Alter(n) als soziale und kulturelle Praxis: Ordnungen - Beziehungen - Materialitäten 9783839434116

How does one actually age? Can things also age? How do biographical experiences change, and how do we deal with memory/m

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German Pages 368 [366] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Alter(n) in Beziehungen. Eine Einleitung
Ordnungen des Alter(n)s
Muße, Zeitwohlstand und Langeweile im beschleunigten Kapitalismus
Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter
Anerkennung im Alter. Erfahrungen von Anerkennung, Abwertung und Ausgrenzung in biographischen Erzählungen älterer Frauen aus Ostdeutschland
»Too old to die young« Praktiken des Biographisierens jugendkultureller Erfahrungen
»Ich kann das Alter nicht definieren« Alltägliche Alter(n)swirklichkeiten im Dazwischen: Auslotungen einer ethnografischen Dispositivanalyse des ›jungen Alters‹
Alter im Blick. Überdeterminierung und Dethematisierung
Beziehungen des Alter(n)s
Altern zwischen Medikalisierung und reflexiver Praxis. Der Alltag im Zeichen des Anti-Aging
Empowering the Elderly. A Cultural Analysis of the Relational Practices within a Municipal Home-Health Visit
When Anna moved to a Nursing Home. Empathic Movements between Self and Others in the Decision Making and Process of Moving
Experiencing Ageing through Urban Ethnographic Walks
Recycelte Fernseher und »abgestochene« Computer. Zur Erforschung von Medienerfahrungen von Frauen 60+ durch Interaktionen mit Medienobjekten während ›Walking Interviews‹ in Wohnräumen
Materialitäten des Alter(n)s
Vestimentäre Praktiken von Frauen über 60 Jahren
Alter(n) in der Horizontale oder ein Bett ohne Ruhe
High-Tech und Handtasche. Gegenstände und ihre Rolle in der Pflege und Unterstützung älterer und alter Menschen
Materielle Beziehungen. Zur Dialektik der Dinge des Alter(n)s
Zu Vorstellungen von Alter(n) im Klang. Praktiken des Produkt Sound Designs
Autorinnen und Autoren
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Alter(n) als soziale und kulturelle Praxis: Ordnungen - Beziehungen - Materialitäten
 9783839434116

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Cordula Endter, Sabine Kienitz (Hg.) Alter(n) als soziale und kulturelle Praxis

Aging Studies | Band 10

Die Reihe Aging Studies wird herausgegeben von Heike Hartung, Ulla Kriebernegg und Roberta Maierhofer.

Cordula Endter, Sabine Kienitz (Hg.)

Alter(n) als soziale und kulturelle Praxis Ordnungen – Beziehungen – Materialitäten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Antonia Krüger, Hamburg, 2015 Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3411-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3411-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Alter(n) in Beziehungen. Eine Einleitung

Cordula Endter und Sabine Kienitz | 9

O RDNUNGEN DES ALTER (N)S Muße, Zeitwohlstand und Langeweile im beschleunigten Kapitalismus

Tina Denninger und Silke van Dyk | 27

Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter

Irene Götz, Esther Gajek, Alexandra Rau und Petra Schweiger | 55 Anerkennung im Alter. Erfahrungen von Anerkennung, Abwertung und Ausgrenzung in biographischen Erzählungen älterer Frauen aus Ostdeutschland

Anna Sarah Richter | 81

»Too old to die young«. Praktiken des Biographisierens jugendkultureller Erfahrungen

Gerrit Herlyn | 99

»Ich kann das Alter nicht definieren«. Alltägliche Alter(n)swirklichkeiten im Dazwischen: Auslotungen einer ethnographischen Dispositivanalyse des ›jungen Alters‹

Rebecca Niederhauser | 119

Alter im Blick. Überdeterminierung und Dethematisierung

Harm-Peer Zimmermann | 135

BEZIEHUNGEN DES ALTER (N )S Altern zwischen Medikalisierung und reflexiver Praxis. Der Alltag im Zeichen des Anti-Aging

Larissa Pfaller und Mark Schweda | 157

Empowering the Elderly. A Cultural Analysis of the Relational Practices within a Municipal Home-Health Visit

Amy Clotworthy | 179

When Anna moved to a Nursing Home. Empathic Movements between Self and Others in the Decision Making and Process of Moving

Kamilla Nørtoft | 201

Experiencing Ageing through Urban Ethnographic Walks

Tiina Suopajärvi | 223

Recycelte Fernseher und »abgestochene« Computer. Zur Erforschung von Medienerfahrungen von Frauen 60+ durch Interaktionen mit Medienobjekten während ›Walking Interviews‹ in Wohnräumen

Barbara Ratzenböck | 245

MATERIALITÄTEN DES ALTER (N)S Vestimentäre Praktiken von Frauen über 60 Jahren

Esther Gajek | 267

Alter(n) in der Horizontale oder ein Bett ohne Ruhe

Maria Keil | 289

High-Tech und Handtasche. Gegenstände und ihre Rolle in der Pflege und Unterstützung älterer und alter Menschen

Anamaria Depner und Carolin Kollewe | 301 Materielle Beziehungen. Zur Dialektik der Dinge des Alter(n)s

Cordula Endter und Sabine Kienitz | 327

Zu Vorstellungen von Alter(n) im Klang. Praktiken des Produkt Sound Designs

Anna Symanczyk | 345

Autorinnen und Autoren | 361

Alter(n) in Beziehungen Eine Einleitung C ORDULA E NDTER UND S ABINE K IENITZ

Alter(n), das ist nicht nur eine biologisch definierte Lebensphase, sondern als eine spezifische Form der sozialen Praxis zugleich auch Teil einer kulturellen Ordnung (vgl. u. a. Göckenjan 2000; Gullette 2004; Saake 2006). Eine solche Konzeption erlaubt es, Alter(n) als eine prozesshafte Größe zu verstehen, deren Bedeutung in der Zusammenschau und im Handeln einer Vielzahl von Akteuren und Akteurinnen entsteht (vgl. u. a. Bolze/Endter/Gunreben/Schwabe & Styn 2015). Erst eine solche, dezidiert kulturwissenschaftliche Perspektive kann der biographischen, kulturellen und biologischen Vielfalt des Alter(n)s gerecht werden und ermöglicht deren Beschreibung und Analyse (vgl. u. a. Breinbauer/Ferring/Haller/MeyerWolters 2010). Auf diese Weise lässt sich Alter(n) als eine relationale Kategorie fassen, die sich einer definitorischen Essentialisierung entzieht und dazu auffordert, die Beziehungsformen des Alter(n)s in ihren jeweiligen Kontexten zu erforschen. Hier setzt der Sammelband an und fragt nach den sozialen und kulturellen Praktiken, in denen Ordnungen, Erscheinungsformen und Vorstellungen des Alter(n)s ausgehandelt werden. Zugleich geraten so auch die Manifestationen dieser Praktiken in ihrer Materialität in den Blick und ermöglichen eine Auseinandersetzung mit Alter und Altern über die symbolisch-diskursive Ebene hinaus auch in einem alltagsweltlich-materiellen Zusammenhang. Gerahmt werden diese verschiedenen Zugänge von einer volkskundlich-kultur-wissenschaftlichen Perspektive, die Alter(n) als eine soziokulturelle Konstruktion versteht, die sich in den Praktiken ganz unterschiedlicher Akteure zum einen manifestiert und zum anderen diese zugleich konstituiert. Das sich dabei ergebende dialektische Spannungsverhältnis loten die Beiträge in diesem Sammelband aus, indem sie dem Alter(n) aus drei unterschiedlichen Perspektiven – den Ord-

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nungen, den Beziehungen und den Materialitäten – nachgehen. Dabei gilt es, sowohl diese Perspektiven als eigenständige Kategorien und Handlungsfelder in den Blick zu nehmen als auch die diskursiven Anknüpfungen und performativen Verwirklichungen zwischen ihnen sicht- und analysierbar zu machen. Darin folgt der Sammelband der Konzeption der interdisziplinären Tagung Alter(n) in Beziehungen. Ordnungen – Praktiken – Materialitäten, welche vom 26. bis 28. Februar 2015 am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg stattfand. Ziel der Tagung war es, dem Alter(n) sowohl empirisch ethnographisch als auch historisch und diskursiv in unterschiedlichen Feldern und Formen nachzugehen. Dabei standen die kulturellen Vorstellungen ebenso wie die alltagsweltlichen Aushandlungen und materiellen Erscheinungsformen des Alter(n)s im Mittelpunkt, die es interdisziplinär zu erschließen galt. Der Sammelband spiegelt diese Aufgabe wider, indem er auf eine disziplinäre Gliederung der Beiträge verzichtet und sich stattdessen entlang der drei leitenden Kategorien – Ordnungen, Beziehungen und Materialitäten – strukturiert. Auf diese Weise können die einzelnen Beiträge, wie auch auf der Tagung, interdisziplinär in Dialog gebracht werden.1 Die Kategorien sollen die Beiträge jedoch nicht beschränken, sondern vielmehr den Relationen des Alter(n)s in ihren verschiedenen Facetten nachgehen. Denn wie so oft, ist uns als den Herausgeberinnen bei dem Versuch eines solchen (An-)Ordnens zugleich auch die Unmöglichkeit dieses Unterfangens deutlich geworden. Und so sollen die Kategorien für die einzelnen Beiträge eher als Orientierung denn als Schublade verstanden werden, da wir der Überzeugung sind, dass Alter(n) erst in der Zusammenschau seiner heterogenen Manifestationen und vielfältigen Spielarten analytisch fundiert betrachtet werden kann. Die Gliederung des Bandes ist damit mehr als eine erkenntnisleitende Perspektivierung zu verstehen, die der Multiplizität des Alter(n)s versucht gerecht zu werden. Die Beiträge dieses Bandes haben sich dieser Herausforderung erfolgreich gestellt und loten die unterschiedlichen Perspektiven historisch, diskursiv und empirisch aus. Gleichzeitig bot der interdisziplinäre Dialog die Möglichkeit, die eigene Perspektive auf das Alter(n) zu schärfen und hinsichtlich einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Alter(n)sforschung zu positionieren.

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Dass dem Alter(n) wissenschaftlich zunehmend nur noch interdisziplinär nachgegangen werden kann und muss, zeigen auch die jüngsten Veröffentlichungen (vgl. u. a. Bolze/Endter/Gunreben/Schwabe/Styn 2015; Breinbauer/Ferring/Haller/Meyer-Wolters 2010; Fangerau/Gomille/Herwig/Horst/Hülsen-Esch 2007; Hülsen-Esch 2015; Hülsen-Esch/Seidler/Tragsold 2013; Kollewe/Schenkel 2011; siehe auch Künemund/Schroeter 2015).

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Der Vorstellung der Beiträge des Bandes stellen wir jeweils eine Erläuterung der leitenden Kategorie in Bezug auf Alter und Altern voran.

O RDNUNGEN DES ALTER ( N ) S Die Beiträge der ersten Sektion Ordnungen des Alter(n)s eint dabei die Frage, wie Alter(n) zu einer wirkmächtigen gesellschaftlichen Kategorie werden konnte. Alter ist hier vor allem ordnend in einem systemischen Sinne: Auf politisch-ökonomischer Ebene kennzeichnet der Renteneintritt und damit das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben den Eintritt in die Lebensphase »Alter«. Denninger, van Dyk, Lessenich und Richter arbeiten in ihrer soziologischen Studie zum Leben im Ruhestand (2014) im Anschluss an die Arbeit Gerd Göckenjans (2000) heraus, dass dieser so genannte »wohlverdiente Ruhestand« »ein soziales Phänomen der jüngeren gesellschaftlichen Vergangenheit [ist]« (Denninger et al. 2014: 69), dessen politische Institutionalisierung und gesellschaftliche Manifestation mit der Rentenreform des Jahres 1957 begonnen hat (vgl. ebd.: 68f.). Ergebnis dieser sozialpolitischen Reform ist das entberuflichte Alter, eine Lebensphase, die deutlich vom Berufsleben abgegrenzt und zu einer eigenständigen Lebensphase institutionalisiert wird, wozu gerade auch die monetäre Absicherung in Form von Rentenzahlungen als »kollektive Finanzierung der Lohnersatzleistung« (Göckenjan 2000: 300, zit. nach Denninger et al. 2014: 69) beiträgt. Diese wohlfahrtsstaatliche Freistellung von der Pflicht zur Erwerbsarbeit, welche sich vor allem in den 1960er und 1970er Jahren unter dem allgemeinen finanziellen Wohlstandszuwachs als ein tatsächlicher Abschied von Lohnarbeit und Arbeitsleistung im Alter etablierte, konstituiert die neue Lebensphase des Ruhestandes ebenso wie den Sozialtypus des Ruheständlers bzw. der Ruheständlerin. Diese Freisetzung von Erwerbsarbeit erfordert zugleich neue Sinn- und Identitätsangebote, um sich als eben jene_r Ruheständler oder Ruheständlerin definieren zu können, welche gerade durch die mit der Rentenreform 1972 eingeführte Flexibilisierung der Altersgrenze über relativ viel verbleibende Lebenszeit bei gleichzeitig sicherem materiellen Wohlstand verfügen.2 Die Konsum- und Warenwelt reagiert auf dieses Bedürfnis ebenso wie Vereine oder andere gemeingesellschaftliche Institutionen. Mit

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Denninger et al. verweisen darauf, dass gerade die Flexibilisierung der Altersgrenze in den 1980er Jahren als Reaktion »auf die massiven Krisenphänomene am Arbeitsmarkt mit der Etablierung und Ausweitung des Frühverrentungsregimes reagiert […] [und die] zugleich die materielle wie kulturelle Basis für den Aufstieg jener Jungen Alten schafft, deren Lebenswelt und Lebensstil nach 1980 zum Inbegriff des Rentnerlebens

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dieser neuen Lebensphase entstehen auch eine neue Lebenswelt und ein neuer Lebensstil, die kultureller und sozialer Ordnung bedürfen (vgl. u. a. Backes 2001, 2003). Die Gegenwart der Lebensphase Alter scheint jedoch mit dem einst unter dem Stichwort des wohlverdienten Ruhestands institutionalisierten Ausstieg aus der Erwerbsarbeit nicht mehr deckungsgleich. Gerade in den letzten Jahrzehnten ließ der neoliberale Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme die Absicherung des Alters unsicher und brüchig werden (vgl. Butterwegge/Bosbach/Birkwald 2012). Gleichzeitig stieg und steigt die Zahl der Alten, die auf staatliche Rentenleistungen Anspruch erheben können, während die Geburtenzahlen zurückgehen. Diese Veränderung der Bevölkerungsstruktur, welche politisch als demographischer Wandel bezeichnet wird, verschärft die Entwicklungen in der Rentenpolitik und befördert den Diskurs über die notwendige Produktivmachung der älteren Bevölkerungsteile (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ], 2006, 2010). Innerhalb dieser politischen Indienstnahme des Alters und der Alten wird die soziale Frage demographisiert (vgl. Barlösius/Schiek 2007; Butterwegge 2006). Dahinter steht das Ziel, »originär politische Entscheidungen im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik durch den Verweis auf die Bevölkerungsstruktur und -größe zu naturalisieren und sie als Sachzwang erscheinen zu lassen« (van Dyk 2015, S. 92). Dazu zählen Kürzungen und Teilprivatisierungen der gesetzlichen Rentenbezüge ebenso wie die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters sowie die Absenkung des Rentenniveaus (vgl. ebd.). 3 Die Beiträge der Sektion Ordnungen des Alter(n)s setzen hier an, indem sie ihr empirisches und analytisches Augenmerk auf die Subjekte des Alter(n)s richten und fragen, inwieweit die oben beschriebenen Prozesse zu einer Naturalisierung des Alter(n)s führen und welche neuen disziplinierenden Regierungsformen dabei eine Rolle spielen. Gleichzeitig gehen die Beiträge der Frage nach den Widerständigkeiten nach: Inwieweit etablieren alternde Akteurinnen subversive Gegenordnungen, indem sie sich schlichtweg einer solchen Markierung entziehen, sie verwerfen oder umdeuten? Und wie sehen diese widerständigen Praktiken konkret aus?

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werden« (2014: 74). Zum Typus der »Jungen Alten« siehe auch van Dyk und Lessenich (2009). Gertrud Backes hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese sozialpolitischen Maßnahmen vor allem die prekäre Position von Frauen im Alter verschärfen (vgl. Backes 2007). Siehe dazu auch den Beitrag von Götz, Gajek, Rau, und Schweiger in diesem Band.

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Die Beiträge erörtern diese Fragen anhand der subjektiven Erfahrungen des Alterns zwischen Anerkennung und Missachtung und den diskursiven Formationen des Alterns zwischen Über- und Dethematisierung, um das Spannungsfeld aus biographischer Erfahrung und gesellschaftspolitischer Formierung auszuloten. Inwieweit dabei die Lebenswelt zum Aushandlungsort hegemonialer Ordnungsversuche wird, untersuchen Silke van Dyk und Tina Denninger in ihrem Beitrag und schildern anhand von Beispielen einer empirisch-soziologischen Studie, wie ältere Menschen mit gesellschaftlichen Zuschreibungen an und über das Alter umgehen und wie sie dabei den aktuellen, aktivgesellschaftlich ausgerichteten Diskurs lebensweltlich aus- und umdeuten. Auch Irene Götz, Esther Gajek, Alexandra Rau und Petra Schweiger widmen sich den Strategien älterer Akteurinnen und untersuchen aus einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Perspektive, wie diese mit den Zuschreibungen eines erfolgreichen Alter(n)s unter den Bedingungen und Bedrohungen durch eine (gefühlte) Prekarität umgehen. In ihren Interviews mit älteren Münchnerinnen arbeiten sie heraus, wie diese der rentenbedingten Verknappung ihrer ökonomischen Ressourcen als Konsequenz aus ihren als typisch weiblich identifizierbaren Erwerbsbiographien durch Tauschbeziehungen und subsistenzwirtschaftliches Handeln begegnen. Die Perspektive älterer Frauen steht auch im Fokus des Beitrags von Anna Richter. Sie fragt, wie sich in den Erzählungen älterer ostdeutscher Frauen Erfahrungen von Anerkennung und Missachtung weiblicher Arbeitsbiographien ausdrücken und wie diese vor dem historischen Hintergrund des politischen Umbruchs von 1989 von den Frauen gedeutet werden. Auch Gerrit Herlyn setzt sich in seinem Beitrag mit den Strategien des biographischen Erzählens im und über das Alter auseinander und folgt dem Wechselspiel aus Ordnung und Unordnung jugendkultureller Erfahrungen im Kontext von Musik. Der analytische Schwerpunkt seines Beitrags zielt auf die Frage ab, wie in diesen musikbiographischen Erzählungen Identität hergestellt wird. Aus einer Schweizer Perspektive setzt sich Rebecca Niederhauser mit Fragen des gesellschaftlichen Alt-Machens und den subjektiven Wahrnehmungen des Älter-Werdens auseinander und lässt ihren älteren Interviewpartner_innen für die Beantwortung viel Raum, um ausführlich über die eigenen Wahrnehmungen, Zuschreibungen und Widerständigkeiten zu reflektieren. Den Abschluss macht Harm-Peer Zimmermann, der mittels einer Relektüre von Texten Jean-Paul Sartres, Simone de Beauvoirs und Jean Amérys für eine Dethematisierung des Alter(n)s plädiert, in der die Frage nach dem Altern keinen Bezugspunkt mehr darstellen müsse, und die als Gegenstrategie zur gesellschaftlichen Überthematisierung des Alter(n)s fungieren könnte.

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Fasst man Alter(n) als einen Gegenstandsbereich, der sich stets in Relation zu anderen Bereichen konstituiert, dann wird deutlich, dass sich auch das Alter(n) selbst nur in Beziehungen denken und verstehen lässt. Was aber sind diese Beziehungen? Und wie sind sie gestaltet? Diese Fragen führen mitten hinein in die Pluralität und Multiplizität des Alter(n)s, denn auf die Frage, was denn das Alter(n) ist, könnte man im Anschluss an Annemarie Mols (2002) Arbeit zu Artheriosklerose antworten, dass Alter(n) stets von unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Settings und Situationen gemacht wird. Was Alter(n) jeweils ist, entscheidet sich in Abhängigkeit vom Zusammentreffen und Zusammenwirken der involvierten und miteinander eben in Beziehung stehenden Akteure. Bei einem genaueren Blick auf diese heterogenen und multiplen Beziehungsgeflechte und ihre Praxis zeigt sich, dass Alter(n) nicht nur als »matter of concern« (Latour 2004), sondern vielmehr auch als »matter of care« (de la Bellacasa 2011) verstanden werden muss. Aus dieser Forderung ergeben sich unterschiedliche Aufgaben für eine sowohl ethnographisch als auch historisch angelegte Forschung: Zum einen müssen alle im Beziehungsnetz mithandelnden Akteure in der Forschung berücksichtigt werden, wobei einmal mehr das Credo Bruno Latours zu beachten ist, dass erst im Prozess der Forschung kenntlich wird, welche Akteure von Relevanz sind bzw. welche Akteure das Netzwerk konstituieren (vgl. Latour 2005). Ethnographisches Forschen ist ein solch offener Prozess, in dem versucht wird, in situ die Konstitution des Gegenstandes und zugleich die daran beteiligten Akteure sichtbar zu machen. Was heißt das in Bezug auf die Beziehungen des Alter(n)s? Es bedeutet vor allem, der Konstitution des Gegenstandsbereiches in den jeweils wechselnden konkreten Lebenswelten der alternden Akteure forschend nachzugehen, die zwischen unterschiedlichen institutionellen Settings permanent changieren können: Wie gestalten sich Pflegearrangements im Heim und zu Hause? Wie verändern sich familiäre Beziehungen unter dem Einfluss von zunehmender physischer und auch mentaler Vulnerabilität? Wie wird Intimität aufrechterhalten? Wie wird Liebe sowohl dyadisch als auch familiär im Alter gelebt? Und wie wird mit Sterben und Tod umgegangen? Während gerade in den anglo-amerikanischen Ageing Studies den Beziehungen des Alter(n)s vor allem unter Aspekten von Gender, Sexualität und Intimität Aufmerksamkeit geschenkt wird (vgl. u. a. Calasanti/Slevin 2006; Marshall 2015; Twigg 1997, 2004, 2010), mangelt es im deutschsprachigen Raum vor allem an

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einer empirischen Auseinandersetzungen mit diesen Themenkomplexen. 4 Und auch der hier vorliegende Band kann diese Leerstelle nur thematisieren, in keinem Fall aber schließen. Den Blick auf die kulturellen, sozialen und politischen Ordnungen des Alter(n)s erweitern die Beiträge der zweiten Sektion zu den Beziehungen des Alter(n)s, indem sie die alltagsweltlichen Handlungen und Strategien in den Mittelpunkt rücken, in denen und durch die sich Alter(n) konstituiert. Dieser Dialektik, welche sich im Begriff des doing age am besten fassen lässt, gehen die Beiträge dabei ebenso nach wie den heterogenen Praktiken der mit dem Alter(n) in Beziehung stehenden Akteure. Dabei loten die in erster Linie empirisch ausgerichteten Beiträge verschiedene Handlungsfelder des Alter(n)s wie Pflege und Anti-Ageing aus und gehen den sinnstiftenden Praktiken der Akteure zwischen Aneignung und Widerständigkeit nach. Dass sich die Praktiken dabei häufig einer eindeutigen Unterscheidung zwischen Aneignung und Widerstand entziehen, machen Larissa Pfaller und Mark Schweda am Beispiel von Anti-Ageing Medizin deutlich. Sie zeigen in ihrer Untersuchung, wie die älteren Nutzer und Nutzerinnen in ihrer konkreten (Nicht-) Anwendung von Anti-Ageing nicht nur ihr eigenes Alter(n) verhandeln, sondern auch mit den Imperativen von Selbstsorge und erfolgreichem Alter(n), welche diskursiv mit Anti-Ageing verknüpft sind, in ihrem Alltag eigensinnig umgehen. Eigensinn kennzeichnet auch die Handlungen der Akteure, die in den Beiträgen von Amy Clotworthy und Kamilla Nortøft zu Pflegepraktiken in Dänemark im Zentrum stehen. Während Clotworthy einer städtischen Pflegeberaterin in ihrer alltäglichen Beratungspraxis folgt und die dabei auftretenden Probleme zwischen staatlichen Förderprogrammen und individuellen Bedürfnissen herausarbeitet, ethnographiert Nortøft eine Familie, die sich für den Umzug eines Familienmitglieds in ein Seniorenheim entschieden hat. In beiden Fällen wird sichtbar, wie fragil und situativ die Pflegearrangements sind, welche die in Beziehung stehenden Akteure etablieren, und wieviel emotionalen, aber auch praktischen Aufwand ihre Stabilisierung erfordert. Diese Perspektive auf die alternden Akteure selbst nehmen auch die Beiträge von Tiina Suopajärvi und Barbara Ratzenböck ein. Suopajärvi hat ältere Ein-

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Wenn sich mit den Themen beschäftigt wird, so dominieren hier die Literaturwissenschaften (vgl. u. a. Hartung 2005; Hartung/Maierhofer 2009; Hartung/Reinmuth/ Streubel/Uhlmann 2007; Herwig 2014) bzw. die Gerontologie (vgl. u. a. Bernhardt/ Rüdiger/Mewitz/Hartmann/Sieren 2013). Eine Ausnahme stellt hier die soziologische Arbeit von Tina Denninger (2008) dar.

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wohner_innen einer finnischen Stadt bei ihren alltäglichen Wegen durch diese begleitet und in kollaborativen Workshops deren Bedürfnisse und Wünsche in Dialog mit Stadtpolitiker_innen gebracht. Anhand ihrer Fallbeispiele plädiert Suopajärvi für eine stärkere aktive Beteiligung älterer Menschen an Forschungen zum und über das Alter(n). Auch Ratzenböck wählt als methodischen Zugang ein begleitendes ethnographisches Verfahren, um die Medienpraktiken älterer Frauen in Österreich zu untersuchen. Wie diese Praktiken dabei biographisch geprägt und geschlechtlich codiert sind, arbeitet Ratzenböck in ihrem Beitrag heraus.

M ATERIALITÄTEN DES ALTER ( N ) S Die dritte Sektion gibt den Materialitäten des Alter(n)s Raum, denn sowohl die Ordnungen des Alter(n)s als auch ihre Praktiken sind materiell gebunden. Gleichzeitig altert auch das Material selbst. Wie sich das Alter(n) in den Dingen manifestiert – und vice versa –, bildet dabei den zentralen Zugang dieser Sektion, die sowohl nach der Materialität des Alter(n)s als auch dem Alter(n) der Materialität fragt. Denn während beispielsweise in der Kunstgeschichte oder in der Museologie diesem Alter(n) der Dinge schon sehr lange vor allem aus restauratorischer Perspektive nachgegangen wird, steht das Alter(n) der Dinge5 in den Sozial- und Kulturwissenschaften noch eher selten im Mittelpunkt des Interesses. Wenn die Dinge dabei eine Rolle spielen, dann vor allem als stoffliche Repräsentation wie beispielsweise im Falle von Kleidung. Selten gerät dabei das Zusammenspiel aus Körper und Materialität so gezielt in den Blick wie in den Arbeiten der britischen Soziologin Julia Twigg zum Verhältnis von Kleidung und Alter (vgl. u. a. Buse/Twigg 2015; Twigg 2004, 2007). Hier zeigt sich, dass den Dingen nicht nur eine repräsentative Funktion zukommt, sondern sie zugleich auch als Erinnerungsmedium für die eigenen Erfahrungen und als Substitut für gelebte oder nicht mehr bestehende Beziehungen in Dienst genommen werden. Zugleich wird deutlich, dass die Dinge in ihrer materiellen Präsenz auch aus methodologischer Sicht von Relevanz sind, denn oft bieten sie die Möglichkeit, Erinnerungen zu stimulieren, Gespräche zu initiieren oder selbst Erkenntnisse zu produzieren (vgl. u. a. Buse/ Twigg 2014).6

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Ding wird hier synonym mit Artefakt verwendet, um auf das Gemachte des Gegenstandes zu verweisen (siehe dazu auch König 2012). Siehe auch den Beitrag von Anamaria Depner in diesem Band.

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Befasst man sich mit materiellen Aspekten des Alter(n)s, so spielt neben den Dingen noch ein anderer Gegenstandsbereich eine zentrale Rolle: der Körper. Gerade der Körper symbolisiert das Alter(n) und dient als Folie für diverse soziale und kulturelle Vorstellungen und Zuschreibungen an und über das Alter(n). So wird er zum einen als alternder bzw. hochaltriger Körper als gebrechlich, verletzlich und pflegebedürftig adressiert – aus der Perspektive dieses Bandes könnte man auch sagen: gemacht – und so zum Austragungsort zahlreicher pflegerischmedizinischer Praktiken, die wiederum eingebettet sind in ökonomisch-gesellschaftliche Gesundheitsregime. Zum anderen – und man könnte meinen, dass es sich dabei um die gleichen Regime handelt – wird der alternde Mensch angehalten, seinen Körper fit und aktiv zu halten, gesund zu bleiben und so einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten oder zumindest nicht allzu früh Gesundheitskosten zu verursachen (vgl. u. a. van Dyk/Lessenich 2009; Schroeter 2007, 2009). Dafür geben Ratgeber Tipps, leiten Gesundheitsprogramme der Krankenkassen zu körperlicher Ertüchtigung an – natürlich altersgerecht – und treten unzählige prominente Ältere in Magazinen und Fernsehsendungen als lebende Beispiele erfolgreichen Alter(n)s auf. Der alternde Körper wird so nicht nur Austragungsort, sondern auch umkämpftes Terrain neoliberaler Aktivierungsimperative, die zu Selbstsorge erziehen wollen statt auf Entlastung und Fürsorge zu zielen (Bublitz 2010; Pichler 2007). Innerhalb dieser Praktiken spielt auch die geschlechtliche Codierung des alternden Körpers eine zentrale Rolle (vgl. u. a. Buchner-Fuhs 2011; Hartung 2005, 2005; Mehlmann/Ruby 2010).7 Darüber hinaus ist zu beobachten, dass zunehmend versucht wird, den vor allem physischen Herausforderungen eines alternden Körpers mit Hilfe technischer Artefakte zu begegnen. Dabei spielen zum einen endogen agierende Artefakte wie Herzschrittmacher oder Stents eine Rolle wie zum anderen körpernah getragene oder von außen applizierbare Hilfsmittel wie Hörgeräte, Hausnotrufknöpfe, Blutdruckmessgeräte oder auch Rollatoren. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Technisierung des Alter(n)s auf eine immer stärkere Interaktion des technischen Artefakts mit dem alternden Akteur setzt. Vor allem die Sozialrobotik gilt in diesem Kontext als zukunftsweisendes Feld. Dass die Zukunft dabei nicht in allzu weiter Ferne liegt, zeigt der Anwendungsbereich intelligenter Assistenzsysteme bereits heute (Aceros/Pols/Domènech 2015; Black 2014; Pols 2012; Pols/Moser 2009). Wie sich unter dem Einfluss technischer Assistenz Alter(n) verändert, muss

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Eine intersektionale Perspektive auf Alter und Geschlecht ist gerade im deutschsprachigen Raum deshalb von äußerster Relevanz (Calasanti/Slevin 2006; Krekula 2007).

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dabei auch Gegenstand einer kulturwissenschaftlichen Alter(n)sforschung sein (Endter 2016b, 2016a).8 Die Beiträge der Sektion Materialitäten versuchen diesen verschiedenen Aspekten nachzugehen und dabei auch zu fragen, wie sich Bedeutung und Praxis materieller Kultur im Alter(n) verändern, welche Rolle Raum und Zeit für das Alter(n) der Dinge spielen und welche Beziehungen zwischen Erinnerung und Materialität bestehen. Den Auftakt macht Esther Gajek, die einen Einblick in die Kleiderschränke älterer Menschen gewährt. Zusammen mit Studierenden hat sie das Kleidungsverhalten, die Erinnerung an Lernprozesse und den Umgang mit Kleidung als Teil ihrer Werterhaltung im Alter untersucht. In ihrem Beitrag stellt Gajek die Ergebnisse vor und fragt dabei vor allem nach dem Zusammenhang von Alter und Geschlecht. Ein ebenso vertrautes wie zentrales Objekt steht auch im Beitrag von Maria Keil im Fokus: das Bett. Am Beispiel des Krankenhaus- und Pflegebettes zeichnet Keil die kulturhistorische Entwicklung dieses Gegenstandes nach und macht deutlich, wie Alter(n) durch Dinge produziert wird und welche Asymmetrien sich in dieser Mensch-Ding-Beziehung verstärken, aber auch abschwächen können. Machtvolle Beziehungen und ihre materiellen Manifestationen spielen auch im Beitrag von Anamaria Depner und Carolin Kollewe eine Rolle, in dem es um die Frage der Selbstbestimmung in Mensch-Ding-Beziehungen geht. Depner untersucht dazu den gezielten Einsatz von Alltagsgegenständen, wie beispielsweise einer Handtasche, in der Pflege dementiell erkrankter Menschen, während Kolle-we aufzeigt, an welche Bedingungen die Nutzung eines smarten Hausnotrufs durch ältere Nutzerinnen gebunden ist und welche Rolle hier Sicherheit auf der einen und Autonomie auf der anderen Seite spielen. Mit der materiellen Dialektik zwischen Dingen und Menschen setzt sich der Beitrag von Cordula Endter und Sabine Kienitz auseinander und fragt nach dem Zusammenhang der Dinge im Alter und dem Altern der Dinge. Dazu untersuchen sie zum einen kulturgeschichtlich die Etablierung von Plastik als Kunststoff der Moderne und gehen zum anderen dem Gebrauch der Dinge im Alter sowohl anhand von klassischen als auch von smarten Assistenztechnologien nach. Wie Produkte klanglich gestaltet werden und welche Rolle dabei Alter spielt, diese Frage steht im Mittelpunkt des abschließenden Beitrags von Anna Symanczyk. Am Beispiel der Arbeit von Produkt Sound Designern macht Symanczyk deutlich, für welche Konsumgruppe Dinge wie zum Klingen gebracht

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Siehe hierzu auch den Beitrag von Carolin Kollewe in diesem Band.

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werden. Alter fungiert dabei zumeist als Negativ- bzw. Kontrastfolie, steht aber selten nur im Mittelpunkt des Sound Design.

AUSBLICK Die Beiträge des Sammelbandes Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis machen mit ihren empirischen, historischen und theoretischen Analysen Alter und Altern dann explizit, wenn politisch zugunsten einer neoliberalen Deregulierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen an Selbstsorge und Eigenverantwortung älterer Menschen appelliert wird, statt an deren Verletzlichkeit und Fürsorgebedürftigkeit zu erinnern; wenn kulturelle Anerkennungsverhältnisse mit dem Eintritt in den Ruhestand aufgekündigt oder biographische Erfahrungen marginalisiert werden; wenn Körper sich den ökonomischen Konsumnormen entziehen und Ansprüche erheben, die sich nicht in Massenproduktion transformieren lassen, oder wenn Körper verletzlich und pflegebedürftig werden und damit kostspielig; wenn sich alternde Subjekte wissenschaftlichen Kategorisierungen und Zuschreibungen entziehen, statt sich passfähig zu machen. Damit widerstehen die Beiträge des Sammelbandes vorschnellen Kurzschlüssen, stereotypen Vorstellungen und affirmativen Beschreibungen. Vielmehr rücken sie die Heterogenität und Multiplizität des Alter(n)s empirisch, historisch und theoretisch in den Vordergrund und versammeln Akteure des Alter(n)s ebenso wie Dinge, um sichtbar zu machen, wie Alter(n) stets nur als relationale Kategorie verstanden werden kann, die erst in der Praxis der Akteure manifest wird. Damit bietet der Band ein breites Repertoire an Potentialen, um gerade auch aus einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Perspektive dem Alltag des Alter(n)s in seinen Ordnungen, Beziehungen und Materialitäten auf die Spur zu kommen. Zum guten Schluss danken wir an dieser Stelle noch einmal allen, die die Tagung im Februar 2015 mit vorbereitet und sich an der Organisation aktiv beteiligt haben. Ein Dank geht auch an die Referentinnen und Referenten für ihre Beiträge und die Kooperation in der Vorbereitung des Bandes. Antonia Krüger danken wir für das Design und für den tatkräftigen Einsatz bei der Erstellung des Satzes. Die Koordination der Buchproduktion lag in den Händen von Cordula Endter. An sie geht der Dank, weil sie auch in stürmischen Phasen des Publikationsprozesses immer die Ruhe bewahrt hat und weil ohne sie dieses Buch nicht zustande gekommen wäre.

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L ITERATUR Aceros, Juan C./Pols, Jeanette/Domènech, Miquel: Where is grandma? Home telecare, good aging and the domestication of later life, in: Technological Forecasting and Social Change 93 (2015), S. 102-111, verfügbar unter: http://doi.org/10.1016/j.techfore.2014.01.016 Backes, Gertrud: Zur Konstruktion sozialer Ordnungen des Alter(n)s, Bd. 5, Opladen 2001. Backes, Gertrud: Lebensphase Alter, Weinheim u. a. 2003. Backes, Gertrud: Geschlechter – Lebenslagen – Alter, in: Ursula Pasero/Gertrud Backes/Klaus R. Schroeter (Hg.): Altern in Gesellschaft. Ageing, Diversity, Inclusion, Wiesbaden 2007, S. 151-183. Barlösius, Eva/Schiek, Daniela (Hg.): Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden 2007. Bernhardt, Brigitta/Rüdiger, Mandy/Mewitz, Annika/Hartmann, Anja/Sieren, Katharina (Hg.): Lust auf Sex. Sexualität im Alter, München 2013. Black, Daniel: Where Bodies End and Artefacts Begin. Tools, Machines and Interfaces, in: Body & Society 20 (2014), H. 1, S. 31-60, verfügbar unter: http://doi.org/10.1177/1357034X13506946 Bolze, Max/Endter, Cordula/Gunreben, Marie/Schwabe, Sven/Styn, Eva (Hg.): Prozesse des Alterns. Konzepte – Narrative – Praktiken, Bielefeld 2015. Breinbauer, Ines M./Ferring, Dieter/Haller, Miriam/Meyer-Wolters, Hartmut (Hg.): Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden, Würzburg 2010. Bublitz, Hannelore: Himmlische Körper oder wenn der Körper seinen Geist aufgibt. Zur performativ produzierten Hinfälligkeit des Körpers, in: Sabine Mehlmann/Sigrid Ruby (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels,  Bielefeld 2010, S. S. 33-50. Buchner-Fuhs, Jutta: Friseur und Fitnessstudio. Altersbilder, Schönheit und Körperpraktiken, in: Carolin Kollewe/Elmar Schenkel (Hg.): Alter: unbekannt. Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven, Bielefeld 2011, S. 199-222. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ]: Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen , Berlin 2006, (No. 16/2190).

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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ]: Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft, Berlin 2010, (No. 17/3815). Buse, Christina/Twigg, Julia: Women with dementia and their handbags. Negotiating identity, privacy and ›home‹ through material culture, in: Journal of Aging Studies 30 (2014), S. 14-22, verfügbar unter: http://doi.org/10.1016/j. jaging.2014.03.002 Buse, Christina/Twigg, Julia: Materialising memories. Exploring the stories of people with dementia through dress, in: Ageing and Society (2015), S. 1-21, verfügbar unter: http://doi.org/10.1017/S0144686X15000185 Butterwegge, Christoph: Demographie als Ideologie? Zur Diskussion über Bevölkerungs- und Sozialpolitik in Deutschland, in: Peter A. Berger/Heike Kahlert (Hg.): Der demographische Wandel. Chancen für die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse, Frankfurt a. M. 2006, S. 53-812. Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt a. M./New York 2012. Calasanti, Toni. M./Slevin, Kathleen F. (Hg.): Age matters: realigning feminist thinking, New York 2006. de la Bellacasa, Maria. P.: Matters of care in technoscience. Assembling neglected things, in: Social Studies of Science 41 (2011), H. 1, S. 85-106, verfügbar unter: http://doi.org/10.1177/0306312710380301 Denninger, Tina: Auch im Alter ist noch Sex. Eine empirische Arbeit. Saarbrücken 2008. Denninger, Tina/van Dyk, Silke /Lessenich, Stephan/Richter, Anna: Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014. van Dyk, Silke: Soziologie des Alters, Bielefeld 2015. van Dyk, Silke/Lessenich, Stephan (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009. Endter, Cordula: Ein Tablet für Herrn Wolf. Nutzer*innenbeteiligung in Innovationsprozessen am Beispiel altersgerechter Technologien, in: Claudia Stöckl/Karin Kicker-Frisinghelli/Susanna Finker (Hg.): Die Gesellschaft des langen Lebens. Soziale und individuelle Herausforderungen, Bielefeld 2016a. Endter, Cordula: Skripting Age – The Negotiation of Age and Aging in Ambient Assisted Living, in: Eva Domínguez-Rué/Linda Nierling (Hg.): Ageing and technology. Perspectives from the social sciences, Bielefeld 2016b, S. 121140.

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Fangerau, Heiner/Gomille, Monika/Herwig, Henriette/Horst, Christoph auf der/Hülsen-Esch, Andrea von (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000. Gullette, Margret M.: Aged by culture, Chicago 2004. Haller, Miriam/Küpper, Thomas: Kulturwissenschaftliche Alternsstudien, in: Kirsten Aner/Ute Karl (Hg.): Handbuch »Soziale Arbeit und Alter«, Wiesbaden 2010, S. 439-444. Hartung, Heike: Alter und Geschlecht, Bielefeld 2005. Hartung, Heike/Maierhofer, Roberta (Hg.): Narratives of Life. Mediating Age, Wien/Berlin 2009. Hartung, Heike/Reinmuth, Dorothea/Streubel, Christiane/Uhlmann, Angelika (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln/Weimar/Wien 2007. Herwig, Henriette (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014. Hülsen-Esch, Andrea von (Hg.): Alter(n) neu denken. Konzepte für eine neue Alter(n)skultur, Bielefeld 2015. Hülsen-Esch, Andrea von/Seidler, Miriam/Tragsold, Christian (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013. Kollewe, Carolin/Schenkel, Elmar (Hg.): Alter: unbekannt. Über die Vielfalt des Älterwerdens. Internationale Perspektiven, Bielefeld 2011. König, Gudrun M.: Das Veto der Dinge. Zur Analyse materieller Kultur, in: Karin Priem/Gudrun M. König/Rita Casale (Hg.): Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte, Weinheim u. a. 2012, S. 14-31. Krekula, Clary: The Intersection of Age and Gender: Reworking Gender Theory and Social Gerontology, in: Current Sociology 55 (2007), H. 2, S. 155-171, verfügbar unter: http://doi.org/10.1177/0011392107073299 Latour, Bruno: Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), H. 2, S. 225–248. Latour, Bruno: Reassembling the social: an introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005. Marshall, Leni: Age becomes us. Bodies and gender in time, Albany 2015. Mehlmann, Sabine/Ruby, Sigrid (Hg.): »Für Dein Alter siehst Du gut aus! « Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels, Bielefeld 2010.

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Mol, Annemarie: The body multiple. Ontology in medical practice, Durham u. a. 2002. Pichler, Barbara: Autonomes Alter(n). Zwischen widerständigem Potential, neoliberaler Verführung und illusionärer Notwendigkeit, in: Kirsten Aner/Fred Karl/Leopold Rosenmayr (Hg.): Die neuen Alten – Retter des Sozialen, Wiesbaden 2007, S. 67-84. Pols, Jeanette: Care at a distance. On the closeness of technology, Amsterdam 2012. Pols, Jeanette/Moser, Ingunn: Cold technologies versus warm care? On affective and social relations with and through care technologies, in: ALTER – European Journal of Disability Research / Revue Européenne de Recherche Sur Le Handicap 3 (2009), H. 2, S. 159-178, verfügbar unter: http://doi.org/10.10 16/j.alter.2009.01.003 Saake, Irmhild: Die Konstruktion des Alters, Wiesbaden 2006. Schroeter, Klaus R.: Doing Age, Korporales Kapital und Erfolgreiches Altern, in: SPIEL 24 (2005), H. 1, S. 147-162. Schroeter, Klaus R.: Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der »alterslosen Altersgesellschaft«, in: Ursula Pasero/Gertrud Backes/Klaus R. Schroeter (Hg.): Altern in Gesellschaft. Ageing, Diversity, Inclusion, Wiesbaden 2007, S. 129148. Schroeter, Klaus R.: Die Normierung alternder Körper – gouvernementale Aspekte des doing age, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.): Die jungen Alten: Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009, S. 359-379. Twigg, Julia: Bathing and the Politics of Care, in: Social Policy 31 (1997), H. 1, S. 61-72, verfügbar unter: http://doi.org/10.1111/1467-9515.00038 Twigg, Julia: The body, gender and age. Feminist insights in social gerontology in: Journal of Aging Studies 18 (2004), H. 1, S. 59-73, verfügbar unter: http://doi.org/10.1016/j.jaging.2003.09.001 Twigg, Julia: Clothing, age and the body. A critical review, in: Ageing and Society 27 (2007), H. 2, verfügbar unter: http://doi.org/10.1017/S0144686X06005794 Twigg, Julia: How Does Vogue Negotiate Age? Fashion, the Body, and the Older Woman. Fashion Theory, in: The Journal of Dress, Body & Culture 14 (2010), H. 4, S. 471-490, verfügbar unter: http://doi.org/10.2752/175174110X1279 2058833898

Ordnungen des Alter(n)s

Muße, Zeitwohlstand und Langeweile im beschleunigten Kapitalismus T INA D ENNINGER UND S ILKE VAN D YK

E INLEITUNG Dass das Leben im flexiblen Gegenwartskapitalismus ein Leben auf der Überholspur ist, scheint zeitdiagnostisch außer Frage zu stehen: die zunehmende Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen bei ständiger Erreichbarkeit, die um sich greifende Entgrenzung von Arbeit und Leben, omnipräsente Anforderungen der Selbstoptimierung und Leistungssteigerung, die Beschleunigung von Handlungsabläufen oder die Schrumpfung von Zeit und Raum durch neue Kommunikationsund Transporttechnologien sind empirisch gut belegt und die Referenzen zahlreich (vgl. z. B. Lessenich 2008; Rosa 2005; Bröckling 2007). Beschleunigung, Aktivierung, Flexibilisierung und Optimierung scheinen noch den letzten Rest Ruhe, Leerlauf und Muße aufzusaugen und in optimal zu investierende Zeitressourcen zu wenden. ›Höher, schneller, weiter‹ – auch wenn der gesamte Prozess der Modernisierung als ein Prozess der Beschleunigung von Lebensvollzügen gelesen werden kann, traten die Pathologien der beschleunigten Leistungsgesellschaft in ihrer Breite doch nie eindringlicher zutage als in den rasant zunehmenden Erschöpfungs- und Burnoutdiagnosen der Gegenwart (vgl. z. B. Graefe 2016 [i.E.]; Neckel/Wagner 2013). Die zunehmende Sorge ökonomischer und politischer Eliten, das System könnte seine Kinder fressen, hat der ›Work-Life-Balance‹, der Meditation in der Mittagspause und dem emailfreien Wochenende zu neuer Popularität verholfen. So unbestreitbar diese Entwicklungen in ihrer generellen Tendenz sind und so sehr sie im Zuge der Individualisierung der Verantwortung für die eigene Lebensperformance in die kleinsten Ritzen des Alltags vordringen, so sei an dieser Stelle doch danach gefragt, was die aktuellen Diagnosen dieser Entwicklungen

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nicht sehen oder aber als Epiphänomene von nachrangiger Bedeutung vernachlässigen: Wir wollen im Folgenden das potenziell ›Andere der Aktivgesellschaft‹ in den Blick nehmen und uns Lebensführungen anschauen, in denen Zeitknappheit, Stress, ständige Erreichbarkeit oder unerfüllbare Anforderungen des Zeit- und Organisationsmanagements zumindest nicht im Vordergrund stehen. Was ist mit Menschen, die über ›Zeitwohlstand‹ verfügen, die möglicherweise gar an einem Zuviel an Zeit leiden, die Tätigkeiten strecken, um die Tage zu bewältigen, oder auch muße- und genussvoll das tun, wozu sie gerade Lust haben? Gibt es solche ›Oasen‹ in der Gegenwart überhaupt noch, bzw. wie rahmen und erzählen Menschen ihren Alltag, wenn er den Maximen der beschleunigten Aktivgesellschaft nicht zu entsprechen scheint? Unsere Aufmerksamkeit gilt im Folgenden dem »Leben im Ruhestand« (Denninger/van Dyk/Lessenich/Richter 2014), das in mehrfacher Hinsicht prädestiniert ist, um das ›Andere der Aktivgesellschaft‹ zu erkunden: Die mit der Rentenreform von 1957 erfolgte Institutionalisierung des Ruhestands als Lebensphase der verdienten, finanziell abgesicherten Ruhe hat – anders als dies z. B. auf Phasen der Arbeitslosigkeit zutrifft – eine legitimierte Lebensform jenseits der Erwerbsgesellschaft geschaffen (vgl. Wolf 1988: 212f.). Die Rentenzahlungen wurden diskursiv als »Alterslohn für Lebensleistung« legitimiert und so in die Rechtfertigungsordnung der Leistungsgesellschaft integriert. Generationen- und milieuübergreifend hat sich der ›wohlverdiente Ruhestand‹ seit den 1960er und 1970er Jahren als »späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) auch alltagskulturell verankert. Obwohl im Zeichen demografischen Wandels und wohlfahrtsstaatlicher Aktivierung seit den 2000er Jahren auch das höhere Lebensalter als potenziell zu aktivierende Ressource in den Blick gerät (vgl. van Dyk/Lessenich 2009), spielt die Legitimität eines erwerbsentpflichteten Alters weiterhin eine zentrale Rolle im deutschen Kontext. Tatsächlich sind es gerade die Verschiebungen im Spannungsfeld von verdienter Ruhe einerseits und zunehmender aktivgesellschaftlicher Adressierung andererseits, die das Leben im Ruhestand mit Blick auf das potenziell ›Andere der Aktivgesellschaft‹ zum spannenden Forschungsfeld werden lassen. Wir greifen im Folgenden auf Ergebnisse aus einer qualitativen Interviewstudie mit jungen Alten im Ruhestand zurück (vgl. Denninger et al. 2014) und legen dar, wie Zeitwohlstand und Zeitknappheit, Zeitsouveränität und Fremdbestimmung, Muße und Aktivität, Ereignislosigkeit und Geschäftigkeit kommuniziert und gerahmt werden. Die Interviewten bringen in der Breite deutlich zum Ausdruck, dass die Idee vom Ruhestand als »später Freiheit« auch in Zeiten von Aktivierung und Beschleunigung weitgehend ungebrochen ist, wenn auch eingebettet in einen äußerst geschäftigen busy talk und die nahezu beschwörende Abgrenzung

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gegen Ereignislosigkeit, Passivität und Langeweile. Anhand von drei Ausnahmegruppen, die sich vom Rest des Samples1 abheben, zeigen wir auf, warum ein positives Verständnis von Faulsein und Nichtstun oder das Eingeständnis und der Genuss von Zeitwohlstand trotz der breiten Affirmation der »späten Freiheit« nur für wenige positiv erfahr- bzw. artikulierbar sind. Martin Kohlis Ende der 1980er Jahre geäußerte Vermutung, Ruheständler*innen könnten zu Pionier*innen einer neuen »ethic of laziness« (Kohli 1988: 383) werden, hat sich nicht bewahrheitet – ganz im Gegenteil, wie wir darlegen werden. Zugleich gelingt es nur einer kleinen Minderheit, offen über erlebte Langeweile und Unterforderung zu sprechen, obwohl vieles darauf hindeutet, dass nicht wenige darunter leiden. Warum dies so ist und wie es gelingen kann, Unterforderung und fehlende Resonanz zu problematisieren, ohne einer aktivgesellschaftlichen Wiederverpflichtung des höheren Lebensalters Vorschub zu leisten, soll abschließend diskutiert werden.

Z EIT

IN DER L EISTUNGSGESELLSCHAFT UND DIE » SPÄTE F REIHEIT «

Tatsächlich stellt sich die Frage nach freier Zeit, nach Müßiggang und Ruhe, nach Nichtstun und Leerlauf nicht erst in der beschleunigten Gegenwartsgesellschaft des 21. Jahrhunderts, sondern ist inhärent mit dem Kapitalismus als Wirtschaftsund Gesellschaftssystem verbunden. Dass Zeit stets knapp ist, Zeitverschwendung zur Todsünde und Zeitsparen zur Lebensmaxime wird, ist weder neu noch eine Eigenschaft von Zeit per se, sondern Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen. Erst mit dem aufkommenden Kapitalismus entsteht ein Verständnis von ›abstrakter Zeit‹, die zur ökonomischen Ressource wird, und erst mit diesem Zeitverständnis wird Zeit – dem Geld und allen begehrenswerten Gütern vergleichbar – zum knappen Gut: »Die Denkfigur, nach der Zeit knapp ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung als die inverse Formulierung des Akkumulationsprinzips, welches das tragende Strukturprinzip der kapitalistischen oder marktwirtschaftlichen Gesellschaften […] darstellt.« (Rinderspacher/Ermert 1986: 311) Das moderne Verständnis von Leistung wird aufs engste mit dem Zeitbegriff verknüpft (›Zeit ist Geld!‹), und es ist kein Zustand mehr denkbar, »in dem Zeit in ausreichendem Maße vorhanden wäre« (ebd.), ebenso wenig wie es im Akkumulationsprozess jemals genug Geld oder Profit geben könnte. Das ungeschriebene Verbot, in der Leistungsgesellschaft viel Zeit zu haben, d. h. freie Zeit, die über das für die Erholung und Reproduktion erforderliche Maß deutlich hinausgeht,

1

Vgl. ausführlicher zur Zusammensetzung der Befragten Punkt 3.

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findet ihren Ausdruck in der langen Tradition der Problematisierung von Faulheit und Müßiggang (vgl. im Überblick Rammstedt 1995). Niklas Luhmann konstatierte: »Wer zugibt, viel Zeit zu haben, disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die etwas leisten, etwas fordern, etwas erhalten können, aus.« (Luhmann 1971: 156) Zugleich haben empirische Studien gezeigt, dass, erstens, Zeiterfahrung »in der Gesellschaft in der wir leben, zumeist als Konflikterfahrung« (Rinderspacher/Ermert 1986: 305) erlebt wird und zweitens, dass zeitliche Normierungen eine wesentliche Komponente erlebter Fremdbestimmung und Entfremdung sind. Augenfällig ist auch, dass Alltagssituationen, in denen das Verrinnen von Zeit nicht bemerkt wird, in denen die Uhr oder der Kalender nicht Taktgeber des Lebens sind, normalerweise als etwas Angenehmes beschrieben werden, während umgekehrt der grundsätzliche Verlust zeitgebender Strukturen, so insbesondere in der Arbeitslosigkeit, die betroffenen Menschen vor große Herausforderungen stellt (vgl. klassisch: Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1974 [1933]). Interessant ist nun, dass die in den 1950er Jahren erfolgte Institutionalisierung des Ruhestands als verdienter Lohn für Lebensleistung das Leistungsprinzip für die gelebte Gegenwart des Ruhestands suspendiert und damit auch die gesellschaftliche Erwartung, Zeit zu sparen und effizient zu nutzen. Nichtstun und Müßiggang nach Beendigung des Erwerbslebens bzw. der mit dem Aufwachsen von Kindern verbundenen Familienpflichten waren im Ruhestand über mehrere Jahrzehnte hinweg durchaus legitim, aufgerufen durch typische Insignien des Posterwerbslebens wie den Schaukelstuhl oder das Sofa vor dem Fernseher (vgl. Denninger et al. 2014: 172, 189). Interessanterweise taucht aber gerade der Ruhestand in einschlägigen Debatten um das Andere der Leistungsgesellschaft kaum auf: »Die Arbeitsfixierung scheint total. Selbst Utopien sehen keine arbeitslose Zukunft. Nirgends wird der Faulheit eine Chance eingeräumt«, konstatiert beispielsweise Rammstedt (1995: 209). Zwei Gründe dürften hierfür ausschlaggebend sein: Zum einen hat die diskursive Rahmung des Ruhestands als Lohn für Lebensleistung wesentlich dazu beigetragen, dass das Nichtstun im Ruhestand nicht als Faulheit gefasst wird, hat doch ein in der Vergangenheit abgeschlossener ›Leistungsinput‹ stattgefunden. Zum anderen wurde für die »späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) vom kapitalistischen Leistungs- und Zeitdiktat ein hoher Preis gezahlt, glich der Ruhestand doch einem »sozialen Parkplatz« (ebd.: 230), einer »rollenlosen Rolle«, im »Wandel vom tätigen zum zuschauenden Leben« (Blättner 1957: 15), verortet jenseits der Binnenzonen des Sozialen. Wer über die Gesellschaft sprach, sprach nicht über den Ruhestand, dessen Subjekte lange Zeit nur als passive Empfänger*innen von Rentenleistungen oder als Bewohner*innen von Pflegeheimen überhaupt Aufmerksamkeit erfuhren.

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Die mit dem höheren Lebensalter befassten Forschenden wiederum interessierten sich seit den ausgehenden 1970er Jahren dafür, wie Ruheständler*innen »das kulturelle Dilemma des Ruhestands« (Kohli 1987: 27f.) bearbeiteten, ein Dilemma, das darin wurzelt, »daß den Gesellschaftsmitgliedern zuerst Aktivität und Arbeitsorientierung und danach Passivität und Freizeitorientierung angesonnen wird« (ebd.). Vor diesem Hintergrund sind wegweisende Arbeiten zum Umgang mit Alltags- und Lebenszeit im Nacherwerbsleben entstanden, die mit unterschiedlichen Akzentuierungen darauf verweisen, dass es wesentlich von der (Berufs-)Biografie abhängt, ob die viele Zeit genossen, als Ressource investiert oder eher als Bedrohung erlebt wird (vgl. z. B. Wolf 1988; Kohli 1986; aktuell: Münch 2014). Die gegenwärtige Situation, die den Kontext unserer Forschung bildet, unterscheidet sich nun in mehrfacher Hinsicht von den Rahmenbedingungen dieser Studien: Nachdem die Ruheständler*innen jahrzehntelang von gesellschaftlichen Erwartungen wie auch gesellschaftlicher Aufmerksamkeit und Resonanz entbunden worden waren, ist das höhere Lebensalter im Zuge der Rede von der drohenden ›Überalterung‹ der Gesellschaft und der Feststellung, dass die Alten selbst zugleich immer jünger, gesünder und fitter werden, zum unerwarteten Gegenstand gesellschaftspolitischer Interessen geworden. Als aktive Gesellschaftsmitglieder entdeckt, wird von Menschen im Ruhestandsalter neuerdings erwartet, dass auch sie – z. B. durch fortgesetzte Erwerbsarbeit, ehrenamtliches Engagement oder Pflegeleistungen im sozialen Umfeld – ihren Beitrag zu einer erfolgreichen gesellschaftlichen Bewältigung der Herausforderungen des flexiblen Kapitalismus leisten (vgl. z. B. BMFSF 2006; 2010; Council of the European Union 2010; im Überblick: van Dyk/Lessenich 2009; van Dyk 2015). Zudem ist eine zwar noch kleine, aber wachsende Gruppe Älterer – und dies betrifft insbesondere Frauen – darauf angewiesen, infolge von Rentenkürzungen und unterbrochener bzw. prekärer Erwerbsbiografien auch jenseits des Regelpensionsalters etwas dazu zu verdienen (vgl. Butterwegge/Hansen 2012). Der Ruhestand ist gegenwärtig also praktisch wie diskursiv in Bewegung. Für die überwiegende Mehrheit der heutigen Ruheständler*innen gilt – wie bereits angedeutet – nach wie vor gleichwohl, dass sie vergleichsweise gut versorgt von der Erwerbsverpflichtung entbunden sind und damit ihr Leben jenseits von Erwerbszwang, Optimierungs- und Leistungsdruck zu leben scheinen. Diese Konstellation einfangend, fragen wir über konkrete Zeitbewältigungsstrategien hinausgehend, wie das Leben im Ruhestand im Spannungsfeld von verdienter Ruhe, später Freiheit und neuen Aktivitätserwartungen gestaltet, gerahmt und erzählt wird und inwiefern diese Betrachtung einem Ausflug in das ›Andere der Aktivgesellschaft‹ gleichkommt.

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D IE S TUDIE : L EBEN

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R UHESTAND

Die hier vorgestellten Überlegungen basieren auf Ergebnissen des Forschungsprojekts »Vom ›wohlverdienten Ruhestand‹ zum ›Alterskraftunternehmer‹? Bilder und Praktiken des Alter(n)s in der aktivgesellschaftlichen Transformation des deutschen Sozialstaats nach der Vereinigung«, welches von 2008 bis 2012 an der Friedrich-Schiller Universität Jena durchgeführt wurde und eine Analyse der »Neuverhandlung des Alters« zum Ziel hatte (vgl. Denninger et al. 2014). Um eben diese adäquat erfassen zu können, wurden sowohl 2400 Textdokumente (politischer, medialer und wissenschaftlicher Art) aus dem Zeitraum von 1983 bis 2011 ausgewertet als auch eine qualitative Interviewstudie mit 55 Ruheständler*innen zwischen 60 und 72 Jahren durchgeführt, welche im Folgenden im Zentrum unserer Darlegungen stehen soll. Die Interviewstudie fokussierte die Frage, inwiefern die Interviewten gesellschaftliche Altersbilder und -normen in ihren (biografischen) Selbstdeutungen und Alltagspraktiken aufnehmen, reflektieren und/oder unterlaufen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand damit die Frage nach der sozialen Akzeptanz bzw. nach dem – möglichen und tatsächlichen – gesellschaftlichen Erfolg der sich im öffentlichen Raum abzeichnenden Neuverhandlung des höheren Lebensalters im Ruhestand. Die Studie ist als Dispositivanalyse konzipiert, um – im Gegensatz zu einer reinen Diskursanalyse – über die Analyse von Wissensordnungen hinausgehend auch Institutionen (z. B. Rente mit 67), Körperpraktiken (z. B. das Walking) und Objekte (z. B. den Schaukelstuhl oder den Rollator) sowie deren Verknüpfungen untereinander analytisch zu erfassen. Ein Dispositiv wird dementsprechend, im Anschluss an Michel Foucault, als Verknüpfungsordnung zwischen heterogenen, sprachlichen wie nicht-sprachlichen Elementen begriffen (vgl. Foucault 1978: 119f.). Dieser konzeptuelle Rahmen ermöglichte es zu untersuchen, wie sich Körper, Praktiken, Institutionen, Objekte und Wissensordnungen zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen, einem Dispositiv, verbinden. So sind im Untersuchungszeitraum von 1983 bis 2011 drei sich überlappende, aber auch in gewisser Hinsicht auseinander hervorgehende Dispositive des Alters auszumachen – das Dispositiv des Ruhestands, das des Unruhestands sowie das des produktiven Alters. Hätten wir uns in der Auswertung allein auf die Analyse von Wissensordnungen konzentriert, wäre eine Überbewertung der Wirkmächtigkeit des Produktivitätsdispositivs die Folge gewesen, das seit Mitte der 2000er Jahre wortgewaltig aufgerufen wird, während zentrale Aspekte des Ruhestands durch typisierte Artefakte (z. B. Sofa und Fernseher) oder körperbezogene Aussagen (»Beine hochgelegt«) quasi en passant aufgerufen werden und die fortgesetzte, alltägliche Verankerung dieses Lebensmodells offenbaren. Die Sensibilität für multidimensionale

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Verknüpfungen schärft somit den Blick für Friktionen und Ungleichzeitigkeiten zwischen verschiedenen Dispositiven. Im Bestreben, die zirkuläre Verschränkung von interviewten Ruheständler*innen und gesellschaftlichen Alters-Dispositiven zu analysieren, galt das Forschungsinteresse der Frage, in welcher Weise die identifizierten Dispositive in den Interviewtexten sowohl explizit wahrgenommen als auch (mehr oder weniger) implizit verarbeitet, modifiziert oder ignoriert werden. Diese Herangehensweise half dabei, die Kontexte des in den Interviews explizit Gesagten zu bestimmen und so gewissermaßen ›hinter‹ die wörtlichen Äußerungen der Interviewten zu blicken. Dies erwies sich gerade mit Blick auf den Gegenstand des vorliegenden Beitrags als besonders bedeutsam, da auf den ersten Blick (fast) alle Interviews eine ausgeprägte Beschäftigungs- und Aktivitätsrhetorik aufweisen und erst durch die Kontextualisierung dieser Aktivitätsemphase der Charakter des kommunizierten Aktivseins decodiert werden konnte. Für diesen Analyseschritt hat sich insbesondere die Suche nach so genannten ›impliziten Schlussregeln‹ als produktiv herausgestellt (vgl. Denninger et al. 2014: 57f.; Höhne 2003). Ziel dieser Vorgehensweise ist es, Argumente (im Sinne einer allgemein vorausgesetzten Aussage) von Konklusionen (im Sinne behaupteter Aussagen) zu unterscheiden und zu analysieren, gemäß welcher Schlussregel(n) Argument und Konklusion verbunden werden. Um ein Beispiel aus dem empirischen Material zu nennen: Der demografische Krisendiskurs wird durch eine Schlussregel zusammengehalten, die in den analysierten Dokumenten und Stellungnahmen kaum je explizit zum Ausdruck gebracht wird. Aus der als Argument verwendeten Feststellung »Es gibt viele alte Menschen« wird in medialen und politischen Dokumenten die Konklusion gezogen, dass es ein Problem mit der Bevölkerungsstruktur gibt, welches unter dem Stichwort »Überalterung« verhandelt wird. Diese Verknüpfung ist, so selbstverständlich sie gegenwärtig auch erscheinen mag, nur auf Basis einer impliziten Schlussregel logisch, die da lautet: »Alte Menschen sind defizitär«. Die Suche nach Schlussregeln sensibilisiert damit für das Ungesagte, aber stets Anwesende, das einer allein an der Textoberfläche orientierten Analyse entgehen würde. Wir wollen nun darlegen, welche Erkenntnisse wir auf diesem Wege über das Leben im Ruhestand gewonnen haben.

D IE

SPÄTE

F REIHEIT

UND IHRE

AMBIVALENZEN

Die »späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) und die damit verbundene Entlastung von Termindruck, Arbeitsstress und Erwerbszwängen sowie eine neue Zeitsouveränität werden in der überwiegenden Zahl der Interviews positiv hervorgehoben: Viele

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Antworten auf die Einstiegsfrage, was die Befragten persönlich mit dem Ruhestand verbinden, klingen ähnlich: »Dass ich aus dem Arbeitsleben ausgeschieden bin und machen kann was ich will. Das ist schon mal ein sehr großer Vorteil, dass ich keine Zwänge habe.« (Herr Brand, Z. 3ff.) Oder in den Worten einer ehemaligen Laborleiterin: »Ich genieße, dass ich jetzt meine Zeit frei einteilen kann, und, dass ich das tun kann, was ich während meines Arbeitsprozesses, also wo ich nie Zeit dafür hatte.« (Frau Ruhte, Z. 2ff.) Ohne dass es normalerweise ausgeführt wird, bilden Entfremdung und Fremdbestimmung in der Erwerbsarbeit die implizite Schlussregel, die die Konklusion der Freiheit des Ruhestands verständlich werden lässt als eine Form der alltäglichen Lebensführung, die für die Befragten zu Zeiten der Erwerbstätigkeit mehrheitlich nicht möglich war. Dies gilt keineswegs nur für Beschäftigte in einfachen Berufen mit wenig Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Im Vordergrund steht für viele der Interviewten der Wert von Autonomie im klassischen Sinne der Selbstgesetzgebung und damit der selbsttätigen Zielsetzung. Der zuletzt als freigestellter Betriebsrat tätige Herr Schmied bringt auf den Punkt, was bei den meisten implizit bleibt: »Jeder Mensch braucht ein Stück Zeit in seinem ganzen Leben. Und wenn er das nicht hat, wenn er sozusagen in der Maloche ist […] und er keine Möglichkeit zur Selbstentfaltung irgendwo hat, dann muss er’s wenigstens im Alter haben.« (Z. 1180ff.) Alltagspraktischer Ausdruck der im Ruhestand neu gewonnenen Zeitsouveränität ist das von vielen Interviewten hervorgehobene und geradezu zelebrierte gemütliche Frühstück, ohne Zeitdruck und verbunden mit ausführlicher Zeitungslektüre. Nicht unbedingt spät, aber »lange aufstehen« (Herr Hippe), womöglich gar »ohne Wecker aufstehen«, »einfach aufstehen, wenn ich wach bin« (Frau Reiter), was zumeist eher früh der Fall ist, dann »in Ruhe« und »gemütlich« (Frau Reiter), »gepflegt« (Herr Kupfer) und »ausgiebig« (Frau Star), womöglich sogar »sehr ausgiebig« (Frau Gerhard), vor allem aber »gemeinsam« frühstücken und dabei »Zeitung lesen«: so sieht ein Ruhestand im Altersalltag aus (vgl. Denninger et al. 2014: 220ff.). Doch der meist ohne fließenden Übergang erfolgte Austritt aus der Erwerbsarbeit sowie die plötzlich zur freien Verfügung stehende Zeit sind nicht durchgängig oder gar sofort Garanten eines unbeschwerten Ruhestandslebens. Herr Schiffer steht beispielhaft für eine heterogene Gruppe, die einen eher schwierigen Eingewöhnungsprozess erlebt (hat), der sich unter der Überschrift Ruhestand lernen zusammenfassen lässt: Er beschreibt, wie er es mit seinen Hobbies – Kegeln, Wandern und Computerarbeit – langsam schafft, den Übergang trotz Anerkennungsverlust zu bewältigen und die Freiheit des Ruhestands zu genießen. Die Erzieherin Frau Schott, die aus einem Zustand akuter Erschöpfung heraus in den vorzeitigen Ruhestand ging, hat sich im ersten Winter nach der Verrentung

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immer wieder gewünscht, doch noch einige Stunden arbeiten zu können: »Da war’s mir irgendwie manchmal so in dieser tristen Jahreszeit, nicht direkt langweilig, kann ja auch Handarbeiten oder Lesen und dies und das, aber es ist anders. […] Das hat sich jetzt aber gelegt.« (Z. 321ff.) Neben dem Verlust von Anerkennung erweisen sich die konkrete Alltagsgestaltung und bei Paaren Anpassungsschwierigkeiten in der Partnerschaft als Herausforderungen. Hinter der gewonnenen (und von den Interviewten geschätzten!) Freiheit lauert zudem die von ihnen wiederholt als solche benannte Gefahr, dass man sich im Alter »hängen lässt« und »irgendwie abgleitet«: »Manchmal kostet’s ein bissel Anstrengung, immer dran zu bleiben und sich nicht gehen zu lassen«, räumt der Interviewte Herr Kuhle (Z. 39) ein. Ein anderer führt aus: »wenn man älter [ist] oder immer wenn man viel Freiheit hat, man muss sich trotzdem […] Regeln schaffen, dass man also nicht irgendwie abgleitet. […] Ich sage mal ganz simpel, wenn jemand in Ruhestand geht und kein Zeitgerüst mehr hat, dann entgleitet ihm oft einmal die Zeit.« (Herr Fritsche, Z. 741ff.)

Was früher erzwungen war, erfolgt nun in Eigenregie: Interessanterweise spielt neben der Selbstbestimmung der Topos der Selbstverpflichtung eine zentrale Rolle in den (Selbst-)Darstellungen. Viele Erzählungen offenbaren, welche Disziplin und Eigeninitiative es erfordert, nach Jahrzehnten (mehr oder weniger) fremdbestimmter beruflicher Tätigkeit einen eigenen Lebensrhythmus zu finden. Eine Befragte resümiert exemplarisch: »Aber den Tag strukturieren ohne dass jetzt, ja, von außen ein Takt kommt. Also das, die große Freiheit ist eigentlich das Schwierigste.« (Frau Altenberger, Z. 220ff.)2 Wo sich die Mehrheit in Bezug auf die verdiente Erwerbsentpflichtung und den Zugewinn von Freiheit und Zeitsouveränität weitgehend einig weiß, beginnen sich die Geister zu scheiden, wenn es um die konkrete alltägliche Lebensführung und die Ansprüche an den Ruhestand geht. Der Idee einer Freiheit von (der Erwerbsarbeit) korrespondiert bei den Interviewten ein Lob der Freiheit zu, das vielfältiger nicht sein könnte: Wo die einen sich darauf freuen, dass sie nun Zeit für den Garten und die Enkel haben, wollen andere endlich ihren kulturellen Interessen frönen oder reisen, wieder andere vertiefen ihr ehrenamtliches Engagement

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Die große Sorge, ›sich gehen zu lassen‹, sowie der daraus resultierende zentrale Stellenwert selbstständiger Zeitgestaltung qua Selbstdisziplinierung findet sich auch in anderen qualitativen Untersuchungen zum Rentenübergang bestätigt, so z. B. bei Marhánková (2011: 19ff.).

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oder dehnen die Hausarbeit über den ganzen Tag. So erleben manche der Interviewten kaum einen Zugewinn an Freiheit, weil ihr Alltag mit umfassenden Pflege- und Sorgetätigkeiten gefüllt ist (vgl. zu diesen Unterschieden Denninger et al. 2014: 257ff.). Im Rahmen dieses Beitrags folgen wir jedoch den augenfälligen Gemeinsamkeiten der Interviewtexte: Denn bei allen Unterschieden in Bezug auf die alltägliche Lebensführung sind neben der hohen Wertigkeit des legitimen Ruhestands die grundsätzliche Orientierung an einer vita activa als conditio humana (Arendt 2011[1960]) sowie die rhetorische Abgrenzung gegen einen passiven Ruhestandsalltag verbindende Elemente zwischen den heterogenen Interviews.

D IE

VITA ACTIVA UND DAS B ILD VOM PASSIVEN R UHESTANDSALLTAG In Übereinstimmung mit aktuellen Forschungsergebnissen zeigen unsere Interviews vor allem eines: »being active (is) universally regarded as desirable and even essential« (Venn/Arber 2011: 203). Anders als viele Autor*innen schlussfolgern (vgl. z. B. ebd.), muss diese Haltung aber nicht unbedingt als Ausdruck einer Übereinstimmung mit aktuellen Programmen des aktiven und produktiven Alters gelesen werden. Obwohl sich im Interviewmaterial durchaus Perspektiven finden, die anschlussfähig an die aktivgesellschaftliche Eingemeindung des höheren Lebensalters sind, ist die Vorstellung vom Ruhestand als »Aktivitätszustand« (Herr Lange, Z. 260) mehrheitlich doch grundsätzlicher gelagert: Es handelt sich um eine eher anthropologisch als politisch oder ideologisch grundierte Vorstellung der vita activa als tätig-schaffender Auseinandersetzung mit der Umwelt. Damit geht einher, dass viele Interviewte ihre Aktivitätsorientierung als eine Frage der Persönlichkeit rahmen: »Ich bin einfach durch meine Art so aktiv immer« (Frau Teich, Z. 337), oder »Ich bin aktiv veranlagt« (Herr Hitt, Z. 156). Im ganzen Sample gibt es nur zwei Personen, die sich dezidiert als passive bzw. faule Persönlichkeiten darstellen. Auf diese kommen wir später zurück. Neben dieser persönlichen Akzentuierung wird die Vorstellung von Aktivität als Ausweis des Lebendig-Seins vor allem durch das Kontrastbild der abhängigen bzw. pflege- und/oder versorgungsbedürftigen Hochaltrigkeit als ›verworfenem‹ Leben genährt. Die Sprache der Interviewten könnte nicht bildhafter sein, wenn das abhängige, pflegebedürftige Alter als negative Zukunftsvision aufgerufen wird: Die Rede ist vom »Siechtum« (Herr Konrad, Z. 547), vom endlosen »vor sich Hinvegetieren« (Frau Weimann, Z. 403), vom »daliege[n] und dahin sieche[n]« (Frau Wulf, Z. 527), von einem Dasein »als lebendiger Fleischklumpen«

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(Frau Peters, Z. 403). Es ist diese durch Terminologien der Entmenschlichung aufgerufene Kontrastfolie des abhängigen Alters als ›Nicht-Leben‹, die den Blick dafür öffnet, die Aktivitätsbekundungen der Befragten weniger altersspezifisch im Sinne eines active ageing als vielmehr »vitalistisch« zu lesen – im Sinne vom »Leben als der Güter höchstes« (Arendt 2011[1960]: 399). In Bezug auf ganz unterschiedliche Aktivitäten sprechen die Interviewten wörtlich davon, dass diese sie »lebendig halten« (Frau Dersch, Z. 304), oder, dass sie dank ihnen »mitten im Leben« (Frau Teich, Z. 36) stehen. Mit der Aussage »Homo faber. Der Mensch muss etwas machen« (Frau Gerhard, Z. 797f.), bringt eine Befragte diese Haltung auf den Punkt. In deutlichem Kontrast zu aktivierungspolitischen Programmen, die auf Erwerbsarbeit, Sorgeverpflichtungen oder ehrenamtliches Engagement zielen, geht es hier um ein ganz grundsätzliches »keeping up with the world« (Stenner/Mcfarquhar/Bowling 2010: 473) bzw. um »achieving ordinary things of life« (Clarke/Warren 2007: 472), was eine sehr große Bandbreite von Praktiken und Aktivitäten umfasst. Interessanterweise wird diese Aktivitätsemphase als Kontrast zum Entwurf eines – aus Sicht der Interviewten – typischen Ruhestandsalltags begriffen, der – bei gleichzeitiger Bejahung der Institution der verdienten Erwerbsentpflichtung – mit Leere und Langeweile verknüpft wird. Verdichtet in den Objekten Sofa und Fernseher, typisiert in der Praxis des ›aus dem Fenster Schauens‹, die den passiven Konsum des Lebens Anderer aufruft, wird ein negativer Ruhestandsalltag als Normalität entworfen, von dem fast alle Interviewten sich selbst und ihr näheres Umfeld abgrenzen. Es genügt ganz offenkundig, zu erwähnen, dass man sich seinen Ruhestand nicht auf dem Sofa vorgestellt habe, um sich von einer ganzen Lebensform zu distanzieren: »Also, nicht in den Sessel lehnen und die Füße hoch oder so.« (Frau Dersch, Z. 300f.) Zugespitzt formuliert ist der passive Ruhestandsalltag das Leben der (entfernten, die Mehrheit stellenden) Anderen. Die Verknüpfung *Ruhestand/Leere/Loch/Langeweile* wird in unterschiedlichsten Variationen immer wieder bemüht, um im Gegenzug den eigenen Alltag, das eigene Leben als mehr oder weniger untypisch auszuweisen: »Es hat also bei mir, also dieses Loch, von dem allzu viele sprechen, nicht gegeben«, betont Herr Kanter (Z. 34ff.). Herr Pfarr erwähnt mehrfach: »wenn der Ruhestand kommt, für mich gibt’s da keine Abstriche, keine Langeweile« (Z. 39). Aktivitäten werden häufig nicht intrinsisch mit dem Inhalt der Aktivität, sondern mit dem Ziel verknüpft, »Beschäftigung zu haben. Keine Langeweile zu haben« (Herr Schiffer, Z. 1232). Nicht die verdiente

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Ruhe und Muße, sondern Passivität und Leere markieren damit die ›rote Linie‹ der Abgrenzung vom Ruhestandsalltag.3

›R UHESTANDSMODERIERUNG ‹, Z EITKNAPPHEIT DAS P HÄNOMEN DES B USY T ALK

UND

Das Abgrenzungsmotiv der Leere und Langeweile dient als Vergleichsmaßstab, anhand dessen das eigene Leben vermessen wird: Wer den typischen Ruhestandsalltag als inhaltslos verstreichende Zeit imaginiert, wird das eigene Leben aktiver und ausgefüllter wahrnehmen als ohne solch eine moderierende Kontrastfolie. Grundsätzlich gilt für das Sample die Faustregel: je geringer der eigene Aktivitätsgrad und -radius ist, desto radikaler fällt die Abgrenzung aus, bis hin zur Gleichsetzung von *Ruhestand/Nichtstun/Sozialer Tod*. Verglichen mit dem sozialen Tod entpuppt sich dann jedes gelebte Leben als aktives Leben. Wenn also die Abgrenzungsfolie als moderierender Modus der Deutung und Darstellung des erzählten Lebens nicht berücksichtigt wird, besteht die Gefahr für den Forscher oder die Forscherin, dem Wortsinn der Erzählungen folgend, Aktivitätsdichte und -radius sowie kommunizierte Zeitknappheit der Personen zu überschätzen. Dieser Modus, den wir Ruhestandsmoderierung genannt haben, d. h. die Bewertung des eigenen Ruhestandsalltags anhand einer als ereignislos imaginierten negativen Kontrastfolie, erweist sich damit als zentraler Mechanismus, der – in unterschiedlich starker Ausprägung und von einigen Ausnahmen abgesehen – die expliziten Äußerungen der Interviewten in neuer Weise kontextualisiert. Die Praxis der Ruhestandsmoderierung begründet die unter den Interviewten verbreitete Wahrnehmung von Zeitknappheit (Stichwort »Rentner haben niemals Zeit«) – verdichtet im Objekt des Kalenders. »Also mein Kalender ist voller Termine. Das ist wirklich, jeden Tag«, betont die Interviewte Frau Baden (Z. 253f.), und auch Herr Riesen unterstreicht im Interview: »Wir haben im Korridor einen Kalender liegen, da schreiben wir alles rein und der ist immer voll.« (Z. 367/368)

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Zugleich erweist sich, dass die Verknüpfung des Ruhestandsalltags mit Leere, Passivität und Häuslichkeit durchaus deutungsoffen ist, verstehen die Interviewten darunter doch je nach Kontextualisierung ihrer Erzählungen sehr Unterschiedliches: Wo den einen bereits niedrigschwellige Alltagsaktivitäten wie Haus- und Gartenarbeit, Spazierengehen und gelegentliche Beschäftigung mit den Enkeln als aktives Gegenmodell zum »normalen« Ruhestandsalltag gelten, betrachten andere gerade diese Beschränkung auf die alltäglichen Pflichten als Ausweis eines leeren und ereignislosen Nacherwerbslebens.

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Im Textkontext zeigt sich häufig, dass ein voller Kalender ein Kalender ist, in dem jeden Tag ›irgendetwas‹ drin steht. Die Norm der Leistungsgesellschaft, keine Zeit zu haben, wird dadurch erfüllt, dass sie relativ auf den Ruhestandskontext bezogen wird, dessen unterstellte unendliche Zeitfülle und Leere bereits durch einen Termin am Tag konterkariert werden kann. Immer wieder wird von unseren Befragten retrospektiv die Erwartung beschrieben, dass man im Ruhestand ganz viel Zeit haben werde, eine Erwartung, die sich – so die verbreitete Auskunft – nicht realisiert habe: »Weil die Aussicht, dass man ja dann Zeit hat, wo man das alles machen kann, aber die wird, das stellt man dann fest, so toll ist das mit der Zeit dann nicht. Es bleibt dabei, der Tag hat trotzdem weiterhin nur 24 Stunden. Und obwohl ich immer frühmorgens aufstehe, ist es immer noch knapp.« (Herr Friedrich, Z. 363ff.)

Ein anderer Interviewter erzählt: »Ich hab immer die Rentner nicht verstanden, die bei uns [im Betrieb] dann weg sind. Die hatten nie Zeit. Aber mir geht’s heute selber so […] also man hat wirklich nicht so viel Zeit, wie man sich das vorher vorstellt.« (Herr Schmal, Z. 124ff.) Der Eindruck, »nie Zeit zu haben«, wird wesentlich durch die vorherige Erwartung erweckt, »immer Zeit zu haben«. Augenfällig ist in vielen Interviews eine Praxis des busy talks: Gemeint ist das, zumeist abstrakte, Kommunizieren ständigen Beschäftigtseins bei häufig eher niedrigem oder mittleren Aktivitätsniveau. So führt Herr Fichte aus: »Ich hab als Rentner dann mehr, hab ich gedacht, mehr Freizeit. Aber das ist sicher beim Denken geblieben, denn Rentner haben niemals Zeit. […] Ich bin jeden Tag beschäftigt. Und, und rund um die Uhr.« (Z. 6ff.) Die Beschreibung seines ›vollen‹ Tagesablaufs beginnt dann folgendermaßen: »Und um 8 rum geht dann das Leben los, dass ich da was mache. Man geht in den Keller, bastelt irgendwas, baut irgendwas, repariert irgendwas. Oder geht auf’n Boden und macht da irgendwas, räumt was auf.« (Z. 187ff.) Selbstverständlich ist der skizzierte busy talk bei den kaum oder wenig Aktiven am augenfälligsten, aber auch bei Interviewten mit mittlerem oder sogar höherem Aktivitätsgrad4 stellen wir immer wieder Versicherun-

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Bei aller Problematik der quantitativen Erfassung von Aktivität war eine Systematisierung und begrenzte Quantifizierung von Aktivitäten notwendig, um die Vergleichbarkeit zwischen den Interviews zu gewährleisten. Auf Basis eines standardisierten Tätigkeitsbogens, den die Interviewten im Anschluss an das Interview ausgefüllt haben, sowie auf Grundlage der Auskünfte über Aktivitäten im Interview selbst wurde eine Einschätzung des Aktivitätsgrades und -radius der Interviewten vorgenommen.

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gen des permanenten Beschäftigtseins fest, die weniger faktischer Dauerbeschäftigung als dem Phänomen der Ruhestandsmoderierung geschuldet sind. Tatsächlich ist Zeitknappheit im Ruhestand ein im gesamten Interviewmaterial präsentes Thema, das von vielen Befragten als typisches Phänomen ausgewiesen wird: »Also die Tage sind eigentlich ausgefüllter als, aber das sagen fast jede, das werden Ihnen vielleicht alle sagen, die hier sitzen.« (Frau Isar, Z. 122ff.) Der durch Affirmation und Abgrenzung wirkungsmächtig in den Erzählungen der Interviewten verankerte busy talk ist von dem Modus zu unterscheiden, den David Ekerdt (1986) vor drei Jahrzehnten busy ethic genannt hat: die Verlängerung der (Lohn-)Arbeitsethik in den Ruhestand hinein, die im Streben nach Anerkennung eine Simulation berufsähnlichen Beschäftigtseins hervorbringe: »In honoring the busy ethic, exactly what one does to keep busy is secondary to the fact that one purportedly is busy. […] An individual can take a disparate, even limited, set of activities and spin them together into a representation of a very busy life.« (Ekerdt 1986: 241, 243) Tatsächlich dürften sowohl das in so vielen Interviews auffällige Bestreben, beschäftigt zu wirken, als auch die offenkundige Schwierigkeit, Leerlauf zu kommunizieren und ›zuzugeben‹, durch eine tief verankerte Arbeitsethik beeinflusst sein, die mit dem Ruhestand nicht plötzlich abgelegt wird. Während die busy ethic mit dem einflussreichen Maßstab des Erwerbslebens operiert und – bezogen auf die eigene Biografie – auf einem intertemporalen Vergleich beruht, rekurriert der busy talk auf die Abgrenzungsfolie des passiven Ruhestandsalltags im Sinne eines selbstwertdienlichen sozialen ›Abwärtsvergleichs‹. Wo die busy ethic stärker die Darstellung des Beschäftigtseins moderiert, entpuppt sich der busy talk als im direkten Vergleich mit konkreten oder imaginären Gleichaltrigen erfolgte Wahrnehmungsmoderierung, strahlt doch die eigene Aktivität umso heller, je passiver die anderen erscheinen.5 Ethic und talk schließen sich damit keineswegs aus, im Gegenteil: Die Verankerung des busy talk hilft zu verstehen, warum die Konstruktion von (Beschäftigungs-)Kontinuität in Relation zur Erwerbsphase nicht nur (identitätspolitisch wie sozial) bedeutsam ist, sondern

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Diese Form der selbstwertdienlichen Abgrenzung gegen »passive Andere« ist auch aus der jüngeren Forschung zu Menschen im ALG II-Bezug bekannt: »Für nahezu alle Befragten [Leistungsempfänger*innen] ist der ›passive Arbeitslose‹ eine Distinktionsfigur, die angeblich jeder kennt und von der man sich daher umso vehementer abgrenzen möchte. Das treibende Motiv für die Anwendung solch negativer Klassifikationen ist die Selbstentlastung.« (Dörre/Scherschel/Booth 2013: 256)

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auch vergleichsweise gut funktioniert – und zwar durch die moderierende Abgrenzungsfolie des passiven Ruhestandsalltags.6 Ruhestandsmoderierung und busy talk erlauben es den Interviewten, soviel sei als Zwischenresümee festgehalten, die grundlegende Vorstellung einer vita activa als conditio humana mit ihrem faktisch, d. h. gemessen an ihrem Aktivitätsgrad und -radius eher ereignislosen bzw. in fast jedem Fall zumindest im Vergleich zur Erwerbsphase relativ leeren Alltag in Übereinstimmung zu bringen. Von besonderem Interesse für die Frage nach dem Ruhestand als ›Anderem der Aktivgesellschaft‹ ist der Umstand, dass die große Mehrheit der Interviewten sich nicht im Kontext der beschleunigt-flexibilisierten Aktiv- und Leistungsgesellschaft verortet, sondern im Kontext eines als ereignislos imaginierten (typischen) Ruhestands, der ihnen selbstwertdienliche Abwärtsvergleiche und die Überakzentuierung der eigenen Aktivitäten ermöglicht. Der busy talk ist gerade Ausweis dessen, dass es nicht darum geht, konkreten und spezifischen Aktivitäts- und Produktivitätserwartungen (mit gesellschaftlichem Nutzen) gerecht zu werden, sondern dass im Vordergrund steht, sich selbst und die Interviewerin dahingehend zu beruhigen, dass der Tag schon (irgendwie) gefüllt wird. Und interessanterweise ist es mitunter gerade ein ausgeprägter busy talk, der Ruheständler*innen im Spannungsfeld von Ruhestandsorientierung und vita activa mit einem faktisch und praktisch recht geruhsamen Leben versöhnt. Der Typus des geschäftigen Ruheständlers ist in unserem Sample das Paradebeispiel für diesen Verarbeitungsmodus.

D ER

GESCHÄFTIGE

R UHESTÄNDLER

Der geschäftige Ruheständler hat im Gegensatz zu seinem Pendant, dem zufriedenen Ruheständler, ein überaus negatives Ruhestandsverständnis: Abgesehen von der institutionalisierten Erwerbsentpflichtung, die auch von diesem Typus begrüßt wird, fungiert der Ruhestand hier allein als negative Abgrenzungsfolie und steht für ein Leben der Passivität und Ruhe, das als Norm(alität) unterstellt wird. Damit werden neben der fast allen Befragten eigenen Abgrenzung gegenüber Nichtstun, Leere und Langeweile auch die als ruhestandstypisch erachtete Ruhe

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Beide Rahmungen führen, wie bereits angedeutet, zu einer Überakzentuierung von Aktivität. So warnt auch Ekerdt: »Indeed, gerontologists should be wary about the extent to which the busy ethic may shape people’s responses on surveys about their leisure, frequency of activities, and experience in retirement. […] The busy ethic, at bottom, is self-validating: because it is important to be busy, people will say they are busy.« (Ekerdt 1986: 243)

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und Entspannung sowie das Disengagement und die Orientierung auf den häuslichen Bereich dezidiert zurückgewiesen. Auffällig ist auch, dass die Ansprüche an die Sinnhaftigkeit der Aktivität – trotz anders lautender Bekundungen – nicht sehr hoch sind, was darin seinen Ausdruck findet, dass zumeist nicht auf konkrete Aktivitäten, sondern auf den Tatbestand abstrakten Beschäftigtseins verwiesen wird. Wie dargelegt, gibt es eine Tendenz in diese Richtung bei vielen Befragten, aber nur beim geschäftigen Ruheständler findet sich diese Erzählpraxis durchgängig. Der geschäftige Ruheständler hat immer »genug zu tun« (Herr Wulf, Z. 332) und beteuert: »Also die Zeit geht schon rum, auch ohne Arbeit.« (Herr Brand Z. 115) Auch auf Nachfrage ist es schwierig genaueres zu erfahren: »So und dann mach ich meine Mittagsruhe danach, so und dann ist es meistens schon halb drei wieder, da muss ich auch wieder irgendwas tun. Also, irgend ne sinnvolle Beschäftigung hab ich dann auch wieder.« (Herr Fichte, Z. 205ff.) Hier wird ein auch aus anderen Kontexten bekanntes Phänomen offenkundig, nämlich, dass »Tätig-Sein an sich […] fiktiv mit Sinn besetzt« ist (Rammstedt 1995: 208). Dass die Ansprüche an die Gestaltung des Nacherwerbslebens eher gering sind, zeigt sich auch daran, dass der geschäftige Ruheständler7 – angesprochen auf die Kriterien für ein erfolgreiches Alter – lediglich auf die Sicherung der finanziellen und gesundheitlichen Grundbedingungen verweist, während andere Interviewte – so die ›Unruheständlerinnen‹ oder die ›Produktiven‹ konkreter ausführen, was sie (noch) erleben, erreichen oder genießen möchten. Zeitknappheit ist das zentrale Thema des geschäftigen Ruheständlers mit dem Tenor: »Es bleibt einfach keine Zeit.« (Herr Pfarr, Z. 226) Zugleich ist der geschäftige Ruheständler aber auch ein Praktiker der Zeitdehnung (insbesondere im Bereich der Garten- und Hausarbeit) und Zeitverknappung, endet sein Tag doch häufig bereits am Nachmittag oder frühen Abend, wodurch der Eindruck der Zeitarmut verstärkt wird: Um vier Uhr »bleibt nicht mehr viel übrig« (Frau Grunow, Z. 844) vom Tag, dauert eine Tätigkeit zwei Stunden, »ist der halbe Tag weg« (Herr Wulf, Z. 336). Introspektion, Kontemplation und Auseinandersetzung mit dem Selbst und der eigenen Geschichte, die beispielsweise beim zufriedenen Ruheständler mit einem positiven Verständnis vom Lebensabend einhergehen, spielen beim geschäftigen Ruheständler keine Rolle, wäre hierfür doch – seiner Darstellung folgend – gar keine Zeit vorhanden. Der geschäftige Ruheständler erweist

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Für die in unserer Untersuchung gebildeten Typen verwenden wir die geschlechtsspezifische Bezeichnung, die sich aus der Mehrheit der dem Typus zugerechneten Interviewten ergibt. Tatsächlich zeigte sich, dass alle Typen – mit Ausnahme der Produktiven – eine eindeutige Geschlechtsspezifik aufweisen (vgl. Denninger et al. 2014: 260ff.).

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sich als äußerst radikaler busy talker, der es schafft, sich durch die Konstruktion einer negativen Abgrenzungsfolie ›Ruhestand‹ als »nicht so richtig rentnertypisch« (Herr Fichte, Z. 185) zu verstehen – obwohl seine gelebte und im Interview berichtete Praxis ruheständlerischer kaum sein könnte. Das Aktivitätsniveau bewegt sich im niedrigen Bereich, der aushäusige Aktivitätsradius beschränkt sich auf niedrigschwellige, unstrukturiert autoproduktive Tätigkeiten 8 (Wandern, Spazieren gehen, seltener Besuch von Veranstaltungen) sowie ein geringes Maß strukturiert autoproduktiver Tätigkeiten (wie Kegeln oder Singen im Chor). Beim geschäftigen Ruheständler finden wir eine Strategie im Umgang mit Zeit, die Anne Münch (2014) jüngst »Zeit ausfüllen« genannt hat und die sich bereits in den Zeitverwendungsstudien der 1980er Jahre in einem Typus wiederfindet, der Zeit als Dauer erlebt. Zukunft ist hier auf den unmittelbar nächsten Schritt im Tagesablauf beschränkt, so dass Zeit keine Ressource für zielgerichtetes Handeln oder persönliche Erfüllung darstellt (vgl. z. B. Wolf 1988). In Übereinstimmung mit diesen Studien ist der geschäftige Ruheständler nicht bildungsbürgerlich-akademisch, verfügt über ein im Sample-Vergleich unterdurchschnittliches Einkommen und ist vorwiegend männlich. Der geschäftige Ruheständler hat in klassischen Ausbildungsberufen gearbeitet oder trotz akademischer Qualifikation in fachfremden Bereichen, unterbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit und/oder Beschäftigungsunsicherheit. Ruhestand bedeutet vor diesem Hintergrund auch die Befreiung von der Sorge, »dass man rausfliegt« (Herr Fichte, Z. 2f.). Dieser Umstand und das Phänomen, dass ein äußerst negatives Bild vom Ruhestand durch den busy talk mit einer prototypisch ruheständlerischen Praxis versöhnt wird, führt bei vielen geschäftigen Ruheständler*innen zu einer gewissen Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, die aber deutlich ambivalenter und brüchiger bleibt als beim Typus des zufriedenen Ruheständlers.

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Wir differenzieren in der Bestimmung des Aktivitätsradius zwischen hetero- und autoproduktiven Tätigkeiten (vgl. Amann 2006: 30ff.), wobei unter Heteroproduktivität solche Tätigkeiten erfasst werden, die unmittelbar Nutzen stiftend für andere sind, also Erwerbsarbeit ebenso wie ehrenamtliches freiwilliges Engagement oder Pflege- und Betreuungstätigkeiten. Als autoproduktiv gelten Tätigkeiten, die v. a. darauf zielen, die Lebensqualität der ausübenden Personen zu erhöhen.

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Z WEI AUSNAHMEGRUPPEN : D AS E INGESTÄNDNIS VON L ANGEWEILE SOWIE P ASSIVITÄTSEMPHASE UND L AZY -T ALK Während das Thema Langeweile, wie dargelegt, als Abgrenzungsfolie in vielen Erzählungen präsent ist (»Aber ich, also ich, habe ja keine Minute Langeweile.« Herr Konrad, Z. 2), berichten lediglich vier Interviewte offen davon, selbst unter Langeweile und Leere zu leiden. Alle vier sind Akademiker*innen und pflegen keinen busy talk, sondern erleben das große ›Mehr‹ an Zeit als schwer zu bewältigende Belastung. So betont die Musikpädagogin Frau Peters trotz ihrer fortgesetzten geringfügigen Beschäftigung und zahlreicher Hobbies: »Ein großes Problem im Alter ist die Langeweile. Also ein ganz, ganz großes Problem. Ich hab, ich kann mich beschäftigen. Ich kann lesen, ich kann Fernsehgucken, ich mache Englisch, ich lerne Sprachen, ich arbeite am Computer usw. Irgendwann ist es aber so, dass Sie nichts mehr aufnehmen können. Dass Ihnen auch der Fernseher auf die Nerven geht. Und dann kommt diese Langeweile.« (Frau Peters, Z. 275ff.)

Ähnlich geht es dem seit einem Jahr verrenteten ehemaligen Lehrer Herrn Peukert: »Naja, ich dachte so, ach hast du Ruhe, bist von allem verschont, nur noch für dich verantwortlich und dann hab ich festgestellt, das wird langweilig.« (Z. 49ff.) Und er führt fort: »Die Arbeit war weg, das Haus war fertig, der Garten ist fertig, muss man irgendwas machen.« (Z. 247) Auch die 72-jährige Frau Schneider berichtet Vergleichbares, rahmt die empfundene Langeweile aber explizit als Übergangsphänomen, da es ihr nach einem erst kurz zurückliegenden Umzug nach Jena noch nicht gelungen ist, ihre freiberufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Als vierte Person spricht auch der aus einer Führungsposition in den Ruhestand gewechselte Herr Veit von den Schwierigkeiten, das »gehörige Zeitloch« (Z. 2) auszufüllen. Auffällig ist bei allen vier Interviewten, dass sie hohe Maßstäbe an ihre Aktivitäten anlegen, so dass nicht automatisch ›irgendeine‹ Beschäftigung das Problem der Leere und Langeweile löst. Das, was andere im Sample mehr oder weniger positiv als gelungenes »Zeitfüllen« erleben (vgl. auch Münch 2014) – z. B. die Dehnung von häuslichen Tätigkeiten –, ist für diese Befragten keine Lösung. Auch fällt auf, dass sich alle vier in einem Zwischenstadium zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand befinden, und es scheint nur diese Rahmung der beklagten Situation als Übergangssituation zu sein, die das Phänomen der Langeweile artikulierbar macht.

