhetorik der forcierten Innovation erklären lässt, die diese Akte prägt. Der im Anschluss gestellten Frage nach dem Gelingen bzw. Misslingen der Proklamation des Relevanten Realismus als Akt der Epochenbildung kann nur mit einer zweigeteilten Antwort begegnet werden. Die Argumente, die für ein Scheitern angeführt werden (die vernichtende Kritik an dem Ansatz, sein unzeitgemäßer Kollektivismus, seine mangelnde Innovationskraft und das An-die-Öffentlichkeit-Treten der falschen Generation) sind zwar zu relativieren. Insbesondere die letzten beiden Argumente sind aber auch nicht von der Hand zu weisen, so dass ein flächendeckender und nachhaltiger Einfluss des Konzepts auf die literarische Produktion tatsächlich zu bezweifeln ist. Unter Betrachtung eines größeren zeitlichen Horizonts kann die Proklamation des Relevanten Realismus jedoch durchaus als Teil einer übergreifenden Entwicklung gedeutet werden, die sich insbesondere in einem Wandel der dominanten Wertmaßstäbe hin zu inhaltlichen und praktischen Werten und damit zusammenhängend in der Konstruktion einer Epochenzäsur in Richtung einer ›Ästhetik nach der Postmoderne‹ manifestiert. Entgegen ihrer Verlautbarung im Manifest entsprechen ihre Forderungen an eine neue Literatur also durchaus einem ›Zeitgeist‹, der in einigen Jahren zu einer neuen Epochenkonstellation kristallisieren kann – obgleich sich freilich ein notwendig einheitlicher Begriff dafür noch nicht durchgesetzt hat. Die Wortverbindung ›Relevanter Realismus‹ scheint es jedenfalls nicht zu werden.

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Florian Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn. In: Die Zeit vom 16. Januar 2014. https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteraturbrav-konformistisch [Stand: 20.12.2018]. Jörg Magenau: Das Ewig-Karibische. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2005. Matthias Politycki: Ein Manifest? Lächerlich! – Kein Manifest? Empörend! In: Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Bestimmte Artikel 2006-1998. Hamburg 2007, S. 110-115. Matthias Politycki: »Ohne Titel«. In: Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Hamburg 2007, S. 107-109. Matthias Politycki: Relevanter Realismus. In: Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Hamburg 2007, S. 102-106. Matthias Politycki: Weißer Mann – was nun? Ein Nachruf auf Lebzeiten. In: Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Hamburg 2007, S. 23-32. Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 1990. Frank Schirrmacher: Eine Stimme fehlt. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. März 2011. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ themen/literatur-und-politik-eine-stimme-fehlt-1613223.html [Stand: 20. 12.2018]. Burkhard Spinnen: Politische Phantomschmerzen. In: Die Welt vom 2. Juli 2005. https://www.welt.de/print-welt/article679892/Politische-Phantoms chmerzen.html [Stand: 20.12.2018] Claudia Stockinger: Die Konstruktion von Alterität. Zur Selbstorganisation von Epochen am Beispiel Lessings. In: Peter Wiesinger (Hg.): Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Band 6: Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten/Aufklärung – Klassik – Romantik/Die Wiener Moderne. Bern u.a. 2002, S. 39-45. Uwe Tellkamp: [Antwort]. In: Die Zeit vom 23. Juni 2005. Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Karl Richter/Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Stuttgart 1983, S. 98-131. Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin, München, Boston 2015.

Die Proklamation des ›Relevanten Realismus‹

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Urbarmachung des literarischen Feldes Zum produktiven Potenzial von Absagen am Beispiel der ›Parasitenpresse‹ Nicola Menzel

I.

Absagen im literarischen Feld der Jahrtausendwende

Viele Verlage informieren auf ihrer Homepage über ihren Umgang mit unverlangt eingesandten Manuskripten. Man könne keine Haftung für das Manuskript übernehmen, Unterlagen würden nicht zurückgesandt, es erfolge bei einer Absage keine Nennung detaillierter Gründe, es erfolge überhaupt keine Absage, man bitte darum, eine nicht erfolgte Antwort nach einigen Wochen als Absage zu verstehen – und von einer Nachfrage zum Stand der Prüfung des Materials werde auch dann gebeten abzusehen, wenn bis zu sechs Monate oder mehr vergangen seien.1 Wer eine schriftstellerische Tätigkeit anstrebt, erfährt, so scheint es, eine Vorzugsbehandlung, wenn überhaupt eine Absage erfolgt. Solchen Privilegierten versuchen verschiedene Bloggerinnen und Blogger wiederum mit Ratschlägen dazu zur Seite zu stehen, wie eine Absage vermieden werden kann, wie sie unwahrscheinlicher wird und wie mit ihr umgegangen werden sollte. So versucht eine Bloggerin beispielsweise zu ermutigen, indem sie den konstruktiven Aspekt von Absagen hervorhebt: »Ablehnungen sind ein notwendiger Teil auf dem Weg zur Veröffentlichung«.2 Absagen und Ablehnung aber müssen nicht, wie es die Blogautorin wohl meint, bloß im Sinne einer Verbesserungsästhetik wirken – die Absage als solche kann unmittelbarer produktiv gemacht werden, indem sie als Absage in ihrer materiellen Form oder in ihrer Aussage genutzt wird, um letztlich doch die Veröffentlichung zuvor abgelehnter literarischer Texte zu erreichen. 1 2

Vgl. die Informationen auf der Online-Seite der S. Fischer Verlage, des Suhrkamp Verlags und der Hanser Literaturverlage. Stein: Absagen vom Verlag.

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Im Folgenden zeige ich am Beispiel der Parasitenpresse, einem unabhängigen Lyrikverlag, wie ausgerechnet die zunächst destruktiv wirkende Mitteilung der Absage zur Positionierung im literarischen Feld und zur Verteidigung oder Stärkung der bereits erworbenen Position genutzt wird. Selbst ganze Institutionen kann die Absage hervorbringen, wie einleitend am Fall der Richard Brautigan Library gezeigt werden kann: Diese Bibliothek der unveröffentlichten Manuskripte, einst fiktiver Ort in Richard Brautigans Roman The Abortion3 wird 1990 in Burlington, Vermont tatsächlich von der eigens dafür eingerichteten Brautigan Library Foundation gegründet, um sich unveröffentlichter und vor allem auch abgelehnter Manuskripte anzunehmen. Mittlerweile wird der Bestand von über dreihundert Werken im Clark County Historical Museum in Vancouver, Washington archiviert. Ähnlich wie in Brautigans Roman geht es nicht darum, die Bücher der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – einsehbar sind sie nämlich nicht – sondern darum, ihnen einen Platz im Rahmen einer Institution zu geben und sie zu katalogisieren. Während im Roman aber neben dem Akt des Schreibens4 und Archivierens vor allem die Unzugänglichkeit der Texte zelebriert wird,5 rückt in der Realität der Eigenwert des Ungewollten in den Fokus – so betitelt die New York Times ihren Bericht über die Bibliothek mit »A Library for World’s Nobodys«,6 und im Magazin Rolling Stone wird geschlussfolgert: »For all aspiring writers growing tired of the endless stream of rejection letters: You can finally see 3 4 5

6

Vgl. Brautigan: The Abortion. Im Roman wird das Schreiben und Beenden eines Buchs als wunderbares Erlebnis geschildert (vgl. ebd. S. 14 und S. 18). »It doesn’t make any difference where a book is placed because nobody ever checks them out and nobody ever comes here to read them. This is not that kind of library. This is another kind of library« (ebd., S. 20), heißt es in The Abortion. Einen Nutzen, außer als Ort für die Abgabe und Aufbewahrung der Bücher zu dienen, scheint die Bibliothek nicht zu haben. Als Grund für die Existenz wird lediglich ein unbestimmtes Bedürfnis genannt: »The library came into being because of an overwhelming need and desire for such a place. There just simply had to be a library like this« (ebd., S. 22). Über den Inhalt der Bücher, die die Autorinnen und Autoren selbst in der Bibliothek abgeben, wird in der Erzählung wenig bekannt gegeben. Selbst im Bibliothekskatalog wird statt einer Inhaltszusammenfassung der subjektive Eindruck des Bibliothekars über die Erscheinung des Autors oder der Autorin vermerkt, die Sätze, die bei der Abgabe des Buchs gewechselt wurden, sowie andere Umstände der Begegnung (vgl. ebd., S. 25-31). Chapman: A Library for World’s Nobodys.

Urbarmachung des literarischen Feldes

your words of wisdom on a library shelf.«7 Es geht also vornehmlich um die Anerkennung des Randständigen, dem keine Position im literarischen Feld zukommt – die es durch die Aufnahme in eine Institution schließlich aber doch erhält, zumal manche Texte mittlerweile auf der Homepage der Bibliothek zum Download bereitgestellt werden. Damit unterscheiden sie sich im Zugangsstatus grundsätzlich von denen, die an Brautigans fiktivem Ort archiviert werden. Nicht mehr die Unzugänglichkeit verleiht diesen Texten ihre Besonderheit, es ist vielmehr der Weg, über den sie trotz aller Umstände doch noch publiziert wurden. Mit dem Prozess der Brautigan Library von der Fiktion zum Onlineportal lässt sich mithin das Produktivitätspotenzial aufzeigen, das in der Absage liegt. Gerade weil es sich um abgelehnte Bücher handelt, die Eingang in die Bibliothek finden, kann letzten Endes veröffentlicht werden – überhaupt nur aufgrund einer ursprünglichen Absage also.

II.

Bibliodiversität und Schutz seltener Arten

Was zur Zeit der Veröffentlichung von Brautigans Roman noch wie ein irrwitziger Aufwand gewirkt haben muss – die Veröffentlichung eines Buches, das keinen Verleger, keine Verlegerin begeistern kann –, ist heute kaum noch der Rede wert. Im Rahmen von Selfpublishing und Print-on-Demand-Angeboten können Texte ohne Aufwand und mit geringen Kosten mittlerweile auf vielen Plattformen digital veröffentlicht und verbreitet oder auch als gedrucktes Buch auf den Markt gebracht werden. Für die Brautigan Library geht es allerdings nicht um die Vermarktung der Titel, sondern, folgt man der Selbstbeschreibung, um den demokratischen Akt, der mit der Sichtbarmachung der Titel einhergeht. »The Brautigan Library is not about being published, or even about literature. It’s about people telling their stories in a democratic way. It is a home for grassroots narratives in a digital age«, wird der Kurator auf der Homepage zitiert.8 Die Bibliothek ist eine der Institutionen, die ein Zeichen im Sinne der um das Jahr 2000 aufkommenden Bibliodiversitätsforderung setzt.9 Das tut 7 8 9

Jedeikin/Love: Brautigan Library. The Brautigan Library: FAQs. Vgl. für einen Überblick zu der Bewegung die Online-Seite der International Alliance of Independent Publishers: Observatoire de la bibliodiversité; sowie deren Zeitschrift Bibliodiversity, insbesondere die erste Ausgabe Bibliodiversity Indicators.

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sie nicht nur, indem sie sich für kulturelle Vielfalt ausspricht, auch die Wortwahl in der Aussage des Kurators stellt eine Verbindung her. Mit dem Begriff der »grassroots« – der im Englischen eine gesellschaftliche Bewegung bezeichnet, die aus der Bevölkerung initiiert wird –, schließt sich die Aussage auch an die für den Bibliodiversitätsdiskurs übliche Übertragung demokratischer Handlungen in den Bildbereich der Botanik und Landwirtschaft an. Die Metaphorik zeigt sich nicht nur in der Benennung der Bewegung selbst in Anlehnung an den Begriff der Biodiversität, besonders stark wird sie auch in einem 2014 erschienenen Manifest der australischen Lyrikerin und Verlegerin Susan Hawthorne im gesamten Text gebraucht. Hawthorne bezieht sich als Autorin auf dem buchpreisungebundenen australischen Kulturmarkt mit ihrer Bibliodiversitätsforderung vor allem auf unabhängige Verlage. Diese, so heißt es in ihrem Manifest, seien »de[r] Ursprung der kulturellen Vielfalt«.10 Hawthorne fordert Artenvielfalt und -schutz statt Monokultur im literarischen Feld. »Just as biodiversity is an indicator of the health of an ecosystem, the health of an eco-social system can be found in its multiversity, and the health of the publishing industry in its bibliodiversity«,11 erklärt Hawthorne die Rolle von Bibliodiversität. Jedes Pflänzchen soll wachsen und gedeihen dürfen. Wird im Deutschen solch ein Biologismus gewöhnlich mit Skepsis gesehen, beispielsweise aufgrund der Befürchtung, mit der Anwendung solcher begrifflicher Übertragungen auf die Gesellschaft legitimatorische Leerstellen zu füllen, oder mit Blick auf Sinnübertragungen zur Stützung von Rassenideologien, scheint die Verbildlichung in Bezug auf den Buchmarkt insofern unproblematisch als sich die Bibliodiversitätsbewegung gerade gegen Gleichschaltung sowie rassistische und sexistische Diskriminierung stark macht.12 Vergleichbar erscheint die Metaphorik in ihrer politischen Ausrichtung zumindest aus Frankfurter Perspektiver zudem dem Sinnbild, das mit dem Namen einer linksgerichteten Zeitung der Sponti-Szene in den 1970er-Jahren verbunden ist: dem Pflasterstrand.13 Es geht auch Hawthorne um eine ›beton10 11 12

13

Hawthorne: Bibliodiversität, S. 12. Hawthorne: Bibliodiversity, S. 13. Hawthorne baut ihre Überlegungen grundsätzlich aus feministischer Perspektive auf. Damit einhergehende Argumente sind Bestandteile des gesamten Manifests. Vgl. Hawthorne: Bibliodiversity. Der Name lehnt sich an den Slogan ›Unter dem Pflaster liegt der Strand‹ an, der der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre und der Situationistischen Internationale zugeschrieben wird. Die Zeitung wurde von Marc Daniel Cohn-Bendit her-

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sprengende Kraft‹ kleiner Verlage. So heißt es im Manifest, sie seien es, die wie »kleine[] grüne[] Pflanzen, […] durch die Risse des Asphalts wachsen«, die »wie seltene Pflanzen […] zwischen den größeren auftauchen und etwas anderes hinzutun: Sie nähren den Boden und bringen Farben und Gerüche in die Welt.«14 Den Boden für die aktuelle Rhetorik bezüglich unabhängiger Buchprojekte liefert vermutlich aber nicht nur die politische Ausrichtung, sondern auch der Zusammenhang von Wertorientierung und Buchmarkt, wie ihn Andreas Reckwitz und Lucien Karpik mit Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft beschreiben.15 Das ›Besondere‹, insbesondere kulturelle Produkte, sind nach Karpik nicht als marktabgewandt zu betrachten, sondern aufgrund ihrer Singularität Teil des Marktes. Gerade aufgrund der Zuschreibung von Individualität erfolge eine Valorisierung. Reckwitz sieht im Anschluss daran als Grundlage für die Produktion des Singulären, von Singularitätsgütern, ein Interesse am Einzigartigen, das alle sozialen Bereiche einer gegenwärtigen westlichen Gesellschaft durchziehe und sie damit wiederum zum Teil einer allgemeinen sozialen Logik werden lasse. Er weist darauf hin, dass auch die Landwirtschaft einer »Logik der kulturellen Singularitätsgüter«16 folge, zum Beispiel dann, wenn Bioprodukte sich über einen Authentizitätsanspruch verkaufen. Ethischen Konsum nennt Reckwitz unter anderem als Singularitätssymptom: »Kriterien für den ethischen Wert der Nahrung liefert insbesondere die Art und Weise ihrer Produktion: ökologisch, lokal, nachhaltig, artgerecht.«17 Es sind solche Kriterien, die mit der Metaphorik der Bibliodiversität angesprochen werden. Sie stellt eine Ähnlichkeitsbeziehung her zwischen Büchern und der Rettung gefährdeter Arten. Hawthorne fordert einen ökologischen, ethischen Konsum auch in Bezug auf Literatur ein, wenn sie in ihrem Manifest verlangt, dass auf dem Buchmarkt noch etwas anderes zu bekommen sein müsse, als »[d]ie einheitlich aussehenden Tomaten«,18 »die leuchtend rote, aber geschmacklose Tomate im Supermarkt.«19

14 15 16 17 18 19

ausgegeben, um, wie es in der Nullnummer heißt, der Zersplitterung der linken Szene entgegenzuwirken. Vgl. Pflasterstrand. Hawthorne: Bibliodiversität, S. 11. Vgl. Karpik: Mehr Wert; Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 116. Ebd., S. 312-313. Hawthorne: Bibliodiversität, S. 91. Ebd., S. 31.