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Während diese Interviewten unter der beklagten Leere leiden, findet sich eine zweite Ausnahmegruppe, für die genau das Gegenteil gilt und die dies auch offensiv vertritt: Der 70-jährige Herr Hippe und der 71-jährige Herr Dietrich kommunizieren sich selbst und ihr Leben – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – als faul und passiv und weisen auch tatsächlich jeweils einen im Vergleich mit den anderen Interviewten extrem niedrigen Aktivitätsgrad und -radius auf. Sie sind die einzigen Personen im Sample, für die die vita activa keinen positiven Orientierungsrahmen darstellt. Der ehemalige Ingenieur Herr Hippe begründet seine Passivität nicht altersspezifisch, sondern stellt Faulheit als sein wesentliches Persönlichkeitsmerkmal dar. Mehrfach betont er, dass er im Ruhestand das realisieren kann, was er sich als junger Mensch immer gewünscht habe: »Geld zu bekommen fürs Nichtsmachen« (Herr Hippe, Z. 4). Auf die Frage, wie sich sein Leben im Ruhestand von der Erwerbsphase unterscheidet, antwortet er nur: »Ja, dass ich das Nichtstun genieße, richtig gerne faul bin.« (Z. 154) Während in den übrigen Interviews entweder konkrete Aktivitäten oder abstraktes Beschäftigtsein kommuniziert werden, weist Herr Hippe wiederholt darauf hin, dass »Nichtstun« für ihn das herausragende Merkmal des Ruhestands sei (Z. 216). Als einer von ganz wenigen gibt er an, sehr lange zu schlafen, 8 Stunden täglich (auch tagsüber) fernzusehen und die Tagesgestaltung allein dem Zufall zu überlassen. Während die meisten Befragten sich qua Ruhestandsmoderierung als überdurchschnittlich aktiv einschätzen, verhält es sich bei Herrn Hippe genau andersherum: Die Menschen in seinem Umfeld sieht er, im Gegensatz zu sich selbst, im aktiven Unruhestand. Immer wieder wird im Interview deutlich, dass er sich der Außergewöhnlichkeit seiner Haltung bewusst ist. Auch der ehemalige kaufmännische Angestellte Herr Dietrich weist bestimmte Aktivitäten, so insbesondere die Betreuung von Enkelkindern und ehrenamtliches Engagement, altersun- und dafür sehr geschlechtsspezifisch als mit seinem Wesen unvereinbar zurück: »Das ist etwas, was meine Persönlichkeit nicht hergibt und zwar ganz und gar nicht.« (Z. 861) Davon abgesehen macht er aber vor allem eine altersspezifische und endlichkeitsorientierte Perspektive des kontemplativen Rückzugs aus der Welt, der Arbeit an sich und der Auseinandersetzung mit dem Tod stark. Explizit betont er, dass er mit dem Ruhestand ausschließlich Ruhe verbinde und dass man »nicht andauernd was tun« (Z. 436) müsse. Wiederholt finden sich Bemerkungen wie »jetzt reicht es mir langsam« (Z. 185) oder »mach ich nicht mehr« (Z. 223f.), die seine starke Orientierung auf die Endlichkeit des Lebens offenbaren und entsprechende Anpassungen des alltäglichen Lebens nach sich ziehen: »Ein gelungener Abend ist für mich die Einsicht, dass es Abend ist.« (Z. 655ff.) Die starke Perspektive auf den Ruhestand als letzter kurzer Lebensrest scheint bei Herrn Dietrich sowohl durch eine sechs Jahre zurückliegende

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Krebserkrankung als auch die Schallgrenze des 70. Lebensjahres bedingt zu sein. Dass seine Tage, wie er zugibt, »mit Langeweile angefüllt« (Z. 365) sind, belastet ihn zwar mitunter ein wenig, im Großen und Ganzen empfindet er dies jedoch – im Gegensatz zu den Interviewten, die unter Leere und Langeweile leiden – als seinem Alter angemessen. Wo Herr Hippe einen expliziten lazy talk pflegt, ist die kommunizierte Passivität Herrn Dietrichs damit Ausdruck radikalen Disengagements. Dass nur zwei von 55 Interviewten Passivität und Nichtstun positiv rahmen, deutet – nicht zuletzt in Anbetracht des sehr niedrigen Aktivitätsgrads von insgesamt 16 mehrheitlich recht zufriedenen Interviewten – darauf hin, dass es sich dabei um eine schwer artikulierbare Facette des (Ruhestands-)Alltags handelt. Martin Kohlis Vermutung, Ruheständler*innen könnten sich zu Pionier*innen einer neuen »ethic of laziness« (Kohli 1988: 383) hat sich ganz offenkundig nicht bewahrheitet. Abgesehen davon, dass statt des seinerzeit antizipierten Endes der Arbeitsgesellschaft eine Politik der forcierten aktivierenden Arbeitsmarktpolitik und Lebensarbeitszeitverlängerung zu konstatieren ist, erschwert die verbreitete Rahmung des Lebens als vita activa ganz offenkundig eine positive Bestimmung des eigenen Lebens jenseits vitalistisch gerahmter Aktivität. Daran hat erstaunlicherweise die in Deutschland über Jahrzehnte fest verankerte Legitimität des verdienten Ruhestands, die über die in der Vergangenheit liegende Lebensleistung begründet wird, wenig geändert. Auch wenn aktuelle Entwicklungen forcierter Aktivierung und Beschleunigung und die neue Adressierung von Menschen im Ruhestand die Tabuisierung eines zelebrierten Nichtstuns verstärken dürften, zeigen die Interviews doch, dass es weniger diese Entwicklungen als die grundsätzlich vitalistische Rahmung des Jungen Alters (in Abgrenzung zur Hochaltrigkeit) ist, die es erschwert, in nicht aktivitätsbezogenen Kategorien zu kommunizieren. Dieser Umstand dürfte zusätzlich durch Dynamiken des Erzählens verstärkt werden, die darauf zielen, ›etwas‹ und nicht ›nichts‹ zu kommunizieren. Indem Passivität eng mit Nicht-Leben verknüpft wird (vgl. Denninger et al. 2014: 242ff.), wird sie für die große Mehrheit der Interviewten kaum artikulierbar und bei vielen durch den ruhestandsmoderierenden busy talk ersetzt. Die Grenzen zwischen Unsagbarem und explizit Verschwiegenem sind dabei durchaus fließend: Die in unserem Sample auffällige Verkürzung der Tage, die in der Darstellung nicht selten nachmittags enden, tilgt Zeiten des Nichtstuns und der Inaktivität aus der Erzählung. Auch wissen wir aus Studien um die Tendenz, dass mit Inaktivität assoziierte Tätigkeiten – wie z. B. der Mittagsschlaf oder Nickerchen während des Tages – systematisch heruntergespielt werden oder eher

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zufällig, z. B. durch beiläufige Bemerkungen ›ans Licht‹ kommen (vgl. Venn/Arber 2011: 199ff.). Auch für Menschen im Ruhestand gilt ganz offenkundig die folgende Feststellung Rammstedts: »Daß der einzelne sich ständig selbst überwacht, nicht als faul in den Augen der anderen zu erscheinen, scheint selbstverständlich. Darauf baut unser soziales, politisches, ökonomisches System; das gehört zum festen Bestand aller interpersonellen Erwartungen. Und die Unbestimmtheit dessen, was unter Faulheit zu verstehen ist, erhöht die Repression.« (Rammstedt 1995: 201)

Interessant ist nun, dass aber auch das Leiden an der Ereignislosigkeit und Unausgefülltheit für den Großteil der Interviewten nicht artikulierbar zu sein scheint bzw. im Gegenteil eine nachgerade beschwörende Abgrenzung augenfällig ist: Das Eingeständnis von Langeweile wird ganz offenkundig als Ausweis des Scheiterns im Nacherwerbsleben begriffen – und die Versicherung, keine Langeweile zu kennen, aufs Engste mit der Orientierung an der vita activa verknüpft. Langeweile tritt, das zeigen auch andere Untersuchungen, höchstens als »Problem ›der anderen‹« (Doehlemann 1991: 13) auf. So ermitteln Umfragewerte zum Empfinden von Langeweile im erwerbsbefreiten Alter in den vergangenen Jahrzehnten konsequent und ohne große Schwankungen niedrige Zustimmungswerte (vgl. Pieper 1976: 298f.; Generali Zukunftsfond/Institut für Demoskopie Allensbach 2013: 46). Lediglich 13 Prozent der 65- bis 69-Jährigen stimmen aktuell der Aussage zu: »Man hat so viel Zeit, dass man sich manchmal langweilt.« (Generali Zukunftsfonds/Institut für Demoskopie Allensbach 2013: 46) Ob Langeweile deshalb tatsächlich kein Problem ist, ist nicht ausgemacht und sollte mit Blick auf die Frage der »Unsagbarkeit« kritisch reflektiert werden. Grundsätzlich gilt soziale Unterforderung in Form eines Mangels an »Erwartungen, Aufforderungen und Anforderungen seitens der Mitwelt« (Doehlemann 1991: 105) neben starker Verregelung von Handlungsvollzügen als wesentliche Quelle existenzieller (d. h. nicht allein situativ bedingter) Langeweile. Doch selbst diejenigen Interviewten in unserem Sample, die den Rentenübergang im Gegensatz zur Mehrheit als Ausgrenzung erlebt haben und die genau über diese Form der Unterforderung klagen, legen größten Wert darauf, darzulegen, dass sie sich beschäftigen können – und sei es mit der zeitlichen Dehnung von Hausarbeit, die sie nicht ausfüllt. Warum Langeweile im Ruhestand so schwer kommunizierbar ist, wird verständlicher, wenn die in der Literatur übliche Differenzierung unterschiedlicher Arten von Langeweile als Deutungsquelle hinzugezogen wird. Zu unterscheiden sind zunächst situative und überdrüssige Langeweile, die jeweils gegenstandsbezogen sind: »Etwas langweilt mich« (Doehlemann 1991: 53), etwa im situativen

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Sinne eine konkrete Wartesituation, auf die man keinen Einfluss hat, oder in Gestalt der Überdrüssigkeit die monotone Lohnarbeit, der man sich nicht entziehen kann. Ganz anders hingegen die existenzielle Langeweile, die nicht gegen stands-, sondern selbstbezogen ist und mit einem Gefühl innerer Leere einhergeht, »man weiß mit sich und der Welt nichts anzufangen« (ebd.: 23); diese Langeweile »ist der kleine Bruder des Todes« (ebd.). Während Menschen gemeinhin kein Problem damit haben, Situationen zu benennen, in denen sie sich langweilen oder ihrem Überdruss bezüglich monotoner Arbeit Ausdruck zu geben, ist es diese Form der existenziellen Langeweile, die im Kontext der vita activa nur schwer artikulier- und mitteilbar ist. »The avoidance of boredom« wird als »very fundamental human urge« (Frankfurt 1999: 89) erkennbar, als wahrhaft existenzielle Frage. Das Leben im Ruhestand stellt in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung dar: Einerseits führt die gewonnene Zeitsouveränität und Freiheit dazu, dass sich die Subjekte das Erleben von existenzieller Langeweile selbst zuschreiben – was ihr Eingeständnis erschwert; andererseits ist aber gerade im Ruhestand ein struktureller Mangel an Resonanz auszumachen, der Langeweile wesentlich bedingt. Und schließlich ist die existenzielle Langeweile nicht ohne die diskreditierte Faulheit zu haben, wird existenzielle Langeweile doch als freiwilliger Verzicht auf die Nutzung von Zeitoptionen gelesen und damit als »die verheißende Strafe für Faulheit« (Rammstedt 1995: 207). Dass diese Verknüpfung von Langeweile und Faulheit empirisch fragwürdig ist, zeigt unser Sample – gehören doch die wenigen, die zugeben, Langeweile zu erleben, keineswegs zu den Interviewten mit auffällig niedrigem Aktivitätsgrad und -radius.9

9

An dieser Stelle sei auf eine hochgradig kontrastierende Ausnahmegruppe hingewiesen: Bei den Zeitwohlständler*innen ist die Zeit weder knapp – wie bei den busy talkern – noch ein Problem – wie bei den Gelangweilten –, sondern ein kostbares Gut, das gerade in seiner neuen Üppigkeit genossen und souverän gestaltet wird. Die Gruppe der vier Frauen und drei Männer, auf die dies in besonderer Weise zutrifft, ist sehr homogen und mit Blick auf Einkommen und Bildung äußerst privilegiert. Alle sind aus ebenso erfüllender wie fordernder bis stressiger Erwerbsarbeit mit hoher Verantwortung selbstgewählt in den (größtenteils vorgezogenen) Ruhestand gegangen und erfreuen sich an dem, was bis dahin stets knapp war: der Zeit. Gerade weil Geld (zum Teil im Überfluss) vorhanden war bzw. ist, stellt Zeit die kostbarste Ressource dar. Zeitwohlstand genießen zu können, setzt ganz offenkundig Wohlstand an materiellen Mitteln voraus. Auch Münch (2014, Art. 26) kommt zu dem Schluss, »dass ein hoher sozioökonomischer Status in Kombination mit beruflichen Belastungserfahrungen positiv mit der Wertschätzung von Zeit im Alter korreliert«. Die privilegierten, recht aktiven Zeitwohlständler*innen einerseits und die geschäftigen Ruheständler*innen mit ihrem ausgeprägten

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F AZIT Die Antwort auf die Frage, ob das Leben im Ruhestand – im Spannungsfeld von verdienter Erwerbsentpflichtung und neuen gesellschaftlichen Erwartungen an das höhere Lebensalter – als das ›Andere der Aktivgesellschaft‹ zu fassen ist, fällt vielschichtig aus. Zunächst einmal gibt es zwei zentrale Befunde, die ein deutliches, wenn auch sehr unterschiedlich akzentuiertes ›Ja‹ untermauern: Erstens orientieren sich mit Ausnahme der kleinen Gruppe der Zeitwohlständler*innen fast alle Interviewten am Referenzrahmen eines wohlverdienten, gleichwohl als ereignislos und leer imaginierten Ruhestandslebens, das ihnen selbstwertdienliche Abwärtsvergleiche und eine Überakzentuierung der eigenen Aktivität ermöglicht. Gerade die ausgeprägte Aktivitätsemphase in den Interviewtexten ist also – kontraintuitiv – Ausdruck des Umstands, dass die Interviewten sich nicht im Kontext der beschleunigten und flexibilisierten Aktiv- und Leistungsgesellschaft verorten. Genau umgekehrt verhält es sich, zweitens, mit der Gruppe der Zeitwohlständler*innen, die ihren Bezugs- und Vergleichspunkt in eben dieser Gesellschaft finden, aber gerade deshalb und im konkreten Vergleich (mit anderen Erwerbstätigen und der eigenen Vergangenheit) jenseits der Aktivgesellschaft leben und den neuen Zeitwohlstand zelebrieren. Diese explizite Verortung jenseits aktivgesellschaftlicher Maßgaben scheint, so das durch andere Studien (vgl. z. B. Münch 2014) untermauerte Ergebnis, nur mit einem Finanz- und Anerkennungspolster aus einer gemäß den Leistungskriterien der Gegenwartsgesellschaft äußerst erfolgreichen Berufsbiografie lebbar zu sein. Während im Erwerbsalter die oberen Mittelschichten als »die personifizierten Taktgeber des Sozialen« (Lessenich 2014: 21) gelten und dafür bekannt sind, »Zeit als knappes Gut« (ebd.) zu handeln, verhält es sich im Ruhestand offenkundig umgekehrt: Hier gelingt es gerade diesem Milieu im wahrsten Sinne des Wortes ›auszusteigen‹ und als anerkannte Mitglieder der Leistungsgesellschaft die späten Früchte des Zeitgenusses zu entdecken und zu ernten. Zugleich erweist sich mit Blick auf diese Gruppe die Vielschichtigkeit des Zusammenhangs von Ruhestand und Aktivgesellschaft, sind es doch genau diese Zeit genießenden und Ruhe zelebrierenden Interviewten, die faktisch und praktisch einen (verglichen mit anderen Interviewten) hohen Aktivitätsgrad aufweisen – der gleichwohl deutlich niedriger ausfällt als zu Erwerbszeiten. Die geschäftigen Ruheständler hingegen praktizieren einen busy talk und bedienen rhetorisch die gesellschaftlichen Normen der Zeitknappheit und des ständigen Beschäftigtseins;

busy talk bei vergleichsweise niedrigem Aktivitätsniveau andererseits stellen damit die Antipoden in unserem Sample dar.

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zugleich leben sie aber einen äußerst geruhsamen Alltag. Die Sozialstruktur dieser beiden Gruppen lässt keinen Zweifel daran, dass es vielfältiger Ressourcen bedarf, um in der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung die Maximen der beschleunigten und flexibilisierten Gegenwartsgesellschaft aktiv zu durchkreuzen. Problematisch für die weniger Ressourcenstarken wird es dort, wo sich hinter busy talk und Beschäftigungssimulation tatsächlich ein Leiden an Leere, Unterforderung und Langeweile verbirgt, das in seiner existenziellen Form – wie dargelegt – nur schwer artikulierbar ist. Praktiken der Zeitverknappung (der berichtete Tagesablauf endet um 16 Uhr) und der Zeitdehnung (v. a. durch das Strecken niedrigschwelliger alltäglicher Verrichtungen) zeigen, dass viel freie Zeit eine nicht immer leicht zu bewältigende Herausforderung ist, der – im Gegensatz zur Arbeitslosigkeit – nach wie vor hohen Legitimität freier Zeit im Ruhestand zum Trotz. Nicht wenigen ist dabei die ›Sinnlosigkeit‹ insbesondere der Zeitdehnung bei eigentlich ungeliebten Tätigkeiten im Haushalt durchaus bewusst. Tatsächlich ist es in Zeiten einer zunehmend intendierten Aktivierung des höheren Lebensalters nicht einfach, diese Probleme zur Sprache zu bringen, ohne der Programmatik einer Wiederverpflichtung des Alters Vorschub zu leisten. In gewisser Hinsicht geben die Interviewten hierfür jedoch selbst eine Leitlinie an die Hand: selbstgewählte Aktivität ja – Aktivierung nach Maßgaben der Politik nein, so lässt sich die mehrheitliche Haltung derjenigen zusammenfassen, die die aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen mit Blick auf den Ruhestand wahrnehmen (vgl. Denninger et al. 2014: 334ff.). Nichts spricht vor diesem Hintergrund gegen Opportunitätsstrukturen und Anreize für selbstgewählte Aktivitäten, die Sinn stiften, Kontakte ermöglichen und über die konkrete Alltagsbewältigung hinausweisen. Und nichts gegen die ostentative Aufwertung von Nichtstun und Zeitverschwendung, die interessanterweise mit Blick auf die Pathologiediagnosen der beschleunigten Gegenwart Konjunktur zu haben scheint: In Freiburg beschäftigt sich neuerdings ein ganzer Sonderforschungsbereich mit Muße und Langeweile (vgl. Uni Freiburg o. J.), das Wirtschaftsmagazin brand eins hat im Sommer 2015 ein Heft zum Thema mit dem Titel »Macht Blau. Schwerpunkt Faulheit« herausgebracht (vgl. brand eins 2015), und das Journal Kulturaustausch (2015) titelt zeitgleich »Wir haben Zeit. Ein Heft über Langsamkeit«. Werden Ruheständler*innen vielleicht doch noch zu Zeitpionieren im Zeitalter von Erschöpfungs- und Überfor-derungsdiagnosen? Zugleich bliebe der Blick aber verengt, wenn die zu beobachtenden ›Kolonialisierungen‹ des Ruhestands durch die Aktivgesellschaft an dieser Stelle gänzlich ausgeblendet blieben: So fangen immer mehr Ruheständler*innen familiär die strukturell mangelhaft gewährleistete Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf, indem sie an mehreren Tagen der Woche den fehlenden Kita-Platz oder die kurzen

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Öffnungszeiten kompensieren. Und zwar nicht selten mit dem Hinweis darauf, dass sie ihre Enkel lieben und dies für die (Schwieger-)Kinder tun, dass sie sich ihren Ruhestand aber eigentlich anders vorgestellt haben. Und auch wenn es um die eigene Gesundheit geht, zeigt sich, dass der Ruhestand keine unberührte Oase jenseits der Aktivgesellschaft (geblieben) ist: Die aktivgesellschaftliche Norm der Eigenverantwortung für den eigenen Gesundheitszustand findet sich in fast allen Interviewtexten, sie ist zum verallgemeinerten »Lebensführungswissen« (Post 2009) geworden (vgl. Denninger et al. 2014: 347f.). Und doch zeigt sich auch hier eine gewisse Renitenz gegenüber dem Zugriff der Aktivgesellschaft: Das Gesundheitsbeispiel offenbart, dass Lebensführungswissen nicht gleichbedeutend mit Alltagspraxis ist. Die von den Interviewten zur Sprache gebrachten Präventionsaktivitäten bleiben in vielen Fällen auffällig vage: niedrigschwelliges Spazierengehen, ›irgendwelche‹ Aktivitäten und geistige Beweglichkeit werden bereits als Gesundheitshandeln gerahmt. Hier offenbart sich eindrücklich, wie die Orientierung am eigenverantwortlichen Gesundheitspostulat eingepasst werden kann in eine niedrigschwellige Alltagspraxis der vita activa, die mitunter recht weit entfernt ist von der im neoliberalen Gesundheitsdiskurs ausgewiesenen Lebensführung. Ähnlich wie bei den geschäftigen Ruheständler*innen erweist sich hier, dass es mitunter auch eine – nicht notwendigerweise strategische – Anpassung der Rhetorik bzw. eine geschäftige Rahmung niedrigschwelliger Aktivität sein kann, die verbale Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche wie eigene (!) Aktivitätserwartungen sicherstellt, während sie gleichzeitig Freiräume für eine abweichende Praxis eröffnet. An der Verankerung des gesellschaftlichen Aktivitäts- und Beschäftigungsprimats wird gleichwohl auch durch solch eine rhetorische Praxis – allem praktizierten Müßiggang zum Trotz – fleißig mitgewirkt.

L ITERATUR Amann, Anton: Unentdeckte und ungenützte Ressourcen und Potenziale des Alter(n)s, in: Deutsches Zentrum Für Altersfragen (Hg.): Gesellschaftliches und familiäres Engagement älterer Menschen als Potenzial, Berlin 2006, S. 7-146. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich 2011[1950]. BMFSFJ [Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend]: Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Drucksache 16/2190, Berlin 2006.

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Prekärer Ruhestand Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter I RENE G ÖTZ , E STHER G AJEK , A LEXANDRA R AU UND

P ETRA S CHWEIGER

P REKÄRER R UHESTAND : GESCHLECHTS - UND ALTERSSPEZIFISCHE O RDNUNGEN »Wir haben es hier mit einem armutspolitischen Erdrutsch zu tun«, so kommentierte der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Rolf Schneider, den drastischen Anstieg der Armut in der Gruppe der Rentnerinnen und Rentner um 48 Prozent seit 2006 in einer aktuellen Armutsstudie (Zeit 2015). Altersarmut ist ein derzeit viel diskutiertes, brisantes Thema, nicht nur in den medialen, sondern auch in den politischen Debatten. Es wird insbesondere im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel problematisiert, für dessen Beschreibung nicht selten Begriffe wie ›Überalterung‹, ›Altenlast‹ oder ›Vergreisung‹ herangezogen werden. Die ›alternde Gesellschaft‹ hat sich zu einem der »prominentesten Krisendiskurse« entwickelt, in dem die »Implosion von Renten- und Krankenversicherung« (van Dyk/Lessenich 2009: 11) nur eines der beschworenen Zukunftsszenarien darstellt. Dieses ›Droh-Bild‹ der umgedrehten Alterspyramide wirft eine Vielzahl an sozialen Fragen auf – noch dazu angesichts zunehmender gesellschaftlicher Spaltungen sowie flexibilisierter und prekarisierter Arbeitsformen –, für deren Beantwortung insbesondere die Politik in die Pflicht genommen wird. So kommt der aktuelle Rentenreport Bayern des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zu ähnlichen Prognosen und benennt auch einige Ursachen für die zunehmende Altersarmut:

56 | I RENE G ÖTZ , E STHER GAJEK, A LEXANDRA R AU UND P ETRA S CHWEIGER »Auch die Altersarmut wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen, falls die Politik nicht gegensteuert. Die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente – dazu lange Zeiten der Arbeitslosigkeit bei vielen Neurentnerinnen und -rentnern – und die dadurch geringeren Beitragszahlungen programmieren eine Ausweitung von Altersarmut vor« (DGB Bezirk Bayern 2014: 5).

Bei näherer Betrachtung der statistischen Daten des Rentenreports Bayern fällt auf, dass hier insbesondere Frauen betroffen sind: Danach beträgt die durchschnittliche Rente von Arbeitnehmer*innen bei einem Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit im Jahr 2013 bei Männern 949 Euro, bei Frauen lediglich 529 Euro, das heißt, Frauen erhalten fast nur die Hälfte der Renten der Männer, und 82,7 Prozent der Rentnerinnen befinden sich unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle, die in Bayern im Jahr 2013 bei 973 Euro lag (vgl. DGB Bezirk Bayern 2014: 14). Mit Frauen im Rentenalter, die von ihrer Rente allein nicht oder nur mit großen Einschränkungen leben können, zumal in München, einer der teuersten Städte Deutschlands, beschäftigt sich der vorliegende Beitrag, der erste Befunde eines Forschungsprojektes zu Erfahrungen mit und Bewältigungsstrategien von Prekarität im Alter vorstellt. Zunächst sollen jedoch kurz die gesellschaftlichen Hintergründe mit einigen Schlagworten skizziert werden, die erklären, weshalb speziell Frauen mit ihren Erwerbsbiografien im Alter schlecht abgesichert sind. Die Ursachen für das Übergewicht an weiblichen Altersarmen liegen in dem an der männlichen ›Normalerwerbsbiografie‹ ausgerichteten Erwerbsarbeits- und Rentensystem. Das derzeitige Rentensystem ist, erstens, an kontinuierliche Erwerbsarbeit gekoppelt und, zweitens, geprägt vom Leitbild eines traditionellen Familienmodells. Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit werden demnach kaum abgesichert. Tätigkeiten, denen kein Erwerbsstatus zugeschrieben wird, sind nicht oder nur geringfügig im Rentensystem berücksichtigt. So wird Erziehungsarbeit zwar durch Rentenpunkte abgegolten, die jedoch nur eine gewisse Kompensation für Renteneinbußen in Folge der während der Erziehungszeiten oft nicht gegebenen Erwerbsarbeit bedeuten.1 Care-Work oder häusliche Reproduktionsarbeiten, beides überwiegend weibliche, in einem traditionellen Familienmodell situierte Tätigkeiten und meist nicht im Sinne von Erwerbsarbeit entlohnt, führen dazu, dass viele Frauen keine oder nur ›gebrochene‹ Erwerbsbiografien vorweisen, da sie

1

Jüngste Gesetzesänderungen wie die Einführung der sogenannten ›Mütterrente‹ zum 1. Juli 2014 versuchen, der ungleichen Verteilung von Renten in Bezug auf weibliche und männliche Lebensläufe durch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten entgegenzuwirken. Hier stellt sich jedoch die Frage, wie dieser nur sehr geringfügige Ausgleich von den betroffenen Frauen selbst aufgefasst und bewertet wird.

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anschließend an Phasen von Kindererziehungs- und Pflegezeiten entweder gar nicht mehr ins Berufsleben einsteigen, oder einem großen Risiko unterliegen, in Teilzeitarbeit und geringfügigen Beschäftigungen zu verbleiben (vgl. Denninger/van Dyk/Lessenich/Richter 2014: 71f.). Hinzu kommt ein ›Gender Pay Gap‹ von noch immer durchschnittlich 22 Prozent, wie aus den Berechnungen des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2014 hervorgeht (vgl. Destatis o. J.). Frauen erhalten für die gleiche Arbeit oft weniger Geld als ihre männlichen Kollegen und werden seltener befördert, vor allem, wenn sie in Teilzeitarbeit beschäftigt sind (Buls 2014). Diese prekären und temporären (Teilzeit-)Erwerbsarbeitsformen, denen manche Frauen als ›Zuverdienerinnen‹ möglicherweise in bestimmten Lebensphasen den Vorzug geben, tragen kaum zu halbwegs ausreichenden Rentenzahlungen bei. Im »aktivierenden Sozialstaat« (Lessenich 2008), der mit sukzessive gesenkten Grundrenten auf private Vorsorge setzt, sind viele Frauen doppelt benachteiligt, denn denjenigen mit einem Teilzeit-Verdienst fällt die geforderte private Bildung von finanziellen Rücklagen besonders schwer (vgl. Buls 2014). Ein weiteres gesellschaftliches Phänomen, das mit dem Wandel des traditionellen Familienmodells hin zur Pluralisierung von Lebenskonzepten einhergeht, kann sich zudem problematisch auf potentielle ›Lücken‹ weiblicher Erwerbsbiografien auswirken: Viele Frauen der mittleren und jungen Generation können angesichts der in den letzten Jahrzehnten angestiegenen Scheidungszahlen nicht mehr mit Absicherung im Alter durch eine zweite Rente bei geteilter Haushaltsführung rechnen, wie noch die meisten ihrer Mütter und Großmütter. Ein neues Scheidungsrecht hat überdies der häufig lebenslangen Versorgung der geschiedenen Frau durch den Ex-Mann ein Ende gesetzt. Gerade in den teuren Großstädten sind die Lebenshaltungskosten für Single-Haushalte mit einer durchschnittlichen Rente kaum abgedeckt. Diese weiterhin wirksamen traditionellen genderspezifischen Rollen und Aufgabenteilungen führen dazu, dass die Mehrheit der Frauen kaum in die Rentenkassen einzahlen oder finanzielle Rücklagen bilden kann, und tragen so zu einem »Gender-Pension-Gap« (Buls 2014: 115) bei. Neben der Kategorie ›Geschlecht‹ spielt aber auch die Kategorie ›Alter‹ eine wichtige Rolle, um die Genese und die Mechanismen sozialer Ungleichheit analytisch sowie gesellschaftspolitisch zu erfassen. ›Alter(n)‹ als »Differenzmarker und lebenslanger Prozess« (van Dyk 2015: 11) birgt verschiedene Dimensionen der Analyse in sich. Vorliegende Untersuchung stützt sich dabei auf die Perspektive eines ›sozialen Alters‹, zu verstehen als »Produkt gesellschaftlicher Institutionalisierungen und kultureller Repräsentationen, die den stetigen Alternsprozess in Lebensphasen unterteilt, Übergänge markiert und damit überhaupt erst eine Gliederung der Gesellschaft nach Lebensalter konstituiert« (van Dyk 2015: 14)

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und insbesondere im Kontext des Erwerbssystems strukturierend auf den Lebenslauf wirkt. Abhängig vom Alter wird auch der Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt reguliert, was zu einer groben, sich momentan allerdings ausdifferenzierenden und aufweichenden Ordnung des (männlichen) ›Normallebenslaufes‹ (Kohli 1985: 2) führt: Nach einer ersten Phase der Ausbildung folgt(e), dieser Norm fordistischer Arbeitswelten entsprechend (Götz 2013), die lange mittlere Lebensphase der Erwerbsarbeit, die durch den (sofern man in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt ist) verpflichtenden Austritt aus dem Arbeitsmarkt, den Renteneintritt, in die letzte Phase, den ›wohlverdienten Ruhestand‹, mündet(e) (vgl. Kelle 2008: 17). Dieser wurde in Deutschland seit den 1960er Jahren in Zeiten steigenden Wohlstands als ›späte Freiheit‹ und Lohn für die lebenslange Erwerbsarbeit gewürdigt und durch Vorruhestandsregelungen lange Zeit immer weiter ausgedehnt. In jüngster Zeit wird diese von Erwerbsarbeit entpflichtete Phase jedoch angesichts des demografischen Wandels, einsetzenden Fachkräftemangels und drohender Finanzierungslücken der Sozialkassen als gefährdet verhandelt: Das Rentenalter beginnt formell nicht nur später, sondern ein Aktivierungsimperativ nimmt die älteren Menschen überdies in die Pflicht, für sich auch als Rentnerinnen und Rentner selbst weiter Sorge zu tragen und sich gesellschaftlich, etwa durch ehrenamtliche Arbeit, einzubringen, anstatt sich zurückzuziehen und ›auszuruhen‹. Dies kann für Ältere, die dazu nicht oder nicht mehr in der Lage sind, eine problematische und ausgrenzende Moral bedeuten (vgl. Denninger et al. 2014). Gleichzeitig existiert weiterhin eine relativ fixe Renteneintrittsgrenze, die insbesondere von denjenigen als problematisch empfunden wird, die mit Erreichen eines spezifischen Alters kein Recht auf Weiterbeschäftigung in ihrem Berufsfeld haben, auch wenn sie dies gerne wollten. Dieser verpflichtende Ruhestand (›mandatory retirement‹) gilt im angelsächsischen Raum schon seit geraumer Zeit in politischen wie wissenschaftlichen Diskussionen als Ausdruck von ageism und wurde in den USA bereits 1986 per Gesetz verboten (van Dyk 2009: 322) – eine Diskussion, die in Deutschland bislang nur zögernd im Kontext der Flexibilisierung des Renteneintrittsalters einsetzt. Ob eine gewollte oder ungewollte Entkoppelung vom Erwerbssystem im sogenannten ›dritten Alter‹ eine Rolle spielt, diese Phase des Übergangs bleibt oft verbunden mit einem Auseinanderdriften von Ungleichheitsverhältnissen: Hier, und dann noch deutlicher im ›vierten Alter‹, wo Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeiten, z. B. von Pflegediensten, Angehörigen und Haushaltshilfen, Kosten verursachen, verstärken sich soziale ebenso wie Geschlechtsunterschiede, Einkommensunterschiede, Bildungsunterschiede und Unterschiede in Quantität und Qualität unterstützender sozialer Netzwerke. Besonders im Falle von Frauen aus

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unterprivilegierten Milieus sind im Alter die Handlungsoptionen doppelt eingeschränkt, der Gesundheitszustand ist schlechter, die Lebenserwartung geringer (vgl. Backes/Clemens 2006). ›Alter‹ wirkt als Katalysator in Verschränkung mit weiteren Differenzkategorien wie beispielsweise ›Geschlecht‹ und führt zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausschlüssen sowie Risiken der Mehrfachdiskriminierung. Deren Formen und Auswirkungen auf die alltägliche Lebensführung von Rentnerinnen will das nachfolgend vorzustellende Forschungsprojekt skizzieren. Es fragt insbesondere, wie ältere Frauen diese Prekarisierung und entsprechende Ausschlüsse durch verschiedene Formen von Arbeit und Tätigsein zu bewältigen suchen.

F ORSCHUNGSPROJEKT : Z IELSETZUNG , B EGRIFFSDEFINITIONEN UND METHODISCHE H ERANGEHENSWEISE Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Münchner Forschungsprojekt »Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter«2 widmet sich den skizzierten gesellschaftspolitischen Problemen, die zu weiblicher Altersarmut führen, auf empirischer Ebene und nimmt Erwerbsbiografien und Prekarisierungserfahrungen von alleinstehenden Frauen im Rentenalter in den Blick. Es will einen Beitrag zur Erforschung dieses zunehmend diskutierten Themas3 leisten: Individuelle Krisen wie (drohende) Altersarmut und der daraus

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Hier geht unser besonderer Dank an Julia Schwarz und Katrin Lehnert, die in vielerlei Hinsicht zur erfolgreichen Umsetzung dieses Projektes – durch Vorrecherchen, konzeptionelle Arbeiten und im Falle von Katrin Lehnert durch die Co-Organisation der das Projekt vorbereitenden Münchner Tagung – beigetragen haben. (Vgl. Götz/Lehnert 2014) Vgl. unter anderem die Talk-Sendung Anne Will: »Heute kleiner Lohn? Morgen Altersarmut – Versagt der Sozialstaat?« vom 17.04.2016. Dort diskutierten neben einer Putzkraft und Vorsitzenden des IG BAU-Bezirksverbands Emscher-Lippe, die selbst von Altersarmut betroffen ist, weitere Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Journalismus. Insbesondere politische Akteur*innen scheinen sich des Themas anzunehmen, wie es Anne Will gleich zu Beginn der Sendung anhand einiger Statements aus verschiedenen politischen Lagern verdeutlicht. Neben diesem Fernsehformat, das am Sonntagabend und damit zu einer sehr medienwirksamen Sendezeit ausgestrahlt wird, erschienen in jüngerer Zeit eine Vielzahl an journalistischen Beiträgen, wie zum Beispiel »Armut in Deutschland auf dem Höchststand« (Zeit 2015), »Was bleibt

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sich entwickelnde Zwang zu Tauschökonomie oder Arbeit neben der Rente werden in ihrer Verwobenheit mit (prognostizierten) Systemkrisen wie dem demografischen Wandel und der Absenkung der Grundrenten, die die häufig kleinen Renten der Neurentnerinnen noch niedriger ausfallen lassen, dargestellt. Das wissenschaftliche Anliegen besteht darin, mikroskopische Einblicke in die Lebens-, Arbeits- und Erfahrungswelten von Frauen im Rentenalter zu erlangen und mit sozialstrukturellen Rahmendaten, makroökonomischen Entwicklungen sowie gesellschaftlichen Diskursen in Zusammenhang zu bringen. Ziel ist es, die oft polarisierenden Altersbilder – Drohszenarien von Altersarmut einerseits und Active Ageing als neue Altersprogrammatik und ökonomische Ressource andererseits – zu ersetzen durch einen differenzierten Blick auf die im Alltag entwickelten Taktiken, Praktiken und Kompetenzen von Frauen im Rentenalter, um ein vielschichtiges und akteursnahes Bild weiblichen Alter(n)s zu zeichnen. Sowohl in der Alter(n)s-, Armuts- und Prekarisierungsforschung in den Sozialwissenschaften als auch insbesondere in der Europäischen Ethnologie bestehen im Feld der Altersarmut eklatante Desiderate. Zwar gibt es sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen zu geschlechtsspezifischen Formen des Alter(n)s und der (sich im letzten Lebensdrittel verstärkenden) sozialen Ungleichheit, doch ist die thematische Schnittstelle von Alter(n), Geschlecht und Prekarisierung im deutschsprachigen Raum noch kaum in den Blick genommen worden (Backes 2004, Höpflinger 1994, Niederfranke 1999). Anknüpfend an die Alternsforschung aus dem Umfeld von Silke van Dyk und Stephan Lessenich (siehe zuletzt Denninger et al. 2014), kann die Europäische Ethnologie hier Ansätze liefern, um den Blickwinkel von der reinen Struktur- und/oder Diskursanalyse drohender oder eingetretener Altersarmut auf die unterschiedlichen alltäglichen Formen ihrer aktiven Bearbeitung durch die Akteurinnen, zum Beispiel durch Tätigkeits- und Einkommensbricolagen, zu erweitern. Das übergeordnete Forschungsziel unseres Projektes ist es herauszuarbeiten, inwiefern sich geschlechtsspezifische Muster in den individuellen Biografien und damit einhergehende Positionierungen im sozialen Raum im Rentenalter fortsetzen und hier manchmal als Begrenzung und manchmal zugleich als Ressource spezifisch weiblicher Lebenswelten gelten können. Es soll danach gefragt werden, welche konkreten Erwerbs- und Familienbiografien alleinstehende Frauen im Alter prekarisieren und wie sie auf entsprechende Erfahrungen reagieren bzw. diesen vorbeugen. Es geht darum auszuleuchten, auf welche Arbeits- und Tätigkeitsfor-

wenn ich alt bin?« (Brauns 2016), »Die Furcht der Frauen vor der Altersarmut« (Heidenrich/Niewel 2016) oder »Kampf gegen Altersarmut« (Bild 2016).

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men betroffene Frauen dabei zurückgreifen. In der Tradition der Arbeitsethnografie wird ein weiter Arbeitsbegriff zugrunde gelegt, der nicht nur Formen des Gelderwerbs – in diesem Fall nach der Verrentung – einschließt (vgl. Herlyn/ Müske/Schönberger/Sutter 2009). Vielmehr werden auch andere im Alltag entwickelte Tätigkeiten wie emotionale oder reproduktive Arbeit und der Aufbau von Tauschbeziehungen berücksichtigt, durch die im Rentenalter erfolgte Einbußen an Einkommen, sozialer Einbindung und Sinnhaftigkeit kompensiert werden. Arbeit im Alter meint häufig, um ein Ergebnis vorwegzunehmen, den Aufbau und Erhalt komplexer Arrangements einer Lebensführung in relativer Knappheit und Gefährdung, die auch Strategien und Praktiken der kompensatorischen ›Bearbeitung‹ der Auswirkungen der nachlassenden körperlichen Kräfte mit einschließt. Auf der Basis einer Pilotstudie (Gajek 2014) folgen wir dabei der Leitthese, dass die Bewältigungsstrategien von Prekarisierungserfahrungen von der jeweiligen Zusammenstellung von Kapitalsorten (Bourdieu 2009) abhängen. Je nach den spezifischen Kombinationen von vorhandenen Kapitalsorten kann das fehlende ökonomische Kapital in seinen lebensweltlichen Wirkungen abgefedert werden. Entsprechend ist das Forschungsprojekt in zwei Teilprojekte gegliedert. Differenziert nach den Lebensläufen abstiegsgefährdeter Frauen aus der Mittelschicht, insbesondere dem Bildungsbürgertum (Teilprojekt 1), das über spezifische soziale und kulturelle Kapitalien verfügt, und den Biografien unterprivilegierter Frauen (Teilprojekt 2), wird der Frage nachgegangen, inwiefern die milieuspezifische Zusammensetzung der Kapitalien jeweils unterschiedliche Voraussetzungen bietet, Prekarisierungserfahrungen im Alter zu bearbeiten. Wie, wann und von welchen Schichten und Milieus wird der Eintritt ins Rentenalter überhaupt als eine Zäsur oder Schwellenerfahrung erlebt? Verschärft sich mit dem Renteneintritt die Prekarisierung? Welche Lösungsstrategien entwickeln ältere Frauen, um Altersarmut zu begegnen? Wie bewältigen sie Prekarisierungsprozesse und ihre oft ›gebrochenen‹ Erwerbsbiografien? Was bedeutet die veränderte gesellschaftliche Erwartung an ein selbstvorsorgendes und ›aktives Alter‹ (Denninger et al. 2014) für die Lebensstandards und alltägliche Lebensführung von älteren Frauen, für ein Wirtschaften mit vielleicht knappen Mitteln und Zusatzjobs, angesichts eines alternden Körpers und geringer werdender employability? Wie und unter welchen Bedingungen können Frauen ihr potentielles informal knowledge aus überwiegend weiblichen Tätigkeitformen wie der reproduktiven Hausarbeit oder Care-Work im Alter gegebenenfalls marktförmig machen? Es sollen jedoch nicht nur ökonomische Probleme des Lebenserhalts thematisiert werden, sondern auch die Begleiterscheinungen von Prekarität. Diese sind, wie die Prekaritätsforschung immer wieder herausgestellt hat, neben einer nicht

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ausreichenden materiellen Existenzsicherung auch eine fehlende Planungssicherheit, Angst vor Statusverlust, fehlende institutionelle und soziale Einbindung, entsprechend Einsamkeit und fehlende Sinnhaftigkeit des Alltags (Castel/Dörre 2009). Im Alter zeigt sich Prekarität insbesondere auch in dieser sozialen und subjektiven Seite als eine zunehmende oder antizipierte unkalkulierbare Abhängigkeit von Beziehungen, Leistungen (z. B. Ämtern) und von Unterstützungen (Familie, Nachbarn) oder auch von zum Teil teuren technischen und anderen medizinischen Hilfsmitteln. Das Wissen um die Vulnerabilität – materiell, aber auch in Bezug auf die nachlassende körperliche oder psychische Kraft – verstärkt sich im Alter und erfordert spezifische Strategien, sei es eine besonderen Gefasstheit als Haltung der »Alters-Coolness« (Zimmermann 2013) oder der Arbeit an den alltäglichen Bewältigungsstrategien. Aus diesen Problemfeldern erwachsen, so unsere These, spezifische Formen von Agency, d. h. von aktiv geleisteter ›Arbeit‹ am (Über-)Lebensentwurf im letzten Lebensdrittel, die von milieuspezifischen, biografischen und genderspezifischen Dispositionen mitbestimmt werden. Um das weitgehend unbekannte Feld der (Erwerbs-)Arbeit und Prekarisierung im Alter nicht zuletzt auch als Folge weiblicher Lebensläufe und Erwerbsbiografien zu beleuchten, will das Forschungsprojekt biografische Tiefenstudien auf der Basis von teilnehmender Beobachtung und leitfadengestützten narrativen Interviews mit älteren Frauen im Münchner Raum erstellen. Die Stadt München bietet sich dabei als Untersuchungsraum nicht nur aufgrund der lokalen Anbindung des Forschungsprojektes an die dortige Ludwig-Maximilians-Universität an. München ist aufgrund seiner hohen Mieten zudem eine der deutschen Großstädte mit der am stärksten wachsenden Zahl von Altersarmen (Sozialreferat München 2012: 81) und zugleich eine der Städte mit der höchsten Kaufkraft im Großstädtevergleich (Referat für Arbeit und Wirtschaft München 2015: 4). Dieses urbane Setting ist der Rahmen der Untersuchung und bildet spezifische Voraussetzungen für die eventuelle Professionalisierung informeller Tätigkeitsformen (Lindner 2004: 389). Als Untersuchungsgruppe werden Frauen ab circa 65 Jahren, die sich also bereits im Rentenalter befinden oder an der Schwelle zu diesem stehen, ausgewählt. Wir suchen Frauen, die entweder nicht selbständig von ihrer Rente und ihren Ersparnissen leben können und daher auf staatliche Grundsicherung oder zusätzliche Tätigkeiten angewiesen sind und/oder den Übergang ins Rentenalter subjektiv als starken Einschnitt in materieller und sozialer Hinsicht erleben. Diese Kriterien treffen insbesondere auf allein lebende bzw. in einem Haushalt allein wirtschaftende Frauen und solche mit Migrationshintergrund zu: Nahezu 90 Prozent der Münchner Bezieher*innen von Grundsicherung im Alter leben in Einpersonen-

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haushalten (Sozialreferat München 2012: 83), für allein lebende Frauen ab 65 Jahren ist die Armutsgefährdungsquote in Bayern mit 28,3 Prozent besonders hoch (BSMASFF 2012: 348). Personen mit Migrationshintergrund, die 65 Jahre und älter sind, weisen in Bayern sogar eine Armutsgefährdungsquote von 33 Prozent auf (ebd.). Allerdings sind zunehmend, wie unsere ersten qualitativen Erhebungen zeigten, auch Frauen aus den mittleren Schichten betroffen. Über verschiedene Zugänge, insbesondere über eine für die Stadt München spezifische kommunale Einrichtung, die Alten- und Servicezentren, wurden bisher rund 30 Interviewpartnerinnen gewonnen. Erste Ergebnisse, die sich aus diesen Daten ableiten lassen, insbesondere zu den Tätigkeitsformen zur Bewältigung von drohender oder bereits eingetretener Prekarität, werden im Folgenden skizziert. Zunächst sei einleitend ein kurzes Fallbeispiel vorgestellt, das verschiedene charakteristische Befunde vereinigt.

F ALLBEISPIEL : D IE K APITALISIERUNG DES K ÖRPERS Wir4 treffen Frau Tegt in einem der Alten- und Servicezentren, die Kontaktangebote, Fortbildungsprogramme, gemeinsame günstige Mittagessen und auch Sozialberatung für ältere Menschen anbieten, zum Interview. Frau Tegt ist 68 Jahre alt, hat zwei Kinder Anfang 30 und lebt alleine. Sie trägt einen klassischen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt, geschmückt mit einer Goldkette. Das dezente Makeup unterstreicht zudem ihre elegante Erscheinung. Sie spricht mit ruhiger Stimme in einem ›gepflegten‹ Bayerisch. Nichts verrät materielle Bedürftigkeit. Von ihrem Ex-Mann ist sie seit 13 Jahren geschieden. Nachdem er offensichtlich lange fremdgegangen war, hatte sich das Paar getrennt. Frau Tegt kommt ursprünglich aus einem kleinen Ort in Bayern, besitzt einen Hauptschulabschluss – das sei eben damals das Übliche gewesen auf dem Land, meint sie – und zog mit 18 Jahren nach München, wo sie verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen nachging: »Bis zur Rente war ich in der Krankenkasse. Und ich bin ja 2002 geschieden und dann ging es natürlich los, das ist klar. […] ist klar, dass ich jetzt nicht so viel Rente, kann ich irgendwo nicht erwarten, aber ich habe ja trotzdem mein Leben lang gearbeitet, mir fehlen halt acht Jahre mit den Kindern. Das ist klar. Das kommt ja noch dazu. Die Jobs waren ja nicht gut

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In diesem Falle wurde das Interview gemeinsam von Irene Götz und Petra Schweiger geführt, die Namen der Interviewpartnerinnen wurden pseudonymisiert.

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Frau Tegts Arbeitserfahrungen spiegeln eine typisch weibliche ›Normalerwerbsbiografie‹ ihrer Generation wider: Sie arbeitete seit ihrem Schulabschluss bis zur Verrentung, wobei acht Jahre Kindererziehungszeit und anschließende Teilzeitarbeit bis zur Rente diese jetzt schmälern. Hinzu kommen geschlechtsspezifische Lohnunterschiede und die Scheidung vom Ehemann, die zusätzliche Einbußen im Alter mit sich bringen. Zwar entlarvt Frau Tegt diese strukturellen Mechanismen als Ursachen ihrer momentan prekären Lebenslage, die sich auch in anderen ›typisch weiblichen‹ Berufen finde, und spricht ihnen auch eine gewisse Logik zu, diese empfindet sie jedoch als extrem ungerecht. Ihre Haltung im Interview schwankt immer wieder zwischen dem Hadern mit dieser prekären Lage und einer gefassten (Selbst-)Rechtfertigung und Anerkennung des »Es war eben nicht anders möglich« und »den anderen ging es ja genauso«. Auch wenn sie sich irgendwie damit abfindet, würde sie ihre persönlichen Erfahrungen nicht namentlich publik machen, geschweige denn ihre Kinder, zu denen sie zumindest in einem Fall ein enges Verhältnis pflegt, um Unterstützung bitten: »Nein. Die wissen nix. […] Nein. Da sage ich nichts. Ja. Ja, das wäre, also das möchte ich nicht. […] Ja mei, ich komme ja zurecht. […] Die sehen das, ich komme zurecht, ja. Ich habe zwar mal gesagt, ja, kleine Rente und so, aber wie gesagt, ich würde das auch nicht sagen.« (Frau Tegt, Interview vom 12.03.2015)

Vielmehr versucht Frau Tegt sich selbstständig zu helfen, indem sie trotz eines vermeintlichen gesellschaftlichen Rechts auf Ruhestand weiter arbeitet, denn ihre Lebenshaltungskosten könnte sie mit ihrer Rente alleine nicht decken. Gerne hätte sie ihre Tätigkeit als Sachbearbeiterin in der Krankenkasse trotz Eintritt ins Rentenalter fortgesetzt, dies wurde ihr von Seiten des Unternehmens jedoch nicht gestattet. Nach mehreren Bewerbungen fand sie schließlich eine geringfügig bezahlte Beschäftigung in einer Marktforschungsagentur. Dort arbeitet sie zwei Abende in der Woche im Bereich der Kundenakquise. Das ständige Telefonieren bereitet ihr jedoch zunehmend körperliche Beschwerden, warum sie erneut versucht, eine andere Stelle zu finden, bisher jedoch vergeblich:

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»Ich schaue halt und suche. Aber du kriegst nichts mehr. Ich habe mich mittlerweile, glaube ich, drei oder vier Mal beworben. Ging aber nichts, keine Chance. […] Weil die Jüngere wollen. Ja klar. Ja mit 68, da sagen die, die ist zu langsam, die kann das nicht, bis die einlernt, oder was weiß ich. Und da kommt eine mit 50. […] Ja, das ist mir klar. Wenn da eine 50-Jährige kommt, oder 45-Jährige, dass sie die nehmen. Ist ja gar keine Frage. […] Ja, hast keine Chance mehr. Also ich kann nur noch in der Telefonakquise. Mit dem Alter hast du keine Chance. Also in der Telefonakquise ist klar, da kriegst immer was, weil da sieht dich ja keiner in dem Sinne, musst halt stundenlang telefonieren. Aber das geht natürlich schon an die Substanz. Da gehe ich raus, da bin ich fertig.« (Frau Tegt, Interview vom 12.03.2015)

Frau Tegt führt ihre Erfolglosigkeit bei der Arbeitssuche auf ihr Alter zurück. Sie interpretiert dies als ungleiche Verteilung von Zugängen zum Arbeitsmarkt. Dort wird dem alternden Körper einerseits eine geminderte Leistungsfähigkeit zugeschrieben, andererseits wird er aber nicht entlastet im Sinn eines ›wohlverdienten Ruhestandes‹, sondern aus vermeintlich ästhetischen Gründen lediglich ins ›Hinterzimmer‹ verbannt. Der alternde Körper bleibt demnach weiterhin Teil einer kapitalistischen Verwertungslogik – jedoch hinter den Kulissen. So gesehen kommt es hier zu einer typischen Form von ageism: Frau Tegt wird auf Grund ihres Alters eine vollwertige Teilnahme am Arbeitsmarkt abgesprochen, von manchen Berufsbranchen wird sie altersbedingt gar komplett ausgeschlossen. Dass diese Erfahrung keine individuelle ist, belegen die gängigen Vorurteile und Praktiken des Ausschlusses gegenüber älteren Arbeitnehmer*innen, deren »Autonomie, Zurechnungs- und Belastungsfähigkeit in Frage gestellt wird« (van Dyk 2016: 127). Dieses Fallbeispiel lässt darüber hinaus auf intersektionale Exklusionsmechanismen schließen, die das betrachtete Feld durchdringen. Wie gezeigt wurde, greifen insbesondere die Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Alter‹ ineinander und produzieren Mehrfachdiskriminierungen. Diese sind der betreffenden Person zwar bewusst, werden jedoch nicht einmal der eigenen Familie gegenüber thematisiert, sondern vielmehr individuell ver- und bearbeitet. Durch die alltägliche Performanz – beispielsweise eine bestimmte Art und Weise sich zu kleiden oder das Ausüben einer Erwerbstätigkeit trotz Ruhestand – wird versucht, die eigene prekäre Situation zu bewältigen und gleichzeitig zu verheimlichen. Auch wenn sie durchaus strukturelle Bedingungen als Kontext für ihre geringe Rente anerkennt, scheint sie sich zu schämen, wenn sie ihre materiellen Engpässe vor den Kindern verheimlicht, so als ob sie selbst eine Schuld oder Mitschuld habe. Der Mangel an ausreichendem Kapitalvolumen, um auf Pierre Bourdieu zurückzukommen, wird hier durch die Kapitalisierung des Körpers kompensiert. Wenn sie mit dem Risiko weiteren körperlichen Verschleißes Telefonakquise betreibt, wird der Körper zur

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letzten ausbeutbaren Ressource, zum »Austragungsort existenzbedrohter Lebenswelten« (Rau 2016: 83). Noch gibt sich Frau Tegt, zumindest im Interview, optimistisch, ihre körperliche Verfassung und Zukunftsängste machen ihr jedoch deutlich zu schaffen: »Es ging ja immer, wenn ich nebenbei jobbe, komme ich ja um die Runden, so ist es ja nicht. Die Gefahr ist halt, wenn ich nicht mehr kann. Und das ist das, was mich nicht mehr schlafen lässt.« (Frau Tegt, Interview vom 12.03.2015)

F ORMEN VON ARBEIT UND T ÄTIGSEIN IM PREKÄREN R UHESTAND Wie die Bremer Sozialwissenschaftlerin Anna Hokema auf Basis qualitativer Interviews herausarbeitete (vgl. Hokema 2014: 35), sind die Motive, im Alter (weiter) zu arbeiten, generell vielfältig. Sie reichen von materiellen Gründen über Spaß und Freude an der Arbeit bis zum Erhalt des sozialen Prestiges. Auch geht es darum, aktiv zu bleiben und weiter dazuzugehören oder gebraucht zu werden. Es gibt sowohl egozentrische als auch altruistische Gründe; dabei wird die soziale Integration durch Arbeit häufig genannt, aber auch die Bewahrung biografischer Kontinuität. In den insgesamt 47 Interviews mit 24 Frauen und 23 Männern aus unterschiedlichen Einkommens- und Qualifikationsniveaus (aus Deutschland und England)5 zeigten sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern; und meist spielten mehrere Motive eine Rolle, die nicht selten Widersprüche aufwiesen. Allerdings lieferte dieses Bremer Projekt zwei für unsere Studie wichtige Anhaltspunkte: Je höher der Bildungsgrad und das frühere Einkommen, desto eher arbeitet man im Alter auch weiterhin im eigenen Beruf (abgesehen davon, dass in England generell im Alter aufgrund der niedrigeren Grundrenten häufiger die Renten aufstockende Erwerbsarbeit ausgeübt wird als in Deutschland). Dies gilt nicht nur für Freiberuflerinnen und Freiberufler, wie etwa Ärzte und Ärztinnen, die zumindest eine Privatpraxis weiterführen dürfen, sondern auch für Professor*innen oder Psychoanalytiker*innen, um nur einige Beispiele zu nennen (Margarete Mitscherlich als berühmtes Beispiel hierzulande praktizierte noch mit über 90 Jahren). Hier spielen Erfahrung als geschätztes Gut und andere kulturelle Kapitalien eine große Rolle. Die privilegierten Schichten und Berufe bleiben oft länger gesund, sind materiell versorgt und können es sich, wie etwa Professor*innen mit guter

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Siehe zu diesem ländervergleichenden Ansatz im Bremer Projekt auch Scherger (2013).

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Pension, offensichtlich leisten, aus Neigung und Leidenschaft für ihre Arbeit weiter tätig zu sein, so dass hierfür – im Unterschied zu den unterprivilegierten Rentner*innen – oft gar nicht finanzielle Gründe den Ausschlag geben dürften. Ein weiterer für unsere Studie wichtiger Befund der Bremer Forschergruppe verweist darauf, dass geschiedene Frauen im Alter einen Sonderfall insofern darstellen, als sie vor allem aus materiellen Gründen erwerbstätig bleiben müssen. Der – allerdings nicht repräsentativen – Bremer Befragung zufolge maßen die Frauen der heutigen Rentnerinnengenerationen ihren Finanzen und einer eigenen Rentenplanung erst nach der Scheidung eine hohe Bedeutung bei. An diesem lebensgeschichtlichen Wendepunkt entwickelten sie eine deutliche Arbeitsorientierung und wurden zu »aktiven Managerinnen ihrer eigenen Lebenssituation« (Hokema 2014: 36). Diese beiden Befunde bestätigen sich auch in unseren ersten Befragungen und belegen einmal mehr, wie wichtig es ist, speziell der Gruppe der allein wirtschaftenden älteren Frauen ein eigenes Projekt zu widmen. Trotz ihrer prekären Bedingungen fanden sich in allen der 20 von uns befragten Fällen des bisherigen Samples solche je individuell ausgeformten Kombinationen von materiellen und sozialen Motiven für das (Weiter-)Tätig-Bleiben. Einige Formen von Arbeit und Tätigsein werden hier kurz skizziert.

»W EITERARBEITEN «. D IE S ICHERUNG VON E XISTENZ UND LEBENSGESCHICHTLICHER K ONTINUITÄT DURCH ARBEIT Erwerbstätig bleiben im eigenen Beruf dient dazu, die Kontinuität und Kohärenz der Biografie zu erhalten, sich nicht im sozialen Rückzug »nach der Rente« zu erfahren. Dieses einfach Weiterarbeiten aus identitären Gründen betrifft jedoch nicht nur die besser gestellten (freiberuflichen) Rentnerinnen und Rentner, sondern auch gerade alleinstehende Frauen, bei denen die Rente schlichtweg zu gering ist, um aufzuhören. Dies reflektiert eine von uns interviewte weiterhin freiberuflich tätige Körpertherapeutin, bei der die Erwerbsarbeit im Sinne des Existenzerhalts, wie von Hokema festgestellt, nach der Scheidung im mittleren Lebensalter erst richtig eingesetzt hat. Frau Faerber ist eine sehr zierliche Frau mit Osteoporose bedingten Problemen beim Gehen, weshalb sie außerhalb des Hauses einen Gehstock benutzt. Die 73Jährige tritt uns, von ihrem ganzen Erscheinungsbild her, gleichwohl als überaus agile, reflektiert und lebhaft sprechende Frau entgegen; sie empfängt uns am Ort ihres gegenwärtigen Wirkens, in einem Vereinshaus, das sie kürzlich trotz ihrer Beschwerden noch weitgehend allein renoviert hat. Frau Faerber hatte ursprüng-

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lich Grundschullehramt studiert. Mit den rasch hintereinander geborenen drei Kindern hörte sie nach insgesamt drei Jahren Berufserfahrung Anfang der 1970er Jahre auf, als Lehrerin zu arbeiten; mit ihrem Engagement im Kinderladen war sie ausgelastet, ihr Ehemann war Arzt in einem Krankenhaus. Frau Faerber hatte immer zuhause etwas dazuverdient, indem sie Stoffe gebatikt und daraus Kleider entworfen und genäht und für eigene Ausstellungen vorbereitet hat. Das konnte sie neben der Versorgung der Kinder gut leisten. Die Kinder liefen einfach mit, auch wenn es ihnen »immer gegraust« habe, wenn die Mutter gefärbt und gleichzeitig gekocht habe: »wir wollen keine blauen Nudeln«, hätten die Kinder gesagt, meint sie lachend. Erst nach der Scheidung wurde Frau Faerber wieder in einer angestellten Position im Kreativbereich auf einer Teilzeitstelle erwerbstätig. Sie selbst hat kaum Unterhalt vom Ex-Ehemann bekommen. Er habe während der Ehejahre nicht in die Rentenversicherung einbezahlt, ein »gestörtes Verhältnis zu Geld« gehabt, musste später nachzahlen, allerdings nach der Scheidung, deshalb stehen Frau Faerber noch Rentenausgleichszahlungen zu, die sie aber bisher, wohl auch aus Stolz, es allein zu schaffen, oder weil sie überhaupt ungerne bittet, nicht eingefordert hat. Dass Frauen, jedenfalls in deren Retrospektion, als Verliererinnen aus den Scheidungen der 1970er und 1980er Jahre hervorgingen, weil sie sich schlecht beraten oder mit zu wenig Geld abgefunden fühlten oder sogar für die Ehemänner aufkommen mussten, durchzieht als dominantes Narrativ leitmotivisch viele unserer Interviews. Frau Faerber, die über verschiedene psychotherapeutische Fortbildungen zur Körpertherapie gekommen ist, bezieht eine Rente von etwa 690 Euro, die sie durch ihre Klienten und einen Minijob in einem Verein aufstockt, der sich mit Körperarbeit befasst. Körpertherapie ist für Frau Faerber, die in ihrer intellektuellen Haltung im 68er-Milieu sozialisiert wurde und über jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Selbsterfahrungspraktiken verfügt, gleichwohl nicht nur Arbeit, um die Existenz zu bewältigen, um Wohnnebenkosten und Versicherungen zu bezahlen oder den Enkeln mal ein Geschenk mitzubringen, sondern diese therapeutische Tätigkeit ist ihr auch eigene innere Ressource, Überzeugung, Mission. Auch deshalb hat sie weiterhin Klienten, die sie in ihrer Wohnung empfängt, und nebenbei einen Minijob in diesem Metier. Überdies betreut sie regelmäßig eines der Enkelkinder, will aber, explizit von uns danach gefragt, von den eigenen Kindern »nichts nehmen«, außer Geschenke zu Weihnachten, die dann auch mal großzügiger ausfallen. Ihre Familie bezeichnet sie neben engen Freunden als wichtige, Halt gebende Institutionen. Auch materiell hilft ihr beim (Über-)Leben, dass ihre wohlhabende Schwester ihr günstig deren Eigentumswohnung zu einer geringen Miete überlässt.

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Mit wenig auszukommen, das hat sie als ›Kriegskind‹ gelernt. Auch bezüglich dieser Fertigkeit des sparsamen Wirtschaftens zeigt sich eine Kontinuität der Lebensführung, die sie als Ressource begreift: Nach ihrer Scheidung mit drei kleinen Kindern habe sie dann »sehr viel gearbeitet […]. Ich bin schon so erzogen, eher sparsam umzugehen [an anderer Stelle betont sie als Kriegskind nichts wegwerfen zu können], also nicht, hatte ich auch nie groß die Möglichkeit, groß Geld auszugeben, aber ich musste mich nie extrem einschränken. Also das, vielleicht mit den Kindern nach der Trennung, da war es schon, da blieb uns nicht viel zum Leben übrig, aber ich bin immer zurechtgekommen.« (Frau Faerber, Interview mit I. G. und P. Sch. vom 15.01.2015)

Diese biografisch ausgebildete Bescheidenheit in einem Leben mit Einschränkungen und das Überbrücken von materiell schwierigen Situationen durch ein geschicktes Knappheitsmanagement zeichnet sich als ein weiteres vorläufiges Leitmotiv dieser Interviews mit Vertreterinnen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ab. Sie haben überdies durch Hausarbeit und hausarbeitsnahe Ausbildungen gelernt zu wirtschaften und zeigen oft ausgeprägte hauswirtschaftliche Fertigkeiten und manchmal auch besondere diesbezügliche Neigungen, die sich wiederum als Kapital in Tauschbeziehungen einbringen lassen. Allerdings wurde hier meist im informellen Sektor gearbeitet, ›dazuverdient‹. Gelderwerb stand und steht – in besonders ausgeprägter Weise bei Frau Faerber, die generell auch sehr antimaterialistisch eingestellt ist – nicht im Vordergrund: Geld und materielle Werte bedeuten ihr, der ›68erin‹, weniger als geistiger Austausch, tiefe Erfahrungen, Gefühlsauthentizität und Selbstentwicklung.

M INIJOB : N ACH »R AUSKICK « SOFORT GEARBEITET – W IE LANGE NOCH ?

WIEDER

Minijobs sind unter Rentnerinnen und Rentnern ein zunehmendes Beschäftigungsmodell auch in Deutschland (Buls 2014). Anders als Frau Tegt gelingt es der 73-jährigen, ebenfalls geschiedenen Frau Kratzer als ehemaliger Lektoratsassistentin auf Basis eines Minijobs nach der unfreiwilligen Frühverrentung (dem »Rauskick«) in ihrem alten Verlag als Telefonistin stundenweise weiterzuarbeiten. Frau Kratzer hat sich auf das Gespräch mit uns, zu dem sie uns in ihrer kleinen Eigentumswohnung voller alter Möbel und Bücher empfängt, offensichtlich sehr gut vorbereitet. Sogar ihr Haushaltsbuch und ihre sorgsam abgehefteten Rentenbescheide dürfen wir einsehen, und sie referiert uns in wohl formulierten langen

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Erzählsequenzen ihr Leben, so als hätte sie längst darauf gewartet, dass sich endlich jemand für die Ungerechtigkeiten des (Arbeits-)Lebens, aus denen sie sich immer wieder mit Standhaftigkeit und Zivilcourage herausmanövriert hat, interessiert. Sie stellt sich als gewitzte Akteurin dar, die den Männern – vom Ex-Ehemann bis zum Vorgesetzten, der sie in Frührente schicken wollte, – immer ihre hartnäckige Widerständigkeit entgegensetzte, auch wenn sie viel einzustecken hatte. Ihren im Krieg gefallenen Vater hat sie nie kennengelernt; trotz der Härte der Zeit hätte sie beinahe das Abitur gemacht, wenn da nicht ein sexuell übergriffiger Lehrer gewesen wäre, dem sie entfliehen musste; keiner habe geholfen, alle hätten weggesehen – diese Erfahrungen schildert sie ausführlich in den beiden mit ihr geführten Interviews. Stolz berichtet sie von ihrer Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin, die ihr sofort ein sehr gutes Gehalt einbrachte. Für die damalige Zeit, Mitte der 1960er Jahre, waren 900 DM, zumal für eine junge Frau mit gerade abgeschlossener Ausbildung, ein wirklich gutes Monatsgehalt, wie Frau Kratzer betonte. Ihre Ehe wurde früh geschlossen, »nicht aus wahnsinniger Überzeugung«, sondern um eine Wohnung zu bekommen – sie verweist auf den in den 1960er Jahren noch gültigen ›Kuppelei‹-Paragraphen6; es war praktisch unmöglich, unverheiratet zusammenzuwohnen. Nach Gewalterfahrungen mit dem alkoholkranken Ehemann ließ sie sich scheiden. Wie Frau Faerber und Frau Tegt hat auch Frau Kratzer »immer gearbeitet«, aber zwischen 1974 (Geburt des ersten Kindes) bis in die frühen 1980erJahre, als das zweite Kind in den Kindergarten kam, habe sie »nur auf Rechnung« gejobbt, ohne in die Rentenkasse einzuzahlen. Danach war sie, als die Kinder klein waren, auf Teilzeitbasis in dem Münchner Verlag beschäftigt und zog die Kinder zusammen mit ihrer Mutter auf, die ihr auch finanziell durch geschicktes Wirtschaften half, die Eigentumswohnung zu erwerben, diese teuer möbliert zu vermieten und selbst in einer kleinen Wohnung zur Miete zu wohnen. Als sie 2008 mit 64 in Frührente gehen sollte, handelte sie stolz und kämpferisch eine Abfindung heraus, und sie dachte, »das war es jetzt ja wohl«. Dann kam ein Anruf der Buchhaltungsleiterin des Verlages: »Hockst Du jetzt zuhause rum?« Und dann habe sie drei Jahre auf elf Euro Stunden-Basis in der Buchhaltung gearbeitet. Kurz vor dem 70. Geburtstag kam erneut ein Anruf aus ihrem alten Verlag und sie kehrte, sich gebraucht fühlend, noch einmal, jetzt dank ihrer Fremdsprachenkenntnisse als Rezeptionistin, in ihren alten Betrieb zurück. Sie war zum Zeitpunkt des ersten Interviews im November 2014 weiterhin als Arbeitskraft gefragt, konnte sich beweisen. Die Minijobs wurden ihr schließlich immer regelrecht

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Vgl. § 180 Stgb, der die Förderung sexueller Handlungen anderer aus Gewohnheit oder Eigennutz (z. B. um eine Wohnung zu vermieten) bis 1973 unter Strafe stellte.

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angetragen, sie wurde »zurückgeholt«. Dies empfindet sie als weiteren kleinen Sieg im Kampf um Anerkennung. Die Arbeit brachte und erhielt zudem ihr soziales Kapital. Begeistert schwärmte sie von den interessanten Kontakten: Es riefen Journalisten an und alte Autoren, die ihr ein Gefühl der Kontinuität und Bedeutung gaben. Arbeit strukturiert nicht nur den Alltag sinnhaft, sondern fügt auch in eine Gemeinschaft ein und vermittelt Anerkennung – diese Motive stehen im ersten der beiden geführten Interviews deutlich im Vordergrund. Doch genauer nachgefragt, stellte sich auch heraus, dass Frau Kratzer trotz vergleichsweise hoher Rente nach lebenslanger Erwerbsarbeit (1050 Euro plus 70 Euro ›Mütterrente‹) und der abbezahlten kleinen Eigentumswohnung den Minijob seinerzeit, Ende 2014, noch brauchte. Wie eng gestrickt ihr Budget damals war, belegte sie mit dem Verweis auf einen Dispokredit von 3400 Euro, einst aufgenommen, um von der Hausgemeinschaft geforderte Reparaturen am Haus mittragen zu können. Diesen schob sie Monat für Monat vor sich her, ohne ihn zurückzahlen zu können. Im zweiten Interview, im Februar 2016, hatten ihre beiden Kinder den Dispokredit für sie beglichen. Denn inzwischen hatte sie einen Schlaganfall erlitten, der dazu führte, dass sie auch ihren Minijob, der ihr zum Zeitpunkt des ersten Interviews aufgrund von Schulter- und Rückenproblemen bereits schwer gefallen war, aufgab. Dies war ihr aber, wie sie betonte, nicht mehr schwer gefallen, weil sich die Verlagsarbeit nach einem Verkauf des Verlages doch sehr stark verändert habe und ihre ehemaligen Kollegen und die alten Autoren nicht mehr da seien. Die fehlenden finanziellen Einbußen kompensiert sie seither durch noch geschickteres Sparen, etwa beim Einkauf von Lebensmitteln. Nach ihrem Schlaganfall befindet sie sich, wie sie im zweiten Interview mit vielen Beispielen belegte, in einer Phase des Rückzugs; ihr Bewegungsradius wird eingeschränkter, sie kann nicht mehr so gut gehen und sie beginnt, sich auf wesentliche Freundschaften zu konzentrieren, die sie nun vor allem in ihrem Rückzugsraum der eigenen Wohnung empfängt. Dieser Rückzug fällt ihr nicht immer leicht; an einer Stelle im zweiten Interview spricht sie sehr bewegt von der psychotherapeutischen Unterstützung, die sie sich wohl wegen Depressionen vorübergehend geholt habe.

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Z WÖLF K ILO V ANILLEKIPFERL GEGEN B ALKONSTREICHEN : I NFORMELLE (T AUSCH -)Ö KONOMIEN UND P RAKTIKEN DES S PARENS Für Frau Kratzer bietet die Arbeit auch andere Vorteile: Man kann im Verlag Zeitungen lesen (spart das Abo), aus einer Bücherkiste umsonst Bücher mitnehmen (sie verschenke praktischerweise, aber wohl auch aus Überzeugung, nur Bücher ihres Verlages, die auch in Reih und Glied ihre Bücherregale zieren). Auch rekrutierte sie einen Teil ihrer Möbel aus den abgestoßenen Regalbeständen des ehemaligen Arbeitgebers. Wie andere unserer Interviewten hat sie Praktiken des Tauschens von Dienstleistungen und Waren in einem ausgeklügelten Netzwerk entwickelt. Ihre eigene Wohnung wird im Rahmen dieses Netzwerkes, in dem Geben und Nehmen in ständiger Praxis austariert wird, wie sie stolz sagt, »Umschlagplatz« für die Kleidung von »reichen« Bekannten, die sie z. B. über die ehemalige Schule ihres Sohnes kennt. Eine andere Bekannte, eine ehemalige Autorin des Verlages, gibt ihr ebenfalls ausrangierte teure Kleidung. Sie nimmt sich hier für ihre Tochter und sich selbst gute Stücke heraus und reicht andere mit Genugtuung über ihre Schlüsselfunktion in diesem Tauschsystem an bedürftige Bekannte weiter: »Ich bin die Zentralstelle hier!« (Frau Kratzer, Interview mit I. G. und P. Sch. vom 03.11.2014) Auch andere Interviewte sind in solche Tauschformationen eingebunden, nehmen Kleidung von Freundinnen an oder waren sogar in formellen Tauschbörsen aktiv. Eine diesbezüglich besonders rührige Interviewte, die einem Tauschring vorsteht, bäckt zu Weihnachten immer kiloweise Vanillekipferl, für die sie in der Währung der Tauschbörse Punkte sammelt, um dann einmal eine Fahrt zum Flughafen oder den Anstrich ihres Balkons als Gegenleistung einlösen zu können. Von allen Interviewten werden überdies Gratisangebote genutzt. Frau Lang, 66 Jahre alt, studierte Lehrerin, hatte halbtags im Reisebüro gearbeitet und wurde früh verrentet: »Ich versuche eben, Konzerte zu finden die, es gibt ja auch welche mit Eintritt frei, so Kirchenkonzerte, da gehe ich hauptsächlich hin.« (Frau Lang, Interview mit E. G. vom 11.03.15) Eine gängige Praxis des Sparens besteht darin, Substitutionen zu suchen: Frau Flossmann, 65, Bürokauffrau und zuletzt Sachbearbeiterin, hat eine relativ hohe Rente, trotzdem leidet sie unter starken finanziellen Einschnitten im Ruhestand: »Ja, dann, also und ich weiß nicht, ich habe zum Beispiel 30 Jahre lang die SZ [Süddeutsche Zeitung] abonniert. Das habe ich natürlich gekündigt. Das war mir dann […]. Das kostet ja hier mittlerweile ein Schweinegeld. Leider, aber kann man nichts machen. Aber ab und zu

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kaufe ich sie mir. Da stehen immer Sachen drin, Konzerte und so, wo dann da steht ›Eintritt frei‹ oder so von der Uni, Musikhochschule oder so.« (Frau Flossmann, Interview mit E. G. am 31.03.2015)

So hat Frau Flossmann auch das Theater-Abo gekündigt und den Schwimmkurs: »jetzt dienstags in ein anderes Bad, da ist der Kurs umsonst«. Auch der Turnverein wurde bereits aufgegeben und die sportliche Betätigung durch tägliches Spazierengehen substituiert. Sparsam gewirtschaftet wird bei manchen der Interviewten, indem die gewohnt qualitätsvolle Kleidung secondhand gekauft oder die aus besseren finanziellen Zeiten stammende teure Kleidung gepflegt wird: »Bis zum Ende reichen meine Sachen«, meinte Frau Faerber lachend (Frau Faerber, Interview mit I. G. und P. Sch. vom 15.01.2015). Die Fertigkeiten, die sich die Frauen im Feld der Reproduktionsarbeit oder im Erwerbsleben, das meist in Teilzeit durchgeführt wurde, angeeignet haben, werden hier in die informelle Ökonomie eingespeist. Die Wohnung wird in mehr als einem Fall nicht ausreichend beheizt, wird jedoch nicht zugunsten einer kleineren aufgegeben. Die Frauen können nicht wirklich Sparguthaben ansammeln, weil ihnen kein Bargeld zum Sparen übrig bleibt. Auch wollen sie sich nicht zu sehr einschränken, weil sie die Begrenztheit ihrer verbleibenden Lebenszeit im Blick haben, deshalb muss ein Kaffee oder Frisörbesuch im Hier und Jetzt möglich sein. Nicht jede der bislang interviewten Frauen kann noch dazuverdienen. Nach sieben Jahren an einer Supermarktkasse sind bei einer 64-jährigen ehemaligen Managerin, die, mit Mitte 50 arbeitslos geworden, ihre Zeit bis zur (Früh-)Rente als Kassiererin überbrückte, beispielsweise die Gelenke verschlissen. Sie hatte überdies mit massivem Mobbing durch Kolleginnen im Supermarkt zu kämpfen, die sie, die wohl »etwas Besseres« sei und »Arbeit nicht nötig« habe, immer wieder ausgrenzten und auflaufen ließen. Die Verrentung wird jetzt zunächst als ›Ruhestand‹, als dringend nötige Zeit der Regeneration begriffen und Erspartes aufgebraucht. Eine andere Interviewte, eine 70-jährige ehemalige Krankenschwester, ist mehrfach immobilisiert und durch berufsbedingte Krankheiten ›verbraucht‹, wie sie immer wieder betont, und entsprechend frühverrentet worden. Einmal mehr verdeutlichen diese Fälle auch die Grenzen einer Kapitalisierung des Körpers.

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F AZIT : V ORLÄUFIGE E RGEBNISSE Arbeit bedeutet für die interviewten älteren Frauen, so viel ist bei einer ersten Sichtung des Materials deutlich geworden, meist nicht im engeren Sinne Erwerbsarbeit. Einige wenige, insbesondere die besser qualifizierten, die Körpertherapeutin Frau Faerber etwa wie auch die Lektoratsassistentin Frau Kratzer oder eine freischaffende Künstlerin, können allerdings in ihrem früheren Arbeitsfeld weiter aktiv bleiben, vorausgesetzt der Körper als Ressource lässt dies noch zu. Oft gelingt dieser Verbleib im bisherigen Tätigkeitsfeld auf der Basis von Freiberuflichkeit oder eines Minijobs. Manchmal, wie bei Frau Tegt, sind die Minijobs jedoch einfache Tätigkeiten in einer anderen Branche, da die Verrentung im alten Betrieb unabänderlich war. Manche Frauen sind (zusätzlich) ehrenamtlich tätig, wobei dieses Ehrenamt – drei Interviewte arbeiten etwa als Seniorenhelferin – mit der Aufwandsentschädigung durchaus auch als willkommener oder nötiger Zusatzverdienst fungiert, wie sie bereitwillig aussagten. Auch bei anderen Tätigkeiten, wie dem Aufbau und der Pflege von Tauschökonomien, mischen sich soziale und monetäre Motive: Es geht den Frauen vor allem auch darum, mit anderen Menschen Kontakt zu haben und sich gebraucht zu fühlen. Des Weiteren sind auch Formen der ›Schnäppchenjagd‹, aktives Sparen und Verzichten, das Unsichtbarhalten eines ›Abstiegs‹ weitere Stichworte, die auf Haltungen und Praktiken, Strategien und Taktiken verweisen, die dazu dienen, Arrangements zu schaffen, die einen Alltag mit materiellen oder physischen Einschränkungen zu bewältigen helfen. Manchmal sind nur noch wenige Jobs oder in anderen Fällen, z. B. aufgrund der nachlassenden körperlichen Kraft oder physischer Einschränkung, gar keine mehr möglich. Entsprechende Angebote fehlen, Ältere werden mit Renteneintritt aus ihrem bisherigen Arbeitsumfeld entlassen oder in anderen Fällen nicht mehr eingestellt, oder aber sie sind zu ›verbraucht‹, wie es eine ehemalige Krankenschwester immer wieder im Interview betonte, um noch beruflich tätig zu sein. Andere sind gezwungen, in ungeliebten, beschwerlichen Jobs, die aus der Not geboren sind, trotz gesundheitlicher Beschwerden an ihre körperlichen Grenzen zu gehen. Arbeit ist weit mehr als Erwerbsarbeit, gerade auch dort, wo sie Dienste innerhalb der eigenen Familie (vor allem die Enkelkinderbetreuung) beinhaltet – eine Tätigkeit, die als erfüllende, notwendige, selbstlose und selbstverständlich ›unbezahlte‹ Arbeit – oder eigentlich gar nicht als Arbeit begriffen wird. Die Hausarbeit allerdings, die, wie viele betonten, allmählich langsamer von der Hand gehe und mühevoller werde, wird jetzt zunehmend als (harte) Arbeit begriffen. Bei manchen

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kommen noch Gänge zu Ärzten, Physiotherapeuten, unterstützenden Einrichtungen und Ämtern hinzu. Die Durchsetzung der eigenen Interessen, etwa finanzielle Unterstützung durch eine Aufstockung der geringen Rente durch Grundsicherung, wird bisweilen als regelrechter Kampf mit den zuständigen Ämtern erlebt. Sich hierfür Unterstützung und Beratung, etwa bei einem der Alten- und Servicezentren, zu holen, sich zu informieren, Formulare und Anträge auszufüllen, alles das wurde von Frauen, die Grundsicherung beantragt haben, als besonders mühsame Arbeit erlebt, die sich überdies mit Schamgefühlen, diese Unterstützungen zu benötigen, und Erniedrigungsgefühlen durch die Mitarbeiterinnen der einschlägigen Ämter verbindet. Der Renteneintritt bringt selbst bei relativ gut verdienenden Frauen oft erhebliche Einschränkungen: Kündigung von Abonnements, Aufgabe von Hobbies, keine Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr, Einschränkung von Sozialkontakten, Reduzierung beziehungsweise Aufgabe von Reisen, Rückzug in die eigenen vier Wände, Reduzieren des Heizens; oder es werden nötige medizinische Eingriffe nicht mehr gemacht. »Oder jetzt mit dem Öffentlichen fahren, kann ich mir gar nicht leisten. Da überlege ich mir, was ich mache. Verstehen Sie? Das kriegen auch die, die Sozialhilfe kriegen. Die haben oft mehr und leben locker mit der. Ich heize ja im Winter nur einen Raum, kein Bad, kein Schlafzimmer, nichts […]. Strom spare ich auch. Ich spüle einmal in der Woche, meine Spülmaschine mache ich voll. Einmal in der Woche wasche ich, aber ich habe eine neue Waschmaschine. Die fasst 6 kg, da kann ich viel reinhauen. Also und ansonsten wird das Licht ausgedreht, und Fernsehen hat man halt.« (Frau Heller, Interview mit E. G. am 17.04.2015)

Hier deuten sich viele Praktiken des Sparens an, und das bei ca. 1000 Euro monatlicher Rente, die die hier zitierte 68-jährige ehemalige Strickerin und Bürokraft bekommt. Auch für sie trifft zu, was für andere Befragte gilt: Die Scheidung hat hohe Summen verschlungen; dadurch angefallene Schulden lassen sich nur mühsam zurückzahlen. Insgesamt lässt sich nach den bisherigen Befunden ferner festhalten, dass sich die Vulnerabilität und Prekarisierungserfahrung verstärken durch:     

körperlichen Verfall, Verschärfung der aktuellen Krankheiten Abhängigkeiten (Kinder, Pflegedienst und Versorgungsleistungen) Willkür (Ämter) Mieterhöhung (auch bei höherer Rente) Aufbringen der Kosten für ein Pflegeheim (auch bei höherer Rente)

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 

Tod des Partners oder frühere Scheidung.

Als weitere, die Armutsgefährdung verschärfende Faktoren zeigten sich ein niedriges Qualifikationsniveau in Kombination mit geringen Zeiten der Berufstätigkeit und Teilzeitarbeit, geringe Deutschkenntnisse, geringe Sozialkontakte (v. a. aus der Zeit der Berufstätigkeit), aber auch lediglich lose Kontakte zu Kindern und Familie. Keine eigene Familie (mehr) zur Verfügung zu haben, aber auch erzwungene Umzüge im Alter wirken sich negativ aus, wie des Weiteren auch fehlende Ersparnisse beziehungsweise ein fehlendes Erbe. Die Kriegs- und Nachkriegskinder konnten hier einerseits auf wenig materielle Unterstützung von ihren Eltern zurückgreifen und waren andererseits durch ihr Knappheitsmanagement von früher Jugend an in gewisser Weise in Bezug auf materielle Einschränkungen resilient. Ein Problem für alle sind letztlich die hohen Kosten im Single-Haushalt (meist nach einer früheren Scheidung). Umgekehrt erleichtert ein gutes Verhältnis zu den Kindern und der weiteren Familie die Situation. Ein Leitmotiv, das alle Interviews durchzieht, ist der Umstand, dass Geben an die nachfolgende Generation ein großes Bedürfnis darstellt. Es herrscht große Traurigkeit, wenn dies nicht mehr möglich ist. Bisweilen entsteht bei den befragten Frauen der Eindruck, dass sie die Kinder und Enkel z. T. wichtiger nehmen als sie sich selbst, was sowohl als eine Ressource für die Gefasstheit im Umgang mit den im Alter oft schwächer werdenden Kräften, mit Schmerzen, sozialen Verlusten und materieller Knappheit aufgefasst werden kann, als auch gelegentlich und in manchen Fällen als eine Form der Selbstgenügsamkeit und geradezu Selbstverleugnung, die der Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder zu eigen geworden zu sein scheint. Hinzu kommt die Scham mancher Frauen, gerade den Kindern oder Familienangehörigen gegenüber die Armut oder Bedürftigkeit einzugestehen, wie das Beispiel von Frau Tegt zeigt, beziehungsweise nur im äußersten Notfall um Hilfe zu bitten, wie im Falle von Frau Faerber. Ein alle Interviewten dieser Generation auszeichnender Zug war die Vorstellung, die gegebene Situation (wie auch frühere problematische Erfahrungen mit autoritären Vätern, Ehemännern, Chefs etc.) aushalten zu müssen, oder auch der Stolz, dies durch ein geschicktes Knappheitsmanagement, besondere Standhaftigkeit oder couragiertes Handeln (Frau Kratzer) geschafft zu haben. Agency und die eigene Fähigkeit, trotz alledem handlungsfähig zu bleiben, zeigte sich bei allen Frauen in der einen oder anderen Weise. Alle Befragten haben sich zu Expertinnen ihrer Situation entwickelt, allerdings oft eher unfreiwillig. Manche bewältigen die Geldknappheit oder die beginnenden körperlichen Einschränkungen mit einem regelrechten ›Sportsgeist‹, etwa wenn sie informelle

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Ökonomien, Netzwerke und Tauschsysteme aufbauen. Diese Fertigkeit zeigt sich jedoch von individuellen gesundheitlichen, körperlichen Möglichkeiten und sozialen wie auch kulturellen Kapitalien und den vielfältigen Ressourcen abhängig. Als Ressourcen zeigten sich religiöse Orientierungen, aber auch Praktiken der Meditation (bei der Körpertherapeutin), der Status der Großmutterschaft, familiärer Zusammenhalt, Freundschaften, aber auch die Möglichkeit weiterhin gebraucht zu werden, sei es im früheren beruflichen Umfeld (Frau Kratzer), von Klienten (Frau Faerber) und/oder der Familie. Ressourcen waren auch Hobbies und insbesondere die Zerstreuung, die das tägliche Unterhaltungsfernsehen zu bieten scheint. Auch die eigene Wohnung als Rückzugsort erwies sich von besonderer Wichtigkeit. Die Angst, sich diese nicht mehr leisten zu können, war ein von den meisten Frauen genanntes bedrohliches Zukunftsszenario. Diese ersten Projektergebnisse zeigen darüber hinaus auch habituelle Orientierungen, Lebensbewältigungsstrategien und Praktiken, die für eine spezifische Generation stehen. Die milieuspezifischen Unterschiede, die jeweilige Stellung der Einzelfälle im sozialen Raum, das Einwirken makrostruktureller arbeitsmarktpolitischer und weiterer gesellschaftlicher Kräfte, wie z. B. tradierte Geschlechterrollen und Familienbilder, auf die Mikropraktiken der Arbeitsformen, Arbeitshaltungen, Kapitalien sowie auf die Selbstbilder dieser Frauen werden sich durch weitere noch zu führende Interviews und die vertiefte und vergleichende Fallauswertung genauer ausleuchten lassen.

L ITERATUR Backes, Gertrud M.: Alter(n): Ein kaum entdecktes Arbeitsfeld der Frauen- und Geschlechterforschung, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorien, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004, S. 395-401. Backes, Gertrud M./Clemens, Wolfgang: Soziologische Alternstheorien, in: Wolf D. Oswald/Ursula Lehr/Cornel Sieber/Johannes Kornhuber (Hg.): Gerontologie. Medizinische, psychologische, sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, Stuttgart 2006, S. 36-42. Bild: Kampf gegen Altersarmut. Kommen jetzt höherer Rentenbeiträge?, in: Bild, 21.04.2016, URL: http://www.bild.de/geld/wirtschaft/rente/rentenalarm-453 17356.bild.html [Zugriff 21.4.2016]. Bourdieu, Pierre: »Prekarität ist überall«, in: Ders. (Hg.): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienst des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 96-102.

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Anerkennung im Alter Erfahrungen von Anerkennung, Abwertung und Ausgrenzung in biographischen Erzählungen älterer Frauen aus Ostdeutschland A NNA S ARAH R ICHTER

Das Alter ist begrifflich und als Phänomen schwer zu fassen, es erweist sich als facettenreich und vieldimensional. Es ist Prozess, Lebensphase und Kategorie sozialer Differenzierung zugleich, manifestiert sich am Körper, in Selbstverhältnissen und sozialen Beziehungen, gesellschaftlichen Institutionen und symbolischen Repräsentationen und ist Untersuchungsgegenstand unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen. Bezieht man die intersektionalitätstheoretische Überlegung mit ein, dass keine soziale Kategorie in ihrer Form und Wirkung unabhängig ist von anderen und dass sich unterschiedliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse überlagern und verbinden, potenziert sich die Komplexität (vgl. McCall 2009). Die Annäherung an das Phänomen des Alter(n)s erfolgt in diesem Beitrag qualitativ-empirisch und auf der Ebene der Subjekte. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass Alter(n) als individuell und gesellschaftlich erfahrbares Phänomen in komplexen sozialen Prozessen hervorgebracht wird. Im Kontext dieser Prozesse werden körperliche Merkmale und Verhaltensweisen als alter(n)sspezifisch gedeutet und bewertet (vgl. Hohmeier 1978: 12). In seinem Konzept vom »Alter als Stigma« geht der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Jürgen Hohmeier (1978) davon aus, dass diese Bewertungen überwiegend negativ ausfallen, da die gesellschaftlichen Deutungen des höheren und hohen Alters im Gegensatz zu den Normen und Werten der ›Leistungsgesellschaft‹ stehen. Alter(n) wird in diesem Sinne zu einer »Negation gesellschaftlicher Werte« (ebd.: 16). Daraus folgert er, dass die entsprechenden Zuschreibungen ne-

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gative Konsequenzen für die als alt Bezeichneten haben. Aus anerkennungstheoretischer Perspektive ist das Alter(n) somit gekennzeichnet durch den Verlust sozialer Wertschätzung. In diesem Zusammenhang gilt es nun allerdings, die gesellschaftlichen und hier insbesondere die demographischen Veränderungen und die damit einhergehenden Verschiebungen der Diskurse um das Alter(n) seit den 1970er Jahren zu berücksichtigen. Sowohl die Gruppe der als alt Bezeichneten als auch die Zuschreibungen an sie unterliegen seit dieser Zeit einem steten Wandel, der zunächst in der Figur der »jungen Alten« (van Dyk/Lessenich 2009) seinen Ausdruck fand und sich seit Anfang der 2000er Jahre zum Leitbild des aktiven und produktiven Alter(n)s weiterentwickelt hat, welches insbesondere in den politisch-medialen Diskursen als dominant bezeichnet werden kann. Betont werden hier die Kompetenzen und Ressourcen älterer Menschen, welche es gesellschaftlich zu nutzen gelte. Den so adressierten alternden Menschen selbst wird dafür gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung in Aussicht gestellt (vgl. zu diesen Entwicklungen ausführlich Denninger/van Dyk/Lessenich/Richter 2014: 63-200; Boudiny 2012). Inwiefern also in Zeiten des »institutionalisierten Alterslobs« (van Dyk 2015: 5) die von Hohmeier beschriebenen Prozesse und Mechanismen der Stigmatisierung sowie die Übernahme stigmatisierender Zuschreibungen in die Selbstkonzepte der Betroffenen nach wie vor wirksam sind, gilt es anhand des empirischen Materials zu untersuchen. Dazu greife ich auf erste Ergebnisse meiner Untersuchung zu »Multiplen Positionierungen« (Richter i.E.) zurück, in der aus intersektionaler Perspektive nach Erfahrungen der Anerkennung, Abwertung und Ausgrenzung in biographischen Erzählungen älterer Frauen aus Ostdeutschland gefragt wird. Die Untersuchung beruht auf vier biographischen und acht leitfadengestützten Interviews. Das Alter der Befragten, die immer auf dem Gebiet der DDR gelebt haben, liegt zwischen 63 und 85 Jahren.1 Die Interviews wurden in Anlehnung an die erzähltheoretisch fundierte Methode der Rekonstruktion narrativer Identität von Gabriele LuciusHoene und Arnulf Deppermann (2004) sowie der von Sabine Reh und Norbert Ricken (2012) im Anschluss an die Subjektivationstheorie Judith Butlers entwickelten Heuristik zur Untersuchung von Adressierungen ausgewertet. In beiden methodischen Ansätzen geht es zentral darum, die Selbstpositionierungen der Befragten im Verhältnis zu institutionellen und diskursiven gesellschaftlichen Strukturen herauszuarbeiten (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 182; Reh/Ricken 2012: 44). Unter Bezug auf Axel Honneth (2014) und Judith Butler (2001) soll im Folgenden zunächst ein analytisches Konzept von Anerkennung entworfen werden,

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Alle Fälle wurden anonymisiert.

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um ein begriffliches Instrumentarium für die Analysen zu schaffen. Entlang von drei thematischen Linien, die sich im empirischen Material als relevant darstellten – Großmutterschaft, der Verlust zentraler Anerkennungsquellen im Alter und die Altersnorm des Rückzugs – sollen unterschiedliche Positionierungen sowie die damit verbundenen, als gültig angesehenen Bewertungsmaßstäbe herausgearbeitet werden.

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ALS ANALYTISCHES

K ONZEPT

Anerkennung weist – wie viele andere sozialwissenschaftliche Grundbegriffe auch – ein breites Spektrum an Bedeutungen auf. Im Folgenden sollen insbesondere zwei zentrale Aspekte von Anerkennung hervorgehoben werden, die in verschiedenen Konzeptionen unterschiedlich stark in den analytischen Fokus kommen. Dabei handelt es sich erstens um diejenigen Konzepte, welche die grundlegende Anerkennung als Subjekt ins Zentrum des theoretischen Interesses stellen. Beispielhaft hierfür ist der subjektivationstheoretische Ansatz Judith Butlers (2001), dessen zentrale Gedanken im Folgenden kurz dargestellt werden sollen. Die Analyse asymmetrischer Beziehungen zwischen Subjekten oder Gruppen ist aus dieser Perspektive jedoch konzeptionell schwierig, werden doch alle Subjekte auf diese Weise konstituiert. Hier erscheinen zweitens solche Ansätze weiterführend, welche die qualifizierenden Effekte von Anerkennung näher beleuchten. Gemeint sind damit diejenigen Anerkennungsverhältnisse, in denen konkrete Personen in spezifische Beziehungen zueinander gesetzt werden, bzw. in denen sie sich selbst in Beziehung zueinander setzen (vgl. Graumann 2011: 387). Dieser Aspekt der qualifizierenden Anerkennung nimmt im theoretischen Modell Axel Honneths eine zentrale Stellung ein, in dem unterschiedliche Prinzipien der Anerkennung in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären genauer untersucht werden (vgl. ebd.). Trotz erheblicher und theoretisch nicht aufzulösender Differenzen teilen beide Theorien die Annahme des Zusammenhangs zwischen Normen gesellschaftlicher Ordnung und der Konstitution von Subjekten bzw. subjektiven Identitäten. Differenzen bestehen insbesondere in Bezug auf die Frage der Universalität von Normen und den damit verbundenen normativen Ansprüchen (vgl. Deines 2007). Diese lassen sich zwar nicht aufheben, können aber insofern entschärft werden, als dass der von Honneth formulierte normative Anspruch zugunsten einer analytischen Perspektive zurückgestellt wird. Im Anschluss an die notwendigerweise zugespitzte und verkürzte Darstellung der beiden Theorien soll diese Überlegung hier ausgeführt werden.

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Die Verknüpfung gesellschaftlicher Strukturbildungsprozesse mit der Konstitution subjektiver Identitäten bildet den Ausgangspunkt der Anerkennungstheorie Axel Honneths (2014). Subjekte bedürfen der Anerkennung, um ein ungebrochenes Selbstverhältnis zu entwickeln, so der zugrunde liegende Gedanke. Erfahrungen der Missachtung führen dagegen zu beschädigten Identitäten. Unter bestimmten Bedingungen können sie jedoch auch dazu führen, dass die Betroffenen in soziale Kämpfe um Anerkennung eintreten, die dann zur Triebkraft gesellschaftlichen Wandels werden können. Da normative Ansprüche den Kern dieser sozialen Kämpfe bilden, wird die Bedeutung von Moral, Sittlichkeit und Intersubjektivität für die Reproduktion gesellschaftlicher Ordnung betont und so die moralische Entwicklung von Gesellschaft in den theoretischen Fokus gestellt. Diese normative theoretische Ausrichtung hat zur Folge, dass Honneth Anerkennungsverhältnisse allein über ihre ermöglichende Seite entfaltet. Mit Butler (2001) wird dagegen deutlich, dass Prozesse der Anerkennung immer machtdurchdrungen sind und ambivalente Wirkungen haben können. Ähnlich wie Honneth ist auch bei Butler der Zusammenhang zwischen Subjektkonstitution und gesellschaftlicher Ordnung zentral. Um eine sozial anerkennungsfähige Existenz zu erlangen, müssen sich Subjekte gesellschaftlich gültigen Normen unterwerfen und diskursiv strukturierte Subjektpositionen einnehmen, so der zentrale Gedanke bei Butler (vgl. ebd. 2001: 8ff.). In diesem Prozess der Unterwerfung unter sozial anerkennbare Normen entsteht nicht nur das Subjekt als »Effekt einer vorgängigen Macht«, sondern auch eine »radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit« (ebd.: 19). Butler begründet diese im Unterwerfungsprozess entstandene, bedingte Handlungsfähigkeit damit, dass diese nicht durch die Macht, durch die sie hervorgebracht wurde, determiniert sei (vgl. Butler 2001: 15). Die Unterwerfung ist damit als ein aktiver Prozess der Aneignung zu verstehen, in dem es zur Modifikation und Transformation der Subjektpositionen sowie letztendlich auch der sie konstituierenden Normen kommen kann. Darüber hinaus sind Normen in pluralistischen Gesellschaften mehrdeutig und dynamisch, da sie auf Diskursen beruhen, die immer unabgeschlossen sind (vgl. Villa 2013: 68). Eine konkrete Person ist demnach niemals identisch mit einer Subjektposition (vgl. Butler 2001: 15; Villa 2010: 204). Der Prozess der Subjektkonstitution ist damit als doppelt relational zu denken: Zum einen handelt es sich um soziale Verortungen auf anerkennbaren Positionen, zum anderen – aufgrund der Differenz zwischen Subjektposition und Person – um Selbstpositionierungen in Bezug auf die strukturellen Positionierungen. Norbert Ricken (2013) bezeichnet diese Selbstpositionierungen als »(Selbst)Verhältnis zu [der] sozialen In-Verhältnis-Setzung« (Ricken 2013: 84). Soziale Anerkennung hat aus dieser Perspektive damit nicht

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nur ermächtigende Wirkung, sondern ist verbunden mit der unterwerfenden Zuweisung spezifischer Subjektpositionen, die mit unterschiedlichen Graden und Formen sozialer Wertschätzung verbunden sind. Diese wiederum sind mit den theoretischen Überlegungen und Begrifflichkeiten Butlers nicht ausreichend differenziert zu erfassen. Deshalb soll an dieser Stelle wiederum auf Honneth zurückgegriffen werden, um den theoretischen Blick für Mechanismen und Prinzipien qualifizierender sozialer Anerkennung zu sensibilisieren. Honneth (2014) geht davon aus, dass sich Anerkennung in drei unterschiedlichen Sphären konstituiert: Das sind erstens Primärbeziehungen, innerhalb derer das auf Vertrauen basierende Anerkennungsprinzip der Liebe wirksam ist. Zweitens handelt es sich um das Prinzip rechtlicher Anerkennung, in dessen Zentrum individuelle Freiheit und Gleichheit aller Personen stehen. Verknüpft ist damit immer auch die Anerkennung von Zugehörigkeit. Drittens wird die in der öffentlichen Sphäre angesiedelte soziale Wertschätzung als Anerkennungsprinzip beschrieben, welches sich auf partikulare Eigenschaften und Fähigkeiten der Personen bezieht und damit auf das, was sie als besonders auszeichnet (vgl. ebd.: 148211). Wichtig ist der Gedanke, dass insbesondere rechtliche Anerkennung und Maßstäbe sozialer Wertschätzung immer umkämpft sind und in gesellschaftlichen Deutungskämpfen ausgehandelt werden müssen. Sollen Anerkennungsverhältnisse mit Butler als Machtverhältnisse gefasst werden, gilt es, sie nicht allein über ihre positive, ermöglichende Seite zu fassen, sondern auch negative Effekte zu berücksichtigen. So kann es in engen persönlichen Beziehungen zu Abhängigkeiten und Gewalt kommen, rechtliche Regelungen können immer auch diskriminierende und ausschließende Wirkungen haben, und mit sozialer Wertschätzung für bestimmte Gruppen gehen immer auch abwertende und stigmatisierende Zuschreibungen für andere Gruppen einher. Mit Hilfe dieses begrifflichen Instrumentariums soll es möglich sein, unterschiedliche Formen von Anerkennung im Sinne der stratifizierenden Bewertung sowie des Einund Ausschlusses unterschiedlicher Positionen bestimmen zu können. Dazu soll nun ein Perspektivwechsel von den subjektkonstituierenden Strukturen der Anerkennungsverhältnisse auf die subjektiven Deutungen dieser gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse, die darin enthaltenen Wertmaßstäbe sowie die darauf bezogenen Selbstpositionierungen vorgenommen werden.

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D IE P OSITION DER G ROSSMUTTER IM S PANNUNGSFELD VON ANERKENNUNG UND AUSGRENZUNG In den biographischen Narrationen finden sich in unterschiedlichen Ausprägungen affirmative Selbstpositionierungen als ›Großmutter‹. Zunächst sollen beispielhaft Irene Moll und Ursula Kretschmar vorgestellt werden, die sich entsprechend verorten. Am Beispiel von Christa Rost werden dann mögliche Konsequenzen für diejenigen dargestellt, denen eine solche Positionierung nicht offen steht. Irene Moll beschreibt rückblickend im Interview die Zeit, in der ihre Enkelkinder klein waren, mit den Worten: »Und das waren mit meine schönsten Jahre als Oma« (Z. 797). Dieser evaluativen Zusammenfassung folgt ein Abschnitt, in dem die Versorgung der Enkelkinder dargestellt wird. Die zuvor vorgenommene Bewertung wird dann abschließend folgendermaßen begründet: »[A]lso ich hab mich schon immer sehr um die Enkel gekümmert. Weil mir das liegt. Ich bin so, ich muss immer ’n bisschen jemanden bemutteln« (Z. 803f.). Die affirmative Selbstpositionierung als »Oma« wird hier damit begründet, dass die eigenen Fähigkeiten zu den mit dieser Position verbundenen Aufgaben passen. Darüber hinaus wird eine Übereinstimmung zwischen Selbstkonzept und den normativen Anforderungen an diese Rolle hergestellt. Dabei steht die Eigenschaft liebevoller Fürsorglichkeit im Zentrum der narrativen Konstruktion. In dem Wort »bemutteln« wird emotionale Zuwendung und Fürsorge mit Mutterschaft verknüpft. Ihre Selbstdeutung als mütterlich-umsorgend lässt sich mit der gesellschaftlich bereitgestellten Position der »Oma« und den damit verknüpften und positiv bewerteten Rollenzuschreibungen problemlos verbinden. Ähnlich wie Irene Moll bezeichnet sich auch Ursula Kretschmar am Ende ihrer biographischen Eingangserzählung als »allerglücklichste Großmutter« (Z. 67). Das wird damit erklärt, dass sie insbesondere für die Enkelgeneration jederzeit mit Rat und Tat bereit stehe und auch entsprechend adressiert werde. Auch an anderer Stelle im Interview findet sich eine Beschreibung dessen, was sie für die Enkelkinder leistet. Das begründet sie mit folgender Argumentation: »Das ist das Vertrauen in der Familie. Und das […] das kriegt man nicht geschenkt, das erarbeitet man. (2) Entweder, ich bin bereit, mich schmutzig zu machen oder das [nicht] zu machen« (Ursula Kretschmar, Z. 883f.). Hier werden Vertrauen und Leistung zu einer meritokratischen Vertrauensdefinition verknüpft. Auch im familiären Bereich, der bei Honneth der Sphäre der Liebe zugerechnet wird, findet damit das der Sphäre der sozialen Wertschätzung zugerechnete Leistungsprinzip Anwendung. In der Deutung von Ursula Kretschmar müssen auch Vertrauensverhältnisse, die für das Anerkennungsverhältnis der Liebe grundlegend sind, hart erarbeitet werden. Dass es sich dabei nicht um

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reine ›Beziehungsarbeit‹ durch Kommunikation oder gemeinsam erlebte Zeit handelt, sondern um tatsächliche Arbeit, die für andere erbracht wird, macht sie im zweiten Teil des Zitats deutlich. Für die geleistete Arbeit erhält sie Vertrauen als spezifische Form der Anerkennung. Das Narrativ der aufopferungsvollen Arbeit für andere, insbesondere für Familienmitglieder, ist prägend für das Selbstkonzept von Frau Kretschmar und deckt sich mit dem Bild der Großmutter, die ihre eigenen Interessen hinter denen ihrer Kinder und Enkel zurückstellt (vgl. Göckenjan 2000: 199f.). Auch wenn die konkreten Deutungen der mit der Position der Großmutter verknüpften Eigenschaften und Fähigkeiten in den beiden Fällen nicht deckungsgleich sind, zeigt sich, dass die narrative Aneignung der Position der Großmutter jeweils durch die Beschreibung von Sorgetätigkeiten erfolgt. Der Vergleich mit anderen Textpassagen innerhalb der jeweiligen Fälle macht deutlich, dass die hier beschriebenen Sorgetätigkeiten denjenigen entsprechen, über die im Kontext früherer Lebensphasen Weiblichkeit hergestellt wurde. Es finden sich dagegen in den narrativen Aneignungen der Position keinerlei Verknüpfungen mit Eigenschaften oder Praktiken, über die an anderen Stellen in den biographischen Texten Alter(n) hergestellt wird. So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Position der ›Großmutter‹ zwar auf struktureller Ebene als Intersektion von Weiblichkeit und höherem Lebensalter erscheint, sie in den Narrationen allerdings ausschließlich eine Möglichkeit der Kontinuität von Weiblichkeitskonstruktionen und nicht des Alterns darstellt. Obwohl hier also eine sozial anerkannte alterscodierte Position eingenommen wird, kann die Übernahme von alterskonstituierenden Zuschreibungen in das Selbstkonzept dennoch vermieden werden. Stattdessen findet eine unveränderte Fortführung von Weiblichkeitskonstruktion in der Lebensphase Alter statt. Aus anerkennungstheoretischer Perspektive ist darüber hinaus bemerkenswert, dass Ursula Kretschmar das Anerkennungsprinzip der Leistung, das Honneth der sozialen Sphäre zurechnet, in den Bereich der familiären Primärbeziehungen integriert. Das deutet darauf hin, dass die Position der Großmutter die Möglichkeit bietet, nicht nur im Bereich von Primärbeziehungen in Anerkennungsverhältnisse einzutreten, sondern auch in der öffentlichen Sphäre eine legitime und anerkennungsfähige Position darstellt, die soziale Wertschätzung in Aussicht stellt. Allerdings zeigen andere Fälle, dass es nicht für alle Frauen gleichermaßen möglich ist, sich entsprechend der Position der Großmutter zu verorten. So gibt es diejenigen, die keine Enkelkinder haben. Aber auch bei denjenigen mit Enkeln finden sich Fälle, in denen kein Kontakt besteht oder ein Mangel an finanziellen und zeitlichen Ressourcen als Begründung dafür geltend gemacht wird, dass diese

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Position nicht der Norm entsprechend eingenommen werden kann. Zu diesen gehört die 66 Jahre alte Christa Rost, die auf Grund von Konflikten mit den Kindern weder zu diesen noch zu den Enkeln Kontakt hat. Sie beschreibt, dass diese Situation ihr jetziges Leben stark beeinflusse: »Ich sag mal so, ich gehe viel, sag ich mal, unter Menschen, wo ich die Problematik nicht ansprechen muss. Also (2) ich gehe hier in so Erwachsenenkreise, wo man sich nicht über Kinder und Enkel unterhält […]. Ich habe jahrelang überhaupt nicht geantwortet, wenn mich jemand gefragt hat, aber (2) in den letzten Jahren hab ich mir schon manchmal getraut zu sagen, also dass wir’n schwieriges Verhältnis haben. […] ich sag mal so, ich (2) ich leide da schon drunter.« (Christa Rost, Z. 202ff.)

In der Beschreibung des Vermeidens spezifischer Kontexte und des Schweigens bezüglich der Frage nach ihren Kindern und Enkeln wird deutlich, dass nicht nur die fehlende Beziehung zu diesen an sich als problematisch erlebt wird, sondern ein starker Konflikt aus der von ihr antizipierten negativen Bewertung durch signifikante Andere resultiert. Deutlich wird der mit den Machteffekten von Normen verbundene Konflikt, der aus der Unmöglichkeit einer entsprechenden Positionierung resultiert. Die Konflikthaftigkeit zeigt sich allerdings weniger in Erzählungen über konkrete Erfahrungen von Abwertung oder Stigmatisierung, als vielmehr in der Sorge vor solchen Zuschreibungen. Die Sorge verweist auf die Internalisierung, also die Aneignung der gültigen Norm, die auf diese Weise keiner äußerlichen Sanktionsmechanismen bedarf, um Wirksamkeit zu entfalten. Sehr deutlich wird die Sorge vor sozialer Abwertung und Tendenzen der Selbstabwertung der Befragten.2

D ER V ERLUST IM ALTER

ZENTRALER

ANERKENNUNGSQUELLEN

Stellt die Position der Großmutter zumindest für einen Teil der Frauen neue, altersspezifische Anerkennungsverhältnisse in Aussicht, finden sich im Kontrast dazu ebenso Erzählungen über den Verlust zentraler Anerkennungsquellen, insbesondere durch den Ausstieg aus der Erwerbsarbeit. Dieser wird von Doris Meyer thematisiert, wenn sie auf die Frage, was sie mit dem Ruhestand verbinde, nach einer kurzen Pause antwortet:

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Vorstellbar wäre aber auch eine schwer zu überbrückende Diskrepanz zwischen Selbstkonzept und den mit der Großmutterposition verknüpften Eigenschaften.

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»Nicht mehr wichtig sein. (3) Die Zeit für sich nur noch zu nutzen. Und das hat mir sehr große Schwierigkeiten bereitet, als ich in Ruhestand gegangen bin. […] plötzlich läuft alles weiter, ohne dass man noch dabei ist und, und gebraucht wird.« (Doris Meyer, Z. 4ff.)

Deutlich wird bei Doris Meyer eine Deutung von Erwerbsarbeit, die auf Sinnstiftung zielt. Dieser Sinn der Erwerbsarbeit entsteht dadurch, dass man für andere wichtige und nützliche Leistungen erbringt. Wer diese anderen sind, bleibt in dem Zitat offen, an anderer Stelle spricht sie allerdings explizit davon, dass es ihr wichtig gewesen sei, nicht nur für die Familie da zu sein, sondern für die Gesellschaft etwas zu leisten. Das deutet darauf hin, dass sich das »nicht mehr wichtig sein« auch in diesem Zitat auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang bezieht. Die Zeit nur noch für die eigenen Belange und Bedürfnisse zu nutzen, wird von Doris Meyer dagegen nicht als sinn- und bedeutungsvoll angesehen. Das verweist auf eine hohe Bedeutung von Erwerbsarbeit im subjektiven Wertesystem der Befragten. Mit dem Verlust der Erwerbsarbeit ist für sie dadurch in extremer Weise auch ein Verlust an sozialer Wertschätzung und damit des Selbstwertes verbunden. Neben dem Verlust der Anerkennung über das Leistungsprinzip kommt im zweiten Teil des Zitats außerdem der Verlust der Anerkennung durch Zugehörigkeit zum Ausdruck. Es ist nicht allein das »gebraucht werden«, sondern auch das »dabei sein«, was Anerkennung vermittelt. Im weiteren Verlauf des Interviews wird berichtet, dass der Ehemann der Befragten zwei Jahre nach ihrer Verrentung unerwartet verstorben sei. Diese Erfahrung des plötzlichen Todes ihres Partners beschreibt Doris Meyer mit den Worten: »Ja, dann (2) ist man noch weniger wichtig.« (Z. 25) Deutlich wird hier, dass bei Doris Meyer durch den Tod ihres Mannes zu dem Verlust sozialer Wertschätzung der Verlust von Anerkennung in der Sphäre der Primärbeziehungen hinzu kam und dadurch verstärkt wurde. So sagt sie rückblickend: »Also wenn ich in dem Moment [des Austritts aus der Erwerbsarbeit, Anm. ASR] schon alleine gewesen wäre, dann wäre das sicherlich (2) eine schlimme Sache gewesen. Plötzlich (3) nicht mehr wichtig zu sein. (5) Aber so war noch jemand da, für den ich wichtig war.« (Doris Meyer, Z. 515ff.)

Konnte der Verlust der Anerkennung in der einen Sphäre durch Anerkennung in der anderen zunächst kompensiert werden, brach diese Kompensationsmöglichkeit kurze Zeit später weg. Bis heute, so berichtet Doris Meyer, konnte sie diesen doppelten Verlust weder durch ehrenamtliches Engagement noch durch Freundschaften ausgleichen.

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Darüber hinaus kommt in den Erzählungen von Doris Meyer zum Ausdruck, dass diesen Verlusterfahrungen bereits Erfahrungen der Abwertung und Entwürdigung vorausgingen, die mit dem Systemwechsel 1989 einhergingen: »Dass jetzt unsere Arbeit nicht mehr, na ja, es wurde nicht mehr so geachtet. Jetzt vom Westen aus gesehen. War doch, ist doch so die pauschale Meinung, na ja, im Osten, die haben ja (2) waren faul, […] denen müssen wir erst mal arbeiten lernen und so was. Dass das nicht anerkannt wurde, dass wir ja, ebend in meinem Beruf oder was, dasselbe gemacht haben wie die im Westen. Bloß die, die meine Stellung hatten […] die haben ganz anderes Geld verdient. Die kriegen jetzt eine ganz andere Rente, die würden sich totlachen (lacht) wenn sie mit meiner Rente leben müssten.« (Doris Meyer, Z. 1179ff.)

Thematisiert wird hier eine Fremdpositionierung der in Ostdeutschland lebenden Menschen durch die ›Westdeutschen‹ in Form von veränderten Anerkennungsverhältnissen im Bereich der Erwerbsarbeit. In der narrativen Konstruktion wird dem »Westen« die mit Definitionsmacht ausgestattete Position zugeschrieben, während der »Osten« als passiv und den Zuschreibungen des »Westens« ausgeliefert erscheint. Diese Zuschreibungen stellen in den Beschreibungen von Doris Meyer erstens grundlegend den Wert der von Ostdeutschen geleisteten Arbeit infrage, und zweitens wird der Gesamtheit der Ostdeutschen ein mangelnder Einsatz und mangelnde Kompetenz zugeschrieben. Dabei wird nicht das Leistungsprinzip als zugrunde liegender Wert der Arbeit an sich als verändert dargestellt, vielmehr bildet es den gemeinsamen und geteilten normativen Hintergrund für beide Seiten. Vor diesem Hintergrund werden die in der DDR erbrachten Leistungen als kollektiv abgewertet beschrieben. Indem sie allerdings für sich in Anspruch nimmt, »dasselbe« gemacht zu haben »wie die im Westen«, weist die Sprecherin die Zuschreibungen zurück, fordert die Anerkennung der in der Vergangenheit und unter anderen Bedingungen erbrachten Leistungen und skandalisiert damit die erfahrene Entwürdigung als ungerecht. Doris Meyer weist damit zwar die Abwertung ihrer beruflichen Leistungen zurück, verbleibt aber dennoch in einer unterlegenen Position, die sich strukturell in der geringeren Rente ausdrückt. Insgesamt wird im Fall von Doris Meyer die Verschränkung unterschiedlicher Abwertungserfahrungen deutlich. Hinzu kommen Erfahrungen des Verlusts zentraler Quellen der Anerkennung, die teilweise mit dem Alter, teilweise aber auch mit anderen Faktoren wie in dieser Aussage mit dem Systemwechsel, einhergingen. In diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem eine weitere Verschiebung in der von Axel Honneth vorgenommenen Systematisierung, welche dem Bereich der Erwerbsarbeit die Anerkennung des Besonderen zurechnet. Unter den Bedingungen der kollektiven

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Entwertung geht es hier jedoch vielmehr um die Anerkennung als Gleiche, die Honneth der rechtlichen Sphäre zurechnet.

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Im Folgenden sollen unterschiedliche Deutungen und Positionierungen dargestellt werden, die sich unter dem Begriff des ›freiwilligen Rückzugs‹ zusammenfassen lassen. Dieser steht im Zentrum des in der Alternssoziologie einflussreichen Disengagement-Ansatzes (vgl. Cumming/Henry 1961). Hohmeier (1978) benennt den schrittweisen Rückzug als zentrales Charakteristikum der Altersrolle (vgl. ebd.: 18). Diese Vorstellung des Rückzugs älterer Menschen wird in den subjektiven Deutungen in unterschiedlichen Kontexten bedeutsam. In der Erzählung ihrer Lebensgeschichte präsentiert sich die 85-jährige Gudrun Jäschke als zufrieden und ihren bescheidenen Wohlstand genießend. Der einzige Punkt, in dem eine Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen und Wünschen und ihrer Lebensrealität zum Ausdruck kommt, betrifft die Entfernung zum Wohnort des Sohnes und seiner Familie. Zwar habe der Sohn sie nach dem Tod ihres Ehemannes aufgefordert, in das Dorf zu ziehen, in dem er mit seiner Familie lebt. Dieses Angebot lehnte Gudrun Jäschke jedoch mit der Begründung ab, dass sie in dem kleinen Ort auf die Fahrdienste der Schwiegertochter angewiesen wäre, um zum Arzt oder zum Einkaufen gehen zu können. Damit beschreibt sie die aktuelle Situation als selbstgewählt. Dazu führt sie weiter aus: »Das kann man doch nicht machen. (3) Dann müsste die [ihre Schwiegertochter, Anm. ASR] mich dauernd hin- und herfahren und so. (3) Die hat doch mit sich zu tun. Das heißt, die würde das machen, und wenn irgendwas ist, da hat noch keiner gesagt nein, machen wir nicht oder so, die sind gesprungen und gemacht. Aber das kann man nicht machen. Die haben mit sich zu tun, ich weiß es ja selber.« (Gudrun Jäschke, Z. 759ff.)

Auffällig ist an dieser Textpassage, dass fast durchgehend im verallgemeinernden »man« gesprochen wird. Das kann als Verweis darauf interpretiert werden, dass hier auf eine allgemeine Normvorstellung Bezug genommen wird. Diese Norm zeigt sich in Form negativer Vorschriften: Es sollen keine Ansprüche gestellt werden, und es gilt, den Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Inwiefern hier auch ein Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit eine Rolle spielt, wird nicht deutlich, vielmehr scheint die Norm, Angehörige nicht ungebührlich zu beanspru-

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chen, zu überwiegen. Deutlich wird, dass diese Norm auf Rückzug und eine gewisse Distanz zielt, die insbesondere die Unabhängigkeit der jüngeren Generation sichern soll. Diese Grenzziehung ist aber nicht nur in den Generationenbeziehungen auf familialer Ebene relevant, sondern findet sich auch in Thematisierungen gesellschaftlicher Generationenverhältnisse. So z. B. bei Inge Diers, die auf die Frage, wie sich die ältere Generation heute gesellschaftlich einbringen könne, in Bezug auf den Bereich der Erwerbsarbeit wie folgt antwortet: »Na nur in beratender Funktion. Es gibt doch nichts Schlimmeres als wenn so ne Alte ewig da sitzt und immer wieder ihren alten Mist da rein bringen will. […] Und man soll den Zeitpunkt, wenn man ihn spürt nicht vorbei gehen lassen. Denn ansonsten macht man sich lächerlich und auch unbeliebt und, hach, die schon wieder.« (Inge Diers, Z. 1300ff.)

Der Rückzug von älteren Menschen aus verantwortungsvollen Positionen im Bereich der Erwerbsarbeit wird hier als absolute und zwingende Norm gedeutet. Die Nichteinhaltung dieser Norm wird in moralischer Hinsicht abgewertet und als negative Konsequenzen nach sich ziehend interpretiert. Grundlegend dafür ist die Vorstellung, dass sich ältere Menschen nicht weiterentwickeln, sondern ihren eventuell überholten Vorstellungen verhaftet bleiben. Als »alter Mist« werden diese ebenfalls extrem abgewertet. In den Deutungen von Inge Diers ist keine Zeit des Übergangs vorgesehen, sondern sie spricht von einem Zeitpunkt, der nicht verpasst werden sollte, da sonst Lächerlichkeit und der Entzug von Sympathien drohen, also der Verlust von Anerkennung als vollwertiges Subjekt. Die Verantwortung für den richtigen Umgang mit der beschriebenen Altersfeindlichkeit wird damit den älteren Menschen selbst zugeschrieben. Allerdings wird auch deutlich, dass Inge Diers nicht für einen völligen Rückzug plädiert, sondern dass sie dem Alter eine beratende Rolle zukommen lässt. Auch die Aussage von Susanne Mirbach, zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt, bezieht sich auf den Bereich der Erwerbsarbeit: »Mir hätte es auch nichts ausgemacht, bis 65 zu arbeiten, muss ich auch ehrlich sagen. Ich hätte das, ich hatte auch keine Schwierigkeiten, dass ich irgendwie nicht mehr mitkam oder so, das überhaupt nicht. Aber ich denke, man sollte auch an einem Punkt gehen, wo die Leute es bedauern, dass man geht, als dass sie drauf warten. Und das Gefühl hatte ich, dass sie es bedauern (lachend). Und das tat mir auch irgendwo gut.« (Susanne Mirbach, Z. 365ff.)

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Diese Aussage ist gerahmt durch den Eintritt in den Ruhestand. Susanne Mirbach hat eine Altersteilzeitregelung in Anspruch genommen und konnte mit 62 Jahren aus der aktiven Erwerbsarbeit ausscheiden. Diese institutionalisierte Statuspassage ist sozialkulturell verknüpft mit der Zuschreibung des Alt-Seins. Diese Positionierung wird von Susanne Mirbach unter Verweis auf ihre uneingeschränkte Leistungsfähigkeit zurückgewiesen. Grundlegend ist hier die Vorstellung des Alterns als nachlassende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Es war also nicht die Erfahrung abnehmender Leistungsfähigkeit, die sie zum Rückzug aus der Erwerbsarbeit veranlasste, sondern die Annahme, dass die Wertschätzung in diesem Kontext mit zunehmendem Alter abnehme. Dies entspricht den von Hohmeier (1978) beschriebenen Prozessen der stigmatisierenden Wirkung von Alterszuschreibungen und erklärt, warum sich Susanne Mirbach in der Interviewsituation von der Positionierung als alt abgrenzt. Die Stigmatisierung und die damit verbundene antizipierte Diskriminierung aufgrund des Alters im Kontext der Erwerbsarbeit werden hier als fraglos gegeben und legitim angenommen. Die Konsequenzen hat das alternde Individuum zu tragen, indem es sich zu einem Zeitpunkt zurückzieht, zu dem es der Erfahrung der Abwertung und der Gefahr der Ausgrenzung noch nicht ausgesetzt ist. Deutlich zum Ausdruck kommt hier, dass solche für die Zukunft erwarteten, jedoch bislang noch nicht erfahrenen Abwertungen und Ausgrenzungen auf Grund des Alters nicht als problematisch bewertet, sondern als selbstverständlich hingenommen werden. Die Norm des freiwilligen Rückzugs zeigt sich einerseits in negativen Verhaltensvorschriften, die den Anspruch an ältere Menschen formulieren, selbst keine Ansprüche mehr zu stellen und der jüngeren Generation nicht zur Last zu fallen. Diese Norm berührt Fragen intergenerationaler Solidarität und Verantwortlichkeit einerseits und die der Abhängigkeit und Unabhängigkeit andererseits, die im Zentrum moderner und post-moderner Subjektivierungsweisen stehen und insbesondere im höheren, durch Gebrechlichkeit gekennzeichneten Alter von hoher Relevanz sind (vgl. Pichler 2010: 423f.). Die explizit artikulierte Norm des Rückzugs im Kontext der Erwerbsarbeit verweist auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz von Altersdiskriminierung und deren Internalisierung in diesem Bereich. Auffällig ist die Selbstverständlichkeit, mit der das Wissen darüber geäußert wird, dass Menschen ab einem gewissen Alter in diesem Kontext den Anspruch auf soziale Wertschätzung verlieren. Zu erklären ist dies über die Verknüpfung von Alter(n) mit nachlassender Leistungsund Innovationsfähigkeit, die in den beiden Textpassagen zum Ausdruck kommt. Wie von Hohmeier beschrieben, wird das Alter(n) damit zur Negation der hier gültigen Werte und Anerkennungsprinzipien.

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ANERKENNUNG IM ALTER – S ELBSTPOSITIONIERUNGEN UND SUBJEKTIVE D EUTUNGEN Die Analyse der biographischen Erzählungen älterer Frauen aus anerkennungstheoretischer Perspektive eröffnet den Blick auf das Zusammenspiel von sozialstrukturellen und symbolischen Zuschreibungen und Positionierungen und den damit verbundenen Selbstpositionierungen der Personen. Dabei wurde deutlich, dass die Position der Großmutter in zwei unterschiedlichen Sphären Anerkennungsverhältnisse konstituiert: Erstens im Bereich der Primärbeziehungen, wo die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse durch starke Gefühlsbeziehungen zu wenigen Personen im Zentrum steht. Zweitens in der öffentlichen Sphäre, wo diese Position mit sozialer Wertschätzung verbunden ist. Letzteres zeigt sich einerseits darin, dass die Position mit für andere erbrachten Leistungen verknüpft dargestellt wird. Andererseits wird dieser Aspekt in den Fällen deutlich, in denen die entsprechende Positionierung nicht der Norm gemäß eingenommen werden kann. Es lässt sich auch im erhöhten Rechtfertigungsbedarf und in der Beschreibung innerer Konflikte über die Sorge vor negativer Bewertung erkennen. In Bezug auf die Alterskategorie ist auffällig, dass die Selbstpositionierung als Großmutter – also die Aneignung einer Position, die strukturell durch die Überlagerung von Alter und Weiblichkeit konstituiert ist – in den subjektiven Deutungen nicht mit alterscodierten Zuschreibungen und Praktiken verknüpft ist, sondern mit solchen Eigenschaften und Tätigkeiten, über die in anderen Erzählkontexten im Interview Weiblichkeit hergestellt wird. Die Verortung auf einer alterscodierten Position führt also nicht zu einer Übernahme von – möglicherweise stigmatisierenden – Alterszuschreibungen. Vielmehr scheint die grundlegend intersektionale Struktur der Position die Ausblendung und damit eine zumindest indirekte Zurückweisung dieser Zuschreibungen zugunsten einer unveränderten Kontinuität von Weiblichkeitskonstruktionen zu erlauben. Am Beispiel von Doris Meyer wurde deutlich, dass der Verlust der Erwerbsarbeit als Anerkennungsverhältnis insbesondere dann schwer zu verarbeiten ist, wenn eine hohe subjektive Wertigkeit von Berufstätigkeit vorliegt. Verstärkt wird diese Verlusterfahrung in ihrem Fall durch den Tod des Partners, der als ein Verlust von Liebe als Form der Anerkennung zu interpretieren ist und von der Befragten auch entsprechend gedeutet wird. Das Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit ist aufgrund der bestehenden rechtlichen Regelungen eine für das höhere Alter typische, der Verlust des Partners eine mit höherem Alter wahrscheinlicher werdende Erfahrung des Verlusts von Anerkennungsquellen. Die subjektive Bedeutung dieser Verluste ist im Fall von Doris Meyer jedoch nur vor dem Hintergrund

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derjenigen Abwertungserfahrungen angemessen zu verstehen, denen sie als Ostdeutsche nach 1989 ausgesetzt war. Hier zeigt sich ein Zusammenwirken von Abwertungserfahrungen in früheren Lebensphasen mit dem Verlust von Anerkennungsquellen in der Lebensphase des höheren Alters. Dieser Zusammenhang müsste in seinen genauen Wirkmechanismen eingehender untersucht werden, er korrespondiert jedoch mit Ergebnissen der qualitativen Studie zum »Leben im Ruhestand« (Denninger et al. 2014). Hier zeigte sich, dass die dem Typ des »zufriedenen Ruheständlers« zugeordneten, meist männlichen, westdeutschen und mit leicht bis deutlich überdurchschnittlichen Haushaltseinkommen ausgestatteten Befragten über ein »Anerkennungspolster« verfügen, welches sich aus den bereits genannten Positionierungen sowie einer selbstbestimmt beendeten, erfolgreichen Berufsbiographie ergibt (vgl. ebd.: 262; 353). Im Fall von Doris Meyer wäre dagegen von einem Anerkennungsdefizit auszugehen. Durch das höhere Lebensalter wird dieses in seiner Bedeutung insofern verschärft, als dass die Möglichkeiten des Ausgleichs zunehmend geringer werden. Die Altersnorm des freiwilligen Rückzugs zeigt sich in den Analysen sowohl im Kontext familiärer Zusammenhänge als auch – und hier noch deutlicher – im Kontext von Erwerbsarbeit. Während im familiären Kontext die Frage der Legitimität der Belastung der jüngeren Generation durch die ältere im Vordergrund steht, zeigt sich für den Bereich der Erwerbsarbeit eine tiefe Verankerung stigmatisierender Alter(n)szuschreibungen. Den Diskursen um die produktiven Potenziale des Alters zum Trotz, scheint die Annahme nachlassender Leistungs- und Innovationsfähigkeit im höheren Alter und der darüber legitimierte Verlust sozialer Wertschätzung in diesem Bereich ungebrochen. Am Beispiel der Position der Großmutter wurde eine alters- und geschlechtsspezifische Position gezeigt, die gesellschaftlich anerkannt und mit sozialer Wertschätzung versehen ist. Deutlich wurde jedoch auch, dass diese Position nicht allen alternden Personen offen steht. Systematischer als dies in diesem ersten Zugriff geschehen konnte, müsste nun gefragt werden, welche gesellschaftlich anerkannten Positionen älteren Menschen derzeit offenstehen und inwiefern diese dann einen Altersbezug aufweisen, oder ob sie in den subjektiven Deutungen vielmehr in Abgrenzung zu spezifischen Alter(n)sbildern in Anschlag gebracht werden. Außerdem gilt es zu klären, unter welchen Bedingungen das Älterwerden primär verbunden ist mit dem Verlust der Möglichkeit, in Anerkennungsverhältnisse der Liebe/Freundschaft und sozialer Wertschätzung eintreten zu können und welche neuen Möglichkeiten sich für wen wie ergeben. Auch wenn sich derzeit gesellschaftliche Altersgrenzen lockern und sich die Normen angemessenen Verhaltens im Alter pluralisieren, zeigen die hier untersuchten Narrationen eine Dominanz stigmatisierender Effekte von Alter(n)szuschreibungen.

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L ITERATUR Boudiny, Kim (2013): ›Active ageing‹: from empty rhetoric to effective policy tool, in: Ageing and Society 33 (2013), H. 6, S. 1077-1098. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001. Deines, Stefan: Soziale Sichtbarkeit. Anerkennung, Normativität und Kritik bei Judith Butler und Axel Honneth, 2007, URL: https://www.academia.edu/ 5117029/Soziale_Sichtbarkeit._Anerkennung_Normativit%C3%A4t_und _Kritik_bei_Judith_Butler_und_Axel_Honneth [Zugriff 15.12.2015]. Denninger, Tina/van Dyk, Silke/Lessenich, Stephan/Richter, Anna: Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014. van Dyk, Silke: Soziologie des Alters, Bielefeld 2015. van Dyk, Silke/Lessenich, Stephan (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a. M. 2000. Graumann, Sigrid: Anerkennung und Sorgebeziehungen, in: Nico Lüdtke (Hg.): Akteur – Individuum – Subjekt. Fragen zu »Personalität« und »Sozialität«, Wiesbaden 2011, S. 385-399. Hohmeier, Jürgen: Alter als Stigma, in: Jürgen Hohmeier und Hans-Joachim Pohl (Hg.): Alter als Stigma oder Wie man alt gemacht wird, Frankfurt a. M. 1978, S. 10-30. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 2014. Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Wiesbaden 2004. McCall, Leslie: The complexity of intersectionality, in: Emily Grabham/ Davina Cooper/Jane Krishnadas/Didi Herman (Hg.): Intersectionality and Beyond. Law, power and the politics of location, Abingdon 2009, S. 49-76. Pichler, Barbara: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner/Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425. Reh, Sabine/Ricken, Norbert: Das Konzept der Adressierung. Zur Methodologie einer qualitativ-empirischen Erforschung von Subjektivation, in: Ingrid Miethe/Hans-Rüdiger Müller (Hg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Opladen/Berlin/Toronto 2012, S. 35-56.

A NERKENNUNG

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Ricken, Norbert: Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/ Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 69-99. Villa, Paula-Irene: Verkörpern ist immer mehr. Intersektionalität, Subjektivierung und der Körper, in: Helma Lutz/Herrera Vivar/Maria Teresa/Linda Supik (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts, Wiesbaden 2010, S. 203-221. Villa, Paula-Irene: Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen, in: Julia Graf/Kristin Ideler/Sabine Klinger (Hg.): Geschlecht zwischen Struktur und Subjekt. Theorie, Praxis, Perspektiven, Opladen 2013, S. 59-78.

»Too old to die young« Praktiken des Biographisierens jugendkultureller Erfahrungen G ERRIT H ERLYN

»Too old to die young« ist auf einem T-Shirt der deutschen Band Element of Crime zu lesen. Dies darf als selbstironischer Kommentar dazu verstanden werden, dass die Mitglieder seit fast 30 Jahren zusammen spielen, also mittlerweile einen Gutteil ihrer Erwerbsbiographie in der Band verbracht haben und somit – wie viele andere gealterte Popmusiker – nicht mehr einem Jugendlichkeitsideal entsprechen. Gleichzeitig spielt das Zitat mit dem typischen Rock’n Roll-Mythos des frühen Todes als Ausweis für ein besonders riskantes und intensives Leben, das mit dem Altern in der gleichen Band nicht mehr erreicht werden kann. Ein vergleichbares fiktionales Beispiel für einen alternden Musiker und auch für die ironische Brechung ist die Figur des »Cheyenne« aus dem gleichnamigen Film des Regisseurs Paolo Sorrentino aus dem Jahr 2011. Im Mittelpunkt des tragikomischen Films steht die von Sean Penn verkörperte Figur des Cheyenne, der in den 1980er Jahren als New Wave-Star erfolgreich war. Äußerlich angelehnt ist die Figur an Robert Smith von The Cure, der Bandname Cheyenne and the Fellows an die New Wave-Band Siouxie and the Banshees. Der titelgebende Song »This must be the Place« ist von den Talking Heads – ebenfalls also dem New Wave-Umfeld der späten 1970er/ frühen 1980er Jahre entnommen. In einem Dialog zwischen Cheyenne und Mary, der Tochter seiner Partnerin, heißt es im Film unter anderem: »Cheyenne: Weißt du, wo es guten Kaffee gibt? Mary: In Neapel. Da hast du am 31. Mai 1984 während der Cheyenne-Bad Friends-Tour ein Konzert gegeben. Bad Friends ist das sechste Album von Cheyenne and the Fellows.

100 | G ERRIT HERLYN Cheyenne: Wenn sich diese Krise [gemeint ist die Finanzkrise, G.H.] hinschleppt, kannst du meine offizielle Biographie schreiben.« (Cheyenne. This must be the Place: Paolo Sorrentino. Italien, Frankreich, Irland. 2011. TC: 00:04:00 – 00:04:20.)

Die exakte Erinnerung an ein Konzert als biographisch relevantes Ereignis soll als ironische Anregung für die noch zu schreibende Biographie Cheyennes dienen. Das Popkonzert nimmt so den Rang eines biographisch bedeutsamen Ereignisses ein. Auch in den Motiven des Regisseurs Paolo Sorrentino, diesen Film zu drehen, wird deutlich, dass sein Ausgangspunkt die eigene Pop-Biographie und der emotionale Zugang zur Musik ist. Zur Auswahl der Musik im Film schrieb er: »Anders als in der Vergangenheit hatte ich nicht das Bedürfnis, rational an die Musik heranzugehen. Ich wollte vielmehr die gewaltige Emotion und Leidenschaft noch einmal erleben, als mich mein neun Jahre älterer Bruder in meiner Kindheit in die Geheimnisse dieser großartigen Musik, die man Rock’n’Roll nennt, einweihte. Ich habe mich in dieser Phase meines Lebens mit großer Begeisterung daran gemacht, alles genau zu untersuchen, was mit Rock zu tun hatte.«1

Beide Beispiele sollen hier als Ausgangspunkt für die folgenden Fragen dienen: Wie ›altern‹ Pop-Kulturen, die in ihrem Gegenwartsbezug zunächst mit Jugend und Jugendkultur assoziiert werden? Wie wird dies von den beteiligten Akteuren verarbeitet, gedeutet und biographisiert? Welche medialen Formen und Repräsentationen lassen sich beobachten, bzw. welche Rolle spielen welche Medien für Prozesse des »doing biography« (Dausien 2000: 101)? Nicht zuletzt: Welche Vorstellungen vom Alter und vom Altern der beteiligten Akteure sind damit verbunden, und welche besonderen Erfahrungen mit dem Altern werden gemacht? 2 Vor

1 2

www.lunafilm.at/presse/cheyenne/cheyenne.rtf [Zugriff: 7.10.2015]. Die folgenden Ausführungen stehen am Beginn eines Ausstellungs- und Forschungsprojektes, das in Zusammenarbeit mit Line Kippes und Carlotta Münch (Museum für Hamburgische Geschichtchen), Sönke Knopp und Melcher Ruhkopf (Hamburg-Museum und HafenCity Universität Hamburg), Christian Elster (Universität Zürich, Kolleg Kulturwissenschaftliche Technikforschung), den Kamerafrauen Anna Schmidt und Leonie Kock sowie dem Reeperbahnfestival Hamburg als Kooperationspartner entsteht, und in dem die angerissenen Fragen mit dem Fokus auf die Hamburger Popkultur/geschichte im Zentrum stehen. Der Zugang über biographische Interviews erlaubt es dabei, die Sicht der Beteiligten in den Mittelpunkt zu stellen. Der Fokus wird auf unterschiedliche Szenen, Zeiten und Akteursgruppen sowie auf die Erinnerung an spezifische Orte Hamburger Popkultur gerichtet sein. Die Durchführung der ersten Interviews

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diesem Hintergrund wird im Folgenden die Hypothese der biographischen Relevanz von pop- und jugendkulturellen Erfahrungen für gegenwärtige Erwachsenengenerationen verfolgt und dabei der Fokus auf das doing biography als kulturelle Praxis gerichtet. Zunächst wird dafür eine knappe Einordnung des noch neuen Forschungsfelds im Kontext von Jugendkultur- und Biographieforschung vorgenommen. Anschließend wird versucht, mit dem Blick auf biographische Erfahrung und Subjektkulturen (Reckwitz 2006) die Besonderheiten der popkulturellen Erfahrungen herauszuarbeiten. Dies wird anhand von drei Beispielfeldern vertieft. Erstens frage ich anhand von Verhandlungen und Bildern des Alterns danach, inwiefern das popkulturelle Altern eine bestimmte Form von »Alters-Coolness« (Zimmermann 2013) hervorbringt. Zweitens frage ich nach relevanten Erinnerungspraktiken des doing biography im Kontext der pop- und jugendkulturellen Erfahrungen. Hier ist insbesondere die Nutzung von Social Media-Angeboten wichtig, in denen Formen der Selbstdarstellung sowie das Herstellen von gemeinsamen Erinnerungsbezügen in eher kleinteiligen sozialen Zusammenhängen besonders gut zu funktionieren scheinen und die von den beteiligten Akteuren für eine spezifische pop- und jugendkulturelle Erinnerungskultur genutzt werden. In einem dritten und letzten Punkt versuche ich danach zu fragen, inwieweit diese popbezogene Erinnerungskultur als Ausdruck eines spezifischen Alterungs- und Historisierungsprozesses zu verstehen ist.

J UGENDKULTURFORSCHUNG

OHNE

ALTERN ?

Aufgrund der lange vorherrschenden Gleichung Pop(kultur) = Jugend(kultur) ist die Frage nach dem Altern von bzw. mit pop-, sub- und jugendkulturellen Erfahrungen in den Kultur- und Sozialwissenschaften bislang eher selten gestellt worden. Erst in jüngerer Zeit hat sich hier ein erkennbares Forschungsfeld etabliert – etwa mit den Arbeiten von Ros Jennings (Jennings/Gardner 2012) über das Altern bei weiblichen Pop-Stars, von Andy Benett (2006) zur Bedeutung von Punk bei älteren Fans oder mit Paul Hodkinsons (Hodkinson 2013; Bennett/Hodkinson 2012) empirischer Studie über gealterte Gothic-Fans. Sie alle machen deutlich, dass erstens die Gegenwartsorientierung der Forschungen und die Annahme, dass Popkulturen typische Phänomene von Jugend bzw. Adoleszenz sind, der wichtigen Perspektive auf das Altern bisher im Weg standen. Diese Aktualitäts- bzw.

hat stattgefunden. Entsprechend dem frühen Stadium der Arbeiten haben einige der Überlegungen einen vorläufigen Charakter.

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Gegenwartsorientierung in Jugendkulturstudien war lange Kennzeichen von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, wie es sich in den hier oft gewählten gegenwartsorientierten ethnographischen Zugängen zeigt. Als wichtiger Einfluss sind etwa die Studien der Cultural Studies aus den 1970er Jahren zu nennen – beispielsweise die inzwischen klassischen ethnographischen Studien von Paul Willis über britische Arbeiter-Jugendliche (Willis 1982) oder auch Sarah Thorntons ethnographische Studie über Club Culture (Thornton 1996). Ein zweites Merkmal vieler Studien war es, Jugendkulturen als Übergangsphase, mitunter sogar als ›Rite de Passage‹ im Lebenslauf zu konzeptualisieren. Hier lassen sich etwa Arbeiten nennen, die im Anschluss an die kulturtheoretischen Schriften Victor Turners (Turner 1989a/Turner 1989b) jugendkulturelle Phasen als quasi modernen selbstgeschaffenen Schwellenzustand eines Übergangsrituals verstehen (z. B. Stoeckl 1994; Mattig 2009; kritisch zum Ansatz: Herlyn 2002/ Herlyn 2012). Mitunter gab es auch Ansätze, Jugendkulturen (ethno-)psychologisierend und kulturpessimistisch als gescheiterte Übergangsrituale zu interpretieren, da die gesellschaftliche Wiedereingliederung aus der liminalen, jugendkulturellen Phase nicht gelingen würde (z. B. Erdheim 1992). Konzeptionell bedeutete dies, dass der jugendkulturelle Zustand zeitlich begrenzt ist und einen logischen Schritt auf dem Weg in einen wie auch immer gearteten Erwachsenenzustand darstellt. Ein dritter Forschungsstrang lässt sich unter dem Stichwort der »Pop-Geschichte« (Geisthövel/Morzek 2014) fassen. Hier finden sich inzwischen viele wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche Veröffentlichungen, in denen mit einem Oral History-Selbstverständnis historische Abschnitte und Ereignisse der Popgeschichte aufbereitet werden (z. B. europäisch-ethnologisch die Arbeit von Thomas Kochan über Blueser in der DDR, (Kochan 2003), oder die Studie über Frauen in der Hamburger Schule (Bonz/Rytz/Springer 2011)). Aus dem nicht-wissenschaftlichen Bereich ist für den deutschsprachigen Raum Jürgen Teipels äußerst erfolgreicher und genreprägender Doku-Roman Verschwende deine Jugend über den deutschen Punk und New Wave zu nennen (Teipel 2001). Allerdings steht auch hier selten im Fokus, dass die Beteiligten selbst wichtige Akteure für die Herstellung von Biographie und historischen Deutungsprozessen sind; vielmehr handelt es sich um die subjektzentrierte Rekonstruktion eines spezifischen Abschnitts der Popgeschichte.

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P OPKULTURELLE B IOGRAPHIEN Betrachtet man die gegenwärtige Bedeutung popkultureller Erfahrungen im Lebenslauf, dann wird deutlich, dass eine Perspektivierung über eine Jugendorientierung hinaus notwendig ist, wie Paul Hodkinson dies mit dem Untertitel eines Aufsatzes: »[…] Beyond refusing to Grow up« (Hodkinson 2013) auf den Punkt gebracht hat. Aufbrechen lässt sich dies mit einem biographischen Zugang. Dabei ist insbesondere wichtig, die Praktiken der Biographisierens selbst – das doing biography – zu analysieren und diese als sozial-kommunikative Praktiken zu kontextualisieren. Gerade für gegenwärtige Formen des popkulturellen Biographisierens ist meines Erachtens zu berücksichtigten, dass sich diese Praktiken in den letzten 20 Jahren stark verändert und intensiviert haben, insbesondere auch durch die digitalen Archivfunktionen und das Herstellen von Teilöffentlichkeiten im Internet. Zu denken ist hier etwa an Fanseiten zu Bands, in denen mit großem Eifer archiviert und dokumentiert wird. Für viele der beteiligten Akteure hat dies auch zu einer neuen Verbindung von historischem Interesse und eigenen pop- bzw. subkulturellen Erfahrungen geführt. Ästhetische Erfahrungen – wie sie auch für popkulturelle Biographisierungen wichtig sind – haben für Vorstellungen eines »sinnhaft gelebten Lebens« seit bzw. in der bürgerlichen Moderne an Bedeutung gewonnen. Peter Alheit und Morten Brandt haben dies in einer soziologisch-literaturwissenschaftlichen Untersuchung literarischer Autobiographien aus den Jahrhundertwenden 1800, 1900 und 2000 herausgestellt. Ästhetische Erfahrungen wurden zum wichtigen Mittel von Selbstreflexivität, verbunden mit der Idee der persönlichen, individuellen Entwicklung. Mit dem Begriff der »Biographizität« fassen sie diese »kreative innere Vermittlungsinstanz, [...] mit der das moderne Individuum neue Erfahrungen aufschließt und sie zu seinen je eigenen macht – eine Basiskompetenz, die das Gefühl einer bestimmbaren Form der Identität vermittelt, obgleich sich der moderne Mensch ununterbrochen verändert und seine individuelle Einzigartigkeit immer wieder bedroht ist« (Alheit/Brandt 2006: 18).

Ästhetische Erfahrungen wie die popbiographischen sind besonders geeignet, diesen individualisierenden Effekt für das moderne Subjekt zu erzielen. Gleichzeitig lässt sich auch eine Popularisierung und massenhafte Verbreitung von an ästhetischen Kriterien orientierten biographischen Entwürfen feststellen. Mit kultur-soziologischem Blick auf Subjektkulturen fasst Andreas Reckwitz diese Vorstellungen und Anforderungen an eine zu produzierende, individuelle Lebensgeschichte

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als gegenwärtige »kreativ-konsumtorische Subjektform«, die »vor allem vermittelt [wird] über einen massenmedialen Pop(ulär)-Diskurs, der Repräsentationen von Subjekten (aus Musik, Medien, Film, Sport, etc.) liefert, die im Wettbewerb um soziale Aufmerksamkeit erfolgreich sind und ihre individuelle Differenz in der stilistischen Kreierung ihres Selbst bestätigen« (Reckwitz 2006: 588f.). Mit der Mediennutzung und -produktion im Web 2.0 scheint sich dies für viele Akteure nochmals zu verstärken, wie der Soziologe Ramon Reichert betont, und die als »mach- und planbar wahrgenommene Lebensgeschichte [wird] zum Gegenstand narrativer Strategien [...], mit denen versucht wird, das eigene Leben entlang anerkannter Biografiegeneratoren, mittels sozial anerkannter Erzählmuster und zeitgemäßer Medienformate zu verorten« (Reichert 2008: 3). Vor diesem Hintergrund herrschen auf das Subjekt einwirkende »Praktiken der Subjektivierung« vor, die schlagwortartig mit Begriffen von »Identitätsarbeit«, »Biographiearbeit«, »Selbstnarration« und »Selbstmanagement« (ebd.: 4) zusammengefasst werden.3 Auch jugend- und popkulturelle Erfahrungen lassen sich in diesem Sinne als biographierelevante Elemente verstehen, mit denen Aufmerksamkeit, Distinktion und kommunikativer Gewinn in Bezug auf das jeweils eigene Erleben generiert werden kann. Mit Blick auf die Pop-Literatur beschreibt Marcus S. Kleiner diese als Bilder »von gelebter Popkulturgeschichte, die zunächst und zumeist die eigene Geschichte mit sowie durch Pop darstellen« (Kleiner 2009: 97). Ästhetische Erfahrungen – hier also Pop – lassen sich so als »Leitlinie des Erzählens« (Lehmann 1983: 19), also als subjektives Gliederungsinstrument biographischen Erzählens verstehen. Ein illustrierendes Beispiel für die Darstellung dieser biographischen Relevanz popkultureller Erfahrung ist einem Interview mit Karl Nagel entnommen, das auf der Webseite des Goethe-Instituts zu der von ihm betreuten Webseite Punkfoto.de geführt wurde, auf die ich weiter unten ausführlich im Abschnitt »Pop und Erinnerungskultur« eingehe. Karl Nagel ist Anfang 50, und befragt nach der eigenen Bedeutung von Punk, wird in dem Interviewausschnitt dieses biographische, sinnstiftende Moment besonders deutlich. Er spricht von Punk als einem 3

Hier sei allerdings angemerkt, dass die Interpretation von Biographie bzw. Praktiken des Biographisierens als Technologie des Selbst die Gefahr birgt, die Kunst des Handelns der Akteure unterzugewichten. In seiner Auseinandersetzung mit Michel Foucault hat Michel de Certeau diesbezüglich gefragt, inwieweit nicht auch die »zahllosen [...] Praktiken [...], die ›klein‹, ›minoritär‹ geblieben sind [...] die ersten Sprößlinge oder Reste von differenten (institutionellen oder wissenschaftlichen) Hypothesen für diese oder andere Gesellschaften enthalten« (de Certeau 1988: 110). Insbesondere in der Auseinandersetzung mit Popkulturen ist dies zu berücksichtigen, wenn als quasi-utopisches Moment das Testen von alternativen Lebensentwürfen als mehr oder minder gegenkulturelles Motiv enthalten ist.

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»Befreiungsakt«4 und biographischen Wendepunkt und gewissermaßen davon, über Punk zu sich selbst gefunden zu haben – also in Bezug auf die eigene Biographie Sinn über die ästhetische Erfahrung herzustellen bzw. hergestellt zu haben. »Wie sehen Sie selbst mit ein paar Jahrzehnten Abstand die Punkbewegung? Mir persönlich hat Punk damals das Leben gerettet, bei anderen war es umgekehrt. Vor Punk war ich passiv und fremdgesteuert, habe die Handelsschule und eine Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert, um irgendwas zu machen, das besser war als zu arbeiten. Punk zu werden, war für mich ein Befreiungsakt und die perfekte Gelegenheit endlich herauszufinden, was ich wirklich mit meinem Leben anstellen will. Das ging nicht ohne Verluste, aber ich bereue nicht im Geringsten, dass ich das gemacht habe. Durch Punk habe ich mich total verändert.«5

B ILDER DES ALTERNS Paul Hodkinson hat in seiner Beschäftigung mit englischen Gothics die Besonderheit eines Alterns in einem an Jugendkulturen orientierten Umfeld herausgearbeitet. Deutlich wird aus den von ihm geführten Interviews, dass es dezidierte Vorstellungen zur Altersangemessenheit des Verhaltens – bei den von ihm befragten Gothics vor allem auch hinsichtlich des Stylings und der Kleidungswahl – gibt (vgl. Hodkinson 2013: 16). Damit einher gehen Bewertungen von erfolgreichem und nicht-erfolgreichem Altern und des Alters als eine wichtige Kategorie, auf die von den Gothics geachtet wird. Gleichzeitig gibt es in dem kulturellen Feld auch bestimmte Rollen, etwa die der »experienced forefathers« (Hodkinson 2013: 17), die mit dem Älterwerden eingenommen werden können. Dabei spielt das szenespezifische historische Bewusstsein eine Rolle. Mitunter geschieht dies auch mit der Implikation, dass ›früher‹ authentischere und relevantere Ereignisse oder Bands miterlebt wurden, und die älteren Gothics so als authentische Zeitzeugen innerhalb der Szene fungieren (vgl. Hodkinson 2013: 19). Ähnlich beschreibt Andy Bennett dies in seinen Forschungen zu älteren Punks, bei denen das Älterwerden dazu führt, dass die spektakulären körperbezogenen Praktiken (also auch hier Kleidung und Frisur) wegfallen und mehr eine bestimmte Einstellung als »punk persona« (Bennett 2006: 225) als Wertemerkmal

4 5

https://www.goethe.de/de/kul/mol/20445214.html [Zugriff: 7.3.2016]. Ebd.

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in den Vordergrund tritt. Bennett folgert, dass der physische Prozess des Älterwerdens bei den Punks reflektiert und verhandelt wird und so gewissermaßen in einen Prozess des kulturellen Alterns überführt wird (vgl. ebd.). »Bennett has developed the focus of lifestyle theory to extend across aspects of biography and memory as these are aesthetically operationalized as resources for the reproduction of individual and collective identities. [...] A critical element within this process is the negotiation of the physical ageing process via reflexive engagement on the part of the individual with an alternative frame of reference for biographical development – that is a process of ›cultural‹ ageing.« (Bennett 2012: 97)

Worauf es Bennett auch ankommt, ist zu zeigen, dass es sich beim Älterwerden in Jugendkulturen nicht um eine Abwehr des physischen und sozialen Alterungsprozesses handelt. Dies war etwa die These, die Sarah Thornton Mitte der 1990er Jahre in ihrer vielbeachteten Ethnographie über Club Culture vertreten hat; dass es sich beim Mitmachen älterer EDM-Fans (Electronic Dance Music) um eine Form des Widerstands gegen das soziale Altern handeln würde. Das als unproblematisch geschilderte und empfundene Altern findet sich etwa auch in inzwischen vielzähligen Medienartikeln, in denen jeweils runde Geburtstage von Pop- und Rockmusikern der Anlass sind. Im folgenden Beispiel – es handelt sich um einen Spiegel-online-Artikel zu seinem 50. Geburtstag – verweist der Techno-DJ Sven Väth darauf, dass er »stolz« auf sein Alter ist, es ihm also nicht darum geht, sich als jünger darzustellen. Gleichzeitig betont er auch die konkreten Vorteile (»Ruhe und Gelassenheit«), die das Altern für ihn mit sich bringt. Des Weiteren wird von ihm die biographische Kontinuität des Musikmachens betont. »einestages: Herr Väth, die magische 50 naht. Haben Sie Angst vor diesem Alter? Väth: Angst wovor? Du bist so jung wie deine Zuversicht und so alt wie deine Zweifel. Auf mein Alter bin ich stolz, denn ich bin die Summe meines Erlebten und meiner Erfahrungen. Ich gehe die Dinge heute mit viel mehr Ruhe und Gelassenheit an. Dennoch ist die Leidenschaft zur Musik und zum Gestalten ungebrochen.« 6

Wichtig scheint hier der Vergleich mit gängigen Vorstellungen des Alterns zu sein, und dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass das Altern mit Pop bestimmte Herausforderungen für die Beteiligten darstellt. Ein konkreter Einblick in diese

6

http://www.spiegel.de/einestages/sven-vaeth-techno-dj-und-cocoon-club-gruenderwird-50-a-998558.html [Zugriff: 5.11.2015].

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spezifische biographische Reflexion des Alterns soll im Folgenden anhand eines Interviews diskutiert werden, das Christian Elster im Rahmen seiner Dissertationsforschung zu »›Digital ist Besser‹? – Musiksammeln in Zeiten digitaler Medien« am 23.3.2015 in dessen Schallplattenladen geführt hat (Elster 2015). Der Interviewte ist zum Gesprächszeitpunkt 47 Jahre alt und seit vielen Jahren als Geschäftsführer eines Schallplattenladens im Hamburger Schanzenviertel tätig. Das Thema des Alterns wird von ihm selbst in das Gespräch eingeführt. Es schließt sich eine eher allgemeine Reflexion der mit dem Älterwerden verbundenen Veränderungsprozesse an, also dass er sich zunehmend »alt« fühlt, dass es sich um einen schleichenden Prozess handelt und den Wunsch hervorbringt, sich zukünftig auf Wesentliches zu konzentrieren. Dass der Kontext Schallplattenladen und das Umfeld Pop Besonderheiten für das Altern bedeuten, wird vor allem in der Passage deutlich, in der er beschreibt, dass er zunehmend von Kunden gesiezt wird, obwohl er selbst nach seinem eigenem Empfinden (»Duzmaschine«) weiterhin geduzt werden möchte. In einer eindrücklichen Erzählpassage schildert er die Sammlungskäufe von Kunden, die von einer schweren Krankheit erfahren haben und ihre Sammlung verkaufen. Dass dies mittlerweile regelmäßig passiert, führt bei ihm ebenfalls zu einem Bewusstwerden des Alterns und des Nachdenkens darüber. »Christian Elster: Du hast ja vorhin selbst das Alter schon angesprochen. Wie ist denn so das Altern als Plattenladenbetreiber? A: Ja, gut. Ist ja vielleicht gar nicht so die Frage, wie es mit dem älter werden im Plattenladen ist, sondern wie es allgemein mit dem Älterwerden ist. CE: Schieß los! A: Naja, da hab ich jetzt auch keine neuen steilen Thesen. Es ist tatsächlich so, ich muss relativ häufig in den letzten Monaten und Jahren darüber nachdenken, weil ich irgendwie seit geraumer Zeit das Gefühl hab, dass ich alt geworden bin. C: Wie alt bist Du denn? A: Ich bin jetzt schon 47. Das ist schon irgendwie ne Hausnummer und ich fühl mich nicht wie 47. Gut, was auch immer das bedeuten soll. Aber man wacht halt irgendwann auf und hat ne graue Schläfe auf einmal und dann denkt man halt immer: Alter? Alter war doch das, was andere Leute haben, aber nicht was einen selber betrifft. Es ist ja auch nicht so, dass man das Gefühl hat, das ist so ein schleichender Prozess, sondern das ist so [schnalzt mit den Fingern] irgendwie. Du bist jugendlich und auf einmal wachst Du auf und denkst: scheiße, jetzt bin ich irgendwie alt. Und ich weiß, das ist immer noch kein Alter, wo ich jetzt sagen könnte, ich bin alt, ich bin ja auch noch halbwegs fit unterwegs, aber [spricht bedeutungsvoller] der Blick auf die Welt ändert sich dann irgendwie doch. Hey, du bist jetzt

108 | G ERRIT HERLYN schon so und so alt, die Jahre rasen so dahin und Lebenszeit ist einfach begrenzt. Was bedeutet das? Musst Du jeden Scheiß mitmachen? Konzentrier dich auf die Sachen, auf die du wirklich Lust hast und alles andere zählt irgendwie nicht. Hier im Plattenladen empfinde ich das noch überhaupt nicht als Problem, und ich kann ja auch theoretisch hier mit 60 noch Platten verkaufen, wobei manchmal die Energie schon ein bisschen nachlässt. Es ist hier häufig echt anstrengend und wenn man dann in diesem Hamsterrad ist, in dieser Spirale und kommst hier abends manchmal erst spät raus, bist fertig und dann stehst Du am nächsten Mittag schon wieder hier und es geht wieder von vorne alles los und es hört praktisch nie auf und man kommt nicht wirklich dazu, Sachen zu reflektieren, mal runterzukommen. Die Wochen verstreichen so und du wirst älter und älter und es geht echt immer schneller. Meine Mutter hat mir früher immer gesagt, wart mal ab, wenn du älter bist, vergeht die Zeit schneller. Was fängst Du mit so ner Aussage an, wenn Du 20 bist? Aber jetzt, wir haben schon fast April. Wo war dieses Jahr bislang? Sowas empfinde ich gerade ganz viel halt. Find schon alles ein bisschen seltsam, was grade so passiert. Vom Gefühl her so. [...] Oder ganz einfache Sachen. Irgendwie, ich kann’s dir nicht erklären, aber in so nem Plattenladen duzt man sich, bin ich der Meinung. Wenn dann wirklich ältere Menschen reinkommen, dann kann das auch passieren, dass ich sie sieze, vom Gefühl her. Aber ich bin da relativ skrupellos. Ich bin schon ne ziemliche Duzmaschine, also hier im Laden halt. Und wenn dann irgendwann so junge Menschen hier stehen, so sagen wir mal 20, und die dich siezen, das irritiert dann erstmal und dann irritiert’s einen irgendwie nochmal und irgendwann ist das schon fast normal. Ich werd ständig gesiezt neuerdings, und das ist irgendwie komisch. Ich will das gar nicht. C: Hängt das mit deinem Älterwerden zusammen oder vielleicht auch mit einem neuen Publikum, das irgendwie anders sozialisiert ist? A: Interessante Frage. Ich hab das Gefühl, dass im Netz das Duzen normal ist. Ich dachte mal, dass sich das vielleicht mal aufhebt, dass man wirklich nur noch vermeintliche Respektspersonen siezt. Keine Ahnung, wenn Du ein Gespräch mit der Bank hast, dann siezt du die Menschen, aber dass man sonst so ein bisschen davon runter gekommen ist. Weiß nicht ob sich da bei den jungen Leuten wieder irgendwas entwickelt hat, dass die sich wieder siezen. [...] Ich sag denen dann auch nicht sowas wie, Du kannst mich auch duzen oder so, dann solln sie mich halt siezen, wenn sie das wollen. Aber, es fühlt sich irgendwie nicht gut an. [verlegenes Lachen] Weil man denkt dann, ok, seh ich jetzt wahrscheinlich auch so aus, wie jemand den man siezt und vor fünf Jahren sah ich noch nicht so aus, irgendwie. Aber gut, ist natürlich jetzt auch nicht ein ernsthaftes Problem.« (Interview vom 23.3.2015)

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M EDIALITÄT

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E RINNERUNGSPRAKTIKEN

Ein wichtiger Aspekt beim Biographisieren von popkulturellen Erfahrungen betrifft die Medialität der Erinnerungspraktiken. Insbesondere den niedrigschwelligen Netznutzungsformaten kommt hier mit dem Kommunizieren und Teilen popbezogener Inhalte eine wichtige Rolle für die Erinnerungskultur zu (vgl. van Dijck 2006: 358). Gerade auch, wenn es um kleinere Szenen geht – bei denen die Überschaubarkeit und Distinktion zu den konstitutiven Merkmalen gehört –, ist das relativ unkomplizierte Herstellen von Öffentlichkeiten wichtig. Selbstverständlich gab es auch ›vor dem Internet‹ szenetypische Formate, in denen eine Selbst-Historisierung mit der Archivierung popkultureller Inhalte, subkultureller Kanonisierung und Geschmacksbildung betrieben wurde; zu denken ist hier etwa an die lange Zeit allgegenwärtigen Fanzines. Aber mit den typischen Netzformaten – am Beginn Newsgroups, Mailing-Lists, später Social-Network Sites wie myspace oder Facebook – sind seit den späten 1990er Jahren nochmal eine stärkere Dynamik, erhöhte Text- und Bildproduktion, schnellere Kommunikation und auch veränderte Formen des Archivierens festzustellen. Illustrieren möchte ich diesen Wandel im Folgenden anhand von zwei Romanen von Nick Hornby – »High Fidelity« (1995) und »Juliet Naked« (2009). In beiden Büchern geht es um die Aufarbeitung von biographisch bedeutsamen Ereignissen anhand von popkulturellen Bezügen. 7 »High Fidelity« ist 1995 erschienen, also vor dem ersten starken Verbreitungsschub des Internets. Die Erinnerungspraktiken des Protagonisten Rob fallen entsprechend analog aus. Kassetten und Schallplatten spielen als materialisierte Erinnerungs- und Bedeutungsträger eine wichtige Rolle, der Schallplattenladen, den Rob führt, ist zentraler, realer und nicht-virtueller Ort des Geschehens. Rob fährt physisch zu verschiedenen Erinnerungsorten. »Juliet Naked«, 2009 erschienen, ist thematisch ähnlich gelagert – hier steht ebenfalls das Pop-Fansein im Mittelpunkt; und auch hier geht es um die biographische Relevanz popkultureller Erfahrungen nicht mehr ganz junger Protagonisten. Nick Hornby gelingt es im Roman – mitunter sehr plakativ – die veränderten Medienbedingungen und Mediennutzungen seit der Veralltäglichung des Internets hinsichtlich von Poperfahrungen literarisch zu verarbeiten. So ist der Protagonist Duncan großer Fan des fiktiven Musikers Tucker Crowe. Tucker Crowe verschwand nach einem Konzert im Jahr 1986 spurlos, und seine treue Fangemeinde

7

Mit der so genannten Pop-Literatur entstand ein literarisches Genre, in dem das biographische Erzählen und Reflektieren von popbezogenen Erfahrungen zum entscheidenden Gestaltungsmoment wurde (Baßler 2002).

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beschäftigt sich neben der Song-Exegese unter anderem mit dem möglichen Verbleib von Tucker und dessen weiterem musikalischen Schaffen. Hornby bindet unterschiedliche textbasierte Formen der Internetkommunikation wie E-MailVerkehr, Newsgroup- und Wikipedia-Einträge in den Roman ein, was als literarische Authentifizierungsstrategie ausgesprochen gut funktioniert. Im folgenden Zitat wird der Wandel der Mediennutzung von Duncan vor und nach dem Internet pointiert zusammengefasst. Deutlich wird zudem, wie sich die Kommunikation und Gruppenbildung der Tucker Crowe-Fans vereinfacht und verstärkt hat: »Aber dann kam das Internet und veränderte alles. Als Duncan etwas später als alle anderen dahinterkam, wie das Ganze funktionierte, richtete er eine Webseite mit dem Namen ›Can anybody hear me?‹ ein – der Titel eines Songs von einer obskuren EP, die Crowe nach dem schmerzlichen Misserfolg seiner ersten LP aufgenommen hatte. Prä-Internet hatte der nächste Fan in Manchester gewohnt, sechzig bis siebzig Meilen entfernt, und Duncan hatte sich nur ein- oder zweimal im Jahr mit ihm getroffen; nun wohnten die nächsten Fans in seinem Laptop. Es gab Hunderte davon, überall auf der Welt und Duncan stand in ununterbrochenem Austausch mit ihnen.« (Hornby 2009: 14)

Was ebenfalls literarisch deutlich wird, ist, dass der Bezug auf eigene Erinnerungen und Erfahrungen sehr stark in die Kommunikation einfließt. So gibt es eine kleine Gruppe von Fans, die internetbasiert kontinuierlich kommuniziert und in ihrem eigenen Diskurs über Tucker Crowe Expertenwissen und Fansein zum Ausdruck bringt. Am Beginn des Romans ist es etwa die reale Reise von Duncan und seiner Freundin in die USA zu verschiedenen Erinnerungsorten der Tucker Crowe-Fans sowie die anschließende Verarbeitung dieser Reise für die virtuelle Gemeinschaft. Hornbys Romane verarbeiten tatsächlich sehr gelungen Beobachtungen in diesem Bereich. Dabei kommt sicherlich auch zum Tragen, dass die so genannte PopLiteratur, zu der Hornbys Bücher prototypisch gezählt werden dürfen, relativ stark über die literarische Verarbeitung autobiographischer Erfahrungen von Pop-Kultur/-Musik funktioniert. Ein kulturelles Archiv anzufertigen und sich selbst darin zu verorten, ist ein zentrales Motiv des Genres, wie dies der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler betont hat (Baßler 2002: 21). Hierzu gehört eben auch, nicht nur »Enzyklopädien« popbezogener Referenzen (ebd.: 94) zu erstellen, sondern diese biographisch gesättigt und als authentisch erfahren literarisch zu präsentieren. Das von Hornby beschriebene Phänomen, also die gemeinsame Erinnerungsarbeit von Fans über und um mehr oder minder bekannte Bands aus unterschied-

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lichen Bereichen, und deren Intensivierung mit Hilfe unterschiedlicher Internetformate ist meines Erachtens sehr treffend dargestellt. Die medialen Bedingungen erleichtern hier das kleinteilige kollektive Erinnern. Das Biographisieren, also das Selbstbezügliche, das Einbringen eigener Erfahrungen ist dabei ein wesentlicher Bestandteil. Damit zusammenhängend zählen Zeugenschaft und Authentizität bzw. die Glaubwürdigkeit von Erfahrungen ebenfalls dazu. Das um Vollständigkeit bemühte Sammeln und Digitalisieren von pophistorischem Material ist ein weiteres wichtiges Merkmal.

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Generell lässt sich inzwischen ein großes Interesse an Pop-Geschichte und hier insbesondere an erfahrungs- bzw. biographienahen Formaten feststellen. So gibt es im Bereich der Fernsehdokumentationen mittlerweile analog zu anderen Historytainment-Formaten auch popbezogene Sendungen. Ein wichtiges Stilmittel sind quasi-Oral History-Interviews, mit denen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen pophistorische Abschnitte kommentieren. Im Jahr 2015 wurde vom NDR etwa die Dokumentation »NDW – Ein kurzes musikalisches Beben« gezeigt.8 Ein weiteres Beispiel ist die inzwischen wieder eingestellte Fernsehreihe »Tonspur – Soundtrack meines Lebens«, die als schweizerisch-österreichisch-deutsche Koproduktion für den Sender 3sat produziert wurde. Der angenommene Zusammenhang zwischen Popmusik und biographischer Erfahrung ist hier der Ausgangspunkt. In der dreißigminütigen Sendung versucht ein dreiköpfiges Team von Musikexperten, sogenannte Profiler, anhand eines Mixtapes einen jeweils im Zentrum der Sendung stehenden Prominenten zu erraten. In kurzen Einspielfilmen verrät dieser etwas über die Musikauswahl, die jeweilige Bedeutung und die damit verbundenen Ereignisse. Als Beispiel (Abb. 1) habe ich den Bob Dylan-lastigen Reinhold Messner ausgewählt, der auch insofern bemerkenswert ist, da seine Bekanntheit aus einem ganz anderen Themenfeld stammt. Gleichzeitig gibt es aber auch Medienformate, -inhalte und -praktiken, in denen keine professionelle Medieninstitution hinter der Aufbereitung pop- und jugendkultureller Erfahrungen steht, und die auf sehr unterschiedliche Art im Social Web vorhanden sind. Für die beteiligten Akteure ist es dabei wichtig, ›Herr‹ über die eigene Geschichtsschreibung zu sein. Als Beispiel habe ich die bereits er-

8

http://www.ndr.de/unterhaltung/leute/NDW-Ein-kurzes-musikalisches-Beben,ndw101. html [Zugriff: 20.10. 2015].

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wähnte Webseite Punkfoto.de ausgewählt, die von Karl Nagel, Jahrgang 1961, betrieben wird. Die Idee hinter dem Punk-Foto-Archiv ist es, eine möglichst umfangreiche Sammlung von analogen Fotos digital zu veröffentlichen und den Nutzenden der Seite die Möglichkeit zu geben, aus »tausenden historischen Punkfotos eigene Alben zusammenzustellen und eigene Bilder hinzuzufügen« (Abb. 2). Es gibt thematisch und zeitlich geordnete Fotoalben, die vor allem die frühe und mittlere Phase des deutschen Punk, also etwa die Zeit zwischen 1977 und 1990 abdecken. Die Archivierung von digitalen Fotos lehnt Nagel mit der Begründung ab, dass diese sowieso verfügbar seien. Zu den einzelnen Fotoalben – die Bilder zeigen in erster Linie Punks bei Ereignissen wie Konzerten, Partys oder Großveranstaltungen wie den Chaos-Tagen – gibt es den Aufruf, die Personen zu identifizieren und etwas über den jeweiligen Kontext zu schreiben (»Wer weiß etwas über dieses Bild?«), und so »am Punk-Geschichtsbuch mitzuschreiben«. Angesprochen sind so also vor allem Personen, die an den jeweiligen Ereignissen bzw. dem Umfeld mit beteiligt waren. Die Kommentardichte und -intensität zu den einzelnen Alben ist sehr unterschiedlich, es sind aber bis zu 350 Einzelkommentare pro Album vorhanden. Angesichts der überschaubaren Menge beteiligter Personen halte ich den hohen Rücklauf für durchaus bemerkenswert. Es lässt sich also schlussfolgern, dass die biographische Relevanz der jugendkulturellen Zugehörigkeit hoch ist. Eine erste Durchsicht zeigt zudem, dass biographische Kontinuität dargestellt bzw. thematisiert wird, indem beispielsweise die Treue/nicht-Treue zur Szene kommentiert wird. Der im abgebildeten Screenshot (Abb.3) aus dem Punkfoto-Hauptarchiv zu sehende Ausschnitt ist hierfür typisch. Die nach wie vor wichtige Punk-Attitüde wird von Jochen im Sinne biographischer Identität herausgestellt, indem er darauf verweist, dass er weiterhin gern die Sex Pistols hört und »Porsche-Fahrern den Mittelfinger zeigt«. Zudem funktionieren die von Karl Nagel bereitgestellten Bilder als Erinnerungs- und Kommunikationsstimulus, was sich darin zeigt, dass Jochen als Kommentator die Bilder lobt (»echt klasse«) und mit der auf dem Bild von ihm identifizierten Gudrun wieder in Kontakt tritt bzw. treten möchte.

S CHLUSS In jüngerer Zeit war eines der meist diskutierten Bücher zu Pop das Buch »Retromania« des Journalisten Simon Reynolds (Reynolds 2012). Eigentlich verfasst in einem klassischen kulturkritischen Gestus, scheint seine Diagnose, dass sich Popmusik gegenwärtig in einem Zustand dauernden Selbst-Zitierens und Histori-

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sierens befindet, doch einen Nerv getroffen zu haben. Interessant hier ist der Umstand, dass Reynolds älteren popmusikalischen Trends und Entwicklungen Authentizität und kritisches Potential sowie den Willen zu Zukunft und ein utopisches Begehren zuspricht und dies also auch als zentrales Motiv von Pop ausmacht. Gebunden ist dieses Potential auch an Jugendlichkeitsvorstellungen, und gerade ältere bzw. alternde Musiker kommen bei Reynolds nicht gut weg. Aus Betroffenenperspektive hat der Sänger der Hamburger Band Die Sterne und wichtiger Protagonist der Hamburger Schule Frank Spilker (Spilker 2014) dies kürzlich ähnlich in der Musikzeitschrift Spex als Unbehagen an der eigenen Musealisierung thematisiert. Dieses kommt für ihn u. a. von der Überführung von Pop – etwa mittels pophistorischer Ausstellungen – in einen musealisierenden Zusammenhang der Hochkultur, der Historisierung und Kanonisierung bei gleichzeitiger Entmachtung der eigenen Autorposition. Beide Beispiele lassen sich als Deutungsversuche für den Zusammenhang von pop- und jugendkulturellen Erfahrungen, Erinnerungspraktiken und konsistentem Entwurf biographischer Identität lesen. Dabei kommt den nun älter werdenden Protagonisten als Akteuren – auch der eigenen Historisierung – eine besondere Bedeutung zu. Aus der Verbindung von Jugendkultur mit ihrem Aktualitätsanspruch auf der einen Seite und dem erlebten Altern auf der anderen Seite ergibt sich meines Erachtens nach ein besonderes Spannungsverhältnis und auch eine Herausforderung für die beteiligten Akteure. Oder um es mit dem Sänger der Hamburger Band Superpunk Carsten Friedrichs zu sagen: »Älter werden in der Popmusik – das ist wirklich die Königsdisziplin«.9 Kulturanalytisch lässt sich hier mit der Perspektive auf das Altern eine Lücke innerhalb der Betrachtung von Jugendkulturen schließen. Ein subjektorientierter biographischer Zugang – wie er im Ausstellungs- und Forschungsprojekt im Museum für Hamburgische Geschichtchen umgesetzt wird – ist hier geeignet, den Blick auf das doing biography selbst zu richten und so Erinnerungspraktiken, Erinnerungskulturen sowie Bilder des Alterns als wichtige Bestandteile eines Alterns von und mit jugendkulturellen Erfahrungen zu betrachten. Zudem schließen sich weitere kulturanalytische Fragen an, etwa die nach der Genderperspektive; handelt es sich doch bei einem Großteil der hier in Erscheinung tretenden Akteure um Männer. Gleichzeitig wurden und werden – wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise – in popkulturellen Feldern Spielräume von Geschlechteridentitäten erprobt und verhandelt.

9

http://www.deutschlandfunk.de/aelter-werden-in-der-popmusik-das-ist-wirklich-die. 807.de.html?dram:article_id=207047 [Zugriff: 7.3. 2016].

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Dass die angesprochenen Beobachtungen auch zu einem veränderten Angebot im Bereich der Popkulturen führen, kann hier ebenfalls als Beleg für das Mitaltern betrachtet werden. Heavy Metal-Kreuzfahrten (»Full Metal Cruise«) oder Festivals in Ferienanlagen in der Nebensaison – wie etwa der von der Musikzeitschrift Rolling Stone veranstaltete jährliche »Weekender« am Weissenhäuser Strand an der Ostsee – sind so nur auf den ersten Blick kurios10.

L ITERATUR Alheit, Peter/Brandt, Morten: Autobiographie und ästhetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne, Frankfurt a. M. 2006. Baßler, Moritz: Der Deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002. Bennett, Andy: Punk's not dead. The Continuing Significance of Punk Rock for an Older Generation of Fans, in: Sociology 40 (2006), S. 219-235. Bonz, Jochen/Rytz, Juliane/Springer, Johannes: Lass uns von der Hamburger Schule reden. Eine Kulturgeschichte aus der Sicht beteiligter Frauen, Mainz 2011. Certeau, Michel de: Kunst des Handelns, Berlin 1988. Cheyenne. This must be the Place: Regisseur: Paolo Sorrentino. Drehbuch: Umberto Contarello, Paolo Sorrentino. Produktionsland: Italien, Frankreich, Irland. Phantom Produktion 2011. TC: 00:04:00 - 00:04:20. Dausien, Bettina: »Biographie« als rekonstruktiver Zugang zu »Geschlecht«. Perspektiven der Biographieforschung, in: Doris Lemmermöhle/Dietlind Fischer/Dorle Klika/Anne Schluter (Hg.): Lesarten des Geschlechts. Zur DeKonstruktionsdebatte in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung, Opladen 2000, S. 96-115. Dijck, José van: Record and Hold: Popular Music between Personal and Collective Memory, in: Critical Studies in Mass Communication 23/5 (2006), S. 357374. Elster, Christian: Vinyl kills the MP3 Industry? Die (sub-)kulturelle Bedeutung der Schallplatte im digitalen Zeitalter, in: Irene Götz/Johannes Moser/Moritz Ege/Burkhart Lauterbach (Hg.): Europäische Ethnologie in München. Ein kulturwissenschaftlicher Reader, Münster 2015, S. 269-290.

10 http://www.full-metal-cruise.com/de/news/; http://www.rollingstone-weekender.de [Zugriff: 7.3.2016].

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Screenshot aus der 3sat-Mediathek zur Sendung »Tonspur – Der Soundtrack meines Lebens«

Quelle: URL: http://www.3sat.de/programm/?showid=C941D66206A2B183 [Zugriff: 12.10.2014].

Abbildung 2: Screenshot der Webseite Punkfoto.de

Quelle: URL: http://www.punkfoto.de/p/reg.php [Zugriff: 10.3.2014].

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Abbildung 3: Screenshot mit Kommentaren aus dem Hauptarchiv von Punkfoto.de

Quelle: URL: http://www.punkfoto.de/p/media/m12624_g229 [Zugriff: 10.03.2014].

»Ich kann das Alter nicht definieren« Alltägliche Alter(n)swirklichkeiten im Dazwischen: Auslotungen einer ethnografischen Dispositivanalyse des ›jungen Alters‹ R EBECCA N IEDERHAUSER

Im Herbst 2014 nahmen sich die 67jährige Psychoanalytikerin Jutta Nolte und ihr zwei Jahre jüngerer Partner, der Bildhauer Hans Haas, Zeit, um in einem gemeinsamen Gespräch über ihr je individuelles Alter(n), aber auch über das Alter(n) der Anderen und der Gesellschaft zu sprechen.1 Wer sind die beiden? Jutta Nolte und Hans Haas sind seit sieben Jahren ein Paar, kennengelernt haben sie sich auf einer Reise. Noch wohnen sie beide in ihren Einfamilienhäusern, Jutta Nolte in einer genossenschaftlich organisierten Siedlung am Rande von Basel, Hans Haas in einem kleinen Dorf in der Nähe von Zürich, wo sie einst mit Ehepartner bzw. Ehepartnerin und Kindern lebten. Über das Alter(n) sprechen sie vor allem, wenn sie ihre Zukunft planen. Denn im Alter, spätestens aber mit 70, wenn beide in Rente gehen, wollen sie zusammen ziehen, in eine gemeinsame Wohnung in einer kleinen Stadt – so ihr Plan. Jutta Nolte zweifelt zunächst an ihrer Qualifikation, zur Altersthematik zu sprechen: sie könne nämlich, wie im Titelzitat bereits vermerkt, das Alter(n) nicht 1

Das Gespräch mit Jutta Nolte und Hans Haas wurde als qualitatives Leitfadeninterview im September 2014 im Rahmen des Promotionsvorhabens ›Kulturelle Verhandlungen von Alter(n) am Beispiel gemeinschaftlicher Wohnformen‹ durchgeführt. Namen sowie alle weiteren Identifikationsmerkmale sind pseudonymisiert. Während das Gespräch hier zum ersten Mal dokumentiert und ausgewertet wird, finden sich verschiedene Gedankengänge auf dem Weg zu einem konstruktivistischen Alter(n)sverständnis in anderen Texten wieder. Namentlich sind dies: Niederhauser 2012 sowie 2016.

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definieren. Das mag ob der aktuell reichlich verfügbaren Ordnungsangebote erstaunen. Wer die Zeitung aufschlägt, die Zeitschriften durchblättert, den Fernseher einschaltet, in der Buchhandlung stöbert oder im Internet surft, begegnet unweigerlich dem Alter(n). Denn die von der Bevölkerungswissenschaft diagnostizierte doppelte demografische Alterung – immer mehr Menschen werden immer älter, und immer weniger kommen neu hinzu – und ihre widersprüchlichen Interpretationen drängen zur gesellschaftlichen und medialen, aber auch politischen, wirtschaftlichen und schließlich wissenschaftlichen Ver- und Behandlung des Alter(n)s (zur aktuellen demografischen Entwicklung in der Schweiz vgl. Bundesamt für Statistik 2014; für Deutschland vgl. Enquête-Kommission ›Demografischer Wandel‹ 2002). Doch sind sich die Demografen bei der Interpretation dieser Veränderung nicht einig. Darüber, wie die statistische Größe einer immer älter werdenden Gesellschaft zu deuten sei, wird heftig debattiert (zur demografischen Diskussion zwischen »Aufregen und Abwiegeln« Günter 2008, 23). Die Apokalyptiker entwerfen ein defizitär-passives, multimorbides, kosten-, weil pflegeintensives ›altes Alter‹. Die Positivisten hingegen zeichnen ein kaufkräftig, sozial engagiertes, gesundes und aktives ›junges Alter‹ (zur Figur der ›jungen Alten‹ vgl. van Dyk/Lessenich 2009). So steht dem herkömmlich negativ konnotierten ›alten Alter‹ neuerdings ein positiv assoziiertes ›junges Alter‹ gegenüber. Ein Alter(n), das mit Gesundheit und Fitness, mit Selbstverantwortung und Hilfsbereitschaft, mit Tatendrang und Kauflust, Offenheit und Lässigkeit assoziiert wird. Diagnostizieren die einen also eine problematisch wahrgenommene Überalterung der Gesellschaft, vermuten die anderen eben darin ein Potential (vgl. Buchen 2008: 7ff.). So generiert die doppelte demografische Alterung nicht nur Kosten, sondern ebenso ein breites Spektrum an Produkten, Dienstleistungen und Erwartungen – von der Gesichtslotion für reife Haut, über das Seniorenwandern bis zum Ehrenamt. Selbstverantwortet – so die biopolitische Devise – soll darum mit verschiedenen Kapitalen in die Gemeinschaft investiert und am je eigenen Alter(n) gearbeitet werden: mit Körperarbeit, Konsumfreude und Wohltätigkeit. Alt werden, aber nicht alt sein ist dabei das übergeordnete Ziel. Und um dieses zu erreichen, werden individuelles und gesellschaftliches Alter(n) mitunter fälschlicherweise miteinander kombiniert. Einzelne Menschen werden in gesellschaftliche Verantwortung gezogen, individuelle Befindlichkeiten mit gesellschaftlichen gleichgesetzt (zum Verhältnis von biopolitischer Überalterung und selbstverantwortetem ›Jungbrunnen‹ vgl. Niederhauser 2016). Auch im Labor der Gerontologen findet sich dementsprechend ein zu bearbeitendes Alter(n): Als interdisziplinärer Forschungszusammenschluss mit praktischer Ausrichtung setzt sich die Gerontologie zum Ziel, das Alter(n) zu optimieren

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(zur Gerontologie als Wissenschaft vom Alter(n) vgl. u. a. die Handbücher Kruse/Martin 2004; Wahl/Heyl 2004; Oswald/Lehr/Kornhuber/Sieber 2006). Nach De-fizits-, Kontinuitäts-, Aktivitäts- und Differenztheorien versuchen die Gerontologen deshalb aktuell unter dem Stichwort der Plastizität sowie mit Hilfe der Begrifflichkeiten des differenziellen und funktionalen Alters pragmatische Bewältigungsstrategien zu systematisieren, um ein erfolgreiches, gutes Alter(n) zu ermöglichen (zu den verschiedenen Alter(n)stheorien im Überblick vgl. u. a. Kruse/Wahl 2010: 77ff.; aus sozialgerontologischer Sicht vgl. u. a. Backes/Clemens 2006). Wie aber verhandeln als alt bezeichnete Menschen das gesellschaftliche Alter(n) und wie deuten sie ihr eigenes Alter(n)? Wie gehen sie in ihrem Alltag mit dem an sie herangetragenen Alter(n) um? Wie eignen sie sich dieses an, wie verändern sie es und wie werden sie dadurch selbst zu Wirklichkeitskonstrukteuren? Wie verhandeln sie den Widerspruch, der das Alt-Werden propagiert, das Alt-Sein hingegen verwirft? Und vor allem: wie erfahren sie ihr je individuelles Alter(n)? Kurz: Wie sehen alltägliche Alter(n)swirklichkeiten aus? Diesen Fragen geht das Gespräch mit Jutta Nolte und Hans Haas nach. Die ethnografisch-kulturanalytische Herangehensweise versucht, induktiv aus der Innenperspektive einen verstehenden Zugang zu alltäglichen Alter(n)swirklichkeiten zu finden (zu einer ethnografisch-kulturanalytischen Herangehensweise vgl. Lindner 2003: 177ff.). Das Alter(n) soll damit nicht länger als biologische Essenz definiert werden. Stattdessen soll es als kulturelle Variable, deren Ordnungen es zu erforschen gilt, verstanden werden. Damit richtet sich der Fokus auf die performative Konstruiertheit des Alter(n)s, wie sie in der angloamerikanisch-kritischen Gerontologie (vgl. u. a. Katz 1996; Powell 2004) hinlänglich bekannt, von Simone de Beauvoir bereits in den 1970er Jahren gedacht (vgl. de Beauvoir 1972), im deutschsprachigen Raum aber bis anhin mit wenigen Ausnahmen kaum rezipiert ist (u. a. Schroeter/Zimmermann 2012: 75; Schroeter 2009: 359ff.; Schroeter 2007: 134ff.). Ein an Michel Foucault angelehnter Dispositivbegriff kann als Denkfigur helfen, das Alter(n) jenseits seiner Biologismen zu beschreiben: Das ›Dispositiv‹ ist nach Foucault ein machtgeleitetes, strategisches »Netz«, das sich zwischen »heterogenen Elementen« spannt und die unzähligen Einzelteile als »heterogene Gesamtheit« zueinander in eine machtvolle Beziehung setzt. Es ist eine Art Gebilde, das die »strategische Funktion hat, einer dringenden Anforderung« nachzukommen (vgl. Foucault 2003: 392ff.). Dieser foucaultsche Dispositivbegriff wird im Sinne der Cultural Studies um das Alltägliche erweitert und auf die Subjekte fokussiert. So soll dreierlei gelingen: Erstens denkt sich Verschiedenes – ähnlich einer ›Assemblage‹ im Sinne eines aus verschiedenen Materialien bestehenden Gefüges (zum Begriff der Assemblage vgl. Deleuze/Guattari 2005:12 sowie sich

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darauf beziehend Rabinow 2004: 72) – zusammen, zweitens versteht sich Kultur als von Macht durchdrungen und damit in einer hierarchischen Ordnung erscheinend, drittens rücken die Subjekte in ihrer alltäglichen Wirklichkeit als gehorchend Diktierte und zugleich kreativ-widerständig Agierende des Dispositivs ins Zentrum des Interesses. Die Alter(n)swirklichkeiten konstruieren sich demnach in einem mächtigen Zusammenspiel von institutionell Gesagtem, Verhandeltem und Gemachtem auf der einen Seite und auf der anderen Seite von je eigenem Denken, Sprechen, Handeln und Materialisieren durch Menschen (zum Altersdispositiv vgl. Niederhauser 2012). Alter(n) in diesem Sinne zu begreifen heißt also zunächst, es als Dispositiv zu verstehen, um sodann den Knoten und Fäden dieses asymmetrischen, sich stets im Wandel befindenden Netzes zu folgen und schließlich die Kräfteverhältnisse und Geschwindigkeiten zu messen, ohne je das Viele zu vergessen – gleichsam einer auf Macht sensibilisierten und auf die alltäglichen Subjekte fokussierten Lesart des von Gilles Deleuze und Félix Guattari beschriebenen ›Rhizoms‹, das auf Vielheiten fokussiert (vgl. Deleuze/Guattari 2005: 11ff.). Damit soll eine theoretische und zugleich empirische Perspektive auf die kulturelle Konstruiertheit der Alter(n)swirklichkeiten ermöglicht werden. Gefragt ist deshalb ein entsprechendes methodisches Verfahren, das eine besondere Nähe zu den Forschungssubjekten und deren alltäglichen Verhandlungsund Deutungshorizonten aufweist, wie es das ›qualitative Interview‹ (vgl. für die empirischen Kulturwissenschaften Schmidt-Lauber 2001: 165) und dessen von Clifford Geertz beschriebene ›dichte Beschreibung‹ (vgl. Geertz 1983: 15) vorsieht. Im Folgenden kommen Jutta Nolte und Hans Haas deshalb selbst zu Wort. In den abgebildeten Gesprächsausschnitten, die aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert wurden, jonglieren sie mit den Ungereimtheiten des Altersdispositivs, eignen sich dieses an und interpretieren es, adaptieren und konstruieren zugleich. Sie verhandeln das gesellschaftliche Alter(n), deuten ihr eigenes, verknüpfen beide und verstricken sich dabei selbst in Widersprüchlichkeiten. So werden im Dialog Vielheiten von Alter(n)s-Konstruktionen sichtbar. Diese werden im Anschluss an den abgebildeten Gesprächsausschnitt in mehrstimmig-parallelen Ordnungsversuchen analysiert, interpretiert und schließlich im Dazwischen verortet.

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G ESPRÄCH

R.N.: Man beginnt, sich mit dieser Lebensphase zu beschäftigen. [...] Hans Haas: Also dass man alt wird, dass man alt ist? Das kommt, wenn die Rentenversicherung kommt oder wenn man pensioniert wird. Dann weiß man, man ist alt. [...] Man merkt es auch in den Knochen, dass man alt ist. [...] Man merkt es, weil man etwas vergesslicher wird. [...] R.N.: Würdet ihr sagen, ihr seid alt? Jutta Nolte: Ja. Aber noch in der angenehmeren Phase des Alt-Seins. Es gibt ja auch so eine Bandbreite. Also es tut mir nirgends weh, es geht mir gut. Hans Haas: Wir sind alt, das ist klar. [...] Jutta Nolte: Ja. Aber ich muss sagen, im Alltag merke ich das dann eben noch nicht an so vielen Sachen. Ich weiß es einfach. [...] Hans Haas: Wer mit 60 sagt, er sei noch nicht alt, der ist weltfremd. Jutta Nolte: Aber man ist sicher anders alt, mit 60 als mit 80. Hans Haas: [...] Ja, das ist so, wenn du diese Abstufungen machst. [...] Aber es ist auch nichts Negatives, wenn man alt ist. Ich finde es peinlich, wenn jemand alt ist und nicht dazu stehen kann [...]. Ich meine, man wird auch transparent im Alter. [...] Jutta Nolte: Sozial meinst du? Ja, du wirst einfach übersehen. [...] Das finde ich gar nicht so unangenehm. [...] R.N.: Ist fit bleiben ein Thema für euch? Hans Haas: Ja. Yoga. [...] Ich habe wieder angefangen, Fahrrad zu fahren. [...] Ich bin fitter als vor 20 Jahren. Körperlich. Aber das ist, weil ich aufgehört habe zu rauchen. Das ist die größte Entwicklung für die Gesundheit. Jutta Nolte: Ich fahre Fahrrad. Und ich mache Krafttraining. [...] Ich finde, das ist super als Altersprophylaxe. [...] Hans Haas: Beim Essen und Trinken sind wir nicht extrem oder speziell. Jutta Nolte: Ich finde, wir essen relativ gesund. [...] Was machen wir noch? Also nicht nur körperlich. [...] Geistig versuche ich natürlich auch irgendwie wach und informiert zu bleiben. [...] Aber es gibt sicher Sachen, von denen ich keine Ahnung mehr habe, die mich eben schon nicht mehr interessieren. Es gibt eindeutig Sachen, von denen ich finde, dafür bin ich zu alt. [...] Hans Haas: Nicht mehr bei allem mitmachen, das ist auch ein Vorteil im Alter. Wobei es auch solche in unserem Alter gibt, die meinen, sie müssten noch überall mitmischen. [...] Hans Haas: Wir arbeiten beide noch 60 Prozent. [...] Darunter leiden auch viele, wenn sie pensioniert werden. Dass sehr viele Kontakte wegbrechen und sie niemand mehr sind oder nicht mehr so gefragt sind. R.N.: Und danach, was macht ihr? [...] Hans Haas: Du hast gesagt, du möchtest vielleicht mal etwas Soziales machen.

124 | REBECCA N IEDERHAUSER Jutta Nolte: Also das ist ein Plan, den ich schon lange habe. [...] Vielleicht werde ich auch Großmutter mit 70. Hans Haas: Dann musst du die Großkinder hüten. [...] Jutta Nolte: Ich habe das Gefühl, mir würde es nicht so schnell langweilig. Hans Haas: Wenn du mit Pensionierten etwas abmachen möchtest, das ist das Schwierigste, mit denen einen Termin zu finden. [...] Aber man ist einfach auch nicht mehr so schnell. [...] Das merkt man schon jetzt. [...] R.N.: Was macht für euch ein gutes Alter aus? Jutta Nolte: Körperlich nicht all zu viel leiden zu müssen. Davor habe ich Angst. Hans Haas: Nicht auf Pflege angewiesen sein, nicht abhängig sein. Möglichst lange selbständig sein können. Wenn das mal vorbei ist, dann wird es hart. Dann finde ich es nicht mehr lustig. […] Sowohl körperlich als auch geistig. Jutta Nolte: Ich kann mir ganz gut vorstellen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. [...] Hans Haas: Jaja, aber du kannst es dann noch selbst organisieren. Das ist für mich auch Selbständigkeit, wenn du dir die Hilfe selbst holen kannst und sagen kannst, was man dir wo helfen muss. [...] Aber wenn dann die anderen über dich bestimmen, wann du aufstehen und wann du ins Bett und wann du essen gehen musst und sie dir das Essen einfach hinstellen. [...] Jutta Nolte: Selber kochen ist mir zum Beispiel auch wichtig. Wenn ich mir dieses ekelhafte Fressen der Altersküchen vorstelle, wenn ich das nur schon anschaue, ich glaube, ich würde spindeldürr, wenn ich das essen müsste. Hans Haas: Zum Glück lassen auch die Geschmacksnerven nach. Also das Altersheim ist für mich eine schreckliche Vorstellung. [...] Jutta Nolte: Das hat natürlich mit Selbstständigkeit zu tun, das ist eigentlich das Thema. Hans Haas: Das ist etwas vom wichtigsten. Und dass man noch als zurechnungsfähig gilt und das Zeugs noch selbst verantworten kann, Eigenverantwortung haben. Jutta Nolte: Und auch noch mitbekommen, was auf der Welt passiert. [...] Und sozial noch irgendwie Kontakt zu haben, ist auch noch wichtig. [...] Hans Haas: Egal, was es ist, einfach, dass man nicht vereinsamt. [...] Jutta Nolte: Weiter Goldschmieden zu können. Aber das höre ich definitiv auf, spätestens mit 70. Das ist klar. Ich habe jetzt schon Mühe mit den Augen. Hans Haas: Eben, das ist auch etwas, so Hobbys. Das ist wie bei mir das Ballonfahren, dass du Hobbys irgendwann aufhören musst. Auch mit dem Fischen ist mit 75 fertig, wenn du nicht mehr im Bach rum kriechen kannst. [...] Also für mich wäre der Verlust der Selbständigkeit wirklich schlimm. Alles andere kann ich loslassen. Jutta Nolte: Also offen bleiben ist für mich auch noch ein wichtiger Punkt beim Alt-Werden. Ich merke schon manchmal, dass ich finde, Herrgott, die Jungen. So dieses Gefühl, früher ist es doch anders gewesen. [...]

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Hans Haas: Wer wirklich alt wird, das merkst du, wenn sie nur noch von früher erzählen. Wenn sie keine Zukunft mehr sehen oder nichts mehr vorausplanen. Nur noch zurück blicken. Dann ist es einfach vorbei. [...] R.N.: Wie erlebt ihr das gesellschaftliche Alter? Jutta Nolte: Ich denke, das ist einfach eine Realität, dass die Alten immer mehr kosten werden. [...] Hans Haas: Das ist ein echtes Problem. [...] Am schlimmsten sind diejenigen, die das Geld verspielen und nachher Ergänzungsleistungen beanspruchen. [...] Jutta Nolte: Also mich greifen all diese Sachen nicht persönlich an. Das sind gesellschaftliche Probleme, die einfach nicht gehen. Hans Haas: Wir haben eine Überalterung. Wir haben immer weniger Junge und immer mehr Alte. Ich bin dort auch hart, ich bin auch der Meinung, dass bei einem 80-Jährigen nicht mehr einfach alles gemacht werden sollte. [...] Jutta Nolte: Also fürchten tue ich einfach das hohe Alter. Ich meine, wir sprechen viel darüber. Also für mich ist Sterbehilfe eindeutig eine Variante. [...] Hans Haas: Diesen Moment sollte man nicht verpassen, wenn man gehen muss. [...] Die Zeit geht rasend, es geht so schnell vorbei. [...] Das Gröbste haben wir. Aber es hat immer noch Qualität, das muss man auch sagen. Jutta Nolte: Mein Leben hat jetzt mehr Qualität, als es in anderen Phasen meines Lebens hatte. Viel weniger inneren und äußeren Stress. Darum finde ich es bis jetzt nicht so schlimm, alt zu sein.

ALLTÄGLICHE ALTER ( N ) SWIRKLICHKEITEN D AZWISCHEN : O RDNUNGSVORSCHLÄGE

IM

Wie verhandeln Jutta Nolte und Hans Haas ihr Alter(n)? Und wie deuten sie ihre alltäglichen Alter(n)swirklichkeiten? Im Gespräch finden sich wiederholt lebenslaufimmanente Zuschreibungen. Sie sprechen vom Nachberuflichen und befinden sich in der nachfamiliären und nachehelichen Phase. Sie halten sich fit und gesund, machen Sport, ernähren sich bewusst, haben Hobbys, wollen sich sozial engagieren und Enkelkinder betreuen. Sie fühlen sich frei und sprechen von Lebensqualität. Sie haben körperliche und geistige Einbußen und sind doch gesund. Sie haben Angst vor Krankheiten, vor dem Verlust der Selbstständigkeit und vor dem Altersheim. Sie sprechen vom Loslassen und schließlich vom Sterben. Sie wissen um ihr jetziges Alter und reden doch meist über ein zukünftiges, über ein anderes Alter. Sie sind alt, ohne alt zu sein. Jutta Nolte und Hans Haas verhandeln ihr Alter(n) innerhalb der Widersprüchlichkeiten und Gleichzeitigkeiten, die sich im Altersdispositiv finden. Sie greifen

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artikuliertes Wissen auf und deuten es in ihrer alltäglichen Wirklichkeit um. Ihre Verhandlungen, Konstruktionen und Deutungen gleichen einem dispositiven Dazwischen, das Eigenständiges und Widerständiges mit Adaptionen verknüpft, das selbst in Widersprüchlichkeiten denkt, um ebensolche zu verstehen. Damit bewegen sie sich kreativ und eigenständig im Dispositiv, ohne dieses aber je zu verlassen. Entlang von vier Ordnungsvorschlägen versucht die folgende Analyse eben diese Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten zuzulassen und als Forschungsergebnis zu verstehen.

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MULTIMORBIDEN

ALTER ( N ) ENTZIEHEN

Jutta Noltes und Hans Haas’ Alter(n)sverhandlungen und -deutungen lassen sich zunächst als eine Kette von Angst evozierenden Verlust-Erfahrungen zusammenfassen. Im Gesprächsverlauf beschreiben die beiden körperliche und geistige Defizite: Sie sprechen von gesellschaftlicher Transparenz und sozialer Isolation, von einem Nicht-mehr-Können, vom Loslassen-Müssen, Abhängig-Werden, vom Starrsinnig-Werden und Zukunftslos-Sein, vom Zu-viel-Kosten. Wenn Jutta Nolte »Angst« hat und Hans Haas es »nicht mehr lustig« findet, wenn sich beide gegenseitig versichern, dass alt zu sein »nichts Negatives« sei, so beziehen sie sich auf ein defizitäres Alter(n), das auf Angst und Verluste fokussiert, das gesellschaftlich zur Last fällt – ein Alter(n) also, wie es die dystopischen Überalterungsszenarien vorsehen. Diesem multimorbiden Alter(n) entziehen sich die beiden, indem sie auf dessen Widersprüchlichkeit verweisen und sich darüber mokieren: Sie sprechen vom »ekelhaften Fressen der Altersküchen«, das nur mit »nachlassenden Geschmacksnerven« zu ertragen wäre, oder davon, dass hinsichtlich der sog. gesellschaftlichen Überalterung »bei einem 80-Jährigen nicht mehr einfach alles gemacht werden sollte«. Sie entziehen sich dem negativ konnotierten Alter(n) aber auch, indem sie ihm gleichsam einen Streich spielen und gedenken, vorher zu sterben. Sterbehilfe, so sind sich die beiden einig, ist für sie eine Option, um, wie Hans Haas es sagt, den Moment nicht zu verpassen, in dem man gehen müsse. Damit gelingt es ihnen auch, sich aus der an sie herangetragenen gesellschaftlichen Verantwortung zu ziehen, so »greifen« Jutta Nolte »all diese Sachen nicht persönlich an«. Und schließlich entziehen sie sich dem Alter(n), indem sie sich bewusst dagegen abgrenzen, sie es nicht für sich reklamieren und in die Zukunft verschieben. Für Jutta Nolte, die das »hohe Alter« fürchtet, ist man denn auch »anders alt, mit 60 als mit 80«.

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Alt sind deshalb die Gesellschaft und die Anderen, die noch Älteren, die Abhängigen, nur sie selbst gerade heute nicht. Damit gelingt es den beiden, die Angst, die sie vor körperlichem Leid, dem Verlust der Selbstständigkeit und der Vereinsamung haben, zumindest vorerst abzuwenden.

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ALT -S EIN

Dennoch bezeichnen sich Jutta Nolte und Hans Haas als alt. Nicht, weil sie sich, wie soeben dargestellt, als abhängig, krank oder debil verstehen, sondern weil sie um ihr Alter(n) wissen. Hans Haas spricht vom Alter(n) als etwas, das man aufgrund der Rentenversicherung und Pension wisse, als etwas, das man aufgrund der Lebensjahre sei, aber auch als etwas, das man körperlich und geistig merke, etwa dann, wenn man »vergesslicher wird«, oder dann, wenn man es »in den Knochen merkt«. Zugleich fühlt er sich fitter als vor 20 Jahren und ist selbst noch nicht pensioniert. Ähnlich ist es bei Jutta Nolte: Sie »weiß es einfach«, merkt es alltäglich aber nicht, weil es ihr eben »nirgends wehtue«. Woher beziehen die beiden ihr Wissen um das eigene Alt-Sein? Wenn sie von der Pensionszäsur, den Lebensjahren und körperlich-geistigen Defiziten sprechen, so argumentieren sie entlang des soeben nicht für sich beanspruchten Alter(n)s. Es ist das Alter(n), das die beiden zwar merken und vor allem wissen, aber nicht empfinden, nicht fühlen und deshalb anderen, noch Älteren oder ihrer Zukunft zuschreiben. Das Wissen um das Alt-Sein divergiert also mit der Erfahrung des Sich-alt-Fühlens. Sind die beiden deswegen nicht alt? Doch. Und das bestreiten sie auch nie. Von der Jugend distanzieren sie sich denn auch ganz klar. Etwa dann, wenn Hans Haas auf Altersrollen verweist, wenn er es peinlich findet, wenn jemand nicht zu seinem Alter(n) stehen kann oder dann, wenn sich Jutta Nolte mit einem »Herrgott« über die Jugend enerviert und das Gefühl hat »früher ist es doch anders gewesen«. Die Negierung des Alter(n)s erscheint hier also vielmehr als Trick, sich von einem negativ besetzten Alter(n) zu befreien – Jutta Nolte und Hans Haas sind alt, ohne krank und infirm zu sein. Stattdessen proklamieren sie für sich ein Alter(n), das aktiv und gesund ist, ein Alter(n), bei dem es Jutta Nolte »nicht so schnell langweilig« wird und das Hans Haas »fitter als vor 20 Jahren« erscheinen lässt.