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Auch die deutsche Presse und die Monopolkommission bedienen sich einer Öko-Metaphorik, wenn es um den Buchmarkt geht. Der Deutschlandfunk etwa schwärmt in Anlehnung an Hawthornes Vergleich von »kleinen, unabhängigen Verlage[n], die wie seltene Pflanzen leuchten und neue Farben und Gerüche in die Welt bringen«20 und die Monopolkommission spricht im Mai 2018 der deutschen Bundesregierung im Sondergutachten 80 die Empfehlung aus, »zum Schutz des Kulturgut[s] Buch« unter anderem ein klar definiertes »Schutzziel« zu formulieren und eine Prüfung der »Schutzdefizite« vorzunehmen.21 Wie eine Schlagzeile der Frankfurter Rundschau allerdings zeigt, ist die rhetorische Ausrichtung leicht umkehrbar, bewegen wir uns schließlich nicht im zu rettenden Regenwald, sondern auf dem deutschen Buchmarkt (für den noch dazu einige Bäume herhalten müssen). Die FR titelt mithin »Rettet uns vor den Gorillas«22 und meint damit Amazon, Google und Apple – drei Arten, die nicht als schützenswert gelten – ganz im Gegensatz zum für die Metapher gebrauchten Tier. Grundsätzlich aber geht es bei der Forderung nach Vielfalt auf dem Buchmarkt also um gefährdete Exemplare. Um es mit Pierre Bourdieus Begriffen zu sagen: Um solche Akteure, die sich noch keine Position im literarischen Feld sichern konnten.23 Im Folgenden will ich mich ausführlicher einem solchen Exemplar widmen, der Parasitenpresse, deren Name nicht nur wieder eine biologische Metapher nutzt. Sie hat auch eine Strategie im Umgang mit Absagen entwickelt: Die sich in der Ablehnung der eingereichten Texte manifestierende Absage wird urbar gemacht und im Rahmen der Verlagsentstehung kultiviert. Damit positioniert sich die Parasitenpresse – und hier lässt sich wieder an Reckwitz und Karpik anschließen – gerade als das Besondere, das Abgelehnte, das zu Rettende im literarischen Feld.

III.

Die Absage als Gründungsmythos der Parasitenpresse

Unter dem Namen ›Parasitenpresse‹ existiert seit 18 Jahren in Köln ein Verlag für Lyrik. Mit Adrian Kasnitz, der zusammen mit Wassiliki Knithaki der Gründer und Verleger der Parasitenpresse ist, habe ich ein Interview geführt. Er hat mir von der Entstehungsgeschichte des Verlags berichtet: 20 21 22 23

Kahlefendt: Vielfalt statt Monokultur des Denkens. Monopolkommission: Sondergutachten 80. Geissler: Rettet uns vor den Gorillas. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst.

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Wie das dann so ist, mit fünfundzwanzig schickst du deine Texte weg und schickst sie an die großen Verlage, weil du auch keine anderen kennst. Die kamen natürlich immer zurück in diesen großen braunen Briefumschlägen. Ich hatte dieses Papier, diese Absagen, gesammelt, aus so bisschen einer Sammelleidenschaft für Papier und gedacht irgendwie ist es zu schade das wegzuwerfen, daraus kann man mal was machen. Und dann kam irgendwann die Idee, man könnte daraus ja eine Art Heft machen.24 Die Hefte, die Kasnitz mir zeigt, sind im Taschenformat und bestehen aus zugeschnittenen Briefumschlägen, Packpapier, Papiertüten (vgl. Abb. 1). Die gefalzten und mit Heftklammern getackerten Bögen, die an den Rändern ungeschnitten geblieben sind, verbergen die Adressen, Briefmarken und Stempel der einstigen Umschläge auf der Innenseite des Papiers (vgl. Abb. 2). Auf der Außenseite sind die Gedichte gedruckt. Wollte man sich deren Rückseiten genauer ansehen, müsste man dem Heft mit einem Papiermesser zu Leibe rücken. Abb. 1 Die ersten Lyrikhefte der Parasitenpresse

24

Interview der Verfasserin mit Adrian Kasnitz vom 15. Juni 2018 in Köln, Min. 05:5506:45. Im Folgenden mit der Sigle AK im Fließtext zitiert. Alle aus dem Interview verwendeten Zitate und Paraphrasierungen wurden von Adrian Kasnitz autorisiert.

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Abb. 2 Lyrikheft aus altem Briefumschlag

»Die Absagen haben dann nicht mehr gereicht« (AK, Min. 07:48-07:49), sagt Adrian Kasnitz. Denn nicht nur für sich und seine Lyrik bastelt er Hefte, sondern auch gemeinsam mit anderen Dichterinnen und Dichtern, die er im Interview als enge Szene junger Autoren und Autorinnen um die Jahrtausendwende beschreibt: Ich selber als Dichter und andere Leute, die geschrieben haben, hier in Köln, in Berlin und anderen Orten, hatten sich als Szene gefunden übers Schreiben, über erste Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, bei Lesungen und das wurde immer enger und die Leute wurden immer besser und haben auch teilweise schon ihre ersten Stipendien bekommen. Da war klar, die schreiben alle ambitioniert, die wollen alle was mit Literatur machen. Und alle haben sich natürlich ein Buch gewünscht. Aber um das Jahr 2000 war die Situation so, dass die großen Verlage, die es damals gab, gerade Suhrkamp, die edition suhrkamp zum Beispiel, die eigentlich auch immer für junge Autoren offen waren, dass die ihr Lyrikprogramm runtergefahren haben, und es letztendlich einfach keine Möglichkeit gab, da was zu machen. (AK, Min. 01:46-02:53) Für viele, so Kasnitz, waren dann die selbstgebastelten Hefte die erste Möglichkeit, bei Lesungen etwas zum Verkauf anbieten zu können und eine ers-

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te Veröffentlichung bei Bewerbungen auf Preise und Stipendien vorzulegen. Publiziert werden die Hefte nämlich von Anfang an ganz offiziell unter dem Label ›Parasitenpresse‹. Und für einige wie Ron Winkler, Björn Kuhligk oder Tom Schulz, deren Texte mittlerweile im Schöffling & Co Verlag und im Hanser Verlag publiziert werden, bildeten sie nach Kasnitz auch die Grundlage für den Schritt in den größeren Literaturbetrieb (vgl. AK, Min. 05:17-05:40). Aus den Heften, die zunächst ohne Internationale Standardbuchnummer verzeichnet werden und somit für den regulären Buchhandel nicht sichtbar sind, entwickelt sich eine Reihe, der Druck wird außer Haus gegeben und den Einband bilden nun regulär Aktentrenner (vgl. Abb. 3), die, so Kasnitz, noch als Zitat der ersten, aus den Umschlägen der Absagebriefe gebastelten Hefte verstanden werden können (vgl. AK, Min. 19:20-20:12). Abb. 3 Heftumschlag aus Aktentrenner

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Mittlerweile sind etwa 80 Hefte und Bücher entstanden, seit einigen Jahren auch Taschenbücher. Diese werden im Impressum immer noch als »Die nummernlosen Bücher« bezeichnet und es sind weder Barcode noch Nummernfolge abgedruckt. Im VLB, im ›Verzeichnis lieferbarer Bücher‹, verfügen sie mittlerweile aber alle über eine ISBN und sind damit markttauglich geworden. Die Reminiszenz an die Anfänge zieht sich mit der Betitelung der Reihe als ›Nummernlose Bücher‹ aber bis zu diesen neusten Publikationen durch. Nicht abgedruckt würde die ISBN, so Kasnitz, weil er den Eindruck hätte, die Bücher durch einen Barcode als Produkt abzustempeln (vgl. AK, Min. 29:48-29:55) – eine Position, in der er sie ungern sehen möchte. Vor dem Hintergrund der Verlagsgeschichte erscheint das als Geste der Selbstermächtigung. Denn haben sich die ersten Hefte noch aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, um zumindest im geringen Maße sichtbar sein zu können, weist der Verlag heute gerade dadurch ein Selbstbewusstsein auf, dass es sich bei seinen Lyrikheften um kein reguläres Produkt handelt, sondern um eines, das einen bestimmten Weg über die anfängliche Lösung des Selbstmachens und des Handgefertigten gegangen ist. Dass der Verlag immer wieder als ›punkig‹ etikettiert wird, markiert Kasnitz im Interview als Fremdzuschreibung (vgl. AK, Min. 30:52-31:18). So sind zwar Bezüge zur Do-it-yourself-Bewegung des Punk denkbar, denn das Individuelle, Selbstgemachte der Hefte mit ihren Klebestellen, den ungerade geschnittenen und getackerten Seiten, könnte durchaus als Abgrenzung von der üblichen Kommerzialisierung verstanden werden. Aber eine Anti-Haltung, die man mit dem Bezug auf Punk-Bewegungen dem Verlag auch zuschreiben müsste, macht sich im Interview mit dem Verleger nicht bemerkbar: keine Kampfansagen, keine Absage an einen gleichförmigen Markt, nichts lässt auf ein Rebellentum schließen.25 Die ersten Lyrikhefte werden vielmehr als Möglichkeit für die Autorinnen und Autoren beschrieben, Aufmerksamkeit zu generieren. Damit rückt das Verfahren, die Aneignung des fremden Materials und die dadurch entstandenen optischen Besonderheiten in Richtung dessen, was Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf als »valorisierende Differenz«26 bezeichnen und was Andreas Reckwitz unter dem Be25

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Einiges des in diesem Beitrag an der Parasitenpresse Gezeigtem beschreibt Christian Metz in seinem Buch Poetisch Denken für die gesamte Lyrikentwicklung der Gegenwart. Vgl. zur Lebensform der neuen Lyrikerinnen und Lyrikern sowie ihrem Verhältnis zu ökonomischen Gesichtspunkten vor allem S. 33-37. In Bezug auf den Verlag kookbooks und die Vergleichbarkeit mit dem Punk vor allem S. 38-39. Joch/Mix/Wolf: Mediale Erregungen, S. 1.

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griff des Kreativitätsdispositives27 subsumiert – demnach wäre das Singuläre schon längst auf dem Markt angekommen.28 Zur Positionierung dienen aber nicht nur die Erzählung vom Ursprung in der Absage und die optisch auffallenden Lyrikhefte, sondern es ist auch der Name ›Parasitenpresse‹, der für eine Aufmerksamkeitsgenerierung und Positionierung im literarischen Feld denkbar geeignet ist. Das ist nicht nur der Fall, weil Suchmaschinen online keine Stichwort-Konkurrenz aufzeigen, der Name kann auch unter anderem aufgrund der vergangenen antisemitischen Nutzung des Parasitenbegriffs in seiner pejorativen Bedeutung zunächst negativ aufstoßen. Es findet durch die Selbstbezeichnung als Parasit aber eine positive Umdeutung statt.29 Einerseits, so Kasnitz, spiele der Name natürlich mit der immer vorhandenen Abhängigkeit der Literatur von Zuwendungen, dem Bild vom Dichter als Bedürftigen, der vom Schreiben allein nicht leben kann (vgl. AK, Min. 24:29-24:53). Aber der Begriff des Parasiten bringt weitere Bedeutungsvarianten mit sich: Anders als das Wort ›Schmarotzer‹, das sich aus dem vermutlichen frühneuhochdeutschen Verb ›smorotzer‹ (Bettler) ableitet,30 ist der Begriff des Parasiten ursprünglich nicht negativ konnotiert. In der Antike ist der Parasit, der ›parasitus‹, noch der Tischgenosse, der »neben oder mit einem anderen« speist.31 Der Philosoph Michel Serres ergänzt das Bild vom Parasiten als Mitessendem noch durch die Ausführung, dass dieser meist reisende, also von außen kommende Gast, zugleich einer ist, der Geschichten bringt und diese bei Tisch erzählt.32 Adrian Kasnitz verweist, als ich ihn nach dem Verlagsnamen frage, ebenfalls auf Michel Serres, und eine weitere Verwendung des Parasitenbegriffs, die dieser anführt. Im Französischen bezeichnet ›bruit parasite‹ ein Störgeräusch in der Kommunikation. Der »Lärm«, die »Störung einer Nachricht«, das »Rauschen im Kommunikationskanal«33 ist eine Abweichung, die die Ordnung eines Systems verändert.34 Für die Parasitenpresse ist diese Bedeutung zentral. Über den Parasiten als Störung in der Kommunikation sagt Adrian Kasnitz: »Und das ist eigentlich 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Vgl. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Vgl. Musolff: Metaphorische Parasiten und »parasitäre« Metaphern. Vgl. Art. schmarotzen, S. 662. Art. Parasit, S. 615. Vgl. Serres: Der Parasit, S. 57. Ebd., S. 20. Ebd., S. 282.

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auch eine schöne Funktion für Lyrik und Gedichte. […] Sie sind in einer anderen Sprache geschrieben […]. Es fällt aus der Alltagssprache raus und damit ermöglicht es etwas anderes, ein Nachdenken über Sprache und Macht von Sprache« (AK, Min. 26:37-27:10).

VI.

Das parasitäre Verfahren der Parasitenpresse

Damit ließe sich nun wieder anknüpfen an Bibliodiversität, an das Fremde, das hinzukommt, das andere, das neue Geschichten und Formen mit sich bringt und für Vielfalt sorgt. Unter jenen Tisch, an dem der Mitessende so friedlich sitzen könnte, müsste dann aber fallen, dass der Parasit eben doch auch eine störende Funktion hat. Er kann Neuformierungen erzeugen: »Er verwirrt die alte Reihe, die Folge, die Botschaft, und er komponiert eine neue«, heißt es bei Serres.35 Solch eine Neukomposition, eine Verwirrung geschieht auch dann, wenn die Parasitenpresse Gedichte auf endoparasitäre Weise hineinsetzt in den Körper, das Material, das Papier der Absage. Die Mitteilung ist die Existenzbedingung der Absage, nur durch ein Medium tritt sie in Erscheinung. Im Fall der Parasitenpresse ist der Inhalt der Absage, sind die Gründe dafür, also völlig irrelevant. Sie ist vielmehr in ihrer materiellen Form und als Ablehnung per se für den Verlag nützlich – einerseits um die Produktion darauf aufzubauen, andererseits, um das Stigma der Absage als Ausgangspunkt der Verlagsentstehung zu inszenieren.36 Mit diesem parasitären Verfahren wird die eigentliche Bedeutung der Absage umgekehrt. Das parasitäre Verfahren führt zu einem Paradoxon: Das Unbedeutende wird durch die Umdeutung zur Bedeutung – und umgekehrt. Die Absage nämlich, die zunächst die Gedichte als nicht gut genug oder zumindest nicht-nutzbar, nicht-verwertbar abgelehnt und damit die Teilhabe am Betrieb verwehrt hat, wird selbst als wertlos abgelehnt, indem lediglich ihr Umschlag zum eigentlich brauchbaren Gegenstand umgedeutet wird. Damit erteilt die Parasitenpresse selbst eine Absage – eine Absage an bestehende 35 36

Ebd., S. 283. Den Begriff der ›Inszenierung‹ verwende ich nicht in dem Sinn des Vorgebens oder Täuschens, sondern im Sinn von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser als »jene textuellen, paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von SchriftstellerInnen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen« (Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 10).

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Buch- und Veröffentlichungsformate. Sie nutzt damit gerade nicht andere mögliche ›billige‹ Veröffentlichungsmethoden wie das Self-Publishing, um die abgelehnten Texte zu publizieren, sondern nähert sich der Form des Künstlerbuchs an und erfährt damit eine Aufwertung. Die Gestaltung der Hefte ist nämlich nicht nur ein produktionsästhetischer Akt, dieses ›Gemachtsein‹ führt, so wie es beispielsweise bei Künstlerbüchern der Fall ist, zu einer Ausstellung der eigenen Medialität.37 Dass es sich lediglich um die Umschläge der Absageschreiben handelt, die die Parasitenpresse für ihre Gedichthefte nutzt, ist vor allem in einem intermedialen Kontext interessant. Bei der Absage und ihrem Briefumschlag geht es um mehr als bloß eine Regelung der Deutschen Post, jegliche private Schreiben in Briefumschlägen zu verschicken – diese sind für sich schon mit Bedeutung aufgeladen. In Internetforen38 beispielsweise vertreiben sich Bewerber und Bewerberinnen nach der Abgabe ihrer Unterlagen die Wartezeit und zelebrieren die Aufregung über das Kommende, indem sie darüber diskutieren, ob sich eine Absage möglicherweise schon am Briefumschlag erkennen lässt. Durch amerikanische Serien, deren Protagonisten Figuren im Highschoolalter sind und Bewerbungen an Colleges verschicken, ist das Entgegennehmen der je nach Ab- oder Zusage unterschiedlich großen Briefumschläge in die Popkultur eingegangen.39 Schon der Umschlag also erfährt eine Semantisierung. Und hier, beim parasitären Verfahren der Parasitenpresse, dient er nicht dazu, die Schande der Absage im Inneren des Umschlags zu verbergen, im Privaten zu belassen, sondern er dient nunmehr zur Materialisierung der Gedichte, als Träger der literarischen Texte, die er sichtbar werden lässt. Dass Lyrik sich nicht mehr verstecken muss, also sichtbar wird, 37 38

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Vgl. Schmitz-Emans/Bachmann: Literatur – Künstlerbuch – künstlerisch gestaltetes Buch, S. 11. So eröffnet beispielsweise der oder die User/in ›Ich‹ im Online-Forum precore.net am 26. April 2005 den Thread Briefe der Uni? Absage/Zusage? mit der Frage: »Sagt mal, wenn man die Mappe bewertet bekommt, und der Brief einen nach Hause kommt, ist der Absage Brief dünn und der Zusagebrief dick, weil da die weiteren Bewerbungsformulare dabei sind? Oder sind beide geich [sic!] dick?«. Im Forum studisOnline. fragt ganz ähnlich ›Anonym‹ am 08. August 2006: »Ist es eigentlich richtig, dass man seine Zulassung oder Absage an der Größe des Briefumschlags erkennt? Also: Großer Umschlag – Absage, kleiner Umschlag – Zusage ? Oder ist das totaler Quatsch?«. Explizit auf die Größe des Umschlags bezieht sich in der Serie Gilmore Girls zum Beispiel die Figur Paris Geller: »I’m not going to Harvard. I got the tiny envelope«. Folge: Application Anxiety.

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das ist überhaupt ein Slogan, der von der Parasitenpresse selbst kommt. Seine Ansprache in einem online veröffentlichten Spendenaufruf für den Verlag beendet der Verleger Kasnitz mit den Worten: »Bitte unterstützen Sie junge Lyrik, damit sie sich nicht verstecken muss.«40 Die Produktion der seit einiger Zeit im Verlag erscheinenden Taschenbücher wurde anfänglich durch Crowdfunding finanziert, also durch die Finanzierung von Produkt- oder Geschäftsideen mithilfe einer Gruppe von Personen, die auf Spendenaufrufe, vornehmlich im Internet, reagiert. Was Kasnitz mit Blick auf Crowdfunding selbst als parasitäres Verfahren bezeichnet, »dieses parasitäre Verfahren ohne Kapital, ohne sich verschulden zu müssen, mithilfe der Crowd ein neues Format zu finden« (AK, Min. 21:37-21:50), bildet nur den Schlusspunkt eines Verfahrens des Sichtbarmachens, das nicht nur dafür sorgt, dass die lyrischen Texte sich nicht weiter verstecken müssen. Es ist auch eines, das von vornherein schon die Absage an diese Texte nicht schamvoll versteckt – im Gegenteil, die Absage wird als Gründungsmythos etabliert. Wenn Lyrik sich nicht mehr verstecken muss, dann geht es darum, Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zu generieren, sich also eine Position im literarischen Feld zu erobern.

V.

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Mit Positionierungen im literarischen Feld finden laut Bourdieu ständige Umwälzungen statt, eine »permanente Revolution«,41 die von den Neulingen im Feld ausgeht: Die großen Umwälzungen ergeben sich aus dem Eindringen von Neulingen, die einfach schon aufgrund ihrer Anzahl und ihrer sozialen Zusammensetzung Neuerungen bei Produkten oder Produktionstechniken einführen und Neigung oder Bestreben zeigen, die Produkte eines Produktionsfelds, das sein eigener Markt ist, einer neuen Bewertungsweise zu unterziehen.42 40

41 42

Veröffentlicht wurde der Aufruf über das Crowdfunding-Portal Startnext.com unter dem Titel Buchreihe: Junge Lyrik in der Parasitenpresse. Abgerufen werden kann er auch über den Blog der Parasitenpresse. Das Zitat stammt aus dem dort abrufbaren Videobeitrag (Min. 00:37-00:45). Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 379. Ebd. S. 357.

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Möchte man diese Aussage an ökologische Metaphern rückbinden, ließe sich auch von einer Evolution des Feldes sprechen. Michel Serres bezieht diese wiederum auf den Parasiten und seine Fähigkeit, das Alte zu stören und Neues hervorzubringen: Und plötzlich kommt der Gedanke, ob die Evolution nicht unter einem bestimmten Gesichtspunkt das Werk der Parasiten ist. Ob nicht zwischen Evolution und Parasitentum Kreisläufe von Ursachen und Wirkungen bestehen, offene rückgekoppelte Kreise. Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt.43 Im Fall der Parasitenpresse ist die Absage Teil solch einer Revolution oder Evolution im literarischen Feld. Nun bringt selbstverständlich nicht dieser kleine Verlag das gesamte System des derzeitigen Lyrikbetriebs durcheinander oder strukturiert es völlig um. Er bringt aber etwas hinzu, das nicht nur für sich allein betrachtet werden kann. Die Parasitenpresse ist als kleiner unabhängiger Verlag, der sich etabliert, schließlich kein Einzelfall, sondern Teil einer Bewegung mehrerer Akteure, die das literarische Feld mitstrukturieren. Rückblickend ist die Entstehung des Verlags nicht nur in einer Zeit zu verorten, in der das Selbstgemachte, das Do-it-yourself und Upcycling eine Konjunktur erfährt,44 sie ist auch Teil einer Welle von sich neu gründenden kleinen Lyrikverlagen. Im Jahr 2000, erzählt Adrian Kasnitz, habe es die ganzen jungen Verlage noch nicht gegeben, die heute eine wichtige Rolle für die Lyrik- und Literaturszene spielten (vgl. AK, Min. 02:52-03:03). Tatsächlich gründeten sich erst in den vergangenen Jahren eine große Anzahl unabhängiger Lyrikverlage – also solche Verlage, die unabhängig von finanziellen Mitteln verschiedener Institutionen sind und ihre Entscheidungen unbeeinflusst von solchen Förderungen treffen, so unter anderem die Definition zu unabhängigen Verlagen, wie sie die International Alliance of Independent Publishers formuliert.45 Der Börsenverein des deutschen Buchhandels definiert einen unabhängigen Verlag ebenfalls als einen, der »wirtschaftlich und organisatorisch unabhängig arbeitet und sich nach seinem Selbstverständnis dieser Gruppierung zugehörig fühlt.«46 Die Homepage www.independent-verla43 44 45 46

Serres: Der Parasit, S. 282. Vgl. für einen Blick auf Fallbeispiele: Langreiter/Löffler: Selber machen; Baier: Die Welt reparieren; Friebe/Ramge: Marke Eigenbau. Vgl. die Key Notions auf der Seite Presentation & orientations der International Alliance of Independent Publishers und Hawthorne: Bibliodiversität, S. 11. Börsenverein: IG unabhängige Verlage.

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ge.com listet verschiedene unabhängige deutsche Verlage und deren Selbstbeschreibungen auf. Dass diese Akteure unter Unabhängigkeit vor allem den Einsatz für Diversität verstehen, machen diese Profiltexte sehr deutlich: Es ist die Rede davon, dass man sich wünsche, durch Bücher »die Welt zu erleben und zu beleben«.47 Mancher Verlag schreibt über sich, er trage »zur kulturellen Vielfalt«48 bei oder sehe sich als »Sprachrohr der Unterdrückten«.49 Es fallen Schlagwörter wie »Kulturdialog«50 und »[f]airer Umgang«.51 Dass solch eine Diversität momentan in der Lyriklandschaft existiert, sieht auch das Börsenblatt: Schaut man sich die aktuelle lyrische Produktion, insbesondere die deutschsprachige, einmal an, dann kann man auf der wirtschaftlichen Magerwiese eine erstaunliche Artenvielfalt beobachten. Dabei reicht das Spektrum von einer eher konventionellen Lyrik, die vertraute Gestaltungsmittel wie den Reim einsetzt, bis zu avantgardistischen Formen.52 Überhaupt haben sowohl Lyrik als auch unabhängige Verlage ihre Position im literarischen Feld offensichtlich in den letzten Jahren gestärkt. Nicht nur entstehen neben der Parasitenpresse solche Verlage wie kookbooks oder poetenladen. Auch die Kurt Wolff Stiftung zur Förderung einer vielfältigen Verlagsund Literaturszene hat sich gegründet. Es etabliert sich die Hotlist, die analog zur Long- und Shortlist des deutschen Buchpreises die besten Titel eines Jahres ehrt, aber eben nur solche aus unabhängigen Verlagen. Seit 2006 existieren die Lyriktage in Frankfurt, seit 2013 der Indiebookday, seit 2014 die Woche der unabhängigen Buchhandlungen und seit dem Jahr 2018 gibt das Börsenblatt eine monatliche Bestsellerliste für Belletristik aus unabhängigen Verlagen heraus – es handelt sich hierbei durchgehend um Formen gesteigerter Förderung, Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit. Seit einigen Jahren hat eine bemerkenswerte Kultivierung, eine Urbarmachung des um 2000 wohl etwas brachliegenden Feldes junger Lyrik und junger Verlage stattgefunden, sodass Christian Metz in seinem 2018 erschienenen Buch Poetisch Denken Anlass 47 48 49 50 51 52

Art. Friedrich Maerker. Art. Worms Verlag. Art. Retap Verlag. Art. Edition Hamouda. Art. Independent Verlag Marc Latza. Roesler-Graichen: Laboratorium der Sprache.

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hat, diesen »fast zwei Jahrzehnten[]« ein signifikantes »poetische[s] Wachstum und lyrische[s] Blühen« zu diagnostizieren.53 Das soll jedoch nicht heißen, dass unabhängige Lyrikverlage mittlerweile über eine gesicherte Position verfügen – im Gegenteil, 2018 gibt das Handelsblatt bekannt: »Unabhängige Verlage sehen sich durch Monopolisierungen auf dem Buchmarkt und Ausschluss aus dem Sortiment vieler Buchhandlungen in ihrer Existenz bedroht.«54 Artenschutz ist nach wie vor ein Thema. Am Beispiel der Parasitenpresse lässt sich aber zeigen, wie das Ausgeschlossene Teil des Systems werden kann. Das Ungewollte oder Ungesehene nutzt für sich das, was es ablehnt, und kann sich gerade dadurch wiederum unabhängig machen von etablierten großen Betrieben. Im Ganzen betrachtet, handelt es sich dabei um eine Bewegung, die Hawthorne in ihrem Manifest für Bibliodiversität metaphorisch formuliert: »Lassen wir die Pilze, die in einem Kreis um die Wurzeln von alten Bäumen wachsen, absterben, sich erneuern. Sie erschaffen die nötigen Mikroorganismen, die dem Boden die Kraft geben.«55 Damit wird die Situation im literarischen Feld in einer Umkehrung wahrgenommen: Nicht die Großen drohen die Kleinen zu vernichten, sondern der rein gewinnorientierte Buchmarkt kann dieser Schlussfolgerung nach überhaupt nur in der Abgrenzung von und auf Basis solcher kleinen Mikroorganismen existieren. Wie ich gezeigt habe, wirkt die Absage der ›Großen‹ tatsächlich in manchen Fällen förderlich auf das, was Hawthorne als »Mikroorganismen« bezeichnet. Mehr noch: Die Absage kann sogar selbst der materielle Träger für die eigentlich abgelehnten Produkte sein. Damit dient ausgerechnet die Absage der Bewegung und dem Fortbestand im literarischen Feld. Ihre Rolle lässt sich auf parasitäre Weise umdeuten.

Literaturverzeichnis Art. Edition Hamouda. In: independent Verlage.com. https://www.independ ent-verlage.com/edition-hamouda/[Stand 13.02.2019]. Art. Friedrich Maerker Verlag. In: independent Verlage.com. https://www. independent-verlage.com/friedrich-maerker-verlag/[Stand 13.02.2019]. 53

54 55

Metz: Poetisch Denken, S. 9. Vgl. diese Monografie auch generell zur Etablierung von Lyrik im literarischen Feld seit 2000, vor allem S. 10-14 und zur Entstehung unabhängiger Verlage S. 32. dpa: Unabhängige Verlage kämpfen um ihre Existenz. Hawthorne: Bibliodiversität, S. 102.

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»Ich kann das gar nicht« – Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung1 Kevin Kempke Wir leben im »Zeitalter der Poetikvorlesungen«.2 Auf diese Formel bringt Matteo Galli 2014 in seinem gleichnamigen Artikel im Merkur eine polemisch zugespitzte Zustandsbeschreibung des gegenwärtigen literarischen Feldes. Galli diagnostiziert, dass derjenige Bereich der literarischen Kommunikation, den Genette den auktorialen Epitext nennt, in der gegenwärtigen Literatur eine immer größere Rolle spiele: »Die Gelegenheiten, die der Literaturbetrieb den Schriftstellern bietet, über ihre Tätigkeit Auskunft zu geben, haben im letzten Jahrzehnt einen unerhörten Höhepunkt erreicht.«3 Bei der Poetikvorlesung handelt es sich um eine derjenigen Gattungen, an denen sich Gallis Diagnose besonders prägnant ablesen lässt; die Poetikvorlesung kann mit Recht als eine der charakteristischsten Institutionen des zeitgenössischen literarischen Feldes bezeichnet werden. An über 30 Universitäten im deutschsprachigen Raum sind mittlerweile Poetikdozenturen etabliert, Tendenz weiter steigend. An der Schnittstelle von Literatur, Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft angesiedelt, prägen sie nicht nur das aktuelle Gattungssystem, sondern auch die Routinen und Konzepte zeitgenössischer Autorschaft. Eine grundsätzliche Absage an die Poetikvorlesung ist daher heutzutage gar nicht so leicht möglich, verspricht eine Poetikdozentur, besonders die Frankfurter, doch erheblichen Gewinn an symbolischem Kapital, der sich, so die wohl stets mitlaufende Hoffnung, auf lange Sicht auch finanziell auszahlt. Zudem bietet sie Autor*innen die Möglichkeit, sowohl 1 2 3

Dieser Beitrag basiert auf Teilen meiner 2020 erscheinenden Dissertation über die Frankfurter Poetikvorlesungen als Gattung und Institution der Gegenwartsliteratur. Galli: The Artist is present, S. 61. Ebd., S. 62.