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AKTIV ,

GESUND UND JUNG

So findet sich auch eine ganz andere Alter(n)sdeutung, die nicht von Angst und Verlust, sondern von Freiheit, neuen Hobbys, nie dagewesener Lebensqualität, Fitness und Gesundheit erzählt. Pensionierte, so Hans Haas, seien immer ausgebucht, hätten nie Zeit. Und die noch nie dagewesene Lebensqualität lässt Jutta Nolte das Alt-Sein schließlich als nicht so schlimm beschreiben: Ihr »Leben hat jetzt mehr Qualität«, darum findet sie es »bis jetzt nicht so schlimm, alt zu sein«. Hans Haas sieht gar Vorteile im Alter(n), etwa dann, wenn er gesellschaftliche Narrenfreiheit genießt, weil ihn keiner sieht und Jutta Nolte diese soziale Transparenz »gar nicht so unangenehm« findet. Dieses aktive, gesunde und positiv verstandene Alter(n) ist aber zugleich auch ein Alter(n), das als Aufgabe wahrgenommen wird, die es zu bearbeiten gilt. Ein Alter(n), das am Selbst arbeitet, sich um sich sorgt und so zur selbstverantworteten Technologie wird. Hans Haas arbeitet an seiner Gesundheit, um körperlich fitter zu werden: Er macht Yoga, fährt wieder Fahrrad und hat das Rauchen aufgegeben, was »die größte Entwicklung für die Gesundheit« gewesen sei. Schließlich versucht Jutta Nolte im Fitnesscenter gar dem Alter(n) zu entkommen, wenn sie von »Altersprophylaxe« spricht. Machen die beiden Sport gegen das Alter(n)? Versuchen sie doch, jung zu bleiben? Oder noch älter zu werden? Trotz wiederholter Distanzierung vom ÄlterWerden, die etwa dann zum Ausdruck kommt, wenn beide von Sterbehilfe sprechen, um den richtigen Moment nicht zu verpassen, oder aber, wenn Hans Haas moderne Medizin bei 80-Jährigen ablehnt, ist es wohl doch die richtige Deutung: Sie versuchen älter zu werden ohne dabei alt zu sein. Hier, in dieser widersprüchlichen Erzählung, kommt das dem Dispositiv inhärente Paradoxon zum Ausdruck. Es ist das, was das Dispositiv vorgibt: Gesundbleiben, fit bleiben, jung bleiben, um alt zu werden, aber nicht alt zu sein, um im Alter keine Kosten zu verursachen. Das ist das Alter(n), mit dem sich Geld verdienen lässt, das werbewirksam inszeniert wird, das im Sinne der neoliberalen Biopolitik von der Gesellschaft Selbstverantwortung einfordert.

V ERSCHIEDENE ALTER Dass Jutta Nolte und Hans Haas alt sind, ohne alt zu sein, wenn sie defizitäre Alter(n)svorstellungen in die Zukunft verschieben und von anderen als den noch älteren sprechen, ist Zeichen dafür, dass sie das Alter(n) nicht als einheitliche Lebensphase erleben, und dass auf ihr jetziges Alter(n) ein weiteres folgt, das es

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wiederum zu verhandeln und zu deuten gilt. Jutta Nolte spricht von einer »Bandbreite«, von einem »Anders-alt-Sein«. Hier sind auch ihre Noch-nicht- und Schonjetzt-Formulierungen einzuordnen: Denn Jutta Noltes Zukunftserzählungen eines noch nicht multimorbiden Alter(n)s sind gespickt mit Einschüben aus der Gegenwart. Wiederholt finden sich Schon-jetzt-Formulierungen, etwa, wenn Hans Haas merkt, dass er »nicht mehr so schnell« ist, oder Jutta Nolte bei ihrem Hobby, dem Goldschmieden, »jetzt schon Mühe mit den Augen« hat. Das Alter(n) der beiden unterteilt sich also in verschiedene Alter, in ein junges und in ein altes, in ein frühes und in ein spätes, in ein gesundes und in ein krankes, in ein positiv und in ein negativ besetztes Alter(n), in eines, um das man weiß, und in eines, das man fühlt. Für Jutta Nolte heißt das, in eine »angenehmere Phase« und in ein angstevozierendes Alter(n) zu unterscheiden, in eines mit 60 und in eines mit 80 Jahren. Die Alter(n)sverhandlungen verweisen auf die demografisch bedingt neu erfundene Lebensphase, die in der Gerontologie oft ›junges Alter‹ genannt wird und sich damit vom bisherigen negativ konnotierten Alter(n) abgrenzt. Sie wird damit dem Umstand gerecht, dass sich das Alter(n) ausdehnt und nicht mehr als einheitliche Lebensphase gedacht werden kann. Hier entwirren sich die Widersprüchlichkeiten. Denn Jutta Nolte und Hans Haas verorten sich im Dazwischen, zwischen jung und alt. So entziehen sich die beiden in ihren Selbstdeutungen dem Dispositiv nicht. Nicht Widerstand, sondern eigenständig-kreative Adaption als ein Dazwischen-Sein kommt hier zum Ausdruck.

R ESÜMEE : J ONGLIEREN MIT

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D ISPOSITIV

In vier Ordnungsvorschlägen wurden verschiedene alltägliche Verhandlungen und Deutungen des Alter(n)s skizziert, ohne dabei die Vielstimmigkeiten, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten zu glätten. So müssen alle Ordnungsvorschläge, alle Analyse-Schnipsel und Interpretations-Linien zusammengedacht werden, um in einem multiperspektivischen, dichten Zugang den alltäglichen Alter(n)swirklichkeiten wenigstens ein bisschen näher zu kommen, wie es die einleitend entworfene Denkfigur des als Rhizom gelesenen Altersdispositivs mit ihren empirischen Werkzeugen vorsieht. Jutta Nolte und Hans Haas entziehen sich ständig dem Alter(n) und dem selbst Gesagten. Sie bleiben in ihren Verhandlungen und Deutungen undeutlich, wider-

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sprechen sich im Verlauf des Gesprächs wiederholt. Aber gerade dieser fortlaufende Entzug, diese unaufgeregten Verhandlungen und diffusen Deutungen sind es, die aufhorchen und hinschauen lassen. Sowohl in gerontologischen Theorien und Modellen als auch in den dispositiven Ordnungsangeboten sind Jutta Nolte und Hans Haas jedenfalls nur schwer unterzubringen. Ihr Bezug auf die lebenslaufinhärenten Eckdaten und ihre Gesundheit ordnen sie im ›jungen Alter‹ ein, ebenso ihr sportliches, freizeitorientiertes und soziales Engagement. Doch ihr Erleben von körperlichen und geistigen Einbußen ordnen sie späteren Alter(n)sphasen zu. Ihre Verlust-Erzählung erinnert an die Defizit-These. Zur Erklärung für Hans Haas Hobby-Wechsel vom Ballonfahren zum Fischen eignet sich der Kompensationsgedanke. Ihre nachberufliche Freiheit, die es zu planen und mit Sozialengagement zu gestalten gilt, kommt sowohl der Aktivitätstheorie respektive dem sog. Erfolgreichen und guten als auch dem produktiven Alter(n) nahe. Und ihre Sorge um sich, die sich im Sport und der Ernährung, der Arbeit an der körperlichen und geistigen Fitness zeigt, setzt wiederum den kritischen Link zur angloamerikanischen foucaultschen Gerontologie. Auch wenn Jutta Nolte und Hans Haas klar zwischen einem individuellen Alter(n) und einem gesellschaftlichen Alter(n) – dessen Problematik sie zwar wahrnehmen, nicht aber auf sich beziehen – unterscheiden: Mit Sport und Ernährung arbeiten auch sie im Namen der neoliberalen Biopolitik selbstverantwortet an ihrem Jungbrunnen, ihr Sozialengagement und ihre Hütedienste entlasten den Sozialstaat, ihre Bereitschaft zur Sterbehilfe senkt die Pflegekosten. Kommentare wie derjenige von Hans Haas, der die kritisiert, welche, wie er sagt, ihr Geld verspielen, um sodann Ergänzungsleistungen zu erhalten, ziehen einzelne in gesellschaftliche Verantwortung. Jutta Noltes und Hans Haas’ Alter(n) ist letztlich doch auch ein gesellschaftliches Alter(n). Ein Alter(n), das immer im Dispositiv balanciert und dennoch eigenständig bleibt. Denn wenn Hans Haas im Gespräch von der Pension als einem »Dann weiß man, man ist alt« spricht, und Jutta Nolte über ihr Alter(n) als etwas, was sie nicht empfinde, sondern einfach wisse, verweisen sie auf ein bewusstes Umgehen mit Alter(n)skonstruktionen. Die beiden adaptieren und verändern in ihrer Selbstdeutung die medialen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Alter(n)skonstruktionen. Ihre Alter(n)sverhandlungen sind ein Dazwischen, das von Widersprüchen und Gleichzeitigkeiten geprägt ist, das Jetziges mit Zukünftigem verknüpft. Sie bedienen sich der Zuordnung zu verschiedenen gerontologischen Lebensphasen, verändern deren Definitionen, jonglieren mit Wissen, reflektieren Zuschreibungen. Deshalb passen sowohl die neuesten gerontologischen Begrifflichkeiten des dif-

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ferenziellen bzw. funktionalen Alters als auch das oft zitierte Theorem der Plastizität nicht zu ihnen, denn auch diese machen das Alter(n) letztlich nicht zu einem zu verhandelnden, sondern zu einem zu behandelnden Konstrukt, zu einem Konzept, das davon ausgeht, dass das Alter(n) negativ und deshalb zu optimieren sei. Hiervon zeugen die sich wiederholenden Negierungen eines negativ verstandenen Alter(n)s, etwa wenn Hans Haas betont, es sei ja »nichts Negatives, wenn man alt ist«. Die Alter(n)sverhandlungen und -deutungen von Jutta Nolte und Hans Haas sind jedenfalls Versuche, die alltäglichen Alter(n)swirklichkeiten zwischen selbstverantwortetem Jungbrunnen und biopolitischer Überalterung zu deuten. Und es sind Versuche, das je eigene Alter(n) im Dispositiv zu verhandeln und damit selbst zu Alter(n)skonstrukteuren zu werden. Vielleicht sind sie ja beides, jung und alt zugleich? Das Alter(n) ist vielleicht eben doch nicht zu definieren.

L ITERATUR Backes, Gertrud M./Wolfgang Clemens: Soziologische Alternstheorien, in: Wolf D. Oswald/Ursula Lehr/Johannes Kornhuber/Cornel Sieber (Hg.): Gerontologie. Medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, Stuttgart 2006, S. 36-42. Beauvoir, Simone de: Das Alter, Reinbeck bei Hamburg 1972. Buchen, Sylvia/Maja S. Maier: Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, in: Sylvia Buchen/Maja S. Maier (Hg.): Älterwerden neu denken. Interdisziplinäre Perspektiven auf den demografischen Wandel, Wiesbaden 2008, S. 7-27. Bundesamt für Statistik: Die Bevölkerung der Schweiz 2013, Neuchâtel 2014. Deleuze, Gilles/Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 2005. van Dyk, Silke/Stephan Lessenich: Junge Alte. Vom Aufstieg und Wandel einer Sozialfigur, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich: Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009, S. 11-48. Enquête-Kommission Demografischer Wandel 2002: Schlussbericht. Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik, URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/088/1408800.pdf [Zugriff: 31.11.2015]. Foucault, Michel: Das Spiel des Michel Foucault, in: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Bd. 3, 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt a. M. 2003, S. 391-429.

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Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987. Günter, Joachim: Die Altersfalle – schon zugeschnappt? Seit mehr als hundert Jahren pendelt der demografische Diskurs zwischen Aufregen und Abwiegeln, in: Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2008, S. 23. Katz, Stephen: Disciplining Old Age. The Formation of Gerontological Knowledge, Charlottesville 1996. Kruse, Andreas/Hans-Werner Wahl: Zukunft Altern. Individuelle und gesellschaftliche Weichenstellungen, Heidelberg 2010. Kruse, Andreas/Mike Martin (Hg.): Enzyklopädie der Gerontologie. Alternsprozesse in multidisziplinärer Sicht, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2004. Lindner, Rolf: Vom Wesen der Kulturanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 177-188. Niederhauser, Rebecca: »So turne halt nicht so viel, dann wirst du nicht so alt!« Alltägliche Alter(n)swirklichkeiten zwischen selbstverantwortetem Jungbrunnen und biopolitischer Überalterung, erscheint 2016. Niederhauser, Rebecca: »Ich bin alt. Aber ich fühle mich nicht so.« Das Altersdispositiv oder der alltägliche Umgang mit dem neuen Alter, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 6 (2010/2011), Themenschwerpunkt: Alter(n), Innsbruck 2012, S. 19-36. Oswald, Wolf D./Ursula Lehr/Johannes Kornhuber/Cornel Sieber (Hg.): Gerontologie. Medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, Stuttgart 2006. Powell, Jason. L.: Rethinking Gerontology. Foucault, Surveillance and the Positioning of Old Age, in: http://sincronia.cucsh.udg.mx/powell04.htm [Zugriff: 12.12.2015]. Rabinow, Paul: Was ist Anthropologie? Frankfurt a. M. 2004. Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des RedenLassens, in: Silke Göttsch/Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2001, S. 169-186. Schroeter, Klaus R./Harm-Peer Zimmermann: Doing Age on Local Stage. Ein Beitrag zur Gouvernementalität alternder Körper heute, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 6 (2010/2011), Themenschwerpunkt: Alter(n), S. 72-83. Schroeter, Klaus R.: Die Normierung alternder Körper – gouvernementale Aspekte des doing age, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M. 2009, S. 359-379.

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Schroeter, Klaus R.: Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der »alterslosen Altersgesellschaft«, in: Ursula Pasero/Gertrud M. Backes/Klaus R. Schroeter (Hg.): Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion, Wiesbaden 2007, S. 129-148. Wahl, Hans-Werner/Vera Heyl: Gerontologie – Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004.

Alter im Blick Überdeterminierung und Dethematisierung H ARM -P EER Z IMMERMANN

Um in der Sprache der Jugend zu beginnen: Das Thema Alter erlebt derzeit einen Hype. Es ist zu einem Hyperthema geworden. Das heißt, es ist nicht nur viel vom Alter die Rede, sondern es ist so viel davon die Rede, dass man sich des Eindrucks kaum erwehren kann, es werde viel zu viel Gerede darum gemacht – nicht zuletzt von uns, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ich möchte deshalb von Überthematisierung des Alters sprechen und muss doch zugleich daran mitwirken. Das ist paradox: Noch wer Überthematisierung kritisiert, beteiligt sich daran. Mit Überthematisierung ist indes nicht nur ein quantitatives Phänomen gemeint – die anschwellende Masse an Medienberichten und anderen Publikationen. Sondern gemeint ist vor allem ein qualitatives Phänomen – Probleme der Wertung, besonders der Abwertung von Alter. Überthematisierung von Alter hat mit qualitativer Überspanntheit des Themas im negativen Sinne zu tun. Es handelt sich um mehr als Überthematisierung. Es handelt sich um Überdeterminierung, um qualitative Überbestimmtheit, um einen hypertrophen Blick auf das Alter. In einem Forschungsprojekt der Volkswagen-Stiftung haben Heinrich Grebe und Welf-Gerrit Otto für den Zeitraum von 1990 bis 2012 die öffentliche Debatte über das Alter untersucht (Grebe 2012; Grebe/Otto 2012; Otto 2013). Sie haben herausgefunden: Wenn es hart auf hart kommt, wenn es also um’s Geld geht, beherrschen extrem negative Altersbilder die Debatte. Dann wird geradezu hemmungslos operiert mit Schlagworten wie »Überalterung« und »Vergreisung«, »Altenlast« und »Rentnerberg«.1 Und nicht nur Boulevard-Zeitungen tönen in dieser Weise, sondern auch seriöse Medien. Titelte die Bild-Zeitung (am 11. März 2008)

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Zu »Metaphors of Aging« und ihrer Analyse vgl. Grebe/Otto/Zimmermann 2012.

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auf der ersten Seite »Die Alten beuten die Jungen aus«, stand die Frankfurter Allgemeine Zeitung (am 11. Januar 2011) im Feuilleton nicht nach: »Erdrückt von der Last der Alten«. Gestützt auf demographische Prognosen wird renten- und versicherungsfiskalisch gemahnt und gewarnt: Wer soll das alles bezahlen? 2 Wer soll die wachsende Zahl von hochbetagten Menschen versorgen und gegebenenfalls pflegen? Brechen nicht alsbald unsere Gesundheits- und Rentensysteme zusammen? Droht womöglich der Kollaps der deutschen Volkswirtschaft, wenn nicht der gesamten Weltwirtschaft?3 Immer dann, wenn ökonomische Interessen im Spiel sind, ist die öffentliche Debatte außer Rand und Band, nämlich fast vollständig beherrscht von negativen Altersbildern. Jedoch sollen unsere empirischen Befunde hier nicht abermals ausgebereitet werden, sondern es soll ein Weg der Kritik eingeschlagen werden, der auf den Vorschlag hinausläuft, Alter zu dethematisieren. Dabei geht es in diesem Beitrag jedoch nicht darum, den demographischen Alarmismus oder gesundheitspolitische Horrorszenarien empirisch zu widerlegen, sondern es geht darum, zu einer Theorie einerseits der Überdeterminierung, andererseits der Dethematisierung von Alter beizutragen. Die Begriffe Überdeterminierung und Dethematisierung sind vor allem in den Gender-Studies diskutiert worden.4 Dieser Beitrag folgt jedoch einer älteren Theorielage, die allerdings auch mit der Geschlechterfrage zu tun hat. Das ist die Phänomenologie des Blicks5 und die daran anschließende Rassismus-Analyse von Jean-Paul Sartre. Diese Überlegungen hat Jean Améry ([1968] 2005) auf Altersfragen und hat Simone de Beauvoir ([1949]1951, [1970] 1972) sowohl auf Altersals auch auf Geschlechterfragen übertragen. Das heißt, Améry und de Beauvoir wenden Grundbegriffe und Grundgedanken, mit denen Sartre den Rassismus analysiert hat, auf Probleme des Alterns an. Was zu der starken These führt, dass Menschen ab einer bestimmten Lebensphase in einer Art und Weise auf das Alter

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Der Fünfte Altenbericht der Bundesrepublik Deutschland fasst zusammen: »In der öffentlichen Diskussion wird die Alterung der Gesellschaft beinahe ausschließlich mit finanziellen Belastungen in Zusammenhang gebracht, insbesondere im Hinblick auf die Alterssicherungssysteme, das Gesundheitswesen und die Pflegeversicherung.« (BMFSFJ 2006: 257) »Alzheimer: Gefahr für die Weltwirtschaft«, in: Kieler Nachrichten, 2. Juli 2011, S. 21. Vgl. zum Beispiel: Pasero 1995. Judith Butler (1997: 24) hat von »Desidentifizierung« gesprochen. Sartre ([1943] 2014: 457-538) kommt nicht speziell auf das Alter zu sprechen, jedoch sind seine Überlegungen von Améry und de Beauvoir für philosophische Bezüge auf das Alter(n) weitergedacht worden. – In der deutschen Gerontologie läuft die Rezeption derzeit vor allem über Lévinas (vgl. zum Beispiel Kruse 2014; Klie 2014).

A LTER IM B LICK

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festgelegt und diskriminiert werden, die den Mechanismen des Rassismus entspricht. Diese Argumentationslinie ist es, die in ihren Grundzügen in vier Schritten rekapituliert werden soll: Zunächst (1) geht es um das Problem der Überdeterminierung des Blicks im Allgemeinen und (2) der Überdeterminierung von Alter im Besonderen. Dann geht es um die Frage, wie Überdeterminierung überwunden werden kann: einerseits (3) durch Deregulierung des Blicks, andererseits (4) durch Dethematisierung von Alter.

Ü BERDETERMINIERUNG DES B LICKS Der Terminus »Überdeterminierung« ist von Sigmund Freud geprägt worden. In der Traumdeutung heißt es: In jedem Traum, in jedem einzelnen seiner Bilder überkreuzen und überlagern sich Neigungen, Wünsche, Erfahrungen aus unterschiedlichen Hintergründen. Jedes Traumelement ist mit Bedeutungen überfrachtet, indem sich dort »mehrere gleichzeitige Gedankengänge von verschiedenen Zentren aus« verbinden und verdichten (Freud [1900] 1972: 284). »Jedes Element eines Trauminhaltes erweist sich als überdeterminiert« (ebd.: 286). In den Studien über Hysterie hatte Freud bereits 1895 die psychopathologische Seite von Überdeterminierung aufgezeigt: Jedes Krankheitssymptom ist »mehrfach determiniert, überbestimmt« (Freud [1895] 1972: 83). Solche Symptome sind gewissermaßen Pathosformeln, unter denen verschiedene traumatische Erfahrungen und Leidensmotive gebündelt auftreten.6 Diesen Gedanken hat Freud 1900 in der Traumdeutung zu einer Art Netzwerktheorie ausgebaut. Wobei es nicht nur um Pathologisches, sondern ebenso um einen Produktionsmodus der Phantasie geht. Jedes Traumelement bildet einen »Knotenpunkt, in welchem zahlreiche Gedankengänge zusammentreffen« (Freud [1900] 1972: 286). Zugleich kann jeder Gedanke unterschiedliche Gänge entwickeln und Richtungen einschlagen, sich an zahlreichen Punkten manifestieren.7 Und zwischen den einzelnen Knotenpunkten laufen Gedanken und Kräfte herüber und hinüber wie Fäden in einem Gewebe. »Man befindet sich hier mitten in einer Gedankenfabrik«, sagt Freud mit Goethe:

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Zum Symptombegriff bei Freud in Verbindung mit dem Begriff der »Pathosformel« bei Aby Warburg vgl. Didi-Hubermann 2010. »Nicht nur die Elemente des Traums sind durch die Traumgedanken mehrfach determiniert, sondern die einzelnen Traumgedanken sind auch im Traum durch mehrere Elemente vertreten. Von einem Element des Traums führt der Assoziationsweg zu mehreren Traumgedanken, von einem Traumgedanken zu mehreren Traumelementen.« (Freud [1900] 1972: 286)

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»Wo ein Tritt tausend Fäden regt, […] / Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.« (Freud [1900] 1972: 286)8 Diese Netzwerktheorie der Überdeterminierung ist verschiedentlich sozialund kulturwissenschaftlich adaptiert worden.9 Der erste jedoch, der Freuds Begriff der Überdeterminierung ideologie- und gesellschaftskritisch gewendet hat, ist, soweit ich sehe, Jean-Paul Sartre gewesen. In seinen »Überlegungen zur Judenfrage« hat Sartre 1944 (publiziert 1946) den Antisemitismus durch die Unterscheidung zwischen Determinierung und Überdeterminierung zerlegt. Determinierung – dieser Begriff umfasst »unsere grundlegende Beziehung zum anderen« (Sartre [1944] 2010: 49). Überdeterminierung – dieser Begriff umfasst nicht weniger als des Menschen »totale Verantwortung für seine Existenz« (Sartre [1947] 2000: 150), die eben auch in totale Verantwortungslosigkeit umschlagen kann. Zunächst zum Begriff Determinierung: Die grundlegende Beziehung eines Menschen zu einem anderen Menschen wird tagtäglich durch den »Blick« reguliert. Das hatte Sartre in seinem Hauptwerk »Das Sein und das Nichts« (1943) dargelegt.10 Mit »Blick« ist allerdings nicht nur ein visuelles Phänomen gemeint, und es geht auch nicht nur um individuelles Blickverhalten, vielmehr handelt es sich um die Kraft und Macht, mit der Menschen ihre Beziehungen regulieren, und das heißt, sich auf bestimmte Beziehungsformen, Sozialstrukturen, Handlungsweisen, Normen, Werte festlegen. Wir sind tagtäglich gezwungen, »in einer Welt zu existieren, die bereits von anderen Menschen bewohnt« ist, sagt Sartre, in einer Welt, die immer schon geordnet ist und in die wir durch den Blick der anderen eingeordnet werden (Sartre [1944] 2010: 39). Wir leben also in »einer Gesamtheit von Schranken und Zwängen«, auf die wir uns gegenseitig wiederkehrend festlegen und verpflichten. Damit bin ich zuallererst und stets ein »Objekt für Andere« (Sartre [1943] 2014: 470), die mich permanent »als Mittel für Zwecke konstituieren« (ebd.: 481), fixieren und identifizieren (ebd.: 476). Sartre spricht von »Verhärtung und Entfremdung« menschlicher Möglichkeiten durch den »Blick der anderen« (ebd.: 474), und er 8

Die Verbindungen sind nun allerdings so vielfältig, die Verdichtungen an einzelnen Punkten sind so komplex, dass man niemals sicher sein kann, »einen Traum vollständig gedeutet zu haben« (Freud [1900] 1972: 286). »Die Verdichtungsquote ist also – strenggenommen – unbestimmbar.« (Ebd.: 284) 9 Etwa von Louis Althusser (2011 [1971]). Nicht zuletzt hat Michel Foucault das »Dispositiv« als Ort der »Überdeterminierung« ausgewiesen (vgl. [1977] 2003: 393). 10 Sartre [1943] 2014: 879-883, 897. Außerdem ziehe ich die Schriften »Überlegungen zur Judenfrage« (1944/2010), »Der Existenzialismus ist ein Humanismus« (1947/2000) und »Schwarzer Orpheus« (1948/1984) und das Theaterstück »Geschlossene Gesellschaft« (1945/2013) heran.

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veranschaulicht die alltägliche Tragik dieses Vorgangs in seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft (Huis Clos): »l’enfer, c’est les autres« (Sartre [1945] 2013: 59), lautet die vielzitierte Kulminationsformel. Im Blick der anderen tut sich die Hölle meiner Möglichkeiten auf. Fragen nach Handlungsspielräumen und Subjektivität haben sich somit grundlegend am Problem der Determinierung abzuarbeiten, und zwar sowohl philosophisch als auch in der Lebenspraxis (vgl. Sartre [1943] 2014: 473, 879f.). Jeder einzelne Mensch muss sich bewusst werden, so Sartre, »dass er nichts sein kann« ohne andere, dass er nicht existiert außerhalb der menschlichen Welt und der jeweiligen »Situation«, die über ihn bestimmt und ihn festlegt, aber dadurch eben überhaupt erst erschafft, aufbaut und anerkennt (Sartre [1943] 2014: 879-896). Ich kann gar nicht anders, als die »objektiven Bedeutungen« (Sartre [1943] 2014: 473, 880), auf die mich die Blicke der anderen festlegen, zu akzeptieren und als Bestandteile meines Selbst zu verinnerlichen. Der Blick der Anderen wird zu meinem Blick auf mich selbst. Das Selbst konstituiert sich als ein den Blicken der anderen ausgesetztes und unterworfenes Ich, als ein subiectum. Dieser Vorgang ist es, den dann Louis Althusser (2011 [1971]) als symbolische Anrufung reformuliert hat. Aber auch die damit verbundenen Fragen von Macht und Normalisierung, wie sie Michel Foucault und andere gestellt haben, sind bereits in der existenzialistischen Philosophie angelegt. Überdeterminierung wird von Sartre definiert als »eine Verdoppelung der grundlegenden Beziehung zum anderen« (Sartre [1944] 2010: 50). Verdoppelung heißt, der Blick determiniert nicht nur aktiv andere Menschen, sondern der determinierende Blick ist selbst determiniert. 11 Er ist darauf eingestellt und festgelegt, alles, was er erblickt, in bestimmter und bestimmender Art und Weise zu erblicken. Systemtheoretisch gesagt: Der Begriff Überdeterminierung erfasst diejenigen Determinierungen, die sich auf der Ebene von Beobachtungen zweiter Ordnung abspielen. Es geht um die Codierung und Regulierung des Blicks. Das kann in zwei Formen geschehen: einerseits in einer Form, die Handlungsmöglichkeiten verschließt, andererseits in einer Form, die Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Offene Möglichkeiten untersucht Sartre unter dem Begriff Verantwortung, des verantwortungsvoll regulierten Blicks (vgl. unter 3.). Verschlossene Möglichkeiten aber untersucht Sartre am Beispiel des Antisemitismus und Rassismus.

11 Später verwendet Bourdieu für den Habitus, der ja auch den Blick umfasst, die Formel: »Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.« (Bourdieu 1987: 279)

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Antisemitismus ist eine Form von Überdeterminierung, die alle möglichen Richtungen einschlägt und in alle möglichen Lebensbereiche eingreift, nämlich sich als »ein wesentliches Merkmal jeder Situation überhaupt« bemächtigt (vgl. Sartre [1943] 2014: 473). Überdeterminierung bedeutet, dass ein bestimmter Blickwinkel absolute Hegemonie entwickelt, alle anderen Sichtweisen überzieht und durchdringt, und zwar mit der Konsequenz »totaler Entfremdung« (Sartre [1943] 2014: 905). Antisemiten kehren in jeder Situation, sei sie ökonomisch, politisch, sozial, kulturell oder anders geartet, das Jüdische hervor. Antisemiten statuieren an jedem Knotenpunkt menschlicher Beziehungen das Exempel der Rassenfrage. Was immer ein Mensch, den dies betrifft, »auch tun mag, in den [antisemitischen] Augen der anderen ist und bleibt er Jude«, so Sartre (Sartre [1944] 2010: 48). Die Folge ist eine exzessive Überthematisierung in negierender Absicht: Alles und jedes, was ein Jude tut, wird als jüdisch denunziert und diffamiert (Sartre [1944] 2010: 47). Wobei diese Stigmatisierung nicht in der Art und Weise geschieht, wie etwa Franzosen, Deutschen oder Amerikanern aufgrund ihrer Geschichte und Kultur bestimmte Eigenschaften stereotyp zugeschrieben werden. Das ist problematisch genug, aber das ist noch kein Rassismus. Das Kennzeichen des Antisemitismus ist vielmehr, dass er menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf Natur, auf Rasse zurückführt. Der Antisemitismus ist darauf angelegt, den Juden »durch seine Rasse zu determinieren« (ebd.: 41). Allerdings: »Der Jude ist nur ein Vorwand«, schreibt Sartre: »woanders wird man sich des Negers oder des Gelben bedienen« (ebd.: 36). Dass also bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen von Menschen verächtlich gemacht werden, ist nicht das Hauptproblem am Antisemitismus und Rassismus. Das entschieden Problematische daran ist vielmehr, dass Kultur auf Natur, Soziales auf Biologisches reduziert wird (vgl. Sartre [1944] 2010: 38).12 Denn damit werden bestimmte Stigmata zu unveränderlichen, absoluten Größen erklärt. Die ›Logik‹ des Rassismus besteht darin, das Phänomen der Determinierung zu überspannen, nämlich daraus einen Determinismus zu konstruieren. Der rassistische Blick definiert Eigenschaften und Handlungsweisen von Menschen essentialistisch, als vorherbestimmt durch ihre Rasse.

12 Vgl. dazu Roland Barthes: Die Pathologie des Antisemitismus liegt, semiotisch gesprochen, in einer doppelten Codierung begründet: Die »Objektsprache«, die auf eine situations- und sachgerechte Ordnung der Dinge gerichtet ist, wird überformt, durchdrungen und kolonisiert von der »Metasprache« des Rassismus. Und diese zielt darauf ab, Geschichte und Kultur auf Natur zurückzuführen und dadurch »die Welt unbeweglich zu machen« (2001 [1957]: 146f., auch: 113, 130f.).

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Aufgrund dieser Sichtweise überzieht und durchdringt der Rassismus alle konkreten Lebensverhältnisse mit einer Art Biopolitik. Sartre spricht von einem »biologischen Stil« (Sartre [1944] 2010: 73), den Antisemiten einerseits Juden, andererseits sogenannten Ariern zuschreiben. Es handelt sich um Stile im Sinne von Stilisierungen. Antisemiten teilen die Welt in zwei entgegengesetzte Lager. Sartre nennt dieses Lagerdenken »die große manichäistische Spaltung der Welt« (Sartre [1948] 1984: 48). Manichäismus heißt: Entlang der deterministischen Leitdifferenz Arier/Jude werden der einen Seite alle positiven, guten, höheren, der anderen Seite alle negativen, schlechten, niederen Eigenschaften zugeschrieben, was auf extreme Exklusionen und massive Menschenverachtung hinausläuft. Die eigene Rasse beurteilt ein Rassist stets mit »Selbstgefälligkeit«, nämlich im essentialistischen Schein seiner »Ideale des Lebens« (Sartre [1944] 2010: 72f.). An Körper, Seele und Geist sucht er sich »Wahrnehmungen seiner selbst zu verschaffen, die seinem vitalen Ideal entsprechen« (ebd.: 73). So werden besonders »die Werte des Adels und der Anmut von den Ariern beschlagnahmt«; und damit auch die Werte »Entschlossenheit« bei gleichzeitiger »Lässigkeit«, »Lebhaftigkeit« und Vitalität (ebd.). Sein ganzer Körper wie dessen Teile, Organe, Gene sind dem Rassisten »immer mehr oder weniger Symbole für vitale Werte« (ebd.: 73). Zu diesem Selbstbild des Ariers wird der Jude als das genaue Gegenteil aufgeboten. Juden erscheinen gleichsam als das andere Geschlecht, als eine von Natur aus verworfene, fremde, andere Ethnie, die auf Distanz gehalten und ausgegrenzt werden muss (Sartre [1944] 2010: 52, 73). In der Folge kann ein Jude in keiner Situation einfach ein Mensch sein (ebd.: 48, 55, 62), nämlich aus der Möglichkeit heraus existieren, sich auf unterschiedliche Lebenshorizonte, Situationen und Kontexte hin frei zu entwerfen (ebd.: 15). Sondern ein Jude hat keine Wahl (ebd.: 55, 82); er wird in jeder Beziehung in eine jüdische Existenz gezwungen. So zerstören Rassisten die Lebensmöglichkeiten anderer Menschen, wenn sie nicht deren Leben gleich ganz auslöschen. Überterminierung bedeutet hier: totale Negation. Emmanuel Lévinas hat später von »Anvisieren« gesprochen. Das ist der »objektivierende Blick«, der »alle Andersheit durch Mord oder durch vereinnahmendes, totalisierendes Denken negiert« (Lévinas 1991: 160, 182, 184). Diese Überlegungen Sartres sind zum Ausgangspunkt für die Untersuchung und Kritik unterschiedlicher Formen von Menschenverachtung gemacht worden. Ja, sie haben zur Begründung ganzer kulturwissenschaftlicher Forschungsrichtungen beigetragen. In größter Nähe zu Sartre hat Simone de Beauvoir ([1949] 1951) den Sexismus analysiert und damit den gender studies maßgebliche Impulse geben. Im Anschluss an Sartre hat Frantz Fanon ([1952] 2013) den postcolonial studies vorgearbeitet. Jean Améry ([1968] 2005) aber ist es gewesen, der Sartres

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Analyse der Überdeterminierung für Probleme des Alterns erschlossen hat – eine Stoßrichtung, die wiederum von Simone de Beauvoir ([1970] 1972) verstärkt worden ist.

Ü BERDETERMINIERUNG VON ALTER Überdeterminierung von Alter bedeutet, dass Menschen in einer Art und Weise auf ihr Alter festgelegt werden, die den Mechanismen des Rassismus entspricht. In diesem Sinne ist in der Gerontologie von ageism gesprochen worden, von Diskriminierung des Alters nach dem Muster des Rassismus (Butler 1969). Das ist allerdings ohne Rekurs auf Sartre geschehen. Hingegen schließt Simone de Beauvoir sowohl mit ihrer Geschlechtertheorie ([1949]1951) als auch mit ihrer Altersstudie ([1970] 1972] unmittelbar an Sartre an. Und ebenso hat Jean Améry ([1968] 2005) Grundbegriffe und Grundgedanken, mit denen Sartre den Rassismus analysiert, auf das Alter übertragen. Man kann also sagen, de Beauvoir und Améry haben eine umfassende Analyse des ageism vorgelegt, ohne diesen Begriff zu verwenden. Dabei gehen beide von Sartres Phänomenologie des Blicks aus (Sartre [1943] 2014: 457-538). Unter dem »Blick der Anderen« ist ein Mensch, der eine bestimmte Anzahl von Lebensjahren erreicht hat, in besonderem Maße Zuschreibungen und Fixierungen ausgesetzt, sagt Améry ([1968] 2005: 73, 81, 100).13 Mag jeder Blick das Erblickte identifizieren und objektivieren, im Hinblick auf das Alter geschieht dies in extremer Weise: Der alte Mensch erscheint als ein »Geschöpf totaler gesellschaftlicher Determination«, so Améry (ebd.: 98). Ältere Frauen aber betrifft dies mit besonderer »Brutalität«, sagt Simone de Beauvoir: Sie verlieren »in den Augen der Gesellschaft und in ihren eigenen Augen die Rechtfertigung ihrer Existenz und ihrer Glücksmöglichkeiten« (de Beauvoir [1949] 1951: 550). Was Sartre in seiner Rassismusanalyse darlegt, findet sich hier auf das Alter angewendet: Auch ein alter Mensch hat keine Wahl, er wird in jeder Situation und in jeder Beziehung in eine Altersexistenz gezwungen. Wie Rassismus zerstört ageism die Lebensmöglichkeiten von Menschen durch negierende Überdeterminierung. So erscheint »das Alter, mehr noch als der Tod, als Gegensatz zum Leben« (de Beauvoir ([1970] 1972: 463). Amery spricht von vollständiger »Vernichtung des alternden Menschen« ([1968] 2005: 99).

13 Simone de Beauvoir spricht von der »Sicht der Anderen« ([1949] 1951: 247), von den »Augen der Gesellschaft« (ebd.: 550).

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Diese Vernichtung untersuchen Améry und de Beauvoir (nicht anders als Sartre) auf zwei Ebenen. Einerseits geht es um das Was der Determinierung: Auf was richtet sich der Blick; was fixiert er und was richtet er an? Andererseits geht es um das Wie der Determinierung: Wie ist der Blick eingestellt und reguliert? Wieso sieht er das Alter negativ? – Was der Blick fixiert, das beschränkt sich allerdings nicht auf ein paar fixe Vorurteile und Benachteiligungen. »Man soll sich nichts vormachen«, sagt Améry: Der »Blick der Anderen« entzieht dem Alter die Welt, belässt ihm nichts als »eine verödete Lebensregion«, in der alle Existenzmöglichkeiten im Zeichen des »Nicht und ›Un‹ « stehen (Améry [1968] 2005: 99, 170). Im Zeichen des »Un« – das heißt, »Adjektive, die alle mit der Silbe ›un‹ beginnen, werden dem alternden und alten Menschen zugeordnet: er ist unfähig […], ungeschickt, untauglich zu diesem und jenem, unbelehrbar, unersprießlich, unerwünscht, ungesund, un-jung« (ebd.: 99). Im »Zeichen des Nichts« zu stehen heißt: Alte Menschen stoßen überall auf Negation, auf das Nicht-mehr, und sei es in Gestalt des Gerade-noch. Wo für andere Alternsphasen von reichen Möglichkeiten, von Entwicklung und Werden die Rede ist, gilt dies für das Alter nicht mehr. Allenfalls ein Status quo gilt gerade noch. »Die Möglichkeiten, von denen er doch glaubte, sie seien ihm noch gewährt, blendet die Gesellschaft nicht mehr ein in das Bild, das sie sich von ihm macht« (Améry [1968] 2005: 83f.). Der alte Mensch findet sich als »Geschöpf ohne Potentialität« gemustert und ausgemustert wieder (ebd.: 84). Simone de Beauvoir spricht von Entmenschlichung: Alte werden wie »Ausschuß« angesehen, als seien sie »wandelnde Leichname« ([1970] 1972: 463). Das gilt übrigens auch für vermeintlich positive Perspektiven auf das Alter: »das ist ein beliebter Streich der Selbst-Düperie, ›jung bleiben mit den Jungen‹ « (Améry [1968] 2005: 107), aktiv und produktiv. Wir machen uns »zum Narren«, wenn wir uns die »Jugendmaske« aufsetzen, sagt Améry (ebd.: 93 und 109f.). Wir werden zur »Parodie unserer früheren Existenz«, wenn wir auf jung mimen, sagt de Beauvoir ( [1970] 1972: 464; vgl. ebenso Améry [1968] 2005: 107). Auf der zweiten Ebene, der Beobachtung zweiter Ordnung, geht es um das Wie: Wie sind »die Augen der Gesellschaft« (de Beauvoir [1949] 1951: 550) codiert und reguliert, dass sie das Alter permanent negativ sehen, noch wenn sie es positiv sehen? Gemeint ist die ›Logik‹ des ageism, seine Pathologie. Und wie Sartre richten Améry und de Beauvoir ihre Kritik auf eine Art Biopolitik und deren essentialistische Aufspaltungen. Ageism folgt derselben ›Logik‹ wie Rassismus, und das heißt: Soziokulturelle Determinierungen werden deterministisch erklärt, nämlich als Notwendigkeiten ausgewiesen, vor allem als biologische Notwendigkeiten (vgl. de Beauvoir [1949] 1951: 23). Ageism heißt also, Eigenschaften und Verhaltensweisen alter Menschen

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als vorherbestimmt durch physiologische Prozesse zu definieren – und das sind natürlich Verfallsprozesse. Was immer er tun oder lassen mag, in ageistisch codierten Augen erscheint ein alter Mensch zuallererst und stets unter dem Kriterium des Verfalls. »Die Rangordnung der Altersklassen wird in dem Unternehmen Leben festgelegt« (de Beauvoir ([1970] 1972: 13). Der Mensch in seiner uneingeschränkten Produktions- und Reproduktionskraft bildet das Ideal und Maß aller humanen Dinge – und wer nicht mithält, kann gar nicht anders denn alt aussehen. Altern wird als zunehmende Abweichung von der regulativen Idee der Jugend und Vitalität realisiert – als ein schicksalhafter Prozess, so Améry, der »abwärts geht, immer steiler, immer geschwinder«, ein Verfallsprozess von der Zwangsläufigkeit physikalischer Kausalität, »irreversibel« (Améry [1968] 2005: 35, 79, 37). Wie Rassismus beurteilt ageism Menschen aufgrund von Körper- und Vitalitätsnormen. Der Blick ist an der Leitdifferenz alt/nicht-alt, alt/jung ausgerichtet, womit ein krasses Wertungsgefälle verbunden ist: Hier Jugend, Gesundheit und Kraft – dort Alter, Krankheit und Schwäche (vgl. Améry [1968] 2005: 35, 56f.); hier Offenheit der Lebenshorizonte – dort Abgeschlossenheit der Welt, Erlöschen der Möglichkeiten (ebd.: 101, 106). Hier steht das Leben im vollen Saft, dort verdorrt es. Selbst dort, wo von Potenzialen des Alters die Rede ist, dominieren Devianz- und Defizitkriterien. Die Anderen, so muss ein alter Mensch auch hier erfahren, ziehen »Bilanz« und legen »ihm ein Saldo«, sagt Améry (ebd.: 84). Und diese Rechnung reduziert ihn auf das Nicht-mehr oder das Gerade-noch, »womit er die Zeichen des Nichts schon auf der Stirn trägt« (ebd.: 99). Beobachtet wird, wie aktiv, produktiv und vital alte Menschen sind – noch sind.14 Immer noch aktiv oder schon nicht mehr? Wie klein oder groß sind die Abweichungen von der Vitalitätsnorm? Noch dem best ager steht mit dem fragilen best die Fratze des worst ins Gesicht geschrieben. Unter der Leitdifferenz alt/jung tritt das Alter nur mehr als das Andere der Jugend, wenn nicht des Lebens überhaupt in Erscheinung. Simone de Beauvoir hat damit einen Grundgedanken ihrer Geschlechtertheorie auf das Alter übertragen: Die »Augen der Gesellschaft« zielen »darauf ab, den Alten als einen anderen zu zeigen« (de Beauvoir [1970] 1972: 247) – nämlich als defizitär und insuffizient. Jugend hingegen verkörpert das, was der Fall zu sein hat: den »absoluten Menschentypus« (de Beauvoir [1949] 1951: 10).15 Die Jugend ist »das Subjekt«, »das Absolute«; das Alter ist »das Andere schlechthin« (de Beauvoir [1970] 1972:

14 »[M]an kalkuliert ihn automatisch nach der Inventarsumme« (Améry [1968] 2005: 86). 15 Der Argumentation von Sartre entsprechend im Hinblick auf die Leitdifferenz Mann/Frau (vgl. Sartre ([1944] 2010: 72f.).

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11f.).16 »Alienation« (Améry [1968] 2005: 128) ist der Begriff, den Jean Améry für diese Form der Entfremdung und des Fremdmachens geprägt hat.17 Der alienatorische Blick präsentiert und repräsentiert das Alter als das Andere, Fremde und Befremdliche schlechthin, ja als das geradezu Unsägliche und Indiskutable.18 Die rassistische Alienation, wie sie Sartre analysiert hatte 19, ist es, die Améry und de Beauvoir an der Altersdiskriminierung wiedererkannt haben. Wo Antisemitismus die Leitdifferenz Jude/Arier zugrunde legt, legt ageism die Leitdifferenz alt/nicht-alt, alt/jung an. Arier/Jude, Alt/Jung – A/J: im Deutschen zeigt noch die Kontingenz der Initialen die Konvergenz der verkehrten Ideale an: derselbe Determinismus, derselbe Vitalismus, derselbe Essentialismus. Lebendigkeit, Gesundheit, Kraft, Straffheit, Schönheit – Améry und de Beauvoir weisen in der vorherrschenden »Jugend-Idolatrie« diejenigen »vitalen Werte« nach, die Sartre als rassistische »Ideale des Lebens« indiziert hatte. Ist hier überhaupt noch eine andere Sichtweise denkbar? Möglicherweise sogar eine Revolte? Oder bleibt nur Resignation? – Schließlich handelt es sich um ein System der »geschlossenen Türen« (huis clos), dessen Mechanismus nachgerade darauf angelegt ist, »verschlossen zu sein«, sich jeder anderen Sichtweise und »Erfahrung zu verschließen« (Sartre [1944] 2010: 14, 18). Während Améry skeptisch urteilt, argumentiert Simone de Beauvoir näher an Sartre, bei dem es zuversichtlich heißt: »In welchem Teufelskreis wir auch immer sind, ich denke, wir sind

16 Dort im Hinblick auf die Leitdifferenz Mann/Frau: »Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere«. Améry ([1968] 2005: 128) spricht von »Jugend-Idolatrie«. 17 Ohne diesen Begriff, aber inhaltlich ebenso bereits Sartre über den antisemitischen Blick (vgl. Sartre [1944] 2010: 52). 18 Überlegungen von Judith Butler auf die Altersfrage übertragend, lässt sich sagen: Alte Menschen werden einem »Bereich verworfener Wesen« zugeordnet, der »dicht bevölkert ist von denjenigen, die im Zeichen des ›Nicht-Lebbaren‹ « (Butler 1997: 23) (bei Améry: im Zeichen des Nicht und ›Un‹) stehen. Wie Rasse und Geschlecht wird auch Alter als »Ort gefürchteter Identifizierungen«, als »bedrohliches Gespenst« (ebd.), als Negativfolie benötigt, wovor sich das »normative Phantasma« (ebd.) (hier:) der Jugend umso deutlicher abzeichnet und auszeichnet. 19 Das hatte schon Sartre gezeigt: Der Rassist erschafft sich den »Juden« als »den Fremden, den Eindringling, den Nichtassimilierten innerhalb der Kollektivität«, um alles, was sein Selbstbild trübt, irritiert, verstört, von sich fernzuhalten, auf einen »Sündenbock« zu projizieren. Nur so kann er seine Idiosynkrasien und falschen Ideale frei und rein entfalten – und das heißt: frei von Selbstzweifeln, bedenken- und verantwortungslos (Sartre [1944] 2010: 52, 72). Judith Butler spricht vom »konstitutiven Außen« (1997: 23).

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frei, ihn zu durchbrechen.« (Sartre [1973] 2013: 62) Das geschieht durch Deregulierung des Blicks, was auf Dethematisierung von Alter hinausläuft.

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Jeder Blick determiniert das Erblickte, und jeder Blick bewegt sich selbst innerhalb bestimmter Regeln, je nach Situation und Kontext. Das ist grundsätzlich nicht anders möglich – nicht einmal im Blick eines Menschen auf sich selbst, sagt Sartre.20 Dass es aber Ordnungen des Blicks gibt, bedeutet nicht, dass diese Ordnungen unveränderbar wären. Jeder Blick kann dereguliert werden in dem Sinne, dass er sich anders justieren, anders ordnen lässt. Es besteht also die Möglichkeit, den Blick zu deregulieren und neu einzuregulieren, sogar den rassistischen. Indes begründet der Rassismus nicht irgendeine, sondern eine »umfassende Haltung«, »eine grundlegende Beziehung zum anderen« (Sartre [1944] 2010: 14, 49) in Gestalt fundamentaler Alienation. Dementsprechend umfassend, grundlegend und fundamental muss die Antwort ausfallen, wenn Deregulierung und Dethematisierung des Alters hier greifen sollen. Mit der Schärfe eines entweder-oder zeigt Sartre eine radikale Alternative auf: die existentialistische (verantwortungsvolle) Überdeterminierung statt der essentialistischen (verantwortungslosen). Diese Lösung läuft auf eine Paradoxie hinaus: eine Regulierung des Blicks, die immer wieder ihre eigene Deregulierung betreibt. – Wie ist das zu verstehen? Und warum tritt dieser Blick verantwortungsvoll auf? Der rassistische Blick besteht darauf, menschliche Eigenschaften und Beziehungsformen essentialistisch aufzufassen, sei es durch Rasse, sei es durch andere vermeintliche Notwendigkeiten determiniert. Diesem Fundamentalismus setzt Sartre ein fundamentales Diktum entgegen: »es gibt keinen Determinismus« (Sartre [1947] 2000: 155). Im sozialen und kulturellen Leben »ist nichts durch Verweis auf eine gegebene und unwandelbare menschliche Natur erklärbar« (ebd.). Ein Mensch lässt sich grundsätzlich nicht durch Natur, zumal »nicht durch seine Rasse determinieren« (Sartre [1944] 2010: 41). Die radikale Alternative, die Sartre aufzeigt, lautet: existenzialistische Offenheit versus deterministische Verschlossenheit des Blicks. Existenzialistische Offenheit aber korrespondiert mit der existenziellen Grundsituation von Menschen, und das ist, so Sartre, »die totale Grundlosigkeit ihrer Existenz« (Sartre [1947] 2000: 172). Der menschliche Blick

20 Es handelt sich um ein »unreduzierbares Faktum« (Sartre [1943] 2014: 464). Ich bleibe stets ein »Objekt für Andere« (ebd.: 470), die »mich als Mittel für Zwecke konstituieren« (ebd.: 481).

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»findet weder in sich noch außer sich einen Halt«; es gibt nichts, was »den Menschen schicksalhaft zu bestimmten Taten zwingt« (Sartre [1947] 2000: 155). Der menschliche Blick hat keine anderen Gründe als diejenigen, die Menschen gleichsam aus dem Nichts heraus entwerfen. Das ist die existenzielle Ausgangsituation des Menschen: »er ist ›offen‹ « (Sartre [1944] 2010: 15). Er kann sich selbst entwerfen und sich an seine Entwürfe halten oder sie verwerfen, je nach Situation und Kontext. Dieser Entwurfscharakter der menschlichen Existenz ist es, dem Sartre weiter auf den Grund geht. Dafür beruft er sich auf das cartesianische cogito, das ja auch ein dubito ist: Ich zweifle, ich denke, also bin ich – ein Mensch (Sartre [1947] 2000: 165). Das meint die Ausnahmestellung des Menschen im Kosmos, seinen Handlungsspielraum, seinen unlimitierten Horizont: Er kann alles bezweifeln, er kann zögern, zaudern und vor allem kann er nachdenken, bevor er handelt. Er kann zwischen Alternativen wählen, und er kann seine Entscheidungen begründen, überdenken, ändern, neu verhandeln. Nur in einem Punkt hat er keine Wahl: Er kann sich nicht gegen seine Ausnahmestellung entscheiden. Mit dem markanten Wort Sartres gesagt: »der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein« (Sartre [1947] 2000: 155; vgl. ebenso: Sartre [1943] 2014: 950). Das macht die Existenz des Menschen aus: Das cogito ist die unhintergehbare, »die absolute Wahrheit des sich selbst erreichenden Bewußtseins« (Sartre [1947] 2000: 165). Ein Rassist aber verschließt sich dieser »Wahrheit«, und der erste Grund dieser Verschlossenheit ist Angst: »Angst vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor seiner Freiheit« – und: »vor seiner Verantwortung« (Sartre [1944] 2010: 35). Damit begehen Rassisten Verrat an der Menschheit, Verachtung auch an sich selbst. Sie verschließen sich einer Beobachtung dritter Ordnung. Sartre spricht von »der Ebene der reinen Authentizität« (Sartre [1947] 2000: 172), wenn das cogito sich selbst erreicht und sich als Grundlage der Existenz will und wählt. Indem sie das Bewusstsein fliehen, dass Menschen noch ihr eigenes Bewusstsein selbst determinieren, sind Rassisten nicht nur angstgesteuert, sondern auch »feige« (Sartre [1947] 2000: 172). Sie fliehen davor, Verantwortung für ihre Entscheidungen zu übernehmen. Stattdessen reden sie sich auf Determinismus heraus. Solche Rechtfertigungen und Entschuldigungen sind nichts als Lug und Betrug, sagt Sartre. Fundamental gilt das cogito: Weil der menschliche Blick keiner Notwendigkeit gehorcht, kann jede Determinierung bezweifelt, überdacht, geändert werden. Da menschliche Möglichkeiten nicht vorherbestimmt sind, tragen Menschen allein die Verantwortung für ihre persönlichen wie für ihre kollektiven Lebensentwürfe (ebd.: 166f.). Sie tragen diese Verantwortung in höchstem Maße, wenn sie ihre Blicke so regulieren, dass Menschen einander nicht zum »Opfer der

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Urteile« machen, die sie aussprechen (Sartre [1973] 2013: 62). Überdeterminierung im nicht-essentiellen, im verantwortungsvollen Sinne geschieht somit im vollen Bewusstsein des Spielraums, den Menschen haben, noch über die Art und Weise zu befinden und zu verhandeln, wie ihr Blick eingestellt sein soll. Unter dem Begriff »Verantwortung« zielt Sartre auf einen Blick, der sich bei allem, worauf er sich richtet, einerseits seines Entwurfscharakters, andererseits seiner Folgen für andere bewusst bleibt. Dieser Blick übernimmt in dem Maße »Verantwortung« für sein Tun, wie er paradox agiert, nämlich sich selbst reguliert und sich dabei immer wieder die Möglichkeit seiner eigenen Deregulierung offenhält. Den geschlossenen Veranstaltungen des Rassismus stellt dieser Blick Weltoffenheit auch im Sinne eines Relativismus entgegen. Er verhält sich verantwortungsbewusst, indem er weiß, dass alle seine Entwürfe »durch andere Betrachtungen zu Zweifeln werden«. Und er verhält sich verantwortungsvoll, indem er sich bei allen Entwürfen und Entscheidungen immer auch »die Freiheit der anderen zum Ziel macht« (Sartre [1947] 2000: 172, auch: 150ff.).21 Dieser Blick tastet mehr als dass er sich sicher wähnt: »er weiß nie genau, wohin er geht; er ist ›offen‹ « – »als wäre die eigene Existenz ständig in der Schwebe« (Sartre [1944] 2010: 15). Rassisten aber wollen keine Offenheit, keine Schwebe, keine Aushandlungsprozesse. Sie folgen angstgesteuert und in betrügerischer Absicht dem Programm einer verantwortungslosen Überdeterminierung, »wo man immer nur wird, was man schon war« (Sartre [1944] 2010: 15). Darin besteht, Sartre zufolge, die fatale Menschenverachtung des Rassismus, dass »Menschen, die eigene Person eingeschlossen, als Objekte behandelt werden, das heißt als eine Gesamtheit determinierter Reaktionen« (Sartre [1947] 2000: 165; vgl. ebenso Lévinas 1995: 160). Rassisten negieren, was die menschliche Existenz ausmacht, nämlich sich dem Anderen zu öffnen, »Grenzen zu überschreiten« und sich selbst zu transzendieren (Sartre [1947] 2000: 166).

D ETHEMATISIERUNG VON ALTER Rassismus ist nach Sartre dadurch gekennzeichnet, dass Handlungsspielräume deterministisch vernichtet werden. Dasselbe gilt für ageism: Améry spricht von »Negation durch den Blick der Anderen« (Améry [1968] 2005: 110). Gemeint ist die

21 Es handelt sich um eine existenzialistische Antwort auf Kants Kategorischen Imperativ, einen Menschen »niemals bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck an sich selbst« (1983 [1788]: 210ff.) zu betrachten und zu achten.

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Vernichtung der Existenz als der Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Lebenshorizonte, Situationen und Kontexte hin frei entwerfen zu können (ebd.: 88, 99, 170). Alten Menschen wird die »Welt« abgesprochen. Was der Jugend offen steht, die Welt22, erweist sich im Alter als geschlossene Veranstaltung, als »verödete Lebensregion« (ebd.: 35, 105, 170). Es handelt sich nach Améry keineswegs nur um gelegentliche Ausfälle und Ausgrenzungen, sondern um »totale Verdunkelung der gesamten Szene« (ebd.: 87f.). Der »Weltverlust« ist so umfassend, dass jede Gegenwehr, jede »Revolte zum Scheitern verurteilt ist« (ebd.: 109). Noch was heute unter Titeln wie Potenziale des Alters angepriesen wird, macht, Améry zufolge, aus einem alten Menschen ein »Geschöpf ohne Potentialität« ([1968] 2005: 84). Und was als differenzielles Alter(n) diskutiert wird, hat nur wenig mit Differenz zu tun. Denn es sind vorzugsweise Konsum und Amüsement, die für das sogenannte aktive und erfolgreiche Alter(n) stehen. Die Alten tun, sagt Améry, »was Annoncen, Plakate, populäre Zeitungsartikel, aber auch ernsthafte soziologische Untersuchungen, die ihrerseits allerdings im Dienste des Apparates abgefaßt und zu dessen Zwecken veröffentlicht werden, ihnen zu tun verordnen« (ebd.: 108). Indem die Gesellschaft ihnen frei Haus einen Platz in der Konsumwelt und im Amüsierbetrieb zubilligt, speist sie die Alten damit ab, hier und dort »ein paar Krümel Welt« zu erhaschen (ebd.: 107). Simone de Beauvoir hat solche Angebote als »Lügen, Mythen, Klischees der bürgerlichen Kultur« (de Beauvoir [1970] 1972: 6) bezeichnet.23 Gibt es unter solchen Bedingungen überhaupt eine Alternative? – Die »vielleicht einzige Möglichkeit, wahrhaft in Würde zu altern«, bestehe darin, sagt Améry, der Absurdität der Altersexistenz zu begegnen mit einem »Gleichgewicht von Furcht und Zuversicht, Resignation und Rebellion, Akzeptation und Refus« ([1968] 2005: 165). Es handelt sich um ein »labiles Äquilibrium« (ebd.). Das heißt einerseits: »Der Wahrspruch der Gesellschaft läßt sich nicht abweisen«, »dem Blick und dem Urteil der Anderen entgehen wir nicht« (ebd.: 87, 73). Wir müssen das Urteil annehmen, sagt auch Simone de Beauvoir ([1970] 1972: 256). Das heißt 22 Wo man von der Jugend sagt, ihr stehe »die Welt offen«, bleibt für die Alten nichts als »eine gesellschaftliche Leerstelle« (Améry [1968] 2005: 35, 91). 23 Solche Urteile über Möglichkeiten des Alterns in der Konsum-, Medien- und Massengesellschaft mögen uns heute zu pessimistisch, pauschal und undifferenziert vorkommen. Zumal sie Motive ignorieren, wie sie Altersakteure selbst benennen würden. Améry und de Beauvoir argumentieren indes aus einer Theorielage heraus, die Konsum und Amüsement prinzipiell nicht zu den Bereichen zählt, in denen Menschen zur Welt kommen können. Das entspricht einer Kulturkritik in der Nachfolge von Martin Heidegger, wie sie etwa auch Hannah Arendt ([1958] 1988) vorgetragen hat. Aus anderer Perspektive, aber nicht minder scharf: Horkheimer/Adorno ([1947] 1988).

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aber andererseits: Indem wir das Urteil annehmen, sind wir »eben in der Anerkenntnis des Nicht-Seins noch Etwas« (Améry [1968] 2005: 109). Einerseits Resignation: Améry zielt auf den ursprünglichen Sinn des lateinischen Wortes resignare ab. Es bedeutet entsiegeln, lösen, auch im Sinne von ungültig machen. Resignation heißt also, das Urteil der anderen anzunehmen und sich gerade dadurch davon zu lösen. Durch Annahme des Urteils wird die eigene Fixierung darauf gelöst, zumindest relativiert. Es entfällt der aussichtlose Kampf dagegen an, der Krampf des Kampfes, vor allem die Narretei und Peinlichkeit, jung bleiben zu wollen bis ins hohe Alter. Das Urteil anzunehmen, eröffnet allerdings die Möglichkeit, stillen Einspruch zu erheben, Resistenz im Modus der Reserviertheit zu kultivieren. Man nimmt das Urteil an und distanziert sich zugleich davon, indem man sich nach Möglichkeit nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Améry geht es um eine Entriegelung des alternden Selbst, die in der philosophischen Tradition auch als Gelassenheit bezeichnet wird (vgl. dazu Zimmermann/Grebe 2014). Andererseits Revolte: Sie liegt schon in der Resignation begründet. Revolte beginnt damit, dass man die Urteilsmacht der Anderen auflaufen, gleichsam im Sande der Gelassenheit verlaufen lässt. Hinzu kommt ein weiterer Bedeutungshorizont des Wortes resignare: das Siegel brechen, öffnen, eröffnen. Resignation ermöglicht eine Sensibilisierung und Öffnung »der Rezeptionskraft und des Aufnahmewillens«, sagt Améry ([1968] 2005: 127). Auf diese Weise können womöglich andere Seiten des Alterns in Erscheinung treten, andere Sichtweisen aufgerufen, Alternativen ins Spiel gebracht werden. Resignation eröffnet also die Möglichkeit, sich von einem Blick zu lösen, der mit dem Alter abgeschlossen hat. Mit dem Begriff Revolte nun aber rekapituliert Améry ein Grunddilemma der existentialistischen Philosophie. Albert Camus ([1942] 1975) hat es auf den Punkt gebracht: Absurdität. Unter der Totalität der Verneinung erscheint der alte Mensch als geläuterter Sisyphos. Er weiß, dass seine Bemühungen vergeblich sind; er hat resigniert. Dennoch versucht er das Unmögliche. Das ist allerdings nicht etwa, wie es der Mythos als Strafe vorschreibt, den Stein zu stemmen gegen die abschüssige Bahn, sondern das ist der Versuch, die Bahn selbst auszumanövrieren – durch Gleichmut, Gelassenheit, Nonchalance. Der alternde Sisyphos »macht die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache und erhebt sich gegen sie«, sagt Améry, »[e]r läßt sich auf ein unableistbares Unternehmen ein« – auf Revolte ([1968] 2005: 110). Revolte bedeutet, im Bewusstsein permanenten Scheiterns dennoch »permanenten Widerspruch« gegen »kulturelle Alienation« einzulegen (ebd.: 95, 128). Schon Gelassenheit ist eine Form des Widerspruchs – etwa gegen die Zumutungen des aktiven, produktiven und erfolgreichen Alter(n)s. In der Gelassenheit aber eigene Positionen zu

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entwickeln, eine Kultur des Alterns zu begründen, das wäre vielleicht eine »Möglichkeit, wahrhaft in Würde zu altern« (ebd.: 165). Damit verlangt Améry alternden Menschen nicht wenig ab. Schließlich geht es darum, »kulturelle Alienation« unmöglich zu machen. Intendiert ist nicht weniger als eine Kulturrevolution, mit der eine Gesellschaft lernen würde, ihre Beobachtungen und Beschreibungen alternder Menschen nicht mehr zwanghaft an der deterministischen Leitdifferenz alt/nicht-alt auszurichten und damit immer wieder Asymmetrien zu produzieren (Améry [1968] 2005: 99, 106). Intendiert ist eine andere Ordnung des Blicks, bei der, so Améry, die Konstitution des alternden Menschen »Sein des Werdens bliebe: sein und werden mit Anderen, deren Blick ihn nicht überwältigte, vielmehr ihm hülfe, immer wieder null zu sein und vom Nullpunkt aus sich neu zu konstituieren« (ebd.: 93). Améry geht es um Dethematisierung von Alter. Jeder Mensch ist als »Nullpunkt« zu betrachten, das heißt als jemand, auf den die kulturellen und sozialen Zuschreibungen niemals zutreffen. Er ist stets ein Anderer als derjenige, den wir sehen, identifizieren, fixieren. Darin besteht die Grundsituation jedes Menschen: in der »totalen Grundlosigkeit« seiner Existenz, sagt Sartre; »Nullpunkt« zu sein, sagt Améry. Die Grundlosigkeit, die Null aber ist es, die den Entwurfscharakter der menschlichen Existenz begründet, nämlich sich selbst immer wieder »auf andere Möglichkeiten hin zu entwerfen« (Sartre [1943] 2014: 488), »sich wieder und wieder auf ein Mögliches hin zu überschreiten« (Améry [1968] 2005: 88) – egal in welchem Alter. Während aber Améry skeptisch im Irrealis redet, im Sinne eines »unableistbaren Unternehmens«, hebt Simone de Beauvoir reale Möglichkeiten, ja Wirklichkeiten der Dethematisierung von Alter hervor. Sie zeigt zunächst empirisch, wie unterschiedlich und vielfältig Alter in Epochen und Kulturen der Welt gesehen wird. Große Teile ihres Werkes verwendet sie darauf, die Leitdifferenz alt/nichtalt durch historische und ethnographische Vergleiche zu relativieren und ad absurdum zu führen. Mit dieser empirischen Vielfalt und Divergenz von Altersbildern verweist Simone de Beauvoir allerdings wiederum auf die Grundlosigkeit der menschlichen Existenz: »Die Tatsache des Menschseins ist unendlich viel wichtiger als alle Besonderheiten« etwa des Geschlechts, der Rasse, der Klasse oder eben des Alters (de Beauvoir [1970] 1972: 5). Und diese Tatsache besteht in der Möglichkeit, sich wieder und wieder zu überschreiten, sich immer wieder neu und anders zu entwerfen. Deregulierung des Blicks Wirklichkeit werden zu lassen, dafür reicht gelegentlich eine einfache Perspektivenverschränkung, sagt de Beauvoir: »erkennen wir uns in diesem alten Mann, in jener alten Frau« ( [1970] 1972: 8). Einerlei ob alt oder jung: erforderlich ist ein verantwortungsvoller Blick, der »Menschen eine

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weite Skala von Möglichkeiten offenlässt« ([1970] 1972: 467). Alter wäre dann kein Thema mehr, lautet das Fazit von Simone de Beauvoir: »In einer idealen Gesellschaft, die ich hier beschworen habe, würde, so kann man hoffen, das Alter gewissermaßen gar nicht existieren.« (ebd.) La vieillesse, ça n’existe pas (Augé 2014: 149).

L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, in: Ders.: Gesammelte Schriften 6, vierte Auflage, Frankfurt a. M. 1966, S. 7-412. Althusser, Louis: Ideology and Ideological State Apparatures. Lenin and Philosophy, and Other Essays, London 1971. Althusser, Louis: Widerspruch und Überdeterminierung. Anmerkungen für eine Untersuchung, in: Ders.: Für Marx, Berlin 2011, S. 105-144. Améry, Jean: Über das Altern. Revolte und Resignation [1968], in: Ders.: Werke Bd. 3, Stuttgart 2005, S. 7-171. Arendt, H.: Vita Activa oder Vom tätigen Leben [1958], München/Zürich 1981. Augé, Marc: Une ethnologie de soi. Le temp sans âge, Paris 2014. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1987. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft – Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen, Berlin 2006. Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997. Butler, Robert N.: Age-ism. Another form of bigotry, in: Gerontologist 9/4 (1969), S. 243–246. Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1975 [1942]. de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau [1949], Hamburg 1951. de Beauvoir, Simone: Das Alter [1970], Reinbek bei Hamburg 1972. Didi-Hubermann, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte der Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken [1952], Wien/Berlin 2013. Foucault, Michel: Das Spiel des Michel Foucault [1977], in: Ders.: Dits et Ecrits Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, S. 391-429.

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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug [1947], in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1988, S. 128-176. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft [1788], in: Ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 4, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, vierte Auflage, Darmstadt 1983, S. 107-302. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München 1995. Otto, Welf-Gerrit (2013). Zwischen Leisten und Loslassen – Bilder von Multimorbidität, Vulnerabilität und Endlichkeit in Altersratgeberliteraturen der Gegenwart. Marburg: digital. URL: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2013/ 0241/pdf/dwgo.pdf Pasero, Ursula: Dethematisierung von Geschlecht, in: Dies.; Frederike Braun (Hg.): Konstruktion von Geschlecht, Pfaffenweiler 1995, S. 52-68. Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943], Reinbek bei Hamburg 2014. Sartre, Jean-Paul: Überlegungen zur Judenfrage [1944], Reinbek bei Hamburg 2010. Sartre, Jean-Paul: Der Existenzialismus ist ein Humanismus [1947], Reinbek bei Hamburg 2000. Sartre, Jean Paul: Geschlossene Gesellschaft [1945], Reinbek bei Hamburg 2013. Sartre, Jean-Paul: Schwarzer Orpheus [1948], in: Ders.: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946-1960, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 3985. Sartre, Jean-Paul. Über Geschlossene Gesellschaft [1973], in: Ders.: Geschlossene Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 60-63.

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Beziehungen des Alter(n)s

Altern zwischen Medikalisierung und reflexiver Praxis Der Alltag im Zeichen des Anti-Aging L ARISSA P FALLER UND M ARK S CHWEDA

I M T EMPEL DES ANTI -AGING Vielleicht verrät nichts so viel über das Bild des Alterns in der Gegenwart wie die Entstehung und Ausbreitung einer Bewegung, die sich unter dem Label ›AntiAging‹ ausdrücklich den Kampf gegen das Altern auf die Fahne geschrieben hat (vgl. Schweda 2014). Seit etwa 15 Jahren hat die Anti-Aging-Medizin auch in Deutschland Fuß gefasst und dabei dem weltweiten Trend eine spezifische Ausprägung und Ausrichtung verliehen (vgl. Spindler 2014). Diese findet ihr emblematisches Sinnbild in den »sieben Säulen des Anti-Aging« (s. Abb. 1) der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging Medizin (GSAAM), die in professionspolitischen Stellungnahmen wie didaktischen Aufklärungsmaterialien immer wieder aufgegriffen werden. Die Grafik zeigt in schematisierender Darstellung die Frontansicht eines antiken Tempels. Das Dach wird von den Säulen »Lebensstil«, »Ausgewogene Ernährung«, »Bewegung«, »Supplementierung«, »Hormonersatztherapie«, »Mentale Balance« und »Ästhetisches Anti-Aging« getragen, die auf dem »Fundament: Spezielle Voruntersuchungen mit individueller Diagnostik« stehen. Die klassizistische Anmutung lässt antike Ideale makelloser Schönheit und vollkommenen Ebenmaßes anklingen und scheint das moderne Unterfangen in eine altehrwürdige kulturgeschichtliche Tradition zu rücken (vgl. Pfaller/Schweda 2014). Die Siebenzahl der Säulen erweckt überdies den Eindruck zeitloser Stimmigkeit und magischer Wirksamkeit. Auch der selbsternannte britische Biogerontologe Aubrey de

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Grey (2004) greift mit seinen »Seven Strategies for Engineered Senescence« die Zahl Sieben auf. Abbildung 1: Anti-Aging-Tempel der GSAAM

Quelle: GSAAM, o. J.

In der Darstellung dokumentiert sich bildhaft das Verhältnis von Anbieterinnen und Anbietern der Anti-Aging-Medizin und ihren Adressatinnen und Adressaten: Die sieben Säulen repräsentieren einerseits Bereiche, die das Individuum mit medizinischer Beratung selbst optimieren kann (»Lebensstil«, »Ausgewogene Ernährung«, »Bewegung«, »Mentale Balance«), andererseits Praktiken, die durch medizinisches Personal an ihm vollzogen werden müssen (»Supplementierung«, »Hormonersatztherapie«, »Ästhetisches Anti-Aging«). Das Wissen um – und damit die Kompetenz für – Anti-Aging befindet sich dabei im Besitz der Medizin, die den Individuen in Gestalt der Ärztin oder des Arztes gegenübertritt. Die AntiAging-Medizin beansprucht, über wissenschaftlich fundierte diagnostische, therapeutische und präventive Verfahren zu verfügen, während ihren Adressatinnen und Adressaten keine vergleichbaren Werkzeuge zur Verfügung stehen, sodass sie stets auf die Expertise und das Know-how der Fachleute angewiesen bleiben. Dagegen liegt die Verantwortung für das eigene Altern vor allem auf der Seite des Individuums, das aufgerufen ist, den medizinischen Rat anzunehmen und sein Leben entsprechend einzurichten. Als Konsequenz dieser asymmetrischen Verteilung von Kompetenz und Verantwortung sowie der systematischen Ausblendung anderer Faktoren und Akteure wie etwa Umwelt, Politik oder Krankenkassen, die im geschlossenen System des Tempels unsichtbar bleiben, erscheint Anti-Aging

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als etwas, das ausschließlich zwischen dem Individuum und dem medizinischen Personal verhandelt wird (vgl. Pfaller 2016). In der kritischen Gerontologie wird vor diesem Hintergrund auch von einer (Bio-)Medikalisierung des Alterns im Zeichen des Anti-Aging gesprochen, also einer Ausweitung der medizinischen Deutungsmacht und Regelungskompetenz auf den Bereich des Alterns (z. B.: Estes/Binney 1989; Powell/Biggs 2003, 2000; Larkin 2011: 32; Joyce/Loe 2010: 175). Mitunter gilt Anti-Aging sogar als die »ultimate form of medicalization« (Mykytyn 2008: 317). Dabei sind die im Feld des Anti-Aging flottierenden Ansprüche keineswegs unproblematisch: Die Aussagekraft der prognostischen und diagnostischen Verfahren des Anti-Aging und die Wirksamkeit der entsprechenden präventiven Maßnahmen sind weit davon entfernt, als wissenschaftlich belegt gelten zu können. Entsprechend müssen auch die mit dem Anti-Aging einhergehenden Verantwortungszuschreibungen durchaus kritisch betrachtet werden. Schließlich kann Verantwortung streng genommen nur für das zugeschrieben bzw. übernommen werden, was in der eigenen Macht steht, worüber also Wissen besteht und worauf Einfluss genommen werden kann (vgl. Schweda/Schicktanz 2012). Diese Ausgangslage wirft die Frage auf, wie die durch Anti-Aging-Medizin angesprochenen Individuen selbst auf die ihnen gegenüber erhobenen Ansprüche reagieren: Wie nehmen die Akteure des Alltags die Produkte und Praktiken auf, die unter dem Label ›Anti-Aging‹ angeboten werden? Wie begegnen sie den medizinischen Geltungsansprüchen und moralischen Imperativen, die mit AntiAging-Angeboten verbunden sind? Wie erleben sie mithin die von der Medizin in Anspruch genommene wissenschaftliche Autorität und die moralisierenden Aufrufe zu gesundheitlicher Eigenverantwortung, die in ihrem Alltag auftreten, und wie gehen sie damit um? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt unserer Studie. Mit Hilfe einer qualitativen Forschungsstrategie rekonstruieren wir, wie AntiAging-Anwenderinnen und Anwender sowie interessierte Laien die medizinischen Imperative der Anti-Aging-Medizin wahrnehmen und sich ihnen gegenüber verhalten. Nach einem kurzen Überblick über den Anti-Aging-Diskurs und seine Ausgestaltung in Deutschland sowie einer Erläuterung des methodischen Vorgehens stellt der Beitrag einige zentrale Ergebnisse vor (für eine ausführliche Darstellung vgl. Schweda/Pfaller 2014) und diskutiert sie abschließend im theoretischen Horizont der prominenten Deutungsansätze aus der kritischen Gerontologie.

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V OM K AMPF GEGEN DIE ›K RANKHEIT ALTER ‹ ZUR R ISIKOPRÄVENTION : ANTI -AGING -M EDIZIN IN D EUTSCHLAND Spätestens seit der Gründung der American Academy of Anti-Aging Medicine (A4M) Anfang der 1990er Jahre1 hat sich die Anti-Aging-Medizin als eine eigenständige medizinische Richtung etabliert und institutionalisiert. Dabei hat sie sich zum Ziel gesetzt, biogerontologische und biomedizinische Erkenntnisse zur Prävention, frühen Diagnose oder Behandlung von altersbedingten Krankheiten und Beschwerden zu nutzen. Die Anti-Aging-Branche hat sich zu einer expandierenden Industrie entwickelt. So prognostiziert ein neuerer BCC Report (2013) für den globalen Anti-Aging-Markt an Produkten und Dienstleistungen im Jahr 2018 einen Wert von 345,8 Milliarden Dollar – mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 5,7 Prozent zwischen 2013 und 2018. Im letzten Jahrzehnt hat die Anti-Aging-Medizin auch in Europa Fuß gefasst (vgl. Trüeb 2006: 91f.). Die GSAAM wurde im Jahr 1999 gegründet und kann als einer der wichtigsten Akteure des deutschen Anti-Aging-Feldes angesehen werden. Ursprünglich in starker programmatischer Orientierung an und engem institutionellen Zusammenhang mit der A4M entstanden, verfolgte die GSAAM seit Mitte der 2000er Jahre zielstrebig eine programmatische Neuausrichtung, die schließlich zum Bruch mit der amerikanischen Mutterorganisation führte und letztlich eine »Neubegründung der Anti-Aging-Medizin in Deutschland« (Spindler 2009) zur Folge hatte. Hatte man zunächst die radikale Anti-Aging-Programmatik der A4M einschließlich des Verständnisses des Alterns als (Meta-)Krankheit und des Ziels seiner Behandlung und Heilung geteilt, so wurde unter dem Eindruck des ›Kampfes‹ um die Anti-Aging-Medizin in den USA ein Kurswechsel zu einer gemäßigteren, stärker auf Prävention von altersbezogenen Gesundheitsrisiken ausgerichteten Programmatik und Rhetorik vorgenommen. Altern wird nun nicht mehr selbst als ein pathologisches Phänomen dargestellt, sondern als der zentrale Risikofaktor für Zivilisationskrankheiten. Entsprechend wird die Anti-Aging-Medizin in Deutschland verstärkt im Sinne einer seriösen, auf wissenschaftlicher Evidenz beruhenden Präventivmedizin verstanden. Diese programmatische Neuausrichtung lässt sich nach Spindler vor allem anhand dreier

1

Für die A4M kursieren unterschiedliche Gründungsdaten: unter http://www.world health.net/about-a4m/ [Zugriff: 05.09.2014] wird 1991, auf http://www.a4m.com/ about-a4m-overview.html [Zugriff: 05.09.2014] 1992 genannt. Daneben ist etwa auf Wikipedia 1993 angegeben.

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Gesichtspunkte charakterisieren: das Verständnis von Alter(n) als medizinisch minimierbares Risiko, die Betonung der moralischen Pflicht zur eigenverantwortlichen Kontrolle des Gesundheitsrisikos Alter(n) und die medizinische Gestaltung des Alter(n)s durch individuelle Risikoprofile und Präventionsprogramme (vgl. Spindler 2014). Die Ziele der GSAAM sind die »Erforschung physiologischer Alterungsprozesse und die Beschreibung medizinischer Verfahren und Vorstellung von Arzneimitteln zur Verzögerung der Alterungsprozesse mit Verbesserung der Organgesundheit«, die »Entwicklung von Untersuchungssystemen zur Früherkennung gesundheitlicher Risiken (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Osteoporose, Krebserkrankungen, Demenzformen) mit entsprechenden Verfahren der Prävention«, die »Entwicklung von Kriterien und Standards für eine Qualitätssicherung (Qualitätsmanagement) in der Präventions- und Anti-Aging-Medizin, Wissens- und Informationsaustausch über jeweils aktuelle Erkenntnisse und Förderung der bundesweiten Weiterbildung« (GSAAM o. J.). Seit 2007 wird mit Unterstützung und in Kooperation mit der GSAAM ein zweijähriger berufsbegleitender Masterstudiengang für Präventivmedizin an der privaten Internationalen Universität Dresden angeboten. Nach eigenen Angaben hat die Fachgesellschaft heute über 1000 Mitglieder (vielfach aus der Gynäkologie und Endokrinologie). Die Fülle an Anti-Aging-Praktiken lässt sich systematisch anhand ihrer Zielsetzungen unterteilen. Hier sind zu unterscheiden (a) ästhetische Interventionen mit dem Ziel des Verhinderns oder des Korrigierens von sichtbaren Anzeichen des Alters und des Bewahrens bzw. der Herstellung eines jugendlichen Erscheinungsbildes, (b) die Prävention oder Behandlung von alterskorrelierten Funktionsstörungen, Beschwerden oder Krankheiten mit dem Ziel des Erhalt bzw. der Herstellung von Gesundheit und (c) die Verlängerung des Lebens als Verlängerung der individuellen Lebenserwartung, der Ausdehnung der menschlichen Lebensspanne oder der Abschaffung des Alterungsprozesses überhaupt. (a) Jugendliches Erscheinungsbild: Ästhetische Interventionen umfassen beispielsweise Falten-Behandlungen mit Botox oder das Unterspritzen mit Fillern (z. B. Hyaluronsäure, Kollagen oder Körperfett), Lasertherapien gegen sogenannte Altersflecken, chemische Peelings oder chirurgische Eingriffe wie Faceliftings. Darüber hinaus bietet manche Anti-Aging-Klinik ›ganzheitliche‹ Angebote an, die sowohl Schönheits- und Pflegeanwendungen als auch Ernährungs- und Lifestyle-Programme für ein jugendliches und attraktives Aussehen umfassen. Daneben ist Anti-Aging allerdings auch ein werbewirksames Label für eine breite Palette von Schönheitsprodukten und -maßnahmen wie die bekannten Gesichtscremes, aber auch Shampoos, Zahnpasta oder Anti-Aging-Yoga.

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(b) Gesundheit: Die Maßnahmen der zweiten Kategorie zielen auf die Verhinderung oder Behandlung von Altersbeschwerden sowie von alterskorrelierten Funktionsstörungen und Krankheiten. Dabei wird in erster Linie auf Prävention gesetzt, um ein gesundes Altern zu ermöglichen und jugendliche Fitness und Leistungsfähigkeit zu erhalten. Dies beinhaltet vor allem Aspekte des persönlichen Lebensstils wie Sport und gesunde Ernährung, aber auch geistige Fitness, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und das Vermeiden von Alkohol, Rauchen und Übergewicht. Darüber hinaus kommen auch Medikamente (z. B. Viagra) zum Einsatz, ebenso wie Hormone (z. B. Wachstumshormone (HGH) oder Dehydroepiandrosteron (DHEA)), die dazu beitragen sollen, Muskelmasse und Knochenstruktur zu erhalten. (c) Lebensverlängerung: Die Verlängerung des Lebens kann sowohl auf die Erhöhung der individuellen Lebenserwartung als auch auf die Ausweitung der generell möglichen biologischen Lebensspanne des Menschen abzielen. Große Erwartungen werden hier in die Methode der Kalorienrestriktion (CR) gesetzt, eine diätetische Maßnahme, die durch eine extrem reduzierte Kalorienaufnahme den biologischen Alterungsprozess verlangsamen soll. Daneben kommen auch hier Medikamente zum Einsatz, seien es Hormone (z. B. Melatonin, Östrogen oder Testosteron) oder Nahrungsergänzungsmittel (wie Vitamine, Antioxidantien, oder ›functional food‹, also Lebensmittel, die mit zusätzlichen, vermeintlich gesundheitsfördernden Inhaltsstoffen angereichert wurden). Die Möglichkeit radikaler Lebensverlängerung oder gar ›biologischer Unsterblichkeit‹ durch die Verlangsamung, das Aufhalten oder gar die Umkehrung des Alterungsprozesses gehört bisher ins Reich der medizinischen Utopien. Diese Ansätze berufen sich in erster Linie auf die biologische Altersforschung, die Alterungsprozesse in der Verkürzung der Chromosomenenden (Telomere) bei jeder Zellteilung, der Freisetzung von freien Radikalen als Nebenprodukt des Stoffwechsels in den Mitochondrien oder in zellulären Prozessen wie der Apoptose (dem sogenannten ›programmierten Zelltod‹) begründet sieht. Sie setzen daher auf Zell- oder Gentherapien, um die maximal mögliche menschliche Lebensspanne des Menschen weit über die Grenze von 120 Jahren zu verlängern.

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Dieser Artikel zeichnet ein empirisch fundiertes Bild der lebensweltlichen Praxis im Umgang mit Anti-Aging in Deutschland und der damit verbundenen epistemischen und normativen Ansprüche. Hierfür wurden im Rahmen des BMBFgeförderten Verbundprojekts Biomedizinische Lebensplanung für das Altern – Werte zwischen individueller ethischer Reflexion und gesellschaftlicher Normierung2 in den Jahren 2011 und 2012 in mehreren deutschen Städten (u. a. Berlin, München, Erlangen, Göttingen, Leipzig, Rostock) zwölf Fokusgruppen und 20 narrative Interviews (insgesamt 96 Teilnehmende) mit Anti-Aging-Anwenderinnen und Anwendern sowie interessierten Laien geführt. Die Teilnehmenden an Interviews und Fokusgruppen wurden über Flyer, Aufrufe in einschlägigen Online-Foren, über Schneeball-Verfahren und auf themenbezogenen öffentlichen Veranstaltungen – etwa Messen zum Thema Alter(n) und Gesundheit – angesprochen. Bei der Auswahl wurden im Sinne des Theoretical Sampling der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) die Prinzipien des minimalen und maximalen Kontrastes angewendet: Durch die Suche nach ähnlichen Fällen auf der einen und kontrastierenden Fällen auf der anderen Seite sollte sowohl eine ausreichende Spezifizierung als auch eine möglichst umfassende Beschreibung des Feldes gewährleistet werden. Auf diese Weise erfolgte die Erhebung der Daten parallel zu ihrer Interpretation, wobei zusätzliche Fälle gesucht und einbezogen wurden, bis eine empirische Sättigung eintrat, sodass unterschiedlichste Ansichten, Situationen und Hintergründe in den Gesprächen zum Tragen kommen konnten. Die ungleiche Verteilung in Bezug auf das Geschlecht (60 Frauen, 36 Männer) ist den Geschlechtsunterschieden hinsichtlich der Bereitschaft zur Teilnahme an Gruppendiskussionen sowie des Interesses am Themenfeld ›Prävention und Lebensplanung‹ geschuldet. Die Teilnehmenden waren zwischen 20 und 85 Jahre alt (Mit-

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Das Ziel des interdisziplinären Verbundprojekts (2010-2014, Förderkennzeichen: 01GP1004) der Medizinethik an der Universitätsmedizin Göttingen und der Soziologie an der FAU Erlangen-Nürnberg war es, die Bedeutung der wachsenden Möglichkeiten der Biomedizin für die Lebensplanung im Hinblick auf Altern und Sterben besser zu verstehen. Hierzu wurden zwei Leitpraktiken – die Patientenverfügung und Präventions-/Anti-Aging-Medizin – betrachtet. Neben der für diesen Artikel relevanten Analyse des Alltags der Anwenderinnen und Anwender wurden zudem der Diskurs und die institutionelle Rahmung der Praktiken rekonstruiert (Dokumentenanalysen, Experteninterviews, Teilnehmende Beobachtungen an Kongressen und Veranstaltungen). Am Projekt waren beteiligt: Silke Schicktanz, Frank Adloff, Mark Schweda, Larissa Pfaller und Kai Brauer. Siehe auch: www.biomedizinische-lebensplanung.uni-goettingen.de.

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telwert 56), hatten unterschiedliche Bildungsgrade sowie berufliche und sozioökonomische Hintergründe und kamen aus geographisch (West-Ost, Süd-Nord) wie strukturell (ländlich wie städtisch) unterschiedlichen Regionen. Bei der Auswahl der Teilnehmenden an Interviews und Fokusgruppen war uns eine möglichst große Offenheit wichtig, um das Thema nicht schon von Anfang an auf eine bestimmte Altersgruppe oder Geschlechtszugehörigkeit oder auf gewisse Praktiken einzuschränken. Für die Teilnahme entscheidend war zunächst nur die Selbstdefinition der betreffenden Personen als Anti-Aging-Anwenderinnen bzw. -Anwender oder Interessierte, unabhängig davon, was sie konkret unter dem Begriff verstanden. Die Fokusgruppen waren teils natürliche Gruppen oder von uns nach Altersgruppen eingeteilt, teils sehr heterogen gemischt. Fokusgruppen wie Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und pseudonymisiert3. Die Pseudonyme lassen lediglich das Geschlecht (Herr/Frau) und das Lebensalter (in Klammern nach dem Pseudonym) erkennen. Das empirische Material wurde mit Hilfe der Software Atlas.ti® nach den Regeln der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000) in einem zweistufigen Coding-Prozess strukturiert. Dabei folgte auf eine erste Zuordnung von allgemeinen Kategorien eine Feincodierung mit untergeordneten Codes, sodass zunächst generelle Themen identifiziert und anschließend ihre Binnenstrukturen in differenzierter Form aufgenommen und analysiert werden konnten. Da die Bedeutung einer Aussage nicht einfach ›vorliegt‹, sondern sich immer erst aus dem konkreten Ablauf des Gesprächs und der spezifischen Aufeinanderfolge von Redebeiträgen ergibt, wurden Fokusgruppen wie Interviews mit der Methode der komparativen Sequenzanalyse (Nohl 2009) analysiert, um die im diskursiven Verlauf entstehenden Bedeutungsstrukturen rekonstruieren zu können. Dieses Vorgehen basiert auf der dokumentarischen Methode, die eine Einzelaussage immer auch als Dokument übergreifender Orientierungsmuster interpretiert (Bohnsack 2008). Durch Kombination dieser beiden Vorgehensweisen konnten einzelne Aussagen sowohl bestimmten Argumentationsmustern zugeordnet als auch die ihnen zugrunde liegenden generellen Orientierungen abgeleitet werden (vgl. ebd.: 135). Im Folgenden

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Vor Studienbeginn wurde das Vorhaben von der Ethikkommission der Universitätsmedizin Göttingen positiv begutachtet. Die Teilnehmenden wurden im Sinne der informierten Zustimmung sowohl über die Ziele und den Ablauf des Projektes als auch über die Regelungen des Datenschutzes aufgeklärt. Die Fokusgruppen wurden von zwei Personen entlang eines teilstrukturierten Leitfadens moderiert, der sowohl Fragen zur Praxis und Bedeutung von Anti-Aging- und Präventionsmaßnahmen als auch Szenarien zu Chancen und Risiken der Lebensverlängerung enthielt.

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werden diese Argumentations- und Orientierungsmuster beschrieben, die sich als vier typische Strategien im Umgang mit Anti-Aging-Medizin rekonstruieren lassen.

E RGEBNISSE : S TRATEGIEN UND ALLTAGSPRAXIS IM U MGANG MIT ANTI -A GING Während ›Anti-Aging‹ etwa im angloamerikanischen Sprachraum vorrangig für medizinische Maßnahmen steht, weckte der Begriff vor allem bei denjenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die selbst keine Anti-Aging-Angebote nutzten, zunächst Assoziationen zu kosmetischen Maßnahmen wie Botox-Injektionen oder Anti-Falten-Cremes.4 So äußerte sich ein Teilnehmer, Anti-Aging sei für ihn etwas, »wo ich an so Frisuren-Frauen und Schmierpasten dächte, die alle viel zu teuer sind und die der Apotheke sicherlich helfen oder der Drogerie […] Anti-Aging war für mich immer – da fehlt das Wort Cremes oder Paste dahinter.« (Herr P. (56), Fokusgruppe, 20/49)

Im Gegensatz dazu verwendeten die erfahreneren Anwenderinnen und Anwender den Begriff ›Anti-Aging‹ für ein sehr viel breiteres Spektrum unterschiedlicher Praktiken und Produkte, von kosmetischen Anwendungen über Sport, Nahrungsergänzungsmittel und Hormonersatztherapie bis hin zu Maßnahmen, die nur in einer sehr individuellen Deutung mit Anti-Aging in Verbindung gebracht werden können. Alle diese Praktiken lassen sich für die Anwenderinnen und Anwender nur deshalb stimmig unter ›Anti-Aging‹ zusammenfassen, weil sie zum gleichen Zweck – jünger aussehen, sich jung fühlen oder die eigene Lebenserwartung verlängern – angewendet werden: »Sport, Ernährung, Orthomol. Das sind so alle meine drei wichtigsten Säulen. Und versuchen, zufrieden zu sein.« (Frau F. (40), Interview, 3/18) Insgesamt deckt unsere Studie eine Spannbreite unterschiedlicher Einstellungen gegenüber Anti-Aging auf – von vollständiger Ablehnung bis hin zu begeisterter Zustimmung und Unterstützung. Dabei lassen sich aus dem empirischen

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Bei der Rekrutierung sowie in den Interviews und Gruppendiskussionen, die als Datengrundlage für diesen Artikel dienen, wurde unterschiedlichen Begriffsverwendungen Rechnung getragen, indem immer auch explizit von ›präventivmedizinischen Maßnahmen‹ gesprochen wurde, um diesen Bedeutungsgehalt des Anti-Aging ebenfalls abzudecken.

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Material vier verschiedene Strategien rekonstruieren, wie Anwenderinnen und Anwender im Alltag mit Anti-Aging und den damit einhergehenden medizinischen und moralischen Imperativen umgehen: vom medizinischen Optimismus über präventiven Maximalismus und ritualisierte Wellness bis hin zur überlegten Zurückweisung. Jede dieser Strategien korrespondiert sowohl mit unterschiedlichen Graden an Zustimmung oder kritischer Distanz als auch mit unterschiedlichen Problemstellungen und Konflikten, die von den Teilnehmenden selbst angesprochen werden. Im Verlauf der einzelnen Interviews und Gruppendiskussionen wechseln die Sprecherinnen und Sprecher ihre Positionen, die Strategien gehen ineinander über oder überschneiden sich. Die vier rekonstruierten Kategorien stellen somit Idealtypen dar, die theoretisch zu unterscheiden, aber nicht zwingend personengebunden sind. a) Medizinischer Optimismus Vor allem in den Interviews zeigten sich die Anti-Aging-Anwenderinnen und -Anwender als informierte und aktive Akteure, die bestrebt waren, ihre Handlungen durch Argumente und Erzählungen plausibel und nachvollziehbar zu machen. Ein zentrales Narrativ in diesem Kontext war die Geltung und Autorität der modernen Medizin als Wissenschaft. Diese Anwenderinnen und Anwender zeigten sich überzeugt von der Gültigkeit des medizinisch-naturwissenschaftlichen Wissens, auf dem Anti-Aging-Anwendungen basieren, und durchaus optimistisch in der Einschätzung weiterer wissenschaftlicher Fortschritte auf diesem Gebiet. So berichtete ein Anwender: »Ich denke, man kann sich auf jeden Fall Lebenszeit kaufen, wenn man alles richtig macht und die komplette Bandbreite der technologisch-medizinischen Möglichkeiten nutzt und dann hat man sich 20 Jahre gewonnen und, wenn man wirklich optimistisch ist, kann man davon ausgehen, dass in 20 Jahren die Forschung deutlich weiter ist. Und insofern kann das dann schon zu einer deutlichen Verlängerung der Lebensspanne führen.« (Herr I. (32), Interview, 10/2)

In diesem Zitat spiegelt sich die Logik einer gängigen Argumentation des Expertendiskurses wider: Die Anti-Aging-Medizin konnte zwar bisher nicht den einen großen Durchbruch vorweisen und ein wirkungsvolles Mittel finden, das den biologischen Alterungsprozess tatsächlich anhält oder umkehrt. Jedoch kann durch die richtige Lebensweise jede Person für sich Lebenszeit gewinnen, was nun wiederum die Chance eröffnet, die künftige Entwicklung effektiverer Methoden der Lebensverlängerung selbst miterleben zu können. Eine solche Aussage

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ergibt indes nur Sinn vor dem Hintergrund der Annahme eines linearen oder sogar exponentiellen Fortschritts der medizinischen Technologie als notwendige Bedingung und integraler Bestandteil wirksamer Anti-Aging-Ansätze. Der Glaube an die Wissenschaft muss sich jedoch nicht unbedingt auf wissenschaftliche Belegbarkeit gründen. An die Stelle wissenschaftlich objektiver Überzeugungskraft kann vielmehr – ähnlich wie im Falle komplementär- und alternativmedizinischer Ansätze wie etwa der Homöopathie – auch die letztlich unhintergehbare Evidenz subjektiven Empfindens und persönlicher Erfahrung treten: »Ich für mich, ich finde die Beweise. Also es hat für mich nichts mit Glauben zu tun, sondern man kann das belegen und man sieht das auch und man merkt das und spürt es und in jederlei Hinsicht« (Frau A. (29), Interview, 14/6). Die Anwenderinnen und Anwender formulieren darüber hinaus auch Kritik an einem naiven Glauben an die Geltung medizinischer Erkenntnisse und ärztlicher Autorität. Ein Einwand besagt, dass diese Art von blindem Vertrauen auch dazu führen kann, seriöse wissenschaftliche Berichterstattung und ärztliche Aufklärung nicht mehr von kommerziellen Strategien unterscheiden zu können. So führt ein Sprecher mit Blick auf die von ihm so genannten »Gesundheitssendungen« aus: »Die medizinischen Sendungen, die Sie angesprochen haben, sind natürlich in gewisser Weise mit Vorsicht zu genießen. Erstens sind sehr viele Dinge von der Industrie gesponsert. Das heißt, die Industrie bringt sogar die vorgefertigten Manuskripte für die Sendung an, schiebt einen Beitrag durch und dann wird das Zeug gesendet. Was da stimmt oder nicht stimmt, ist vollkommen egal. [...] Insofern, aufpassen!« (Herr T. (63), Fokusgruppe 21/12)

Auch kann die Erfahrung eines Versagens präventivmedizinischer Strategien bestehendes Vertrauen in Medizin und Ärzteschaft zerstören und zu Desillusionierung und Skepsis gegenüber dem Funktionieren des medizinischen Systems führen, was eine neue Perspektive auf Anti-Aging eröffnet (siehe auch d). Doch nicht nur das vorstellbare Versagen präventiver Praktiken, sondern auch mögliche Schäden, die aufgrund unzureichenden Verbraucherschutzes durch das AntiAging selbst erzeugt werden könnten, werden ausdrücklich angesprochen: »Man kann eben recht viel kaputt machen damit, grade mit Medikamenten oder sowas, wenn man die Nebenwirkungen – und, ich mein, ich will ja mein Leben nicht verkürzen damit« (Herr J. (41), Interview, 4/22). Vor diesem Hintergrund kann im Gesprächsverlauf die Rationalität und damit der Geltungsanspruch der Prävention radikal in Frage gestellt werden: »Aber man weiß ja nicht, wie viel es ausmacht. […] Bloß damit man dann vielleicht ein Jahr länger lebt. Und man weiß es ja nicht, ob es wirklich das eine Jahr ausmacht oder nicht« (Frau T. (52), Fokusgruppe 6/10).

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b) Präventiver Maximalismus Die zweite Strategie, mit Anti-Aging umzugehen, ist auf eine zurückhaltendere Haltung gegenüber wissenschaftlicher Beweiskraft gegründet. Trotz eines oft leisen, gelegentlich aber auch durchaus grundlegenden Zweifels an der Wirksamkeit präventiver Maßnahmen legt dieses Argumentationsmuster nahe, Anti-Aging anzuwenden, um von den positiven Wirkungen profitieren zu können, falls sich die Praktiken tatsächlich als wirksam herausstellen sollten: »Nun natürlich hat man auch manchmal Sachen aufgegriffen. Wir haben nie groß Wein gerne getrunken. Ja dann plötzlich hieß es ›ein Glas Rotwein am Tag!‹ Da haben wir uns abends immer hingesetzt und ein Glas Rotwein getrunken. […] Und wir sind eigentlich gar nicht so für Alkohol und so was, aber das hat man eben dann gemacht, der Gesundheit wegen« (Frau O. (73), Interview, 2/14).

Unter dem Eindruck einer wachsenden Informationsflut auf dem Gesundheitsmarkt und der Unsicherheit, welche Informationen glaubwürdig und welche Empfehlungen umsetzbar sind, stellt dieses Argumentationsmuster eine Art Heuristik für rationale Entscheidungen und Handlungen unter unsicheren Rahmenbedingungen zur Verfügung. Es liefert damit eine im Diskurs vermittelbare Begründung dafür, dass man sich auch fragwürdiger Praktiken bedient, von deren Nutzen man nicht immer uneingeschränkt überzeugt ist. Im Sinne einer Pascal'schen Wette wird angenommen, dass, sollte Anti-Aging wirken, der Lohn für die damit verbundenen Anstrengungen letztendlich ein langes und gesundes Leben sein werde, während, sollten sich die präventiven Maßnahmen als unwirksam herausstellen, zumindest kein Nachteil zu erwarten sei. Auf der anderen Seite sind die Anwenderinnen und Anwender aber wiederum auch in der Lage, Einwände und Bedenken gegenüber dieser Art von Umgang mit Anti-Aging zu formulieren. So wird angemerkt, dass der präventive Maximalismus auch eine ideale Angriffsfläche für die kommerziellen Interessen der Industrie darstellt, zumal dieses Feld nicht nur von Hoffnungen, sondern auch von Ängsten geprägt ist. Zudem scheint es in der Logik der Prävention keine objektiven Maßstäbe und keine definitiven Grenzen zu geben – schließlich kann man in Bezug auf die eigene (zukünftige) Gesundheit im Grunde ›niemals genug tun‹. Überdies wird auch die zentrale Annahme dieser Strategie in Frage gestellt, dass Anti-Aging, sollte es auch keine’ präventive Wirkung haben, doch zumindest auf keinen Fall schaden könne. Man betont, dass all den Anstrengungen und Entbehrungen, die das aktive Anti-Aging mit sich bringen kann, durchaus die mo-

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mentane Lebensqualität gegenübergestellt werden muss, die im Alltag nicht vernachlässigt werden darf. So muss in das Kalkül der Pascal'schen Wette im Grunde das Risiko mit einbezogen werden, gleich in doppelter Weise zu verlieren, denn führen alle Entbehrungen, die das Anti-Aging fordert, letztendlich nicht zum Erfolg, sind nicht nur die in Aussicht gestellten zusätzlichen Lebensjahre dahin, man hat auch vergebens auf ein angenehmes Leben verzichtet: »Ich habe grade eine Freundin verloren, die ist genauso alt wie ich […]. Die hat sich geschunden, die war schlank, die hat nur Joghurt gegessen und hat wirklich gesund gelebt, war bei der Kosmetik, hat Anti-Aging-Produkte benutzt. Und jetzt ist sie schon nicht mehr da« (Frau H. (68), Interview, 8/23).