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kurzfristige Werbung für das eigene Werk zu machen als auch längerfristig angelegte Werkpolitik zu betreiben.4 Insbesondere dieser strategisch-ökonomische Aspekt ist es allerdings, der nicht selten zu Vorbehalten gegen die Form Anlass gibt und rhetorische Absagen provoziert. Christoph Heins Abrechnung mit der Poetikvorlesung in seinem Essay Der Apfelwein der Madame Guermantes ist dafür ein prägnantes Beispiel. Im Munde einer ihrer Verächter wird die Poetikvorlesung zur Verfallsform: Das ausgehende 20. Jahrhundert hat als literarisches Genre die PoetikVorlesung erfunden. Kein zivilisiertes Land auf dieser Erde verzichtet darauf, die Schriftsteller bei der Arbeit zu stören. Die Autoren sollen nicht schreiben, sie werden stattdessen genötigt, Vorlesungen über das Schreiben zu halten.5 Bei Hein erscheint die Poetikvorlesung somit als Produktionshemmnis, als Teil des literaturbetrieblichen Rauschens, das primäre Kunsterfahrung durch sekundäre Vermittlungsformate ersetzt. Als Kenner und polemischer Kritiker der Gattung spießt Hein in seiner Abrechnung dann zielsicher einen ihrer beliebtesten Topoi auf: »Poetik-Vorlesungen beginnen weltweit mit der Koketterie, daß der Autor unter dem verständnisvollen Lächeln seiner Zuhörer gesteht, er habe eigentlich gar keine Poetik. Das klingt sowohl bescheiden wie souverän und ist zudem eine Eröffnung, die nichts sagt und somit alles offen läßt.«6 Hein hat zugleich Recht und Unrecht. Blickt man in die Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen, dürften die am häufigsten geäußerten Sätze wohl tatsächlich Varianten von ›Ich kann das nicht‹ oder ›Ich will das nicht‹ sein, die zudem gerne im Stile Heins gegen die Form selbst gerichtet werden. Dass eine solche Eröffnung nichtssagend wäre, kann man allerdings nicht behaupten, ganz im Gegenteil. Sie ist vielmehr äußerst aufschlussreich für die Anforderungen an und Darstellungen von Autorschaft, ferner für die Poetikvorlesung als Form und für das Verhältnis von Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturbetrieb. Die rhetorisch-performativ in Szene gesetzte Ablehnung der Institution ›Poetikvorlesung‹ und die negative Bestimmung der eigenen Sprecher*innenposition gehören zu den auffälligsten und langlebigsten Topoi der Poetikvor4 5 6

Vgl. zum Konzept: Martus: Werkpolitik. Vgl. auch Fischer: Posierende Poeten, S. 33. Hein: Der Apfelwein der Madame Guermantes, S. 90. Ebd., S. 91.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

lesungsgeschichte.7 In der Forschung ist zwar bekannt, dass es sich um eine »häufig funktionalisierte Trope«8 der Gattung handelt, ihre Funktionsweisen sind bislang aber noch nicht in der nötigen Detailliertheit herausgearbeitet worden. Dass Poetik an der Universität oftmals im Gewand der vermeintlichen Ablehnung von Gattung und Institution präsentiert wird, mag auf den ersten Blick verwundern. Denn ist nicht die Annahme der Poetikdozentur selbst schon als grundsätzliche Zustimmung zu Zielen und Verfasstheit der Dozentur zu verstehen? Und ist nicht die Anwesenheit der Vortragenden eine Auszeichnung und Bekräftigung der Institution, die sich mit den Namen ihrer Gäste genauso schmückt wie umgekehrt die Eingeladenen mit der Ehre, für ein Semester berufen worden zu sein?9 Auf den zweiten Blick hingegen zeigt sich in dieser nur scheinbar paradoxen Konstellation – die Übernahme des Amtes bei gleichzeitiger Zurückweisung seiner Anforderungen und Ansprüche – der Kampf unterschiedlicher Funktionssysteme: der zwischen der Literatur und ihrer Wissenschaft einerseits, der von Literatur und Betrieb andererseits. In dem Topos spiegeln sich Deutungskämpfe, bei denen die Unterscheidung ›primär/sekundär‹ stets untergründig mitläuft und sehr häufig auch an der Textoberfläche erscheint. Ich widme mich vor diesem Hintergrund in diesem Beitrag der Theorie und Praxis des Absagentopos in Poetikvorlesungen und seinem Potenzial für die Analyse der Form – nach einer überblicksartigen Sondierung des Feldes und einer theoretischen Einordnung der Struktur der Absage an die Poetikvorlesung analysiere ich im letzten Teil mit Juli Zehs Treideln ein einschlägiges Beispiel.

Blitzableiter und Selbstvermarktung – Varianten einer Redefigur Zurückweisungen der Form ›Poetikvorlesung‹ tauchen in der Regel direkt zu Beginn der jeweils ersten Vorlesung auf und sind meist Teil von Reflexionen über die Aufgabenstellung und die eigene Rolle als Poetikdozent*in. Das Vorund Urbild dieser Absage an die Literaturwissenschaft findet sich gleich am Beginn der Gattungsgeschichte der Poetikvorlesung, bei Ingeborg Bachmann. Bachmann verknüpft die Auseinandersetzung mit der Literaturwissenschaft 7 8 9

Vgl. etwa Eke: »Reden« über Dichtung, S. 24-25. Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras, S. 215. Vgl. Ekes Überlegungen zu Gabe und Gegengabe bei der Poetikvorlesung: Eke: »Reden« über Dichtung, S. 23-24.

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mit der Frage, welchen pragmatischen Status die Poetikvorlesung einnehmen soll. Sie formuliert zu Beginn ihrer ersten Vorlesung einen Satz, der direkt in das Problem führt: »Alles, was über Werke gesagt wird, ist schwächer als die Werke selbst.«10 Damit wird der Poetikvorlesung, eben als Rede über Werke und nicht als Werk sui generis, von vornherein ein sekundärer Status zugesprochen. Die Frankfurter Poetikvorlesungen beginnen mit einer Geste der Distanzierung, die für die weitere Entwicklung der Institution stilbildend wird. Die negative Bestimmung der Veranstaltung, die Bachmann in diesem Moment eröffnet, bringt verdichtet zwei Aspekte zur Sprache, die formal und gattungsgeschichtlich von eminenter Bedeutung sind und sowohl bei Hein als auch bei Galli ein Echo finden: ihre Situierung im auktorialen Epitext sowie ihre Abwertung als zweitranging, sekundär. Ähnliche Abwertungen der Form und Betonungen der eigenen NichtZuständigkeit sind in der Gattungsgeschichte Legion. Bei Christa Wolf steht die Absage gleich im ersten Satz: »Poetikvorlesungen heißt dieses Unternehmen, aber ich sage Ihnen gleich: Eine Poetik kann ich Ihnen nicht bieten.«11 Juli Zeh behauptet: »Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt«.12 Um die vermeintliche Absurdität des Vorhabens, eine Poetikvorlesung halten zu müssen, zu unterstreichen, wird auch gerne auf ausgefallene sprachliche Bilder zurückgegriffen, bei Robert Menasse zum Beispiel: »Ich habe zugesagt, eine Poetikvorlesung zu halten, aber ich kann das gar nicht. Einen Dichter einzuladen, eine Poetikvorlesung zu halten, ist etwa so sinnvoll, wie einen Kannibalen als Ernährungsberater zu engagieren.«13 Während Menasse den Dichter so als Anthropophagen vorstellt, hält Jurek Becker es eher mit der Tierwelt und kleidet die typische Bescheidenheitsgeste zu Beginn der Vorlesung in einen naturwissenschaftlichen Vergleich: »Ich möchte nicht vor Ihnen dastehen, wie ein Vogel, der sich als Ornithologe gebärdet. Überhaupt ist es ja wohl eher Sinn dieser Dozentur, den Vögeln ein wenig beim Zwitschern zuzuhören […] und nicht so sehr, sie als dilettierende Vogelkundler zu erleben.«14 Der Autor als zwitschernder Vogel, der Germanist als Ornithologe – in dieser Entgegensetzung spiegelt sich die Dichotomie von Freiheit und Regelzwang ebenso wie die von Text und Kommentar und wird mit einer institutionellen 10 11 12 13 14

Bachmann: Frankfurter Vorlesungen, S. 253. Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, S. 7. Zeh: Treideln, S. 11. Wird im Folgenden unter der Sigle JZ direkt im Text zitiert. Menasse: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung, S. 10. Becker: Warnung vor dem Schriftsteller, S. 9.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

Zuordnung versehen. Der Ausrichtung nach ähnliche Zurückweisungen der Form finden sich auch bei Oskar Pastior, Rolf Hochhuth und anderen. Außerhalb von Frankfurt sind diese Gesten ebenfalls häufig zu beobachten, zuletzt etwa bei Maxim Billers Göttinger Poetikvorlesung im Februar 2018. Biller trieb die Verweigerung insofern auf die Spitze, als nach der üblichen Beteuerung, keine Poetikvorlesung halten zu wollen, auch wirklich keine folgte.15 Am ersten Abend las er aus einem unveröffentlichten Romanmanuskript, am zweiten führte er auf der Bühne ein Gespräch mit seinem Verleger Helge Malchow. Auch wenn eine so gänzliche Missachtung der Formvorgabe eher die Ausnahme ist: Die Poetikvorlesung scheint sich in zumindest einer ihrer häufigsten Spielarten durch die Zurückweisung der eigenen Form auszuzeichnen. Wenn man schon nicht der Poetikvorlesung als Institution absagen kann, dann doch zumindest der Poetikvorlesung als Gattung. Die offenkundigste Funktion dieser Art von Vorrede ist diejenige, die Genette mit Lichtenberg als »Blitzableiter«16 bezeichnet: Man entschuldigt sich im Voraus für Fehler und Versäumnisse des eigenen Vortrags, um einer möglichen Kritik von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gerade die Adressierung der fehlenden Wissenschaftlichkeit gibt damit ex negativo die Richtung an – hier gibt es Texte, die man bitte nicht nach den Maßstäben germanistischer Fachpublikationen lesen soll, sondern als Literatur. Die Absage an die Poetikvorlesung in der Poetikvorlesung dient ferner zunächst einmal der Erzeugung einer leeren Fläche und der rhetorischen Vorbereitung des eigenen poetologischen Entwurfs auf der Folie der Abgrenzung. Diesen Punkt hat auch Christoph Hein im Blick, wenn er einen solchen Einstieg als »Eröffnung, die nichts sagt und somit alles offen läßt«17 charakterisiert. Bei der Offenheit handelt es sich allerdings (über den Topos der Absage hinaus) um ein grundlegendes Merkmal der Poetikvorlesung als Gattung, das sie seit ihrer Gründung mit sich trägt. Es ist ihr von den Erfindern der Poetikvorlesung schon als Merkmal eingeschrieben worden – handele es sich doch um eine grundsätzlich offene Gattung, die nur durch ihre äußeren Rahmenbedingungen bestimmt sei.18 In der Forschung wurde dieser Umstand bereits unter dem Stichwort einer »Form für nichts«19 diskutiert. Johanna Bohley be15 16 17 18 19

Vgl. Krüger-Lenz: Maxim Biller über sein streitbares Leben. Genette: Paratexte, S. 201. Hein: Der Apfelwein der Madame Guermantes, S. 90. Vgl. Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als ›Form für nichts‹, S. 227228; sowie Volk: Der poetologische Diskurs der Gegenwart, S. 80-83. Vgl. Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als ›Form für nichts‹.

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zeichnet mit diesem von Andreas Maier geborgten Terminus die Leistung der Poetikvorlesung, »in einem temporären Rahmen [zu bestimmen; KK], was und wie Literatur ist«.20 Damit ist tatsächlich eine der grundlegenden Eigenschaften der Poetikvorlesung benannt: Die Gattung stellt ja zunächst vor allem einen poetologischen Programmplatz bereit, der jeweils individuell gefüllt werden muss. Allerdings liest Bohley das Zurückweisen der Gattung seitens der Dozent*innen zu eindimensional als »Bescheidenheitsformeln«, mit denen ein »negativer Pakt abgeschlossen wird, der von den normativen Vorstellungen ablenkt.«21 Im Sinne einer Verschleierung tatsächlicher Absichten diene die Beteuerung, nicht zuständig zu sein, also vor allem dazu, durch die Hintertür doch eine mit normativen Ansprüchen auftretende Vorstellung von Literatur zu vermitteln. Eine solche Einschätzung übersieht aber die ganz grundlegende Funktion, die der Topos der zusagenden Absage für die Poetikvorlesungen besitzt: Er macht nämlich die Verpflichtung zum Vortrag einer Individualpoetik in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen erst eigentlich sichtbar. Die Grundlage schriftstellerischer Produktion in Zeiten eines aufmerksamkeitsökonomisch strukturierten literarischen Marktes22 ist bekanntlich Originalität bzw. Einzigartigkeit. In feldtheoretischen Termini gesprochen, herrscht eine ständige Konkurrenz um Positionen, die sich jeweils in Relation zu den anderen Positionen des Feldes bestimmen. In Poetikvorlesungen lassen sich diese Vorgänge besonders prägnant beobachten. Eine Positionierung im Sinne Bourdieus wird hier ganz explizit eingefordert – die Poetikvorlesung dient der selbstverortenden Erklärung über das eigene Schaffen. Ganz im Sinne der Konzeption einer individuellen Autorpoetik, die auf poetologische Selbstverständigungstexte angewiesen ist, basiert auch die Einschreibung in die Institution Poetikvorlesung auf der Logik der Singularisierung,23 ja sie ist ihr eigentlicher Zweck. Die Poetikvorlesung ist eine Singularisierungsfabrik und zwar in mehrfacher Hinsicht: auf Ebene der (expliziten) Autorpoetik genauso wie auf Ebene der (impliziten bzw. strukturellen) Poetik der Poetikvorlesung. In beiderlei Hinsicht müssen Abgrenzungen vorgenommen werden, sodass im Optimalfall die vorgetragene Poetik sowohl 20 21 22 23

Ebd., S. 228. Ebd., S. 239. Vgl. Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. Vgl. zu diesem Konzept in Kunst und Gesellschaft Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität; sowie Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

in ihren poetologischen Inhalten und Standortbestimmungen auf Einzigartigkeit im Feld angelegt als auch in ihrer Form gegenüber den Vorgänger*innen originell ist. Die Absage an die Poetikvorlesung in der Poetikvorlesung verweist als Negativfolie auf diesen Zwang. Durch Selbstbeschreibungen dieser Art bekommen Poetikvorlesungen von vornherein eine selbstreflexive Dimension, geht es doch nicht nur um die jeweils individuelle Begründung der Autorschaft, sondern auch um eine Auseinandersetzung mit Sinn und Potenzial der Form Poetikvorlesung. Bereits die ausgestellte Haltung der Dozent*innen zur Poetikvorlesung als Institution und Gattung ist bei alldem ein Indikator für die Ausrichtung der jeweiligen Poetik. Die Ablehnung der Form und ihres Trägers, der Universität, verspricht offenbar einen Distinktionsgewinn. Ein latenter Antiakademismus zieht sich durch viele der Frankfurter Poetikvorlesungen. Ihr ›Bekenntnis‹ zur literaturwissenschaftlichen Analyse unfähig zu sein, tragen die Autor*innen dabei zumeist in rechtfertigenden Gestus vor, so als sei es nötig, sich dafür zu entschuldigen auf diese Weise in einem Hörsaal das Wort zu ergreifen. Obwohl von den Poetikdozent*innen gar keine wissenschaftlichen Aussagen erwartet werden, tun sie doch so, als laste ein immenser akademischer Erwartungsdruck auf ihnen, der zurückzuweisen sei. Folglich ist auch die rhetorische Distanzierung der Dozierenden im Sinne einer Absage an die Universität weniger überraschend, als es zunächst den Anschein haben könnte. Sie stellt vielmehr eine folgerichtige Umsetzung des Programms, eine Brücke zwischen Literatur und Universität zu schlagen, dar, die allererst die Differenz beider Funktionsbereiche etablieren muss, um sie anschließend zu überschreiten. Die Langlebigkeit des Topos der Absage ergibt sich zu einem gewichtigen Teil aus dieser für jeden Dozierenden immer wieder neu auszuhandelnden Spannung zweier Felder mit ihren je eigenen Geltungsansprüchen, Normen, Konventionen und Subjektformen. Denn darin liegt eine wichtige Funktion der Absagen: Schließlich haben die distanzierenden Reflexionen über die Zumutungen des Sprechens im akademischen Rahmen nicht etwa den Abbruch der Vorlesung zur Folge, sondern liefern gerade die Begründung und Legitimation für die jeweils vorzutragende, mit dem Versprechen der Unverwechselbarkeit ausgestattete Individualpoetik. Die Absage an die Form ist daher weder skandalös noch gefährdet sie den Erfolg der Vorlesung – sie stellt ihn vielmehr sicher, indem sie die dezidiert literarische Autorschaft als solche performativ herstellt. Für die Poetikvorlesungen ergibt sich dabei eine für zeitgenössische Autorschaft typische Verbindung von Individualisierung und Routine: die

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rhetorisch-performative Behauptung einer einzigartigen Autorschaft, die sowohl gegenüber der literarischen Konkurrenz wie auch gegenüber der Literaturwissenschaft ihre Souveränität herausstellt, vollzieht sich im Rahmen routinisierter (inszenatorischer) Praktiken.24 In Poetikvorlesungen lässt sich ferner in besonderer Konzentration ein generelles aufmerksamkeitsökonomisches Prinzip des literarischen Feldes, genauer: seines Pols der eingeschränkten Produktion,25 beobachten. Autor*innen dürfen sich – dem tendenziell elitären Kunstanspruch ihres Standes entsprechend – eigentlich nicht mit Mitteln des Marketings in Szene setzen, tun es aber dennoch andauernd.26 Poetikvorlesungen liefern in ihrer universitären Ehrwürdigkeit den Rahmen, in dem diese Selbstvermarktung stattfinden kann, weil diese durch die Präsentation im Vorlesungsangebot sogar noch institutionell als Bildungsgut legitimiert wird. Poetikvorlesungen haben in dieser Hinsicht einen doppelten Status: Sie sind sowohl (strukturell privilegierter) Teil der Positionierungen von Autor*innen als auch Marketinginstrumente – die Formulierung poetologischer Standpunkte ist unauflöslich mit einer werbenden Selbstpositionierung im Feld verbunden; Poetikvorlesungen dienen dabei sowohl der langfristigen Werkpolitik als auch der kurzfristigen Reklame.

Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann – Juli Zeh: Treideln Juli Zehs Poetikvorlesungen Treideln von 2013 sind insofern ein Paradebeispiel für die Poetik der Absage, als sich bei ihr alle angesprochenen Aspekte bündeln und sie gleichzeitig den Topos der zusagenden Absage reflektiert. Zeh gestaltet ihre Poetikvorlesungen als Brief- bzw. E-Mail-Roman, wobei wir nur je eine Seite der Kommunikation, nämlich die Juli Zehs, verfolgen können. Durch ihre wechselnden Gesprächspartner werden zentrale Instanzen des gegenwärtigen Literaturbetriebs bzw. gesellschaftlicher Funktionsstellen vertreten: Sie adressiert ihren Verleger, ihren Ehemann, ihren Steuerberater, eine Autorin und eine Germanistin.27 Je nach Gesprächspartner*in zeichnet 24 25 26 27

Kyora: »Zuerst bin ich immer Leser«, S. 59-60. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, z.B. S. 134-140. Vgl. dazu auch Wegmann: Dichtung und Warenzeichen, besonders S. 468-471. Vgl. Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras, S. 214-215. Vgl. auch (mit Fokus auf Medialität) Schmitz-Emans: Oralität und Schriftlichkeit, Zeitlichkeit und Performanz im Spiegel Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 243-246.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

die Autorin als »Juli«, »Juli Zeh«, »Juliette«, »Deine liebe Autorin« oder »Dein Vorzimmer« und gibt so unterschiedliche Grade der Verstrickung und Filiation zu erkennen. In diesen Monologen mit abwesendem Partner werden verschiedene Aspekte zeitgenössischer Autorschaft fokussiert. Die erste Vorlesung inszeniert das Hadern mit der Form in einem narrativen Bogen, der in gattungstypischer Weise von der initialen Absage zur letztlichen Zusage führt. Zeh beginnt mit einer Absagemail an die GoetheUniversität Frankfurt. Diese wurde für die Vorlesung erfunden und nicht tatsächlich an die Uni abgesandt, ist also Teil einer fiktionalen Erzählsituation. Begründet wird die Absage zunächst mit Zeitmangel – andere Projekte seien vorrangig, wobei in der Aufzählung auffällt, dass literarische Textgattungen (»Romane, Theaterstücke, Essays, Drehbücher«) und ephemere Textsorten, die der täglichen Organisation von Leben und Autorschaft dienen (»E-Mails, Steuerklärungen, Tagebucheinträge, Einkaufszettel« (JZ, S. 7)) unterschiedslos nebeneinander geordnet werden. Wenig später wird dieser Absagegrund allerdings als »Notlüge« (JZ, S. 10) wieder zurückgenommen. Stattdessen wird nun ein tieferes Unbehagen den inhaltlichen Anforderungen der Poetikvorlesung gegenüber artikuliert. Das grundsätzliche Verhältnis von Literatur und Poetik, von primären und sekundären Formen des Schreibens rückt in den Blick: »Ich habe keine Poetik. Niemand hat eine Poetik, jedenfalls nicht, solange er Bücher schreibt« (JZ, S. 11). Auch Zeh aktualisiert die Vorstellung der Poetikvorlesung als Epitext, um diese umso schärfer zurückweisen zu können: »Ich bin doch nicht mein eigener Deutsch-Leistungskurs« (JZ, S. 8). Juli Zeh fällt ein strenges Urteil entlang der nun schon bekannten Grenze zwischen Primarität und Sekundarität: »Man ist entweder Autor oder Poetikbesitzer« (JZ, S. 8) oder anders formuliert: Entweder man geht seiner eigentlichen Profession des Bücherschreibens nach oder man fischt in den unerquicklichen Tiefen der Gebrauchstexte. In dieser Hinsicht liest sich Zehs Vorlesung wie ein Echo von Hein und Galli. Zeh verknüpft ihre Unwilligkeit zur Selbstexegese mit der Behauptung ihrer Unfähigkeit: Sie »stammele wie ein Schulkind« (JZ, S. 18), wenn sie ihre eigenen Texte erklären solle. Ihre Produktionsmethode verortet sie jenseits des Wollens: »Beim Schreiben habe ich wenig gewollt und noch weniger gemacht« (JZ, S. 19). Stattdessen seien die Texte entstanden, ohne dass die Autorin den Produktionsprozess wiederum versprachlichen könne. Die Behauptung, über die eigene Produktion nicht sprechen zu können oder zu wollen, erfüllt für ein bestimmtes Modell der Autorschaft weiterhin eine wichtige Funktion. Keine Poetik zu besitzen, heißt eben

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im Umkehrschluss: zu beschäftigt mit dem richtigen, literarischen Schreiben zu sein. Die Abwertung der »Poetikbesitzer« und ihrer habitualisierten Äußerungsweisen zielt vor diesem Hintergrund auf eine Distinktion gegenüber der neuesten Form des poeta doctus ab, der sich als fliegender Händler von selbstbezüglicher poetologischer Prosa an deutschen Universitäten verdingt und dabei das schriftstellerische Kerngeschäft vermeintlich vernachlässigt. Juli Zeh macht Herta Müller zum Inbegriff dieser »Poetikfreudigkeit der Schriftstellerzunft« (JZ, S. 13) und das, obwohl sie noch nicht einmal zu den am häufigsten als Poetikdozent*innen auftretenden Autor*innen gehört. Ironischerweise hat Herta Müller gerade die Einladung auf die Frankfurter Poetikdozentur abgelehnt, eignet sich daher als Beispiel eigentlich denkbar schlecht. Aber eben daraus, dass zumindest alle anderen schon mal da waren und eine Absage nur unter besonderen Umständen (z.B. eine Nobelpreisträgerin zu sein) möglich scheint, zieht die Poetikvorlesung (und hier speziell die Frankfurter) ihre Unvermeidbarkeit: »Du schickst mir die Namensliste, weil du weißt, daß ich dann nicht absagen kann« (JZ, S. 13). Zeh setzt die Poetikvorlesung damit nicht nur als Textform, sondern auch als institutionelle Größe des Betriebs der Kritik aus. Die Poetikvorlesung erscheint als einer von vielen literaturbetrieblichen Zwängen zur Verhinderung von Literatur,28 die aber gleichwohl zur Existenz als freie Autorin dazugehören. In den folgenden Mails ergießt sich Zeh in Tiraden über alle Aspekte der Poetikvorlesung, die ihr geißelungswürdig erscheinen: die Verpflichtung zur Selbstexegese, die Unmöglichkeit, etwas Substantielles über den Produktionsprozess zu sagen und die narzisstische Dimension der ganzen Veranstaltung. Im Laufe der Vorlesung kristallisiert sich aber doch ein Programm heraus. Ganz beiläufig bekommen die Räsonnements eine poetologische Ebene, indem die Idee für ein neues Romanprojekt aufgebracht wird. Die Eingebung und Entwicklung dieser Idee (es soll um einen Anfang vierzigjährigen Berliner namens Treidel gehen) wird mit Aussagen über Hintergründe, Intentionen und Kontexte angereichert. Ein solcher Entstehungsbericht gehört zu den typischsten Formen der Poetikvorlesung überhaupt. Und auch die vorgestellten Motive und Strukturelemente sind typisch zu nennen: Es gibt allgemeine Aussagen zum Entstehungsprozess (»Plötzlich ist da ein Imperativ aus dem innersten Stockdunkel der eigenen Person, der sagt: Mach etwas daraus.« (JZ, S. 33)), zu stilistischen Fragen, zu bereits abgeschlossenen eigenen Werken 28

Vgl. Assmann: Poetologien des Literaturbetriebs.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

(»Die Rohfassung von Corpus Delicti habe ich in vier Wochen geschrieben« (JZ, S. 38)) sowie erste Textproben aus dem entstehenden Werk. Nachdem wir uns also schon mitten in einer ganz klassischen Poetikvorlesung befinden, kann am Ende der ersten Vorlesung so natürlich nur die Zusage stehen. Nachdem Juli Zeh in ihrer letzten Mail noch einmal ausführlich und resümierend ihrem anti-poetologischen Ressentiment freien Lauf lässt und dabei auch das antiakademische Klischee nicht scheut (»Poetik ist Nabelschau auf dem Elfenbeinturm« (JZ, S. 42)), schließt sie mit einem knappen: »Mit anderen Worten: Ich bin dabei.« (JZ, S. 47). Die ökonomische und symbolische Notwendigkeit, die eigene Autorschaft mit Veranstaltungen wie der Poetikvorlesung zu flankieren und eine solche Anfrage eben nicht abzulehnen, erscheint dadurch in ironisch aufgehobener Form. Zeh grenzt sich also zweifach ab (und dass beides auf einmal möglich ist, liegt an dem schon erwähnten double bind der Poetikvorlesung): Zum einen vom Literaturbetrieb, an dem sie nur unter Absehung von ihren hehren Prinzipien teilnehmen kann, zum anderen von den Autor*innen, die unter der déformation professionnelle des poetologischen Schreibens leiden. Im Fall von Juli Zeh fügt sich das nahtlos in das bestehende Image ein: Sie hat ihre literarische Karriere auf realistischen Romanen aufgebaut, die jeweils an tagesaktuelle Fragen rückgebunden sind und von einer Positionierung als öffentliche Intellektuelle durch Debattenbeiträge und Fernsehauftritte flankiert werden.29 Die scheinbare Ablehnung der Poetikvorlesung bei gleichzeitiger Übererfüllung ihrer formalen Standards dient Zeh vor allem dazu, die unique selling points ihrer eigenen Autorschaft herauszustellen. Ganz im Sinne von Zehs kritischer Autorinnenpersona müssen erst die hässlichen Tiefenstrukturen der Poetikvorlesung und insbesondere die zugrundeliegenden ökonomischen Antriebe freigelegt werden, bevor sie selbst ihren Teil zur Form beitragen kann. Dass sie schließlich doch zusagt und den Weg dorthin zur Schau stellt, kann dann nicht anders denn als Akt der praktischen Aufklärung verstanden werden. Durch Juli Zeh wird schließlich die Wahrheit über die Poetikvorlesung in einer Poetikvorlesung ausgesprochen, so ließe sich ihr Konzept beschreiben. Und auch Zeh bleibt darin ihren üblichen Schreibweisen und Verfahren treu. Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt deshalb, weil die 29

Vgl. dazu etwa Wagner: Aufklärer der Gegenwart. Vgl. auch für den Komplex der »Künstlerkritik«, der hier insbesondere in der Kritik an den entfremdenden Tendenzen aufgerufen wird: Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, v.a. S. 80-82.

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Frankfurter Vorlesungen Zehs auch in großer Nähe zu vorangegangenen Essays der Autorin sowie ihrer 2010 gehaltenen Tübinger Poetikvorlesung Aufgedrängte Bereicherung stehen – teilweise sind ganze Passagen der früheren Texte übernommen worden.30 Anke S. Biendarra spricht diesbezüglich zutreffend davon, dass diese vorangegangenen Texte für die Frankfurter Poetikvorlesungen »Steinbruch und Materialsammlung«31 seien. Wie schon in Tübingen, präsentiert Zeh nach eigener Aussage in Frankfurt eine »Anti-Poetik«.32 Treu bleibt Zeh ihrem Autorschaftsentwurf auch darin, dass sie als Stimme einer mittleren Vernunft auftritt. Das Hadern mit der Form Poetikvorlesung und denjenigen Autor*innen, denen die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung keine Probleme bereitet, ja sogar noch ihren Wünschen und Zielen entgegenkommt, dient auch dem Schulterschluss mit einem Publikum, das in Juli Zeh eine aus ihrer Mitte erkennen soll.33 In den Poetikvorlesungen schlägt sich das unter anderem dadurch nieder, dass Zeh die mundanen Aspekte der Schriftstellerei (wie Fragen der Selbstorganisation und Verwaltung) nicht ausspart und als elementaren Teil des Lebens als Autorin perspektiviert. Dadurch wird der Eindruck gefestigt, dass Zeh »Fragen und Themen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit [stellt; KK], die sie dem lebensweltlichen Alltag möglichst vieler Menschen entlehnt.«34 Keine poetologische Expertenkommunikation soll hier ausgestellt werden, sondern, ganz im Gegenteil, steht eine anschauliche Entwicklung der eigenen Schreib- und Arbeitsweise, die gerade in ihrer Transparenz und Klarheit anschlussfähig ist, im Mittelpunkt der Frankfurter Vorlesungen. Eine besondere Pointe gewinnt das Ganze freilich dadurch, dass entgegen der üblichen Verwertungsroutine die Poetikvorlesung bereits als Buch vorlag, bevor sie überhaupt gehalten wurde. Juli Zeh las also nicht wie üblich aus einem unveröffentlichten Manuskript, sondern aus einem fertigen Buch, das in einigen Dutzend Exemplaren auf dem Büchertisch neben ihr zum Kauf bereit lag. Was einerseits als weiterer Akt der Entlarvung und als »ironische[s] Unterlaufen der performativen Veranstaltung ›Vorlesung‹ qua bereits gedrucktem Text«35 verstanden werden kann, bietet umgekehrt auch 30 31 32 33 34 35

Vgl. Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras, S. 214. Ebd. So der Untertitel von Zehs erster Tübinger Poetikvorlesung: Zeh/Oswald: Aufgedrängte Bereicherung, S. 7. Vgl. Wagner: Aufklärer der Gegenwart, v.a. S. 101-124. Ebd., S. 136. Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras, S. 215.