Schließlich wird auch die Besorgnis geäußert, dass die Logik des präventiven Maximalismus früher oder später immer mit einer Responsibilisierung des eigenen Alterns einhergehen wird: So wird das Alter(n) mehr und mehr als Frage persönlicher Entscheidungen betrachtet und damit der Verantwortung der einzelnen Individuen übertragen. Gleichzeitig scheint damit zunehmend die Möglichkeit auszuscheiden, Verlauf und Unwägbarkeiten des Alterungsprozesses in Begriffen des Schicksals oder Zufalls (Glück bzw. Pech) zu deuten. Dies, so die Befürchtung, könnte dazu führen, dass denjenigen, die nicht ›ausreichend‹ vorgesorgt haben, die Verantwortung oder gar Schuld am eigenen schlechten Gesundheitszustand zugeschrieben und zugleich womöglich Solidarität entzogen wird: »Aber wenn ich tagsüber im Büro sitze, und dann nur gekrümmt sitze, dann ist es vielleicht ganz günstig für mich, wenn ich mich dann trotzdem noch quäle und dann noch ein bisschen andere Bewegung mache. Das ist die eine Seite. Aber daraufhin den einen zu verdammen, weil er nichts macht […] nee, das finde ich nicht so gut« (Frau G. (70), Fokusgruppe, 46/33).

c) Ritualisierte Wellness Die dritte Strategie – die der ritualisierten Wellness – kann im Sinne einer Entkopplung der subjektiven Bedeutungszuschreibung von den objektiven Geltungsansprüchen der Anti-Aging-Medizin beschrieben werden. Hier gründet sich das Vertrauen in Anti-Aging also nicht in erster Linie auf eine unterstellte medizinische Wirksamkeit, sondern auf eine ritualisierte Praxis, aus der persönliches Wohlbefinden geschöpft wird. Auf diese Weise wird eine praktische Gewissheit und Evidenz durch die eigene Erfahrung erzeugt, wo auf gesichertes wissenschaftliches Wissen nicht zurückgegriffen werden kann:

170 | L ARISSA PFALLER UND M ARK S CHWEDA »Also ich habe einfach gemerkt, dass der regelmäßige Sport, zu dem man sich ja wirklich überwinden muss […] für mich ist das schon Disziplin, jahraus, jahrein um sechs Uhr früh bei Regen, bei Dunkelheit, im Winter aufzustehen oder in der Kälte raus zu gehen. […] Aber es lohnt sich und ich fühle mich einfach wohl und ich bemerke auch, dass sich während des Joggens Probleme, die ich mit mir herumtrage, irgendwo in Wohlgefallen auflösen oder mir Lösungen einfallen. Also es ist wirklich auch eine geistige Reinigung und eine gewisse Befreiung. Insofern mache ich das auch weiter« (Frau D. (56), Interview, 3/11).

Diese Strategie lässt die Faszination für Anti-Aging-Produkte und -Dienstleistungen und gleichzeitig auch eine begründete Skepsis gegenüber ihrer Wirksamkeit zu und zeigt so eine hohe Toleranz gegenüber Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen. Allerdings werden gegen diese Strategie auch Bedenken formuliert. So könnte der sie begleitende Hedonismus anfällig für bedenkliche oder allein auf Profit abzielende Anti-Aging-Angebote machen oder in eine Art psychische Abhängigkeit führen: »Ja, es gibt ja viele Frauen, die können gar nicht mehr ohne sich an sich rumschnippeln oder rumstechen zu lassen. Das ist so eine Sucht irgendwie bei denen« (Frau N. (64), Interview, 10/9). In diesem Zusammenhang werden in den Diskussionen auch regelmäßig die fortschreitende Kommerzialisierung des deutschen Gesundheitssystems und die besondere Rolle von Medizinerinnen und Medizinern als Vertrauenspersonen thematisiert. Auf der einen Seite herrscht gerade im Anti-Aging-Umfeld zwar häufig ein liberalistisch-instrumentelles Verhältnis zum Gesundheitssystem vor. So erklärt etwa Frau O., »die Ärzte sind für mich wirklich nur dazu da, um meine Erkenntnisse möglichst umzusetzen« (Frau O. (73), Interview, 8/2). Auf der anderen Seite plädieren Anti-Aging-Anwenderinnen und Anwender aber auch für mehr Anerkennung und Honorierung ihrer gesunden Lebensweise durch das medizinische Personal, die Krankenkassen und den Staat: »Ich möchte eben gerne mal einen Arzt haben, der so Verständnis hat, nicht? Wo nicht immer gleich die Dollars fließen müssen. […] Man wünschte sich mehr Ärzte, zu denen man nicht als Privat- und Geldpatient kommt, sondern die auf einen eingehen als Kassenpatient, die das auch honorieren. Auch zum Beispiel unsere Kasse, […] die hatte uns jahrelang das Fitnessstudio bezahlt und dann bekamen wir noch Bonuspunkte dafür, dass wir nicht geraucht haben, dass wir in den Schwimmverein gegangen sind und alles, jetzt ist das alles gekürzt worden!« (Frau O. (73), Interview, 20/25)

Tatsächlich erscheinen den Anwenderinnen und Anwendern die fließenden Übergänge zwischen der verantwortungsvollen Rolle als Arzt oder Ärztin und dem

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Verkaufsinteresse auch problematisch. Die Integrität des Arztberufs steht auf dem Spiel, da Patientinnen und Patienten nicht immer unterscheiden können (und vor diese Entscheidung auch gar nicht gestellt werden wollen), ob auf Seiten ihres Gegenübers nun ihre Gesundheit im Mittelpunkt steht oder persönliches Profitdenken. Eine Teilnehmerin äußert sich hier beispielsweise kritisch über das Verkaufsgebaren ihrer ehemaligen Gynäkologin: »[…] und da muss ich sagen, mit dieser Frau bin ich irgendwie nicht mehr zurecht gekommen. Die ist mir dann eben unsympathisch gewesen und dann auch die ganze Praxis. Die haben dann immer versucht, nebenbei noch alles Mögliche zu verkaufen und das hasse ich. Da hat man so richtig gemerkt, dass die Sprechstundenhilfen darauf angesetzt sind, dir alles Mögliche von dem Programm, das sie eben so nebenbei noch anbieten, zu verkaufen. Und dann hab ich mir gedacht, ›Nein, das will ich nicht‹« (Frau C. (56), Interview, 5/35).

Diese Argumentation – die Skepsis gegenüber wirtschaftlichen Interessen innerhalb der Medizin – ist besonders vor dem Hintergrund des deutschen Gesundheitssystems nachvollziehbar. In ihr dürfte das Unbehagen gegenüber der schrittweisen Aufweichung einer staatlich gesicherten, gesundheitlichen Vollversorgung und der damit einhergehenden Ausweitung eines privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitsmarktes zum Ausdruck kommen. d) Überlegte Zurückweisung Schließlich kann auch die grundsätzliche Ablehnung von Anti-Aging-Medizin ebenso als eine Strategie des Umgangs mit ihr gedeutet werden. Diese Strategie greift argumentativ auf die bereits beschriebenen typischen Problematisierungen zurück. Dabei lassen sich zwei Argumentationsmuster gegen die Geltungsansprüche des Anti-Aging rekonstruieren: Das eine stellt seine wissenschaftliche Geltung, das andere seine ethische Legitimität in Frage. Das erste Argumentationsmuster zeigt sich skeptisch gegenüber den wissenschaftlichen Geltungsansprüchen des Anti-Aging, indem es die mit der Rationalität der Prävention verbundenen Kausalannahmen in Frage stellt. So hält eine Teilneh-merin der präventiven Logik des Anti-Aging eine lebensweltliche Perspektive entgegen, die die Übertragbarkeit statistischer, aus einer Gruppenzugehörigkeit abgeleiteter (Wahrscheinlichkeits-)Aussagen auf ein individuelles Leben grundsätzlich in Zweifel zieht: »Ich habe meine Mutter durch Lungenkrebs verloren. Sie hatte Lungenkrebs und die Frau hat nie geraucht. Sie hat gesund gelebt und ist dann mit 55 gestorben. Also deshalb ist für

172 | L ARISSA PFALLER UND M ARK S CHWEDA mich immer dieses ›gesund leben‹ und ›alles gesund und Sport und so‹ – also ich mag es manchmal gar nicht so hören. Weil ich denke ›also wisst ihr, ihr ganzen Gesundheitsapostel: Es gibt Sachen, die kann man nicht beeinflussen, die sind einfach so‹« (Frau D. (56), Fokusgruppe, 6/31).

Hier wird die pauschale Annahme eines deterministischen Zusammenhangs zwischen »gesund leben« und »gesund sein« für den Einzelfall zurückgewiesen und somit der im Anti-Aging-Diskurs immer wieder behauptete hohe Stellenwert des individuellen Lebensstils problematisiert. Stattdessen wird eine eingehendere Betrachtung eingefordert, die zu unterscheiden versucht, wo eine Bezugnahme auf den individuellen Lebensstil angebracht erscheint und wo sie – im folgenden Beispiel mit einiger Vehemenz formuliert – abzulehnen ist: »Ich kann es ja mal offen sagen: Ich hab Diabetes II und da spielt Lebensstil eine massive Rolle. Aber bei Krebs bin ich völlig Ihrer Meinung. Also ich find auch dieses: ›hätt ich anders gelebt, hätt ich kein Krebs bekommen‹ – also da würde ich am liebsten mit der Faust drauf hauen. Weil ich denke, bei vielen Krebsarten spielt es wenig eine Rolle« (Frau Sh. (41), Fokusgruppe, 7/3).

Das zweite Argumentationsmuster dieser Strategie bezieht sich auf die Bedeutung des dem Anti-Aging zugrundeliegenden Wissens für die persönliche Lebensführung, unabhängig von seiner wissenschaftlichen Geltung. Im folgenden Zitat etwa wird der epistemische Status und Geltungsanspruch des Anti-Aging zwar nicht in Frage gestellt, wohl aber dessen Wert im Verhältnis zu anderen Aspekten des eigenen Lebens. In dieser Perspektive wird der Status der Gesundheit als eines absoluten und unhintergehbaren Wertes in der modernen Gesellschaft relativiert: »Da schwören manche Leute auf Algen, aber dafür würde ja mein Geld gar nicht ausreichen. Ich kauf mir dann die Süddeutsche. Ist meine Geistesnahrung, die ist wichtig« (Frau E. (66), Interview, 4/29). Allerdings wird auch die Strategie der Ablehnung von Anti-Aging in den Interviews und Fokusgruppen kritisch hinterfragt. Eine vollständige Verweigerung von präventivmedizinischen Maßnahmen und einem ›gesunden‹ Lebensstil erscheint als Position in einem von Eigenverantwortung und der Forderung nach gesundheitlicher Vorsorge geprägten Diskurs kaum haltbar:

»Ich will niemandem vorschreiben ›Du musst jetzt aufhören zu rauchen. Du musst jetzt das machen. Du musst Gemüse essen‹. Wenn du das nicht willst, tu es nicht. Allerdings bin ich

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dann auch knallhart und sage ›Beschwer Dich aber auch nicht später‹« (Herr J. (41), Interview, 14/29).

P ROBLEME

UND P ERSPEKTIVEN SOZIALGERONTOLOGISCHER ANTI -AGING -K RITIK

Seit ihrem Entstehen sieht sich die Anti-Aging-Medizin vehementer Kritik von Seiten der Sozialgerontologie ausgesetzt. Dabei kommen theoretische Deutungsmuster zum Einsatz, die inzwischen auch in Deutschland verstärkt rezipiert werden (vgl. van Dyk/Lessenich 2009). Im Anschluss an Michel Foucault wird der Anti-Aging-Trend als Symptom einer (Bio-)Medikalisierung des Alterns sowie als Zeichen für das Aufkommen neuer, subtiler Formen der Selbstdisziplinierung in neoliberalen Gesellschaften kritisiert (vgl. Powell/Biggs 2000, 2003; Leedham/Hendricks 2006). Nach dem (Bio-)Medikalisierungstheorem dringen medizinische Konzepte und Praktiken in immer weitere Lebensgebiete und gesellschaftliche Teilbereiche vor (vgl. Conrad 2007). Auch das Altern wird dabei zunehmend zum Gegenstand medizinischer Definition und Kontrolle (vgl. Estes/Binney 1989; Kaufman/ Shim/Russ 2004). Anti-Aging erscheint in dieser Perspektive als Symptom eines umfassenderen Prozesses, der die Charakteristika des Alterns im Sinne von Pathologien deutet, die entsprechend medizinisch behandelt und bekämpft werden müssen (vgl. Larkin 2011: 32; Mykytyn 2008: 317). Die zweite Perspektive dieser kritischen Gerontologie speist sich aus der Kritik der neoliberalen Gouvernementalität. Demnach ist mit der Ausweitung der Medizin eine zunehmende Individualisierung und Responsibilisierung der Gesundheit verbunden. Im Zuge dieser Verantwortungsübertragung werden Individuen dazu aufgerufen, selbständig und eigenverantwortlich für ihre Krankheiten und Krankheitsrisiken sowie die generelle Verbesserung der eigenen Gesundheit und die Perfektionierung des eigenen Körpers Sorge zu tragen. Dieser auferlegte »Wille zur Gesundheit« (Rose 2001: 6) beinhaltet die Verpflichtung, auch mit Blick auf das höhere Lebensalter die eigene Gesundheit zu überwachen und zu managen (vgl. ebd.; Cardona 2008). Diese theoretischen Perspektiven haben dazu beigetragen, ein verbreitetes Unbehagen gegenüber Anti-Aging begrifflich zu artikulieren und theoretisch zu deuten. Im Lichte unserer empirischen Ergebnisse lassen sich jedoch wichtige Ergänzungen und Differenzierungen anbringen. So können sich die Anwenderinnen und Anwender den Forderungen und Angeboten der Anti-Aging-Medizin zwar nicht vollkommen entziehen. Allerdings haben sie durchaus unterschiedliche Strategien

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entwickelt, sich ihnen gegenüber zu verhalten. Diese repräsentieren unterschiedliche Abstufungen von Affirmation bzw. Ablehnung, bergen aber auch ein je eigenes Konflikt- und Problematisierungspotential. Die Akteure selbst wägen die epistemologischen Deutungsansprüche und moralischen Imperative des AntiAging gegen ihre Alltagslogik ab und relativieren vor dem Hintergrund eigener biographischer Erlebnisse und Orientierungen seine Relevanz für das eigene Leben. So entscheiden schließlich eigene Sinnzuschreibungen und Deutungshorizonte, ob und wie Anti-Aging als sinnhafte Handlung in die individuelle Lebensführung integriert wird. Wie die empirischen Beispiele veranschaulichen, kann Anti-Aging auf der einen Seite durchaus als gangbare Praxis einer rationalen und bewussten Lebensführung gedeutet werden (für eine ausführliche Darstellung vgl. Pfaller 2016); genauso kann auf der anderen Seite aber auch gezeigt werden, wie die Akteure des Alltags ihre Lebenswelt mit Bezug auf die unhintergehbare Geltung der erlebten Erfahrung geradezu vehement gegen die Übergriffe eines »Gesundheitsdispositivs« (z. B. Schroeter 2009) zu verteidigen suchen. Diese Analyse zeigt, wie die im öffentlichen Diskurs der »Gesundheitsgesellschaft« (Kickbusch 2006) angebotenen Subjektpositionen nicht einfach in den Alltag der Akteure übertragen werden. Der Alltag und die darin von den Akteuren selbst vollzogene Praxis folgen einer eigenen Logik, die es in eine kritische Analyse des Anti-Aging einzubeziehen gilt. Die alltäglichen Einstellungen und Praktiken sind nicht bloß Effekte einer unidirektionalen ›Kolonisierung der Lebenswelt‹ durch das medizinische System. Die Anwenderinnen und Anwender sind damit nicht nur passiv den Imperativen von medizinischer und soziopolitischer Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung unterworfen. Vielmehr zeigen sie ihr eigenes Handlungspotential, indem sie die hegemoniale Autorität und Interpretationsmacht der modernen Medizin- und Gesundheitsdiskurse in Frage stellen, sich selbst von den darin erhobenen Geltungsansprüchen des medizinischen Expertentums und der moralischen Autorität distanzieren und im Horizont ihrer jeweiligen biographischen Erfahrungen und Orientierungen zugleich Spielraum für alternative Bedeutungszuschreibungen und Bewertungsmaßstäbe und somit für kritische Distanz schaffen. Dabei zeigt sich auch die Relevanz der je konkreten sozio-kulturellen, sozio-politischen und sozio-ökonomischen Kontexte des AntiAging. Sie bestimmen – etwa in Form unterschiedlicher nationaler Rahmenbedingungen wie der Gesundheitsversorgung – mit, welche Fragen und Probleme bei der Auseinandersetzung mit den betreffenden medizinischen Angeboten in den Vordergrund treten und welche Lösungsmöglichkeiten plausibel und tragfähig erscheinen.

A LTERN ZWISCHEN M EDIKALISIERUNG

UND REFLEXIVER

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In dieser Hinsicht unterstreichen unsere Ergebnisse den Vorbehalt gegenüber , einem allzu schlicht verstandenen Foucault schen Ansatz, der ohne Weiteres »pauschale Begriffe wie ›Überwachung‹, ›Biomacht‹ und ›Gouvernementalität‹ in Anschlag bringt« (Illouz 2008: 14): Diese »nehmen die kritischen Fähigkeiten der Akteure nicht ernst; sie fragen nicht danach, warum Akteure Bedeutungen oftmals tief verpflichtet sind, ja von ihnen in Beschlag genommen werden; und sie unterscheiden nicht zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären« (ebd.). Demgegenüber liegt unsere Studie auf der Linie eher kulturwissenschaftlicher Untersuchungen, die auch die Handlungsspielräume von Patientinnen und Patienten bzw. Kundinnen und Kunden gegenüber der modernen Biomedizin und somit die damit verbundenen Freiheitsgrade in den Blick nehmen. Während die erste Generation der kritischen Gerontologie den Weg für eine kritische Theorie ebnete, indem sie das Konzept des ›successful aging‹ ideologiekritisch hinterfragte und die Aufmerksamkeit auch auf dessen zu problematisierende Elemente richtete (vgl. Estes 2008; Moody 2008: 205), blicken neuere Beiträge unter dem Schlagwort ›Agency‹ auch auf das aus der Fähigkeit zum ›Widerstand‹ resultierende eigene Handlungspotential von Patientinnen und Patienten bzw. Anwenderinnen und Anwendern (vgl. Fries 2014; Koenig 2011; Watts-Roy 2009; Holt 2007; Pound/Britten/Morgan/Yardley/Pope/Daker-White/Campbell 2005). Unsere eigenen Überlegungen gehen insofern noch darüber hinaus, als sie diese Agency auch auf der reflexiven Ebene der argumentativen Auseinandersetzung verorten und so die Orientierungen und Argumente der Betroffenen selbst zur Grundlage der Analyse machen. Weit davon entfernt, einer unkritischen Haltung das Wort zu reden, setzt der hier verfolgte Ansatz auf die Integration alltagsweltlicher Reflexions- und Deliberationspotenziale (vgl. Schicktanz/Schweda 2015) und trägt damit zu einer expliziteren, reichhaltigeren und differenzierteren Auseinandersetzung unter Berücksichtigung konkreter sozio-kultureller Settings bei.

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A LTERN ZWISCHEN M EDIKALISIERUNG

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P RAXIS

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Schweda, Mark/Silke Schicktanz: Das Unbehagen an der Medikalisierung. Theoretische und ethische Aspekte biomedizinischer Lebensplanung, in: Silke Schicktanz/Mark Schweda (Hg): Pro-Age oder Anti-Aging? Altern im Fokus der modernen Medizin, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 23-40. Spindler, Mone: »Altern ja – aber gesundes Altern«. Die Neubegründung der Anti-Aging-Medizin in Deutschland, Wiesbaden 2014. Spindler, Mone: Natürlich alt? Zur Neuerfindung der Natur des Alter(n)s in der Anti-Ageing-Medizin und der Sozialgerontologie, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 380-402. Trüeb, Ralph M.: Anti-Aging. Von der Antike zur Moderne, Darmstadt 2006. Watts-Roy, Diane M.: A protest vote. Users of anti-ageing medicine talk back, in: Health Sociology Review 18 (2009), H. 4, S. 434-445.

Empowering the Elderly A Cultural Analysis of the Relational Practices within a Municipal Home-Health Visit A MY C LOTWORTHY

I NTRODUCTION : A VISIT

WITH

M R H ANSEN

During her evaluation of 90-year-old Mr Hansen’s functional abilities, Laura – a health professional from the municipality – says that it could be good for him to do some strength training to build his muscles; she suggests that he start attending exercise classes for the elderly at a local activity centre. But Mr Hansen is not interested: Laura: You have the right to attend free exercise sessions and activity classes offered by the municipality. The classes are held nearby, so you can get there easily. Mr Hansen: Yes. Laura: You’ll also be able to get out of the house and talk with the other participants. Mr Hansen: Uh-huh. Laura (looking at her notes): It might also be good for you to go out for regular walks again, especially once the weather warms up. That will help [improve] your energy and allow you to sleep better at night. Mr Hansen (pleasantly but firmly): I’m doing fine! Laura (nodding): Of course, you need to decide for yourself.1

1

Excerpted from my field notes, 3 December 2014. This paper is based on preliminary empirical material from a larger ethnographic study that I conducted in Gentofte Municipality between August 2014 and February 2016. My research specifically explores

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I met Mr Hansen during a home visit conducted by Laura, a former hospital nurse who has been a municipal employee since 1995; she has been working as a Visitator for about four years. Visitators are not physicians or members of »medicine’s institutions« (Cruess/Cruess 2008); rather, they are professionally trained nurses, occupational and physical therapists, counsellors, or social workers who are employed by – and thus, work on behalf of – a local municipality. Each Visitator has a particular relationship with the municipal politicians in that she »operates using powers delegated to [her] by society through government action« (ibid.: 585); her main role is to act as a buffer, conduit, and mediator between the citizen and the politician, »seeking to do the best possible for all concerned« (Wynia 2008: 573). In Denmark, a citizen has the right to contact his/her municipality to receive personal-care services (e. g., dressing, bathing, personal hygiene) or practical help (e.g., house-cleaning, laundry, meal preparation) if he/she has impaired physical or mental function or special social problems (Gentofte Municipality 2014a: 4–7). But in order to receive assistance, a Visitator must first assess the living conditions and functional abilities of any citizen who needs or may potentially need support from the municipality, including after a hospital discharge. Visitators may also conduct a home evaluation if they receive a referral from a citizen’s general physician or a close relative who has a particular concern about the citizen’s functional abilities. The municipal assistance is usually provided on a temporary basis, with the Visitator regularly re-evaluating a citizen’s need for services. All health practitioners in Gentofte Municipality are expected to uphold a certain standard of quality when offering services to citizens on behalf of the municipality; the model in the Figure below illustrates the linear configuration of ›quality‹.

how different versions of ›shared responsibility‹, freedom, stability, authority, and quality of life are negotiated in the socio-material setting of a home-based training programme for elderly citizens. With this work, my goal is to describe how particular forms of situated knowledge, meaning, and practices are exchanged and embodied in the ›composite world‹ that develops in the encounter between health professionals and citizens during municipal health-promotion programmes.

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Figure 1: All health practitioners in Gentofte Municipality are expected to uphold a certain standard of quality when providing services to citizens on behalf of the municipality. It is expressed in this triangle, with the Politicians (political values, economic priorities) at the top, and the Citizens (needs, wishes, priorities) and the Professionals (professional knowledge) on either side.

Source: Gentofte Kommune 2014a: 6; translated by the author.

As mandated by law, all citizens over age 75 are eligible to receive a ›preventative home visit‹ once or twice a year and/or an evaluation by a Visitator; the Danish health authorities and local political leadership have determined that this age is when people are more vulnerable due to age-related illness and frailty, and thus potentially in need of support from the municipality. In the case of Mr Hansen, he had recently been discharged from the hospital after surgery on his lower intestine. He is almost completely deaf and also has heart problems, so his doctor recommended that a Visitator evaluate his living situation to ensure that he could take care of himself at home. He and his wife have also recently applied for a placement in an assisted-living facility subsidised by the municipality. As part of Mr Hansen’s overall evaluation, the dialogue above seems quite straightforward: Laura, acting as a representative of the municipality, suggests that Mr Hansen partake in an exercise class to improve his functional ability, and he declines her offer. But Laura does not simply walk into Mr Hansen’s home, evaluate his living conditions, and try to encourage him to become a more active elderly person. There is obviously much more involved in their encounter. In this paper, I examine the practice of ›empowerment‹ and how it is affected by certain relational practices – i.e., the messy entanglements of everyday life as well as the interplay of health and illness, independence and care, resilience and vulnerability – that take place between a health professional and an elderly citizen

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in the context of a home-health visit2. In order to understand how the abstract concepts connected to the goals of empowerment can become complicated, I outline this process from large to small: I start at the macro level – i.e., the policy level, which addresses individual health – to describe how a positive standard for aging has been constructed, and I explain the forms of exchange that are expected from specific actors. Next, I use the case of Laura and Mr Hansen as an example of what takes place at the micro level – i.e., at the relational level, where everyday lives and complex persons interact. Finally, I describe how the abstract concepts attached to the goals of empowerment contain built-in contradictions and tensions that become revealed when these micro-level relational practices are examined and analysed.

C ONSTRUCTING

A › POSITIVE STANDARD ‹ FOR AGING

The so-called Third Age (after the ages of ›childhood‹ and ›adulthood‹) is generally defined as »the span of time between retirement and the beginning of ageimposed physical, emotional, and cognitive limitations; i.e., between the ages of 65 and 80+« (Barnes 2015: 1). Demographic historian and sociologist Peter Laslett popularised the term in his 1989 book, A Fresh Map of Life: The Emergence of the Third Age, as well as through his work as a founder of Britain’s University of the Third Age in 1982. Laslett proposed that, in post-war Western society, a new stage of life was emerging after retirement; this »new personal and collective identity stood in direct contrast to the traditional social categorisation of later life as ›old age‹« (Gilleard/Higgs 2007: 14). A popular understanding of the Third Age has subsequently transformed this period into a life-stage that should be filled with

2

My Ph.D. project is associated with the Center for Healthy Aging (CEHA), an interdisciplinary research centre based at the University of Copenhagen (Denmark). CEHA’s researchers study aging and aging processes ›from cell to society‹, and aging is considered to be a lifelong process that is affected by both human behaviour and lifestyle. In addition to biomedical and epidemiological research, CEHA supports several long-term fieldwork projects in four Danish municipalities: Copenhagen, Ishøj, Vordingborg, and Gentofte. These ›partner‹ municipalities were chosen due to their differing demographic profiles, geography, economic resources, and social challenges. The qualitative projects draw upon methods and theories from the humanities, social sciences, and public health; more information about this research is available at http://healthyaging.ku.dk/research/health_promotions_innovations/. CEHA was first established in 2009, and its current research is supported by the Nordea Foundation with a grant of 150 million Danish kroner (20 million Euro) for the period of 2014–18.

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rejuvenating physical activity and fulfilling social involvement, particularly with regards to engagement with one’s family, friends, and community. At the same time that Laslett’s concept was gaining momentum in mainstream society, a great deal of new scientific research was emerging as well; it showed that participation in hobbies and recreational activities – both inside and outside the home – could delay mortality in older populations (Lennartsson/Silverstein 2001: 335). Because the research suggested that ›active engagement‹ with life may have profound health consequences as people grow older (ibid.), these expert beliefs about ageing processes began to shape the opportunities and capacities of older people, and a positive discourse about ›healthy aging‹ and ›active aging‹ began to influence many governmental health policies targeting older citizens (Hepworth 1995; Lassen/Moreira 2014). As such, government officials and the public-health policies that they implement have increasingly been determining the parameters for health and everyday life of citizens age 65 and over in most Western countries. Traditionally, the care of elderly citizens has included »a particular construction of the subject for which policies and arrangements are designed. In both political and public discourses […] elderly people feature as subjects who are associated with particular needs, wishes and desires, and for whom care needs to be guaranteed and organised« (Weicht 2013: 188). Moreover, there has been a »biomedically framed ›need‹ to assess and minimize the risks that […] older people are exposed to, or that their functionally limited bodies, selves, and lives apparently embody« (Kaufman 1994: 435). In addition, according to the World Health Organization (WHO), »the proportion of the world’s population over 60 years will double from about 11% to 22% between 2000 and 2050« (WHO 2015: 1). Because of this increase – particularly in the number of people aged 85 and over – this demographic trend is considered to be »a threat to the [Danish] welfare society« (Otto 2013: 113). As the result of national reforms in 2007, local politicians in each of Denmark’s 98 municipalities were made responsible for instituting their own citizen-orientated health initiatives and services. Since these reforms, a variety of health-promotion and -prevention programmes have become an integral part of municipal efforts to offer »citizenoriented health promotion which aims at creating, shaping and facilitating certain ways of ageing healthy« (ibid.: 114). And, in response to the higher anticipated costs of institutional care for an aging population, the primary objective of eldercare in most municipalities has been formulated as ›ageing in place‹; i.e., that the elderly should be able to remain »in their own homes as long as possible« (ibid.: 113).

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Thus, in order to better support ›active ageing‹ and ›ageing in place‹, local governments began to offer health-promotion programmes that specifically target elderly citizens. As anthropologist Sally Anderson writes, such programmes are meant to »improve Denmark’s ranking in the global longevity competition, [which is] necessary for the common good of society« (Anderson 2011: 247). In terms of municipal policy, the establishment of such programmes is voluntary, but it has become increasingly important to do so at the local level (Larsen/Stock 2011) because it »shows political good will, secures a local share of carefully disbursed government funding, and provides [all citizens] with affordable health-promoting offers« (Anderson 2011: 233). In order to understand how this in done in practice, I describe how ›active aging‹ is promoted in Gentofte.

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PARADIGM OF › ACTIVE AGING ‹ IN

G ENTOFTE

Gentofte Municipality is located about ten kilometres north of Copenhagen, the capital of Denmark. As of 2015, just over 75,000 residents live in the seven districts that comprise this quiet commuter-suburb. With a significant number of international and/or elderly residents, Gentofte is also one of the wealthiest municipalities in Denmark, and a large portion of its general budget – which averages 100 million Danish kroner (approximately 13.5 million Euro) per year – goes to the development, maintenance, and/or improvement of its physical environment; i.e., town planning for buildings, schools, and housing, as well as sewers and water, etc., which are necessary for basic hygiene and the support of public health (e.g., Lomas 1998: 1182/Rose 2001: 27). The budget also covers the upkeep and maintenance of its many parks, green areas, and shared public spaces, such as the municipality’s six libraries. In 2015, Gentofte earmarked approximately 14.6 million Danish kroner (over 1.9 million Euro) of its annual budget to eldercare services and programmes. A portion of this money was used to maintain physical structures for the elderly, such as 1,100 residences at assisted-living facilities and nursing homes (especially for citizens diagnosed with dementia or Alzheimer’s disease) as well as several activity centres. In the coming years, the municipality expects significant growth in the number of residents between the ages of 65 and 84: officials predict an increase of 8% by 2020, and 16% by 2025 (Gentofte Municipality 2014b: 7 [translated by the author]). To manage this trend, the municipality’s health policy addresses factors such as strengthening one’s social capital, coping skills, and network, as well as improving and/or maintaining citizens’ resources (e.g., socioeconomic, psychological, etc.). In particular, it outlines a structural strategy with

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»a focus on creating a healthy framework through legislation, regulation, and availability. The purpose is to make it easier for citizens to make healthy choices« (Gentofte Municipality 2012: 4 [translated by the author]). With regards to elderly citizens, many of Denmark’s health-promotion initiatives were designed »to combat the social exclusion of older people by fostering their active participation in society« (Otto 2013: 131). Thus, the municipal leadership in Gentofte arranges and hosts a variety of community events that are specifically designed for citizens over age 65 or 75. These age markers are typical political distinctions; age 65 is when people generally retire from work and take their pensions and, as mentioned, age 75 is when they are considered to be more vulnerable due to age-related conditions. The primary purpose of these community events is for older citizens to receive certain messages from the municipality, but they are also encouraged to be active socially – there is always coffee and cake or fruit on offer, and citizens have lots of opportunities to chat together and mingle. For example, ›Elderly Days‹3 is a four-day programme that has been held at Gentofte City Hall since 1992. This annual event is intended only for citizens age 65 and over; it includes a series of lectures and entertainment, but the main purpose is to introduce these older citizens to the various health and social services available to them. Over 2,000 citizens attended the event in 2014. The municipality’s Health Prevention department also hosts a series of smaller theme workshops, which are typically offered to citizens age 75 and over. At the ›Happiness in the Everyday‹ event, for example, citizens listened to health experts discuss how regular exercise helps to improve well-being. The lectures focused specifically on physical activity, including a peer-to-peer message that was meant to inspire and motivate elderly citizens to be more active; during this event, 86-year-old Ruth told the rapt audience how she started to practice yoga at age 80, and now rides an exercise-bicycle five days a week at the health centre. She told the group: »It’s important to do something [active] when your friends and people around you are dying«. As part of the workshop, the participants were encouraged to get a free measurement of their weight and body-mass index, try a step-counter, and talk privately with a health counsellor or dietician. In this way, both municipal officials and health professionals support a positive standard for aging that is meant to motivate, encourage, and ultimately ›empower‹ older citizens to be more active in order to achieve ›the good life‹. There is also an assumption and expectation that older citizens should be physically active in order to remain independent (i.e., not dependent on services and benefits

3

This event was re-named ›City Hall Days‹ in 2015, but the purpose and offerings remained the same.

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from the welfare state). Moreover, they should want to ›age in place‹; i.e., live in their own homes and care for themselves as long as possible, even after they start to exhibit signs of age-related fragility and decline. Thus, many of Gentofte’s health-promotion offers and services are meant to help older people better manage everyday activities and household chores, so they can continue to live independently in their own homes. For example, the goal of the Train Yourself Free rehabilitation programme is: »to support the citizen in living a life that is as independent and active as possible. It is a holistic-orientated effort to maintain the citizen’s functional abilities […], where the focus is on the citizen’s everyday life and resources. […] The goal is for all citizens to have the opportunity to be more independent and live the life they wish to have.« (internal promotional document 2014; [translated by the author])

Thus, at the most fundamental level, the municipality provides its citizens with a physical environment and a social structure that are the basis for good community health. As a result, these structures are meant to promote better social cohesion among residents: i.e., »mutual support and caring, self-esteem and a sense of belonging« (Lomas 1998: 1182). By providing such health and welfare benefits, Gentofte does its part to support older citizens and build social capital. But by emphasising that these individuals should be physically active, self-reliant, and independent, the municipality also reinforces the paradigm of ›active aging‹ and the positive standard for aging as a time of life when elderly citizens should be active and engaged – both physically and socially. However, there is more involved in ›active aging‹ than simply attending community events and workshops; Gentofte’s policies also use an inclusive and collective rhetoric of ›shared responsibility‹ with regards to health. This concept applies to all citizens – not just the elderly – and it implies that one should want to be active and healthy for his own benefit, as well as the benefit of his family, his co-citizens, and society at large: in other words, for ›the common good‹. Thus, in exchange for the political provision of structures and resources that promote physical and social health, a citizen should also eagerly and voluntarily choose to participate in the state’s project to improve his/her health (Anderson 2011: 233).

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F ORMS

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›S HARED R ESPONSIBILITY ‹

As I already mentioned, Gentofte’s structural strategy focuses on providing a framework that »makes it easier for citizens to make healthy choices« (Gentofte Municipality 2012: 4 [translated by the author]). The municipality also prioritises programmes that emphasise physical activity in order to promote a sense of wellbeing, provide a good quality of life, and prevent lifestyle-related chronic conditions – especially those that might put a burden on the municipality’s institutions and coffers. But it is not mandatory for municipalities, doctors, or citizens to participate in any health-promotion programme (Anderson 2011: 233). Thus, at the macro level of exchange, municipal politicians and health practitioners invest resources – i.e., time, money, energy, personnel – into their support of individual citizens in order to promote better community health. Following the national reforms, Gentofte’s Health Promotion and Prevention unit implemented a new health policy in 2011, with its primary goal »to create a municipality [that takes] both an individual and shared responsibility for [the] health and well-being [of its citizens]« (Gentofte Municipality 2012: 5 [translated by the author]). This policy states that each citizen should feel a balance between, on one side, a responsibility to manage his/her own health and, on the other side, the municipality’s responsibility to provide a healthy environment and conditions (ibid.). This solution may be described as a neo-liberal, paternalistic framework that prioritises individual choice. But with the political discourse of ›shared responsibility‹, it also requires each individual to provide something in exchange: compliance. And, in order to get citizens to comply with the political goals, an implicit moral rhetoric is used to make individuals »feel obliged to take up the government’s offer of subsidized health interventions, both for their own sake and for the good of society« (Anderson 2011: 233). The rhetoric about each citizen’s individual responsibility to manage his/her own health for the good of others (and in exchange for municipal assistance) can clearly be seen, for example, in Denmark’s Social Services Act (Lov om Social Service), a legislative document that is disseminated to all municipal health workers, and available to the general public via the municipality’s website: »The purpose of assistance under this Act is to promote the ability of individuals to manage for themselves or to facilitate their daily lives and improve their quality of life. The assistance provided under this Act is based on the individual’s responsibility for himself and his family. The help is customised to the individual’s needs and assumptions in cooperation with the individual.« (Gentofte Municipality 2014a: 6 [translated by the author])

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With this emphasis on ›shared responsibility‹ and ›the individual‹, a particular kind of »virtue discourse« (Halse 2009: 47) is formulated; it is a discourse that »shapes subjects and subjectivities by articulating and constructing particular behaviours and qualities as worthy, desirable, and necessary virtues« (ibid.). As sociologist Christine Halse writes, this macro-level political rhetoric creates a phenomenon that reconfigures personal responsibility as a social responsibility; i.e., an individual should care »for oneself in order to care for one’s offspring and family« (ibid.: 52; original emphasis). This virtue discourse is also in alignment with the ›positive standard‹ for aging; thus, I argue that an emphasis on ›active aging‹ combined with the formulation of ›shared responsibility‹ suggests that elderly citizens should willingly want to contribute »to improving the life and wellbeing of the community by actively demonstrating the moral virtues of the citizen – wisdom, temperance, justice, and courage« (ibid.: 50). In this way, elderly citizens in Gentofte are positioned as role models who are expected to set a good example for others by being active and engaged individuals. Moreover, if they willingly demonstrate these virtues and receive benefits and assistance from the municipalityin exchange, then they are transformed into what Halse terms a ›bio-citizen‹4. And in my analysis, this type of citizen is a fundamental component in the practice of empowerment.

E MPOWERING THE ›B IO -C ITIZEN ‹ The Danish Health and Medicines Authority (DHMA) emphasises ›empowerment‹ with regard to community health – specifically, a need for »collective action to improve health outcomes« for the local population (DHMA 2005: 24). In order to reach this goal, the bio-citizen’s first obligation to the common good is to »take 4

Halse has developed this term in extension of Michel Foucault and many post-Foucauldian scholars’ conceptualisation of bio-politics and biopower, which refers to a form of state power that works on both the physical and political bodies of a population. Halse writes: »The bio-citizen has emerged as a new sociological and biological benchmark for describing, categorising, and differentiating between human beings and human societies. This new species of human being – the bio-citizen – extends Rose and Novas’ theory of biological citizenship by which somatic individuality – physical ailments, illnesses, and genetics – fashions relations between individuals and shapes their engagement in different political, electronic, and social communities. The bio-citizen is a more complex persona because s/he has come into being by welding the body onto the social, cultural, economic, and political responsibilities of citizenship and the state« (Halse 2009: 50).

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personal responsibility for the care of oneself« in order to benefit society (Halse 2009: 51). This ties in to a more general understanding of ›empowerment‹, which is often defined as »the process by which people take charge of their environment (physical, economic, social, cultural, and psychological) with the resources available to them« (Zimmerman 2000: 1). To successfully empower older citizens, Gentofte’s health policy – as well as the paradigms constructed around ›active aging‹ – presupposes a reciprocal relationship between singular, independent entities: the Politicians, the Health Professionals, and the Citizens (see Figure 1). In fact, that is how many of the municipal services are designed to function – an individual is evaluated and/or trained by another individual. As such, in the reciprocal relationship between a Professional and a Citizen at the macro level, each party’s obligation is quite clear: the Visitator is expected to use her professional knowledge and experience to evaluate a citizen and his/her living conditions and functional abilities in a fair and reasonable way. Then, acting as a representative of the municipality and upholding its high standard of quality, she offers the most appropriate services within her purview (or withholds them, if she deems the citizen to be independent and capable enough). The good bio-citizen, understanding his/her ›shared responsibility‹ to take care of himself in order to remain healthy, active, and independent, then accepts and acts on these services, thereby fulfilling his/her moral obligation to the municipality, his/her co-citizens, and society-at-large; this is the individual practice that should activate a collective form of empowerment and thereby produce better community-health outcomes. However, the practice of empowerment has been shown to be an iterative process that involves continual shifts in power relations between different social groups and individuals (Laverack 2006). In addition, the obligations and responsibilities of such an empowered bio-citizen become unclear and diffuse when the abstract labels and categorisations from the macro level become actualised via real people in their everyday lives. My research shows that, at the micro level – i.e., in the relational practice of a home-health visit – the defined forms of exchange become entangled and complicated by other factors. I argue that, in the actual, reallife encounters that take place between a health professional and a citizen, the relational practice is never 1:1 between defined individuals; rather, there is a constellation of actors that orbit the social world that exists within these encounters. And this becomes problematic for the practice of empowerment.

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R E -V ISITING

A VISIT WITH

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During Laura’s evaluation of Mr Hansen, she has upheld her part of the macrolevel reciprocal arrangement; specifically, she has focused on providing a high standard of quality as outlined in her professional training and in the municipal health policies.,She has followed the Law on Social Service, §83, which addresses personal help and care, and she has informed Mr Hansen about his rights and the specific services he is entitled to receive from the municipality. Figure 2: Laura and Mr Hansen

Source: Amy Clotworthy

At the micro level, however, Laura understands that Mr Hansen’s condition can and does vary from day to day, and he has the legal right to some personal care and home help, in addition to the use of a rollator provided by the municipality. But not much else; he has excellent cognitive function, he can walk on his own with a cane, and he does not even need an emergency-call button because he has not experienced any falls. However, he has other issues that concern Laura. For example, as I wrote in my field notes, it is clear that Mr Hansen cannot really do much – yes, he can bathe himself and read the newspaper, but he cannot watch television or engage in his long-time hobby of being a ham-radio operator because of his hearing loss. And he refuses to wear hearing aids. He has never done the laundry or house-cleaning. He used to go outside for a daily 30-minute walk with his rollator, but he does not do that anymore either. Now, he mostly reads and

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sleeps in his chair. In fact, he is not sleeping well at night because he has been sleeping so much during the day. In the context of a home visit, the evaluation process can be problematic because »a municipal interest in their well-being sometimes seems to create a sense that the older citizens are held responsible for any further decline if they do not partake in the activities mentioned or offered« (Otto 2013: 131). But in the case of Mr Hansen, there is more involved than him choosing to take individual responsibility for his own further decline, or a ›shared responsibility‹ for his own health in order to benefit others and ›the common good‹. As shown in the opening quote, he rejects the municipality’s offer of free exercise classes, social interaction, and personal care – in this way, he demonstrates that he is not willing to participate in the state’s project to improve his health or become an active bio-citizen. Furthermore, even though Laura directs her questions to Mr Hansen and makes him the focus of her interview, it is often his wife who answers. Thus, the individual 1:1 relation that Laura expects and needs to empower Mr Hansen becomes complicated. Mr Hansen is not truly an independent entity; at the micro level, the exchange becomes blurred by his wife. As I wrote in my field notes, it was clear that Mrs Hansen was very energetic and on top of things from the moment we stepped into the house. She greeted us warmly and instructed us where to hang our jackets before taking us into the living room, where Mr Hansen was seated in a sturdy chair. Laura made a point of sitting across from Mr Hansen, making eye contact, and asking him questions directly. Mrs Hansen perched on the arm of the couch next to Laura, and was often quick to answer for her husband. Like all of the Visitators I followed during my fieldwork5, Laura began her interview by asking Mr Hansen, »So, how’s it going? How are you managing everyday life?« Mrs Hansen laughed and quickly said, »He managed himself quite well this morning!« and pointed out her husband’s very tidy, almost formal appearance, complete with a jacket and dress shoes. At the end of her evaluation, Laura went through all of the things Mr Hansen could do – he can bathe himself, read the newspaper, walk with the cane or his rollator, and climb the stairs. »But,« she said, »it seems as though your wife has control over most things.« Mrs Hansen quickly corrected her – saying that Mr

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In total, I followed six (out of twelve) employees from the Visitation department. In this part of my fieldwork, I spent time with them in their office to gain insight into the interactions and types of collaboration between different municipal actors; I also participated in internal meetings and accompanied them on visits to nine citizens. All of my fieldwork (including interviews) was conducted in Danish; I have translated select excerpts from my field notes and interviews into English.

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Hansen »has always been very involved« up until this last intestinal surgery (even after several heart-bypass operations). He always helps her cook their meals, and they help each other keep track of their medications. Even though she is 91 and has heart problems herself, Mrs Hansen has a high level of functionality: a former surgical nurse, she cleans the house, does the couple’s laundry, arranges regular visits from their two daughters, and goes out to the store nearly every day to buy groceries, because the Hansens like to be spontaneous in what they eat. However, she does not ride her bicycle anymore; instead, she tends to walk several kilometres to the store, and then takes a taxi home. She goes out when Mr Hansen is sleeping in his chair. This kind of relational complexity is difficult for Laura to evaluate – the macro-level configuration in Gentofte’s health policy emphasises that the ›whole person‹ should be treated with a »holistic understanding« of health and illness (Gentofte Municipality 2014a: 5 [translated by the author]). The municipal systems, rules, and procedures reinforce this individualising effect, requiring Laura to evaluate Mr Hansen as a single unit: as an individual ›whole person‹. When we returned to her office after the visit, Laura entered her notes in the computer files, going into great detail in her assessment of Mr Hansen’s situation. For each citizen she visits, she has to rate the different aspects of his/her functional condition on a scale of one to three (from poor to excellent), and there is space for her to make a few additional notes of explanation next to each rating. For example, with regard to Mr Hansen’s physical ability, Laura rated him a two, noting, »The citizen does not experience any limitations – would like to do things for himself – but is completely dependent on his wife for daily tasks«. She told me that this situation – and her evaluation – would be very different if Mr Hansen lived alone: »Without his wife, [Mr Hansen] is very vulnerable«. This suggests that, even though Mr Hansen’s physical condition may remain stable, he is not considered ›vulnerable‹ when he is paired with his wife. On his own, he would likely be rated a one, but because his wife is considered a three, Mr Hansen is thereby given the average rating of two. Moreover, even though Mr Hansen clearly stated, »I’m doing fine« during the visit, in Laura’s professional opinion, he is only doing »fine« because his wife is so skilled at taking care of him. But what will happen if (or when) he falls on the stairs and cannot get upstairs to the only toilet in the house? What will happen if Mrs Hansen becomes sick or injured – or even dies? As a Visitator, Laura cannot consider those possibilities – she can only report what she saw and heard during this specific visit, and then give her objective, professional assessment of Mr Hansen as an individual ›whole person‹ and the household as a ›whole unit‹.

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However, I would argue that Laura’s job is not merely to evaluate Mr Hansen’s functional ability and living conditions; Laura needs to do much more than simply negotiate or mediate between an abstract Politician and Citizen. At the micro level of relational practice, she needs to navigate the constantly shifting interplay between health and illness, independence and care, resilience and vulnerability that both Mr and Mrs Hansen demonstrate. All of these things are entangled and take place concurrently in the context of a home-health visit with an actual person – as opposed to an abstract individual Citizen. Thus, Laura must be able to translate the myriad relational exchanges and the complicated, everyday ›mess‹ of Mr Hansen’s personhood into orderly, individualised categorisations. And she finds this to be a challenge.

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COMPLEX PRACTICE OF EMPOWERMENT

Mr Hansen’s situation is difficult for Laura to assess for several reasons – at the abstract macro level, the individual Citizen will not conform to the positive standard of aging and the paradigm of ›active aging‹. He will not take responsibility for his own health and fulfil the moral obligations of a good ›bio-citizen‹, and thereby become empowered. It is also difficult because Laura, as the Health Professional, must reduce the Citizen, his abilities, his choices, and the household ›unit‹ to categories and numbers in a computerised system, which does not allow for the complicating factor of a spouse who is so capable and high-functioning. But it is especially difficult because, at the micro level, Mrs Hansen is enabling. How can Laura evaluate Mr Hansen as an individual ›whole person‹ when it is actually Mrs Hansen who answers for him and »has control over most things« in his life?

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Figure 3: Laura, Mr and Mrs Hansen

Source: Amy Clotworthy

Immediately after the visit, Laura told me that Mr Hansen appeared to be »in his own little world; […he’s] clear in his mind but also lost« – mostly because, in Laura’s opinion, Mrs Hansen decides what her husband needs to understand due to his profound hearing loss. And even though, according to his wife, Mr Hansen »has always been very involved«, both Laura and I can see that he is not involved anymore. Laura believes that Mr Hansen has never really learned how to take care of himself because Mrs Hansen has always taken care of everything. It is unclear to Laura (and me) whether Mr Hansen has ever actively participated in his own health or anything other than his work as an engineer, his hobby of being a hamradio operator, or his family – even as a younger man. Thus, if Mr Hansen has never been interested in taking a ›shared responsibility‹ for his own health, how can Laura expect him to start now? In the relational practice of the home-health visit, Laura attempts to encourage Mr Hansen to join the activity classes and go outside for walks again, but he is quite content to live in »his own world« with his wife. By saying »I’m doing fine«, he makes it clear to Laura what he wants and what he is willing to do (or, not do). Following the macro-level structural strategy that prioritises individual choice, Laura says that he has to decide for himself. But Mr Hansen does not make the choice she wants or expects – instead, he chooses to remain alone in his house, sleeping in his chair, while his wife takes care of everything. With this decision,

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Mr Hansen demonstrates that he is quite active in his own way; he chooses to remain in his material, tangible »little world« rather than take a moral responsibility for the abstract Society that the Professional suggests. And even though Mrs Hansen’s physical position perched on the arm of the couch implies an embodied ambivalence, by pointing out how much her husband is in fact able to do while also supporting his choice to remain inactive and dependent on her »for most things«, Mrs Hansen solidifies her own position as someone who is firmly »in control«. She wants the ›shared responsibility‹ to remain between her and Mr Hansen – not between Mr Hansen and the welfare state. Her active (perhaps even dominating) involvement in the assessment suggests that Mrs Hansen is not willing to relinquish her responsibility, preferring to remain in charge of her husband’s health and well-being. And this arrangement seems to suit both Hansens quite well. The consequence is that Mr Hansen – as the only ›whole person‹ being officially evaluated by Laura, the Professional – has reneged on his moral obligation to be an active bio-citizen. Thus, along with an understanding that Mr Hansen has never really been an independent ›whole person‹, Laura is unable to ›empower‹ him as an individual to take responsibility for his own health for the benefit of society and to contribute to a »collective action« to improve community-health outcomes. As I described, Mr Hansen is not an abstract individual that can fit neatly into a computer system or a paradigm – he is a messy, complicated person who has specific needs, wants, and choices. But, as a result of his individualised refusal to comply with the positive standard of ›active aging‹ and the political goals for ›empowerment‹ – combined with his wife’s insistence on taking responsibility for his welfare (and her ability to do so) – Mr Hansen becomes ineligible to receive additional support and services from the municipality. As Laura explained to me after the visit, »Mr Hansen’s situation is quite good while his wife is helping him.« Thus, from the macro-level viewpoint of the municipality, Mr Hansen does not need anything from them. However, as Laura emphasised several times during the visit, they can always be re-evaluated if the circumstances of their ›whole unit‹ change; i.e., if one of them develops a problem that prevents them from taking a ›shared responsibility‹ for their health.

C ONCLUSION A classic conundrum in most public-health work is: how can programmes and services designed for the collective reach the individual? But the empirical case I have presented here prompts an alternative question: how can an individual citizen

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be empowered in order to improve the collective health of a local community? As I have described, the politicians and health professionals in Gentofte make an active effort to invest resources – i.e., time, money, energy, personnel – into their support of elderly citizens. My research shows that they also acknowledge the aging process of the older citizen, and they are sensitive to their specific physical, economic, social, cultural, and psychological limitations. But if we consider the Third Age to be »an example of a generationally defined cultural field, where particular logics of power and influence operate that determine both the nature of the participants and the frameworks governing these practices« (Gilleard/Higgs 2007: 25), then the municipality’s health policies and programmes in combination with its many community events and group activities also seem to reinforce the paradigm of ›active aging‹. In addition, the parameters of the Third Age are expanding in tandem with increasing longevity rates in most Western countries, thus affecting people well into their 80s and 90s who are encouraged (and expected) to be active in order to ›age in place‹ as long as possible. Furthermore, a political rhetoric that focuses on ›shared responsibility‹ necessitates a moral obligation, forms of exchange, and ultimately compliance. It also transforms the aging body into a »biopolitical target« (Otto 2013: 119) of municipal health-promotion programmes and services, where being physically and socially active is recognised as closely linked to the individual citizen’s »future wellbeing and longevity« (ibid.). The abstract Elderly Citizen is positioned as an individual subject and bio-citizen who should be willing to take charge of his/her own health with the resources available to him/her in order to achieve the positive standard of aging (i.e., to be physically active, healthy, and engaged), and thus to be a good role model for the benefit of society. This emphasis on individual choice and responsibility is meant to activate a collective form of empowerment. However, political initiatives that focus on an abstract individual as an agent of mobilising action and change can be problematic. As I have described here, the abstract concepts attached to the goals of empowerment contain built-in contradictions, paradoxes, and tensions that become revealed when the micro-level relational practices are examined and analysed. My ethnography shows that there is a difference between ›encouragement‹ and ›empowerment‹: in basic terms, encouragement is the practice of actively giving help or trying to increase one’s confidence to the point where he/she is able to do something difficult. But empowerment is much more complex; it requires not only encouragement and motivation, but also an exchange and active participation from a certain kind of individual: the abstract ›whole person‹. Thus, it is not simply the act of helping someone to help themselves, but doing so in order for them to help and benefit others.

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In the case I have presented here, Mr Hansen makes a deliberate choice not to be active and engaged, nor to participate in his own practices of health. Thus, he refuses to become a morally obligated Citizen who the Professional can empower for the benefit of society. But this leads me to ask: Do such citizens become marginalised or miss out on ›the good life‹ in some way? And, if older citizens are considered responsible for their own »further decline if they do not partake in the activities mentioned or offered« by the municipality (Otto 2013: 131), then are citizens who choose not to be empowered in this way also held responsible for the overall poor health of the community? My research thus far suggests that, if we are to attempt to answer such questions, it is important to examine the social, cultural, and political practices that are embedded in the health-promotion programmes and social services that target older citizens. In the context of a home-health visit, there is a messy interplay between health and illness, independence and care, resilience and vulnerability. These concepts ebb and flow in the encounter between Laura and Mr Hansen, and the relational forces and tensions between them come to the surface when the complicating factor of Mrs Hansen is added to the mix. My material suggests that Laura’s evaluation of Mr Hansen is complicated by his wife’s involvement and control because the 1:1 lines of exchange are unclear; Mr Hansen thereby becomes a partial unit that Laura cannot empower. Furthermore, the encounter between them shows that the relational practices involved in a home-health visit both affect (and are affected by) a person’s everyday life and their decision to be healthy and to be empowered – that is, the active choice they make to be involved and engaged, and to take charge of their own environment.

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When Anna moved to a Nursing Home Empathic Movements between Self and Others in the Decision Making and Process of Moving K AMILLA N ØRTOFT

I NTRODUCTION Becoming very old often involves becoming dependent on other people’s help for different things in everyday life. Many very old people witness the death of life partners such as spouses and friends and maybe even children. Thus this very late life stage also involves reconfigurations of social relations, when friends are not around or are themselves dependent and children might get a new care role for their parents. This stage of life is also likely to involve health and care professionals: They regularly become present in the home and several different actors interfere in the older person’s life by making important life decisions on his or her behalf. Interfering in people’s lives in dramatic and life changing ways is sometimes necessary, but it requires a great deal of empathy to do so if everybody involved should still feel respected, understood and dignified in the process. One such interference is the decision of older people moving to a nursing home, because they are no longer capable of taking care of themselves in their own home. In this chapter I will introduce a family with a mother, Anna, two retired daughters and an adult grandson. Anna has moved to a nursing home against her wish, but has become very pleased with it afterwards. The daughters have felt it as a great burden to take care of their mother in her own home and now they are relieved that she is in good and professional care. The grandson is also relieved that his grandmother can have all the help she needs instead of being alone in her old apartment. The purpose of this article is to explore the concept of empathy in their different narratives about the process of deciding and moving Anna to the nursing

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home.After a brief introduction to the concept of empathy as it is used in anthropological literature, I will present the four narratives and discuss the actors’ way of being empathic or not in relation to each other.

ASPECTS

OF EMPATHY

Reviewing the literature on empathy in anthropology Hollan and Throop (2008: 385) have found that while many anthropologists presume the importance of empathy in social life and fieldwork, few define empathy and related concepts explicitly (e.g. Beatty 2005; Frank 1985, 2000; Geertz 1984; Kracke 1994; Lebra 1976; Rosaldo 1989; Shimizu 2000; Strauss 2004; Watson-Franke/ Watson 1975; Wikan 1992). It also seems that many anthropologists discuss the concept of empathy in relation to the anthropologist’s possibility of understanding her informants, their life worlds and intentions (Kirmayer 2008). The purpose here is not to decide on a certain definition of empathy to be used in the rest of the article, but rather to look at different uses of the concept and draw on them in the exploration of the narratives about Anna moving to the nursing home. There is some discussion among anthropologist about what it takes to achieve empathic understanding of another and often this discussion is about anthropologists themselves, their access to cultural knowledge and understanding and the narratives they present about their informants and their social worlds (e.g. Kirmayer 2008: 457f). Thus, for example Rosaldo (1989) states that it is only possible to understand another’s emotional experience if one has had the same kind of experience, while Wikan (1992) thinks that the greatest impediment to empathy is lack of practical knowledge and engagement with the other’s life circumstances and position. However, research on mirror neurons shows that when we imitate others’ actions, behaviours and facial expressions, we activate many of the same neurons as if we actually experience actions and emotions on our own behalf (Hollan 2008; Kirmayer 2008). Hence people have a possibility to, at least partially, participate in another’s experiences and emotions. This is, however, not only decided by the empathizer – that is the person being empathic towards another – since people regulate how much they show of themselves and their experiences and emotional life. Thus, empathy is an on-going dialogical accomplishment depending on the empathizer’s empathic abilities, knowledge and understanding of the other’s situation as well as on the other’s willingness to let the empathizer know and understand about him (Hollan/Throop 2008: 394f). This view makes it interesting to investigate when and why people encourage or discourage others’ understanding of them (Hollan 2008).

W HEN A NNA

MOVED TO A

NURSING H OME

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A FIRST - PERSON - LIKE

PERSPECTIVE IN DIALOGUE BETWEEN SELF AND OTHER Many agree that empathy is a first-person-like perspective on another person involving an emotional, embodied, or experiential aspect (Hollan/Throop 2008: 391). What distinguishes empathy from other ways of knowing about people is the emotional aspect (Halpern 2001). Kirmayer (2008) argues that theories of empathy reflect our concepts of emotion. This means that if »emotions are narrative constructions anchored in personal history and social position, then empathy requires understanding that narrative that, in turn, depends on a shared fund of social and cultural knowledge and experience« (ibid.: 460). It is also a common view that empathic acts are characterized by the empathizer’s decentering the self from its own historical and cultural self-experience as well as imagining the other’s perspective from a first-person-like perspective. Finally, the empathizer should approximate the feelings, emotions, motives, concerns, and thoughts of the other’s mind (e.g. Halpern 2001; Rosen 1995; Wikan 1992; Throop 2008: 405). Hollan asks who should judge if the attempt to gain a first-person-like perspective of another’s experience is accomplished (2008: 481). Halpern describes empathy as a kind of emotional reasoning within which the empathizer resonates emotionally with the other’s experience. At the same time the empathizer attempts to imagine a situation from the other person’s perspective (Halpern 2001: 85). That kind of understanding is cognitive, imaginative and emotional. If empathy is to be accurate in any way it requires on-going dialogue and distinguishing empathy from projection (Hollan 2008: 476). Following this line Hollan argues that it is not possible to empathize until imagined emotional states and perspectives are confirmed or disconfirmed by the other that one is trying to empathize with. Viewing empathy as a process like this precludes the idea of complete and error-free understanding of another person. This is so because people’s perspectives and emotional states change over time and sometimes even as a result of being understood empathically (ibid.). According to Halpern (2001) empathic imagination is explained to be the emotional engagement by the empathizer with another person. The empathizer maps her own memories, images and meanings onto the perspective of the other in order to understand him/her (Hollan 2008: 477). Empathy is often explained as depending solely on the empathizer’s emotional and imaginative capabilities. However, if empathy is considered as a part of intersubjective encounters, these capabilities are also necessary for the person to be understood. In connection to this, Hollan asks when and how people allow themselves to be understood and when and how they resist understanding by others (2008: 487).

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Empathy can be understood as a process that is communicated in dialogue between empathizer and the other (Kirmayer 2008: 461). Kirmayer suggests that empathy »represents the confluence of extended strands, of alternative stories told from two different points of view that may move closer together (or further apart) based on how two individuals situate themselves vis-á-vis each other and that may, in the event of achieving empathy, become momentarily entwined« (ibid: 465). Social encounters are always partial, conditional and fragile, but Kirmayer states that the real achievements of efforts to encounter the other are processes of acknowledging failures of empathy (ibid.: 471). With these different aspects and uses of empathy in anthropology in mind, I will now turn to Anna, her family and their narratives of Anna leaving her apartment to move to a nursing home.

E THNOGRAPHIC INTERVIEWS

WITH FOUR FAMILY MEMBERS This chapter is mainly based on narrative interviews with Anna, her daughters Bodil and Kirsten and her grandson Jens. The interview data is supplemented with observations from the encounters with the interviewees and in their homes and families during the interviews. The interviews were recorded and transcribed and lasted between 45 minutes and 3 hours. Field notes on the observations were written after the interviews. The purpose of the interviews was to learn about the reconfiguration of roles and relationships between family members in the process leading to the decision of Anna moving to a nursing home as well as the actual moving. Anna is 98 years old and moved to a nursing home 6 months ago from her apartment where she lived for 73 years – first with her husband and two daughters and, after her husband’s death 40 years ago, alone. Bodil is Anna’s 73 years old daughter. Some years ago she was diagnosed with Parkinson. She has helped Anna with daily tasks such as shopping, but it has been increasingly hard work for her. Kirsten is Anna’s 67 years old daughter. She has helped her mother with shopping and other practical things such as contact with the local authorities and financial issues. They are not very close, but they have frequent contact. Jens is Bodil’s oldest son and the grandchild with the closest relationship with Anna. There are three other grandchildren, but they do not have frequent contact with Anna as Jens does. Anna lived in the same small apartment on the second floor from 1941 to 2014. She worked in the office in a department store until she was 25. She married, had

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two daughters and stayed home as a housewife. At the age of 55 she became a widow when her husband died. After that she has had a very active old age with activities such as swimming, gymnastics and travels. Through the activities she met other people and built up a circle of acquaintances. However, Anna has survived them all. Anna has taken care of herself in the apartment throughout the years. In the end she received help for cleaning 30 minutes twice a month, had her laundry done and received hot food three times a week from the municipality. During the very last years in the apartment she had difficulties walking. Anna’s story of slowly losing her ability to perform daily household tasks, receiving help from relatives and the local authority and, finally, moving away from her home and into a care facility is a typical story of nursing home residents in Denmark (e.g. Kofod 2009; Thomasen 2009). Anna By the time I interviewed Anna she had been living in the nursing home for 6 months. We start the interview with me asking how Anna felt when she was informed of the apartment waiting for her in the nursing home. »I remember that I thought it wasn’t very good. I was nervous and I waited every time the telephone rang. Then I thought: Let it be anyone else, just not from [the nursing home]. […] I knew that when the children called me there would be a vacant place for me. I don’t think I felt like it at the time. Not really, but I knew it was necessary and there was nothing to do about it. Then one of them called. I don’t remember if it was Bodil or Kirsten. Now there was an apartment. Oooiiii. I thought I sank through the floor. Yes. I don’t think I slept well for the first couple of nights by the thought of clearing my entire home. All the things I had collected over the years. What should be thrown out and what should I bring? I had been [at the nursing home] to see it. I had seen these two big empty rooms. That was a great surprise. On that day the sun was shining through the windows and it was so bright and friendly.« (21st of February 2015)

We continue to talk about the process of clearing the home and moving from the old apartment. Anna didn’t wish to be part of it and let her daughters make most decisions of what to bring and what to throw away. When we get to the event of Anna leaving the apartment for the last time Anna says: »I felt that I was being taken to the gallows when I walked down the stairs. Goodbye stairs and second floor. I had lived in that apartment since 1941. That is a long time. After all, I did leave a piece of my heart there.«

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When moving into the nursing home Anna did not know anybody there. However, she soon met some familiar faces among the residents during common trips, events and facilities shared by the three departments of the nursing home. Yet Anna does not visit the other residents in their apartments. She does not feel that she knows them well enough. Anna meets the residents from her own department every day over meals in the shared dining room. Anna didn’t know much about nursing homes beforehand. She used to visit a friend living in a different nursing home for a shorter period. The friend had a nice apartment and was satisfied there. Anna continues to talk about several special events arranged by the staff in the nursing home; parties and daytrips. Other activities are more frequent such as musical events, quizzes and bingo. She does not articulate being worried about how the staff in the nursing home interacts with the residents. However, Anna talks about the staff members in a way that might show that she does not take kindness from the staff for granted: »There is not a thing that you cannot get help for here. They are extraordinarily kind. You can look at the people needing to be fed. They [the staff] sit there next to them and feed them mouthful after mouthful. They pad their cheeks, are always nice and kind and talk to them nicely. I like that.«

Anna also tells positively about how it is possible to ask the staff to take a walk with the residents in the close surroundings. Anna tried that once sitting in a wheel chair for a small trip between the buildings in the neighborhood. She really enjoyed that and thinks there are only positive things about living there. When asked what she misses about her old apartment, she tells about things that she does not miss: »There was a very tiny bathroom. I could not take a shower there. Everything was placed wrong and I had to squeeze myself over the sink. Then I realized I could not do it anymore. And I also had to dry the bathroom after washing and I could not manage to do that. It was also difficult with the stairs in the end. Especially if I had been out and had a hand bag with me. Aiiih. But you manage.« (21st of February 2015)

Anna talks for a long time about the good food they get there and how the residents get to decide the menu on their birthday. In the old apartment Anna had to order food from the municipality. She got very tired of that food and could not stand it. The residents eat together and Anna says that there is no excuse for not showing up in the dining room at meal time. Anna expected it to be hard to meet so many new people when she had to move there, but now she does not think it has been.

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I ask Anna to compare everyday life in the old apartment and in the nursing home. She explains: »The biggest difference is of course that it is so nice and warm here. It was not warm enough in the old apartment. And I have this lovely shower and all the help I need.« I ask what kind of help Anna received in the old apartment and she only mentions help for cleaning twice a month by a municipal homecare worker. Then she says that now in the nursing home, she receives help putting on her compression stockings in the morning and taking them off in the evening. Besides this she takes care of herself. And then it feels very good to know that there is always staff around if she should suddenly need any other help. During the interview Anna almost does not talk about her family. She reveals no interest in them and no emotions related to them. Anna mentions her daughters directly when talking about the message of a free apartment in the nursing home. Otherwise she implicitly talks about them in connection to the process of clearing the old apartment and physically being moved to the nursing home. What seems to be of most interest to Anna is her attempts to connect with old acquaintances after moving and how the staff members treat the residents. She does not even mention her daughters when asked directly about the help she received when living in the old apartment. This, of course, can be interpreted in various ways. One way of understanding this can be that Anna takes the help of her daughters for granted. Hence it is so obvious that they are obliged to help her that it does not need to be mentioned. Another way to understand this is that Anna simply does not acknowledge the effort of her family. Not seeing and acknowledging the help from her family could be a way of closing her eyes for the fact that she has become dependent on others. Anna was never interested in receiving professional help and she was certainly not interested in moving to a nursing home. Refusing to acknowledge her actual need for help from others could have been a way for her to postpone the consequence of her growing dependency for as long as possible. Whether Anna actually has any empathic understanding of the experience of her family helping her for the last couple of years is not possible to determine from the narrative she gives in the interview. If she has one she does not reveal it or any interest in it. The only point in the interview where Anna shows explicit interest in other people’s wellbeing is regarding the nursing home residents needing help for eating. Here Anna talks about how nice they are treated by the staff members. That shows how Anna implicitly tries to understand their situation from a firstperson-like perspective. Her emphasis on the positive emotion that seeing this evokes in her might be an implicit expression of worries of how it would be for Anna herself if she was equally depending on help for eating and was not treated with care and dignity. In that sense one might argue that Anna does not let go of

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her identity in compassion with these fellow residents and, therefore, she is empathizing rather than sympathizing with them. Bodil By the time of the interview with Bodil, Anna has been living in the nursing home for 10 days. Bodil has been happy to help Anna in the old apartment, but it has been a long and tough process to convince Anna that she needed to leave her apartment and get some more help. »My sister and I helped her and at the same time we have been very aware of trying to talk to her about finding another home. She […] did not feel like it. She kept saying: ›Let’s see‹ until my sister and I said stop. Partly it is because I have Parkinson’s disease and I am not strong. […] My sister lives in a different area and also fell and injured herself this summer. That […] accentuated it. We realized that we could not keep on acting as her shopping assistants. And she [Anna] does not feel like using the shopping service from the municipality because they do not have the brands that she uses. It is also about letting go of more and more of what is your distinctive character and personality.« (23rd of September 2014)

Bodil and her sister started talking about not having energy and strength for shopping for their mother. They also refused to accept Anna’s hiding of several falling incidents while she was alone in the apartment. It was these falling incidents that really pushed the sisters to contact the home care service. After six months Anna had an apartment there and moved in. In the waiting time Bodil and her sister consistently reminded their mother that one day she would have to move. »Every time she headed off by saying: ›yes, yes. Now we will see.‹ But of course she did that. It was a process. Just imagine suddenly being pulled out of your daily routines. But the apartment […] was no longer a worthy place for my mother to live. We could not stand another winter with her living there. She could not get in the shower. […] There were a lot of things that were not possible anymore. There are basic needs that were not fulfilled – a made bed, a bath, a warm room to sit in. She should not have to worry about that at the age of 97. […] But still she did not want to give in.« (23rd of September 2014)

However, Bodil thinks that her mother received the news of her moving in a good way. Anna did not say much. Bodil and her sister tried to involve Anna as much as possible in the clearing of the old apartment. Bodil wonders why Anna did not wish to bring any of the family photos:

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»She has always been interested in getting photos of children, grandchildren and great grandchildren. […] The old apartment was covered with photos. But she did not want to bring a single one of them. I do not know why. […] There must be some psychological explanation of it. Maybe it has to do with a feeling of this being temporary – that she is going back home at some point. […] Or maybe she is underlining for herself that now she is in a different place with different rules and surrounded by different things.« (23rd of September 2014)

Bodil is impressed by the nursing home and the staff. She thinks they take very good care of Anna. Bodil tries to imagine what it must feel like for her mother to have gone through this process of becoming weaker and having to give up on her own home and finally moving into the nursing home. »You are fragile, you are old and you are delicate. Your whole life has suddenly turned upside down. I think it is huge. It probably also demands some energy resulting in you getting delicate and a bit hysterical with new things. […] The world is in a way very small. But even a tiny world cannot just be transferred to a new context. […] I can feel on her that she might have been stretched in a way that is maybe a bit too much.« (23rd of September 2014)

Bodil reflects on the relationship between herself and Anna and on their shifting roles towards each other: »In some way you can say that having her for so long gave me the possibility to get closer to her. She is not an embracing and warm woman. […] But our relationship has developed after I became a caretaker for her. It has been good for the relationship, I think. But I have also become old in the meantime so actually we have grown old together. […] I have fewer roles to play in my life now. I have been happy for this new role in relation to my mother. […] But my sister and I are actually very relieved of leaving the responsibility for her with someone else. […] It was the right decision.« (23rd of September 2014)

Bodil continues to talk about how inappropriate Anna’s old apartment was and how it became more and more dirty and filthy in a way that Anna would have been ashamed of earlier in her life. Bodil mentions how her son Jens has said that it was not a dignified way for Anna to live, while Kirsten has thought it was Anna’s own responsibility because she did not want to get more formal help and did not want to move to a place with more help. And in a way Bodil agrees with that saying that they had to respect Anna’s wishes even if she could have moved two or three

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years earlier. Bodil emphasizes that she and Kirsten agree about most things concerning their mother. They have been there for her and helped her until they were not able to anymore. She says that it in some way feels like if they had her placed in a daycare center for children. While Anna is not their baby, she is their ›little mother‹. On the day they actually took Anna to the nursing home after moving her things there, Bodil felt weird and empty. She explains: »It was a weird experience. It is a warning. This is how I will feel when she dies. In some way she has been here for too long I think. I don’t know anyone who is 73 years old and still have their parents. But it will always be painful to lose someone you care about. It is a great gift to be allowed to have your mother for 73 years. And you have the possibility to work on the relationship so it, perhaps, ends more positively than it started.« (23rd of September 2014)

Bodil was surprised when Anna one day talked about her will and the way she wants to be buried. She has planned everything in detail. At the same time as preparing for dying and being buried, Anna is still full of wishes for the future. Bodil says: »She wants to get perfume and new clothes like one of the ladies in the nursing home. […] She actually still wants to experience things. It must be hard to be of such a sound mind and acknowledge all the things you cannot do«. Bodil understands this as a sign of a zest for life but also as a sign of Anna’s general values in life: »[People] are something because of their financial status. […] She does not care about how people are to their fellow human beings, if they think of others before themselves or if they do things for others without getting anything in return. Such things really do not count much for her«. When Bodil was 68 she was diagnosed with Parkinson’s disease. She did not know whether to tell Anna about it: »I was very much in doubt about telling my mother. [But] a mother should be able to understand and relate to her child with a disease. She never commented on it. She never said anything about it. And she doesn’t ask how it is going with it. But it was an important argument when we [Bodil and Kirsten] said we could not help her as we used to.« (23rd of September 2014)

In the interview Bodil moves back and forth between her own feelings about Anna and how she imagines Anna’s experiences and emotions. She is very open and reveals her mixed feelings about Anna’s way of being a mother and how Bodil has used the reconfigured relationship between the two to come to terms with a

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somehow fragile and rather cold mother-child relationship. She tries to take a firstperson-like perspective whenever she attempts to understand Anna and makes sense of her actions. However, when Bodil tells about Anna’s reactions to her diagnosis with Parkinson’s disease it becomes clear that Bodil’s first-person-like perspective probably does not match perfectly with Anna’s first-person experience. Bodil was hoping for a reaction like she would have reacted if her own children became ill. But Anna reacts with silence when she receives the news. Bodil’s explanation to this is that Anna is not the warm type of person or mother. Bodil also describes how a mother is always concerned with the wellbeing of her children and she imagines Anna’s feelings the same way. However, comparing this to Anna’s narrative almost leaving her daughters out of the story, it does not seem that Anna shares this feeling and if she does, she hides it well. In this sense Bodil’s attempts on empathic understanding of Anna relies on her own experiences and emotions combined with her knowledge of Anna’s life story and are never confirmed by Anna. Kirsten Kirsten starts the interview with reflections on when and how she began worrying about her mother’s capability to take care of herself: »Maybe she was 90 years old. I didn’t think that she should move to a nursing home at that time, but I wondered if it would someday be necessary. She could also drop dead at an earlier time. I think it went downhill step by step from she was 90 years old.« Kirsten continues to tell how Anna was admitted to hospital with pneumonia and dehydration when she was 94. However, Anna was too independent to be approved for a nursing home apartment. Kirsten explains that Anna’s drive and insistence has kept her going. They had a meeting with a visitation officer1 suggesting different services to Anna, who was only persuaded to receive food three times a week. »At that time we [Kirsten and Bodil] realize that there are more and more things she cannot do. […] Suddenly she could not carry groceries up the stairs. Then I came once in a while and bought a lot of basic groceries for her.« Kirsten explains that Anna used to walk to a senior center where she did gymnastics twice a week. After the pneumonia she could not walk there anymore and

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In Denmark various kinds of homecare services including, food delivery, cleaning, laundry, rehabilitation, help for personal care and hygiene are organized by visitation officers in the municipalities. The visitation officers have a set of standardized criteria for each service that applicants must meet in order to receive the service. In this way the visitation officers are the gate keepers to homecare.

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accepted to join the municipal driving system. A couple of years later Anna started falling down in her apartment. She did not tell Kirsten about it. »During those years I have experienced talking about nursing homes as a taboo. She [Anna] did not in any way wish to discuss it. At least not with me. Bodil might have had a more understanding way. I don’t feel pity for her [Anna]. I understand that it is difficult for her to make the decision. She has been living in that awful apartment for so many years. I have not been so compassionate and maybe this is the reason she did not want to talk to me about it.« (8th of October 2014)

After the falling incidents they had another meeting with a visitation officer who recommended the place where Anna lives now. »I think she realized that she could no longer stay in the apartment without our help. […] But she never approved it. I never experienced her refusing it though. But she told my aunt: ›It was Bodil and Kirsten who wanted me to move here.‹ And she is completely right about that. To say like that shows a complete lack of understanding of her own situation. And also of our situation. But that was never on her mind. I am not offended or anything. It just shows that she did not really take responsibility for herself. And it was never possible to negotiate with her. Then we have to tell her what should be done. And of course she then might experience it as if we drag her into it. But what else should we do?« (8 th of October 2014)

Kirsten tells how the two sisters have agreed about everything regarding their mother. But they have different roles and ways of talking to her. »I am sometimes amazed of how she keeps on manipulating things until it is as she wants it to be. […] She has never been possible to negotiate with. […] She knew she could not take care of herself and she twisted things to make us jump around for her. She might say we did not need to come. But what did she imagine when we knew the fridge was empty?«

On the present situation Kirsten notes how well Anna looks and how busy she is participating in the nursing home’s activities. Kirsten is convinced that Anna will thrive there. But she is aware of how nervous Anna was about moving and that it is a huge change to have staff telling her, for example, to have her walking frame with wheels next to the bed and checking if Anna has taken her medicine. Anna has already fallen down twice, which makes Kirsten to comment: »Somehow I understand … when you have been used to handle everything on your own […] when someone’s all the time coming and asking ›did you remember this and did you

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remember that?‹ Just as you do with little children. They also come into her apartment all the time, but she has not talked about it. Neither does she mention the walking frame with wheels, but we can see that it is now by the bed. No admissions. […] My mother has been a controlling person, but she is not a strong person. Then she would have taken responsibility and I do not think she does that. Or ever did. The control has been about directing any problem away from herself, and then someone else had to take care of it.« (8th of October 2014)

Kirsten does not feel a need to be in close contact with the nursing home staff. She is convinced that they will contact her if they need it: »I do not worry much about my mother’s everyday life there. I call her and listen to what she says. And I think the staff will call me if they want to. Sometimes it feels like having your child in a daycare center. My sister and I have been the mothers of our mother for many years now. I don’t really want to be that any longer. […] When she was in her 80s I began to take responsibility for her, but she also took care of herself back then. She took care of herself for many years.« (8th of October 2014)

Although Kirsten feels that her mother was more interested in her friends than in her daughters, Kirsten has experienced her mother as very interested in her grandchildren: »She took care of the children when they were ill and such. She took them to amusement parks and had them visiting her. […] She was very happy for the grandchildren«. However, the contact between the now adult grandchildren and Anna is not very frequent: »I didn’t encourage my children to keep contact with my mother. I think they have to figure that out on their own. […] Maybe my children and my mother grew apart and then my mother didn’t contact them when they grew older«. Kirsten acknowledges the hardships of sitting alone in an apartment: »Sometimes she wished she would just drop dead. Sit in a chair and not wake up ever again. She has had lots of time alone in front of the TV. Along with her lost ability of reading her world has become very limited«. She tells about the process of moving Anna’s home to the nursing home and that Anna did not choose to bring any of her stuff. Kirsten had to push her mother to be part of the process. She imagines how it must feel for Anna to leave the old apartment: »Maybe in half a year she hardly remembers how it was. She didn’t say that she’d rather be in the apartment and she didn’t mention it. She barely shows any interest in what happens to her things. […] I think that it is because she doesn’t dare to think the thought through.

214 | K AMILLA NØRTOFT And, actually, I get that. Then she occupies herself with something else. And what else could the thought lead to than sadness? Things can’t be changed and she is not going back. She didn’t want to bring all her photos and paintings, but she brought a few […] that are now giving memories of her old home. All in all I think she got what she wanted [and] we managed to choose the right things for her even if she didn’t participate much.« (8th of October 2014)

The interview goes on and Kirsten talks about her mother’s quality of life: »She is blooming. Her skin is smooth. I think she gets enough liquid and vitamins and she probably eats more now. I think it means a lot that the food is of good quality. […] She quickly got tired of the meals on wheels service. She talked a lot about food in the latest years, which is an expression of privation. […] I don’t think that my mother is waiting for death. I certainly believe she has moments of sadness and has thought once in a while that her life before was not really a life. And it really wasn’t. But whose fault is it? I can’t be responsible for her being 98 years old. And she can’t be responsible, but she could have moved to the nursing home earlier. […] she didn’t want us to know how bad it all was.« (8th of October 2014)

We talk about the process of deciding that Anna should move to the nursing home: »This process is not challenging me. […] I’m confident about her living in the nursing home. I trust that she will accept living there and will be happy for the care she can get there. At least she expresses how nice the staff is. And for me it is a great relief. I don’t have to constantly worry if there is anything she needs. She didn’t want to tell me what she needed. Maybe she was afraid I would nag at her. I did that sometimes and she didn’t like it – like children. They think it is humiliating and it is. But she could easily have had homecare and help for shopping.« (8th of October 2014)

During the interview Kirsten is open about her experiences, emotions and intentions underlying her actions. Several times she mentions »getting it« when reflecting on Anna’s reluctance or even resistance to e.g. receiving homecare of various kinds and dealing with the fact that she is becoming dependent. However, Kirsten does not think that the unpleasant development of Anna’s situation leaves Anna without responsibility of taking care of the situation in a sustainable way. She does not think that Anna has acted responsible neither in the past nor in the present. And now Anna has become so dependent that Kirsten and Bodil need to act as if they were the mothers of Anna and not the opposite.

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Kirsten describes Anna as manipulative and controlling and she does not want to be controlled any longer. This description of Anna might lead our thoughts to the dark side of empathy (e.g. Bubandt/Willerslev 2015). If Anna has said that Kirsten did not have to do shopping for her, Kirsten experiences it as manipulation. This is because she expects Anna to know her and understands her well enough to know, that Kirsten would never let her sit alone in the apartment with an empty refrigerator. In this way Anna’s empathy for Kirsten is – still in Kirsten’s experience – used to make Kirsten and Bodil jump around for her without asking them directly to and without caring about how they feel about it. Kirsten tries to understand Anna’s experiences, but she does not let her attempt of empathic understanding control their relationship. And she does not experience any attempt from Anna to understand her in any caring way. She describes her own attitude towards Anna as being without compassion and she experiences that her own wellbeing has never been of any high priority in Anna’s life. Jens When I interviewed Jens, Anna had lived in the nursing home for approximately two months. He starts out by giving his overall opinion about his grandmother’s life in the years before her moving: »I think she lived in that apartment for at least four years too long. She was not fit enough to live there. I told her it was time to move somewhere else. […] She couldn’t deal with her situation. And it is a huge loss of prestige and identity to have to move to a nursing home and not be in control of it. It was not a dignified life for her to live. She is a very meticulous lady – keeping up appearances. […] What tipped the balance was when she fell down and lied on her floor for 8-10 hours with scrapes all over her body and face and all blue. Then it was over for real.« (30th of October 2014)

During the interview Jens tells about the communication between different family members about Anna’s situation: »She has been very grumpy towards my mother and aunt, but never to me. She behaves nicely to me no matter how sad or frustrated she is. I only experienced a bitter comment from her once […]: ›You guys finally got rid of me.‹ It was only because she didn’t know how to cope with it. Maybe on a deeper level she is happy that it has been done. It would never have happened on her initiative. Several times she told me in her apartment that she couldn’t handle it any longer. But she probably had many images of nursing homes and their residents.« (30th of October 2014)

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Jens continues to talk about the feeling of safety after Anna moved to the nursing home and how it must feel to get weaker with a decreasing functional level: »I can feel she is happier now. I think she feels much safer. Just imagine – I think of what happens when you grow older … your world becomes … the shrinking of physical space. If I have to go to another city without having my car it might be a challenge. For her going to the local supermarket is like me going to that other city. Going to the bathroom or making coffee might not be like a daytrip but it is a big thing – a project. […] She doesn’t say much about it. But I don’t think you should underestimate how much it means. She participates in all activities at the nursing home. If she was not satisfied she wouldn’t do that. […] I am convinced this is better.« (30th of October 2014)

I ask Jens to tell about Anna’s birthday a few weeks earlier, and he tells about the way the family planned the party together and how it all went when most of the extended family was gathered in the nursing home. »At first she didn’t want to celebrate. […] She had a thousand reservations. […] My mother and my aunt told her three days before and she reluctantly accepted. But this is how communication is with her. If I offer to take her home in the car she refuses. If I tell her I will do it she accepts it and is happy afterwards. It all went fine. […] I think she had a good day. My mother would not arrange such a celebration if my grandmother really wouldn’t like it. It is kind of a family thing to be a bit pessimistic.« (30th of October 2014)

During the interview Jens also talks about the difference between his and other family members’ relationship with Anna: »I don’t have quite as much contact with her now as I used to – both because I have been very busy and because I feel safer with her being in the nursing home. […] And now she is often busy and doesn’t sit by her phone as she used to. To have my grandmother in the nursing home feels like having children in daycare. […] The ring of institutionalization ends here. But I don’t think she notices and makes that connection. I’m usually the one calling her, but she always asks how my wife and children are doing. Sometimes she has been a bit sad. But it is difficult to have a conversation like that. What am I supposed to say? It is hard to find a reasonable answer. […] If I don’t know what to say, I just try to tell her things. And I think that is much nicer for her. […] If I know she is not doing well, then what am I supposed to answer? I know she was sad and ate crappy food and I should have been there more. Or that the rest of my family should have done the same as I did. That would have helped. But I can’t ask other people to do that. Everyone have to do what their conscience bit them. When I was a child, she was there for me. We didn’t have a very close relation,

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but it was a long-term relation. That means something, and now I just feel that I give a little back. It is human decency. And I like the thought that you don’t just throw away all responsibility because we live in a welfare state taking care of it. Nothing is better than your family relations if they are proper relations. I think it is fair that we support her and each other as a family and of course we help the others. If someone is sick or older it is natural to help with food and shopping. I would like to pass that on to my sons. My wife is also good at it and she also helps her family. It is just decency.« (30th of October 2014)

Jens also reflects on the relationship between other family members. He realizes that the relationship between his grandmother and her daughters is different. There is not an easy relationship between Anna and Kirsten and Jens believes this has been transferred to his cousins. He experiences the atmosphere between that part of the family as less loving and thinks that Anna feels more welcome at his parents’ place: »And that is actually very nice of my father, because my grandmother never received him very nicely. […] He was never recognized in her home. […] But he drives her around and he actually did a lot for her. My brother is ego centered, I think. I can count on one hand how many times he visited our grandmother in the last 10-15 years. […] My grandmother tells my mother that I am her grandchild because I am the only one of us being there for her. And I want to show it to my children.« (30th of October 2014)

It is clear that Jens’ relationship with Anna is more distant then those of Bodil and Kirsten. He is aware of that, but he is also aware that the communication between Anna and different family members vary from one person to the other. Thus, Jens knows that although Anna can be grumpy and cold towards her daughters and his father, she is different towards him. While Jens might not have as frequent contact with and responsibility for Anna as Bodil and Kirsten, his attempts of empathic understanding of Anna are very clear. He tries to imagine what it must feel like to be Anna e.g. by comparing her everyday activities and the required amount of effort and energy to overcome them with activities in his own daily life that demands the same effort. So while he does not share her experience of being dependent on others and losing control in his life as well as losing identity, he makes an effort to try to get it. He imagines some of his own joys of everyday life such as for example touching the vegetables in the shop before buying them – and then he imagines how it must be not to be able to do that. Jens is very focused on what he calls decency. He is very aware of the work Bodil and Kirsten put into caring for Anna, but he is also very aware of family members who are not doing that although it – according to Jens – would be the

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right way to act. At the same time acting as decent and responsible as his work and close family allow him, he also uses his relationship with Anna to confirm his own identity and values. Several times during the interview, Jens mentions his own children as someone who should learn about decency from his relationship with Anna. Seeing their father and grandmother taking care of Anna illustrates an important human value that Jens wishes to pass on to his children. When describing Anna’s life situation and personality, Jens attempts to understand the situation from as close to a first-person-like perspective as he can get. But he is also very aware of the feelings and situation of the other actors in Anna’s life. He knows that Anna is not often very nice to his father and to her two daughters. However, he seems to accept that as an unchangeable part of Anna’s personality. Most of all his narratives give an impression of compassion and sympathy between Anna and Jens.

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FAMILY RELATIONS THROUGH CONCEPTS OF EMPATHY Empathy understood as a movement between the self and the other is fruitful for understanding the family dynamics in processes of dramatic events and reconfigurations of family relationships. Anna hardly moves away from her self or lets go of her identity in attempts to understand the others. Had we had only her narrative it would be hard to judge whether Anna was just focusing on herself in the interview situation or if this was a normal encounter with Anna. However, the narratives of especially Bodil and Kirsten show, that Anna’s lack of focus on family in the interview is fairly normal. Bodil and Kirsten, in each their own way, tell stories of how Anna does not seem to think of their perspectives, experiences and needs in their regular encounters. In contrast to this, Jens tells how Anna always remembers to ask about his wife and children when they talk and also listens, when Jens tells her what he has been doing. From the four narratives it is not possible to know whether Anna’s lack of empathy towards her daughters is intentional and conscious. Kirsten suggests that Anna has always thought of herself first and only little of others after. Bodil explains how Anna’s basic value in life has always been connected to money and things. At the same time Bodil excuses Anna’s behavior towards her daughters with Anna’s life story and a general feeling of disappointment with how life turned out for her. In Jens’ narrative he mentions that Anna never wanted to be a burden for the health professionals, but it seems that the same does not apply to Bodil and Kirsten.

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There is no doubt that Kirsten and Anna have experienced maternal neglect and that this influences their relationship with Anna. Both try to understand Anna and the process she goes through while becoming more and more dependent and increasingly losing control in her everyday life as well as in life decisions. However, they react very differently to this understanding. While Bodil makes excuses for her mother and continuously attempts to build a more compassionate relationship between her and Anna, Kirsten acknowledges the difficulty of Anna’s life stage, but blames her for not making arrangements in due time to ease the process. If one wants to detect empathy with the others in the narratives, our findings very much depend on which concept of empathy we use. Following Rosaldo’s (1989) idea of empathy only being possible if one has the same emotional experiences when attempting to understand another, only Bodil might have a chance to truly empathize with Anna. As a consequence of her illness Bodil has experienced functional decline in a different caliber than the others. She also thinks of her own approaching death and thinks of herself as old. On the other hand Bodil, Kirsten and Jens all have practical, social and positional knowledge about Anna, which according to Wikan (1992) should be sufficient for them to empathize with her. Hollan (2008) and Halpern (2001) might say that empathy is not achieved before the attempt to understand the other is actually confirmed by him or her. Kirsten and Bodil narrate how Anna is sharing some of her experiences and feelings with them, but it seems that Anna mainly shares negative emotions and leave it up to them to find out if she is also happy for some things. As Jens tells us, this is a common way of communication in the family. Thus they are all used to detect feelings such as pleasure and happiness through all the frustration, disappointment and complaint. Turning to Bubandt and Willerslev’s (2015) tactical concept of empathy we find traces to it in all four narratives. This is not to say that the family members want to harm each other, but it becomes clear how they use their understanding of each other in decision making and everyday actions. Jens illustrates this a couple of times during the interview when telling that Anna needs to be told certain things rather than asked – e.g. the celebration of her birthday and a lift in his car. Kirsten feels that she has been manipulated by Anna her entire life and now she will not tolerate it and makes decisions in their relationship on the basis of her understanding of Anna’s manipulative behavior. Bodil has the role of the compassionate daughter with closest relationship with Anna, and therefore Bodil and Kirsten coordinate who should do what related to their mother to make things go as smooth as possible. The narratives give us a quite detailed insight into the ways Kirsten, Jens and Bodil use their relationship with Anna in their relationship with themselves. Bodil moves a lot back and forth between Anna and her own self and redefines herself

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and their relationship in the process. Kirsten moves between herself and Anna, but spends her energy in changing her own behavior because she is done jumping around for Anna. Jens uses metaphors from his own daily life to attempt understanding Anna’s life and he mainly focuses on being a moral person setting an example for his own children and illustrating his idea of being a proper human being. The narratives of Anna, Bodil, Kirsten and Jens tell different versions of the same event. They also tell the story of changing roles within the family and bring in perspectives from past, present and future. Concepts of empathy can help zooming in and explore these changing relations as well as investigating how family members experience their roles among the others. By focusing on empathy one can learn a lot about reconfigurations in the family and how the processes they are going through encourage each of them to reflect on their current life situation as well as on their longer and broader life story.

R EFERENCES Beatty, Andrew: Emotions in the Field: What Are We Talking About?, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 11 (2005), No. 1, pp. 17–37. Bubandt, Nils/Rane Willerslev: The dark side of empathy: mimesis, deception, and the magic of alterity, in: Comparative Studies in Society and History, Vol. 57 (2015), No. 1, pp. 5-34. Frank, Gelya: »Becoming the Other«: Empathy and Biographical Interpretation. Biography 8 (1985), No. 3, pp. 189–210. Frank, Gila: Venus on Wheels: Two Decades of Dialogue on Disability, Biography, and Being Female in America, Berkeley 2000. Geertz, Clifford: »From the Native’s Point of View«: On the Nature of Anthropological Understanding, in: Richard A. Shweder/ Robert A. LeVine, Cambridge 1984[1976]. Halpern, Jodi: From Detached Concern to Empathy: Humanizing Medical Practice, New York 2001. Hollan, Douglas: Being there: on the imaginative aspects of understanding others and being understood, in: Ethos Vol. 36 (2008), No 4, pp. 475-489. Holland, Douglas/Throop C. Jason: Whatever happened to empathy?: Introduction, in: Ethos, Vol. 36 (2008), No. 4, pp. 385-401. Kirmayer, Laurence J.: Empathy and alterity in cultural psychology, in: Ethos Vol. 36(2008), No. 4, pp. 457-474.

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Kofod, Jens: »Ældre mennesker og mad belyst I et kulturelt perspektiv«, in: Glasdam, S. & Appel, B. E. (eds.) Gerontologi: Livet som ældre I det moderne samfund, Dansk Sygeplejeråd and Nyt Nordisk Forlag Arnold Busck (2009), pp. 216-225. Kracke, Waud (1994). Reflections on the Savage Self: Introspection, Empathy, and Anthropology, in: Sua’rez-Orozco/G. Spindler/L. Spindler(eds.): The Making of Psychological Anthropology (1994), pp. 201–211. ForthWorth, TX: Harcourt Brace. Lebra, Takie S.: Japanese Pattern of Behavior. Honolulu 1976. Lutz, Catherine/White Geoffrey M.: The anthropology of emotions, in: Annual Review of Anthropology, Vol. 15 (1986), pp. 405-436. Ochs, Elinor/Schieffelin, Bambi: Language Acquisition and Socialization: Three Developmental Stories, in: Richard A. Shweder/Robert A. LeVine (ed.): Culture Theory, Cambridge 1984, pp. 267–322. Robbins, Joel/Rumsey Alan: Introduction: Cultural and Linguistic Anthropology and the Opacity of Other Minds. Anthropological Quarterly 81 (2008), 2, pp. 407–420. Rosaldo, Renato: Grief and a Headhunters Rage: On the Cultural Force of Emotions, in: Culture and Truth: The Remaking of Social Analysis, Boston 1989 [1984]. Rosen, Lawrence: Other Intentions: Cultural Contexts and the Attributions of Inner States, Santa Fe 1995. Shimizu, H: Japanese Cultural Psychology and Empathic Understanding: Implications for Academic and Cultural Psychology, in: Ethos, vol 28 (2000), no 2, pp. 224-247 Strauss, Claudia: Is Empathy Gendered and if So, Why? An Approach from Feminist Psychological Anthropology, in: Ethos 32 (2008), No. 4, pp. 432–457. Thomasen, Louise S.: En god alderdom? Aktivering af svækkede ældre I leve-og bomiljø, Specialerække no.517, Institute for Anthropology, University of Copenhagen, 2009. Throop, C. Jason: On the problem of empathy: the case of Yap, Federated States of Micronesia in: Ethos, Vol. 36 (2008), No. 4, pp. 401-426 Watson-Franke, Maria-Barbara/Watson Lawrence C.: Understanding in Anthropology: A Philosophical Reminder, in: Current Anthropology 16 (1975), No. 2, pp. 247–262. Wikan, Unni: Beyond the Words: The Power of Resonance, in: American Ethnologist 19 (1992), No. 3, pp. 60–482.

Experiencing Ageing through Urban Ethnographic Walks T IINA S UOPAJÄRVI

I NTRODUCTION On Wednesday morning in February 2013 just before 10am I rang the doorbell of Leena1, a 77-year-old woman who lives in the city centre of Oulu in northern Finland. Leena had agreed to take me for a walk from her home to the closest health centre where she had doctor’s appointment. In her hall, Leena put on her winter clothes and took the handbag and walking sticks with her. I put on both a small GoPro video camera2 hanging around my neck and the digital audio-recorder I held in my hand. Since Leena’s apartment was on the fourth floor, we took a lift downstairs, walked down few stairs to the backdoor and started our walk in a snow-white city. During the following two months, I walked with eight other senior citizens through the city centre of Oulu. I had met them all two years earlier when they participated in my study on their usage of mobile phones and computers. Back then I made biographical interviews in their homes where we sat by their dining tables (e.g. Suopajärvi 2015). In order to invite the same seniors to participate in the walk-alongs, I sent them letters describing how this time I was interested in

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The names of the seniors are changed. GoPro camera is designed especially for mobile sports, like surfing, downhill skiing and diving in conditions that demand light and durable devices. It can be used in a helmet. Camera is small, with a cover 67x71x39 mm and weighs 152g) (see more: www.gopro.com). The department of Computer Science had purchased them for the mobile fieldwork of its researchers.

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senior citizens’ experiences on walking in public urban places. I wrote that I wanted to walk with them via their everyday routes and visit the places they normally visit; and that the walks would be video-recorded. I gave them a week to consider their participation; and when I phoned them, they all agreed to walk with me. Our previous encounters affected significantly our shared walks. We were familiar with each other, and the seniors knew, approximately, what was expected from them, namely that their own stories and experiences would be the focus of the research. When I was interviewing Helmi (woman, aged 66) two years earlier, she described how the street from the market place was climbing towards her house making her sweat. Consequently, she did not visit the market place as often as she would have liked to. I was surprised by her story since though I had lived in Oulu for 17 years I had never noticed that this particular street was climbing. The fact that Helmi’s experience differed so substantially from my own, pushed me towards this study on urban walks. I was quite nervous before each walk since as a method I felt walk-along as less controllable than »sitting-down« interviews because the idea is to let the movement, places and other people to interact with us during our walks (e.g. Kusenbach 2003; Pink 2008). In our walks, the technology we were wearing were part of the performances under study. After my walk with Leena I started to place the audio-recorder into seniors’ pockets and to put the clip-on microphone on their collars. The GoPro camera set included a wireless remote controller which caused me difficulties since more than once it could not find the connection with the camera. I felt frustrated with the devices but the seniors were waiting patiently with their winter coats on. Consequently, my problems and irritation with the devices strengthened our companionship. Though the devices were quite unnoticeable – there were occasions when the seniors showed they had forgotten that they were »wired« – the technology clearly demonstrated that this was not an ordinary walk. My first walk with Leena taught me that I could not be holding a question paper in my hand. The themes that I was particularly interested in were safety, accessibility, (un)pleasant places and how my go-walkers’ spatial experiences and the places they visit had changed. The main goal of the walks was, however, to understand where the senior citizens walk in the city centre and how they experience moving in this public space. The effects that the places, buildings, parks, streets and views among other socio-material elements might have on our discussions (see Degen/Rose/Basdas 2010; Suopajärvi 2014), was also a paramount point of departure for my study. The walk-alongs were part of my research project where I have been investigating how ageing is experienced in a city, and in a society, that invests heavily on constructing digitalized environments, services and

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communities (e.g. Ylipulli/Suopajärvi 2013). In addition to studying the relationship between ageing and embodied moving in digitalized urban places, and on the other hand between ageing and ICT practices (e.g. Suopajärvi 2015), I have scrutinized how the knowledge on ageing becomes constituted in collaborative workshops where seniors, city officials and researchers aim to design better services for senior citizens (e.g. Suopajärvi 2016). Before we left my walking partner’s home, I emphasized that we would be walking at their pace, via the routes they would choose and that I would be following them, though of course we mainly walked side by side. Accordingly, the seniors decided about the routes we took, but while listening, watching and reading the audio- and video-recorded and transcribed materials, I have noticed how significant my own impact was on the walks. Especially when our walks proceeded, I sometimes suggested quite directly that we would visit another place which was, however, always a place the senior had already mentioned. In addition, while walking with Kaisa (woman, aged 68), one of my physically fittest go-walkers, I suddenly noticed how she was a little bit out of breath, and asked whether I was going too fast. Therefore, in this article I consider the walks as practices we, the seniors and I, constituted in particular socio-material place. So, in addition to studying how senior citizens experienced their own ageing through walking in the city, I investigate how our walks constituted a specific ethnographic place for ageing (Pink 2009). Walks are thus special methodological spaces where knowledge, bodies and ages meet.

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AS EMBODIED AND EMPLACED METHODOLOGY

Since the establishment of the ethnographic methodology, ethnographers have walked with people, or rather people have walked with ethnographers. However, focusing the analytical lens on ethnographic walking as practice, as social event and as methodology, has happened quite recently. Sarah Pink (2007; 2008) has discussed the sensorial bodily aspects of walking, as well as how through this practice ethnographic places are constituted. Margarethe Kusenbach (2003) has emphasized the importance of spatial practices in the identity construction; and further, how personal biographies, knowledge and immediate situated actions are tightly interwoven in walk-alongs. Tim Ingold (2011) stresses the significance of the routes that are used when we move between places, and how we in this movement carry our pasts and futures into the present. Moving can happen in multiple ways, but Ingold together with Jo Vergunst (nee Lee) has also considered the social aspects of walking. They underline the need for physical co-presence when

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the aim is to understand how people move (Lee/Ingold 2006; Vergunst 2010). By combining these above mentioned perspectives, I scrutinize our shared walks as the entanglements of socio-material space, embodiment, including senses, and temporalities. In her re-analysis of Spanish bullfighters, Pink (2011) introduces the notion of emplacement which acknowledges place as a specific temporal, spatial and social event, but which includes the understanding of the same place as constituted in long-term processes. Pink argues for the need to think bodies as part of the whole environment, as she writes: »the body provides us not simply with embodied knowing and skills that we use to act on or in that environment, but that the body itself is simultaneously physically transformed as part of this process« (Pink 2011: 347). I have been very intrigued by this notion while analysing my walks with senior citizens; since body, changing bodies and bodily experiences became very central in our walks (see also Laz 2003). During the walks the seniors were performing ageing through their bodies; but even more interestingly, the walks they had with me as part of my research »transformed« their bodies. In other words, they were using their bodies or experienced for example walking differently than in their everyday practices. Our shared walks changed my own perceptions of my body and my bodily experiences, too. When Griet Scheldeman (2011) walked with 83-year-old William in the English countryside, the focus of the walk turned into their moving bodies. Due to William’s walking disabilities, especially slow speed and fragility, the anthropologist found it hard to adapt her own body to William’s. This walk-along made her realize all the things her own body can do, like adapting to the requirements of the environment, for example the changing weather, or other people driving, cycling or walking in the same space. Scheldeman writes: »by moving differently, we do not just experience our environment differently; rather, we shape a different environment and a different life« (2011: 133). With her beautiful, detailed narrative of their shared walk, she shows how using her own body an anthropologist can produce new knowledge of the world. Like Scheldeman, Pink (2008) takes her readers to walking tours discussing explicitly how ethnography works as a place-making practice and how ethnographic place is made. She argues incisively that ethnographic place is constructed in a dialogue between ethnographer’s own emplaced experiences, memories of being there and the reconstitution of this process as ethnography. In ethnographic place »theory, experience, reflection, discourse, memory and imagination« (Pink 2009: 42) become interwoven. Ethnographer’s task is to introduce this place to her or his audiences so that they can »imagine themselves into the places of both

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the ethnographer and the research participants represented« (Pink 2009: 42). However, in her studies Pink does not consider the movement between her co-walkers and herself (e.g. Pink 2007; 2008). On the other hand, Scheldeman’s (2011) analysis lacks the temporalities connected to the co-presence of the walkers, which I feel are crucial when we aim to understand the emplaced experiences of ageing citizens, in particular. In the studies on the relationship between ageing and place, many scholars have applied the perspective of ageing in place concentrating often on the ageing adults’ ability to live in their own home in contrast to residential care. Janine Wiles and her colleagues however point out that especially in environmental gerontology, the importance of for example neighbourhoods, transportation and social networks has been noted (e.g. Wiles/Leibing/Guberman/Reeve/Allen 2012). Paula Gardner (2011) also argues that in addition to studying ageing in place, the focus should be shifted towards places of ageing (see also Johansson/Rudman/Mondaca/Park/Luborsky/Josephsson/Asaba 2013). Ageing urban citizens occupy many public places in their daily practices (see Penney 2013; Green/Jones/Roberts 2014). They are mobile and active city dwellers, but their ageing bodies affect the ways they use and experience these places. But the anthropological perspective calls for understanding the bodies as more than physical entities: the cultural beliefs and social norms are inscribed in the bodies, and the shared norms of ageing are re-negotiated by individual experiences on »being in the body« (Joyce/Mamo 2006: 104; see also Laz 2003; Holstein 2006). In this article, the focus is mainly on our shared walks, on our interpersonal embodied encounters that happened in a specific place. When I was in the field, I did not realize that I was doing sensory ethnography, but through reflexive readings of the walks, the importance of senses has opened up to me. Again I turn to Pink who defines sensory ethnography as a »process of doing ethnography that accounts for how this multisensoriality is integral both to the lives of people who participate in our research and to how we ethnographers practise our craft« (Pink 2009: 1). Sensing the city was such an essential part of our walks that it could not be disregarded in my analysis. Analysing our walks has taken place in a dialogue between the theoretical understandings of emplacement and embodiment; the methodological reflections on walk-along and sensory ethnography; and the research materials that are in the form of videos, transcriptions, fieldwork notes, experiences and memories. Through reading and writing within this dialogue, the notions of verbal and bodily negotiation of walking, knowing the city through embodied practices, and the importance of temporalities in sensory experiences have become constituted as the

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main arguments related to my research questions. I will discuss them in the following chapters.

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AS VERBAL AND BODILY NEGOTIATIONS

My first walk with Leena differed from the other eight walks in many ways. None of the other four women or four men had an engagement they could not miss linked with the walk, which meant that we could negotiate the length of our tour. Some had specific errands to run and we visited grocery and clothing stores, banks, a police station and flee-markets. With two men we stayed for a while indoors either having coffee or warming up; with others we strolled the whole walk outdoors in the city centre. One woman invited me for a coffee in her home after the walk. Because Leena had a strict timetable for our walk, it lasted less than half an hour. With the rest we walked for an hour or an hour and a half. I have elsewhere (Suopajärvi 2014) discussed in more detail about the relationship between gender and experiencing ageing through walking in public urban places. Especially the way men focused more on their past with the city, and performed themselves as »experts« on Oulu; and how women on the contrary talked more about their current embodied experiences. In addition to gender, I explained this with the length of my co-walker’s relationship with the city (Suopajärvi 2014). In this article, I consider gender issues when they are relevant for the research question of constructing the ethnographic place. All seniors lived in or were about to move to a block of flats in the city centre. This is a common trend in Oulu, as well as in other cities in Finland: senior citizens prefer to live close to the services they need which are mostly located in the city or town centres (e.g. Sulander/ Nisén/ Heimonen/ Pohjolainen/ Virkola/ Karvinen/ Koivula 2009). Multi-generational households are rare in the country, in other words, ageing parents live on their own. In the context of northern Finland, Oulu as the biggest city of the area has for a long time represented the place of young innovative urbanites (e.g. Äikäs 2001). This becomes visible, for instance, in the city planning when the services for younger citizens, like trendy cloth stores and fast food restaurants are built in the city centre, and the public health and care services are moved away from there. These kinds of socio-material choices construct the cultural meaning that the city centre is mainly a place for young people and their practices. Leena describes this from her perspective: »I’m terrified about the plans that the health centre would be moved [from the city centre]. Then I’d had to take a taxi but I’d anyhow had to walk to get one, so what’s the point. When

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here [we are standing in front of the health centre] this is by my walking route.« (Leena, woman aged 77)3

All the houses my go-walkers lived in had lifts, but some preferred anyhow to take the stairs. While we were in the lift, Leena told me how worried she was about her future with the small lift, since it did not have space for a wheel chair. Also the high steps leading to the backyard where the garbage bins were, made her feel anguished. Leena had lived in her house since 1967, and was not willing to move. On the contrary, Taimi (woman, aged 83) and Olavi (man, aged 88) were very happy with the new house they had moved into few years earlier: in addition to a big lift, the front door could be opened by pushing a button on a wall and there was a slope for a walker or wheel chair in front of the door. These kinds of materialities of seniors’ living environments became very relevant during, or because of, our walks: they turned our attention to seniors’ still capable but assumingly changing bodies and thus to their possible futures in these places. The walks thus underlined how the material elements are inseparable part of experiencing ageing (see also Suopajärvi 2014). When we started to walk, my walking partners had a clear route in their minds to the place we would go first. Since I wanted to know whether this was a route they usually used as well as to talk about the places we were passing, I often interrupted our movement by slowing down or even stopping to walk completely. This way I bodily showed that we did not need to hurry, that we could take breaks, and that our walk was as much about the mobility as it was about the narrated experiences and stories. Thus the emphases on different temporalities of our walk, was manifested through the embodied communication between the participants and me. It also underlined the life course view on ageing: how seniors experience on »being in the body« is affected also by their past experiences and oral histories related to the places we were at (e.g. Lynch/Danely 2013).

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All quotations of the interviews are translated by the author. The audio and video recordings and the transcriptions of the interviews are currently in the author’s possession. In the future the anonymized transcriptions will be archived in the Finnish Social Science Data Archive in Tampere.

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Figure 1: Verbal and embodied communication in a walk-along. On pedestrian mall »Rotuaari« in the city centre of Oulu, March 2013.

Source: Anna Luusua 2013

As a method, walk-along required continuous embodied and verbal communication for us to proceed. Thus, from the beginning the walks were negotiations between the seniors and me; but also between us and the city (see Vergunst 2010). In other words, our relationship during the walk was highly affected by the nonhuman elements of the city. For example, I felt quite protective towards most of my ageing go-walkers, especially when the roads were icy or the breeze was cold, or when we were standing in the middle of a busy pedestrian and cycling street. Due to seniors’ age and some physical problems, I considered them frail city occupants who needed my protection, and therefore I partly strengthened the often prevailing idea about elderly people as in need for looking after. As our walks proceeded we started to negotiate also verbally more about the places we would visit. After we had visited all the places the seniors’ had in mind, they started to ask »where should we go next«. Since neither of us knew how long the walk »should« last, these kinds of negotiations felt like part of the process. For example, with Kaisa (woman, aged 68) we first visited the town centre and the grocery stores she did some shopping in. Since the weather was warm and sunny and she was in a good shape, Kaisa asked if we could go to the police station which was located half a kilometre from downtown. Walking a bit longer with her, gave me better insight into Kaisa’s walking rhythms which were changing along the tour (see also Vergunst 2010; Suopajärvi 2014). Kaisa said that she did not like to wait in the traffic lights, so she kept her eye on the lights when we were approaching them. If needed, we hastened our steps to avoid the waiting, but mostly Kaisa chose routes that did not include traffic lights at all. She thus negotiated more with

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the material elements about the routes and rhythms she would use than with other people. She did not for example avoid going to more quiet streets. Thus, she did not feel unsafe on these streets. Her choices enabled her to keep up the speed she was accustomed to in her other daily practices. Moving at his own pace, in other words, deciding for his own rhythm was important for 89-year-old Olavi too. When we were crossing a busy street, he chose to use a crossing without traffic lights though another one with the lights was nearby. He wanted to use this particular route from his house to the city centre because it was full of places and buildings attached with important memories. This way he could hold on to his self-determination. The other rhythms of the city had to adapt to his, and not vice versa as often is the case with »non-normative« city occupants. When we move around in a city, the routes that we choose are more than paths to walk on: they are also paths to remember. Through these embodied experiences we come to know the city (Lee/Ingold 2006: 76–77).

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EMBODIED KNOWING OF THE CITY

Ingold and Vergunst claim that »the movement of walking is itself a way of knowing« (2008: 2). Usually this notion has been attached to the anthropological studies of people who live in rural areas (e.g. Gray 1999) or indigenous people who live »with the nature« (Legat 2008). However, this bodily knowing is very relevant in urban environments as well: changing bodily functions that follow ageing must be adapted to the urban environment which is continuously transforming. Being located at 64:56 northern latitude Oulu is a city of different seasons. The summers are warm and full of light: in June and July it does not practically get dark at all. The winters are, on the contrary, dark and snowy. Lately, our late autumns, but also parts of the winters have been quite icy due to the global warming and variations of temperature (e.g. Tietäväinen/Tuomenvirta/Venäläinen 2010). So all city occupants walking, cycling or driving cars must pay attention to the changing weather conditions and particularly to the streets and pavements they are moving on. Jussi (man, aged 84) who cycles in the city centre year-around, described how the mild temperature in winter makes the streets slushed. When this is followed by lowering night temperatures, the slush is transformed into crumbled ice. However, this did not make Jussi to give up on cycling, nor did he use a biking helmet during winter time. Though he said he falls down with the bike each winter, he trusted that his body could cope with the consequences. It was more important for him to keep his routines. To enable the continuous bodily experiencing and embodied knowing of their everyday environment, the seniors want to stay mobile.

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In addition, the city centre of Oulu is currently under many constructions. A very controversial project of building underground parking area under the almost entire city centre started in 2012. Many of my go-walkers wanted to talk about this construction project, particularly Leena and Helmi, whose everyday lives were directly affected by the construction work. The house Helmi (aged 66) lived in was located only 50 metres from one of the entrances leading to the underground parking. When I went to pick her up, we looked at the construction site from her window. Though the sounds from drilling, digging and driving heavy wagons were very loud, Helmi ensured that that they did not bother her anymore. What did bother her, were the stones that were accidentally shot from the site. The constructions had also meant difficulties for the restaurants and cafes in the area which Helmi visited occasionally. Since she felt unfit to walk long-distances and consequently mainly used the services close to her home, the construction site affected her walk both by creating unpleasant soundscape outdoors and by blocking some of the routes she would otherwise use. Leena lived in the same area as Helmi, but for her the main difficulties that the constructions caused were on the other entrance of the underground parking area, close to the city library. Leena told me that she loves to read and therefore she goes to the library once a week. Since she had serious problems in her back as well as asthma, walking had lately become quite challenging for her. However, she tried to walk every day to keep up her mobility, and she used walking sticks to support her movement (see also Suopajärvi 2014). Therefore Leena carried her things, like the books, in a rucksack, which made the one kilometre walk to the library and back quite an effort. Leena said that the construction work prevented her from using her regular route and therefore made her trip even longer. The new route was also less attractive since Leena could not walk through a city park. To manage the longer trip she had to stop in a café on her way back home. The construction sites in the city centre are of course unavoidable, and for the more able-bodied citizens walking a bit longer does not make a difference, it does not prevent them from doing the things they like. Walking with the seniors made me realise how changes that may seem small for me, can be painful and even unmanageable for some of our fellow citizens. For example, for Taimi (woman, aged 83) who avoids unsafe places and »shady« people, tearing open a familiar street can prevent her from walking in this area. These changes affect seniors’ lives on many levels: they cannot afford to quit walking but simultaneously these changes can put huge obstacles on their ways (see also Lager/Van Hoven/Huigen 2013). The streets we walk on are quite different for people with different bodies which affects the power dynamics of urban places. Cities are often designed for more able-bodied, skilful and quick walkers which effects on how other kinds of

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city occupants experience themselves as users of urban places.Though seniors would be capable of moving around in the city, they might feel themselves displaced because for modern cities they are the »wrong« kinds of city occupants. (see Vergunst 2010) Due to the special nature of our joint walk, the attentions and conscious observations were much more present than they would have been during an everyday outing the seniors make alone or with their spouse or friend. Our discussions about places and buildings disclosed their thick knowledge on and personal history with them; though the »thickness« varied according to the years the seniors had lived and moved around in the city (e.g. Suopajärvi 2014). In addition, the nature of our walks affected our bodily practices and even the embodied experiences because in walking the social interaction happens »through the shared bodily engagement with the environment« (Lee/Ingold 2006: 79–80) including the shared and collaboratively created rhythms. This means that both my walking partners and I learned something new about the city through walking in it together. The seniors, for example, paid more attention to the lately added elements in the city centre, whereas I learned about the uneven ground of the city and the past events related to different places. Each participant in the walk-alongs, i.e. nine seniors with their own life stories and me with my own life story, brought into the situation our own knowledge about this particular place which has been constructed over time in the entanglements of our lived experiences and the socio-cultural narratives of the place (e.g. Pink 2011). Since I had lived in Oulu for 17 years and was still living there during the time of our walks, I had experienced the material and social changes that had happened in our city. But I feel like I have not gone through that kind of bodily changes that would affect how I move around in downtown. Walking and cycling is still easy for me; but ageing has perhaps made me more confident while being in the city and encountering strangers. Assumingly, my go-walkers have at some point in their lives shared some of my current experiences, and now their ageing bodies demand them to adapt to a new situation. If we consider ageing from a life course perspective, it could be defined as continuous adapting to the environment, which includes slower and faster phases. Tiina: Did you use to cycle [to work]? Taimi (woman, aged 83): Always. Tiina: Do you still cycle? Taimi: Not during wintertime, I didn’t cycle then either, and nowadays I don’t cycle at all, or ski. No, the knee prevents me from cycling, because when something happens that you’d had to stop very suddenly, so I don’t dare to do it.

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Because of our walking date, many seniors had to adapt to a bad weather in a way they would not have otherwise done. Though the weather was sometimes too snowy, too cold, or the pavements were too icy for the seniors to go out otherwise, they decided to walk with me. For example, Helmi (aged 66) complained before we left her apartment, how physically hard it is for her to walk further than to the closest grocery store. She explained that the reason was her weight and hot flushes due to her menopause. In the middle of our walk I pointed out how long we had been walking and how well she had done. She replied that the days are different: some days her knees and hips feel very painful. In addition, our discussions directed her concentration away from her body, she said. In our walk, Helmi’s body became more capable because we constituted a joint »vehicle« to take us around the city. Also Matti’s body tolerated wet dense snowfall because of our shared walk. Otherwise, he would have stayed home reading newspapers, he said. The way age affects the nonverbal communication between strangers in the city, was also disclosed in our walk-along. During the walk with Olavi (man, aged 89), we went to a grocery store because he needed to buy potatoes. When we were on the counter I went to collect Olavi’s shopping and started to pack them in his rucksack while he stayed close to the cashier ready to pay. However, when the cashier had read all the items she turned to me and announced the amount of the bill. I felt that she acted like I was Olavi’s personal assistant, and this way disregarded him. I did not discuss the incident with him so I do not know whether he had noticed what happened and interpreted the situation as I did. Perhaps our unordinary situation reminded the cashier of the relationship between seniors and their assistants, children or grandchildren, though through our bodily positions we tried to tell her that Olavi was in charge for paying. It seemed that while communicating in urban public places the bodily signals and socio-cultural discourses can be contradictory when we encounter people outside our own age-group. After the event, I felt angry, and thought a lot about how ageing adults are treated in everyday situations like this. Does it make them feel like incompetent citizens who do not entirely belong to the society? This kind of belonging is said to be one of the key elements of the well-being of the elderly. (Cattell/Dines/Gesler/Curtis 2008) Belonging to a place is as much about feeling comfortable in your everyday environment as it is about being valued as a member of your communities. Embodied knowing of a place is import part of this belonging, and it requires staying mobile. While moving unexpected social encounters may occur; and we can all have an impact on whether these spatial events are experienced as comfortable or distressing for our different fellow city occupants (see also Cattell/ Dines/Gesler/Curtis 2008; Jiron 2010; Green/Jones/Roberts 2014).

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EXPERIENCES THROUGH TEMPORALITIES

The significance of memories and past experiences got me a little bit by surprise in our walks. Especially Matti (man, aged 73) and Olavi (man, aged 89) who had both lived most of their lives in or very close to the city centre of Oulu were like guides who took me to the city’s past. For Matti the walk was very autobiographical (see also Asikainen/Mäkinen 2013). In the beginning of our tour, as we were walking towards the pedestrian mall, called Rotuaari, Matti described what the places on our way had looked like during and after the bombings of the Second World War. The view he painted in front of his and my eyes differed quite substantially from the view we were physically looking at. Walking abreast meant that my senior walking partners and I shared the same view but at the same time our different life stories constructed our views to be quite different. Through their stories the seniors shared glimpses of their multi-layered cityscapes with me (see also Ingold/Vergunst 2008). The temporal layers of memories and sensory experiences were constantly shifting during our walks (see also Kusenbach 2003; Edensor 2008; Pink 2009). With Matti we felt the moist weather on our skins and the wet pavements under our feet; we heard the sounds of delivery vans and other people walking and cycling on the streets. Simultaneously, through reminiscing about his childhood Matti heard the bombings and felt the darkness of the air-raid shelter. In addition, he talked for instance about the small European bakeries he wished we could have in the city centre bringing in the smells, sounds and visual elements of these places. Thus the immediate embodied sensory experiences were entangled with sensory memories when we stopped for looking at and talking about the places more carefully. Pink (2009) also underlines the meanings of senses entwined with memories in biographical research. She writes that »our experiences of place – and its social physical and intangible components – are inextricable from the invocation, creation and reinvestment of memories« (Pink 2009: 38). The local discourses about the highly valued visual elements of the city were brought up during the walks, especially about the image of Oulu as a seaside city. Many seniors claimed that Oulu has forgotten its past life with the sea when the main livelihoods were based on exporting wood and turf through the docks of Oulu (e.g. Manninen 1995). Though the livelihoods have changed, the seniors wanted to preserve the value of this history, for example, by cutting down the bushes that were now blocking the views to the sea. This way the city could also value the life histories of the seniors. For instance, the market place which nowadays is quite empty during winter months used to be full of life year-round because fishers came with their haul straight to its piers. However, in summer time the

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waterfront of the market place is still crowded, not by fishers, but by city dwellers and tourists who enjoy sunny weather and social life there. Since some of the seniors did not spend much time in the city during summer months, they felt that the importance of the market place had decreased. Certainly, the place could be in more regular use year-round, but its popularity in summer suggests that it is still a very essential part of the urban life in Oulu. Figure 2: On the left: Market place of Oulu in 1930’s; on the right: Market place of Oulu, January 2015.

Sources: Uuno Laukka’s collection, The Northern Ostrobothnia Museum; Tiina Suopajärvi 2015

In a way, the seniors also participated in constructing the public hang-out places as less suitable for the elderly citizens. They said that they did not spent time sitting for instance on the summer patios of the cafes and bars at the market place, or elsewhere in the city centre. They were thus not observing the city through staying in one or a couple of spots; instead their sensory and visual experiences were constructed through movements: they were moving together with other mobile city occupants; or they were adjusting their own movements to the stable elements in the city. These kinds of mobile embodied practices, like walking to buy groceries, create different meanings of a place than when it is merely observed from a distance (e.g. de Certeau 1988; Ingold 2000). Each movement, perception and sensory experience through these practices is interwoven with the earlier experiences forming a multi-layered relationship with place. Finnish scholar of art history Kirsi Saarikangas argues that all these experiences come together in visual sensations: »Looking, turning the gaze, movement and moving gaze are essential in spatial experience; but looking is simultaneously reflexive, categorizing and objectifying as well as absent-

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minded and random. Habits and routines define spatial practices and spatial meanings at least as much as attentions and observations, or even more.« (Saarikangas 2006: 85 [translated from Finnish by the author])

The seniors described how they mainly visited the city centre in order to run their everyday errands. In other words, they were quite practice-oriented walkers who had a clear purpose for their carefully planned city visits, and who usually used the shortest and quickest routes to the city centre and back (see Ylipulli/Suopajärvi 2013). However, for some of them the city visits were loaded with social meanings, and they could therefore take longer routes and spend some time walking around in the city centre. These seniors were looking for opportunistic interactions with their acquaintances or wanted to observe other city occupants and the city life in general (see Green/Jones/Roberts 2014). This kind of social walker could also, with some distinctions, be called the flâneur, a famous 19th century Parisian figure from poet Charles Baudelaire; which has later been widely discussed in urban studies, especially by philosopher Walter Benjamin (1983 [1969]). Raymond Lucas (2008) interprets Benjamin’s view on flâneur as a figure who finds joy and comfort in modern urban environment. This male figure enjoys to see and to be seen while promenading around the city. Though the 19 th century Paris is a quite different environment compared to the relatively small northern city of Oulu in the 21st century, what is notable and relevant for my study, is the agency of the flâneur. As Lucas writes: »The flâneur inscribes upon the city, writing rather than reading it. This is an important distinction: his spectatorship is an active one, which imposes will upon the city streets, creating a narrative as he goes along« (Lucas 2008: 171). Some of my female go-walkers expressed the feeling of certain amount of unpleasantness when they were seen in the public. This is because ageing as a negative social attribute is inscribed in their bodies while they are on the move. This experience is controversial with their strong need to stay mobile and to keep on having active social life. Through their embodied experiences they feel like unsuited occupants of public urban places (see Suopajärvi 2014). Consequently, they are far from dandy-like flâneurs in their own everyday practices which include using the city as a location of the needed services. In addition, in their mundane walks the urban place is experienced more through unconscious routines than through observing the city and other city occupants with attention (e.g. Saarikangas 2006). Nevertheless, no matter how the urban public places are experienced, all walkers actively write on the city, and therefore construct it as lived personal and shared space (see also Ingold/Lee 2006). The walks we took together, were quite unusual spatial events (e.g. Massey 2005; Pink 2011). They transformed both

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the seniors and me as flâneurs in a sense that we were strolling around our home city in order to look at it. And through our strolling, the aesthetics of the place started to unfold. Especially Kaarina (woman, aged 72) wanted to stand on the newly renovated pedestrian mall and look at it very carefully. Tiina: I think you mentioned that in everyday walks you don’t look around that much, that you just go from one place to another. Kaarina: Yes, as if you were in a hurry, or you actually are in a hurry, and then of course when there’s lots of people you have to concentrate on the walking so that you don’t pump into others and like, and then you don’t really look around. […] [T]hat big screen, I haven’t really looked at it before that is it nice. […] The benches are good, I would like to sit on them but often they are full of people with whom … I don’t know, now that I’m not here in summertime that are these full of boozers, then it is not exactly an eye candy and nobody else can use them if they start to nest in these places. However, these benches look alright. […] And I must say that this Rotuaari is quite good looking now.

Compared to the other seniors, Kaarina emphasized the aesthetic values of the city. She often stopped for viewing the current cityscapes instead of, for instance, telling stories related to the buildings and places. To my surprise she was also the only one who brought up the beauty and the meaning of the river Oulujoki. The city of Oulu was established in 1605 on the river delta, and the river has been important part of the area’s livelihoods like fishing, but also an important channel for transportation. Kaarina had lived over 40 years on the river bank, and this home environment affected on her perceptions substantially. On the contrary, her husband Matti, who had lived his childhood and teenage years in the city centre, was more attached to the urban views. Those seniors who lived next to the urban parks underlined the importance of seeing something green from their windows though they did not talk about enjoying the parks by sitting in them for example (see also Galčanová/Sýkorová 2015). Ingold (2000) emphasises the meanings of practices in a place when we construct our relationship with it. For some these practices mean being in their current everyday environments, while for others, like for Matti, they have taken place in the environments that do not necessarily exist anymore. The temporalities are thus extremely significant when we aim to understand the complexity of the place-making of people with long personal histories with a place. If we think about senses as separated it could be stated that the visual faculty was highly emphasized in my study. Other senses were of course implicitly pre-

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sent, but in addition to vision only sounds and thus hearing were somewhat discussed during our walks. The seniors who lived in the city centre described how quiet their houses are, thus they found the soundscape of their home environment very pleasing. Sometimes obtrusive sounds were however carried into their homes, like engines of motorbikes or people making noise when they come from the bars or sit on the patios. Through these sounds the public and private spaces in the city centre were connected in a way that was not always appreciated (see also Ylipulli/Suopajärvi 2013). While we were on the move Helmi (woman, aged 66) talked about the sounds that skateboarders make: Tiina: What do think of this new Rotuaari [pedestrian mall]? Helmi: At first I didn’t like it but now I do, except that the teenagers, sometimes in summer time they skateboard here, and that makes terrible banging and rumble when they come down from that [stage]. It is not nice when you want to stroll around in peace. But I don’t know, there aren’t that many of them anymore, what is the reason for that.

The everyday soundscapes from the past were rarely mentioned in our walkalongs. Instead exceptionalities, like bombings were recalled as important sensory memories. However, when we had stopped to talk about a place that is nowadays a city park called Mannerheiminpuisto, Olavi (man, aged 89) told me how the place had been empty for a while after the fire had destroyed the buildings of the whole block (see also Niskala/Okkonen/Kalleinen 2008). As a boy he used to walk across the empty plot to school. »There was only gravel, there was nothing green in here«, Olavi described the place. While he remembers about walking on the gravel the past soundscape comes alive. Some other seniors also reminisce about how they used to move in the places we were now walking on or looking at: how they used to run to catch a bus; or to jump and climb in the ruins of destroyed houses. The sensory memories were tightly connected to the embodied movements. In general people are quite used to describing what we see; likewise talking about what the sounds, is quite easy. What is smelled, tasted or felt through tactile senses are verbalized less, if people are not asked to concentrate particularly on these sensory practices. Assumingly, during our walks there were no unusual smells or loud noises present in the city for the seniors and me to sense. Tim Endensor sees the way cities try to exclude disturbing senses from urban space as part of managing and regulating them (e.g. Endensor 2008: 131). In our walks, some of us felt the coldness on our skin and also verbalized it, but many sensorial experiences are left out of the textual parts of my research simply because I am

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unable to verbalize them. Nevertheless, they all are extremely important while we experience and aim to understand urban places.

C ONCLUSION Through this article, I have invited readers to join the seniors and me in our shared walks in order to understand how ageing is experienced through walking in the city, and how this knowledge on experiences is created in ethnographic walks. This is based on the anthropological perception that ethnographic studies both open up views to the everyday realities and experiences of our study participants; and are spaces where new knowledge is generated together (e.g. Davies 2002; Pink 2009). By co-walking, the complexity of seniors’ relationship with their home environment became disclosed. Memories, rhythms, views, social encounters, pavements underneath our feet, as well as the imaginations of the possible futures, were tightly entangled in the movement and thus affected how the seniors experienced walking in the city. Most of them stressed their relationship with this place as a long-term process. In addition, they focused on their changing ways of using urban public places related to their transforming bodies, but also to the socio-cultural discourses about ageing as something that happens primarily in private spheres. These two sides of ageing are contradictory: both symbolic and concrete constructions of public cities as places for young urbanites can in worst case prevent ageing citizens to stay on the move which is so crucial for them. We all age constantly, but for the seniors ageing means that they must very carefully consider about their futures as city occupants. Walking underlined the embodied meanings of ageing and experiencing the city. The possibility to keep knowing the city through everyday embodied practices enhances seniors’ feelings of autonomy, of comfort in using public places, and of being valued as competent citizens. For instance, not being able to walk or cycle to get medical service can be perceived as loosing sense of independence. The socio-cultural atmosphere in Finland is very individualistic, and especially older generations are socialized to manage their everyday lives on their own. This is one reason why the discourse of ageing citizens as burdens for the society is highlighted in our country, and to some extent the seniors themselves also strengthen this discourse by, for example, claiming that taking a taxi to get the needed services makes them less competent citizens. On the other hand, they re-

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quested higher appreciation of the history of the city; and this way valued themselves as expert citizens because of their own, sometimes lifelong histories with Oulu. Ethnographic methods, like sensory ethnography and walk-along, require careful reflexive reading when we aim to understand how researchers participate in producing knowledge on, for example, ageing. According to Pink (2009) the experiences and memories of researchers contribute in the making of ethnographic place. The way I experienced the seniors as sometimes more frail or disregarded city occupants, and myself as someone to protect them, is entwined in the interpretations I made of their experiences on being and moving in the public. Walking with seniors made me also experience places that were familiar to me in a new way. For example, though I am sometimes annoyed by all the construction work in the city centre, they do not prevent me from going to the places I want to. However, sometimes they can be quite life-changing for the less able-bodied city occupants. This means that there are not just different experiences on the same place but there are different places: the city of less-able bodied city occupants is a different city than the one where the more able-bodied city dwellers live in. This is important to understand also by the experts who design and make our cities. Walk-alongs unfolded the meanings of the city’s material elements in the experiences on ageing. Using a lift or stairs directed the seniors to ponder about their future embodied practices in public places, and consequently themselves as citizens with or without autonomy. In addition to ageing in place or places of ageing, we should thus consider how we age with places since it is a two-way relationship: in a sense that material places are full of meanings and attachments which affect how ageing becomes experienced. Through their everyday walking in the city, the seniors expressed their right to be independent users of public places, and showed that though they might not be the »normative« urbanites in the plans of city architects and decision-makers, they will continue to be on the move.

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Recycelte Fernseher und »abgestochene« Computer Zur Erforschung von Medienerfahrungen von Frauen 60+ durch Interaktionen mit Medienobjekten während ›Walking Interviews‹ in Wohnräumen B ARBARA R ATZENBÖCK

Wie sehen Prozesse und Strategien der Nutzung und Deutung von Informationsund Kommunikationstechnologien (IKT) durch ältere Frauen in Österreich aus? Und inwieweit werden diese Prozesse und Strategien durch individuelle medienbiografische sowie gesellschaftlich geteilte generationsspezifische Erfahrungen bestimmt? Diese Fragen sind Gegenstand einer aktuellen empirischen Studie, die im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes Erzähltes Altern in Stadt und Land: Kulturelle Narrative, Prozesse und Strategien im Lebensverlauf1 durchgeführt wird. Unter Informations- und Kommunikationstechnologien werden im Kontext der Studie sowohl ›alte‹ Medientechnologien wie Radio oder Fernseher als auch ›neuere‹ Medien wie Computer, Tablet oder Handy verstanden. Die Studie knüpft damit an eine vom United Nations Development Programme (2001: 2) entwickelte Definition an, die IKT als »a varied set of goods, applications and services that are used to produce, store, process, distribute and exchange information« beschreibt. Über die wissenschaftlichen Interessen einzelner Forschungsbereiche wie etwa der Medienbiografieforschung oder der Alter(n)sforschung hinausgehend ist 1

Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Roberta Maierhofer (Zentrum für Inter-Amerikanische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz), unterstützt durch Fördergelder des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projektnummer: 15849).

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die Frage nach der Nutzung und Deutung von IKT durch ältere Frauen auch aufgrund mehrerer gesellschaftlicher Entwicklungen von zunehmender Relevanz. Konkret lassen sich in diesem Zusammenhang drei zentrale Einflussfelder benennen: erstens die voranschreitende Mediatisierung, die sich Kübler zufolge als eine »völlige Durchdringung aller Lebensbereiche von den Medien« (2009: 27) charakterisieren lässt, zweitens der demografische Wandel im europäischen Raum (vgl. z. B. European Commission & Eurostat 2011: 6), der zu einer signifikanten Zunahme älterer Bevölkerungsgruppen führt, und drittens die sogenannte ›digitale Spaltung‹ (›digital divide‹), also das Auseinanderklaffen von Zugang zu und Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien zwischen verschiedenen sozialen Gruppen (vgl. z. B. Lam/Lee 2006: 178; Abad 2014; Charness/Boot 2009; Schweiger/Ruppert 2009). Besonders der letztgenannte Kontext ist für die Frage nach der Nutzung und Deutung von IKT durch ältere Frauen wesentlich. Denn letztlich bedeuten unterschiedliche Zugänge zu und Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien aufgrund von Bildungschancen, Lebensverlauf, persönlichen Affinitäten, sozio-ökonomischer Situation oder Generationenlage eine erhebliche Herausforderung in Hinblick auf gesellschaftliche Chancengleichheit in einer zunehmend digitalisierten Welt. Zur digitalen Spaltung zwischen Alt und Jung in Österreich – und auch in anderen europäischen Ländern – sowie zu erheblichen Unterschieden in der Nutzung digitaler Medien wie dem Internet zwischen Männern und Frauen gibt es zahlreiche statistische Belege (vgl. z. B. Eurostat 2012: 3; Statistik Austria 2013). Vergleichsweise wenig ist hingegen darüber bekannt, warum ältere Menschen IKT wie beispielsweise das Internet nutzen oder nicht nutzen, auf welche Weise dies geschieht und welche Bedeutungen diesen Technologien im Alltag zugeschrieben werden. Schorb, Hartung und Reißmann bringen diesen Umstand auf den Punkt, wenn sie festhalten: »Die Frage, wie ältere Menschen mit Medien umgehen, welche Vorstellungen und Haltungen, Bedürfnisse und Erwartungen ihren Zugang zu und Umgang mit Medien moderieren, rückt zwar zunehmend auf die Agenden der Wissenschaft, doch ist der Kenntnisstand bislang noch vage.« (Schorb/Hartung/Reißmann 2009: 11)

Weiteres Wissen über die Bedeutungen, die IKT durch ältere Menschen zugeschrieben werden, ist jedoch dringlich notwendig, um Strategien für mehr gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten in einer digitalen Welt für alle entwickeln zu können und um stereotypische Vorstellungen von ›den Alten‹ und ›den (neuen)

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Medien‹ in Frage zu stellen. Die empirische Studie des Forschungsprojektes Erzähltes Altern in Stadt und Land nimmt daher die Medienerfahrungen und zusammenhängende Bedeutungskonstruktionen von österreichischen Frauen im Alter von 60-70 Jahren in den Blick – einer Gruppe, die im Vergleich zu gleichaltrigen Männern noch stärker von der digitalen Spaltung in Bezug auf das Internet betroffen ist (vgl. Statistik Austria 2014). Im Forschungskontext ist dabei eine der zentralen Fragen, wie man sich alltäglichen Bedeutungskonstruktionen in Bezug auf IKT nähern kann. Geht man mit Bruno Latour davon aus, dass Menschen und (Medien-)Objekte nicht getrennt voneinander, sondern ›zusammen‹ handeln und konzeptualisiert IKT daher als »quasi-objects« (Latour 1993: 55), wird deutlich, dass es sinnvoll ist, sowohl Personen als auch Medienobjekte als Teile des Untersuchungsgeschehens zu sehen. Denn wie Burkard Schäffer – ebenso im Anschluss an Latour – ausführt, gilt es zu bedenken, »dass den Medientechnologien selbst habituelle Handlungsaspekte eingeschrieben sind […], d[ie] sich beispielsweise im Design, im erwartbaren Handling, in der usability und auch den semantischen Bezügen« (Schäffer 2009: 43) zeigen. Eine Möglichkeit, das gemeinsame alltägliche Handeln von Personen und Medienobjekten zu untersuchen, sind sogenannte ›Walking Interviews‹, die in Wohnräumen geführt werden. Dabei handelt es sich um Gespräche in Bewegung zwischen – im Falle dieser Studie – Forscherin und Studienteilnehmerin, die während eines Rundgangs durch Haus oder Wohnung der letzteren geführt werden. Anknüpfend an diese Überlegungen geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, inwieweit Walking Interviews ein adäquates methodisches Mittel zur Erforschung von Medienerfahrungen und -deutungen von Frauen 60+ sind. Insbesondere wird dabei auf das Reflexionspotential, das die Auseinandersetzung mit Medienobjekten während der Walking Interviews mit sich bringt, eingegangen. Neben theoretischen Ausführungen werden vor allem Auszüge aus geführten Walking Interviews mit Frauen 60+ zu Medienerfahrungen und -deutungen dazu genutzt, dieses Reflexionspotential zu veranschaulichen. Bevor jedoch näher auf Walking Interviews in Wohnräumen als Mittel zur Erforschung von Medienerfahrungen älterer Frauen eingegangen wird, wird im Sinne einer Kontextualisierung die Gesamtstudie überblicksartig vorgestellt.

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D IE G ESAMTSTUDIE : B LICKE ÄLTERER F RAUEN

AUF

M EDIENERFAHRUNGEN

Die empirische Studie des Forschungsprojektes Erzähltes Altern in Stadt und Land nimmt, wie eingangs festgehalten, einerseits individuelle medienbiografische und andererseits gesellschaftlich geteilte generationsspezifische Erfahrungen älterer Frauen in Bezug auf unterschiedliche Informations- und Kommunikationstechnologien in den Blick. Im Sinne theoretischer Bezugspunkte dienen dabei Roberta Maierhofers (2007) »Anokritizismus«-Ansatz und Karl Mannheims (1952) Konzept der »Generationenlage« als wichtige Rahmen. Ursprünglich im Bereich der Amerikanistik entwickelt, beschreibt Anokritizismus einen interpretatorischen Ansatz, der anstelle von biologischen oder chronologischen Aspekten kulturelle Aspekte des Alter(n)s sowie die Intersektionalität der sozialen Kategorien Alter und Gender in den Vordergrund rückt. Darüber hinaus betont Anokritizismus die Bedeutung individuell gelebter Erfahrungen des Alter(n)s, die normative gesellschaftliche Vorstellungen in Frage stellen können (vgl. Maierhofer 2007). Mannheims Konzept der Generationenlage hingegen lenkt den Fokus auf kollektive Erfahrungen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Zeiten und Räume sowie auf deren langfristige Wirkmächtigkeit. Zentral ist dabei die Annahme, dass geteilte sozio-ökonomische Erfahrungen der Jugendzeit eine Generation entscheidend und auf ähnliche Art und Weise prägen. Ecarius, Eulenbach, Fuchs und Walgenbach bringen diese Idee auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass Mannheim zufolge »Mitglieder [einer] ›Geburtsgeneration‹ in einem losen Verbund nebeneinander leben, aber aufgrund ihrer gemeinsamen Erfahrungen im ökonomischmarktstrukturierten Gefüge einer Gesellschaft ähnliche Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster entwickeln« (2011: 33). Die Vorstellung einer derartigen, generational geprägten Wahrnehmungsstruktur lässt sich auch auf den Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologien übertragen, wie dies etwa Schäffer mit seinem Konzept »generationsspezifischer Medienpraxiskulturen« (2009) getan hat, und wie dies auch in dieser Studie versucht wird. Schäffer zufolge lassen sich im Kontext der Medienpraxiskulturen älterer Menschen Handlungsweisen ausmachen, die sich von jenen jüngerer Personen unterscheiden. Hierzu zählte in einer von Schäffer durchgeführten Gruppendiskussions-Studie etwa die Ablehnung eines ›trial and error‹-Zugangs durch ältere Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die eher ein »Modell des gründlich geplanten und zuverlässig durchgeführten Handelns« (Schäffer 2009: 46) favorisierten. Das Ziel der Kombination von individuell und kollektiv ausgerichteten analytischen Rahmen ist es, unterschiedliche Erfahrungsebenen im Lebensverlauf zu

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berücksichtigen und allzu vereinfachenden Interpretationen des empirischen Materials in die eine oder andere Richtung vorzubeugen. Denn sowohl individualbiografische Erfahrungen (z. B. der berufliche Kontext) als auch generational geprägte Perspektiven im Sinne von Mannheims »Generationenlage« (1952) spielen im Zusammenhang mit Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf IKT eine Rolle. Die zentrale Frage dabei bleibt jedoch, in welchen Fällen und in welchen Kontexten individuelle oder kollektive Erfahrungselemente in den Vordergrund rücken und wie sie gemeinsam innerhalb einer bestimmten Biografie zu einem Bedeutungsgeflecht verknüpft werden. Um diese Bedeutungsgeflechte in Bezug auf IKT empirisch zu untersuchen, werden in der Studie unterschiedliche qualitative Forschungsmethoden eingesetzt: ›Life Graph‹-Gespräche, semi-strukturierte Leitfadeninterviews und Walking Interviews in den Wohnräumen der Gesprächspartnerinnen. Diese drei Methoden stellen ineinandergreifende Teile eines Interviewtermins dar. Life Graphs sind grafische und schriftliche Darstellungen des eigenen Lebenslaufs in Bezug auf ein bestimmtes Thema, in diesem Fall IKT, die durch die Studienteilnehmerinnen eigenhändig angefertigt werden.2 Im Falle dieser Studie füllen die Teilnehmerinnen den Life Graph zu ihren Medienerfahrungen vor dem gemeinsamen Termin aus und haben diesen dann bei dem Treffen zur Hand. Zu Beginn des Interviewtermins bittet die Forscherin die Teilnehmerin dann, ihren Life Graph zu beschreiben. Zweck des Life Graph-Gesprächs ist dabei nicht die präzise Erfassung bestimmter Ereignisse in Bezug auf Medien, sondern vielmehr eine generelle biografische Rahmung der gesamten Interviewsituation. Im Anschluss an das Life Graph-Gespräch findet ein semi-strukturiertes Leitfadeninterview statt, in dessen Rahmen unterschiedliche Themen in Zusammenhang mit der Nutzung und Deutung von IKT behandelt werden. Hierzu zählen weitere medienbiografische Erinnerungen ebenso wie Häufigkeiten, Standorte, Zeiten und Nutzungsspektren von Geräten oder Einschätzungen von Vor- und Nachteilen verschiedener Medientechnologien. Den dritten Teil des Interviewtermins stellt schließlich ein gemeinsames Walking Interview in den Wohnräumen der Stu-

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Die Studienteilnehmerinnen erhalten im Vorfeld des Gesprächs ein Blatt Papier mit einer eingezeichneten X- und Y-Achse. Auf der X-Achse können Zeitbegrenzungen im Sinne frei definierbarer Lebensphasen und auf der Y-Achse subjektiv bedeutsame Ereignisse eingezeichnet werden, im Kontext dieser Studie etwa der Erwerb bestimmter Medienkompetenzen oder der Zugang zu bestimmten Mediengeräten. Als Beispiel für einen Life Graph siehe etwa Transitions in practice: climate change and everyday life (The Shower Bath Path o. J.).

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dienteilnehmerin dar, in dessen Rahmen vertiefend über die dort vorhandenen Informations- und Kommunikationsgeräte wie beispielsweise Radio, Fernseher, Telefon oder Computer gesprochen wird. Eröffnet wird das Walking Interview dabei immer mit der Frage, ob die Interviewpartnerin damit einverstanden wäre, sich gemeinsam anzusehen, »was es alles an Mediengeräten (Computer, Fernseher, Radio, Festnetztelefon, Handy etc.) in der Wohnung gibt«. In weiterer Folge gehen die Interviewerin und die Interviewpartnerin dann unter der Führung von letzterer von Raum zu Raum, bleiben bei von der Studienteilnehmerin identifizierten Mediengeräten stehen und sprechen über ebendiese.3 Die Partnerinnen für die Life Graph-Gespräche, semi-strukturierten Leitfadeninterviews und Walking Interviews in den Wohnräumen sind Frauen zwischen 60 und 70 Jahren mit unterschiedlichen sozio-ökonomischen und beruflichen Hintergründen aus dem Bundesland Steiermark4. An der Untersuchung nehmen somit Frauen im sogenannten ›dritten Lebensalter‹ (›third age‹) (vgl. z. B. Westerhof 2009: 55) teil. Mit der Beschränkung der Altersspanne der Studienteilnehmerinnen auf 60 bis 70 Jahre wird der Tatsache Rechnung getragen, dass diese Frauen im Zusammenhang mit IKT in generationaler Hinsicht ein ähnliches potentielles Erfahrungsspektrum aufweisen können und somit als für Vergleiche eher geeignet erscheinen. So hat die Internetnutzung in Österreich etwa ab den frühen 2000er Jahren stark zugenommen (vgl. Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung (GfK) Austria 2012: 2). Damit besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass sich vor dem Renteneintritt berufstätige Frauen dieser Altersgruppe im Arbeitskontext entweder diskursiv oder handlungspraktisch bereits mit ›neueren‹ IKT wie Computer und Internet auseinandergesetzt haben. Die Rekrutierung der ersten Interviewpartnerin für diese Studie erfolgte durch einen bestehenden Kontakt einer Kollegin am Zentrum für Inter-Amerikanische

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Das Walking Interview wird dabei – ebenso wie das vorangegangene Life Graph-Gespräch und das Leitfadeninterview – mit Einverständnis der Interviewten digital aufgezeichnet. Zudem macht die Interviewerin nach erfolgtem Einverständnis ihrer Gesprächspartnerin Fotos von den in den Wohnräumen vorhandenen Mediengeräten. Die Steiermark bietet sich insofern als Ausgangspunkt für eine empirische Studie zur Nutzung und Deutung von IKT durch ältere Frauen an, als die steirische Situation in Bezug auf IKT für Österreich als typisch angesehen werden kann. So nutzen laut Erhebung der Statistik Austria im Jahr 2012 etwa 80 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher das Internet. Mit einem Anteil von 78,5 Prozent an Internetnutzerinnen und nutzern im Jahr 2012 stellt die Steiermark (neben Nieder- und Oberösterreich) eines jener drei Bundesländer dar, die dem österreichischen Durchschnitt der Internetnutzerinnen und -nutzer am nächsten kommen.

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Studien der Karl-Franzens-Universität Graz. Weitere Teilnehmerinnen wurden durch die Empfehlung dieses Erstkontakts oder späterer Interviewpartnerinnen kontaktiert. Grund für dieses Vorgehen und das Nutzen von eigenen sozialen Netzwerken der Forscherin war die Tatsache, dass der Zugang zu privaten Wohnräumen einen gewissen Vertrauensvorschuss von Seiten der Interviewpartnerinnen erfordert – völlig Unbekannte lässt man wohl eher ungern für mehrere Stunden in sein Haus oder seine Wohnung. Interviewte 5 und Interviewerin lernten sich jedoch in den meisten Fällen erst beim Erhebungstermin persönlich kennen. Dies hatte zur Folge, dass dem Life Graph-Gespräch, dem Leitfadeninterview und dem Walking Interview in den Wohnräumen häufig eine längere Phase des Small Talks bei einer Tasse Kaffee oder Tee vorausging. Diese Aufwärmphase schien besonders wichtig zu sein, um – zusätzlich zu der Empfehlung durch eine/n Dritten vorab – die Vertrauenswürdigkeit der Forscherin zu etablieren.6

ANNÄHERUNGEN AN M EDIENERFAHRUNGEN VON F RAUEN 60+ DURCH W ALKING I NTERVIEWS IN W OHNRÄUMEN UND I NTERAKTIONEN MIT M EDIENOBJEKTEN Wie eingangs angeführt, können das Medienhandeln von Personen und die (Medien-)Objekte nicht gänzlich getrennt voneinander gedacht und analysiert werden. Mit Latour gesprochen: »Consider things, and you will have humans. Consider humans, and you are by that very act interested in things« (1991: 20). Dies gilt zum einen, da Dingen ein »Aufforderungscharakter für Handlungen« (Bosch 2010: 23) innewohnt. Dies bedeutet, dass Dinge selbst bestimmte menschliche Handlungen näher legen als andere, wie auch Schäffer in Bezug auf Medientechnologien ausführt, wenn er auf deren »erwartbares Handling« (2009: 43) verweist. Neben diesem unmittelbaren Effekt der Handlungsstrukturierung lässt sich durch die Auseinandersetzung mit Objekten darüber hinaus mehr über die Bedeutungskonstruktionen von Personen in Erfahrung bringen (vgl. z. B. Appadurai

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Da die ersten Interviewpartnerinnen insbesondere in Bezug auf ihre vormalige berufliche Position eine eher homogene Gruppe darstellten, wird im Gesamtverlauf der Studie insbesondere Wert auf größtmögliche Diversität in diesem Bereich gelegt. Auch Diversität in anderen Bereichen wie Bildungsgrad, sozio-ökonomischer Lage und Wohnort (Land/Stadt) wird angestrebt, um eine möglichst große Anzahl unterschiedlicher Fälle und Erfahrungen in den Blick nehmen zu können. Häufig stellten die Interviewpartnerinnen hier detaillierte Fragen zum Forschungsprojekt und zur Arbeit der Forscherin.

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1986: 5; Turkle 2008: 2f.). Wie Bosch ausführt, sind Dinge »in Funktion und Gestaltung sozial konstituiert – damit spiegeln sich in den Dingen soziales Wissen, soziale Relevanzen sowie Ziel- und Wertsetzungen« (2010: 23). Eine Möglichkeit, diesen Überlegungen zum Zusammenspiel von Menschen und (Medien-)Objekten bei der Erforschung von Medienerfahrungen älterer Frauen in methodischer Hinsicht Rechnung zu tragen, stellt, wie zu Beginn festgehalten, die Durchführung von Walking Interviews in Wohnräumen dar, da diese unter anderem Gelegenheit für Interaktionen mit Mediengegenständen bieten. Allgemein lassen sich Walking Interviews als Gespräche in Bewegung beschreiben, wobei die Umgebung als Gesprächsstimulus wirken kann (vgl. Anderson 2004: 257; Jones/Griff/Evans/Gibbs/Ricketts Hein 2008; Evans/Jones 2011: 849; Holton/Riley 2014: 60). In diesem Sinne sind Walking Interviews eine Form ›mobiler Methoden‹ (›mobile methods‹), die in unterschiedlichen disziplinären Kontexten, u. a. der Sozialgeografie, Soziologie, Sozial- und Kulturanthropologie und Ethnologie angewendet werden.7 So argumentiert etwa die Sozialanthropologin Sarah Pink, den ethnografischen Forschungsprozess als solchen als Form und Praxis des »place-making« (2008: 179) zu verstehen, an dem sowohl Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer als auch Forscherinnen und Forscher beteiligt sind. Unter anderem durch das Verfolgen der Wege von Informantinnen und Informanten wird es Pink zufolge möglich, Orte zu schaffen, die jenen der Informantinnen und Informanten ähnlich sind und so darüber hinaus das eigene »being emplaced« (2008: 193) als Forscherin oder Forscher zu erfahren. Im Rahmen ethnografischer Forschung wurde darüber hinaus von Margarethe Kusenbach mit dem »Go-along« (2003; 2006) eine dem Walking Interview ähnliche mobile Methode entwickelt. Als Go-along bezeichnet Kusenbach die Begleitung von Informantinnen und Informanten bei »routine trips« bei gleichzeitiger Beobachtung und gemeinsamem Gespräch (vgl. Kusenbach 2006: 285). Bei der Begleitung von Informantinnen und Informanten bei deren gewöhnlichen Ausflügen können, so Kusenbach, insbesondere »streams of experiences« und Praktiken erforscht werden (ebd.: 463). Mobile Methoden haben in den vergangenen Jahren generell zunehmende Aufmerksamkeit erfahren (vgl. z. B. Evans/Jones 2011: 849; Kusenbach 2012: 25).

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Ich danke an dieser Stelle Anne Leonora Blaakilde (Universität Kopenhagen), die mich erstmals auf die Verbreitung mobiler Methoden in verschiedenen disziplinären Kontexten aufmerksam und u. a. mit den Arbeiten von Sarah Pink bekannt gemacht hat.

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Als eine Variante8 von Gesprächen in Bewegung zu Forschungszwecken wurde das Walking Interview in der Vergangenheit bereits in verschiedenen thematischen Kontexten eingesetzt, mehrfach auch, um Alltagspraktiken und mit ihnen verbundene Lebenswelten zu untersuchen (vgl. Ricketts Hein/Evans/Jones 2008: 1266). Bisher wurden Walking Interviews jedoch in den meisten Fällen in Outdoor-Kontexten durchgeführt. Beispiele hierfür sind unter vielen anderen etwa die Arbeiten von Anderson (2004) oder Jones et al. (2008). Bei dem Einsatz von Walking Interviews in Wohnräumen von Interviewpartnerinnen und -partnern handelt es sich meiner bisherigen Kenntnis nach um einen vergleichsweise unüblicheren Zugang, weshalb hierzu – etwa Roberts Einschätzung nach – auch noch ausführliche Fachliteratur fehlt.9 Eine der Ausnahmen, bei denen eine Form des Walking Interviews auch in Wohnräumen angewandt wurde, stellt eine Studie von Sarah Pink zu Gender, Haushaltsgegenständen und Alltags(er)leben dar, in der sie gemeinsam mit ihren Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern »tours of the home« (2004: 1) durchgeführt und diese mit einer Videokamera aufgezeichnet hat. Wenngleich Walking Interviews in Wohnräumen im Vergleich zu Outdoor-Kontexten bislang seltener angewandt wurden, kann ihr Einsatz auch dort potentiell zu reichem Datenmaterial führen, wie Pinks Studie beispielsweise in Bezug auf Selbstrepräsentationen von Studienteilnehmerinnen (ebd.: 1) und Repräsentationen des Alltagslebens (ebd.: 32) gezeigt hat. Ein genereller Vorteil von Gesprächen in Bewegung zu Forschungszwecken liegt häufig darin, im wahrsten Sinne des Wortes ›näher‹ an der alltäglichen materiellen und ideellen Lebensrealität der Interviewpartnerinnen oder -partner zu sein (vgl. z. B. Ricketts Hein et al. 2008: 1270). So sind Gespräche in Bewegung zu Forschungszwecken im Zusammenhang mit der Erforschung kulturell geprägter Relevanzen im Sinne von Alfred Schütz potentiell fruchtbar, wie Kusenbach in ihren Forschungsarbeiten zu Nachbarschaften festhält (vgl. Kusenbach 2003: 466f.). Kusenbach zufolge können diese dabei helfen, »perceptual filters« (ebd.: 466) wie praktisches Wissen, Geschmäcker oder Werte zu erforschen. In dieser Studie sind in diesem Zusammenhang insbesondere Wertsetzungen im Sinne von (impliziten) Regeln im Umgang mit Mediengegenständen von Interesse. Diese lassen sich durch Walking Interviews in den Wohnräumen der Interviewten eingehender erforschen, wenn man etwa beobachtet, auf welche Art und

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Unterschiede bei der Umsetzung von Gesprächen in Bewegung zu Forschungszwecken liegen häufig in den Bereichen Umfang, Festlegung der Route und Bekanntheitsgrad der Forscherin oder des Forschers mit dem Ort (vgl. Holton/Riley 2014: 60). Hinweis aus persönlicher Konversation mit Thomas Roberts (University of Surrey) im Juli 2014.

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Weise, unter Einsatz welcher Strategien Personen mit Mediengegenständen ihres Alltagslebens umgehen. So kann etwa beobachtet werden, inwieweit beim Bedienen eines Gerätes zielgerichtetes Handeln oder konträr »trial and error«-Zugänge – im Sinne Schäffers »generationsspezifischer Medienpraxiskulturen« (2009) eine Rolle spielen. Die Interaktionen mit Mediengeräten während Walking Interviews in Wohnräumen ermöglichen es in diesem Zusammenhang auch, komplexe Handlungszusammenhänge sichtbar zu machen, indem Deutungen durch die Studienteilnehmerinnen nicht nur verbalisiert, sondern auch durch konkrete Handlungen ausgedrückt werden können. So werden unter anderem Widersprüchlichkeiten von alltäglichen Medienerfahrungen greifbar. Dies gilt insbesondere, da die Walking Interviews in dieser Studie im Anschluss an vorangegangene Gespräche stattfinden und sich die Interaktionen mit Mediengeräten mit vorab geschilderten Erfahrungen vergleichen lassen. Bisherige Argumente zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass Walking Interviews und die währenddessen stattfindenden Interaktionen mit Objekten als methodische Mittel zur Erforschung von Medienerfahrungen und -deutungen älterer Frauen mehrere distinkte Vorteile aufweisen. Dazu zählen etwa die Abwendungen von einer reinen Subjektzentrierung im Interviewprozess und die dadurch entstehende Möglichkeit, kulturelle Relevanzen und Wertsetzungen zu erforschen, die in Dingen implizit und explizit Ausdruck finden (vgl. Bosch 2010: 23). Darüber hinaus kann das Einbinden von Gegenständen in den Interviewprozess auch dazu führen, dass Erzählungen von Gesprächspartnerinnen oder -partnern detailreicher werden und sich durch diese dichteren Berichte Veränderungen in der Schilderung von Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Erlebnissen ergeben (vgl. Sheridan/Chamberlain 2011: 317; 329). Somit lässt sich festhalten, dass Interaktionen mit Objekten während eines (Walking) Interviews den Forschungsprozess bereichern und Möglichkeiten für ein tieferes Verständnis der Forscherin bzw. des Forschers für ihren oder seinen Forschungsbereich schaffen können. Wie De Leon und Cohen festhalten, muss jedoch in jedem einzelnen Feld experimentell untersucht werden, welche spezifischen Effekte durch die Inklusion von Objekten im Sinne von »material probes« (2005: 203) erzeugt werden. Die folgenden Abschnitte dieses Beitrages widmen sich daher der Auswertung dreier erster Walking Interviews aus der Studie, die im Zeitraum von Dezember 2014 bis Februar 2015 mit Frauen zwischen 60 und 69 Jahren in der Steiermark geführt wurden. Ziel der Auswertung ist es dabei, das Reflexionspotential, das die Auseinandersetzung mit Medienobjekten während dieser Gespräche mit sich bringt, zu analysieren und zu illustrieren.

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E RGEBNISSE ERSTER W ALKING I NTERVIEWS ZU M EDIENERFAHRUNGEN UND - DEUTUNGEN ÄLTERER F RAUEN Bei der Durchführung der Walking Interviews zeigte sich allgemein, dass die Interaktion mit Mediengeräten in Alltagsräumen den Erzählfluss anregt und insbesondere auch neue Assoziationen und Relevanzbezüge hervorbringt, die zuvor im Leitfadeninterview nicht oder in anderer Form geteilt wurden. Zugleich ließ sich in den Walking Interviews auch Latours Idee des gemeinsamen Handelns von Menschen und Objekten (vgl. 1991; 1993; 1996) nachzeichnen. Ein Beispiel hierfür ist etwa eine Aussage von Gesprächspartnerin 1 (GP1), einer 66-jährigen verheirateten Frau aus einem Vorort von Graz, die vor ihrem Renteneintritt als Sekretärin im öffentlichen Dienst tätig war und sich darüber hinaus um Kinder und Haushalt gekümmert hat (und nach wie vor kümmert). Als Forscherin (F) und GP1 während des Walking Interviews (WI) im Haus von GP1 im Arbeitszimmer angekommen sind, kommen die beiden auf den dort vorhandenen Computer und zwei Tastaturen zu sprechen. Eine der Tastaturen wurde mit dem Computer mitgeliefert, scheint aber seltener in Verwendung zu sein als eine andere Tastatur. GP1 beschreibt jene Tastatur, die häufiger in Verwendung ist, als »so abgenützt« (WI, GP1, 15.12.2014: 283) und verweist darauf, dass die Handhabung dieser Tastatur für ihren Mann schwieriger ist, denn »da auf der Tastatur sieht man ja gar kein ›C‹ mehr« (ebd.: 283-284). Im Anschluss ergänzt sie: »... Ich schaue ja nicht auf die Tastatur« (ebd.: 284-285). GP1 berichtet demnach davon, dass das Zusammenspiel von Tastatur und ihrem Mann und von Tastatur und ihr selbst unterschiedlich ist und verweist zugleich darauf, wie Dinge und Menschen gemeinsam wirken und aufeinander einwirken. Da GP1 – auch durch ihre frühere berufliche Tätigkeit als Sekretärin – das Tippen gewöhnt ist, muss sie dabei nicht auf die Tastatur blicken und kann daher auch schneller tippen, was vermutlich zugleich zu einer rascheren Abnützung der Tastatur führt. Hier wird somit unmittelbar greifbar, was Latour damit meint, dass Dinge als »quasi-objects« (1993: 55) verstanden werden können, als »moving actants that transform ... those who do the moving, because they transform the moving object« (Latour 1996: 379). In diesem Sinne müssen Medientechnologien und mit ihnen handelnde Menschen immer als »Assemblage« konzipiert werden, wie dies auch Crow und Sawchuk in Hinblick auf mobile Medientechnologien mit dem Begriff der »mobile Assemblage« (2015: 188) vorschlagen. Walking Interviews und die gleichzeitige Interaktion mit Mediengeräten können als methodische Mittel dabei helfen, diese »Assemblages« nachzuzeichnen, da sie in der Forschungssituation unmittelbare Referenzpunkte (z. B. die beiden Tastaturen im Arbeitszimmer von

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GP1) liefern, die das Teilen von konkreten alltäglichen Beispielen für das Zusammenspiel von Menschen und Medientechnologien unterstützen. Wie obig skizziert besteht ein weiterer Vorteil von Walking Interviews und der einhergehenden Interaktion mit Objekten während dieser darin, dass sie kulturelle Wertsetzungen und Regeln sowie korrespondierende Praktiken im Umgang mit Dingen in den Vordergrund rücken können. Im Kontext der drei hier analysierten Walking Interviews mit älteren Frauen kam in Bezug auf Regeln im Umgang mit Medienobjekten beispielsweise dem sorgfältigen Aufbewahren ›älterer‹ Mediengeräte Bedeutung zu. Dies ist insofern bemerkenswert, als dies in den Leitfadeninterviews zuvor nicht oder kaum thematisiert worden war. In allen drei hier analysierten Fällen hatten die Studienteilnehmerinnen eine Mehrzahl von ›älteren‹ Mediengeräten – etwa Fernsehgeräte früheren Anschaffungsdatums – neben neueren Geräten in der Wohnung, wie im Verlauf der Walking Interviews deutlich wurde. Dabei ließen sich vor allem zwei Strategien der Aufbewahrung beobachten. Die erste Strategie in diesem Zusammenhang lässt sich als eine Praxis des ›Recyclings‹ bezeichnen. So hat eine der Befragten, GP1, beispielsweise drei Fernsehgeräte unterschiedlichen Anschaffungsdatums, die in der Wohnung für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Das neueste Gerät steht im Wohnzimmer und dient vor allem dem Fernsehkonsum am Abend, ein Fernseher früheren Anschaffungsdatums im Kellergeschoss dient dem Fernsehen beim Bügeln (nachdem er aus dem Wohnzimmer ausrangiert worden war), und ein weiterer Fernseher – der ebenso vor dem neuen Wohnzimmerfernseher angeschafft worden war – diente, verstaut in einem Schrank im Schlafzimmer, im Krankheitsfall dem Fernsehen im Bett. Die Praxis des Recyclings von Geräten war auch im Walking Interview mit Gesprächspartnerin 3 (GP3) relevant. GP3 ist eine 60-jährige verheiratete Frau aus einem Vorort von Graz, die vor ihrer Pensionierung als Sekretärin tätig war und sich nach wie vor intensiv um die mit im Haus lebende Familie (Ehemann, Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder) kümmert. Ähnlich wie GP1 setzt GP3 Fernseher unterschiedlicher Gerätegenerationen für verschiedene Zwecke ein. Während ein großer Flachbildschirm-Fernseher im Wohnzimmer hauptsächlich von ihr und ihrem Mann zum »bequem[en]« (WI, GP3, 10.02.2015: 266) Fernsehen genutzt wird, ist ein kleinerer kompakter Röhrenfernseher im Arbeitsund Bügelzimmer von GP3 für die Enkelkinder zum Fernsehen reserviert. Vor diesem stehend erläutert sie hierzu: »[D]a haben wir auch einen Fernseher stehen (lacht), der wird aber sehr selten benötigt, hauptsächlich [für] die Kinder, weil der hat ein integriertes CD-Fach, ah nein, DVD, dass

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sie da eine DVD anschauen können, [...] wenn wir uns unterhalten draußen. Dann [...] nehmen sie ihre DVD und setzen sie sich da her [...].« (WI, GP3, 10.02.2015: 196-200)

Auch im Falle von Gesprächspartnerin 2 (GP2), einer 69-jährigen verwitweten Frau aus Graz, die vor ihrer Pensionierung in einer Wohlfahrtseinrichtung tätig sowie nach eigenen Angaben »Familienmanagerin« (Leitfadeninterview (LI), GP2, 05.02.2015: 433) war, ist die Praxis des Recyclings von Mediengeräten relevant, jedoch in anderen Kontexten. GP2 setzt Radiogeräte unterschiedlichen ›Alters‹ für verschiedene Nutzungsgebiete und -räume, beispielsweise in Küche, Bade-, Schlaf- und Arbeitszimmer ein. Das Radio im Arbeitszimmer hatte GP2 etwa vor zehn Jahren bei ihrer Pensionierung »vom Büro mitgenommen« (WI, GP2, 05.02.2015: 59-60). Obwohl dieses Radio mit einem bestimmten Lebensabschnitt in Verbindung steht, bleibt es abgesehen von der Information zu seinem vorherigen Verbleib im Büro in der Beschreibung alterslos, ebenso wie das Radio in der Küche – ein »kleiner Turm« (ebd.: 211) mit Kassetten-, CD- und Radiodeck. Die beiden Radios in Bade- und Schlafzimmer beschreibt GP2 hingegen als »alte« Geräte (ebd.: 257; 278). Das Radio im Schlafzimmer charakterisiert sie als »alten Radiowecker« (ebd.: 278), obwohl es scheinbar einmal einen »noch älteren« (ebd. 278) gab – »den hat aber der Sohn« (ebd.: 279). Das Radio im Badezimmer stellt GP2 als das »alte, süße, kleine Gerätchen« (ebd.: 257) vor, das »von der Tante« (ebd.: 259) ist, genauer aus dem Nachlass einer Wiener Tante von GP2, wie sie schon vor dem Interviewtermin in einer Notiz per E-Mail der Forscherin gegenüber erwähnte. Auch im Leitfadeninterview vor dem Walking Interview kommt dieses Radio bereits zur Sprache, als GP2 erzählt: »Ich habe auch ein Radio, ein kleines, das habe ich Ihnen geschrieben, das liebt, äh, lebt noch von meiner Tante, ein tolles Ding, wo ich mir nur dann ein neues kaufen würde, weil in dieser Qualität kriegt man das nicht mehr, wo man die, bei so einem kleinen Gerät die Sender vorprogrammieren kann. Das ist momentan nicht am Markt.« (LI, GP2, 05.02.2015: 258-261)

Besonders bemerkenswert an dieser Passage ist, dass das Radio im Badezimmer für GP2 »noch von der Tante« »lebt« (ebd.: 258-259), was zum einen auf die potentiell unterschiedlichen Zeitlichkeiten von Mediengeräten und den mit ihnen handelnden Menschen verweist und zum anderen der vorab erwähnten Praxis des Recyclings von Mediengeräten eine neue Bedeutungsdimension hinzufügt. Es gilt demnach, nicht nur dem Recycling von Mediengeräten innerhalb einer Biografie Beachtung zu schenken, sondern diese auch im Sinne generationaler Übergaben zu konzipieren.

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Neben dem Recyceln wurde in den Walking Interviews eine zweite Strategie im Umgang mit Medienobjekten unterschiedlicher ›Gerätegenerationen‹ bzw. »generations of technologies« (Crow/Sawchuk 2015: 198) sichtbar. Diese lässt sich als ›Aufbewahrung ohne unmittelbaren Gebrauch‹ bezeichnen. So bewahrt GP2 etwa ein altes Tonaufnahmegerät, das ihrem Mann gehörte, in einem Schrank (»Kasten« (WI, GP2, 05.02.2015: 106)) im Wohnzimmer auf. Sie meint hierzu: »[D]as ist schon ein Museumsstück, das ist von meinem Mann […], das war ein ganz ein tolles Gerät, aus den 60er Jahren, ein Tonbandgerät mit Stereoeffekt« (ebd. 99-101). Kurz darauf führt sie weiter aus: »[I]ch habe das schon Jahr[e], ewig, nicht mehr aufgemacht, den Kasten. Aber ich täte ihn brauchen für andere Sachen, aber ich weiß nicht, ob ich es rausschmeiße. Das ist [ein] Philipps-Gerät [...]. Ja, das Problem ist, dass da die Spulen sind, mit so Gummibändern, und [die] werden porös mit der Zeit. Also ich glaube überhaupt hier mit der Zentralheizung stirbt das.« (Ebd.: 106-110)

Im Leitfadeninterview hatte sie zuvor von anderem »gute[n] Gerät « (LI, G2, 05.02.2015: 1268) gesprochen, das ihr Mann in früheren Jahrzehnten angeschafft hatte, und dass dieses »damals ein Schweinegeld« (ebd.: 1269) gekostet hätte, was natürlich ein mögliches Motiv für die Aufbewahrung von Mediengeräten – auch ohne Gebrauch – darstellt. Im Leitfadeninterview thematisierte GP2 jedoch nur Qualität und Kosten dieser früheren Anschaffungen, nicht aber deren weitere Aufbewahrung auch ohne unmittelbaren Gebrauch, die – ebenso wie das Recyceln älterer Fernseher oder Radios – auf mögliche, geteilte, aber meist eher implizite Handlungsregeln im Zusammenhang mit Mediengeräten hinweist. Im Falle der hier analysierten Interviews ließe sich eine dieser impliziten Regeln möglicherweise mit einem Satz wie ›Ehemals teure Geräte schmeißt man nicht weg‹ zusammenfassen. Regeln im Umgang mit Mediengeräten wurden im Zuge der Walking Interviews jedoch auch expliziter thematisiert. So meint GP1 im Arbeitszimmer, während sie der Forscherin ihren Computer zeigt: »[Den Computer] habe ich zum Beispiel auch immer ›abgestochen‹,10 einfach da abgestochen, weil ich keinen Button mehr gefunden habe, bis [meine Tochter] gesagt hat: ›Bitte,

10 ›Abstechen‹ ist ein Ausdruck für das Drücken des manuellen Reset-Buttons des Computers, um ihn herunterzufahren – meist dann, wenn ein anderes Ausschalten nicht möglich ist, weil beispielsweise die Maus nicht mehr reagiert oder ein anderes Problem aufgetreten ist.

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das kannst nicht tun! […] [D]a gibt es sicher etwas.‹ Und hat sie gesucht und gesucht und dann hat sie gesagt: ›Ja, schau, geht eh [das] [R]unterfahren.‹« (WI, GP1, 15.12.2014: 425428)

Diese während der Interaktion mit dem Computer im Rahmen des Walking Interviews geteilte Episode ist insofern von Interesse, als dass GP1 im vorangegangenen Leitfadeninterview angegeben hatte, manchmal etwas auszuprobieren, im Allgemeinen aber eher Angst vor dem »Herumprobieren« (LI, GP1, 15.12.2014: 283) bei Mediengeräten zu haben. So meinte sie dort etwa: »[Ich] bin nicht so diejenige, die so ›herumzappt‹ und herumprobiert, weil ich immer Angst habe, dass ich etwas verstelle, heute noch« (ebd.: 283-285). Vergleicht man die beiden Schilderungen zum Umgang mit Mediengeräten miteinander, so stellt sich die Frage, weshalb das im Walking Interview geschilderte ›Abstechen‹ des Computers von GP1 scheinbar nicht als ›Herumprobieren‹ erlebt wird, sondern vielmehr über längere Zeit hinweg als legitime Umgangsweise, obwohl das Drücken des Reset-Buttons als standardmäßige Vorgehensweise beim Ausschalten des Computers vermutlich in keiner Bedienungsanleitung zu finden ist. Es ist, so kann auf dieses Beispiel bezugnehmend argumentiert werden, insbesondere das Aufwerfen derartiger Lücken und Fragen hinsichtlich Deutungen des Umgangs mit Mediengeräten, das den Einsatz von Walking Interviews in Wohnräumen zu einem adäquaten methodischen Mittel für die Erforschung von Medienerfahrungen macht. Denn weniger ›glatte‹ bzw. (scheinbar) widerspruchsvollere Berichte zur Nutzung und Deutung von Medientechnologien erlauben eine dichtere Analyse des Materials und so auch das potentielle Entdecken zuvor nicht wahrgenommener Bedeutungszusammenhänge. Wie bereits festgehalten hat die Interaktion mit Mediengeräten während der Walking Interviews neben dem Sichtbarmachen von Regeln und korrespondierenden Praktiken auch das Potential, Selbstbilder in Bezug auf Mediennutzung und deren Aushandlungen in den Vordergrund zu rücken. Als illustratives Beispiel kann hierfür das Walking Interview mit GP2 angeführt werden, die dort ihr Selbstverständnis als Mediennutzerin und ›ihre‹ Medienkultur – vermittelt über Fremdbilder – vermehrt zur Sprache bringt. Ein zentraler Ankerpunkt von GP2s Selbstbild von sich als Mediennutzerin ist generell die Abgrenzung zu den »Amerikaner[n]« (WI, GP2, 05.02.2015: 271) und deren Mediengebrauch. Bereits im Leitfadeninterview hielt GP2 fest, dass sie in Bezug auf Mediennutzung keine »Amerikanerin« sei: »Also wenn ich allein zuhause bin, dann ist das auch sehr still und dann ist das klasse, wenn das Radio läuft. Ist mir lieber als der Fernseher, weil beim Fernseher, sagen wir, ich koche,

260 | B ARBARA R ATZENBÖCK [...] ich bin ja nicht eine Amerikanerin, die den Fernseher in der Küche hat, nicht, jetzt muss ich um die Ecke schauen. Bringt eine gewisse Unruhe.« (LI, GP2, 05.02.2015: 1281-1284)

Im Zuge des späteren Walking Interviews greift GP2 das Bild der »Amerikanerin« (ebd.: 1283) dann im Badezimmer erneut in abgrenzender Weise auf und verstärkt es. Während sie ein kleines tragbares Radio11 aus dem Badezimmerschrank holt, meint sie im Zusammenhang des Verstauens verschiedener Mediengeräte in Schränken: »Ich bin immer darauf aus: ›Weg!‹ Weil, Medien schon, aber nicht dominant, also so wie die Amerikaner leben, in jedem Zimmer ein Fernseher« (WI, GP2, 05.02.2015: 269-271). Auch an anderer Stelle, in der Küche, unterstreicht sie dieses abgrenzende Selbstbild als Mediennutzerin erneut, indem sie betont: »Und Fernsehen, ich habe auch keine[s] im Schlafzimmer. Ich mag das nicht! Das ist nicht meine Kultur« (ebd.: 250-251). Wie diese Beispiele zeigen, kommen Selbstbilder und somit auch Verständnisse von (Alltags-)Kultur in den Walking Interviews mitunter vehementer und häufiger zur Sprache als in den Leitfadeninterviews, was für die Forscherin die Identifikation zentraler Standpunkte der Informantinnen erleichtert. Selbstbilder wurden in den geführten Walking Interviews jedoch nicht nur verstärkt, sondern in der direkten Interaktion mit Mediengeräten auch neu ausverhandelt. Ein Beispiel hierfür ist die Komplexität der Wahrnehmung von GP1 von sich selbst als Mediennutzerin, die erst durch das Walking Interview zutage trat. Während sich GP1 im Leitfadeninterview wiederholt als Vorreiterin in Bezug auf Mediennutzung charakterisierte, indem sie sich an einer Stelle etwa als »starke Userin« (LI, GP1, 15.12.2015: 836) in Bezug auf das Internet bezeichnete, wurde im Walking Interview die Brüchigkeit ihres Selbstbildes in Bezug auf Mediengebrauch sichtbar. Im Wohnzimmer meinte GP1 beim Bedienen des Fernsehers etwa: »Ich kann sogar leiser schalten. (lacht) Ich bin ganz stolz auf mich. Kann man schon ausschalten, gell?« (WI, GP1, 15.12.2014: 170-171) Dieser selbstironische Kommentar stellt einen Kontrast zur vorigen selbstbewussten Selbstbeschreibung als »starke Userin« (LI, GP1, 15.12.2015: 836) dar. Auch an anderer Stelle, beim Einschalten des Plattenspielers, zieht GP1 ihre eigenen Kompetenzen in Zweifel, wenn sie meint: »[...] [W]enn wir jetzt nichts [keinen Ton] kriegen, dann bin ich blöd, bin ich zu blöd dafür, aber es wird, irgendwie bringe ich es zusammen« (WI, GP1, 15.12.2014: 36-37). Diese das Selbstbild der »starke(n) Userin« kontrastierenden Kommentare werfen u. a. die Frage auf, in welchen spezifischen Kontexten oder Situationen GP1 sich selbst als Avantgarde der Medien-

11 Dieses Radio ist das zuvor bereits erwähnte Erbstück ihrer Tante.

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aneignung sieht und in welchen nicht. Vor allem aber verweisen sie auf die Notwendigkeit, methodische Mittel einzusetzen, die Informantinnen und Informanten durch Set-up und Dynamik dazu einladen, widerspruchsvolle Selbst- und Weltbilder zu teilen. Denn nur so ist eine Annäherung an die tatsächliche Komplexität von Alltagserfahrungen – in diesem Falle in Bezug auf Mediennutzung – im Forschungsprozess möglich.

AUSKLANG : E IN -

UND

AUSSICHTEN

Ausgangspunkt dieses Beitrages war die Frage, inwieweit Walking Interviews und insbesondere die in deren Rahmen stattfindende Interaktion mit Mediengeräten ein adäquates methodisches Mittel sind, um Medienerfahrungen und -deutungen älterer Frauen zu erforschen. Im Anschluss an die Analyse des Interviewmaterials kann festgehalten werden, dass ihnen in der Tat in mehrfacher Hinsicht methodisches Potential zukommt. Neben der Erforschung von gemeinsamem Handeln von Menschen und Technologien, wie dies durch Latour (1991; 1993; 1996) konzipiert wurde, eignen sie sich besonders dafür, Selbstbildern von Informantinnen (und Informanten) näherzukommen und kulturelle Wertsetzungen, Regeln sowie korrespondierende Praktiken zu erforschen. Es lohnt sich also, sich im Forschungsprozess im wortwörtlichen Sinne auf Perspektiven- und Standortwechsel einzulassen und Interaktionen mit Dingen als Teil der Untersuchungssituation zu konzipieren. Denn, wie Daniel Miller treffend formuliert: »We as academics can strive for understanding and empathy through the study of what people do with objects, because that is the way the people that we study create a world of practice« (Miller 1998: 19). Durch Walking Interviews in Wohnräumen werden Objekte unweigerlich Teil des Forschungsgeschehens und ›verkomplizieren‹ dieses, indem sie Interviewpartnerinnen (und -partner) in Interaktionen beispielsweise dazu anregen, komplexe und multidimensionale Erzählungen zu teilen. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit der Erforschung von Medienerfahrungen und -deutungen älterer Frauen von zentraler Bedeutung. Denn allzu oft werden Medienerfahrungen älterer Menschen in wenig diverser und mitunter stereotypischer Art und Weise dargestellt (vgl. für eine Kritik hierzu z. B. Crow/Sawchuk 2015: 190). Aus diesem Grund sind methodische Zugänge wie Walking Interviews in Wohnräumen, die Objekte in das Untersuchungsgeschehen miteinbinden und so die mannigfaltigen materiellen und kulturellen Vernetzungen von Mediennutzung und -deutungen in den Vordergrund rücken, für die Erforschung von Medienerfahrungen im Lebensverlauf hilfreich und notwendig.

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Förderhinweis: Diese Publikation wurde unterstützt durch Fördergelder des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (Projektnummer: 15849).

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Materialitäten des Alter(n)s

Vestimentäre Praktiken von Frauen über 60 Jahren E STHER G AJEK

F ELDFORSCHUNG IN O MAS K LEIDERSCHRANK Die Frage nach einem altersspezifischen Kleidungsverhalten 1 stand am Beginn eines Seminars2, bei dem die Studierenden ältere weibliche Verwandte dazu befragten, warum sie welche Kleidung kauften, trugen und wie sie diese pflegten. Diese

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Im deutschsprachigen Raum ist das hier behandelte Thema eher Neuland, im Gegensatz zur englischsprachigen Forschungslandschaft. Hier ist vor allem die Monographie »Fashion and Age« (Twigg 2013) zu nennen. Die hier vorgestellten Ergebnisse decken sich in weiten Bereichen mit denen von Julia Twigg. Ausdrücklich verwiesen sei auf das dort enthaltene umfangreiche Literaturverzeichnis und die weiterführende Homepage http://clothingandage.org/ [Zugriff: 18.9.2015]. Das Seminar »Vestimentäre Praxen von Frauen über 60« führte ich im Wintersemester 2011/12 am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg mit Studierenden im dritten Fachsemester des Bachelor-Studiengangs durch. Methodisch wurde das genaue Beschreiben von Objekten geübt und in die Techniken der Interviewführung und -auswertung eingeführt. Auf der Theorie-Ebene wurde Alter als kulturelle Ordnung diskutiert. Während die Studierenden in ihren Seminararbeiten die interviewte Person mit ihrem je eigenen Kleidungsverhalten darstellten und analysierten, versuche ich im Folgenden, einzelne Inhalte, die besonders deutlich waren, fallübergreifend herauszuarbeiten. An dem Seminar waren beteiligt: Laura Altweger, Valentina Baur, Theresa Brandl, Cornelia Brockhard, Elena Christmann, Anja Ebert, Nadine Figielek, Mareike Günther, Simone Hirtreiter, Andrea Hoffmann, Lisa Kattner, Maximilian Kautetzky, Julia Kempe, Raffaela Kerscher, Pia-Amelie Lange, Stefanie Liebl, Lisa Lindhuber, Claudia Münch, Kai Raecke, Eva Sand, Katharina Tremmel,

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Untersuchung im Nahbereich hatte zwei große Vorteile: Durch das verwandtschaftliche Verhältnis war von vorneherein ein Vertrauen vorhanden, das den Studierenden eine eventuell vorhandene Unsicherheit vor dem ersten größeren Interview nahm; ferner ließ das enge Verhältnis zwischen Verwandten zu, nach Teilen der Kleidung wie z. B. der Unterwäsche zu fragen. Insgesamt ergab sich bei den 23 Interviewpartnerinnen eine große Bandbreite in Bezug auf das Alter und den gesundheitlichen Zustand, die regionale Herkunft, die ehemaligen Beschäftigungsverhältnisse und damit auch die finanzielle Situation sowie das aktuelle Lebensumfeld.3 Das Seminar begann mit einer Bestandsaufnahme: Die Studierenden baten ihre Verwandten um die (zufällig ausgewählte) gesamte Alltagsgarderobe am Tag ihres Besuches, möglichst auch mit Accessoires und Unterwäsche. 4 Alle erhaltenen Stücke wurden vor Ort einzeln vermessen, fotografiert und genau beschrieben. Um ein eventuell vorhandenes Spezifikum des Alters herauszuarbeiten, verglichen die Studierenden sodann den Kleidungsbestand der älteren Verwandten mit demjenigen, den sie selbst an diesem Tag getragen hatten. Auch hier wurden die Kleidungsstücke in Text und Bild genau dokumentiert. Die zweite Aufgabe bestand darin, mit den Verwandten ein ero-episches Gespräch5 über die Kleidungsstücke und den Umgang mit ihnen zu führen und biographische Zusammenhänge zu erfragen.

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Esther Urban, Laura Wohlers. Ich danke den Studierenden, dass ich für den vorliegenden Beitrag auf ihre Ergebnisse zurückgreifen konnte. Das Alter der Befragten lag zwischen 55 und 95, entsprechend war der gesundheitliche Zustand von sehr mobil bis stark eingeschränkt und das aktuelle Lebensumfeld von sich selbst versorgend bis bereits im Pflegeheim. Die regionale Herkunft reichte von der Großstadt bis zum Dorf, von Nord- bis Süddeutschland, die ehemaligen Beschäftigungsverhältnisse rangierten von der Hausfrau bis zur Vollberufstätigkeit, entsprechend lag das monatliche Budget zwischen 200 bis über 3.000 Euro. Im Gegensatz zu der Alltagsgarderobe waren bei Julia Twigg (2013) und Elke Giese (2012) jeweils die Lieblingsstücke Grundlage der Untersuchung. Aus mehreren Gründen fiel die Wahl auf diese Methode der Interviewführung (vgl. Girtler 2001: 147-168): Zum einen hätte ein Abfragen von Fakten bei den eigenen Verwandten unnatürlich gewirkt – es ging darum, eine möglichst alltagsweltliche Situation herbeizuführen auf Grundlage eines bereits vorhandenen Vertrauens; zum zweiten sollte durch das gegenseitige Erzählen, das die Methode vorsieht, eine möglichst große Offenheit erzielt werden, um auch über heiklere Themen sprechen zu können.

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G ESUNDHEITSSCHUHE

UND

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L EDERJACKE

Schon kurze Blicke auf die Fotos der Interviewpartnerinnen und die genauen Beschreibungen ihrer Kleidungsstücke zeigten ein Spannungsfeld, das am Beispiel zweier Frauen mit sehr unterschiedlichem Kleidungsstil umrissen werden kann: Frau Reich6, 84, gelernte Schneiderin, nach der Heirat als Hausfrau tätig, entsprach mit violetter Strickjacke, knielangem Wollrock, Perlenkette, Dauerwelle und Gesundheitsschuhen einerseits einem gängigen Stereotyp der Großmutter, erweiterte ihre Auswahl aber mit enganliegender Legging unter dem Rock, die sie wegen der niedrigen Temperaturen angezogen hatte; Frau Kern, 74, eine ehemalige Verkäuferin in der Kleidungsbranche, widersprach gängigen Vorstellungen, indem sie grundsätzlich in Läden für junge Frauen einkaufte und sich durchgehend schwarz anzog. Auch ihre Auswahlkriterien (Aktualität vor Qualität) und besonders ihr Kaufverhalten, das von den Studierenden als »Frustshoppen« (Kleiderkauf, um Traurigkeit zu vergessen) bezeichnet wurde, hatten wir nicht bei dieser Altersgruppe erwartet: »Wenn ich oft recht bedrückt bin und ich komme dann in die Stadt. Das ist für mich, wie soll ich das sagen, früher hab ich immer mir das Neue an den Schlafzimmerschrank gehängt voller Freude und es angeschaut. […] Es baut einen auch auf. Es baut mich auf. Ja, schon. Da denke ich mir, wenn ich mir was kaufen kann, ja, das baut mich stark auf.«7 (Frau Kern, 74, ehemalige Verkäuferin in der Kleidungsbranche, 11.1.2012)

Hatten schon gewisse Kombinationen von Kleidungsstücken, aber auch das Kaufverhalten Anlass gegeben, die im Seminar vorhandenen Meinungen in Frage zu stellen, so erst recht der Blick auf die einzelnen Kleidungsstücke beider Altersgruppen: Isoliert fotografiert konnten z. B. bestimmte Unterhemden, einzelne TShirts, aber auch Jeans oder Lederjacken nicht mehr ohne Weiteres einer bestimmten Altersgruppe zugeschrieben werden; in einigen Fällen lösten sich die Grenzen völlig auf, z. B. wenn sich Studentinnen nach dem Besuch Einzelstücke von ihren Verwandten schenken ließen und später anzogen. Schnell wurde deutlich, dass, betrachtet man die Textilien isoliert, keine Rede von einem typischen Kleidungsstil von Frauen über 60 Jahren sein konnte. Erst die Kombination aus Schnitt, Far-

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Alle Namen der Befragten wurden geändert. Das Motiv, aus Langeweile Kleidung zu kaufen, das Julia Twigg bei einer über 80Jährigen aufgezeichnet hat, kam bei unserer Erhebungsgruppe nicht vor (vgl. Twigg 2013: 67).

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ben, Mustern, Details und Accessoires ergab eine gewisse Homogenität, die jedoch nur als Tendenz konstatiert werden konnte und viele Ausnahmen einschloss. Spezifische Merkmale, die mit einem vermeintlichen Stil von Frauen »50 plus« bzw. dessen Stereotypisierung in Verbindung gebracht werden, überwogen weder bei den Farben und Mustern (beige, Pastelltöne, große Muster) noch bei den Formen und Details (weite, figurumspielende Schnitte, Hosen mit Gummibund, untaillierte Blusen und Kleider, flache, weit geschnittene Schuhe). Diese waren – wenn überhaupt – eher bei Frauen ab 80 anzutreffen und keineswegs typisch für alle Frauen ab 60 Jahren.

K ONTINUITÄT

IM

K LEIDUNGSSTIL

Mit dem Eintritt in den Ruhestand hatten die Befragten ihre Kleidungsgewohnheiten nicht grundlegend verändert. Der Großteil ihrer Garderobe entsprach, so ein wichtiges Ergebnis, einem Kleidungsstil, den die Frauen über Jahrzehnte entwickelt hatten. Im Gegensatz zu den Ergebnissen der Forschungen von Twigg (2013) und Giese (2012) ließ sich bei den Interviewpartnerinnen keine Unsicherheit in der Kleidungswahl feststellen. Diese scheint, so eine Hypothese, eher in der Lebensphase zwischen 50 und 60 Jahren einzutreten, wenn sich erste Alterserscheinungen des Körpers wie Falten und graue Haare bemerkbar machen. Die hier befragten Frauen zeigten vielmehr in ihrer vestimentären Praxis ein Bedürfnis nach Kontinuität (vgl. Schroeter 2007: 139f.). Beim Kleidungsverhalten aller Befragten ließ sich keine einheitliche Praxis ausmachen, sondern es herrschte ein hoher Grad von Diversität. An dieser Stelle muss auch festgehalten werden, dass selbst bei ein und derselben Person verschiedene Kleidungsstile benannt wurden, wie etwa bei Frau Wolf, die ihren Stil gleichzeitig als »leger«, »schlicht«, »bequem und chic«, »dezent und modern« (Frau Wolf, 87, Finanzbuchhalterin, 27.12.2011) beschrieb (vgl. Twigg 2013; Guy/Banim 2000). Zu wissen, wer man ist, was einen ausmacht und einem steht, hatte sich nicht mit dem Eintritt in den Ruhestand herausgebildet, sondern war oft in den Jahren als erwachsene Frau entstanden: »And when you’re older you just think, well, I’m me. I know, who I am and this is what I wear. That’s it« (Twigg 2013: 64). Für diesen Befund sprechen auch die Schilderungen der Interviewpartnerinnen. Ebenso deuten die Bestände dreier Mütter der Studierenden in diese Richtung. Deren Kleidung ähnelte in Schnitten und Farbigkeit viel mehr derjenigen ihrer Töchter als ihrer eigenen Mütter. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, zu fragen, wann sich dieser Kleidungsstil herausbildet, genauso wie die Frage nach den

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Einflussfaktoren zu stellen: gesellschaftliche Normen, individuelle Vorlieben, finanzielle Möglichkeiten, körperliche Veränderungen? Augenfällig war jedoch, dass die ehemalige Berufstätigkeit bzw. das damit verbundene Außer-Haus-Sein ausschlaggebend dafür zu sein schien, sich insgesamt aufwändiger anzuziehen und diesen Stil auch noch im Ruhestand beizubehalten (vgl. Twigg 2013: 65; 72). Frau Wolf, 87, eine aus gut situiertem Elternhaus stammende Frau, die als Finanzbuchhalterin gearbeitet hatte und als wohlhabend bezeichnet werden kann, formuliert das wie folgt: »Ich war immer beruflich tätig. Ich musste immer chic sein und das hab ich dann so beibehalten. Ich würde nie morgens aus dem Badezimmer gehen und nicht richtig angezogen sein oder richtig fertig sein.« Eine Jogginghose anzuziehen, das wäre ein Tabu: »Nein, so würde ich nie rumlaufen. Oder zum Beispiel mit Bademantel an den Tisch gehen oder sowas, das würde ich nie. Ich zieh mich immer morgens gleich richtig an und fertig.« (Frau Wolf, 87, ehemalige Finanzbuchhalterin, 3.1.2012) Die ehemalige Lehrerin Frau Kroll, 78, ist ein gutes Beispiel für einen Kleidungsstil, der von den Eltern vorgelebt wurde, sich noch heute konkretisiert und dann auch selber an Kinder und Enkel weitergegeben wurde und wird: Diejenigen Stücke, die sie am Tag des Interviews anhatte – Samtblazer, Bügelfaltenhose aus Wolle, eine Bluse mit Bindekragen und ein Mieder – stehen für einen hohen Stellenwert von Kleidung. Schon die Eltern hatten »sehr großen Wert [auf gute Kleidung] gelegt. Ich kenne meinen Vater nicht anders als mit Krawatte, und meine Mutter war immer äußerst ordentlich angezogen.« Es sei üblich gewesen, »dass man auch da sehr gepflegt war, also nicht nur das Haus und die Wohnung gepflegt hatte, sondern auch sich selbst und die Kleidung.« Auch ihrem Mann, einem Unternehmer, bedeutete Kleidung viel, sowohl die eigene als auch die seiner Frau: »Er wollte, dass ich Sachen trug, die sonst niemand hatte […]. Wenn ich repräsentieren musste, das ist klar. Aber ich bin auch immer pico bello angezogen in die Schule gegangen. Also das gab es gar nicht. Da habe ich auch sehr großen Wert darauf gelegt, gut gekleidet zu sein, wenn ich unterrichtet habe.« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012)

Frau Kroll hatte für ihre Familie »Vorbildfunktion« und hat das Anziehen mit ihrer Tochter »von Anfang an mit ihr […] geübt.« Bis heute achtet sie sehr auf die Qualität ihrer Kleidung: »Qualität trägt sich auch besser. Wenn du mindere Qualität kaufst und es einmal reinigen lässt, kannst du es oft wegschmeißen«. Kleidung dient Frau Kroll einerseits zur Betonung des Typs, der Darstellung des Ichs und der eigenen Werte (»Ordnung, Sauberkeit, Gepflegtheit«), ist aber auch auf

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das jeweilige Gegenüber ausgerichtet und hat damit eine kommunikative Funktion: »Man möchte zum Beispiel ausdrücken, ich schätze euch wert; ich mache mich schön für euch, wenn ihr mich eingeladen habt, und das sollt ihr auch sehen. Dass ich mich darüber freue, und deshalb kleide ich mich ganz besonders sorgfältig und schön. Und auch danach, was zu euch passt.« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012).

Weniger familiäre Dispositionen wie bei Frau Kroll als vielmehr eigene Interessen prägten das Kleidungsverhalten von Frau Fischer, 82. Die gelernte Schneiderin legt bis heute großen Wert auf ihr Aussehen, nicht nur sonntags (»ich bin am Sonntag immer chic angezogen«), sondern auch, wenn sie ausgeht (»und wenn ich dann irgendwo hingehe, dann blamiere ich mich nicht«). Für bevorstehende Krankenhausaufenthalte bügelt sie sogar ihre Unterhosen. Kleidung wird bei ihr fachgerecht auf stoffliche Qualität mit den Fingern geprüft, je nach Material gewaschen oder nur gelüftet. Frau Fischer kleidet sich nach wie vor sehr bewusst und hat dezidierte Vorstellungen davon, was zusammenpasst und was nicht: Ein rotes Kostüm, ohnehin schon ein Blickfang, wurde noch mit Stiefeln, die einen Keilabsatz hatten, betont. Wie auch bei Frau Kroll ist die Kleidung von Frau Fischer stark auf ein Gegenüber bezogen: auf die Kirchengemeinde, auf Ärzte und Pfleger im Krankenhaus. Von einzelnen, wie z. B. von ihrer Freundin, bekommt sie sogar spezifische Rückmeldungen: »Die Rosi sagt immer, du hast schöne Sachen« (Frau Fischer, 82, ehemalige Schneiderin, 10.3.2012). Frauen, die zu Hause oder auf einem Bauernhof gearbeitet hatten, legten auf ihre Kleidung zwar ebenfalls Wert, zogen sich aber im Alltag nicht so aufwändig an. In letzterem Fall, wie die Interviews mit Bäuerinnen zeigten, wurde Kleidung vor allem in Hinsicht auf ihre Funktionalität hin gewählt und weniger mit der Absicht, schön sein zu wollen: »Praktisch muss sie [die Kleidung] sein. Das Schöne hilft nix.« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012) An Sonn- und Festtagen wählten sie dagegen betont gute Kleidung. Große Kontinuitäten im Kleidungsstil – so lassen sich die Ergebnisse dessen formulieren, was der genaue Blick auf die Kleidungsstücke offenbarte und die Erzählungen der Trägerinnen enthielten. Einige Veränderungen, die tatsächlich in Zusammenhang mit einer Altersspezifik gebracht werden können, seien im Folgenden genauer beschrieben.

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»F ÜR SOWAS BIN ICH SICHTBAREN ALTERS

ZU ALT «

– V ERBERGEN

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DES

Bei einer genaueren Durchsicht der fotografierten Kleidungsstücke fiel auf, dass besonders die Oberteile ganze Körperzonen verhüllten (vgl. Twigg 2013: 60f.) oder dem Blick entzogen, und das nicht nur wegen der winterlichen Jahreszeit, in der die Gespräche stattfanden. Dies galt vor allem für das Dekolleté. Darauf angesprochen, führte eine 70-Jährige körperliche Veränderungen als Grund für dessen Verbergen an (vgl. Twigg 2013: 59-61): »Wenn wirklich halt Frauen vorher ein bisschen ausgeschnitten rumliefen, in dem Alter nicht mehr. Weil ja erstens der Busen nicht mehr so. […] Der kann ja schon Falten haben. […] Hochgeschlossen muss es nicht sein, aber ja ausgeschnitten halt ohne, ohne dass man da den Schlitz sieht. Und da sind dann schon die Falten da dann in unserem Alter.« (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012)

Vor allem in der Gruppe der über 80-Jährigen herrschte Konsens darüber, dass es sich im Alter generell nicht schicke, Haut zu zeigen bzw. sich jugendlich anzuziehen. Auf die Frage, ob sie kurze Hosen trage, antwortete die Befragte: »also nein, für sowas bin ich zu alt und obwohl ich schöne Beine habe – also ich weiß nicht, das würde mir nicht [stehen]. Also, ich fände es stillos, wenn eine ältere Frau sowas trägt« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012). Die Tabus wurden immer dann besonders deutlich, wenn die Interviewpartnerinnen von Gleichaltrigen erzählten, die den unausgesprochenen Normen widersprochen hatten: Hosen, die zu viel Bein zeigten, Nieten oder zu kurze Jacken galten als »deplatziert«: »Obwohl es ihr steht, weil sie eine gute Figur hat, aber irgendwie wirkt es deplatziert.« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, 28.2.2012) Etwas jüngere Interviewpartnerinnen gestatteten sich und anderen, »ruhig Haut zeigen [zu dürfen], vor allem im Sommer«, aber unter der Prämisse, dass »die Haut gepflegt ist« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012). Die beiden Zitate »in dem Alter nicht mehr« und »für sowas bin ich zu alt« verdeutlichen das, was der Soziologe Klaus R. Schroeter als Unterschied zwischen alten und jungen Körpern beschreibt: »So, wie die korporalen Kompetenzen in Kindheit und Jugend auf das ›noch nicht‹ verwiesen, auf das ›noch-nicht-Können‹, das ›noch-nicht-Dazugehören‹, so mahnen die korporalen Kompetenzen im Alter den verbliebenen Abstand zur ideell gesetzten Grenze des ›nicht mehr‹ (Könnens, Dazugehörens usw.) an. Der Körper bringt einem im Alter die Grenzen immer näher.« (Schroeter 2007: 136f.)

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Aus den oben zitierten Passagen der Interviewpartnerinnen geht ferner hervor, dass Alter immer eine soziale Interpretation ist. Der vermeintliche wie auch der tatsächliche Blick der anderen entscheiden darüber, was man tragen kann und was nicht: selbst bei »guter Figur« keine Nieten oder kurzen Jacken. Deutete sich bei einigen jüngeren Befragten ein Wandel vom Zeigen zum Verstecken an, so galt für die über 80-Jährigen, dass sie oft mit dem Verhüllen des Körpers aufgewachsen waren. Ausschnitte durften schon in der Jugend »nicht weit«, nur »entweder rund oder spitzig [sein], das haben wir nie gemacht, nein […]. Das war einfach so, das hat niemand getan, wenn eine ganz weit ausgeschnitten war, dann haben sie gesagt, die zeigt heute alles wieder her.« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012) Eine andere Befragte betonte, »die Arme müssen auch ein bisschen bedeckt sein, […] weil man ja den Körper gar nicht so präsentieren wollte. […] so schön hat man sich auch gar nicht gefühlt, um da vielleicht das zu präsentieren. Man wollte immer alles verdecken. Erstmals waren die Zeiten gar nicht so danach, so mit der Mode und die Einstellung der Menschen« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, 28.2.2012).

Manche Interviewpartnerinnen berichteten von weiteren gesellschaftlichen Restriktionen, die sie schon in der Jugend keine körperbetonte Kleidung tragen ließen: »Jedenfalls weiß ich das, dass das nicht so ganz enge [sein durfte]. Da durften wir ja gar nicht gehen, solche ganz engen? Kleider, denn das waren alte Leute, meine Eltern, und nicht nur meine Eltern, alle in den Dörfern waren alle alte Leute und so was würden die gar nicht erlauben früher und jetzt die halben den halben Po nackt zeigen.« (Frau Fischer, 82, ehemalige Schneiderin, 10.3.2012)

Ein weiteres Charakteristikum im Kleidungsverhalten der Befragten bestand darin, nichts Auffälliges mehr anzuziehen und eine hohe Konformität aufzuweisen. Einer der Schlüsselsätze zu diesem Thema lautete: »Ich möchte eigentlich in dem Sinne nicht auffallen, ich möchte aber nur gut ankommen« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011). Damit meinte die Interviewpartnerin, eine alleinstehende ehemalige Grundschulrektorin, dass die Wirkung auf Andere weiterhin ausschlaggebend dafür war, sich gut anziehen zu wollen. Gleichzeitig galt es aber, Auffälligkeiten, z. B. leuchtende Farben, große Muster oder Aufdrucke, zu vermeiden. Diese kamen in den dokumentierten Kleidungskombinationen nicht vor (vgl. Twigg 2013: 27). Die Tendenz war, keine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern ein »wohlgefälliges« Betrachten des Gegenübers, wie es Frau Gruber formuliert hat: »Ich versuche trotzdem mich entsprechend anzuziehen, dass

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man auch [ein] bisschen wohlgefällig mich anschaut.« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011) Diese Formulierung deckt sich mit weiteren Befunden unserer und anderer Untersuchungen (vgl. Twigg 2013: 27; Giese 2012). »Anständig«, »sauber« und auch »nicht so verschludert« oder nicht »widerlich« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, 28.2.2012) waren einige von vielen weiteren Adjektiven, die in diesem Zusammenhang gebraucht wurden. Ziel der Kleidungswahl sei es, bei anderen einen guten Eindruck zu erwecken und sich von jenen zu unterscheiden, die sich hängenlassen und nicht mehr pflegen (vgl. Twigg 2013: 66). Das Bedürfnis, »gut an[zu]kommen«, war jedoch nicht altersspezifisch (vgl. Guy/Banim 2000: 316) und konkretisierte sich vor allem in der Kleidung, die außerhalb des Hauses getragen wurde. Positiv auf andere wirken zu wollen hatte hier jedoch, das ist bemerkenswert, nichts damit zu tun, anziehend oder gar sexuell attraktiv wirken zu wollen, sondern – wie es die 82-Jährige formulierte – »wohlgefällig« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011). Insgesamt wurde deutlich, dass sich vor allem die über 80-jährigen Befragten mit ihren Kleiderpraktiken in einem Spannungsfeld bewegten und sich Prioritäten allmählich verschoben: Sie hatten einerseits sehr klare Vorstellungen davon, was ihnen stand und wie sie vor allem außerhalb des Hauses wirken wollten, andererseits wich der Anspruch mit fortschreitendem Alter einem gewissen Pragmatismus, wie ihn die 84-Jährige formulierte: »Jetzt muss es [das Kleidungsstück, EG] dem Körper gut taugen« (Frau Lerch, 84, ehemalige Akkordarbeiterin, 7.1.2012). In der Regel unterschieden die älteren Frauen deutlich zwischen einer lockeren, bequemeren Alltagskleidung, die sie zu Hause trugen, sowie einer Ausgeh- und Festkleidung, die weniger Komfort bot. Besonders für ältere Jahrgänge traf dies zu, wobei mit dem fortschreitenden Alter gleichzeitig ein gewisser Rückzug in das private Umfeld einherging. Ästhetik trat nun insgesamt gegenüber der Funktionalität zurück. Wie sich diese Haltung in einzelnen Kleidungsstücken ausdrückt, soll im Folgenden weiter ausgeführt werden.