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

eine weniger wohlwollende Lesart: Möglicherweise unfreiwillig wird so nämlich auch offenbar, inwiefern mit Zehs Autorschaft eine Kommodifizierung der kritisch-intellektuellen Haltung betrieben wird. Juli Zehs intendierte Dekonstruktion der Poetikvorlesung in Form ihrer Anti-Poetik kann ja – wie fast jede andere Poetikvorlesung auch – in Buchform gekauft werden – und das quasi simultan zum Vortrag, womit auch in diesem Aspekt die Offenlegung ökonomischer Strukturen und ihre (Über-)Erfüllung konvergieren. Zeh »ha[t] keine Poetik« (JZ, S. 11), sie verkauft sie vielmehr für 18,95 € pro Stück. Die performativ-merkantile Dimension von Zehs Vorlesungen zeigt also das gleiche Nebeneinander scheinbar widerstreitender Impulse wie der Vorlesungstext: eine zusagende Absage an Form und Institution der Poetikvorlesung, bei der die praktische Erfüllung aller ihrer textuellen und außertextuellen Gepflogenheiten in einer unaufgelösten Spannung zur rhetorischen Geste der Ablehnung steht. Ob man das als Vereinigung von Postmoderne und Engagement,36 als subversiv-dialektischen Umgang mit den Konventionen des Literaturbetriebs,37 als angenehm virtuose ›Literaturbetriebsszene‹38 oder im Gegenteil als besonders zynische Bestätigung von Marktmechanismen verstehen will, bleibe hier dahingestellt. In jedem Fall macht Zeh mit Treideln die Funktionsweise der Selbstpositionierung qua Poetikvorlesung in ihrer inneren Struktur wie in ihrer Bedeutung für die auktoriale Kommunikation sichtbar. Die Absage an all das, wofür die Poetikvorlesung zu stehen scheint, stellt damit nicht nur eine werkpolitische Positionierung dar, sondern liefert auch einen selbstreflexiven Kommentar zu Konventionen und Gepflogenheiten der Gattung Poetikvorlesung.

Literaturverzeichnis David-Christopher Assmann: Poetologien des Literaturbetriebs. Szenen bei Kirchhoff, Maier, Gstrein und Händler. Berlin, Boston 2014. Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. In: Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften, hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München 2005, S. 253-349. 36 37 38

Vgl. Kimmich/Ostrowicz: Nachwort, S. 99-100. Vgl. in diese Richtung argumentierend Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras, v.a. S. 212 und 214-215. Assmann: Poetologien des Literaturbetriebs, S. 44.

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Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt. Frankfurt a.M. 1990. Anke S. Biendarra: Die Poetikvorlesungen Juli Zehs und Terézia Moras: Beispiele narrativer und feministischer Ethik. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 16 (2017), S. 209-231. Johanna Bohley: Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als ›Form für nichts‹. In: Julia Schöll/Johanna Bohley (Hg.): Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts. Würzburg 2012, S. 227-242. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Michael Tillmann. Konstanz 2003. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt a.M. 1999. Norbert Otto Eke: »Reden« über Dichtung. Poetik-Vorlesungen und PoetikDozenturen im literarischen Feld. In: Kalina Kupczyńska/Nadine J. Schmidt (Hg.): Poetik des Gegenwartsromans. Text + Kritik Sonderband. München 2016, S.18-29. Alexander M. Fischer: Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg 2015. Matteo Galli: The Artist is Present. Das Zeitalter der Poetikvorlesungen. In: Merkur 776 (2014), S. 61-65. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M., New York 1989. Christoph Hein: Der Apfelwein der Madame Guermantes. Betrachtungen über Poetik-Vorlesungen. In: Christoph Hein: Die fünfte Grundrechenart. Aufsätze und Reden 1987-1990. Frankfurt a.M. 1990, S. 89-96. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 9-30. Dorothee Kimmich/Philipp Alexander Ostrowicz: Nachwort. In: Juli Zeh/Georg M. Oswald: Aufgedrängte Bereicherung. Tübinger Poetik-Dozentur 2010. Künzelsau 2011, S. 93-100. Peter Krüger-Lenz: Maxim Biller über sein streitbares Leben. In: Göttinger Tageblatt vom 02.02.2018, www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Regional/Lichtenberg-Poetikvorlesung-Maxim-Biller-inder-Aula-der-Goettinger-Universitaet [Stand 19.03.2019].

Absagen als Topos der Gattung Poetikvorlesung

Sabine Kyora: »Zuerst bin ich immer Leser«. Überlegungen zur »Subjektform« Autor im gegenwärtigen Literaturbetrieb. In: Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014, S. 55-68. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007. Robert Menasse: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M. 2006. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Monika Schmitz-Emans: Oralität und Schriftlichkeit, Zeitlichkeit und Performanz im Spiegel Frankfurter Poetikvorlesungen. In: David-Christopher Assmann/Nicola Menzel (Hg.): Textgerede. Interferenzen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Paderborn 2018, S. 227-247. Ulrich Volk: Der poetologische Diskurs der Gegenwart. Untersuchungen zum zeitgenössischen Verständnis von Poetik, dargestellt an ausgewählten Beispielen der Frankfurter Stiftungsgastdozentur Poetik. Frankfurt a.M. u.a. 2003. Sabrina Wagner: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Juli Zeh, Ilja Trojanow, Uwe Tellkamp. Göttingen 2015. Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000. Göttingen 2011. Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt 1983. Juli Zeh/Georg M. Oswald: Aufgedrängte Bereicherung. Tübinger PoetikDozentur 2010. Künzelsau 2011. Juli Zeh: Treideln. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M. 2013.

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Absagen, verweigern und scheitern: Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly,  wie sie Adorno gehasst hätte Miriam Zeh

Seit 2012 verteilt der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Eric Jarosinski über den Mikroblogging-Dienst Twitter allerlei Absagen. Es sind höfliche Absagen, sie beginnen stets mit einer Danksagung. Dann adressieren sie das Abgesagte und entlassen es schließlich aus seinen Diensten. Abb. 1 »Absagen-Tweets von @NeinQuarterly«

Dieses Absage-Verfahren erhielte vermutlich nicht derart viele Likes und Retweets, wenn es nicht eine jeweils ironische, auf einen Blick zu erfassende Pointe enthielte. In den drei Beispielen wird sie hauptsächlich über ein hinzugefügtes Bild transportiert. Wenn Caspar David Friedrichs Wanderer nicht in ein Nebelmeer, sondern ein Pissoir hineinschaut oder wenn die Figur in ihrer berühmten Rückenansicht samt Stützstock vor einem Urinal anstatt vor der romantisch-erhabenen Landschaft fotomontiert wird, sieht Jarosinski das Ende der Kunst bzw. der Zivilisation nahen. Beim Anblick der neuen

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Apple-Tastatur, die neben Buchstaben auch Emojis ausweist, lässt der Pessimist vorsorglich bereits die Schriftsprache abdanken. Definiert man die Absage mit Andreas Reckwitz als soziale Praktik, als »sozial geregelte, kulturell typisierte […] menschliche Aktivität«,1 ist diese erstens eine »know-how abhängige Verhaltensroutine«, die zweitens »von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehalten« wird.2 Jarosinski stellt mit seinen Absagen-Tweets demnach ein enormes kulturelles Wissen unter Beweis. Er weiß genügend über Kunst und Kultur, um ihre Funktion und ihren Wert in unserer Gegenwart umfassend einschätzen zu können. Schließlich kann er (»know-how abhängig«) beurteilen, dass keine sinnhafte Produktivität mehr aus diesen Bereichen zu erwarten ist. Außerdem fühlt sich Jarosinski offenbar dazu berechtigt, Kunst und Kultur im Namen der gesamten Menschheit aus ihren Diensten zu entlassen. Allein in dieser Überheblichkeit liegt natürlich ein Teil der Komik dieser Absagen. Ich werde im Folgenden diesen Twitter-Absagen von Eric Jarosinski als einem negierendem, sogar nihilistischem Phänomen nachgehen, welches selbst aus einer Verweigerungshaltung, aus einer Absage an ein bestimmtes System hervorgegangen ist. Die Negativität und Verweigerung interpretiere ich anschließend als charakteristisches Element sowohl der (US-amerikanischen) Rezeption Adornos als auch der Konstruktion eines Intellektuellen-Typus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat. Zuletzt leite ich aus diesen Überlegungen einige Fragen an die Stellung des Intellektuellen in der Gegenwart ab.

I.

Nein zur »Tyrannei des Ja«

Neben der bereits einleitend zitierten zur Schau gestellten und damit zugleich ironisierten Überheblichkeit der Twitter-Absagen von Eric Jarosinski wird schnell ein weiteres komisches Element erkennbar: der charakteristische Zynismus und Kulturpessimismus. Diese Schwarzmalerei prägt den Tonfall des Accounts durchweg. Negativität ist seine präferierte Haltung zur Welt oder wie es in den Worten Jarosinskis zum Ausdruck kommt: »In other news: it’s not all bad. It’s worse.«,3 »The sad thing is, I suppose, most 1 2 3

Reckwitz: Subjekt, S. 135. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 289. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 25. Juli 2013.

Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte

everything.«4 und »Please enjoy your day. Not mine.«5 Zu diesem GrundPessimismus passt auch die verneinende Überschrift des Twitter-Feeds. Seine aphoristischen Aussagen und Absagen veröffentlicht Jarosinski als fiktive Vierteljahrsschrift Nein Quarterly. Die einzelnen Postings sind – wie der Zeitschriftentitel selbst – zum Teil in englischer, zum Teil in deutscher Sprache verfasst, denn Jarosinski ist germanistischer Literaturwissenschaftler und lehrte bis 2014 als ›assistant professor‹ an der University of Pennsylvania. Mehrere Jahre hatte er zuvor in Deutschland verbracht, in Bonn, Frankfurt, Freiburg und Berlin studiert. Jarosinski kennt sich also mit der deutschen Sprache, Kultur und mit der vielerorts beschworenen ›typisch deutschen‹ Schwarzseher-Mentalität aus.6 Den Namen Nein Quarterly begründet der Autor in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel deshalb mit seinen interkulturellen Erfahrungen: »Nein. Das ist in Deutschland die erste Antwort, mit der man rechnen muss. Zum Beispiel am Postschalter. Da heißt es oft erstmal: ›Nein, das geht nicht!‹«7 Nein Quarterly, sicher auch an die renommierte US-amerikanische germanistische Fachzeitschrift German Quarterly angelehnt, hat aber noch eine weitere Bedeutung. Eric Jarosinski zufolge leben wir in einer »Tyrannei des Ja«.8 So heißt es in der Einleitung zu seinem Buch Nein. Ein Manifest von 2015: »Ja zur Familie. Ja zu den Freunden. Ja zu Geschäftsbedingungen. Ja zu Serviceleistungen. Ja zur Arbeit. Ja zum Spiel. Ja zu einem Leben des Ja, Ja und Ja, bitte.«9 Andauernd sollen wir also zu Menschen, Dingen und Sachverhalten unsere Zustimmung geben. Am deutlichsten ist diese Tendenz vermutlich in sozialen Netzwerken zu beobachten, in denen Nein Quarterly veröffentlicht wird. Auf Facebook konnte man lange Zeit immer nur den affirmativ nach oben gereckten Daumen anklicken (›Like‹). Heute gibt es zwar differenziertere Möglichkeiten, seine 4 5 6

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Nein Quarterly: Twitter Posting vom 14. Juli 2015. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 3. Juni 2014. So antworten dem Nachrichtenmagazin Fokus rund sieben Prozent der Bundesbürger auf die Frage ›Was ist deutsch?‹, dass »die Deutschen pessimistisch seien und viel jammern« (Art.: Was ist typisch deutsch?). Auch dem Institut der deutschen Wirtschaft, das 2012 ausländische Besucher der Industrieschau in Hannover befragte, sagten diese, dass »am wenigsten ›typisch deutsch‹ […] der Optimismus « sei (Art.: Fleißig, pünktlich, pessimistisch). Und die ›German Angst‹ ist – nicht nur in Bezug auf die Wiedervereinigung – im Ausland sprichwörtlich geworden. Zitiert nach Horchert: Social-Web-Star NeinQuarterly. Jarosinski: Nein, S. 9. Ebd.

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Emotionen in Bezug auf ein Posting in dem sozialen Netzwerk darzustellen,10 aber einen ›Dislike‹-Button hat die Plattform noch nicht eingeführt. Auch Cookie-Informationen oder Datenschutz-Richtlinien kann man eigentlich nur mit ›Ok‹ oder ›Einverstanden‹ abklicken, wenn man sich die digitale Welt nicht zu großen Teilen verschließen möchte. In dieser »Tyrannei des Ja« artikuliert Eric Jarosinski nun immer wieder penetrant das Nein. Die Negation schafft einen neuen Handlungs- und Möglichkeitsraum in den affirmativen sozialen Netzwerken: »Nein lässt keine Fragen zu«, »Nein bedauert, Sie zu informieren«; »Nein bedankt sich nicht fürs Einkaufen«.11 Das Nein leitet in diesen drei Sätzen jeweils das Gegenteil der von uns gewohnten abgegriffenen und affirmativen Alltagsfloskeln ein. In einer »Tyrannei des Ja« ist Nein Quarterly, wie Jarosinski es Ernst Bloch entlehnt im Untertitel seines Buches nennt, ein »Kompendium der utopischen Negation«. Die tweetförmigen Absagen haben ihren Ursprung selbst wiederum in einer Absage. Sein persönliches Initiationsmoment für Nein Quarterly verortet Jarosinski selbst in einer antiakademischen Verweigerungshaltung, einer zunächst temporären Absage an das universitäre Karrieresystem. Im Januar 2012 verzweifelt der Literaturwissenschaftler über der Arbeit an seinem neuen Buch. Das Thema – ›Transparenz als Metapher in der deutschen Gegenwartskultur‹ – begeistert ihn, doch das wissenschaftliche Schreiben wird ihm zunehmend mühsam: »What he couldn’t stand was the language.«, wie die Zeitschrift The New Yorker in einem Portrait rekapituliert.12 »His own sentences. They were long, complex, and dense with qualifiers: somewhat, perhaps, not unlike.«13 Immer, wenn Jarosinski sich an seinen Laptop setzt, um das wissenschaftliche Buch weiterzuschreiben, habe er angefangen zu schwitzen. Twitter fühlt sich von vornherein anders an: »He wrote his tweets on his smartphone, not on the laptop, where the book lurked.«14 Es ist damit mehr als reine Prokrastination, wenn Jarosinski die universitären Schreibweisen in dieser Arbeitsphase verweigert, um anzufangen, kurze und pointierte Tweets für Nein Quarterly zu verfassen. Denn die digitalen Aphorismen konnten so 10

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Seit dem 24. Februar 2016 sind neben dem ›Like‹-Button auch fünf Emojis verfügbar, um einen Beitrag zu bewerten. Vgl. Art.: Neue Emoji-Symbole als Alternative zum ›Like‹-Button. Jarosinski: Nein, S. 35, S. 45, S. 69. Fagone: The Construction of a Twitter Aesthetic. Ebd. Ebd.

Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte

sein, wie sein wissenschaftliches Schreiben nicht sein durfte. Ohne Argument: »I love ü. And it’s just that simple.«,15 ohne Differenzierung: »Eat. Pray. Ruthlessly critique all that exists.«16 oder ohne Sinn: »At Starbucks I order under the name Godot. Then leave.«17 Zwar gelten für Textveröffentlichung auf Twitter auch Regeln und Restriktionen, nur eben andere als beim wissenschaftlichen Schreiben. Auf Twitter greifen sehr strenge Zeichenbeschränkungen. Ein Tweet durfte lange Zeit nur 140 Zeichen lang sein.18 Trotzdem bezeichnet Jarosinski die Kreation seiner Twitter-Persönlichkeit rückblickend als »extremely liberating«.19 Denn ein Tweet kann nachträglich nicht bearbeitet, nicht überarbeitet werden, er wird sofort publiziert (während dieser Prozess in der Wissenschaft oft mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre dauert) und für Hunderttausende Leser konsumierbar (während wissenschaftliche Publikationen von weitaus weniger Menschen gelesen werden). Das aphoristische Schreiben für Nein Quarterly habe ihn daran erinnert, was ihn ursprünglich an seinem Forschungsgegenstand, der Frankfurter Schule, fasziniert hatte: »their more literary works, especially their aphorisms«.20 Indem sich der Literaturwissenschaftler also von seinem Buch ab- und seinen aphoristischen Tweets zuwendet, symbolisiert der Beginn seiner Twitter-Karriere eine Verweigerung der wissenschaftlichen Sprache und der wissenschaftlichen Publikationsform. Und aus einer temporären wird eine konsequente Verweigerung, denn sie mündet schließlich in einer grundsätzlichen Absage an den Beruf des Wissenschaftlers. Das Buch über Transparenz als Metapher ist bis heute nicht erschienen. Jarosinski verließ die Penn University im Jahr 2014, nachdem er feststellen musste, dass eine universitäre Karriere für ihn aussichtslos geworden war. »I found that Iʼm much more a teacher than a researcher and I learned the hard way«, wird er später in einem Interview mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft sagen.21 Im Gegensatz zu seiner missglückten Universitätskarriere ist Jarosinski mit Nein Quarterly kurze Zeit nach Gründung der Twitter-›Zeitschrift‹ außerordentlich erfolgreich. Nach einem Jahr hat der Account 40.000 Follower,22 15 16 17 18 19 20 21 22

Nein Quarterly: Twitter Posting vom 4. Januar 2014. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 12. Juli 2017. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 4. April 2013. Seit 2018 ist die Begrenzung auf 280 Zeichen angehoben. Zitiert nach Fagone: The Construction of a Twitter Aesthetic. Ebd. Stifterverband: Eric Jarosinski talking about Twitter. Pauer: #Weltschmerz ist sein Held.