M ODIFIKATIONEN

DURCH KÖRPERLICHE

B EDÜRFNISSE

Unterhosen Im Kleidungsinventar der Befragten waren oft Unterhosen mit einem besonders hohen Bund enthalten. Der sogenannte Taillenslip, der auch die Nieren warmhält, ist Zeichen für eine Kleidung, bei der die Funktionalität Vorrang gegenüber der Ästhetik hat. Im Alter hatten einige der befragten Frauen die Erfahrung gemacht,

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dass das Nichtbedecken bestimmter Körperteile Erkältungen nach sich zieht: Ein Unterhemd »braucht man einfach. Sonst ist man immer verkühlt und tut’s überall weh« (Frau Lerch, 84, ehemalige Akkordarbeiterin, 7.1.2012). Die Befragten scheuten Krankheiten und versuchten, diese zu vermeiden. Erotik spielte bei der Unterwäsche keine Rolle mehr. Auch der Aspekt der Hygiene veränderte sich: Blasenschwäche machte z. B. die Entscheidung für Wäsche aus einem Material notwendig, das heiß gewaschen werden kann. »Und worauf ich besonders achte, ist bei der Unterwäsche, dass sie gut waschbar ist […] heiß waschbar. […] Früher habe ich auch schon mal richtig schicke Unterwäsche getragen. Naja, das mach ich nicht mehr, weil die meistens aus Kunststofffasern gemacht sind.« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012)

Dass bei der Auswahl der Unterwäsche früher mehr die Ästhetik ausschlaggebend war, inzwischen dagegen die Gesundheit im Vordergrund stand, wurde dezidiert formuliert: »Früher habe ich schon gerne schöne Unterwäsche getragen. Aber jetzt ist es mir eigentlich egal, jetzt muss es dem Körper gut taugen und dass es gut anliegt und eine Wärme ist und für die Gesundheit. Ja, ja« (Frau Lerch, 84, ehemalige Akkordarbeiterin, 7.1.2012). Inkontinenz, das Bedürfnis nach Wärme und körperliche Einschränkungen wie Beinschwellungen oder Gehbeschwerden gingen mit Modifikationen an Kleidungsstücken einher: Komfortbünde ersetzten enger anliegende Strümpfe und Schuhe mit niedrigen Absätze solche mit hohen. Diese gesundheitlichen Aspekte, die nun in Kleiderkauf und -auswahl hineinspielten, galten in der Mehrzahl für die Interviewpartnerinnen, die über 80 Jahre alt waren. Teile ihrer Kleidung waren stark durch Funktionalität geprägt. Weil z. T. multiple körperliche Einschränkungen das Anziehen anstrengend werden ließen, wirkte sich dies auch auf die Kleiderauswahl aus. Dass sich hier ein Altersspezifikum konkretisiert, läge nahe, muss aber in Frage gestellt werden; viel eher handelt es sich bei der Kleiderauswahl um eine Reaktion auf eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten, die in jedem Alter auftreten können. Hosen Als Inbegriff bequemer Kleidung galt den befragten Frauen die Hose. Entgegen gewissen Erwartungen wurde diese von allen Interviewpartnerinnen getragen: bei einem Teil der Gruppe (besonders jenen unter 70) in Kontinuität zu ihrem bisherigen Leben, bei anderen als Kleidungsstück, das sie erst im Ruhestand entdeckt hatten. »[Ich] habe mich auch in den letzten Jahren auf Hosen spezialisiert«, sagte

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eine 70-Jährige, die sogar von einer regelrechten »Hosensucht« sprach (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012). Auch eine andere Befragte entdeckte dieses Kleidungsstück erst spät, vor allem wegen dessen Bequemlichkeit: »Ich fand das erst nicht so schön für eine Frau. Weil ich schöne Beine habe, konnte ich die zeigen. Aber sie sind bequem. Und deshalb trage ich jetzt auch Hosen.«8 (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012) Gleiches galt für eine 87-Jährige, die neben der Bequemlichkeit auch die Modernität der Hose betonte: »Ich bin nachher mehr zu den Hosen übergegangen, weil das halt bequem ist und modern.« (Frau Wolf, 87, ehemalige Finanzbuchhalterin, 3.1.2012) Dass Bequemlichkeit nicht immer mit weiten Schnitten und Gummibund gleichzusetzen ist, selbst nicht bei über 85-jährigen Frauen, wird aus der Kleidungswahl von Frau Wolf deutlich: Sie trägt im Sommer enge weiße Jeans. Die Jeans war alles in allem eine Hose, die – eher von den Frauen unter 70 – als »praktisch«, »modern« und »zweckmäßig« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011) beschrieben wurde und als ideale Werktagshose galt, jedoch nie am Sonntag angezogen wurde. Auch hier gab es Frauen, die erst vor wenigen Jahren diesen Hosentypus für sich entdeckt und damit ein neues Kleidungsstück in ihren Bestand eingefügt hatten. Bei anderen Interviewpartnerinnen stellte die sogenannte Schlupfhose eine Neuerung in ihrem Kleidungsbestand dar. Gerade übergewichtige Frauen und solche mit gesundheitlichen Einschränkungen, besonders Arthrose, profitierten davon, diese Hosen aufgrund des Gummizugs im Bund leichter anziehen zu können und während des Tragens keinen Druck an Bauch und Beinen zu verspüren. Beimischungen von Elasthan im Baumwollgebe dieser Hosen bewirkten einen hohen Tragekomfort, der besonders geschätzt wurde: »Es muss eine Schlupfhose sein. Wo man gleich so rein, wo man nicht viel erst aufknöpfen muss oder zuknöpfen, muss so reinschlüpfen können und oben […] so ein Gummizug […] Wenn man ein bisschen dicker wird oder wieder dünner, dann kann man den Gummizug danach stellen.« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, Hausfrau, 28.2.2012)

Einige Frauen, die über 80 Jahre alt waren, klagten darüber, dass ihnen viele grundlegende Alltagshandlungen inzwischen schwer fielen: »Ja, jetzt brauch ich immer zwei Stunden, bis ich mich wasch, Zähne putze und anziehe. Und ja, bis ich nachher mein Frühstück und meine Tabletten nimm. Ja, wenn ich nicht so gut

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Das Zitat spricht auch wieder dafür, dass die Ästhetik (Zeigen der Beine) gegenüber der Bequemlichkeit (Tragen von Hosen, damit aber auch Verhüllen der Beine) zurücktritt.

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beieinander bin.« (Ebd.) Die Frage, was man anziehen solle, habe für sie nur eine marginale Bedeutung, weil die Bewältigung des Alltags schon alle vorhandene Kraft benötige: »Wenn ich nicht gut beieinander bin, dann nimm ich einfach was her und zieh was an oder sonst schau ich schon« (Frau Lerch, 84, ehemalige Akkordarbeiterin, 7.1.2012). Abbildung 1: Schlupfhose – gesundheitliche Einschränkungen führen dazu, Kleidung zu tragen, die sich leicht ein- und ausziehen lässt und nicht drückt.

Quelle: privat

Schuhe Ließen sich schon bei der Hosenauswahl Änderungen im Kleidungsverhalten feststellen, so auch beim Thema Schuhe. Hier formulierten fast alle Befragten, dass in zunehmendem Alter die Absatzhöhe gesunken sei und damit keine bzw. kaum eine Kontinuität mehr zu der Schuhwahl früherer Zeiten bestünde (vgl. auch Giese 2012: 27f.): »Ja, ich hatte auch mal Pumps. Schon ziemlich hoch, aber die Zeiten sind vorbei.« (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012) In einem anderen Interview wird noch deutlicher, dass die Ästhetik der Bequemlichkeit gewichen war: »Ich habe einige Schwierigkeiten mit Zehen und so weiter, so dass ich Stöckelschuhe gar nicht mehr tragen kann, was ich sehr bedauere. Ich hab im Moment immer mehr breitflächigere und auch eben niedrigere Schuhe. Obwohl ich genau weiß, dass es zu manchem Kleid oder Kostüm gar nicht so passt. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011).

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Die 82-Jährige formulierte hier die unfreiwillige Entscheidung für den breiteren, niedrigen Schuh und gegen ein in sich stimmiges Gesamtbild von Kleidung, wie sie es auch in ihrem Alter noch verkörpern will (vgl. Twigg 2013: 52). Die Schuhe, die sie nicht tragen mochte, aber musste, machen die »Diskontinuität von innerem Selbst und äußerer Erscheinung« (Schroeter 2007: 140) deutlich. Mit der Formulierung »was ich sehr bedauere« deutete die Befragte an, dass es ihr nicht leicht fiel, die Auswirkungen der körperlichen Veränderungen auf ihr Kleidungsverhalten hinzunehmen (vgl. Twigg 2013: 62). Die Befragte war eine der wenigen, die dieses Gefühl so direkt äußerte; die anderen Frauen schienen die Folgen, die der biologische Prozess des Alterns für ihren Körper hatte, gelassener hinzunehmen. Der Tragekomfort der Schuhe schlug sich bei manchen Befragten nicht nur in niedrigen Absätzen nieder, sondern wirkte sich auch auf die Auswahl der Schuhe aus; sogenannte Gesundheitsschuhe mit Klettverschluss oder Slipper kamen ins Spiel: »Ich kauf mir keine Schuhe mehr zum Zubinden, mit ’nem Schnürsenkel, schaff ich nicht, ganz einfach nicht.« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, 28.2.2012) Wie das Beispiel der Schuhwahl zeigt, reagierten die Befragten auf das Nachlassen »korporaler Kompetenzen im Alter« und steckten die »Grenzen des körperlich Möglichen« (Schroeter 2007: 137) neu ab. An bestimmten Tagen jedoch, bei Festen oder Stadtgängen, kam wieder die Ästhetik zum Tragen: Sogar Absatzhöhen von bis zu zehn Zentimetern wurden in Kauf genommen, und das von über 80-Jährigen: Die 87-jährige Frau Wolf ließ es sich z. B. nicht nehmen, beim Ausgehen in Hamburg hohe Stiefel anzuziehen (Frau Wolf, 87, ehemalige Finanzbuchhalterin, 3.1.2012). Die hohen Unterhosen, das vermehrte Tragen von Hosen, die Gesundheitsschuhe mit niedrigen Absätzen, vor allem aber der Wunsch nach Bequemlichkeit – das sind Änderungen des Kleidungsverhaltens, die vor allem für die über 80Jährigen kennzeichnend waren. Bei allen Befragten überwog jedoch die Kontinuität im Stil, im Geschmack, in der Farbwahl und im Anspruch an sich selbst deutlich (vgl. Holland 2012). Hier decken sich die Seminarergebnisse deutlich mit den bereits zitierten Untersuchungen von Twigg und Giese über das Kleidungsverhalten von Frauen. Was in diesen jedoch nicht oder nur kaum thematisiert wurde, war die Wertigkeit, die Kleidung für die befragten Frauen annahm. Ebenso wies der tägliche Umgang mit der Kleidung – so ein Ergebnis des Seminars – eine deutliche Spezifik auf und unterschied sich von demjenigen der Enkelgeneration. Davon soll auf den nächsten Seiten die Rede sein.

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F LICKEN , ÄNDERN , S CHONEN , AUFTRAGEN – DER U MGANG MIT K LEIDUNG »Kleidung hat viele Realitäten« – mit diesem Satz umschreibt Gitta Böth (1988: 160) das Selbstverständnis einer sozialwissenschaftlich ausgerichteten Kleidungsforschung. Damit meint die Kulturwissenschaftlerin, nicht nur phänomenologisch orientiert Objekte zusammenzutragen, sie zu ordnen und zu beschreiben, sondern den Blick auf die Hintergründe und vor allem die Nutzungskontexte zu lenken: Kleidung »wird hergestellt, gehandelt, getragen, weitergegeben, geflickt, umfunktioniert, verbraucht« (ebd.). Bei der Begegnung zwischen Studierenden und ihren älteren Verwandten ging es – gemäß diesem Ansatz – nicht nur um Form und Funktion der Kleidung, sondern auch um deren Kauf, das Tragen, Aufbewahren, Ändern, Reparieren, Schonen bis hin zum Auftragen der Kleidung. Im gegenseitigen Erzählen wurden die Unterschiede zwischen den Generationen deutlich, wie aus der folgenden Passage über den Umgang mit schadhafter Kleidung hervorgeht. Theresa Brandl, 21: »Ja, weil bei mir ist es so: Manche Sachen zieh ich bloß a Jahr lang oder so an und dann sind schon Löcher drin und so und dann mag ich’s auch nicht mehr anziehen.« Frau Busch, 91: »Kannst Du das nicht richten?« Theresa Brandl: »Mir ist das dann nicht mehr, das ist es mir nicht wert, dass ich da großartig rumnähe oder was.« Frau Busch: »Wenn irgendwas ist, dann sag es und komm. Ich hab ja der Katharina auch das Dirndl genäht […].« Theresa Brandl: »Ja, und manche Sachen sind dann immer so billig, und dann denke ich, schmeiß ich es gleich weg. Ja, ich weiß nicht, schmeißt du das dann immer gleich weg, wenn da ein Loch drin ist?« Frau Busch: »Nein, Wegschmeißen tue ich es nicht. Dann tue ich es auf die Seiten. Und wenn ich was brauch, dann schneid ich was runter oder […]. So Schürzen zum Kochen, die man hinten zusammenbindet, so Sachen hab ich alle selber genäht.« (Frau Busch, 91, ehemalige Angestellte, 20.12.2011)

Die Passage steht exemplarisch dafür, wie unterschiedlich Kleidung von den Generationen bewertet wird: Nähte die 91-Jährige nicht nur (aus Resten) Kleidung selbst, flickte sie und trug sie über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, kaufte die 21Jährige für den schnellen Gebrauch günstige Textilien, die getragen, aber nicht mehr geflickt und nach einem Jahr weggeworfen werden.

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Während es in der oben zitierten Passage um eine – oft thematisierte – grundsätzliche Einstellung zu Kleidung ging, sei im Folgenden der Blick auf Praktiken im Umgang mit Kleidung gelegt. Hier ließen sich ebenso starke Unterschiede zwischen den Generationen ausmachen. Flicken Bis auf eine der Befragten hatten alle Frauen das Nähen gelernt; einige waren ausgebildete Schneiderinnen oder hatten als Frauen bzw. Mütter viele Kleidungsstücke für sich und die Familie angefertigt. Ihre Fertigkeiten umfassten das Umändern von Kleidungsstücken, das Kürzen von Säumen und das Schneidern ganzer Textilien. Die Praxis, schadhafte Kleidung zu reparieren und zu flicken, war bei allen Gesprächspartnerinnen vertreten: »Ja, das flicke ich mir schon noch, damit ich’s wieder anlegen kann« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.1012). Der heutigen Praxis (da »schmeißt man halt alles weg, heut tut man nix mehr [flicken]«, ebd.) wird das erlernte Verhalten gegenüber gestellt: »Ja. […] Da steckt dann noch das Alte drin.« (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012) Kleidung galt den Befragten als zu wertvoll, um sie wegzuwerfen. Schadhaftes wurde und wird repariert und z. B. zu Hause aufgetragen: »Daheim zieht man eben so was [Geflicktes] an.« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012) Wie z. B. das Reparieren der Strümpfe bei der Mutter abgeschaut wurde und bis heute beibehalten wird, geht aus folgender Passage des Gesprächs mit Frau Loos, einer 70-jährigen Arbeiterin in der Landwirtschaft, hervor: »Oh, ja. […] Na zur Schwiegertochter sage ich auch, sie soll es mir bringen, dass ich sie stopf. […] Wenn es [das Loch] dann zu groß wird, dann nicht mehr, aber so kleine, dünne Stellen und kleine Löcher werden schon gestopft. Das ist auch noch was, was halt von der Kindheit noch drin steckt […]. Die Mutter hat ja Sonntage lang und Abende lang nur gestopft. […] Also bei den neuen Socken wurde unten schon aus gutem Baumwollstoff eine Sohle, also der Doppel hat das geheißen, gedoppelt. Und hinten an der Ferse und vorne an der Spitze. Die Socken mussten halten. Man hat ja grobe Schuhe gehabt und wenn der Doppel kaputt war, dann der nächste drauf. Also die hat Sonntage lang die Sachen erneuert und gestopft. So hat man es damals gemacht. Und eben, da steckt das doch noch ein wenig drin. Ja. Ich habe mir jetzt wieder eine neue Nähmaschine gekauft.« (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012)

Ob sich diese Investition lohnen wird, spielt für Frau Loos keine Rolle: Der Wunsch, Kleidung zu erhalten, inzwischen z. B. die Jeans der Enkel, ist es ihr

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wert, fast ihre ganze monatliche Rente von 400 Euro für den Neukauf einer Nähmaschine auszugeben. Hier konkretisiert sich ein habitualisiertes Verhalten (vgl. Flick-Werk 1983), das sich angesichts sinkender Textilpreise und selbst bei Empfängerinnen einer hohen Pension überholt hat, aber trotzdem beibehalten wird. »Ja, ich bin leider eine alte Flicktante und ich flicke manchmal fast zu viel«, bekennt eine 82-jährige alleinstehende frühere Grundschulrektorin (Frau Gruber, 26.12.2011). Kaum eine der Befragten trug etwas Zerschlissenes. Die Aussage von Frau Kroll: »Das muss alles hundert Prozent in Ordnung sein«, steht für viele andere Interviewpassagen, wenn nicht für eine Generation, die mit dem Leitsatz »Flicken adelt« (Junker/Stille 1988; Flick-Werk 1983) aufgewachsen ist, unabhängig vom Einkommen. Die Unversehrtheit der Kleidung ist geradezu verinnerlicht: »Wenn irgendwo eine Naht offen ist, oder es fehlt ein Knopf, das kann ich überhaupt nicht leiden. Das muss immer alles in Ordnung sein. Da mache ich überhaupt keinen Unterschied […] zwischen Werktags- oder Ausgangskleidung.« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012) Eine Hose mit Loch, ob zufällig entstanden oder absichtlich erstellt, löste nicht nur bei Frau Kroll, aber bei ihr besonders, Widerspruch aus. »Um Himmelswillen. Nein, also das nicht – absolut nicht. Nein!« Hier konkretisiert sich der größte Unterschied zwischen den Generationen: die gepflegte Kleidung der älteren Frauen gegenüber der ungebügelten, z. T. zerschlissenen oder absichtlich getragen aussehenden der jüngeren. Abbildung 2: Flicken auf einer Schürze – selbst einfache Kleidungsstücke werden sorgfältig und fachmännisch geflickt.

Quelle: privat

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Umändern Eine zweite Praxis im Umgang mit Kleidung bestand im Umändern. Diese war jedoch nur bei wenigen Frauen anzutreffen, vor allem jenen, die eine kleine Rente hatten und im bäuerlich-ländlichen Bereich sozialisiert waren. Frau Uhl z. B. erzählte, dass sie früher die ganze Kinderkleidung aus alten Stücken von Erwachsenen genäht hatte, aber auch viele Textilien für sich, wie das Kopftuch, das sie am Tag des Besuches ihrer Enkelin trug: »Ein Rock war’s zuerst und dann, den hab ich dann nicht mehr gebraucht […], dann hab ich ein Kopftuch [aus dem Stoff genäht], weil die haben wir immer aufgehabt bei der Arbeit.« Fehlendes Geld und Materialmangel in Kindheit und Jugend hatten dazu geführt, »das alte Zeug […] da zusammen[zuarbeiten] […], weil Sparen hat man ja auch müssen, man hat ja nicht so viel gehabt.« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012) Schonen War schon das Umändern von Kleidung und das Weiterverwenden von Stoffen unter Studierenden nicht verbreitet, so noch weniger eine weitere Alltagspraxis einiger Befragter: das Schonen der Kleidung. Frau Fischer z. B. führte aus, wie sie ihre Kleidung im Schrank durch schützende Folien umgab, beim Kochen immer eine Schürze trug und wertvolle Kleidungsstücke nur zu bestimmten Anlässen anzog, selbst dann nur zeitlich begrenzt: Das »habe ich nur am Sonntag angezogen und gleich [daheim wieder] ausgezogen« (Frau Fischer, 82, ehemalige Schneiderin, 10.3.2012). In diesem Verhalten deutet sich indirekt an, wie kostbar Kleidung war und welcher Wert Textilien beigemessen wurde. Im ländlichen Bereich, wo die Praxis des Schonens am deutlichsten ausgeprägt war, erklärt sich das Verhalten der Trägerinnen auch dadurch, dass alles, was nicht auf dem Hof selbst hergestellt werden konnte, unter Aufwand in Dorf oder Stadt eingekauft werden musste (vgl. FlickWerk 1983). Dieser Tatbestand war ausschlaggebend dafür, dass in den Gesprächen auch immer wieder die Qualität von Kleidern betont wurde: Man wollte Stücke haben, die lange getragen werden konnten. Auch hier offenbart sich ein deutlicher Unterschied zu dem Kleidungsverhalten der Studierenden, die Kleidungsstücke jeweils nur für eine kurze Zeit trugen und weniger auf die Qualität achteten. Nicht nur die Lebensumstände haben Einfluss auf die Art und Weise, wie mit Textilien umgegangen wurde und wird, die Generationszugehörigkeit spielt hier eine große Rolle. Besonders diejenigen Befragten, die den Krieg bewusst miterlebt hatten, formulierten, wie sie mit »irgendwas« zufrieden sein mussten:

284 | E STHER GAJEK »Nun möchte ich sagen, ich bin die […] Kriegsgeneration und da hat man, in diesen Jahren hat überhaupt nicht auf Mode geschaut, da hat man bloß geschaut, dass man irgendwas anzuziehen hatte und dass man was bekam, um nicht zu frieren, und da war nichts mehr, was modisch ist.« (Frau Reich, 88, ehemalige Schneiderin, 28.2.2012).

Dass Kleidung in den Kriegs- und Nachkriegsjahren vor allem auf das Praktische beschränkt war, geht auch aus dem folgenden Zitat hervor: »Während des Krieges konnte man sich sowieso nichts kaufen. Ich hatte ja auch kein Geld, und dann kam die Währungsreform. Da hab ich erst recht kein Geld gehabt, und da hat man halt das Nötigste angeschafft. […] Und wir sind vielleicht auch nicht so modisch aufgezogen worden, wie das heute der Fall ist. Man hat zumindest in unseren Kreisen mehr nach dem Praktischen geschaut und ob’s lange hält und ob man es dann vielleicht wieder verändern könnte und ich sag ja, der modische Aspekt, der hat bei uns eigentlich nicht so viel, also so große Rolle gespielt. Erst später, wo man dann gut verdient hat. Dann konnte man sich das ja leisten und konnte sich auch Dinge raussuchen, die nicht UNBEDINGT notwendig waren.« (Frau Gruber, 82, ehemalige Grundschulrektorin, 26.12.2011)

Die Erfahrungen von Not und Mangel prägten die Frauen und ließen sie noch heute schonend und sorgsam mit ihren Kleidungsstücken umgehen. In diesen Zusammenhang passt auch das Verhalten einiger Befragter, neu gekaufte Kleidung erst einmal wochen- bis jahrelang nicht zu tragen. »Manche Sachen kauft man und legt sie in den Schrank rein und wenn man sie dann wieder rausholt, dann sind sie schon aus der Mode« (Frau Loos, 70, ehemalige Arbeiterin in der Landwirtschaft, 2.1.2012). Diese Praxis unterschied sich in jedem Falle erheblich von dem Verhalten der Enkelgeneration, die Neuerstandenes grundsätzlich sofort anzog und auch bald wieder ausmusterte.

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Auftragen Abbildung 3: Unterhose mit Schadstellen – Kleider werden aufgetragen.

Quelle: privat

Das lange Tragen von Textilien wurde in allen Gesprächen geschildert: T-Shirts, die rund 50 Jahre lang angezogen wurden, BHs, die zwanzig Jahre im Einsatz waren, und das Umändern und Auftragen der Kleidung des verstorbenen Ehemannes9 stellten zwar eine Ausnahme unter den geschilderten Kleidungspraktiken von älteren Frauen dar, seien aber ausdrücklich aufgeführt, weil sie auf ein bestimmtes Verhalten verweisen. Vor allem die über 80-jährigen Befragten, die auf dem Land lebten, zeichneten sich durch folgende Charakteristika aus, die mit dem Auftragen von Kleidung in Zusammenhang stehen und sich auch z. B. in der Beschreibung der Lebensweise der Bäuerin Anni Sigl wiederfinden (vgl. Seidl/Rosenboom 2012): Geringes Einkommen und geringer Bargeldfluss; Sparen ist an der Tagesordnung, Schadhaftes wird repariert; Neues wird nur dann gekauft, wenn das Alte nicht mehr gerichtet werden kann oder nichts mehr zum Auftragen im Haus ist, Qualität, gemessen an langer Haltbarkeit, bestimmt die Kleidungswahl.

K AUF NACH B EDARF Überlegten die Studierenden, wann sie Kleidung kauften, so fielen ihnen viele verschiedene Anlässe ein: zum Zeitvertreib, als gemeinschaftliche Handlung mit Freund*innen oder aus Frustration. Diese Bandbreite an Verhaltensweisen war bei der Generation der Großmütter nur selten anzutreffen; hier überwog der anlassgebundene Kleiderkauf: Familienfeste oder Einladungen ließen die Frauen in die

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Gespräch mit Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012.

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Bekleidungsgeschäfte gehen oder etwas im Versandhaus bestellen; im Alltag wurden die alten Kleider aufgetragen. Weil einmal erworbene Kleidung aufbewahrt und nicht ausgemustert wurde, sammelte sich über die Jahre und Jahrzehnte sehr viel an, das zum Teil immer noch getragen werden konnte: »Ja, ich brauche eigentlich nicht mehr viel, weil ich ziemliche Auswahl an Kleidung habe.« (Frau Kroll, 78, ehemalige Lehrerin, 3.1.2012) Manche Frauen jenseits des 80. Lebensjahres hatten die Endlichkeit des Lebens im Blick; der Impuls, neue Kleidung zu kaufen, war nicht mehr vorhanden. Während Frau Uhl das Auftragen des Vorhandenen betont (»Jetzt kauf ich mir nix mehr […] die Hosen hab ich, Gewand hab ich […] ich wachse ja nicht mehr […] ich brauch nix mehr, jetzt« (Frau Uhl, 82, Bäuerin, 15.2.2012)), klangen bei der gleichaltrigen Frau Fischer Bedürfnislosigkeit und ein gewisser Rückzug an, der mit der Hochaltrigkeit einherging: »dann bin ich ja eigentlich schon zu alt, was soll ich mir da noch kaufen« (Frau Fischer, 82, ehemalige Schneiderin, 10.3.2012).

ALTERSTYPIK IM K LEIDUNGSVERHALTEN ? Die Ausgangsfrage war, ob sich bei den befragten Frauen eine Alterstypik im Kleidungsverhalten darstellt. Es wurde deutlich, dass sich vor allem der Umgang mit Kleidung von demjenigen der Enkel*innen unterschied. Die Kleidung der Interviewpartnerinnen wurde in der Regel anlassgebunden gekauft, eher geschont, über Jahre hinweg getragen, zumeist lange aufgehoben und nicht weitergegeben, in jedem Falle geflickt, umgearbeitet, aufgetragen und insgesamt sehr geschätzt. Der Eintritt in den Ruhestand, ein weiteres Ergebnis, führte nicht zu einem automatischen Bruch mit bereits vorhandenen Mustern – im Gegenteil: das Interesse an Mode, Kleidung und der Wunsch, auf andere zu wirken, blieben erhalten, auch wenn ein Rückzug aus dem Berufsleben Veränderungen mit sich gebracht hatte. Die Hochaltrigkeit dagegen, die oft mit größeren gesundheitlichen Einschränkungen einherging, hatte einen spürbaren Einfluss auf die Kleidungswahl: Funktionalität und Bequemlichkeit, erkennbar an niedrigeren Schuhe und bequemeren Schnitten, traten in den Vordergrund. Es bleibt festzuhalten, dass die körperlichen Auswirkungen des Alters das Kleidungsverhalten beeinflussen, nicht das Alter an sich. Insgesamt gilt, dass sowohl die durchlebte Sozialisation als auch die aktuellen Lebensumstände, z. B. die ökonomischen Bedingungen, das Körpergewicht, gesundheitliche Einschränkungen sowie die Einkaufsmöglichkeiten im näheren Umfeld, mehr Einfluss darauf hatten, wie die Frauen sich anzogen, als das kalendarische Alter.

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Die Lederjacke und das Frustshoppen von Frau Kern, die eingangs zitiert wurde, aber auch Befunde anderer Untersuchungen (vgl. Twigg 2013: 63) deuten darauf hin, dass sich neue Tendenzen ausmachen lassen. Es ist anzunehmen, dass sich spätestens mit dem Renteneintritt der Generation der Baby-Boomer, also der Geburtsjahrgänge zwischen 1955 und 1969, der hier geschilderte Umgang mit Kleidung überlebt haben wird und neue, noch wesentlich heterogenere Alters- wie Kleidungspraktiken zu untersuchen sein werden (vgl. Twigg 2013: 49; Giese 2012; Perrig-Chiello/Höpflinger 2009). Spätestens dann schlägt sich in der Untersuchung von Selbstverständlichkeiten wie der alltäglichen Kleidung wieder das große Ganze nieder: die zunehmende Heterogenität des Alters.

L ITERATUR Böth, Gitta: Kleidungsforschung, in: Rolf-Wilhelm Brednich (Hg.): Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, Berlin 1988, S. 153-169. Gerndt, Helge: Kleidung als Indikator kultureller Prozesse, in: Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten, München 1981, S. 117-126. Giese, Elke: Fashion, Behaviour, Profiles. Eine explorative Studie zur Erforschung von Motivkomplexen und Einflussfaktoren beim Umgang mit Mode im Alterungsprozess heutiger Frauen, Berlin 2012. Girtler, Roland: Methoden der Feldforschung, 4. Auflage, Wien u. a. 2001. Guy, Alison/Banim, Maura: Personal Collections: Women’s clothing use and identity, in: Journal of Gender Studies Vol. 9 (2000), H. 3, S. 313-326. Höpflinger, Francois: Generationenwandel des Alters – Neues Altern bei neuen Generationen, in: Caritas (Hg.): Sozialalmanach 2004. Die demographische Herausforderung, Luzern 2003, S. 93-104. Holland, Samantha: Alternative Women Adjusting to Ageing or How to Stay Freaky at 50, in: Andy Bennett (Hg.): Ageing and youth cultures: music, style and identity, London 2012, S. 119-130. Junker, Almut/Stille, Eva: Flicken adelt, in: Almut Junker/Eva Stille (Hg.): Zur Geschichte der Unterwäsche, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 1988, S. 320-325. Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen: Flick-Werk. Reparieren und Umnutzen in der Alltagskultur, Stuttgart 1983.

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Schroeter, Klaus R.: Zur Symbolik des korporalen Kapitals in der »alterslosen Altersgesellschaft«, in: Ursula Pasero et al. (Hg.): Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion, Wiesbaden 2007, S. 129-148. Seidl, Julia/ Rosenboom, Stefan: Anni und Alois. Arm sind wir nicht. Ein Bauernleben, 3. Auflage, München 2012. Twigg, Julia: Fashion and Age. Dress, the Body and Later Life. London 2013.

Alter(n) in der Horizontale oder ein Bett ohne Ruhe M ARIA K EIL

Dinge1 nehmen innerhalb kultureller Ordnungen mächtige Positionen ein. Sie verhindern, ermöglichen oder erzwingen Handlungen allein durch ihre physische Verfasstheit. In besonderer Weise effektiv wirken sie jedoch durch ihre Bescheidenheit (vgl. Miller 1987: 85ff). Ein Beispiel für diese Art der unauffälligen und mächtigen Wirksamkeit eines Objektes, das scheinbar ganz selbstverständlich daher kommt, ist das Bett. So bezeichnet Eckhard Feddersen im Entwurfsatlas Wohnen im Alter das Bett unhinterfragt als »Nest« und »Herzstück der Wohnung«. Trotz Globalisierung und einer aktiveren »dritten Lebensphase«, so argumentiert er, bleibe das Bett ein wichtiges Element im zu gestaltenden Wohnraum. Es sei der gewünschte Ort zum Sterben und auch der Aufenthaltsraum von Menschen in der »vierten Lebensphase«, die durch schwere Krankheit, Demenz und Pflegebedürftigkeit gekennzeichnet sei (vgl. Feddersen/Lüdke 2012: 12f). In diesem Beitrag sollen Aspekte der Materialität des Bettes und seine Beziehung zum Alter(n) am Beispiel des Krankenhaus- und Pflegebettes2 beleuchtet werden. Die leitende These geht von der Prämisse aus, dass gravierende aktuelle

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Die Begriffe Dinge, Sachen, Objekte, Materialitäten werden in diesem Beitrag weitgehend synonym verwendet und schließen Artefakte mit ein. In der Literatur finden sich widersprüchliche Verwendungsweisen. Eine genauere Aufschlüsselung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Krankenhausbetten und Pflegebetten gehören einer Objektfamilie an, sie werden als Objekte einer gemeinsamen Genese betrachtet. Form-, Norm- und Bedeutungsdifferenzierungen werden aufgrund der inhaltlichen Ausrichtung des Beitrags nur skizziert.

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Probleme in der Langzeitpflege eng mit der Mobilität der Patient_innen in Verbindung stehen, und statuiert, dass mobilisierende und immobilisierende Praktiken von dem Hauptinstrument der modernen Pflege – dem Bett – abhängig sind. Das Bett ist nicht nur ein Gegenstand der Möbelgeschichte, die sich auf Stile konzentriert: Gerade aus kulturwissenschaftlicher Perspektive und am Beispiel des Krankenhaus- bzw. Pflegebettes lässt sich zeigen, wie die Dialektik des Bettes – das Widerspiel von Aktivität und Passivität, Materialisierung und Symbolisierung, Struktur und Individuum – soziale Gefüge prägt. Im Folgenden soll daher die Geschichte dieses Artefakts und seine Beziehung zum Alter(n) kurz umrissen werden.

D AS

ZIVILISIERTE

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Pflegebetten und Krankenhausbetten sind zunächst einmal Betten. Ihre Benutzung hat sich erst um 1900 in jener Weise etabliert, die heute gebräuchlich ist. Wird das Bett in westlichen Kulturen derweil als eine Liegefläche mit vier Beinen angesehen (vgl. Prüfer 2012), lässt sich die Form des Bettes und des sich Bettens bis um 1900 nicht auf eine Grundformel reduzieren (Korff 2013: 248f). Der größte Teil der Bevölkerung Europas hat bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht in Betten geschlafen. Oft war mit dem Wort Bett ein Strohhaufen oder ein Strohsack3 gemeint. Auch ein Vergleich mit anderen Kulturen zeigt, dass sich der ›Zivilisationsgrad‹ keineswegs daran ablesen lässt, ob Menschen sich in Bettgestellen und damit dem Boden enthoben niederlegen. In Japan wird beispielsweise die Nähe zum Boden in der Tradition der Yamabushi bewahrt und nur auf dünnen Matten geschlafen (Carlano/Sumberg 2006: 27). Norbert Elias begreift das im 18. Jahrhundert neu aufkommende intime Schlafzimmer mit seinen einzelnen Betten und der Separierung der Körper durch Nachtbekleidung als Indiz einer entscheidenden Wandlung. Die Begründung für das Schlafen in einzelnen Betten liege in der aufkommenden Scham der zivilisierten Gesellschaft, der zivilisierten Körper.4 War es im Mittelalter noch üblich, dass

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Ein Strohsack, eine Wolldecke und ein Waschgerät galten in Preußen noch um 1900 als vermietbare Schlafstelle (Königliches Statistisches Bureau in Berlin 1897: 212f). Zu früheren Bettformen: Kluge-Pinsker 1998: 217. Alain Corbin hingegen sieht das Phänomen der Separierung im Geruch begründet (Corbin 1995: 136ff). Zudem hebt er die Rolle des Hospitals für die Definition von Normen hervor: »Genau in diesem Zusammenhang und in diesem Augenblick wird das individuelle Bett zum Territorium: es verwandelt sich in eine räumliche Einheit.« (Ebd.: 137)

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sich eine Familie zu Hause entkleidete und dann nackt durch die Straßen zum Badehaus ging, schwindet diese Unbefangenheit ab dem 16. bis zum 19. Jahrhundert. Das Nachthemd ist für Elias ein »Zivilisationsgerät«, um der Entblößung des nackten Körpers entgegen zu wirken (Elias 1997: 315f). Während die Körper der Menschen bekleidet wurden, wandelte sich die Materialität des Bettes dadurch, dass es ›entkleidet‹ wurde. Um 1800 begann die Gestaltung des Bettes mehr und mehr den moralischen Vorgaben der philanthropischen Reform zu entsprechen, indem es nicht mehr verbarg, so wie die bis dahin üblichen, mit meterlangen Stoffbahnen behangenen Himmelbetten, versteckten Alkoven oder geschlossenen Bettkisten. Das neue Bett, »eine leicht zerlegbare und labile Konstruktion aus metallenem Stabwerk«, entsprach den neuen »hygienischen Prinzipien« (Moreck 1926: 23). Die philanthropischen Reformer_innen des 18. und 19. Jahrhunderts propagierten Bettgestelle aus Eisen für Armen-, Kranken-, Waisen- und Arbeitshäuser sowie Gefängnisse und Hospitäler. So meinte John Howard (1726 – 1790), einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung und Verfasser einer der ersten sozialwissenschaftlichen Studien, feststellen zu können, dass das Liegen auf dem Boden, auf wenig oder gar keinem Stroh und auch das Schlafen in Holzkisten die Ursache für Krankheit und Tod seien. Auf dem Boden Liegende, ob Kinder, Gefangene oder Patient_innen, sind in Howards Bericht demgemäß meistens krank, »in a miserable condition, lay on the floor with only a rug« (Howard 1791: 73). Doch auch Betten aus Holz stellen für Howard »a great degree of inhumanity« (ders.: 112) dar. In den von wohltätigen Spendern ausgestatteten vorklinischen Hospitälern bildeten christliche Nächstenliebe und Altäre den Mittelpunkt der Versorgung von Pilgern, Armen und Kranken (u. a. Stevenson 2000: 12). Das Krankenbett wurde vornehmlich als labor des Leidens verstanden.5 Jedoch konnten im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung nicht allerorts die Häuser dem Ansturm der Armen und Kranken gerecht werden. Sie waren überfüllt, falls es Stroh zum Betten gab, konnte es nicht häufig genug gewechselt werden, und eine Ansteckung mit tödlichen Krankheiten war den Hilfesuchenden garantiert. Die philanthropische Reform richtete sich vorrangig gegen die Zustände in Massenunterkünften des 18. Jahrhunderts, die als Ursprung von ansteckenden Krankheiten identifiziert wurden

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Als labor des Leidens charakterisierte Lerchner (1993: 128) das Krankenbett Hiobs in mittelalterlichen Handschriftenillustrationen. Als »Labor« wiederum betrachteten die Kliniker_innen jene Betten, an welchen sie die Medizin am Krankenbett praktizierten. Dies spiegelt sich in der Forderung eines Arztes nach der Zuteilung von Betten an ihn wider (Archiv des Royal Infirmary of Edinburgh, LHSA: 267).

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(vgl. Howard 1791). Mit dem neuen Eisenbettgestell erhielt das Bett in den modernen Krankenhäusern mit klinischem Unterricht eine neue Funktion als Labor (im Sinne eines Beobachtungs- und Experimentalraums) der Medizin und eine eigene Gestaltung und Erscheinung. Michel Foucault hat die neue Konfiguration des medizinischen Wissens um 1800 »Die Geburt der Klinik« genannt. Für die Klinik, so Foucault, sei der Ausdruck Medizin am Krankenbett jedoch irreführend, da diese oft verwendete Bezeichnung eine vereinfachte Vorstellung von einer natürlichen, seit jeher üblichen Begegnung der Ärzt_innen mit den Patient_innen aufrecht erhalten könne. Die Klinik bezeichnet er vielmehr als einen Ort, an dem neue Ordnungen und neue Dinge entstehen (vgl. Foucault 1976: 12). Mir erscheint es hingegen sinnvoll, das Krankenhausbett vom Krankenbett6 zu unterscheiden und ihm einen wesentlichen Anteil an der Funktionsfähigkeit der Klinik zu geben. Es sollte als eine Technologie verstanden werden, welche die räumliche Ordnung gliedert und die Kranken separiert und somit die Sichtbarkeit für die Technik der Prüfung garantiert, wo es für jedes Individuum einen Platz gibt und sich auf jedem Platz, bzw. in jedem Bett nur ein_e Patient_in, befindet (vgl. Foucault 1994: 238ff ).

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IM

K RANKENHAUS

Anfang des 20. Jahrhunderts avancierte das Krankenhausbett zum Modul professionalisierter Krankenhausplanung (vgl. z. B. Zobel 1910: 272). Es bildet seitdem die Grundlage für die architektonische Struktur, für die Berechnung der Baukosten und den Betrieb.7 In den Diskursen zur Krankenhausplanung der Zwischenkriegsjahre (z. B. Schmieden 1930) sowie nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, wie wichtig das Krankenhausbett als Instrument nationaler und internationaler Gesundheitsplanung war. Bei einem Symposium zum Krankenhausbett 1965 stellte

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Das Krankenhausbett ist gleichfalls ein Krankenbett. Allerdings ist ein Krankenbett, anders als das Krankenhausbett, nicht an einen konkreten Gegenstand und Ort gebunden und ist nicht nur ein materialer Gegenstand, sondern auch als ein Prozess, ein Zustand, eine Übung aufzufassen. In den zahlreichen Auflagen des Klassikers Bauentwurfslehre von Ernst Neufert ist die Flächenverteilung von Zobel (1910) übernommen worden. Demnach richtet sich beim Bau eines Krankenhauses die Flächenverteilung aller Räume nach dem Krankenhausbett.

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die Weltgesundheitsorganisation (WHO) heraus, dass sich der Bedarf an Krankenhausbetten, die als Service-Einheit zu betrachten seien, nach der Struktur der Bevölkerung richte. Es gelte, diese strukturellen Einflüsse, die auf Faktoren wie Morbidität, sozialer Zusammensetzung oder demografischen Verhältnissen beruhten, genau zu kennen, um die Anzahl und Ausstattung der Krankenhausbetten planen zu können. Es wurde weiterhin bemerkt, dass die Entscheidungen darüber, welche Patient_innen stationär aufgenommen werden, kulturell verschieden seien, letztlich jedoch den Ärzt_innen obliegen sollten. Zudem erschien es schwierig, die aufzunehmenden Patient_innen in eindeutige Kategorien einzuteilen und daraufhin entsprechenden Betten bzw. Stationen zuzuweisen: akut, chronisch, geriatrisch oder mental krank. In einigen Ländern werde überhaupt weniger zwischen Krankenhäusern und Pflegeheimen unterschieden. Ein Teilnehmer des Symposiums beschrieb die Situation seines Landes, wo Menschen mit einem Lebensalter von über 65 Jahren generell als geriatrische Fälle klassifiziert werden, sofern sie Rehabilitation benötigten. Wiederum seien viele alte Menschen vor allem den Abteilungen für Innere Medizin zugeordnet (WHO 1966). Ebenfalls in den 1960er Jahren gab der King’s Fund in Großbritannien eine wissenschaftliche Design-Studie in Auftrag mit dem Ziel, einen Prototyp für ein neues Standard-Klinik-Bett zu entwickeln, um dem andauernden Pflegekräftemangel bei stetig steigenden Bettenzahlen entgegenzuwirken. Der involvierte Hersteller Nesbit interessierte sich erst für eine engere Zusammenarbeit mit dem Projekt und letztlich für die Produktion dieses aufwändigen Bettes, nachdem versichert worden war, dass die sogenannten King’s Fund Betten gleichfalls für den neuen Markt der geriatrischen Betten geeignet seien und somit höhere Absatzzahlen gesichert erschienen. Zur Debatte stand auch die genauere Bestimmung »geriatrische_r Patient_innen« und ob alle Menschen mit Erreichen eines bestimmten Alters zu geriatrischen Patient_innen würden, für die dann auch ein besonderes Pflegebett benötigt würde (vgl. Lawrence 2001: 36ff, 128). Der Umgang mit altersbedingt pflegebedürftigen Menschen in Krankenhäusern wurde häufiger diskutiert. So wies u. a. der Architekt Dieter Ketterer 1975 darauf hin, dass durch die Einrichtung von Tageskliniken für geriatrische Patient_innen in Großbritannien, Schweden, den Niederlanden und der Schweiz der Bettenbedarf in Allgemeinkrankenhäusern gesenkt werden konnte (vgl. Ketterer 1975: 451ff).8 Ein stetig wachsender Bedarf an Krankenhausbetten beförderte die Suche nach Kriterien für die Bedarfsplanung. Als Mittel zum Einsparen von Bet-

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Die erste Tagesklinik ist 1942 in der Sowjetunion in Betrieb genommen worden (Ketterer 1975: 451ff).

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ten galt u. a. die differenzierte Krankenhauspflege: In Stichproben wurde festgestellt, dass ein großer Teil der Patient_innen in der Akutversorgung nicht auf ständige systematische Überwachung angewiesen war und daher auf anderen Stationen versorgt werden könnte (vgl. Havliček 1967: 36f). Zu dieser Patient_innengruppe gehörten vor allem chronisch Kranke und/oder ältere Patient_innen (vgl. Bornat/Raghuram/Henry 2011: 431ff). Da sich die Klinik im Gegensatz zu ihrem Vorgänger – dem christlichen Hospital – auf die Wiederherstellung von Körper und Geist im medizinischen Sinne spezialisiert hat, werden Patient_innengruppen ohne Aussicht auf ›Verbesserung‹ in Langzeitpflegestationen ausgelagert, um dadurch kostenintensivere Betten in Krankenhäusern einzusparen (vgl. ebd.). Bornat, Raghuram und Henry haben daher dem Krankenhausbett in der sozialen Geografie des Krankenhauses eine wesentliche Rolle zuerkannt: »The bed was, and still is, key to decisions relating to transitions and borders between access to cure or care of the aged body; who may be recuperable and who irrecuperable.« (Ebd.: 431)

D AS P FLEGEBETT Die Pflege älterer und/oder schwer kranker Menschen orientiert sich am Konzept der Klinik und stellt das Bett ins Zentrum der Wohn- und Behandlungsräume älterer Menschen. Das Deutsche Bundesministerium für Gesundheit hebt in einem Ratgeber für die Pflege zu Hause ebenfalls die Relevanz des Bettes hervor und benennt sieben Vorteile eines Pflegebettes.9 Einer davon sei, dass Pflegebetten nicht mehr wie Krankenhausbetten aussehen: »Sie sind auch aus Holz erhältlich und passen sich jeder normalen Wohnungseinrichtung an.« (BMG 2010: 24) Das Bundesministerium für Gesundheit rät weiterhin: Sollte der oder die Angehörige permanent bettlägerig sein, ist es unerlässlich, ein Pflegebett anzuschaffen, da es die Bandscheiben der Pflegenden schont (ebd.: 23f). Entweder aus Ermangelung alternativer Konzepte für die Langzeitpflege und die Einrichtung von Wohnräumen älterer Menschen (vgl. Gawande 2014: 68f) oder um vorhandenes Know-How zu nutzen, werden Krankenhausbetten zu Pfle-

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Der wichtigste Vorteil sei die Höhenverstellbarkeit für eine Rückenschonung der Pflegenden. Kopf- und Fußliegefläche seien beliebig verstellbar. Hinzu kommen Bettbügel [Aufrichter], Seitengitter, fast geräuschlose Elektromotoren, Rollen und nicht zuletzt sei es von Vorteil, dass Pflegebetten nicht mehr wie Krankenhausbetten aussehen (BMG 2010: 23f).

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gebetten adaptiert. Ein modernes Pflegebett ist mit den gleichen Funktionen ausgestattet, die auch für Krankenhausbetten typisch sind10: Da ist zunächst die verstellbare Rückenlehne bzw. dreiteilige Matratze mit beweglichen Segmenten. Hinzu kommen Höhenverstellbarkeit, Aufrichter, Bettgitter, Rollen und Beleuchtung. Pflegebetten müssen, ähnlich wie Krankenhausbetten, zahlreichen Normen entsprechen.11 Dennoch werden gerade Funktionsteile, die der einfachen Handhabung sowie der Sicherheit dienen, stark kritisiert: So verhindern Bettgitter nicht nur das Fallen aus dem Bett, sie stellen im Gegenteil auch eine Gefahr und Einschränkung der Freiheit dar (vgl. Gaßner/Strömer 2015: 253). Zu hoch eingestellte Betthöhen, die den Pflegekräften das Bücken ersparen sollen, erschweren oder verhindern das Verlassen des Bettes für die Patient_innen. Mit Blick auf das Bett ist es kaum verwunderlich, dass ein akuter Krankenhausaufenthalt für eine Vielzahl älterer Menschen einen Wendepunkt im Leben darstellt, und dass einmal in einem Pflegeheim Aufgenommene dieses nicht mehr verlassen: Vorher mobile, sich selbst versorgende und selbstbestimmte Personen werden immobil, angewiesen auf Hilfe, bettlägerig (vgl. Boltz/Resnick/Capezuti/Shuluk 2014: 45; Zegelin 2013: 115). Immobilität sowie Schwäche und Schwindel aufgrund von Bewegungsmangel lassen wiederum die Mobilitäts-Funktionen der Pflegebetten natürlich und notwendig erscheinen. Dies entspricht vor allem der Logik der Bettenhersteller. Sie argumentieren mit der unterstützenden Funktion ihrer Betten im Dienste der Mobilität für Bewohner_innen wie auch mit der Rückenschonung für Pflegende.12

10 Die Firma Betten-Malsch stellt die beiden Vertriebssegmente Klinikbetten und Pflegebetten auf der Startseite bettenmalsch.com gegenüber. Das Pflegebett und seine Umgebung werden mit warmen Farben, Teppichboden und Holzimitat dargestellt; die Rollen sind nicht sichtbar. Das Klinikbett hat eine hellere und glattere Umgebung. Auch der Hersteller Völker unterteilt sein Angebot auf voelker.de in Pflege und Klinik (sowie Zubehör). Ähnlich wie bei Bettenmalsch überwiegen im Pflegebereich Brauntöne und Holzimitat, während auf den Darstellungen der Klinikbetten Grau- und Blautöne überwiegen. Auch hier sind beide Betttypen von der mehrteiligen elektrisch verstellbaren Unterlage, den Seitengittern und den Rollen geprägt. 11 Die Normen für Krankenhaus- und Pflegebetten unterliegen einer ständigen Wandlung und wurden in den letzten Jahren international vereinheitlicht (vgl. Völker 2011 und DIN o. J.). 12 In der Firmenzeitschrift Forum des Bettenherstellers Stiegelmeyer ist das Thema Mobilität und Patient_innen-Mobilisierung präsent: Im Juli 2014 gab es – als Reaktion auf den Expertenstandard Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege (Juni 2014) – ein Heft (Nr. 8) mit dem Schwerpunkt »Mobilisierung«.

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Ein leicht verstellbares Bett kann wesentlich als Kriterium für Komfort angesehen werden, und sicherlich möchten viele Menschen nicht auf diese Bequemlichkeit des Ruheraums verzichten. Dennoch bietet die Technisierung nicht für alle Bedürfnisse der Pflege die entsprechende Antwort. Vielmehr wirkt sie diesen auch entgegen, wenn das technisch aktive Bett die darin Platzierten isoliert und deaktiviert. Aus der Unterstützung wird somit Überwachung und Reglementierung in Form einer »Design Paternalisierung« (vgl. Peine/Moors 2015: 77). Im Falle der Bettgitter und deren für Patient_innen unüberwindbare Materialität wird auch deutlich, dass die Interessen der Patient_innen in Bezug auf Komfort und Bewegungsfreiheit den Sicherheitsinteressen und versicherungsrechtlichen Fragen untergeordnet werden (vgl. Brush/Capezuti 2001).

D AS B EWEGUNGS -B ETT Obwohl die Hersteller des europäischen und amerikanischen Marktes 13 mittlerweile nahezu vollständig auf elektrische Betten umgestellt haben, gibt es dennoch weitere technische Entwicklungen, die nun nicht mehr nur das Bettgestell und seine Verfahrbarkeit betreffen: Inzwischen erhalten Betten Bewegungs-Sensoren, intelligente Lichtsysteme und stimulierende Matratzen. An der Oberfläche des Objekts – auf der Matratze – überschneiden sich die Materialität des menschlichen Körpers und die Materialität des Objektes größtmöglich. Dieser Kontakt, die Begegnung der Körper auf der materiellen Ebene, ist produktiv. Beim Menschen verursacht diese ausgedehnte Berührung organische Veränderungen. Die Bettruhe und die daraus resultierende Immobilität haben demnach nicht nur Nebeneffekte, sondern müssen sogar als Hauptverursacher für einige der größten Probleme in der Langzeitpflege, wie Inkontinenz, Dekubitus, Stürze, kognitive Beeinträchtigungen, Bettlägerigkeit und Unterernährung angesehen werden. Aktuelle empirische Studien belegen dies (vgl. Lahmann/Tannen/Kuntz/Raeder/Schmitz/Dassen/Kottner 2015). Wie bereits erwähnt, bieten Hersteller Funktionen zur Mobilitätsförderung, aber auch technische Lösungen für Probleme, die aufgrund des langen Liegens im Bett entstehen. Als Beispiel sei hier das Micro-Stimulations-System (MiS) von Thomashilfen angeführt. MiS funktioniert laut dem Dekubitus Pflege-Ratgeber des Vereins Institut für Innovationen im Gesundheitswesen und angewandte Pflegeforschung folgendermaßen: Ein Microprozessor steuert die Bewegung etlicher

13 Dazu zälen u. a. Hill-Rom (Völker), Arjo Huntleigh, Malvestio, Wissner-Bosserhoff, Stiegelmeyer, Famed, Embru, Linet.

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kleiner Flügelfedern, der Aktoren. Sie sind in die Liegefläche integriert und reagieren mit kleinen Gegenbewegungen auf die geringsten Regungen der im Bett liegenden Personen. Über das Bedienelement können verschiedene Bewegungsmodi (Welle, schiefe Ebene, Rotation, statisch) eingestellt werden, so dass eine individuelle Dekubitusprophylaxe und -therapie gewährleistet sein soll: Eine klassische Druckgeschwür-Prävention durch extrem weiche Lagerung, die nur den Druck reduziere, führe zu einem Verlust der Wahrnehmung des eigenen Körperschemas. Die Rückkopplung der Eigenbewegung der Patient_innen durch das System ermögliche hingegen, durch bewusst oder unbewusst wahrgenommene Berührungsimpulse, eine neuronale Stimulation und letztlich Mobilisierung. Diese Form der Mikrostimulation eigne sich außerdem besonders für Demenzerkrankte (dekubitus.de). Aus diesen Erläuterungen zur Funktionsweise ergibt sich der Schluss, dass die mit MiS ausgestattete Thevo-Anti-Demenz und Anti-Dekubitus-Matratze als Widerstand und Gegenständlichkeit empfunden wird, obwohl der Auflagedruck tatsächlich verringert wurde. Dinge stehen Menschen gewöhnlich durch ihre reine Materialität entgegen. Dieses ›Ur-Prinzip‹ wird hier durch die Bewegungen der Aktoren ersetzt. Die Wahrnehmung der Gegenständlichkeit wird somit nicht aufgrund der Materialität erzeugt, als vielmehr durch mechanische Bewegungen. Da die Auflagefläche selbst so immateriell wie möglich gestaltet sein soll, um Druckgeschwüre zu verhindern, wird ihre Gegenständlichkeit virtualisiert. Obwohl keine (Dekubitus auslösende) Materialität vorhanden ist, werden die widerständigen Eigenschaften der Materialität simuliert. Auf diese Weise nehmen die im Bett Liegenden die sich bewegende Auflage als ruhenden und festen Gegenstand wahr. In dieser Logik wird paradoxerweise die Matratze erst zum beruhigenden Untergrund, wenn sie ständig tätig ist. Damit wird allerdings zugleich impliziert, dass den menschlichen Körpern eigene Bewegungsaktivität abhanden gekommen ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen lässt sich abschließend anmerken, dass nach der Verfahrbarkeit und Höhenverstellbarkeit die Entwicklung des Krankenhaus- bzw. Pflegebettes mit der Mikrostimulation an einem Punkt angekommen ist, wo dem Artefakt ein kaum zu steigerndes Potential von Aktivität und Mobilität abverlangt wird und es damit in die rationalisierten und planbaren Abläufe der Pflege eingepasst wurde. Bei aller technischen Raffinesse erscheint es mir, aus ethischen und medizinischen Gründen, jedoch vielversprechender, auf individuell angepasste, alternative (manchmal einfachere) Materialitäten zurückzugreifen, wie dem Pflegestuhl oder der bodennahen Pflege, weil Menschen dort vor allem Bewegungsraum für eigene Bewegungsaktivität gegeben wird. Der Ruhestand sollte nicht nur in der unruhigen Materialität der Betten verbracht werden müssen.

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Auf der Ebene der sozialen Praktiken und deren Wechselbeziehungen zu Materialitäten zeigt dieser kurze Exkurs in die historische Wandelbarkeit und die Details der materiellen Realitäten der Krankenhaus- und Pflegebetten, dass soziale Gefüge aus heterogenen Ensembles bestehen, wobei die Wirkungsmacht scheinbar banaler Alltags-Objekte erst durch eingehendere Forschungen verständlich werden kann. Sowohl weitreichendere Objektgeschichten als auch die Untersuchung technischer Details und Materialeigenschaften erscheinen meines Erachtens wesentlich für das Verständnis sozialer Beziehungen und Bedeutungszuschreibungen wie der des Alter(n)s.

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High-Tech und Handtasche Gegenstände und ihre Rolle in der Pflege und Unterstützung älterer und alter Menschen A NAMARIA D EPNER UND C AROLIN K OLLEWE

D INGE

UND ALTER ( N ) AUS KULTURWISSENSCHAFTLICHER

P ERSPEKTIVE

Trotz des schon länger zu konstatierenden und weiterhin wachsenden Interesses an Objektforschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften, ist bisher das Verhältnis zwischen älteren und Menschen und materieller Kultur nur vereinzelt genauer ausgeleuchtet worden. Welche Rolle spielen Gegenstände im Alltag älterer und alter Menschen? Welche Bedeutungen messen ältere und alte Menschen und ihr Umfeld (ihren) Dingen zu? Wie tragen materielle Objekte dazu bei, das alltägliche Leben im Alter zu gestalten, und wie werden sie Teil von doing age-Prozessen und Praktiken? Das sind Fragen, die unseres Erachtens im Anschluss an den material turn bei einer Betrachtung des Alters vor allem aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gestellt werden müssen. Denn der interdisziplinäre Forschungsstand zu Dingen im Alter weist hier noch einige Lücken auf. Sucht man nach bisherigen Veröffentlichungen in verschiedensten Disziplinen, so stößt man beispielsweise auf soziologische und psychologische Untersuchungen zu persönlichen Dingen, die für ältere und alte Menschen besonders bedeutsam sind (McCracken 1987; Beil 2012) und auf darauf bezogene Weitergabepraktiken (Folkman Curasi/Price/Arnould 2006; Breuer 2013). Auch finden sich erste Auseinandersetzungen mit den alltagspraktischen Aspekten des Konsumverhaltens im Alter (Hellmann 2015). Des Weiteren belegen Beiträge aus der ökologischen Gerontologie (Saup 1993; Wahl/Iwarsson/Oswald 2012; Oswald 2010),

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dass Dinge in der Wohnumwelt nicht nur unter nutzungspraktischen und sicherheitsbezogenen Aspekten zu sehen sind, sondern auch als persönlich bedeutsame Objekte. Sie können demnach als eine Art Anker fungieren, sind wichtig für das subjektive Empfinden und um Kontrolle und Autonomie im eigenen Leben behalten zu können. Neben diesen Studien, die in erster Linie Alltagsdinge bzw. persönliche Gegenstände fokussieren, stellen neue assistive Systeme – technische Objekte, die in der Pflege und Unterstützung älterer und alter Menschen genutzt werden – ein eigenes Forschungsfeld dar. Hierzu existieren bereits Forschungen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: so aus der Gerontologie (z. B. Kruse/Schmitt 2015; Claßen/Oswald/Wahl/Heusel/Antfang/Becker 2010), der Pflegewissenschaft (z. B. Remmers 2015; Hülsken-Giesler 2015), der Soziologie (z. B. Pelizäus-Hofmeister 2013), der Kulturanthropologie (z. B. Endter 2016) oder mit Blick auf ethische Fragen (z. B. Manzeschke/Weber/Rother/Fangerau 2013; Weber 2015). Vor allem im angelsächsischen Bereich sind Untersuchungen entstanden, die den Science and Technology Studies zuzuordnen sind (z. B. Mort/Roberts/Milligan 2011; Joyce/Loe 2010; Pols/Moser 2009). Diese geben inspirierende Anstöße, betrachten sie doch assistive Technologien als wichtige und zum Teil auch aktive Bestandteile von Pflege und in der Unterstützung älterer und alter Menschen. Studien, die Alter(n) und materielle Kultur dezidiert aus einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel untersuchen, lassen sich allerdings bisher kaum finden. Die wenigen greifbaren Arbeiten widmen sich vornehmlich altersbedingten Umbruchs- und Übergangssituationen wie beispielsweise dem weitestgehend selbstbestimmten Umzug in ein Altenheim (Depner 2015) oder dem eher fremdbestimmten in eine Pflegeeinrichtung (Löffler 2014). Wie aber gestalten sich alltägliche Mensch-Ding-Beziehungen in Pflege- und Care-Settings im Alter? Das interdisziplinäre Grundlagenforschungsprojekt »Pflegedinge«1 geht u. a. dieser Frage nach. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels befand sich das Projekt etwa in der Hälfte der Laufzeit. Die folgenden Ausführungen geben zunächst einen kurzen Überblick über die Ansatzpunkte und Forschungsstrategien. Daran anschließend wird ein verstehender Zugang in das erhobene Material geboten.

1

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojekts »Die Pflege der Dinge – Die Bedeutung von Objekten in Geschichte und gegenwärtiger Praxis der Pflege« – kurz »Pflegedinge« (www.pflegederdinge.de). Das diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben wird von Februar 2014 bis Ende Januar 2017 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UO1317A gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.

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D AS P ROJEKT »P FLEGEDINGE « Das Grundlagenforschungsprojekt »Die Pflege der Dinge – Die Bedeutung von Objekten in Geschichte und gegenwärtiger Praxis der Pflege« (kurz »Pflegedinge«) ist ein Verbundprojekt des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité, des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim und des Fachgebiets Pflegewissenschaft der Universität Osnabrück. Das Projekt nimmt dezidiert eine bestimmte Objektgruppe in den Blick, nämlich »Pflegedinge«. Im Projektverbund werden diese definiert als »materiale Gegenstände, die sowohl historisch als auch gegenwärtig in sozialen Konstellationen und Konstruktionen von Pflege vorkommen«. Dabei werden breit aufgestellte sozial- und kulturwissenschaftliche Untersuchungsinteressen wie die oben formulierten aufgegriffen und an die in unterschiedlichen Settings von Pflege und Care vorgefundenen Objekte herangetragen. Im Mittelpunkt des Verbundprojekts stehen folgende zwei Fragen: Erstens, welche Rolle spielen Dinge bei der Herstellung von Pflege und Care? Und zweitens, in welcher Weise wird pflegerisches Wissen aus Theorie und Praxis in Pflegedingen materiell verwirklicht? Vom Schnabelbecher bis zu den neuesten pflegebezogenen Technologien – ob im Krankenhaus um 1900 oder in einer futuristisch anmutenden »smart home«-Umgebung für demenziell Erkrankte – wird an ausgewählten historischen Etappen und gegenwärtigen Phänomenen untersucht, welche Rolle Objekte bei der Konstitution von Pflege und Care spielen. Dabei werden die Pflegedinge als Teil einer Mensch-Ding-Beziehung verstanden. Der hier zugrundeliegende Pflegebegriff ist breit gefasst. »Pflege« wird innerhalb des Projektverbundes als »ein besonderes Beziehungsgefüge2 der Sorge im

2

»Pflege« spezifischer zu definieren erscheint schwierig, da diese sehr verschiedene Tätigkeiten und Aktivitäten umfasst, wie z. B. professionelle Pflege, Selbstpflege und Pflege durch Angehörige, Freund*innen, Nachbar*innen etc. Auch kann Pflege in sehr unterschiedlichen Kontexten stattfinden, z. B. im Krankenhaus, Pflegeheim oder aber im Haushalt des Gepflegten. Darüber hinaus wird beispielsweise zwischen Gesundheits- und Krankenpflege sowie Altenpflege unterschieden, wobei diese jeweils verschiedene Akzente in ihrem Bezug auf Gesundheit bzw. auf die Unterstützung im Alltag setzen (Schroeter 2008). Für die professionelle Pflege existieren Definitionen von relevanten Akteuren, wie z. B. vom International Council of Nurses (ICN), der American Nurses Association (ANA) und der WHO, denen einiger Einfluss in der Debatte um professionelle Pflege zukommt. Um Pflege genauer zu umreißen (als dies die oben genannte Definition des Verbundprojekts »Pflegedinge« tut) hat der Osnabrücker Pflegewissenschaftler Helmuth Remmers vorgeschlagen, Pflege – sei sie nun »eine professi-

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Sinne von Care«3 konzipiert. Im Rahmen des Projekts »Pflegedinge« werden also Dinge analysiert, die in Care- und Pflegesituationen vorkommen. Durch einen explorativen und induktiven Zugang will das interdisziplinäre Team den Blick für den Anteil von Dingen bei der Herstellung von Pflege sowie für die Bedeutung(en) dieser Gegenstände für Pflegende, Gepflegte und ihr soziales Umfeld weiten. Es gilt, das Gefüge aus Menschen und Dingen, welches ursächlich für die Herstellung von Unterstützung bzw. Pflege ist, objektbezogen zu erfassen. Im Projekt »Pflegedinge« werden die Objekte unter unterschiedlichen Aspekten in den Blick genommen, wobei die Untersuchungsaspekte in den verschiedenen Studien jeweils eine andere Gewichtung erfahren:   

Materialität/physische Präsenz von Dingen Mensch/Ding-Interaktion Zuschreibungen und Diskurse

Theoretische Grundannahmen des Projekts und wichtige Anstöße zu den Analysen der genannten Aspekte der »Pflegedinge« kommen neben den Material Culture Studies aus den Science and Technology Studies und aus den Workplace Studies. Erstgenannte haben gezeigt, dass die Polyvalenz und Mehrdeutigkeit materialer Dinge nur durch den Einsatz verschiedener methodischer und theoretischer Ansätze erfassbar sind. Denn Dinge können unterschiedliche Bewertungen und Nutzungen erfahren und in vielerlei Hinsicht Bedeutung haben: Sie können Teil von Praktiken sein und diese, nicht zuletzt aufgrund ihrer stofflichen Beschaffenheit, ermöglichen oder behindern (Scharfe 2005, 2009; Hahn/Soentgen 2010). Sie sind mit Menschen und anderen Dingen auf unterschiedlichen Ebenen verbunden (König 2000; Miller 2010; Küchler 2015). Objekte werden sehr häufig aber auch

3

onelle oder informelle Leistung« (Remmers 2011: 27) – als durch eine »leibliche Gegenseitigkeit« (ebd.) charakterisierte »Beziehungsarbeit« (ebd.) zu verstehen. Dabei bezieht er sich auf Plessners Unterscheidung zwischen »Körper haben« und »Leib sein«, wonach der Körper als ein materiales Objekt verstanden, während der Leib als Erlebtes konzipiert wird (Fuchs 2015: 147ff.). Mit Margrit Brückner (2004) verstehen die beiden Autorinnen unter »Care« die Gesamtheit von Erziehungs-, Betreuungs-, Versorgungs- und Unterstützungsarbeiten, die für unterschiedliche Gruppen von Menschen (z. B. Kinder, ältere und alte Menschen, Kranke) sowohl innerhalb der Familie als auch in Institutionen wie beispielsweise Altenheimen, Kinderbetreuungsstätten etc. bezahlt oder unbezahlt geleistet werden. (Brückner ÖZS 2004: 9). Die Autorinnen dieses Artikels verstehen Care und damit auch Pflege als durchmachtete Arbeit (vgl. Klinger 2014; Schroeter 2008).

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weggeworfen (Windmüller 2004), vernachlässigt und dem Verfall Preis gegeben (Olsen 2010), beiseitegelegt oder zerstört (Depner 2013) oder einfach übersehen und vergessen (Hahn 2015). Die Science and Technology Studies erforschen Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Technologie und gesellschaftlicher Ordnung. Wissenschaft und Technik werden dabei nicht als neutral und objektiv betrachtet, sondern als Teil von sozialen Kontexten und Praktiken, innerhalb derer sie entstehen und betrieben werden. Diesem Verständnis nach bilden sich soziale Machtbeziehungen und Strukturen in Technik ab (vgl. Bijker/Law 1997 [1992]). Zugleich setzt Technik ein bestimmtes Verhalten voraus – oder ermöglicht es erst. Folglich haben technische Artefakte Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen und damit auch auf soziale Strukturen (vgl. Akrich 1997 [1992]). Vor dem Hintergrund der Ansätze und Erkenntnisse der Workplace Studies wird im Projekt »Pflegedinge« aber auch die Aufmerksamkeit auf die Rolle von Gegenständen in der Organisation von Arbeit gelenkt, so beispielsweise, wenn danach gefragt wird, wie Objekte Carework möglicherweise verändern und strukturieren.

P FLEGEDINGE

IM

Ü BERBLICK

Nähert man sich dem Feld der Unterstützung und Pflege älterer und alter Menschen und den dort verwendeten Objekten, trifft man auf sehr unterschiedliche Gegenstände: So sind in einer Institution der professionellen, vollstationären Altenpflege eine Vielzahl hoch spezialisierter Objekte zu finden, die direkt und ausschließlich mit pflegerischem Handeln in Verbindung stehen (z. B. Spritzen, Verbände, Dokumentationsmappen etc.). Diese Objekte stammen zumeist aus jenem Bereich der Pflege, der sich auf die Verrichtung gesundheits- und krankheitsspezifischer Pflegemaßnahmen konzentriert; das heißt also auf die Gabe von Medikamenten, das Spritzen von Insulin oder das Anlegen von Verbänden. Pflegerische Tätigkeiten, in denen diese Objekte involviert sind, werden hauptsächlich von examinierten Pflegekräften durchgeführt. Aufgaben, die sich auf Hilfestellungen bei Körperpflege, Ernährung oder den Ablauf des täglichen Lebens im Allgemeinen beziehen, werden in Pflegeeinrichtungen in der Regel von Pflegehelfer*innen übernommen. Gerade aus diesem Bereich fallen überraschend viele Objekte ins Auge, die sich mit den Alltagsdingen in einem durchschnittlichen Haushalt decken (z. B. Tassen, Löffel, Waschlappen). Diese Gegenstände werden in den Einrichtungen jedoch nicht nur im Alltag von Bewohner*innen und Pflegenden, sondern für die medizinischen Komponenten der Pflege, relevant gemacht.

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Auch diese Dinge können, müssen aber nicht, speziell für Pflege und Care-Settings hergestellt sein. Neben Gegenständen, die dem verbreiteten Bild von Pflege zugeordnet werden können, existieren in Institutionen der Altenpflege aber auch eine Vielzahl von beispielsweise persönlichen Gegenständen eines Menschen, der gepflegt wird. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Gegenständen, die in Pflege- und Care-Settings vorhanden sind, unterscheiden wir – basierend auf teilnehmenden Beobachtungen in verschiedenen Institutionen der stationären Altenpflege – drei Arten von Pflegedingen: 1.

2.

3.

Materiale Objekte, die eigens dazu konzipiert und hergestellt wurden, um Pflege zu ermöglichen, zu erleichtern oder zu erweitern (z. B. Lifter, Beatmungsgerät, Magensonde, Berufskleidung, Einmalhandschuhe, Lehrpuppe). Materiale Objekte, die als Dinge der Selbstpflege zu verstehen sindund die in einer Bedarfssituation durch eine pflegende Person gehandhabt werden (z. B. Seife, Waschlappen, Löffel, Pflaster). Materiale Objekte, die aus anderen Kontexten als der professionellen Pflege stammen (z. B. persönliche Objekte) bzw. anderen Lebensbereichen zugeordnet werden können (z. B. Haushalt, Freizeit), und durch deren (kreativen) Einsatz Pflege ermöglicht, erleichtert oder erweitert wird.

Aktuell wird im Rahmen des Projekts »Pflegedinge« noch geprüft, ob und inwieweit mit dieser Kategorisierung in allen Teilprojekten operiert werden kann. Für die im Weiteren vorgestellte Forschung ist der Zugang aber durchaus erkenntnisfördernd. Im Folgenden stellt der Artikel Beispiele für die Analyse der oben genannten unterschiedlichen Pflegeding-Kategorien kurz vor. Für die Datenerhebung wurde von beiden Autorinnen teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews4 durchgeführt, allerdings je nach Erkenntnisinteresse in unterschiedlichen Wohnformen: Bei der ersten Untersuchung, die hier präsentiert wird, legt Anamaria Depner das Augenmerk auf die Rolle alltäglicher Dinge an Orten hoher Spezialisierung, wie z. B. vollstationäre Einrichtungen für Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Der Begriff »alltägliche Dinge« ist hier in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Er meint sowohl Alltagsobjekte, die in der Regel aus dem Besitz der Gepflegten in die Einrichtung kommen, ohne dort in derselben Art und Weise verwendet zu werden, als auch jene Objekte, die in der Regel

4

Die Autorinnen danken allen, die bereit waren, sich im Rahmen der genannten Studien von uns interviewen bzw. ihren Arbeitsalltag von uns teilnehmend beobachten zu lassen.

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unscheinbar und übersehen bleiben, doch tagtäglich in diesen Einrichtungen benutzt werden. Carolin Kollewe widmet sich anschließend hoch spezialisierten Objekten an alltäglichen Orten: Sie stellt dar, wie private Wohnungen älterer und alter Menschen mit assistiven Technologien ausgestattet werden und welche Bedeutungen die Nutzer*innen diesen Technologien zuweisen. Diese sensorbasierten Systeme werden aktuell zumeist im Rahmen von Studien in Haushalte älterer und alter Menschen eingebaut und sollen ermöglichen, dass diese Menschen länger zuhause leben können.

P ERSONENBEZOGENE ALLTAGSGEGENSTÄNDE IN DER L ANGZEITPFLEGE Die empirische Erhebung der ersten hier vorgestellten Studie erfolgte in zwei Pflegeheimen an unterschiedlichen Orten in Deutschland. Dabei wurde mithilfe von teilnehmender Beobachtung der einzelnen Arbeitsschichten von Pfleger*innen jeweils ein gesamter Tagesverlauf (0:00 bis 24:00 Uhr) in der jeweiligen Einrichtung erfasst. Ziel war es, Objekte zu identifizieren, die im Vollzug von Pflegehandlungen eine Rolle spielen, und zwar mit einem offenen Blick, der alle Objekte, die Teil der Pflegehandlungen sind, in den Fokus nimmt, nicht nur die im Hilfsmittelverzeichnis aufgelisteten. Das explorative Vorgehen ermöglichte, auch jene Gegenstände zu erfassen, denen in der Pflege und Unterstützung älterer und alter Menschen eine Bedeutung zukommt, auch wenn sie laut Lehrbüchern, wissenschaftlichen Untersuchungen oder der Pflegeverordnung nicht als maßgeblich gelten. Anschließend an die teilnehmenden Beobachtungen wurden qualitative, leitfadengestützte Interviews mit Heimleiter*innen und Pflegekräften geführt, um das aus den teilnehmenden Beobachtungen gewonnene Material zu erweitern und zu vertiefen. Nach und nach kristallisierte sich eine Objektgruppe heraus, die in der Folge als »diskrete Dinge« bezeichnet wurde: Dazu gehören sowohl dezidiert für die Pflege entwickelte Objekte, die aber, zum Beispiel aufgrund der häufigen, beiläufigen oder selbstverständlichen Nutzung, in der Regel unbeachtet bleiben; aber auch personenbezogene Alltagsgegenstände in der institutionalisierten Altenpflege. Letztgenannte sollen im Weiteren näher behandelt werden. Die Beispiele, die dafür herangezogen werden, sind alle aus einem privaten, relativ kleinen Pflegeheim (ca. 30 Plätze) mit gerontopsychiatrischem Schwerpunkt, hier »AnnaHaus« genannt. Folgenden zwei Fragen soll nachgegangen werden: Welche Rolle spielen diese Alltagsgegenstände für die Herstellung von Pflege? Inwiefern gestalten diese Dinge die Pflege und das Pflege-Setting mit?

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Z UR S ITUATION WÄHREND DER E RHEBUNG Im Anna-Haus wurde nach dem Pflegemodell von Liliane Juchli gearbeitet. Juchli ist seit den 1970er Jahren eine zentrale Figur der Pflegepraxis: Sie ist eine Schweizer Kranken- und Ordensschwester und Autorin eines bis heute zum Kanon gehörenden Pflegelehrbuchs (Schewior-Popp/Sitzmann/Ullrich5 2012). Juchli betonte mit ihrem Pflegemodell der »Aktivitäten des täglichen Lebens« besonders die Bedeutung des Alltags für die Pflege. Zum Konzept des Anna-Hauses gehörte, dass Alltagsobjekte wie beispielsweise Teller und Tassen gezielt nicht Produkte waren, die eigens für Pflegeeinrichtungen entwickelt wurden, also unter Prädikaten wie »bruchsicher«, »pflegeleicht«, »altersgerecht« etc. von den einschlägigen Anbietern vermarktet werden, sondern eben jenen Objekten ähneln, die auch in einem gewöhnlichen Haushalt einer älteren oder alten Person im Küchenschrank zu finden sind. Die Personen sollten nicht zwingend mit ihren eigenen, aber doch mit Dingen Umgang haben, die sie aus ihrer alltäglichen Umgebung gewohnt waren. Besonders galt das hinsichtlich der Dinge, die täglich (mehrmals) in wiederkehrenden Situationen in den Händen der Senior*innen waren, wie beispielsweise Teller, Tassen und Gläser. So erklärte die Heimleiterin: »Geschirr und Besteck aus Plastik, das muss ja nicht sein für die Bewohner. […] Ich habe einmal versucht, weil ich kein Glas bei der Hand hatte, einen Tee aus dem Plastikbecher… das schmeckt furchtbar – alles. […] Wir hatten am Anfang auch diese Plastikbecher, bis ich dann aber gesagt habe, die nehmen wir wieder weg. Lieber schmeißen sie mal ein Glas herunter. Weil, es schmeckt einfach alles anders. Und, das sind erwachsene Leute und keine kleinen Kinder.« (Heimleiterin Anna-Haus, Interview 004, 12.08.2015, sprachlich geglättet)

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Die Autorin dieses Lehrbuchs ist ursprünglich Liliane Juchli. Es ist erstmals 1973 unter dem Titel »Allgemeine und spezielle Krankenpflege: ein Lehr- u. Lernbuch« im Thieme-Verlag erschienen und nach wie vor als »Die Juchli« bekannt. Juchli hat allerdings nach der 8. Auflagen die Rechte an den Thieme-Verlag abgetreten, der seit 2000 (9. Aufl.) das Buch unter der genannten Herausgeberschaft und dem Titel »Thiemes Pflege« (Untertitel wechselnd) publiziert – inzwischen in der 12. Auflage (2012).

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O BJEKT -B EISPIELE Im Anna-Haus wurde in mehreren Situationen der Umgang mit alltäglichen Dingen beobachtet. Manche dieser Objekte würde man auf den ersten Blick überhaupt nicht dem Bereich der professionalisierten und institutionalisierten Pflege zuordnen: So konnte beispielsweise ein Moment großer Nähe zwischen Menschen und Dingen, der sich als pflegerelevant entpuppte, beim Transfer einer Bewohnerin mit stark fortgeschrittener Demenz, erfasst werden: Nachdem die alte Dame aus dem Gehstuhl (Walker) auf eine Gartenliege positioniert und gelagert worden war, legte man ihr die leere Handtasche, die über dem Walker hing, in dem sie gesessen hatte, auf den Oberkörper. Die Dame griff nach der Tasche, dann wurde eine Decke über sie gebreitet. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die Handtasche nicht aus dem Besitz der betreffenden Person stammte, sondern von einer der Pflegekräfte eigens für die Bewohnerin mitgebracht worden war. Laut Aussage der Heimleiterin hatte die alte Dame einst eine ähnliche besessen, und man hatte beobachtet, dass für sie die Anwesenheit des Objektes wichtig war: Als die Frau noch mobiler gewesen sei, habe sie diese immer mit sich getragen und über die Stuhllehne gehängt oder im Arm gehalten, selbst beim Essen. Die Tasche und ihre Position seien stets von ihr kontrolliert worden, bei kurzzeitigem Verlust sei sie sofort unruhig geworden und habe die Tasche gesucht. Der Wunsch der Bewohnerin, das Objekt zu halten und zu fühlen, und die damit zusammenhängende beruhigende Wirkung seien auch mit Fortschreiten der Krankheit geblieben. Im Laufe der Zeit sei es aber aufgrund von Verlust und zu starken Gebrauchsspuren mindestens zwei Mal nötig geworden, ihr ein anderes Exemplar zur Verfügung zu stellen. Als zweites Beispielobjekt sei ein Feuerzeug genannt, welches eine Pflegerin während der Feldforschung stets in der Tasche ihrer Arbeitskleidung mit sich führte. Die Pflegerin selbst rauchte nicht, doch einige der Bewohner*innen des Anna-Hauses wollten gelegentlich eine Zigarette im Garten genießen. Um diese anzünden zu können (der Besitz von Feuerzeugen oder Streichhölzern war den an Demenz erkrankten und mitunter desorientierten Bewohner*innen nicht gestattet), legte sich die Pflegerin ein Feuerzeug zu, welches sie dann bei ihrer Tätigkeit im Heim bei sich trug. Ein weiteres Beispiel für ein Pflegeding, das nicht eigens für die Pflege hergestellt wurde, aber für die Pflege eines Menschen eine wichtige Rolle spielte, ist ein Strohbesen. Während der gesamten Dauer eines Interviews mit der Heimleiterin im Anna-Haus fegte eine körperlich sehr rüstige, aber bezüglich ihrer Erinnerungsleistung stark beeinträchtigte alte Dame mit einem Besen das Pflaster im Hof

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der Einrichtung. Die Heimleiterin berichtete bei dieser Gelegenheit, dass der Besen eigens für die Bewohnerin seitens des Heimes angeschafft worden war, nachdem man beobachtet hatte, dass sie den Bürstenbesen, den eine Hauswirtschaftskraft aus der Hand gelegt hatte, aufnahm, um weiter zu kehren. Aus den Bewegungen hatte man geschlossen, dass sie eher den Umgang mit einer inzwischen weniger üblichen Besenform gewohnt war, und hatte einen Strohbesen für sie besorgt. Die Kittelschürze, in die die Bewohnerin gekleidet war, so berichtete die Heimleiterin weiter, habe sie bei den Angehörigen wiederholt anfragen müssen. Dem Personal sei aufgefallen, dass die Seniorin diese gesucht habe, sie immer wieder davon gesprochen habe, dass sie eine solche besitze und dass ihr das Kleidungsstück wichtig sei. Die Heimleiterin schloss mit den Worten: »Die [Angehörigen] denken, das braucht sie [die Bewohner*innen der Einrichtung] jetzt nicht mehr – sie soll etwas Gutes anziehen. Aber das ist falsch. Die Kittelschürze… das hat sie ihr Leben lang angehabt, es geht nicht ohne, ohne fehlt etwas. Das ist Biografiearbeit.« (Heimleiterin Anna-Haus, Protokoll 26/8, 26.08. 2015, sprachlich geglättet)

Diese Form der Biografiearbeit ist ein wichtiges Instrument moderner Pflegemodelle, die einen hohen Wert auf die Individualität und Selbstbestimmungsmöglichkeiten der zu pflegenden Menschen legen. Gerade wenn das Leitbild eines Heimes auf den Ansätzen von Liliane Juchli oder Monika Krohwinkel6 aufgebaut ist, werden im Gespräch mit Angehörigen, Betreuer*innen und – soweit möglich – mit der jeweiligen Person selbst umfassende Angaben über den je spezifischen Lebensweg, die prägenden Erfahrungen, Präferenzen und Besonderheiten zusammengetragen. Leitend ist der Gedanke, dass über diese Informationen ein tieferes Verständnis für den jeweiligen Menschen erreicht werden kann, was es wiederum ermöglicht, diesen seinen Bedürfnissen entsprechend und damit besser zu pflegen. Objekte spielen hierbei in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle: Zum einen werden im Idealfall besondere, d. h. erinnerungs- oder prestigeträchtige Gegenstände aus dem Besitz der Personen identifiziert und für diese weiter verfügbar gemacht. Zum anderen kann das alltägliche Sachuniversum der jeweiligen Person rekonstruiert und durch die Bereitstellung ähnlicher Objekte in den Einrichtungen

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Die »Aktivitäten des täglichen Leben« nach Juchli wurden von Krohwinkel (zuerst veröffentlicht in: Kuratorium Deutsche Altershilfe 1998) zum Konzept der »Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des Lebens« erweitert und pflegewissenschaftlich unterfüttert. Das Modell wird von unterschiedlichen Instanzen unterstützt und anerkannt, so dem Bundesministerium für Gesundheit in Deutschland oder dem Kuratorium Deutsche Altershilfe.

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auf Bekanntes rekurriert werden. So sollen nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Aktivität der gepflegten Person gesteigert werden. Auch in anderen Einrichtungen, die nicht dezidiert nach einem alltagsnahen Konzept arbeiten, lassen sich ähnliche Beispiele wie die oben genannten finden. Die Frage, ob Dinge wie die Handtasche, das Feuerzeug oder der Besen Objekte sind, die zur oder in die Pflege gehören, wurde im Rahmen der Untersuchungen von den befragten Heimleiter*innen und Pflegenden immer wieder bejaht. Die Begründungen weisen dabei in zwei Richtungen: Erstens wurde betont, dass die Pflegearbeit auf vielfältige Weise dadurch erleichtert werde: Bekannte Gegenstände, regten Menschen mit demenziellen Erkrankungen dazu an, sich mit diesen auseinanderzusetzen und die internalisierten Bewegungsabläufe so weit wie möglich auszuführen. Auch steigere die Gegenwart bekannter Gegenstände sowie persönlicher Objekte das Wohlbefinden und sorge für ein stärkeres Gefühl der Sicherheit bei den Bewohner*innen. Man könne deutlich erkennen, dass sich Bewohner*innen, die sich selbst beschäftigten und die Freiheit hätten, selbstbestimmt zu agieren, wohler fühlten, ausgeglichener und ruhiger seien. Das äußere sich auch darin, dass solche Personen hinsichtlich des pflegerischen Aufmerksamkeitsbedarfs und der Medikation weniger betreuungsintensiv seien. Zweitens wurde von den verschiedenen Heimleiter*innen und Pflegenden mit dem Leitbild ganzheitlicher Pflege argumentiert: Auch Personen, deren Möglichkeiten, ihre Wünsche zu äußern, stark beeinträchtigt seien, müssten in ihren persönlichen Bedürfnissen ernst genommen werden. Ein bestimmtes Objekt oder eine damit verbundene Tätigkeit, wenn auch inzwischen in den Augen anderer sinnlos oder unnötig geworden, gehören genauso dazu wie essen oder schlafen. Gesundheitliche Gefahren auszuschließen, die beispielsweise vom Rauchen oder einer körperlichen Betätigung ausgingen, dürfe nicht das einzige Ziel von Pflege sein, ebenso wenig wie das Herstellen einer sterilen und für alle Bewohner*innen identischen, standardisierten Umgebung. Im Gegenteil müsse ein hohes Maß an Selbstbestimmung hinsichtlich der individuellen, persönlichkeits- und biografiebedingten Eigenheiten in der Pflege nach Möglichkeit gewährleistet werden. »Alltagsarbeiten, die sie früher auch gemacht haben – das ist in deren Augen irgendwie auch was Sinnvolles. Und, ja, wenn sie zum Teil bloß einen Besen nehmen und einen Dreck von links nach rechts und von rechts nach links kehren. Aber in ihren Augen ist das was Sinnvolles. Ich sag mal, wenn einer ein Leben lang Maurer war, dann kann ich ihn nicht mit 80 Jahren dazu zwingen, dass er jetzt irgendwelche Bilder malt.« (Geschäftsführer AnnaHaus, Aufnahme 004, 12.08.2015, sprachlich geglättet)

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Aussagen, wie die hier zitierten, zeigen: Langzeitpflege bedeutet nicht nur die physische Versorgung älterer und alter Menschen, sondern auch die Sorge um deren persönliches, subjektiv erlebtes Wohlbefinden. Es wird als pflegerische Aufgabe angesehen, Dinge, die zur Lebenswelt eines Menschen gehören, diesem weiterhin im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen – selbst wenn diese, im Fall demenziell Erkrankter nur noch teilweise erinnerte, Lebenswelt so nicht mehr real ist. Unter personenbezogene Alltagsgegenstände in Pflegeeinrichtungen sind also im Allgemeinen jene Objekte zu zählen, die zum Alltag der gepflegten Menschen gehörten, bevor die Einrichtung zu ihrem Lebensmittelpunkt wurde. Dabei kann es sich um einen konkreten persönlichen Gegenstand handeln, um eine Objektgruppe oder eine Objektart. Es ist schon länger bekannt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der eigenen erlebten Identität und Objekten. Transdisziplinär argumentierende Veröffentlichungen zu diesem Thema zeigen eine Reihe von Beispielen auf (z. B.: Habermas 1999, oder Haubl 2000, Breuer 2009). In den Kulturwissenschaften erfahren »Erinnerungsobjekte« oder »biografische Objekte« bereits seit den 1990er Jahren erhöhte Aufmerksamkeit, und auch in der Gerontologie wurde, wie eingangs erwähnt, bereits darauf verwiesen, wie wichtig das persönliche Dingumfeld für das Wohlbefinden im Alter ist. Doch bisher gibt es weder konzeptuelle noch anwendungsbezogene Forschungsergebnisse bezüglich der Identifikations- und der Einsatzmöglichkeiten solcher Gegenstände in institutionalisierten Pflegeeinrichtungen. Im Rahmen der pflegerischen Praxis wird also eher experimentell und in Ableitung aus der eigenen Beobachtung, auf aktuelle Pflegetheorien Bezug nehmend, auf den Stellenwert personenbezogener Alltagsgegenstände reagiert. Die Analyse dieser pflegerischen Praxis in vollstationären Pflegeeinrichtungen aus einer objektzentrierten Perspektive, so wie sie im Projekt »Pflegedinge« vorgenommen wird, kann dafür sensibilisieren, dass es häufig nicht die herausragenden persönlichen Objekte sind, sondern vielmehr die unbeachteten, als selbstverständlich oder zuweilen auch als unnötig betrachteten Dinge, denen eine identitätskonstituierende Funktion zukommt. Denn wenn die Gedächtnisleistung nicht mehr ausreicht, um ein persönliches Objekt wiederzuerkennen, kann sich dennoch in der Vergangenheit Gelerntes und Praktiziertes, beispielsweise durch den Ablauf einer gut bekannten, häufig wiederholten Handlung, an einem Objekt manifestieren. Diese Handlung wiederum wird durch den taktilen Austausch mit einem Objekt initiiert. Die Vorstellungen vom »richtigen«, »erfolgreichen« oder »sinnvollen« Ausführen dieser Handlung können im Kontext Demenz keine Kriterien für die Beurteilung der Eignung der involvierten Dinge für die gepflegten Personen

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sein. Vielmehr muss hier mit dem Effekt argumentiert werden, der durch die physische Präsenz der Dinge und dem taktilen Austausch damit zu beobachten ist.

T ECHNO C ARE : AMBIENT ASSISTED L IVING -T ECHNOLOGIEN IN P RIVATHAUSHALTEN ÄLTERER UND ALTER M ENSCHEN In der zweiten Studie, die hier vorgestellt werden soll, werden assistive Technologien untersucht, die in Deutschland bisher noch wenig verbreitet sind und gerade erst in die Haushalte älterer und alter Menschen eingeführt werden. Die Technologien des sogenannten »Ambient Assisted Living« sollen den Alltag unterstützen (Wessig 2011: 74) und dazu beitragen, dass Menschen im Alter länger selbständig und selbstbestimmt in ihren Haushalten leben können (BMBF/VDE 2011: 12). Es handelt sich hierbei also um Gegenstände, die ganz dezidiert für die Unterstützung von älteren und alten Menschen entwickelt und hergestellt wurden und die Angehörigen und Pflegenden ermöglichen sollen, in gewisser Weise Pflege und Unterstützung zu leisten, ohne selbst vor Ort zu sein. Mit dem Begriff »Ambient Assisted Living« (AAL) wird zumeist ein selbstlernendes, vernetztes System aus Sensorik, Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Mikrosystemtechnik bezeichnet (Wessig 2011: 72f.). Die von den Sensoren erhobenen Daten werden zusammengeführt und ausgewertet. Beispiele für diese assistiven Technologien sind: automatische Herdabschaltung, Medikamentenausgabe, Gebäudesteuerung, Sensormatten und durch Sensoren erweiterte Hausnotrufsysteme. Diese Untersuchung fokussiert somit vornehmlich auf ambulante Pflege-Settings bzw. auf Care-Konstellationen, bei denen es um die Unterstützung älterer und alter Menschen durch ein Geflecht von zumeist Angehörigen, Freund*innen sowie Mitarbeiter*innen verschiedener sozialer Dienste und der verwendeten Technologie geht. Im Fokus dieser Studie steht daher die Frage, wie Care unter Beteiligung von assistiven Technologien organisiert wird. Dabei interessieren auch die Bedeutungen, die ältere und alte Menschen, ihr soziales Unterstützungsnetzwerk und Mitarbeiter*innen von beteiligten sozialen Organisationen diesen Technologien zuweisen. Konkret untersucht wird dazu der Einsatz von erweiterten Hausnotrufsystemen, die den bereits etablierten »klassischen« Hausnotruf mit Sensoren kombinieren. Im folgenden Fallbeispiel wurde in einer deutschen Großstadt von einem sozialen Dienstleister im Rahmen eines Praxistests der »Hausnotruf Extra« (Pseudonym) eingeführt. Dieser erweiterte Hausnotruf kombinierte einen »klassischen«

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Hausnotruf mit einem selbstlernenden System von Sensoren. Diese wurden an unterschiedliche Stellen im Haushalt angebracht (z. B. an Schubladen, Türen und an elektrischen Geräten), um Bewegungen bzw. das Fließen von Strom zu messen. Aus den von den Sensoren gesammelten Daten wurde dann eine Art digitales, individuelles Profil des alltäglichen Lebens der Person, die in diesem Haushalt lebte, erstellt. Täglich überprüfte das System, ob es im Vergleich zu diesem errechneten »Normalalltag« zu »signifikanten Abweichungen« kam, und versendete einen Bericht über die Ergebnisse dieser Überprüfung per E-Mail an die Station des Dienstleisters. Falls mithilfe der Sensoren signifikante Abweichungen von diesem »Normalprofil« gemessen wurden, erstellte das System automatisch eine Warnung. Der Empfänger der Nachricht – ein Mitarbeiter des sozialen Dienstleisters – sollte dann geeignete Maßnahmen ergreifen und sich um den jeweiligen Menschen kümmern. Als erster Schritt sollte die betreffende Person telefonisch kontaktiert werden. Erweiterte Hausnotrufsysteme werden damit beworben, dass sie im Vergleich mit dem »klassischen« Hausnotruf mehr Service bieten könnten: Während der bisherige Hausnotruf einer aktiven Betätigung des sogenannten Funkfingers – umgangssprachlich meist als »Knopf« bezeichnet – bedarf, übermitteln die Sensoren auch Informationen ohne ein Zutun der entsprechenden Person. Anbieter betonen, dass mithilfe der Sensoren eine Prävention möglich sei: Ein besonderes Verhalten, das vom »Normalprofil« einer Person abweicht, könne so schon besonders früh erkannt werden. So erläuterte ein Mitarbeiter eines sozialen Dienstleisters beim ersten Beratungsgespräch für den »Hausnotruf Extra«, dass beispielsweise ein selteneres Öffnen einer Unterwäscheschublade, an der Sensoren befestigt sind, ein Hinweis auf eine beginnende demenzielle Erkrankung sein könnte. Das Monitoring mithilfe der Sensoren könnte so zu einer frühzeitigen Entdeckung von verschiedenen Erkrankungen beitragen. Im Rahmen des Projekts »Pflegedinge« wurden teilnehmende Beobachtungen bei Beratungsgesprächen im Vorfeld der Installation des erweiterten Hausnotrufs durchgeführt, beim Einbau der Geräte und bei der Nutzung dieser Technologie durch den sozialen Dienstleister. Ergänzend wurden qualitative, leitfadengestützte Interviews mit den Menschen geführt, in deren Haushalten die Sensoren installiert wurden, sowie zum Teil mit ihren Angehörigen. Soweit möglich wurden diese Interviews vor dem Einbau des Hausnotrufs Extra, kurz nach der Installation sowie am Ende des einjährigen Praxistests geführt. Die meisten der Menschen, deren Haushalt mit einem »Hausnotruf Extra« ausgestattet wurde, hatten zum Zeitpunkt der Erhebung (2015 und 2016) keinen Pflegebedarf im Sinne einer der in Deutschland bis dahin geltenden Pflegestufen bzw. nur einen relativ geringen.

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Während der teilnehmenden Beobachtungen und der Interviews wurde deutlich, dass die meisten Teilnehmer*innen des Praxistests den durch Sensoren erweiterten Hausnotruf vor allem deshalb in ihrer Wohnung installieren ließen, weil sie gern den »klassischen« Hausnotruf für ein Jahr gratis benutzen wollten. Um Geld zu sparen, nahm ein Großteil der Teilnehmer*innen die Sensoren sozusagen »in Kauf«. Einige wenige Nutzer*innen des »Hausnotruf Extra« bzw. ihre Angehörigen waren allerdings gerade an den Sensoren interessiert, weil diese passiv funktionieren und damit auch ein Monitoring ohne das Zutun der Person ermöglichen. In den Interviews mit den Menschen, die diese Technologie in ihrem Haushalt einbauen ließen, zeigte sich schon in der Wortwahl, dass die Sensoren und ihre Arbeit wenig präsent waren: Die meisten der Nutzer*innen sprachen vom »Knopf«, wenn sie sich auf den »Hausnotruf Extra« bezogen, und meinten damit den Funkfinger des »klassischen« Hausnotrufs. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht der Themenkomplex »Selbstbestimmung und Selbstständigkeit«, der nicht durch gezielte Fragen zu diesen Aspekten evoziert wurde, sondern von den Befragten selbst in die Interviews eingebracht wurde. Darüber hinaus ist es gerade das selbständige und selbstbestimmte Leben, das Technologien des AAL älteren und alten Menschen ermöglichen soll, und mit dem AAL von Anbietern und Fördergebern beworben wird.7 Die Begriffe »Selbstständigkeit« und »Selbstbestimmtheit« werden in der Definition und Bewerbung von AAL häufig gemeinsam benutzt und synonym gebraucht. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch wird oft nicht genau zwischen diesen beiden Begriffen unterschieden, auch wenn sie nicht deckungsgleich sind.8

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So definieren beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Verband der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik e.V. (VDE) in einer gemeinsamen Publikation AAL folgendermaßen: »AAL-Systeme im engeren Sinn sind informationstechnische Systeme, die einen älteren Menschen im Alltag dadurch unterstützen, dass sie für ihn auf Basis von Daten über die aktuelle Situation Entscheidungen übernehmen oder Handlungsvorschläge unterbreiten und damit ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben im eigenen Heim ermöglichen.« (BMBF/VDE 2011: 12, Hervorhebung C.K.) Der Duden definiert beispielsweise »Selbstbestimmung« zuerst als »Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder Art der Fremdbestimmung (z. B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt)« während »selbständig« zuerst als »unabhängig von fremder Hilfe o. Ä.; eigenständig« definiert wird (Duden online). Zur uneindeutigen Nutzung des Begriffs »Selbstbestimmung«, seinem Gebrauch im Bereich von Hilfeund Pflegebedürftigkeit und dem Einfluss der Philosophie Immanuel Kants auf das Verständnis von »Selbstbestimmung« siehe Kotsch/Hitzler 2011. Zur Diskussion des Begriffs »Selbstbestimmung« im Kontext von Behinderung siehe Waldtschmidt 2012.

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Das Themengebiet Selbstständigkeit/Selbstbestimmtheit/Autonomie wird aufgrund seiner Bedeutung im Zusammenhang mit neuen assistiven Technologien von einigen Autor*innen diskutiert. Dabei stehen zumeist ethische Abwägungen im Zentrum wie beispielsweise die Frage, ob ein möglicherweise durch assistive Technologien verlängertes autonomes Leben die Einschnitte in die Privatheit einer Person rechtfertige (vgl. z. B. Remmers 2011; Linke 2015; Manzeschke 2014). Die Perspektive der Menschen, in deren Haushalten solche Technologien installiert werden, auf Selbstständigkeit und Selbstbestimmung wurde im Kontext der Debatten um AAL bisher allerdings noch kaum beleuchtet.