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ein Jahr darauf sind es bereits 150.00023 und heute 186.700.24 Dieser rasante Anstieg erklärt sich auch mit einem Interesse, das besonders deutsche Medien an Nein Quarterly zeigten. Es wurde nicht nur über ihn berichtet, er schrieb auch längere Artikel etwa für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Zeitschrift Kursbuch.25 Bis heute schreibt Jarosinski eine wöchentliche Kolumne für die Wochenzeitung Die Zeit und für das dänische NRC Handelsblad, die jeweils aus einem Tweet bestehen. Mittlerweile lebt Jarosinski nach eigenen Angaben als freier Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer in New York.26 Aus seiner Verweigerungshaltung ist eine Marke geworden, die seinen Lebensunterhalt finanziert.

II.

Adorno had fun once

Ebenso wie Jarosinskis Buchpublikation und seine Kolumnen wird jeder medial vermittelte Auftritt nicht mit dem realen Gesicht des Autors illustriert, sondern mit einem Avatar, den er sich selbst auf Twitter gegeben hat. Es ist ein Cartoon des mürrisch dreinblickenden, monokeltragenden27 Philosophen Theodor W. Adorno. Besonders auf Twitter, wo das Profilbild für gewöhnlich das Gesicht des Plattform-Nutzers zeigt, wird der Eindruck erweckt, als spreche hier der griesgrämige Adorno, als wäre eben Adorno der fiktive Herausgeber der fiktiven Vierteljahrsschrift Nein Quarterly. Der deutsche Denker hat bis heute eine eingeschworene Fangemeinde unter US-amerikanischen, linksliberalen Intellektuellen und Wissenschaftlern. Das zeigt sich unter anderem an der Häufigkeit, mit der in aktuellen Gesellschaftsanalysen auf Adorno verwiesen wird. Zuletzt überschrieb etwa der Musikkritiker des New Yorker Alex Ross seinen Essay anlässlich der Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten mit der Diagnose: »The Frankfurt School Knew Trump Was Coming«.28 Auch wenn an dieser Stelle eine ausführlichere Untersuchung nötig wäre, um zu erfassen, ob diese Frankfurt SchoolFangemeinde Adorno immer aus berechtigten Gründen anhängt oder ob hier 23 24 25 26 27 28

Werner: Todtraurige Witze gegen den Pflicht-Optimismus. Stand vom 13.2.2019. Vgl. unter anderem Jarosinski: Plötzlich ist Amerika am Apparat; sowie Jarosinski: Memeia Moralia. Vgl. Art.: BIO. Adorno hat nie ein Monokel getragen. Ross: The Frankfurt School Knew Trump Was Coming.

Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte

nicht allerlei Adorno-Missverständnisse und -Verflachungen am Werk sind, hat doch Eric Jarosinski zumindest selbst ausführlich zu Adorno geforscht.29 Den deutschen Philosophen zum fiktiven Herausgeber von Nein Quarterly zu machen, funktioniert nicht nur deshalb, weil Jarosinski auf amüsante Weise Adornos autoritären Stil nachahmen kann. Auch Adorno selbst hat man heute vor allem als einen Denker in Erinnerung, der nein gesagt hat: nein zur Kulturindustrie, nein zum Jazz, nein zur Studentenbewegung. Überhaupt sah der Philosoph die Zukunft der Menschheit in recht düsterem Licht. Diese charakteristische Negativität und Verweigerungshaltung werden auch in der heutigen popkulturellen Adorno-Rezeption verknüpft, wie ein Blick auf gängige Adorno-Memes verdeutlicht. Abb. 2 »Adorno-Memes«

Adorno hätte Twitter sicherlich nicht genutzt. Macht doch das riesenhafte Internet-Unternehmen als Teil der von Adorno so verachteten »Kulturindustrie« die Menschen »zu den Massen […], die sie [die Kulturindustrie; MZ] dann verachtet.«30 Dadurch hindert die Kulturindustrie die Menschen an einer Emanzipation, zu der sie stets so reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalters es erlaubten.31 Trotzdem könnte man sich viele seiner Sätze, aus den Minima Moralia etwa, ohne Frage als erfolgreiche Tweets vorstellen, zum Beispiel: »Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.«32 Der bedeutende Unterschied zwischen Jarosinki und Adorno besteht nun allerdings darin, dass Letzterer seine Sätze nicht zur Unterhaltung oder zum 29 30 31 32

Vgl. etwa Jarosinski: The rhetoric of transparency in the New Berlin; oder Jarosinski/Wischke: The Homeland of Language: A Note on Truth and Knowledge in Adorno. Adorno: Résumé über Kulturindustrie, S. 345. Vgl. ebd. Adorno: Minima Moralia, S. 80.

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Amüsement seiner Follower geschrieben hat. Für Adorno standen das Komische und der Humor vielmehr im Verdacht, nicht ausreichend reflektiert zu sein, sich um Reflexion nicht einmal zu bemühen. Auf Friedrich Schiller, genauer auf dessen Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen33 Bezug nehmend, sah er die Komödie dem übermächtig empfundenen Schrecken der Welt nicht gewachsen, weil ihr durch das Komische nur »das subjektiv Nichtige und Scheinhafte« zu ihrem Gegenstand werden könne.34 Während Schiller die Vermittlung von Sinnlichkeit und Vernunft und damit die Vereinigung von Erfahrung und Idee betont, welche es dem Kunstwerk ermöglicht, die düstere Wirklichkeit in ein durch Freiheit gekennzeichnetes ästhetisches Spiel zu verwandeln,35 ist ein ebensolches Spiel Adorno verdächtig. Für ihn ist eine »Kunst, die anders als reflektiert gar nicht mehr möglich«, weshalb sie auch »von sich aus auf Heiterkeit verzichten« muss – nicht erst seit Auschwitz. In seinem gesellschaftskritischen Ansatz wirkt auf Adorno die Versöhnung, welche er im Begriff des Humors sieht, als »schmatzend einverstandenes Behagen« affirmativ.36 So werde die von der Aufklärung versprochene Versöhnung verhindert und das Lachen »zum Rückfall in die Unmenschlichkeit«. Erst mit den Theaterstücken des irischen Dramatikers Samuel Beckett, in denen das Tragische zum Komischen und damit eine Versöhnung unmöglich geworden sei, wird laut Adorno der Humor in einem »Lachen über die Lächerlichkeit des Lachens und der Verzweiflung […] gerettet«.37 Mit dieser Dissonanz, schrecklich und wundervoll zugleich zu sein, schockiere und wecke Beckett seine Zuschauer und Leser ganz nach Adornos Idealvorstellung von Kunst. Denselben Wert schreibt er auch Franz Kafkas Büchern oder Arnold Schönbergs Musikstücken zu, weil auch sie das Schöne und den ›guten Geschmack‹ des 18. Jahrhunderts negieren. Die Dissonanz, die stattdessen diese Kunstwerke auszeichne, »macht sich spröd gegen einen Schein des Menschlichen, der Ideologie der Unmenschlichkeit ist, und schlägt sich lieber auf die Seite verdinglichten Bewusstseins.«38 Wie sehr man sich nun auch bemühen könnte, Jarosinskis kulturpessimistische Aphorismen im Duktus Adornos als kleine, verstörende Dissonanzen in den unendlichen affirmativen Weiten des Internets zu interpretieren, 33 34 35 36 37 38

Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Vgl. Adorno: Engagement, S. 417. Vgl. Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, S. 238. Vgl. Adorno: Ist die Kunst heiter?, S. 603. Ebd., S. 605. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 30.

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so unterliegen sie doch nichtsdestoweniger den Bedingungen des Kurznachrichtendienstes in einer fundamentalen Art und Weise. Außerdem nutzt Jarosinski die negative Pose zur Markenbildung, die er mittlerweile anscheinend erfolgreich monetarisiert, wenn er als freier Autor von Nein Quarterly leben kann. Für Adorno wäre das wohl kaum zu rechtfertigen gewesen. Selbst Jarosinski muss in einem Interview zugeben: »Adorno hätte Twitter wahrscheinlich gehasst«, auch wenn er sich damit nicht vollständig geschlagen gibt: »aber Facebook hätte er noch viel mehr gehasst. Facebook hätte er verachtet.«39

III.

Intellektuell und dagegen

Als Avatar von Nein Quarterly steht der mürrisch-kritische Adorno nicht nur stellvertretend für den hier ins Komische gezogenen Kulturpessimismus, sondern auch für die Verweigerung als allgemein-typischen Habitus des Intellektuellen. Dieser argumentiert für gewöhnlich gegen einen gesellschaftlichen Mainstream, tritt als Kritiker der Macht, als Ankläger von Unrecht, Ungerechtigkeit und Unterdrückung sowie als Verteidiger der Vernunft und Wahrheit auf.40 Jarosinski selbst verkörpert diese intellektuelle Verweigerungshaltung in seinem Schreiben auf Twitter geradezu paradigmatisch: als penetrantes Nein inmitten einer »Tyrannei des Ja«. Inwiefern er damit in der Tradition des modernen Intellektuellen steht, verdeutlicht ein Exkurs zu Begriff und Geschichte dieses Typus. Jener moderne Intellektuelle, wie er hier gemeint und im heutigen Verständnis präsent ist, geht auf die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Am 13. Januar 1898 erschien auf der ersten Seite der Tageszeitung L’Aurore ein mit »J’accuse« (»Ich klage an«) überschriebener offener Brief an den Präsidenten der französischen Republik.41 Émile Zola, seinerzeit der prominenteste Schriftsteller Frankreichs, hatte ihn verfasst. In seinem Brief machte Zola auf das Schicksal des jüdischen Offiziers Alfred Dreyfus aufmerksam, der aus einer antisemitischen und chauvinistischen Intrige heraus 1894 wegen Landesverrat zu Unrecht verurteilt worden war. Zola forderte eine Wiederaufnahme des Verfahrens. In der Folgezeit or39 40 41

Zitiert nach Horchert: Social-Web-Star NeinQuarterly. Vgl. Gilcher-Holtey: Prolog, S. 10. Vgl. zu Folgendem etwa Duclert: Die Dreyfus-Affäre, S. 54-64; sowie von Zola selbst Zola: Lʼaffaire Dreyfus, S. 113-124.

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ganisierte sich eine wachsende Unterstützung für die Seite von Dreyfus.42 Diese sich formierende Gruppe von Literaten und Wissenschaftlern wurde – sowohl in unterstützender wie diffamierender Absicht – als ›Intellektuelle‹ bezeichnet.43 Der Intellektuelle, das wird an Zola deutlich, ergreift also im Namen höherer Werte für die unterlegene Seite Partei. Anders als es der Etikette nach bei der alltäglichen Absage üblich wäre, äußert sich der Intellektuelle jedoch nicht nur, nachdem er gefragt wurde. Seine Absage zeichnet eher aus, dass er sich ungefragt äußert und öffentlich positioniert. Auch in seine bis heute geltenden Vorstellungen und Ansprüche44 übernimmt er damit also einerseits Verantwortung. Andererseits rufen der Intellektuelle und sein öffentlicher Protest auf der Grundlage einer mehr oder weniger elitären Selbstermächtigung bereits bei Zola und später immer Reaktionen hervor, die von antiintellektuellem Affekt getrieben sind.45 Eine letzte Hochzeit des intellektuellen Engagements wird in der Intellektuellen-Forschung auf die 1950er und 60er Jahre datiert und an Hannah Arendt, Jean Paul Sartre, Martin Luther King, Simone de Beauvoir und Nelson Mandela geknüpft.46 In diesen Zeitraum fällt auch die wirkmächtigste Zeit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS). Die Vertreter der Kritischen Theorie hatten nach ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil einige Energie darauf verwendet, dort einen Typus des nonkonformistischen, gesellschaftskritischen Intellektuellen zu institutionalisieren.47 Einerseits eingebunden in 42

43 44 45 46 47

Indem sich die Unterzeichner zweier Petitionen zusammenschlossen, gründete sich die ›Ligue des droits des hommes‹. Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey: Menschenrechte oder Vaterland. Gekoppelt an eine inzwischen zu einer eigenständigen Macht gewordenen Massenpresse konnte sie tatsächlich eine Revision des Urteils und eine, wenn auch erst spät im Jahr 1906 erfolgende, vollständige Rehabilitierung Dreyfus’ erwirken. Vgl. zur Rehabilitierung Dreyfusʼ insbesondere die Darstellung von Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert; sowie zum Katalysator-Effekt, der von der Dreyfus-Affäre ausging und die politischen Kräfte in Frankreich zugunsten der Republikaner und Liberalen verschob, Loth: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, S. 18. Vgl. Fohrmann/Gethmann: Topographien von Intellektualität, S. 9. Deutlich wird dies etwa in Bax: Engagierter Intellektueller. Vgl. Fohrmann/Gethmann: Topographien von Intellektualität, S. 9. Vgl. dazu etwa Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Nicht in der Tradition des Intellektuellen der Weimarer Republik sollte dieser stehen, sondern in der Tradition des kritischen Denkens der Frühaufklärung, anknüpfend an Hegel, Marx, Nietzsche, Freud bis an den undogmatischen Marxismus der zwanziger Jahre. Vgl. Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle, S. 15.

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die Frankfurter Universität, dehnte sich ihr Wirkkreis andererseits durch Vorstöße auf neue Themenfelder und die Schaffung eines Verständigungskontextes sowie einer umfangreichen Anhängerschaft aus Interessierten und Schülern aus. Besonders in den 1950er und 1960er Jahren zeigten sich Adorno und Horkheimer außerordentlich engagiert auf einem Feld der Praxis: in der Universität, im Rahmen von Wissenschaftsgesellschaften und in der Öffentlichkeit.48 Der Sozialwissenschaftler Alex Demirović kommt sogar zu dem Schluss, dass Adorno und Horkheimer »die ersten stilbildenden Vertreter eines neuartigen Intellektuellentypus« waren, der »emanzipatorische Gesellschaftskritik an der Universität vertrat und ausarbeitete.«49 Gegen alle Angriffe verteidigten und propagierten sie die Rolle des Intellektuellen als eines Kritikers der Gesellschaft gegenüber dem bloßen Spezialisten und Fachmann. Hier zeigt sich, dass seit der Humboldt’schen Bildungsreform Intellektualität in Deutschland zwar etwas mit der Bildungsleistung der (deutschen) Hochschulen zu tun hat. Die Universität bildet dabei jedoch lediglich einen entsprechenden Nährboden. Intellektuelle können an eine universitäre Institution angebunden sein oder aber an eine andersartige Institution oder an überhaupt keine. Auch nach der beschriebenen letzten Hochzeit der Intellektuellen wurde diese Frage zum Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder diskutiert, dann vor allem verbunden mit der Rede vom Verschwinden der Intellektuellen in Märkten, Medien und politischen Debatten. Sie hält bis heute an und wird von der Suche nach Gründen für ein solches Verschwinden und von dem Ruf nach einer »Wiederauferstehung« der Intellektuellen begleitet.50 Dass »in der Wahrnehmung der ›Intellektuellen‹ […] in Frankreich zweifellos die Schriftsteller dominant, in Deutschland eher die Hochschullehrer« seien, antwortet etwa Joseph Jurt auf die Frage, wo die gegenwärtigen Intellektuellen zu finden sein sollten.51 Auch in den Medien wird der Kurzschluss zwischen Intellektuellen und Universität immer wieder bemüht. So führt die im Sommer 2015 von der Zeit angestoßene Debatte »Wo seid ihr Professoren?« das persönliche Versagen von Professoren als vermeintlich Intellektuelle per se als Grund für ein Verschwinden der Intellektuellen an, ebenso wie die martkwirtschaftlich grundierte Umgestaltung von Universitäten. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen echauffiert 48 49 50 51

Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Vgl. exemplarisch etwa Moebius: Wo sind die Intellektuellen hin? Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle, S. 14.

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sich etwa im Rahmen dieser Serie mit Blick auf die intellektuellen Ansprüche des wissenschaftsbezogenen Arbeitens: »An die Stelle des Zorns über die Verhältnisse in der Welt und an die Stelle des interpretativen Abenteuers mit offenem Ausgang ist die Sorge getreten, ob man genug Drittmittel eingeworben und ausreichend Aufsätze in internationalen Zeitschriften publiziert hat.«52 Eine gegenwärtig zu beobachtende Transformation der IntellektuellenFigur, die besonders in Bezug auf den twitternden Jarosinski relevant ist, zeigt sich in der Figur des ›Medienpromis‹ von der Art Richard David Prechts. Die Präsenz und Glaubwürdigkeit des ›Fernseh-Philosophen‹ sind nicht nur einer bestimmten intellektuellen Leistung, professionellen Zuständigkeit oder angehörenden Institution zuzurechnen, sondern auch – mitunter sogar in entscheidender Weise – einer erfolgreichen Kommunikation und Präsentation von Persönlichkeitswerten innerhalb der Medien. Die intellektuelle Leistung besteht nunmehr, wie Carsten Gansel und Werner Nell konstatieren, in der ›erfolgreichen‹, das heißt vor allem in einer »allgemein verständlichen und zugleich Aufmerksamkeit erregenden« Vermittlung.53 Komplexe und elaborierte, in sich selbst wiederum ausdifferenzierte Fachdiskurse werden verständlich gemacht, indem sie gegebenenfalls mit Comedy-Elementen oder spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen versetzt werden.54 Vor allem aber müssen sie an das zeitgenössische soziale Geschehen rückgebunden werden. Kritik und Unterhaltung verbinden sich. Dass aber selbst im Hintergrund eines Richard David Prechts die mürrische Adorno-Figur als vage Vorstellung 52

53 54

Pörksen: Wo seid ihr, Professoren? Dass es mit der Gleichsetzung von Professoren und Intellektuellen nicht so einfach ist, wie Jurt und Pörksen behaupten, wird nicht nur innerhalb der Zeit-Serie deutlich. Die erste Antwort auf Pörksens Beitrag stammt von Sandra Richter. Sie hält ihm vier Argumente entgegen: »Erstens: Professoren sind selten Intellektuelle und Intellektuelle selten Professoren.« »Gesellschaftliche Probleme lassen sich zweitens nicht allein von Geistes- und Sozialwissenschaften bearbeiten.« »Drittens: Die Gesellschaft bekommt die Professoren, die sie verdient.« »Und viertens brauchen Intellektuelle Chuzpe: Unerschrockenheit, Dreistigkeit, unwiderstehliche Penetranz, auch als Professoren. Nur mit Chuzpe lässt sich Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erzeugen. Chuzpe ist eine unakademische Tugend« (Richter: Unsere Gesellschaft bekommt die Professoren, die sie verdient). Vgl. Gansel/Noll: Vom kritischen Denker zum Medienpromi. Diese Kritik ist freilich so alt (und einseitig) wie die moderne Unterhaltungskultur und -literatur selbst. Vgl. dazu etwa die Vorwürfe vom 18. Jahrhundert bis heute bei Greiner: Die Entstehung der modernen Unterhaltungsliteratur bis heute; und bei Postman: Wir amüsieren uns zu Tode.

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eines Intellektuellen schwebt, zumindest in Internet-Mashup-Manier, zeigt ein Meme, das von dem Interviewformat Jung & Naiv angefertigt wurde. Das markante »mir nicht« von Precht erinnert an Adornos berühmte Antwort aus einem Spiegel-Interview vom 5. Mai 1969, in dem sich Adorno zur Studentenrevolte äußerte.55 Abb. 3 »Richard David Precht als Intellektueller«

Das problematische Verhältnis zwischen Medien und Intellektuellen bleibt freilich trotzdem bestehen, auch bei Richard David Precht. Dass Autonomie und Unabhängigkeit der Intellektuellen durch die journalismusspezifische Leserfreundlichkeit und Versessenheit auf Neues und Brisantes gefährdet seien, konstatierte bereits Bourdieu. Die Fähigkeit, im Fernsehen gut rüberzukommen, dürfe nicht die intellektuelle Effektivität beeinflussen, verlangte er.56 Und bis heute scheint sich zwischen den angeblich verstummten Universitätsprofessoren und Richard David Precht das Talkshow-Paradoxon aufzutun: Ein Intellektueller, der nicht im Fernsehen ist, wird nicht gehört. Ein Intellektueller, der im Fernsehen ist, wird nicht mehr ernst genommen. Ist Eric Jarosinski nun auch ein solcher Medienpromi und durch seine Popularität zur weichgespülten, affirmativen Version eines Intellektuellen 55 56

Vgl. Art.: Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. SPIEGEL-Gespräch mit dem Frankfurter Sozialphilosophen Theodor W. Adorno. Vgl. Bourdieu: Der Korporativismus des Universellen, S. 53.

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verkommen? Seine Tweets persiflieren auf den ersten Blick das intellektuelle Sendungsbewusstsein eines Richard David Precht durch ihre Komik, bedienen sich aber andererseits ebenfalls eines vermittelnden und publikumswirksamen, letztlich affirmativen und monetarisierenden Verfahrens. Denn das erfolgreiche Kernverfahren von Eric Jarosinskis unverkennbarem Twitter-Stil liegt, ganz dieser medialen Transformation des Intellektuellen folgend, darin, eine Brücke zu schlagen zwischen Theoriediskurs bzw. Spezialwissen und einer alltäglichen, konkreten Lebensrealität. Jarosinskis Twitteraphorismen sind gerade dann besonders gelungen, wenn sie theoretisches, abseitiges Fachwissen in leicht zugänglichen Humor transformieren. Aus Samuel Becketts bekanntem absurdem Theaterstück macht er einen in bestimmten Coffee Shop-Ketten anwendbaren Jungenstreich: »At Starbucks I order under the name Godot. Then leave.«57 Aber auch Walter Benjamins Überlegungen zum Engel der Geschichte werden bei Jarosinski zum Aphorismus: »Trust me: History’s no angel.«58 oder die surrealistische Kunst von René Magritte: »On the Internet, nobody kows you’re not a pipe.«59 Etwas kulturelles Wissen braucht man zwar, um den Tweets von Eric Jarosinski zu folgen, aber die Zugangsschwelle ist doch sehr viel geringer als die zu einem wissenschaftlichen Aufsatz. Nein Quarterly ist Akademikerhumor, aber nicht unbedingt für ein exklusives Insider-Feld von Wissenschaftlern. Mit steigender, medialer Popularität und mit seiner Abkehr von der Universität nutzt Jarosinski seine Plattform zwar auch zur Politsatire. Am bemerkenswertesten wohl 2013 während der Proteste im Gezi-Park in Istanbul: »#Gezi, vidi, vici«60 twitterte Jarosinski etwa oder »I gezi what you did there«.61 Und anlässlich der griechischen Schuldenkrise konnten seine Follower lesen: »Europe. A Greek start-up bought by Germany. Then sold to Google.«62 Man könnte in Anlehnung an Bourdieu also sagen, er nutzt sein universitär und medial erworbenes symbolisches und kulturelles Kapital in anderen Feldern, auch im politischen oder hochschulpolitischen. Viele Interviews befragen Jarosinski zu seiner Entscheidung, die Universität zu verlassen, und in diesem Zuge kritisiert er oft, aber zaghaft die Arbeitsbedingungen des universitären 57 58 59 60 61 62

Siehe Fußnote 17. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 1. März 2014. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 20. Dezember 2012. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 1. Juni 2014. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 16. Juni 2013. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 6. Mai 2015.

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Mittelstandes.63 Damit bleibt Jarosinski jedoch weit unterhalb seines kritischen Möglichkeitspotenzials. In seiner Gesamtheit nutzt Jarosinski seine Popularität nämlich nicht wie ein kritischer Intellektueller im Sinne Adornos. Als Kunstfigur hinter Nein Quarterly verweist er damit auf einige Merkmale des modernen Intellektuellen – auf seine Verweigerungshaltung, auf seine Argumentation gegen einen gesellschaftlichen Mainstream und auf Adorno als einen intellektuellen Prototyp. Doch letztlich werden diese intellektuellen Posen ökonomisiert und damit zu einem affirmativen, keinem kritischen Verhalten gegenüber Gesellschaft und Markt.

IV.

The Failed Intellectual

Folgerichtet erteilt Eric Jarosinski in Nein Quarterly dem Begriff des Intellektuellen in seiner Selbstbezeichnung eine Absage. Unter dem Hashtag #failedintellectual zelebriert er in seinen Tweets nicht nur seine missglückte Universitätskarriere, sondern wählt ihn nach seinem Ausscheiden aus dem akademischen System auch als neue Berufsbezeichnung. Jarosinski spielt in seinen Tweets damit, dass es Tausende wie ihn gibt, sowohl in den USA als auch in Deutschland. Er diagnostiziert den gescheiterten Intellektuellen als Gegenwartssymptom, zumindest im Hinblick auf die gegenwärtigen Karriereaussichten an der Universität. Die akademische ›Heldengeschichte‹ wird heute besonders gern als Geschichte des Scheiterns erzählt. Von gescheiterten Akademikern, die Mitte vierzig, promoviert, habilitiert und dann »aus dem System gefallen« sind, berichten zahlreiche journalistische Portraitstücke.64 Während allerdings die meisten dieser gescheiterten Akteure verstummt sind, twittert Eric Jarosinski weiter. Er ergreift nicht wie Zola Partei für die Unterlegenen, er verkörpert den Unterlegenen selbst und macht ihn sichtbar. Neben den stummen Universitäts-Professoren, wie sie Die Zeit diagnostiziert haben will, und den professionellen ›Fernseh-Philosophen‹, bedient Eric Jarosinski damit ein Narrativ, das dem Terminus des Intellektuellen einerseits eine Absage erteilt, andererseits aber den Habitus des intellektuellen Denkers romantisch idealisiert. Sein Scheitern instrumentalisiert er dabei nicht, um Andere zu warnen 63 64

Vgl. etwa Carroll/Stephan: From PhD to Twitter Fame. Camenzind: Plan B, dringend gefragt.

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oder ihnen kluge Ratschläge zu geben. Jarosinski verklärt vielmehr einen Typus des an der Universität gescheiterten Intellektuellen in seiner antikademischen Verweigerungshaltung, die grundsätzlich wird und zu seiner neuen Einkommensquelle. Er erklärt den zeitgenössischen Intellektuellen per se zum gescheiterten Intellektuellen: »First there was the intellectual. Then the public intellectual. Then the failed public intellectual. Then the public failed intellectual.«65 Der Intellektuelle der Gegenwart erteilt also nicht nur Absagen und er ist nicht nur gescheitert. Er verkörpert die Absage und das Scheitern selbst, macht daraus aber wiederum eine ökonomisch erfolgreiche Digitalstrategie. Und spätestens das hätte Adorno sicher gehasst. Abb. 4 »Failed Intellectual«

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Nein Quarterly: Twitter Posting vom 19. Juni 2014.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: »Absagen-Tweets von @NeinQuarterly« Nein Quarterly: Twitter Posting vom 1. Mai 2017, 12:26 a.m. https://twitter. com/NeinQuarterly/status/858809820132122624 [Stand: 13.02.2019]. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 29. Dezember 2014, 8:46 p.m. https: //twitter.com/NeinQuarterly/status/549652820690223104 [Stand: 13.02. 2019].

Twitter-Aphorismen von Nein Quarterly, wie sie Adorno gehasst hätte

Nein Quarterly: Twitter Posting vom 2. Oktober 2016, 11:58 p.m. https://twitt er.com/NeinQuarterly/status/791761018536034304 [Stand: 13.02.2019]. Abb. 2: »Adorno-Memes«   Adorno-Meme »I had fun once, it was awful«. https://i.warosu.org/data/lit/ img/0091/95/1488772290307.jpg [Stand: 13.02.2019]. Adorno-Meme »Pokémon makes Adorno sad«. https://memegenerator.net/in stance/69740204/adorno-pokmon-makes-adorno-sad [Stand: 13.02.2019]. Adorno-Meme »Kulturindustrie the worst«. https://memegenerator.net/in stance/80760690/theodor-adorno-kulturindustrie-the-worst [Stand: 13. 02.2019]. Abb. 3: »Richard David Precht als Intellektueller« Tilo Jung: Twitter Posting vom 19. Februar 2017, 4:58 p.m. https://twitter.com /TiloJung/status/833345089086816256/photo/1 [Stand: 13.0.2019]. Abb. 4: »Failed Intellectual« Nein Quarterly: Twitter Posting vom 28. Feburar 2014, 9:25 p.m. https://twitt er.com/NeinQuarterly/status/439496657043214336 [Stand: 13.02.2019]. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 15. August 2014, 10:49 p.m. https://twitt er.com/NeinQuarterly/status/500383832156405760 [Stand: 13.02.2019]. Nein Quarterly: Twitter Posting vom 17. April 2014, 11:25 p.m. https://twitter. com/NeinQuarterly/status/456906366595379200 [Stand: 13.02.2019].

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Autorinnen und Autoren

Assmann, David-Christopher, Dr., Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a.M., Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a.M. E-Mail: [email protected]. Buck, Nikolas, M.A., Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstraße 8, 24118 Kiel. E-Mail: [email protected]. Florack, Ruth, Prof. Dr., Seminar für Deutsche Philologie, Georg-AugustUniversität Göttingen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen. E-Mail: [email protected]. Hombrecher, Hartmut, M.A., Seminar für Deutsche Philologie, GeorgAugust-Universität Göttingen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen. E-Mail: [email protected]. Kaiser, Gerhard, apl. Prof. Dr., Seminar für Deutsche Philologie, GeorgAugust-Universität Göttingen, Käte-Hamburger-Weg 3, 37073 Göttingen. E-Mail: [email protected]. Kempke, Kevin, M.A., Universität Stuttgart, Institut für Literaturwissenschaft, Neue Deutsche Literatur II, Keplerstraße 17, 70174 Stuttgart. E-Mail: [email protected]. Kuhlmann, Hauke, Dr., Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Germanistik/Deutsch, Universität Bremen, Bibliotheksstraße 1, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected].

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Autorinnen und Autoren

Lillge, Claudia, PD Dr., Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a.M. E-Mail: [email protected]. Menzel, Nicola, M.A., Goethe-Universität Frankfurt, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Norbert-Wollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a.M. E-Mail: [email protected]. Zeh, Miriam, M.A., Graduiertenkolleg »Schreibszene Frankfurt. Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur«, Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt a.M., NorbertWollheim-Platz 1, 60629 Frankfurt a.M. E-Mail: [email protected].

Literaturwissenschaft Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart., Dispersionsbindung 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)

Hass/Literatur Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte 2019, 426 S., kart., 2 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4645-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4645-4

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 1 2019, 190 S., kart., 5 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4459-3 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4459-7

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