D ER »K NOPF « UND DIE »S ELBSTBESTIMMUNG « UND »S ELBSTSTÄNDIGKEIT « Ein Großteil der älteren und alten Menschen in Deutschland wünscht sich, im Alter in der eigenen Wohnung zu leben und möglichst wenig auf Hilfe und Unterstützung angewiesen zu sein. Häufig wird dieser Befund in der Literatur als ein Bedürfnis nach einem selbstbestimmten und selbständigen Leben im Alter gedeutet (vgl. z. B. Voges/Zinke 2011; Wahl/Oswald 2004). Für die Nutzer*innen des »Hausnotruf Extra« war das Anliegen, auch weiterhin eigenständig in ihrer Wohnung leben zu wollen, zumeist die Motivation, um sich an dem Praxistest zu beteiligen. Eine 70-jährige Frau sagte: »Und ich merke auch so, Leute, die so in meinem Alter sind, die sagen: ›Ach, brauchst du das [den »Hausnotruf Extra«] schon?‹ Dann sag’ ich: ›Ich mach jetzt diese Studie mit und ich fühle mich besser damit.‹ Ja. Und ich, das, was ich Ihnen schon erzählt hab’, da mit meiner Mutter, das ist eine Beobachtung, offensichtlich, wenn man jünger ist noch und das Ding einfach mal sich damit vertraut macht, ist es unproblematischer, als wenn man dann schon älter ist und alles, was vielleicht ein Zeichen vom Alter oder Hinfälligkeit ist, dass man das ablehnt. Und für mich ist das kein Zeichen von Hinfälligkeit, sondern für mich ist es die Aussicht, dass ich möglichst lange in dieser Wohnung alleine sein kann. […] Und vor allen Dingen, unabhängig auch von meinen Kindern.« (Frau Albrecht9, Interview 2, 21.1.2015)

Unabhängigkeit erscheint in dieser Aussage als ein Ideal, besonders die Kinder sollten ihre »Freiheit« haben und nicht belastet werden, wie die Dame an anderer Stelle im Interview sagte. Der erweiterte Hausnotruf sollte aus ihrer Perspektive

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Die hier genannten Namen der Interviewten sind Pseudonyme.

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dazu beitragen, ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Frau Albrecht grenzte sich darüber hinaus von der Gruppe ab, die – wie ihre Mutter – einen Hausnotruf als Symbol des hohen Alters, von Pflegebedürftigkeit und einem verstärkten Unterstützungsbedarf, also von eingeschränkter Selbstständigkeit, betrachtete. Stattdessen wollte sie den Umgang mit dem »Hausnotruf Extra« trainieren, in einer Lebensphase, in der sie selbst meinte, diesen noch nicht unbedingt zu benötigen. Ähnlich wie bei Frau Albrecht betonten auch andere Nutzerinnen10 des »Hausnotruf Extra« ihre Selbstständigkeit und stellten diese als wichtigen Teil ihres bisherigen Lebens dar, der auch im Alter fortgeführt werden sollte. So sagte beispielsweise die 81-jährige Frau Böhme: »Also ich bin da schon, es ist gar kein, gar kein Krampf, mir meine Selbstständigkeit zu erhalten. Ich war, hab’ die immer gehabt. Auch in meinen Ehen, den beiden, ich war immer, hab’ mir das immer bewahrt. Und warum soll ich das jetzt plötzlich ändern?« (Frau Böhme, Interview 1, 13.01.2015) Besonders gut situierte und gebildete Frauen betonten in den Interviews ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Sie verbanden damit beispielsweise ihre frühere Berufstätigkeit, ein eigenes Gehalt und eine eigene Rente sowie die Scheidung vom Ehemann. Diese Frauen stellten sich selbst als relativ gesund, fit, mobil und aktiv dar, sie präsentierten sich als an neuen Technologien interessiert und neugierig auf die Möglichkeiten, die mit diesen Technologien verbunden sind. Sie hatten keine Angst vor irgendeiner Art von Überwachung und fürchteten auch nicht um die Sicherheit ihrer Daten.11 So nannte eine der Befragten im Interview die Sensoren »sympathisch«, und eine andere sagte, dass sie das Gefühl habe, sie werde »bewacht«, wenn sie das Leuchten der Lämpchen an den Sensoren sehe, wobei sie dieses »Bewachtwerden« positiv konnotierte. Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit, die diese Frauen als äußerst wichtig darstellten und die sie mithilfe des »Hausnotruf Extra« erhalten wollten, gelten als wichtige Aspekte der modernen, vom Individualismus geprägten westlichen Gesellschaft. Selbstbestimmung und Gesundheit werden dabei zumeist als bedeutende Merkmale einer »normalen« Person betrachtet (Waldschmidt 2012), Unselbstständigkeit und Unterstützungsbedarf werden hingegen mit dem hohen Alter

10 Im Rahmen der hier skizzierten Untersuchung wurden sowohl Frauen als auch Männer befragt, die den »Hausnotruf Extra« nutzten. Allerdings bildeten Frauen die große Mehrheit der Nutzer*innen dieser assistiven Technologien im Rahmen des erwähnten Praxistests. 11 Dass viele ältere und alte Nutzer*innen keine Befürchtungen hinsichtlich der Sicherheit ihrer Daten haben, zeigte sich auch bereits in anderen Studien (z. B. van Hoof/ Kort/Rutten/Duijnstee 2011).

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verbunden und negativ konnotiert (Wahl 2001). In kritischen Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Selbstbestimmung wird hervorgehoben, dass das Individuum aktuell in westlichen Gesellschaften zumeist als ein autonomes Subjekt konzipiert werde, das scheinbar weitgehend unabhängig von anderen seine persönliche Identität gestalte, sein Leben strukturiere und sich selbst verwirkliche (Waldschmidt 2012: 11f.). Darüber hinaus wird kritisiert, dass Selbstbestimmung in der späten Moderne häufig nicht mehr nur als ein Recht, sondern auch als eine Pflicht dargestellt werde: Eigenverantwortlich habe jedes Individuum – auch im Alter – für sich selbst zu sorgen (ebd: 33). Diese Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Sorge um sich Selbst scheint sich in der Aussage einer der Interviewpartnerinnen widerzuspiegeln: »Und ich denke, dass man schon selber für sich sorgen soll. Das ist für mich auch so eine Einstellungssache, dass man sagt, ich möchte selber bestimmen, wann und wohin ich gehe.« (Frau Albrecht, Interview 1, 19.9.2014) Mit dem selbstbestimmten und selbständigen Leben, das diese Frauen für sich in Anspruch nahmen, war aber auch eine Selbstdisziplinierung verbunden: Sie trugen den »Knopf«, um sich auf ein adäquates Handeln im Notfall vorzubereiten. Ihrer Meinung nach ging es für sie darum, den Umgang mit dem »Knopf« zu trainieren, um ihn dann in einer Notsituation tatsächlich schnell zu drücken. Zugleich vermieden sie auch trotz des »Knopfs« »leichtsinniges Verhalten«, wie beispielsweise auf Leitern zu steigen. Der »Hausnotruf Extra« und die Verbindung dieses Gegenstandes mit Diskursen um Selbstbestimmung und Selbstständigkeit kann also als Teil von Selbstführung, wie sie Michel Foucault beschrieben hat (Foucault 1976), interpretiert werden und mit den Erscheinungsformen der neoliberalen Moderne in Verbindung gebracht werden. Neben der Interpretation des »Hausnotruf Extra« als einem Gegenstand, der ein autonomes und unabhängiges Leben im Alter ermöglicht, erscheinen im Material aber auch andere Arten der Verbindung von Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und dem »Hausnotruf Extra«, nämlich der Widerstand gegen diese Technologie und damit verbunden eine mögliche Wahrung von Selbstbestimmung: So gibt es unter den befragten Nutzer*innen auch Frauen, die sich nicht vollkommen selbstbestimmt für die Installation eines »Hausnotruf Extra« entschieden haben, sondern aufgrund einer leichten demenziellen Erkrankung von ihren Angehörigen gedrängt wurden, den mit Sensoren erweiterten Hausnotruf einbauen zu lassen. Diese Frauen erlebten die Einführung des »Hausnotruf Extra« offensichtlich als einen Angriff auf ihr Recht auf Selbstbestimmung, einen starken Eingriff in ihre Privatsphäre sowie als Kontrolle durch ihre Kinder und/oder den Sozialdienstleister. Sie assoziierten die neue Technologie mit Überwachung: So fragte beispielsweise eine der Frauen beim Einbau des erweiterten Hausnotrufs,

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ob nun alle anderen Bewohner*innen des Hauses hören könnten, was in ihrer Wohnung passiere. Darüber hinaus erschien der »Knopf« diesen Frauen als sichtbarer und fühlbarer Gegenstand als Marker für den Eintritt in das hohe Alter. Er wurde als eine Art Symbol betrachtet für die Feststellung ihrer Umwelt, dass sie nun nicht mehr fit genug seien und nicht mehr allein bzw. selbständig ihren Haushalt in Ordnung halten könnten – eine Assoziation, die die Betroffenen offensichtlich in ihrem Identitätskonzept als Hausfrauen traf. Diese Frauen wehrten sich gegen diese Form der Stigmatisierung, indem sie den Einbau des »Hausnotruf Extra« in ihre Wohnung entweder komplett ablehnten oder den »Knopf« nicht trugen. So gewannen sie ihre Selbstbestimmung ganz oder teilweise wieder. Die eingebauten Sensoren stellten allerdings eine größere Herausforderung dar, um dagegen Widerstand zu leisten. Denn sind sie einmal installiert, arbeiten sie ohne das Zutun der Menschen. Darüber hinaus werden sie zumeist ganz bewusst so angebracht, dass sie nicht auffallen oder versteckt sind. Die Tatsache, dass die Betroffenen kaum Widerstand dagegen leisten können, macht die sensorgestützte Überwachung für Angehörige so interessant. Gerade wenn Sensoren in Wohnungen von Menschen installiert werden, die eine kognitive Einschränkung haben und die sich deshalb schlecht oder gar nicht gegen die Installation von Sensoren wehren können bzw. die Folgen eines Einsatzes dieser Technologien möglicherweise nicht vollständig einschätzen können, stellen sich wichtige ethische Fragen, schränken doch die Sensoren in diesem Kontext das Recht auf Selbstbestimmung/Privatheit erheblich ein (siehe ausführlicher dazu beispielsweise Remmers 2011; Linke 2015). Eine Analyse des bisher erhobenen Materials zeigt also, dass die interviewten Frauen das Thema Selbstbestimmung und Selbstständigkeit, das in politischen Diskurse um das Alter sowie in der Werbung für AAL so präsent ist, in Gesprächen zum »Hausnotruf Extra« aufnahmen. Allerdings schrieben sie dieser Technologie ganz unterschiedliche Bedeutungen zu: Ein Teil der Nutzer*innen betrachtete den »Hausnotruf Extra« als ein Symbol für die Fortführung eines selbstbestimmten und selbständigen Lebens und deutete ihn als Bestandteil einer aktiven Lebensführung im Alter, ganz im Sinne des active ageing (WHO 2002). Für andere erschien diese Technologie jedoch als ein Stigma, das für Alter und Hinfälligkeit steht, und für sie eine Einschränkung ihrer Selbstbestimmung bedeutete. Dabei reflektierten die unterschiedlichen Zuschreibungen auch soziale Ungleichheiten. Denn die Frauen, für die der »Hausnotruf Extra« positiv konnotiert war, verfügten über einen höheren sozio-ökonomischen Status und hatten sich darüber hinaus ohne das Drängen der Angehörigen für die Installation dieses Assistenzsystems entschieden.

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Eine Betrachtung der Bedeutungen, die ältere und alte Menschen dem »Hausnotruf Extra« zuweisen, erweitert die bisherigen Untersuchungen assistiver Technologien und ihrer Nutzungskontexte: Jenseits der politischen Diskurse, die AAL vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der prognostizierten wachsenden Anzahl von Pflegebedürftigen als eine Lösung propagieren, sowie Studien, die sich vor allem für die Akzeptanz von AAL interessieren oder ethische Aspekte diskutieren, werden hier die Perspektiven älterer und alter Menschen selbst nachvollziehbar. Auch zeigt sich, wie sich in den Aussagen der befragten Menschen zum Teil politische Diskurse um Selbstständigkeit, eigenverantwortliche Sorge um sich selbst und active ageing widerspiegeln. Zugleich verweisen die Vorbehalte und Widerstände gegen den »Hausnotruf Extra« aber auch auf die Deutungsoffenheit der Objekte und auf die sehr unterschiedlichen Bedeutungen und Bewertungen, die diesen neuen Technologien zukommen.

P FLEGEDINGE : ALTERN IN O BJEKTBEZIEHUNGEN Die beiden hier vorgestellten Studien zeigen, wie ganz unterschiedliche Objekte das Leben im Alter mitgestalten: Alltägliche Dinge wie Handtaschen, Porzellantassen, Besen oder Feuerzeuge sollen dazu beitragen, dass sich ältere und alte Menschen, die im Pflegeheim leben und sich damit in gewisser Weise in einer Sondersituation befinden, wohlfühlen und ein Gefühl für ihr neues Zuhause entwickeln. Technologien des AAL sind hingegen spezielle Dinge, die entwickelt wurden, um den Alltag im eigenen Zuhause weiterhin selbständig und selbstbestimmt bewältigen zu können. Die beiden hier präsentierten Objektgruppen, gehören zu verschiedenen Kategorien von Pflegedingen. Sie haben jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie aufgrund verschiedener Faktoren Gefahr laufen, übersehen zu werden: die Alltagsdinge aufgrund ihrer vermeintlichen Banalität und die assistiven Technologien aufgrund der Konzeption von AAL, der Beschaffenheit der Technologie und der konkreten Positionierung der Sensoren. Zugleich weisen die greifbaren Alltagsobjekte im Pflegeheim und die versteckten bzw. unsichtbaren Sensoren der assistiven Technologien eine weitere Gemeinsamkeit auf. Beide Objektarten werden ganz bewusst dazu eingesetzt in Momenten einer (beginnenden) Krise, einer sichtbaren Abweichung von der Normalität – hier gedacht als der selbständig und selbstbestimmt lebende Erwachsene – diese Normalität zu stabilisieren oder – wenn auch nur punktuell – wieder zu erlangen. Ob assistive Technologien oder Alltagsgegenstände, beide Objektgruppen

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können auf eine je spezifische Art und Weise »Normalität« gewährleisten. Zugleich können sie durch ihre Präsenz und die Formen des Umgangs mit ihnen, ein von der Norm abweichendes Anderssein kennzeichnen. Gerade an den Alltagsdingen wird die Stärke des offenen Blicks deutlich, für den die empirisch-ethnographisch arbeitenden Kulturwissenschaften mit ihrem explorativen und induktiven Vorgehen stehen und der von großer Bedeutung für das Projekt »Pflegedinge« ist: Mit diesem Blick konnten jene Dinge wie Tassen, Feuerzeuge oder Besen sichtbar gemacht werden, die in der Pflege eine wichtige Rolle spielen, die aber zumeist nicht als Pflegedinge klassifiziert werden, weil sie nicht gezielt für den Einsatz in Pflege- oder Care-Settings hergestellt wurden. Wie deutlich wurde, sind auch Dinge, die im Hintergrund wirken, absichtsvoll in die jeweiligen Settings eingeführt worden, aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten folgend. Diese gewollte Anwesenheit rekurriert in den beiden oben ausgeführten Beispielen jeweils auf den Wunsch nach einem möglichst hohen Grad an Normalität und Selbstbestimmung. Die Analysen des Forschungsprojekts »Pflegedinge« verdeutlichen darüber hinaus, welche große Rolle Objekte in der aktuellen Pflege alter Menschen spielen und welche Bedeutungen ihnen von Pflegenden und Gepflegten sowie in politischen Diskursen und Pflegekonzepten zugewiesen werden: Alltäglichen bzw. biografischen Objekten kommt dabei in Verfahren zur Ermöglichung individuumsbezogener pflegerischer Zuwendung wie der Biografiearbeit eine bedeutsame Rolle zu. Sie sollen zur Aktivierung und somit zum Wohlbefinden der gepflegten alten Menschen beitragen. Dinge wie die Technologien des AAL, die speziell für die Pflege im Zeitalter eines prognostizierten demografischen Wandels entwickelt wurden, werden als Lösung der mit der gesellschaftlichen Alterung verbundenen Herausforderungen propagiert. Zugleich werden sie aber von älteren und alten Menschen entweder als Stigma dargestellt oder als Möglichkeit präsentiert, einen selbstbestimmten und selbständigen Lebensstil weiterzuführen. Das Material zeigt, dass sich Pflegedinge, Diskurse über Pflege sowie Praktiken in der Pflege gegenseitig beeinflussen: Die tragende Rolle, die Objekte aktuell in Pflege- und Care-Settings älterer und alter Menschen einnehmen, die Bedeutungen, die ihnen von Pflegenden und Gepflegten zugeschrieben werden, sowie die Funktionen und Versprechen, die in politischen Diskursen und Pflegekonzepten damit verbunden werden, nehmen wechselseitig Bezug aufeinander. Diese gegenseitigen Beeinflussungen noch genauer zu analysieren sund damit den Blick auf die Pflege und ihre Dinge sowie auf das Alter(n) zu erweitern, stellt ein wichtiges Ziel der Arbeit des Projekts »Pflegedinge« dar.

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Materielle Beziehungen Zur Dialektik der Dinge des Alter(n)s C ORDULA E NDTER UND S ABINE K IENITZ

Das Leben im Heute bedeutet ein sich Einrichten und Auskennen, verlangt ein Mithaltenkönnen in einer Informations- und Konsumgesellschaft, in der die eben erlernte Software, das gerade erst erworbene Notebook nach einem Update verlangen, in der das Starten eines Mittelklassewagens nicht mehr an mechanische Abläufe, sondern an eine elektronische Kettenreaktion aus Signalen, Codes und Daten gebunden ist, und in der ein Einkauf im Supermarkt auch an der (Un-) Lesbarkeit der digitalen Anzeige in der überbeleuchteten Obst- und Gemüseabteilung scheitern kann. Leben – und damit meinen wir: die Bewältigung alltäglicher Aufgaben als handelndes Subjekt – ist gekoppelt an Wissen, Information und Geschwindigkeit. Neben den Routinen gilt es, sich immer wieder auf Neues einstellen zu müssen, ständig dazuzulernen, um Bescheid zu wissen. Dabei unterliegen sowohl Produktion als auch Erwerb von Wissen einer enormen Temporalisierung, die sich auch in der materiellen Beschaffenheit von Alltagsdingen widerspiegelt. Denn in einer immer schnelllebigeren Gegenwart verkürzt sich auch die Lebensdauer der Dinge oder, anders formuliert: werden der Verfall und das Ende ihres Gebrauchswerts beschleunigt. Dieser Prozess wird auch als ›geplante Obsoleszenz‹ bezeichnet und meint, dass »die Lebensdauer eines Produkts absichtlich reduziert«1 wird. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der IT-Konzern Apple, der in jährlichem Rhythmus neue Geräte auf den Markt bringt, aber auch andere Unternehmen, vornehmlich aus der Elektro- und Elektronikindustrie, setzen auf einen frühzeitigen Austausch der Geräte (vgl. Wolf 2013). Das Umweltbundesamt kon-

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https://de.wikipedia.org/wiki/Obsoleszenz [letzter Zugriff: 15.09.2016]

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statiert in seiner Untersuchung zu Ursachen und Hintergründen geplanter Obsoleszenz, dass »die Erst-Nutzungsdauer [von 5 Jahren] von den meisten untersuchten Produktgruppen in den letzten Jahren abgenommen hat« (Prakash/Dehoust/ Gsell/Schleicher/Stamminger 2016: 5), wobei vornehmlich Elektro- und Elektronikgeräte vor dem Ablauf der Frist ersetzt werden, obwohl sie noch gut funktionieren (ebd.). Hierfür machen die Herausgeber der Studie neben dem Konsumwunsch der Käufer_innen, welcher durch immer neue Produkte forciert wird, auch die Inkompatibilität der Geräte mit neuen Anwendungen sowie den Verbau von Einzelteilen verantwortlich, die bei Verschleiß nicht ausgewechselt werden können. Und dennoch scheint den Dingen eine Widerständigkeit inhärent zu sein, die sie gegen diesen zeitlichen Verfall und die Entwertung schützt. Man könnte hier eine Allianz der Dinge mit dem Alter, eine Form von Solidarität vermuten, um sich dem Weggeworfen- und Aussortiertwerden zu entziehen und die Geschäftigkeit einer westlich-postmodernen Konsumgesellschaft zu stören. Der Aufsatz will dieser Allianz von Dingen und Alter nachgehen. Denn nicht nur der Mensch altert, auch die Dinge selbst sind einem Alterungsprozess unterworfen. Und wie eben beschrieben, wird dieser Alterungsprozess unter dem Einfluss einer Verzeitlichung gesellschaftlicher Lebensbereiche ebenso beschleunigt. Gerade in dieser Veränderung repräsentiert der Alterungsprozess der Dinge zwei unterschiedliche Beziehungsformen zwischen alterndem Menschen und alterndem Ding: Zum einen geht es um die Beziehungen zwischen Menschen, die durch Dinge vermittelt werden; zum anderen geht es um die Beziehungen von Menschen zu den Dingen.2 Sichtbar werden diese Beziehungen häufig anhand der Abnutzung als Ergebnis von Gebrauch über Zeit. Aus einer solchen Perspektive fallen dieser Form von Verschleiß verschiedene Bedeutungen zu: Zum einen materialisiert sie die Beziehung zwischen Gebrauchendem und Gebrauchtem, eine Beziehung, die gekennzeichnet sein kann von Fürsorge oder Pragmatismus, aber auch von Abneigung. Dabei spiegelt die Abnutzung nicht nur die Intensität der Beziehung wider, sondern fungiert als eine Art Speichermaterial, in das sich Geschichte einschreibt: Patina als der nach außen hin sichtbare Alterungsprozess. Dem Altern der Dinge kommt dabei, ähnlich dem menschlichen Altern, eine historische Dimension zu:

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Immer noch grundlegend für die volkskundliche Auseinandersetzung mit MenschDing-Beziehungen ist die Arbeit von Karl-Sigismund Kramer (1962). In einer früheren Arbeit führt Kramer den Begriff der »Dingbeseelung« (1940) ein, um auf die religiösemotionale Aufladung der Dinge durch den Menschen zu verweisen. Auch wenn dieser Begriff heute vor allem fachhistorisch bedeutsam ist, so gibt er doch einen Hinweis auf die symbolische Inwertsetzung materieller Dinge durch den Menschen, der auch in Bezug auf die alternde Beziehung zwischen Mensch und Ding aufschlussreich sein kann.

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Indem die Dinge durch und im Gebrauch altern, erwerben sie eine Geschichte, werden verknüpft mit Erinnerungen und aufgeladen mit Emotionen. Aus einer solchen Perspektive kann auch der Nichtgebrauch der Dinge als eine Praxis des Gebrauchens verstanden werden, in der die Abwesenheit der Tätigkeit ebenso zu Veränderungen in der Materialität und Bedeutsamkeit der Dinge führt wie der Gebrauch selbst. Das Einschreiben von Sinn und Identität in die Dinge findet dabei in ganz unterschiedlichen Kontexten statt: in der Familie, zwischen Partnern und/oder Freunden, im Arbeitsleben oder im Freizeitbereich. In den meisten Fällen vollzieht es sich schleichend und unauffällig, wird erst bemerkt, wenn es sich schon vollzogen hat. Zum Beispiel eben dann, wenn die Dinge tatsächlich den Gebrauch versagen, indem sie nicht mehr korrekt funktionieren, kaputt gehen, verschwinden. Dann beginnt eine andere Art der Beziehung: eine erinnerte, eine symbolische, eine substituierende Beziehung, in der das fehlende Objekt das Objekt selbst ersetzt; oder andere Nutzungen entstehen, die wiederum auf Umdeutungen der Objekte beruhen. Will man diese unterschiedlichen Beziehungsformen aus einer volkskundlichkulturanthropologischen Perspektive betrachten, die nicht nur das Augenmerk auf die Beziehungen von Menschen zu Dingen legt, sondern die Beziehung von alternden Dingen und alternden Menschen als dialektisch versteht, so ergeben sich verschiedene Fragen: Erstens, welche dinglichen und verdinglichten Sinnstiftungsprozesse spielen im Alter eine Rolle? Zweitens, wie hängt der Umgang mit den Dingen im Alter mit dem Altern der Dinge zusammen? Und drittens, wie verhält sich das alternde Material der Dinge zum körperlichen, mentalen und auch emotionalen Altern ihrer Nutzer und Nutzerinnen? Während das Alter(n) der Dinge in anderen Disziplinen wie beispielsweise der Kunstgeschichte bereits ein etablierter Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden ist (vgl. u. a. Ulman 2004, Baro 2015), ist die volkskundlichkulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Alter(n) der Dinge noch ein relativ junger Forschungsgegenstand. In der jüngsten volkskundlich-kulturanthropologischen Forschung stand dabei vor allem der Umgang mit den Dingen im Alter (vgl. Löffler 2014; Depner 2015) im Vordergrund, nicht aber das Alter(n) der Dinge selbst. Indem der Beitrag diese Perspektive einnimmt, verknüpft er die volkskundlich-kulturwissenschaftliche Forschung zur materiellen Kultur (vgl. u. a. Korff 1999, 2005; König 2003, 2009; Keller-Drescher 2008; siehe auch Hahn 2005) mit der Alter(n)sforschung. Dazu werden im Folgenden drei Perspektiven entwickelt: Zum einen geht es um das Alter(n) der Dinge selbst, also die Frage, welche Prozesse und Deutungen die Dinge durchlaufen, um selbst zu altern. Zum anderen wird der Prozess des

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Alter(n)s mit den Dingen reflektiert und die verschiedenartigen Praktiken und Beziehungsformen, die damit zusammenhängen, an unterschiedlichen Alltagsdingen näher beleuchtet. Als ein dritter Punkt wird das Alter(n) durch Dinge eine Rolle spielen und damit die Frage, wie vor allem Technisierungsprozesse eine Konfrontation mit der eigenen Erfahrung, aber auch mit den Zuschreibungen des Alter(n)s repräsentieren.

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Dinge, verstanden als nicht-menschliche Artefakte, von Menschen hergestellt und in Nutzungskontexte eingebunden, erscheinen auf den ersten Blick alterslos. Man könnte sagen, ihre Anziehungskraft besteht gerade in ihrem Versprechen nicht zu altern. Dabei vollzieht sich das Altern der Dinge auf unterschiedlichen Ebenen: Es ist erstens historisch, das heißt, wie die Dinge altern bzw. ob sie das überhaupt tun, ist immer abhängig von der jeweiligen Zeit, in welcher die Dinge existieren, genutzt oder auch entsorgt werden. Die Empirischen Kulturwissenschaftlerinnen Gudrun M. König und Zuzanna Papierz weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Dinge stets verschiedene Bedeutungen beinhalten: »Sie sind polyvalent, das heißt, sie tragen in sich teils konvergente und teils divergente Konnotationen, welche kontextuell zur Geltung kommen.« (König/Papierz 2013: 294) Dabei ist diese historische Verlaufsdimension des Alterns der Dinge eng verwoben mit deren Materialität, wie sich beispielsweise an den konservatorischen und restauratorischen Bemühungen beobachten lässt, welche die Musealisierung von Dingen betreffen, die aus Naturmaterialien wie Kautschuk und Zellulose oder aus Bekleidungsstoffen hergestellt sind (vgl. Koller 2013; Lange-Berndt 2010). Neben der Materialität und der zeitlichen Kontextualisierung des Alterns der Dinge ist dieses aber auch stets situational. Das heißt, wie Dinge altern, hängt eng mit dem Gebrauch und mit der Interaktion zwischen Ding und Nutzer bzw. Nutzerin zusammen. Hier kann eine praxeologische Perspektive hilfreich sein, die das Altern der Dinge nicht nur in Analogie zum Altern des Menschen als eine soziale Konstruktion versteht, sondern als ein Altern, das erst im Handeln und damit im Gebrauch produziert wird, ein doing age von Dingen. Im Folgenden soll dem materiellen Aspekt des Alterns der Dinge deshalb am Beispiel eines Stoffs nachgegangen werden, der mit dem Versprechen auf die (Waren-)Welt gekommen ist, nicht zu altern: Plastik. Plastik gehört unter Berücksichtigung seiner chemischen Zusammensetzung zur Stoffgruppe der Kunststoffe. Dabei sind Kunststoffe, so der Materialkundler

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Wolfgang Glenz, »eine noch junge Werkstoffklasse« (Glenz 1985: 9), deren hervortretendes Kennzeichen ihre Formbarkeit ist. So schreibt Anny Kastner in ihrem Ratgeber Der gepflegte Haushalt von 1965: »Kunststoffe sind von der Industrie geschaffene Werkstoffe, die sich während ihrer Verarbeitung formen lassen. Diese Eigenschaft, plastisch, also formbar zu sein, gab den Kunststoffen auch den Namen Plastics.« (Kastner 1980: 53, Hervorhebungen im Original) Kastner zufolge ist es gerade diese Formbarkeit, aufgrund derer »Kunststoffe im Haushalt immer mehr Bedeutung« (ebd.) erlangt haben. Dabei wird unterschieden zwischen ›natürlichen‹ Kunststoffen, hergestellt auf der Basis von Milcheiweiß, Cellulose oder Kautschuk, und synthetischen Kunststoffen aus chemischen Verfahren, in denen Kohle, Erdöl oder Erdgas mit Wasser und Luft reagieren. Innerhalb der synthetischen Kunststoffe wird dann weiter zwischen Thermo- und Duroplaste differenziert. Während erstere bei Wiedererwärmung ihre Form verlieren und weich werden – hier ergeht der ernste Ratschlag an die Hausfrau: »Kunststoffknöpfe nicht überbügeln!« (Kastner 1980: 54) –, bleiben Duroplaste auch unter dem Einfluss von Wärme in ihrer Form erhalten. Das Material wird für Elektrostecker, Tischoberflächen oder Elektronikgehäuse verwendet. Um diese Dinge soll es aber im Folgenden nicht gehen, vielmehr möchten wir unseren Fokus auf die häuslichen Alltagsgegenstände richten: Schüsseln, Eimer, Messbecher, Gläser, Besteck, Geschirr oder Verpackungen. Denn auch das weiß die Ratgeberautorin: »Haushaltsgegenstände aus Kunststoff sind im modernen Haushalt unentbehrlich. [Sie] sind leicht, einfach sauber zu halten, hygienisch, geruch- und geschmacklos, preiswert und die meisten Sorten auch bruchsicher; sie werden in vielen Farben und Formen hergestellt.« (Ebd.)

Und auch der Ratgeber schöner leben. 1000 gute Tips: ausprobiert und dargeboten von Ihrem KAUFHOF äußerte sich 1969 begeistert über den Einzug von Kunststoff in die häusliche Alltagswelt: »In der Küche, im ganzen Haushalt, können wir uns ein Leben ohne Kunststoff nicht mehr vorstellen. Nun fängt dieses unerhört praktische und reizvolle Material an, auch den Eßtisch zu erobern. Kunststoffservice haben, besonders wenn Kinder mitessen, viele unschätzbare Vorteile. Und sie werden immer formschöner und hübscher in Farben und Muster.« (Kaufhof 1969: 178)

Aber auch hier sollte die Hausfrau achtsam sein: Wollte sie sich lange an der Plastikschüssel erfreuen, sollte sie stets »nur Tücher oder weiche Bürsten und im Wasser lösliche Reinigungsmittel [verwenden, denn] Topfkratzer, harte Bürsten und

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Scheuerpulver rauhen die Oberfläche der Kunststoffgegenstände auf und machen sie unansehnlich.« (Ebd.) Ob es die hohe Gebrauchstauglichkeit oder die ungeheure Form- und Wandelbarkeit war, Plastik, so der US-amerikanische Autor Stephen Fenichelli, wurde zu dem »bestimmende(n) Medium unseres synthetischen Zeitalters« (Fenichelli 1997: 12), das bis in unsere Körper vorgedrungen ist, zum Beispiel in Form von Herzklappen, Gelenken oder Gliedmaßen aus Plastik (vgl. ebd.: 13). Plastik vereine so die »eigentlichen Merkmale des zwanzigsten Jahrhunderts in sich, […] [nämlich] Künstlichkeit, Verfügbarkeit, Synthese« (ebd.). Plastik sei dabei nicht nur die »Quintessenz des Pop« (ebd.), sondern auch »ein sehr volkstümliches Material« (ebd.). Oder, wie der Philosoph Roland Barthes 1964 in den Mythen des Alltags den Horizont von Plaste umschreibt: »Die Wandlungsfähigkeit des Plastiks [ist] total, es kann ebenso gut Eimer wie Schmuckstücke bilden.« (Barth 1989 [1964]: 79) Das war Lob und Fluch zugleich. Gerade wegen seiner Omnipräsenz und seiner Wandlungsfähigkeit hing und hängt Plastik stets der Ruf des Täuschens, des Unechten und Falschen an (vgl. Meikle 1995: 6). Roland Barthes konstatiert dementsprechend: »In der poetischen Ordnung der großen Substanzen ist es ein zu kurz gekommenes Material, verloren zwischen der Dehnbarkeit des Gummis und der flachen Härte des Metalls.« (Barthes 1985: 7) Trotz seines schlechten Leumunds wurde Plastik zum Inbegriff einer modernen Konsumkultur. Plastik, das versprach »the magic of chemistry, the creation of something from nothing, the democratization of everyday life, the triumph of the artificial over the natural, and the engineering of social stability«, so der Amerikanist Jeffrey L. Meikle in seinem Buch American Plastic: A cultural history (1995: 70). Diese Idee einer Demokratisierung, wie sie zu Anfang des ›Plastikzeitalters‹ in den 1930er Jahren vor allem in Nordamerika kommuniziert wurde, materialisierte sich auch im geradlinigen, schnörkellosen Design der Plastikwaren. So schrieb die New York Times 1968: »Plastic is a fluidity, a grace, a technological beauty of line and purpose that is sure to become the hallmark of a new way of life and a new American culture« (New York Times 26.05.1968, zit. nach Meikle 1995: 242). Doch die Plastisierung der Alltagswelt blieb nicht unumstritten. Vor allem in den späten 1960er und 1970er Jahren kam es zu einer Destabilisierung des »plastic utopianism« (ebd.), ein Umstand, der auch mit dem aufkommenden Umweltbewusstsein in engem Zusammenhang stand. Während Leo Baekeland, Chemiker und Erfinder des Bakelit, in den 1930er Jahren noch von der »material immortality« (ebd.) seines Kunststoffes schwärmen konnte, verband der USamerikanische Schriftsteller Norman Mailer Ende der 1960er Jahre seine Zeitkritik mit dem Ekel vor dem Geschmack und Geruch von Plastik. Amerika beschrieb

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er als eine kranke Nation, »[…] sick to the edge of vomit and so we build our lives with materials which smell like vomit, polyethylene and bakelite and fiberglas and styrene« (Mailer 1964, zit. nach Meikle 1995: 245). Kritik an Plastik fungierte damit zugleich als eine Form von Gesellschaftskritik. Plastik als junger Kunststoff wurde also mit einem Modernitätsversprechen eingeführt, das sich in der alterslosen Oberfläche und stofflichen Dauerhaftigkeit materialisierte und das sich erst überlebte, als die Moderne in den 1970er und 1980er Jahren selbst instabil wurde. Bis dahin war Plastik in seinen verschiedensten Variationen und Formen ein unhinterfragter Bestandteil einer als ›modern‹ stilisierten Waren- und Konsumwelt, der in seiner Allgegenwärtigkeit geradezu naturalisiert und veralltäglicht erschien. Aus dieser historischen Perspektive scheint der Ratschlag, den Dustin Hoffman 1967 im Film The Graduate (engl. Die Reifeprüfung, 1967) von einem älteren Freund seiner Eltern bekam, geradezu konsequent: »I just want to say one word to you. Just one word. […] Are you listening? […] Plastics. […] There’s a great future in plastics.« (Ebd.) Diese Szene verweist nicht nur auf die Durchdringung der Waren- und Alltagswelt mit Plastikprodukten, sondern auch auf eine gesellschaftliche Verfasstheit und die übergreifende Symbolik einer Imitationsarbeit, welche Plastik leistete. Plastik funktionierte als eine Übersetzung von Konsumbedürfnissen der Mittel- und Unterschicht in Material, indem sie Luxusprodukte aus natürlichen Materialien imitierte und so massenkompatibel machte. Dabei bleibt Plastik als Stoff stets unsichtbar, wird sozusagen erst in seiner Synthese sichtbar und materialisiert sich in unterschiedlichsten Formen, Farben und Nutzungskontexten. Denn Plastik selbst ist ephemer, ein chemischer Stoff, der nur in seiner materiellen Gebundenheit wirkmächtig wird, oder, wie Roland Barthes in der Mythologie des Alltags schreibt: »Das Plastik ist weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung, es ist, wie sein gewöhnlicher Name anzeigt, die sichtbar gemachte Allgegenwart. Und gerade darin ist es ein wunderbarer Stoff: das Wunder ist allemal eine plötzliche Konvertierung der Natur. Das Plastik bleibt ganz von diesem Erstaunen durchdrungen: es ist weniger Gegenstand als Spur einer Bewegung.« (Barthes 1985: 6)

Anders als natürliche Stoffe inkorporiert Plastik die Idee unendlicher Formbarkeit. Als situationale Praxis erneuert Plastik also immer wieder das Versprechen der Moderne auf Flexibilität, Schnelligkeit und Wandel. Wir möchten dieser These noch kurz an einem konkreten Beispiel nachgehen:

334 | CORDULA ENDTER UND S ABINE K IENITZ »Es gibt Dinge, die man einmal sieht und nie wieder vergisst. Eine Tupper-Schüssel gehört ganz sicher dazu. Die ersten blassgelben und hellblauen Schalen und Tassen, die nach längerem Gebrauch kaffeebraun wurden, kann man heute auf Antiquitätenmärkten finden.« (Bucquoye 2005: 21)

Was die 1946 von Earl S. Tupper zum ersten Mal auf dem US-amerikanischen Markt angebotenen Kunststoffprodukte ausmachte, war die Verbindung von »Sparsamkeit (zum Beispiel luftdichte Schalen, die Essensreste frisch hielten) mit der Nachkriegssehnsucht nach Modernisierung und Modernität« (ebd.: 9). Doch die Hausfrauen waren nicht von Anfang an begeistert, »[d]ie ersten Plastikschalen«, schreibt die belgische Designerin Moniek Bucquoye, »waren bei Wärme schnell geschmolzen, das in ihnen aufbewahrte Essen bekam einen schlechten Nachgeschmack und färbte die Behälter. Bei längerem Gebrauch verloren sie ihre Farbe völlig oder waren grau geworden« (ebd.: 15). Dabei besitzt gerade Tupperware eine 30jährige Umtauschgarantie, denn die Firma Tupper »verleiht ihren Schüsseln das Prädikat der lebenslangen Haltbarkeit«, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Martina Blaschka (1998: 48f.) und ergänzt: »Weist die Schüssel auch nach langem Gebrauch Schäden auf, die auf einen Materialfehler zurückzuführen sind, wird sie beim Besuch einer Tupperparty umgetauscht. Liegen Benutzungsfehler vor, können die passenden Ersatzteile nachgekauft werden, auch wenn es sich um alte Modelle handelt.« (Ebd.: 49)

Die Kompatibilität bleibt über die Zeit erhalten. Die Tupperdose scheint unverwüstlich, wird sie alt, kann sie umgetauscht werden, zeigen ihre Bestandteile Ermüdungserscheinungen, werden sie ausgewechselt. Was die Etablierung von Tupperware oder überhaupt von Plastikprodukten in der westlichen Alltagswelt betrifft, könnte man also meinen, dass es sich um einen Prozess der Veralltäglichung und damit auch der Naturalisierung eines Produkts durch Kauf- und Konsumpraktiken handelt. Fokussiert man den Blick aber stärker auf die Materialität des Objekts selbst, dann lässt sich die Erfolgsgeschichte der Plaste auch anders erzählen, nämlich als Bereitschaft des Stoffes, selbst zu einem Alltagsprodukt zu werden, oder, wie Roland Barthes schreibt: »Das Plastik [ist] eine Haushaltssubstanz. Es ist die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist.« (Barthes 1985: 7)

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ALTERN

MIT DEN

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D INGEN

Plastik altert vor allem in der Interaktion mit anderen Materialitäten – Scheuerpulver oder kratzigen Bürsten – und im Gebrauch mit anderen Akteuren – Hersteller_innen und Verpackungen, Auslagen und Verkäufer_innen, Nutzer_innen und Küchenschränken. Inwieweit diese Interaktionen – im Sinne der Fragestellung des Tagungsbandes kann man hier auch von Beziehungen sprechen – also Alter produzieren, möchten wir am Beispiel von Kleidung verdeutlichen und dabei der Frage nachgehen, wie sich das Altern der Dinge in die Nutzer_innen und das Altern der Nutzer_innen in die Dinge übersetzt.3 Die britische Soziologin Julia Twigg beschreibt die Beziehung zwischen Kleidung und Alter wie folgt: »Clothes are central to the ways older bodies are experienced, presented and understood within culture, so that dress forms a significant, though neglected, element in the constitution and experience of old age.« (Twigg 2007: 285) Der Literaturwissenschaftler Thomas Küpper greift diese These auf und macht in seiner Arbeit deutlich, wie Mode das Altsein bestimmt und wie gleichzeitig gängige Vorstellungen über das Alter(n) im Rahmen eines Diskurses über Mode analysiert werden können (vgl. Küpper 2013: 133). Küpper schreibt: »Moden können […] in verschiedener Weise zu Gradmessern für persönliches Altern werden« (Küpper 2015: 233). Er macht dabei zwei Faktoren aus, in denen Mode bei der Konstruktion von Alternsprozessen eine Rolle spielt: Zum einen »mag [es] als verjüngend gelten, mit der Mode zu gehen, und als alt machend, bei einer Mode stehen zu bleiben, während sie passé wird« (ebd.), zum anderen prägt Mode selbst »Vorstellungen davon aus, was als ›altersgemäß‹ gilt« (ebd.). Julia Twigg spricht hier von einer Naturalisierung des Alters durch Mode, bei der Altersunterschiede, ähnlich wie bei der Konstruktion von Geschlechterunterschieden, an Kleidung und Mode festgemacht werden, so als gingen sie diesen voraus (vgl. Twigg 2007: 285f.). Im Falle des Alters sind es dann vor allem wenig körperbetonte Schnitte und unauffällige, gedeckte Farben, die ›altersgerechte Mode‹ für Senioren und Seniorinnen kennzeichnen. Genau dieses »baggy beige«, so die Kritik, wirke aber als »colour of death« (Küpper 2015: 234). Die Interaktion zwischen Kleidung und Träger_innen zielt, so schlussfolgern Twigg und Küpper, auf ein Unsichtbar-Werden des Alterns ab, entweder in Form eines Unsichtbar-Machen des Alters oder als ein Unsichtbar-Werden der alternden

3

Vgl. hierzu auch den Beitrag von Esther Gajek in diesem Band. Zu einer volkskundlichkulturwissenschaftlichen Kleidungsforschung siehe u. a. Gerndt (1974), Böth (1988), Gaugele (2002), Keller-Drescher (2003); siehe darüber hinaus auch Küchler/Miller (2005).

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Träger_innen beispielsweise durch eben jene ›Farben des Todes‹: beige, braun, malve oder grau. Aus einer volkskundlich-kulturanthropologischen Perspektive stellt sich genau hier die Frage, welche Spielräume den Älteren bleiben, um dieses Spannungsverhältnis zwischen einem Unsichtbar-Werden – mit besagtem Beige – und einem Sichtbar-Werden – in knalligem Pink beispielsweise – auszuhandeln. Denn letzterer Entscheidung droht dann wiederum der Vorwurf des ›mutton dressed as lamb‹, dass also das Alter(n) durch eine als inadäquat kritisierte Jugendlichkeit camoufliert werde. Die feministische Altersforscherin Margaret Gullette spricht in Bezug auf die symbolisch-semiotische Praxis von Mode davon, dass und wie Kultur unsere Altersidentität und unsere Vorstellungen von der Bedeutung des Alter(n)s konstruiert: »[T]he fashion system [promotes] a specific ›knowledge‹: what befalls the self in time.« (Gullette 1999: 56, zit. nach Kunow 2005: 34f.) Hier sei beispielsweise an die Kampagne der Modemarke American Apparel aus dem Jahr 2012 erinnert, in der die damals 60-jährige Jacky O’Shaughnessy als Model mitwirkte. Sie wurde von den Verantwortlichen in einem Café mit folgender Begründung gecastet: »There was something so compelling about Jacky’s look and energy when we first spotted her in a New York restaurant this winter that we introduced ourselves and pulled up a chair. During a long discussion that touched on everything from career choices and nutrition to insights on relationships, age, and beauty, we asked if she would consider being photographed by us. We were thrilled when she agreed.« (American Apparel 2012)

Während American Apparel mit seiner Kampagne den Gesetzen der Markt- und Werbewirtschaft folgt und auf Überraschendes setzt – nämlich eine 60-Jährige mit langen grauen Haaren in pinkfarbener Unterwäsche mit einem schlanken, attraktiven Körper, den sie in ballerinesken Dehnungsübungen vorführt – kann diese Kampagne auch dahin gelesen werden, dass hier quasi eine neue Norm entworfen wird, in der man Kleidung nun gezielt als ›ageless‹ verkauft. Wie Küpper herausarbeitet, wird in einer solchen Kontextualisierung ein ›ageless style‹ selbst wiederum »age-specific«4 – vor allem für die Altersgruppe, die Jacky repräsentiert, die so genannten »jungen Alten« (van Dyk/Lessenich 2009). Was sich darin ausdrückt, ist eine Form des ageism durch Mode. Hier greift wiederum der Prozess der Naturalisierung, von dem Julia Twigg spricht, denn auf diese Weise wird das Angebot an Kleidung normierter Ausdruck gesellschaftlicher Vorstellungen vom

4

https://www.google.de/search?q= jacky+american+apparel&tbm= isch&tbo= u&source =univ&sa=X&ei=WefpVMejLMvzasyvgPAF&ved=0CCIQsAQ&biw=1138&bih= 526 [Zugriff: 15.09.2016].

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Alter, in denen ein ›ageless style‹ zum Signifikant des Alters der Trägerin oder des Trägers wird. Margaret Gullette formuliert das sehr präzise: »As early as you begin to apply the attributes to your own self, you are being aged by culture.« (Gullette 1997: 5, Hervorhebung im Original) Dieser ›ageless style‹ der Kleidung ist materialisiertes Altern, das sich durch das Tragen auf die älteren Träger_innen überträgt. Twigg spricht hier von einem »age-ordering effect« (Twigg 2007: 292), der sich durch den gesamten Lebenslauf zieht. Während Kleidung in der Kindheit noch ganz klar bestimmten Lebensaltern zugeordnet ist und diese zugleich bestimmt, wird diese Zuordnung im Alter aufgeweicht, es gibt also nicht die Kleidergröße oder den Schnitt für Ältere. Dennoch lassen sich bestimmte »older styles« (ebd.), wie Twigg sie nennt, erkennen und zuordnen. Twigg arbeitet verschiedene Erkennungsmerkmale heraus, die zum einen die Kleidung selbst und zum anderen ihre Träger_innen alt machen: die Kleidung wird länger, die Schnitte weiter, die Farben gedeckter und unauffälliger. Dieser Stil, so Twigg, suggeriere zwar aufgrund der funktionalen, schmutzabweisenden Oberflächen Sportlichkeit und damit eine auf Dauer gestellte Freizeitorientierung. Allerdings changieren die Farben quasi erneut in den Kinderfarben, also im Hellblau- bzw. Rosabereich je nach Geschlecht. Die Kleidung verweise die Alten in eine Art zweite Kindheit, die sich nach dem Erwerbsausstieg in Stofflichkeit, Farbe und Schnitt materialisiert. Indem Kleidung also ein vermeintlich altersgemäßer Stil eingeschrieben wird, wird sie erst recht alt gemacht. Dieses Altsein von Kleidung diszipliniert und moralisiert dabei den älteren Körper. Wenn sich ältere Personen dieser Disziplinierung entziehen, indem sie sich dem ihnen zugedachten Kleidungsstil verweigern, laufen sie auch heute noch Gefahr, verlacht, ausgeschlossen und marginalisiert zu werden oder eben in Bezug auf Trägerinnen als ›mutton dressed as lamb‹ verspottet zu werden. Aber es würde hier zu kurz greifen, wenn wir uns nur auf diesen ausschließenden Aspekt fokussieren, denn Mode und Altern sind in Bewegung. In Hinblick auf den Tagungsband ließe sich auch sagen, sie treten zueinander in Beziehung. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis, in welchem nicht immer klar zu unterscheiden ist, ob es sich hier um Formen eines »age-denial« (Twigg 2007: 286) handelt oder um »age-resistance« (ebd.). Dieses Spannungsverhältnis gilt auch für das Altern durch Dinge, mit dem wir uns im folgenden letzten Teil auseinandersetzen.

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ALTERN

DURCH DIE

D INGE

Bei der Bewältigung der demographischen Herausforderungen wird aktuell verstärkt auf den Einsatz altersgerechter technischer Assistenz- und Unterstützungssysteme gesetzt, die unter dem Stichwort ›Ambient Assisted Living‹ (AAL) vermarktet werden.5 Zwei zentrale Entwicklungen moderner Gesellschaften des 21. Jahrhunderts treffen hier aufeinander: Auf der einen Seite die rasante Zunahme von Kommunikations- und Informationstechnologien und damit die Entwicklung hin zu einer Wissensgesellschaft; auf der anderen Seite der demographische Wandel und die ihm inhärente Alterung der Gesellschaft. Im Kontext AAL konvergieren diese beiden Entwicklungen mit dem Ziel, der Alterung der Gesellschaft durch technische Innovationen zu begegnen. Dabei sollen die in diesem Kontext entwickelten Geräte alltägliche Abläufe vereinfachen, Orientierungs- und Unterstützungsangebote bereitstellen und Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Handlungen aktiv erkennen. Auch wenn das Angebot auf dem Markt bisher noch überschaubar ist, so wird viel in diesem Bereich geforscht, um in den nächsten Jahren den Bedürfnissen einer zunehmenden Zahl von älteren, zum Teil pflegebedürftigen Menschen nachzukommen und zugleich dem Mangel an Pflegepersonal zu begegnen. Hier sollen smarte Systeme und soziale Technologien unterstützen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die künstliche Robbe Paro, ein kuscheliger, interaktiv reagierender Roboter, dessen Äußeres dem Kindchenschema folgt und emotionale Zuwendung sowohl einfordert als auch bereitstellt. Das technische Objekt wird in zahlreichen Alten- und Pflegeheimen in Japan eingesetzt und ›hilft‹ mittlerweile auch verstärkt in Europa bei der Betreuung von Demenzkranken. Es gibt aber auch andere Systeme, die schon viel etablierter im Kontext von Alterstechnik sind: zum Beispiel Hausnotrufsysteme, die nicht nur um den Hals, sondern auch als interaktives Gerät wie eine Uhr am Arm getragen werden können oder sogar ohne unmittelbaren Körperkontakt über im Haus installierte Sensoren funktionieren.6 Diese Interaktion zwischen altersgerechter Technik und alternden Nutzer_innen ist nicht allein auf smarte Geräte beschränkt. Es gibt auch viel alltäglichere Gegenstände, die ihre Benutzer als verletzlich, gebrechlich und eingeschränkt kennzeichnen und damit als alt codieren. Allen voran ist hier der Rollator zu nennen. So haben im Jahr 2013 beispielsweise über 30.000 Versicherte der

5 6

Zur Ko-Produktion von Alter und Technik in ›Ambient Assisted Living‹ siehe aus einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Perspektive Endter (2016a, 2016b). Siehe hierzu auch den Beitrag von Depner und Kollewe in diesem Band.

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Techniker Krankenkasse einen Rollator erhalten. Das ist ein Anstieg um 14 Prozent gegenüber den Vorjahren. Die Mehrzahl der Rollatoren-Nutzer_innen ist dabei weiblich (vgl. FAZ 2014: 10). Aber macht der Rollator wirklich alt im Sinne von ›gebrechlich‹ und ›verletzlich‹? Für die Mehrzahl der Nutzer_innen stellt der Rollator die Möglichkeit dar, sich weiterhin selbständig durch eigene Kraft fortbewegen zu können. Auch in diesem Fall ist es das Ding selbst, das die Vorstellungen von Alter und die normierende Wirkung eines Altgemacht-Werdens in Frage stellt. Auch wenn die Nutzung eines Rollators – anders als im Falle der Kleidung – nicht im Spannungsverhältnis von age denial und age resistance steht, so ist es doch vor allem die ermächtigende Funktion von Technik, welche den alten Menschen nicht als immobilen Senior oder Seniorin, sondern als mobilen Teil der Gesellschaft darstellt. Der Rollator mit seinen vier Beinen auf Rädern, seinen ergonomisch geformten Griffen, der Sitzbank, der Ablagefläche wirkt in seiner Gestaltung und Funktionalität vor allem empowernd. Was stigmatisiert, sind vielmehr die Interaktionen mit dem im Anschluss an Latour formulierten Akteur-Netzwerk Rollator–Nutzer_in, der in der Begegnung mit anderen Akteur_innen zu Behinderungen, Verzögerungen oder einfach nur Irritationen führt. Hier wird noch einmal deutlich, dass die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen nicht einseitig zu Lasten des einen oder anderen Akteurs gehen, sondern dass das Verhältnis immer ein dialektisches ist. Dinge machen Menschen nicht nur alt und schaffen Situationen, in denen man sich alt fühlt, sie bewirken auch eine Ermächtigung im Alter durch Dinge.

F AZIT Wie sieht sie nun aus, die dialektische Beziehung von alternden Dingen und alternden Menschen? Wir haben gezeigt, dass es die Materialität ist, in der Alter(n) sich manifestiert und gleichzeitig gegenüber anderen Akteuren wirkmächtig wird. Im Falle von Plastik ist es das an die Materialität gebundene Versprechen, nicht zu altern, ein Versprechen, das selbst altert, brüchig wird und spätestens mit dem einsetzenden Umweltbewusstsein in den 1970er Jahren diesen materialisierten Zukunftsentwurf in eine negative Richtung umdeuten muss. Dabei altert nicht nur das Material, entgegen der ihm eingeschriebenen oder vielmehr synthetisierten Annahme eines alterslosen Stoffes, sondern auch das an diesen Stoff gebundene Versprechen von Modernität, das sich in der Haltbarkeit des Materials geradezu überholt. Anders ist es im Falle der Kleidung. Hier zeigt sich, wie selbst in einer so schnelllebigen Branche wie der Bekleidungsindustrie altersnormierende Schnitte,

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Stoffe und Farben die Regale, Kleiderstangen und Schaufenster bevölkern, auch wenn die Träger_innen längst schon nach ganz anderen Materialien des Alterns verlangen. Angebot und Nachfrage finden (noch) nicht zusammen. Was angeboten wird, sind Vorstellungen über den alternden männlichen oder weiblichen Körper, was ihm steht und was nicht, wie er auszusehen hat und wie nicht. Welches Körperbewusstsein und welche Sexualität dem vergeschlechtlichten Körper zugesprochen wird und welche nicht. Dabei werden die Dinge zu Stellvertreter_innen einer Alternspraxis zwischen Verneinung, Anpassung und Widerständigkeit. In diesem Spannungsfeld ist auch das zuletzt genannte Feld zu verorten, in dem analoge und digitale Technologien Menschen in bestimmten Nutzungssituationen alt machen. Dieses doing age, wie es Klaus Schroeter (2008) herausgearbeitet hat, kann dann stigmatisierend sein. Es kann aber auch geradezu ermächtigend wirken. Entscheidend dafür ist der Kontext und damit die situationale Perspektive. Diese Situiertheit des Alterns der Dinge in unterschiedlichen Räumen, Zeiten, in Beziehung zu und mit menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren ist es, welche weitergehender Forschung bedarf, will man Altern nicht nur als eine Praxis verstehen, die erst im Handeln der Akteure entsteht, sondern die auch selbst als eine Materialität erscheint. Die Dinge und ihre Kontexte in Bezug auf Alter und Altern müssen dazu gerade aus einer volkskundlich-kulturwissenschaflichen Perspektive stärker in den Blick genommen werden.

L ITERATUR Aicher, Otl: Die Küche zum Kochen. Werkstatt einer neuen Lebenskultur, Freiburg 20103. American Apparel: Advanced Basics, 2012: http://americanapparel.tumblr. com/post/26372137713/there-was-something-so-compelling-about-jackys [Stand: 14.10.2016]. Barthes, Rolandes: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1989 [1964]. Barthes, Roland: Plastik, in: Elefanten Press (Hg.): Plastikwelten, Berlin 1985, S. 6-7. Blaschka, Martina: Tupperware als Lebensform. Die Schüssel, die Party, die Beraterin. Eine empirische Studie. Studien & Materialien des Ludwig-UhlandInstituts der Universität Tübingen, Band 19, Tübingen 1998. Böth, Gitta: Kleidungsforschung, in: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde, Berlin 1988, S. 153-169. Bucquoye, Moniek: »Les Choses« von Tupper & Co, in: Tupperware. Transparent. Ausstellungskatalog, Ostfildern-Ruit 2005, S. 9-27.

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Zu Vorstellungen von Alter(n) im Klang Praktiken des Produkt Sound Designs A NNA S YMANCZYK

Beschäftigt man sich mit dem Thema Produkt Sound Design1 in Bezug auf das Alter(n), tritt ein Klassiker der vermeintlich altersgerechten Klanggestaltung verlässlich immer wieder in Erscheinung: das Seniorenhandy. Auf der produktvergleichenden Homepage senioren-handy.info heißt es: »Bei der Gestaltung und Entwicklung von einem Handy für Senioren wird davon ausgegangen, dass ältere Menschen zunehmend Schwierigkeiten mit dem Hören und Sehen sowie mit ihrer Feinmotorik haben. […] Die besondere (sic!) bedienfreundliche Gestaltung macht sich bereits optisch bei einem typischen Seniorenhandy bemerkbar: Es verfügt über größere Tasten und ein Display mit vergrößerten Ziffern und Buchstaben.«2

Darüber hinaus ist es »hörgerätekompatibel« und »durch verstärkte Ruftöne sowie verbesserte Lautsprecher-Funktionen charakterisiert […]« (ebd.). Bei der Darstellung des Designs des Mobiltelefons wird die Vorstellung eines Defizits deutlich:

1

2

Mit Produkt Sound Design ist das gezielte akustische Gestalten von Produkten wie Automobilen, Haushaltsgeräten oder Kommunikations- und Medientechnologie gemeint. Auch in kommerziellen und ästhetisch wirksamen Umgebungen wie Verkaufsräumen oder auch Ausstellungen, im Bereich von auditiver Markenführung und anderen Bereichen wird akustisch gestaltet. Eine nähere Erläuterung findet sich im Abschnitt ›Funktionales und ästhetisches Sound Design‹ http://www.senioren-handy.info/ [Zugriff: 18.02.2015] Die Homepage versteht sich als Forum, das umfassende Informationen und Daten zu Seniorenhandys zusammenträgt und nicht an herstellende Unternehmen gebunden ist, sondern eine unabhängige und werbefreie Plattform darstellt.

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Es geht um Sehverlust, nachlassende Feinmotorik und eingeschränktes Hörvermögen sowie um die technische Kompensation dieser Defizite beispielsweise durch das Tragen eines Hörgerätes. Design-ästhetische Ansprüche scheinen dabei in den Hintergrund zu treten. Ein Blick auf gängige Seniorenhandys vermittelt den Eindruck, als würden Produkt Sound Designer davon ausgehen, dass sich die Ansprüche von älteren Konsumenten und Konsumentinnen an das Design mit den sich häufenden physischen Einschränkungen im Alter auflösen. Darin wird deutlich, wie die Sicht auf das Alter als eine durch Verlust geprägte Lebensphase sich auch in der (Klang-) Gestaltung von beispielsweise Seniorenhandys niederschlägt. In Bezug auf das Alter sind körperliche Einschränkungen und deren Kompensation die zentralen Beweggründe hinter dem Produkt Design und speziell auch dem Produkt Sound Design (vgl. Friesdorf/Heine 2007; Pelizäus-Hoffmeister 2013). Das ästhetische tritt hinter das kompensierend funktionale Design zurück, der Defizitausgleich wird zur hauptsächlichen Motivation der Klanggestaltung und es entsteht der Eindruck, dass dieses lediglich auf Einschränkungen und Funktionalität bezogene Design die ›Alten‹ als Konsumenten und Konsumentinnen nicht ernst nimmt. Auch wenn eine klangliche Gestaltung wie die des Seniorenhandys eine gewisse Teilnahme an alltäglichen Tätigkeiten ermöglicht, schränkt das Design gleichzeitig jedoch auch die Möglichkeiten eines sinnlich-ästhetischen Konsumierens ein, was die Konsumsoziologin Eva Illouz als Teilnahme am »kulturellen System« (Illouz 2011: 59) des Konsums bezeichnet hat. Daran wird deutlich, wie sich der Defizitdiskurs bzgl. des Alters im Sound Design fortsetzt. Im Folgenden wird zunächst aus der Perspektive des Sound Designs und dann mit Blick auf Werbefilme veranschaulicht, inwiefern Produkt Sound Design und die Frage nach dem Alter(n) im Design von Alltagsdingen eine Rolle spielen. Der vorliegende Text betont dabei die Abgrenzung zwischen rein funktionaler und Defizite ausgleichender Klanggestaltung, wie am Beispiel des Seniorenhandys dargestellt, und einer klanglich-sinnlichen Gestaltung von Konsumerlebniswelten, wie sie an Beispielen aus der Werbung belegt werden, und folgt diesen beiden Designansätzen. Dabei wird eine Verknüpfung von Alter(n) und Sound Design hergestellt und schließlich anhand von Werbeaktivitäten erläutert, welche Bilder und Imaginationen von Alter(n) bei der Kommunikation von Produktklängen genutzt werden. Wie zeigt sich das Alter(n) in der Produktgestaltung und -inszenierung jenseits eines kompensierenden Design? Wie wird Alter(n) in Bezug auf Klang dargestellt, inszeniert und instrumentalisiert? Zwei zunächst entgegengesetzt erscheinende Bilder des Alterns werden exemplarisch gezeigt. Es stellen sich die Fragen, inwiefern Kommunikationsmedien von Produktklängen Repräsentationen von Alter und Altern zeigen, was dabei im Bereich des Sag- und Hörbaren

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zu liegen scheint und wie die Anspielungen und Setzungen, die über das Altern kursieren, verwendet werden.

F UNKTIONALES

UND ÄSTHETISCHES

S OUND D ESIGN

Der Klingelton und andere Signaltöne wie Tasten- oder Kameratöne sind am Mobiltelefon die klanglich signifikantesten Merkmale. Diese sind jedoch, wie das Beispiel des Seniorenhandys zeigt, zumeist relativ schlicht gestaltet. Ein Signalton muss zwischen drei und fünf Kilohertz liegen, damit er auch von hörgeschwächten Personen und in klanglich diffusen Umgebungen gehört werden kann. Ein Sound Designer merkt dazu im Interview an: »[Um] einen Ton bei 3000 Hertz zu erzeugen, brauche ich kein Design, das ist dann nur eine Spezifikationsfrage.«3 Deutlich wird hier, dass das Herstellen von Signalklängen, die lediglich laut und deutlich sein müssen, nicht als Designleistung, sondern als ein über Messdaten produzierbares Geräusch ohne ästhetische Anmutung empfunden wird. Auch ist ein solcher, gut hörbarer Signalton, mit welchem Seniorenhandys in der Regel ausgestattet sind, ein sehr rudimentärer »funktionaler Klang«, wie es etwa der Produkt Sound Designer Georg Spehr nennt (Spehr 2009), ein Klang also, bei dessen Herstellung lediglich die Kommunikations- oder Vermittlungsfunktion eingeplant und dabei auf gestalterische Feinheiten verzichtet wurde. Funktionale Klänge gibt es Vielfältige: vom Klingelton des Telefons über Warnsignale an Küchengeräten oder in Autos bis hin zu Sonifikationen4 und komplexen Soundscapes5 wie in Krankenhäusern, die eine komplette klangliche Überwachung von Patienten ermöglichen.6 Auch andere hörbare Abläufe an Produkten

3

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6

Das Zitat stammt aus einem qualitativen Interview mit einem Sound Designer, das im Februar 2015 für den Materialbestand meines Dissertationsprojektes zum Thema Produkt Sound Design geführt wurde, das die Basis für den vorliegenden Text bildet. Sonifikation meint die Übertragung von Information in klanglich übermittelte Daten (vgl. Schoon/Volmar 2012). Ein bekanntes Beispiel wäre der Geigerzähler (Volmar 2015). Der Begriff Soundscape geht auf den Komponisten und Akustikökologen Murray R. Schafer zurück, der in den 1970er Jahren das World Soundscape Project von Vancouver aus geleitet hat, welches sich zum Ziel gesetzt hat, die akustische Umwelt zu erforschen (vgl. Schafer [1977] 1994). Mit Soundscapes (oder in der deutschen Übersetzung: Klanglandschaften) werden derzeit insbesondere in kulturwissenschaftlichen Disziplinen Umwelten bezeichnet, die sich durch das Klangliche auszeichnen, wie beispielsweise die Soundscape eines Krankenhauses (vgl. Højlund/Kinch 2014). Auch in der Architektur, in der Navigation von beispielsweise Internetseiten, im Film

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können funktionale Eigenschaften haben und sich zum Signal entwickeln: Betriebsgeräusche von Geräten im Haushalt oder in Automobilen beispielsweise liefern Informationen über den Status einer gerade ablaufenden Handlung. Eine Unterbrechung des gewohnten Klangs hingegen deutet signalhaft auf eine gestörte Funktion hin, was zum Beispiel auf stotternde Geräusche bei motorenbetriebenen Geräten zutrifft. In der Gestaltung unterscheiden sich die Klänge jedoch stark: Warnklänge benötigen eine stärkere Wirkkraft als Klänge, die das reibungslose Funktionieren eines Gerätes vermitteln sollen. Im Bereich des ästhetischen Designs von Klängen werden die gestalterischen Möglichkeiten vielseitig und sind genau auf das Produkt, die Zielgruppe und die gewünschte Anmutung abgestimmt.7 Am Beispiel des Seniorenhandys wird jedoch die ästhetische Anmutung des Klanges vernachlässigt und davon ausgegangen, dass ein lediglich gut hörbarer Signalklang ausreicht. »Er [der Klang, A.S.] ist ein Mittel zum Zweck, dessen Ziel sowohl eine eng umgrenzte Handlungsaufforderung als auch eine umfassende Zustandsbeschreibung sein soll.« (Spehr 2008: 186) Mit dieser Aufteilung der funktionalen Klänge des Sound Designers Georg Spehr in einerseits direkt mit Affordanzen belegte und andererseits über Qualitäten, Ablauf und Zustand informierende Klänge lässt sich in Bezug auf das Thema Alter(n) und Produkt Sound Design bereits eine Einordnung des explizit an Ältere gerichteten Designs des Seniorenhandys in die erste Kategorie treffen. Das Seniorenhandy fordert mit einer deutlichen klanglichen Ansprache dazu auf einen Anruf anzunehmen, die in der Regel mit ›laut‹ gleichgesetzt wird. Die zweite Eingrenzung des Sound Designs als ein Informationsmedium, welches »umfassende Zustandsbeschreibungen« (ebd.) abbildet, bietet vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Sound Design für ältere Zielgruppen auch Raum für Fragen nach ästhetischen Hörvorlieben oder Hörgewohnheiten. Georg Spehr nennt den Klang eines gelungenen Sound Designs für bestimmte Produkte einen »Wunschklang, der Erwartungen entspricht und bestätigt« (Spehr 2008: 192). Es zeigt sich an diesem Eingangsbeispiel des Seniorenhandys folglich ein grundsätzliches Problem, wenn es um Produkt Sound Design geht, das sich speziell an ältere Konsument*innen richtet: Bei der ästhetischen Anmutung und dem, was als ›gutes Design‹ empfunden wird, werden Abstriche gemacht, sobald es

7

Sound Design, in der Inszenierung von Ausstellungsräumen oder für Unternehmensarchitekturen wird funktionales Sound Design eingesetzt (Spehr 2008; Langenmaier 1993). Einen Einblick in gestalterische Möglichkeiten des Sound Designs geben die Aufsätze aus dem Band Funktionale Klänge, die verschiedene, meist anwendungsbezogene Beispiele von Sound Design darstellen (Spehr 2009).

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auch um den Ausgleich von Einschränkungen in der sensuellen Wahrnehmung geht. Der Mehraufwand eines ästhetisch hochwertigen Designs wird für die älteren Zielgruppen nicht mehr erbracht. Zusammenfassend dominieren zwei Themen, wenn es um Produkt Sound Design für Ältere geht: Erstens, der Versuch, einen Hörverlust auszugleichen, wie es im Vorfeld am Seniorenhandy erläutert wurde. Die Designleistung, die dahinter steht, ist allerdings gering. Zweitens, Altern wird von den Klanggestaltern und -gestalterinnen als Kategorie der Erfahrung und des Geschmacks und damit einer klanglichen Ansprache an die Sinne aufgefasst. Hier wird ein viel ausdifferenziertes Bild des Alter(n)s in der akustischen Produktgestaltung und vor allem Produktinszenierung deutlich, um die es im Folgenden gehen wird.

K LÄNGE ALS ASSOZIATIONSWELTEN – ALTER ( N ) AUS ÖKONOMISCHER S ICHT Wie klingen nun also der Geschmack und die kulturellen Vorstellungen der Älteren aus Sicht der Produzierenden? Klangvorstellungen und -vorlieben sind kulturell und habituell verankert und wären demnach eher über Lebensstile anzusprechen und nicht über eine »demographische Segmentierung« (Price Waterhouse Coopers [PWC] 2006), wie es der Bericht über die Konsumgewohnheiten der ›Generation 55+‹ einer Unternehmensberatung vorschlägt. Die Kategorisierungen von älteren Zielgruppen, wie sie in der betriebswirtschaftlichen Literatur vorgenommen werden, liefern dabei interessantes Material, wenn es um die Einstufung von Geschmacks- und Assoziationsgruppen geht.8 In einer Studie von PriceWaterhouseCoopers wird das »›klassische‹ Bild: der pessimistische Blick auf eine ergraute Gesellschaft« (PWC 2006: 5f) erwähnt, sowie das nun neu zu entwickelnde »›ökonomische Bild‹ der ›Generation 55+‹« als »attraktive Konsumentengruppen mit ausgeprägtem Marktpotenzial« (ebd.: 7ff.). Während bislang das Alter eher als allgemeingültige Lebensphase in die Definierung von Käuferinnengruppen einging, wird mittlerweile, so fasst es die Studie zusammen, stark in heterogene Zielgruppen, Lebensstile und Lebenseinstellungen ausdifferenziert. 9

8 9

Beispielsweise anhand der kanadischen Marktforschungsliteratur diskutiert Kimberly Sawchuk das Thema Marketing für ältere Zielgruppen (vgl. Sawchuk 1995). Von der Gruppe der Selfpromoter, die ein »gewinnbringendes Altersmanagement« anstreben, zu dem »Senior der Zukunft«, welcher folgende Merkmale mit sich bringt: »Innovativ, weltoffen, positive Lebenseinstellung, ›erleben‹«; über die Maintainer, Simplifier und die Empty Nester hin zu dem »häuslichen Schaffer«, der »zurückgezogen« lebt

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Auch zu einem Hineinversetzen jüngerer Produktentwickler*innen in ältere Körper durch Verfahren wie den »›Age-Explorer‹-Anzug« (PWC 2006: 23), den »Third Age Suit« (Gassmann/Keupp o. J.) oder andere Simulationsverfahren (Friesdorf/Heine 2007: 156f), um die Bedürfnisse zu testen und für die Produkthersteller sinnlich und emotional erfahrbar zu machen, wird in der Literatur geraten. Jedoch liegt diesen Selbsttests wieder primär der Verlust- oder Defizitgedanke zugrunde und nicht ein Lebensstil bezogener Ansatz von Produktgestaltung, wie er in der genannten wirtschaftswissenschaftlichen Literatur empfohlen wird. Insbesondere im Luxus- und Freizeitsegment, man könnte sinnbildlich an so bedeutungsbehaftete Produkte wie die Harley Davidson oder den Porsche denken, ist eine Berücksichtigung von Sound Design für die Produkte der Standard. Doch kompensierende Maßnahmen für Hörgeschädigte sind selten. Alter(n) wird aus der Perspektive des Sound Designs ebenfalls nicht statisch, sondern vielmehr als etwas, was durch Assoziationen angesprochen werden soll, verstanden. Der bereits genannte Sound Designer merkt im Interview dazu an: »Also da müsste man noch vielleicht trennen zwischen Alter als eigentlich [...] kultureller Kategorie also in dem Sinn, dass ältere Menschen vielleicht auch andere Vorstellungen von Qualität oder Wert haben oder andere Beispielklänge hören, also andere Assoziationen bauen [...].«

Der Gedanke der Assoziationen ist für die Signalklänge in jedem Fall essentiell, aber auch für Betriebsklänge ist er von Bedeutung. Digital erzeugte Klänge werden häufig ausgehend von Aufnahmen konkreter Gegenstände aufgebaut, die für sich bereits an den klangerzeugenden Gegenstand erinnern, oder sie werden in der Produktkommunikation durch Erzählungen und Inszenierungen assoziativ belegt. Zu diesem Assoziationsgewebe hält Georg Spehr fest: »Wie jemand ein Klangereignis empfindet und deutet, ist von der Konditionierung, dem Erfahrungsschatz und Wissen abhängig, welche wiederum durch viele Aspekte wie Alter, Persönlichkeit, Bildung, Umfeld und Kultur beeinflusst werden.« (Spehr 2008: 201f.) Es wird deutlich, dass die Erzeugung von Assoziationen für Produkte über Klänge und die Berücksichtigung der vielen Faktoren eine Herausforderung ist, die sich auch dem messbaren und objektivierbaren Bereich entzieht. Das Assoziationsgewebe ist sinnbildlich für die Wahrnehmung des Klanges und wird durch die Werbung unterstützt. Assoziationen entstehen aber nur dann, wenn das Produkt auch

und auf »Arbeit in Haus und Garten« konzentriert ist, dabei jedoch »qualitätsbewusst ist«, sind diese Zielgruppendefinierungen und Segmentierungsversuche ebenso heterogen wie in jüngeren Konsument*innengruppen (PWC 2006, S. 14ff.).

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verstanden wird, was wiederum durch Lifestyle Marketing begünstigt werden soll. An dieser Stelle laufen das Design und die Designkommunikation, die sich direkt an bestimmte Käufer und Käuferinnengruppen wendet, immer auch Gefahr, Vorannahmen und Vorurteile in das Feld hinein zu projizieren.

Z UR S ELBSTVERSTÄNDLICHKEIT DER ALLTAGSKLÄNGE – D IE I NSZENIERUNG VON K LÄNGEN IM M ARKETING Wie also werden sinnlich und sensorisch erfahrbare Konsumerlebnisse im Marketing inszeniert? Wie äußert sich eine alltägliche Klangerfahrung? Welche Klänge werden explizit für diese alltägliche Erfahrung gestaltet und produziert und wie werden sie im Marketing aufgegriffen und dadurch in bestimmte Deutungssysteme eingeschrieben? Die Europäischen Ethnolog*innen Jennifer Illing und Ingo Schneider beschreiben dies folgendermaßen: »[…] Der erste Weg führt ins Bad, die elektrische Zahnbürste surrt, die Haare werden mit einem vertrauten Brummen trocken geföhnt. Ein Klingeln ... drrrr ... der elektrische Türöffner wird gedrückt, ... summ ... die Haustüre geht auf ... quietsch ..., die Tageszeitung ist da. In der Küche blubbert die Kaffeemaschine beruhigend, mit einem vertrauten ... bing ... springt das Brot aus dem Toaster. Auf dem Weg zum Auto zwitschern die Vögel. Mit zwei kurzen Tönen wird die Autotür entriegelt, nach dem Einsteigen fällt sie satt ins Schloss, das wohlbekannte Motorengeräusch erklingt, der Blinker wird gesetzt, ... tick, tack ... los geht’s durch den dichter werdenden Morgenverkehr. Ein unangenehmer Ton zwingt uns, uns anzuschnallen, Autos hupen, ein Flugzeug fliegt mit ohrenbetäubendem Lärm über die Autobahn. Dann eine laute Sirene von hinten, ein Rettungsauto fährt vorbei. […].« (Illing/Schneider 2012: 123)

Diese »akustische Skizze«, wie die Autor*innen es nennen, bildet autoethnografisch einen Tag in seiner klanglichen Dimension ab, eine Herangehensweise an das Feld mit den Forschungsmethoden und -traditionen der Soundscape Forschung.10 Die Beschreibung der Klänge befasst sich – mit Ausnahme des Vogelgezwitschers – mit einer Vielzahl von Ergebnissen von Sound Design, dem klanglichen Output eines langen Prozesses, der von einer Definition von Zielgruppen,

10 Die Soundscape verstanden als methodischer Zugang zum Feld der akustischen Kultur, wie sie durch den Komponisten und ›Akustischen Ökologen‹ Murray Schafer angeregt wurde. Vgl. Anm. 5.

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über die umfassende Produktgestaltung, hin zum konkreten Marketing der Produkte und eben auch ihrer Klänge reicht. Die an diesem Prozess der Klanggestaltung beteiligten Akteure sind vielfältig und durch sehr unterschiedliche fachliche Identitäten geprägt: von der psychoakustischen Herangehensweise einer auf physische Eigenschaften des Hörens und Wahrnehmens basierenden Klangforschung und -gestaltung bis hin zu der kreativen, designorientierten Auffassung von Gestaltung. Die Klänge der genannten akustischen Skizze eines alltäglichen Tags entziehen sich jedoch durch ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit der bewussten Wahrnehmung, sie werden ›überhört‹, solange sie regelmäßig und gewohnt laufen. Produktklänge bedürfen deswegen einer Vermarktung, einer inhaltlichen Verortung innerhalb von Geschichten und Assoziationen, die ihnen in vielen Fällen erst Bedeutung verleiht und ihre Wahrnehmung rahmt. In der Produktkommunikation und dem Marketing, insbesondere in Werbefilmen, werden Produkte mit Hilfe ihrer klanglichen Besonderheiten beworben, was in der Frage nach der Kommunikation von Sound Design an die möglichen Käuferinnen und Käufer gerade im Bereich des sensorischen Designs eine wichtige Funktion hat, da sie, mit Eva Illouz verstanden, »einen ›verzögerten sensorischen Gehalt‹ liefert – also Vorlagen für die Produktion tatsächlichen sensorischen Gehalts […]« (Illouz 2011: 87). Die Werbung bietet folglich eine Art ›Hör-Vorlage‹ für die Wahrnehmung des Sound Designs, »sensory instructions«, wie es die Historikerin Karin Bijsterveld und die Ko-Autor*innen in ihrer Studie zur Geschichte des automobilen Sound Designs und dessen Kommunikation verstehen (Bijsterveld/Cleophas/ Krebs/ Mom 2014: 164). Dem schließt sich das hier gewählte Vorgehen für die vorliegenden Überlegungen an: Der Werbung und der Kommunikation über Produktklänge kommt eine wichtige Rolle in der Wahrnehmung von insbesondere ästhetischen Produktklängen zu, da sie in vielen Fällen erst durch das Wissen um ihre Existenz erfahrbar werden: Durch sie wird eine Stimmung, eine Art setting, für die Wahrnehmung hergestellt, was beispielsweise in einem Werbefilm durch die Erzählung, den Plot und die Inszenierung kommuniziert wird.

D IE » JUNGEN « UND DIE » ALTEN « ALTEN – P RODUKTKOMMUNIKATION ALS G ESCHMACKSKOMMUNIKATION Beispielhaft dafür steht ein Werbefilm, der die Klänge einer Limousine mit dem erzählerischen Kniff über die Höreinschränkungen eines älteren Herren vorführt

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und dabei filmisch ein besonderes Augenmerk auf die Soundscape legt. 11 In dem Werbespot wird ein älterer Herr als Familienoberhaupt inmitten seiner Familie, seines Hauspersonals sowie seines Anwesens gezeigt. Anfangs wird dargestellt, wie er ohne sein Hörgerät die Stimmen, das Bellen der Hunde, alle alltäglichen Klänge nur in abgedämpfter Form hört, und erst, als er sein Hörgerät einschaltet, die volle Bandbreite der häuslichen Soundscape wahrnehmen kann. In einem Auto der beworbenen Marke chauffiert ihn nun sein junger Sohn. Der ältere Herr wundert sich dabei über die kaum wahrnehmbaren Klänge und vermutet einen Defekt seines Hörgerätes. Die Klänge des Autos – das sanfte Schließen der Türen, der Start des Motors – werden in der Werbung im Wechsel mit den lauteren, kraftvollen Motorenklängen, die außerhalb des Autos zu vernehmen sind, vorgeführt. Im Innenraum sind jedoch kaum Klänge hörbar, was den älteren Herren mit dem Hörgerät irritiert, weshalb er versucht, es besser einzustellen. Dass ein Auto tatsächlich so leise und gedämpft fahren kann, scheint in der Geschichte dieses Werbefilms schier unglaublich. In diesem Werbefilm drückt sich eine Imagination des Alter(n)s aus, die humoristisch die damit einhergehenden Tücken aufgreift – in diesem Falle die schlechte Hörgerätetechnik oder das Nichtbeherrschen dieser Technik. Dadurch wird ein stereotypes, quasi klassisch gewordenes Bild des alternden, wohlhabenden Herren skizziert, der traditionsbewusste Konsumentscheidungen trifft (Limousine) und sich von seinem verschlechterten Hören nicht einschränken lässt, jedoch trotzdem mit den neuen Hörgewohnheiten nicht umgehen kann. Das Alter ist vor dem Hintergrund des Films lediglich eine Folie, auf der die eigentliche Geschichte des Spots erzählt werden kann. Die Werbung schließt ältere Konsumenten und Konsumentinnen von der Nutzung nicht aus, demonstriert jedoch einmal mehr das Defizitäre des Alterns und verdeutlicht, dass das ästhetische Sound Design eines Autos mit Höreinschränkungen nicht mehr erfahrbar ist. Die Werbung vermittelt gleichzeitig das Wissen um den Klang und liefert dadurch eine Hör-Vorlage oder sensuelle Anweisung, wie Karin Bijsterveld es mit Eva Illouz formuliert hat (vgl. Bijsterveld et al. 2014: 164). Im Gegensatz zum Bild des alternden Herren im Werbefilm von Mercedes kommuniziert der amerikanische Automobilhersteller Dodge eine gänzlich andere klangliche Repräsentation seiner Fahrzeuge in der Werbung und parallel dazu

11 Mercedes, 2000er Jahre: https://www.youtube.com/watch?v=9RIy4vsd1hg [Zugriff: 13.10.2015]

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auch ein anderes, sehr medienwirksames Bild des Alter(n)s in dem im Folgenden besprochenen Werbespot.12 In dem Werbefilm wird das hundertjährige Bestehen des Unternehmens über die Darstellung von verschiedenen Personen, die um die 100 Jahre alt sind, zum Thema der Erzählung. Wenn sie sprechen, werden ihr Name und ihr Alter eingeblendet. Sie erzählen in einem einnehmenden und energischem Ton von ihrer Lust am Leben, ihrem während des langen Lebens erworbenen Wissens und der Energie, die sie aus dem Leben ziehen: »I’m a hundred years old and I want to tell the world what I have learned. Live for now. Because life is good.« Eine E-Gitarre wird eingespielt, während einer der Darsteller am Steuer des Wagens gezeigt wird, wie er in tradierter Hollywood-Manier mit scharfem, wachem Blick die Kamera fixiert. Die Stimmen der Personen vermischen sich zu Gelächter und immer derberen Sprüchen, bis ihre Stimmen vom Aufjaulen des PS-starken Autos unterbrochen werden: »Don’t complain, tell it like it is, don’t bitch, hesitate and you loose. Put the pedal to the metal.« Der Klang der durchdrehenden Reifen ist zu hören und die Kraft des Motors, akustisch verdeutlicht, ›überträgt‹ sich auf den 100jährigen Fahrer. »Live fast! And never ever forget where you came from.« Darauf folgt die schriftliche Botschaft: »You learn a lot in 100 years« und stellt den Bezug zwischen den dargestellten Personen des Werbefilms und dem Unternehmen her. Das Bild vom Alter, was hier gezeichnet wird, lässt sich in einen ›Alterswürdigungsdiskurs‹ einordnen, wie ihn Gerd Göckenjan bezeichnet hat (2009: 247ff.). Die (klangliche) Wirkkraft der Werbung lebt von dem vermeintlichen Widerspruch zwischen den mit brüchigen Stimmen vorgetragenen Altersweisheiten und dem energischen Röhren des Motors. Die Hundertjährigen werden als zähe und weise Alte, gleichzeitig auch als »junge Alte« (van Dyk/Lessenich 2009) inszeniert, was im Vergleich zum hörgeschädigten älteren Herren im ersten beschriebenen Werbefilm ebenfalls eine stereotype Darstellung des Alters ist. Der Klang des beworbenen Autos suggeriert Kraft und Schnelligkeit, jedoch nicht die ›gleiche‹ Schnelligkeit, wie sie in der Mercedes-Werbung gezeigt wurde. Der Klang des Dodge hat ein völlig anderes Assoziationsgewebe – um zu dem Interviewbeispiel mit dem Sound Designer zurück zu kehren – als die Motorenklänge des Mercedes.

12 Dodge, Super Bowl Commercial, 2014: https://www.youtube.com/watch?v=JKKl qMs19tU [Zugriff: 13.10.2015] Der Werbefilm hatte eine sehr hohe Reichweite, da die Werbung beim Super Bowl 2014 einem der größten Sport- und damit Fernseh- und Werbeereignisse der USA, erstmalig ausgestrahlt wurde. Die in den Werbepausen des Super Bowls gezeigten Filme werden in der Regel im Nachhinein in diversen Internetforen diskutiert und verstärken dadurch ihre Reichweite auch außerhalb der USA.

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Beide Werbefilme bieten eine seltene Bühne für ältere Werbefiguren und beide spielen mit dem Klang, jedoch tun sie dies auf sehr verschiedene Weise und richten sich an unterschiedliche Konsument*innen und Nutzungsbedürfnisse. Sie sprechen Zielgruppen an und bedienen sich dabei einer symbolischen Bildsprache, die auf Themen des Alters basiert. Entsprechend unterscheidet sich nicht nur das Produkt Sound Design der Autos, sondern vor allem der Umgang mit dem Produkt Sound in den Werbungen – es werden sinnliche und emotionale Klangwelten geschaffen, oder, wie Eva Illouz es ausgedrückt hat: es werden verschiedene »kulturelle Systeme« (Illouz 2011: 55) über die gezeigten Waren und entsprechenden Werbungen kreiert, die mit ihrem Klang unterschiedlich gelagerte Geschmackswelten und Konsumbedürfnisse adressieren.

ALTERN

ALS

T ABU DES (S OUND ) D ESIGNS ?

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur (und in den hier verhandelten Zeugnissen von Marketingbemühungen) zum Thema herrscht in einem Punkt Einigkeit: altersgerechtes Design dürfe niemals so wirken. Im bereits erwähnten Bericht der Unternehmensberatung wird dies der »Seniorenteller-Effekt« (PWC 2006: 19) genannt. Auch an anderen Stellen, so beispielsweise in der kanadischen Marketingliteratur, wird geraten, ein »down-aging« (Sawchuk 1995: 180) zu betreiben, also zwar Produkte so zu gestalten, dass sie niemanden (bei beispielsweise einer vorherrschenden Höreinschränkung) von der Nutzung ausschließen, jedoch auch nicht gleich ersichtlich wird, dass ein Produkt ausschließlich für eine ältere Zielgruppe produziert wurde, so dass der Markt der älteren Konsumenten und Konsumentinnen nicht als gesondert oder »segregated« (ebd.) wahrnehmbar wird. Mit dieser ständigen Betonung darauf, dass das offene Kommunizieren von ›Seniorenprodukten‹ zu vermeiden sei, wird Alter(n) in der Produktentwicklung und kommunikation tabuisiert, was sich auch in den geführten Interviews immer wieder zeigt: entweder ist Sound Design in Bezug auf Alter ein Kompensations-Design wie im Beispiel des Seniorenhandys, oder das Thema wird nur sehr nachrangig behandelt. In Interviewsituationen wird das Thema übergangen oder gewechselt. In den teilweise ökonomisch motivierten Interviews, die häufig auch auf die Wirkung vor mir als externer Forscherin bedacht sind, kommen die typischen Probleme einer Research Up/Through Forschung zu Tage, wie die Furcht davor, Betriebsgeheimnisse zu verraten oder gar der Sorge um Spionage (vgl. Warneken/Wittel 1997). Das Sprechen über Betriebsgeheimnisse weist dabei eine gewisse Ähnlichkeit zum Sprechen über das Alter auf, es scheint auch in ansonsten

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vertraut laufenden Gesprächen eine Erinnerung daran zu sein, dass die Interviewten dennoch keine unbedachten Äußerungen tätigen dürfen. Wenn das Thema Alter überhaupt in den von mir herangezogenen Materialsorten angesprochen wird – den Interviews, der Designliteratur oder der betriebswirtschaftlichen Fachliteratur sowie dem Produktmarketing –, dann auf eine verhaltene, zurückgenommene Art, die wenig konkret wird und immer auf die Marktstärke älterer Käufer*innengruppen verweist. Es wird um Verständnis gebeten, dass man diese Zielgruppe nicht auslassen dürfe, gleichzeitig ist der Gestus in der betriebswirtschaftlichen Literatur einer, der zu ›jungen Entscheidern‹ spricht, und trotz des eigentlichen Anspruches, das Altern und die Älteren in die Produktentwicklung zu integrieren, diese beiden kaum einbezieht.13 Gernot Böhme hält für die ästhetische Ökonomie, unter der das Produkt Sound Design gefasst werden kann, fest, dass nicht nur ein »Großteil der gesamtgesellschaftlichen Arbeit« (Böhme 2014: 63) ästhetische Arbeit ist, sondern dass sich darin der Wunsch nach ästhetischen Warenwerten zeigt, die so vielfältig sein können wie die Kosmetik, das Bühnenbild, die Inneneinrichtung oder – wie ich Böhmes Auflistung hinzufügen möchte – eben auch das sensuelle Design von Waren (vgl. Böhme [1995] 2014: 63 ff.). Böhme fasst seine Gedanken zum Konsumbegehren und zur ästhetischen Ökonomie in der knappen Formel zusammen: »Schönheit ist ein legitimes Anliegen des Menschen.« (ebd.: 65) Dieses Zitat bekommt vor dem Hintergrund der hier gezeigten Überlegungen zum Verhältnis von Alter(n) und Design für die Sinne eine kapitalismuskritische Note: Das Alter, in all seinen Facetten, wird am Beispiel des Sound Designs weitestgehend aus der ästhetischen Verschönerung und Versinnlichung von alltäglichen Produkten ausgeklammert und lediglich funktional und als Defizitausgleich verstanden. Auch wenn Alter und Altern in der Produktkommunikation einen Platz finden, wie an den beiden Werbebeispielen gezeigt wurde, bleibt das ästhetische Sound Design hinter dem rein funktionalen Design, wie dem Klang des Seniorenhandys, zurück – ein Ausschluss aus einer Erfahrungswelt findet dadurch statt. Dies verdeutlicht einerseits den grundsätzlich nachrangigen Status des Sound Designs innerhalb des Produkt Designs – so wird der funktionierenden Autobremse stets eine höhere Relevanz zugewiesen als dem angenehmen Brummen des Motors – andererseits bildet sich darin die fehlende Notwendigkeit ab, die ästhetische Erfahrung auch für beispielsweise hörgeschwächte Personen erfahrbar zu machen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Alter in der Produktgestaltung generell zwar durchaus präsent ist, im Produkt Sound Design aber vor allem

13 So der gewonnene Eindruck bei der Lektüre der genannten Berichte der Unternehmensberatung von PWC oder Gassmann/Keupp.

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als funktionales, signalhaftes Design auftaucht, während es im ästhetisch-emotionalen Sound Design als Gestaltungskategorie eher nachrangig behandelt wird. Anders als das funktionale und kompensierende Produkt Sound Design eines Seniorenhandys oder anderer assistierender Systeme richtet sich Sound Design für ästhetische Umgebungen kaum explizit an ältere Zielgruppen. Dennoch findet, wie gezeigt wurde, das Alter(n) als Folie, vor der Geschichten entwickelt werden, im Marketing seinen Platz in der Produktkommunikation. Die Imaginationen des Alter(n)s, die in den Werbungen gezeichnet und in den zur Kommunikation genutzten Klängen als ein Bestandteil dieser Imagination weitergeführt werden, bewegen sich vor dem Hintergrund dieser Überlegung stets innerhalb der als sagbar, zeigbar und verstehbar aufgefassten Altersdiskurse.

L ITERATUR Bijsterveld, Karin/Cleophas, Eefje/Krebs, Stefan/Mom, Gijs: Sound and safe. A history of listening behind the wheel, Oxford [u.a.] 2014. Böhme, Gernot: Zum Glanz des Materials. Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie. Zweite Auflage der siebten Aufl., in: Ders.: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Berlin 2014 [Originalfassung 1995], S. 49-65. Dodge, Super Bowl Commercial, 2014: https://www.youtube.com/watch?v= JKKlqMs19tU [Zugriff: 13.10.2015] van Dyk, Silke/Lessenich, Stephan (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur. Frankfurt/New York 2009. Friesdorf, Wolfgang/Heine, Achim (Hg.): sentha – seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag. Ein Forschungsbericht mit integriertem Roman, Heidelberg 2007. Gassmann, Oliver/Keupp, Marcus: Generation »50 plus«: Marketingstrategien – Teil 1. Wachstumsmarkt der jungen Alte:. Lernen von Japan. strategy, S. 18. URL: https://www.alexandria.unisg.ch/export/DL/47931.pdf [Zugriff: 15.10. 2015] Göckenjan, Gerd: Vom ›tätigen Leben‹ zum ›aktiven Alter‹. Alter und Alterszuschreibungen im historischen Wandel, in: Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.): Die jungen Alten. Analysen einer neuen Sozialfigur, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 235-255. Højlund, Marie/Kinch, Sofie: Alarming Atmospheres – Embodied Sound Habituation as Design Strategy in a Neuro-Intensive Care Unit, in: Journal of Sonic Studies 6 (2014), Nr. 1. URL: http://journal.sonicstudies.org/vol06/nr01/a02 [Zugriff: 15.10.2015]

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Illing, Jenny/Schneider, Ingo: Ist das Ohr wirklich der Knecht des Auges? Akustische Wegweiser durch den Alltag, in: Wolfgang Meighörner/Herline Menardi/Karl C. Berger (Hg.): Ton um Ton. Ton um Ton im Tiroler Volkskunstmuseum. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Tiroler Volkskunstmuseum Innsbruck vom 25.05.2012 bis 07.10.2012, Innsbruck 2012, S. 122-134. Illouz, Eva: Emotionen, Imaginationen und Konsum. Eine neue Forschungsaufgabe, in: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 47-91. Langenmaier, Arnica-Verena: Der Klang der Dinge. Akustik – eine Aufgabe des Design. Referate des vom Design Zentrum München veranstalteten Symposiums »Der Klang der Dinge. Akustik – eine Aufgabe des Design« vom 28. und 29. November 1991 in München, München 1993. Mercedes, 2000er Jahre: https://www.youtube.com/watch?v=9RIy4vsd1hg [Zugriff: 13.10.2015] Pelizäus-Hoffmeister, Helga: Zur Bedeutung von Technik im Alltag Älterer. Theorie und Empirie aus soziologischer Perspektive, Wiesbaden 2013. Price Waterhouse Coopers (PWC) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Handel und Marketing an der Universität St. Gallen: »Generation 55+« – Chancen für Handel und Konsumgüterindustrie, Düsseldorf, Frankfurt a. M., St. Gallen 2006. URL: http://www.htp-sg.ch/data/publications/1285601513_Generation %2055Plus%20(01-06).pdf [Zugriff: 15.10.2015] Sawchuk, Kimberly Anne: From Gloom to Boom. Age, Identity and Target Marketing, in: Mike Featherstone/Andrew Wernick (Hg.): Images of Aging. Cultural Representations of Later Life, London/New York 1995, S. 173-187. Seniorenhandy: Das Fachmagazin für Seniorenhandys, o. J., URL: http://www. senioren-handy.info/ [Zugriff: 18.02.2015] Schafer, Murray: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester 1994 [1977]. Spehr, Georg: Funktionale Klänge: Mehr als ein Ping, in: Holger Schulze (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S. 185-208. Spehr, Georg (Hg.): Funktionale Klänge. Hörbare Daten, klingende Geräte und gestaltete Hörerfahrungen, Bielefeld 2009. Schoon, Andi/Volmar, Axel (Hg.): Das geschulte Ohr. Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, Bielefeld 2012. Volmar, Axel: Klang-Experimente. Die auditive Kultur der Naturwissenschaften 1761-1961, Frankfurt a. M. u. a. 2015.

Z U V ORSTELLUNGEN

VON

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IM

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Warneken, Bernd Jürgen/Wittel, Andreas (1997): Die neue Angst vor dem Feld. Ethnographisches research up am Beispiel der Unternehmensforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde Bd. 93 (1997) Heft 1, S. 1-16.

Autorinnen und Autoren

Amy Clotworthy, M.A. in applied cultural analysis, is a Ph.D. Fellow at the Department of Ethnology, University of Copenhagen. Her current research project is investigating the various practices that may promote better health and engagement of elderly citizens in a Danish municipality. The project is associated with the Center for Healthy Aging (CEHA) at the University of Copenhagen. Tina Denninger, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW). Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Soziologie des Alters, Körpersoziologie, Behindertenforschung, qualitative Methoden. Anamaria Depner, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Aktuell forscht sie im Rahmen des Projekts »Pflegedinge« zum Thema Alltagsdinge (in) der Pflege. Weitere Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind: Mensch-Ding-Beziehungen im Alter, Umgang mit kulturellen Erbe sowie Artefakt-, Raum- und Kulturtheorie. Silke van Dyk, Prof. Dr., ist Professorin für Politische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats, Soziologie sozialer Ungleichheit, Soziologie des Alters und der Demografie, Diskurstheorie und empirische Diskursforschung. Cordula Endter, M.A. in Europäische Ethnologie und Dipl. Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. In ihrer Promotion geht sie ethnographisch der Kon-

362 | ALTER( N) ALS SOZIALE UND KULTURELLE P RAXIS

struktion von Alter(n) und Pflege in assistiven Technologien nach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben der kulturwissenschaftlichen Alter(n)sforschung die Anthropologie ländlicher Räume sowie Geschlechterforschung. Esther Gajek, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. Sie hat mit einer Arbeit über Seniorenprogramme an Museen promoviert. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Museologie, Methoden der Feldforschung, Altersbilder, Demenz, Prekarität. Irene Götz, Prof. Dr., arbeitet als Professorin für Europäische Ethnologie an der LMU München. Ihre Forschungsfelder sind neben der Nationalismusforschung Arbeit und Gender, Arbeit und Alter (aktuelles DFG-Projekt über »Prekären Ruhestand«) sowie Prekarisierung im Postfordismus. Gerrit Herlyn, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg im BMBF-Projekt PRAKOS (Praktiken und Kommunikation zur aktiven Schadensbewältigung). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Erzähl- und Biographieforschung, Kulturanalyse von Risiko und Sicherheit, Kulturwissenschaftliche Technikforschung. Maria Keil, M.A. in Kulturwissenschaften, ist Stipendiatin des Exzellenz-Clusters »Bild Wissen Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor« der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Themenschwerpunkte sind europäische Krankenhausgeschichte und Entwicklungsgeschichte technischer Dinge. Sabine Kienitz, Prof. Dr., arbeitet als Professorin für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Technisierung des Körpers (Invalidität und Prothetik, Alter und Technik), Historische Kriminalitätsforschung, Krieg und Erinnerungskultur, Sexualitäts- und Körpergeschichte. Carolin Kollewe, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Aktuell forscht sie im Rahmen des Projekts »Pflegedinge« zum Thema Pflege und Technik. Weitere Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind: Alter(n) im interkulturellen Vergleich, Museum und Objekte, Identitäten und soziale Bewegungen in Mexiko.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Rebecca Niederhauser, lic. phil., ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Assistentin und Lehrbeauftragte am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Kulturwissenschaftliche Alter(n)sforschung und Wohnkulturen. Kamilla Nørtoft, M.A. in anthropology and Ph.D. in Health Education, is a postdoc at the Center for Healthy Aging (CEHA) and the Copenhagen Center for Health Research in the Humanities (CoRe) at the University of Copenhagen. Her research interests are social and intergenerational relations and transitions in old age such as moving or retiring Larissa Pfaller, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Schwerpunkte liegen in der Kultursoziologie sowie bei qualitativen Methoden. Promoviert hat sie zum Thema Anti-Aging. Larissa Pfaller vertritt die Professur »Private Lebensführung und Qualitative Methoden der Sozialforschung« an der Universität Hamburg. Barbara Ratzenböck, M.A. in Soziologie, hat an der Karl-Franzens-Universität Graz und am Hendrix College, Arkansas studiert. Derzeit ist sie als Dissertantin am Center for Inter-American Studies der Karl-Franzens-Universität Graz tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Alter(n)sforschung (Aging Studies), Kultursoziologie und Literatursoziologie. Alexandra Rau, M.A. im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München und promoviert zum Thema ›weibliche Altersarmut‹ im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter«. Zu ihren Interessensgebieten gehören neben der Arbeitsforschung außerdem feministische Theorien sowie kritische Alter(n)sforschung. Anna Sarah Richter, Dipl.-Pol., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Lebenslagen und Altern des Instituts für Sozialwesen der Universität Kassel. Ihre Promotion behandelt das Thema Alter(n), Geschlecht und ostdeutsche Herkunft in biographischen Erzählungen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Soziologie des Alter(n)s, Geschlechterforschung und Intersektionalität, Ostdeutschlandforschung, Diskurs- und Biographieforschung.

364 | ALTER( N) ALS SOZIALE UND KULTURELLE P RAXIS

Mark Schweda, PD Dr., ist Philosoph und Medizinethiker. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen philosophische, (medizin-)ethische und soziokulturelle Aspekte von Altern und Lebensverlauf sowie Fragen der politischen Philosophie. Petra Schweiger, M.A. im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie, promoviert zum Thema Körpererfahrungen im Alter an der LMU München. Zudem arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Bundeswehr München im Projekt ATASeN (Anwendungsfelder für Technik im Alltag von Senioren aus Nutzersicht) und als Physiotherapeutin in einer Praxis in München. Tiina Suopajärvi, Dr., is a cultural anthropologist specialized in the studies of ageing, technology and place-making. Methodologically she is inspired by feminist technoscience studies, new materialism and design anthropology. In her most recent research project, Suopajärvi has focused on ageing as both lived experience and socio-cultural phenomenon in the ›smart city‹ of Oulu. Anna Symanczyk, M.A. in Volkskunde/Kulturanthropologie, promoviert zu Produkt Sound Design. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg und war von 2014 bis 2015 Stipendiatin der Isa-Lohmann-Siems Stiftung im Forschungsprojekt »Klang-Kontakte. Zur Kommunikation, Konstruktion und Kultur des Klanges«. Harm-Peer Zimmermann, Prof. Dr., ist Ordinarius für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind: kulturwissenschaftliche Alters- und Demenzforschung, narrative Gerontologie, Erzählforschung (Brüder Grimm). Nach Professuren in Freiburg (1997-1999) und Marburg (19992012) lehrt er seit 2012 in Zürich.

Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5

Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2 E-Book:  € (DE), ISBN

María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3

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